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German Pages 736 Year 2010
Enzyklopädie des Märchens Band 13
Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung Begründet von Kurt Ranke Mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Rolf Wilhelm Brednich, Göttingen zusammen mit Heidrun Alzheimer, Bamberg Hermann Bausinger, Tübingen · Wolfgang Brückner, Würzburg Daniel Drascek, Regensburg · Helge Gerndt, München Ines Köhler-Zülch, Göttingen · Klaus Roth, München Hans-Jörg Uther, Göttingen Redaktion Doris Boden ⫺ Susanne Friede ⫺ Ulrich Marzolph Christine Shojaei Kawan, Göttingen Band 13 Suchen · Verführung
2010 De Gruyter
Lieferung 1 (2008) Suchen⫺Theogonie Lieferung 2 (2009) Theogonie⫺Troja-Roman Lieferung 3 (2010) Troja-Roman⫺Verführung
ISBN 978-3-11-023767-2 e-ISBN 978-3-11-023768-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2008/2009/2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten (Allgäu) Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Gefördert mit Mitteln der Bund-Länder-Finanzierung/Akademienprogramm
HINWEISE FÜR DIE BENUTZUNG Anordnung der Stichwörter Die Stichwörter sind in alphabetischer Reihenfolge geordnet. Die Umlaute ä, ö, ü, äu werden wie a, o, u, au behandelt, der Buchstabe ß gilt als ss. Bei manchen Stichwörtern folgen Singularund Pluralformen direkt aufeinander, woraus sich geringfügige Abweichungen von der alphabetischen Anordnung ergeben (Baum, Bäume, Baumann). Die Schreibung richtet sich grundsätzlich nach den Regeln der alten Duden-Rechtschreibung. Die Benutzer werden gebeten, die Möglichkeit einer Schreibvariante von sich aus in Betracht zu ziehen (c unter k, ae unter ä, f unter ph etc.). Dem Familiennamen vorangehende Zusätze werden in der landesüblichen Weise alphabetisiert (Friedrich von der Leyen unter: Leyen, Friedrich von der; Carl Wilhelm von Sydow unter: Sydow, Carl Wilhelm von; Aulnoy, Marie Catherine d’; dagegen: De Gubernatis, Angelo). Transkriptionen Namen, Werktitel und Begriffe aus Sprachen, die nicht das lateinische Alphabet benutzen, sind nach den heute wissenschaftlich gebräuchlichen Transkriptionssystemen umgeschrieben (siehe Schürfeld, C.: Kurzgefaßte Regeln für die alphabetische Katalogisierung an Institutsbibliotheken. Bonn 41970). Abkürzungen Das jeweilige Stichwort wird innerhalb des Artikels abgekürzt. Alle anderen Abkürzungen sind im Verzeichnis der Abkürzungen aufgelöst; Flexionsendungen können den abgekürzten Substantiven angefügt sein. Ethnische, geographische und Religionsgemeinschaften betreffende Adjektive werden um die Endungen gekürzt, soweit sie nicht eigens im Abkürzungsverzeichnis aufgeführt sind. Für die biblischen Bücher und außerkanonischen Schriften ist das in Die Religion in Geschichte und Gegenwart ( 31957) t. 1, p. XVI sq. verwendete Abkürzungssystem maßgebend. Die für wichtige Sammlungen, Nachschlagewerke, Buchreihen und Zeitschriften gebrauchten Kurztitel können anhand des Verzeichnisses 2 aufgeschlüsselt werden. Literaturangaben und Anmerkungen Weiterführende Literatur ist am Ende jedes Artikels, bei längeren Artikeln auch unter einzelnen Abschnitten in einem chronologisch oder nach Ethnien geordneten Verzeichnis angegeben. Anmerkungen zu einzelnen Textstellen sind mit hochgestellter Zahl gekennzeichnet. Manche Autoren verwenden auch die Kurzzitierweise (Autor, Jahr, Seite), die anhand der Literaturangabe aufgeschlüsselt werden kann. Was Erzähltypen und -motive betrifft, so richtet sich die EM nach den Anordnungsprinzipien und dem Nummernsystem des international verwendeten Typenkatalogs Aarne-Thompson (AaTh) bzw. Aarne-Thompson-Uther (ATU), des Motiv-Index von Stith Thompson (Mot.) und der zahlreichen Regionalverzeichnisse. Die Angaben von Typen und Motivnummern im Text oder in den Anmerkungen sind als weiterführende Hinweise zu verstehen. Werktitel, Erzähltypen und -motive werden im Text kursiv wiedergegeben. Verweise auf andere Artikel sind durch Pfeile (Verweiszeichen: J) angezeigt.
VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN* 1. Allgemeine Abkürzungen Abb. Abhdlg a. Chr. n. afrik. ags. ahd. Akad. allg. amerik. Anh. anthropol. app. aram. Art. Assoc. A. T. Aufl. Aug. Ausg. Ausw.
Abbildung Abhandlung ante Christum natum afrikanisch angelsächsisch althochdeutsch Akademie allgemein amerikanisch Anhang anthropologisch appendix aramäisch Artikel Association Altes Testament Auflage August Ausgabe Auswahl
ead., eaed. ed., edd.
Bearb., bearb. Beitr. Ber. bes. betr. Bibl. bibl. Bibliogr., bibliogr.
Bl., Bll. bret. bulg. byzant. bzw.
Bearbeitung, bearbeitet Beitrag Bericht besonders, besondere(r) betreffend Bibliothek biblisch Bibliographie, bibliographisch; bibliography, bibliographic etc. Biographie, biographisch; biography, biographic etc. Blatt, Blätter bretonisch bulgarisch byzantinisch beziehungsweise
ca cf. chin. col.
circa confer chinesisch columna
d. Ä. Dez. d. Gr. d. h. Dict. Diss. d. J. dt.
der Ältere Dezember der Große das heißt Dictionary, Dictionnaire Dissertation der Jüngere deutsch
Biogr., biogr.
erg. erw. etc. ethnol. ethnogr. etymol. europ.
eadem, eaedem edidit, ediert von, edited, editio, editor(s) etc. Einleitung Encyclop(a)edia, encyclope´die, Enzyklopädie etc. ergänzt erweitert et cetera ethnologisch ethnographisch etymologisch europäisch
Faks. Febr. Festschr. fol. Forts. frz.
Faksimile Februar Festschrift folio Fortsetzung französisch
geb. gedr. geogr. germ. Ges. gest. G. W.
geboren gedruckt geographisch germanisch Gesellschaft gestorben Gesammelte Werke
H. Hb., Hbb. hebr. hist. Hl. hl. Hs., Hss. hs. Hwb.
Heft Handbuch, Handbücher hebräisch historisch Heilige(r) heilig Handschrift, -en handschriftlich Handwörterbuch
ibid. id., iid. ide. idg. i.e. ill. indon. Inst. internat. isl. ital.
ibidem idem, iidem indoeuropäisch indogermanisch id est illustriert indonesisch Institut international isländisch italienisch
Einl. Enc., Enz.
* Hier nicht aufgelöste Abkürzungen siehe Verzeichnisse in den vorherigen Bänden.
VII
Verzeichnis der Abkürzungen J. Jahrber. Jan. jap. Jb., Jbb. Jg Jh.
Journal Jahresbericht Januar japanisch Jahrbuch, Jahrbücher Jahrgang Jahrhundert
Kap. kgl. Kl. Kl.(re) Schr.
Kapitel königlich Klasse Kleine(re) Schriften
lat. Lex. Lfg Lit. literar.
lateinisch Lexikon Lieferung Literatur literarisch
MA., ma. masch. mhd. Mittlg Monogr., monogr. Ms., Mss. mündl. mythol.
Mittelalter, mittelalterlich maschinenschriftlich mittelhochdeutsch Mitteilung Monographie, monographisch Manuskript, -e; manuscript, -s etc. mündlich mythologisch
Nachdr. ndd. ndl. N. F. nördl. norw. not. Nov. N. R. N. S. N. T. num. n. u. Z.
Nachdruck niederdeutsch niederländisch Neue Folge nördlich norwegisch nota November Neue Reihe Neue Serie, New Series etc. Neues Testament numerus nach unserer Zeitrechnung
Okt. Orig. österr. östl.
Oktober Original österreichisch östlich
p. pass. p. Chr. n. phil. philol. port. Proc. Progr. prov. Pseud. psychol. Publ.
pagina passim post Christum natum philosophisch philologisch portugiesisch Proceedings Programm provenzalisch Pseudonym psychologisch Publikation, publication etc.
Qu. Quart.
Quelle Quarterly
rätorom. Reg. rev. Rez. rom.
rätoromanisch Register revidiert, revised Rezension romanisch
s. a. Sb. Schr. schriftl. schweiz. Sept. skand. s. l. Slg slov. Soc. sog. soziol. sq., sqq. St. südl. Suppl. s. v.
sine anno Sitzungsbericht Schriften schriftlich schweizerisch September skandinavisch sine loco Sammlung slovenisch Socie´te´, society etc. sogenannt soziologisch sequens, sequentes Sankt, Saint etc. südlich Supplement sub verbo (voce)
t. Tab. theol. typol.
tomus Tabelle theologisch typologisch
u. a. Übers. übers. u. d. T. ukr. ung. Univ. Unters. u. ö.
und andere, unter anderem Übersetzer, Übersetzung übersetzt unter dem Titel ukrainisch ungarisch Universität, university etc. Untersuchung und öfter
V. v. Var. verb. Verf. Veröff., veröff. Verz. vietnam. Vk. Vorw. v. u. Z.
Vers vide Variante verbessert Verfasser Veröffentlichung, veröffentlicht Verzeichnis vietnamesisch Volkskunde Vorwort vor unserer Zeitrechung
Wb., Wbb. westl. Wiss., wiss.
Wörterbuch, Wörterbücher westlich Wissenschaft, wissenschaftlich
Z. ZA. z. B. Zs., Zss. z. T. Ztg
Zeile Zeitalter zum Beispiel Zeitschrift, -en zum Teil Zeitung
VIII
Verzeichnis der Abkürzungen
2. Lexika, Motiv- und Typenkataloge, Textausgaben, Fachliteratur, Reihentitel und Zeitschriften AaTh Acta Ethnographica ADB Afanas’ev Amades Andreev Angelopoulou/Brouskou
Angelopoulou/Kaplanoglou/ Katrinaki
Aprile Ara¯js/Medne ArchfNSprLit. Arewa ARw. AS Äsop/Holbek ATU Babrius and Phaedrus/Perry Balys Barag Basset Baughman Bausinger Bebel/Wesselski Benfey Berze Nagy BFP
Birkhan
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Verzeichnis der Abkürzungen Bjazyrov Boberg Bødker, Indian Animal Tales Boggs BP Brückner Camarena/Chevalier Cardigos Chauvin Chavannes Child Childers Childers, Tales Choi Christiansen, Migratory Legends Cifarelli Cirese/Serafini ˇL C Clarke Coetzee Cosquin Cross D’Aronco, Italia D’Aronco, Toscana Dadunashvili DBF Dekker/van der Kooi/Meder Del Monte Ta`mmaro Delarue Delarue/Tene`ze Dh. Dicke/Grubmüller
IX
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X DJbfVk. DNP Dömötör DSt. DVldr DVLG Dvorˇa´k DWb. Eberhard/Boratav Eberhard, Typen EI1 EI2 El-Shamy, Folk Traditions El-Shamy, Types EM ERE E˙rgis Erk/Böhme Espinosa FFC FL Flowers Frenzel, Motive Frenzel, Stoffe Frey/Bolte Gasˇparı´kova´ Gesta Romanorum Ginzberg Goldberg Gonza´lez Sanz Gonzenbach Granger Grimm DS Grimm, Mythologie Grimm, Rechtsalterthümer GRM Guerreau-Jalabert Gullakjan
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Verzeichnis der Abkürzungen Günter 1949 György Haboucha Hahn Hansen Haring HDA HDM HDS Herbert Hervieux HessBllfVk. Hodne Hodscha Nasreddin Hoffmann Honti Höttges Hubrich-Messow
IFA Ikeda Jacques de Vitry/Crane JAFL Jason Jason, Indic Oral Tales Jason, Iraq Jason, Types Jauhiainen
JFI Jolles JSFO
XI
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XII Kecskeme´ti/Paunonen Keller Keller/Johnson Kerbelyte˙ Kerbelyte˙, LPTK KHM/Rölleke KHM/Uther Kippar Kirchhof, Wendunmuth Kirtley Klapper, MA. Klipple Kl. Pauly KNLL Köhler/Bolte Kongreß Kiel/Kopenhagen 1959 van der Kooi Krzyz˙anowski Kurdovanidze Lambrecht Laport LCI Legenda aurea/Benz Legenda aurea/Graesse Legros Liungman Liungman, Volksmärchen LKJ Lo Nigro Loorits Lo˝rincz LThK
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Verzeichnis der Abkürzungen Lüthi, Märchen MacDonald Martinez Marzolph Marzolph, Arabia ridens Marzolph/van Leeuwen MdW Megas Megas/Puchner
de Meyer, Conte de Meyer/Sinninghe MGH Mifsud-Chircop MNK Montanus/Bolte Moser-Rath, Predigtmärlein Moser-Rath, Schwank Mot. MPG MPL MSFO Müller/Röhrich Nascimento NDB Neugaard Neuland Neuman Nowak Noy NUC Nyman ´ Su´illeabha´in/Christiansen O
XIII
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XIV Oriol/Pujol ÖZfVk. Pauli/Bolte Pauly/Wissowa Pen˜alosa Pino Saavedra Plenzat Poggio Polı´vka Pujol Qvigstad RAC Ranke Raudsep Rausmaa Rausmaa, SK RDK RDL Rehermann RGG Robe Röhrich, Erzählungen Röhrich, Märchen und Wirklichkeit Röhrich, Redensarten Röth Rotunda RTP RusF Sabitov SAVk. SbNU Scherf
Verzeichnis der Abkürzungen Oriol, C./Pujol, J. M.: I´ndex tipolo`gic de la rondalla catalana. Barcelona 2003 (engl. Fassung: Index of Catalan Folktales [FFC 294]. Helsinki 2008). Österreichische Zeitschrift für Volkskunde. Pauli, J.: Schimpf und Ernst 1⫺2. ed. J. Bolte. Berlin 1924. Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung. ed. G. Wissowa u. a. Stuttgart 1894 sqq. Pen˜alosa, F.: El cuento popular maya: Hacia un indice (Versio´n preliminar […]). Rancho Palos Verdes [ca. 1992]. Pino Saavedra, Y.: Cuentos folklo´ricos de Chile 1⫺3. Santiago de Chile 1960⫺63. Plenzat, K.: Die ost- und westpreußischen Märchen und Schwänke nach Typen geordnet. Elbing 1927. Die Schwänke und Schnurren des Florentiners Gian-Francesco Poggio Bracciolini. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von A. Semerau. Leipzig 1905. Polı´vka, J.: Su´pis slovensky´ch rozpra´vok 1⫺5. Turcˇiansky sv. Martin 1923⫺31. Pujol, J. M.: Contribucio´ a l’index de tipus de la rondalla catalana. Tesi de llicenciatura Barcelona 1982. Qvigstad, J.: Lappische Märchen- und Sagenvarianten (FFC 60). Helsinki 1921. Klauser, T. (ed.): Reallexikon für Antike und Christentum. Stuttgart 1950 sqq. Ranke, K.: Schleswig-holsteinische Volksmärchen 1⫺3. Kiel 1955⫺62. Raudsep, L.: Antiklerikale estnische Schwänke. Typen- und Variantenverzeichnis. Tallinn 1969. Rausmaa, P.-L.: A Catalogue of Anecdotes (NIF Publications 3). Turku 1973. Rausmaa, P.-L.: Suomalaiset kansansadut 1⫺6. Helsinki 21988/82/90/ 93/96/2000. Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Begonnen von O. Schmitt. Stuttgart 1937 sqq. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Berlin 21958⫺84; Neubearbeitung u. d. T. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin/New York 31997⫺2003. Rehermann, E. H.: Das Predigtexempel bei protestantischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts. Göttingen 1977. Galling, K. (ed.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft 1⫺6 und Registerband. Tübingen 31956⫺66. Robe, S. L.: Index of Mexican Folktales. Berkeley u. a. 1973. Röhrich, L.: Erzählungen des späten Mittelalters und ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart 1⫺2. Bern/München 1962⫺67. Röhrich, L.: Märchen und Wirklichkeit. (Wiesbaden 1956) Baltmannsweiler 52001. Röhrich, L. (ed.): Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten 1⫺3. Freiburg/Basel/Wien 1991⫺92 (CD-ROM Berlin 2000). Röth, D.: Kleines Typenverzeichnis der europäischen Zauber- und Novellenmärchen. Baltmannsweiler 1998. Rotunda, D. P.: Motif-Index of the Italian Novella in Prose. Bloomington 1942. Revue des traditions populaires. Russkij fol’klor. Sabitov, S. S.: Sjuzˇety marijskich volsˇebnych skazok. In: Osnovnye tendencii razvitija marijskogo fol’klora i iskusstva. Josˇkar-Ola 1989, 20⫺45. Schweizerisches Archiv für Volkskunde. Sbornik za narodni umotvorenija i narodopis (Sbornik za narodni umotvorenija, nauka i kniz nina). Scherf, W.: Das Märchenlexikon 1⫺2. München 1995 (CD-ROM Berlin 2004).
Verzeichnis der Abkürzungen Schmidt Schullerus Schwarzbaum Schwarzbaum, Fox Fables SE Seki SF SFQ Simonsuuri Sinninghe Smith Soboleva Soroudi SovE˙ StandDict. STF Stroescu SUS Sveinsson von Sydow 1001 Nacht Thompson/Balys Thompson/Roberts Tille Tille, Soupis Ting Toldo 1901⫺1909
Tomkowiak TRE Tubach Verflex. Virsaladze
XV
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XVI de Vries Wander Ward Waterman Wesselski, Arlotto Wesselski, MMA Wesselski, Theorie WF Wickram/Bolte ZDMG ZfdA ZfVk.
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3. Verlagsorte Amst. Antw. B. Berk. Bloom. Bud. Buk. Cambr. Chic. Fbg Ffm. Hbg Hels. Kop.
Amsterdam Antwerpen Berlin Berkeley Bloomington Budapest Bukarest Cambridge Chicago Freiburg im Breisgau Frankfurt am Main Hamburg Helsinki Kopenhagen
L. L. A. Len. Lpz. M. Mü. N. Y. Ox. P. Phil. SPb. Stg. W. Wash.
London Los Angeles Leningrad Leipzig Moskau München New York Oxford Paris Philadelphia St. Petersburg Stuttgart Warschau Washington
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Suchen, Suchwanderung
Suchen, Suchwanderung. Das Suchen (S.), meistens in Form einer Suchwanderung (Sw.; Mot. H 1200⫺H 1399), besitzt in Epen, Ritterromanen, Volks- und Kunstmärchen sowie in einigen Sagen eine überaus wichtige Funktion. Es ist Bestandteil der Heldenbiographie (J Held, Heldin)1, die Sw. ist oft eine schwierige J Aufgabe, die der Held zu lösen hat2. Sie führt zu vielen J Abenteuern, und es zeigt sich im Überwinden großer Schwierigkeiten unterwegs (cf. J Reise; J Weg) der Mut, die körperliche und moralische Stärke von Held und Heldin (cf. J Bewährungsprobe; J Mutproben). Nach M. J Lüthi ist der isolierte und allverbundene Märchenheld wesenhaft ein Wandernder (J Isolation; J Allverbundenheit)3, so daß die Sw. geradezu aus seinem Charakter folgt. Sie findet entweder aus eigenem Antrieb oder als Auftrag statt4 und kann verzögert werden (J Retardierende Momente). Die Suche bildet den Hauptteil vieler Erzählungen, sie findet oft in zweiteiligen Märchen als Sw. statt. Ihre Bedeutung wird auch aus V. Ja. J Propps Strukturmodell ersichtlich5. Epen und Märchen werden gelegentlich ritualistisch gedeutet, die Sw. mit Survivals von Bräuchen wie J Initiationsriten, mit J Schamanenglauben und Ehetabus (J Tabu) in Verbindung gebracht6. Da das Märchen als gegliederte Zwei-Welt-Erzählung aufgefaßt werden kann (cf. J Außenwelt), gestaltet sich die Sw. oft in Form einer J Jenseitswanderung7. Der Weg zum Objekt der Sw. führt unter die Erde (J Unterwelt; cf. AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen), in die Höhe (cf. Der himmelhohe J Baum; J Glasberg8), über eine J Brücke (cf. auch J Grenze)9, meistens jedoch einfach in die Ferne, gelegentlich bis zum J Ende der Welt (cf. J Raumvorstellung, J Richtungssymbolik) oder durch drei kosmische Reiche10. Wegen der J Eindimensionalität des Märchens sind die Übergänge fließend, die Eigenschaften der diesseitigen und der jenseitigen Welt nicht immer unterscheidbar11. Erleben Held und Heldin einerseits auf der Sw. Leid und große Gefahren, so erhalten sie andererseits wunderbare Fortbewegungsmittel (J Fluggeräte; J Siebenmeilenstiefel)12, Ratschläge (J Ratgeber) und Hilfe (J Helfer; J Dankbare [hilfreiche] Tiere)13.
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Auslöser einer Suchaktion in Märchen und märchenhaften Dichtungen14 sind eine J Mangelsituation, ein Fehlelement oder eine J Schädigung15, wobei das Objekt oder das Ziel der Sw. vom Alltäglichen bis zum Wunderbaren reichen kann. So sucht der Held z. B. Arbeit, Dienst oder eine Lehrstelle, oft einfach Abenteuer16. Da die J Ehe das Ziel fast aller Zaubermärchen ist, spielt die Suche nach einem Ehepartner eine wichtige Rolle. Dabei kommt der J Fernliebe eine bes. Bedeutung zu: Bereits der Anblick eines Haars, eines Schuhs, eines Bildes etc. animiert den Helden, eine Sw. zu unternehmen; auch die J Verwünschung, einen unbekannten Ehepartner zu finden, zwingt die Protagonisten zur Sw.17 In AaTh/ATU 425: J Amor und Psyche und AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau (cf. auch J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe) muß hingegen der (die) schon gewonnene und durch Tabuverletzung oder J Verleumdung verlorene Gatte (Gattin) auf einer schwierigen und gefahrvollen Sw. (J Gefahr, Kap. 3) wiedergefunden werden. Die schwangere Frau muß auf der Suche einen Reifen um den Leib legen und darf erst gebären, wenn der wiedergefundene Gatte sie berührt hat18. Die Suchenden müssen mitunter eiserne Schuhe abtragen, bis sie ihren Partner finden (J Abtragen der Schuhe). Bruder- und Schwestermärchen, die das Motiv der Sw. enthalten, erzählen entweder von der Suche mehrerer Brüder nach mehreren Schwestern als Bräute (AaTh/ATU 303 A: J Brüder suchen Schwestern; cf. auch arab. Var.n von AaTh/ATU 304: Der gelernte J Jäger) oder über das S. der Schwester nach den verzauberten Brüdern (AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder), seltener von Brüdern nach den geraubten Schwestern (cf. AaTh/ATU 471: J Brücke zur anderen Welt; AaTh/ATU 552: J Tierschwäger)19. Lang ist der Weg auf der Sw. nach den gestohlenen Himmelskörpern (AaTh/ATU 328 A*: Three Brothers Steal Back the Sun, Moon and Star); z. T. wird die Länge des Weges durch die auf der Sw. um Rat und Hilfe Gefragten (J Einsiedler; J Oger; J Sonne; J Mond; J Stern) angezeigt (z. B. AaTh/ATU 451 [3]). Während der Mensch im realen Leben, in Religion und Philosophie nach dem Sinn des
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Suchen, Suchwanderung
Lebens sucht20, ist der Märchenheld ganz allg. auf sein J Glück aus21. Häufig heißt es am Anfang von Märchen: „Ich will ausziehen und mein Glück suchen.“22 Thematisiert wird in Märchen auch die Suche eines Glücklosen nach seinem Glück, um herauszufinden, warum er im Leben Unglück hat (AaTh/ATU 460 B: cf. J Reise zu Gott [zum Glück]). Von der Suche nach der J Unsterblichkeit bzw. über deren Vergeblichkeit handelt AaTh/ATU 470 B: J Land der Unsterblichkeit. Mit diesem Thema hängt das S. nach dem J Lebenskraut und dem J Lebenswasser (cf. AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens; AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne), nach einem wunderbaren Heilmittel23 wie der J Löwenmilch oder dem Kraut der Jugend (cf. J Verjüngung)24 zusammen (AaTh/ATU 590: Die treulose J Mutter; AaTh/ATU 315: Die treulose J Schwester). Spielt sich die Suche im Märchen auf einer fiktiven Ebene ab, so finden sich in Sagen oft Praktiken aus der Realität. Mit einer Wünschelrute sucht man J Wasser oder J Schätze25. Die Schatzsuche, ein weitverbreitetes Sagenmotiv26, ist mit großen Gefahren verbunden, muß zu bestimmten Zeiten stattfinden27 und ist oft vergeblich28. Schatzhüter wie Schatzsucher sind des öfteren geheimnisvolle Wesen29 oder erscheinen als J Seelentiere, die im Traum den Körper verlassen (cf. auch AaTh/ATU 1645: J Traum vom Schatz auf der Brücke)30. Bezüge zur Wirklichkeit zeigen sich zuweilen durch tatsächliche Schatzfunde als Resultat von Ausgrabungen31. Zusammenfassend kann man feststellen, daß sich in der Suche u. a. nach Wunderblumen (J Blume), Heilmitteln, nach Kleinodien, Zaubertieren und -gärten (J Garten, Gärtner; Mot. H 1320⫺H 1359) Menschheitsträume, Wünsche nach Entlastung32 oder Befreiung von den Mühen und Sorgen des Alltags manifestieren (J Wunschdichtung). Verschiedene, vornehmlich psychol. Forschungsrichtungen erblicken in Märchen Modelle des menschlichen J Reifungsprozesses; sie betrachten die Märchen gar als vorwiss. Entwicklungspsychologie. W. J Scherf betont die psychol. Bedeutung der Sw. in zweiteiligen Märchen, da der Entwicklungsprozeß eines Menschen nicht mit der J Hochzeit abgeschlossen sei33. Für die Psychologie der Richtung C. G. J Jungs ist des Helden Auf-dem-
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Weg-Sein eine „abenteuerliche Suchwanderung nach der ,schwer erreichbaren Kostbarkeit‘, dem Symbol des Selbst“34. Die Suche nach dem eigentlichen Selbst, die Suche des Helden nach seiner Identität ist auch in der Kunstdichtung vielfach thematisiert35. Schon die Suche nach dem J Gral in der J Artustradition (J Gawein; J Parzival) wird als Bewährungsprobe36 und Symbol der Selbstwerdung des Helden interpretiert37. 1 Daemmrich, H. S. und I.: Themen und Motive in der Lit. Tübingen/Basel 21995, Reg. s. v. Suche; Nekljudov, S. Ju.: „Geroicˇeskoe detstvo“ v e˙posach vostoka i zapada (Die Heldenkindheit in Epen des Ostens und des Westens). In: Istoriko-filologicˇeskie issledovanija. Sbornik statej pameti akad. N. I. Konrada. M. 1974, 129⫺140; Beit, H. von: Das Märchen. Sein Ort in der geistigen Entwicklung. Bern/ Mü. 1965, Reg. s. v. Sw., Wanderung; Wührl, P.-W.: Das dt. Kunstmärchen. Heidelberg 1984, Reg. s. v. Sw.; cf. ATU, Reg. s. v. Search; KHM/Uther 4, Reg. s. v. Sw.; Röth, D.: Kleines Typenverz. der europ. Zauber- und Novellenmärchen. Baltmannsweiler 2 2004, Reg. s. v. Sw. ⫺ 2 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 235; Horn, K.: Der aktive und der passive Märchenheld. Basel 1983, 42. ⫺ 3 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Mü. 61978, 29. ⫺ 4 Davies, M.: The Folk-Tale Origins of the Iliad and Odyssey. In: Wiener Studien 115 (2002) 5⫺43. ⫺ 5 Propp, V.: Morphologie des Märchens. ed. K. Eimermacher. Ffm. 1975, 39⫺42, 52 sq., 76⫺80, 84⫺ 86, 92 sq., 96, 122, 158 und pass.; cf. Tene`ze, M.-L.: Distinctions fondamentales dans la mise en ordre de l’ensemble des contes traditionnels franc¸ais. In: SF 20 (1976) 124⫺133; Röhrich, L.: Sage und Märchen. Fbg/Basel/Wien 1976, 13; cf. auch die Formel „geh, such, nimm und bring“ von W. Burkert, zitiert in Lüthi, Märchen, 119. ⫺ 6 Davies (wie not. 4); Wührl (wie not. 1) 230 sq.; Eliade, M.: Geschichte der religiösen Ideen 3,1. Fbg 1983, 107; Karlinger, F.: Jenseitswanderungen in der Volkserzählung. In: id.: Menschen in Märchen. Wien 1994, 91⫺102; Horn, K.: Der Weg. In: Die Welt im Märchen. ed. J. Janning/H. Gehrts. Kassel 1984, 22⫺37, hier 28 sq. ⫺ 7 Karlinger 1994 (wie not. 6); Röhrich, L.: Die Fahrt ins Jenseits. In: id.: „und weil sie nicht gestorben sind …“ Anthropologie, Kulturgeschichte und Deutung von Märchen. Köln u. a. 2002, 102⫺109. ⫺ 8 Horn (wie not. 6) 32⫺34. ⫺ 9 Dinzelbacher, P.: Die Jenseitsbrücke im MA. Wien 1973; cf. auch Horn, K.: Das Bild der Brücke in Märchen und Sage. In: Symbolik von Weg und Reise. ed. P. Michel. Bern u. a. 1992, 211⫺222, hier 218 sq. ⫺ 10 ead. (wie not. 6) 28. ⫺ 11 Lüthi, M.: Diesseits- und Jenseitswelt im Märchen. In: Janning/Gehrts (wie not. 6) 9⫺21. ⫺ 12 Horn (wie not. 6) 24 sq. ⫺ 13 ibid., 25; Röhrich (wie not. 5) 183 sq. ⫺ 14 Propp (wie not. 5) 96 und
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pass. ⫺ 15 ibid., 147 und pass. ⫺ 16 Massignon, G.: Contes traditionnels des teilleurs de lin du Tre´gor. P. 1981, 45; Ortutay, Gy.: Ung. Volksmärchen. B. 1980, 163. ⫺ 17 Köhler-Zülch, I.: Zur imperativen Verwünschung im Märchen. In: Der Wunsch im Märchen. Heimat und Fremde im Märchen. ed. B. Gobrecht/ H. Lox/T. Bücksteeg. Kreuzlingen/Mü. 2003, 26⫺41, bes. 29⫺33. ⫺ 18 Horn (wie not. 6) 24. ⫺ 19 Karlinger 1994 (wie not. 6) 94 sq. ⫺ 20 Urban, M.: Warum der Mensch glaubt. Von der Suche nach dem Sinn. Ffm. 2005. ⫺ 21 Bausinger, H.: Märchenglück. In: Zs. für Lit.wiss. und Linguistik 50 (1983) 17⫺27. ⫺ 22 Gonzenbach, num. 6; cf. auch Ortutay (wie not. 16) 289. ⫺ 23 Liljeblad, S.: Fahrt nach dem Heilmittel. In: HDM 2 (1934⫺40) 6⫺8; Karlinger 1984 (wie not. 6) 69⫺ 75. ⫺ 24 Elisse´eff, N.: The`mes et motifs des Mille et une Nuits. Beirut 1949, 175. ⫺ 25 Schwartz, W.: Die Wünschelrute als Qu.n- und Schatzsucher. In: ZfVk. 2 (1892) 67⫺78. ⫺ 26 z. B. Guntern, J.: Volkserzählungen aus dem Oberwallis. Basel 1978, num. 1843, 1849, 1555, 1870, 1872; cf. auch Waltner-Kallfelz, I.: Die Schatzsuche als religiöses Motiv. Wiesbaden 1993. ⫺ 27 Cammann, A./Karasek, A.: Donauschwaben erzählen 1⫺4. Marburg 1976⫺79, t. 1, 334⫺336; t. 3 (1978) 179 sq. ⫺ 28 iid.: Ungarndt. Volkserzählungen 2. Marburg 1982, 355. ⫺ 29 Schramm, R.: Venetianersagen. Von geheimnisvollen Schatzsuchern. Lpz. 1985; Röhrich, L.: Sage. Stg. 21971, 29. ⫺ 30 ibid., 42. ⫺ 31 ibid., 50. ⫺ 32 Gehlen, A.: Die Seele im technischen ZA. Hbg 1970, 18 sq.; Landmann, M.: Entfremdete Vernunft. Stg. 1975, 76. ⫺ 33 Scherf, W.: Psychol. Funktion und innerer Aufbau des Zaubermärchens. In: Wehse, R. (ed.): Märchenerzähler ⫺ Erzählgemeinschaft. Kassel 1983, 162⫺174, hier 170⫺173. ⫺ 34 Beit, H. von: Symbolik des Märchens [1]. Bern/Mü. 61981, 333⫺789 (Die Sw.), hier 335 sq.; cf. Obleser, H.: Parzival auf der Suche nach dem Gral. Tiefenpsychol. Aspekte. Leinfelden-Echterdingen 1977, 194⫺199, 201, 208 und pass.; Lüthi, Märchen, 105 sq. ⫺ 35 Buchmann, R.: Helden und Mächte des romantischen Kunstmärchens. Lpz. 1910, 85; Wührl (wie not. 1) 72⫺74. ⫺ 36 Daemmrich (wie not. 1) 338. ⫺ 37 Obleser (wie not. 34) 193; Waltner-Kallfelz (wie not. 26).
Basel
Katalin Horn
Südafrikanisches Erzählgut 1. Allgemeines ⫺ 2. Die Khoisan-Völker ⫺ 3. Die bantusprachigen Völker ⫺ 4. Europ. Einfluß ⫺ 5. Asiat. Einfluß ⫺ 6. Forschungszentren und Publ.sorgane
1 . All ge me in es. Das südl. Afrika, ursprüngliche Heimat der khoisan- und bantusprachigen Völker, wurde durch die Kolonisie-
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rung ⫺ ab 1652 durch die Holländ. OstindienGes., ab 1805 durch England ⫺ stark beeinflußt. Bis 1961 gehörte die 1910 gegründete Südafrik. Union dem Brit. Commonwealth an, schied dann selbst wegen der Kritik der übrigen Mitglieder an seiner Apartheidpolitik der strikten Rassentrennung aus und wurde Republik. 1994 wurde mit der Regierungsübernahme durch den African National Congress die diskriminierende Apartheid abgeschafft. Die geogr. Region Südafrika umfaßt die Republik Südafrika sowie die Staaten Swasiland, Lesotho, Namibia, Botswana, Sambia, Simbabwe, Malawi und Mosambik. Eine genaue kulturelle Abgrenzung der Länder untereinander ist aber unmöglich. Da viele Ethnien Südafrikas wie die meisten Völker Zentralafrikas zu den bantusprachigen Völkern gehören, bestehen enge Verbindungen zum J Zentralafrik. und J Ostafrik. Erzählgut (cf. auch J Altafrik. Erzählgut). Das südafrik. Erzählgut ist sehr reich, weil es durch vier verschiedene Kulturen geprägt ist1. 2 . D ie Kh oi sa n- Vö lk er. Die Buschleute (San) und Khoekhoe-Sprecher (Nama, Damara, Hai//om) gelten als die ältesten Einwohner des südl. Afrika. Ihre Überlieferungen wurden zuerst auf Anregung des Gouverneurs der Kap-Kolonie, Sir G. Grey, von dessen Bibliothekar W. H. I. Bleek (1827⫺75) gesammelt. Bleek stellte aus dem Expeditionsbericht von J. Alexander (1838)2 und den von Missionaren aus Namibia zugeschickten Beitr.en die erste Erzählsammlung in Buchform zusammen: Reynard the Fox in South Africa; or Hottentot Fables and Tales (L. 1864; dt. Weimar 1870) und begann selbst ab 1870, sich von Strafgefangenen des Kapstädter Gefängnisses, die während der Haftzeit und darüber hinaus jahrelang bei seiner Familie wohnten, Texte in der heute ausgestorbenen /Xam-Sprache diktieren zu lassen3. Den Hauptteil der bis 1884 niedergeschriebenen immensen und seit 2000 als Weltdokumentenerbe deklarierten Menge an /Xam- und !Kung-Material trug seine Schwägerin L. C. Lloyd bei4. Weitere wichtige Textsammlungen lieferten J. M. Orpen, L. Marshall, M. Biesele, M. Guenther und C. Kilian-Hatz für die Buschleute5 sowie T. Hahn, J. Olpp, L. Schultze, C. Meinhof, V. Lebzelter und S. Schmidt für die Khoekhoe-Sprecher6.
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Wesensmerkmal der alten Khoisan-Erzählungen ist die Vorstellung von einer mythischen Urzeit, in der die Tiere noch Menschen waren, und von einem Wendepunkt, als sie zu Tieren wurden und die heutigen Naturgesetze einsetzten. Im Zentrum der Erzählungen steht der J Trickster: bei den Südbuschleuten /Kaggen (Mantis), den Khoekhoe-Sprechern Haiseb, den Buschleuten in Botswana //Gauwa etc.7 Der Charakter der Trickster oszilliert oft innerhalb einer Geschichte zwischen mythischem Helden und Narren und kontrastiert stark mit der gleichnamigen Gestalt im Volksglauben, dem /Kaggen als J Herrn der Tiere und dem Haiseb als Gott einiger DamaraGruppen. Im gegenwärtigen Erzählen steht der J Oger Khoe-o¯reb (Menschenfresser) im Vordergrund. Seit den 1970er Jahren beschäftigte sich die südafrik. Forschung intensiv mit den Erzählungen der /Xam, um über sie Interpretationshilfen für die Felsbilder zu gewinnen, die bis ins 19. Jh. von Buschleuten hergestellt worden waren8. 3 . D ie ba nt us pr ac hi ge n Völ ke r. Seit dem 1. Jahrtausend p. Chr. n. drangen von Norden Völkerstämme aus Zentralafrika ein und besiedelten die nördl. und südöstl. Regionen. Im Gegensatz zu den nomadisierenden Khoisan-Völkern waren sie meist seßhafte Feldbauern und Viehzüchter9. Der Reisebericht des Missionsinspektors J. Campbell (1822)10 machte die ersten TswanaErzählungen in Europa bekannt. Grundlegend für alle Forschungen wurde die Ausg. von H. Callaway, der schon 1868 von ihm nach Diktat aufgezeichnete Zulu-Geschichten wörtlich in der Orig.sprache mit Übers. und Anmerkungen veröffentlichte11. Weitere klassische Slgen des 19. Jh.s stammen von G. M. Theal (Xhosa), H. A. Junod (Ronga, Tonga) und E´. Jacottet (Subiya, Lozi, Sotho)12. Von den zahlreichen Slgen des 20. Jh.s, die Orig.texte und Übers. bieten, sind hervorzuheben: J. R. Fell (Tonga), C. Hoffmann (Nord-Sotho), J. Torrend (Bene-Mukuni), A. Pettinen (Ndonga), C. M. Doke (Lamba), E. M. Loeb (Kuanyama), H. P. H. von J Sicard (Karanga), H. Scheub (Xhosa), D. Lehmann (Sambia) und E. Dammann (Herero)13, von den nur in Übers. veröff. die Slgen von M. Postma, A. C. Jordan und Scheub14. Außer
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von den Zulu sind Mythen verhältnismäßig wenig überliefert15. Eine erste größere Unters. für den gesamtafrik. Raum unternahm H. J Baumann16, für den Raum Simbabwe L. J Frobenius17. Die bekanntesten Gattungen der mündl. Überlieferung sind Trickstergeschichten, Märchen und realistische, in der Menschenwelt angesiedelte Erzählungen mit Märchenelementen. In den schwankhaften Trickstergeschichten überlistet entweder ein Kobold, auch als Wiesel bezeichnet (Zulu, Xhosa), ein J Hase, eine J Schildkröte oder (möglicherweise durch Einfluß der Nachbarvölker) ein J Schakal den J Löwen oder die J Hyäne. Tiergeschichten sind entgegen allg. verbreiteter Annahme seltener anzutreffen als in der Menschenwelt spielende Erzählungen. Im Gegensatz zur Khoisan-Tradition werden Märchen oft durch Formeln eingeleitet, die Erzähler und Publikum (meist erzählen ältere Frauen für Kinder) im Wechsel sprechen, und das Publikum singt die in den Texten enthaltenen Verse mit18. Hauptthema der Märchen ist die Konfrontation mit bedrohlichen Kräften einer jenseitigen Welt und wie man ihnen entkommt. Die Bezeichnungen für deren Personifizierung, den Oger, sind von der Wortwurzel -dı´mu abgeleitet und weisen damit auf Verbindungen zu anderen Geistwesen wie Ahnen, Götter oder zum Wirbelwind19, während der Name des Nama-Unholds Khoe-o¯reb den menschenvernichtenden Aspekt betont. Märchen mit negativem Ausgang gelten als Warngeschichten für junge Mädchen und Kinder. Sagen und Schwänke wurden in Slgen und wiss. Bearb.en vernachlässigt, Rätsel20 und Sprichwörter21 hingegen schon von der älteren Forschung untersucht. Ziel der ersten Sammler von Volkserzählungen, meist Missionare, war es, mit Hilfe der Erzählungen mehr über Charakter und Weltbild ihrer Gemeinden zu erfahren. In ihren Interpretationen wiesen sie darum darauf hin, wie Erzählungen Leben und Denken widerspiegeln (J Weltanschauung, Weltbild). Daneben gab es schon seit Beginn Ansätze, die Erzählungen mit anderen Überlieferungen zu vergleichen, so bereits durch Callaway22, Jacottet23 und von Sicard24. A. Werner stellte Material aus dem gesamten bantusprachigen Gebiet thematisch zusammen, um ein lebendiges Bild des Erzählschatzes zu geben25. Eine
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von der Folkloristik ebenso wie der gängigen Lit.wissenschaft abweichende eigene literar., von der J Performanztheorie ausgehende Interpretationsweise entwickelte Scheub, der u. a. den Geschichten einer herausragenden Erzählerin einen umfangreichen Band widmete26. Textmorphologische Analysen unternahm W. J. G. Möhlig anhand von DcirikuÜberlieferungen27. Die Erzählforschung beschäftigt sich in letzter Zeit nur noch selten mit Märchen28, und wenn, dann meist mit ihrer literar. Verarbeitung29. Schwerpunkte der Forschung bilden Lieder, bes. Preislieder30, sowie Oral history31. 4 . E ur op . E in fl uß. Von der 1652 am Kap der Guten Hoffnung gegründeten Versorgungsstation der Holländ. Ostindien-Ges. aus drangen Kolonisten zunächst in das KhoisanGebiet ein, erst im 19. Jh. in die östl. und nordöstl. Gebiete der bantusprachigen Ethnien. Auch nach der Eroberung des Kaps durch die Engländer (1805) blieb auf dem Land Kapholländisch, im 20. Jh. Afrikaans genannt, die Lingua franca und Sprache der sog. Farbigen, der Nachkommen von Khoisan, Malaien und Weißen, während das städtische Leben engl. geprägt war. Das reiche Erzählgut der Kolonisten der holländ. Zeit ging bald auch in die Überlieferungen dieser Farbigen über. Als am Ende des 19. Jh.s im Zuge der europ. Nationalbewegungen Schriftsteller wie Stephenus J. du Toit (1847⫺1911)32 und Gideon R. von Wielligh (1859⫺1932)33 nach mündl. Überlieferungen suchten, um daraus eine eigene afrikaanse Lit. aufzubauen, war bei den Weißen bereits vieles vergessen. So griffen sie außer auf die eigenen Überlieferungen auch auf das Erzählgut der Kapholländisch sprechenden farbigen Farmangestellten zurück, die vieles bewahrt hatten. Die Farbigen verbreiteten bei ihren Wanderungen schon im 19. Jh. ursprünglich europ.-asiat. Traditionen bis nach Namibia. Dort konnte Schmidt bis in die 1990er Jahre noch viele verschiedenartige Erzählungen dieser Herkunft sammeln34. Die Geschichten sind weitgehend an einheimische Gegebenheiten angepaßt und werden von den Erzählern als eigene alte Familientradition angesehen. Vor allem A. J. J Coetzee35 und P. W. Grobbelaar36 beschäftigten sich mit
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dem afrikaansen Erzählgut. Mündl. Überlieferungen anderer europ. Einwanderer wurden nicht publiziert. Internat. Einfluß macht sich auch bei modernen Sagen bemerkbar37. 5 . Asi at . E in fl uß. Im 17. und 18. Jh. brachten die Holländer politische Verbannte und Sklaven aus Indonesien und Indien ans Kap, deren Nachfahren als sog. Kapmalaien bis heute eine durch ihren islam. Glauben gestützte Eigenständigkeit bewahrt haben. Sie übernahmen früh das Kapholländische als Muttersprache und beeinflußten ihrerseits das südafrik. Erzählgut38. Bereits dem ersten Forschungsreisenden in Namibia, Alexander, wurde 1837 die aus dem ind. J Papageienbuch bekannte und heute im südl. Afrika weitverbreitete Tiergeschichte AaTh/ATU 126: J Kinder begehren das Fleisch des Unholds als NamaGeschichte erzählt39. I. D. du Plessis sammelte in den 1930er Jahren Märchen und Lieder der Kapmalaien; seine dreibändige Ausg. (1939⫺ 43) zeigt eine Vermischung asiat. und europ. Überlieferungen40. Außerdem verbreitete sich asiat. Erzählgut von den seit vorchristl. Zeit bestehenden Handelsniederlassungen der Inder und Araber an der ostafrik. Küste allmählich über den Kontinent. Welche Rolle die im 19. Jh. direkt nach Südafrika eingewanderten ind. Geschäftsleute und Zuckerplantagen-Arbeiter spielten, ist noch nicht untersucht. 6 . For sc hu ng sz en tr en un d P ub l. so rg an e. Bereits im 19. Jh. existierte eine FolkLore Soc., die von 1879⫺81 in Kapstadt das Folk-Lore J. herausgab und darin Material der bantu- und khoisansprachigen Ethnien dokumentierte. Heute wird Erzählforschung in Südafrika an den Univ.en in den Abteilungen für afrik. bzw. europ. Sprachen betrieben41. Die 1986 gegründete Scallan Soc. for Folklore Studies (ab 1991 The Southern African Folklore Soc.) publiziert seit 1990 das Southern African J. for Folklore Studies mit Abhdlgen und Textausgaben. Zum Zentrum der Forschung entwickelte sich das Natal Univ. Oral Documentation and Research Centre in Durban. Beitr.e zur afrikaansen Erzählforschung erscheinen gelegentlich auch in der seit 1944 herausgegebenen Tydskrif vir Vk. en Volkstaal. 1 Bibliogr.n: Scheub, H.: African Oral Narratives, Proverbs, Riddles, Poetry and Song. Boston 1977; Görög, V.: Litte´rature orale d’Afrique Noire. Bi-
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bliogr. analytique. P. 1981; ead.: Bibliogr. annote´e. Litte´rature orale d’Afrique Noire. P. 1992; Coetzee, A./Hattingh, S. C./Loots, W. J. G./Swart, P. D.: Tiperegister van die Afrikaanse Volksverhal. In: Tydskrif vir Vk. en Volkstaal 23 (1967) 1⫺90; Schmidt, S.: Katalog der Khoisan-Volkserzählungen des südl. Afrikas 1⫺2. Hbg 1989; Funcke, E. W.: Schwarze Märchen ⫺ Weiße Federn. Weiße Sammler des Erzählgutes der schwarzen Gemeinschaften im südl. Afrika. In: South African J. of Cultural History 6,1 (1992) 1⫺12; Schmidt, S.: Sammler und Slgen von Nama/Damara-Volkserzählungen 1779⫺1945. In: J. of the Namibia Scientific Soc. 45 (1995⫺96) 57⫺72; cf. auch Scheub, H.: South Africa, Oral Traditions. In: Peek, P. M./Yankah, K. (edd.): African Folklore. An Enc. N. Y./L. 2004, 418⫺420; Pongweni, A. C.: Southern African Folklore: Overview. ibid., 420⫺ 424; Scheub, H.: Southern African Oral Traditions. ibid., 424⫺429; Kaschula, R. H.: Southern Africa: Contemporary Forms of Folklore. ibid., 429⫺431; Taylor, T.: Southern Africa: Shona Folklore. ibid., 431⫺434. ⫺ 2 Alexander, J. E.: An Expedition of Discovery into the Interior of Africa 1⫺2. L. 1838. ⫺ 3 Deacon, J./Dowson, T. A. (edd.): Voices from the Past. /Xam Bushmen and the Bleek and Lloyd Collection. Johannesburg 1996. ⫺ 4 Bleek, W. H. I./Lloyd, L. C.: Specimens of Bushman Folklore. L. 1911. ⫺ 5 Orpen, J. M.: A Glimpse into the Mythology of the Maluti Bushmen. In: FL 30 (1919) 139⫺156; Marshall, L.: !Kung Bushmen Religious Beliefs. In: Africa 32 (1962) 221⫺252; Biesele, M.: Women Like Meat. The Folklore and Foraging Ideology of the Kalahari Ju/’hoan. Johannesburg/ Bloom. 1993; Guenther, M.: Bushman Folktales. Oral Traditions of the Nharo of Botswana and the / Xam of the Cape. Stg. 1989; Kilian-Hatz, C.: Folktales of the Kxoe in the West Caprivi. Köln 1999. ⫺ 6 Hahn, T.: Tsuni-//goam, the Supreme Being of the Khoi-khoi. L. 1881; Olpp, J.: Aus dem Sagenschatz der Nama Khoi-Khoin. In: Mittlgen der Geogr. Ges. Jena 6 (1888) 1⫺47; Schultze, L.: Aus Namaland und Kalahari. Jena 1907; Meinhof, C.: Lehrbuch der Nama-Sprache. B. 1909; Lebzelter, V.: Eingeborenenkulturen in Südwest- und Südafrika. Lpz. 1934; Schmidt, S.: Märchen aus Namibia. MdW 1980; ead.: Aschenputtel und Eulenspiegel in Afrika. Köln 1991; ead.: Zaubermärchen in Afrika. Köln 1994; ead.: Als die Tiere noch Menschen waren. Köln 1995; ead.: Tiergeschichten in Afrika. Köln 1996; ead.: Sagen und Schwänke in Afrika. Köln 1997; ead.: Scherz und Ernst. Afrikaner berichten aus ihrem Leben. Köln 1998; ead.: Hänsel und Gretel in Afrika. Köln 1999; ead.: Tricksters, Monsters and Clever Girls. Köln 2001; ead.: Children Born from Eggs. African Magic Tales. Köln 2007. ⫺ 7 Bleek, D.: The Mantis and His Friends. Bushman Folklore. Cape Town 1923; Marshall (wie not. 5); Hewitt, R. L.: Structure, Meaning and Ritual in the Narratives of the Southern San. Hbg 1986; Biesele (wie not. 5); Guenther, M.: Tricksters and Trancers. Bushman Religion and Soc. Bloom./Indianapolis
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1999; Schmidt 1995, 2001 (wie not. 6). ⫺ 8 Pager, H.: Stone Age Myth and Magic as Documented in the Rock Paintings of South Africa. Graz 1975; Vinnicombe, P.: People of the Eland. Rockpaintings of the Drakenberg Bushmen as a Reflection of Their Life and Thought. Pietermaritzburg 1976; Lewis-Williams, D.: Believing and Seeing. Symbolic Meanings in Southern San Rock Paintings. L. 1981; Solomon, A.: ,Mythic Women!‘ A Study in Variability in San Rock Art and Narrative. In: Dowson, T./Lewis-Williams, D. (edd.): Contested Images. Diversity in Southern African Rock Research. Johannesburg 1994, 331⫺371; Lenssen-Erz, T.: Jumping about. Springbok in the Brandberg Rock Paintings and in the Bleek and Lloyd Collection. An Attempt at a Correlation. ibid., 274⫺291. ⫺ 9 Allg. Darstellungen des Erzählguts bantusprachiger Völker: Werner, A.: African Mythology. In: McCulloch, J. A. (ed.): The Mythology of all Races 7. Boston 1925, 108⫺447; ead.: Myths and Legends of the Bantu. L. 1933; Andrzejewsky, B. W./Pilaszewicz, S./Tyloch, W. (edd.): Literatures in African Languages. Theoretical Issues and Sample Surveys. Cambr./W. 1985; Scheub, H.: A Review of African Oral Traditions and Literature. In: African Studies Review 28, 2⫺3 (1985) 1⫺72. ⫺ 10 Campbell, J.: Travels in South Africa, Being a Narrative of a Second Journey in the Interior of that Country 1⫺2. L. 1822, hier t. 2, 349⫺370. ⫺ 11 Callaway, H.: Nursery Tales. Traditions and Histories of the Zulus. Springvale/L. 1868. ⫺ 12 Theal, G. M.: Kaffir Folk-Lore. L. 1884; Junod, H. A.: Les Chants et les contes des Ba-Ronga de la baie de Delagoa. Lausanne 1897; id.: The Life of a South African Tribe 2. Neuchaˆtel/L. 1913; Jacottet, E.: E´tudes sur les langues du Haut-Zambe`ze. 2: Textes Soubiya. P. 1899; id.: E´tudes sur les languages du Haut-Zambe`ze. 3: Textes Louyi. P. 1901; id.: The Treasury of Ba-Suto Lore. L. 1908. ⫺ 13 Fell, J. R.: Ingano zya Batonga e Zimpangaliko Zimwi/Folk Tales of the Batonga and Other Sayings. L. s. a.; Hoffmann, C.: Märchen und Erzählungen der Eingeborenen in Nord-Transvaal. In: Zs. für Kolonialsprachen 6 (1915⫺16) 28⫺54, 125⫺153, 206⫺243, 285⫺331; Torrend, J.: Specimens of Bantu Folklore from Northern Rhodesia. L./N. Y. 1921; Pettinen, A.: Märchen der Aandonga. In: Zs. für Eingeborenen-Sprachen 16 (1925⫺26) 133⫺148, 197⫺240, 256⫺275; id.: Sagen und Mythen der Aandonga. ibid. 17 (1926⫺27) 51⫺78, 108⫺129; Doke, C. M.: Lamba Folklore. N. Y. 1927; Loeb, E. M.: Kuanyama Ambo Folklore. Berk./L. A. 1951; Sicard, H. ˜ gano dze Cikaran˜ga ⫺ Karangamärchen. von: N Uppsala 1965; Scheub, H.: The Xhosa Ntsomi. Ox. 1975; Lehmann, D.: Folktales from Zambia. Texts in Six African Languages and in English. B. 1983; Dammann, E.: Was Herero erzählten und sangen. Texte, Übers., Kommentar. B. 1987. ⫺ 14 Postma, M.: Tales from the Basotho. Austin/L. 1974; Jordan, A. C.: Tales from Southern Africa. Berk./L. A./L. 1973; Scheub, H.: Zenani, Nongenile Masithatu: The World and the Word. Tales and Observations from
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Südafrikanisches Erzählgut
the Xhosa Oral Tradition. Madison 1992. ⫺ 15 Callaway, H.: The Religious System of the Amazulu. L. 1870; Madela, L.: Zulu Mythology. ed. K. Schlosser. Kiel 1997. ⫺ 16 Baumann, H.: Schöpfung und Urzeit des Menschen im Mythus der afrik. Völker. B. 1936. ⫺ 17 Frobenius, L.: Erythräa. Länder und Zeiten des hl. Königsmordes. B./Zürich 1931; id.: Südostafrik. Märchen. In: L. Jahresber. 1931/32. ed. Württembergischer Verein für Handelsgeographie. Stg. 1932, 47⫺70. ⫺ 18 Neethling, S. J.: The Refrain as Structural Element in Xhosa Iintsomi. In: Groenewald, H. C. (ed.): Oral Studies in Southern Africa. Pretoria 1990, 40⫺53; Schmidt 2001 (wie not. 6) 273. ⫺ 19 Kuper, A.: South Africa and the Anthropologist. L./N. Y. 1986, 170. ⫺ 20 Kuusi, M.: Ovambo Riddles with Comments and Vocabularies (FFC 215). Hels. 1974. ⫺ 21 id.: Ovambo Proverbs with African Parallels (FFC 208). Hels. 1970; Mieder, W.: African Proverb Scholarship. An Annotated Bibliogr. Colorado Springs 1994. ⫺ 22 Callaway (wie not. 11). ⫺ 23 Jacottet (wie not. 12). ⫺ 24 von Sicard (wie not. 13). ⫺ 25 Werner (wie not. 9). ⫺ 26 Scheub, H.: Parallel Image Sets in African Oral Narrative Performances. In: Review of National Literatures 2, 2 (1971) 206⫺223; id. (wie not. 13); id.: Oral Narrative Process and the Use of Models. In: New Literary History 6 (1975) 353⫺377; id.: Body and Image in Oral Narrative Performance. ibid. 8 (1977) 345⫺367; id. (wie not. 14); ferner Cancel, R.: Inshimi Performance Techniques of the Zambian Tabwa. In: Ba Shiru 12, 1 (1981) 47⫺65; id.: Tabwa Oral Narrative on Video. Techniques and Audience Response. In: Moyo, S. C. P./Sumaili, T. W. C./Moody, J. A. (edd.): Oral Traditions in Southern Africa 3. Lusaka 1986, 439⫺454; id.: Broadcasting Oral Traditions. The ,Logic‘ of Narrative Variants ⫺ The Problem of ,Message‘. In: African Studies Review 29 (1986) 60⫺70; id.: Three African (Oral) Narrative Versions. In: American J. of Semiotics 6 (1988/ 89) 85⫺107; id.: Allegorical Speculations in an Oral Society. The Tabwa Narrative Tradition. Berk./L. A. 1989; Wendland, E. R.: Stylistic Form and Communicative Function in Nyanja Radio Narratives of Julius Chongo. Diss. Madison, Wisc. 1979; id.: From the Eyes of a Girl to the Eyes of a Goat. Julius Chongo’s Visualization of Dramatic Narrative for an Invisible Radio Audience. In: Research in African Literatures 37,2 (2006) 98⫺123. ⫺ 27 Möhlig, W. J. G.: Grundzüge der textmorphologischen Struktur und Analyse afrik. Erzählungen. In: Afrikanistische Arbeitspapiere 8 (1986) 5⫺56; id.: The Architecture of Bantu Narratives: An Interdisciplinary Matter. Analysis of a Dciriku Text. In: Traill, A./Vossen, R./ Biesele, M. (edd.): The Complete Linguist. Köln 1995, 85⫺113. ⫺ 28 Okafor, C. A.: The Banished Child. A Study in Tonga Oral Literature. L. 1983; Kayira, B. M. C.: Satire in Tales from Malawi. In: Moyo, S. C. P./Sumaili, T. W. C./Moody, J. A. (edd.): Oral Traditions in Southern Afrika 2. Lusaka 1986, 310⫺326; Moody, J. A.: Story-Telling in Zambia. A Case for a Connection between Literary Tech-
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nique and ,Normal‘ Language Use. ibid., 439⫺454; Chimombo, S.: Malawian Oral Literature. The Aesthetics of Indigenous Arts. Zomba 1988; DauphinTinturier, A.-M.: Le Maˆle necessaire. In: J. des Africanistes 60,1 (1990) 27⫺46; ead.: La Femme, le lion et le preˆtre. Les trois fonctions de la femme dans le nord de Zambia. In: Cahiers de litte´rature orale 34 (1993) 177⫺221; ead.: La Fille difficile aushi et lunda (Zambie). In: Görög-Karady, V./Seydou, C. (edd.): La Fille difficile. Un conte-type africain. P. 2001, 203⫺237; Makgamatha, P. M.: Characteristics of the Northern Sotho Folktales. Johannesburg 1991; Canonici, N. N.: Tricksters and Trickery in Zulu Folktales. Diss. (masch.) Durban 1995; Mahlaule, J. W.: Folklore as Social Philosophy. Problem Resolution and Social Stability in Shona Traditional Folktales (Ngano). In: Southern African J. of Folklore Studies 10,2 (1999) 25⫺34. ⫺ 29 Msimang, C. T.: Folktale Influence on the Zulu Novel. Pretoria 1986; Canonici, N. N.: Traditional Cannibal Motifs in Modern Zulu Fiction. In: Sienaert, E. R./Bell, A. N. (edd.): Oral Tradition and Innovation. New Wine in Old Bottles? Durban 1991, 304⫺323; Ayivor, K.: Thomas Mopoku Mofolo’s ,Inverted Epic Hero‘. A Reading of Mofolo’s ,Chaka‘ as an African Epic Folktale. In: Research in African Literatures 28,1 (1997) 49⫺77; Danaı¨, O. B.: Fonction culturelle de Chaka chez T. Mofolo compare´e a` celle du he´ros e´pique traditionnel. In: Derive, J. (ed.): L’E´pope´e. Unite´ et diversite´ d’un genre. P. 2002, 189⫺199. ⫺ 30 Westley, D.: A Select Bibliogr. of Southern Bantu Praise Poetry. In: Research in African Literatures 33 (2002) 153⫺177. ⫺ 31 Hofmeyr, I.: „We Spend Our Years as a Tale That Is Told“. Oral Historical Narrative in a South African Chiefdom. Johannesburg/L. 1994; ead.: ,Wailing for Purity‘. Oral Studies in Southern African Studies. In: African Studies 54,2 (1995) 16⫺ 31. ⫺ 32 Von S. J. du Toit edierte Zss.: Ons Klyntji (1896⫺1906); Ons Taal (1907⫺09). ⫺ 33 Wielligh, G. R. von: Boesman Stories 1⫺4. Kapstadt 1917⫺ 21; id.: Dierestories soos deur Hotnots vertel 1⫺4. Pretoria 1917⫺22. ⫺ 34 Schmidt 1991, 1999 (wie not. 6); ead.: Europ. Sagen bei den Nama und Dama in Südwestafrika/Namibia. In: Fabula 26 (1985) 298⫺316. ⫺ 35 Coetzee, A.: Die verhaalskat van Ons Klyntji (1896⫺1905). Johannesburg u. a. 1940. ⫺ 36 Grobbelaar, P. W.: Die volksvertelling as kultuuruiting, met besondere verwysing na Afrikaans. Diss. (masch.) Stellenbosch 1981; id.: Abel Coetzee en sy rubriek „Waar die volk skep“. Vroe¨e Afrikaanse Volkskultuur. Stellenbosch 1994; id.: Die mooiste Afrikaanse Stories. Kapstadt/Pretoria 1969. ⫺ 37 Goldstuck, A.: The Rabbit in the Thorn Tree. Modern Myths and Urban Legends of South Africa. L. 1990; id.: The Leopard in the Luggage. Urban Legends from Southern Africa. L. 1993; id.: Ink in the Porridge. Urban Legends of the South African Elections. L. 1994; id.: The Aardvark and the Caravan. Sandton 1999. ⫺ 38 Hattingh, S. C.: Sprokievorsing. Met spesiale toepassing op die Afrikaanse
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Sudan
volksverhale. Johannesburg 1950, 166⫺177; Rautenbach, S. C. H.: Die Wording van ’n Siklus in die Afrikaanse Diersprokie. Diss. (masch.) Witwatersrand 1949; Schmidt 1991 (wie not. 6) 212⫺215; ead. 1999 (wie not. 6) 190 sq. ⫺ 39 Alexander (wie not. 2) t. 2, 247⫺250. ⫺ 40 Plessis, I. D. du: Uit die Slamse Buurt 1⫺2. Kapstadt 1939; id.: Die gevleuelde perd en ander Kaapse stories. Kapstadt 1943; id.: Tales from the Malay Quarter. Kapstadt 1981. ⫺ 41 z. B. Grobbelaar (wie not. 36); Neethling, S. J.: Die Xhosa Iintsomi: ’n Strukturele Benadering. Diss. (masch.) Stellenbosch 1979, 29⫺43; Funcke, E.: Märchenkunde an der Univ. Pretoria. Ber. über einen Unterrichtsversuch. In: Deutschunterricht in Südafrika 26,2 (1995) 57⫺67.
Hildesheim
Sigrid Schmidt
Sudan, ostafrikan. Staat. Der Name leitet sich ab von arab. bila¯d as-Su¯da¯n (Länder der Schwarzen), einer allg. Bezeichnung für die afrik. Großlandschaft des saharo-sahel. Landgürtels zwischen dem Roten Meer und der senegales. Atlantikküste (S.gürtel)1. Das Gebiet des heutigen Staates S. beherbergte hist. Großreiche, so das Reich Meroe¨ (4. Jh. a. Chr. n.⫺4. Jh. p. Chr. n.), das Reich der christl. Nubier (540⫺1504) und das FungSultanat (bis 1821). Nach einer Periode ägypt. Einflusses wurde es 1899⫺1955 als Kondominium von Großbritannien und Ägypten gemeinsam verwaltet. Seit der Unabhängigkeit (1956) wird das Land wechselweise von Zivilregierungen und Militärregimes regiert. Der Norden des Landes wird von arab.sprachigen Muslimen (ca 15 Millionen) bewohnt. Der christl. bzw. von traditionellen Religionen geprägte Süden S.s (ca 24 Millionen Einwohner) ist mit über 310 gesprochenen Sprachen (nigerkordofan., nilo-saharan., afro-asiat. Sprachfamilien) ethnisch und linguistisch überaus heterogen2. Kriegerische Konflikte zwischen dem dominanten arab.-muslim. Norden und dem Süden3, denen u. a. auch wechselseitige Stereotypvorstellungen zugrunde liegen4, haben mehrere Millionen Tote zur Folge. Sudanes. Erzählgut dokumentierten seit den 1860er Jahren zunächst ausschließlich europ. Forschungsreisende, Missionare, Sprachforscher und Ethnologen. Erforscht wurden die Überlieferungen der S.araber5 sowie der Völker des West- und Süd-S. (Anuak6, Dinka7, Nubier8, Shilluk9, Zande10 u. a.11). Es liegen
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mehrere Arbeiten zur vergleichenden Typenund Motivforschung vor12. Kulturhist. Motivstudien belegen Beziehungen des rezenten sudanes. Erzählguts zu dem der griech. Antike sowie benachbarter Kulturen (cf. bes. J Ägypten, J Arab.-islam. Erzählstoffe)13. Dabei wird u. a. deutlich, daß die Wüstengebiete keine Barrieren zwischen Nord und Süd darstellen14. Ferner liegen sozialethnol. orientierte Themenanalysen15, eine strukturalistische Unters.16 sowie Studien zu urbanen und medial vermittelten Formen des Erzählens17 vor. Am Institute of African and Asian Studies der Univ. Khartum wurde 1994 ein Folklore- und Musikarchiv eingerichtet. Das gesamtsudanes. Erzählgut besteht zu einem Großteil aus allg. in Afrika verbreiteten Tiergeschichten (J Ostafrik. Erzählgut). Erzählungen mit menschlichen Handlungsträgern thematisieren die komplexe Familienordnung und Außenseitertum, Macht und Gerechtigkeit, Allianzen und Reziprozität sowie die Struktur der Männer- und Frauenbeziehungen18. In bestimmten Regionen kursieren Erzählungen über (arab.) Kulturheroen (Abu¯ Zaid al-Hila¯li, Abu¯ Kan¤a¯n)19, islam. Heilige20 sowie verschiedene Figuren, die feste Bestandteile des Volksglaubens sind (Eselmenschen, Zwillinge, Wertiere, Wiedehopf etc.)21. Die arab. und nub. Völker entlang des Nils kennen Geschichten über Wassergeister, die Besessenheit auslösen können22. Die traditionellen Kosmologien der Nilotenvölker sind z. T. von einem ökonomisch-symbolischen ,Rinderkomplex‘ geprägt23. 1
Triaud, J. L./Kaye, A. S.: Su¯da¯n, Bila¯d al-. In: EI2 9 (1997) 752⫺761. ⫺ 2 Gordon, R. G. (ed.): Ethnologue. Dallas 152005, 187⫺197. ⫺ 3 Beck, K.: S. In: Mabe, J.-E. (ed.): Das Afrika-Lex. Wuppertal/Stg. 2001, 608⫺611. ⫺ 4 Omotoso, K.: Trans-Saharan Views. Mutually Negative Portrayals. In: Jones, E. D. (ed.): African Literature Today 14. L. u. a. 1984, 111⫺117. ⫺ 5 Marno, E.: Reise in der ägypt. Äquatorialprovinz und in Kordofan. Wien 1878, 257⫺286; Frobenius, L.: Märchen aus Kordofan. Jena 1923 (cf. hierzu Jahn, S. al-Azharia: Der dt. Afrikaforscher Leo Frobenius als erster Sammler sudanarab. Volkserzählungen. In: Paideuma 21 [1975] 30⫺46); Nalder, L. F.: Tales from the Fung Province. In: S. Notes and Records 14 (1931) 67⫺86; Jahn, S. al-Azharia: Arab. Volksmärchen. B. 1970; Hurreiz, S. H.: The S. Manasir and Ja‘aliyyı¯n Tales Collected. In: Dorson, R. M. (ed.): African Folklore. Bloom./L. 1972, 369⫺385; id.: Ja‘aliyyı¯n Folktales.
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Sudan
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S´ukasaptati
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(wie not. 5); Yagi (wie not. 5); Jahn, S. al-Azharia: Abu Kan¤a¯n, ein Kulturheros in den Trockengebieten des Westsudans. In: Anthropos 78 (1983) 556⫺ 564. ⫺ 20 Abdelsalam, S.: Muslim Saints‘ Legends in the S. In: Anyidoho, K. u. a. (edd.): Cross Rhythms. Bloom. 1983, 129⫺154. ⫺ 21 Nalder, L. F.: Folklore and Fable in the S. In: Hamilton, J. A. de C. (ed.): The Anglo-Egyptian S. from within. L. 1935, 225⫺243; Jahn, S. al-Azharia: Männliche und weibliche Gestalten mit Eselsbeinen in Volkserzählungen aus dem Nordsudan. In: Fabula 19 (1978) 102⫺113; ead.: Der Wiedehopf (Upupa epops L.) in Nordeuropa und den islam. Ländern Afrikas. In: Anthropos 76 (1981) 371⫺392. ⫺ 22 Kennedy, J. G.: Aman Doger: Nubian Monster of the Nile. In: JAFL 83 (1970) 438⫺445; Hofmann, I.: Die Bedeutung der Wassergeister in der rezenten nub. Orallit. In: Komparative Afrikanistik. Festschr. H. G. Mukarovsky. Wien 1992, 189⫺197. ⫺ 23 Westermann (wie not. 9) 96⫺241; Herskovits, M. J.: The Cattle Complex in East Africa. In: American Anthropologist 28 (1926) 230⫺272, 361⫺388, 494⫺528, 633⫺664; Wagner, D.: Die Schlange in Kult, Mythos und Vorstellung der nordostafrik. Stämme. Diss. Mü. 1970; Haberland, E.: MenschTier-Beziehungen. Das Beispiel der nordostafrik. Hirten. In: Kolloquien zur allg. und vergleichenden Archäologie 4. Mainz 1983, 175⫺189.
Köln
Thomas Geider
S´ukasaptati J Papageienbuch S´ukasaptati (AaTh/ATU 1352 A), J Ehebruchgeschichte, die exemplarisch darstellt, daß weibliche Untreue (J Treue und Untreue) durch die den Frauen angeblich inhärente J Neugier verhindert werden könne. Der Erzähltyp beruht auf der J Rahmenerzählung der in Sanskrit abgefaßten ind. Erzählsammlung S´ukasaptati (70 [Erzählungen eines] Papageien; J Papageienbuch), deren Entstehung möglicherweise bis in das 10. Jh. zurückreicht. Sie enthält nach einer weitläufigen Vorgeschichte folgende Grundform1: Als der Kaufmann Madanase¯na auf Reisen geht, läßt er seine junge Frau Prabha¯vatı¯ in der Obhut zweier zahmer Vögel, einer (weiblichen) Predigerkrähe und eines (männlichen) J Papageis (die verwandelte Halbgötter sind; J Tierverwandlung). Durch Kupplerinnen überredet, will sich die junge Frau nach einiger Zeit zu dem in sie verliebten Prinzen begeben. Als die Predigerkrähe sie wegen ihres Vorhabens tadelt, versucht Prabha¯vatı¯, sie umzubringen; der Vogel entkommt jedoch. Der Papagei
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setzt demgegenüber auf List: Er zeigt Verständnis für das Verlangen der jungen Frau, rät ihr aber, die Konsequenzen ihres Handelns zu bedenken. Zur Veranschaulichung erzählt er ihr eine Geschichte, die ihre Aufmerksamkeit so lange bindet, bis sie nicht mehr weggehen kann. Dies geschieht an mehreren Tagen hintereinander, bis der Kaufmann zurückkehrt. Er verzeiht seiner Frau, und die beiden Vögel werden durch eine glückliche Fügung aus ihrer Tiergestalt erlöst.
Durch zahlreiche volkssprachliche Fassungen des Papageienbuchs ist die Rahmenerzählung mit geringen Variationen (oft ohne Tierverwandlung) in weiten Teilen Süd-, Südostund Mittelasiens (cf. auch J Ardschi Bordschi)2 verbreitet3. Über pers. und türk. Fassungen (seit dem 13. Jh.)4 gelangte sie ⫺ nach W. A. J Clouston eventuell bereits im 14. Jh.5 ⫺ nach Europa, wo sie in wenigen Belegen ausschließlich aus der rom. Überlieferung (ital., span., port.; auch mexikan., brasilian.) dokumentiert ist6. Bemerkenswert ist bei diesen Var.n vor allem, daß sich in manchen von ihnen ⫺ möglicherweise als Nachhall ind. Vorstellungen von J Seelenwanderung (cf. AaTh/ ATU 678: cf. J Seelentier) ⫺ ein Mann (Notar7, Vizekönig8, Student 9) in einen Papagei verwandelt oder durch Zauber (Hilfe einer Hexe oder eines Zauberers) verwandeln läßt10. Die rom. Var.n enthalten grundsätzlich nur wenige (meist drei) Geschichten, die sich sowohl von den asiat. als auch untereinander unterscheiden (cf. u. a. AaTh/ATU 434: Der gestohlene J Spiegel). Am weitesten an regionale kulturelle Gegebenheiten adaptiert ist ein mexikan. Text11: Ein Student wettet mit dem verreisenden Kaufmann, daß dessen Frau wie alle Frauen unfolgsam sei. In einen Papagei verwandelt, hält der Student die Frau mit seinen Geschichten mehrere Male davon ab, wie versprochen die Messe zu besuchen. Als der Kaufmann nach seiner Rückkehr die Unbotsamkeit seiner Frau entdeckt, beginnt er mit ihr zu streiten ⫺ so lange, bis beide der Teufel holt.
Die verwandten Erzähltypen AaTh/ATU 243 A und AaTh/ATU 1422: J Ehebruch verraten weisen zwar in der Motivik des Vogels, der zum (dort bereits erfolgten) Ehebruch der Frau Stellung nimmt, Parallelen auf und gehen nach T. J Benfey letztlich auf AaTh/ATU 1352 A zurück12, müssen jedoch aufgrund ihrer Verbreitungswege als eigenständig betrachtet werden.
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Sumarokov, Aleksandr Petrovicˇ
1 Die S´ukasaptati (textus ornatior). Übers. R. Schmidt. Stg. 1899, 1⫺20; Das Papageienbuch. Übers. W. Morgenroth. Stg. 1983, 7⫺35 (Rekonstruktion der ,Urform’); cf. auch Bødker, Indian Animal Tales, num. 258. ⫺ 2 Clouston, W. A.: Popular Tales and Fictions 2. Edinburgh/L. 1887, 196⫺211, hier 197 sq.; cf. Jülg, B.: Mongol. Märchen. Die neun Nachtragserzählungen des Siddi-Kür und die Geschichte des Ardschi-Bordschi Chan. Innsbruck 1868, num. 4. ⫺ 3 Var.n aus mündl. Überlieferung u. a. Mostaert, A.: Folklore Ordos. Peking 1947, 276⫺286, 292⫺298; Radloff, W.: Proben der Volkslitteratur der nördl. türk. Stämme. 6: Der Dialekt der Tarantschi. SPb. 1886, num. 4. ⫺ 4 Hatami, M.: Unters.en zum pers. Papageienbuch des Nah˚ sˇabı¯. (Diss. Mainz 1977) Fbg 1977, 22⫺26; Marzolph, U.: Die Vierzig Papageien. Das pers. Volksbuch Cehel Tuti. Walldorf 1979, 17⫺20; Var.n aus mündl. Überlieferung u. a. Eberhard/Boratav, num. 52; cf. auch Wentzel, L.-C.: Kurd. Märchen. MdW 1978, num. 13; Dzˇalil, O., Dzˇ. und Z.: Kurdskie skazki, legendy i predanija. M. 1989, num. 9; Jason, Types. ⫺ 5 Clouston (wie not. 2) 198. ⫺ 6 Krappe, A. H.: The „Tuti-Nameh“ in Spanish Folk-lore. In: Hispanic Review 1 (1933) 67⫺69; Boggs, num. *435; Romero, S.: Folklore brasileiro. ed. L. da Caˆmara Cascudo. Rio de Janeiro 31954, num. 13, 50. ⫺ 7 Pitre`, G.: Fiabe, novelle e raccolti popolari siciliani 1. Palermo 1875, num. 2 (⫽ id.: Märchen aus Sizilien. ed. R. Schenda/D. Senn. MdW 1991, num. 7; Monnier, M.: Les Contes populaires en Italie. P. 1880, 63⫺65; Crane, T. F.: Italian Popular Tales. Boston/N. Y. 1885, num. 47). ⫺ 8 Comparetti, D.: Novelline popolari italiane 1. Turin 1875, num. 1 (⫽ Crane [wie not. 7] num. 45; Keller, W./Rüdiger, L.: Ital. Märchen. MdW 1959, num. 34). ⫺ 9 Aiken, R.: A Pack Load of Mexican Tales. In: Dobie, J. F. (ed.): Puro mexicano. Austin 1935, 1⫺87, hier 21⫺26. ⫺ 10 Clouston (wie not. 2) 198⫺201. ⫺ 11 Aiken (wie not. 9). ⫺ 12 Benfey 2, 273⫺275.
Göttingen
Ulrich Marzolph
Sumarokov, Aleksandr Petrovicˇ, *Villmanstrand (heute finn. Lappeenranta) 14./25. 11. 1717, †Moskau 1./12. 10. 1777, russ. Dichter und Dramatiker, bedeutender Vertreter des Klassizismus1. S., der aus einer alten verarmten Adelsfamilie stammte, besuchte 1732⫺40 das Landadelkorps Suchoputnyj in St. Petersburg; hier wurde er nach seinem Abschluß Adjutant des Vizekanzlers M. G. Golovkin (1740), danach Adjutant A. G. Razumovskijs (1742), eines Günstlings der Zarin Elisabeth, was ihm eine Karriere am Hof sicherte. 1756⫺ 61 war er Gründer und Leiter des ersten öffentlichen russ. Theaters in St. Petersburg.
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1759 gab er die erste russ. Lit.zeitschrift Trudoljubivaja pcˇela (Die arbeitsame Biene) heraus. Seit 1770 lebte S. in Moskau. S.s Œuvre umfaßt neben Fabeln Liebeslieder, neun Tragödien (z. B. Chorev, 1747; Dmitrij Samozvanec [Der falsche Demetrius], 1771), zwölf Komödien (z. B. Opekun [Der Vormund], 1765; Rogonosec [Der Gehörnte], 1772)2. Als ästhetisches Manifest S.s ist sein Art. Dve epistoly A.a S.a (Zwei Episteln von A. S., 1748) anzusehen. In der ersten Epistel äußert er sich zur russ. Sprache, in der zweiten zur Dichtung und bietet eine klassische Sichtweise der Dichtkunst3. Für die Erzählforschung ist S. vor allem als Fabeldichter bedeutsam4. Er gilt als Begründer der russ. poetischen Fabel nach dem Vorbild J La Fontaines. Sein Einfluß war für die russ. Fabeldichtung bis Anfang des 19. Jh.s maßgebend5. In seine dreibändige Ausg. Pritcˇi ([Fabeln]. SPb. 1762/62/69), die pro Band zwei Bücher umfaßt, nahm er nur einen Teil seiner insgesamt 378 Fabeln auf, die er in den 1750er Jahren in verschiedenen Zss. veröffentlicht hatte6. S. stützte sich einerseits auf Fabeln von J Äsop, J Phädrus, La Fontaine und J Gellert7, andererseits auf russ. Schwänke und sog. Alltagsmärchen. Auch wenn S. fremdsprachige Vorlagen benutzte, suchte er in der Regel Stoffe aus, die Affinitäten zur russ. mündl. Überlieferung aufwiesen, oder bearbeitete sie im Geiste ihm bekannter Volkserzählungen8. Mehrere Fabeln enthalten russ. Sprichwörter: Entweder stellen sie eine Veranschaulichung des Sprichwortsinns dar, oder die Sprichwörter werden zur Formulierung der Sentenz gebraucht. Einige Fabeln spiegeln Bräuche wider, z. B. Derevenskij prazdnik (Das Dorffest)9, Kulasˇnyj boj (Der Faustkampf)10, Medved’ (Der Bär)11. Der von S. eingeführte auktoriale Erzähler bevorzugt kräftige Ausdrücke und einen groben Witz12. Die Volkstümlichkeit von S.s Fabeln zeigt sich auch darin, daß einige von ihnen als Holzschnittmotive ein beliebter Schmuck in bäuerlichen Haushalten wurden. Erzähltypen (Ausw.)13: Buch 1, num. 1 ⫽ AaTh/ ATU 298: J Streit zwischen Sonne und Wind. ⫺ 1,2 ⫽ AaTh/ATU 111 A: J Wolf und Lamm. ⫺ 1,4 ⫽ AaTh/ATU 278: cf. J Tiere aneinander gebunden. ⫺ 1,5 ⫽ AaTh/ATU 298 C*: J Baum und Rohr. ⫺ 1,6 ⫽ AaTh/ATU 214: J Esel will den Herrn liebko-
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Sumatra ⫺ Sumerisches und babylonisches Erzählgut
sen. ⫺ 1,7 ⫽ AaTh/ATU 740**: cf. J Schatz hinter dem Nagel. ⫺ 1,10 ⫽ AaTh/ATU 1381 D: cf. Die geschwätzige J Frau. ⫺ 1,11 ⫽ AaTh/ATU 110: J Katze mit der Schelle. ⫺ 1,13 ⫽ AaTh/ATU 60: J Fuchs und Kranich. ⫺ 1,53 und 4,37 ⫽ AaTh/ATU 77: Die eitlen J Tiere. ⫺ 2,2 ⫽ AaTh/ATU 1215: J Asinus vulgi. ⫺ 2,3 ⫽ AaTh/ATU 214 B: J Esel in der Löwenhaut. ⫺ 2,9 ⫽ AaTh/ATU 122 F: cf. J Dick und fett. ⫺ 2,11 ⫽ AaTh/ATU 155: J Undank ist der Welt Lohn. ⫺ 2,18 ⫽ AaTh/ATU 1342: J Heiß und kalt aus einem Mund. ⫺ 2,21 ⫽ AaTh/ATU 80: J Igel im Dachsbau. ⫺ 2,25 ⫽ AaTh/ATU 293: J Magen und Glieder. ⫺ 2,40 ⫽ AaTh/ATU 1365 A: cf. Die widerspenstige J Ehefrau. ⫺ 2,48 ⫽ AaTh/ATU 50 A: cf. Fußspuren vor der J Löwenhöhle. ⫺ 2,49 ⫽ AaTh/ATU 41: J Wolf im Keller. ⫺ 2,611 ⫽ AaTh/ATU 1643: J Geld im Kruzifix. ⫺ 3,6 ⫽ AaTh/ATU 32: cf. J Rettung aus dem Brunnen. ⫺ 3,24 ⫽ AaTh/ATU 275 A: cf. J Wettlauf der Tiere. ⫺ 3,51 ⫽ AaTh/ATU 123: J Wolf und Geißlein. ⫺ 4,4 ⫽ AaTh/ATU 70: J Hasen und Frösche. ⫺ 4,7 ⫽ AaTh/ATU 910 F: J Einigkeit macht stark. ⫺ 4,14 ⫽ AaTh/ATU 1586: cf. J Fliege auf des Richters Nase. ⫺ 4,31 ⫽ AaTh/ATU 277 A: cf. Der aufgeblasene J Frosch. ⫺ 4,28 ⫽ AaTh 835 A*/ATU 1706 E: cf. J Säufer kuriert. ⫺ 4,56 ⫽ AaTh/ATU 277: J Frösche bitten um einen König. ⫺ 5,8 ⫽ AaTh/ATU 162: J Herr sieht mehr als der Knecht. ⫺ 5,55 ⫽ AaTh/ATU 754: J Glückliche Armut. ⫺ 5,61 ⫽ AaTh/ATU 207 B: cf. J Aufstand der Arbeitstiere. ⫺ 6,3 und 6,51 ⫽ cf. AaTh/ATU 244: cf. J Tiere borgen voneinander. ⫺ 6,6 ⫽ AaTh/ATU 179: Was der J Bär dem sich Totstellenden ins Ohr flüstert. ⫺ 6,8 ⫽ AaTh/ATU 845: cf. Der J Alte und der Tod. ⫺ 6,12 ⫽ AaTh/ATU 112: J Feldmaus und Stadtmaus. ⫺ 6,19 ⫽ AaTh/ATU 276: J Krebs und seine Jungen. ⫺ 6,21 ⫽ AaTh/ATU 76: J Wolf und Kranich. ⫺ 6,37 ⫽ AaTh/ATU 75: J Hilfe des Schwachen. ⫺ 6,40 ⫽ AaTh/ATU 59: J Fuchs und saure Trauben. ⫺ 6,48 ⫽ AaTh/ATU 1510: J Witwe von Ephesus. 1
Berkov, P. N.: S. 1717⫺1777. Len./M. 1949; A. P. S. 1717⫺1777. Zˇizn’ i tvorcˇestvo. Sbornik statej i materialov (A. P. S. 1717⫺1777. Leben und Werk. Slg von Art.n und Materialien). M. 2002. ⫺ 2 S., A. P.: Polnoe sobranie vsech socˇinenij v stichach i proze 1⫺10 (G. W. in Versen und Prosa). ed. N. Novikov. SPb. 1781⫺82 (M. 21787); Teilausg.n: id.: Stichotvorenija (Gedichte). ed. P. N. Berkov. Len. 1953; id.: Izbrannye proizvedenija (Ausgewählte Werke). ed. P. N. Berkov. Len. 1957; id.: Dramaticˇeskie socˇinenija (Das dramatische Werk). ed. Ju. V. Stennik. Len. 1990. ⫺ 3 Grinberg, M. S./Uspenskij, B. A.: Literaturnaja vojna Trediakovskogo i S.a v 1740-ch⫺1750-ch godov (Der Lit.streit zwischen Tredjakovskij und S. in den 1740er und 1750er Jahren). M. 2001. ⫺ 4 Zauscinskij, K.: Basni S.a (Die
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Fabeln S.s). In: Varsˇavskie universitetskie izvestija 4,3 (1884) 1⫺32 und 3,5 (1884) 33⫺126; Polivka, Ju.: Na vsech ne ugodisˇ. Pritcˇa S.a i ee paralleli (Man kann es nicht allen recht machen. Die Fabeln S.s und ihre Parallelen). In: Russkij filologicˇeskij vestnik 1,1⫺2 (1906) 226⫺246. ⫺ 5 Vindt, L.: Basnja sumarokovskoj sˇkoly (Die Fabel der S.-Schule). In: Poe˙tika 1 (1926) 81⫺92, hier 81 sq.; Rammelmeyer, A.: Studien zur Geschichte der russ. Fabel des 18. Jh.s. Lpz. 1938; Samkova, V. V.: Leksika pritcˇ A. P. S.a (Die Lexik der Fabeln S.s). Len. 1953; Imendörffer, H.: Die Geschichte der russ. Fabel im 18. Jh. Poetik, Rezeption und Funktion eines literar. Genres. Wiesbaden 1998, bes. 175⫺357, 504⫺550. ⫺ 6 Einzige vollständige Ausg.: S., A. P.: Pritcˇi. In: id. 1781⫺82 (wie not. 2) t. 7 (1781) 5⫺344 (Nachdr. in Vengerov, S. A.: Russkaja poe˙zija [Die russ. Dichtung]. SPb. 1897, 185⫺257). ⫺ 7 Rammelmeyer, A.: Gellertsche Fabeln in der Bearb. von A. P. S. In: Colloquium Slavicum Basiliense. ed. H. Riggenbach (unter Mitwirkung von F. Keller). Bern/Ffm./Las Vegas 1981, 523⫺555. ⫺ 8 Kovaleva, K. V.: E˙lementy narodnogo jazyka v basnjach A. P. S.a (Die Elemente der Volksˇ istov, sprache in den Fabeln S.s). Minsk 1955; C K. V.: Pritcˇi S.a i russkoe nasledie tvorcˇestvo (Die Fabeln S.s und hinterlassene Werke). In: Ucˇenye zapiski Karelo-Finskogo pedagogicˇeskogo instituta 2,1 (1956) 145⫺160, hier 155; Stennik, Ju. V.: Russkij klassiciszm i fol’klor (S. i ego sˇkola) (Der russ. Klassizismus und die Folklore [S. und seine Schule]). In: id.: Russkaja literatura i fol’klor (XI⫺XVIII vekov). Len. 1970, 137⫺179, bes. 155⫺161. ⫺ 9 S. 1781⫺82 (wie not. 2) t. 7, 6, num. 41. ⫺ 10 ibid., 5, num. 11. ⫺ 11 ibid., 4, num. 10. ⫺ 12 Salova, S. A.: Pritcˇa A. P. S.a (Die Fabeln A. P. S.s). Len. 1981. ⫺ 13 cf. Imendörffer (wie not. 5) 1152⫺1199.
St. Petersburg
Tat’jana G. Ivanova
Sumatra J Indonesien Sumerisches und babylonisches Erzählgut. Sumer. Texte wurden in ihrer Masse in altbabylon. Zeit (zwischen 2000 und 1750 a. Chr. n.) niedergeschrieben, allerdings sind sicher sehr viel ältere und wohl zunächst weitgehend mündl. überlieferte Erzählungen enthalten, die ursprünglich in einen kultischen Kontext gehörten. Nach dem Aussterben des Sumerischen als gesprochene Sprache wurden zwar noch liturgische Texte tradiert und z. T. neu geschaffen, aber keine Lit.werke erzählenden Charakters. An ihre Stelle trat die akkad. (babylon.-assyr.) Tradition, die hauptsächlich im südmesopotam. Babylonien, nicht so sehr im Norden, d. h. in Assyrien, beheimatet ist und
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Sumerisches und babylonisches Erzählgut
häufig thematisch auf die sumer. zurückgreift, formal aber deutlich von dieser geschieden ist. Das läßt sich inzwischen z. B. sehr gut an den verschiedenen sumer. Vorläufern des J Gilgamesˇ-Epos im Verhältnis zur Zwölftafel-Version demonstrieren1. Die schöpferischen Perioden akkad. Lit. scheinen ihrerseits etwa mit der Mitte des 1. Jh.s a. Chr. n. auszulaufen, auch wenn die schriftl. Überlieferung bis in die Seleukidenzeit anhält. Nachdem große Teile der in Keilschrift überlieferten sumer. Poesie und Erzählungen aus zahlreichen Fragmenten rekonstruiert worden sind2, steht diese Überlieferung heute gleichwertig neben der akkad.3 Obgleich es mangels geeigneter Kategorien schwer ist, die Fülle des Erzählguts gattungsmäßig zu fassen4, läßt sich doch von ,mythol.‘ und ,epischen‘ Texten ausgehen ⫺ von solchen mit ,fiktiven hist.‘ Aussagen5 und von ,Weisheit‘6. Gelegentlich enthalten auch Beschwörungen und liturgische Texte und vor allem die zahlreichen Streitgespräche (J Rangstreit) Anspielungen auf Erzählungen bzw. Mythen. Bekannt sind auch einige Fabeln und Burlesken7. Um die Masse des Stoffs zu gliedern, empfiehlt es sich, hier zunächst einige sumer. Zyklen nach den Gottheiten zusammenzufassen, die als Protagonisten in Erscheinung treten und die, da aus lokalen Panthea erwachsen, auch eine regionale Zuordnung erlauben. Alle Titel sind moderne Bezeichnungen, im Orig. wird ⫺ soweit erhalten ⫺ lediglich nach Anfangszeilen zitiert: (1) Zahlreiche Erzählungen von der Göttin Inana/Isˇtar sind in Uruk in Südbabylonien beheimatet: Inana und Bilulu8 handelt von einer Alten, die Inana als Rache für den Tod des Dumuzi (König von Uruk) tötet und deren Söhne in die Wüste, den Ort der Dämonen, verbannt werden, wo sie dem toten Dumuzi dienen sollen. Inana und Ebih˚ 9 ist die mythische Verbrämung einer Eroberung des reichen ø amrı¯n) im Berglandes Ebih˚ (heute: Sebel H Norden; Inana und Enki 10 berichtet vom Raub der ,göttlichen Kräfte‘, nachdem Inana den Gott Enki, der sie besitzt, trunken gemacht hat, und deren Überführung nach Uruk. Nach Inana und Sˇukaletuda11 hat der Gärtner Sˇukaletuda Inana, die unter einer Euphratpappel eingeschlafen ist, vergewaltigt. Als Strafe werden drei Plagen geschickt: Die Brunnen des
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Landes enthalten Blut; durch sieben mal sieben Helfer der Inana entsteht eine Flut; die Wege des Landes (Handel) werden versperrt. Da diese Strafen folgenlos bleiben, fordert Inana die Herausgabe von Sˇukaletuda bei Enki und verwehrt ihm das ewige Leben. Vorgeschaltet ist die Erzählung von der Beteiligung des Raben bei der Einführung der Bewässerung und Kultivierung der Dattelpalme. Die Erzählung Inana raubt den Großen Himmel12 hat den Willen der Göttin zum Thema, auch die Herrschaft über den J Himmel zu erringen. Über das Meer gelangt sie an das Tor des Himmels im Zwillingsgebirge und zu den furchterregenden Himmelswächtern. Es gelingt ihr jedoch lediglich, Ans Tempel als ihren Haupttempel Eanna (Himmelshaus) auf die Erde und nach Uruk zu bringen. Inanas Gang zur Unterwelt (verkürzt auch akkad. überliefert)13 hat den Versuch der Inana zum Thema, auch die J Unterwelt zu erobern. Durch sieben Tore gelangt sie, aller Insignien und damit magischen Kräfte entkleidet, zur Unterweltsgöttin Eresˇkigal, die sie vom Thron zu reißen versucht. Inana wird aber besiegt und ,als ein Stück Fleisch‘ an einen Pflock gehängt. Alle Fortpflanzung auf Erden erlischt. Mit Hilfe des Weisheitsgottes Enki kann ihre ,Ministerin‘ Ninsˇubur Inana retten: Enki bildet aus Schmutz unter seinen Fingernägeln zwei Wesen, die in der Unterwelt Inana durch Wasser und J Lebenskraut wieder lebendig machen. Ein anschließender Mythos berichtet, daß Dumuzi, Hirte und Geliebter Inanas, der als König von Uruk zur Zeit ihrer Gefangenschaft in der Unterwelt ohne Trauergestus auf dem Thron sitzen blieb, von sieben Gala-Dämonen gefangen und als Substitut in die Unterwelt gebracht wird. Das Leben auf Erden geht nach Inanas Rückkehr wieder seinen gewohnten Gang. (2) Die Erzählungen von und Klagen um Dumuzi, die sich thematisch hier anschließen, sind ursprünglich in Kullab (später Teil von Uruk) beheimatet: Dumuzi und Enkimdu und Dumuzis Tod, auch Dumuzis Traum14 genannt, sind thematisch eng miteinander verwandt. Letztere Erzählung beklagt den Tod des Dumuzi, der durch einen Traum angekündigt wird, den seine Schwester ihm deutet15. Dumuzi wird trotz Eingreifen des Sonnengottes und trotz Verwandlung in eine Schlange und
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Sumerisches und babylonisches Erzählgut
eine Gazelle schließlich in die Unterwelt geschleppt. (3) In Eridu (am Pers. Golf) wurde Enki (babylon. Ea), Gott der Weisheit und des Süßwasserozeans, verehrt. Seine Schöpferkraft steht in Enki und Ninh˚ ursanga16 im Mittelpunkt. Der jugendliche Gott begattet nach der Muttergöttin Ninh˚ ursanga auch noch die gemeinsame Tochter, die Enkelin und die Urenkelin. Bei letzterer wird die Zeugung rückgängig gemacht, sein Same bringt acht Pflanzen hervor, die Enki ißt, worauf er von acht Leiden geplagt wird. Erst durch die List eines Fuchses kommt Ninh˚ ursanga zurück und erlöst Enki von seinen Leiden. In Enki und Ninmah˚ 17 werden bei einem Wettstreit nach der Erschaffung des Menschen und nach einem Gelage von Ninmah˚ noch verschiedene menschliche Krüppel geschaffen, die Enki alle in die Gesellschaft einzugliedern weiß, während sein eigenes Geschöpf, ein hilfloser Greis, ohne Verwendung bleibt. In Enki und die Weltordnung 18, einem Lehrgedicht, werden u. a. verschiedene Götter mit der Verantwortung für einzelne Bereiche der Kultur Sumers betraut. Ferner ist Enki/Ea mehrfach (z. B. in der Erzählung von der J Sintflut, im Anzu- und im Adapa-Mythos) der J Trickster, der selbst den Willen der Götter unterläuft. (4) Ursprünglich wohl im Stadtstaat Lagasch mit seinem Gott Ningirsu beheimatet sind Erzählungen vom Gott Ninurta, dem kriegerischen Bezwinger verschiedener Chaosmächte. Die Erzählungen werden im wilden Bergland östl. von Sumer lokalisiert: so das umfangreiche, ursprünglich sumer. Lehrgedicht Lugal ud melam-bi nirgal (König, Licht, dessen Glanz gewaltig ist)19. Es berichtet vom Kampf gegen einen gewaltigen Dämon, vom Auftürmen der Gebirge und vom Segen und Fluch verschiedener Steine. Im babylon. AnzuMythos20 geht es darum, daß die Schicksalstafeln, auf denen die Geschicke von Göttern und Menschen verzeichnet sind, dem Gott Enlil vom adlergleichen Anzu-Vogel aus dem östl. Gebirge gestohlen werden. Seiner magischen Kräfte wegen lehnen es drei Götter ab, den Vogel zu bekämpfen. Ninurta gelingt es schließlich mit einer List, ihn zu töten und die Tafeln Enlil zurückzubringen, der ihn unter den Göttern erhöht.
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(5) Im nordbabylon. Nippur sind Erzählungen vom Götterkönig Enlil beheimatet, der auch die Menschen schuf, um die Götter von körperlicher Arbeit zu entlasten (Lehrgedicht von der Hacke)21: Enlil und Ninlil 22 hat die Geburt verschiedener Götter zum Thema, die Enlil durch Vergewaltigung der noch jungfräulichen Ninlil, Tochter der Getreidegöttin Nunbarsˇegunu, zeugt, nämlich den Mondgott Nanna/Sin, den Unterweltsgott Nergal sowie die für die im Marschland lebenswichtigen Kanäle zuständigen Götter Ninazu und Enbilulu. Ninlil wird schließlich die Gemahlin des Enlil. Im Mythos Enlil und Sud 23 wird die Heirat mit Ninlil diesmal (synkretistisch) im Namen der alten Stadtgöttin Sud von Sˇuruppak, nach Brautwerbung und Übergabe von zahlreichen Geschenken, gefeiert. Enlil bestimmt auch die Schicksale von Göttern und Menschen, d. h. die Ordnung der Welt, weshalb in sumer. Zeit Schiffsprozessionen der Götter verschiedener Städte nach Nippur stattfanden, wenn dort alljährlich die Schicksale kultisch festgelegt wurden. Über diese Erzählzyklen hinaus gab es noch weitere Einzelmythen in sumer. und akkad. Sprache, die z. T. in das Gilgamesˇ-Epos24, z. T. auch in das Weltschöpfungs-Epos Enuma elisˇ (,Als droben …’) eingegangen sind25. Manche der bereits genannten sumer. Mythen (z. B. Enki und Ninmah˚ ) schilderten bereits in ihrem Eingangsteil den Urzustand der Welt, in dem diese noch ohne Prägung durch Tiere und Menschen (z. B. durch Bewässerung) war. Dieses Thema nimmt Enuma elisˇ auf, wobei der babylon. Text in seiner vorliegenden Form Teil des Rituals am mehrtägigen Neujahrsfest war, in dessen Vollzug der Kampf gegen die Chaosmächte und die Erneuerung der J Schöpfung kultisch dargestellt wurde26. Das Epos berichtet von der Vermischung von Süß- und Salzwasser (Apsu¯ und Tia¯mat) und den daraus entstehenden ersten Göttergenerationen, die durch ihren Lärm die ursprünglich schöpferischen Wasser erzürnen. Apsu¯ will sie töten, kommt aber selbst durch Enki/Ea um und wird als ,Urhügel‘ zu dessen Wohnung. Die Chaosmacht Tia¯mat rettet sich dadurch, daß sie Dämonen, Drachen und Schlangen zu ihrem Schutz erschafft und eines ihrer Geschöpfe, Kingu, zu ihrem Gatten und zaubermächtigen Beschützer macht. Der Götter-
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Sumerisches und babylonisches Erzählgut
könig Ansˇar fordert zuerst Ea, dann Anu auf, sie zu bekämpfen. Beide resignieren angesichts ihres gewaltigen Rachens und Kingus Tricks, doch schickt Ea schließlich seinen Sohn Marduk gegen sie aus. Marduk vermag sie mit Hilfe seiner magischen Kräfte und böser Winde zu töten und zu spalten, schafft aus ihren Teilen den Himmel (für Anu), die Erde (für Enlil) und den unterirdischen Süßwasserozean (Apsu¯, für Ea), die durch ein ,Band‘ zusammengehalten, aber auch voneinander getrennt werden. Schließlich wird mit dem Blut des Kingu, der für seine Unterstützung der Tia¯mat bestraft wird, die Menschheit geschaffen und in einem großen Gelage und Götterfest Marduk zum König der Götter mit Babylon als seiner Residenz ausgerufen. So ist also die Erhebung Marduks zum König und seine Suprematie das eigentliche Ziel der Dichtung. Zu nennen ist ferner das J Etana-Epos (AaTh/ATU 537)27, die relativ junge Dichtung über Isˇum und Erra28, in der es um das Wüten des Pestgottes Erra geht, dem von Marduk, dessen Herrschaftsinsignien ,verschmutzt‘ waren, das Weltregiment überlassen wurde, was letztlich sogar zum Untergang der Kultstadt dieses Gottes, Babylon, führt. Erst durch Einschreiten seines Wesirs Isˇum kann Erra wieder beruhigt werden. In Adapa und der Südwind 29 ist der Held ein gottesfürchtiger Fischer, Priester des Ea, der den ihm ungünstigen Südwind verflucht, so daß dieser sich die Flügel bricht, was den Himmelgott Anu zum Eingreifen zwingt. Anu läßt Adapa in den Himmel holen, bietet ihm dort Wasser und Brot des Lebens an, das Adapa, einer Weisung Enkis/Eas folgend, ausschlägt. So verliert er die Chance zum ewigen Leben, wird von Anu verlacht und zurück auf die Erde geschickt. Legenden um berühmte hist. Persönlichkeiten sind ebenfalls in Uruk angesiedelt, so die vier sumer. episch-mythol. Erzählungen um Enmerkar und Lugalbanda30: In Lugalbanda in der Wildnis bleibt der Held auf einem Zug nach Aratta (in Iran) krank im Gebirge zurück, wird von den Göttern gerettet und führt als J Kulturheros das Feuer zum Kochen und Backen ein. Nach dem Sieg der Mächte des Lichts wird Lugalbanda zum Helden. Die Erzählung Rückkehr des Lugalbanda31 spielt ebenfalls im Gebirge, wo Lugalbanda die Jungen des Anzu-Vogels füttert und schmückt und
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von diesem als Dank mit übermenschlicher Schnelligkeit begabt wird. Bei einer Belagerung von Aratta wird er von seinen Genossen über sieben Gebirge zu Inana nach Uruk geschickt, das er an einem Tag erreicht. Durch die magische Verwendung einer Tamariske (Verarbeitung als Korb zum Fang heiliger Fische) wird Aratta vom unterirdischen Wasser abgeschnitten und kann besiegt werden. Die Rivalität zwischen Uruk und Aratta ist auch Thema der beiden Enmerkar-Epen: Enmerkar und der Herr von Aratta nennt drei Rätsel, deren Lösung zur Unterwerfung Arattas führen kann. Siebenmal werden Boten hin- und hergesandt. Enmerkar führt schließlich die Schrift ein, die der Fürst von Aratta nicht zu lesen vermag. Schließlich wird auf Weisung der Inana Aratta durch Regen gerettet. Uruk soll Handelsbeziehungen mit Aratta aufnehmen. Ähnlich ist die Thematik in Enmerkar und Ensuh˚ girana. Ensuh˚ girana, der sich als Herrscher von Aratta nicht unterwerfen will, schickt einen Zauberer, der eine Hungersnot in Sumer bewirkt. Der Sonnengott sendet dagegen eine weise Frau, die durch fünfmaligen Gegenzauber den Magier entmachtet, worauf sich auch Aratta unterwirft. Die sumer. ,Vorläufer‘ des babylon. Gilgamesˇ-Epos32 kennen viele Episoden und Motive, die nicht in die jüngere Überlieferung eingegangen sind, so den Kampf mit König Agga von Kisˇ, der trotz seiner Niederlage wegen einer früheren Wohltat von Gilgamesˇ begnadigt wird. In Gilgamesˇ, Enkidu und die Unterwelt33, in einer stark verkürzten und leicht veränderten Form in babylon. Übersetzung als 12. Tafel an das Gilgamesˇ-Epos angeschlossen, ist u. a. von einem Baum die Rede, den sich Inana am Ufer des Euphrat pflanzt. In seiner Wurzel wohnt eine Schlange, während auf dem Wipfel der Anzu-Vogel mit seinen Jungen und im Stamm das Windmädchen haust. Gilgamesˇ vertreibt sie, schlägt den Baum um, überläßt das Holz Inana für Bett und Thronsitz, macht sich selbst aus den Ästen Reifen und Treibstock(?), die jedoch bald in die Unterwelt fallen. Enkidu will sie zurückholen, muß aber in der Unterwelt bleiben, denn er mißachtet deren Tabus, die keine reinen Kleider, keinen gepflegten Körper, keine Sandalen an den Füßen, keine Liebkosungen von Weib und Kind zulassen.
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Sumerisches und babylonisches Erzählgut
Mit Hilfe des Sonnengottes kann Gilgamesˇ den Geist des Enkidu beschwören, der ihm das Schicksal verschiedener Verstorbener (kinderlos/kinderreich ⫺ ohne/mit Totenspende etc.) schildert, was Gilgamesˇ zu einer großen Klage veranlaßt. Auch der Mythos Tod des Gilgamesˇ 34, nicht erhalten bzw. nicht berichtet im akkad. Gilgamesˇ-Epos, stellt ein eigenes Gedicht dar. Sargon von Akkade35, Gründer der ersten semit. Dynastie, soll von einer Priesterin ,im Verborgenen geboren‘ worden sein, wurde im Fluß ausgesetzt, als Findelkind von Akki aufgezogen und war später als Gärtner ein Favorit der Isˇtar. Er wird nach der sumer. Erzählung Sargon und Ur-Zababa Mundschenk bei Ur-Zababa, König von Kisˇ. Sargon träumt, daß Inana ihn mit Ur-Zababa in einen Blutstrom wirft36. Ur-Zababa deutet das auf einen Mord durch Sargon und will sich seiner entledigen. Er schickt ihn zum Schmied Belisˇ-tikkal, doch betritt Sargon, von Inana/Isˇtar gewarnt, dessen Haus nicht. Darauf schickt ihn Ur-Zababa mit einem Brief zu Lugalzagesi von Uruk, den Sargon aber (wie offenbar später auch Ur-Zababa) besiegen kann. Ebenfalls um Sargon als Held im jüngeren Epos König der Schlacht ranken sich akkad. Sagen, in denen er mit seiner Heeresmacht scheinbar unüberwindliche Gebirge, Wälder und Dickichte durchquert, die Sonne verdunkelt und gegen dämonische Mächte bis ins Innere Anatoliens vordringt. Eine Version des Epos mit stark märchenhaften Zügen wurde auch in der Kolonie altassyr. Kaufleute in Kanesch (bei Kültepe) gefunden37. Sargons Enkel (in den Sagen: Sohn) NaramSin38, auch in Omina mehrfach als Unglücksherrscher genannt, hat, wohl wegen der Gegnerschaft der Isˇtar, mit übernatürlichen Mächten, ,Menschen wie Rebhühner mit Rabenköpfen‘ aus dem Bergland, zu kämpfen, die zahllose Truppen und sieben Könige als Hilfstruppen haben. Sieben mal sieben Opferschauen sind negativ. Drei Jahre nacheinander sendet Naram-Sin Soldaten aus ⫺ keiner kehrt lebend zurück. Erst im vierten Jahr erfährt er, daß seine Feinde nicht durch ihn, sondern durch die Götter selbst ihrer Strafe zugeführt werden (Androhung einer J verkehrten Welt). Die Erzählungen spiegeln so einerseits ein neues Weltverständnis wider, in dem die Er-
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weiterung des geogr. Horizonts als bedrohlich empfunden wird, andererseits sind sie auch didaktische Weisheitsliteratur: Künftige Herrscher sollen durch sie vor Hybris und Überschätzung menschlicher Kräfte und Fähigkeiten gewarnt werden. 1 Tigay, J. H.: The Evolution of the Gilgamesh Epic. Phil. 1982. ⫺ 2 cf. Oppenheim, A. L.: Ancient Mesopotamia. Portrait of a Dead Civilization. Chic. 2 1977, 13. ⫺ 3 Moderne Übers.en (z. T. kommentiert) in Jacobsen, T.: The Harps that Once … New Haven/L. 1987; Botte´ro, J./Kramer, S. N.: Lorsque les Dieux faisaient l’homme. P. 1989; Foster, B. R.: Before the Muses. An Anthology of Akkadian Literature 1⫺2. Bethesda 1993; Dalley, S.: Myths from Mesopotamia. Ox./N. Y. 21990; Kaiser, O. (ed.): Texte aus der Umwelt des A. T.s 3. Gütersloh 1993⫺ 97/Ergänzungslieferung 2001; cf. ferner Groneberg, B.: Die Götter des Zweistromlandes. Düsseldorf/Zürich 2004. ⫺ 4 cf. u. a. Edzard, D. O./Röllig, W.: Lit. In: Reallex. der Assyriologie und vorderasiat. Archäologie 7. B. 1987⫺90, 35⫺66; Edzard, D. O.: Altbabylon. Lit. und Religion. In: Charpin, D./Edzard, D. O./Stol, M.: Mesopotamien. Die altbabylon. Zeit. Fbg/Göttingen 2004, 483⫺640, hier 485⫺572. ⫺ 5 Longman, T.: Fictional Akkadian Autobiogr. A Generic and Comparative Study. Winona Lake, Ind. 1991. ⫺ 6 Lambert, W. G.: Babylonian Wisdom Literature. Ox. 1960; Gammie, J. G./Perdue, L. G. (edd.): The Sage in Israel and the Ancient Near East. Winona Lake, Ind. 1990; Wilcke, C.: Göttliche und menschliche Weisheit im alten Orient. In: Assmann, A. (ed.): Weisheit. Mü. 1991, 259⫺270; Alster, B.: Wisdom of Ancient Sumer. Bethesda 2005. ⫺ 7 Falkowitz, R. S.: La Fable. In: Entretiens sur l’antiquite´ classique 30 (1984) 1⫺32; Edzard/Röllig (wie not. 4) 46, 60 sq.; D’Agostino, F. D.: Testi umoristici babilonesi e assiri. Brescia 2000. ⫺ 8 Jacobsen, T.: The Myth of Inanna and Bilulu. In: J. of Near Eastern Studies 12 (1953) 160⫺187. ⫺ 9 Attinger, P.: Inana et Ebih˚ . In: Zs. für Assyrologie 88 (1998) 164⫺195. ⫺ 10 Farber-Flügge, G.: Inanna und Enki. Rom 1973. ⫺ 11 Volk, K.: Inanna und Sˇukaletuda. Wiesbaden 1995. ⫺ 12 Dijk, J. J. A. van: Inanna raubt den ,großen Himmel‘. In: tikip santakki mala basmu … Festschr. R. Borger. Groningen 1998, 9⫺38. ⫺ 13 Sladek, W. R.: Inana’s Descent to the Nether World. Diss. Baltimore 1974. ⫺ 14 Alster, B.: Dumuzi’s Dream. Kop. 1972; id.: A New Source for Dumuzi’s Dream. In: Revue d’Assyriologie 69 (1975) 97⫺108. ⫺ 15 cf. Zgoll, A.: Traum und Welterleben im antiken Mesopotamien. Münster 2006, 97⫺128. ⫺ 16 Attinger, P.: Enki et Ninhursaga. In: Zs. für Assyriologie 74 (1984) 1⫺52. ⫺ 17 Benito, C. A.: ,Enki and Ninmah‘ and ,Enki and the World Order‘. Diss. Phil. 1969, 77⫺160. ⫺ 18 ibid. ⫺ 19 Dijk, J. van: Lugal […]. Le re´cit e´pique et didactique des traveaux de Ninurta, du de´luge et de la nouvelle cre´ation. Leiden 1983. ⫺
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Vogelzang, M. E.: Kill Anzu. In: Hecker, K./Sommerfeld, W.: Keilschriftl. Lit. In: Berliner Beitr.e zum Vorderen Orient 6 (1986) 61⫺70; Hrusˇka, B.: Der Mythenadler Anzu in Lit. und Vorstellung des alten Mesopotamien. Bud. 1975. ⫺ 21 cf. Farber, G.: The Song of the Hoe. In: Hallo, W. W.: The Concept of Scripture 1. Leiden 1997, 157; Edzard, D. O.: Gedicht von der Hacke. In: Wisdom, Gods and Lit. Festschr. W. G. Lambert. Winona Lake, Ind. 2000, 131⫺136. ⫺ 22 Behrens, H.: Enlil und Ninlil. Rom 1978. ⫺ 23 Civil, M.: Enlil and Ninlil.The Marriage of Sud. In: Studies in Literature from the Ancient Near East. Festschr. S. N. Kramer. New Haven 1984, 43⫺66. ⫺ 24 George, A. R.: The Babylonian Gilgamesh Epic 1⫺2. Ox. 2003. ⫺ 25 Lambert, W. G./Parker, S. B.: The Babylonian Epic of Creation. Birmingham 1974; Heidel, A.: The Babylonian Genesis. The Story of Creation. Chic./L. 1963. ⫺ 26 cf. Zgoll, A.: Königslauf und Götterrat. Struktur und Deutung des babylon. Neujahrsfestes. In: Blum, E./Lux, R. (edd.): Festtraditionen in Israel und im Alten Orient. Gütersloh 2006, 11⫺80. ⫺ 27 Haul, M.: Das Etana-Epos. Göttingen 2000; Novotny, J. R.: The Standard Babylonian Etana Epic. Hels. 2001. ⫺ 28 Cagni, L.: L’epopea di Erra. Rom 1969; Müller, G.: Ischum und Erra. In: Kaiser (wie not. 3) t. 3,4 (1994) 781⫺801 (mit Lit.). ⫺ 29 Picchioni, S. A.: Il poemetto di Adapa. Bud. 1981; Izre’el, S.: Adapa and the South Wind. Winona Lake, Ind. 2001. ⫺ 30 Wilcke, C.: Das Lugalbanda-Epos. Wiesbaden 1969; Vanstiphout, H.: Epics of Sumerian Kings. Atlanta 2003 (mit Lit.). ⫺ 31 cf. Römer, W. H. P: Mythen und Epen 1. Mit einem Beitr. von D. O. Edzard. In: Kaiser (wie not. 3) t. 3,3 (1993) 507⫺539. ⫺ 32 George (wie not. 24); zu den sumer. Überlieferungen cf. Edzard 2004 (wie not. 4) 557 (not. 267). ⫺ 33 Shaffer, A.: Sumerian Sources of Tablet XII of the Epic of Gilgamesˇ. Diss. Phil. 1963; George (wie not. 24) t. 1, 12⫺14, 726⫺ 735. ⫺ 34 Cavigneaux, A./al-Rawi, F. N. H.: Gilgamesˇ et la mort. Groningen 2000. ⫺ 35 Westenholz, J. G.: Legends of the Kings of Akkade. Mesopotamian Civilizations 7. Winona Lake, Ind. 1997. ⫺ 36 Zgoll (wie not. 15) 120⫺122. ⫺ 37 Günbattı, C.: Kültepe’den Akadlı Sargon’a aˆit bir tablet (Eine Inschrift von Kültepe über Sargon von Akadde). In: Archivum Anatolicum 3 (1997) 131⫺155; cf. zuletzt Dercksen, J. J.: Adad Is King. The Sargon Text from Kültepe. In: Jaarbericht van het Vooraziatisch Egyptisch Genootschap Ex Oriente Lux 39 (2006) 107⫺ 129. ⫺ 38 Westenholz (wie not. 35) 294⫺368.
Tübingen
Wolfgang Röllig
Sünde 1. Begriff ⫺ 2. Religionsgeschichte ⫺ 3. Erzählgut ⫺ 3. 1. S.nfall und sündige Heilige ⫺ 3. 2. Unmöglichkeit der S.nlosigkeit ⫺ 3. 3. Buße und Gnadenmittlerschaft ⫺ 3. 4. Strafen
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1 . B eg ri ff. Die S. ist ein zentraler Bestandteil der Glaubenslehre von Christentum, Judentum und Islam1. Aus christl. Sicht steht die S., vereinfacht gesehen, im Gegensatz zu den J Tugenden, den Geboten Gottes (J Dekalog) und der Kirche, aus ihr resultiert J Schuld und Trennung von Gott. Enge Verbindungen mit z. T. unscharfen Grenzen bestehen u. a. zu den Begriffen J Frevel und Laster. 2 . Rel ig io ns ge sc hi ch te. Im A. T. ist S. Übertretung der Ge- und Verbote Gottes (Ex. 20,1⫺21 u. a.), bes. Unglaube und Götzendienst2. Die S. kommt durch den ,S.nfall‘ (Gen. 3) in die Welt3. Seither ist kein Mensch ohne S. Dennoch gilt sie als freie Tat des Menschen, für die er vor Gott Verantwortung trägt und bestraft wird4. Jesus J Christus ruft die Sünder zur J Buße (Mk. 2,17) und überträgt seine Vollmacht zur S.nvergebung auf seine Nachfolger (Mk. 11,25 sq.; Mt. 6,14 sq.; Joh. 20,23). Gemäß der Differenzierung des N. T.s wiegt die S. wider den Hl. Geist (Mt. 12,31), der permanente Glaubensabfall, bes. schwer5. Augustinus bestimmte das Wesen der S. in der Abkehr von Gott und der Hinwendung zu den Trieben, unterschied schwere von läßlichen S.n und prägte die Lehre von der Erbsünde6. Die Scholastiker, bes. Thomas von Aquin, prägten u. a. den Begriff der Todsünde7. J Gregor d. Gr. definierte die sieben Hauptsünden, die später fast durchgängig, wenngleich theol. nicht ganz korrekt, als Todsünden benannt wurden: superbia (Hoffart; J Demut und Hochmut, J Hybris), avaritia (J Geiz), luxuria (Unkeuschheit), invidia (J Neid), gula (Unmäßigkeit), ira (J Zorn) und acedia (Trägheit; J Fleiß und Faulheit)8. Diese S.n sind in der menschlichen Natur begründet; zur Todsünde werden sie, wenn sie zu sehr an Gewicht gewinnen und Eigenliebe die Nächstenliebe verdrängt9. Die Thematik der S.n fand breite Ausführung in spätma. Traktaten und Sünderspiegeln10. Der bedeutendste Todsündentraktat des Spätmittelalters, die Etymachie mit vielen Tiersinnbildern, spielte bis in die Neuzeit eine führende Rolle in der Religionspädagogik und hatte Vorbildfunktion für zahlreiche Erzählungen11. So begegnet die Superbia mit dem J Spiegel z. B. in AaTh/ ATU 709: J Schneewittchen, der Bär in AaTh/
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ATU 361: J Bärenhäuter kann als Sinnbild der Luxuria gesehen werden12. Ebenfalls in Erzählungen von Bedeutung sind die vier bibl. begründeten (Gen. 4,10; 18,20 sq.; Ex. 22,21 sq.) ,himmelschreienden‘ S.n (Brudermord, ,Sodomie‘ [J Homophilie], Unterdrükkung der Armen, Witwen und Waisen, Vorenthaltung des verdienten Arbeitslohns)13. Die Reformatoren unterschieden nicht zwischen Todsünden und läßlichen S.n14. Sie bestimmten das Wesen der S. als religiösen Mangel, der nur durch die Hl. Schrift ins Bewußtsein komme und lebenslange Buße fordere. Die Bußleistungen der kathol. Glaubenslehre lehnten sie ab: Die Rechtfertigung des Menschen geschehe allein durch den Glauben (sola fide)15. Auch im Islam gilt nach der Aussage des Korans (6,147; 2,217; 33,19) der Unglaube als die schwerste S. Darüber hinaus gibt es dem bibl. Dekalog vergleichbare Ge- und Verbote (6,151⫺153; 17,22⫺39). Zur Vergebung der S.n ist entsprechende J Reue und Wiedergutmachung nötig, es gibt keine Freisprechung von der S. durch ein religiöses Organ. Oberste und letzte Instanz ist Gott16. 3 . E rz äh lg ut. Im internat. Erzählgut spiegelt sich das Thema der S. naturgemäß vor allem in Erzählungen religiösen bzw. moralischen Charakters. 3 .1 . S .n fa ll un d s ün di ge He il ig e. Der Ungehorsam gegen göttliche Gebote und seine Auswirkungen wurden schon früh am S.nfall von J Adam und Eva in der apokryphen Lit., der jüd. Haggada sowie zahlreichen späteren jüd., christl. und islam. Legenden dargelegt17. Eine große Bedeutung hatten im christl. MA. die Legenden der Sünderheiligen, mit Höhepunkt im 13. Jh.; E. Dorn hat sie in die vier Kategorien der Sünder wider Gott und den Glauben, wider den Leib, wider das Leben und wider das Eigentum eingeteilt18. Die Sünderheiligen durchlaufen die Stufen der S. und reuevoller Buße, um schließlich von Gott in Gnade aufgenommen zu werden (J Elternmörder; AaTh/ATU 933: J Gregorius; J Maria Aegyptiaca, J Maria Magdalena). 3 .2 . U nm ög li ch ke it de r S .n lo si gk ei t. Da der Mensch ohne bes. göttliche Vorsehung
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nicht sündenfrei bleiben kann, ist er auf die Gnade Gottes angewiesen19. Unterschätzte Vergehen wie übermäßiges Trinken (J Trunkenheit) ziehen andere schwere S.n nach sich (AaTh/ATU 839: Die drei J S.n des Eremiten). Hoffärtige verfallen der Ketzerei20. Selbstgerechtigkeit wird schwer bestraft (AaTh/ATU 756 A: Der selbstgerechte J Eremit; AaTh/ ATU 756 B: J Räuber Madej). Da dem reuigen Sünder die Gnade Gottes nicht entzogen werden darf, kann ihm auch die Kommunion nicht verweigert werden (AaTh/ATU 759 A: Der sündige J Priester). Wer sich vor schweren S.n wie J Mord, Unzucht (J Ehebruch) und Meineid (J Eid, Meineid) sicher fühlt, erliegt ihnen21. Zahlreiche Erzählungen warnen vor Feiertags- und Kirchenschändung, Gotteslästerung (J Blasphemie), Meineid, Hochmut, Kartenspiel (J Spieler), Unzucht und J Tanz22. Verführer und Anstifter zu S.n ist der J Teufel23. Er notiert die S.n (AaTh/ATU 826: J Sündenregister auf der Kuhhaut) und verwahrt sie in einem Schriftstück, das ein Gegenstück zu dem im A. T. beschriebenen J Buch des Lebens darstellt. Von Buchführung über S.n berichten auch Talmud und Koran24. In bes. Maß der S.n verdächtigt werden vom MA. bis in die Neuzeit Reiche, denn Geld mache sie zu Räubern, Meineidigen, Mördern, Teufelsbündnern, Wucherern und Geizigen25. Deshalb herrscht über einen Reichen, der in den Himmel kommt, mehr Freude als über einen armen Bauern (AaTh/ATU 802: J Bauer im Himmel; J Arm und reich)26. Bes. schwer wiegt im kathol. Glauben die S. des Handanlegens an Gott durch Verletzen eines Kultbildes (als Abbild dem Urbild gleichgestellt; J Heiligenbild) oder der J Hostie (cf. auch J Schuß in den Himmel). Während derartige Vergehen zuerst vor allem J Juden, J Türken oder J Hexen, in der Gegenreformation Calvinisten oder Lutheranern unterstellt wurden (J Ketzer), kommt in Erzählungen um 1700 der Frevler, der sich gegen die Gottheit wendet und erst durch das J Blutwunder zur Besinnung kommt, auch aus der eigenen Konfession27. 3 .3 . B uß e u nd Gn ad en mi tt le rs ch af t. Im Christentum ist die J Taufe erste S.nvergebung, alle späteren S.n müssen gebüßt werden,
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um das Einvernehmen mit Gott wieder herzustellen. In Erzählungen heilt Buße vom Aussatz der S.n28, wäscht das S.nregister rein29, schützt und befreit vom Teufel30; wer sich nicht von ihr abbringen lasse, sei Gottes Gnade gewiß31. Selbst schwerste S.n wie Mord und J Inzest können durch die Buße vergeben werden32. Nachtridentinische Büßererzählungen bekräftigen die Heilwirkung des J Sakraments der Buße mit seinen Teilen Reue, J Beichte und Buße. Erzählungen wie AaTh/ ATU 756 C: Die zwei J Erzsünder, AaTh/ATU 756 B oder die Geschichte vom bußfertigen Sünder (J Tannhäuser) mit ihren Kapitalsünden33 veranschaulichen den langen und schweren Bußweg zur Wiederversöhnung mit Gott ebenso wie die Reservationspflicht der Kirche, die besagt, daß die Vergebung von Kapitalsünden dem Hl. Stuhl (J Papst) vorbehalten ist. Die Rückkehr an den Ort der S.n gilt als Beweis für den Vorsatz des Sünders, nicht in S. zurückzufallen, und ist Voraussetzung für die J Erlösung34. Die Lehre der vollkommenen Reue anstatt der Reue aus Angst vor J Strafen wird nach D.-R. J Moser in AaTh/ ATU 710: J Marienkind dargelegt35. Vor Aufschieben von Reue und Beichte der S.n bis zum Lebensende wird ausdrücklich gewarnt36, denn nur ein noch zu Lebzeiten bereuender Sünder kann beim J Jüngsten Gericht gerettet werden37. Die S.n werden im Jenseits auf der J Seelenwaage aufgewogen, nach christl. Vorstellung vom Erzengel J Michael, nach islam. vom Erzengel Gabriel38. Mit den großen Wellen der christl. Marienverehrung im 11./12. Jh. in Frankreich bzw. im 13. Jh. in Deutschland und in der Gegenreformation assistiert die Gottesmutter häufig an der Seelenwaage39. Sie kann z. B. durch ihre Tränen schwere S.n aufwiegen40. Am Aufwiegen der Taten ließ sich in der Gegenreformation auch die Notwendigkeit guter Werke zur Rechtfertigung des Sünders im Gegensatz zu J Luthers ,sola fide‘ betonen (cf. ATU 750 E*: Hospitality and Sin)41. Warner Unbußfertiger zu Lebzeiten sowie Fürbitter und Retter im Jenseits sind neben Maria manchmal andere Heilige oder J Engel, vorausgesetzt man ließ ihnen zu Lebzeiten Ehre zuteil werden42. Maria kann Sünder zu Beichte und Buße ins Leben zurückholen43. Mit ihrer übersteigerten Bedeutsamkeit kann
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sie sogar ⫺ völlig undogmatisch ⫺ verdammte Seelen aus der J Hölle holen. Nur bei der unvergebbaren S. des Glaubensabfalls versagt selbst ihre Macht44. 3 .4 . S tr af en. Nicht gebüßte S.n haben Folgen45. Zu Lebzeiten verursachen sie Wehleiden, Qualen46 oder Tod, Epidemien wie die J Pest47 oder Mißernten (AaTh/ATU 774 K: cf. J Petrusschwänke). Nach dem Tod wird über den Menschen Gericht gehalten. Nach kathol. Lehre landen im J Fegefeuer, dem Läuterungsort mit Aussicht auf Erlösung, jene, die mit S.n behaftet, aber im Stand der Gnade aus dem Leben schieden48. Laster und S.n wie Hoffart lassen Sünder im Fegefeuer leiden49. Die dortigen Feuerqualen sind denen der Hölle gleich und können die Vergehen widerspiegeln (J Talion): Der betrügerische Müller muß unter einem Deckbett voll Mehl schwitzen50. Sünder baden in Feuer und Pech oder werden durch Glut oder Kälte bestraft51. J Gebete der Lebenden können die Leidenszeit im Fegefeuer, die sich nach den Vergehen richtet, lindern52. Die Reinigung von den S.n nach dem Tod kann auch auf der Erde stattfinden53. Sünder kehren zurück an den Ort ihrer Verfehlungen und sind auf die Hilfe Lebender angewiesen, die ihre Tat rückgängig machen oder auf ihr Jammern die richtige Antwort geben (J Wiedergänger)54. 1 Vetter, D. u. a.: S. In: Khoury, A. T. (ed.): Lex. religiöser Grundbegriffe. Judentum, Christentum, Islam. Graz u. a. 1987, 1011⫺1019, hier 1014; SitzlerOsing, D. u. a.: S. In: TRE 22 (2001) 360⫺442. ⫺ 2 Gen. 20,6; Ex. 20; Ps. 51,6; cf. Gen. 42,22; Ri. 11,27. ⫺ 3 Vetter u. a. (wie not. 1) 1015; Bertholet, A. u. a.: S. und Schuld. In: RGG 5 (21931) 875⫺902, hier 882; Mensching, G. u. a.: S. und Schuld. In: RGG 6 (31962) 476⫺505; Prümm, K. u. a.: S. In: LThK 9 (21964) 1170 sq. ⫺ 4 ibid., 1171; Stelzenberger, J.: Lehrbuch Moraltheologie. Paderborn 1965, 108. ⫺ 5 Schmitz, H. J.: Die Bußbücher und die Bußdisciplin der Kirche 1. (Mainz 1883) Nachdr. Graz 1958, 11 sq.; Vetter u. a. (wie not. 1) 1016. ⫺ 6 Stelzenberger (wie not. 4) 112 sq.; Vetter u. a. (wie not. 1) 1016; Bendlin, A.: S. In: Cancik, H. u. a. (edd.): Hb. religionswiss. Grundbegriffe 5. Stg. 2001, 125⫺134, hier 131; Bertholet u. a. (wie not. 3) 889 sq. ⫺ 7 Stelzenberger (wie not. 4) 115. ⫺ 8 ibid., 113. ⫺ 9 Moser, D.-R.: Cave, cave, Dominus videt. Die Madrider Tischplatte des Hieronymus Bosch. In: Festschr. A. Schwob. Innsbruck 1997, 299⫺322,
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Sünde und Gnade
hier 303 sq. ⫺ 10 Broek, M. A. van den: Der Spiegel des Sünders. Ein katechetischer Traktat des 15. Jh.s. Amst. 1976; Schütz, E.: Joseps S.nspiegel. Eine ndd. Lehrdichtung des 15. Jh.s. Köln 1973; Moser (wie not. 9). ⫺ 11 Schmidtke, D.: Etymachietraktat. In: Verflex. 2 (21980) 636⫺639. ⫺ 12 Moser, D.-R.: Exempel ⫺ Paraphrase ⫺ Märchen. Zum Gattungswandel christl. Volkserzählungen im 17. und 18. Jh. am Beispiel einiger „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. In: Hinrichs, E./Wiegelmann, G. (edd.): Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jh.s. Wolfenbüttel 1982, 117⫺148, hier 129⫺ 132, 138; Harris, N.: The Latin and German Etymachia. Tübingen 1994, 288⫺292. ⫺ 13 Stelzenberger (wie not. 4) 114; Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation. B. 1981, 413. ⫺ 14 Schoonenberg, P.: Theologie der S. Köln 1966, 40. ⫺ 15 Vetter u. a. (wie not. 1) 1016; Bertholet u. a. (wie not. 3) 891 sq.; Klär, K. J.: Das kirchliche Bußinstitut von den Anfängen bis zum Konzil von Trient. Ffm. 1991, 200⫺205. ⫺ 16 Vetter u. a. (wie not. 1) 1018 sq.; Khoury, A. T.: Schuld und Umkehr im Islam. In: Sievernich, M. u. a.: Schuld und Umkehr in den Weltreligionen. Mainz 1983, 61⫺83, hier 72 sq. ⫺ 17 Kretzenbacher, L.: Teufelsbündner und Faustgestalten im Abendlande. Klagenfurt 1968; Schwarz, P.: Die neue Eva. Der S.nfall in Volksglaube und Volkserzählung. Göppingen 1973. ⫺ 18 Dorn, E.: Der sündige Hl. in der Legende des MA.s. Mü. 1967. ⫺ 19 Tubach, num. 4412, 4420, 4397. ⫺ 20 Hofmann, L.: Exempelkatalog zu Martin Pruggers Beispielkatechismus von 1724. Würzburg 1987, num. 552, 553. ⫺ 21 Tubach, num. 4416. ⫺ 22 Simonsuuri, num. F 1⫺ F 291; Kretzenbacher, L.: Freveltanz und „Überzähliger“. In: Carinthia 1 (1954) 843⫺866. ⫺ 23 Tubach, num. 1593, 1596; Hofmann (wie not. 20) num. 204, 221, 222, 229, 653; Simonsuuri, num. E 1001⫺1100; Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Stg. 1991, 217⫺219; Klapper, MA., num. 113. ⫺ 24 Landau, M.: Hölle und Fegfeuer in Volksglaube, Dichtung und Kirchenlehre. Heidelberg 1909, 116, 119. ⫺ 25 Tubach, num. 4077, 4078; ATU 760 A*; Simonsuuri, num. F 281; cf. Kokott, H.: Reynke de Vos. Mü. 1981, 98⫺101, 109; Moser-Rath (wie not. 23) 21, 61 sq., 88; Klapper, MA., num. 39, 45, 157, 158. ⫺ 26 Moser, D.-R.: Christl. Märchen. Zur Geschichte, Sinngebung und Funktion einiger KHM der Brüder Grimm. In: Janning, J. (ed.): Gott im Märchen. Kassel 1982, 92⫺113, hier 111 sq. ⫺ 27 Kretzenbacher, L.: Heimat im Volksbarock. Klagenfurt 1961, 97⫺106, hier 105; id.: Das verletzte Kultbild. Mü. 1977, 94, 106; Brückner, 230⫺239. ⫺ 28 Tubach, num. 1146. ⫺ 29 Tubach, num. 4421. ⫺ 30 Tubach, num. 664, 925, 1202. ⫺ 31 Tubach, num. 3695. ⫺ 32 Tubach, num. 4406. ⫺ 33 Andrejev, N. P.: Die Legende von den zwei Erzsündern (FFC 54). Hels. 1924, 23⫺27; id.: Die Legende vom Räuber Madej (FFC 69). Hels. 1927, 5⫺
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7. ⫺ 34 Moser, D.-R.: Die Tannhäuser-Legende. B. 1977, 17 sq., 92. ⫺ 35 id. (wie not. 26) 99⫺103. ⫺ 36 Tubach, num. 4075⫺4078, 4410. ⫺ 37 Tubach, num. 3342, 4398, 4403⫺4405. ⫺ 38 Landau (wie not. 24) 113. ⫺ 39 Kretzenbacher, L.: Die Seelenwaage. Klagenfurt 1958, 131, 136. ⫺ 40 id.: Sloven. (s)cagati ⫽ „verzagen“ als dt. Lehnwort theol. Gehaltes. In: Die Welt der Slaven 9 (1964) 337⫺361, hier 360. ⫺ 41 id. (wie not. 39) 137; Karlinger, F./Mykytiuk, B.: Legendenmärchen aus Europa. MdW 1967, num. 21 (aus dem Friaul). ⫺ 42 Tubach, num. 4402, 4407, 5150, 5131; Hofmann (wie not. 20) num. 246; Künzig, J./Werner-Künzig, W.: Legendenlieder. Fbg 1977, num. 20. ⫺ 43 Kretzenbacher (wie not. 39) 131; cf. Kälin, B.: Maria, muter der barmherzekeit. Die Sünder und die Frommen in den Marienlegenden des Alten Passionals. Bern u. a. 1994. ⫺ 44 Kretzenbacher (wie not. 40) 340 sq. ⫺ 45 cf. Tubach, num. 2579. ⫺ 46 Tubach, num. 4414; Alsheimer, R.: Das Magnum speculum exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Bern u. a. 1971, num. 79; Hofmann (wie not. 20) num. 247; Simonsuuri, num. F 201. ⫺ 47 Alsheimer (wie not. 46) num. 79; Tubach, num. 4411; 4414; Simonsuuri, num. F 201; Hofmann (wie not. 20) num. 247, 647, 649, 652, 654⫺658, 660, 663, 665, 669⫺671; Moser-Rath (wie not. 23) 319, 321. ⫺ 48 Brinktrine, J.: Die Lehre von den letzten Dingen. Paderborn 1963, 44 sq., 149; cf. Himmel, Hölle, Fegefeuer. Ausstellungskatalog Zürich 21994. ⫺ 49 Moser (wie not. 13) 284. ⫺ 50 Freudenthal, H.: Das Feuer im dt. Glauben und Brauch. B./Lpz. 1931, 456. ⫺ 51 ibid. ⫺ 52 Tubach, num. 4523; cf. Landau (wie not. 24) 254⫺256 (Kaddisch-Gebet als Sohnespflicht z. B. in der jüd. Akiba-Legende). ⫺ 53 Brinktrine (wie not. 48) 54. ⫺ 54 Freudenthal (wie not. 50) 459; Lecouteux, C.: Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im MA. Köln/Wien 1987, 273⫺276; Mackensen, L.: Niedersächs. Sagen 2. Lpz. 1925, num. 49, 50, 53, 54, 58, 79.1, 79.2; Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, num. 347; Lohre, H.: Märk. Sagen. Lpz. 1921, num. 172.
Kirchdorf
Bianca Wildfeuer
Sünde und Gnade (AaTh/ATU 755), Legendenmärchen über eine kinderlose Frau (cf. J Unfruchtbarkeit), die ihren J ungeborenen Kindern begegnet1: Eine junge Frau heiratet einen J Pfarrer. Aus Furcht vor einer J Schwangerschaft (da sie keine Kinder will) mahlt sie (auf Rat einer alten Frau) mit einer Handmühle magisch ihre ungeborenen Kinder weg. Als übernatürliches Zeichen dafür, daß sie einen J Frevel begangen hat, verliert sie ihren J Schatten. Als sie nach tiefer J Reue über ihr Tun die
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Sünde und Gnade
Vergebung ihrer S. von den ungeborenen Kindern erlangt hat, kehrt sie nach Hause zurück und stirbt. Als Zeichen dafür, daß sie die ewige Seligkeit erlangt hat, erblühen Blumen aus einem Stein (hölzerner Fußboden; cf. J Tannhäuser; AaTh/ATU 756: Der grünende J Zweig).
Nach den grundlegenden Unters.en B. af Klintbergs ist AaTh/ATU 755 seit dem 19. Jh. vor allem in Nordeuropa (dän., norweg., schwed., finn.-schwed., finn.) nachgewiesen, vereinzelt auch in Estland und Friesland2; ferner wurden Belege aus der Bretagne sowie dem dt.sprachigen Raum aufgezeichnet3. Die Bezeichnung des Erzähltyps durch A. J Aarne geht zurück auf das Märchen Synd og Naade in S. J Grundtvigs Slg Danske Folkeæventyr (1878)4. Für die Tradierung des Erzählstoffs besitzt die Begegnung des schwed. Schriftstellers Carl August Hagberg (1810⫺64) mit den beiden österr. Schriftstellern Ludwig August Frankl und Nikolaus Lenau im Jahr 1835 bes. Bedeutung. Hagberg soll auf Lenaus Aufforderung hin nord. Schauermärchen erzählt haben, darunter AaTh/ATU 755; auf diese Anregung hin seien sowohl Frankls Gedicht Die Kinderlose (1836) als auch Lenaus lyrisch-balladesker Anna-Zyklus (1838) entstanden5. Etwa zeitgleich ist von dem dän. Theologen F. Hammerich 1834 eine schwed. Var. gleichfalls nach einer Erzählung von Hagberg aufgezeichnet worden6. Der Ursprung des Legendenmärchens liegt möglicherweise im Raum östl. der Ostsee, wo es durch Ausgestaltung einer der weitverbreiteten Sagen von einer kinderlosen Frau, die ihren ungeborenen Kindern begegnet, entstanden sein könnte7. So ist das Mahlen als magische Handlung im nordöstl. Europa (Finnland, Ostpreußen) belegt, nicht aber im nordwestl.8 Der J Backofen, an dem die Frau nach der Vergebung ihrer S.n durch ihre ungeborenen Kinder einen Schlafplatz zugewiesen bekommt, erinnert an große Bauernküchen in Finnland, die im Gegensatz zu solchen in Dänemark, Schweden und Norwegen einen Absatz am Ofen für Bettler bereithielten9. Auch beim Blütenwunder scheinen die ursprünglicheren Formen in den östl. Var.n vorzukommen (cf. hierzu bes. AaTh/ATU 756 B: J Räuber Madej)10. Die Erzählung spiegelt eine christl. Symbolik, beruht aber zunächst auf einer Bild-
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sprache, wie sie den Erzählern aus ihrem täglichen Umfeld bekannt war. So ist das Mahlen auf der Handmühle (J Mühle, Mühlstein, Müller) sowohl als ein handwerklicher Vorgang zu interpretieren als auch als eine ikonographisch belegte göttliche Handlung, die hier in ihrer sündigen Verkehrung entgegen göttlicher Gnade das Leben nimmt11. Der als Schlafplatz der reuigen Sünderin genannte Backofen weist zum einen auf das Umfeld einer traditionellen Bauerngesellschaft, zum anderen ist er ein Symbol der Gebärmutter12. Als ein rein religiöses Motiv ist das bereits bibl. belegte Blütenwunder (Num. 17,23; J Aaron) zu werten. Es ist als ein Zeichen der Gnade Gottes, der der reuigen Sünderin Vergebung schenkt, zu verstehen. Auch der Verlust des Schattens ist als sichtbares Zeichen für das sündhafte Verhalten der Frau ein religiöses Motiv. Eine vergleichbare Visualisierung der Sündhaftigkeit erscheint auch in anderen Var.n13: Das Gras, das die Frau betritt, verwelkt; sie bleibt selbst bei einem Spaziergang in strömendem Regen trocken; oder die J Sonne scheint nur auf den Mann, nicht aber auf sie. Im letzteren Motiv wird ein Anklang an die christl. Vorstellung von Gott als Sonne der Gerechtigkeit spürbar14. Lenaus Anna wirkt ⫺ neben einer potentiellen Beeinflussung der mündl. Überlieferung ⫺ in Hugo von J Hofmannsthals Kunstmärchen Die Frau ohne Schatten nach, zunächst ein Opernlibretto für Richard Strauss, dann zu einer Prosafassung (1919) ausgestaltet15. Josef Hofmiller betont in seiner Der verlorene Schatten (1933) betitelten Nachdichtung der dän. Fassung von Grundtvig die christl. Symbolik; die Tatsache, daß er die Prüfung und Sühne in die Christnacht verlegt16, darf wohl als eine Gegenrede auf Hofmannsthals Verlagerung ins oriental. Milieu betrachtet werden. 1 Gaidoz, H.: La Ste´rilite´ volontaire. In: Me´lusine 9 (1898/99) 61⫺64, 102; Hauffen, A.: Zur Stoffgeschichte von Lenaus „Anna“. In: ZfVk. 10 (1900) 432⫺438; Bolte, J.: Zur Sage von der freiwillig kinderlosen Frau. ibid. 14 (1904) 114⫺117; Kahle, B.: Die freiwillig kinderlose Frau. ibid. 16 (1906) 311⫺ 314; Klintberg, B. af: Die Frau, die keine Kinder wollte. Moralvorstellungen in einem nord. Märchen. In: Fabula 27 (1986) 237⫺264 (Var.nverz. 256⫺264); id.: Childlessness and Childbirth. In: Nøjgaard, M. u. a. (ed.): The Telling of Stories. Odense 1990, 35⫺46; id.: The Parson’s Wife. An Analysis of a Tale
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Sünden: Die drei S. des Eremiten
Recorded by Evald Tang Kristensen. In: Telling Reality. ed. M. Chesnutt. Kop./Turku 1993, 75⫺87; Kvideland, R.: All the World’s Reward. Seattle 1999, num. 24. ⫺ 2 Klintberg 1986, 1990, 1993 (wie not. 1). ⫺ 3 Anna (kinderlose Frau). In: HDS Lfg 3 (1963) 546⫺554, bes. 546. ⫺ 4 Grundtvig, S.: Danske Folkeæventyr [2]. Kop. 1878, 196⫺206; id.: Dän. Volksmärchen 2. Lpz. 1879, 258⫺270. ⫺ 5 Frankl, L. A.: Zur Biogr. Nicolaus Lenaus. Wien 21885, 41; id.: Helden- und Liederbuch. Prag 21863, 265⫺276; Lenau, N.: Sämtliche Werke 2. Stg./Augsburg 1855, 365⫺387. ⫺ 6 Bolte, J.: Lenaus Gedicht Anna. In: Euphorion 4,2 (1897) 323⫺333; cf. Hammerich, F.: Et Levnetsløb. Kop. 1882, 321. ⫺ 7 Javorskij, J. A.: Ocˇerki po istorii russkoj narodnoj slovesnosti. 2: Duchovnyj stich o gresˇnoj deve i legenda o nerozˇdennych detjach (Abhdlgen zur Geschichte der russ. Volkslit. 2: Die geistliche Dichtung von der sündigen Jungfrau und die Legende von den ungeborenen Kindern). Kiev 1915. ⫺ 8 Klintberg 1986 (wie not. 1) 243; HDA 5 (1932⫺33) 1507; cf. auch HDS Lfg 3, 548. ⫺ 9 Klintberg 1986 (wie not. 1) 243. ⫺ 10 ibid., 243 sq.; Strömbäck, D.: Näcken och förlossningen. In: id.: Folklore och filologi. Uppsala 1970, 115⫺ 122. ⫺ 11 cf. Heinz-Mohr, G.: Lex. der Symbole. Bilder und Zeichen der christl. Kunst. Mü. 1971, 233 sq. ⫺ 12 cf. HDA 1 (1927) 788. ⫺ 13 Belege bei Klintberg 1986 (wie not. 1) 246 sq. ⫺ 14 Laag, H.: Sonne. In: LCI 4 (1972) 175⫺178; Gerstl, D.: Sonne (Ikonographisch). In: LThK 9 (32000) 723⫺725. ⫺ 15 Wilpert, G. von: Der verlorene Schatten. Stg. 1978, 83⫺111; Shojaei Kawan, C.: Menschen ohne Schatten. In: Schatten, Schatten. ed. M. Götz/B. Haldner/M. Buschle. Basel/Muttenz 2003, 57⫺67, hier 64⫺67. ⫺ 16 Hofmiller, J.: Der verlorene Schatten. In: Corona 4,2 (1933) 196⫺204; id.: Nord. Märchen. Mü. 1961, 200⫺212.
Volkach
Claudia Maria Pecher
Sünden: Die drei S. des Eremiten (AaTh/ ATU 839), von A. J Taylor1 untersuchtes Legendenmärchen, das die negativen Folgen der J Trunkenheit versinnbildlicht: Ein Mann (J Mönch, J Einsiedler) soll sich (manchmal vom J Teufel dazu aufgefordert) unter mehreren (meist drei) S. eine aussuchen: J Mord (J Dieb, Diebstahl), sexuelle Ausschweifung, Trinken (meist Wein). Er wählt das Trinken, das ihm am harmlosesten erscheint. Im Zustand der Trunkenheit begeht er nacheinander sowohl sexuelle Übergriffe (J Ehebruch, J Vergewaltigung) als auch einen Mord.
Der älteste Beleg des Erzähltyps findet sich mit einer bis auf den Kalifen ¤Utßma¯n (gest. 644) zurückgehenden Überliefererkette in dem
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arab. Werk al-Asˇriba (Die Getränke) des Ibn Qutaiba (gest. 889)2. Dort wird ein Frommer vor die Wahl gestellt, entweder die Hl. Schrift zu entehren, ein Kind zu töten, vom Glauben abzufallen, Wein zu trinken oder eine Frau zu vergewaltigen. In der arab. Lit. ist die Erzählung früh mit der Legende der beiden gefallenen Engel Ha¯ru¯t und Ma¯ru¯t verbunden3. In Europa findet sie sich seit dem 13. Jh. zunächst in der lat. Exempelliteratur, so bei J Caesarius von Heisterbach (Libri VIII miraculorum 1,42), im J Speculum morale4 und im J Speculum laicorum (num. 206), und ist seither ⫺ mit einer wechselnden Anzahl unterschiedlicher S. ⫺ in einer Vielzahl ma. und frühneuzeitlicher Qu.n belegt, so bei John J Bromyard (E 1,3), Gottschalk J Hollen (3,6 E), Johannes J Pauli (num. 243), im J Libro de los e(n)xemplos des Clemente Sa´nchez (num. 56 und 61), bei Georg J Wickram5 oder im J Ma’assehbuch (M, num. 251)6. Belege aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s liegen hauptsächlich für Nord-, Mittel- und Osteuropa vor. Hinsichtlich der Figuren, Handlung und Funktionen sind drei Gruppen zu unterscheiden: (1) Erzählungen der ersten Gruppe nennen keine Details zu Personen, Raum und Zeit. Die beiden Hauptgestalten sind ein Mann und ein böser Geist (Teufel)7. Meist wird die Ursache der Herausforderung nicht angegeben. Der Mann entscheidet sich dafür, den Wein zu trinken, weil ihm dies als die geringste Sünde erscheint; im Rausch begeht er dann die anderen S. In einigen Var.n wird am Ende die Bestrafung des Sünders betont, durch Gefängnis im Diesseits oder mit der Hölle im Jenseits. (2) In einer zweiten Gruppe von Var.n ist der Mann ein Mönch, Eremit oder Frommer, der bis zu seiner Begegnung mit dem Teufel ein gottgefälliges Leben führt. Ort und Zeit des Geschehens werden nicht erwähnt. Den Grund der Auseinandersetzung bildet manchmal eine zuvor von dem Einsiedler begangene Sünde8. In den meisten Var.n9 setzt der Teufel dem Eremiten lange, oft über mehrere Jahre hin, erfolglos zu. Dann bietet er an, seine Belästigungen einzustellen, wenn der Eremit eine von drei S. begehe. Dieser ist einverstanden und entscheidet sich dafür, Wein zu trinken. In betrunkenem Zustand verführt (vergewaltigt) er eine Frau. Als er wieder
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Sündenfall ⫺ Sündenregister auf der Kuhhaut
nüchtern ist, versucht er, sein Verbrechen zu vertuschen, und ermordet die Frau (ihren Mann, der seine Untat entdeckt hat). Diese Fassung erinnert ⫺ bis auf das zusätzlich eingefügte Element der Trunkenheit ⫺ an die ma. arab. Legende vom Mönch Barsø¯ısøa10. (3) In einer dritten Gruppe trägt der Held oft einen Namen, außerdem sind Ort und Zeit der Handlung angegeben. Der Protagonist ist ein Mönch oder Heiliger, der Gegenspieler der Teufel. Nachdem er die S. begangen hat, bereut der Protagonist und bittet um Vergebung. Nach Jahren asketischen Lebens in der Abgeschiedenheit erhält er schließlich von einem himmlischen Wesen oder einem hohen Geistlichen die Absolution. Er wird durch den Tod und das Versprechen himmlischer Seligkeit erlöst11. Über die drei genannten Gruppen hinaus existieren bes. in der jüd. Überlieferung zahlreiche Var.n mit diversen inhaltlichen Abweichungen. Manchmal erscheinen drei Frauen, oft Schwestern, als Sünderinnen. Jede von ihnen personifiziert ein Laster: Die erste stiehlt, die zweite ist faul (treibt Unzucht), die dritte lügt (führt verleumderische Reden). Nach ihrer Heirat bessern sich die beiden ersten; die Lügnerin oder Verleumderin dagegen bewirkt den Tod dreier Menschen, so auch ihren eigenen (cf. auch AaTh/ATU 1353: Böses J Weib schlimmer als der Teufel)12. In anderen Var.n verläuft die Handlung umgekehrt: Die Sünder bessern sich, indem sie aufhören zu lügen13. Eine russ. Var. handelt davon, wie ein Mönch durch Wollust verdirbt14. In einigen Var.n von AaTh/ATU 839 wird der Protagonist nicht vom Teufel, sondern von einem weltlichen Herrscher herausgefordert. Den Hintergrund bildet hier eine Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Religionen: Ein nichtjüd. König versucht, elf Juden zum Verzehr von Schweinefleisch, zu Unzucht und zum Trinken unkoscheren Weins zu verleiten; sie entscheiden sich für den Wein, aber als sie betrunken sind, begehen sie auch die anderen S.15 Christl. Mönche bemühen sich, den muslim. Sultan Saladin zum Christentum zu bekehren; er beschämt die Mönche, indem er ihre Liebe zum Wein nutzt, um sie zuerst betrunken zu machen, worauf sie sich der Unzucht hingeben16. Ein arab. König will die Juden in Versuchung führen, sie verzehren je-
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doch weder unkoscheres Essen noch lassen sie sich zur Unzucht verleiten; als der Berater des Königs derselben Prüfung unterzogen wird, kann er der Versuchung nicht widerstehen und trinkt den Wein17. 1 Taylor, A.: The Three Sins of the Hermit. In: Modern Philology 20 (1922) 61⫺94. ⫺ 2 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 113. ⫺ 3 cf. Vajda, G.: Ha¯ru¯t waMa¯ru¯t. In: EI2 3 (1979) 236 sq.; Chauvin 1, 113, num. 123; ¤Ara¯Åis al-maja¯lis fı¯ qisøasø al-anbiya¯Å or „Lives of the Prophets“. As Recounted by Abu¯ Ishø a¯q Ahø mad Ibn Muhø ammad Ibn Ibra¯hı¯m al-Tha¤labı¯. Übers. W. M. Brinner. Leiden u. a. 2002, 87 sq. ⫺ 4 Wesselski, A.: Mönchslatein. Lpz. 1909, num. 17. ⫺ 5 Wickram/Bolte, num. 72. ⫺ 6 Belege bei Tubach und Dvorˇa´k, num. 1816; Brückner, 728; 471, num. 428; 478, num. 490; 492, num. 607e; Rehermann, 142. ⫺ 7 Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 168; Dowojna-Sylwestrowicz, M.: Podania z˙mujdzkie. W. 1894, 374⫺376. ⫺ 8 Delarue/Tene`ze. ⫺ 9 Wesselski (wie not. 4) num. 243; EM-Archiv: Kobolt, Schertz und Ernst (1747) 390 sq.; Polı´vka 4, 541 sq.; Karlinger, F./Mykytiuk, B.: Legendenmärchen aus Europa. MdW 1967, num. 46 (slov.); Carnoy, H.: Litte´rature orale de la Picardie. P. 1882, 134⫺137. ⫺ 10 Chauvin 8, 128 sq., num. 118. ⫺ 11 Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic./L. 1966, num. 61 (aus der Steiermark); Wickram/Bolte, num. 72; Lecoy, F.: La Vie des Pe`res. P. 1993, num. 33; Me´on, D. M.: Nouveau Recueil de fabliaux et contes ine´dits. P. 1893 (Nachdr. Genf 1976), 173⫺186; Tudor, A. P.: Tales of Vice and Virtue. The First Old French ,Vie des Pe`res‘. Amst. u. a. 2005, 186 sq.; Busk, R. H.: The Folk-Lore of Rome. L. 1874, 196⫺ 200. ⫺ 12 Gaster, M. (ed.): Ma’aseh Book. Phil. u. a. (1934) Nachdr. 1981, num. 220; Jason, Iraq 839 *A; IFA, num. 784 (aus Syrien). ⫺ 13 IFA, num. 4932 (aus Jemen); Salman, F./Shenhar, A.: Sipure-‘am druziyim/Druze Folktales. Jerusalem 1978, num. 30. ⫺ 14 Tumilevicˇ, F. V.: Russkie narodnye skazki kazakov-nekrasovcev. Rostov 1958, num. 28. ⫺ 15 Köhler/Bolte 1, 583, num. 450; cf. Gaster (wie not. 12) num. 250. ⫺ 16 Wesselski (wie not. 4). ⫺ 17 IFA, num. 77 (aus Jemen).
Haifa
Idit Pintel-Ginsberg
Sündenfall J Adam, J Adam und Eva, J Eva: Die neue E. Sündenregister auf der Kuhhaut (AaTh/ATU 826), eine seit dem Hochmittelalter bekannte, zwischen Legende und Exempel oszillierende Erzählung, die in neueren mündl. Überlieferungen aus vielen Teilen Europas bekannt ist
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Sündenregister auf der Kuhhaut
und zumeist als Warnsage, häufig mit legendarischen Zügen, weiterlebt. Während des J Gottesdienstes hält sich der J Teufel in der J Kirche auf und schreibt die J Namen der Schlafenden (Ruhestörer, Schwätzer; manchmal auch das Gesagte [zumeist von Frauen]) auf eine J Tierhaut (von Kuh, Esel, Pferd, Ochse, Stier). Da der Platz nicht ausreicht, versucht er, sie mit den Zähnen in die Länge zu ziehen, doch die Haut schnellt zurück. Beim reflexartigen Ausweichen schlägt er mit dem Kopf an eine Mauer und verletzt sich. Ein Teilnehmer am Gottesdienst (Diakon, heiligmäßiger Mensch) bricht darüber (vom Teufel listig herausgefordert) in J Lachen aus. Er wird ermahnt, sich im Gotteshaus zu mäßigen. Manchmal verliert er seine heiligmäßigen Gaben, die er nach einer Zeit der J Buße zurückerhalten kann (sein Name wird ebenfalls auf der Haut notiert).
Seit Mitte des 19. Jh.s hat sich die Forschung immer wieder mit dem Stoff vom schreibenden Teufel auseinandergesetzt1. Danach ist die älteste literar. Bezeugung in den Sermones vulgares des J Jacques de Vitry2 zu suchen. Das bildhafte Beispiel, zur Argumentationshilfe für Prediger gedacht, soll unaufmerksame Zuhörer, die bei der J Predigt anderen (sündhaften) Gedanken nachhängen, ermahnen und erbauen3: Als bei Jacques de Vitry der Geistliche der Gemeinde seine Beobachtung mitteilt, zeigt sie J Reue, der Teufel muß das Aufgeschriebene wieder löschen (cf. auch die weitverbreiteten Erzählungen von auf dem Altar niedergelegten Sündenzetteln, die, als Beichte geltend, auf wundersame Weise gelöscht werden4). Einflußreich für die nachfolgende Überlieferung wird die erzählerisch breiter ausgestaltete Fassung des Dominikaners J Vincent de Beauvais5. Zentral ist das im Spätmittelalter häufig vorkommende Motiv des bei der Gottesmutter Gnade und Trost findenden Menschen, der durch ein Mirakel Rettung erfährt6. Das Geschehen wird bei ihm in Toledo verortet und hat die Funktion eines Marienmirakels: Als der Teufel, der in Gestalt eines Affen auf dem Fenstersims eines Gotteshauses sitzend das Geschwätz zweier Frauen (J Geschwätzigkeit) aufschreibt und dabei mit Getöse herunterfällt, bricht der dem Erzbischof bei der Messe assistierende Diakon ,überlaut‘ in Lachen aus. Bei der Befragung nach dem Ende des Gottesdienstes kann er (in späteren Versionen Briccius [Erzbischof Brictius von Tours], hl. Achatus, Beatus) dem Geistlichen (J Martin von Tours, J Gregor d. Gr. etc.) den Grund seines Ausbruchs nennen und für seine Schuld Abbitte leisten, da Ma-
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ria ihm das S. überreicht hat. Der Diakon wird in Ehren wieder in sein Amt eingesetzt, die schwatzhaften Frauen bereuen und geloben Besserung.
Weitere nachwirkende Fassungen finden sich u. a. in den lat. Exempelsammlungen des J E´tienne de Bourbon7, J Johannes Gobi Junior8, Johannes J Herolt9 und J Pelba´rt von Temesva´r10. Recht früh waren zahlreiche volkssprachliche (schwed., dt., schweiz., engl., span.) Fassungen in Umlauf, was für die allg. Akzeptanz des Stoffes spricht, der in verschiedenen Quellen (Predigtsammlungen, Kalender) bis weit ins 18. Jh. verbreitet wurde11. Darüber hinaus sorgten seit der 2. Hälfte des 14. Jh.s bildliche Gestaltungen (Fresken, Bauplastiken, Holzskulpturen, Tapisserien, Flugblätter, Holzschnitte) für eine weitere Popularisierung: Sie zeigen den schreibenden Teufel, der das ,Geplapper‘ der Frauen notiert12. In der neueren mündl. Überlieferung ist AaTh/ATU 826 bes. in kathol. Regionen Mittel- und Südosteuropas verbreitet, aber auch im evangel. Norden13. Diese Fassungen tragen unverkennbare Züge einer profanierten Warnsage. Statt des Diakons handelt es sich bei dem Lachenden um einen ,reinen Toren‘ (Bauer, Hirt, Einsiedler), der aber auch die Gabe besitzt, den Teufel und andere jenseitige Wesen (z. B. Engel14) wahrzunehmen (J Geistersichtig). Er wird ebenfalls wegen des als ungehörig empfundenen Lachens bestraft und auf der Tierhaut notiert15 oder kann erst nach längerer Zeit der Reue wieder am Gottesdienst teilnehmen16. Entsprechend des pessimistischen Weltbilds von Warnsagen verliert er durch sein Lachen zumeist die Fähigkeit der Wahrnehmung des Dämons17; seltener verfügt er darüber nach einer Bußzeit erneut18. Häufig ist eine Ausschmückung der Geschichte mit anderen Mirakelmotiven zu beobachten. Eine typische Kombination ergibt sich mit AaTh/ATU 827: J Heiligkeit geht über Wasser. Als Folge seiner Verfehlung büßt der Fromme die Gabe, über Morast (Wasser) gehen zu können, ein19; oder es heißt, daß er seinen Mantel danach nicht mehr auf einem J Sonnenstrahl aufhängen kann20. Gelegentlich heißt es, die auf einem Sonnenstrahl aufgehängte Kopfbedeckung sei in dem Augenblick zu Boden gefallen, als der Sünder in Lachen ausbrach21. Nur selten muß der Teufel unver-
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Sündenregister auf der Kuhhaut
richteter Dinge abziehen22. In einer rudimentären litau. Fassung heißt es, zwei Teufel hätten sich beim Dehnen der Ochsenhaut verletzt. Der eine habe sich mit einem Horn an der Mauer gestoßen, der andere sich das Horn auf der Erde abgeschlagen23. Von den mit AaTh/ATU 826 in Verbindung stehenden sprichwörtlichen Redensarten24 dominiert die umgangssprachliche Form ,Das geht auf keine Kuhhaut‘, die sich auch mundartlich findet. Die Redensart ist seit der 2. Hälfte des 16. Jh.s bezeugt, etwa in J Rabelais’ Gargantua (Kap. 6; 1534/35)25 oder in Johann J Fischarts Floh Hatz (1573)26, und erinnert mit dem Bezug auf den Teufel noch stark an die ma. Exempla. Seit dem 17. Jh. ist ein Bedeutungswandel zu beobachten: Die Redensart drückt bildhaft die Unsinnigkeit, Unerhörtheit oder Unbeschreiblichkeit eines Vorgangs aus. Der Hintergrund von AaTh/ATU 826 ist zum einen in den weitverbreiteten religiösen Vorstellungen zu sehen, daß jeder Mensch ein Sünder sei, dessen auf Erden begangene J Sünden in einem J Buch des Lebens aufgeschrieben und beim J Jüngsten Gericht vorgelesen oder in der Todesstunde präsentiert würden27. Der Begriff S. ist dabei als Metapher28 aufzufassen; jedoch ist nicht das Register als Bildspender für Sünde zentral, sondern die rechtliche Vorstellung, nach der Vergehen aus prozessualen Gründen schriftl. festgehalten (,registriert‘) werden29. Daß die Haut eines so großen Tiers wie der Kuh, nicht das im MA. übliche Pergament aus Schafshaut, als S. genommen wird, signalisiert die Vielzahl der Sünden. Zum andern gelten Geschwätzigkeit vor allem von Frauen wie auch unbotmäßiges Lachen, noch dazu von geistlichen Helfern, als Verstoß gegen das Gebot der Kontemplation. 1 cf. zusammenfassend Bolte, J.: Der Teufel in der Kirche. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 11 (1897) 249⫺266; Harder, F.: S. auf der K. In: ZfVk. 37⫺38 (1927⫺28) 111⫺117; Halm, P.: Der schreibende Teufel. In: Atti del II congresso internazionale di studi umanistici. Rom 1952, 235⫺ 249; Wildhaber, R.: Das S. auf der K. (FFC 163). Hels. 1955; Röhrich, Erzählungen 1, 113⫺115, 267⫺ 274; Rasmussen, H.: Djævelen og de sleddervorne kvinder. In: Aarbøger for nordisk oldkyndighed o historie (1964) 120⫺133 (dt. Zusammenfassung 133 sq.); id.: Der schreibende Teufel in Nordeuropa. In: Studien zu Volkskultur, Sprache und Landesge-
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schichte 1. Festschr. M. Zender. Bonn 1972, 455⫺ 464; Jennings, M.: Tutivillus. The Literary Career of the Recording Demon. In: Studies in Philology 74 (1977) 1⫺83; Moser, O.: Der Teufel mit dem S. am Kircheneingang. In: Carinthia 1,168 (1978) 147⫺ 167; id.: Der Teufel mit dem S. Zu einer barocken Kalendergeschichte aus Österreich. In: ÖZfVk. 85 (1982) 389⫺401. ⫺ 2 Jacques de Vitry/Crane, num. 239. ⫺ 3 Tubach und Dvorˇa´k, num. 1630. ⫺ 4 Tubach und Dvorˇa´k, num. 1202. ⫺ 5 Vincent de Beauvais, Speculum historiale 6,118. ⫺ 6 cf. Kretzenbacher, L.: Schutz- und Bittgebärden der Gottesmutter. Zu Vorbedingungen, Auftreten und Nachleben ma. Fürbitte-Gesten zwischen Hochkunst, Legende und Volksglauben. Mü. 1981. ⫺ 7 Stephani de Borbone Tractatvs de diversis materiis predicabilibvs 3. ed. J. Berlioz. Turnhout 2006, 7, 2341⫺2349; cf. ibid. 4, 379⫺389. ⫺ 8 Polo de Beaulieu, M. A. (ed.): La Scala coeli de Jean Gobi. P. 1991, num. 251, 655. ⫺ 9 EM 6, 861. ⫺ 10 Pelba´rt von Temesva´r, Stellarium coronae beatae Mariae virginis 1,4,2,2; Abdruck bei Moser 1982 (wie not. 1) 395 sq. ⫺ 11 Rehermann, 141, num. 8; Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 242. ⫺ 12 cf. bes. Beispiele bei Bolte (wie not. 1); Wildhaber (wie not. 1) 20⫺30; Rasmussen 1972 (wie not. 1) 455⫺459. ⫺ 13 cf. bes. Wildhaber (wie not. 1); Röhrich, Erzählungen 1, 267⫺273; Meyer, M. de: Nederlandse varianten van de legende „De duivel en het zondenregister“. In: Vk. 65 (1964) 61⫺65; Scheiber, A.: Das S. auf der K. In: Fabula 2 (1959) 270 sq.; Ba´lint, S.: Das S. auf der K. In: Ethnologia Europaea 2⫺3 (1968/69) 40⫺43; Kvideland, R.: Med salmiakk, isop og fanden mot kyrkjesøvn. In: Tradisjon 1 (1971) 1⫺15. ⫺ 14 DowojnaSylwestrowicz, M.: Podania z˙mujdzkie 1. W. 1894, 249 sq. (litau.). ⫺ 15 z. B. Schulenburg, W. von: Wend. Volksthum in Sage und Sitte. B. 1882, 86; Waltinger, M.: Niederbayer. Sagen. Straubing 21927, 41; Fokos-Fuchs, D. R.: Volksdichtung der Komi (Syrjänen). Bud. 1951, num. 17. ⫺ 16 z. B. Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, 235 sq. ⫺ 17 id.: Sagen aus dem Unterwallis. Basel 1909, 180. ⫺ 18 z. B. Stojanovic´, M.: Pucˇke pripoviedke i pjesme. Zagreb 1867, num. 16. ⫺ 19 Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 67; Bll. für pommersche Vk. 7 (1899) 53; ibid. 8 (1900) 5 sq.; Hoffmann, H.: Zur Vk. des Jülicher Landes 2. Eschweiler 1914, num. 27; Henßen, G.: Dt. Volkserzählungen aus dem Osten. Münster 1963, 142 sq.; Wossidlo, R.: Mecklenburg. Sagen 1. Rostock 1939, num. 455; Coleman, M. M.: A World Remembered. Cheshire, Conn. 1965, 231 sq. (poln.); Javorskij, Ju. A.: Pamjatniki galickorusskoj narodnoj slovesnosti. Kiev 1915, 29 sq.; Bosˇkovic´-Stulli, M.: Narodne pripovijetke. Zagreb 1963, num. 57; Tene`ze, M.-L./Hüllen, G.: Begegnung der Völker im Märchen 1. Münster 1961, num. 29 (frz.). ⫺ 20 Jegerlehner (wie not. 17) 179 sq., 180. ⫺ 21 Hodne 759 B. ⫺ 22 z. B. Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 206; Bll. für pommersche Vk. 2 (1893⫺94) 37; Mackensen, L.: Sagen der Deut-
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Sündensteine
schen im Wartheland. Posen 1943, num. 317. ⫺ 23 Mittlgen der litau. litterarischen Ges. 2 (1887) 350. ⫺ 24 Röhrich, Redensarten 2, 906⫺908. ⫺ 25 ` Propos de Rabelais et de la le´Gasnault, P.: A gende de saint Martin. In: Bulletin de la Soc. arche´ologique de Touraine 40 (1984) 923⫺932. ⫺ 26 Röhrich, Redensarten 3, 907 sq. ⫺ 27 Schumacher, M.: Ein Kranz für den Tanz und ein Strich durch die Rechnung. In: Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 123 (2001) 253⫺273. ⫺ 28 Weinrich, H.: Sprache in Texten. Stg. 1976, 284. ⫺ 29 cf. Land, E.: Der Teufel mit dem S. in Schöngräbern. Ein Beispiel zum Problemkreis ma. Realitätsauffassung. In: Österr. Zs. für Kunst und Denkmalpflege 31 (1977) 126⫺137; Röhser, G.: Metaphorik und Personifikation der Sünde. Antike Sündenvorstellungen und paulinische Hamartia. Tübingen 1987, hier 20, 55 sq.; Peil, D.: Überlegungen zur Bildfeldtheorie. In: Beitr.e zur dt. Sprache und Lit. 112 (1990) 209⫺ 241, bes. 219.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Sündensteine (AaTh/ATU 1848), Erzähltyp aus einer Gruppe von Schwänken bzw. Witzen, bei denen aus der Verwendung bestimmter Rechenhilfe komische Folgen resultieren: Ein Mann, der sich nicht merken kann, wie oft er gesündigt hat, legt (auf Anraten seines Beichtvaters) für jede J Sünde einen Kieselstein bereit. Zur nächsten Beichte bringt er einen Sack voller Kieselsteine mit. Als der Geistliche sich wundert, sagt der Mann, zu Hause (draußen vor der Tür) habe er noch zwei Säcke.
Dieser relativ seltene Schwank wurde seit dem 19./20. Jh. vor allem in Nord-, West- und Mitteleuropa aufgezeichnet. Oft spielt er im ländlichen Milieu: anstelle von Säcken mit Kieselsteinen (bis zu sieben1) bringt der Sünder (Bauer, Küster) dann Schubkarren mit Kartoffeln oder Steinen mit2. In einer Sonderform verfügt der Pfarrer einer armen Gemeinde, daß die Frauen der Kirche für jeden Seitensprung eine Kerze schenken müssen. Eine Frau bringt eine Schubkarre mit Kerzen zur Kirche, zwei weitere kämen noch3. Wenn dieser Erzähltyp auch in der älteren schriftl. Tradition äußerst selten ist, so kennt er doch eine lange Überlieferung. Der älteste Beleg findet sich im J Libro de los enxemplos (num. 1), einer span. Exempelsammlung des frühen 15. Jh.s. Ein Sack mit Kieselsteinen oder Sand als Sündenpaket begegnet auch in anderen ernsten und schwankhaften Erzählun-
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gen. Im mittelndd. J Seelentrost (ca 1350) wird erzählt, wie ein Abt einen Korb mit Sand auf seinem Rücken trägt. Er will seine Mönche, die wohl den Splitter im Auge eines Mitbruders, aber nicht den Balken im eigenen Auge sehen (Mt. 7,3⫺5; Lk. 6,41), belehren; es sind die eigenen Sünden, die man nicht sieht4. In einem Schwank aus Dagestan trägt J Hodscha Nasreddin zwei Säcke über der Schulter. Der vordere ist schwer, darin sammelt er die Sünden der Leute; der hintere ist leer, da hinein wirft er die eigenen5. Mehrere Erzähltypen weisen strukturell oder inhaltlich Ähnlichkeiten mit der Thematik von AaTh/ATU 1848 auf und werden manchmal auch zu diesem Erzähltyp gestellt. In einer ersten Gruppe spielen absurde Rechnungen mit Kieselsteinen und ähnlichem eine Rolle; in einer zweiten Gruppe müssen Personen, denen eine bestimmte Buße auferlegt ist, zurückkehren, weil sie die Buße mit den vorhandenen Hilfsmitteln nicht bewältigen können. Zur ersten Gruppe zählt u. a. folgende Erzählung: Während einer Pestepidemie legt ein Mann für jeden Toten einen Stein in einen Krug. Nachdem der Mann gestorben ist, heißt es, er sei jetzt selbst im Krug. A. J Galland machte diese kurze Geschichte, die seit dem 11. Jh. in arab. und pers. Slgen auftaucht, 1694 im Westen bekannt6. Seitdem findet sie sich auch in Schwankkompilationen7. In Irland beliebt ist folgender Schwank: Eine Frau wirft für jede Messe, der sie beiwohnt, einen Kieselstein in eine Schachtel; am Ende findet sie darin nur einen einzigen (cf. auch AaTh/ATU 1848 A: J Kalender des Pfarrers)8. Der in Europa, Nordamerika und Australien bekannte neuere, jedoch nur selten aufgezeichnete Schwank ATU 1357 A*: Peas in the Jar handelt von stillschweigend geduldeten Seitensprüngen beider Eheleute und den sich daraus ergebenden Geschehnissen: Ein Ehepaar vereinbart, Seitensprünge zu zählen. Die Frau will mit Erbsen in eine Büchse, der Mann mit Murmeln in einen Sack zählen. Nach Ablauf einer bestimmten Zeit stellt der Mann zufrieden fest, daß er mehr Murmeln habe als seine Frau Erbsen. Sie erwidert, sie habe von den Erbsen aus ihrer Büchse bereits dreimal eine Suppe gekocht.
Verbreitetstes Beispiel der zweiten Gruppe für die zur Rückkehr gezwungenen Büßer ist
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Superman
der inzwischen zu ATU 1738: Alle J Priester in der Hölle gestellte Erzähltyp AaTh 1738 C*: Chalk Marks on Heaven’s Stairs: Ein Mann darf die Himmelsleiter emporsteigen, soll jedoch auf jeder Sprosse für eine seiner Sünden einen Kreidestrich setzen. Auf halbem Wege muß er umkehren, weil ihm die Kreide ausgeht.
Dieser relativ junge Schwank findet sich namentlich in der nördl. Hälfte Europas9, wurde jedoch auch öfter in Südafrika aufgezeichnet10. 1 Meyere, V. de: De vlaamsche vertelselschat 1. Antw. 1925, num. 46. ⫺ 2 Bodens, W.: Sage, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1937, num. 1146; Dittmaier, H.: Sagen, Märchen und Schwänke von der unteren Sieg. Bonn 1950, num. 468; Elling, W.: Beßvaders Tiet. Vreden 1979, 115 (aus dem Westmünsterland). ⫺ 3 MNK 1848 A*; cf. auch Legros. ⫺ 4 Schmitt, M.: Der große Seelentrost. Ein ndd. Erbauungsbuch des 14. Jh.s. (Diss. Münster 1958) Köln/Graz 1959, 194 sq. ⫺ 5 Chalilov, C.: Skazki narodov Dagestana. M. 1965, num. 102. ⫺ 6 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 1186; EM 12, 978. ⫺ 7 cf. Nachweise bei Ranke, K.: Via grammatica. In: Fabula 20 (1979) 160⫺169, hier num. 73; ´ Su´ilcf. auch Hodscha Nasreddin 1, num. 9. ⫺ 8 O leabha´in/Christiansen, num. 1848*. ⫺ 9 Rausmaa ´ Su´illeabha´in/Christiansen; SK 6, num. 544; O Baughman (DBF A 2, 234); van der Kooi; Buse, H.: Niedersächs. Volksschwänke aus den Landkreisen Rotenburg (Wümme), Verden, Aller und Bremervörde. Rotenburg 21975, num. 400; Heinz-Mohr, G.: Wer zuletzt lacht … Düsseldorf/Köln 1976, 142. ⫺ 10 Coetzee 1738 C; Tydskrift vir volkskunde en volkstaal 48 (1992) 11.
Groningen
Jurjen van der Kooi
Superman, internat. bekannter nordamerik. Comic-Held (J Comics). Die von Jerry Siegel (Text) und Joe Shuster (Zeichnung) entwikkelte Figur erschien erstmals im Juni 1938 im ersten Heft der Action Comics1. Mit S. wurde das neue Genre der Superhelden-Comics erschaffen2. Zahlreiche weitere Figuren wie Captain America, Batman oder Wonder Woman verhalfen dem Genre zum endgültigen Durchbruch. S. wird als Baby vom explodierenden Planeten Krypton mit der Raumkapsel seines Vaters zur Erde gesandt, wo er von dem Ehepaar Kent gefunden und adoptiert wird. Sie nennen ihn Clark. S. wird in kurzer Zeit erwachsen (cf. J Erwachsen bei Geburt) und entdeckt an sich verblüffende Fähigkeiten: u. a.
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kann er fliegen und sich rasant schnell bewegen, hat übermenschliche Kräfte sowie einen Röntgenblick. Auf Rat seines Adoptivvaters verbirgt er seine wahre Identität und gibt sich im normalen Leben als J unscheinbarer Reporter aus. Die Kents sterben, bevor Clark als S. seine ersten Abenteuer besteht. Als S. trägt er ein rot-blaues Kostüm mit einem großen S auf der Brust und ein rotes Cape.
Mit der Herkunftsgeschichte S.s war die Basis für eine Serie geschaffen. Da den Lesern sowohl Vertrautes als auch Neues präsentiert werden soll, bildet die Ausschmückung eines Grundthemas ein entscheidendes Merkmal dieser Comics3. Veränderungen an der Grundidee werden nur behutsam vorgenommen, denn die Kontinuität der Serie muß gewahrt bleiben4, die Grenzen der erzählerischen Struktur dürfen nicht überdehnt werden5. Für S. ist die gebräuchlichste Form der Abänderung die Erweiterung der Ursprungsgeschichte, etwa durch Verstärkung und Ausbau seiner Kräfte6. Einmal aufgenommen, werden neue Elemente ⫺ gewissermaßen kanonisiert ⫺ zum festen Bestandteil der Geschichte7. Weitere erzählerische Reize bieten die sog. Traumgeschichten (imaginary stories) in denen die Kontinuität der Serie temporär aufgehoben ist8. Hierdurch können Fiktionen zweiten Grades eingefügt werden, so daß z. B. S. und Clark Kents Reporterkollegin Lois Lane heiraten9 oder S. sogar stirbt. Beide Themen wurden in den 1990er Jahren tatsächlich umgesetzt: Während S.s Tod10 als kalkulierte Werbeaktion sehr erfolgreich war (sechs Millionen verkaufte Exemplare)11, fügte man die Hochzeit12 als Abänderung des ursprünglichen Konfliktrahmens in die S.-Geschichte ein. Aus der Basisgeschichte S.s lassen sich die konstituierenden Elemente des SuperheldenGenres extrapolieren: Superkräfte, Kostüm und doppelte Identität13. Dabei gibt es neben der Funktion im Handlungsverlauf der Serie einen weiteren Grund, die doppelte Identität S.s einzuführen: Erst die ,Jedermann-Existenz‘14 des schüchternen und ungelenken Reporters Clark Kent ermöglicht die gewünschte Identifikation des Lesers auch mit der S.-Identität15. In seiner Frühzeit trat S. als entschlossener Kämpfer gegen soziale Mißstände in Erscheinung, der bisweilen von den Ordnungskräften (Polizei, Armee) verfolgt wurde16. Erst während des 2. Weltkriegs entwickelte er sich zu
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Superman
einer nationalen Figur, die nicht selbstgesetztes Recht, sondern das Gesetz vertrat. S. kämpfte allerdings nicht an der Front. Vielmehr ließ man ihn pathetisch verkünden, die amerik. Soldaten würden die Kriegsgegner auch ohne einen S. besiegen17; statt dessen bekämpfte er Spione und Saboteure im eigenen Land. Die Figur des S. wird häufig in die Tradition der legendären J Helden mit übermenschlichen Kräften gestellt (J Stärke: Die außergewöhnliche S.)18. Dabei wurde S. als eine perfekte mythol. Figur für das ZA. der Technik19 oder als „der geeichte Mythos für eine nivellierte Industriegesellschaft“20 bezeichnet. Gemeinsamkeiten zwischen Comics und den traditionellen Erzählgattungen, bes. Märchen, sind in der Erzählforschung seit langem erkannt worden21. Gerade die Nähe der Superhelden-Comics zu den europ. Zaubermärchen wurde mehrfach hervorgehoben. Es wurde von einer ,auffälligen Strukturverwandtschaft‘22 gesprochen, vor allem hinsichtlich der Handlung, die eine teilweise erstaunlich weitreichende Affinität zwischen Comics und Märchen aufweist, vom grundlegenden Schema bis in die Details23. Zwar ist der Handlungsverlauf der Comics in seiner auf das Ende hin angelegten Konzeption dem des Märchens vergleichbar24, jedoch muß sich der siegreiche Comic-Held als Serienfigur im Gegensatz zum ,erlösten‘ Märchenprotagonisten immer wieder auf Abenteuer begeben: „Das den Comics gemäße Bild des Handlungsverlaufes ist die Kreisform, der Zyklus.“25 Auch in einzelnen Elementen des Superhelden-Genres ergeben sich Bezüge zu Märchen und Sagen. Dem ,isolierten‘ Märchenhelden (J Isolation), der die Hilfe Jenseitiger (J Helfer) oder J Zaubergaben erhält, entspricht der Superheld, der als Waisenkind und letzter Überlebender eines fernen Planeten auf der Erde seine außergewöhnlichen Kräfte erlangt. Die Zweckbindung der Gabe bzw. der Superkräfte ist in beiden Gattungen vorhanden: ,Annehmlichkeiten und Behagen‘26 sollen sie nicht bieten27. Allerdings ist S. wie J Achilleus oder Siegfried (J Sigurd, Siegfried) nicht vollständig J unverwundbar (J Achillesferse): Durch grünes Kryptonit, radioaktives Gestein seines zerstörten Heimatplaneten, werden seine Kräfte neutralisiert. Im Gegensatz zu
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dem genügsamen, da omnipotenten Helden streben die J Gegenspieler des Superhelden, so etwa S.s Erzfeind Lex Luthor, nach Besitz und Macht. Eine umfassende Kommerzialisierung der S.-Figur erfolgte schon früh. Das Comic-Angebot wurde verbreitert, indem die Produzenten den Action Comics ab 1939 ein eigenes S.-Comic zur Seite stellten und S. auch als Zeitungsstrip erscheinen ließen. Die multimediale Vermarktung begann mit einer wöchentlichen Radiosendung (ab 1940), der sich eine erste Zeichentrickserie (1941⫺43), Realfilme (ab 1948) und eine Fernsehserie (ab 1951) anschlossen. Anfang des 21. Jh.s beruht S.s anhaltende Popularität primär auf aufwendig produzierten Kinofilmen28, Fernsehserien29 und Videospielen. 1
cf. Sassienie, P.: The Comic Book. L. 1994, 14⫺24; Daniels, L.: S. The Complete History. The Life and Times of the Man of Steel. San Francisco 1998, 13⫺ 35. ⫺ 2 Rovin, J.: The Enc. of Superheroes. N. Y./ Ox. 1985; Reynolds, R.: Super Heroes. A Modern Mythology. Jackson 1992; Sieck, T.: Der Zeitgeist der Superhelden. Das Gesellschaftsbild amerik. Superheldencomics von 1938 bis 1998. Meitingen 1999; Muir, J. K.: The Enc. of Superheroes on Film and Television. Jefferson, N. C. 2004; Robinson, L. S.: Wonder Women. Feminisms and Superheroes. N. Y. u. a. 2004; Kakalios, J.: The Physics of Superheroes. N. Y. 2005. ⫺ 3 Cawelti, J.: Adventure, Mystery and Romance. Formula Stories as Art and Popular Culture. Chic./L. 1976, 10. ⫺ 4 Reynolds (wie not. 2) 37, 47. ⫺ 5 Cawelti (wie not. 3). ⫺ 6 Drechsel, W./Funhoff, J./Hoffmann, M.: Massenzeichenware. Die gesellschaftliche und ideologische Funktion der Comics. Ffm. 1975, 126. ⫺ 7 cf. Cawelti, J.: The Concept of Formula in the Study of Popular Literature. In: J. of Popular Culture 3 (1969) 381⫺390, hier 386. ⫺ 8 Eco, U.: Der Mythos von S. In: id.: Apokalyptiker und Integrierte. Ffm. 1984, 203. ⫺ 9 White, T.: The Spawn of M. C. Gaines. In: Lupoff, D./Thompson, D. (edd.): All in Color for a Dime. N. Y. 21997, 19⫺39, hier 28. ⫺ 10 S., N. S. 75 (Jan. 1993); Rückkehr in: The Adventures of S. 505 (Okt. 1993). ⫺ 11 Wright, B.: Comic Book Nation. The Transformation of Youth Culture in America. Baltimore/L. 2001, 282. ⫺ 12 S.: The Wedding Album (1996). ⫺ 13 cf. Hausmanninger, T.: S. Eine Comic-Serie und ihr Ethos. Ffm. 1989, 61; Drechsel u. a. (wie not. 6) 107 sq.; Daniels, L.: DC Comics. Boston u. a. 1995, 21; Reynolds (wie not. 2) 16; Schweizer, R.: Ideologie und Propaganda in den Marvel-Superhelden-Comics. Ffm. u. a. 1992, 36⫺39. ⫺ 14 Drechsel u. a. (wie not. 6) 97. ⫺ 15 Eco (wie not. 8) 194. ⫺ 16 Wright (wie not. 11) 12 sq. ⫺ 17 S. 23 (1943): „America’s Se-
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Surius, Laurentius
cret Weapon ⫺ The Courage of the Common Soldier!“ ⫺ 18 cf. Daniels (wie not. 1) 18; Wright (wie not. 11) 10. ⫺ 19 Inge, M. T.: Comics as Culture. Jackson/L. 1990, 141. ⫺ 20 Eco (wie not. 8) 193. ⫺ 21 Brednich, R. W.: Die Comic Strips als Gegenstand der Erzählforschung. In: SF 20 (1976) 230⫺240; id.: Die Comics in der volkskundlichen Forschung. In: Comics. Ausstellungskatalog Köln 1986, 27⫺36; Ludwig, H.: Zur Handlungsstruktur von Comics und Märchen. In: Fabula 19 (1978) 262⫺286; Scobie, A.: Comics and Folkliterature. ibid. 21 (1980) 70⫺81. ⫺ 22 Brednich 1986 (wie not. 21) 34. ⫺ 23 Ludwig (wie not. 21) 286. ⫺ 24 ibid., 266. ⫺ 25 ibid.; Hausmanninger (wie not. 13) 206. ⫺ 26 ibid., 19. ⫺ 27 cf. Man of Steel 1 (1986) (Adoptivvater Kent weist S. zurecht, als dieser seine Kräfte in einem Football-Spiel für sich einsetzt). ⫺ 28 S. 1. USA 1978 (Regie Richard Doner); 2⫺3. USA 1980/83 (Regie Richard Lester); 4. USA 1987 (Regie Sidney J. Furie); S. Returns. USA 2006 (Regie Bryan Singer). ⫺ 29 Zuletzt „Smallville“ (ab 2001).
Bollschweil
Heinz Ludwig
Surius, Laurentius, *Lübeck 1522/23 als Lorenz Sur (⫽ Sauer), † Köln 28. 5. 1578, Kartäusermönch, humanistischer Kirchenschriftsteller und Hagiograph. Der Sohn eines mit hohen Klerikern verwandten Goldschmieds studierte ab 1535 in Frankfurt an der Oder, erwarb 1537 den Baccalaureus in Köln, 1539 den Grad eines Magisters. S. war ein Studienkollege des späteren Jesuiten Petrus Canisius und trat 1540 in die Kartause ein. 1541 folgte die Profeß, 1543 die Priesterweihe. Danach stand S. 35 Jahre im Dienste der nachtridentinischen kathol. Reform im Reich (J Gegenreformation, J Jesuit. Erzählliteratur) schreibend als Übersetzer, Herausgeber und Kompilator in seiner Zelle tätig, von Canisius, anderen Jesuiten und seinem Kölner Verleger Gerwin Calenius systematisch mit Qu.nliteratur aus Flandern, Italien und den Rheinlanden versorgt. S.’ Werke wurden zu einer lange nachwirkenden Institution. Sie bildeten einen wichtigen Teil der Grundlagenbibliothek zukünftiger kathol.-theol. Autoritätsberufung: durch Zubereitung ndl. Mystiker des MA.s, Übers. von Kontroversschriften, Fortführung hist. Werke, auch der Konzilssammlungen, Herausgabe von Väterhomilien sowie der Werke Leos d. Gr. und Zusammenfassung der wichtigsten Reformationsauseinandersetzungen1.
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Das für die Erzählforschung wichtigste und zugleich letzte eigene Werk des S. bilden die schließlich durch Fortsetzer auf zwölf Monatsbände angewachsenen De probatis Sanctorum historiis, partim ex tomis Aloysii Lipomani, doctissimi episcopi, partim ex egregibus manuscriptis codicibus [. ..] 1⫺6 (Köln 1570/71/ 72/73/74/75; von Iacobus Mosander betreuter Ergänzungsband 1581); t. 1⫺12. Köln 31617⫺ 18; Turin 41875⫺80 [mit Reg.band]); eine dt. Übers. besorgte Johannes a` Via (t. 1⫺12. Mü. 1574⫺80): Der erste Theil Bewerter Historien der Lieben Heiligen Gottes von jrem Christl. Gottseligem leben, warhaffter bekantnus, herrlichen thaten, bestendigem leiden […]. Viele lat. und dt. Teileditionen in gleicher Legendarform nach kalendarischer Todesdatenanordnung erlebten wiederholte Aufl.n und bezeugen die breite Wirkungsgeschichte (V. J Leucht nach Franciscus Haraeus, desgleichen Henricus Fabricius; cf. J Hagiographie, J Legende)2. Nicht nur die Exempelautoren seit dem späten 16. Jh. (A. d’ J Averoult, T. J Bredenbach, M. J Delrio, B. J Kybler, D. J Wenz) zitieren S. ständig, auch die Katecheten des 18. Jh.s verzeichnen ihn als Autorität. Sein Werk bildete die Ausgangsbasis für die J Acta martyrum et sanctorum der J Bollandisten im 17. Jh. und spiegelt damit das von der Reformationskritik angestachelte moderne Bemühen um belegbare Historizität. Deshalb war das meistgelesene Buch des MA.s neben der Bibel, die J Legenda aurea, in Mißkredit geraten und erlebte seit J Luthers Auftreten bis ins 19. Jh. keinerlei Aufl.n mehr. Statt dieses berühmten und nicht mehr zitierfähigen Legendars stand seit 1570 das Werk des S. zur Verfügung, auch wenn J. Bolland später in der Praefatio generalis seiner Acta Sanctorum einen Absatz Legenda aurea defensa zum MA.verständnis einbaute. Zum Ausgangspunkt nahm S. den frühesten ,tridentinischen‘ Versuch einer modernen Heiligensammlung, die Sanctorum priscorum vitae (t. 1⫺5. Venedig 1551⫺56; t. 6⫺8. Rom 1558⫺ 60) des Bischofs von Verona Luigi Lippomano (1496⫺1559). Lippomano war um die Mitte des 16. Jh.s außerordentlicher Nuntius in Deutschland gewesen und dazwischen dritter Präsident des Konzils von Trient. S. überprüfte einerseits dessen zum Teil unkritische Kompilation auf die Quellen, da nur zuverlässig Überliefertes aufgenommen werden sollte,
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Surrealistische Witze ⫺ Survivaltheorie
andererseits ergänzte er systematisch fehlende Viten weiterer Heiliger und vereinheitlichte die Texte stilistisch. Sein Wahrheitsanspruch war der einer Dokumentensammlung für eine gebildete Öffentlichkeit (auch wenn dies erst die Bollandisten tatsächlich verwirklichen sollten), da für S. neben dem Kampf gegen die hist. Einsprüche der Reformatoren die erbauliche Bestärkung der eigenen Kirchenerneuerung durch Beispiele der Glaubenstreue stärker in den Vordergrund trat. Darum spielen bei S. Zeichen und Wunder weiterhin eine große Rolle, wie sie schon die ma. Legendenstruktur bestimmten, hier nun allerdings bewußter auf die Bestätigung von Lehre und Lehrmeinungen bezogen. Heiligenvita ist weiterhin übernatürlich geführte Biographie, ausgezeichnet durch göttliche Wundereingriffe (J Aretalogie). Danach lassen sich im Sinne barocker Wunderkataloge ⫺ wie dem umfassenden des G. B. J Bagatta (1683) und seiner Kategorisierungen ⫺ Funktionszusammenhänge ablesen, wie sie für die moderne Forschung nach 1900 von P. J Toldo und H. J Günter entwickelt wurden. Für S. hat H. HebenstreitWilfert 1975 diese Forschungsarbeit geleistet3. 1
Hebenstreit-Wilfert, H.: Wunder und Legende. Studien zu Leben und Werk von L. S. (1522⫺1578), insbes. zu seiner Slg „De probatis Sanctorum historiis“. (Diss. Tübingen 1972) Tübingen 1975 (mit Gesamtwerkkatalog und bibliogr. Nachweisen); Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wiss.en und Künste 41. Halle/Lpz. 1744, 411 sq.; Etzrodt, K.: L. S. Halle 1889; Holt, P.: L. S. und die kirchliche Erneuerung im 16. Jh. In: Jb. des Köln. Geschichtsvereins 6⫺7 (1925) 51⫺84; Wienand, A.: L. S. In: Die Kartäuser. ed. M. Zadnikar. Köln 1983, 276⫺287; Chaix, G.: L. S. In: Rhein. Lebensbilder 11 (1988) 77⫺100; Thomann, G.: S., L. In: Biogr.-bibliogr. Kirchenlex. 11. Herzberg 1996, 276⫺278; Trippen, N.: S., L. In: LThK 9 (32000) 1140 sq. ⫺ 2 Hieber, W.: Legende, protestant. Bekennerhistorie, Legendenhistorie. Studien zur literar. Gestaltung der Heiligenthematik im ZA. der Glaubenskämpfe. Würzburg 1970, 57⫺62. ⫺ 3 Hebenstreit-Wilfert (wie not. 1).
Würzburg
Wolfgang Brückner
Surrealistische Witze J Witz Survivaltheorie. Die Übers. des engl. ,survival‘ zeigt die theoretische Grundannahme der S. auf: Abgeleitet aus ,to survive‘ bedeutet das
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Substantiv sowohl Überleben als auch Überbleibsel bzw. Relikt. Seit dem vor allem im 18. Jh. einsetzenden Erkenntnisstreben nach naturwiss.-empirischer Forschung (cf. J Aufklärung; J Neugier, Kap. 2), paradigmatisch charakterisiert in G. Vicos Scienza nuova (1725), gab es immer wieder Kulturtheorien, die Jahres- und Lebenslaufbräuche, Erzählgut und andere kulturelle Elemente, die dem Zeitgeist nicht mehr zu entsprechen schienen, als Relikte früherer kultureller Zustände deuteten. Die Herausbildung einer modernen, fortschrittsorientierten Mentalität bediente sich durchgängig der Folie einer in der Vergangenheit verharrenden ,traditionellen‘ Kultur, gegen die sie sich absetzte. Die Identifizierung bestimmter Praktiken, Güter und Glaubensvorstellungen als kulturelle Relikte diente als Beweis der steten eigenen Modernisierung, aber auch der nostalgischen Rückbesinnung auf das eigene Herkommen1. Diese Vorstellungen wurden politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich in das Alltagsleben übernommen und begegnen in lokalen wie globalen Kontexten ⫺ in verschiedensten Formen ⫺ unter dem Stichwort der ,Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘2. In der Erzählforschung kristallisierten sich die eigentliche S. und undifferenzierte Anwendungen im 18. und frühen 19. Jh. im Rahmen der Übertragung der Evolutionslehre auf kulturelle Phänomene heraus. In Versuchen der J Altersbestimmung von Märchen und anderen Erzählgattungen blieben Elemente der S. erhalten. Im 20. Jh. hat die S. durch die Kritik der kulturevolutionistischen Hypothesen, eine kulturhist. präzisierte Forschung und die durch sie ausgelöste J Folklorismus-Diskussion stark an Bedeutung verloren. Vorläufer der S. prägten das frühe Interesse für Volkserzählungen sehr deutlich. Das Konzept der J Naturpoesie beruht auf der Vorstellung eines unverfälscht erhaltenen Quells poetisch-literar. Schöpfungskraft. J Herders Begriff der Volkspoesie, den nachfolgende Dichter und Theoretiker der J Romantik aufgriffen, führte zu einer ethnischen bzw. nationalen Spezifizierung des Konzepts der Naturpoesie und eröffnete die Hoffnung, daß sich in Märchen, Reimen, Liedern und weiteren Gattungen der Volksdichtung Relikte einer früher in sich geschlossenen Ethnie oder J Nation
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Survivaltheorie
entdecken ließen. Aus dem Interesse, diesen Schatz als kulturelle Grundlage für neue Nationalstaaten zu heben, kam es zu vielen Sammelaufrufen3. So veröffentlichte u. a. J. J Grimm 1815 ein Circular wegen Aufsammlung der Volkspoesie, in welchem er zur Rettung von Volksgut aufforderte, das sich trotz aufklärerischer Kritik habe halten können. Damit versuchte er, „die Defizienz an tatsächlicher deutscher Einheit und politischer Größe durch das Konstrukt einer geschlossenen, historisch gewachsenen Kulturnation“ auszugleichen4. Die J Kinder- und Hausmärchen und die Dt. Sagen, bes. aber die Dt. Mythologie und die Dt. Rechtsalterthümer, sollten ideell hierzu beitragen. Manche Sammler gingen viel weiter in der Spekulation darüber, was anhand von mündl. Überlieferungen und Fragmenten erkannt werden könne (J Fragmententheorie). Im engl. Sprachraum firmierte dieser Reliktgedanke unter dem Begriff ,Popular antiquities‘, womit die Gegenwärtigkeit von Zeugnissen aus längst vergangenen Zeiten trefflich wiedergegeben wird. Seit dem 17. Jh. nannten sich einige vornehmlich der Oberschicht zugehörige Forscher und Sammler ,antiquaries‘. Der Begründer dieses Gedankens war William Camden (1551⫺1623), einer seiner bedeutendsten Nachfolger J. Aubrey (1626⫺97)5. Obwohl der 1846 von W. T. Thoms geprägte Begriff J Folklore den Begriff ,Popular antiquities‘ verdrängte6, blieb der Gedanke des ,survivals‘ gerade in England sehr präsent. Hier fand auch die eigentliche Ausformulierung der S. statt. In Anlehnung an Darwins biologische Evolutionslehre (The Origin of Species, 1859) postulierten die Vertreter der S., daß sich in Kulturen analog zur Evolution biologischer Organismen stete Veränderungen soziokultureller Art verfolgen ließen, die es ihnen ermögliche, sich schrittweise zu verbessern. In seinem klassischen Werk Primitive Culture (1871) legte E. B. J Tylor dar, daß Relikte früherer Entwicklungsstufen bisweilen erhalten blieben, so daß sich die barbarische oder auch die primitive Stufe einer Gesellschaft rekonstruieren ließe (J Rekonstruktion). Diese Evolutionslehre ist zwar heute wegen ihrer biologistischen Tendenz stark diskreditiert, begründete jedoch im ausgehenden 19. Jh. die J anthropol. Theorie mit und hat sich wie kaum eine andere Theorie im öffentlichen Diskurs
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halten können (cf. auch A. J Lang). In der Auseinandersetzung zur Frage des Ursprungs von Mythen, Märchen und anderen Erzählgattungen beharrten die Vertreter der S., im Gegensatz zu Vertretern der Monogenese oder J Wandertheorie, auf J Polygenese; sie vermuteten, daß ganze Erzählinhalte im Rahmen kultureller Entwicklungsstufen verschiedener Völker zu unterschiedlichsten Zeitpunkten erdacht worden seien, wodurch sich die J Var.n scheinbar verwandter Erzählungen erklärten. Korrigierende kritische Positionen zur S. entwickelten sich bereits im ausgehenden 19. Jh. Innerhalb der nordamerik. Kulturanthropologie formulierte F. J Boas den Standpunkt der kulturellen Relativität, der sich kulturhist. Fragestellungen nicht verschloß, sich aber entschieden gegen das evolutionistische Paradigma stellte, in welchem Boas auch ein Fundament des J Rassismus erkannte7. Diese Position gründete auf eigenen Feldforschungen, die bei den namhaften Vertretern der S. spärlich oder gar nicht vorhanden waren. Sie gelangten ohne die Konfrontation mit lebenden Menschen und deren Sprachen und meist nur durch quellenkritisch wenig hinterfragte Sekundärmaterialien zu ihren Daten. Die während einiger Jahrzehnte diskutierte, in der dt.sprachigen Vk. entwickelte Theorie des J gesunkenen Kulturguts (H. J Naumann) muß ebenfalls als Gegenposition zur S. erwähnt werden. Sie bediente sich eher einer devolutionären Perspektive8. Unter den Kritikern der S. im frühen 20. Jh. befindet sich auch A. van J Gennep. Obwohl er nicht bestritt, daß manche kulturellen Praktiken durchaus Relikte sein können, betrachtete er kulturhist. Entwicklungslinien skeptisch, nicht zuletzt, weil seine eigenen theoretischen Überzeugungen nicht diachron, sondern synchron ansetzten. Er bezweifelte (gegen P. J Se´billot, H. J Gaidoz und G. J Paris) die Möglichkeit, Erzählstoffe als Überbleibsel eines primitiveren Entwicklungsstatus seit dem Paläolithikum ausmachen zu können (J Jägerzeitliche Vorstellungen)9, beanstandete wie schon Boas (und viele spätere Kritiker) die der S. inhärente Beurteilung anderer Kulturen als weniger oder mehr entwickelt und bevorzugte, wie Boas, eine kulturrelativistische Perspektive10. Noch stärker als van Gennep bauten Forscher, die von der strukturellen Linguistik F.
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Susanna
de Saussures (Cours de linguistique ge´ne´rale, 1916) beinflußt waren (J Strukturalismus), auf synchronen Analyseansätzen auf 11. Der Slavist und Folklorist P. G. J Bogatyrev, der auch ethnogr. tätig war, argumentierte in seiner Studie zum J Vampirglauben in den Karpaten, daß sich die magischen Praktiken der befragten und beobachteten Menschen durchaus in einem logischen System (J Magisches Weltbild) bewegten, das sich wie die Struktur einer Sprache analysieren lasse12. Gleichzeitig kritisierte er die Anhänger der J Ritualistischen Theorie13. Mit seiner Betonung der Logik, die auch einem bäuerlichen Magieglauben innewohne, formulierte Bogatyrev aus der syntagmatisch-linguistischen Perspektive Erkenntnisse, die E. E. Evans-Pritchard in seiner strukturell-funktionalistischen Studie zur Hexerei unter den Azande im heutigen Sudan umsetzte14. Mit dem J Funktionalismus, den B. J Malinowski im Rahmen seiner Feldforschungen auf den Trobriand-Inseln entwickelt hatte, wurde eine weitere synchrone Perspektive entwickelt. Sie bemüht sich, Fragestellungen mittels verläßlicher Daten zu ergründen. Der Kulturanthropologe A. Kuper publizierte 1988 die durchschlagendste Kritik des kulturellen Evolutionismus und damit der S.15 Im engeren Rahmen der Erzählforschung fand ein Paradigmenwechsel im gleichen Zeitraum statt, der aber erst nach dem 2. Weltkrieg seinen Höhepunkt erreichte. Noch in der 2. Hälfte des 20. Jh.s finden sich immer wieder kaum zu belegende Deutungen als Survivals J kulturgeschichtlicher Züge. Feldforschungen, in deren Mittelpunkt die J Kreativität der J Erzähler und Erzählerinnen und deren Stellung innerhalb einer Erzählgemeinschaft (J Biologie des Erzählguts, J Performanz) stehen, zeigen deutlich, daß Märchen und andere Erzählgattungen ⫺ wie und auf welchen Wegen auch immer ihre Stoffe und Motive tradiert werden ⫺ in sozialen, funktionalen J Kontexten durch kreative Individuen stets von neuem geschaffen werden16. Trotz der breiten Kritik, die der Kulturevolutionismus erfuhr und heute noch erfährt, ist nicht zu übersehen, daß diese ,Kulturtheorie‘ in Verallgemeinerungen und Vorurteilen immer wieder Anhänger findet. Die politisch weniger schädliche, aber kulturwiss. längst über-
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holte S. manifestiert sich in stets wiederkehrenden Aufrufen, Relikte vergangener Zeiten wie das Erzählgut zu sammeln. 1 Köstlin, K.: Relikte. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In: Kieler Bll. zur Vk. 5 (1973) 135⫺ 157; Stewart, K.: Nostalgia. A Polemic. In: Cultural Anthropology 3,3 (1988) 227⫺241. ⫺ 2 Bloch, E.: Erbschaft dieser Zeit. (Zürich 1935) Ffm. 1962, 104⫺126. ⫺ 3 cf. Köhler-Zülch, I.: Ra˘kovodstva za sa˘birane na narodni umotvorenija. Iz rannata istorija na ba˘lgarskata folkloristika (Anleitungen zum Sammeln von Volksüberlieferungen. Aus der Frühgeschichte der bulg. Folkloristik). In: Folklor, tradicii, kultura. Festschr. S. Stojkova. Sofia 2002, 287⫺ 312. ⫺ 4 Kellner, B.: Studien zum Mythosbegriff und seiner Anwendung in Jacob Grimms Dt. Mythologie. Ffm. u. a. 1994, 29. ⫺ 5 Dorson, R. M.: The British Folklorists. L. 1968, 1⫺48. ⫺ 6 ibid., 1 sq. ⫺ 7 Boas, F.: Race, Language and Culture. N. Y. 1948. ⫺ 8 Dundes, A.: The Devolutionary Premise in Folklore Theory. In: JFI 6 (1969) 5⫺19. ⫺ 9 Gennep, A. van: Manuel de folklore franc¸ais contemporain 1,1. P. 1943, 96 sq. ⫺ 10 cf. Zumwalt, R. L.: The Enigma of Arnold van Gennep (1873⫺1957) (FFC 241). Hels. 1988, 88⫺90. ⫺ 11 Gasche´, R.: Das wilde Denken und die Ökonomie der Repräsentation. Zum Verhältnis von Ferdinand de Saussure und Claude Le´vi-Strauss. In: Orte des wilden Denkens. Zur Anthropologie von Claude Le´vi-Strauss. ed. W. Lepenies/H. H. Ritter. Ffm. 1970, 306⫺384. ⫺ 12 Bogatyrev, P.: Vampires in the Carpathians. Magical Acts, Rites, and Beliefs in Subcarpathian Rus‘. N. Y. 1998, 149 (frz. Orig. 1929). ⫺ 13 ibid., 150. ⫺ 14 Evans-Pritchard, E. E.: Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande. Ox. 1937. ⫺ 15 Kuper, A.: The Reinvention of Primitive Society. Transformations of a Myth. L. 2005. ⫺ 16 cf. De´gh, L.: Folktales and Society. Storytelling in a Hungarian Community. Bloom. 1969, 47⫺49.
Göttingen
Regina Bendix
Susanna, Hauptfigur der S.-Erzählung im apokryphen Anh. des Buches Daniel (Dan. 13)1: Die schöne und gottesfürchtige S., Gattin des reichen Jojakim in Babylon, wird von zwei der Ältesten bedrängt, die ihr im Garten beim J Bad auflauern und sie zu verführen suchen (J Verführung). Als S. die beiden zurückweist, klagen diese sie des Ehebruchs mit einem jungen Mann an (J Verleumdung). S. wird zum Tode verurteilt. Vor der Hinrichtung rettet sie der von Gottes Geist erfüllte junge J Daniel, indem er die beiden Alten einzeln befragt. Durch ihre sich widersprechenden Angaben über den Baum, unter dem der Ehebruch stattgefunden haben
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Susanna
soll, werden sie als Verleumder entlarvt und nach dem mosaischen Gesetz getötet.
Die Erzählung ist nur in zwei griech. Fassungen, dem Septuaginta-Text und der etwa 100 Jahre jüngeren Übers. und Neugestaltung durch Theodotion (danach die lat. Übers. der Vulgata des J Hieronymus), sowie in von diesen abhängigen Übers.en überliefert2. Am Anfang könnte eine wohl hebr. Agada gestanden haben, die gegen Ende des 2. Jh.s a. Chr. n. ins Griechische übersetzt wurde3. In hebr. Sprache ist die S.-Erzählung zusammen mit verwandten Geschichten erst später als Rückübersetzung4 dokumentiert. Schon in der christl. Frühzeit erfuhr die S.Erzählung des öfteren allegorische Deutungen: So gilt das ungerechte J Urteil als Präfiguration des Urteils von Pilatus gegen Jesus J Christus, S. als Prototyp der von den Nachstellungen des Satans befreiten J Seele (Rettungstypus)5. Die theol. Aussage der Erzählung wird bis heute in der Bibelwissenschaft diskutiert6. Allg. wurde die S.-Erzählung als moralische Dichtung, als Ber. eines hist. Ereignisses, als Rechtssage, Detektivgeschichte oder als oriental. Mythos verstanden und gedeutet. Aus Sicht der Erzählforschung ist die S.-Erzählung eine Märchennovelle, die die Motive von der verleumdeten und unschuldig verfolgten Frau (J Frau, Kap. 3. 1.2) und vom weisen Knaben als Richter (J Knabenkönig) verbindet7. In der arab. Welt fand die S.-Erzählung kaum verändert Aufnahme in die Liebesgeschichten des Ibn as-Sarra¯gˇ (gest. 1106)8 und in die Slg J Tausendundeine Nacht 9, was wohl auch auf die Beliebtheit des Motivs vom klugen Richterspruch zurückgeführt werden kann10. In der Lit. des Abendlandes erscheint die S.Erzählung um 1300 in mehreren lat. und volkssprachlichen Gedichten, wie in einem in mitteldt.-ndd. Mischsprache gehaltenen S.Fragment11 und der mittelengl. Pistel of Swete Susan12. Als Exempel ist die Geschichte in Mittel- und Nordeuropa überliefert (Tubach und Dvorˇa´k, num. 4684). Das Reimpaargedicht Die S. mit den zweyen falschen Richtern (1562) stammt von Hans J Sachs13. Die Bibliothe`que bleue enthält eine Hystoire de sainte Susanne und ein Cantique nouveau sur la vie de Susanne14. Zahlreich sind S.-Dramen: 1427
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wurde ein Spel van Suzannen im ndl. Thielt aufgeführt, noch vor Ende des 15. Jh.s ist das Wiener S.spiel anzusetzen15, 1532 verfaßte Sixt Birck die History von der fromen gottsförchtigen Frouwen S.; es folgt im 16. Jh. eine Vielzahl von S.-Spielen im Umkreis des protestant. Schuldramas, seltener greift das Jesuitendrama den Stoff auf 16. Die meisten der Schauspiele stammen aus dem dt. Sprachraum. Insgesamt sind 28 dt., 16 frz., 15 lat., zehn ital., sechs ndl., vier span. und drei engl. S.-Dramen belegt17. Manche dieser Spiele wurden wiederholt und an verschiedenen Orten aufgeführt. In der Steiermark und im dt. besiedelten Oberungarn fanden S.-Spiele auch Eingang ins Volksschauspiel und hielten sich dort bis gegen Ende des 19. Jh.s18. Im 17. und 18. Jh. wurden auch S.-Oratorien, u. a. von Alessandro Stradella (1681) und Georg Friedrich Händel (1748), komponiert. Vereinzelte Nachdichtungen des Stoffes finden sich bis in die Gegenwart19. S. und ihre Befreiung von falscher Anklage wurde im MA. auch in Benediktionsformeln bei Gottesurteilen genannt20. Redensartlich sprach man von einer zurückhaltenden, ehrbaren Frau von einer ,keuschen S.‘ (J Keuschheit), von alten Lüstlingen als ,Susannenbrüdern‘, auch ,Susanisten‘21. Die bildende Kunst stellte zunächst bevorzugt die Gerichtsszene dar, die schon in der Katakombenmalerei bezeugt ist; seit der Renaissance, mit dem erwachten Interesse an Aktdarstellungen, trat die Badeszene in den Vordergrund22. 1 cf. allg. Schlosser, H.: S. In: LCI 4 (1972) 228⫺231; Spolsky, E. (ed.): The Judgement of S. Authority and Witness. Atlanta 1996; Engemann, J.: S. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 331; Engel, H.: S. In: LThK 9 (32000) 1141⫺1143; Bocian, M.: S. In: Lex. der bibl. Personen. Stg. 22004, 487⫺492; Frenzel, Stoffe, 721⫺723. ⫺ 2 Engel, H.: Die S.-Erzählung. Einl., Übers. und Kommentar zum Septuaginta-Text und zur Theodotion-Bearb. Fbg/Schweiz 1985, 78⫺ 85, 142⫺150, Synopse im Beiheft, *1⫺*11. ⫺ 3 Henten, J. W. van: The Story of S. as a Pre-Rabbinic Midrash to Dan. 1: 1⫺2. In: Kuyt, A. (ed.): Variety of Forms. Dutch Studies in Midrash. Amst. 1990, 1⫺14; Wesselius, J. W.: The Literary Genre of the Story of S. and Its Original Language. ibid., 15⫺ 25. ⫺ 4 Goebel, F. M.: Jüd. Motive im märchenhaften Erzählungsgut. (Diss. Greifswald) Gleiwitz 1932, 192⫺194; Gaster, M.: The Chronicles of Jerahmeel. ed. H. Schwarzbaum. N. Y. 1971, 73 sq. (Prolego-
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Süße Worte
menon), num. 65. ⫺ 5 Qu.nhinweise bei Schlosser (wie not. 1) 228 sq., 231. ⫺ 6 Engel (wie not. 2) 29⫺ 54, 175⫺183. ⫺ 7 Huet, G.: Daniel et Susanne. Note de litte´rature compare´e. In: Revue de l’histoire des religions 65 (1912) 277⫺284; Baumgartner, W.: S. Die Geschichte einer Legende [1926]. In: id.: Zum A. T. und seiner Umwelt. Leiden 1959, 42⫺66; id.: Der weise Knabe und die des Ehebruchs beschuldigte Frau [1929]. ibid., 66 sq.; Heller, B.: Die S.Erzählung. Ein Märchen. In: Zs. für alttestamentliche Wiss. N. F. 13 (1936) 281⫺287. ⫺ 8 Paret, R.: Früharab. Liebesgeschichten. Bern 1927, 70, 76. ⫺ 9 1001 Nacht 3, 508 sq.; Marzolph/van Leeuwen 1, 169, num. 128. ⫺ 10 cf. u. a. Baumgartner (wie not. 7) 52⫺57. ⫺ 11 Beckers, H.: S. In: Verflex. 9 (21995) 547 sq. ⫺ 12 Jeffrey, D. L.: False Witness and the Just Use of Evidence in the Wycliffite Pistel of Swete Susan. In: Spolsky (wie not. 1) 57⫺71; Wolpers, T.: Die engl. Heiligenlegende des MA.s. Tübingen 1964, 290; cf. Mozley, J. H.: S. and the Elders. Three Medieval Poems. In: Studi medievali N. F. 3 (1930) 27⫺52. ⫺ 13 Hans Sachs 15. ed. A. von Keller/E. Goetze. Stg. 1885 (Nachdr. Hildesheim 1964), 276⫺283. ⫺ 14 Morin, A.: Catalogue descriptif de la Bibliothe`que bleue de Troyes. Genf 1974, num. 81, 627. ⫺ 15 Klein, D.: Wiener S.spiel. In: Verflex. 10 (21999) 1042⫺1044. ⫺ 16 Casey, P. F.: The S. Theme in German Literature. Bonn 1976. ⫺ 17 ibid., 203 sq. (not. 14, 16, 21). ⫺ 18 Ernyey, J./Karsai, G. (edd.): Dt. Volksschauspiele aus den Oberung. Bergstädten 1⫺2. Bud. 1932/38, hier t. 1, 181⫺204, t. 2, 294⫺321. ⫺ 19 Bocian (wie not. 1) 487⫺492; Frenzel, Stoffe, 721⫺723. ⫺ 20 Franz, A.: Die kirchlichen Benediktionen im MA. 2. Fbg 1909, Reg. s. v. S.; Sartori, P.: S. In: HDA 8 (1936⫺37) 614 sq. ⫺ 21 Röhrich, Redensarten 2, 1052. ⫺ 22 Schlosser (wie not. 1); Spolsky, E.: Law or the Garden. The Betrayal of S. in Pastoral Painting. In: id. (wie not. 1) 101⫺117; Bocian (wie not. 1) 490⫺492.
Würzburg
Erich Wimmer
Süße Worte (AaTh/ATU 1437), vor allem in Europa in mehreren Redaktionen verbreiteter, wenn auch relativ selten dokumentierter kurzer Schwank aus dem Themenbereich J Wörtlich nehmen: Ein Mann (Junge, Frau), der gebeten (dem aufgetragen) wird, ,etwas Süßes‘ oder ähnliches zu sagen, antwortet aus Dummheit oder Querköpfigkeit etwas, das auf die wörtliche Bedeutung dieses Wortes abhebt statt auf die erwartete positive metaphorische Bedeutung.
Die älteste Var. des Erzähltyps findet sich in der 91. Historie des J Eulenspiegel-Volksbuchs (1510): Als seine Mutter den todkran-
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ken Eulenspiegel besucht und ihn bittet, ein süßes Wort zu sagen, antwortet er: „Liebe Mutter, Honig, das ist ein süßes Wort.“1 Außerhalb der zahllosen EulenspiegelDrucke und -Bearbeitungen scheint diese Version, in der es sich um ein absichtliches Mißverständnis handelt, in der literar. Tradition und in der jüngeren mündl. Überlieferung kaum nachgewirkt zu haben2. Vergleichbare Geschichten ähnlichen Inhalts sind in kleinerer Zahl vor allem aus Mittel- und Nordeuropa bekannt. Der Bittende kann sowohl ein Mann als auch eine Frau sein. Z. B. bittet ein sterbender Ehemann seine Frau um ein letztes süßes Wort3; eine Mutter möchte es von ihrem Sohn hören, der als Zauberer verbrannt werden soll4; vor allem im ndd. Sprachbereich will eine junge Frau es von ihrem Liebsten hören, aber dieser kann sich nur ,Sirup‘ ausdenken5. Manchmal existiert die Erzählung lediglich als J Schwundstufe: „,Jan, segg ins mal wat Sööts.‘ ,Zücker‘, seggt Jan.“6 In einer mexikan. Var. erkundigt sich eine Frau bei einem Viehtreiber vergebens nach Worten, die ihrem todkranken Mann das Sterben erleichtern sollen7. In Ost- und Südosteuropa offensichtlich beliebt ist folgende, wohl jüngere Redaktion, die in anderen Regionen (ital., georg., jüd. aus Afghanistan) nur hin und wieder aufgezeichnet wurde: Einem Dummen wird geraten, bei Fremden oder Verwandten nur runde (d. h. gute) Worte zu sprechen oder nur über große (und/oder tiefe) Dinge zu reden. Er nennt nur runde (große, tiefe) Gegenstände (cf. AaTh/ATU 1696: J „Was hätte ich sagen [tun] sollen?“). Öfter ist der Dummkopf ein von einem Brautwerber beratener Freier, der aufgrund seiner unverständlichen Reden einen Korb bekommt8, oder ein von seiner Frau instruierter Mann, der seine Schwiegereltern besucht. Worüber er reden soll, ist dann nur Gegenstand eines von mehreren Ratschlägen, die er zum falschen Zeitpunkt befolgt (AaTh/ ATU 1685: Der dumme J Bräutigam)9.
Älter ist folgende Redaktion, ein erstmals 1551 von Hans J Sachs als Die guetten wort bearbeiteter Ehestreitschwank (J Eheschwänke und -witze): Einem Mann, der seine streitsüchtige und widerspenstige Frau verprügelt hat, wird vom Richter befohlen, sie nur noch mit guten Worten zu strafen. Als sie wieder aufbegehrt, schlägt er sie mit einem Gebetbuch auf den Kopf 10.
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Sutermeister, Friedrich Gottlieb Otto ⫺ Sˇvarc, Evgenij L’vovicˇ
Bis weit ins 18. Jh. wurde dieser Schwank durch dt., lat. und frz. literar. Bearb.en verbreitet11. Aus jüngerer Zeit liegen nur wenige Belege vor12. Als Wellerismus (ältester Beleg: Michael Neander, 1581) ist diese Redaktion jedoch im (nord)dt., ndl. und engl. Sprachgebiet noch immer in Umlauf: ,Ich strafe mein Weib mit guten Worten‘, sagte der Mann (Küster, Schneider, Schulmeister, Bauer), und warf ihr die J Bibel (Gesangbuch, Katechismus) an den Kopf13. 1 Bote, H.: Ein kurzweiliges Buch von Till Eulenspiegel. ed. S. H. Sichtermann. Ffm. 1978, 237 sq. ⫺ 2 Debus, O.: Till Eulenspiegel in der dt. Volksüberlieferung. Diss. (masch.) Marburg 1951, 40, 218 (keine mündl. Var.n); van der Kooi (1 Var.). ⫺ 3 Kremer, P.: Das lachende Eifeldorf. Potsdam 1940, 63; Cammann, A.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien. Göttingen 1967, num. 99 (aus Bessarabien). ⫺ 4 Panzer, F.: Bayer. Sagen und Bräuche 2. Mü. 1855, 114. ⫺ 5 Fischer, H. W.: Lachende Heimat. B. 1933, 253 (Ammerland); Neumann, S.: Plattdt. Schwänke. Rostock 1968, num. 247; Selk, P.: Schwänke aus Schleswig-Holstein. Husum 1975, 13. ⫺ 6 Schuster, T.: Jan & Greetje. Ostfries. Vornamen nebst Redensarten, Neckreimen und Schimpfnamen zwischen Ems und Weser. Leer 2006, 73. ⫺ 7 Paredes, A.: Folktales of Mexico. Chic./L. 1970, num. 64. ⫺ 8 Popov, P. M.: Ukraı¨n’ski narodni kazki, legendi, anekdoti. Kiev 1957, 493 sq.; Kurdovanidze. ⫺ 9 BFP. ⫺ 10 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 5. ed. E. Goetze/K. Drescher. Halle 1904, num. 739. ⫺ 11 BP 3, 278; Montanus/Bolte, num. 2; EM 3, 1105 (not. 23). ⫺ 12 Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 1. Jena 1892, num. 304; cf. Skattegraveren 11 (1889) 19 sq. ⫺ 13 Michael Neanders dt. Sprichwörter. ed. F. Latendorf. Schwerin 1864, 19; Neumann, S.: Sprichwörtliches aus Mecklenburg. Göttingen 1996, 110, 161, 252, 350; Cox, H. L./Kooi, J. van der: Alle beetjes helpen. Nederlandse, Friese en Vlaamse wellerismen. Groningen/Oldeberkoop 2007, num. 3603; Mieder, W./Kingsbury, S. A.: A Dict. of Wellerisms. N. Y./Ox. 1994, num. 511, 514.
Groningen
Jurjen van der Kooi
Sutermeister, Friedrich Gottlieb Otto, * Tegerfelden 27. 9. 1832, † Aarau 18. 8. 1901, schweiz. Pädagoge, Dialektforscher und Erzählforscher. 1852⫺53 studierte S. Philosophie und Germanistik an der Univ. Zürich. 1857⫺ 90 arbeitete er als Sprachlehrer an verschiedenen Lehranstalten. 1890⫺1900 war er als außerordentlicher Professor für dt. Sprache und Lit. an der Univ. Bern tätig1.
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S. war Mitarbeiter am Schweiz. Idiotikon2 sowie Sammler von Märchen, Sprichwörtern3, Haussprüchen4, Kinderreimen5 und Rätseln6. Er verfaßte zahlreiche wiss. und pädagogische Arbeiten sowie Jugendschriften; zudem engagierte er sich in seinen Art.n für die Tierschutzund die Friedensbewegung7. S. gab die erste schweizerdt. Märchensammlung Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz (Aarau 1869) heraus. Sie enthielt 56 Texte und wurde möglicherweise aufgrund der Ill.en von J. B. Weißbrod sein beliebtestes Werk. Die 2. Aufl. (1873) wurde um sieben Stücke vermehrt und mit Angaben zu den Quellen sowie literar. Nachweisen versehen. Mit Schweiz meinte S. die Deutschschweiz. Zwei Stücke stammen allerdings aus der Rätoromania8. S. orientierte sich an den J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm, was Titel, Offenheit gegenüber anderen Gattungen, die überwiegende Anzahl schriftl. Quellen sowie die stilistische Homogenisierung der Texte betrifft9. Wie aus S. J Singers Kritik hervorgeht, hat sich S. nicht als Feldforscher, sondern als Kompilator betätigt10. M. J Lüthi hielt Orthographie und Syntax des von S. verwendeten J Dialekts für fragwürdig11. 1 Meili, F.: S., F. G. O. In: Biogr. Lex. des Aargaus. ed. O. Mittler/G. Boner. Aarau 1958, 775. ⫺ 2 Schweiz. Idiotikon. Wb. der schweizerdt. Sprache 1 sqq. ed. F. Staub/A. Bachmann. Frauenfeld 1881 sqq. ⫺ 3 S., O.: Die Schweiz. Sprichwörter der Gegenwart in ausgewählter Slg. Aarau 1869; id.: Der Schulmeister im dt. Sprichwort. Aarau 1878. ⫺ 4 id.: Schweiz. Haussprüche. Zürich 1860. ⫺ 5 id.: Für d’Chinderstube. Zürich [1885]. ⫺ 6 id.: Das große Rätselbuch. ed. E. Sutermeister. Bern 1903. ⫺ 7 † Professor O. S. In: Der Bund 230,1 (19./20.8.1901) Erstes Blatt (mit Schr.verz.). ⫺ 8 S., O.: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz. Aarau 21873, num. 47, 51. ⫺ 9 Brunold-Bigler, U.: Schweizer Märchensammler. In: Märchen und Märchenforschung in Europa. ed. D. Röth/W. Kahn. Ffm. 1993, 229⫺237, hier 229 sq. ⫺ 10 Singer, S.: Schweizer Märchen. Anfang eines Kommentars zu der veröff. Schweizer Märchenlit. Bern 1903; id.: […] Erste Forts. Bern 1906. ⫺ 11 L[üthi], M.: Schweizer Volksmärchen. In: Neue Zürcher Ztg 351 (31.7.1971) 23.
Zizers
Ursula Brunold-Bigler
Sˇvarc, Evgenij L’vovicˇ, *Kasan 9. 10. 1896, † Leningrad 15. 1. 1958, russ. Dramatiker und Prosaschriftsteller. Sˇ. kam aus einer liberalen
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Sˇvarc, Evgenij L’vovicˇ
Familie, der Vater war Arzt, die Mutter Hebamme und begabte Laienschauspielerin. Sˇ. begann ein Jura-Studium in Moskau (1914⫺16), schloß sich aber 1917 in Rostow am Don einer Theatergruppe an, mit der er 1921 nach Petrograd ging. 1922 wurde er dort Sekretär des ˇ ukovKinderschriftstellers Kornej Ivanovicˇ C skij; ab 1925 arbeitete er für die Kinderabteilung von Gosizdat (Staatsverlag in Leningrad), und unter der Leitung von S. Marsˇak war er Mitarbeiter der Kinderzeitschriften Ezˇ (Igel) und Cˇizˇ (Zeisig). Seit den 1930er Jahren war er überwiegend als freier Schriftsteller tätig. Erst 1942 wurde Sˇ. aus dem belagerten Leningrad evakuiert, er kehrte im Juni 1945 zurück1. Sˇ. schrieb vor allem Märchen und Märchendramen für Kinder und Erwachsene, Stücke für das Puppentheater und Drehbücher. Viele seiner Werke konnten zu seinen Lebzeiten nicht erscheinen, seine Theaterstücke gelangten in der Stalinzeit nicht zur Aufführung oder wurden bald abgesetzt (J Zensur). Erst Ende der 1990er Jahre sind seine Bemerkungen über Zeitgenossen, die er in Form eines Telefonbuchs führte, und seine Tagebücher (einschließlich seiner Autobiographie) zusammen mit der bislang vollständigsten Ausg. seiner Werke erschienen2. Ein großer Teil seines Werks ⫺ er schrieb ca 30 Dramen ⫺ ist noch unveröffentlicht. Bereits das erste Stück von Sˇ. (Undervud [Underwood], 1928, uraufgeführt 1929) wurde von der damals vorherrschenden Pädologie, die ,mystische Märchen und anderen antimaterialistischen Unsinn‘3 ablehnte, wegen seiner märchenhaften und phantastischen Elemente kritisiert4. Im Prolog zu seinem wohl persönlichsten Stück, der romantischen Liebesgeschichte Obyknovennoe cˇudo (Ein gewöhnliches Wunder, 1953⫺54, uraufgeführt 1956, großer Erfolg auf sowjet. Bühnen; Film: UdSSR 1964 [Regie E˙. Garin/Ch. Loksˇina]), kommt vielleicht am besten das Verhältnis von Sˇ. zum Märchen als Bestandteil auch realistischer Stücke zum Ausdruck5. In seinen Märchenstücken für Kinder folgte Sˇ. vor allem Märchen J Andersens und J Perraults oder verwendete Motive, Figuren und Stoffe aus dem internat. und vor allem dem russ. Volksmärchen; dabei spielen seine Stücke im realen Milieu des russ. Dorfes oder
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sowjet. Verhältnisse. In oft humorvoller und ironischer Weise verband Sˇ. realistische Details und phantastische Märchenwelt6. Seine Märchenlogik beruht auf einer Remotivierung und Entautomatisierung von J Stereotypen der Sprache und des Märchens: So wie er idiomatische Wendungen wörtlich verwendete und damit ihre alten Bedeutungen neu motivierte, brachte er auch Stereotype aus dem Märchen in eine moderne Form7. Sˇ. hat es sowohl in seinen Kindermärchen als auch in seinen Märchenstücken für Erwachsene verstanden, die phantastischen Elemente des Märchens mit den realen Gegebenheiten der existierenden Welt zu verbinden, und hat durch die Sicht aus der Märchenperspektive, durch die Möglichkeiten des Märchens, die Dinge in ein anderes Licht zu rücken, ihre Gegebenheiten zu hinterfragen, eine neue und differenzierte Sicht auf diese Welt möglich gemacht. Wer ke (Ausw.): Kindermärchen: In Novye prikljucˇenija Kota v sapogach (Neue Abenteuer des gestiefelten Katers, 1937; AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater) begibt sich der Kater auf neue Abenteuer, die mit der kollektiven Umerziehung eines störrischen Zöglings, der von einer bösen Kröte zu seinen Untaten angestiftet wurde, in einem sowjet. Kinderheim enden. ⫺ In Rassejanyj volsˇebnik (Der zerstreute Zauberer, 1944) gelingt die Rückverwandlung eines in eine Katze verwandelten Pferdes durch einen gutmütigen Erfinder und Zauberer nicht gleich, weil er sein Vergrößerungsglas, das die Verkleinerung rückgängig machen sollte, zur Reparatur gegeben hat. ⫺ Dva brata (Zwei Brüder, 1942) lehrt, daß der ältere Bruder besser auf den jüngeren aufpassen soll. Der Großvater des J Väterchens Frost hält den jüngeren verschwundenen Bruder gefangen, und nur mit List und Hilfe der Tiere gelingt es dem älteren, ihn aus der Herrschaft des Herrn über Kälte und Eis zu befreien. ⫺ Krasnaja sˇapocˇka (Rotkäppchen, 1936, uraufgeführt 1937; AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen)8 folgt im Handlungsablauf Perrault, stattet jedoch die handelnden Personen mit modernen realistischen Zügen aus. Die Tiere des Waldes verhalten sich nach den ihnen üblicherweise zugeschriebenen Merkmalen, doch wird vor allem ihr kollektives Handeln zur Rettung Rotkäppchens betont. ⫺ In Zolusˇka (Aschenputtel, 1946; Film: UdSSR 1947 [Regie N. Kosˇeverova/M. Sˇapiro]; AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella), ebenfalls nach Perrault, erweitert Sˇ. den Personenkanon, individualisiert und ,humanisiert‘ die Charaktere. Aschenputtel ist nicht schicksalsergeben, sondern widerspricht der Stiefmutter, diese und die Schwestern werden nicht nur als böse dargestellt. ⫺ Snezˇnaja koroleva (Die Schneekönigin, 1938, uraufgeführt 1938; Film: UdSSR 1966 [Regie G. Kazanskij]) hält sich weitge-
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´ lafur Sveinsson, Einar O
hend an Andersen, die handelnden Personen werden mit eher realistischen Zügen ausgestattet, und an die Stelle religiöser Motivation tritt moralisches Handeln. ⫺ Dva Klena (Die verzauberten Brüder, 1953, uraufgeführt 1953) ist ein eigenständiges Märchenstück von Sˇ., in dem die Arbeiterin Vasilisa mit Hilfe von Tieren und ihrem jüngsten Sohn ihre beiden anderen von der J Baba-Jaga verzauberten Söhne befreit. Märchendramen für Erwachsene: Prikljucˇenija Gogenstaufena (Die Abenteuer Hohenstauffens, 1934, uraufgeführt 1988) handelt vom Konflikt zwischen einem unermüdlichen Mitarbeiter und seiner Gegenspielerin Upyreva (J Vampir), einer Bürokratin und bösen Hexe, in einer sowjet. Institution. Die Putzfrau Kofejkina, eine gute Hexe, hilft Hohenstauffen im Kampf gegen die böse, die am Schluß zwar besiegt wird, aber sogleich in anderen Institutionen unter leicht geändertem Namen wieder auftaucht. Beide Hexen können zaubern, sich und andere verwandeln, fliegen und Wünsche erfüllen. Die übernatürlichen Kräfte (Energie) der guten Hexe Kofejkina werden durch die wiss. Unters. eines Professors bestätigt. ⫺ Golyj korol’ (Der nackte König, 1934, trotz ,antifaschistischer Einstufung‘ Uraufführung erst 1960) beruht auf Andersens Svinedrengen (AaTh 570: J Hasenhirt), Keiserens nye Klæder (AaTh/ATU 1620: J Kaisers neue Kleider) sowie dem Hauptmotiv aus AaTh/ATU 704: J Prinzessin auf der Erbse. Ein Schweinehirt erringt die Liebe einer Prinzessin, die sich mit seiner Hilfe erfolgreich der Heirat mit dem benachbarten König widersetzt. Dieser ist ein beschränkter, von Speichelleckern umgebener Tyrann und Antisemit. ⫺ Ten’ (Der Schatten, 1940, uraufgeführt 1940 und sofort abgesetzt, russ. Wiederaufführung 1960, dt. 1947 mit Gustav Gründgens, Berlin), eine eigenwillige Umformung von Andersens Skyggen, liefert eine satirische Darstellung der Herrschenden und der Verhältnisse im Land der Prinzessin. Anders als bei Andersen kämpft der Held, der Gelehrte Christian Theodor, gegen seinen bösen J Schatten, verzichtet auf die Prinzessin und macht sich mit der Tochter des Gastwirts auf den Weg, um den geflohenen bösen Schatten zu verfolgen. ⫺ Drakon (Der Drache, ca 1941⫺43, 1944 Probevorstellung und abgesetzt, veröffentlicht 1960, wieder aufgeführt 1962) verwendet Motive aus Märchen und Heldensage. Der Ritter J Lancelot besiegt den bösen J Drachen, der eine Stadt beherrscht. Der Bürgermeister setzt die Politik des Drachen fort, bis er vom totgeglaubten Drachentöter Lancelot hinter Gitter gebracht wird.
Die drei letzten Märchendramen, „eine der Formen des epischen Dramas“9, werden z. T. als Trilogie gesehen. Bei Drakon, als ein gegen die Hitlerdiktatur gerichtetes Stück mit Anspielungen auf Krieg, Antisemitismus etc. geschrieben, bemerkte man relativ bald, daß vieles sich auf die Stalinzeit beziehen ließ. Heute
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gehen einige Forscher davon aus, daß es von der sowjet. Intelligenz als antisowjet. Allegorie gesehen wurde und auch als antifuturistische Satire gelten konnte. 1 Cimbal, S. L.: E. Sˇ. Kritiko-biograficˇeskij ocˇerk (E. Sˇ. Kritisch-biogr. Skizze). Len. 1961; id. (ed.): My znali E.a Sˇ.a (Wir kannten E. Sˇ.). M./Len. 1966; Simard, L. R.: The Life and Works of Evgenii Shvarts. Diss. Ithaca, N. Y. 1970; Corten, I. H.: Evgeny Lvovich Shvarts. A Biographical Sketch. In: Russian ˇ ukovLanguage Triquarterly 16 (1979) 222⫺243; C skij, N. K.: E. Sˇ. In: id.: Literaturnye vospominanija. M. 1989, 245⫺279. ⫺ 2 Sˇ., E.: Telefonnaja knizˇka (Telefonbuch). ed. K. N. Kirilenko. M. 1997; Sˇ., E.: t. 1: … Ja budu pisatelem. Dnevniki i pis’ma (… Ich werde Schriftsteller. Tagebücher und Briefe); t. 2: Predcˇuvstvie scˇast’ja. Dnevniki. Proizvedenija 20ch⫺30-ch godov (Vorgefühl des Glücks. Tagebücher. Werke aus den 20er⫺30er Jahren); t. 3: Bessmyslennaja radost’ bytija. Proizvedenija 30-ch⫺40-ch godov. Dnevniki i pis’ma (Unsinnige Daseinsfreude. Werke aus den 30er⫺40er Jahren. Tagebücher und Briefe); t. 4: Pozvonki minuvsˇich dnej. Proizvedenija 40-ch⫺50-ch godov. Dnevniki i pis’ma. (Glöckchen vergangener Tage. Werke aus den 40er⫺50er Jahren. Tagebücher und Briefe). ed. M. O. Kryzˇanovskaja. M. 1999; Schwarz, J.: Stücke. B. 1972; id.: Märchenkomödien. Lpz. 1972 (21974, 31977). ⫺ 3 Zalkind, A.: Osnovnye voprosy pedologii (Grundfragen der Pädologie). M. 1930, 64. ⫺ 4 Metcalf, A.: The Undervud Affair. A Case Study of Pedagogues, Pioneers and Politics in the Soviet Children’s Theatre of 1929. In: Irish Slavonic Studies 8 (1987) 15⫺30. ⫺ 5 ˇ S., 1999 (wie not. 2) t. 4, 293. ⫺ 6 Corten, I. H.: Evgenii Shvarts as an Adapter of Hans Christian Andersen and Charles Perrault. In: Russian Review 37 (1978) 51⫺67. ⫺ 7 Metcalf, A. J.: Evgenii Shvarts and His Fairy-Tales for Adults. Birmingham 1979, 2 sq.; Eismann, W.: Zum mehrdimensionalen Spiel mit Phrasemen in den Stücken von E. Sˇ. In: Grani slova. Festschr. V. M. Mokienko. M. 2005, 195⫺ 203. ⫺ 8 Dt. Bearb. Floh de Cologne 1977, „pläne“ Verlag Dortmund. Schallplatte K 20 905. ⫺ 9 Golovcˇiner, V. E.: E˙picˇeskij teatr E.a Sˇ.a (Das epische Theater von E. Sˇ.). Tomsk 1992, 7.
Graz
Wolfgang Eismann
´ lafur, * HöfÎabrekka, Sveinsson, Einar O (My´rdalur) 12. 12. 1899, † Reykjavı´k 18. 4. 1984, isl. Philologe und Erzählforscher. S. studierte 1918⫺28 Nord. Philologie in Kopenhagen und Reykjavı´k und wurde dort 1933 mit der Studie Um Nja´lu 1 promoviert. Nach seinem Studium nahm er an der Univ. in Reykjavı´k verschiedene Tätigkeiten wahr (Bibl.,
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Swahn, Jan-Öjvind
Lehre, Administration). 1939 lehnte S. einen Ruf an die Univ. Aarhus ab. 1942 erhielt er eine Anstellung als Univ.sbibliothekar, 1945 wurde er Professor für isl. Lit. an der Univ. in Reykjavı´k; 1962⫺70 war er der erste Direktor ´ rni des Isl. Hss.instituts (seit 2006 Teil des A Magnu´sson-Inst.s für Isl. Studien). 1952⫺78 gab er die führende skand. Fachzeitschrift Arv mit heraus. Sein umfangreicher Hss.nachlaß ´ rni Magnu´sson-Inst. befindet sich im A Die Schwerpunkte von S.s umfangreicher Forschungstätigkeit lagen einerseits im Bereich isl. Märchen und Sagen, andererseits in der ma. Lit. (vor allem der J Sagas und der Lieder-Edda [J Edda]). Mit dieser doppelten Ausrichtung stand er in der Nachfolge nord. Gelehrter wie S. J Grundtvig, A. J Olrik und K. J Liestøl. S. galt als bester Kenner der hist. isl. Volksliteratur im 20. Jh. und war einer der internat. einflußreichsten Sagaforscher der 1930er bis 1960er Jahre1. Er entfaltete eine reiche Tätigkeit als Übers. und Lyriker (cf. Gedichtsammlung Ljo´Î. Reykjavı´k 1968). S.s Verz. isl. Märchenvarianten mit einer einleitenden Unters. ([FFC 83]. Hels. 1929) dokumentiert nach dem Vorbild von A. J Aarne, R. T. J Christiansen und S. J Thompson sämtliche 225 bis dahin belegbaren Erzähltypen J Islands in etwa 550 überlieferten Texten, wobei S. eine klare Dominanz der Zaubermärchen feststellte2. In der umfangreichen Einl. und in zahlreichen folgenden Arbeiten interessierten S. bes. die Interdependenzen zwischen literar. und mündl. Überlieferungen, wobei S. in zeittypischer Betrachtungsweise den Unterschied zwischen der ,hohen‘ und der ,niederen‘ Kultur hervorhob3. Für die Erzählforschung von bes. Bedeutung sind neben dem Typenkatalog und einer Reihe von Aufsätzen zu Themen der Erzählforschung, in denen S. u. a. die Beziehungen zwischen der isl. und der ir. Lit. des MA.s untersuchte4, vor allem mehrere Slgen isl. Sagen, Märchen, Balladen und Lieder: Um ´ıslenzkar jo´Îsögur (Reykjavı´k 1940)5; Fagrar heyrÎi eg raddirnar. Ïjo´ÎkvæÎi og stef (Reykjavı´k 1942 [21974]); Leit eg suÎur til landa. Ævinty´ri og helgisögur fra´ miÎöldum (Reykjavı´k 1944); I´slenzkar jo´Îsögur og ævinty´ri (Reykjavı´k 1944 [21951, 31986]); Ïjo´Îsagnabo´k A´sgrı´ms Jo´nssonar (Reykjavı´k 1959); Löng er för. Ïrı´r ættir um ´ırskar og ´ıslenzkar sögur og kvæÎi (Reykja-
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vı´k 1975). Ferner gab S. J. Jo´nassons I´slenzkir jo´Îhættir (Reyjkavı´k 1934, 21945, 31961), ein Standardwerk der isl. Vk., heraus. Neben S. Nordal war S. der Hauptvertreter der sog. Isl. Schule der Sagaforschung. In verschiedenen einflußreichen Monogr.n beschäftigte er sich mit der literar. Kultur des ma. Island (z. B. Sagnaritun Oddaverja. Reykjavı´k 1937; Sturlungaöld. Reykjavı´k 1940; Dating the Icelandic Sagas. L. 1958; Les Sagas islandaises. P. 1961). Er bestimmte mit seinen Publ.en über mehrere Jahrzehnte hinweg die Auffassungen über die umfangreichste Isländersaga, die Nja´ls saga6. In der Folge seiner Diss. legte er eine Ausg. der Brennu-Nja´ls saga (Reykjavı´k 1954) vor, die auf der Grundlage des damals vorherrschenden Textverständnisses die Vorstellung von dieser Erzählung als abgerundetes, in sich geschlossenes Kunstwerk prägte. S. edierte weitere Sagas (Eyrbyggja saga. Reykjavı´k 1935; Laxdæla saga. Reykjavı´k 1934; Vatnsdæla saga. Reykjavı´k 1939; HallfreÎar saga. Reykjavı´k 1939; Kormaks saga. Reykjavı´k 1939). Für eine geplante Geschichte der isl. Lit. des MA.s (I´slenzkar bo´kmenntir ´ı fornöld. Reykjavı´k 1962) verfaßte er einen umfangreichen Band zur eddischen Dichtung. ´ . In: Skı´rnir 159 (1985) 5⫺ Kristja´nsson, J.: S., E. O 15; Kvideland, R./Eirı´ksson, H. Ö. (edd.): Norw. und Isl. Volksmärchen. B. 1988, 484⫺486; Bene´ . (ed.): E. O ´ . S. Ritaskra´. Reykjavı´k diktsdo´ttir, O 2000 (Bibliogr.). ⫺ 2 cf. Schier, K.: Märchen aus Island. MdW 1983, bes. 257⫺260, 266⫺280, 286; nach S.s Katalog entstandene Verz.se: Boberg; BöÎvars´ ./Vilhja´lmsson, B./Almqvist, B.: Reg. In: A ´ rson, A nason, J.: I´slenzkar Ïjo´Îsögur og ævinty´ri 6. Reykjavı´k 1961, 259⫺341, bes. 317⫺330; ATU. ⫺ 3 cf. Ve´´ . In: Andvari 124 (1999) 13⫺63, steinn, O.: S., E. O ´ .: ViÎ uppspretturnar. Reykbes. 28, 31. ⫺ 4 S., E. O javı´k 1956; id.: FerÎ og förunautar. Reykjavı´k 1963. ⫺ 5 id./Pe´tursson, E. G.: The Folk-Stories of ´ . In: SkanIceland. L. 2003; cf. Kreutzer, G.: S., E. O ´ ./Schach, dinavistik 35 (2005) 154 sq. ⫺ 6 cf. S., E. O P.: Njals saga. A Literary Masterpiece. Lincoln, Nebr. 1971. 1
Basel/Zürich
Jürg Glauser
Swahn, Jan-Öjvind, * Karlskrona 15. 5. 1925, schwed. Folklorist und Ethnologe. S. schloß sein Studium der Folkloristik, Nord. Altertumskunde und Nord. Sprachen in Lund als
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Swahn, Jan-Öjvind
Schüler C. W. von J Sydows 1955 mit der Diss. The Tale of Cupid and Psyche ab1. 1955⫺ 78 war er Lektor und Dozent an den Univ.en in Lund, Uppsala und Göteborg. 1951⫺67 war S. als Bibliothekar an der Univ.sbibliothek Lund und 1978⫺83 als Oberbibliothekar des Nordiska Museet in Stockholm tätig. An ˚ bo (Turku) der schwed.sprachigen Univ. in A vertrat er 1974⫺92 den Bereich Folkloristik, seit 1982 als Professor. Er war Inhaber des Verlags Cygnus, Chefredakteur für Bra Böckers lexikon, Bra Böckers bildlexikon und Barnens uppslagsbok, Mitglied des wiss. Rats der Nationalencyklopedin (Verf. von ca 2000 Art.n) sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen. S. ist Mitglied mehrerer wiss. Ges.en, z. B. der Kungliga Gustav Adolfs Akademien för svensk folkkultur. S.s umfangreiches und z. T. übers. Œuvre gilt vor allem der Märchen-, Brauch- und Nahrungsforschung. Als Märchenforscher arbeitete S. zunächst in Anlehnung an die J geogr.-hist. Methode, suchte allerdings im Unterschied zu dieser weder nach Herkunftsorten noch Urformen. Ihm ist die genauere Erfassung des äußerst variantenreichen Märchenkomplexes AaTh/ATU 425 sqq.: J Amor und Psyche durch die Einführung weiterer Subtypen zu verdanken. S. zufolge stellt der Subtyp AaTh/ATU 425 B (bei S. Subtyp A) den ältesten und einzigen ur-ide. Subtyp dar, der Subtyp C hingegen eindeutig eine spätere literar. Entlehnung aus der Tradition der J Contes de fe´es, AaTh/ATU 425 A (bei S. Subtyp B) einen bes. in Westeuropa beliebten J Ökotyp2. In seiner Arbeit differenzierte er zwischen unterschiedlichen Repertoires von Frauen und Männern3. S. hält nach wie vor an dem Konzept des Ökotyps fest, hat sich jedoch von der Hypothese von Sydows, Märchentypen oder -gattungen mit ide. oder prä-ide. Überlieferungen (Megalithmärchen) zu verbinden, distanziert4. Neben Aufsätzen zu verschiedenen Problemen der Märchenforschung, in denen S. auch die Interdependenz zwischen gedr. Texten und mündl. Erzählen berücksichtigt (J Lit. und Volkserzählung)5 sind vor allem seine umfassenden und ausführlich kommentierten Ausg.n schwed. Volksmärchen6 sowie internat. Märchen7 zu nennen. Seit den 1980er Jahren widmete sich S. in Zusammenhang mit einem süd-
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ostasiat. Forschungsprojekt in Lund gegenwärtigen Erzähltraditionen und ihren Trägern sowie Problemen des Sammelns und Archivierens8. Zusammen mit K. Lindell und D. Tayanin gab er auf Grundlage der gemeinsamen Feldforschungen in Thailand, Laos und Vietnam eine sechsbändige Reihe über Märchen der Kammu heraus9, in der jeder Band das Repertoire eines einzigen Erzählers enthält. Dabei wird jeweils auf die Problematik der Dokumentation ,exotischen‘ Materials eingegangen. Die Texte und ihre Analysen liegen einem noch nicht abgeschlossenen, einzig im Internet verfügbaren Motivindex der südostasiat. Völker zugrunde10. In der Brauchforschung widmete sich S. bes. den kulturhist. Aspekten des schwed. Weihnachtsfests, u. a. in Den svenska julboken (Höganäs 1993), einem zugleich gelehrten und unterhaltenden Buch. In Zusammenhang mit anderen Festen befaßte er sich vor allem mit Gelegenheitsgedichten11. Auch sind S. hist. Übersichten der Jahresfeste zu verdanken12. Anhand von Gelegenheitsversen untersuchte S. von der Zeit der Wikinger bis in das 20. Jh. das typische schwed. Weihnachtsessen13. Außerdem legte er einen kulturhist. Überblick zur Eßkultur vor14. Durch die Kombination von Forschungsansätzen zu Volksdichtung und Kulturgeschichte konnte S. die Folkloristik, die in Schweden seit 1984 kein selbständiges Univ.sfach mehr ist, in weiteren Kreisen bekannt machen. 1 S., J.-Ö.: The Tale of Cupid and Psyche (AarneThompson 425 & 428). Lund 1955. ⫺ 2 ibid. ⫺ 3 ibid., 437 sq. ⫺ 4 cf. id.: Tradierungskonstanten. Wie weit reicht unsere mündl. Tradition zurück? In: Oberfeld, C. (ed.): Wie alt sind unsere Märchen? Regensburg 1990, 36⫺50; id.: Svenska folksagor. Stockholm (1959, 21976, 31986) 41992, 21 sq., 50. ⫺ 5 id.: Die menschenfressende Schwester und die Flucht auf den Baum. In: Arv 16 (1960) 101⫺114; id.: Ratten und Mäuse in schwed. Märchen und Sagen. Ein Beitr. zum Thema „Märchen und Wirklichkeit“. In: Geschichte und Geschichten. ed. N. Humburg. Hildesheim 1985, 135⫺140; id.: ,Beauty and the Beast‘ in Oral Tradition. In: Merveilles & contes 3 (1989) 15⫺27. ⫺ 6 id. 1959 u. ö. (wie not. 4). ⫺ 7 id.: Folksagor 1⫺7. Höganäs 1987⫺89. ⫺ 8 id.: Working on the Motifs in a Folk Tale. With a Kammu Story from Yunnan as an Example Text. Lund 1993; id./Lindell, K./Li Daoyong/Tayanin, D.: Story-Telling. Who Told What to Whom? Folk-Tales and Their Far-Away Connections. In: Cooperation
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Swift, Jonathan
East and West ⫺ Continued. ed. G. Lauritzson. Lund 1994, 156⫺164; S., J.-Ö.: On the Collection and Adaption of Narrative Folklore. In: Ethnic Minorities in China. ed. T. Heberer. Aachen 1985, 105⫺ 113; id.: Aarnes Typenkatalog muß revidiert werden ⫺ aber wie? In: Die heutige Bedeutung oraler Traditionen. Ihre Archivierung, Publ. und Index-Erschließung. ed. W. Heissig/R. Schott. Wiesbaden 1998, 263⫺268; id.: Fa˚ngad av en saga. In: Kammu ⫺ om ett folk i Laos. ed. H. Lundström/ J. O. Svantesson. Lund 2005, 74⫺95. ⫺ 9 Lindell, K./S., J.-Ö./Tayanin, D.: Folk Tales from Kammu [1]⫺6. L. u. a. 1977⫺98; cf. auch Lindell, K.: The Flood. Three Northern Kammu Versions of the Story of the Creation. In: Acta Orientalia 37 (1976) 183⫺200. ⫺ 10 S., J.-Ö.: Kristina Lindell (1928⫺ 2005). In: Fabula 47 (2006) 125 sq. ⫺ 11 S., J.-Ö.: I glädje och sorg. Personverser fra˚n Kungl. Amiralitetsboktryckeriet i Karlskrona 1728⫺ 1799 jämte en inledning om personverserna som festsed. Karlskrona 1963; id.: Jubelfest. Na˚gra notiser till guld- och silverbröllopsfirandets historia. Lund 1963. ⫺ 12 z. B. id.: Jahresfeste, Arbeitsfeste, Kalender. In: Schwed. Vk. Festschr. S. Svensson. Stockholm u. a. 1961, 393⫺415. ⫺ 13 id.: Grötrim pa˚ skämt och allvar. Höganäs 1986. ⫺ 14 id.: Mathistorisk uppslagsbok. Bromma 1999 (22003).
˚ bo A
Ulrika Wolf-Knuts
Swift, Jonathan, * Dublin 30. 11. 1667, † ebenda 19. 10. 1745, ir.-engl. Schriftsteller. S. studierte 1682⫺86 am Trinity College in Dublin (1686 Bachelor of Arts). 1689 floh er vor dem Bürgerkrieg nach England, wo er bis 1699 mit Unterbrechungen als Sekretär bei dem Diplomaten Sir William Temple auf dessen Landsitz Moor Park angestellt war. In diese Zeit fällt S.s Entscheidung für den Priesterberuf (Ernennung zum Dechanten der St. Patrick’s Cathedral in Dublin 1713) sowie der Ausbruch der Me´nie`reschen Krankheit, die ihn zeitlebens in Intervallen heimsuchte1. In Irland fühlte sich der anglophile Sohn engl.stämmiger Eltern zeitlebens als Verbannter. Gleichwohl wurde S. den Iren seit seinem Einsatz für die konstitutionelle Freiheit ihres Landes zum hibern. Patrioten2, vor allem durch die Drapier’s Letters (Dublin 1724⫺25) sowie A Modest Proposal (L. 1729), eine die merkantilistische Ausbeutungspolitik Englands anprangernde satirische Anklageschrift, die den Hunger der Bevölkerung durch engl. Kannibalismus ir. Kinder zu stillen vorschlägt. Seine Zeit auf Moor Park ermöglichte ihm
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nicht nur, seinen literar. Neigungen nachzugehen, sie lehrte ihn auch den furchtlosen Umgang mit den Würdenträgern von Kirche und Staat sowie den Größen der Lit.3 Seiner Gemeinde predigte er die Grundsätze eines einfachen, vernunftbestimmten und karitativen Christentums (A Letter to a Young Gentleman, Lately Enter’d into Holy Orders. Dublin 1720). Als Autor wurde S. ebenso heftig angegriffen wie mitfühlend verteidigt. In seinem persönlichen Habitus pflegte er Vexierspiel und Mystifikation; die Denkfiguren, zu denen er in seinen J Satiren am häufigsten Zuflucht nahm, sind Figuren der Unbestimmtheit, Ironie und Paradoxon4. S.s aggressive Intention literar. Sprechens galt weniger dem Laster im Individuum als dem lasterhaften Individuum5. Dabei war er von dem Wunsch besessen, die, mit denen er stritt, in größtmögliches Unrecht zu setzen, ‘die Welt zu quälen, nicht zu unterhalten’6. Dem Ideologieverdacht, dem alle Satiriker ausgesetzt sind, begegnete S. mit einer Strategie, die seine Opfer sich selbst ans Messer liefern ließ. Statt seine Narren und Schurken, häufig leicht identifizierbare Mitglieder der politischen, militärischen und kirchlichen Klasse, mit der ideologischen Keule zu ,erledigen‘, maß er sie an ihren eigenen Maßstäben und befand sie für zu gering. Diese Technik ist bereits in den frühen Satiren ausgebildet, etwa in der religiösen Allegorie von A Tale of a Tub (L. 1704)7, in der die Geschichte der christl. Religionen als Chronik eines fortschreitenden Ungehorsams gegenüber dem Vermächtnis ihres Stifters beschrieben ist. Mit seinem bekanntesten Werk, Travels into Several Remote Nations of the World. By Lemuel Gulliver, First a Surgeon, and then a Captain of Several Ships (1⫺2. L. 1726), dt. Gullivers Reisen genannt, vollendete S. das satirische Programm, das er in A Tale of a Tub begonnen hatte. Gulliver unternimmt insgesamt vier J Reisen. In Buch 1 kommt er ins Reich der winzigen Lilliputaner, in Buch 2 zu den Riesen im Reich Brobdingnag; Buch 3 bringt ihn in eine Welt der ausschließlich theoretischen Wiss. auf der fliegenden Insel Laputa. In Buch 4 ist er in einem Land, das von den affenähnlichen Yahoos und den als Houyhnhnms bezeichneten vernunftbegabten Pferden bevölkert ist.
Gullivers Reisen ist eine im Zeitraffer präsentierte satirische Vivisektion menschlicher
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Swift, Jonathan
Triebkräfte, die nach S.s Urteil die neuzeitliche Politik (Buch 1 und 2) und Wiss. (Buch 3) bestimmt haben. Die Reise nach Lilliput stellt gleichnishaft das politische Geschehen der Jahre 1710⫺14, bes. die erbitterte Auseinandersetzung um die Beendigung des Span. Erbfolgekrieges, dar; die Reise nach Brobdingnag ergänzt die Attacke auf die aktuelle Politik durch eine satirische Darstellung der inneren Verfaßtheit des politischen Systems. Auf den Reisen nach Laputa und Balnibarbi weitet sich die satirische Szene zum Panorama, unter anderem durch Einbeziehung der (von Francis Bacon inspirierten) Neuen Wiss., neuer Länder und neuer Dimensionen von Raum und Zeit8. Trotz der lesepsychol. Herausforderung sind Gullivers Reisen zu einem Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur geworden9. Das Werk gehört zum Genre des imaginären J Reiseberichts, einer Spielart der im 16.⫺18. Jh. populären Reiseliteratur, die zwischen faktenbezogener Erscheinungsform (Dokumentarbericht, Reisetagebuch, Memoiren) und Reiselüge anzusiedeln ist10. S. versah den Text sowohl mit Authentizität suggerierenden Beglaubigungsfiguren (geogr. und nautischer Realismus) als auch mit phantastischen Elementen (Zwerge, Riesen, fliegende Inseln, unsterbliche ,Tote‘, vernunftbegabte Pferde). Dabei liegen alle von Gulliver besuchten Länder in unerforschten Gegenden der Erde, die erwähnten phantastischen Geschöpfe sind allerdings durch die Reiseliteratur der Zeit beglaubigt. Die Entscheidung, ob eine Reise authentisch oder imaginär war, kann zeitgenössischen Lesern also nicht immer leicht gefallen sein. Bearb.en von Gullivers Reisen gibt es internat. für alle Altersgruppen in zahllosen und hohen Auflagen. Bei allen hist. und kulturellen Unterschieden bieten die meisten der Kinderbuchversionen in sprachlich z. T. stark adaptierten und inhaltlich meist reduzierten Fassungen ein einheitliches Bild: Unter Auslassung von Buch 3 und 4 werden die ,märchenhaften‘ Elemente der Bücher 1 und 2 betont sowie als anstößig empfundene sexuelle und skatologische Passagen (wie die Aktion, bei der Gulliver ein Feuer im kaiserlichen Palast in Lilliput mit seinem Urin löscht) getilgt oder entschärft; zudem wird der satirische Ton des
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Werks verharmlost. Gulliver ⫺ bei S. ein unzuverlässiger Erzähler ,wahrer Lügen‘ ⫺ wird so in einen zuverlässigen verwandelt, der für seine jungen Leser eine ,Botschaft‘ bereithält, und zwar je nach dem Bedarf, den weltanschauliche Ideologien und totalitäre Regime vorschreiben11. In Irland gehört S. zu jenen hist. Persönlichkeiten, die breite Beliebtheit bei der Bevölkerung erlangten und über die zahlreiche Anekdoten kursieren, u. a. Geschichten über kuriose Rechtsfälle (cf. AaTh/ATU 1534: Die Urteile des J Schemjaka) oder die Schwänke über ,Dean S.‘ und seinen gewitzten Diener (so elf Var.n zu AaTh/ATU 785 A: J Einbeiniges Geflügel)12. 1 Creaser, W. J.: „The Most Mortifying Malady“. J. S.’s Dizzying World and Dublin’s Mentally Ill. In: S. Studies 19 (2004) 27⫺48. ⫺ 2 cf. Ferguson, O. W.: J. S. and Ireland. Urbana 1962; Baltes, S.: The Pamphlet Controversy about Wood’s Halfpence (1722⫺ 25) and the Tradition of Irish Constitutional Nationalism. Ffm. 2003. ⫺ 3 S., J.: Family of S. In: The Prose Works of J. S. 5. ed. H. Davis u. a. Ox. 1962, 187⫺195; Ehrenpreis, I.: S. The Man, His Works, and the Age 1⫺3. L./Cambr., Mass. 1966/67/83. ⫺ 4 Real, H. J.: The Dean’s European Ancestors. S. and the Tradition of Paradox. In: La Grande-Bretagne et l’Europe des Lumie`res. ed. S. Soupel. P. 1996, 135⫺142. ⫺ 5 id.: „A Dish Plentifully Stor’d“. J. S. and the Evaluation of Satire. In: Reading S. Papers from the Second Münster Symposium on J. S. ed. R. H. Rodino/H. J. Real. Mü. 1993, 45⫺ 58. ⫺ 6 The Correspondence of J. S. 1⫺4. ed. D. Woolley. Ffm. 1999/2001/03/06, hier t. 2, 606 sq. ⫺ 7 cf. bes. Harth, P.: S. and Anglican Rationalism. The Religious Background of „A Tale of a Tub“. Chic./L. 1969; Ormsby-Lennon, H.: Raising S.’s Spirit. Das Dong-an-sich. In: S. Studies 3 (1988) 9⫺ 78. ⫺ 8 Real, H. J./Vienken, H. J.: Gulliver’s Travels. Mü. 1984. ⫺ 9 Dierks, M./Hasubek, P.: Gullivers Reisen. In: LKJ 1 (1973) 510⫺512; Klotz, A.: Kinder- und Jugendlit. in Deutschland 1840⫺1950. t. 4. Stg./Weimar 1996, 551⫺559; Hb. zur Kinder- und Jugendlit. Von 1800 bis 1850. ed. O. Brunken/B. Hurrelmann/K.-U. Pech. Stg. 1998, 1894 sq. ⫺ 10 Paßmann, D. F.: „Full of Improbable Lies“. Gulliver’s Travels und die Reiselit. vor 1726. Ffm. 1987. ⫺ 11 The Reception of J. S. in Europe. ed. H. J. Real. L. 2005; Kosok, H.: The Captain’s German Offspring. Children’s Versions of Gulliver’s Travels. In: The Reception and Reputation of J. S. in Germany. ed. H. J. Real. Dublin/Ox./L. 2002, 353⫺369. ⫺ 12 Jarrell, M. L.: „Jack and the Dane“. S. Traditions ´ ga´in, in Ireland. In: JAFL 77 (1964) 95⫺117; uı´ O R.: Immortal Dan. Daniel O’Conell in Irish Folk
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Sybariten ⫺ Sydow, Carl Wilhelm von
´ hO ´Tradition. Dublin s. a., 122, 133, 147 u. ö.; O ga´in, D.: The Hero in Irish Folk History. Dublin/ N. Y. 1985, 86⫺99.
Münster
Hermann J. Real
Sybariten, Einwohner der griech. Stadt Sybaris am Golf von Tarent (gegründet ca 720 a. Chr. n.; zweimal von der rivalisierenden Nachbarstadt Kroton zerstört)1. Der luxuriöse, ausschweifende Lebensstil der S. und bes. ihre verfeinerten Eßgewohnheiten waren im Altertum legendär2; bis heute wird sybarite (engl., frz.), sibarita (ital., span.) etc. überwiegend in der Bedeutung ,Genießer, Feinschmecker, Lüstling‘ und z. T. mit dem Beiklang der Verweichlichung benutzt3. Anekdoten über sybarit. Dekadenz waren zumindest teilweise ein Ausfluß der in Kroton zentrierten pythagore. Propaganda. Erzählt wurden ferner witzige Antworten und scherzhafte Einfälle der S.4, wie sie sich u. a. in den Sphe¯kes (Die Wespen; 1427⫺1431, 1435⫺ 1440) des J Aristophanes finden. S.-Anekdoten und -Aussprüche liefen jahrhundertelang im antiken Griechenland um und wirken bis in die Gegenwart nach; eine Zusammenstellung bieten die Deipnosophistai (Sophistenmahl [um 195 p. Chr. n.]; 4,138d; 6,273c; 12,518c⫺522d) des Athenaios von Naukratis, dessen Quelle der Historiker Timaios von Tauromenion (ca 345 ⫺ um 250 a. Chr. n.) bildet5. So sollen sich bei der ersten Vernichtung von Sybaris (510 a. Chr. n.) die Krotoner einer J Kriegslist bedient haben: In der Schlacht brachten sie mit Flötenklängen die im Tanz geschulten Pferde der S. dazu, ihre Reiter abzuwerfen6. Über den Todesmut der Spartaner mokierte sich ein Sybarit, er sei Ausdruck von Lebensüberdruß, verursacht durch schlechtes Essen7. Inbegriff des S. und Kristallisationsgestalt der S.Anekdoten ist der Playboy Smindyrides (cf. Herodot 6,127). Dieser Müßiggänger soll sich gerühmt haben, er habe in zwanzig Jahren die Sonne weder auf- noch untergehen sehen8. J Seneca (De ira 2,25,2) benutzte ihn als warnendes Beispiel von Verweichlichung: Der bloße Anblick körperlicher Arbeit war Smindyrides unerträglich (drastischer geschildert für anonyme S. bei Athenaios9), und er jammerte darüber, auf Rosenblättern schlecht geschlafen zu haben (auch Claudius Aelianus, Variae historiae 9,24).
Letzteres erinnert an die Klagen der J Prinzessin auf der Erbse (AaTh/ATU 704) und verzärtelter Damen der älteren oriental. Über-
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lieferung10. Die von E. Rohde beanspruchte Priorität der sybarit. Rosenblatt-Anekdote erscheint angesichts der weiten Verbreitung und großen Variabilität des Empfindlichkeitsmotivs im Orient allerdings zweifelhaft11. 1 Philipp [, H.]: Sybaris. In: Pauly/Wissowa 2,7 (1931) 1002⫺1011, hier 1005⫺1010, bes. 1007 sq.; Callaway, J. S.: Sybaris. Baltimore 1950. ⫺ 2 Lombardo, M.: Food and ,Frontier‘ in the Greek Colonies of South Italy. In: Food in Antiquity. ed. J. Wilkins/D. Harvey/M. Dobson. Exeter 1995, 256⫺272, hier 263, 267⫺269. ⫺ 3 Shojaei Kawan, C.: „The Princess on the Pea“: Andersen, Grimm and the Orient. In: Fabula 46 (2005) 89⫺115, hier 92. ⫺ 4 Rohde, E.: Der griech. Roman und seine Vorläufer. Hildesheim 41960, 587 sq. ⫺ 5 cf. Zecchini, G.: La cultura storica di Ateneo. Mailand 1989, 175⫺178, 257. ⫺ 6 Athenaios von Naukratis: Das Gelehrtenmahl. ed. U. und K. Treu. Lpz. 1985, 316⫺318. ⫺ 7 ibid., 65, 313. ⫺ 8 ibid., 201, bezogen auf anonyme S. 316. ⫺ 9 ibid., 313. ⫺ 10 Shojaei Kawan (wie not. 3) 90⫺95. ⫺ 11 Rohde (wie not. 4) 589; cf. dagegen Schick, J.: Die Scharfsinnsproben 1. Lpz. 1934, 144.
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Sydow, Carl Wilhelm von, * Ryssby (Sma˚land) 21. 12. 1878, † Lund 4. 3. 1952, bedeutender schwed. Folklorist1. Von S. studierte 1898⫺1908 an der Univ. Lund Geographie, Ästhetik, Philosophie und Astronomie (Staatsexamen 1901). 1908 bestand er die Lizentiatsprüfung für Englisch und Ästhetik und legte eine Abhdlg über AaTh/ATU 500: J Name des Unholds und AaTh/ATU 501: Die drei J Spinnfrauen vor (Tva˚ spinnsagor. Stockholm 1909 [erw. 21910]). 1910 erhielt er aufgrund einer Unters. der Mythen, die in der Snorra Edda (J Edda) mit dem Besuch J Thors bei Utga˚rda-Loke verknüpft sind, eine Dozentur an der Univ. Lund2. Bei Gründung des Folkminnesarkiv (später Folklivsarkiv) in Lund (1913)3 erteilte die Univ. ihm zugleich die Prüfungsberechtigung für das neue Fach Nordisk och jämförande folkminnesforskning (außerordentlicher Professor 1940, Emeritierung 1946)4. 1914⫺25 gab er die von ihm begründete Zs. Folkminnen och folktankar heraus und 1941⫺46 das Jb. Folkkultur. Von S. war einer der Gründer der Folklore Fellows (Helsinki) und der Kungliga Gustav Adolfs Akademien för folklivsforskning (Uppsala). 1937 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Univ. Dublin.
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Sydow, Carl Wilhelm von
In seiner Lizentiatsabhandlung über die mit dem Dom zu Lund verknüpfte J Baumeistersage5 zeigte sich von S. als Anhänger der J geogr.-hist. Methode, erfuhr jedoch Kritik für die allg. mit dieser Forschungsrichtung verbundene Annahme, mündl. Fassungen des 19. Jh.s seien ursprünglicher als die literar. des 16. und 17. Jh.s6. Später distanzierte sich von S. von der geogr.-hist. Methode und setzte sich statt dessen mit einzelnen Gattungen der Volksdichtung auseinander, aber auch mit populären Glaubensvorstellungen und damit verbundenen Bräuchen7. Während der 1910er und 1920er Jahre analysierte er Texte aus der germ. und kelt. Heldendichtung und machte wichtige Beobachtungen zu ir. Einflüssen auf nord. Heldensagen. Er besuchte mehrmals Irland (erstmals 1920), lernte Gälisch und übersetzte eine große Anzahl gäl. Märchen8. Ferner beteiligte sich von S. an der Diskussion über die Qu.n der J Beowulf-Dichtung, stellte die kelt. Vorbilder heraus und kritisierte philol. und religionswiss. Ansätze9; ebenso verfuhr er mit dem J Nibelungenlied 10. Seine Arbeit mit älteren literar. Zeugnissen vermittelte ihm eine andere Auffassung zur J Altersbestimmung der Märchen als die der damals dominierenden Folkloristen und Philologen11, und er führte eine langanhaltende Auseinandersetzung mit einer Reihe skand. (z. B. M. P. Nilsson) und dt. Forscher (z. B. F. J Panzer)12. Eine rationale funktionalistische Auffassung hatte von S. auch in bezug auf Festbräuche. Er deutete deren Entstehung und Ausgestaltung eher als Ergebnis eines menschlichen Bedürfnisses nach Entspannung und Vergnügen statt sie von älteren religions- und kirchengeschichtlichen Vorbildern abzuleiten13. Bes. wandte er sich gegen W. J Mannhardts Theorien eines älteren Fruchtbarkeitskults14. In der Diskussion um J Gattungsprobleme betonte von S. vor allem die Notwendigkeit eines stringenten Gattungssystems15. Mit Hilfe der Kunstsprache Occidental führte er neue Begriffe (auch für die Systematik von Rätseln16) ein, z. B. J Chimäremärchen statt Zaubermärchen. Hinderlich war dabei der Umstand, daß er seine Terminologie oft ohne Hinweis auf frühere Bezeichnungen mehrmals änderte. So sind heute nur noch einige dieser Neuschöpfungen ohne ältere Entsprechungen,
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wie J Memorat, J Dit17 und J Fikt(ion), gebräuchlich. Die entlehnten Begriffe stammen z. T. aus anderen Wiss.en wie der Biologie (z. B. Mutation18). Die von der geogr.-hist. Schule propagierte Theorie einer kontinuierlichen Verbreitung und einer mechanistischen J Vermittlung (J Diffusion, J Wandertheorie) tat von S. als Schreibtischprodukte ab. Demgegenüber vertrat er die Auffassung, daß man die aktiven Traditionsträger (Erzähler) von den passiven (Zuhörer) trennen müsse; Märchen würden durch Übersiedlung oder Reisen der aktiven Traditionsträger verbreitet19. Da früher Sprachgrenzen nicht so oft überschritten worden seien, hätten sich innerhalb der jeweiligen Sprachfamilien regionale J Ökotypen herausgebildet20. Voraussetzung für diese Annahme war die Ersetzung der Wandertheorie durch die Erbtheorie21. Die Verbreitung von Chimäremärchen schrieb von S. den Indoeuropäern zu (J Ide. Theorie)22. Er vermutete, daß die voride. Bevölkerung zum Prozeß der Ökotypisierung des Erzählguts in Europa beigetragen und von ihm so genannte Megalithmärchen besessen habe, wobei er an den bei den Archäologen überholten Begriff Megalithkultur anknüpfte23. Als Gegensatz zu den ,geradlinigen‘ ide. Chimeraten verstand S. die ,semit. Novellate‘24. Diese These überprüfte er selbst nur in einer einzigen ausführlicheren Arbeit zum Ägypt. J Brüdermärchen (AaTh 318 ⫽ 590 A, 516 B, 870 C*, 302 B/ATU 302 B, 318, 870)25. Mit Sagen beschäftigte sich von S. weniger, wobei ihn hauptsächlich die Systematik interessierte. Er schuf hier ebenfalls zahlreiche neue Kategorien und Begriffe, die er mehrmals änderte26. Bes. die Kategorien der ,nichtepischen‘ Volksdichtung (Memorat, Fikt[ion] und Dit) spielten eine wichtige Rolle bei seiner ausgeprägt funktionalistischen Beurteilung des Volksglaubens27. Auf dem Gebiet der Magie schloß sich von S. J. G. J Frazers assoziationspsychol. Auffassungen an, daß J Assoziationen sich durch Ähnlichkeit und Berührung, die imitative Magie (cf. J Similia similibus) bzw. Kontaktmagie, ergeben hätten; aber diese reichten seiner Auffassung nach als Erklärungen für alle übernatürlichen Vorgänge nicht aus, sondern müßten durch einen dritten Assoziationstypus, be-
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Symbolik
zeichnet als Phantasie-28, später als Emotionalassoziation29, ergänzt werden. Die Emotionalassoziation (cf. J Emotionskomponente) bedeute eine Verknüpfung zwischen einer internen Dominante (z. B. Angst oder unerfüllte Wunschträume) und einer externen Dominante (z. B. ein sonderbar gewachsener Baum, ein in irgendeiner Hinsicht andersartiger Mensch). Diese Gedanken wurden später u. a. von A. Eskeröd und L. J Honko weiterentwickelt30. 1
Berg, G.: C. W. von S. (1878⫺1952). In: Arv 27 (1971) 171⫺188; Swahn, J.-Ö.: Arvet fra˚n von S. En betraktelse i anledning av ett halvsekeljubileum. In: Rig 79 (1996) 97⫺116; Bringe´us, N.-A.: C. W. von S. (1878⫺1952) som folklorist. Uppsala 2006. ⫺ 2 S., C. W. von: Tors färd till Utga˚rd. In: DSt. (1910) 65⫺ 105. ⫺ 3 Bringe´us, N.-A. (ed.): Folklivsarkivet i Lund 1913⫺1988. Lund 1988, 15⫺20. ⫺ 4 cf. S., C. W. von: Utredning rörande folkminnesforskning sa˚som examensämne. Lund 1912. ⫺ 5 id.: Studier i Finnsägnen och beslägtade byggmästarsägner. In: Fataburen 2 (1907) 65⫺78, 199⫺218, ibid. 3 (1908) 19⫺27. ⫺ 6 Weibull, L.: Den lundensiska Finnsägnen. ibid., 28⫺41.⫺ 7 S., C. W. von: Selected Papers on Folklore. ed. L. Bødker. Kop. 1948. ⫺ 8 cf. Swahn, J.-Ö.: Fionns äventyr och andra irländska sagor. Stockholm 1963; von S.s Übers.en werden im Folkslivsarkiv (Lund) aufbewahrt. ⫺ 9 z. B. S., C. W. von: Hur mytforskningen tolkat Beowulfdikten. In: Folkminnen och folktankar 11 (1924) 97⫺134; id.: Scyld Scefing. In: Namn och bygd 12 (1924) 63⫺ 95. ⫺ 10 z. B. id.: Brynhildsepisoden i tysk tradition. In: Arkiv för nordisk filologi 44 (1928) 164⫺189; id.: Germansk tradition. In: Saga och sed (1935) 49⫺ 59. ⫺ 11 id.: Folksagan sa˚som indoeuropeisk tradition. In: Arkiv för nordisk filologi 42 (1926) 1⫺19; id.: Folksagoforskningen. In: Folkminnen och folktankar 14 (1927) 105⫺137; id.: Folksagor och fornkunskap. In: Saga och sed (1939) 19⫺29; id.: Das Volksmärchen unter ethnischem Gesichtspunkt. In: Festschr. E. Mhic Ne´ill. Dublin 1940, 567⫺580. ⫺ 12 cf. z. B. id.: Folkeminnesforskning och filologi. In: Folkminnen och folktankar 8 (1921) 75⫺123; id.: Märchenforschung und Philologie. In: Universitas 3 (1948) 1047⫺1058; id.: Na˚gra synpunkter pa˚ sagoforskning og filologi. In: Øst og Vest. Festschr. A. Christensen. Kop. 1945, 149⫺166. ⫺ 13 S., C. W. von: Religionsforskning och folktradition. In: Folkminnen och folktankar 28 (1941) 3⫺21; id.: Gammal och ny traditionsforskning. In: Folkkultur (1941) 11⫺102, ibid. (1942) 72⫺107. ⫺ 14 id.: The Mannhardtian Theories about the Last Sheaf and the Fertility Demons from a Modern Critical Point of View. In: FL 45 (1934) 291⫺309. ⫺ 15 id.: Kategorien der ProsaVolksdichtung. In: Volkskundliche Gaben. Festschr. J. Meier. B./Lpz. 1934, 253⫺268; id.: Popular Prose
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Traditions and Their Classification. In: Saga och sed (1938) 17⫺32. ⫺ 16 id.: En inledning om ga˚tor och ga˚tsystematik. In: Christoffersson, O.: Ga˚tor fra˚n Skytts härad i Ska˚ne. Lund 1915, 5⫺24. ⫺ 17 id.: Folklig dit-tradition. Ett terminologiskt utkast. In: Folkminnen och folktankar 24 (1937) 216⫺232. ⫺ 18 EM 1, 416 sq.; EM 12, 372 sq.; von S. 1948 (wie not. 12) 1056 sq. ⫺ 19 id. 1927 (wie not. 11) 127 sq. ⫺ 20 id.: Om traditionsspridning. In: Skandia 5 (1932) 321⫺344. ⫺ 21 id.: Geography and Folk-tale Oicotypes. In: Be´aloideas 7 (1932) 346⫺355. ⫺ 22 id. 1940 (wie not. 11) 568⫺570. ⫺ 23 id.: Va˚ra folksagor och vad de berätta om forntida tro och sed. Stockholm 1941. ⫺ 24 id. 1940 (wie not. 11) 568 sq.⫺ 25 id.: Den fornegyptiska sagan om de tva˚ bröderna. In: Vetenskaps-societens i Lund a˚rsbok (1930) 51⫺89. ⫺ 26 cf. id. (wie not. 7) 261⫺264. ⫺ 27 cf. Granberg, G.: Skogsra˚et i yngre nordisk folktradition. Uppsala 1936; Honko, L.: Memorate und Volksglaubenforschung. In: Petzoldt, L. (ed.): Vergleichende Sagenforschung. Darmstadt 1969, 287⫺306. ⫺ 28 S., C. W. von: Det ovanligas betydelse i tro och sed. In: Folkminnen och folktankar 13 (1926) 53⫺70. ⫺ 29 id.: Die Begriffe des Ersten und Letzten in der Volksüberlieferung mit bes. Berücksichtigung der Erntebräuche. In: Folk-liv 3 (1939) 242⫺254. ⫺ 30 Eske˚ rets äring. Diss. Stockholm 1947; Lid, N. röd, A.: A (ed.): Övernaturliga väsen. Oslo/Stockholm/Kop. 1935, 95⫺156.
Lund
Jan-Öjvind Swahn
Symbolik 1. Allgemeines ⫺ 2. Mythol. Interpretationen ⫺ 3. Ritualistische Theorien ⫺ 4. Psychoanalytische Theorien
1 . All ge me in es. Symbole (griech. symbolon: zusammenwerfen, zusammentreffen; auch ,im Geiste zusammenfügen‘)1 sind Ding- und Handlungszeichen, die über ihren konkreten Sachgehalt, ihre materielle Beschaffenheit und ihre J Funktion hinaus auf einen ,tieferen‘, oft nur den Eingeweihten verständlichen Sinn verweisen. Im Gegensatz zur J Allegorie läßt das Symbol einen abstrakteren Zusammenhang bzw. eine generellere Bedeutung durchscheinen. Vor dem Hintergrund der allg. Diskussion um den Stellenwert von S. sind die meisten Erzählforscher davon überzeugt, daß Märchen zwar auch eine Bedeutung haben, schreiben ihnen aber häufig nur eine J Unterhaltungsfunktion zu. Das Märchen bediene sich einfa-
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Symbolik
cher Bilder und erhebe keinen Wahrheitsanspruch. Seine J Eindimensionalität und J Flächenhaftigkeit ließen jedem Individuum die Freiheit, kulturbezogen einen eigenen Sinn in das jeweilige Märchen zu legen, ohne daß universelle Symbole in Anspruch genommen werden müßten. Die doppelte Schwierigkeit, das Wesen der Bedeutung von Märchen zu bestimmen und eine Methode zu finden, um zu ihr vorzudringen, hat Erzählforscher lange davon abgehalten, sich mit S. zu beschäftigen (cf. J Hermeneutik, Kap. 4; J Interpretation)2. 2. Mythol. Interpretationen. Im 19. Jh. befaßte sich die Forschung mehr mit dem mythol. Gehalt (J Mythol. Schule) als mit dem Märchen selbst, und Märchen wurden eher allegorisch als im eigentlichen Sinne symbolistisch interpretiert. M. J Müller betrachtete die ide. J Mythen als immer neue Erzählungen über Himmelsphänomene (J Astralmythologie). Seiner Auffassung nach bilden der Auf- und Untergang der J Sonne, der Wechsel von Tag und Nacht und der Kampf zwischen Licht und Dunkelheit (J Hell und dunkel) den Hauptgegenstand der Mythologie der Naturvölker (J Sonnenmythologie)3. Dieses Interpretationsraster wandte in Frankreich H. Husson auf Märchen an. Die verfolgten Heldinnen seien Morgenröten, manchmal den Blicken entzogen wie das mit Herdstaub bedeckte Aschenputtel (AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella), das zum Schluß die aufgehende Sonne in Gestalt eines jungen Prinzen heiratet4. G. J Paris unternahm einen vergleichbaren Versuch mit einer astralmythol. Deutung des Protagonisten von AaTh/ATU 700: J Däumling als Lenker des Sternbilds des Großen Bären5. 3 . R it ua li st is ch e The or ie n. A. J Lang, der sich auf E. B. J Tylors J Survivaltheorie stützte, war der Wegbereiter einer symbolistischen Interpretation von Märchen als Übergangsriten6. In Langs Augen sind Volkserzählungen, die er den Mythen sog. primitiver Völker zur Seite stellte, die Überreste von Glaubensvorstellungen und J Bräuchen einer verschwundenen Gesellschaftsordnung, bes. der Riten zur J Initiation der jungen Burschen und Mädchen (J Ritualistische Theorie).
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In Frankreich legte P. J Saintyves auf der Grundlage dieses Systems eine Unters. über die Märchen J Perraults und ihre Parallelen vor und interpretierte sie als symbolische Darstellungen der Jahreslaufbräuche (cf. J Jahreszeiten) und Initiationsriten der Alten7: z. B. seien die Gestalten von Cendrillon und Peau ˆ ne (AaTh/ATU 510 A⫺B: Cinderella) mit d’A der Karnevals- und Fastenzeit verbunden, die eine als Aschenkönigin, die andere als Königin des zuerst verborgenen und dann enthüllten neuen Jahres8. Saintyves‘ System entschlüsselt das Märchen und seine Figuren als symbolische Repräsentationen nicht mehr praktizierter Bräuche, die in erzählerischer Form noch immer präsent seien. V. Ja. J Propp ging in seiner Unters. über die hist. Wurzeln des Zaubermärchens9 von einer ähnlichen Hypothese aus: Danach sind Märchenmotive und die aus ihnen gestalteten Erzählungen die zu Symbolen kristallisierten Überreste vergangener gesellschaftlicher Ordnungen, vor allem von Riten und Bräuchen. Das Symbolsystem entstamme gewissermaßen der kollektiven Erinnerung (J Kollektivität, Kollektivbewußtsein). Die Umsetzung sei selten direkt wie beim Brauch des Begrabens der J Knochen der Jagdtiere, der sich in AaTh/ ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein im Vergraben der Überreste der auf Veranlassung der Stiefmutter getöteten Kuh wiederfindet. Meistens finde eine Veränderung, ja Entstellung statt. Der wichtigste Ritus, der im Märchen symbolhaft widergespiegelt werde, sei die Initiation, wie sie in den Stammesgesellschaften praktiziert worden sei. Spätere Erzählungen böten dafür symbolische Äquivalente: den Aufenthalt im geheimnisvollen Wald, die Jenseitsreise, die Begegnung mit übernatürlichen Gestalten, die zu lösenden Aufgaben. Die genannten Arbeiten von Lang bis Propp gehen von einer hist. Überlieferung der Repräsentationssysteme seit den frühesten Stadien der Menschheit aus ⫺ Lang zufolge von der Zeit der Wilden über die Barbarei bis hin zur Zivilisation, nach Propp seit der Zeit der Jäger und Sammler und der Stammesgesellschaften (J Jägerzeitliche Vorstellungen). Eine neuere Forschungsrichtung hält an der Initiationssymbolik als Dynamik erzeugendes Kriterium der Erzählung (speziell des Märchens) fest, nimmt jedoch nicht mehr an, daß es sich um
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Symbolik
Überreste einer vergangenen Gesellschaftsordnung handelt, sondern bezieht sich auf den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext der Gesellschaften, denen die Erzählungen entstammen. C. Calame-Griaule u. a. haben den initiatorischen Gehalt von afrik. Erzählungen im Sinne von A. van J Genneps Schema der Übergangsriten aufgezeigt: Man könne dieses Schema als Übers. eines Szenariums in die Symbolsprache der Märchen interpretieren, welchem der Heranwachsende in der Realität beim Erwerb von Wissen und Werten folgt, die aus ihm ein in die Gesellschaft der Erwachsenen integrierbares Wesen machen10. Y. Verdier deutete aufgrund ihrer Feldforschungen in einer traditionellen frz. Dorfgemeinschaft AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen als eine Erzählung über die Weitergabe der physischen Fortpflanzungsfähigkeit und über Konflikte, die entstehen, wenn Mädchen ins heiratsfähige Alter kommen und die Frauen der ältesten Generation aus dem Zyklus des weiblichen Lebens verdrängen11. 4 . P sy ch oa na ly ti sc he Th eo ri en. S. J Freud zufolge ist in Schöpfungen der populären Phantasie dieselbe S. wie in J Träumen zu finden (J Unbewußtes). In Die Traumdeutung (1900) erklärt er: „Diese Symbolik gehört nicht dem Traume zu eigen an, sondern dem unbewußten Vorstellen, speziell des Volkes, und ist im Folklore, in den Mythen, Sagen, Redensarten, in der Spruchweisheit und in den umlaufenden Witzen eines Volkes vollständiger als im Traume aufzufinden.“12 Er führte einige in Märchen vorkommende Gegenstände auf, die als Symbole interpretiert werden könnten. So entsprächen Dosen, Schachteln, Kästen, Schränke, Öfen dem weiblichen Körper. „Zimmer im Traume sind zumeist Frauenzimmer. […] Welcher Schlüssel das Zimmer aufsperrt, braucht dann nicht ausdrücklich gesagt zu werden.“13 Dies läßt auch an das Motiv vom verlorenen und wiedergefundenen J Schlüssel denken. In zwei Beiträgen widmete sich Freud einer Reihe von Volkserzählungen. Die zusammen mit E. Oppenheim verfaßte Abhdlg Träume im Folklore (1911)14 befaßt sich mit schwankhaften Geschichten, in denen (vorwiegend erotische oder skatologische) Träume erzählt werden. Aufgrund seiner Einzelinterpretationen
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kam Freud zu dem Schluß, daß die S., die in diesen Träumen am Werk sei, sich völlig mit der von den Psychoanalytikern anerkannten decke und daß das Volk viele dieser Träume genauso verstehe, wie die J Psychoanalyse sie interpretiere, nämlich nicht als Hinweise auf Künftiges, sondern als Wunscherfüllungen und Bedürfnisbefriedigungen, die während des Schlafs erfolgten. Der andere Beitrag, Märchenstoffe in Träumen (1913)15, zeigt, wie die Märchenfigur des Rumpelstilzchens (KHM 55, AaTh/ATU 500: J Name des Unholds) im Traum einer Patientin zur Darstellung ihres Schwiegervaters benutzt wird, um unbewußte sexuelle Phantasien und die Angst vor einer Schwangerschaft (eine Umkehrung, denn im Märchen will Rumpelstilzchen das Kind der Königin haben) auszudrücken16. Im 2. Teil des Beitrags stellt Freud kurz den Traum eines berühmten Patienten, des Wolfsmanns, vor, den er in Zusammenhang mit verschiedenen Märchen bringt, nämlich AaTh/ATU 333, vor allem aber AaTh/ ATU 123: J Wolf und Geißlein (cf. auch AaTh/ ATU 121: J Wolfsturm17). Freud bedient sich hier z. T. des ,Symbolschlüssels‘ (Holz als weibliches und mütterliches Symbol, Tisch und Bett als Darstellungen des ehelichen Lebens), seine symbolistische Interpretation bezieht jedoch den Kontext des Traums mit ein: „Wenn man in durchsichtigen Beispielen darauf achten wird, was der Träumer mit dem Märchen macht, und an welche Stelle er es setzt, so wird man dadurch vielleicht auch Winke für die noch ausstehende Deutung dieser Märchen selbst gewinnen.“18 Das Prinzip, das die Dechiffrierung der Symbole leitet, ist die Überzeugung, daß die Erzählungen wie die Träume einen manifesten und einen latenten Inhalt haben19. Die von Freud ausgehenden, bald aber mehr und mehr von ihm abweichenden Forschungen C. G. J Jungs befassen sich bevorzugt mit Märchen20 als dem idealen Material, an dem sich die vergleichende Anatomie der Psyche studieren lasse: „In Mythen oder Sagen oder bei jedem anderen komplizierteren mythologischen Material kommen wir an die Grundmuster der menschlichen Psyche durch viel Kulturmaterial hindurch heran. In Märchen gibt es hingegen viel weniger spezifisches bewußtes
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Symbolik
Kulturmaterial, und daher spiegeln sie die Grundmuster der Psyche klarer.“21 H. von J Beit wandte die Theorie und Methodologie Jungs in ihrem umfangreichen Werk zur S. des Märchens22, an dem auch M.-L. von J Franz Anteil hat, systematisch an. Auch von Franz setzte sich in ihren Werken mit der S. von Märchen auseinander: Heldenfiguren als Identifikationsangebote für Zuhörer und Leser symbolisierten die archetypische Basis des Ichkomplexes (J Tiefenpsychologie). Für sie stellt jedes Märchen „ein relativ geschlossenes System“ dar, „das eine einzige wesentliche psychologische Aussage enthält, die in einer Reihe symbolischer Bilder und Ereignisse ausgedrückt wird und in diesen entdeckt werden kann“23. Alle Märchen strebten somit danach, „ein und dieselbe psychische Tatsache zu beschreiben“, die aber „so komplex und […] in all ihren verschiedenen Aspekten so schwer zu erkennen ist, daß es Hunderte von Märchen und Tausende von Wiederholungen braucht, bis [sie] dem Bewußtsein vermittelt ist.“24. Dieser Umstand ist nach Jung das Selbst, das „zugleich die psychische Gesamtheit eines Individuums und […] das regulierende Zentrum des ganzen kollektiven Unbewußten“ repräsentiere25. Der von Jung definierte J Archetyp, der Vermittler zwischen Kollektiv und Individuum, ist gewissermaßen die Möglichkeit einer symbolistischen Darstellung, die das Märchen vollzieht und dessen S. sich auch in anderen Schöpfungen wiederfinden kann. So sei in KHM 63, AaTh/ATU 402: J Maus als Braut die Kröte eine Mutterfigur, bei der der Held „seine Anima bekommt, […] in der Psychologie eines Mannes eine Ableitung des Mutterbildes. Hier ist die Mutter-Erde-Göttin wirklich im Zentrum.“26 A. J Dundes sah in der Psychoanalyse eine Herausforderung für Erzählforscher, die versuchten, das unbewußte Wesen der Symbole und Projektionen zu erfassen27. So symbolisiere das Motiv des blutbefleckten Schlüssels oder Eies in AaTh/ATU 311: cf. J Mädchenmörder die Defloration28. B. J Holbek29 erweiterte Dundes’ Thesen einer ,psychoanalytischen Semiotik‘, die auf Dundes’ Konzept des Allomotivs (J Motivem) aufbaut30, wonach alle funktional äquivalenten Motive auch symbolisch äquivalent sind.
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Das beim großen Publikum bekannteste Werk, in dem die Psychoanalyse zur Märcheninterpretation angewandt wird, stammt von B. Bettelheim (1903⫺90)31. Erzählforscher machten ihm allerdings zum Vorwurf, er wisse nicht, daß Märchen sich ursprünglich nicht an Kinder, sondern an Erwachsene richteten und daß seine Quellen literar. Herkunft seien oder aus zweiter Hand stammten32. Bettelheims theoretischer Standort symbolistischer Interpretation stellt eine Synthese mit der initiatorischen Auffassung des Märchens dar. „Jedes Märchen ist ein Zauberspiegel, in dem sich gewisse Aspekte unserer inneren Welt und der Stufen spiegeln, die wir in unserer Entwicklung von der Unreife zur Reife zurücklegen müssen“, erklärte er zusammenfassend; so stelle z. B. aus der Sicht der Psychoanalyse die Hochzeit der Schönen mit dem Tier „die Humanisierung und Sozialisierung des Es durch das Über-Ich“ dar33. Die poetische Ausdrucksform in der Sprache des Märchens erlaube dem Kind eine altersgerechte Akzeptanz der Sexualität: Der Frosch in KHM 1, AaTh/ATU 440: J Froschkönig erscheine einem Kind zunächst tierisch ekelhaft, entpuppe sich aber, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen sei, als „der charmanteste Lebensgefährte“34. Neuere Arbeiten zum Märchen bedienen sich meist einer doppelten symbolistischen Interpretation: Einerseits wird die Erzählung insgesamt als Weg von der Kindheit ins Erwachsenenleben (inklusive des Erwerbs einer eigenen sexuellen Identität) gedeutet, andererseits werden alle Motive als Bilder aufgefaßt, die aufzuschlüsseln sind und in jedem Märchen eine spezifische bedeutungsvolle Szenerie erzeugen35. 1 Seils, M.: Symbol. In: Hist. Wb. der Philosophie 10. Basel 1998, 710⫺739. ⫺ 2 cf. Überblick bei Laiblin, W. (ed.): Märchen und Tiefenpsychologie. Darmstadt 21975; Röhrich, L.: Zur Deutung und BeDeutung von Folklore-Texten. In: Fabula 26 (1985) 3⫺28; Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Mü. 9 1992, 114; Honko, L.: Folkloristic Studies on Meaning. In: Arv 40 (1984) 35⫺56; Swahn, J.-Ö.: Commentary [zum Art. von Holbek, B.: Nordic Research in Popular Prose Narrative]. In: SF 27 (1983) 173⫺176, hier 176; Holbek, B.: The Many Abodes of Fata Morgana or The Quest for Meaning in Fairy Tales. In: Plenary Papers. The 8th Congress for the Internat. Soc. for Folk Narrative Research. Bergen 1984, 5⫺16; Bausinger, H.: Zu Sinn und Bedeutung
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Symbolum castitatis
der Märchen. In: Harder, H.-B./Hennig, D. (edd.): Jacob und Wilhelm Grimm zu Ehren. Marburg 1989, 13⫺33; Belmont, N.: Poe´tique du conte. Essai sur le conte de tradition orale. P. 1999. ⫺ 3 cf. bes. Müller, M.: Nouvelles Lec¸ons sur la science du langage 1. P. 1867, 271. ⫺ 4 Husson, H.: La Chaıˆne traditionnelle. Contes et le´gendes au point de vue mythique. P. 1874, 14 sq. ⫺ 5 Paris, G.: Le Petit Poucet et la Grande Ourse. P. 1875. ⫺ 6 Lang, A.: Custom and Myth. L. 1884. ⫺ 7 Saintyves, P.: Les Contes de Perrault et les re´cits paralle`les. P. 1923, 113 sq. ⫺ 8 ibid., 103⫺164, 165⫺208. ⫺ 9 Propp, V.: Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens. Mü./Wien 1987. ⫺ 10 Breteau, C./Calame-Griaule, G./Le Gue´rinel, N.: Pour une Lecture initiatique des contes populaires. In: Bulletin du Centre Thomas More 6,21 (1978) 11⫺29, hier 12; cf. auch Calame-Griaule, G.: Des Cauris au marche´. Essais sur les contes africains. P. 1987. ⫺ 11 Verdier, Y.: Le Petit Chaperon rouge dans la tradition orale. In: Cahiers de litte´rature orale 4 (1978) 17⫺55; Cardigos, I.: In and out of Enchantment. Blood Symbolism and Gender in Portuguese Fairytales (FFC 260). Hels. 1996. ⫺ 12 Freud, S.: Die Traumdeutung. In: id.: G. W. 2. ed. A. Freud u. a. Ffm. 41967, 356. ⫺ 13 ibid., 359. ⫺ 14 id./Oppenheim, D. E.: Dreams in Folklore. N. Y. 1958. ⫺ 15 Freud, S.: Märchenstoffe in Träumen. In: id.: G. W. 10. ed. A. Freud u. a. Ffm. 41967, 2⫺9. ⫺ 16 ibid., 2⫺5. ⫺ 17 EM 5, 273. ⫺ 18 Freud (wie not. 15) 5⫺9. ⫺ 19 cf. Ro´heim, G.: Fire in the Dragon and Other Psychoanalytic Essays on Folklore. ed. A. Dundes, Princeton 1992. ⫺ 20 Zu Sagen cf. u. a. Isler, G.: Zur psychol. Deutung von Volkserzählungen. In: Fabula 14 (1973) 141⫺155; id.: Der offene Himmel. Zur psychol. Bedeutung eines Sagen- und Erlebnismotivs. In: Petzoldt, L./Haid, O. (edd.): Beitr.e zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Volkserzählung. Ffm. u. a. 2005, 241⫺257. ⫺ 21 Zitiert von Franz, M.-L. von: Psychol. Märcheninterpretation. Mü. 1986, 20; cf. auch EM 7, 745 sq. ⫺ 22 Beit, H. von: Symbolik des Märchens 1⫺3. Bern 1952/56/57. ⫺ 23 von Franz (wie not. 21) 12. ⫺ 24 ibid. ⫺ 25 ibid. ⫺ 26 ibid., 66. ⫺ 27 Dundes, A.: Projection in Folklore. A Plea for Psychoanalytic Semiotics. In: id.: Interpreting Folklore. Bloom. 1980, 33⫺61; cf. auch id.: Parsing through Customs. Essays by a Freudian Folklorist. Madison 1987, 40. ⫺ 28 ibid., 117. ⫺ 29 Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1987, bes. 457⫺498. ⫺ 30 Dundes, A.: The Symbolic Equivalence of Allomotifs in the Rabbit-Herd (AT 570). In: Arv 36 (1980) 91⫺98. ⫺ 31 Bettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen. Mü. 15 1991, 363 sq. ⫺ 32 Wardetzky, K.: Märchen-Lesarten von Kindern. Eine empirische Studie. B. u. a. 1992, 30⫺34; Zipes, J.: Breaking the Magic Spell. Radical Theories of Fairy and Folk Tales. N. Y. 1979, 166. ⫺ 33 Bettelheim (wie not. 31) 363. ⫺ 34 ibid., 340 sq. ⫺ 35 cf. Holbek (wie not. 29) 434⫺ 448; Cahiers de litte´rature orale 25 (1989) und 46
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(1999) (Sondernummern zu AaTh/ATU 510 A⫺B und AaTh 505⫺508/ATU 505, 507); Taggart, J.: Enchanted Maidens. Gender Relations in Spanish Folktales of Courtship and Marriage. Princeton/ N. Y. 1990; Görög-Karady, V./Seydou, C. (edd.): La Fille difficile. Un conte-type africain. P. 2001.
Paris
Nicole Belmont
Symbolum castitatis, ein zwischen Mann und Frau in das J Bett gelegtes Requisit, meist ein blankes J Schwert (Mot. T 351) oder ein J Messer (bzw. Gesten mit analoger Bedeutung), das J Keuschheit bzw. J Treue symbolisieren soll. Die Frau ist meist die J Braut (Frau) des Freundes (Bruders) des Mannes, neben dem sie schläft. In der europ. Lit. des MA.s erscheint das Schwertmotiv bes. im höfischen Roman und im Heldenepos1. In J Amicus und Amelius (AaTh/ATU 516 C) spielt es eine zentrale Rolle: Als Amicus stellvertretend für Amelius dessen gerichtlichen Zweikampf bestreitet, nimmt Amelius den Platz seines Freundes ein (J Stellvertreter), wobei der Rollentausch aufgrund der täuschenden Ähnlichkeit beider unbemerkt bleibt (J Doppelgänger). Amelius legt zwischen sich und die Frau seines Freundes ein blankes Schwert und begründet dies mit einer ärztlichen Enthaltsamkeitsvorschrift. In J Konrads von Würzburg Engelhard (V. 5010⫺5024) ist das Motiv verdoppelt: Engelhard und sein Doppelgänger-Freund Dietrich legen jeweils ein Schwert zwischen sich und die Frau des anderen. In der nord. J Sigurd-Erzählung trennt ein blankes Schwert drei Nächte hindurch Sigurd von Brynhild, die er für seinen Freund Gunnar gewonnen hat. Als Symbol freiwilliger oder auch verordneter Enthaltsamkeit erscheint das trennende Schwert ferner auch im Wolfdietrich B (580⫺ 582)2, in Fassungen der altfrz. Chanson de geste J Beuve de Hampton3, im Legendenroman J Orendel 4 oder ⫺ in schwankhaftem Kontext ⫺ im Fabliau über den Stadtrichter von Aquileja5. Den Zusammenhang von Jungfräulichkeit (J Jungfrau, Jungfernschaft) bzw. Keuschheit und magischer Kraft spricht die Sage von Gormo bei J Saxo Grammaticus (9,3) an: Wenn die Braut Gormo in der J Hochzeitsnacht bittet, sie drei Nächte lang unberührt zu
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Symbolum castitatis
lassen, so will sie ihre Jungfräulichkeit so lange bewahren, bis ein Traumzeichen ihr die Fruchtbarkeit der Verbindung verheißt; Gormo interpretiert ihre Zurückhaltung als jungfräuliche Scham und legt sein blankes Schwert zwischen beide. In der Sturlaugssaga (Version A) scheidet ein Stock den Helden Sturlaugr von seiner Bettgenossin Vefreyja, der zauberkundigen Ziehmutter seiner Ehefrau Asa, deren Rat er einholen möchte. In ma. Bearb.en des J Tristan-Stoffes soll das trennende Schwert allerdings Keuschheit nur suggerieren6: König Marke entdeckt Tristan und Isolde nebeneinander liegend, aber durch das blanke Schwert voneinander getrennt, und ist von ihrer Unschuld überzeugt7. Gottfried von Straßburg interpretiert das Schwert eindeutig als von Tristan eingesetztes Trugmittel (Tristan und Isolde, 17403⫺17413), das bei zufälliger Entdeckung Keuschheit vortäuschen soll8. Als Machtsymbol läßt sich das Schwert in den Romanzen von Gerineldo/Gerinaldo (15. Jh.), span.-port. Bearb.en der Sage von J Eginhard und Emma, der Tochter J Karls d. Gr., verstehen: Hier legt der König sein Schwert zwischen das schlafende Paar9. In der prov. Vita des Troubadours Raimbaut de Vaqueiras (13. Jh.) ist es der Mantel von Raimbauts Gönner, den dieser zwischen den Troubadour und seine Schwester plaziert10. Ein Schwert als S. c. findet sich auch in verschiedenen europ. Balladen und Romanzen11. In Legenden kann die Waffe durch ein religiöses Symbol ersetzt werden: So legt der hl. Nikolaus von Trani ein Kreuz zwischen sich und eine als Mann verkleidete Frau, die ihn verführen will12. In jüngeren Volkserzählungen13 ist das S. c. fester Bestandteil des internat. verbreiteten Zaubermärchens AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder14; in der Fassung bei J Basile (1,9) wird das trennende Schwert explizit mit einem vorgeblichen Keuschheitsgelübde erklärt. Nicht immer geht es um die Verhinderung eines Ehebruchs: In einer jüd. Erzählung etwa trennt das Schwert Vetter und Base und versichert dem Vater des Mädchens dessen Unberührtheit15. Ein Reflex des eigentlichen S. c. erscheint in schwankhaften Erzählungen, in denen etwa das streitende Paar im Bett ein Kopfkissen zwischen sich legt (AaTh/ATU
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1351 A: „God Help You!“, AaTh/ATU 1443*: The Pillow Too High). Zur Herkunft des Motivs existieren verschiedene Theorien16: Das Schwert als S. c. ist eng mit alter Rechtssymbolik verbunden und als geübter Rechtsbrauch etwa bei Vermählungen per procurationem belegt (so 1477 bei der Vermählung Maximilians I. mit Maria von Burgund)17. Auch die Metallgegenständen zugesprochene apotropäische Wirkung (wie sie z. B. im Hochzeitsbrauchtum belegt ist)18, die eine von der Braut ausgehende bzw. für sie bestehende Gefahr bannen soll (cf. u. a. AaTh 505⫺508/ATU 505⫺507: J Dankbarer Toter; AaTh 507 C/ATU 505: J Giftmädchen; J Tobias), wurde als Erklärung in Betracht gezogen. 1 BP 1, 554 sq.; Hertz, W.: Tristan und Isolde von Gottfried von Straßburg. Essen/Stg. 1985, 549 sq.; Heller, B.: L’E´pe´e symbole et gardienne de chastete´. In: Romania 36 (1907) 36⫺43; 37 (1908) 152 sq.; Graber, G.: Das Schwert auf dem Brautlager. In: ARw. 35 (1938) 131⫺138, hier 131 sq.; Schoepperle, G.: Tristan and Isolt. A Study of the Sources of the Romance 1⫺2. Ffm./L. 1913, t. 1, 261⫺265, t. 2, 430⫺433, 459. ⫺ 2 Ortnit und die Wolfdietriche. ed. A. Amelung/O. Jänicke. B. 1871/73 (Nachdr. 1968), 580. ⫺ 3 Stimming, A.: Der festländische Bueve de Hantone. Fassung 1. Dresden 1911, XLIX, 347 (V. 9658⫺9663); ibid., Fassung 3. t. 1⫺2. Dresden 1914/ 20, hier t. 1, 444 sq. (V. 11142⫺11157); t. 2, 279, 440; in den insularen Fassungen fehlt das Motiv. ⫺ 4 Orendel. ed. H. Steinger. Tübingen 1935, V. 1833⫺ 1866. ⫺ 5 Köhler/Bolte 2, 442⫺444. ⫺ 6 Hertz (wie not. 1) 549 sq.; Schoepperle (wie not. 1) t. 1, 261⫺265; t. 2, 430⫺433; cf. Marx, J.: Observations sur un e´pisode de la le´gende de Tristan. In: Festschr. C. Brunel 2. P. 1955, 265⫺273; zur Bildtradition cf. Loomis, R. S. und L. H.: Arthurian Legend in Medieval Art. N. Y. 1938 (Nachdr. 1975), Abb. 365; cf. Falkenberg, B.: Die Bilder der Münchner Tristan-Hs. Ffm. 1986, 97 sq.; Lerchner, K.: Lectulus floridus. Zur Bedeutung des Bettes in Lit. und Hss.ill. des MA.s. Köln u. a. 1993, 487 sq. ⫺ 7 cf. Guerreau-Jalabert T 351; Be´roul: Le Roman de Tristan. ed. E. Muret. Neuausg. L. M. Defourques. P. 41947, V. 1801⫺2086; La Folie Tristan de Berne. ed. E. Hoepffner. P. 1934, V. 150⫺329; La Folie Tristan d’Oxford. ed. id. P. 1938, V. 877⫺894; Eilhart von Oberge: Tristrant. ed. D. Buschinger. Göppingen 1976, V. 4581⫺4701; Tristan als Mönch. ed. B. C. Bushey. Göppingen 1974, V. 1626⫺1681. ⫺ 8 Schoepperle (wie not. 1) t. 2, 430; Tekinay, A.: Materialien zum vergleichenden Studium von Erzählmotiven in der dt. Dichtung des MA.s und den Lit.en des Orients. Ffm. u a. 1980, 98 sq. ⫺ 9 Schoepperle (wie not. 1) t. 1, 263. ⫺ 10 ibid., 264 sq.; Boutie`re, J./Schutz, A. H.: Biogr.s
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Symmetrie
des troubadours. Textes provenc¸aux des XIIIe et XIVe sie`cles. P. 21973, 462⫺464. ⫺ 11 Child 2, num. 66; Erk/Böhme 1, num. 178. ⫺ 12 Günter, H.: Die christl. Legende des Abendlandes. Heidelberg 1910, 21. ⫺ 13 Heller (wie not. 1); id.: Kard a ha´lo´ta´rsak közt (Schwert zwischen Bettgenossen). In: Ethnographia 16 (1905) 257⫺268; 17 (1906) 214⫺218. ⫺ 14 Ranke, K.: Die zwei Brüder (FFC 114). Hels. 1934, 287 sq.; cf. Gehrts, H.: Das Märchen und das Opfer. Unters.en zum europ. Brüdermärchen. Bonn 1967, 46 (sieht das Schwert als „hochzeitliches Symbol par excellence“); ablehnend Gobrecht, B.: Zweibrüdermärchen. In: Festschr. W. Scherf. Potsdam 2002, 227⫺241, bes. 237. ⫺ 15 Bin Gorion, M. J.: Der Born Judas 1. Ffm. 1959, num. 162; Heller (wie not. 1) 46; cf. id.: L’E´pe´e gardienne de chastete´ dans la litte´rature juive. In: Revue des e´tudes juives 52 (1906) 169⫺175. ⫺ 16 Heller (wie not. 1) 47⫺49. ⫺ 17 Grimm, Rechtsalterthümer 1, 228⫺235; Hüpper, D.: Schwert. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 4. B. 1990, 1570⫺1574. ⫺ 18 Graber (wie not. 1) 133; cf. auch Liebrecht, F.: Des Gervasius von Tilbury Otia imperialia. Hannover 1856, 101.
Wien
Karin Lichtblau
Symmetrie ist ein ästhetisch bedeutsames Gestaltungsprinzip, das in allen Künsten zum einen auf Ebenmaß und Ausgewogenheit von Einzelteilen zueinander und zum Ganzen zielt, zum anderen spezieller den gleichen oder analogen Aufbau von Text-, Bild- oder Melodiebestandteilen in einem Werkzusammenhang meint. S. begegnet auch im Lebensvollzug, wenn etwa bei einer sog. spiegelnden Strafe (J Talion) Gleiches mit Gleichem vergolten wird. In Erzählungen begegnen sowohl sprachlich-formale als auch konzeptionell-inhaltliche sowie beim mündl. Vortrag zudem stimmliche und mimisch-gestische Wiederholungen (J Stimme, J Stil). S. verlangt Gleichheit, zumindest Ähnlichkeit der Elemente, und kann sich sowohl auf Figuren (Aussehen, Wesen, Schicksal) als auch auf Handlungsmotive und -abläufe oder auf stilistische Mittel (J Formelhaftigkeit, Formeltheorie; J Struktur) beziehen. Gelegentlich wird bereits eine bloße Reihung gleicher Geschehnisse als S. bezeichnet1, doch sollte man von S. im strengeren Sinne nur sprechen, wenn solche sich wiederholenden Elemente als zwei Glieder einer Einheit auftreten (AaTh 303: Die zwei J Brüder) und
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entweder antithetisch oder spiegelbildlich als ,Negativ‘ (J Dichotomie, J Polarität, J Spiegelmärchen) um eine als Achse gedachte Mitte angeordnet sind (AaTh/ATU 613: Die beiden J Wanderer)2. Unter den Bearb.sprinzipien der KHM durch die Brüder J Grimm ist u. a. die Betonung von S. festgestellt worden3. Außer von M. J Lüthi, der S. als bes. häufige Form der künstlerischen Wiederholung charakterisiert (cf. J Ästhetik im Märchen)4 und sie hinsichtlich des Motivs vollkommener Gleichheit der Geschwister ⫺ im Gegensatz zur Sage ⫺ dem Märchen vorbehalten sieht5, wird der Begriff von Erzählforschern relativ wenig verwendet6; unter den J Zahlen bezeichnet Lüthi zwei und vier als symmetrieund gleichgewichtsträchtige Zahlen7. P. Wenzel hat die Bedeutung der „Triadik von Symmetrie, Asymmetrie und Integration“ für den zweiphasig strukturierten Pointeneffekt (J Pointe, Pointierung), speziell im J Witz, aufgezeigt8. So wirkt z. B. der pointierte Parallelismus Traduttore/Traditore mittels eines durch teilweise Wiederholung erzeugten ,Gegeneinanders‘ von Gleichung und Ungleichung und enthält (1) markante formale S. (Trad ⫺ tore) sowie (2) schwache formale und starke semantische Asymmetrie und legt (3) in einem Akt der Integration nahe, daß zu der symmetrischen Witzform auch eine inhaltliche Analogie bestehen muß9. Nicht um reine Spiegelsymmetrie, sondern auch um einen mit dieser S. verbundenen Bedeutungswechsel geht es im folgenden Beispiel: „Der Unterschied zwischen ordentlichen und außerordentlichen Professoren besteht darin, daß die ordentlichen nichts Außerordentliches und die außerordentlichen nichts Ordentliches leisten.“10 1 Eberhard/Boratav, 11; Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. ed. O. Mensing. Schleswig 1921, 14. ⫺ 2 cf. Kambartel, W.: S. In: Hist. Wb. der Philosophie 10. Basel 1998, 745⫺748. ⫺ 3 KHM/ Uther 3, 234 (Nachwort). ⫺ 4 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Göttingen 21990, 92. ⫺ 5 EM 2, 853. ⫺ 6 cf. Chrolenko, A. T.: Sistemnost’ jazyka fol’klora i rol’ principia simmetrii (Die Systemhaftigkeit der Folkloresprache und die Rolle der principia simmetrii). In: Ocˇerki po stilistike russkogo jazyka 1. Kursk 1974, 24⫺41. ⫺ 7 Lüthi (wie not. 4) 58. ⫺ 8 Wenzel, P.: Von der Struktur des Witzes zum Witz der Struktur. Heidelberg 1989; cf. auch Luomala, K.: Numskull Clans and Tales. Their Structure and
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Sympathiezauber
Function in Oceanic Asymmetrical Joking Relationships. In: JAFL 79 (1966) 157⫺194. ⫺ 9 Wenzel (wie not. 8) 47. ⫺ 10 ibid., 57; cf. Freud, S.: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. (Wien 1905) Ffm. 1958 (u. ö.), 31.
München
Helge Gerndt
Sympathiezauber, Begriff aus der Zaubertheorie zur Bezeichnung von operativer J Magie (J Magisches Weltbild), die ihre Wirkung durch Ausführung einer formal ähnlich strukturierten Handlung hervorrufen soll1. Die zugrundeliegenden Vorstellungen entwickelten sich aus dem Glauben an wechselseitige sympathetische Beeinflussungen (J Similia similibus). Der Sympathieglaube ist ein in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten verbreitetes Erklärungsmodell für den Kosmos und das nicht sichtbare Jenseits, das sich in der intellegiblen Welt abbilde und dadurch für den Menschen begreifbar werde. Im abendländ. Denken geht er auf die neuplatonische Philosophie und Kosmologie zurück. S. und Sympathiedenken begegnen auch in außereurop. Kulturen2. Bereits in der Antike wurden koinzidierende Gefühle und Zustände unter den Menschen erkannt, so z. B. die ansteckende Wirkung des Gähnens (Aristoteles, Problema physica, 488⫺ 491). Dem folgt die Überzeugung, daß die physisch realen Dinge der irdischen Welt wie grundsätzlich die Beziehungen zwischen Makro- und Mikrokosmos in Verhältnissen der Ähnlichkeit aufeinander einwirken können (cf. u. a. Plinius, Naturalis historia 37,59): Ähnliches zieht sich an (Sympathie, concordia), Gegensätzliches stößt sich ab (Antipathie, discordia). Auf dieser Überzeugung bauen nicht nur die Wahrnehmungstheorie des Florentiner Neuplatonismus (Marsiglio Ficino, Giovanni Pico della Mirandola) und die Magietheorie auf, um Körper- und Naturlehren, die Wirksamkeit von Ritualen des J Abwehrzaubers oder Heilpraktiken (J Heilen, Heiler, Heilmittel) zu erklären, sondern auch die Musiktheorie des Jesuiten A. J Kircher3. Auf dem Prinzip der angenommenen sympathetischen Beziehungen zwischen stofflichen Wesenheiten und magisch zu beeinflussenden Personen beruht eine Reihe magischer Praktiken, wie etwa im Voodoo-Kult: Was mit J
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Speichel4 oder menschlichen Ausscheidungen wie J Urin5 und J Exkrementen6, mit J Haaren7 oder Finger- und Fußnägeln8 geschieht, trifft auch die zu schädigende Person. Zum S. zählt im weiteren Umfeld auch der Zauber mit Bildern (J Bild, Bildzauber)9. Sympathetisches Denken spielt u. a. in der Mantik und bes. in der Schadens-, Wetter-, Heil- und Abwehrmagie (J Schadenzauber)10 sowie im J Amulettwesen11 eine wichtige Rolle. Als ,Aberglaube‘ beeinflußt es bis heute das Wertesystem der Gesellschaft: Man solle nie jemanden verfluchen, jemandem etwas Böses, eine Krankheit oder gar den Tod wünschen, da dies auf einen selbst zurückfalle. Die sich aus der Vorstellung, daß der Mikrokosmos den Makrokosmos des Universums abbildet, ergebenden sympathetischen Beziehungen schaffen ein komplexes System von Zuweisungen und Wirksamkeiten. Aus diesen leiten sich zum einen die Prinzipien des J Pars pro toto, der Similia similibus, des Gegensatzes (contraria contrariis) und der kontagiösen Magie (Berührungszauber) ab12; zum anderen ergibt sich aus dem Sympathieglauben die Überzeugung von der astrologischen Determiniertheit, die im MA. aufgrund der Annahme, Körperteile und -organe stünden in Bezug zu Gestirnen und Tierkreiszeichen, in der Diagnose und Therapie von Krankheiten ihren Ausdruck fand. J Paracelsus etwa war von der ,Unterordnung des Niedrigen durch das Höhere‘ überzeugt und baute darauf das System seiner alchemistischen Medizin auf: Da der menschliche Körper mit Planeten oder Himmelszeichen korrespondiere, könnten die unter demselben Stern stehenden Stoffe als spezifisch wirksame Heilmittel eingesetzt werden; Gold wie auch das Herz waren der Sonne untergeordnet, daher wurde Gold als Medizin gegen Herzleiden angewandt13. Der S. bot in der hist. Gesellschaft eine Erklärung für das Zustandekommen ansonsten nicht erklärbarer Phänomene, bes. dann, wenn diese plötzlich und ohne erkennbare Ursache eintraten, etwa J Tod, J Krankheit, Wetterund Naturkatastrophen, J Unfruchtbarkeit oder J Impotenz. Ber.e über den S. finden sich in Gerichtsakten über die Befragungen in Hexereiprozessen (J Hexe) ebenso wie im J Malleus maleficarum (1487), in Johannes Hartliebs Puoch aller verpoten kunst, ungelaubens
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Sympathiezauber
und der zaubrey (1455⫺56)14, in der gelehrten lat. und volkssprachlichen Traktatliteratur15 oder als Beispielmaterie in theol., homiletischen, katechetischen16 und juristischen Werken (Martin J Delrio) bis hin zur vielfältigen Zauber- und Beschwörungsliteratur des 18.⫺ 20. Jh.s, etwa dem 6. und 7. Buch Mosis17 oder dem Romanusbüchlein18. Die narrative Gestaltung der Ber.e hängt vom jeweiligen Gebrauchs- und Überlieferungszusammenhang ab. Dies trifft bes. auf Mythen, (Zauber-)Märchen, Sagen oder Schwänke zu, in denen sich Vorstellungen über den S. niederschlugen. Reflexe von S. finden sich auch in sprichwörtlichen Redensarten (,den Teufel mit dem Beelzebub austreiben‘)19. Der Bedeutung entsprechend, die der Glaube an J Teufel, Hexen und Zauberer im alltäglichen Denken der Gelehrten wie der Ungebildeten im MA. und in der frühen Neuzeit besaß und teilweise bis heute besitzt, nehmen Ber.e und Erzählungen über Zauberpraktiken generell und über S. speziell breiten Raum ein (Mot. D 1782). Sie beziehen sich gleichermaßen auf verbotene dämonische (,schwarze‘) und erlaubte natürliche (,weiße‘) Magie: ein Schlangenbeschwörer sei von einer riesigen Schlange getötet worden, nachdem er viele kleine Schlangen in eine Grube gebannt hatte20; Hexen bewirkten Schadenzauber, indem sie die Glieder ihrer Opfer nachbildeten21; die männliche Potenz vernichteten sie durch das Versenken von Töpfen im Brunnen22; ein Zauberer habe einer Lilie, die er aus einem Tisch wachsen ließ, die Blüte abgeschlagen; nach einer Stunde fand man in einem Stall einen geköpften Mann23. Als narrative Argumente konnten derlei Ber.e etwa als Aufforderung an den Landesherrn dienen, Hexen und Zauberer systematisch zu verfolgen, oder als warnende Aufforderung an das Kirchenvolk, den Nachstellungen Satans nicht zu erliegen. Vor allem im ZA. von Hexenwahn und Hexenprozessen vermittelten die Prediger durch das Erzählen auf der Kanzel Zauberwissen an die Zuhörer; ihre detaillierten Schilderungen magischer Praktiken nehmen sich wie Zauberanleitungen aus. So beschrieb J Abraham a Sancta Clara den Milchzauber einer Hexe als Mischung aus S. und bildzauberischer Handlung: Wenn eine Hexe die J Milch fremder Kühe zu stehlen beabsichtige, dann begebe sie
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sich mit einem Scheffel in einen finsteren Winkel und stecke ein Messer in die Wand. Aus dem Loch rinne dann Milch; diese aber stehle Satan selbst bei den Kühen24. Ein analoger Zwang liegt in einer zuerst von J Caesarius von Heisterbach (Dialogus miraculorum 7,45) überlieferten Legende vor: Als ein Wolf ein Kind raubt, nimmt dessen Mutter einer Marienfigur das Jesuskind aus dem Arm und gelobt, es erst dann wieder zurückzubringen, wenn sie ihr eigenes Kind wohlbehalten zurückerhalten habe25. Das Märchen bringt den Sympathieglauben auf eine einfache Form: Da alles miteinander in Verbindung steht (J Allverbundenheit), kann auch der Teil, der am Ganzen teilhat (J Partizipation), das Ganze bewirken. Diese Teilhabe läßt etwa Körperteile und -flüssigkeiten (bes. das J Blut) zu machthaltigen Objekten werden, die Einfluß auf jene Person (jenes Wesen) besitzen, von der sie stammen. So vermag der Besitz eines Haares, einer Fischschuppe oder einer Vogelfeder das gesuchte Wesen zurückzuholen (Mot. B 501). Auch die Verwandlung kleiner Gegenstände in schier unüberwindliche Hindernisse bei der J Magischen Flucht (AaTh 313 sqq.) ist vor diesem Hintergrund zu sehen. 1 Harmening, D.: Wb. des Aberglaubens. Stg. 2005, 403. ⫺ 2 cf. Pettinen, A.: Gebete und Zaubersprüche der Aandonga. In: Zs. für Eingeborenensprachen 15 (1924⫺25) 161⫺179, hier 178 sq.; Dammann, E.: Die Religionen Afrikas. Stg. 1963, 130. ⫺ 3 cf. Daxelmüller, C.: Magie des Wissens. Athanasius Kircher 1602⫺1680. Dettelbach 2002 (mit Lit.); Scharlau, U.: Athanasius Kircher und die Musik um 1650. In: Fletcher, J. E. (ed.): Athanasius Kircher und seine Beziehungen zum gelehrten Europa seiner Zeit. Wiesbaden 1988, 53⫺67. ⫺ 4 Harmening (wie not. 1) 394. ⫺ 5 ibid., 194 sq. ⫺ 6 ibid., 263 sq. ⫺ 7 ibid., 189. ⫺ 8 ibid., 153 sq. ⫺ 9 Brückner, W.: Überlegungen zur Magietheorie. In: Petzoldt, L. (ed.): Magie und Religion. Darmstadt 1978, 404⫺419; cf. Daxelmüller, C./Thomsen, M.-L.: Bildzauber im alten Mesopotamien. In: Anthropos 77 (1982) 27⫺64; Thomsen, M.-L.: Zauberdiagnose und Schwarze Magie in Mesopotamien. Kop. 1987. ⫺ 10 Daxelmüller, C.: Zauberpraktiken. Die Ideengeschichte der Magie. Düsseldorf 2005. ⫺ 11 Kriss-Rettenbeck, L./Hansmann, L.: Amulett und Talisman. Mü. 21977 (Nachdr. Hbg 1999). ⫺ 12 Petzoldt (wie not. 9) VIII sq. ⫺ 13 cf. Priesner, C./Figala, K. (edd.): Alchemie. Mü. 1998. ⫺ 14 Hartlieb, J.: Das Buch aller verbotenen Künste, des Aberglaubens und der Zauberei. ed. F. Eisermann/E. Graf.
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Symplegaden
Ahlerstedt 1989. ⫺ 15 Daxelmüller, C.: Bibliogr. barocker Diss.en zu Aberglaube und Brauch. In: Jb. für Vk. N. F. 3 (1980) 194⫺238, 4 (1981) 225⫺243, 5 (1982) 213⫺224, 6 (1983) 230⫺244, 7 (1984) 195⫺ 240; cf. auch id.: Disputationes curiosae. Zum „volkskundlichen“ Polyhistorismus an den Univ.en des 17. und 18. Jh.s. Würzburg 1979. ⫺ 16 cf. Brunold-Bigler, U.: Teufelsmacht und Hexenwerk. Lehrmeinungen und Exempel in der „Magiologia“ des Bartholomäus Anhorn (1616⫺1700). Chur 2003. ⫺ 17 6., 7. Buch Moses. Sein wahrer Wert und was das Volk darin sucht [Dresden 1930]. ed. W. Bauer. B. 1996. ⫺ 18 Spamer, A.: Romanusbüchlein. ed. J. Nikkel. B. 1958. ⫺ 19 Röhrich, Redensarten 3, 1608 sq. ⫺ 20 Brückner, 456, num. 272. ⫺ 21 ibid., 475, num. 461. ⫺ 22 ibid., 489, num. 582 (b). ⫺ 23 ibid., 491, num. 596. ⫺ 24 cf. Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Stg. 1991, 214 sq. ⫺ 25 cf. Brückner, W.: Gnadenbild und Legende. Kultwandel in Dimbach. Würzburg 1978.
Würzburg
Christoph Daxelmüller
Symplegaden (Klappfelsen; griech. symple¯gades: die Zusammenschlagenden), altes und weitverbreitetes Erzählmotiv einer mit Hindernissen verbundenen Passage, die meist den Übergang in eine andere Welt, ein christianisiertes oder paganes J Jenseits markiert. Charakteristisch für das S.-Motiv ist „der schnelle Wechsel des Öffnens und Schließens, das die Benutzung eines bestimmten Zeitpunktes für die Durchfahrt verlangt, so wie das Abgequetschtwerden eines Schiffsendes oder Körperteiles“ (cf. J Kleiner Fehler, kleiner Verlust; J Fersenklemmen)1. Die S. der griech. Mythologie sind ein bewegliches Felsenpaar am Eingang des Schwarzen Meers, das eine tödliche Gefahr für hindurchfahrende J Schiffe bedeutet (cf. J Seemannsgarn)2. Die ersten, denen es gelingt, sie zu passieren, sind die J Argonauten (Apollonios Rhodios, Argonautika 2,317⫺344, 549⫺ 606): An Bord der Argo gelangt J Jason mit seinen Gefährten zu den bei Apollonios Kyaneai (von kyaneas: dunkelblau, schwarzblau)3 genannten S. Sie müssen passiert werden, um zu König Aietes zu gelangen, der das Goldene Vlies besitzt. Einem Orakel zufolge sollen die Argonauten bei der Durchfahrt eine J Taube vorausschicken. Gelinge ihr der Durchflug, könnten sie ihr gefahrlos folgen. Die Felsen klemmen der Taube allerdings die Enden der Schwanzfeder ab, und auch das Heck der Argo wird beschädigt, doch können Vogel wie Schiff die S. an-
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sonsten unversehrt passieren. Seit dieser ersten Durchquerung stehen die S. unbeweglich nebeneinander.
Spätere Autoren verwechselten die S. der Argonauten oft mit den der Odyssee zufolge westl. von J Skylla und Charybdis liegenden, u. a. in der Nähe der Lipar. Inseln lokalisierten Planktai (Irrfelsen; von griech. planktos: umherirrend, unstet)4, welche die Argo auf ihrer Rückfahrt passierte (Argonautika 4,924⫺965). Diesen überhängenden, stark umbrandeten und in Rauch und Feuer gehüllten Felsen fiel regelmäßig eine der Tauben zum Opfer, die dem Göttervater J Zeus Ambrosia brachten (Odyssee 12,59⫺72). Im Zaubermärchen erscheint das S.-Motiv (Mot. D 1553) vor allem in der südosteurop. Überlieferung, und zwar in Zusammenhang mit der Beschaffung des J Lebenswassers oder eines anderen Heilmittels5. In griech. Fassungen von AaTh 513 C: J Sohn des Jägers6, aber auch in anderen Märchen7 wird es von einem Vogel geholt, der die aneinanderschlagenden Felsen durchquert. Die Helferrolle übernimmt in griech. Var.n von AaTh/ ATU 590: Die treulose J Mutter ein wunderbares Pferd, auf dessen Rücken der junge Mann die Klappfelsen durchquert, seinen Krug füllt und unbeschadet zurückkehrt; dem Pferd aber wird z. T. der Schweif abgeklemmt8. Die aufeinanderprallenden Berge des Märchens befinden sich gewöhnlich nicht an einem Gewässer; eine Ausnahme scheint eine bosn. Version von AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne zu bilden, in der zwei Berggipfel über einem Fluß zusammenschlagen9. In griech. Var.n von AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter10 überwindet der Held die Klappfelsen (und das Feuer11) auf einem geflügelten Pferd (cf. J Pegasus). Das S.-Motiv begegnet jedoch nicht nur in Form aufeinanderprallender Felsen. Auch Berge oder Höhlen, die sich zu bestimmten Zeiten oder auf ein bestimmtes Signal hin öffnen und wieder schließen (cf. AaTh 676 ⫹ 954/ATU 954: J Ali Baba und die vierzig Räuber), wurden als S. bezeichnet12. In frz., span. und lateinamerik. Var.n von AaTh/ATU 471: J Brücke zur anderen Welt kommt der Held in ein seltsames Reich, in dem er Befremdliches sieht oder erlebt. U. a. muß er zwischen zwei Steinen, Felsen oder Bergen, die aneinanderschlagen, aber auch
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Syntagmatische Achse
zwischen zwei Feuern oder kämpfenden Tieren hindurchkommen13. In Asien erscheint die Durchquerung zweier zusammenschlagender Felsen (auch in Verbindung mit dem Einklemmen des Pferdeschwanzes) im mongol. Epos von J Geser Khan und in schamanischen Unterweltsreisen14. Verschiedene Formen des S.-Motivs sind über den gesamten amerik. Kontinent hinweg bei indigenen Völkern verbreitet: Felsen und Höhlen, die sich alternierend öffnen und schließen; der Himmel, der sich der Erde nähert und wieder von ihr entfernt; Flügeltüren, die den Übergang zwischen zwei Welten abwechselnd zulassen und verweigern15. Ein typisches Beispiel stammt von den Tillamook: Sechs Indianer kommen an eine Tür, die sich ständig blitzschnell öffnet und schließt. Einem gelingt es, das Hindernis zu überspringen. Auf der anderen Seite raubt er zwei blinden Frauen ihr Walfleisch und wirft es durch die Flügeltür. Ein Stück bleibt jedoch zwischen den Flügeln eingeklemmt, und dem Mann selbst wird beim Passieren der Tür sein halber Hintern abgetrennt16.
Dem Helden gelingt es, die Sperre zu überwinden, da zwei Flügel weniger unbezwingbar sind als einer, der sich nicht mit einem anderen ,schlägt‘, sondern geschlossen bleibt17. In diesen Mythen bezeichnet das S.-Motiv die Opposition zwischen Lebenden und Toten und den Versuch, den Helden an der Rückkehr aus dem Totenreich zu hindern. 1
Ehrenreich, P.: Die allg. Mythologie und ihre ethnol. Grundlagen. Lpz. 1910, 205; cf. ferner Spieß, K.: Ferse, Abschlagen der. 2 a: Die Klappfelsen. 2 b: Die abgeschossene Feder. In: HDM 2 (1934⫺40) 93⫺96, hier 93⫺95; Frobenius, L.: Das ZA. des Sonnengottes 1. B. 1904, 405⫺407. ⫺ 2 Türk [G.]: Symplegades. In: Pauly/Wissowa 2,7 (1931) 1170 sq.; Dräger, P.: Symplegades. In: DNP 11 (2001) 1137. ⫺ 3 Ruge, W.]: Kyaneai. In: Pauly/Wissowa 1,11,2 (1922) 2235 sq., hier 2236; Zimmermann, M.: Kyaneai. In: DNP 6 (1999) 948. ⫺ 4 Gisinger, F.: Planktai. In: Pauly/Wissowa 1,20,2 (1950) 2187⫺2199; Dräger, P.: Planktai. In: DNP 9 (2000) 1079. ⫺ 5 Klinger, W.: Z motywo´w we˛drownych pochodzenia klasycznego (Von Wandermotiven klassischer Herkunft) 3. Posen 1935, 14⫺37, frz. Resümee 41⫺44, hier 43 sq. ⫺ 6 Angelopoulou/Kaplanoglou/Katrinaki 513 A (26 Var.n, klassifiziert als Typ 513 A ⫹ 531). ⫺ 7 Leskien, A.: Balkanmärchen. MdW 1915, num. 59 (AaTh/ATU 552 ⫹ 304 ⫹ 302; alban.). ⫺ 8 Angelopoulou/Kaplanoglou/Katrinaki 590 (Var. 4, 8, 11, 13, 14, 21, 34, 35 [⫽ Hüllen, G.: Märchen der europ. Völker 6. Münster 1965, 84⫺90], 41, 45⫺47, 49, 52,
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55, 56, 60, 71, 74, 77, 79, 87, 90, 92, 93, 101, 103); Jb. für rom. und engl. Lit. 11,4 (1870) 379⫺386; Klaar, M.: Die Pantöffelchen der Nereide. Kassel 1987, 39⫺48. ⫺ 9 Preindlsberger-Mrazovic´, M.: Bosn. Volksmärchen. Innsbruck 1905, 100⫺116. ⫺ 10 Angelopoulou/Kaplanoglou/Katrinaki 550 (Var. 4, 16, 29, cf. 44). ⫺ 11 ibid., Var. 4; cf. das Feuer der Planktai (Odyssee 12,68). ⫺ 12 cf. Hahn, num. 37, 69, 5 (Var.), 65 (Var. 2); Köhler/Bolte 1, 572; Laistner, L.: Das Rätsel der Sphinx 1. B. 1889, 263. ⫺ 13 Arnaudin, F.: Contes populaires de la Grande-Lande. Nachdr. Bordeaux [1966], num. 9; Delarue/Tene`ze 471 (Var. 2, 3, 12, 18, 19, 23); Camarena Laucirica, J.: Cuentos tradicionales recopilados en la provincia de Ciudad Real. Ciudad Real 1984, num. 93; Espinosa, J. M.: Spanish Folk-tales from New Mexico. N. Y. 1937, num. 39; Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y Nuevo Me´jico 2. Stanford [1957], num. 208, 209; Pino Saavedra 1, num. 51. ⫺ 14 Heissig, W.: Geser-Studien. Opladen 1983, 307⫺309; Lorimer, D. L. R.: The Burushaski Language 2. Oslo u. a. 1935, 100⫺179, hier 157. ⫺ 15 Thompson, S.: Tales of the North American Indians. Nachdr. Bloom./L. 1966, 275, num. 15; Ehrenreich (wie not. 1) 204⫺207; Le´vi-Strauss, C.: Mythologiques 4. P. 1971, Reg. s. v. Symple´gades; cf. im europ. Märchen Gonzenbach, num. 64. ⫺ 16 JAFL 11 (1898) 30. ⫺ 17 Le´vi-Strauss (wie not. 15) 358.
Paris
Anna Angelopoulos
Syntagmatische Achse (griech. syntagma: Zusammengesetztes, Verkettung von Einzelelementen). Der Begriff bezeichnet im J Strukturalismus das lineare System bzw. die J Struktur von J Texten, während die paradigmatische Achse (griech. paradigma: Beispiel, Muster) angibt, welche Elemente (cf. J Episode, J Motiv, J Motivem) für die Generierung eines Textes zur Auswahl stehen: Z. B. sind Geburt, erste Heldentaten, Kampf mit dem Gegner oder Hochzeit syntagmatische Einheiten des Textes, der Held selbst, seine Zauberwaffen, seine Gegner oder die Wiederbelebung getöteter Personen paradigmatische Einheiten. Die s. A. bezieht sich auf den ganzen Text; ihre Einheiten sind Handlungsblöcke und nicht die Motive. Die Einheiten der paradigmatischen Achse sind eher Stoffe, Themen und Situationen. Aber solche Stoffe wie z. B. die mit Feen, Gott, Unholden, Verwandlungen etc. verbundenen Handlungen sind oft in Form von Motiven im allg. realisiert. Die Begriffe s. A. bzw. paradigmatische Achse wurden im 20. Jh. in der strukturalisti-
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Syntagmatische Achse
schen Sprachwissenschaft (F. de Saussure1, L. Hjelmslev2 etc.) entwickelt (J Morphologie des Erzählguts) und von C. J Le´vi-Strauss3 für die strukturale Anthropologie sowie von R. Barthes4 für das Modell der Kultursemiotik in erw. Form übernommen5. Bes. A. J. J Greimas und die frz. Vertreter der Semiotik haben darauf hingewiesen, daß Termini wie Plot, Handlungsschema (J Schema) und J Funktion (der Handlungsträger; V. Ja. J Propp) der Dichotomie zwischen Paradigmatik und Syntagmatik entsprechen. Propp selbst hatte diese als ,eiserne Kompositionsgesetze‘ charakterisiert: „Es wechseln die Namen und die entsprechenden Attribute der handelnden Personen; konstant bleiben ihre Handlungen bzw. Funktionen.“6 Damit hat Propp auch auf die Dialektik von J Stabilität und J Variabilität der Texte hingewiesen. Diese Sichtweise wurde später in der russ. strukturalistischen Lit.theorie (u. a. Ju. M. Lotman7, B. A. Uspenskij8, J. M. J Meletinskij9) weiterentwickelt. In der modernen Erzähltheorie basieren nicht alle Forschungsrichtungen auf der Dichotomie von Syntagmatik und Paradigmatik. So werden z. B. die Aktanten, d. h. die ,primären narrativen Rollen‘ (C. Bremond)10, oder die Fokalisation des Erzählers (M. Bal)11 als konstituierende Elemente der Erzählungen angesehen. Man spricht von verschiedenen Kompositionsebenen, von denen die Oberflächenstruktur der Syntagmatik, die Tiefenstruktur der Paradigmatik entspricht. In den einzelnen Erzählgattungen verwirklicht sich die s. A. in unterschiedlicher Form. In den männlichen Abenteuermärchen ist eine dreifache Häufung der Heldentaten (J Drei, Dreizahl) üblich. Auch parallele Wiederholungen der Handlung mit gegensätzlicher Lösung strukturieren viele Märchen (z. B. AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder, AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen; cf. J Extreme, J Polarität, J Symmetrie). Nur wenige Märchen enden tragisch (J Pessismismus). In Glaubenssagen sind J Frevel und J Strafe wichtige Komponenten. Viele Schwänke und Witze haben meist eine J Pointe, Mißverständnisse, Orts- und Personenwechsel sind fast obligatorisch. In Hexengeschichten oder Prophezeiungen bilden die den Hörern und Hörerinnen allg. bekannten Erzählmotive die paradigmatische Achse. Le´vi-Strauss hat dar-
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auf hingewiesen, daß im J Ödipus-Mythos (AaTh/ATU 931) der Held immer einen körperlichen Defekt aufweist (J Hinken, Hinkender)12. Überhaupt spiegeln Mythen die Paradigmatik der Kultur wider, der sie zugeordnet werden. Kurzformen wie Sprichwort, Rätsel, kumulative Erzählung, Parabel etc.13 zeigen sehr deutlich die Wichtigkeit der paradigmatischen und s.n A.n (cf. auch J Semantische Analyse), weil die lexikalischen Komponenten bes. fest miteinander verbunden sind14. Literar. oder paraliterar. Gattungen (z. B. Bekehrungslegenden, Lebenserinnerungen von Missionaren, Indianerromane, Detektivgeschichten, Karriere- und Liebesromane, Arbeiterfolklore, Reiseberichte, Horror- und UFO-Stories etc.) oder die darauf (in Filmen, Fernsehprogrammen, Comics, Kinderbüchern etc.) basierenden medialen Umsetzungen weisen ganz ähnliche Kompositionsmerkmale auf. Wenn man den Erzähltext als organisches Ganzes versteht ⫺ das sich immer wieder selbst generieren kann ⫺, so dienen die ,Achsen‘ als Systematisierungslinien, sowohl für die Erzähler als auch für die Erzählgemeinschaft. Sie bestimmen den Verlauf und die Wirkung der Erzählungen im weitesten Wortsinn. 1
Saussure, F. de: Cours de linguistique ge´ne´rale. ed. T. de Mauro/J.-L. Calvet. P. 1967. ⫺ 2 Hjelmslev, L.: Prolegomena to a Theory of Language. Madison/L. 1961. ⫺ 3 cf. bes. Le´vi-Strauss, C.: L’Analyse structurale en linguistique et en anthropologie [1945]. In: id.: Anthropologie structurale 1⫺2. P. 1958/73, hier t. 1, 37⫺62 (dt.: Strukturale Anthropologie 1⫺2. Ffm. 1967/75); ferner id: Mythologiques 1⫺4. P. 1964⫺71 (dt.: Mythologica 1⫺4. Ffm. 1971⫺75). ⫺ 4 Barthes, R.: Introduction a` l’analyse structurale des re´cits. In: Communications 8 (1966) 1⫺27. ⫺ 5 cf. Courte´s, J.: Introduction a` la se´miotique narrative et discursive. P. 1976; Nöth, W.: Hb. der Semiotik. Stg./Weimar 22000; Posner, R./Robering, K./Sebeok, T. A. (edd.): Semiotik/Semiotics 3. B./N. Y. 2003. ⫺ 6 Propp, V. J.: Morphologie des Märchens. ed. K. Eimermacher. Ffm. 1975, 25. ⫺ 7 Lotman, J. M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. ed. R. Grübel. Ffm. 1973. ⫺ 8 Uspenskij, B. A.: Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform. ed. K. Eimermacher. Ffm. 1975. ⫺ 9 Meletinskij, E.: Zur strukturell-typol. Erforschung des Volksmärchens [1969]. In: Propp (wie not. 6) 243⫺276; id.: Noch einmal zum Problem der strukturalen Beschreibung des Zaubermärchens [1971]. In: Semiotica sovietica 1.
Syntipas ⫺ Syrien
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ed. K. Eimermacher. Aachen 1986, 285⫺317. ⫺ 10 Bremond, C.: Logique du re´cit. P. 1973. ⫺ 11 Bal, M.: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Toronto 1985. ⫺ 12 Le´vi-Strauss, C.: Strukturale Anthropologie [1]. Ffm. 1969, 235⫺ 255. ⫺ 13 Koch, W. A. (ed.): Simple Forms. An Enc. of Simple Text-Types in Lore and Literature. Bochum 1994; Cobley, P.: Narrative. L. 2001. ⫺ 14 Permyakov, G. L.: From Proverb to Folk-Tale. M. 1979; Permjakov, G. L.: Osnovy strukturnoj paremiologii (Die Grundlagen der strukturellen Parömiologie). M. 1988.
Budapest
Vilmos Voigt
Syntipas J Sieben weise Meister Syrien ist Teil der am Schnittpunkt der drei Kontinente Asien, Europa und Afrika gelegenen östl. Levante, einem geogr. Großraum, zu dem außer dem modernen Staat S. noch der J Libanon, J Jordanien, Palästina und J Israel gehören. In der arab.-islam. Geschichte nimmt S. eine bes. Stellung ein. Nur wenige Jahrzehnte nach der Verkündung des Islam wurde Damaskus 661 Sitz des Kalifats der Omajjaden und Hauptstadt des islam. Reichs; die Abbasiden (750⫺1258) verlegten das Zentrum der Macht später in das neugegründete Bagdad. Die Bevölkerung der 1946 begründeten Arab. Republik S. (1997 ca 17 Millionen) besteht zu ca 90 % aus Arabern, daneben gibt es vor allem J Kurden und J Armenier; bes. im Norden macht sich türk. Einfluß bemerkbar. Die Syrer sind in ihrer großen Mehrheit sunnit. Muslime; die meisten Nichtmuslime sind orthodoxe Christen. Die syr. Gesellschaft umfaßt urbane Berufsstrukturen in den Städten und agrarische Systeme in den Dörfern ebenso wie das Wanderhirtentum der Wüstenbewohner1. Als Teil der arab.-islam. Welt hat S. mit dieser ein klassisches Erbe an Erzählungen gemein, die mit arab. Helden und Ereignissen der vor- wie der islam. Zeit verbunden sind (J Arab.-islam. Erzählstoffe). Für die hist. Erzählforschung ist S. vor allem wichtig als Herkunftsland der ältesten erhaltenen Hs. von J Tausendundeine Nacht (15. Jh.) sowie der aufgrund des mündl. Vortrags des maronit. Christen J Hanna¯ aus Aleppo von A. J Gal-
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land in die frz. Übers. eingefügten Geschichten. Autoren wie der Damaszener Abu¯ Muhø ammad Sˇiha¯b ad-Dı¯n Ibn ¤Arabsˇa¯h (gest. 1450) in seinem Fa¯kihat al-h˚ ulafa¯Å wa-mufa¯kahat azø -zø urafa¯Å (Paradiesfrucht der Kalifen und Ergötzung der Feingeistigen; J Speculum principum, Kap. 1) scheinen zumindest teilweise aus mündl. Überlieferung zu schöpfen2. Wie in den anderen arab. Ländern auch war allerdings die Elite S.s traditionell für mündl. Volkserzählungen nichtreligiösen Charakters wenig aufgeschlossen. Ein ernsthaftes Interesse an Erzählungen in Volkssprache bzw. Dialekt setzte im 19. Jh. ein, als europ. Linguisten begannen, bei verschiedenen religiösen und ethnischen Gemeinschaften Texte aus der mündl. Überlieferung aufzuzeichnen3. Für S. liegen bedeutende frühe Sammlungen arab. und syr.-aram. Erzählungen von E. Prym und A. Socin4, J. Østrup5, G. Bergsträsser6 und E. J Littmann7 vor. Spätere wiss. Veröff.en stammen von A. Bloch und H. Grotzfeld8, B. Lewin9, H. Ritter10 und W. Arnold11. Diese bei Feldforschungen zusammengetragenen Slgen enthalten u. a. syr. Versionen von AaTh/ATU 720: J Totenvogel 12, AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne13 und AaTh/ATU 898: J Sonnentochter14. Einheimische Wissenschaftler begannen erst ab Mitte des 20. Jh.s, sich für die arab. Volkssprache und ihre Erzählüberlieferung zu interessieren15. Im Zuge des arab. Nationalismus der 1950er Jahre erwuchs auch ein ernsthaftes Interesse einheimischer Spezialisten an Volksüberlieferungen, wobei die Qualität der Niederschriften der mündl. erhobenen Texte unterschiedlich ist. Wichtige Slgen legten A. B. Sa¯¤ı¯16, N. al-Aswad17 und S. Tøahø hø a¯n18 vor. K. R. Ibra¯hı¯m publizierte eine Slg vorwiegend literar. Erzählungen19. Die Volkserzählung wird mit dem von der Wurzel hø kw (nachahmen) abgeleiteten Terminus hø ika¯ya bezeichnet. (Semi-)professionelle Prosaerzähler, Epensänger und andere Darbieter poetischer Formen sind als hø akawa¯tı¯ bekannt. Termini wie hø addu¯ta, h˚ urraifa oder hø ika¯ya bezeichnen eine nicht ernstgenommene Erzählung aus der Welt der Phantasie, nukta, na¯dira oder qafsˇa eine komische Erzählung, qia, sı¯ra, ta¯rı¯h˚ oder hø adı¯t eine Wissen vermittelnde Erzählung ernsten Charakters, matal,
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Syrien
hø ikma oder mau¤izø a eine didaktische Erzählung und qisøsøa, ustøu¯ra und h˚ ura¯fa eine geglaubte Erzählung20. Viele syr. Erzählungen beginnen mit einer gereimten Einleitungsformel, oft einem Formelmärchen, das als bisa¯tø (wörtlich: Teppich) bezeichnet wird (z. B. AaTh/ATU 150: Die drei J Lehren des Vogels und AaTh/ATU 1930: J Schlaraffenland)21. Die Kunst des epischen Vortrags ist in S. fast ausgestorben, nur noch wenige Rezitatoren tragen die traditionellen Heldenepen wie ¤Antar, Abu¯ Zaid al-Hila¯lı¯ oder azø -Z ø a¯hir Baibars in Kaffeehäusern vor22. Aus dem internat. verbreiteten Erzählgut kennt die syr. Überlieferung einerseits Erzählungen, die auf das arab. literar. Erbe zurückgehen, wie AaTh/ATU 150, AaTh/ATU 160: J Dankbare Tiere, undankbarer Mensch oder AaTh/ATU 285 D: cf. J Feindschaft zwischen Tieren und Mensch. Andererseits scheint eine Reihe von Tiermärchen aus der mündl. Überlieferung zu kommen, darunter die Erzähltypen El-Shamy, Types 59**§: Tricks and Countertricks: Two Animals Make Trouble for Each Other 23, El-Shamy, Types 215§: Crow (Raven) Imitates She-sparrow but with Painful Results24 und El-Shamy, Types 109 A§: Frustrated Predator Destroys Self for Losing Prey25. Die in S. beliebtesten Zauber- und Novellenmärchen sind auch in den anderen arab. Ländern verbreitet26, so AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen, AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder, AaTh/ATU 314: J Goldener, AaTh/ ATU 437: J Nadelprinz, AaTh/ATU 510 B: cf. J Cinderella, AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue, AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens, AaTh/ATU 590: Die treulose J Mutter, AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter und El-Shamy, Types 895 B§: Host Surrenders his Wife (Sister) to Guest 27. Dagegen scheinen andere Erzählungen, die sonst in arab. Ländern häufig vorkommen, in S. zu fehlen oder selten zu sein. So wurden die Erzähltypen AaTh/ATU 922 A: J Achikar und AaTh/ATU 561: J Alad(d)in in keinem einzigen Land der östl. Levante aufgezeichnet. AaTh 676 ⫹ 954/ATU 954: J Ali Baba ist nur einmal aus S. nachgewiesen28. Auch andere internat. Erzähltypen kommen teilweise in den Nachbarländern S.s ausgesprochen häufig vor, sind in dem aus S. vorliegenden Material aber nur selten nachgewiesen.
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Hierzu gehören AaTh/ATU 300: cf. J Drache, Drachenkampf, Drachentöter29, El-Shamy, Types 318 A§: The Man Who Lost his Organ and then Regained It 30, AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler 31, AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen32, AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen33 sowie ElShamy, Types 472§/AaTh 726**/ATU 836 F*: The Miser and the Eye Ointment34. Neben allg. im islam. Raum verbreiteten Legenden gibt es regionale Überlieferungen, die sich auf bestimmte Orte oder hist. Gestalten beziehen, so etwa die Legende von der Höhle ˇ abal Qa¯syu¯n bei Damaskus, in der J des G Kain seinen Bruder J Abel ermordet haben soll; das Wasser, das aus dem Berg tritt, wird als Tränen aufgefaßt, die der Berg über das Verbrechen vergießt35. Lokalsagen berichten von Persönlichkeiten, die durch außergewöhnliche Leistungen bekannt sind. So werden etwa Arbeiten eines Meisters der Kunsttischlerei im späten 19. Jh. mit Wendepunkten der Nationalgeschichte wie der Einrichtung des syr. Parlaments nach der Unabhängigkeit im Jahr 1945 in Zusammenhang gebracht36. Dem Alltagsleben der Gemeinschaft entstammt der Bericht über einen Vater, der dem Mörder seines Sohnes vergibt, da die Tat ein Racheakt für Ehebruch war37. Erzählt wird auch von einer Frau, deren Mut im syr. Befreiungskampf einen frz. Kolonialoffizier zu dem Ausspruch veranlaßte: ,Wenn schon die Mutter so ist, wie (furchtbar) wird dann erst der Sohn sein!‘38 Aus dem politischen Umfeld stammen auch Erzählungen zur Rolle des frz. Generals Charles de Gaulle sowie der Sängerin und Patriotin Asmaha¯n in Zusammenhang mit der syr. (bzw. libanes.) Unabhängigkeit39. 1 cf. Patai, R.: Golden River to Golden Road. Society, Culture and Change in the Middle East. Phil. 1969, 60⫺72. ⫺ 2 Chauvin 2, 188⫺215; El-Shamy, H.: Folktales of Egypt. Chic. 1980, 262 sq.; id.: Oral Traditional Tales and the Thousand Nights and a Night. The Demographic Factor. In: The Telling of Stories. ed. M. Nøjgaard u. a. Odense 1990, 63⫺117, bes. 77. ⫺ 3 cf. id.: A Type Index for Tales of the Arab World. In: Fabula 29 (1988) 150⫺163, bes. 153. ⫺ 4 Prym, E./Socin, A.: Der neu-aram. Dialekt des Tøuˆr ¤Abdıˆn. Syr. Sagen und Märchen aus dem Volksmunde 1⫺2. Göttingen 1881. ⫺ 5 Østrup, J.: Contes de Damas. Leiden 1897. ⫺ 6 Bergsträsser, G.: Neuaram. Märchen und andere Texte aus Ma’lu¯la.
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Syrjänen
Lpz. 1915. ⫺ 7 Littmann, E.: Märchen und Legenden aus der syr.-arab. Wüste. Göttingen 1915. ⫺ 8 Bloch, A./Grotzfeld, H.: Damaszen.-arab. Texte. Wiesbaden 1964. ⫺ 9 Lewin, B.: Arab. Texte im Dialekt von Hama. Beirut 1966. ⫺ 10 Ritter, H.: Tøuˆroˆyo. Die Volkssprache der syr. Christen des Tøuˆr ¤Abdıˆn 1⫺3. Beirut 1967/69/71. ⫺ 11 Arnold, W.: Das Neuwestaram. 4,4: Orale Lit. aus MaÅlu¯la. Wiesbaden 1991; id.: Aram. Märchen. MdW 1994. ⫺ 12 Bergsträsser (wie not. 6) num. 31. ⫺ 13 Prym/Socin (wie not. 4) num. 83. ⫺ 14 Østrup (wie not. 5) num. 3. ⫺ 15 El-Shamy 1990 (wie not. 2) 68. ⫺ 16 Sa¯¤ı¯, A. B.: al-H ø ika¯ya¯t asˇ-sˇa¤bı¯ya fı¯ ’l-La¯diqı¯ya (Die Volkserzählungen in Latakia) 1⫺2. (Magisterarbeit Kairo 1970) Damaskus 1974 (enthält 130 Erzählungen, davon drei [A⫺C] im Dialekt von Latakia; der Rest wurde in klassisches Arabisch übersetzt). ⫺ 17 al-Aswad, N.: al-H ø ika¯ya¯t asˇ-sˇa¤bı¯ya asˇsˇa¯mı¯ya (Die syr. Volkserzählungen). Damaskus ø akawa¯tı¯ al-hø alabı¯. (1985) 21999. ⫺ 18 Tøahø hø a¯n, S.: al-H H ø ika¯ya¯t sˇa¤bı¯ya li ’l-atøfa¯l (Der Erzähler von Aleppo. Volkserzählungen für Kinder). Madrid 1977; id.: alQasøsøa¯ al-hø alabı¯ (Der Erzähler von Aleppo). Aleppo 1982; cf. Rez. H. El-Shamy in J. of Arabic Literature 99 (1986) 477⫺479; Tahhan, S.: Folktales from Syria. Übers. A. Rugh. Austin 2004. ⫺ 19 Ibra¯hı¯m, K. R.: H ø ikam wa tøara¯Åif fı¯ qisøasø sˇa¤bı¯ya (Weisheit und Anekdoten in Volkserzählungen). Aleppo 1984; id.: al-Mag˙za¯ al-gˇamı¯l fı¯ qisøasø sˇa¤bı¯ya (Die feine Bedeutung in Volkserzählungen). Aleppo 1987. ⫺ 20 ElShamy 1980 (wie not. 2) xliv⫺xlvi; id.: Tales Arab Women Tell […]. Bloom./Indianapolis 1999, 523 sq.; Tahhan 2004 (wie not. 18) 4⫺15. ⫺ 21 Sa¯¤ı¯ (wie not. 16) 44, 45 sq.; cf. El-Shamy, Folk Traditions Z 10.0.1§. ⫺ 22 Aziz, B. N.: The Last Hakawati. In: Aramco Magazine (Jan./Feb. 1996) 12 sq.; Heath, P.: The Thirsty Sword. Sı¯rat ¤Antar and the Arabic Popular Epic. Salt Lake City 1996; Lyons, M. C.: The Arabian Epic 2. Cambr. 1995, 18⫺44, 148⫺150, 45⫺119; Herzog, T.: Le dernier Conteur de Damas? In: Garcin, J.-C. (ed.): Lectures du Roman de Baybars. Marseille 2003, 209⫺229; cf. allg. Oriente moderno 83, N. S. 22,2 (2003) (Sonderheft „Studies on Arabic Epics“). ⫺ 23 Prym/Socin (wie not. 4) num. 67. ⫺ 24 Sa¯¤ı¯ (wie not. 16) 41; Tøahø hø a¯n 1977 (wie not. 18) num. 5. ⫺ 25 al-Aswad (wie not. 17) 85; Kairo, Archiv der American Univ., 11 ø . Fahmı¯, 1970⫺71) num. 6; Tøahø hø a¯n 1977 (Slg M. H (wie not. 18) num. 2. ⫺ 26 cf. El-Shamy, Types. ⫺ 27 cf. Marzolph/van Leeuwen 1, 108 sq., num. 415. ⫺ 28 Sa¯¤ı¯ (wie not. 16) 61⫺63; cf. al-Aswad (wie not. 17) 69⫺79. ⫺ 29 Ritter (wie not. 10) t. 1, 610⫺ 673, bes. 655. ⫺ 30 ibid., 478⫺481. ⫺ 31 Prym/Socin (wie not. 4) num. 58. ⫺ 32 al-Aswad (wie not. 17) 103⫺105. ⫺ 33 ibid., 29⫺34. ⫺ 34 Ritter (wie not. 10) t. 1, 450⫺475. ⫺ 35 al-Aswad (wie not. 17) 219; El-Shamy, Folk Traditions A1297.1§, F1006.4§; El-Shamy, Types 758 C§. ⫺ 36 al-Aswad (wie not. 17) 223⫺233; El-Shamy, Folk Traditions F 888§, F 888.0.1§. ⫺ 37 Ibra¯hı¯m 1984 (wie not. 19) num. 11; El-Shamy, Folk Traditions Q 259.1§. ⫺
116
38
Ibra¯hı¯m 1984 (wie not. 19) num. 17; El-Shamy, Folk Traditions J 32.0.1§. ⫺ 39 Ibra¯hı¯m 1987 (wie not. 19) 87 sq.; al-Aswad (wie not. 17) 249; cf. auch Ritter (wie not. 10) t. 1, num. 32⫺38.
Bloomington
Hasan El-Shamy
Syrjänen. Unter S. (Eigenbezeichnung Komi) werden hier außer den Komi-S. auch die Komi-Permjaken verstanden. Wenngleich die Sprache beider Gruppen, die zur finn.-ugr. Sprachfamilie gehört, nahezu identisch ist, wurden in den 1920er Jahren eigene Schriftsprachen geschaffen. Die Komi-S. (2002: 293400 Sprecher) leben überwiegend in der Republik Komi im Nordosten des europ. Teils der Russ. Föderation. Die Komi-Permjaken (2002: 125200 Sprecher) sind überwiegend im Gebiet Perm ansässig. Wichtigster traditioneller Lebenserwerb der S. war die Landwirtschaft, bei den nördlichsten Gruppen die Renzucht. Eine bedeutende Rolle spielte neben Jagd und Fischfang auch der Handel. Die Missionierung der S. erfolgte im 14. Jh. Ihr einstiges schamanistisches Weltbild läßt sich nur noch in einzelnen Zügen erkennen. Die erste Nachricht von der Folklore der S. stammt von dem russ. Naturforscher I. I. Lepechin, der 1771 eine komi-permjak. Sage über den Helden Pera aufzeichnete1. Im 19. Jh. wurde syrjän. Folklore teils in russ. Übers., teils zweisprachig in Publ.en zur syrjän. Kultur, Geschichte oder Sprache bekannt gemacht2. Zu einer intensiveren Sammeltätigkeit kam es erst im 20. Jh.: Ausländische Wissenschaftler sammelten bei Feldforschungen oder mit Kriegsgefangenen als Gewährspersonen vornehmlich von Komi-S. Material, das mit Übers.en versehen publiziert wurde3; einheimische Komi-S. begleiteten die Sammeltätigkeiten4 und setzten sie später fort. In den Anfang des 20. Jh.s fällt auch der Beginn der syrjän. folkloristischen Forschung durch K. F. Zˇakov (1866⫺1926)5. Die 1938 vorgelegte Slg Fol’klor naroda komi (Folklore des syrjän. Volks)6 mit Sagen und Märchen in russ. Übers. zeichnet sich ⫺ wie spätere Slgen ⫺ durch die Betonung der Nähe von syrjän. und russ. Märchen, die Häufigkeit bestimmter Themen (Schwänke mit Geistlichen) und durch die literar. Bearb. der Texte aus. Dane-
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Syrjänen
ben erschienen Slgen von P. Doronin sowie mit der Slg von A. Osipov die erste eigentliche wiss. Publ. auf dem Gebiet der Folklore7. In der Zeit nach dem 2. Weltkrieg kam es zu einer systematischen Sammeltätigkeit in allen syrjän. Gebieten, die von Publ.en zu verschiedenen Folkloregenres begleitet wurde8. Diese Arbeiten werden gegenwärtig erfolgreich fortgesetzt9. Bei den Komi-Permjaken, die anders als die Komi-S. in ihrem Gebiet über keine eigene Univ. oder Forschungsinstitute verfügen, ist sowohl die Sammel- als auch die Forschungstätigkeit beschränkter gewesen10. Überblicksdarstellungen behandeln die komi-syrjän. Folklore bzw. entsprechende Forschungen11. In der Wiss. ist u. a. die Frage nach der Herkunft der Märchen und dem syrjän. Eigenanteil an ihnen behandelt worden; dabei steht der These einer Übernahme aus der russ. mündl. Überlieferung bzw. aus volkstümlicher Lit. die einer eigenständigen Gestaltung, bes. durch Rückgriff auf ältere finn.-ugr. Überlieferungen, entgegen12. Das von I. Kecskeme´ti und H. Paunonen erstellte Typenverzeichnis klassifiziert die in den Publ.en der Soc. Finno-ougrienne sowie einigen anderen Slgen veröff. Märchen der finno-ugr. Völker, darunter auch die der S. nach AaTh13. Am stärksten belegt sind danach die Zaubermärchen, unter denen die Erzähltypen AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen, AaTh/ATU 313: J Magische Flucht, AaTh/ ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen, AaTh/ATU 530: J Prinzessin auf dem Glasberg, AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater und AaTh/ATU 700: J Däumling bes. beliebt waren14. Legendenartige Märchen sind, wie auch die eigentlichen Legenden15, nur wenig belegt, auch unter den Novellenmärchen waren nur wenige Erzählstoffe weiter verbreitet. Unter den Tiermärchen sind neben AaTh/ATU 1: J Fischdiebstahl und AaTh/ ATU 2: J Schwanzfischer, AaTh/ATU 43: J Hausbau der Tiere, der aus der russ. Überlieferung nicht bekannte Typ AaTh/ATU 135*: The Mouse Makes a Boat of a Bread-Crust sowie AaTh/ATU 295: J Strohhalm, Kohle und Bohne am häufigsten veröffentlicht worden16. Bei den Schwänken sind Erzählungen aus der Untergruppe AaTh/ATU 1525⫺1639: The Clever Man am häufigsten belegt.
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Als Märchen werden von den S. auch Lieder mit Märchenelementen bezeichnet, die Dialogform aufweisen und rezitativ im Chor oder im Sologesang vorgetragen werden. Ihre Zahl ist begrenzt, doch sind sie sehr verbreitet, bes. ein AaTh 2018/ATU 2043: Wo ist das J Warenlager? entsprechendes Lied. Ursprünglich polyfunktional, sind diese Lieder heute vor allem Teil der Kinderfolklore17. Als Märchen bezeichnen die Komi-S. auch epische Stoffe, die in Liedform oder als Prosaerzählung vorgetragen werden. Zu den zentralen Gestalten syrjän. Sagen gehören die mit Relikten schamanistischer Vorstellungen verbundenen J Zauberer, die in vielen Erzählungen als J unverwundbar dargestellt werden (J Schamanismus). Zauberer agieren auch als Widersacher in Legenden vom hl. Stefan von Perm, dem Missionar der S.18 Ebenfalls zahlreich sind dämonologische Sagen über Vörsa (komi-permjak. Vöris´) und Vasa (komi-permjak. Vais´), den obersten Wald- bzw. Wassergeist, die in unterschiedlicher Gestalt begegnen können; die Sagen zeigen diese Geister häufig als Hüter der Wertvorstellungen und Moral bei Jagd und Fischfang (J Herr der Tiere). Auch Sagen von Gebäudegeistern sind noch lebendig19. Wie ihre Nachbarvölker in Nordrußland kennen auch die S. Sagen über die Tschuden. Vor allem komi-permjak. Sagen beschreiben sie als kleine, schwarze, teils tier-, teils menschengestaltige Wesen eines mythischen Goldenen ZA.s; Tschuden sind auch kriegerische Helden, die mit der Ankunft neuer Menschen und des Christentums verschwanden. Bes. die Komi-S. betrachten sie als ihre heidnischen Vorfahren20. Während die Sagen über namentlich genannte komi-syrjän. Helden regional begrenzt sind, kennen die Komi-Permjaken zwei allg. verbreitete Sagengestalten, Kudym-Osˇ (osˇ ⫽ Bär) und Pera; Pera ist auch im südlichsten syrjän. Gebiet bekannt. Beide Figuren sind mit außerordentlichen Fähigkeiten begabt, Kudym-Osˇ auch mit Zauberkräften. Er ist ein J Kulturheros, der seinem Volk den Getreideanbau und die Eisenverarbeitung gebracht hat. Pera wird auch als Verteidiger seines Landes gegen Feinde und als Bezwinger des Waldgeistes geschildert21.
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Syrjänen
Lepechin, I. I.: Dnevnyja zapiski putesˇestvija po raznym provincijam Rossijskago gosudarstva (Tagebuchaufzeichnungen einer Reise durch verschiedene Provinzen des Russ. Reiches) 3. SPb. 1780, 194 sq. ⫺ 2 cf. u. a. Lytkin, G. S.: Zyrjanskij kraj pri episkopach permskich i zyrjanskij jazyk (Das syrjän. Land unter den Bischöfen von Perm und die syrjän. Sprache). SPb. 1889 (Syktyvkar 21996); id.: Syrjän. Sprachproben. In: JSFO 10 (1892) 18⫺100. ⫺ 3 Fokos, D.: Zürje´n ne´pkölte´szeti mutatva´nyok (Proben der syrjän. Volksdichtung). In: Nyelvtudoma´nyi közleme´nyek 41 (1911⫺12) 275⫺309, 456⫺475; 42 (1913) 86⫺173; id.: Zürje´n szövegek (Syrjän. Texte). Bud. 1916; Wichmann, Y.: Syrjän. Volksdichtung. Hels. 1916; Fokos-Fuchs, D. R.: Volksdichtung der Komi (S.). Bud. 1951; Re´dei, K.: Zyrian Folklore Texts. Bud. 1978; Uotila, T. E.: Syrjän. Texte 1⫺5. ed. P. Kokkonen. Hels. 1985/86/89/95/2006; Va´szolyi-Vasse, E.: Syrjaenica 1⫺3. Szombathely 1999/ 2001/03; Ariste, P.: Komi rahvaluulet/Komi Folklore 1⫺2. ed. N. Kuznecov. Tartu 2005. ⫺ 4 Komi mojdan i s’ylan kyv”jas (Syrjän. Märchen und Lieder). ed. A. A. Cember. Ust’sysol’sk 1914. ⫺ 5 Zyrjanskaja narodnaja slovestnost’ i russkaja skazka (Die syrjän. Volkslit. und das russ. Märchen.) Diss. (masch.) s. l. s. a.; Zyrjanskie skazki (Syrjän. Märchen). In: Zˇivaja starina (1908) 92⫺100, 232⫺242. ⫺ 6 Fol’klor naroda komi. 1: Predanija i skazki (Folklore des syrjän. Volkes. 1: Sagen und Märchen). ed. I. N. Novikov. Archangel’sk 1938. ⫺ 7 Komi fol’klor. Vazˇ komi mojdkyv”jas da s’ylankyv”jas (Syrjän. Folklore. Alte syrjän. Märchen und Lieder). ed. P. Doronin. Syktyvkar 1938; Fol’klornoj sbornik. Vazˇ komi mojdkyv”jas da s’ylankyv”jas (Folkloristische Slg. Alte syrjän. Märchen und Lieder). ed. id. Syktyvkar 1938; cf. id.: Mojd nebög/Kniga skazok (Märchenbuch). Syktyvkar 2004; Viser vozˇsa s’ylankyv”jas da mojdkyv”jas (Lieder und Märchen von der Visˇera). ed. A. Osipov. Syktyvkar 1941 (ibid. 21986). ⫺ 8 Komi mojd”jas, s’ylankyv”jas da poslovicajas (Syrjän. Märchen, Lieder und Sprichwörter). ed. F. V. Plesovskij. Syktyvkar 1956; Komi narodnye skazki (Syrjän. Volksmärchen). ed. N. Belinovicˇ/F. Plesovskij. Syktyvkar 1958; Komi legendy i predanija (Syrjän. Legenden und Sagen). ed. Ju. G. Rocˇev. Syktyvˇ istalev, P. I. (t. 3 mit Rokar 1984; Mikusˇev, A. K./C cˇev, Ju. G.): Komi narodnye pesni (Syrjän. Volkslieder) 1⫺3. Syktyvkar 1966⫺71 (21995); Mikusˇev, A. K.: Komi e˙picˇeskie pesni i ballady (Epische Lieder und Balladen der S. ). Len. 1969. ⫺ 9 Limerov, P. F.: Sotvorenie mira. Mifologija naroda komi (Die Erschaffung der Welt. Die Mythologie des syrjän. Volkes). Syktyvkar 2005. ⫺ 10 cf. u. a. Ozˇegova, M. N.: Ustno-poe˙ticˇeskoe tvorcˇestvo komi-permjackogo naroda (Das mündl. poetische Schaffen der Komi-Permjaken). Kudymkar 1961; ead.: Solnce i mesjac. Komi-permjackie narodnye skazki (Sonne und Mond. Komi-permjak. Volksmärchen). Kudym-
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kar 1989; Olasö da völasö. Komi-permjacköj skazkae˙z, legendae˙z, predanne¨e˙z, skazze˙z, bylicˇkae˙z, vis’tasse˙z (Es war einmal. Komi-permjak. Märchen, Sagen, Erzählungen). ed. V. V. Klimov. Kudymkar 1990; Gusev, D. I.: Komi-permjackie predanija o Pere-bogatyre (Komi-permjak. Sagen über den Helden Pera). Kudymkar 1956; Ozˇegova, M. N.: Komipermjackie predanija o Kudym-Osˇe i Pere-bogatyre (Komi-permjak. Sagen über Kudym-Osˇ und den Helden Pera). Perm 1971. ⫺ 11 Istorija komi literatury. 1: Fol’klor (Geschichte der syrjän. Lit. 1: Folklore). ed. A. K. Mikusˇev. Syktyvkar 1979; cf. auch id.: Komi literatura i narodnaja poe˙zija (Syrjän. Lit. und Volksdichtung). Syktyvkar 1961; E˙picˇeskie formy komi fol’klora (Die epischen Formen der syrjän. Folklore). Len. 1973; Komi narodnyj e˙pos (Das syrjän. Volksepos). ed. A. K. Mikusˇev. M. 1987; Mifologija komi (Die Mythologie der S. ). M./Syktyvkar 1999; Komi Mythology. ed. V. Napolskikh u. a. Bud./Hels. 2003; Rocˇev, Ju. G./Ploskov, I. A./Rassychaev, A. N.: Komi fol’klornaja tradicija i istorija izucˇenija ustnoj prozy (Die Folkloretraditionen der S. und die Geschichte der Erforschung mündl. Prosa). Syktyvkar 2006 (mit Biblogr. der syrjän. Prosafolklore 1850⫺2005); Ploskov, I. A.: Komi skazka i ee geroj (Das Märchen der S. und sein Held). Syktyvkar 2006 (mit Bibliogr. der syrjän. Märchenforschung 1908⫺2005). ⫺ 12 Zu neueren Forschungsergebnissen cf. Zˇanr skazki v fol’klore naroda komi (Die Gattung Märchen in der Folklore des syrjän. Volkes). Syktyvkar 1992; Ploskov (wie not. 11); Rocˇev/Ploskov/Rassychaev (wie not. 11). ⫺ 13 Kecskeme´ti/Paunonen. ⫺ 14 cf. auch Korovina, N. S.: Sovremennaja volsˇebnaja skazka Udory (Das heutige Zaubermärchen im Udora-Gebiet). In: Zˇanrovoe razvitie komi fol’klora i literatury na sovremennom e˙tape. Syktyvkar 1988, 62⫺ 72, hier 63 sq. ⫺ 15 Rocˇev (wie not. 8) 10. ⫺ 16 cf. Mikusˇev 1979 (wie not. 11) 87. ⫺ 17 Rocˇev, Ju. G.: Pesni-skazki (Liedermärchen). In: E˙tnografija i fol’klor komi. Syktyvkar 1976, 44⫺59. ⫺ 18 Plesovskij, F. V.: Skazki. Predanija (Märchen. Sagen). In: Mikusˇev 1979 (wie not. 11) 84⫺119, hier 113⫺115; Napolskikh u. a. (wie not. 11) 68 sq. und pass.; cf. auch Chvostikova, O. A.: Ustnye predanija o Stefane Permskom (Mündl. Sagen über Stefan von Perm). In: Christianizacija komi kraja i ee rol’ v razvitii gosudarstvennosti i kul’tury 2. Syktyvkar 1996, 302⫺309; Uljasˇev, O. I.: Obraz Stefana Permskogo v tradicionnych predstavlenijach komi (Die Gestalt Stefans von Perm in den traditionellen Vorstellungen der S. ). Syktyvkar 1997. ⫺ 19 cf. Limerov (wie not. 9) 335⫺424, 589⫺603. ⫺ 20 Rocˇev (wie not. 8); Napolskikh u. a. (wie not. 11) 57 sq., 100⫺103. ⫺ 21 ibid., 185 sq., 252⫺254; cf. auch Ozˇegova 1971 und Gusev (wie not. 10).
Göttingen
Hans-Hermann Bartens
T Tabak. Das aus den Blättern der T.pflanze gewonnene Genußmittel wird vorwiegend als Rauchtabak (in Form von Zigarren, Zigaretten oder Pfeifentabak), Schnupftabak oder Kautabak konsumiert. Bei der indigenen Bevölkerung Nord- und Südamerikas diente das T.rauchen auch kultischen Zwecken; in Europa, wo Ende des 15. Jh.s erste Berichte eingetroffen waren, galt der T. zunächst als Heilmittel. Nach Indien, China und Japan gelangte er Ende des 16. Jh.s. Trotz zahlreicher und umfassender Verbote entwickelte sich der T. zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor1. In Europa griff der T.genuß, wegen der sowohl stimulierenden als auch lähmenden Wirkung des Nikotins auch als ,trockene‘ J Trunkenheit2 apostrophiert, im 16./17. Jh. derart um sich, daß er zeitweise selbst vor den Kirchen nicht haltmachte3; doch waren die Gegner zahlreich (u. a. Assoziation mit dem J Teufel wegen des ,höllischen‘ Gestanks und Rauchs)4, und es fehlte nicht an Sensationsund Warngeschichten über Sucht-, Brand- und Unfallgefahren5. Diskussionen für und wider das Rauchen führen bis heute zu leidenschaftlichen Polarisierungen6; die Spaltung der Gesellschaft in Liebhaber und Gegner des T.s ist der Angelpunkt, um den T.anekdoten kreisen7. Rauchen stiftet Gemeinschaft und Geselligkeit und ist Signum des Erwachsenwerdens; Pfeife, Zigarre und Zigarette waren Symbole der emanzipierten Frau. Rund um den T.konsum entstanden Rituale, Vorstellungen, Lieder, Rätsel, eine materielle Kultur und eine populäre Terminologie samt Sprichwörtern und Redensarten8. In indian. Mythensystemen nehmen Ätiologien der T.pflanze eine zentrale Rolle ein: Eine Gottheit (Kulturheros, Ahne, Schamane) soll den T. erschaffen, den Menschen T.samen geschenkt oder ihnen den T.anbau beigebracht haben9; oder es heißt, der T. sei von weither geholt10 bzw. geraubt worden11. Weit verbrei-
tet sind Ursprungsgeschichten, wonach der T. der Asche bzw. dem Grab einer zur Ogerin (Kannibalin) gewordenen Frau entsprossen ist12. Yanomami-Mythen deuten den Suchtcharakter des T.genusses an13. Als Mittel der Kommunikation mit dem Jenseits14 ist das T.rauchen auch mit dem Ursprung des J Todes15 und des J Schamanismus16 verbunden. Für die südamerik. Überlieferungen wies C. J Le´vi-Strauss die systemhafte Verflechtung der Mythen vom Ursprung des Fleischs, des Feuers und des T.s sowie die komplexen Beziehungen der mythischen Funktionen von Honig und T. nach17. Ätiologien aus Südosteuropa und dem Vorderen Orient führen Ursprung und Eigenschaften des T.s u. a. auf J Adam18, J Christus19 oder J Mohammed20 zurück. In Europa gilt der T. jedoch vor allem als Teufelskraut21, das vom Teufel erzeugt22, aus den Gedärmen des Teufels23, den Eingeweiden des J Judas oder Herodes24, dem Grab einer liederlichen Frau erwachsen sein soll25. Der Name des vom Teufel kultivierten Krauts wird dem Bösen in dem ätiologisch gefärbten Schwanktyp AaTh/ATU 1091 A: cf. J Frau als unbekanntes Tier entlockt, der z. T. den Ursprung des T.anbaus begründet. Soziale Interaktionen beim T.genuß, das Offerieren, Teilen und Erbitten von T., spielen eine Rolle in dämonologischen Sagen: So wird eine arme Seele erlöst, nachdem man aus ihrer Pfeife geraucht und ein Gebet gesprochen hat; das Angebot einer Prise T. schützt vor dem Teufel und anderen gefährlichen Jenseitigen (Mot. G 303.9.9.8); ein Mann, der die von einem Zauberer angebotene Prise nicht nimmt, stirbt26. Schwankhafte Erzählungen befassen sich in unterschiedlichster Weise mit dem T. und seinem Gebrauch. Z. B. kennt man in Rumänien witzige Geschichten von rauchenden Popen, die gemaßregelt werden sollen; andere handeln
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Tabak
von T.diebstahl, schnorrenden Zigeunern oder von Heiratskandidaten, denen der T. wichtiger ist als die Braut27. Objekt der Begierde ist der T. auch in dem nordeurop. Erzähltyp AaTh/ ATU 1173 A: The Devil is to Fulfill Three Wishes, in dem der Teufel an der Aufgabenstellung scheitert (J Aufgaben, unlösbare), oder in einer J Coyote story der Apachen, in der man den Trickster um den gestohlenen T. bringt28; in einem beliebten ir. Schwank verschafft der Freiheitsheld Daniel O’Connell als durchtriebener Anwalt einem Geschädigten Anspruch auf eine unbezahlbar große T.menge29. Daneben finden sich Dummenschwänke wie die Geschichten vom Teufel, der eine Schußwaffe für eine T.spfeife hält (AaTh/ ATU 1157: cf. J Waffen). T. bekämpft Müdigkeit, Hunger und Durst und gehörte daher zur festen Ration der Truppen. Solchen Funktionen entsprechend ist er im Märchen wie der Alkohol Freund und Begleiter des J Soldaten: Der abgedankte Soldat in AaTh/ATU 562: J Geist im blauen Licht kann sich vor der Hinrichtung retten, indem er sich als letzte J Gnade erbittet, „noch mal smöken“ zu dürfen30 und sich eine Zigarette oder Pfeife anzündet; vor der gefährlichen Nachtwache in AaTh/ATU 307: J Prinzessin im Sarg bekommt der Soldat zur Betäubung der Angst häufig Schnaps und Zigaretten, Zigarren oder T.31 In AaTh 330, 330 A⫺D/ATU 330: J Schmied und Teufel erfüllen T.artikel mehrere Funktionen: Das Behältnis, in das der Soldat (Schmied, personifiziertes Elend) alles steckt, was er möchte, also auch Tod und Teufel, ist häufig ein T.sbeutel (T.sdose)32. Bettlern, denen er begegnet, spendet er oft seinen letzten T. als Almosen33; wenn er einen Wunsch frei hat, verlangt er u. a. eine Pfeife, die sich selbst stopft und der niemals der T. ausgeht34. In AaTh/ATU 560: J Zauberring kann als Zaubergegenstand auch eine Schnupftabakdose fungieren35. 1
H[ering], J. G.: Das beliebte und gelobte Kräutlein Toback oder Allerhand auserlesene hist. Merckwürdigkeiten vom Ursprung, Beschaffenheit, Würckung, sonderbaren Nutzen, Gebrauch und Mißbrauch des Tobacks […]. Chemnitz 1719 (zitiert nach Uther, H.J.: Merkwürdige Lit. CD-ROM B. 2005); Böse, G.: Im blauen Dunst. Eine Kulturgeschichte des Rauchens. Stg. 1957; Rien, M. W./Dore´n, G. N.: Das neue Tabago Buch. Ein Buch vom T. und der Kul-
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turgeschichte des Rauchens. Hbg 1985; Duchesne, A./Vigarello, G.: Le Tabac. Imaginaire d’un excitant sous l’Ancien Re´gime. In: Ethnologie franc¸aise 21 (1991) 117⫺125; Ortiz, F.: Cuban Counterpoint. Tobacco and Sugar. Durham/L. 1995. ⫺ 2 Balde, J.: Die truckene Trunkenheit. Nürnberg 1658. ⫺ 3 Böse (wie not. 1) 46, 48; Ortiz (wie not. 1) 234 sq.; Herzog, U.: Geistliche Wohlredenheit. Die kathol. Barockpredigt. Mü. 1991, 332, 466 (not. 120). ⫺ 4 Böse (wie not. 1) 48; Ortiz (wie not. 1) 186⫺191, 232; MoserRath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Stg. 1991, 310. ⫺ 5 Misanders Theatrum Tragicum, Oder: Eröffnete Schau⫽Bühne. Dresden 1695, 279, 281⫺ 283; Alzheimer-Haller, H.: Hb. zur narrativen Volksaufklärung. B./N. Y. 2004, 288 sq., 446. ⫺ 6 Wehse, R.: Raucher heute ⫺ eine diskriminierte Minderheit? In: Minderheiten und Mehrheiten in der Erzählkultur. ed. S. Hose. Bautzen 2008, 218⫺228. ⫺ 7 Schranka, E. M.: T.-Anekdoten. Ein hist. Braunbuch. Köln 1914; Blondel, S.: Le Livre des fumeurs et des priseurs. P. 1891. ⫺ 8 Se´billot, P.: Le Tabac dans les traditions, les superstitions et les coutumes. ´ In: RTP 8 (1893) 259⫺275, 312⫺319, 544⫺548; O Su´illeabha´in, S.: A Handbook of Irish Folklore. [Dublin] 1942, 94⫺96, 415; Basset, R.: Le Tabac dans les traditions, les superstitions et les coutumes. In: RTP 9 (1894) 314⫺326, 416; 10 (1895) 232 sq., 621 sq.; cf. ferner ibid., 453; 11 (1896) 28⫺30, 116. ⫺ 9 Opler, M. E.: Myths and Tales of the Jicarilla Apache Indians. N. Y. 1938, 150 sq.; RTP 10 (1895) 621 sq.; Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of the Nivakle´ Indians. L. A. 1987, num. 65, 66; iid.: Folk Literature of the Sikuani Indians. L. A. 1992, num. 25; iid.: Folk Literature of the Yanomami Indians. L. A. 1990, num. 79; iid.: Folk Literature of the Ayoreo Indians. L. A. 1989, num. 131⫺133; Le´vi-Strauss, C.: Mythologica 1⫺4,2. Ffm. 1971/72/ 73/75/75, hier t. 1, 138 sq. (Cariri); t. 2, 61 (Iranxe´). ⫺ 10 Karlinger, F./Espadinha, M. A.: Märchen aus Mexiko. MdW 1978, num. 7 (Huichol). ⫺ 11 Radin, P./Kere´nyi, K./Jung, C. G.: Der göttliche Schelm. (Zürich 1954) Hildesheim 21979, 111⫺113 (Menominee, Winnebago u. a.); Krickeberg, W.: Indianermärchen aus Nordamerika. MdW 1924, 76 sq. (Algonkin); cf. Opler, M. E.: Myths and Legends of the Lipan Apache Indians. N. Y. 1940, 122⫺125, 176. ⫺ 12 Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of the Toba Indians 1⫺2. L. A. 1982/89, hier t. 1, num. 163; t. 2, num. 140⫺146, 328; iid.: Folk Literature of the Chorote Indians. L. A. 1985, num. 61⫺ 66; iid.: Folk Literature of the Makka Indians. L. A. 1991, num. 15⫺17; iid. 1987 (wie not. 9) num. 171; cf. auch iid. 1992 (wie not. 9) num. 57; Le´vi-Strauss (wie not. 9) t. 1, 141 sq. (Bororo); t. 2, 433 (Carib). ⫺ 13 Wilbert/Simoneau 1990 (wie not. 9) num. 62, 64, 75, 77, 78, cf. auch 76. ⫺ 14 Le´vi-Strauss (wie not. 9) t. 2, 405; t. 4,1, 111⫺113. ⫺ 15 Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of the Chamacoco Indians. L. A. 1987, num. 41, 42. ⫺ 16 iid. 1989 (wie not. 9) num. 128, 130⫺136; Le´vi-Strauss (wie not. 9) t. 2, 466⫺ 469. ⫺ 17 ibid., t. 1, 145 sq.; t. 2, 25⫺31, 59⫺70, 282,
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Tabourot des Accords, Estienne
366, 485⫺491. ⫺ 18 Schranka (wie not. 7) 172; Mot. A 2854. ⫺ 19 Tche´raz, M.: L’Orient ine´dit. P. 1912, 20 sq. ⫺ 20 Ortiz (wie not. 1) 231; RTP 3 (1888) 385 sq.; Strausz, A.: Die Bulgaren. Lpz. 1898, 75 sq.; Rhein. Jb. für Vk. 26 (1985/86) 173. ⫺ 21 Dubsky, O.: Les Contes populaires sur l’origine du tabac. In: RTP 24 (1909) 161⫺168 (Zusammenfassung eines Beitr.s von J. Polı´vka); Dh. 2, 232 (rumän.). ⫺ 22 Sˇmits, P.: Latviesˇu tautas teikas un pasakas 4. ed. H. Biezais. Waverly, Iowa 21965, num. 14.1⫺2. ⫺ 23 Strausz (wie not. 20) 76 (ung.). ⫺ 24 Dh. 2, 241 (russ.), 242 (litau.); RTP 24 (1909) 163 sq. (ukr., litau., bosn.). ⫺ 25 Mot. A 2611.2, A 2611.2.1 (finn., balt.); Aarne, A.: Verz. der finn. Ursprungssagen (FFC 8). Hels. 21967, num. 128; Fokos-Fuchs, D. R.: Volksdichtung der Komi (Syrjänen). Bud. 1951, num. 37; Hnatjuk, V.: Das Geschlechtleben des ukr. Bauernvolkes in ÖsterreichUngarn 2. Lpz. 1912, num. 41; RTP 24 (1909) 162⫺ 164 (russ., weißruss., galiz.); Eberhard, Typen, ´ Su´illea132 sq., num. 88 (Opium, Betel, T. ). ⫺ 26 O bha´in (wie not. 8) 95, 415; Joisten, C.: Eˆtres fantastiques du Dauphine´. ed. N. Abry/A. Joisten. Grenoble 2006, 102, num. 25; 495, num. 4; Le Monde alpin et rhodanien 14 (1986) 41, num. 36; cf. 52 sq., num. 74; Kropej, M./Dapit, R.: V somraku kraljestva palcˇkov in sˇkratov. Radovljica 2002, 47. ⫺ 27 Stroescu, num. 4066, 4067, 3037, 4463, 4464, 4479. ⫺ 28 Opler (wie ´ ga´in, R.: Immortal Dan. not. 9) 293⫺295. ⫺ 29 uı´ O Dublin [ca 1995], 135⫺138. ⫺ 30 Ranke 2, num. 562 (Var. 3). ⫺ 31 Delarue/Tene`ze 307 (Var. 6); Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 1. Grenoble 1971, num. 18.2; Vasconcellos, J. Leite de: Contos populares e lendas 1. ed. A. da Silva und P. Carata˜o Soromenho. Coimbra 1963, num. 190; Polı´vka 2, num. 15.1 (alter Wandersmann). ⫺ 32 BP 2, 183⫺185; Delarue 330 (Var. 31, 46, 50, 52). ⫺ 33 Toschi, P./Fabi, A.: Buonsangue romagnolo. Bologna 1960, num. 5; Polain, E.: Il e´tait une fois … P. 1942, num. 28. ⫺ 34 Eschker, W.: Serb. Märchen. MdW 1992, num. 38; Meier, E.: Dt. Volksmärchen aus Schwaben. Stg. 1863, num. 78. ⫺ 35 Mode, H.: Zigeunermärchen aus aller Welt 3. Lpz./Wiesbaden 1984, num. 190 (aus Wales); Webster, W.: Basque Legends. L. 1877, 94⫺100; cf. ferner Cammann, A.: Turmberg-Geschichten. Marburg 1980, 185.
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Tabourot des Accords, Estienne, * Dijon 1549, † ebenda Sept./Okt. 1590, frz. Schriftsteller1. T. stammte aus einer Beamtenfamilie. Er studierte Jura in Paris (1560[?]⫺65) und Toulouse (1565⫺70). 1574 kehrte er nach Dijon zurück und übernahm verschiedene Ämter in Justiz und Verwaltung; seit 1582 war er Staatsanwalt. In seinen letzten Lebensjahren
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profilierte er sich als fanatischer Katholik und Gegner der Hugenotten2. T. veröffentlichte (z. T. unter dem vom Wappen seiner Familie abgeleiteten Pseud. ,des Accords‘) u. a. frz. und lat. (Gelegenheits-)Gedichte3, eine Slg von satirischen Epigrammen (Les Touches 1⫺5. P. 1585⫺88; großenteils nach Martial, einige Stücke nach zeitgenössischen frz. Vorbildern4) und eine Satire auf einen zum Protestantismus konvertierten Advokaten in makkaronischem Latein (Cacasanga. P. 1588). 1583 (bzw. Ende 15825) erschien in Paris das 1. Buch der Bigarrures, einer angeblich vier Bücher umfassenden Enz. aller Arten von Wortspielen6. Der Titel charakterisiert das Werk als Kunterbunt aus Textfetzen, freilich in durchaus systematischer Anordnung7. T., der über eine umfassende humanistische Bildung verfügte8, zitiert Beispiele aus der lat., griech. und frz. Lit. sowie der mündl. Tradition, aber auch Bonmots oder Versprecher, die er selbst gehört hatte. Die 16 Kap. des Buches handeln von Bilderrätseln, Sprachspielen wie Anagramm, Palindrom, Akrostichon, Lipogramm u. a., Gedichtformen wie der Sestine oder dem Epitaph, Volksetymologien (als ,allusions‘ bezeichnet), Geheimschriften (Zahlenund Buchstabencodes) und bes. ausführlich von Kalauern, beabsichtigten und unbeabsichtigten sprachlichen Doppeldeutigkeiten; die Beispiele lassen eine an J Rabelais9 erinnernde Vorliebe für Sexuelles oder Skatologisches erkennen. Im 6. Kap. über mehrdeutige sprachliche Äußerungen erwähnt T. u. a. die Eulenspiegeleien J Äsops, der seinem Herrn z. B. das Becken zum Händewaschen ohne Wasser oder Wasser in der hohlen Hand brachte (52 F⫺G10; cf. J Wörtlich nehmen); mehrdeutige Orakel wie die Prophezeiung Apollos, Krösus werde ein großes Reich zerstören, wenn er Persien angreife (55 F⫺G); mehrdeutige Gesten: um einen Räuber zu retten, legt der hl. J Franz von Assisi die Hand an sein Ohr und erklärt den Verfolgern, da sei er nicht durchgekommen (der Heilige meint, ,durch diesen Gehörgang‘, die Räuber denken, ,durch diesen Weg‘ ⫺ so hat der Heilige nicht gelogen); außerdem führt T. die Ausrede der von ihrem kleinen Sohn beim Ehebruch überraschten Frau an, der Priester in ihrem Bett wäre ,Gott‘; einen Monat später sieht der Junge diesen Priester vorbeigehen und erklärt seinem Vater, das sei ,Gott, der bei seiner Mutter geschlafen hat‘ (78 D⫺G; cf. auch AaTh/ ATU 1358*: cf. J Ehebruch belauscht).
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Tabourot des Accords, Estienne
Generell deutet T. den situativen Rahmen der Pointe nur äußerst knapp an, wie es dem Stil der Fazetie entspricht11. J Poggio, den Begründer der Gattung, führt T. (86 H⫺87 A) als Qu. für die am Rande erwähnte Geschichte vom Lausknicker an (AaTh/ATU 1365 C: cf. Die widerspenstige J Ehefrau). Die einzige längere Erzählung im 1. Buch (127 E⫺130 A) findet sich im Kap. über die Volksetymologie; sie schildert, wie der J Alte vom Berge, der Assassin geheißen habe, seine Auftragsmörder rekrutierte. Das unmittelbar nach dem ersten erschienene 4. (und letzte) Buch der Bigarrures (P. 1585) führt u. a. Jean J Bodin und Pierre J Boaistuau als Qu.n an (P. 1585; das 2. und 3. Buch wurden nie geschrieben). T., der in der Zwischenzeit die ersten beiden Bücher von Michel de Montaignes Essais (1580) kennengelernt hatte12, veröffentlichte hier drei eigene ,Essais‘ über Kindererziehung, unrechtmäßig geführte Adelstitel und Zauberei; an die Thematik des 1. Buchs schließt nur ein Kap. zur Verslehre an. Der Nachdr. des 4. Buchs von 1586 enthält erstmals die Apophthegmes du Sr Gaulard13 (bzw. den 1. von zwei Teilen, mit 127 Aussprüchen)14. Während das Apophthegma gewöhnlich als Klugrede definiert wird, verkörpert Gaulard, ein Edelmann aus der Franche-Comte´ (im 16. Jh. zu Spanien gehörig), den Typus des Dummkopfs15. Seine (aus einer nur sehr knapp evozierten Situation heraus zu erklärenden) Aussprüche zeigen u. a., daß er unfähig zur Abstraktion ist16: Er versteht nicht, warum sich die Häuser, die rechts der Straße standen, als er in die Stadt fuhr, auf dem Heimweg plötzlich links befinden. Einen Maler bittet er, ihn im Sitzen zu porträtieren; es würde ihn ermüden, auf dem Bild immer stehen zu müssen. Neben nur hier belegten Aussprüchen enthält die Slg auch weitverbreitete Dummenschwänke17 (z. B. AaTh/ATU 1255: J Erdloch für Aushub graben). Neben Poggio benutzte T. auch Heinrich J Bebels Fazetien als Qu.18 Die Escraignes dijonnoises19, deren 1. (und einziges) Buch 1588 erschien, sind eine Kompilation von Anekdoten, die zumeist nur aus einer mehr oder weniger witzigen Replik oder einer skatologischen Handlung bestehen20. Während des Winters wurden im Dijon des 16. Jh.s große Erdhütten (escraignes) errichtet,
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in denen sich Angehörige der Unterschicht zum Spinnen (und Geschichtenerzählen) trafen (J Spinnstube). T., der viel Sympathie für die einfachen Leute empfand21, griff in seinem letzten Werk auf die eigentlich veraltete Form der Rahmenerzählung22 zurück. Von den ca 50 Geschichten sind etwa 20 skatologischen, etwa zehn sexuellen Inhalts23. Zu den meisten finden sich Parallelen in zeitgenössischen Slgen24. T.s Schriften hatten großen Erfolg und erlebten zahlreiche Aufl.n (das 1. Buch der Bigarrures wurde bis 1628 mindestens 28mal gedruckt25). Seit der 2. Hälfte des 17. Jh.s ließ das Interesse nach. Daß T. dennoch nie völlig in Vergessenheit geriet, beweist z. B. Honore´ de Balzac, der die Inspiration zu seinen im Stil des 16. Jh.s geschriebenen Contes droˆlatiques (1832⫺37) u. a. in T.s Schriften fand26. 1 Choptrayanovitch, G.: E. T. des Accords. E´tude sur sa vie et son œuvre litte´raire. Dijon 1935 (Nachdr. Genf 1970); Pe´rouse, G.-A.: Nouvelles franc¸aises du XVIe sie`cle. Images de la vie et du temps. Genf 1977, 419⫺451; Moureau, F./Simonin, M. (edd.): T., seigneur des Accords, un Bourguignon poe`te de la fin de la Renaissance. P. 1990. ⫺ 2 Quenot, Y.: T. ligueur, de janvier 1589 a` juin 1590. In: Moureau/Simonin (wie not. 1) 21⫺31. ⫺ 3 Pe´rouse (wie not. 1) 420. ⫺ 4 Simonin, M.: Pour le Commentaire des œuvres de T. In: Moureau/Simonin (wie not. 1) 188⫺194. ⫺ 5 T., E.: Les Bigarrures du Seigneur des Accords (Premier livre) 1⫺2. ed. F. Goyet. Genf 1986, hier t. 1, XLVII⫺L (Faks. der Ausg. P. 1588); cf. auch T., E.: Les Bigarrures. ed. G.-A. Pe´rouse. P. 2004. ⫺ 6 Goyet, F.: Bigarrure et bigarrures. In: Me´langes sur la litte´rature de la Renaissance. ed. P. G. Castex. Genf 1984, 567⫺579, hier 572. ⫺ 7 ibid., 569. ⫺ 8 Pe´rouse (wie not. 1) 419. ⫺ 9 Gre`ve, M. de: T. rabelaisien et rabelaisant. In: Moureau/Simonin (wie not. 1) 77⫺83; Rigolot, F.: Rabelais et T. Omnia tentate. ibid., 85⫺98. ⫺ 10 Verweise auf die Blattzählung der Ausg. T. 1986 (wie not. 5). ⫺ 11 Soons, A.: The Facetia in the Works of E. T. des Accords. In: Fabula 12 (1971) 179⫺188. ⫺ 12 Pe´rouse, G.-A.: E. T. et les Essais de Montaigne. In: „D’une fantastique Bigarrure“. Festschr. A. Tournon. P. 2000, 57⫺69. ⫺ 13 T., E.: Les Bigarrures du Seigneur des Accords. Avec les Apophthegmes du Sieur Gaulard et les Escraignes dijonnoises 1⫺3. [ed. A. Mertens.] Brüssel 1866, hier t. 3, 181⫺223 (Genf 1969, 195⫺205). ⫺ 14 Pe´rouse, G.-A.: Sur les „Apophtegmes du Sieur Gaulard“. In: Moureau/Simonin (wie not. 1) 121⫺137. ⫺ 15 Die Hypothese von Pe´rouse ([wie not. 12] 64 sq.), Gaulard könne ein Porträt Montaignes sein, hat anscheinend wenig Zustimmung gefunden; cf. auch Bowen, B. C.: T. facetus. Le Sieur Gaulard. In: Moureau/Simonin (wie not. 1) 101⫺107, hier 104 sq. ⫺ 16 Pe´rouse (wie
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Tabu
not. 1) 128⫺131; cf. Glidden, H. H.: Gaulard e´piste´mologue. In: Moureau/Simonin (wie not. 1) 109⫺ 119. ⫺ 17 cf. Simonin (wie not. 4) 194⫺196. ⫺ 18 ibid. ⫺ 19 T. (wie not. 13) t. 3, 224⫺313 (Genf 1969, 205⫺227). ⫺ 20 Wetzel, H. H.: Märchen in den frz. Novellenslgen der Renaissance. B. 1974, 132. ⫺ 21 Pe´rouse (wie not. 1) 440 sq. ⫺ 22 ibid., 429. ⫺ 23 ibid., 430. ⫺ 24 Simonin (wie not. 4) 184⫺188. ⫺ 25 T. 1986 (wie not. 5) hier t. 1, LIX. ⫺ 26 Conner, W.: The Influence of T. on Balzac’s „Contes droˆlatiques“. In: Romanic Review 41 (1950) 195⫺205.
Bamberg
Albert Gier
Tabu 1. T. als Konzept in Religionen Ozeaniens ⫺ 2. T. als wiss. Begriff ⫺ 3. T.phänomene in der Sprache ⫺ 4. T.phänomene im populären Erzählgut
1 . T. a ls Ko nz ep t i n Rel ig io ne n O ze an ie ns. Wie Mana (J Präanimismus), Fetisch (J Fetischismus), Tattoo (Tätowierung) und Totem (J Totemismus) ist T. einer der wenigen Begriffe, den moderne europ. Sprachen aus einer ,primitiven‘ Religion übernommen haben. J. Cook hatte in den Aufzeichnungen seiner 3. Reise (1776⫺80) die Verwendung des Begriffs auf Atui (Cook-Inseln) beschrieben1. Seitdem sind die Bemühungen nicht abgerissen, den Begriff (polynes. tapu, Tonga: tabu, hawaiian.: kapu) präzise zu fassen. In jedem Fall bedeutet er eine massive Markierung oder Hervorhebung einer Sache, eines Menschen oder einer Verhaltensweise2. Unabhängig von der Frage nach einer ,wahren Bedeutung‘ sind die verschiedenen Deutungsversuche im 19. und 20. Jh. selbst wichtige Fakten der Geschichte der Religionswissenschaft und ihrer Bemühungen um das kulturell J Fremde (cf. Kap. 2). E. Tregear (1891)3 übersetzte das gemeinpolynes. Wort tapu mit „under restriction, prohibited“ und differenzierte u. a. die beiden Teilbedeutungen „sacred, holy“ und „to be defiled“. Der gemeinpolynes. Gegenbegriff ist noa („made common; not under tapu or other restriction; without restraint“)4. Neuere Forschungen haben jedoch eine Erklärung mit Hilfe des europ. Konzepts der Heiligkeit fragwürdig gemacht5: tapu signalisiert danach eine Verbotsregel, durch die ein Objekt oder Mensch dem täglichen Gebrauch entzogen
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wird, bzw. das betr. Objekt oder den Menschen selbst. Doch ist auch mit einem abgeschwächten oder übertragenen Gebrauch in den polynes. Sprachen zu rechnen. T.s können das Berühren einer Sache oder eines Menschen, das Betreten einer Örtlichkeit (Kultstätte, Begräbnisplatz), das Anschauen, Sehen oder Hören eines Rituals, das Essen oder Trinken einer Speise (etwa eines Totemtiers), das Aussprechen eines Wortes oder Namens oder überhaupt Tätigkeiten zu bestimmten Zeiten oder an bestimmten Orten verbieten. Sie können sich auf alle Mitglieder eines Stammes bzw. Volkes beziehen, nur auf bestimmte Gruppen (etwa Frauen, nicht-initiierte Jugendliche, Trauernde) oder (sehr häufig) nur auf Einzelpersonen. Priester, Könige oder Häuptlinge unterliegen oft massiven T.bestimmungen. Zum Wesen des T.bruchs gehört es, daß er gewissermaßen automatisch eine negative Folge nach sich zieht, die nicht unbedingt als J Strafe der Götter oder ähnlicher Instanzen interpretiert wird, sondern von der angenommen wird, daß sie eher naturhaft, von selbst eintritt. Auch haben T.s selten ethische Wertigkeit: Ihre Übertretung ist nicht böse, sondern in erster Linie gefährlich (auf die jeweiligen Gesellschaften wirkt das T. nicht irrational). Die Grenzen zum ethisch begründeten J Verbot sind fließend, dürfen aber nicht übersehen werden. Das T. als soziales Phänomen ist eine Funktion gesellschaftlicher Klassifikationsprozesse, die sich in Symbolsystemen ausdrücken6. T.s können Schwache schützen (Frauen, bes. schwangere; Kinder) und gesellschaftliche Rücksichten installieren (ein Menstruationstabu ist in vielen Kulturen bezeugt7), aber auch Machtstrukturen erhalten. Auf Priester oder Häuptlinge bezogene T.s inszenieren deren Status, begrenzen aber auch Macht8. Das T. kann sich durch Berührung ausbreiten ⫺ es wirkt ,ansteckend‘; es kann aber auch durch versehentliche Berührung (bei den J Maori vor allem durch eine Frau) oder z. B. durch eine falsche Speise ausgelöscht werden. Doch wurde die Angst vor T.brüchen in der älteren ethnol. Lit. oft stark übertrieben. In manchen Situationen ist die kultische Beseitigung eines T.s erforderlich9. Auch das Nebeneinander unterschiedlicher ⫺ etwa mit verschiedenen Gei-
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Tabu
stern verbundener ⫺ T.systeme ist nicht selten. Gemeinsame T.s stabilisieren soziale Bezugssysteme, während das Zusammenbrechen traditioneller T.s ein Indiz für massive gesellschaftliche Labilität ist10. Doch kann ein T.system auch Paradigmenwechsel überstehen: Bei den christl. Maori sind Kirchen, Pfarrer und die Bibel tapu; das Tischgebet macht ein Essen tapu. Aus eigenem Erleben und mit hoher Authentizität, wenngleich literarisiert, hat Robert Louis J Stevenson die Schwierigkeiten, polynes. T.sitten zu verstehen, geschildert11. 2 . T. a ls wi ss . B eg ri ff. Mitte des 19. Jh.s. hatte das Wort T. die gängigen Lexika erreicht12, wurde aber noch nicht für kulturelle Phänomene außerhalb des ozean. Raum verwandt. Ende des 19. Jh.s wurde T. dann zu einem zentralen Begriff der Religionswissenschaft und Kulturanthropologie und erreicht auch die Erzählforschung. W. R. Smith führte den Begriff T. in die Religionswissenschaft ein, um den archaischen Charakter semit. Heiligkeitskonzepte deutlich zu machen und von späteren, stärker ethisierenden Entwicklungen abzuheben13. Das Heilige und das Unreine (Gefährliche bzw. Unberührbare) seien in frühsemit. Zeit nicht unterschieden worden und aus T.konzepten zu erklären. T.vorschriften seien später im Zuge des Glaubens an einen persönlichen Hochgott als dessen Weisungen ethisiert worden14. Die Rezeption des Begriffs in J. G. J Frazers magnum opus The Golden Bough (1890)15 sicherte ihm große Breitenwirkung. Frazers Bearb. der Stichwörter taboo und totem für die 9. Aufl. der Enc. Britannica (1886) signalisiert den Wechsel des Begriffs in die Anthropologie16 und damit zugleich die Hinwendung der klassischen Altertumswissenschaft zu einem Erklärungspotential, das durch die ,primitiven‘ Religionen auch für ,hochkulturelle‘ Phänomene geboten wird. T.hafte Regeln, die z. B. das Leben des altröm. Flamen dialis umgaben (Aulius Gellius, Noctes Atticae 10,15) oder die Akusmata der Pythagoreer, erhielten einen ethnol. Hintergrund17. Frazers an Reichhaltigkeit bis heute nicht übertroffene Materialsammlung (u. a. zu Namentabus, T.s im Umgang mit Eisen, Waffen, Speichel, Haaren, Nahrung, Blut, Leichen etc., T.s für einzelne Personengruppen
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u. a.) diente später auch als primäre Grundlage der Katalogisierung in S. J Thompsons Motif-Index (Mot. C). Seit den 1890er Jahren wurde der Begriff T. vor allem in der brit. Erzählforschung intensiv rezipiert18. Ganz auf Frazers Materialsammlung beruht auch S. J Freuds Aufsatzsammlung Totem und T. (1913). Freud deutet das T. als gesellschaftliche Analogie zur zwangsneurotischen Ambivalenz von Versuchung (Trieb) und Verbot, die unter Umständen durch Verschiebungsphänomene verschleiert wird: Das T. wird nicht begründet, weil das Tabuierte zugleich verboten und begehrt ist. In der Folge wurden ,tabuisierte‘ Bereiche wie J Obszönitäten und J Skatologie als Gegenstand volkskundlicher Forschung entdeckt (F. S. J Krauss, G. J Legman, V. J Randolph). E´. Durkheim deutete das T. (dessen Primärform das Berührungstabu sei) als religiöses Verbot, welches eine rigide (räumliche oder zeitliche) Trennung des Heiligen vom Profanen durchsetzt19. Das Heilige wird so durch ein sozial vermitteltes Regelwerk konstituiert und strukturiert seinerseits Gesellschaft. A. R. Radcliffe-Brown hat den Zusammenhang zwischen T. und Kultfähigkeit präzisiert20. Die jüngere Forschung hat detaillierte Beschreibungen von T.regeln und -ritualen nicht nur für Ozeanien, sondern analog auch für andere Kulturen vorgelegt21, gegenüber transkulturellen Erklärungen aber seit dem Ende der Religionsphänomenologie22 Zurückhaltung geübt. Ab etwa 1970 wird der T.begriff in allen modernen Gesellschaften breit rezipiert, dabei jedoch in seiner Bedeutung abgeschliffen. Die postmoderne Faszination an T.brüchen hat Vorbilder freilich schon in antiken Kulturen (J Petronius). Begegnen T.brüche im Kernbereich von Religion, so berührt sich das Motivfeld mit J Frevel, J Blasphemie und J Sakrileg (so in Sagen über Verstöße gegen die Sonntagsruhe23 oder über Brotfrevel [ATU 779 G*: J Ährenfrevel; cf. J Brotlegenden]). Diese Vergehen sind bes. Thema der ,T.sage‘ bzw. der Warnsage, die sich gegen Normverstöße (J Norm und Normverletzung) richtet, und spiegeln oft sehr altertümliche T.vorstellungen wider24. Nach vorchristl. Vorstellungen bewirkt Nacktschau der Göttinnen z. B. J Blindheit oder Wahnsinn (J Nackt, Nacktheit). T.bruch ist gefährlich (J Gefahr): Er beschwört gewisser-
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Tabu
maßen auf magische Weise das Ausgesprochene. Gegenüber substantiellen Deutungen von T. und Mana hat sich eine relationale Sicht des T.s (und eine attributive des Manas) durchgesetzt. Ein T. kann grundsätzlich nur als Teil eines kulturellen Systems verstanden werden. Isolierende Betrachtung führt fast immer zu Karikierungen. Speisetabus25 z. B. wurden in der Moderne oft als diätetische Regeln mißverstanden, z. T. aber auch bewußt im Sinn einer Gesundheitsvorsorge umgedeutet (z. B. in Judentum und Islam). 3 . T.p hä no me ne in de r S pr ac he. Im Lauf der Sprachgeschichte wurden immer wieder bestimmte Begriffe vermieden bzw. aus T.gründen ersetzt. So ist aus ,primitiven‘ Gesellschaften der Brauch gut dokumentiert, J Namen zu vermeiden, wenn sie dem einer bedeutenden verstorbenen Person (bes. eines Häuptlings) gleichen oder ähneln (Zulu, Polynesier, Madegassen etc.)26. Diese oft streng eingehaltenen T.s haben in manchen Sprachen die Ersetzung selbst elementarer Begriffe wie Wasser oder Luft, von Tiernamen oder sogar von Zahlwörtern bewirkt. Auch Religionen in Hochkulturen kennen solche T.s; z. B. dürfen die Jeziden manche Wörter, die an das Wort Satan erinnern, nicht aussprechen27. Im Bereich der idg. Sprachen richteten sich Tabuisierungen früh auf Namen gefährlicher Tiere (seltener auf Pflanzen) und führen damit in die unmittelbare Nähe der Wahrnehmung von Tieren im Märchen; z. B. ist das idg. Wort für Bär (erhalten in griech. arktos, lat. ursus, altir. art) durch Ersatzworte wie dt. Bär, slav. medved (Honigesser) etc. verdrängt worden28. Schon im Altägyptischen wurden Namen für Schlange und Krokodil regional tabuisiert, was bereits J Herodot (2,69) auffiel. W. Havers hat eine Typologie der Ersatzmittel für tabuisierte Wörter aufgestellt29. Dabei unterscheidet er tabuistische Lautveränderungen (phonetische Entstellung: Potzblitz für Gottes Blitz, engl. heck für hell), Gebrauch von Lehnwörtern, Antiphrasis, Stellvertretung durch Pronomina, euphemistische Kontaminationen (Wortkreuzungen), Sinnstreckungen, satzhafte Umschreibungen, Captatio benevolentiae, Ellipse, Subjekts-Instrumental, Generalisierung und T.-Plural. Auch Metaphern und Fachvo-
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kabular können Strategien der Tabuisierung sein. Eine T.verletzung ist mehr als ein Bruch sprachlicher Etikette. Der Tabuisierung unterliegen (in unterschiedlichem Ausmaß) auch Redeformen wie J Fluch, Schwur (J Eid, Meineid), Beleidigung, Blasphemie, obszöne und skatologische Sprache. Die Verwendung tabuisierter Begriffe unterscheidet sich nach sozialem Status, Geschlecht, Alter u. a. Merkmalen der Benutzer, z. T. in deutlichem Unterschied zu den Regeln, die in der betr. Sprache gelten, und ist emotional hoch besetzt. T.wörter30 betreffen oft die biologische Bestimmtheit des Menschen (Sexualität, Geburt, Tod, Schwangerschaft, Ausscheidung, Krankheiten). Auch sakrale Vokabeln können in der Alltagssprache gemieden werden. Das T. ist deutlich vom Verbot zu unterscheiden, da es nicht Gegenstand eines Begründungsdiskurses ist und im Falle des Bruchs oft keine konventionalisierten Reparaturmechanismen (Strafen) besitzt. Auch in archaischen Gesellschaften haben Begründungen von T.s oft einen nachträglichen, ad hoc- oder spekulativen Charakter. Die neuere T.forschung hat festgestellt, daß sich die Zahl gesellschaftlicher T.s auch in modernen Gesellschaften kaum verringert, sondern in andere Bereiche verlagert, so etwa beim Phänomen der political correctness31. Der J Euphemismus umgeht das T., indem er ein harmonisierendes, gewissermaßen harmloseres oder besänftigendes Ersatzwort verwendet32. Im sozialen Ventil des J Witzes sind T.brüche häufig. 4 . T.p hä no me ne im po pu lä re n E rz äh lg ut. T.vorstellungen werden bes. in folgenden Grundkonstellationen für Erzählgut wichtig : (1) Zustandekommen eines T.s (selten, gelegentlich von Speisetabus)33; (2) ein T.bruch führt zu schicksalshaften Verwicklungen mit meist unglücklichem Ausgang (Schema: T.verletzung als opus contra naturam führt zu Strafe/Unheil); (3) ein T.bruch hat in paradoxer Weise eine befreiende, emanzipierende oder sonst glückliche Wirkung (Schema: Krise ⫺ T.bruch ⫺ heilvolle Wendung). Typ (2) ist eher in der Sage (cf. AaTh/ ATU 401 A*: The Soldiers in the Enchanted Castle) und in epischen Überlieferungen beheimatet, während Typ (3) charakteristisch für
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Tabu
das Märchen ist, welches T.s fast ausschließlich thematisiert, wenn sie gebrochen werden (J Bewährungsprobe). So sind das Betreten eines verbotenen J Zimmers (Mot. C 611) oder das Mißachten eines Sichttabus (Mot. C 32.1) „im Märchen nur Übergangsmotive“34, die den Handlungsverlauf auslösen oder verzögern (J Dynamik, J Retardierende Momente), aber letztlich das Glück des Helden oder der Heldin bedeuten. In AaTh/ATU 321: J Augen der Blinden zurückgebracht ist ein lokales Viehweidetabu handlungsauslösend (cf. AaTh/ATU 314: J Goldener). Solche im Märchen weitverbreiteten T.phänomene werden tiefenpsychol. gerne als Ausdruck von Verdrängtem gedeutet, das ,aufgebrochen‘ werden muß35. Ein T.bruch kann jedoch auch den Verlust einer magischen Hilfe oder übernatürlichen Fähigkeit bedeuten36. In jedem Fall ist Vorsicht gegenüber der Anwendung moderner Sichtweisen auf den Umgang mit T.brüchen geboten. Methodisch können hinter automatisch eintretenden Unheilsfolgen von Verbotsübertretungen oft ältere T.vorstellungen vermutet werden. In den T.bereich stößt das Märchen auch insofern vor, als seine Verbote oft nicht begründet werden (anders z. B. AaTh/ATU 407: J Blumenmädchen, wo in manchen Fassungen ein Sprechtabu bzw. Schweigegebot verhindern soll, daß der Teufel von der weiblichen Hauptfigur erfährt). Das traditionelle Erzählgut kennt individuelle, oft einem Mann von einer Frau auferlegte T.s (J Schweigen; AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau; cf. aber auch J Lohengrin, J Schwanenritter). Bes. individuelle T.s begegnen auch in J Initiationen und J Jenseitsreisen37. Die Ehe mit einem jenseitigen Wesen unterliegt immer spezifischen T. s. Verboten sind bestimmte J Fragen (bes. auch nach dem Namen; cf. J Mahrtenehe: Die gestörte M.), das Sehen im Zustand der Nacktheit (cf. AaTh/ATU 425 A, B: cf. J Amor und Psyche), zu bestimmten Zeiten etc. Diese T.s werden dann allein schon wegen der Notwendigkeit der Handlungsentwicklung fast immer gebrochen (cf. J Melusine, J Undine). Oft sind J Neugier und T.bruch verbunden (J Pandora; AaTh/ATU 1416: Die neue J Eva; cf. auch AaTh/ATU 537: J Etana). Sakrilegische T.brüche werden be-
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straft, z. B. in Bergbausagen (J Köhler). Die Tradierung von mythischem Erzählgut unterliegt in archaischen Kulturen oft selbst T.s, die sich z. B. gegen die Weitergabe an Uninitiierte oder ,Weiße‘ (Menschen aus westl. Kulturen) richtet38. Kulturgeschichtlich umstritten sind altertümlich wirkende T.züge in AaTh/ATU 310: J Jungfrau im Turm; eine Ähnlichkeit mit dem T.brauch der ,Pubertätshütte‘ wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Eines der stärksten internat. verbreiteten T.s, welches auch in populärem Erzählgut vielfach thematisiert wird, ist das J Inzest-T.39 Bes. Interesse haben die altertümlichen individuellen T.s in der ir. Helden- und Königssage gefunden, wobei es sich oft um die Meidung bestimmter Örtlichkeiten oder Personen handelt40. Das T. (ir. geis, Plural gessa, später geasa) wird hier meist einem Mann von einer Frau auferlegt, in einer älteren mythischen Schicht vermutlich durch eine Göttin. Es wird fast immer gebrochen, was meist den Tod des Helden nach sich zieht. Oft besteht das T. auch in einer scheinbar unlösbaren J Aufgabe. 1 cf. Kippenberg, H. G.: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Mü. 1997, 115; Swain, T./Trompf, G.: The Religions of Oceania. L. 1995, 10; Seibel, K.: Zum Begriff des T. s. Eine soziol. Perspektive. Diss. Ffm. 1990, 62⫺74; cf. Chamisso, A. von: Sämtliche Werke 2. Mü. 1975, 135⫺138, 309 sq., 321, 453⫺ 455; id.: Über die Hawai. Sprache. Faks. ed. S. H. Elbert. Amst. 1969. ⫺ 2 cf. Lehmann, F. R.: Die polynes. T.sitten. Lpz. 1930 (grundlegend); Handy, E. S. C.: Polynesian Religion. Honolulu 1927; Steiner, F. B.: Taboo. (L. 1956) Harmondsworth 1967; Nevermann, H. u. a.: Die Religionen der Südsee und Australiens. Stg. 1968, bes. 17 sq.; Mulholland, J. F.: Hawaii’s Religions. Rutland, Vt 1970; Kamakau, S.: Ka Po’e Kakiho. The People of Old. Honolulu 1991; Greschat, H.-J.: Mana und Tapu. Die Religion der Maori auf Neuseeland. B. 1980; id.: Mana und T. In: TRE 22 (1992) 13⫺16; Shires, M. P.: Tapu. In: J. of the Polynesian Soc. 91 (1982) 29⫺51; Schlang, S.: Tapu und religiöser Wandel. In: Living Faith ⫺ Lebendige religiöse Wirklichkeit. Festschr. H.-J. Greschat. Ffm. 1997, 219⫺229; Wernhart, K. R.: Mensch und Kultur auf den Inseln unter den Winden in Geschichte und Gegenwart. Wien 1974; Shore, B.: Mana und Tapu. In: Howard, A./Borifsky, R. (edd.): Developments in Polynesian Ethnology. Honolulu 1989; Gell, A.: Closure and Multiplication. In: Coppet, D. de/Iteanu, A. (edd.): Cosmos and Society in Oceania. Ox. 1995; Murnau, F. W.: Südseebilder. Texte, Photos und der Film „T.“ ed. E. Patalas. B. 2005; allg. cf. Goldman, I.: Ancient Polynesian Soc. L. 1970. ⫺ 3 Tregear, E.: The Maori-Polynesian
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Tabu
Comparative Dict. (Wellington 1891) Faks. Oosterhout 1969, 472 sq.; cf. Dempfwolff, O.: Vergleichende Lautlehre des austrones. Wortschatzes 3. B. 1938, 113 (pali‘), 115 (pan[t]ang). ⫺ 4 Tregear (wie not. 3) 269 sq. ⫺ 5 Kritisch schon Lehmann (wie not. 2). ⫺ 6 Douglas, M.: Natural Symbols. Explorations in Cosmology. L. 1970 (rev. ed. 1996; dt.: Ritual, T. und Körpersymbolik. Ffm. 1986); ead.: Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo. L. 1966 (dt.: Reinheit und Gefährdung. B. 1985); cf. Wagner, R.: Taboo. In: Eliade, M. (ed.): Enc. of Religion 14. N. Y. 1987, 233⫺236; Lambek, M.: Taboo. In: Internat. Enc. of the Social and Behavorial Sciences 23. Amst. 2001, 15429⫺ 15431; Cohen, Y.: Taboos and Prohibitions in Hittite Society. Heidelberg 2002. ⫺ 7 cf. Frandsen, P. J.: T. In: Lex. der Ägyptologie 6. Wiesbaden 1986, 138⫺ 145, hier 142; Verdier, Y.: Fac¸ons de dire, fac¸ons de faire. P. 1979, 17⫺74; Beauvoir, S. de: Le deuxie`me Sexe 1. [P. 1961], 243⫺248. ⫺ 8 cf. Freud, S.: G. W. 9: Totem und T. ed. A. Freud. Ffm. 61978, hier 53; zum politischen Aspekt cf. Kohl, K.-H.: Fetisch, T., Totem. Zur Archäologie religionswiss. Begriffsbildung. In: Gladigow, B. u. a. (edd.): Neue Ansätze der Religionswiss. Mü. 1983, 59⫺74. ⫺ 9 Smith, J.: Tapu Removal in Maori Religion. Wellington 1974. ⫺ 10 Alexander, W. D.: Overthrow of the Ancient T. System in the Hawaiian Islands. In: Annual Report of the Hawaiian Historical Soc. 25 (1917) 37⫺45; Levin, S. S.: The Overthrow of the Kapu System in Hawaii. In: J. of the Polynesian Soc. 77 (1969) 402⫺ 430; Webb, M. C.: The Abolition of the Taboo System in Hawaii. ibid. 74 (1965) 21⫺39. ⫺ 11 Menikoff, B.: Robert Louis Stevenson and „The Beach of Falesa´“. Stanford, Calif. 1984. ⫺ 12 Meyer, J. (ed.): Das große Conversations-Lex. für die gebildeten Stände 2,11. Hildburghausen/Amst./P./Phil. 1851, 26 sq. ⫺ 13 Smith, W. R.: Lectures on the Religion of the Semites 1. (Edinburgh 1889) L. 21894, bes. 152⫺164, 446⫺454; cf. Bediako, G. M.: Primal Religion and the Bible. W. R. Smith and His Heritage. Sheffield 1997, 330⫺334. ⫺ 14 cf. Singer, J.: Taboo in the Hebrew Scriptures. Chic. 1928; Albert, R.: Religionsgeschichte Israels. Göttingen 1992, 155 sq., 346, 424. ⫺ 15 Frazer, J. G.: The Golden Bough. 2: Taboo and the Perils of the Soul. L. 3 1911. ⫺ 16 Ackerman, R. J.: J. G. Frazer. His Life and Work. Cambr. 1990, 62. ⫺ 17 cf. Burkert, W.: Kulte des Altertums. Mü. 1998, 139 sq., 143, 149, 244 (not. 41); Parker, R.: Miasma. Ox. 1983; eine antike T.liste steht z. B. bei Ovid, Fasti 4,747⫺762 (Hirten); cf. ferner Plutarchs „De superstitione“ und „Quaestiones Romanae“. ⫺ 18 cf. etwa Hartland, E. S.: The Science of Fairy-Tales. L. 1891, Reg. s. v. Taboo; Clodd, E.: Tom Tit Tot. An Essay on Savage Philosophy in Folk-Tale. L. 1898, 114⫺191. ⫺ 19 Durkheim, E´.: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Ffm. 1981, 405⫺440. ⫺ 20 RadcliffeBrown, A. R.: Taboo. The Frazer Lecture 1939. Cambr. 1939. ⫺
21
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cf. z. B. Skeat, W. W.: Malay Magic. An Introduction to the Folklore and Popular Religion of the Malay Peninsular. L. 1900 (1965), Reg. s. v. Taboos; Westermann, D.: Afrik. T.sitten in ihrer Einwirkung auf die Sprachgestaltung. B. 1940; Webster, H.: Taboo. A Sociological Study. Stanford, Calif. 1942; Ruud, J.: Taboo. A Study of Malagasy Customs and Beliefs. Oslo/L. 1960; Wagner, R.: Habu. The Innovation of Meaning in Daribi Religion. Chic. 1972; Emmrich, T.: T. und Meidung im antiken China. Bad Honnef 1992; Valeri, V.: The Forest of Taboos. Morality, Hunting, and Identity among the Huaulu of the Moluccas. Madison, Wisc. 2000; das Motivfeld wird auch in Typen- und Motivkatalogen thematisiert, cf. z. B. Schmidt 1, Reg. s. v. T., Namentabu, Verbot; ATU 3, 266 sq. ⫺ 22 cf. Widengren, G.: Religionsphänomenologie. B. 1969, 20⫺45. ⫺ 23 Treutlein, W.: Das Arbeitsverbot im dt. Volksglauben. Bühl 1932. ⫺ 24 cf. Röhrich, L.: T.s in Bräuchen, Sagen und Märchen [1967]. In: id.: Sage und Märchen. Fbg u. a. 1976, 125⫺142; Pfister, F.: T. In: HDA 8 (1936⫺37) 629⫺635; Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948. ⫺ 25 Simoons, F. J.: Eat not this Flesh. Food Avoidances from Prehistory to the Present. Madison, Wisc. 21994. ⫺ 26 cf. Frazer (wie not. 15) 349⫺374; id.: The Fear of the Dead in Primitive Religion 1⫺3. L. 1933/34/36, hier t. 2, 97 sq.; t. 3, 42⫺48. ⫺ 27 cf. Guest, J. S.: Survival among the Kurds. A History of the Yezidis. L./N. Y. 1993, 31. ⫺ 28 Gamkrelidze, T. V./Ivanov, V. V.: Indo-European and Indo-Europeans 1. B./N. Y. 1995, 418 sq. (Bär), 426 (Leopard), 435 sq. (Eber), 437 sq. (Hirsch, Elch u. a.), 444⫺446 (Schlange), 457 (Adler), 516 (Biene), 539 sq. (Eiche), 586 sq. (Regen, Wetterphänomene). ⫺ 29 Havers, W.: Neuere Lit. zum Sprachtabu. Wien 1946; cf. auch Ode´, A. W. M.: Reflexe von T. und Noa in idg. Sprachen. Amst. 1927; Zelenin, D. K.: T. slov u narodov vostocˇnoj Evropy i severnoj Azii (Das Worttabu bei den Völkern Osteuropas und Nordasiens) 1⫺2. Len. 1929/ 30 (materialreich); Loorits, O.: Gedanken-, Tat- und Worttabu bei den estn. Fischern. Tartu 1939; Loprieno, A.: Sprachtabu. In: Lex. der Ägyptologie 5. Wiesbaden 1984, 1211⫺1214; Balle, C.: T.s in der Sprache. Ffm. u. a. 1990. ⫺ 30 cf. Allan, K./Burridge, K.: Forbidden Words. Taboo and the Censoring of Language. Cambr. 2006; Eckler, A. R.: A Taxonomy for Taboo-Word Studies. In: Maledicta 9 (1986⫺87) 201⫺204; Kecskeme´ti, I.: Die Frauensprache als T. im Oirotischen. Hels. 1973; Montagu, A.: The Anatomy of Swearing. N. Y. 1957; Saparta, S.: Linguistic Taboos, Code-Words and Women’s Use of Sexist Language. In: Maledicta 10 (1988⫺89) 163⫺166; Kennedy, R.: Nigger. The Strange Career of a Troublesome Word. N. Y. 2002; Schröder, H.: T. In: Wierlacher, A. (ed.): Hb. Interkulturelle Germanistik. Stg. 2003. ⫺ 31 cf. Depenheuer, O. (ed.): Recht und T. Wiesbaden 2003; Hoffmann, A.: Das Lex. der T.brüche. B. 2003; Kraft, H.: T. Magie und soziale Wirklichkeit. Düsseldorf 2004 (psychoanalytisch); Setzwein, M.:
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Tabula exemplorum
Zur Soziologie des Essens. T., Verbot, Meidung. Opladen 1997; Shattuck, R.: Forbidden Knowledge. N. Y. 1996; Merle, P.: Lexique du franc¸ais tabou. P. 2000; Eggert, H./Golec, J.: T. und T.bruch. Stg. 2002. ⫺ 32 Enright, D. J. (ed.): Fair of Speech. The Uses of Euphemism. Ox. 1985; Urı´a Varela, J.: Tabu´ y eufemismo en latı´n. Amst. 1997; Schorch, S.: Euphemismen in der hebr. Bibel. Wiesbaden 2000. ⫺ 33 z. B. EM 10, 545, not. 19 (Papua-Neuguinea); cf. Begründung eines Speisetabus in Gen. 32,33. ⫺ 34 EM 5, 830. ⫺ 35 Riedel, I.: T. im Märchen. Fbg 3 1990. ⫺ 36 Wilbert, J.: Yupa Folktales. L. A. 1974, 124⫺126; id./Simoneau, K.: Folk Literature of the Mataco Indians. L. A. 1982, 159; Dorson, R. M.: Folktales Around the World. Chic./L. 1975, 360⫺ 364 (Kamerun). ⫺ 37 EM 7, 529 sq. ⫺ 38 EM 7, 123 sq.; EM 5, 882 sq. ⫺ 39 Neuere Lit.: Ceccarelli, F.: Il tabu dell’incesto. Turin 1978; Bronzini, G. B.: Das Inzesttabu in der Volkserzählung und in der Ikonographie. In: Petzoldt, L./Haid, O. (edd.): Beitr.e zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Volkserzählung. Ffm. u. a. 2005, 273⫺290; Turner, J. H./Maryanski, A.: Incest. Origins of the Taboo. Boulder u. a. 2005; Wolf, A. P./Durham, W. H.: Inbreeding, Incest, and the Incest Taboo. Stanford, Calif. 2004. ⫺ 40 Greene, D.: T. in Early Irish Narrative. In: Bekker-Nielsen, H. u. a. (edd.): Medieval Narrative. Odense 1979, 9⫺19; Power, R.: Geasa ´ lög. Magic Formula and Perilous Quests in and A Gaelic and Norse. In: Scottish Studies 28 (1987) 69⫺ ´ 89; Birkhan, H.: Kelten. Wien 31999, 827⫺832; O ´ ga´in, D.: The Lore of Ireland. An Enc. of Myth, hO Legend and Romance. Woodbridge u. a. 2006, 265 sq. u. ö.
Hofheim
Marco Frenschkowski
Tabula exemplorum, Hb. für Prediger, das gewöhnlich u. d. T. Tabula [Tractatus] exemplorum adaptacionum ad omnem materiam in sermonibus ordinem alphabeti ordinata überliefert ist. Als Autor der anonymen Slg wird ein frz. Bettelmönch angenommen, vermutlich ein Franziskaner. Die T. e. entstand zwischen 1261 und 1292, möglicherweise gegen 1277. Der wohl einem ländlichen Milieu entstammende Kompilator, dessen Latein mit frz. Ausdrücken durchsetzt ist, war darum bemüht, den Gläubigen Dogmen und Morallehre der Kirche nahezubringen, indem er sie ihrem geistigen Niveau anpaßte1. Die Slg besitzt keinen Prolog. Das Inhaltsverzeichnis führt 152 alphabetisch angeordnete Rubriken an, von Accidia bis Xristi ascensio, mit insgesamt etwa 400 Exempla2. Jede Rubrik setzt sich aus zwei Teilen zusammen:
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Im erklärenden Teil sind moralische und dogmatische Erläuterungen mit persönlichen Bemerkungen des Kompilators, naturkundlichen Fakten sowie Vergleichen durchsetzt, auf die manchmal Moralisationen, Definitionen und Zitate von Autoritäten folgen; die Exempla des anekdotischen Teils sind gelegentlich von einer Moral begleitet. Die Autoritäten, auf die sich der Kompilator beruft, sind in erster Linie die Bibel, daneben antike weltliche Autoren, die Kirchenväter und ma. Autoren (Anselm von Canterbury, J Bernhard von Clairvaux, Hugo von St. Viktor). Der Rückgriff auf Zwischenglieder wie die Disciplina clericalis des J Petrus Alfonsus, die Historia scholastica des Petrus Comestor (gest. ca 1178), die Enz. De proprietatibus rerum des Bartholomäus Anglicus (gest. nach 1250) und den Tractatus de diversis materiis predicabilibus des J E´tienne de Bourbon3 ist klar erkennbar. Die Exempla schöpfen u. a. aus den Werken profaner und religiöser Autoren des Altertums, so J Valerius Maximus, J Seneca, J Plinius d. Ä., den J Vitae Patrum, J Josephus Flavius, J Hieronymus und den Dialogi J Gregors d. Gr. Unter den ma. Quellen befinden sich zusätzlich zu den genannten Werken Heiligenleben, darunter die Chronik des Erzbischofs Ado von Vienne (9. Jh.), die Gesta rerum Angliae des William of Malmesbury (gest. ca 1143), der Polycraticus des John of Salisbury (gest. ca 1180) und die Disciplina scolarium (13. Jh.) des Pseudo-Boethius. Die meisten Beispielerzählungen stammen jedoch aus Exempelsammlungen; Hauptquelle der T. e. ist der Tractatus de diversis materiis predicabilibus des E´tienne de Bourbon. Aus ihm schöpft die T. e. direkt, ähnlich wie De dono timoris4 von Humbert de Romans (gest. 1277), dessen Einfluß sich ebenfalls bemerkbar macht. Auch die Exempelsammlungen von J Jacques de Vitry und J Odo of Cheriton wurden benutzt. Persönliche Erfahrungen hat der Kompilator kaum in seine Exempla einfließen lassen, außer in Erzählungen, die sich auf das Landleben beziehen und die zahlreiche frz. Ausdrücke und Sprichwörter enthalten. Einige Anekdoten enthalten Zeitbezüge: Sie handeln vom hl. J Franz von Assisi (num. 104, 133, 240), von Ludwig IX. (num. 40, 141, 224), vom engl. König Heinrich III. (num. 10), vom Pariser Bischof Wilhelm von Auvergne (num.
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Tabula exemplorum
253) oder von Gerichtskämpfen (num. 110, 181, 217 a, 239). Der Kompilator hat seine Slg auf einem Basiskatechismus aufgebaut. Die verschiedenen Klassen der Gesellschaft, geistliche wie weltliche, greift er scharf an; Tugend scheint für ihn nur ausnahmsweise zu existieren. Mit dem weltlichen Klerus wie den Religiosen geht er sehr streng um. Zahlreiche Kapitel widmet er dem religiösen und moralischen Leben der einfachen Laien, denen er vor allem ihre Pflichten Gott und der Kirche gegenüber einschärfen will. Er setzt ihnen die Theorie der J Sakramente auseinander, vor allem von Beichte, Eucharistie und Ehe, die Vorschriften für ihre Empfängnis sowie ihre Wirkungen auf das Leben des einzelnen, darüber hinaus andere Pflichten wie die Sonntags- und Feiertagsheiligung, die Einhaltung des vorösterlichen Fastens oder die Zahlung des Zehnten. Er möchte u. a. die Verehrung der Passion J Christi, des Kreuzes, der Jungfrau Maria, der Engel und der Armen Seelen fördern, ermahnt die Christen zu guten Werken (Almosen, Gastfreundschaft) und warnt vor Lastern, Fehlern und Schwächen. Angesichts des unvermeidlichen Todes betont er die Wichtigkeit frommer und sittsamer Lebensführung. Ketzer, Juden und Ungläubige nehmen in der T. e. relativ wenig Platz ein. Innerhalb der Laiengesellschaft bilden Adlige, Wucherer, Vögte, Richter, Advokaten, Kaufleute, Bauern, Dienstboten, Blinde, Gaukler, Possenreißer, Zauberer oder Diebe bes. Zielscheiben. Der J Teufel als Urheber aller Laster und Fehler der Gesellschaft ist überaus präsent. Ferner finden sich zahlreiche Erzählungen über J Visionen und Erscheinungen sowie Geschichten über Tiere. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Ausw.)5: num. 1 ⫽ Fauler Diener schickt Hund nach draußen, um zu sehen, ob es noch regnet (cf. AaTh/ATU 1560**: „Is It still Raining?“). ⫺ 4 ⫽ Kuckuck frißt seine Ziehmutter (Dicke/Grubmüller, num. 353). ⫺ 36 ⫽ AaTh/ATU 838: J Sohn am Galgen. ⫺ 39 ⫽ Kruzifix verbeugt sich vor einem Barmherzigen (Mot. D 1622.1). ⫺ 52 ⫽ Tochter besucht guten Vater im Himmel, böse Mutter in der Hölle und will Vater nacheifern (Mot. V 511.2, V 511.2.3). ⫺ 57 a, 137 ⫽ Fuchs stellt sich tot und fängt Vögel, die seine Zunge fressen wollen. ⫺ 68 ⫽ Zauberer testet Dankbarkeit seines Schülers, indem er ihn glauben macht, er sei der Kaiser von Konstantinopel (Mot. H 1565.1). ⫺ 99 a, cf. 255 a ⫽ AaTh/ATU 225A: cf. J Fliegen lernen. ⫺ 100 ⫽ Blinde töten sich gegenseitig beim
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Versuch, ein Kalb (Schwein) zu schlachten (cf. Mot. K 1081). ⫺ 101 ⫽ Frau legt Leprakranken auf ihr Bett, er verschwindet und hinterläßt süßen Geruch (Mot. Q 45.1, V 412). ⫺ 108 a ⫽ Äffin und ihre Kinder: geliebtes verloren, ungeliebtes gerettet (Mot. L 146.1). ⫺ 114 ⫽ Alte Frau nimmt Empfehlung der Bestechung wörtlich und schmiert Butter auf Hände des Bischofs (Mot. J 2475). ⫺ 115 ⫽ Korrupter Richter wird geschunden und seine Haut an den Richterstuhl gehängt (Mot. J 167, Q 457). ⫺ 118 ⫽ AaTh/ATU 247: cf. Die schönsten J Kinder. ⫺ 135 ⫽ AaTh/ATU 1331: J Neidischer und Habsüchtiger. ⫺ 136, 250 ⫽ Krebs scheint vorwärts zu laufen, läuft aber rückwärts (cf. AaTh/ATU 276: J Krebs und seine Jungen). ⫺ 138 a ⫽ ATU 1856: Children by Day and by Night. ⫺ 148 ⫽ Mistkäfer und Bienen erweisen sich gegenseitig Gastfreundschaft (Mot. J 1565.2). ⫺ 155 a ⫽ Eremit führt Hure zum Marktplatz: Sünde bleibt Gott nie verborgen (Mot. T 331.4, U 232). ⫺ 157 ⫽ Abgetrennte Hand des J Johannes Damascenus auf wundersame Weise ersetzt (Mot. D 2161.3.2). ⫺ 158 a ⫽ Jungfrau Maria rettet Maler, dessen Gerüst vom Teufel zerstört wurde, weil er diesen häßlich gemalt hatte (cf. Mot. D 1639.2). ⫺ 167 ⫽ Advokat verliert alle Fälle, seit er als Mönch das Lügen fürchtet (Mot. X 314). ⫺ 182 ⫽ Macht und Schätze J Alexanders werden ihm im Tod zur Bürde (cf. Mot. L 413). ⫺ 195 ⫽ AaTh/ ATU 247. ⫺ 201 ⫽ Esel und gepanzertes Pferd mögen eigene Last (Mehl, bewaffneten Meister) nicht tragen (cf. AaTh/ATU 214*: cf. J Esel und Pferd); hochmütiges Pferd erkennt, daß prunkvolles Geschirr nicht hilfreich bei Feldarbeit ist (Dicke/Grubmüller, num. 461). ⫺ 211 ⫽ AaTh/ATU 1835 D*: J Vaterunser beten, ohne an anderes zu denken. ⫺ 233 a ⫽ ATU 186: The Monkey and the Nut. ⫺ 251 ⫽ Katze in Truhe soll Käse vor Mäusen schützen, Katze frißt Käse und Mäuse (Mot. J 2103.1). ⫺ 260 ⫽ AaTh/ATU 293: J Magen und Glieder. ⫺ 265 ⫽ AaTh/ATU 1215: J Asinus vulgi. ⫺ 268 ⫽ Frau ändert ihren Namen, um Freier anzuziehen (cf. AaTh/ ATU 1461: cf. J Brautproben). ⫺ 284 ⫽ Todkranke Frau will nicht beichten, weil Kuckuck ihr zwölf weitere Jahre prophezeit habe (Mot. D 1812.5.2.5.1) ⫺ 291 ⫽ Philosoph, dessen weltliches Gut zerstört wurde, weiß seine größten Reichtümer (Reichtümer des Geistes) in Sicherheit (cf. Mot. J 211.1, J 2569). ⫺ 302 ⫽ AaTh/ATU 921: J König und kluger Knabe. ⫺ 303 ⫽ AaTh/ATU 34 A: J Hund verliert das Fleisch.
Die T. e. ist in über 20 Hss. erhalten, die sich im wesentlichen im Besitz nordeurop. (8), engl. (7) und frz. Bibl.en (6) befinden. Sie scheint Einfluß auf mehrere spätere Slgen ausgeübt zu haben, so u. a. das J Speculum laicorum, das Ms. 35 von Auxerre6, das J Alphabetum narrationum des Arnold de Lie`ge, die Scala celi des J Johannes Gobi Junior, die
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Tacitus, Publius Cornelius
Summa predicantium des John J Bromyard oder das Promptuarium exemplorum des J Martin von Troppau. 1
Welter, J.-T. (ed.): La T. e. secundum ordinem alphabeti. Recueil d’exempla compile´ en France a` la fin du XIIIe s. P./Toulouse 1926; id.: L’Exemplum dans la litte´rature religieuse et didactique du Moyen ˆ ge. (P./Toulouse 1927) Genf 1973, 294⫺297; HerA bert 3, 414⫺422. ⫺ 2 Welter 1926 (wie not. 1) enthält lediglich 312 Exempla, meist in Form einer lat. Zusammenfassung. ⫺ 3 Stephani de Borbone Tractatvs de diversis materiis predicabilibvs 1. ed. J. Berlioz/ J.-L. Eichenlaub. Turnhout 2002; t. 3. ed. J. Berlioz. Turnhout 2006. ⫺ 4 Humbert de Romans: Le Don de crainte ou l’abondance des exemples. Übers. C. Boyer. Lyon 2003. ⫺ 5 Konkordanz der T. e. mit Tubach bei Bremond, C.: T. e. In: Berlioz, J./Polo de Beaulieu, M.-A. (edd.): Les Exempla me´die´vaux. Carcassonne 1992, 175⫺195; ergänzend hierzu: num. 1 ⫽ Tubach, num. 4288. ⫺ 2 ⫽ cf. 3646. ⫺ 3 ⫽ 453. ⫺ 4 ⫽ 1398. ⫺ 8 ⫽ 1708. ⫺ 10 a ⫽ 2096. ⫺ 11 ⫽ 1962 ⫹ 2495. ⫺ 25 ⫽ 723 ⫹ 1257. ⫺ 30 ⫽ 1838. ⫺ 33 ⫽ 4993. ⫺ 35 ⫽ cf. 1605. ⫺ 40 ⫽ 781. ⫺ 41 ⫽ 1338. ⫺ 43 ⫽ 1707. ⫺ 45 b ⫽ 1617. ⫺ 47 ⫽ 1288. ⫺ 52 ⫽ 1450. ⫺ 54 ⫽ 2903. ⫺ 57 a ⫽ 2176. ⫺ 58 ⫽ 1452 ⫹ 1589. ⫺ 63 ⫽ 4478. ⫺ 64 ⫽ 1594 d. ⫺ 72 ⫽ 745. ⫺ 77 ⫽ cf. 985. ⫺ 90 ⫽ 2915. ⫺ 100 ⫽ cf. 698. ⫺ 102 ⫽ cf. 985. ⫺ 107 b ⫽ 2501. ⫺ 108 a ⫽ 299. ⫺ 111 ⫽ 2573. ⫺ 114 ⫽ 2421. ⫺ 123 ⫽ 4183 a. ⫺ 129 ⫽ cf. 2045. ⫺ 130 ⫽ 4002. ⫺ 132 ⫽ 4278. ⫺ 134 ⫽ 4849. ⫺ 135 ⫽ 560 ⫹ 3983. ⫺ 136 ⫽ 1311 b. ⫺ 137 ⫽ 2176. ⫺ 138 a ⫽ 3574. ⫺ 139 ⫽ 5238 b. ⫺ 148 ⫽ 1824. ⫺ 153 a ⫽ 598. ⫺ 155 a ⫽ 2440 ⫹ 4196. ⫺ 158 a ⫽ 3573. ⫺ 164 ⫽ 4252*. ⫺ 166 ⫽ 2953. ⫺ 167 ⫽ 2990. ⫺ 182 ⫽ 3751. ⫺ 183 ⫽ 3853. ⫺ 184 ⫽ 5043. ⫺ 185 ⫽ 126 ⫹ 141. ⫺ 190 a ⫽ 3969. ⫺ 194 ⫽ 887. ⫺ 195 ⫽ 4873. ⫺ 211 ⫽ cf. 381 ⫹ 3615 ⫹ 595. ⫺ 217 a ⫽ 1617. ⫺ 222 a ⫽ cf. 967 ⫹ 4994. ⫺ 223 a ⫽ 582. ⫺ 225 ⫽ 4813. ⫺ 230 ⫽ 2559. ⫺ 232 ⫽ 1968. ⫺ 233 a ⫽ 3510. ⫺ 237 ⫽ 2439. ⫺ 241 ⫽ 2404. ⫺ 246 c ⫽ cf. 3918. ⫺ 246 d ⫽ 3918. ⫺ 249 ⫽ 325. ⫺ 250 ⫽ 1311 b.⫺ 251 ⫽ 886. ⫺ 260 ⫽ 570. ⫺ 265 ⫽ 382. ⫺ 268 ⫽ 3446. ⫺ 268 a ⫽ 598. ⫺ 270 ⫽ 2119 ⫹ 4698. ⫺ 276 ⫽ 1629. ⫺ 276 a ⫽ 889. ⫺ 284 ⫽ 1400. ⫺ 286 c ⫽ 4745. ⫺ 291 ⫽ 3292, 3745 a. ⫺ 293 ⫽ 380. ⫺ 294 ⫽ 4986. ⫺ 299 ⫽ 391. ⫺ 301 ⫽ 3924. ⫺ 303 ⫽ 1699. ⫺ 304 ⫽ 3910 b. ⫺ 306 a ⫽ 3400. ⫺ 311 ⫽ 3797. ⫺ 6 cf. Welter 1973 (wie not. 1) 301⫺304.
Lyon
Isabelle Rava-Cordier
Tacitus, Publius Cornelius, * vermutlich in der Provinz Gallia Narbonensis ca 56⫺58, † Rom ca 120. T. begann seine Karriere um 81/82 als Quästor, 88 wurde er Prätor und Mitglied des für die Opfer zuständigen Prie-
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sterkollegiums, 97 Konsul, ca 112/113 Prokonsul in der Provinz Asia1. Seine literar. Werke verfaßte T. vorwiegend unter Trajan (98⫺117): Anfang 98 veröffentlichte er De vita Iulii Agricolae, eine Biogr. seines Schwiegervaters Gnaeus Iulius Agricola, des ehemaligen Statthalters von Britannien2. Wohl im Frühjahr 98 schrieb T. die kleine Schrift De origine et situ Germanorum, die sog. Germania3. Um 102 entstand der Dialogus de oratoribus4. Die Historiae verfaßte T. wahrscheinlich zwischen 105 und 110, die Annales (Ab excessu divi Augusti) zwischen 110 und 1205. Die Werke des T. gehören unterschiedlichen literar. Gattungen an. Die Genera Geschichtsschreibung (Historiae und Annales) und Völkerkunde (Germania) stehen einander gegenüber oder ergänzen sich inhaltlich. Für sie verwendete T. vorwiegend literar. Quellen und Archivalien sowie gelegentlich Zeitzeugen6. Die nur scheinbar gegenwartsbezogene Ethnographie in der Germania basiert auf direkten und indirekten Zeugnissen der Einheimischen. Das gilt bes. für das kollektive Gedächtnis (memoria) in Form von Abstammungsmythen der indigenen Bevölkerung (cf. Germania 3,1 und 39,1; Historiae 2,50,2 und 5,2,1; Annales 3,61,1 und 11,14,2)7, wobei diese Mythen gelegentlich märchenähnliche Züge tragen8. Fabuliertes (fabulosa) und Erfundenes (ficta) wird von T. dagegen bewußt ebenso vermieden wie fast alles, was er nur vom Hörensagen (fama) kennt. Überhaupt lehnt er das Phantastische (mirabilia) und rein Unterhaltsame ab (Germania 46,4; Historiae 46,4 und 2,24,4; Annales 11,27). Von den wenig mehr als 20 literar. Topoi, die man in den antiken Ethnographica ausfindig gemacht hat9, finden sich die meisten in der Germania und in den Historiae wieder10. Die bei T. wichtigsten Topoi dürften Origo, Autochthonie und Unvermischtheit sein (Agricola 11,1; Germania 2 und 46,1; Historiae 5,2 sq.)11. Weiter zählen dazu Erscheinungsbild (Agricola 11,2; Germania 4; Historiae 6,1), Götter (Germania 9; Historiae 5,4), Opfer (Germania 9,1; Historiae 4,2), Weissagung (Germania 10; Historiae 5,13), Bewaffnung (Germania 7), Kleidung (Germania 17), Essen und Trinken (Germania 23; Historiae 4,3; 5,2), Frauenraub (Agricola 31,1; Annales 2,7,2)12, Gastfreundschaft (Germania 21; Historiae 5,1)13, Trunksucht (Germania 23)14, Ehe und Geschlechtsleben (Germa-
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Tacitus, Publius Cornelius
nia 24; Historiae 5,2)15, Begräbnis (Germania 27; Historiae 5,3). Eine große Rolle spielen in der Germania auch der Topos Gefolgschaft (Germania 13) und durchgehende Themen wie Ungebundenheit (libertas) und Einfachheit (simplicitas)16.
In der Germania beschreibt T. die Einwohner des von den Römern nicht besetzten Germanien, die seiner Meinung nach noch in einer frühen Zeit- und Entwicklungsstufe lebten17. Die Ethnographie ist in zwei Hauptteile gegliedert, einen allg. (Kap. 1⫺27,1) und einen speziellen (Kap. 27,2⫺46,4), der in zwei Sektionen die germ. (Kap. 27,2⫺37,5) und sueb. Stämme (Kap. 38,1⫺45,6) behandelt18. Für die darin erwähnten Götter benutzt T. als erster den Ausdruck interpretatio Romana im Sinne von röm. Auslegung19. Hierbei geht es um die analoge Wesensidentifikation einer Gottheit und nicht bloß um die Übers. ihres Namens, wie dies z. B. die Wiedergabe des sueb. Numens Alken als Castor und Pollux (Germania 43,4) oder die Aussage „Von den Göttern verehren sie am meisten den Mercurius“ (Germania 9,1) verdeutlicht. Die religionsgeschichtlich wichtige Frage, welche südgerm. Götter in den interpretationes Romanae von T.’ Germania enthalten sind, ist später von J. J Grimm diskutiert worden20. Meist wird nur auf ein einziges Dokument verwiesen, in dem man Spuren der Germania feststellen konnte, die Translatio sancti Alexandri des Rudolf von Fulda (9. Jh.)21. In Anlehnung an Germania 4 betont der Autor die Unvermischtheit der Sachsen22. Die kleine Schrift wurde im MA. häufiger gelesen, als man für gewöhnlich annimmt23. Ital. Humanisten entdeckten dann im 15. Jh. die Werke des T. wieder24. Kurz nachdem ein Codex mit opera minora um 1455 aus Fulda nach Rom gebracht worden war25, wurde die Germania kulturpolitisch instrumentalisiert26. Mit der von Enea Silvio Piccolomini, dem späteren Papst Pius II., 1457/58 verfaßten Schrift De ritu, situ, moribus et condicione Germaniae (oft kurz Germania genannt)27 fing die Rezeption der Germania durch die ital. Humanisten an28. Enea Silvio hielt das Werk zum ersten Mal den Deutschen als Spiegel vor, indem er das ,moderne‘ Deutschland mit dem alten Germanien des T. verglich, und zwar so, daß die alten Germanen negativ als Barbaren dargestellt werden, die später von der röm. Kirche positiv
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beeinflußt worden seien29. Danach benutzte Conrad Celtis (1459⫺1508) die Germania zu einer Zeit, in der man allmählich anfing, die Werke des T. für ein dt. nationales Bewußtsein zu instrumentalisieren. Gegenläufig zu Enea Silvio ging es Celtis darum, die kulturelle Überlegenheit Deutschlands über Italien nachzuweisen30. 1500 hielt er die erste Vorlesung über die Germania im dt.sprachigen Raum31 und veröffentlichte das Gedicht Germania generalis zusammen mit einer neuen Ausg. von T.’ Germania32. Für die weitere Entwicklung entscheidend sind die Gleichsetzung der alten Germanen mit den Deutschen und „die Erfindung eines historischen Kontinuums“33 durch dt. Humanisten, unter denen der Philologe Beatus Rhenanus (1485⫺1547) eine markante Ausnahme war34. Dabei spielte der aus der Germania übernommene Topos der Autochthonie und Unvermischtheit der Germanen wie schon bei Rudolf von Fulda und Celtis auch bei Heinrich J Bebel eine wichtige Rolle, der in seine Oratio ad regem Maximilianum de laudibus et amplitudine Germaniae (1501) ein Kapitel mit dem Titel Germani sunt indigenae eingefügt hat, in dem der gemeinsame Ursprung aller Deutschen nachgewiesen werden sollte35. Ulrich von Hutten (1488⫺1523) trug 1520 zur nationalistischen Instrumentalisierung der alten Germanen mit einem Schreiben an Friedrich den Weisen bei, in dem er sich auf die 1515 wiederentdeckten Annales des T. bezieht; er begründete damit den Germanenkult36. Sein lat. Dialog Arminius (1520, Erstausg. 1529, dt. Übers. 1815) förderte bes. den Kult um den Cheruskerführer Armin37. Mit der Entstehung des dt. Nationalismus im frühen 19. Jh. setzte der Mißbrauch des Germanenmythos ein38. Nach 1871 wurde die Germanenideologie mit der Idee der germ. ,Rasse‘ untermauert, bei der man auch auf T. zurückgriff (J Nation)39. Ein Höhepunkt der Identitätsstiftung der Deutschen als Germanen wurde in der Zeit des J Nationalsozialismus erreicht, als die alten germ. Tugenden wie Treue und Gefolgschaft gegenüber dem ,Führer‘ hochstilisiert wurden40. Hierbei wurde die Interpretation von T.‘ Germania gelegentlich ins Absurde pervertiert41. Zu einem Versuch, das Werk als ein primär ethnogr. angelegtes Opusculum zu verstehen, kam es erst Ende des 20. Jh.s42.
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Tacitus, Publius Cornelius
Birley, A. R.: The Life and Death of Cornelius T. In: Historia 49 (2000) 230⫺247; Alföldi, G.: Bricht der Schweigsame sein Schweigen? Eine Grabinschrift aus Rom. In: Mittlgen des dt. archäologischen Inst.s, Röm. Abt. 102 (1995) 251⫺268; Oliver, R. P.: The Praenomen of T. In: American J. of Philology 98 (1977) 64⫺70; Syme, R.: T. 1⫺2. Ox. 1958, hier t. 2, 622. ⫺ 2 T., C.: Agricola. ed. P. Soverini. Alessandria 2004, 7; T.: Agricola ⫺ Germania. ed. A. Städele. Düsseldorf/Zürich 22001, 199 sq. ⫺ 3 Beck, J.-W.: Germania ⫺ Agricola. Zwei Kap. zu T.’ zwei kleinen Schriften. Unters.en zu ihrer Intention und Datierung sowie zur Entwicklung ihres Verf.s. Hildesheim 1998; Wolters, R.: Eine Anspielung auf Agricola im Eingangskapitel der Germania? In: Rhein. Museum N. F. 137 (1994) 77⫺95. ⫺ 4 Schmal, S.: T. Hildesheim u. a. 2005, 43⫺49; Bo, D.: Le principali problematiche del Dialogus de oratoribus. Panoramica storico-critica dal 1426 al 1990. Hildesheim u. a. 1993. ⫺ 5 Birley (wie not. 1) 242 sq. ⫺ 6 Bloch, R. S.: Antike Vorstellungen vom Judentum. Der Judenexkurs des T. im Rahmen der griech.-röm. Ethnographie. Stg. 2002; Oniga, R.: I paradigmi della conoscenza etnografica nella cultura antica. In: Quaderni del Ramo d’oro 2 (1998) 93⫺121; Lund, A. A.: Zum Germanenbild der Römer. Eine Einführung in die antike Ethnographie. Heidelberg 1990, 19⫺35; Beitr.e zum Verständnis der Germania des T. 1. ed. H. Jankuhn/D. Timpe. Göttingen 1989; Till, R.: T. als Ethnograph und Geschichtsschreiber. In: Dialog 10 (1977) 96⫺119; Trüdinger, K.: Studien zur Geschichte der griech.-röm. Ethnographie. Basel 1918. ⫺ 7 Hauck, K.: Carmina antiqua. Abstammungsglaube und Stammesbewußtsein. In: Zs. für Bayer. Landesgeschichte 27 (1964) 1⫺33. ⫺ 8 cf. Vries, J. de: Betrachtungen zum Märchen bes. in seinem Verhältnis zu Heldensage und Mythos (FFC 150). Hels. 1954, 136⫺165; Aly, W.: Volksmärchen, Sage und Novelle bei Herodot und seinen Zeitgenossen. Göttingen 1921. ⫺ 9 Trüdinger (wie not. 6) 175. ⫺ 10 Stanzel, F. K.: Europäer. Heidelberg 1997; id.: Zur literar. Imagologie. In: Europ. Völkerspiegel. ed. F. K. Stanzel, Heidelberg 1999, 9⫺39; Bringmann, K.: Topoi in der taciteischen Germania. In: Jankuhn/Timpe (wie not. 6) 7⫺15; Bloch (wie not. 6) 143⫺147; Ulf, C.: Zum Verhältnis von ethnogr. Topoi und hist. Realität am Beispiel von Frauenbildern bzw. Geschlechterrollen. In: Hist. Zs. 279 (2004) 281⫺307. ⫺ 11 Bloch (wie not. 6) 84⫺90, 149 sq.; Bickermann, E. J.: Origines gentium. In: Classical Philology 47 (1952) 65⫺81; Norden, E.: Die germ. Urgeschichte in der Germania des T. Lpz. 1920. ⫺ 12 Ulf (wie not. 10) 291 sq. ⫺ 13 Norden (wie not. 11) 124. ⫺ 14 Stanzel 1997 (wie not. 10) 69⫺72. ⫺ 15 Lund, A. A.: I seng med romerne. Køn og sex i det antikke Rom. Kop. 2005, 112 sq. ⫺ 16 cf. ferner HDA (CDROM) s. v. T. ⫺ 17 cf. Fabian, J.: Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object. N. Y. 1983. ⫺ 18 Urban, R.: Aufbau und Gedankenführung der Germania des T. In: Jankuhn/Timpe (wie
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not. 6) 80⫺105, bes. 96. ⫺ 19 Lund, A. A.: Zur Interpretatio Romana in der ,Germania‘ des Tacitus. In: Zs. für Religions- und Geistesgeschichte 59 (2007) 289⫺310; Ando, C.: Interpretatio Romana. In: Classical Philology 100 (2005) 41⫺51; Spickermann, W.: Interpretatio Romana? Zeugnisse der Religion von Römern, Kelten und Germanen im Rheingebiet bis zum Ende des Bataveraufstandes. In: Die frühe röm. Kaiserzeit im Ruhrgebiet. ed. D. Hopp/C. Trümpler. Essen 2001, 94⫺106; Lund, A. A.: Interpretatio Romana. T. über die germ. Kulte. In: Temenos 34 (1998) 95⫺110; id.: Die ersten Germanen. Ethnizität und Ethnogenese. Heidelberg 1998, bes. 102⫺108; Barie´, P.: „Interpretatio“ als religionspsychol. Phänomen. In: Der altsprachliche Unterricht 28 (1985) 63⫺86; Girard, J.-L.: Interpretatio Romana. Questions historiques et proble`mes de me´thode. In: Revue d’histoire et de philosophie religieuses 60 (1980) 21⫺27; Wissowa, G.: Interpretatio Romana. Röm. Götter im Barbarenlande. In: ARw. 19 (1916⫺19) 1⫺49. ⫺ 20 Grimm, Mythologie 1, 81⫺88; Kellner, B.: Grimms Mythen. Studien zum Mythosbegriff und seiner Anwendung in Jakob Grimms Dt. Mythologie. Ffm. u. a. 1994; cf. auch Beck, H.: T.’ Germania und die dt. Philologie. In: Jankuhn/Timpe (wie not. 6) 155⫺179. ⫺ 21 Pralle, L.: Die Wiederentdeckung des T. Fulda 1952. ⫺ 22 Stok, F.: La Germania di Rudolf di Fulda. In: Rivista di cultura classica e medioevale 35 (1993) 137⫺155. ⫺ 23 cf. id.: Tacito (e Svetonio) in Bonifacio? In: Giornale italiano di filologia 45 (1993) 47⫺65; id. (wie not. 22); Jakobi, R.: Eine unbeachtete Germania-Reminiszenz bei Ambrosius. In: Rhein. Museum N. F. 136 (1993) 376 sq. ⫺ 24 Mertens, D.: Die Instrumentalisierung der „Germania“ des T. durch die dt. Humanisten. In: Zur Geschichte der Gleichung „germ.-dt.“ ed. H. Beck/D. Geuenich/ H. Steuer/D. Hakelberg. B./N. Y. 2004, 37⫺101, bes. 40⫺44; (z. T. Übernahme falscher Angaben nach Simon, S.: Landscape and Memory. L. 1995, 75⫺81); cf. statt dessen Niutta, F.: Sul codice Esinate di Tacito, ora Vitt. Em. 1631 della Biblioteca Nazionale di Roma. In: Quaderni di storia 22 (1996) 173⫺202. ⫺ 25 Römer, F.: Kritischer Problem- und Forschungsber. zur Überlieferung der taciteischen Schr. In: Aufstieg und Niedergang der Röm. Welt 2,33,3. ed. W. Haase/H. Temporini. B./N. Y. 1991, 2299⫺2339. ⫺ 26 Krebs, C. B.: Negotiatio Germaniae und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel. Göttingen 2005, 118⫺ 156; cf. bes. Muhlack, U.: Die Germania im dt. Nationalbewußtsein vor dem 19. Jh. In: Jankuhn/ Timpe (wie not. 6) 128⫺154, hier 140. ⫺ 27 Ride´, J.: Deux Pre´lats italiens a` l’origine de l’exploitation nationaliste de la Germanie de Tacite par l’humanisme allemand. In: Collection Caesarodunum XXVI bis. ed. R. Chevallier/R. Poignault. Tours 1992, 231⫺ 241. ⫺ 28 Schäfer, E.: Das Selbstverständnis der Deutschen in seiner lat. Tradition. In: Der altsprachliche Unterricht 36 (1993) 64⫺85; Kelley, D. R.: T.: The Germania in the Renaissance and Reformation.
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Tadschiken
In: T. and the Tacitean Tradition. ed. T. J. Luce/A. J. Woodman. Princeton 1993, 152⫺167; Fuhrmann, M.: Die Germania in der Forschung der klassischen Philologie und im gymnasialen Unterricht. In: Jankuhn/Timpe (wie not. 6) 180⫺197; id.: Einige Dokumente zur Rezeption der taciteischen ,Germania‘. In: Der altsprachliche Unterricht 21 (1978) 39⫺49; Blusch, J.: Zur Rezeption der Germania des T. bei Giannantonio Campano und Enea Silvio Piccolomini. In: Humanistica Lovaniensia 32 (1983) 75⫺ 106; Krapf, L.: Germanenmythus und Reichsideologie. Frühhumanistische Rezeptionsweisen der taciteischen „Germania“. Tübingen 1979; See, K. von: Dt. Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart. Ffm. 1970; Pralle (wie not. 21); Joachimsen, P.: T. im dt. Humanismus. In: Neue Jbb. für das klassische Altertum, Geschichte und dt. Lit. 14 (1911) 697⫺717. ⫺ 29 Krebs (wie not. 26) 118⫺ 156; Mertens (wie not. 24) bes. 64 sq. ⫺ 30 Zum Germanenbild des Celtis cf. Ride´, J.: L’Image du Germain dans la pense´e et la litte´rature allemandes de la rede´couverte de Tacite a` la fin du XVIe`me sie`cle 1. Lille/P. 1977, 231 sq. ⫺ 31 Muhlack (wie not. 26) 143 sq.; zur Rezeption im Dritten Reich cf. Sponagel, L.: Konrad Celtis und das dt. Nationalbewußtsein. Bühl 1939, bes. 44⫺48; Fehrle, E.: Konrad Celtes. In: Kurpfälzer Jb. (1926) 180⫺182. ⫺ 32 Krebs (wie not. 26) 200⫺210. ⫺ 33 Kloft, H.: Die Germania des T. und das Problem eines dt. Nationalbewußtseins. In: Archiv für Kulturgeschichte 72 (1990) 93⫺114, bes. 110; id.: Die Idee einer dt. Nation zu Beginn der frühen Neuzeit. In: Arminius und die Varusschlacht. Geschichte ⫺ Mythos ⫺ Lit. ed. R. Wiegels/W. Woesler. Paderborn u. a. 32003, 197⫺210. ⫺ 34 Muhlack (wie not. 26) bes. 148⫺151. ⫺ 35 cf. Mertens (wie not. 24) bes. 81⫺84. ⫺ 36 Unverfehrt, G.: Arminius als nationale Leitfigur. In: Kunstverwaltung, Bau- und Denkmalpolitik im Kaiserreich. ed. E. Mai/S. Waetzold. B. 1981, 315⫺340. ⫺ 37 Benario, H. W.: Arminius into Hermann. History into Legend. In: Greece & Rome 51 (2004) 83⫺94; Roloff, H.-G.: Der Arminius von Ulrich von Hutten. In: Wiegels/Woesler (wie not. 33) 211⫺238; Losemann, V.: „Varuskatastrophe“ und „Befreiungstat des Arminius“. In: Varusschlacht und Germanenmythos. ed. M. Fansa. Oldenburg 1994, 25⫺44. ⫺ 38 Kipper, R.: Der Germanenmythos im Dt. Kaiserreich. Göttingen 2002, bes. 53⫺73. ⫺ 39 Leroy, E.: Konstruktionen des Germanen in bildungsbürgerlichen Zss. des dt. Kaiserreiches. Ffm. 2004; Puschner, U.: Germanenideologie und völkische Weltanschauung. In: Beck u. a. (wie not. 24) 103⫺129; Lund, A. A.: Rassenkunde und Nationalsozialismus. In: Wiss.en und Wiss.spolitik. ed. R. vom Bruch/B. Kaderas. Stg. 2002, 324⫺338; Lund, Germanen (wie not. 19) bes. 11⫺35. ⫺ 40 See, K. von: Barbar ⫺ Germane ⫺ Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen. Heidelberg 1994; id.: „Blond und blauäugig“. Der Germane als literar. und ideologische Fiktion. In: Ein Lied von gestern? Wormser Symposium zur Rezeptionsgeschichte des
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Lyngby
Allan A. Lund
Tadschiken 1. Allgemeines ⫺ 2. Erzählgattungen ⫺ 3. Erzählforschung ⫺ 4. Populäres Erzählen heute
1 . All ge me in es. Der Ursprung der T. reicht bis ins 2. Jahrtausend a. Chr. n. zurück, als indo-iran. Stämme die Ebenen Mittelasiens besiedelten. Nach dem Ende des Samanidenreichs im 11./12. Jh. bewahrten die mittelasiat. T. unter verschiedenen turk- und pers.sprachigen Herrschern ihre Sprache und Kultur. Mit der weitgehenden Integration in das Russ. Reich im 19. Jh. nahm der russ. Einfluß zwar zu, die T. konnten sich aber dennoch eine gewisse Eigenständigkeit erhalten. 1924 wurde innerhalb der UdSSR die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik Tadschikistan als Bestandteil der Usbek. SSR geschaffen; 1929 erhielt sie den Status einer eigenständigen Unionsrepublik. 1991 erlangte Tadschikistan seine vollständige Unabhängigkeit. Neben ca fünf Millionen T. in Tadschikistan (2000)1 leben ca zehn bis zwölf Millionen T. im benachbarten Usbekistan. Darüber hinaus gibt es T. auch in Afghanistan und im Iran, vereinzelt in China, Indien und Pakistan sowie in Rußland, der Ukraine, Kirgisistan, Kasachstan, Turkmenistan und im Kaukasus. Der vorliegende Artikel behandelt schwerpunktmäßig die rezente Überlieferung der T. Tadschikistans. 2 . E rz äh lg at tu ng en. Das tadschik. Erzählgut steht, bes. in hist. Hinsicht, in engem Zusammenhang mit dem aller iran. Völker (J Iran)2. Ein großer Teil der mündl. überlieferten Erzählungen hat seinen Ursprung in Wer-
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Tadschiken
ken schriftl. bzw. literar. Provenienz, wie etwa die regionalen Versionen der pers. Volksromane zu J Alexander d. Gr. (Iskandarnoma) oder H ø amza (Hamzanoma; J H ø amza-na¯me)3. Der zentrale Begriff afsona findet sowohl allg. für Erzählungen4 als auch für Märchen Verwendung. Es werden darüber hinaus nach der Überlieferungsart mündl. (hikoyat) und schriftl. (doston) Erzählungen unterschieden. Die Märchen werden von der russ. geprägten Forschung allg. in Zaubermärchen, Tiermärchen, Alltagsmärchen, Märchennovellen und Liebesmärchen untergliedert5. Die Stoffe der tadschik. Legende (qissa) entsprechen weitgehend denen des allg. J arab.-islam. Erzählguts (Kap. 4)6. Mythische Erzählungen (hikoyat-i asotiri) sind eng mit dem Volksglauben verbunden. Die Protagonisten dieser Erzählungen sind Figuren wie Xizr (J Chadir), Paris (J Peri) oder verschiedene dämonische Wesen (J Dev). Als wahr geschilderte Erlebnisse (sarguzasˇt) handeln an unheimlichen Orten wie Schluchten und Bergen, in Mühlen und unter Walnußbäumen, auf Friedhöfen oder an Heiligengräbern7. Die kurze Gattung rivoyat (pseudo-hist. Überlieferung) bringt im Zusammenhang mit hist. Ereignissen bzw. Persönlichkeiten Beobachtungen der Menschen in bezug auf Orte, Heiligengräber oder Tiere (auch Vögel, Insekten)8. Die Gattung naql (Bericht) ist bes. verbunden mit dem Erzählen hist. Ereignisse aus persönlicher Erinnerung9; diese Erzählform hat große Ähnlichkeit mit der literar. Kurzgeschichte (doston). Helden der tadschik. latifa (humoristische Kurzerzählung) sind Musˇfiqi, ein Dichter des 16. Jh.s10, und Nasriddin Afandi, die tadschik. Ausprägung des J Hodscha Nasreddin. Ortsneckereien werden über die Sˇirini (in Buchara), die Rumoni (in Xugˇand) und über die Leute aus Darvoz erzählt11. Epische Dichtungen (hamosa), wie etwa Geschichten aus dem Sˇa¯h-na¯me des J Firdausi, zirkulieren auch in der populären Überlieferung. Im Süden Tadschikistans ist das Epos Gurug˙li, die tadschik. Form des türk. J Körog˙lu, verbreitet, das gewöhnlich in Reimen mit Begleitung eines Saiteninstruments gesungen wird. Von bekannten Sängern des Gurug˙li wurden zahlreiche Texte aufgezeichnet12.
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3 . E rz äh lf or sc hu ng. Das zunehmende Interesse an Märchen aus mündl. Überlieferung im Russ. Reich bewirkte auch den Beginn der systematischen Sammlung von Erzählungen aus der tadschik. mündl. Überlieferung gegen Ende des 19. Jh.s. Zu Anfang des 20. Jh.s wurden die ersten Texte tadschik. Volkserzählungen von russ. Wissenschaftlern aufgezeichnet und veröffentlicht13, so u. a. von A. A. Semenov14 oder M. S. Andreev15. Entscheidende Impulse gab Maksim J Gor’kijs Rede anläßlich des 1. Kongresses des sowjet. Schriftstellerverbands 1934, in der er zum Sammeln von Texten aus der mündl. Überlieferung aufrief 16. Noch im selben Jahr wurden von O. Suchareva acht Var.n von AaTh/ATU 123: ¿ Wolf und Geißlein herausgegeben17. In den 1930er Jahren zeichneten L. Buzurgzoda, ˇ . Ikromi, O. Ismati, H. Karim, A. Dehoti, G ˇ alil u. a.18 Texte aus der mündl. ÜberliefeR. G rung auf 19. Eine der wenigen Sammlungen aus den 1940er Jahren ist B. Niyozmuhammedovs russ.sprachige Anthologie mit 35 Märchen20. Ende der 1940er und zu Beginn der 1950er Jahre wurden wieder vermehrt Märchentexte publiziert, so u. a. in den Anthologien von K. Naimi und K. Ulug˙zoda21. Die zuerst 1955 veröff. Anthologie Folklor-i Darvoz (Die Folklore von Darvoz) enthält 28 Texte mündl. Prosa, die seit 1930 durch A. Z. Rozenfel’d und N. A. Kisljakov in verschiedenen Gegenden Tadschikistans aufgezeichnet worden waren22. Die zwei umfangreichen Bände der Anthologie Afsonaho-i xalqi-i togˇiki (Tadschik. Volksmärchen) enthalten nicht nur von Folkloristen zusammengetragene Märchen in russ. und tadschik. Lit.sprache, sondern auch einige Texte, die der tadschik. Schriftsteller Sadriddin Aini (1878⫺1954) nach mündl. Überlieferung wiedergegeben hat23. Seit dem Ende der 1950er und in den 1960er Jahren wurden unter der Leitung von R. Amonov zahlreiche Feldforschungen durchgeführt, und viele tadschik. Folkloristen beschäftigten sich seither mit der Aufzeichnung und Herausgabe von Texten aus der mündl. Überlieferung. Am Inst. für Sprache und Lit. der Akademie der Wiss.en der Tadschik. SSR in Duschanbe (1929⫺61 Stalinabad) wurde eine spezielle Abt. für tadschik. Folklore eingerichtet, deren Archive heute über 200000 Seiten mit annähernd 7000 Texten mündl. Erzählungen
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Tadschiken
enthalten24. In den 1950er Jahren erfolgte in den universitären Fachrichtungen für tadschik. Sprache und Lit. die Einrichtung des Unterrichtsfachs Folkloristik. Zwischen 1960 und 1990 wurden durch Feldforschungen an der Philol. Fakultät der Staatlichen Univ. Tadschikistan in Duschanbe beträchtliche Mengen an Material zusammengetragen. Wenngleich der Großteil der Sammelarbeit in den politischen Wirren der 1990er Jahren verloren gegangen ist, liegt als Resultat dieser Forschungen mittlerweile dennoch eine erhebliche Anzahl von Textsammlungen mit Märchen und anderer Prosa aus mündl. Überlieferung vor25. Zahlreiche Wissenschaftler haben, bes. in den Vorw.en zu Sammelbänden, über die Bedeutung tadschik. Märchen geschrieben, herausragende Erzähler erwähnt26 und auch die Beziehung zwischen mündl. Überlieferung und Lit. zum Gegenstand ihrer Unters.en gemacht27. Auf dem Gebiet der humoristischen Volksdichtung analysierte S. Mahdiev die Geschichte der tadschik. Anekdote und ihre gesellschaftliche Relevanz; D. Obidov untersuchte die Rolle satirischer Märchen im Alltag der Menschen28. 1981 kam der erste Band von Kulliyot-i folklor-i togˇik/Svod tadzˇikskogo fol’klora ([STF] Sammelband der tadschik. Folklore) in russ. und tadschik. Sprache heraus29. Dieses Werk, das vor allem Fabeln und Tiermärchen behandelt, ist bis heute eines der wichtigsten wiss. Werke zur tadschik. Erzählforschung. Die Texte wurden nach den Systemen der internat. Erzählforschung sowie nach der kartographischen Erfassung von I. J Levin klassifiziert. Beigegeben sind auch die Namen der jeweiligen Aufzeichner und Erzähler sowie Angaben zu Verbreitung und Stilmerkmalen der einzelnen Erzählungen. Levin behandelt in seinem russ. Vorw. allg. die verschiedenen Theorien der Erzählforschung sowie speziell Geschichte und Sinngehalt der Gattung Fabel. Grundlage der Unters. sind 6557 Prosatexte, von denen 419 Tiermärchen ausgewählt und analysiert wurden; 116 dieser Texte sind ungekürzt sowohl auf Tadschikisch als auch in russ. Übers. publiziert30. In seiner Unters. derselben 419 Texte beschäftigte sich M. Javicˇ zusätzlich mit der Anzahl sowie dem Ort und der Zeit der Aufzeichnungen, den Forschern und Erzählern sowie den Themen. Darüber hinaus unter-
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suchte er die Sprache der Märchen, bes. im Hinblick auf ihre Formelhaftigkeit31. Im Rahmen von STF sind noch ein Heft zu Liedern sowie ein Band zu Sprichwörtern erschienen32. ˇ . Rabiev analysierte ein Korpus von fast G 7000 Texten tadschik. Volksprosa. Hauptziel seiner Arbeit waren stilistische Fragen, wobei er die Texte aus geogr., hist. und soziol. Perspektive analysierte. Abschließend enthält seine Unters. Tabellen und Wortlisten mit den häufigsten Begriffen aus 110 Märchentexten33. In einer Vielzahl von Veröff.en hat R. Rahmoni Gattungs- und Terminologieprobleme, Fragen von Geschichte und Verbreitung sowie des Verhältnisses von gesprochenem zu geschriebenem Text behandelt. Er beleuchtet dabei auch den Einfluß mündl. Überlieferung auf Lit. und Geschichtsschreibung, die Heldenfiguren der Märchen, die Performanz der Erzähler, die Rolle mündl. Erzählungen im Alltag der Menschen und ähnliche Aspekte34. Seit 1993 gibt Rahmoni die Zs. Mardumgiyoh (Mandragora) heraus, in der in russ. und tadschik. Sprache u. a. Aufzeichnungen mündl. Prosa aus Tadschikistan wie auch aus Afghanistan, dem Iran und Usbekistan veröffentlicht werden35. 4 . P op ul är es Er zä hl en he ut e. Bis in die 1980er Jahre war die mündl. Überlieferung in Tadschikistan sehr lebendig, seither macht sich auch hier der Einfluß der modernen Medien bemerkbar. Auch wenn talentierte Erzähler heute selten geworden sind, so werden noch immer in den Moscheen an den Abenden des Fastenmonats Ramadan, in den Nächten der Trauerzeit bis zum 40. Tag nach einem Todesfall, im Teehaus oder bei bestimmten rituellen Veranstaltungen von Frauen Geschichten erzählt36. Auch in den Dörfern erzählen die Alten immer noch für die Jungen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte das Erzählen religiöser Geschichten einen Aufschwung. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh.s waren das Sˇa¯h-na¯me des Firdausi sowie die Werke des J Rumi und anderer klass. Dichter pers. Sprache sehr beliebt. Auch heute noch kennen die Menschen Texte aus Werken der religiösen und populären narrativen Lit., die bes. auf den Dörfern erzählt werden37. Zu den bekanntesten tadschik. Märchentypen gehören u. a. AaTh/ATU 43: cf. J Haus-
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Tadschiken
bau der Tiere, AaTh/ATU 62: J Friedensfabel, AaTh/ATU 68 B: cf. J Kopf in der Kanne, AaTh/ATU 123: Wolf und Geißlein, AaTh/ ATU 159 B: cf. J Feindschaft zwischen Tieren und Mensch, AaTh/ATU 278: J Tiere aneinander gebunden, AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen, AaTh/ATU 306: Die zertanzten J Schuhe, AaTh/ATU 449: J Sidi Numan, AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen, AaTh/ATU 715: J Halbhähnchen, AaTh/ATU 720: J Totenvogel, AaTh/ATU 893: J Freundesprobe, AaTh/ATU 2030: Die alte J Frau und das Schwein und AaTh/ATU 2031: J Stärkste Dinge. 1
Nacional’nyj sostav naselenija Respubliki Tadzˇikistan (Die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung der Republik Tadschikistan). Duschanbe 2003, 4. ⫺ 2 Braginskij, I. S.: Iz istorii tadzˇikskoj narodnoj poe˙zii (Aus der Geschichte der tadschik. Volksdichtung). M. 1956; Rahmonov, R.: Nazariya va sayr-i taÅrixi-i usturasozi-i forsi-i togˇiki (Theorie und Geschichte der pers.-tadschik. Erzählkunst). Duschanbe 1999; Rahmoni, R.: Ta¯rih˚ -e gerda¯vari, nasˇr va pazˇu¯hesˇ-e afsa¯naha¯-ye mardom-e fa¯rsi-zaba¯n (Geschichte der Slg, Veröff. und Erforschung der Erzählungen der pers.sprachigen Völker). Teheran 1380/2001 (tadschik. Orig. Duschanbe 2001). ⫺ 3 Vase’, Q.: Srednevekovaja persidsko-tadzˇikskaja literatura dzˇavonmardi (X⫺XV vv) (Ma. pers. und tadschik. gˇavonmard-Lit. [10.⫺15. Jh.]). Duschanbe 1995; Salimov, Y.: Nasr-i rivoyati-i forsi-i togˇik (Erzählende Prosa in tadschik. Pers.). Duschanbe 1971. ⫺ 4 Rahmoni, R.: Afsona va zˇanrho-i digar-i nasr-i sˇifohi (Das Märchen und andere mündl. Prosagattungen). Duschanbe 1999; Amonov, R.: Ocˇerki e¨gˇodiyot-i dahanaki-i Ku¯lob (Abriß der mündl. Überlieferung von Ku¯lob). Duschanbe 1963; Rahmoni, R.: Sˇugho-i Buxoro (Märchen aus Buchara). M. 1997. ⫺ 5 Asrori, V./Amonov, R.: E¨gˇodiyot-i dahanaki-i xalqi-i togˇik (Mündl. Volksüberlieferung der T. ). Duschanbe 1980. ⫺ 6 Rahmoni, R.: Qissaho, rivoyatho va duoho-i Buxoro (Märchen, Geschichten und Gebete aus Buchara). Duschanbe 1998; id.: Skazki i skazocˇniki persojazycˇnych narodov (Märchen und Märchenerzähler der pers.sprachigen Völker). M. 1998. ⫺ 7 id.: Hikoyaho-i asotiri (Mythische Erzählungen). In: id.: Folklor, adabiyot, zabon. Duschanbe 2004, 92⫺101. ⫺ 8 id. 2001 (wie not. 2) 91⫺94. ⫺ 9 ibid., 94⫺96. ⫺ 10 Rypka, J. (ed.): History of Iranian Literature. Dordrecht 1968, 503. ⫺ 11 Mahdiev, S.: Problema-i zˇanr-i latifa (Das Problem der Gattung Witz/Schwank). Duschanbe 1977. ⫺ 12 Gurug˙li. Epos-i xalqi-i togˇiki (Gurug˙li. ˇ . Suhayli u. a. Das tadschik. Volksepos) 1⫺3. ed. G Stalinabad/Len. 1941/Duschanbe 1963/76; Gurug˙li. Tadzˇikskij narodnyj e˙pos (Gurug˙li. Das tadschik.
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Volksepos). M. 1987. ⫺ 13 Arandarenko, G. A.: Iz Samarkanda. Obycˇai i obrjady (Aus Samarkand. Bräuche und Zeremonien). In: Turkestanskie vedomosti (1875) H. 35 und 39; Karsˇevskij, L. S.: Sangtuda. Legenda. In: Okraina 137 (1893) H. 137; Litviˇ erez Bucharu na Pamir (Über Buchara nov, B. N.: C zum Pamir). In: Istoricˇeskij vestnik 7 (1901) 708. ⫺ 14 Semenov, A. A.: Materialy dlja izucˇenija narecˇija gornych tadzˇikov Central’noj Azii (Materialien zur Unters. der Dialekte der Bergtadschiken Zentralasiens). M. 1903; id.: E˙tnograficˇeskie ocˇerki Zarafsˇanskich gor i Darvoza (Ethnogr. Studie des Zarafschangebirges und von Darvoz). M. 1903. ⫺ 15 Andreev, M. S.: Bibi Sesˇanbe. In: Turkestanskie vedomosti (24.8.[6.9.]1903); id.: Darvozskaja skazka (Das Darvozer Märchen). In: Zˇivaja starina (1912) H. 2⫺ 4, 485⫺488. ⫺ 16 Gor’kij, A. M.: Sobranie socˇinenij (G. W.) 27. M. 1953, 337⫺354. ⫺ 17 Suchareva, O.: Vosem‘ variantov tadzˇikskoj versii skazki „Koza i semero kozljat“ (Acht Var.n des tadschik. Version des Märchens „Die Ziege und die sieben Zicklein“). In: Materialy po tadzˇikskomu fol’kloru. Samarkand 1934, 25⫺44. ⫺ 18 Negmatov, M.: Bibliografija tadzˇikskoj fol’kloristiki (Bibliogr. der tadschik. Folkloristik) 1⫺2. Duschanbe 1979. ⫺ 19 cf. u. a. Rahim, ˇ .: Afsonaho-i xalqi-i togˇiki (Tadschik. VolksmärG chen). Stalinabad/Len. 1938; Lutfulloeva, K.: Afsonaho-i xalqi-i togˇik (Tadschik. Volksmärchen). Stalinabad 1938. ⫺ 20 Nijazmuchamedov, B.: Tadzˇikskie skazki (Tadschik. Märchen). Stalinabad 1945. ⫺ 21 Naimi, K.: Sˇutur va Sˇog˙ol (Das Kamel und der Schakal). Stalinabad 1948; id.: Afsonaho (Märchen). Stalinabad 1957; Ulugzade, K.: Tadzˇikskie skazki (Tadschik. Märchen) Stalinabad 1949; id.: Tadzˇikskie narodnye skazki (Tadschik. Volksmärchen). M./ Len. 1950; id.: Tadzˇikskie narodnye skazki. Vilnius 1952; id.: Tadzˇikskie narodnye skazki. Stalinabad 1953; cf. auch Jusupov, S./Janovskij, M.: Volsˇebnaja korobocˇka. Skazki staroj Buchary (Das Zauberschächtelchen. Märchen aus dem alten Buchara). Stalinabad 1948. ⫺ 22 Rozenfel’d, A. Z.: Namunahoi folklori-i Darvoz (Beispiele der Folklore von Darvoz). Duschanbe 1955 (erw. Neuaufl. 1962). ⫺ 23 Amonov, R./Ulug˙zoda, K.: Afsonaho-i xalqi-i togˇiki (Tadschik. Volksmärchen) 1⫺2. Stalinabad 1957 (dt. u. d. T. Die Sandelholztruhe. B. 1960); iid.: Tadzˇikskie narodnye skazki (Tadschik. Volksmärchen) 1⫺2. Stalinabad 1957. ⫺ 24 Rabiev, J.: Klassifikacionnoe znacˇenie povestvovatel’nych sredstv tadzˇikskoj narodnoj prozy (Die klassifikatorische Bedeutung erzählerischer Mittel in der tadschik. Volksprosa). In: Opyt kolicˇestvennogo analiza tadzˇikskogo fol’klora 1. ed. R. A. Amonov. Duschanbe 1986, 67⫺133. ⫺ 25 cf. Andreev, S. M./Pesˇereva, E. M.: Jagnabskie teksty (Jagnob. Texte). M./Len. 1957; Amonov, R.: Afsonaho-i xalqi-i togˇik (Tadschik. Volksmärchen). Duschanbe 1963; Mahdiev, S.: Folklor-i Norak (Die Folklore von Norak). Duschanbe 1963; Grjunberg, A. L./Steblin-Kamenskij, I. M.: Skazki narodov Pamira (Märchen der Pamirvölker). M. 1976; Gulruxsor: Folklor-i vodi-i Qaro-
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Tafelrunde ⫺ Tag, Tage
tegin (Die Folklore des Karotegin-Tals). Duschanbe 1986; Alisˇev, S.: Folklor-i diyor-i Vase‘ (Die Folklore der Gegend von Vase‘). Duschanbe 1990; Rozenfel’d, A. Z./Ricˇkova, N. P.: Skazki i legendy gornych tadzˇikov (Märchen und Legenden der Bergtadschiˇ .: Afsonaho-i Urateppa ken). M. 1990; Rabiev, G (Geschichten aus Urateppa). Duschanbe 1992; Amonov, R.: Latifaho (Witze/Schwänke). Duschanbe 1994; Rahmoni, R: Afsonaho-i dari (Pers. Märchen). Teheran 1374/1995; Qodirov, R.: Folklor-i togˇikon-i Qasˇqadaryo 1⫺3 (Die Folklore der T. aus Qasˇqadaryo). Duschanbe 1998; Rahmoni, R.: Qissaho, rivoyatho va duoho (Märchen, Geschichten und Gebete). Duschanbe 1998; Amonov, R.: Afsonaho-i xalq-i togˇik (Tadschik. Volksmärchen). Duschanbe 2001; Rajabi, R.: Namuna-i cˇand az folklor-i togˇikon-i Sˇahrizabzu Kitob (Einige Beispiele aus der Folklore der T. von Sˇahrizabzu Kitob). Duschanbe 2001; Murodov, F.: Folklor-i Dang˙ara (Die Folklore von Dang˙ara). Duschanbe 2002. ⫺ 26 cf. bes. Semenov (wie not. 14); Andreev 1912 (wie not. 15); Suchareva (wie not. 17); Nijazmuchamedov (wie not. 20); Ma’sumi, N.: Folklor-i togˇik (Tadschik. Folklore). Stalinabad 1952; Sˇermuhammedov, B.: Afsonaho-i Samarqand (Märchen aus Samarkand). Duschanbe 1965; Grjunberg/Steblin-Kamenskij (wie not. 25); Asrari/Amonov (wie not. 5); Rozenfel’d/ Ricˇkova (wie not. 25); Amonov, R.: Afsonaho-i xalqi-i togˇik (Tadschik. Volksmärchen). Duschanbe 2001; Rahmoni (wie not. 2); Qodirov (wie not. 25). ⫺ 27 Asrori, V.: Folklor, xalqiyat, navisanda (Folklore, Volkstümlichkeit, Schriftsteller). Duschanbe 1982. ⫺ 28 Mahdiev (wie not. 11); Abidov, O.: Afsonaho-i hagˇvi-maisˇi-i togˇiki (Alltägliche satirische tadschik. Geschichten). Duschanbe 1978. ⫺ 29 STF 1. ⫺ 30 Levin, I.: Vvedenie (Einl.). In: STF 1, 9⫺72. ⫺ 31 Javicˇ, M. M.: Tadzˇikskie skazki o zˇivotnych (Tadschik. Tiermärchen). In: Amonov (wie not. 24) 9⫺ 66. ⫺ 32 Amonov, R. (ed.): Kulliyot-i folklor-i togˇik/ Svod tadzˇikskogo fol’klora (Sammelband der tadschik. Folklore). 3,1: Surudho/Pesni (Lieder). Duschanbe 1981; ibid. 4: Zarbulmasalho/Poslovicy (Sprichwörter). Duschanbe 1986. ⫺ 33 Rabiev (wie not. 24). ⫺ 34 Rahmoni, R.: Problemy ustnoj poe˙zii i prozy v tvorcˇestve persojazycˇnych narodov (Probleme mündl. Dichtung und Prosa im Schaffen der pers.sprachigen Völker). M. 2000; id.: The Role of Surud in the Mughul Dukhtar Legend. In: From the Hymns of Zarathustra to the Song of Borbad. ed. A. Rajabov. Duschanbe 2003, 203⫺209; cf. auch Rahmonov, R./Rakhimov, D.: Tajik. In: Clements, W. A./Green, T. A. (edd.): The Greenwood Enc. of World Folklore and Folklife 2. Westport/L. 2006, 325⫺335. ⫺ 35 Mardumgiyoh 1⫺11. Duschanbe 1993⫺2003. ⫺ 36 Mills, M./Rahmoni, R.: Conversations with Davlat Khalov. Oral Narratives from Tajikistan. M. 2000; cf. auch Fathi, H.: Femmes d’autorite´ dans l’Asie centrale contemporaine. P. 2004, 216 sq. ⫺ 37 Rahmoni, R.: Traces of Ancient Iranian
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Culture in Boysun District, Uzbekistan. In: Asian Folklore Studies 60 (2001) 295⫺304.
Duschanbe
Roushan Rahmoni
Tafelrunde J Artustradition, J Gral
Tag, Tage. Der T. ist eine Maßeinheit der J Zeit. Die Wendung ,lichter T.‘ bezeichnet den Zeitraum zwischen Aufgang und Untergang der J Sonne1; als Kalendertag beginnt und endet ein T. um J Mitternacht und umfaßt damit auch die J T.eszeiten, die gemeinhin als J Nacht bezeichnet werden. Der T. strukturiert größere Zeiteinheiten (Woche, Monat, Jahr)2. Die Einteilung der Woche in sieben T.e war in der röm. Antike aus der jüd. Kultur, die Bezeichnung der Wochentage nach den sieben ,Planeten‘ aus der ägypt. übernommen worden3. Nach Cassius Dio (2./3. Jh.) waren sie in der Reihenfolge Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter, Venus und Saturn angeordnet. Daraus ergab sich die in MA. und früher Neuzeit gültige, von der christl. Kirche bestimmte lat. Zählung der Wochentage, beginnend mit dominica (Sonntag)4. Seit 1969 ist in der DDR, seit 1976 in der Bundesrepublik Deutschland der Montag der 1. Wochentag (DIN 1355); seit 1978 gilt diese Regelung internat. Berechnungen mit Bezug auf das Osterdatum als Hauptfest des christl. Festkalenders sowie auf das Sonnenjahr ergeben die Zählung beweglicher und unbeweglicher Festtage5. Zum Einprägen dieser Festtage dienten hexametrische Memorierverse6. Mit der Laienfrömmigkeit des Spätmittelalters und der zunehmenden Bedeutung der Patrozinien trug die Datierung nach dem Fest- und Heiligenkalender7 zu einer starken Regionalisierung der Festtage bei8. Die Bedeutung der Heiligentage für die Strukturierung des Kalenderjahres ist zudem in der paraliturgischen Praxis erkennbar, die einzelnen Wochentage im Lied Heiligen zuzuweisen9. In Wochentagsversen wird die Hervorhebung des Sonntags deutlich, die auf das Gebot der Sonn- und Feiertagsheiligung verweist (J Frevel, Frevler)10 und Vorstellungen von bes. Eigenschaften der an bestimmten T.en geborenen Kinder bedingte (J Sonntagskind). Für die Namengebung griff
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Tag, Tage
man auf Festtage und bes. auf die jedem T. zugeordneten Heiligen (Kalenderheilige) zurück (J Taufe)11. Auch als Patrone von Berufen, bes. im Handwerk, und in der Brauchüberlieferung (Barbarazweige) wurden Tagesheilige rezipiert12. Der T. versinnbildlicht wie die J Jahreszeiten die Vergänglichkeit des Lebens: Die an einem T. erblühende und verwelkende J Rose stand in der Emblematik für die Sterblichkeit des Menschen; das Verrinnen der Stunden eines T.s hat mit dem Stundenglas (der Sanduhr) eine zentrale symbolische Form in der Vanitas-Motivik bestimmt13. Der T. als Zeit- und Lebenseinheit ist stark religiös aufgeladen: Dies verdeutlichen Auffassungen von der Erschaffung der Welt an sechs T.en und vom Ende der Welt am Jüngsten T. (J Jüngstes Gericht). Ein T. galt als verloren, wenn keine milden Gaben gespendet wurden14; aus dieser pastoraltheol. Intention entstanden die in barokken Predigtmärlein15 vermittelten Wochentagsverse und -lieder mit meist didaktischer Funktion, wenn auch durchaus profanen Inhalts16. Vorstellungen einer Beeinflussung von Lebensabläufen durch den Lauf der Gestirne bedingten die T.ewählerei als Versuch der ma. Laienastrologie, günstige und ungünstige T.e und Nächte (Hundstage, Rauhnächte) für Aussaat und Ernte, Holzfällen, vor allem aber Gesundheit und Krankheitsverläufe vorherzusagen17. Von der Aufklärung bekämpft, erfuhr die T.ewählerei im späten 20. Jh. mit dem Boom esoterischer Vorstellungen neue Popularität18. Der Wechsel von T. und Nacht, J Licht und Dunkel (J Hell und dunkel) ist verbunden mit der Vorstellung von der Existenz lichter und dunkler Gestalten. Die Sonne des Lichttags erscheint als Sinnbild der Wahrheit und Gerechtigkeit (AaTh/ATU 960, 960 B: cf. J Sonne bringt es an den T.). Auf dem Gegensatz von T. und Nacht basiert im Erzählzyklus AaTh/ ATU 425 sqq.: J Amor und Psyche die nächtliche Verwandlung des J Tierbräutigams in einen Menschen. Beispiele für J Personifikationen von Wochentagen sind vor allem aus dem rom. und slav. Sprachgebiet bekannt. In ital. Erzählungen begegnet Santa Domenica als Heiligengestalt19; in slov., kroat. und rumän. Legenden, Sagen und Liedern existieren neben der Hl.
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Frau Sonntag20 auch die Dienstags-, Mittwochs- und Freitagsfrau21. Eine rumän. Var. von AaTh 368*/ATU 751 G*: Bread Turned to Stone kennt die Hl. Freitag, Dienstag und Donnerstag: Sie strafen die Mädchen, die an ihrem hl. Abend spinnen oder im Winter nicht fleißig gesponnen haben (J Spinnstube)22. In einer rumän. Var. von AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen begegnen die Mädchen der Frau Sonnabend23. Die Gliederung des T.s in T.eszeiten war durch Arbeits- und Ruhephasen nicht nur des Menschen, sondern vor allem des Zugviehs und der Viehherden bestimmt. Seit dem MA. setzte eine starke Beeinflussung der T.eseinteilung durch die Kirche ein, vor allem durch akustische Zeichen (Gebetglocke, Ave-MariaLäuten; J Glocke), so daß zur Wahrnehmung des Lichttags ganz entscheidend die Klangwahrnehmung des T.s gehörte und mentalitätsgeschichtlich relevant wurde24. Mit der Veränderung von Zeitkonzeptionen nach den Bedürfnissen im städtischen Gewerbe und Handel des Spätmittelalters wurde die Arbeitszeit zunehmend konstitutiv für die Einteilung des T.s25. Die Wahrnehmung des Arbeitstags findet sich in Erzählstoffen zunächst als Frist zur Erfüllung unlösbarer J Aufgaben (cf. auch J Brautproben, bes. AaTh/ATU 500: J Name des Unholds), dann als Flächenmaß des T.werks (J Pflug, Pflügen). Insofern in Erzählungen eine Tätigkeit innerhalb einer bestimmten Frist zu erledigen ist, erhielten auch Erzählstoffe die Funktion einer Disziplinierung durch J Arbeit. Dies wird aber durchaus ironisch gespiegelt, so in einem weißruss. Märchen, in dem ein Kulak den Arbeitstag seiner Schnitterknechte verlängern will, indem er im Morgengrauen im Mantel zu mähen beginnt; der T. erscheint ihm unerträglich lang, da er es im Pelz bald vor Hitze nicht mehr aushält26. Solche sozialkritischen Erzählungen zeugen von der Weigerung des Gesindes, den überzogenen Arbeitsanforderungen der Dienstherrschaft und der Ausdehnung des Arbeitstags zu entsprechen. Zahlreiche Grußformeln sowie Redewendungen verdeutlichen die Bedeutung des T.s als Lebenszeit strukturierende Einheit (,Carpe diem!‘, ,T.edieb‘, ,Man soll den T. nicht vor dem Abend loben‘)27.
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Tageszeiten
1 Wünschmann, D.: Die T.eszeiten. Ihre Bezeichnung im Deutschen. Marburg 1966. ⫺ 2 Bilfinger, G.: Der bürgerliche T. Unters.en über den Beginn des Kalendertages im classischen Alterthum und christl. MA. Stg. 1888; Grotefend, H.: Taschenbuch der Zeitrechnung des dt. MA.s und der Neuzeit. Hannover 11 1971; Wendorff, R.: T. und Woche, Monat und Jahr. Eine Kulturgeschichte des Kalenders. Opladen 1993. ⫺ 3 Bach, J.: Die Zeit- und Festrechnung der Juden, unter bes. Berücksichtigung der Gaußschen Osterformel. Fbg 1908; Mahler, E.: Hb. der jüd. Chronologie. Lpz. 1916; Basnizki, L.: Der jüd. Kalender. Entstehung und Aufbau. Königstein 1986; Colson, F. H.: The Week. Cambr. 1926; Beckerath, J. von: Der ägypt. Ursprung unseres Kalenders. In: Saeculum 4 (1953) 1⫺12. ⫺ 4 Aichler, H.: Beitr.e zur Geschichte der T.esbezeichnungen im MA. Innsbruck 1912; Colson, F. H.: The Week. An Essay on the Origin and Development of the Sevenday Cycle. Cambr. 1926; Schuler, P.-J.: T. und Stunde. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 422 sq.; cf. auch Bach (wie not. 3); Mahler (wie not. 3). ⫺ 5 von Bekkerath (wie not. 3); Grumel, V.: La Chronologie. P. 1958; Strobel, A.: Ursprung und Geschichte des frühchristl. Osterkalenders. B. 1977; Maier, H.: Die christl. Zeitrechnung. Fbg 1991; Bieritz, K.-H.: Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart. Mü. 62001; Maiello, F.: Storia del calendario. La misurazione del tempo, 1450⫺1800. Turin 1996; Declercq, G.: Anno Domini. The Origins of the Christian Era. Turnhout 2000; Brincken, A.-D. von den: Hist. Chronologie des Abendlandes. Kalenderreformen und Jahrtausendrechnungen. Stg./B./Köln 2000. ⫺ 6 Brandt, A. von: Werkzeug des Historikers. Stg. 162003, 38. ⫺ 7 Ehlert, T. (ed.): Zeitkonzeptionen, Zeiterfahrung, Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom MA. zur Moderne. Paderborn 1997. ⫺ 8 Brandt, A. von: Hist. Grundlagen und Grundformen der Zeitrechnung. In: Studium Generale 19 (1966) 720⫺730; Torsy, J.: Die Eigenkalender des dt. und ndl. Sprachgebietes, mit bes. Berücksichtigung der Erzdiözese Köln. Siegburg 1977. ⫺ 9 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 576⫺596. ⫺ 10 Schreiber, G.: Die Wochentage im Erlebnis der Ostkirche und des christl. Abendlandes. Köln 1959; Rordorf, W.: Der Sonntag. Geschichte des Ruhe- und Gottesdienstes im ältesten Christentum. Zürich 1962; cf. Treutlein, W.: Das Arbeitsverbot im dt. Volksglauben. Bühl 1932. ⫺ 11 Tallman, M.: Dict. of American Folklore. N. Y. [1958], 25; Aebischer, P.: Rolandiana et Oliveriana. Genf 1967; Mitterauer, M.: Ahnen und Heilige. Namengebung in der europ. Geschichte. Mü. 1993, 93 sq., 286⫺288; Moser, D.-R.: Bräuche und Feste durch das ganze Jahr. Fbg/Basel/Wien 2002, 206⫺ 218. ⫺ 12 Keller, H. L.: Reclams Lex. der Heiligen und bibl. Gestalten. Legende und Darstellung in der bildenden Kunst. Stg. 92001; Eberhart, H.: Hl. Barbara. Graz 1988; Nemitz, R./Thierse, D.: St. Barbara. Weg einer Heiligen durch die Zeit. Essen 1996. ⫺
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Maurice, K.: Stundenglas. In: LCI 4 (1972) 219. ⫺ Dvorˇa´k, num. 1459. ⫺ 15 Moser-Rath, Predigtmärlein, 459. ⫺ 16 Grimm, Mythologie 2, 953 sq.; Rubieri, E.: Storia della poesia popolare italiana. Florenz 1877, 430⫺436; Bolte, J.: Die Wochentage in der Poesie. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen 98 (1897) 81⫺96, 281⫺300, ibid. 99 (1897) 9⫺24, ibid. 100 (1898) 149⫺154; Leydi, R./ Sanga, P.: Como e il suo territorio. Mailand 1978, 631 sq. ⫺ 17 Keil, G.: T.ewählerei. In: Lex. des MA.s 8. Weimar 1999, 431 sq. ⫺ 18 Groschwitz, H.: Mondzeiten. Zu Genese und Praxis moderner Mondkalender. Münster 2008 (im Druck). ⫺ 19 Kretzenbacher, L.: Sveta Nedelja ⫺ Santa Domenica ⫺ die Hl. Frau Sonntag. Südslaw. Bild- und Wortüberlieferungen zur Allegorie-Personifikation der Sonntagsheiligung mit Arbeitstabu. In: Welt der Slawen 27,1, N. F. 6,1 (1982) 106⫺130, hier 107. ⫺ 20 Brednich, R. W.: Gottscheer Volkslieder 2. Mainz 1972, 197 sq. ⫺ 21 Kretzenbacher (wie not. 19) 127; Karlinger, F.: Rumän. Volksmärchen. MdW 1969, 294. ⫺ 22 Schullerus 368*; cf. auch Sorlin, E.: La verte Jeunesse et la vieillesse me´lancolique dans des variantes roumanohongroises de AaTh 551. In: Fabula 36 (1995) 79⫺ 97, hier 85, 94. ⫺ 23 Schullerus 368*. ⫺ 24 Corbin, A.: Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jh.s. Ffm. 1995. ⫺ 25 Le Goff, J.: Zeit der Kirche und Zeit des Händlers im MA. In: Honegger, C. u. a. (edd.): Schrift und Materie der Geschichte. Ffm. 1977, 393⫺414; id.: Die Arbeitszeit in der „Krise“ des 14. Jh.s. Von der ma. zur modernen Zeit. In: id. (ed.): Für ein anderes MA. Ffm./B./Wien 1984, 29⫺ 42. ⫺ 26 Barag 1566 A**. ⫺ 27 Wander, s. v. T.; Röhrich, Redensarten, s. v. T. 13 14
Marburg
Siegfried Becker
Tageszeiten 1. Allgemeines ⫺ 2. Metaphorik und Allegorisierung ⫺ 3. Einteilung der T. ⫺ 3. 1. Morgen ⫺ 3. 2. Mittag ⫺ 3. 3. Abend und Nacht
1 . All ge me in es. T. heißen die J Zeiteinheiten, mit denen ein J Tag gegliedert wird. T. strukturieren das tägliche Leben, wobei die subjektive Wahrnehmung den Tag als Zeit zwischen Aufstehen und Schlafengehen definiert. Die beiden wichtigsten T. sind Tag und J Nacht, die mit den Dichotomien von J Hell und Dunkel (J Licht), J Wachen und J Schlaf, J Arbeit und Ruhe verbunden sind. Aber auch die Übergänge zwischen Tag und Nacht, die Morgen- und die Abenddämmerung, die Mittagsstunde und bes. die J Mitternacht sind in Alltag, Volksglauben und Volks-
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Tageszeiten
erzählung von großer Bedeutung. T. werden bzw. wurden etwa durch den ersten Hahnenschrei (J Hahn, Huhn), in Europa auch durch das Läuten von Kirchenglocken (J Glocke) oder das Rufen des Nachtwächters strukturiert. Die Begriffe Morgen und Abend stehen seit dem späten MA. als Synonyme für die Himmelsrichtungen Osten und Westen (Morgen- und Abendland)1. 2 . Met ap ho ri k u nd Al le go ri si er un g. Metaphern sind bei der Betrachtung und Einordnung von T. von großer Bedeutung. So galt in der Antike die J Unterwelt (cf. J Hölle) als Äquivalent zu Nacht und Dunkelheit, das J Paradies und der J Himmel hingegen werden als Orte von Licht und strahlender Helligkeit aufgefaßt. Der J Teufel wirkt vor allem nachts und in der Dunkelheit; Gott ist die Macht des Tages: Er erschuf die Welt an sieben (Licht-)Tagen (J Schöpfung). Grundsätzlich werden Leben und Wachsein mit Helligkeit, also dem Tag, gleichgesetzt, J Tod, geistige Verwirrung und J Vergessen mit Dunkelheit und Nacht. Diese Gegensätze kommen in Sprichwörtern und sprichwörtlichen Redensarten zum Ausdruck, z. B.: ,Morgenstund hat Gold im Mund‘2 oder: ,Die Sonne bringt es an den Tag‘ (AaTh/ATU 960, 960 B: J Sonne bringt es an den Tag); jemand ist ,schön wie der Tag‘, andere sind ,häßlich wie die Nacht‘3. Perioden der Menschheitsgeschichte werden ebenfalls mit Metaphern belegt, die mit den T. verbunden sind. So gilt das MA. als dunkel, die Aufklärung als hell, der Holocaust wird als die ,dunkelste Phase der Menschheitsgeschichte‘ benannt4. In mythol. Weltentwürfen ist häufig der Kampf zwischen Tag und Nacht beschrieben, wobei die bösen Mächte eine ins Unendliche verlängerte Nacht bzw. Dunkelheit anstreben (cf. auch J Dualismus). Die J Personifikationen von Tag und Nacht in neomythol. Prosatexten korrespondieren mit den Dichotomien von Gott und Teufel, J Gut und Böse, wie auch mit Märchen, in denen Tag und Nacht (Morgen- und Abenddämmerung, Mittag und Mitternacht) als anthropomorphe Gestalten, Farben oder Wollknäuel materialisiert und personifiziert werden (cf. AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen; AaTh/ATU 304: Der gelernte J Jäger; AaTh/ATU 334: J Haushalt der
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Hexe)5. Dabei ist der Tag oft männlich, die Nacht hingegen weiblich, und es geht fast immer darum, durch Fesselung oder sonstige Behinderung des Tags die Nacht zu verlängern. Durch diesen Eingriff in den Ablauf der Zeit wird dem Helden meist die Gelegenheit gegeben, eine unlösbar scheinende J Aufgabe zu erfüllen oder Abenteuer zu bestehen, bevor der Tag anbricht. Generell gilt die Nacht als die Zeit, in der J Verwünschungen ausgesprochen werden, J Erlösung von einer J Verzauberung erreicht (J Qualnächte) oder ein J Schatz gehoben werden kann. In einer jüngeren, durch Internet und E-Mail verbreiteten Erzählung aus dem Umfeld der J Artustradition wird der Ritter J Gawein von einer Hexe, die zu heiraten er gezwungen ist, vor die Wahl gestellt, ob sie tagsüber oder nachts die Gestalt einer wunderschönen Frau annehmen soll; er überläßt ihr die Wahl und wird belohnt, indem die Hexe zu allen T. ihre schöne Gestalt behält6. 3 . E in te il un g d er T. Die durch den Lauf der J Sonne vorgegebenen natürlichen Zäsuren des Tages sind Morgen, Mittag und Abend. Die Römer unterteilten die Zeit des Tageslichts in Einheiten zu je drei Stunden, woraus sich die christl. Gebetszeiten (horae canonicae) entwickelten. Ihre verkürzte Form als Laudes (Frühgebet), None (Mittagsgebet) und Vesper (Abendgebet) und ihre Ankündigung durch das Läuten der Kirchenglocken strukturierten traditionell den christl. Alltag7. Das Morgen- und Abendläuten markierte Beginn und Ende des Arbeitstages, das Mittagläuten die Arbeitspause zur Mittagsruhe. Durch das Betläuten verfestigte sich der Glauben, daß die Zeit des Tageslichts christl. sei, die Zeit der Dunkelheit vom Teufel und anderen Unholden beherrscht werde. Diese Vorstellungen und die damit zusammenhängenden Vorschriften, Glaubensvorstellungen und Sagen stimmen mit den Bedingungen eines ländlichen Alltags überein. So galten Ausgehverbote nach Einbruch der Dunkelheit bzw. nach dem Abendläuten nicht nur deshalb, weil dann angeblich böse Mächte überall lauerten8, sondern auch, weil in der Dunkelheit die Gefahr bestand, sich zu J verirren oder Opfer von Unfällen oder Überfällen zu werden. Der Rhythmus der T. war generell von vielen Re-
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Tageszeiten
geln begleitet. Während die Verhaltensvorschriften für Dämmerung und Nacht sich meist um die menschliche Sicherheit drehten, waren die für den Lichttag vorrangig mit der Regelung des Arbeitsalltags verbunden. So waren bestimmte Arbeiten an bestimmte T. gebunden9. 3 .1 . Morge n. Als Ackermaß bezeichnet ein Morgen seit dem 10. Jh. die Fläche, die von einem Ochsengespann zwischen Arbeitsbeginn und Mittag umgepflügt werden kann. Der Zeitbegriff ,morgen‘ für den folgenden Tag geht auf die Zählung nach Tagesanbrüchen zurück10. In der Erzählüberlieferung beginnt der Morgen mit dem ersten Hahnenschrei. Ist eine Aufgabe bei Tagesanbruch beendet oder kann man den Teufel, J Geister oder J Dämonen vor der Wahrnehmung des Tagesanbruches oder des ersten Sonnenstrahls ablenken, dann endet oft eine Verzauberung, oder das Böse wird gebannt (z. B. J Baumeister; AaTh/ATU 307: J Prinzessin im Sarg; AaTh/ATU 545 A: J Katzenschloß; AaTh/ ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater; AaTh/ ATU 480 A: J Mädchen und Teufel im Badehaus; AaTh/ATU 1199 A: J Qual des Brotes [Flachses]). Das Motiv des Tagesanbruchs spielt auch in schwankhaften Erzählungen eine Rolle, wenn etwa ein Hahn geschlachtet wird, weil er die Schläfer zu früh weckt (AaTh/ ATU 1566 A*: Maids Must Rise Even Earlier) oder wenn es beim Wettstreit zweier Tiere darum geht, wer zuerst den Sonnenaufgang sieht (AaTh/ATU 120: J Sonnenaufgang zuerst sehen). Es gibt geistliche Morgenlieder, die bei Tagesanbruch gesungen wurden11. Das ma. Tagelied besingt den morgendlichen Abschied des Liebhabers nach dem heimlichen Besuch der Geliebten12. Nach dem Tagesanbruch gilt der Vormittag als Zeit der Arbeit. Zahlreiche Regeln und Redewendungen besagen, wie wichtig es ist, den Tag richtig zu beginnen. So sollen vor allem Kinder nicht zu früh aus dem Haus gehen, weil dann immer noch Geister ihr Unwesen treiben könnten; man soll nicht mit dem falschen Fuß aus dem Bett aufstehen, und die erste Begegnung außerhalb des Hauses (Angang13; J Erster, Erstes, zuerst) kann für den glücklichen oder unglücklichen Verlauf des
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Tages bestimmend sein, am Neujahrstag sogar für den Verlauf des Jahres14. 3 .2 . Mit ta g. Der Mittag bezeichnet als Tagesmitte den höchsten Stand der Sonne. Mit Mittag kann einerseits genau zwölf Uhr gemeint sein, andererseits auch die Mittagszeit, eine Pause, die den Arbeitstag in zwei Abschnitte teilt und in der Mittagessen und Mittagsruhe stattfinden. Das Gebot der Einhaltung der Mittagsruhe beruht auf Glaubensvorstellungen, nach denen zu Mittag ebenso wie um Mitternacht eine Konzentration numinoser Kräfte vermutet wurde. Eine Erklärung hierfür besteht in der Gefährlichkeit der sommerlichen Mittagshitze, die zu Überhitzung (Hitzschlag) führen kann15. Um die Einhaltung der Mittagsruhe durchzusetzen, war der Glaube an die Umtriebe von Mittagsgespenstern wie der Mittagsfrau verbreitet16. Der griech. Fruchtbarkeitsgott Pan soll mittags ruhende Wanderer oder die Hirten und ihre Herden durch lautes Brüllen in Schrecken versetzt haben17. 3 .3 . Abe nd un d Nac ht. Während der Nachmittag in der Volksüberlieferung kaum eine Rolle spielt, bietet der Abend als Zeit der Arbeitsruhe wesentlich mehr Erzählstoffe18; gleichzeitig ist der Abend auch die wichtigste Zeit des Erzählens (J Spinnstube). Der Abend bezeichnet das Tagesende, den Sonnenuntergang bzw. die Dämmerung, aber auch die Zeit nach dem abendlichen Glockenläuten. Nach Einbruch der Dunkelheit ist Abend gleichbedeutend mit Nacht, also der Zeit, in der außerhalb des Hauses das Numinose herrscht oder Gefahren drohen, deren Kulminationspunkt die Mitternacht ist. Die Nacht ist nicht nur nach allg. Vorstellungen, sondern real die Zeit der Kriminalität19. Das Ausgehverbot nach Einbruch der Dunkelheit betraf vor allem Kinder und Wöchnerinnen, die als bes. gefährdet galten und Zielscheibe von Angriffen durch jenseitige Wesen wie J Wassergeister oder die J Wilde Jagd waren. So glaubte man auch, daß das Schließen von Türen und Fenstern das Stehlen von Neugeborenen sowie deren Austausch gegen einen J Wechselbalg verhindere. Zu den abendlichen und nächtlichen Geistererscheinungen (J Gespenst, J Spuk) gehören solche, die allnächtlich auftreten,
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Tagewerk: Erstes T. ⫺ Talion
ebenso wie diejenigen, die nur in bestimmten Nächten (Fastnacht, Walpurgisnacht, Rauhnächte) erscheinen, und die Mehrzahl der Geister, die potentiell jederzeit erscheinen können, wie etwa J Wiedergänger, Nachzehrer (J Dracula, J Vampir), Grenzfrevler (J Grenze), Aufhocker20, Banshees21, weiße Frauen22 oder Irrlichter23. 1
Ernst, P.: Tag, T. In: Reallex. der germ. Altertumskunde 30. B./N. Y. 2005, 268⫺271, hier 270. ⫺ 2 Röhrich, Redensarten 2, 656 sq. ⫺ 3 Wander 4, 317, num. 91. ⫺ 4 Gross, K.: Stern in der Nacht. Lieder eines Ausgestoßenen. Mü. 1946; Adam, W.: Nacht über Deutschland. Erinnerungen an Dachau. Wien 1947; Roth, G.: Die Geschichte der Dunkelheit. Die Archive des Schweigens. Ffm. 1991; Reiter, A.: Auf daß sie entsteigen der Dunkelheit. Die literar. Bewältigung von KZ-Erfahrung. Wien 1995. ⫺ 5 Polı´vka, G.: Personifikationen von Tag und Nacht im Volksmärchen. In: ZfVk. 26 (1916) 313⫺322; id.: Nachträge zu den Personifikationen von Tag und Nacht. ibid. 27 (1917) 68 sq.; Nicolae, R.: Personifications of Day and Night in Romanian Folktales. In: Fabula 49 (2008) 70⫺86. ⫺ 6 Brednich, R. W.: worldwidewitz.com. Humor im Cyberspace. Fbg/Basel 2005, 37⫺40. ⫺ 7 Bilfinger, G.: Die ma. Horen und die modernen Stunden. Stg. 1892; Pascher, J.: Das Stundengebet der röm. Kirchen. Mü. 1954; Gerhards, A./ Dalgrün, C.: Stundengebet. In: TRE 32 (2001) 268⫺ 280; Wünschmann, D.: Die T. Ihre Bezeichnung im Deutschen. Marburg 1966. ⫺ 8 Ekirch, A. E.: At Day’s Close. A History of Nighttime. L. 2005, 16⫺ 23. ⫺ 9 Jungbauer, G.: Tag. In: HDA 8 (1936⫺37) 635⫺650, hier 640. ⫺ 10 Ernst (wie not. 1). ⫺ 11 Erk/Böhme 3, num. 1989⫺1992. ⫺ 12 Knoop, U.: Das mhd. Tagelied. Marburg 1976. ⫺ 13 Boehm, F.: Anfang. In: HDA 1 (1927) 409⫺435. ⫺ 14 Wuttke, A.: Der dt. Volksaberglaube der Gegenwart. B. 3 1900, § 288. ⫺ 15 Jungbauer, G.: Mittag. In: HDA 6 (1934⫺35) 398⫺412; id.: Mittagläuten. ibid., 412⫺ 424. ⫺ 16 Grau, D.: Das Mittagsgespenst (daemonium meridianum). Siegburg 1966. ⫺ 17 Pötscher, W.: Pan. In: Kl. Pauly 4 (1979) 444⫺447. ⫺ 18 Bendix, R./Schwibbe, G. (edd.): Nachts ⫺ Wege in andere Welten. Göttingen 2004. ⫺ 19 Muchembled, R.: La Violence et la nuit sous l’Ancien Re´gime. In: Ethnologie franc¸aise 31 (1991) 237⫺242. ⫺ 20 Röhrich, L.: Homo homini daemon. Tragen und Ertragen. Zwischen Sage und Bildlore. In: Medien popularer Kultur. Festschr. R. W. Brednich. Ffm./N. Y. 1995, 346⫺361. ⫺ 21 Lysaght, P.: The Banshee. The Irish Supernatural Death Messenger. Dublin 1986. ⫺ 22 Wähler, M.: Die Weiße Frau. Vom Glauben des Volkes an den lebenden Leichnam. (Erfurt 1931) Faks.-Nachdr. Kulmbach 1984. ⫺ 23 Ranke, F.: Irrlicht. In: HDA 4 (1931⫺32) 779⫺785; Hand, W. D.: Will-o’-theWisps, Jack-o’-Lanterns and Their Congeners. A
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Consideration of the Fiery and Luminous Creatures of Lower Mythology. In: Fabula 18 (1977) 226⫺233; Moravec, M.: Strange Illuminations. Min Min Lights ⫺ Australian Ghost Light Stories. ibid. 44 (2003) 2⫺24.
Wellington
Brigitte Bönisch-Brednich
Tagewerk: Erstes T. J Wünsche: Die drei W. Talion (lat. talio), Strafrechtsgrundsatz, nach dem der Täter durch das gleiche Übel bestraft wird, das er zugefügt hat (z. B. Todesstrafe für einen J Mord). Als Bestandteil hl. Schriften und religiöser Glaubensinhalte hat sich diese Vorstellung in das kollektive Bewußtsein eingegraben. Es wird unterschieden zwischen reiner, analoger und symbolischer T. Bei der reinen T. (talio identica) wird die Art der J Strafe dem Verbrechen angeglichen. T. wird als Gleichheitsmagie interpretiert (J Similia similibus), die das Ordnungsgefüge der Welt wiederherstellt. Bei der analogen T. kann die Analogie das Tatmittel, den Körperteil, mit dem die Tat ausgeübt wurde, und das Tatmotiv betreffen. Bei diesen Formen erleidet der Brandstifter den Feuertod, der Meineidige verliert die Schwurfinger, und ein Täter aus Gewinnsucht wird am Vermögen gestraft. Die symbolische T. stellt das Verbrechen ideell oder symbolisch dar; die Vierteilung eines Verräters verdeutlicht die Zwiespältigkeit seiner Gesinnung1. Der Konnex von T. (Gleiches mit Gleichem)2 und Vergeltung (Übel gegen Übel) wird jüngst bestritten und die Eigenständigkeit der reinen T. betont3. Die bei fast allen Völkern vorhandene T. war der entscheidende Schritt für die Überwindung der Privatrache (J Rache), sie steht am Anfang des öffentlichen Strafrechts und im Zusammenhang mit der Ausbildung von Staatlichkeit. Im altjüd. Gesetz zielt die Formel aus dem Bundesbuch „Seele um Seele, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule“ (Ex. 21,23⫺25) auf Begrenzung der Sippenkriege, während eine andere Stelle (Lev. 24,19⫺22) Anweisung an die Rechtsinstanz für Körperverletzungen ist. Das im A. T. formulierte Prinzip entspricht
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Talion
nicht dem ,Wie du mir, so ich dir‘ als Grundsatz für zwischenmenschliches Verhalten, sondern zielt auf Schadensbegrenzung und Eindämmung der Rachehandlungen4. Im dt. Strafrecht des MA.s verbindet sich das Gleichheitsprinzip der T. mit dem Vergeltungsprinzip zu den spiegelnden Strafen (analoge und symbolische T. ). Ihre Aufnahme in das ma. Strafrecht geht auf das altjüd. und röm. Recht sowie die Kirche zurück. Sie prägen ⫺ neben Fällen echter T. bei Tötung und Körperverletzung ⫺ in vielfältiger Form das Bild des öffentlichen Strafrechts. Ihre J Grausamkeit zeigt neben Unschädlichmachung, Sühne und Vergeltung bes. Abschreckung als Strafzweck. Die Reformatoren haben dem T.sdenken Vorschub geleistet, indem sie mit J Christi Wort „Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen“ (Mt. 26,52) das altjüd. Gesetz bestätigten5. Allg. vorbeugend wirkte es auch, wenn symbolisch spiegelnde Strafen J Normen und Sanktionen visualisierten. Bes. präventiv waren Strafen am schuldigen Glied (Abhacken der diebischen Hand). In die Constitutio Carolina criminalis (1532) übernommen, brachte schließlich der Übergang vom Vergeltungszum Zweckstrafrecht das Ende der Verstümmelungs-, qualifizierten Todes- und beschimpfenden Ehrenstrafen. Zugleich gewann in der Aufklärung die Bestrafung am Tatmotiv Bedeutung, die heute im Jugendstrafrecht als spiegelnde Weisung die reine T. ohne den Vergeltungsgedanken, aber mit neuer Sinngebung (Besserung und Erziehung) fortsetzt6. Trotz Abschaffung der T. im Strafrecht erscheint das Strafdenken bis heute weitgehend davon bestimmt, nicht nur als Vergeltung, sondern auch als Ausfluß des magischen Gleichheitsstrebens der reinen T. (Forderung der Wiedereinführung der Todesstrafe bei Mord und der J Kastration von Sexualstraftätern; cf. J Rechtsvorstellungen). Der Grundsatz der T. begegnet in verschiedenen Sprichwörtern, die Erfahrungswissen und Normvorstellungen transportieren. Dabei ist nach dem Umlaufcharakter mancher Wendungen zu fragen, die, oft lat. Ursprungs, in juristischen Texten erscheinen und formal die Kriterien eines Sprichworts erfüllen, aber keine allg. Verbreitung gefunden haben7. Nach dem Muster ,Auge um Auge‘8 wird dem Täter
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in ,Bahre gegen Bahre‘9 oder ,Wie ein Mann den andern lähmt, so soll man ihm hinwider tun‘10 als Strafe dasselbe Übel zugefügt, das er begangen hat. Die reine T. als qualitative Gleichheit zwischen Tat und Strafe wird auch in den Sprichwörtern und Redensarten ,Wie du mir, so ich dir‘11, ,Gleiche Sünde, gleiche Strafe‘, ,mit gleicher Münze heimzahlen‘12 und ,Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil‘13 ausgedrückt. Gleichheit der Mittel bzw. Bestrafung durch das Tatwerkzeug und damit analoge T. zeigen ,Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein‘14 und ,Wodurch man sündigt, dadurch wird man gebüßt‘15. Hier findet diese im A. T. mehrfach formulierte Vorstellung16 Ausdruck, daß die (geplante) böse Tat auf den Täter zurückschlägt. Der zu literar. Gestaltung z. B. in Lai und Novelle17 reizende, bis zum Märchen in fast allen Erzählgattungen vorkommende Grundgedanke, der zuweilen mit Ironie verbunden ist18, eignet sich außerdem bes. für Exempla und Moralliteratur, z. B. in den folgenden belehrenden Geschichten: Ein durch seinen Mißerfolg erboster Kirchenräuber durchbohrt mit dem Messer in einem Bild die Augen der Jungfrau Maria, woraufhin seine Augen zu faulen beginnen und er erblindet (J Blendung)19. Als talionartige Bestrafung eines Frevels kann auch der 1559 von Job J Fincel erstmals überlieferte sozialkritische Bericht von einer fränk. Edelfrau gewertet werden, die 1541 bettelnden Armen geraten habe, sie sollten Kot essen20; durch göttliche Strafe konnte sie sich hernach nicht mehr satt essen, aß schließlich auch Erde und Mist und starb völlig verkommen (cf. AaTh/ATU 1446: Laßt sie J Kuchen essen!). T. stellt durch eine weltliche, göttliche oder andere Macht J Gerechtigkeit her, so in Vorstellungen vom J Jüngsten Gericht und in Fabeln (AaTh/ATU 60: J Fuchs und Kranich), in denen Tierquäler und -schinder nach dem T.sprinzip büßen (J Frevel, Frevler)21. Werkzeug spiegelnder Strafen können auch Tiere wie die Kröte22 oder die Kuh sein, die ein Hirte nach seinem Tod immer wieder den Berg hinauftragen muß, weil sie wegen seiner Unachtsamkeit abgestürzt war23. Zu Bestrafung am ausführenden Glied kommt es oft bei Sexualdelikten. Entsprechend der Verbreitung des Strafprinzips begegnet diese Form der T. in Erzählungen vieler Kulturbereiche, so in
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Talisman ⫺ Talmud
ATU 844*: J Rache des Kastrierten oder in AaTh/ATU 837: J Brot des Bettlers. In einer fries. Erzählung erfährt die aus dem jüd.christl. Kulturbereich bekannte Erzählung von Herodias, die über ihre Tochter Salome von Herodes das Haupt des J Johannes Baptista fordert, eine Forts.: Zur Strafe bricht Herodias beim Gang über einen zugefrorenen Fluß ein, wobei eine Eisscholle ihren Kopf abtrennt24. In Märchen ist der Gedanke, daß die Tat auf den Täter zurückfällt, meistens im Motiv der unwissenden J Selbstschädigung, sich selbst das J Urteil zu sprechen, ausgedrückt. Es begegnet vor allem in Märchenschlüssen und führt zur wirkungsvollen Bestrafung der Gegenspieler25.
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21
Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, 21. ⫺ 22 EM 8, 495. ⫺ 23 Röhrich, L.: Der Tod in Sage und Märchen. In: Stephenson, G. (ed.): Leben und Tod in den Religionen. Darmstadt 1980, 165⫺183, hier 174. ⫺ 24 Kooi, J. ˚ rvan der: Fan Aristoteles nei Adam Hurdrider. In: A hammar, N. R. et al. (edd.): Miscellanea Frisica. Assen 1984, 467⫺483, hier 481. ⫺ 25 Shojaei Kawan, C.: Rechtsverwirklichung und Rechtsverdrehung im europ. Volksmärchen. In: Lox, H./Lutkat, S./Kluge, D. (edd.): Dunkle Mächte im Märchen und was sie bannt/Recht und Gerechtigkeit im Märchen. Krummwisch 2007, 168⫺199, hier 171⫺174, 198 sq.
Karlsruhe
Wolfgang Seidenspinner
Talisman J Amulett
1
Ebert, U.: T. und Vergeltung im Strafrecht. In: Jung, H./Müller-Dietz, H./Neumann, U. (edd.): Recht und Moral. Baden-Baden 1991, 249⫺267; id.: T. und Spiegelung im Strafrecht. In: Festschr. K. Lackner. B./N. Y. 1987, 399⫺422; Rüping, H.: Grundriß der Strafrechtsgeschichte. Mü. 31998. ⫺ 2 Röhrich, Redensarten, 552. ⫺ 3 Ebert 1991 (wie not. 1) 259⫺261. ⫺ 4 Schild, W.: Spiegelnde Strafen. In: Reallex. der Germ. Altertumskunde 29. B./N. Y. 2 2005, 352⫺354, hier 353. ⫺ 5 Ebert 1991 (wie not. 1) 264 sq.; id. 1987 (wie not. 1) 411, 417⫺419. ⫺ 6 cf. Boecker, H. J.: Recht und Gesetz im A. T. und im Alten Orient. Neukirchen 21984; Eisenhardt, U.: Dt. Rechtsgeschichte. Mü. 42004; Ruschenbusch, E.: Unters.en zur Geschichte des athen. Strafrechts. Köln/Graz 1968; Günther, L.: Die Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts. Altenburg 1889 (Nachdr. Aalen 1966); Schild, W.: Talio(n). In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 446 sq.; Kaufmann, E.: Spiegelnde Strafen. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 4. B. 1990, 1761⫺1763; id.: T. ibid. 5 (1998) 114⫺118; Schild (wie not. 4) 352⫺354. ⫺ 7 Schmidt-Wiegand, R. (ed.): Dt. Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Mü. 2002, 10⫺12. ⫺ 8 ibid., 37 sq.; Röhrich, Redensarten, 114. ⫺ 9 Schmidt-Wiegand (wie not. 7) 41. ⫺ 10 ibid., 215. ⫺ 11 ibid., 348; Röhrich, Redensarten, 552. ⫺ 12 Schmidt-Wiegand (wie not. 7) 348; Röhrich, Redensarten, 552. ⫺ 13 ibid., 584. ⫺ 14 ibid. ⫺ 15 Weitere heute teils nicht mehr bekannte Beispiele u. a. aus Stadtrechten bei Günther (wie not. 6) 213⫺ 215. ⫺ 16 Belege bei Ebert 1991 (wie not. 1) 252. ⫺ 17 cf. z. B. Neuschäfer, H.-J.: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Mü. 1969, 117⫺119. ⫺ 18 cf. Lüthi, M.: Ironien in der Volkserzählung. In: SF 20 (1976) 67⫺74, hier 71. ⫺ 19 Helfer, C.: Oculum pro oculo sive de lege talionis. In: Vox Latina 18 (1982) 298⫺ 304, hier 301. ⫺ 20 EM 8, 538 sq.; Campion-Vincent, V./Shojaei Kawan, C.: Marie-Antoinette and Her Famous Saying. In: Fabula 41 (2000) 13⫺41, hier 29⫺31, 36. ⫺
Tall tale J Aufschneider, J Lüge, Lügengeschichte, J Münchhausiaden
Talmud 1. Allgemeines ⫺ 2. Legenden ⫺ 3. Hist. Sagen ⫺ 4. Exempla ⫺ 5. Internat. Erzählgut ⫺ 6. Fabeln ⫺ 7. Lügengeschichten
1 . All ge me in es. In der jüd. Kultur wird der T. als Teil der mündl. Überlieferung betrachtet. Im Gegensatz zum Terminus ,schriftl. Tora‘, mit dem die hebr. Bibel bezeichnet wird, versteht man unter ,mündl. Tora‘ die zwischen dem 1. und dem 6./7. Jh. entstandenen literar.religiösen Produkte: Mischna und Tosefta auf Hebräisch, Jerusalemer T. (J. T.; engl. oft Palestinian T.) und Babylon. T. (B. T.) hauptsächlich auf Aramäisch, die Bücher des J Midrasch in einer Mischung aus Hebräisch und Aramäisch1. Die beiden Fassungen des T. ⫺ der J. T. und der B. T. ⫺ folgen in Anordnung und Inhalt der Mischna, allerdings in unterschiedlicher Vollständigkeit. Der J. T., wahrscheinlich um 400 n. u. Z. in Galiläa verfaßt, liegt vollständig nur in einer einzigen Hs. (datiert 1334) vor2. Die Zusammenstellung des B. T.s wurde der Überlieferung nach von Rabbi Aschi (335⫺ 427/428) begonnen und von Rabina (gest. 499) fortgesetzt; die Editions- und Stabilisierungsprozesse des Texts dauerten jedoch erheblich länger. Auch der B. T. liegt vollständig nur in einer einzigen Hs. (datiert 1343) vor3.
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Für Vk. und Erzählforschung ist der T. bes. aus zwei Gründen relevant. Erstens bildete er sich in einer Gesellschaft heraus, die von einer ,allgegenwärtigen Mündlichkeit‘4 geprägt war. Die mündl. Übermittlung von Wissen besaß bis ins 10. Jh.5 gesellschaftliche und kulturelle Präferenz gegenüber schriftl. Texten. Zweitens enthält er viele Teile, die in Form und Inhalt auf die mündl. Kommunikation der Zeit zurückgreifen. Der T. ist dabei durch Mechanismen der mündl. Überlieferung geprägt, da sich seine Interpretationen, Kommentare und Ergänzungen weitgehend auf die anfangs mündl. übermittelte Mischna6 beziehen. Im T. wird zwischen zwei Kategorien der Überlieferung unterschieden: Die Halacha besteht aus den religiösen und rechtlichen Vorschriften und den Diskussionen darüber; die Haggada (J Agada) behandelt alle anderen Gegenstände und besitzt keine Relevanz als Regelwerk oder Ordnungsinstanz. Die talmudische Haggada enthält zahlreiche Erzählungen unterschiedlicher Gattungen7, die den vorrangig geführten Diskurs argumentativ begleiten. Nur gelegentlich dienen assoziativ angeführte Texte primär der Unterhaltung. Die Kompilatoren der schriftl. Fassungen des T.s stellten die Geschichten in Zyklen zusammen, die sich in den folgenden Traktaten finden8: J. T.: Pe’ah 1,1: Ehrung der Eltern (6 Erzählungen). ⫺ Pe’ah 8,8: unehrenhafte Arme (8). ⫺ Demai 1,3: Pinhø as ben Ya’ir (10). ⫺ Baba Mezø ia 2,5: Rückgabe verlorenen Eigentums an Nichtjuden (5)9. ⫺ Kilayim 9,3: Rabbi Juda der Patriarch, ,der Prinz‘ (5). ⫺ Terumot 8,3: unbeaufsichtigtes Essen (3). ⫺ Schabbat 6,9: wie statt eines Juden, der sich in Gefahr befand, ein Nichtjude verletzt wurde (9). ⫺ Ketubbot 12,3: Rabbi Juda (4). B. T.: Berachot 18a: Tote (3). ⫺ Schabbat 30b⫺ 31a: Lobpreis (4). ⫺ Schabbat 127a: positive Wertungen schlechten Verhaltens (3). ⫺ Schabbat 156b: Mildtätigkeit rettet vor dem Tod (3). ⫺ Ta‘anit 20b: verwahrloste Häuser (10). ⫺ Ta‘anit 21b: rechtschaffene Bürger (6). ⫺ Ta‘anit 23a⫺25b: Regenmachen (38). ⫺ Mo‘ed Katan 28a: Der Augenblick des Todes (7). ⫺ Ketubbot 62b: eigensinnige Gelehrte (7). ⫺ Ketubbot 67b: Mildtätigkeit (4). ⫺ Gittin 55b⫺58a: Zerstörung (25)10. ⫺ Kiddushin 39b⫺40a: Gelehrte, die der Versuchung durch nichtjüd. Frauen widerstehen (3). ⫺ Kiddushin 81a⫺b: Gelehrte, die sich beinahe verführen lassen (5). ⫺ Baba Mezø ia 83b⫺84b: Rabbi Elieser ben Simeon (22). ⫺ Baba Batra 58a: Rabbi Bana’ah (8). ⫺ Baba Batra 73a⫺74b: Seefahrer (22)11. ⫺ Sanhedrin 67b: Hexerei (3). ⫺ Sanhedrin 91a: Gebiha ben Pesisa (4). ⫺ Sanhedrin 109a⫺b:
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Bosheit der Leute von Sedom (10). ⫺ Avodah Zarah 16b⫺18b: Sünden, die dem Heidentum nahekommen (18). ⫺ Bechorot 8b⫺9a: Rabbi Joschua ben H ø anania und die ,Ältesten von Athen‘ (18)12.
2 . L eg en de n. Die Legenden des T. wurden ca 100⫺300 Jahre nach den betr. Ereignissen verschriftlicht. In dieser Zeitspanne wurden in der mündl. Überlieferung aus individuellen Persönlichkeiten kulturelle Rollen, aus Lebensgeschichten Erzählmuster, und hist. Ereignisse wurden den Gattungskonventionen der Gesellschaft angepaßt. Darüber hinaus kristallisierten sich durch das Abschleifen von Erzählungen die charakteristischen Eigenschaften der sozialen Rollen und biogr. Modelle sowie die Art und Weise heraus, in der die Gattungen erzählt wurden. Die Erzählungen sind meist eindeutig einem der drei Figurentypen Charismatiker, Weiser, J Märtyrer zugeordnet. Gegenüber der Mischna13 verzeichnet der T. eine stark vermehrte Anzahl von Erzählungen über charismatische Wundertäter (bes. B. T., Ta‘anit 23a⫺25b; J. T., Demai 1,3), die aufgrund ihrer tiefen Frömmigkeit Wunder wie Regenmachen oder Heilungen vollbringen. Die Erzählungen schöpfen dabei aus bibl. und hellenist. Tradition14 sowie dem allg. Wunderglauben der Zeit. Die J Rabbis waren als Führer der Gemeinschaft öffentliche Persönlichkeiten, die sich auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn befanden. Die sie betr. biogr. Legenden15 besaßen die Funktion, Wissenslücken über unbekannte Lebensstadien, bes. Kindheit und frühe persönliche Entwicklung, zu schließen und den Status von Gelehrsamkeit und Wohlstand zu erklären, den die Rabbis erlangt hatten: Hillel d. Ä. (1. Jh. v. u. Z.) etwa wuchs in Armut auf, war aber begierig, die Tora zu lernen (B. T., Yoma 35b); um seiner späteren Position zusätzliche Legitimität zu verleihen, wird erwähnt, daß er ein Nachkomme des Hauses David war (J. T., Ta‘anit 4,2). Rabbi Akiba (2. Jh.) war zunächst ein ungebildeter Schafhirte; er heiratete die Tochter seines Herrn und wurde der berühmteste und reichste Lehrer seiner Zeit16. Neben solchen Legenden enthält der T. eine Fülle von Anekdoten über die religiöse Gelehrsamkeit der Weisen17. Märtyrerlegenden werden nach der Zerstörung des ersten Tempels (586 v. u. Z.) aus-
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schließlich über Rabbis erzählt, wenngleich es unter den Geschichten aus bibl. Zeit auch Erzählungen über Propheten gibt, die ein Martyrium erlitten (etwa B. T., Jebamot 49b; Gittin 57b; J. T., Ta‘anit 4; Sanhedrin 10)18. Im Zusammenhang der religiös bedingten Hinrichtungen, die dem von den Römern niedergeschlagenen Aufstand des Bar Kochba (132⫺ 135)19 folgten, erzählen die Märtyrerlegenden von Rabbis, die zur Abfassung der Ende des 2. Jh.s abgeschlossenen Mischna beitrugen, so etwa Rabbi Akiba (B. T., Berachot 61b), Rabbi H ø anina ben Tradion (B. T., Avodah Zarah 17b⫺18a) oder Juda ben Baba (B. T., Sanhedrin 14a, Avodah Zarah 8b). Die Märtyrerlegenden bilden einen der wichtigsten Erzählzyklen über das Leben der Rabbis und hatten große Nachwirkung in der späteren jüd. Überlieferung20. 3 . H is t. Sa ge n. Anders als J Josephus Flavius, der die Geschichte der Juden und ihrer Kriege in der Tradition hellenist. Historiographie aufzeichnete21, beschreiben die Erzähler des T. Kriege und Katastrophen weniger mit Blick auf die politischen Führer als vielmehr aus der Perspektive des Volkes22. Manche Erzählungen berichten über den J Hunger der Menschen im belagerten Jerusalem. Geschichten über Bar Kochba erzählen von der übernatürlichen Stärke seiner Kämpfer; die Schilderungen des Falls von Bethar, seiner letzten Festung, sind von ähnlich metaphorischer Intensität wie die der Zerstörung Jerusalems (B. T., Gittin 58a)23. 4 . E xe mp la. Funktional sind die meisten der talmudischen Erzählungen insofern Exempla, als sie ihren Hörern bzw. Lesern Muster eines religiös begründeten ethischen Verhaltens liefern. Thematisch behandelt das Exemplum im T. dabei Probleme, mit denen die Menschen in der täglichen sozialen Interaktion in einer ethnisch heterogenen Gesellschaft konfrontiert waren, und leitet zu einem respekt- und würdevollen Verhalten an. Das Gebot der Einhaltung des J Sabbats ist Grundlage der Erzählung von ,Joseph, der den Sabbat liebte‘ (B. T., Schabbat 119a), einer frühen Fassung von AaTh/ATU 736 A: Ring des J Polykrates24. Himmlischer Lohn oder Respekt können selbst Missetätern zuteil wer-
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den, wenn diese etwa in ihrem Sexualverhalten Zucht und Anstand wahren (B. T., Ta‘anit 22a; J. T., Ta‘anit 1,4)25. Dabei winkt der Lohn durchaus nicht nur im Jenseits: Ein Student, der sich angesichts der Reize einer Hure beherrscht hatte und den Vorschriften der Tora gefolgt war, konnte später eheliches Glück mit ihr genießen (B. T., Menahø ot 44a). 5 . I nt er na t. Er zä hl gu t. Gelegentlich erscheinen im T. Geschichten, die über den spezifisch jüd. Rahmen hinaus in der internat. Überlieferung vertreten sind. Bei der Behandlung der Frage, ob Trauer die Leidenschaften besiege, findet sich etwa eine Anspielung auf AaTh/ATU 1510: J Witwe von Ephesus (B. T., Kiddushin 80b)26. Der T. enthält u. a. zwei Fassungen von AaTh/ATU 757: J Jovinian. In beiden Fällen ist der stolze König, der aufgrund seiner Hybris zeitweise durch einen Stellvertreter ersetzt wird, J Salomo; während im J. T. (Sanhedrin 2,2) ein Engel seine Stelle einnimmt, tut dies im B. T. (Gittin 68a⫺68b) der Dämonenkönig J Asmodeus27. Eine Vereinbarung zwischen einem dämonischen Wesen und einem Menschen, wie sie im Mittelpunkt von AaTh/ATU 332: J Gevatter Tod steht, ist das Kernmotiv der Erzählung von Rabbi Simon bar Yohai (2. Jh. n. u. Z.): Ein Pakt mit dem Dämon Ben Temalion ermöglicht dem Rabbi die Heilung einer von dem Dämon besessenen Prinzessin (B. T., Me’ilah 17b)28. AaTh 760*: The Condemned Soul, eine der beliebtesten Erzählungen der jüd. Überlieferung, ist erstmals im B. T. (Kallah Rabbati 52b) belegt: Ein führender Rabbiner, meist Rabbi Akiba, trifft eine Gestalt, die Feuerholz trägt, in dessen Flammen sie ewig in der Hölle brennen soll; der Rabbi bringt in Erfahrung, was der Grund für die harte Strafe ist und wie die Seele gerettet werden kann29. Anders als in der europ. Überlieferung handeln die auch internat. verbreiteten Geschichten im T. oft von als hist. geltenden Persönlichkeiten aus der Zeit der Abfassung von Bibel oder Mischna ⫺ Epochen, die in der talmudischen Ära eine mythische Patina angenommen hatten. Demgegenüber sind die Personen einer Fassung von AaTh/ATU 655: cf. Die scharfsinnigen J Brüder (B. T., Sanhedrin 104a⫺b) lediglich als Juden bezeichnet30.
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6 . Fab el n. Der hebr. Terminus maschal besitzt (ähnlich wie im Griechischen31) die Doppelbedeutung von Fabel und Sprichwort, wobei letzteres sowohl unabhängig als auch an eine Fabel angefügt erscheinen kann. Im spätantiken Palästina erhöhte der wechselseitige Einfluß der jüd. und der griech. Kultur32 die Wertschätzung der Gattung. Im T. werden Hillel d. Ä., sein Schüler Rabbi Johanan Ben Zakkai (1. Jh. n. u. Z.) und Rabbi Meir (2. Jh. n. u. Z.) als Meister der Fabel betrachtet (B. T., Sukkah 28a; Sanhedrin 38b). Rabbi Meir soll 300 Fuchsfabeln gekannt haben33; ähnliches Wissen schrieb man Rabbi Eliezer Bar Kappara (spätes 2. Jh. n. u. Z.) zu (B. T., Sanhedrin 38 b). Neben den Tierfabeln (oft, aber nicht ausschließlich, mit einem J Fuchs als hauptsächlichem Handlungsträger) gibt es im T. sog. Wäscherfabeln (mischlei kovsim; B. T., Sukkah 28a) und Königsfabeln (mischlei melachim). Für die Wäscherfabel ⫺ ein rätselhafter Begriff ⫺ gibt es keine klaren Textbeispiele34. Der Terminus Königsfabel ist ein analytischer Begriff zur Bezeichnung der zahlreichen Fabeln, die eine Situation mit einer möglichen Szene an einem Königshof vergleichen35. Die meisten der Fabeln des T. haben Analogien in der äsopischen Tradition36, darunter auch solche, in denen keine Tiere auftreten. Diese Fabeln kommen nur im B. T. vor, und einige weisen Parallelen in Büchern des Midrasch auf37. Vollständig mitgeteilt werden etwa ATU 1394: Polygynist Man Loses His Beard (B. T., Baba Kamma 60b) und die Fabel von Fisch und Fuchs (Mot. J 758.3; B. T., Berachot 61b)38; andere Fabeln erscheinen nur als summarische Erwähnung, die Vertrautheit mit der Erzählung verrät, so etwa AaTh/ATU 298 C*: J Baum und Rohr (B. T., Ta‘anit 20a; Sanhedrin 105b⫺106a)39. 7 . L üg en ge sc hi ch te n. In den B. T. ist auch eine Reihe von Lügenerzählungen aufgenommen. Die meisten folgen auf eine Feststellung, die sich auf die rechtliche Seite des Verkaufs eines Schiffs im Traktat Baba Batra (73a⫺75b) bezieht40, andere sind in Traktate wie Bechorot (8b) und Kethubot (111b) eingestreut. Als Erzähler werden Rabbis des 3. und 4. Jh.s n. u. Z. angeführt, die zwischen Babylonien und Palästina gereist waren, wie Rabbi
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Dimi und Rabbi Juda der Inder, vor allem ø ana. aber Rabbi Bar H Die Lügengeschichten beginnen oft mit einer Formel wie: ,Einmal reisten wir mit dem Schiff (durch die Wüste) und sahen ...‘ (B. T., Baba Batra 73a). Bei der Erzählung von den Wundern ferner oder vergangener Welten konzentrieren sich die Erzähler auf vertraute und reale Gegenstände, die sie in übertriebenen Dimensionen schildern (J Übertreibung). Sie erzählen von Vögeln und Fischen, Brot und Kuchen, Wein und Reben, Obst und Gemüse. Übernatürliche Gegenstände oder Gestalten sind in den Lügengeschichten selten41. 1 Jaffee, M. S.: The Oral-Cultural Context of the T. Yerushalmi. In: The T. Yerushalmi and Graeco-Roman Culture. ed. P. Schäfer. Tübingen 1998, 27⫺62; Neusner, J.: Oral Tradition in the Writings of Rabbinic Oral Torah. In: Oral Tradition 14 (1999) 3⫺32; id.: Torah in the Mouth. Writing and Oral Tradition in Palestinian Judaism 200 BCE⫺400 CE. Ox. 2001. ⫺ 2 T. Yerushalmi According to Ms. Or. 4720 (Scal. 3) of the Leiden Univ. Library […]. ed. Y. Sussmann. Jerusalem 2001; The Jerusalem T. 1 sqq. ed. H. W. Guggenheimer. B./N. Y. 2002 sqq.; The T. of the Land of Israel 1⫺35. ed. J. Neusner. Chic. 1982⫺91; cf. Bokser, B. M.: An Annotated Bibliographical Guide to the Study of the Palestinian T. In: Aufstieg und Niedergang der röm. Welt 2,19,2. ed. W. Haase. B./N. Y. 1979, 153⫺155. ⫺ 3 Babylonian T. Codex Munich (95). Faks. ed. S. Liberman. Jerusalem 1970; cf. Bokser (wie not. 2) 265 sq. (andere Hss.); The Babylonian T. ed. I. Epstein. L. 1961; The T. 1⫺21. ed. A. Steinsaltz. N. Y. 1989⫺91. ⫺ 4 Elman, Y.: Orality and the Redaction of the Babylonian T. In: Oral Tradition 14 (1999) 52⫺99, bes. 52. ⫺ 5 ibid., 54⫺57. ⫺ 6 Gerhardsson, B.: Memory and Ms. Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinic Judaism and Early Christianity. Uppsala 1961, 98 sq. ⫺ 7 Neuman, D.: Motif-Index of Talmudic-Midrashic Literature. Diss. (masch.) Bloom. 1954; cf. allg. Albeck, C.: Mavo la-Talmudim (Einführung in den T. ). Tel Aviv 1987; Bokser (wie not. 2) 141⫺256, 259⫺336; Strack, H. L./Stemberger, G.: Introduction to the T. and Midrash. Minneapolis 1982. ⫺ 8 cf. Yassif, E.: Sippur ha-am ha-ivri (Die hebr. Volkserzählung). Jerusalem 1994, 268 sq.; id.: The Hebrew Folktale. Bloom. 1999, 209⫺244. ⫺ 9 Hezser, C.: Form, Function, and Historical Significance of the Rabbinic Story in Yerushalmi Neziqin. Tübingen 1993. ⫺ 10 Yassif 1999 (wie not. 8) 132⫺ 144; Rubinstein, J. L.: Talmudic Stories. Narrative Art, Composition, and Culture. Baltimore 1999, 139⫺175. ⫺ 11 Yassif 1999 (wie not. 8) 166⫺191. ⫺ 12 Kohut, G. A.: Some Oriental Analogues to the Ballad of King John and the Abbot of Canterbury. In: J. of
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the American Oriental Soc. 22 (1901) 221⫺226; Yassif 1999 (wie not. 8) 101 sq., 214 sq.; cf. Hasan-Rokem, G.: Web of Life. Folklore and Midrash in Rabbinic Literature. Stanford 2000, 39⫺66. ⫺ 13 Cangh, J.-M. van: Miracles de rabbins et miracles de Je´sus. La tradition sur H ø oni et H ø anina. In: Revue the´ologique de Louvain 15 (1984) 28⫺53; Green, W. S.: Palestinian Holy Men. Charismatic Leadership and Rabbinic Tradition. In: Bokser (wie not. 2) 619⫺647; Avery-Peck, A. J.: The Galilean Charismatic and Rabbinic Piety. The Holy Man in the Talmudic Literature. In: The Historical Jesus in Context. ed. A.-J. Levine/D. C. Allison/J. D. Crossan. Princeton 2006, 149⫺165. ⫺ 14 Tiede, D. L.: The Charismatic Figure as Miracle Worker. Missoula, Montana 1972; Smith, M.: On the History of the ,Divine Man‘. In: Paganisme, Judaı¨sme, Christianisme. Festschr. M. Simon. P. 1978, 335⫺345; cf. ferner Freyne, S.: The Charismatic. In: Ideal Figures in Ancient Judaism. ed. J. J. Collins/G. W. E. Nickelsburg. Chico, Calif. 1980, 223⫺258; Bokser, B. M.: Wonder-Working and the Rabbinic Tradition. The Case of H ø anina Ben Dosa. In: J. for the Study of Judaism 16 (1985) 42⫺92. ⫺ 15 cf. Yassif 1999 (wie not. 8) 106⫺120. ⫺ 16 Safrai, S.: Tales of the Sages in the Palestinian Tradition and the Babylonian T. In: Studies in Aggadah and Folk Literature. ed. J. Heinemann/D. Noy. Jerusalem 1971, 209⫺232; Halevi, E. E.: Ha-Aggadah hahistorit-biografit le-Or Mekorot Yvanim ve-Latinim (The Historic-Biographical Legend in the Light of Greek and Latin Sources). Tel Aviv 1975, 373⫺418; Goldin, J.: Toward a Profile of the Tanna Aqiba ben Joseph. In: J. of the American Oriental Soc. 96 (1976) 38⫺56. ⫺ 17 Neusner, J.: Development of a Legend. Studies on the Traditions Concerning Yohanan ben Zakkai. Leiden 1970; Green, W. S.: What’s in a Name? The Problematic of Rabbinic ,Biogr.‘ In: Approaches to Ancient Judaism 1. ed. W. S. Green. Chico, Calif. 1978, 77⫺96; Meir, O.: Rabbi Yehudah ha-Nasi/Rabbi Judah the Patriarch. Tel Aviv 1999. ⫺ 18 cf. Blank, H.: The Death of Zechariah in Rabbinic Literature. In: Hebrew Union College Annual 12⫺ 13 (1937⫺38) 327⫺346; Fischel, H. A.: Martyr and Prophet. In: Jewish Quart. Review 38 (1947) 265⫺ 280, 363⫺386. ⫺ 19 Schäfer, P.: Der Bar KokhbaAufstand. Studien zum zweiten jüd. Krieg gegen Rom. Tübingen 1981. ⫺ 20 Bin Gorion, M. J.: Mimekor Yisrael. Classical Jewish Folktales. ed. E. Bin Gorion. Neu ed. D. Ben-Amos. Bloom. 1990, num. 81. ⫺ 21 Josephus, Judaism, and Christianity. ed. L. H. Feldman/H. Gohei. Detroit 1987; Villalba i Varneda, P.: The Historical Method of Flavius Josephus. Leiden 1986. ⫺ 22 Hasan-Rokem, G.: Tales of the Neighborhood. Jewish Narrative Dialogues in Late Antiquitiy. Berk. 2003; Rubinstein (wie not. 10) 139⫺175. ⫺ 23 Schäfer (wie not. 19); Yadin, Y.: BarKokhba. The Rediscovery of the Legendary Hero of the Second Jewish Revolt Against Rome. N. Y. 1971; Marks, R. G.: The Image of Bar Kokhba in Traditional Jewish Literature. Univ. Park, Pa 1994. ⫺ 24 Elstein, Y./Lipsker, A.: Joseph who Honors the
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Sabbath. A Thematological Test Case. In: Fabula 37 (1996) 87⫺112. ⫺ 25 Heller, B.: ,Gott wünscht das Herz‘. Legenden über einfältige Andacht und über den Gefährten im Paradies. In: Hebrew Union College Annual 4 (1927) 365⫺404. ⫺ 26 Bin Gorion (wie not. 20) num. 205; Schwarzbaum, Fox Fables, 394⫺ 417. ⫺ 27 Bin Gorion (wie not. 20) num. 28. ⫺ 28 Folktales of the Jews. 1: Tales from the Sephardic Dispersion. ed. D. Ben-Amos. Phil. 2006, num. 35. ⫺ 29 Bin Gorion (wie not. 20) num. 112; Lerner, M. B.: Ma’aseh ha-Tana ve-ha-Met be-Gilgulav haSifrutiim ve-ha-Halakhtiim (Die literar. und halachischen Transformationen der Geschichte von dem Tanna und dem Toten). In: Asufut 2 (1988) 29⫺70; Kushelevsky, R.: Ha-Tana ve-ha-Met ha-Noded. Ha-Umnan Aggadah lo Yehudit? (Der Tanna und der rastlose Tote. Eine jüd. oder nichtjüd. Legende?) In: Criticism and Interpretation 30 (1994) 41⫺64. ⫺ 30 Ben-Amos (wie not. 28) num. 40. ⫺ 31 cf. Perry, B. E.: Fable. In: Studium generale 12,1 (1959) 17⫺37, hier 17. ⫺ 32 Liberman, S.: Greek in Jewish Palestine. Studies in the Life and Manners of Jewish Palestine in the II⫺IV Centuries C. E. N. Y. 1942; id.: Hellenism in Jewish Palestine. Studies in the Literary Transmission, Beliefs and Manners of Palestine in the I Century B. C. E.⫺IV Century C. E. N. Y. 1950. ⫺ 33 Schwarzbaum, Fox Fables, xxiii, 467 (not. 12), 551 sq. ⫺ 34 cf. Ben-Gorion, E.: Shevilei ha-Aggadah. Mavo le-Aggadot-‘Am shel he‘Amim ve-shel Yisrael (Pfade der Aggada. Eine Einführung in jüd. und internat. Volkserzählungen). Jerusalem 1949, 247 (not. 30); Noy, D.: ha-Kovex uMeshalot Kovsim (Der Wäscher und die Wäscherfabeln). In: Mahø anayim 41 (1964) 34⫺40. ⫺ 35 Meir, O.: Nose ha-H ø atunah be-Mishlei ha-Melakhim beAggadat H ø azal (The Wedding in King’s Parables [in the Aggada]). In: Studies in Marriage Customs. ed. I. Ben-Ami/D. Noy. Jerusalem 1974, 9⫺52; Ziegler, I.: Die Königsgleichnisse des Midrasch beleuchtet durch die röm. Kaiserzeit. Breslau 1903. ⫺ 36 Jacobs, J.: Aesop’s Fables among the Jews. In: Jewish Enc. 1. Jerusalem 1901, 221. ⫺ 37 Back, S.: Die Fabel in T. und Midrash. In: Monatsschrift für die Geschichte und Wiss. des Judentum 24 (1875) 540⫺555; 25 (1876) 493⫺513; 29 (1880) 24⫺34; 30 (1881) 260⫺267; 32 (1883) 317⫺330; 33 (1884) 23⫺33; BenAmos, D.: Narrative Forms in the Haggadah. Structural Analysis. Diss. (masch.) Bloom. 1967, 134⫺ 159; Hasan-Rokem, G.: Fable. In: Enc. Judaica 6. Jerusalem 22007, 666⫺670; Schwarzbaum, H.: Talmudic-Midrashic Affinities of Some Aesopic Fables. In: Laographia 22 (1965) 466⫺483; Yassif 1999 (wie not. 8) 191⫺209. ⫺ 38 Schwarzbaum, 474⫺476; Schwarzbaum, Fox Fables, 25⫺47. ⫺ 39 ibid., 164. ⫺ 40 Stein, D.: Believing Is Seeing. A Reading of Baba Batra 73a⫺75b. In: Jerusalem Studies in Hebrew Literature 17 (1999) 9⫺32. ⫺ 41 Ben-Amos, D.: Talmudic Tall Tales. In: Folklore Today. Festschr. R. M. Dorson. Bloom. 1976, 25⫺ 43; Yassif 1999 (wie not. 8) 166⫺191.
Philadelphia
Dan Ben-Amos
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Talos¸, Ion ⫺ Tannhäuser
Talos¸, Ion, *Proda˘nes¸ti 22. 6. 1934, rumän. Volkskundler. T. studierte 1953⫺57 an der Univ. Cluj rumän. Sprache und Lit., war 1957⫺68 als wiss. Mitarbeiter am Inst. für Linguistik der Zweigstelle Cluj der Akad. der Sozialistischen Republik Rumänien tätig und übernahm 1969 die Leitung der Abteilung für Ethnographie und Folklore, die für die Erforschung der rumän., ung. und siebenbürg.sächs. Vk. zuständig war. 1970 wurde T. an der Univ. Bukarest mit einer Monogr. über die Bauopferballade (J Baumeister, J Einmauern) in der rumän. und europ. Volksüberlieferung promoviert1. 1978⫺83 übernahm er ein Lektorat für rumän. Sprache, Lit. und Folklore an der Univ. Köln. 1985 entzog er sich der politischen Verfolgung durch das kommunistische Regime in Rumänien durch die Flucht nach Deutschland. 1986 nahm er seine Lehrtätigkeit am Rom. Seminar in Köln wieder auf, zunächst als Lehrbeauftragter für rom. Volksliteraturen, seit 1988 als wiss. Mitarbeiter, seit 1993 als Privatdozent und seit 1998 als Professor. Im Jahr 2000 trat er in den Ruhestand. Seitdem lehrt er auch als Gastprofessor an der Univ. von Cluj-Napoca. Das Haupttätigkeitsgebiet von T. ist die vergleichende Erforschung der rom. Volksdichtung, bes. der Ballade und des Märchens2. Seine Unters.en gelten dabei vor allem dem Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit sowie den kulturgeschichtlichen und mythol. Zügen3 in der rom. Volksüberlieferung, wozu er ausgedehnte Feldforschungen (in Rumänien, Bulgarien, Deutschland, Spanien und Marokko) unternommen hatte. Speziell widmete er sich u. a. dem J Rolandslied 4 und den span. Romanzen5. Forschungen zu den europ. Bauopfer-Überlieferungen haben ihn sein Leben lang begleitet6. Die 1973 veröff. Diss. wurde später durch die Publ. der betr. Texte ergänzt7. Die verbreitetsten Volksballaden seines Heimatlandes beschäftigten ihn immer wieder aufs neue8. Weiterhin galt sein Interesse der Geschichte der rumän. Folkloristik9 und einzelnen Liedgattungen, bes. dem Weihnachtslied10. Ein bes. Verdienst von T. besteht darin, daß er in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern eine Reihe älterer Erzählsammlungen, u. a. von A. und A. J Schott11, P. J Schullerus12 und L. Blaga13, durch kommentierte Neudrucke wieder zugänglich ge-
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macht hat. Seine wichtigste, auf 528 rumän. Quellenzeugnissen sowie internat. Parallelen beruhende Unters. gilt den beiden verwandten rumän. Volksballaden Cununia frat¸ilor und Nunta soarelui, die erzählen, wie der J Inzest zwischen Geschwistern verhindert bzw. bestraft wird14. 1 T., I.: Mes¸terul Manole. Contribut¸ie la studiul unei teme de folclor european 1⫺2. Buk. 1973/97. ⫺ 2 id.: Das Volksmärchen und das Volksmärchenerzählen in Rumänien. In: Röth, D./Kahn, W. (edd.): Märchen und Märchenforschung in Europa. Ffm. 1993, 190⫺202, 304 sq. ⫺ 3 id.: Petit Dict. de mythologie populaire roumaine. Grenoble 2002; id.: Gaˆndirea magico-religioasa˘ la romaˆni. Buk. 2001. ⫺ 4 id.: Archaische Bestattungsriten im Rolandslied. In: Romanistisches Jb. 44 (1993) 98⫺123. ⫺ 5 id.: Die span. Romanze „La dama y el pastor“ und die europ. Hirtenkultur. In: Rieuwerts, S./Steon, H. (edd.): Bridging the Cultural Divide. 28. Internat. Balladenkonferenz Hildesheim 1998. Hildesheim u. a. 2000, 466⫺ 476. ⫺ 6 id.: Riturile de construct¸ie la romaˆni. In: Folklore literar 2 (1968) 212⫺262; id.: Bausagen in Rumänien. In: Fabula 9 (1968) 196⫺211; id.: Die eingemauerte Frau. Neuere Forschungsarbeiten über die südosteurop. Bauopfersage. In: Jb. für Volksliedforschung 34 (1989) 105⫺116. ⫺ 7 id. (wie not. 1) t. 2. ⫺ 8 id.: „Miorit¸a“ in Transsilvanien. Versuch einer Deutung. In: SAVk. 79 (1983) 187⫺206. ⫺ 9 id.: Der Sieg über den Löwen. Ein Motiv rumän. Colinden. In: Fabula 29 (1988) 96⫺138. ⫺ 10 Mus¸lea, I.: Cerceta˘ri etnografice s¸i de folclor 1. ed. I. T. Buk. 1971. ⫺ 11 Schott, A. und A.: Rumän. Volkserzählungen aus dem Banat [1845]. ed. I. T./R. W. Brednich. Buk. 1971. ⫺ 12 Schullerus, P.: Rumän. Volksmärchen aus dem mittleren Harbachtal [1906]. ed. I. T./R. W. Brednich. Buk. 1977. ⫺ 13 Blaga, L.: Antologie de poezie populara˘. ed. I. T./A. Greive u. a. Buk. 1995. ⫺ 14 id.: Cununia frat¸ilor s¸i Nunta soarelui. Incestul za˘da˘rnicit ˆın folclorul roma˘nesc s¸i universal. Buk. 2004.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Tannhäuser, gest. nach 1265, Minnesänger und Spruchdichter, Held einer spätestens seit dem 16. Jh. im dt. Sprachraum weitverbreiteten Ballade1, die bis ins 20. Jh. hinein im oberdt. Raum mündl. tradiert und bes. im 19. Jh. Thema in verschiedenen Kunstformen wurde. Für eine unabhängig von der Ballade existierende T.sage oder -legende gibt es keine Belege. Das Leben T.s ist nur durch seine Werke bezeugt. In der Großen Heidelberger Liederhand-
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Tannhäuser
schrift finden sich unter dem Namen Der Tanhuser nach einer Miniatur, die einen Ritter des Dt. Ordens zeigt, sechs Leichs, sechs Minnelieder, drei Sangspruchtöne und ein Kreuzlied. Alle anderen Zuschreibungen sind zweifelhaft2. Gönnernennungen lassen einen ungefähren Zeitrahmen von 1245 bis 1265 erkennen, sicher ist T. dem oberdt. Sprachraum zuzuordnen. Der älteste Textzeuge der zwischen 1350 und 1400 entstandenen T.ballade ist eine ndd. Hs. von ca 1450; seit 1515 lassen sich zahlreiche überwiegend hochdt. Drucke nachweisen3. Die verbreitetste Fassung erzählt in 26 vierzeiligen Strophen von T. und Frau J Venus. Nach kurzer Nennung des Themas und Präsentation des Protagonisten wird der handlungsauslösende Konflikt in einem umfänglichen Dialog zwischen Ritter T. und Venus dargestellt, der im Venusberg (Mot. F 131.1) stattfindet. Der Wechselrede ist zu entnehmen, daß T. sich bereits seit längerem im Venusberg aufhält. Was er dort erlebt hat, wird nicht erzählt; man kann allenfalls erschließen, daß er (von ihm als sündhaft verstandene) sexuelle Beziehungen zu den Gespielinnen der Göttin hatte. Venus behauptet, T. habe einen Eid geschworen, dauerhaft bei ihr zu bleiben. Dies weist er energisch zurück. Venus nennt T. verschiedene Gründe, um ihn zum Bleiben zu bewegen; er zeigt sich unbeeindruckt und beharrt auf seinem Entschluß, den Venusberg zu verlassen. Venus gibt ihren Widerstand auf, nachdem er Maria um Beistand angefleht hat. Daraufhin zieht T. nach Rom zu Papst Urban IV., um sein Seelenheil zu retten. Er beichtet, ein Jahr im Venusberg verbracht zu haben, und bittet um Absolution. Der Papst ergreift daraufhin einen dürren Stab, steckt ihn in die Erde und erklärt, T. würden seine Sünden ebenso wenig vergeben, wie der Stab ergrünen werde. T. verspricht dennoch, J Buße zu tun, verläßt Rom tiefbetrübt und zieht wieder in den Venusberg. Venus nimmt den Zurückgekehrten mit Freuden auf. In Rom trägt der Stab nach drei Tagen grünes Laub (AaTh/ATU 756: Der grünende J Zweig), so daß der Papst Boten nach T. aussendet. Deren Suche ist vergeblich, weil T. seine Geliebte im Berg gewählt hat. Deshalb ist Papst Urban IV. für immer verflucht.
Die Entstehung der Ballade ist umstritten. D.-R. J Moser sieht in ihr eine (mißverstandene) Abwandlung der Waldbüßerepisode aus der Legende des J Johannes Chrysostomus4, B. Wachinger denkt an ein vorhandenes Handlungsgerüst, das wegen bestimmter Züge seines Werks mit T. verbunden wurde5. Die T.ballade könnte auch aus verfügbaren literar. Mustern (Absagedialog, Stabwunder, sog. ,Va-
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gantenbeichte‘ des Archipoeta) entwickelt worden sein, ohne daß eine vorgängige Struktur auf den T. übertragen wurde6. Der narrative Kern dieser Kombination ist im spannungsreichen Nebeneinander der bildlichen Darstellung des T. als Ritter des Dt. Ordens und den erotischen Passagen seiner Lyrik angelegt. Verwandte Erzählungen aus der Romania sind zum einen eine Episode des Ritterromans Guerrin il Meschino (um 1410) von Andrea (di Iacopo di Tieri) da Barberino (J Reali di Francia)7 und zum andern eine weitgehend selbständige Begebenheit aus Antoine de J La Sales Salade (um 1440)8. Beide Texte erzählen von der Fahrt eines Ritters in einen Berg zur Sibylle von Cumae (ital.) bzw. zur ,reine Sibylle‘ (frz.; J Sibylla, J Sibyllen) und anschließender Bußreise nach Rom; nur bei La Sale kehrt der Held am Ende in den Berg zurück. Die engl. Romanzen und Balladen um J Tom den Reimer kennen keine Bußfahrt und erzählen nur in einigen Var.n von der Rückkehr in den Berg9. Es ist umstritten, wie und inwiefern diese Traditionen sich gegenseitig und die dt. T.ballade beeinflußt haben. Gelegentlich genannte außereurop. Erzählungen haben mit der T.ballade lediglich das Stabwunder gemein10. Die Ballade erfreute sich großer Popularität; der Name T. war bereits im 15. Jh. sprichwörtlich11. Im 16. und 17. Jh. wird T. häufig im Zusammenhang mit dem Venusberg erwähnt, ohne daß damit eine spezifische Handlung verbunden ist12. Gelegentlich heißt es, daß T. bis zum Jüngsten Tag im Venusberg schlafe (cf. J Entrückung)13. Noch im 15. Jh. findet sich die Verbindung mit der in der Ballade selbst nicht genannten Gestalt des treuen Eckhart (Mahner vor der J Wilden Jagd), der sozusagen zum ständigen Bewohner des Venusbergs wird14. Später wurde die Ballade massenhaft in Flugschriften, Heftchen und Liederbüchern gedruckt, wobei kathol. Fassungen mit Anrufungen Marias und protestant., in denen allein Gott um Hilfe angefleht wird, unterschieden werden können. Verschiedene Var.n gehen bes. auf die Rolle des Papstes und des Stabwunders ein. Die Ballade fand u. a. in gelehrte Sammelwerke Eingang (H. J Kornmann, J. J Praetorius) und wurde durch
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Tantalus
den Abdruck in Des Knaben Wunderhorn (1806) weiter popularisiert15. Zwei ndl. Flugschriften aus dem 16. Jh. setzen eigene Akzente, gehen aber auf die dt. Ballade zurück; der Protagonist heißt hier Daniel16. Außerdem sind zwei dän. Balladen (Danhyser) aus dem 17. Jh. bekannt, etwas breiter erzählend als die dt.17 Aus dem Trentino ist in Hexenprozeßakten ein Zeugnis für die T.ballade (1504) überliefert18. Eine slov. Fassung geht auf dt. Einfluß zurück19. Im dt.sprachigen Raum verbreitet war die Waldhauser-Ballade, mit (nicht immer vollzogenem) Namenwechsel des Protagonisten (Flugblatt 1805, jüngste Aufzeichnungen aus der Steiermark von 196720), Romfahrt, Stabwunder, Tod des Helden auf einem Berg, Begrüßung des Verstorbenen durch J Christus (kein Absagedialog, keine Verdammung des Papstes). Von dieser Ballade sind u. a. Schwundformen von wenigen Strophen aufgezeichnet worden21. Auf Schweizer Gebiet konnte die Ballade bis weit über die Mitte des 19. Jh.s hinaus nachgewiesen werden, wobei die Namen T. und Venus erhalten blieben22. Bis in die Gegenwart hinein wird die Ballade, meist nach dem ältesten Druck von 1515, mit Melodie in Liederbüchern tradiert23. Mündl. Überlieferung, die vielleicht durch die Liederbücher verdrängt wurde, ist seit ca 1930 nicht mehr dokumentiert24. 1885 wurde T. zum Protagonisten eines umfangreichen Kolportageromans25. Selten ist T. eine Gestalt neuzeitlicher Sagen26. Die Texte dieser T.sagen basieren wie bei den Brüdern J Grimm (Grimm DS 170) auf der von Praetorius veröff. Ballade (1668)27. Ein fahrender Schüler in Eschenz soll berichtet haben, daß der ,Danhuser‘ im ,Frau fenus berg‘ sitze. Sein Bart sei bereits zweimal um den Tisch herumgewachsen, während er auf den Jüngsten Tag warte28. Zur Titelfigur einer Novelle hatte Ludwig J Tieck T. 1800 gemacht, später fanden u. a. Heinrich J Heine, Emanuel Geibel, Clemens J Brentano und Richard J Wagner Inspiration in der Ballade29. Spätestens mit Wagners Oper hat der T. einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis Europas gefunden. Von ihr gingen Impulse auch auf die engl. Lit. aus (Aubrey Beardsley, Algernon Charles Swinburne).
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1 DVldr 1, num. 16; cf. auch Barto, P. S.: T. and the Mountain of Venus. A Study in the Legend of the Germanic Paradise. N. Y. 1916, 217⫺224 (druckt alle wesentlichen Fassungen der Ballade ab). ⫺ 2 cf. Wachinger, B.: Von T. zur T.-Ballade. In: ZfdA 125 (1996) 125⫺141, hier 126⫺128. ⫺ 3 Aufstellung der Überlieferungsträger und Edition cf. Rüther, H.: Der Mythos von den Minnesängern. Zur Entstehung der Moringer-, T.- und Bremberger-Ballade. Köln 2007, 150⫺206. ⫺ 4 Moser, D.-R.: Die T.-Legende. Eine Studie über Intentionalität und Rezeption katechetischer Volkserzählungen zum Buß-Sakrament. B./N. Y. 1977, bes. 83⫺106. ⫺ 5 cf. Wachinger (wie not. 2) 136⫺140. ⫺ 6 Rüther (wie not. 3) 210⫺ 244. ⫺ 7 Löhmann, O.: Die Entstehung der T.sage. In: Fabula 3 (1960) 224⫺253, hier 225⫺227, 251⫺ 253. ⫺ 8 ibid., 227⫺229. ⫺ 9 ibid., 239 sq. ⫺ 10 Furati, M.: Das Buch der vierzig Fragen. ed. J. Hein. Leiden 1960, 126 (not. 135). ⫺ 11 Rüther (wie not. 3) 244⫺247. ⫺ 12 Zahlreiche Belege bietet Ammann, A. N.: T. im Venusberg. Der Mythos im Volkslied. Zürich 1964, 23⫺65. ⫺ 13 ibid., 59. ⫺ 14 ibid., 72⫺74; cf. auch Singer, S.: Eckart. In: HDA 2 (1929⫺30) 541⫺544. ⫺ 15 cf. vor allem Weigel, H./Klante, W./Schulze, I.: T. in der Kunst. Jena 1999. ⫺ 16 Abdruck bei Barto (wie not. 1) 155⫺159. ⫺ 17 Abdruck ibid., 172⫺176. ⫺ 18 Wolf, H. J.: The T.-Version von Giovanni Delle Piatte (1504). In: Arcadia 14 (1979) 115⫺132. ⫺ 19 Kretzenbacher, L.: Der T. in der Volksdichtung Österreichs. In: Volkslied, Volkstanz, Volksmusik 48 (1947) 2⫺7, hier 5. ⫺ 20 Suppan, W.: Volkslied und Volksliedforschung in der Steiermark. In: Zs. des hist. Vereins für Steiermark 64 (1973) 5⫺16, hier 15. ⫺ 21 Schmidt, L.: Zur österr. Form der T.-Ballade. In: Jb. des österr. Volksliedwerkes 1 (1952) 9⫺18, hier 11⫺15. ⫺ 22 DVldr 1, 154. ⫺ 23 cf. Die schönsten Volkslieder. ed. W. Hansen. Mü. 2004, 23. ⫺ 24 Freundliche Auskunft von W. Linder-Beroud (Dt. Volksliedarchiv, Freiburg); nach ihrer Einschätzung ist der T. eher ein Sagen- und Opernstoff als ein Volksliedmotiv. ⫺ 25 Kosch, G./Nagel, M.: Der Kolportageroman. Bibliogr. 1850⫺1960. Stg. 1993, num. 1256. ⫺ 26 cf. Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004, 8486⫺8488, 13413⫺ 13417. ⫺ 27 cf. Textabdruck bei id.: Merkwürdige Lit. CD-ROM B. 2005, 22585⫺22589; Arnim, A. von/Brentano, C.: Des Knaben Wunderhorn 4. ed. H. Rölleke. Stg. u. a. 1979, 189⫺193 (Kommentar). ⫺ 28 Peuckert, W.-E.: Westalpensagen. B. 1965, 151. ⫺ 29 Voegel, D.: Die Auswertung der T.-Sage in der dt. Lit. des 19. und 20. Jh.s. Diss. Mü. 1922.
Münster
Hanno Rüther
Tantalus, neben J Sisyphus, Ixion, Tityos und Lykaon einer der großen Sünder der griech. Mythologie. T., Sohn des J Zeus (oder
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Tantra¯khya¯yika
des lyd. Berggottes Tmolos) und der Nymphe Pluto, war König von Sipylos in Lydien (oder Phrygien) und sehr reich1. Mit Dione (auch Euryanassa genannt) hatte T. die Kinder Broteas, Niobe und J Pelops. Er ist damit der Ahnherr der Pelopiden, zu denen Atreus und Thyestes gehören, der Vater und der Onkel von Agamemnon und Menelaos, den Anführern der Griechen im Trojan. Krieg. Die Erzählungen über T. beziehen sich hauptsächlich auf seine Versündigung gegen die Götter (J Frevel, Frevler) sowie die ewige J Strafe, die er hierfür erleidet2. Übereinstimmend heißt es, daß T. die höchste Gunst der Götter genoß, seine bevorzugte Stellung jedoch mißbrauchte. Aus den Quellen ergeben sich vier Überlieferungen, die manchmal vermischt werden. Die geläufigste und vermutlich früheste Version (Pindar, Olymp. Ode 1,46⫺ 58) beschreibt, wie T. die Götter zum Gastmahl einlädt. Vermutlich um ihre Allwissenheit zu prüfen, zerstückelt er seinen Sohn Pelops, kocht die Teile in einem Kessel und setzt das Fleisch den Göttern vor. Göttliche Vorsehung verhindert das Gelingen des Tricks, und die Götter erwecken das Kind wieder zum Leben, indem sie seine verstümmelten Überreste in dem kochenden Kessel wieder zusammenfügen (J Wiederbelebung). Nach anderen Berichten beleidigt T. die Götter, indem er ihre Geheimnisse verbreitet, entweder aus Unverstand (Apollodoros, Epitome 2,1) oder um sich vor Freunden mit der göttlichen Gunst, die er genießt, zu brüsten (u. a. Euripides, Orestes 10). Er soll auch Nektar und Ambrosia von der Tafel der Götter gestohlen und mit anderen Sterblichen geteilt haben (Pindar, Olymp. Ode 1,62⫺65; Apollodoros, Epitome 2,1). Außerdem wird erzählt, daß T. sich des Meineids schuldig machte: Als Pandareos den goldenen Hund stahl, der das Heiligtum des Zeus in Kreta bewachte, brachte er ihn T. zur Aufbewahrung; Zeus schickte den J Götterboten Hermes, um das Tier zurückzufordern, aber T. stritt unter Eid ab, etwas von der Sache zu wissen (u. a. Scholion zu Pindar, Olymp. Ode 1,62 und 1,60). Der früheste Bericht (Homer, Odyssee 11,582⫺592) über die Strafe, die Zeus dem T. auferlegt, beschreibt, wie T. immerwährenden Durst und J Hunger erdulden muß: Im Tartaros, dem tiefsten Teil der Unterwelt, steht er
bis zum Kinn in einem Teich (Fluß), von dessen Ufern fruchtbeladene Zweige herabhängen; wenn er sich zum Trinken beugt, weicht das Wasser zurück und entblößt den ausgetrockneten Boden; wenn er nach den Früchten eines über ihm hängenden Asts greift, weht ein Windstoß ihn aus seiner Reichweite (Mot. Q 501.2). Diese J Qualen werden noch durch die Erinnyen verstärkt, die ihn dazu zwingen, sich vorzustellen, daß sein Hunger und Durst gestillt werden. Bereits in der Antike wurde der Name T. daher zum metaphorischen Ausdruck (,T.qualen‘)3 für andauernde, jedoch hoffnungslose Versuchung (z. B. bei Platon, Protagoras 315 c). Nach anderer Überlieferung bestrafte Zeus den T., indem er einen riesigen Stein, der jeden Augenblick herabzustürzen drohte, über seinem Kopf aufhing (u. a. Pindar, Olypm. Ode 1,57; cf. ATU 981 A*: J Leben am seidenen Faden). Von der weiten Verbreitung dieser Überlieferung in der Antike zeugt die Wendung ,T.felsen‘, die sprichwörtlich für große und unmittelbar bevorstehende Gefahren wurde (Pindar, Isthm. Oden 8,11,13; Scholion zu Isthm. Oden 8,10). Die von T. begangenen Vergehen des Kannibalismus, Kindsmords, Diebstahls der Götterspeise und Meineids sind das unvermeidliche Ergebnis seiner zutiefst ungewöhnlichen Tischgemeinschaft mit den Göttern4. In der Gesellschaft der Unsterblichen wurde er seiner eigenen menschlichen Natur entfremdet, was dazu führte, daß er die kosmische und menschliche Ordnung bedrohte5. Die zentrale Bedeutung von T.’ Verbrechen und Bestrafung besteht damit in der Überschreitung der ihm gesetzten Grenzen6. Stenger, J.: Tantalos. In: DNP 12,1 (2002) 11. ⫺ Hansen, W.: Ariadne’s Thread. Ithaca/L. 2002, 166⫺169. ⫺ 3 Röhrich, Redensarten 2, 1598 sq. ⫺ 4 Sourvinou-Inwood, C.: Crime and Punishment. Tityos, Tantalos, and Sisyphos in Odyssey 11. In: Bulletin of the Inst. of Classical Studies of the Univ. of London 33 (1986) 37⫺58, hier 40⫺47. ⫺ 5 cf. Burkert, W.: Homo necans. Berk. 1983, 99 sq.; Detienne, M.: Dionysus Slain. Baltimore 1979, 17, 53⫺ 67. ⫺ 6 Sourvinou-Inwood (wie not. 4) 44. 1 2
Columbia, Missouri
Wakefield Foster
Tantra¯khya¯yika J Pan˜catantra(m)
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Tanz 1. Allgemeines ⫺ 2. T. und Volkserzählung ⫺ 2. 1. Sage, Ballade, Exempel ⫺ 2. 2. Märchen
1 . All ge me in es. Als elementare rhythmische Bewegungs- und Ausdrucksform ist der T. ein ubiquitäres Phänomen. Das Spektrum der Motivationen und der Anlässe zum Tanzen ist weit gefächert. Im wesentlichen sind (mit Überschneidungen) drei große Bereiche zu unterscheiden: T. ist magisch-religiöse J Kulthandlung, Modus geselliger Unterhaltung und professionelle Kunstform. Im Laufe der Geschichte ist eine allmähliche Bedeutungsverlagerung von den magisch intendierten zu den unterhaltend-geselligen T.formen festzustellen. Unübersehbar hat der T. zu allen Zeiten lustvoll-erotische bis ausschweifende ebenso wie rauschhaft-ekstatische Komponenten, und immer spiegelt er das gesellschaftliche wie auch das individuelle Verhältnis zu Körper und Körperlichkeit wider1. Zum magisch-religiösen Bereich zählen T.e zur Erlangung von Jagd- oder Kriegsglück und Fruchtbarkeit der Felder, als Übergangsriten bei Geburt, Hochzeit und Tod, zur Heilung von Krankheiten (J Schamanismus) oder allg. als J Opfer bzw. Zeichen der Dankbarkeit gegenüber den Göttern2. T. spielt eine wesentliche Rolle in verschiedenen Mythologien und Religionen: Der hinduist. S´iva erschafft die Welt durch T. und lehrt die Menschen die J Musik; in der chin. Mythologie entsteht die Harmonie des Kosmos durch T.3 In der Bibel werden T.e immer wieder erwähnt4; im A. T. führt z. B. Mirjam, die Schwester des J Moses, nach dem Zug durch das Rote Meer den Reigen der Frauen an (Ex. 15,20). Viele Kulturen und Religionen kennen bes. T. e. Beispielhaft genannt seien der Fakkeltanz zum jüd. Laubhüttenfest5, der T. der Mevlevi-Derwische6 oder afrik. Besessenheitstänze, etwa der Yoruba7. Ebenso sind aus gnostischen Kreisen kultische T.e bekannt. Während die frühchristl. Kirche den T. noch als legitime liturgische Form akzeptiert hatte8, wandte sich die christl. Morallehre später gegen den T. insgesamt. Die Kirchenväter verdammten ihn als Ausgeburt des Bösen bzw. Werk des J Teufels. Diese Haltung tritt bereits bei J Johannes Chrysostomos9 deutlich zutage. J Jacques de Vitry setzte den T. über-
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haupt mit dem Teufelskult gleich, wenn er urteilte, der T. sei der Kreis, in dessen Mitte der Teufel zu finden sei10. Seit dem ersten offiziellen T.verbot durch das Konzil von Toledo (589) zog sich durch das gesamte MA. und die Neuzeit eine tanzfeindliche Haltung der kathol. Kirche, die im T. ein Relikt heidnischer Vorzeit und eine Bedrohung ihrer Macht sah. Es ging ihr dabei primär um die ausgelassenen T.e des einfachen Volks, das trotz zahlreicher Dekrete und Verbote weiterhin tanzte11. Im Protestantismus steht bes. der J Pietismus dem T. ablehnend gegenüber12. Konfessionsübergreifend zeigte sich eine Konnotation von T. und Teufel in Hexentraktaten und Protokollen von Hexenprozessen, wonach Hexen beim Hexensabbat bes. in der Walpurgisnacht wild tanzten13. Seit dem Hochmittelalter begann die Trennung des weltlichen T.es der oberen von dem der unteren Schichten deutlichere Formen anzunehmen. Während der T. des einfachen Volks stärker Lebendigkeit wie auch regionale Eigenheiten bewahrte und vorwiegend in öffentlichen Räumen bzw. im Freien stattfand, entwickelte die höfische Gesellschaft überregionale T.formen, die in geschlossenem privatem Rahmen getanzt wurden. Es kam zur Herausbildung des Gesellschaftstanzes14, der sich in seinem Hang zur Formalisierung, Körperdistanzierung und Bevorzugung des Paartanzes zusehends von den ausgelassenen Reigentänzen der bäuerlichen Schichten abgrenzte. Solotänze waren J Gauklern, J Spielleuten und Akrobaten bzw. Moriskentänzern vorbehalten15. In der Neuzeit paßte sich das städtische Bürgertum der T.kultur des Adels an. In diesem Umfeld entstand gegen Ende des 16. Jh.s der Bühnentanz als professionelle Kunstform, die nach 1800 auch Märchenstoffe einbezog (J Märchenballett)16. 2 . T. u nd Vo lk se rz äh lu ng. Volkserzählungen spiegeln reale T.gelegenheiten, wobei die Sage und ihr nahestehende Erzählformen stärker die Welt des einfachen Volkes mit ausgelassenen, aber auch kultisch-rituellen Reigentänzen, das Märchen dagegen jene des höfischen, gemäßigteren Gesellschaftstanzes, als Reigen- oder Paartanz, repräsentieren17. Dem T.historiker bzw. Musikwissenschaftler sagen die Volkserzählungen allerdings wenig: Über
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konkrete T.e, T.formen und -schritte wie auch über T.musik und Instrumente werden kaum konkrete Aussagen gemacht, sieht man von Geige und Flöte ab, die oft genannt sind. 2 .1 . S ag e, Ba ll ad e, Ex em pe l. In Sagen und anderen Erzählformen mit Warncharakter erscheint der T. überwiegend negativ konnotiert als sünd- und frevelhaftes Tun (J Frevel, Frevler; J Sünde). Das häufige Vorkommen von Freveltanzmotiven und Bestrafungen für Sonn- oder Feiertagstänze zeugt nicht nur allg. vom jahrhundertelangen Abwehrkampf der kathol. Kirche, sondern konkret davon, daß der T. als heidnisches Ritual und unmittelbare Konkurrenz für den J Gottesdienst gesehen wurde18. Frühestes und zugleich bekanntestes und reich belegtes Beispiel eines T.frevels bildet ATU 779 E*: J Tänzersage. Zahlreiche Belege für T.frevel und dessen Bestrafung finden sich in Sagensammlungen des 19./20. Jh.s. Die Sage vom Adamstanz bei Virchow in der Neumark etwa berichtet von einem Nackttanz (J Nackt, Nacktheit) an einem Pfingsttag, der die J Versteinerung von Spielleuten und Tänzern zur Folge hat19. Die Bezeichnung stellt eine Verbindung zur häretischen Gruppe der Adamiten her, denen kultische Unzucht unterstellt wurde20. T. unter Mißachtung kirchlicher Gebote, verbunden mit Geiz, Hoffart und Übermut, liegt auch häufig in Sagen von untergegangenen Dörfern, ehemals blühenden Landschaften oder Almen vor, so z. B. in der Erzählung von der Entstehung des Waidischsees in Kärnten (J Versinken)21; an dieser Stelle sollen einst Leute in der Christnacht trotz einer Warnung aus dem Jenseits nackt in der Kirche getanzt haben. In ähnlicher Weise sollen an der Stelle des heutigen Wörthersees Frevler trotz Mahnung am Abend vor Ostern zu T. und Gelage zusammengekommen sein22. Daß der T. als sündhaft galt, bezeugt auch eine Reihe von Sagen über verbotene heimliche T.unterhaltungen, bei denen mitunter der Teufel erschien oder die für einzelne Tänzer tödlich endeten23. Eine dichte Exempel-, Balladen- und Sagentradition weist das Motiv vom Teufel auf dem T.boden auf 24, der in einer Gruppe als J Überzähliger auftritt25: Der Teufel mischt sich unter als Teufel verkleidete Maskentänzer und steckt einen davon in Brand, worauf alle zu-
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grunde gehen26. Das Motiv vom T. des Teufels27 ist Ausdruck des kirchlichen Kampfs gegen den T. im allg. und bes. auf J Friedhöfen, zu kirchlichen Festtagen und verbotenen Zeiten. Verschiedene Volksbräuche (z. B. Steiermark, Kärnten, Slovenien, Salzburg) entsühnen den T. präventiv durch Segenshandlungen und fromme Zeichen (Kreuzsegen) und sollen damit die Tänzer vor bösen Folgen schützen28. Sagen und Balladen führen wiederum die tragischen Folgen vor, welche die Unterlassung solcher Entsühnungshandlungen mit sich bringt, und belegen, welche fatalen Folgen sich für Tänzer ergeben. In einer slov. Ballade springt der Teufel mit der Tänzerin in eine Grube29. In anderen Fällen werden die Frevler zu J Wiedergängern, so in einer Sage aus Schleswig-Holstein, in der eine Tänzerin mit dem Teufel tanzt, bis sie tot umfällt. Von nun an muß sie jede Nacht aus dem Grab zum Tanzen gehen. Nur der T. mit einem Christen kann sie erlösen30. Die Thematik T. und J Tod charakterisiert eine weitverzweigte Gruppe von Erzählungen. Das aus Dichtung und Kunst bekannte Motiv des Totentanzes31, in dem der personifizierte Tod Vertreter aller Stände in seinen Reigen zwingt und tanzend in den Tod führt, begegnet in der Überlieferung allerdings nur in Liedform32. In Volkserzählungen (überwiegend in Sagen) ist es kein T. mit dem Tod, sondern entweder ein T. der J Toten miteinander (Mot. E 493)33 oder von Lebenden mit Toten (Mot. E 238.1). Hinter dem T. der Toten unter sich steht die Vorstellung, daß diese eine Gemeinschaft bilden und bisweilen auch fröhliche J Feste mit Gelage und T., meist auf dem Friedhof, feiern34. Für Zuschauer haben diese T.e immer etwas Unheimliches, so daß ihnen die Lust am T.en vergeht35. Häufiger erscheint der T. der Toten aber als eine Form der Strafe im Jenseits36. Mit den Toten zu tanzen kann zu deren J Erlösung führen37. Überwiegend bedeutet der T. mit Toten jedoch Gefahr, die durch Kreuzzeichen und Segensspruch abgewehrt werden kann38. Provoziert man die Toten, endet das Geschehen nicht selten tödlich39. In anderen Sagen stören die Lebenden durch Aufforderung bzw. Aufspielen zum T. die Toten- und die Friedhofsruhe40 oder provozieren die tanzenden Toten durch Parodie41
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Tanz
oder Neckerei42. Teilweise sind es auch tote Kinder, die auf dem Friedhof zu J Mitternacht lustige Reigen tanzen und singen43. Immer geht es um das Eindringen in die Gemeinschaft der Toten, um einen J Tabubruch44. Die eigentümliche Verbindung von T. und Tod manifestiert sich auch in Totenbräuchen vieler europ. Länder, aber auch etwa Mexikos. Bes. während der Totenwachen waren T.e verbreitet45. Eine Sonderform des Totentanzmotivs stellen jene Erzählungen dar, in denen die Tanzenden ihren eigenen und den Tod des Beobachters ankündigen46. So groß die Zahl der Sagen über weibliche tanzende Dämonen ist, so stereotyp sind die entsprechenden Motive. Ausgelassener, wilder T. ist unverzichtbares Element der nächtlichen Zusammenkünfte47. Bei Beobachtung durch Menschen ist der Spuk auf einen Schlag vorbei48. Viele Sagen berichten fast übereinstimmend von kreisrunden, pflanzenlosen Stellen in Wiesen, Feldern und Wäldern, die als Hexentanzplätze bezeichnet werden (J Hexen, Kap. 2.2.2; J Samovilen)49. 2 .2 . M är ch en. Im Übergangsbereich zwischen Sage und Märchen steht AaTh/ATU 500: J Name des Unholds. Dies zeigt sich vor allem in jenen Var.n, in denen der Dämon (z. B. KHM 55: Rumpelstilzchen) bzw. eine Gruppe von Dämonen um ein Feuer herumtanzen. Darin sah man eine Nähe zu Hexensabbat ⫺ bzw. Teufelsvorstellungen50. In AaTh/ ATU 707: Die drei goldenen J Söhne ist das tanzende Wasser einer der wunderbaren Gegenstände, die Objekte der J Suche sind. Unter den Jenseitigen sind es neben J Zwergen vor allem J Elfen (J Fairy; J Fee, Feenland), die Musik und ausgelassenen T. über alles lieben und an ihren verborgenen Lieblingsplätzen die Nächte durchtanzen51. Mitunter verstehen sie auch auf so unwiderstehliche Art zu musizieren, daß alle tanzen müssen (AaTh/ ATU 503: J Gaben des kleinen Volkes). In Märchen tanzen nicht nur Menschen, Überund Unterirdische, sondern auch Tiere und Gegenstände, z. B. eine Spindel (AaTh/ATU 585: Spindle, Shuttle, and Needle) oder Gläser (AaTh/ATU 613: Die beiden J Wanderer). Der T. kann im Märchen unterschiedliche Bedeutungen haben, ist aber anders als in der Sage nicht per se negativ besetzt. Häufig sym-
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bolisiert er Geselligkeit und Festesfreude und ist als dekorativer Zug stereotyper Bestandteil meist höfischer Feste. T. gehört zu jeder J Hochzeit. In einer Reihe von Märchen kommt dem T. sogar eine Schlüsselrolle bei der Dynamik der Handlung zu, und zwar bei der Partnerfindung der Helden, so z. B. in AaTh/ATU 510 A⫺B: J Cinderella, aber auch in Var.n aus dem Motivkreis der vergessenen J Braut (z. B. KHM 186: Die wahre Braut). Hier fühlt sich der Prinz in Liebe zu seiner Tänzerin hingezogen. Der T. kann aber auch zur Abrundung glücklichen Geschehens dienen, indem er Freude nach überstandener Gefahr ausdrückt (z. B. AaTh/ATU 123: J Wolf und Geißlein). In Fassungen zu AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes ist der Hochzeitstanz der Augenblick, in dem die junge Königin in Todesgefahr gerät. In ganz Europa verbreitet ist das dem Themenkomplex ,heiratsunwillige Königstöchter‘ zuzurechnende Zaubermärchen AaTh/ATU 306: Die zertanzten J Schuhe. Verbreitet sind ferner Märchen, in welchen der Protagonist als Gabe ein zauberisches Instrument (Violine, Klarinette, Zither, Flöte oder Pfeife) erhält, das Mensch und Tier zum Tanzen zwingt, sobald er darauf zu spielen beginnt. Auf diese Weise gelangt der Besitzer des Instruments zu Reichtum, kann eine Königstochter gewinnen (AaTh/ATU 850: cf. J Rätselprinzessin) oder sich selbst vor dem sicheren Tod retten52, indem er die Ankläger zum Tanzen bringt (AaTh/ATU 592: J T. in der Dornhecke). Beispiel für einen extremen Märchenschluß ist AaTh/ATU 709: J Schneewittchen. Hier muß die böse Stiefmutter so lange in eisernen, rotglühenden Pantoffeln tanzen, bis sie tot umfällt. 1 Klein, G.: FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des T.es. Weinheim/B. 1992, 12; cf. allg. Sachs, C.: Eine Weltgeschichte des T.es. B. 1933; Günther, D.: Der T. als Bewegungsphänomen. Hbg 1962; Royce, A. P.: The Anthropology of Dance. Bloom. 1977 (Nachdr. Alton 2002); Sorell, W.: Kulturgeschichte des T.es. Wilhelmshaven 21995. ⫺ 2 Schimmel, A.: T. 1: Religionsgeschichtlich. In: RGG 6 (31962) 612⫺614, hier 613. ⫺ 3 Feldmann, F.: T. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 13. Mü. 21989, 94. ⫺ 4 Lurker, M.: Wb. bibl. Bilder und Symbole. Mü. 21978, 314⫺316. ⫺ 5 Vogler, G. u. a. : T. In: LThK 9 (32000) 1257⫺1260, hier 1258. ⫺ 6 Schimmel, A.: Rakø sø. In: EI2 (1995) 415 sq.;
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Tanz in der Dornhecke
cf. Beispiele bei Gramlich, R.: Die Wunder der Freunde Gottes. Theologien und Erscheinungsformen des islam. Heiligenwunders. Wiesbaden 1987, 197, 219. ⫺ 7 Rust, E. G.: The Music and Dance of the World’s Religions. Westport/Con. u. a. 1996; Cohen, S. J. (ed.): Internat. Enc. of Dance. N. Y. u. a. 1998; Huet, M.: The Dance, Art and Ritual of Africa. L. 1978; Herbst, E.: Voices in Bali. Hanover 1987; Gundlach, H. B./Apostolos-Cappadona, D./ Kane, T. A.: T. In: RGG 8 (42005) 34⫺39. ⫺ 8 ibid. ⫺ 9 MPG 57 (1862) 491. ⫺ 10 Stumpfl, R.: Kultspiel der Germanen als Ursprung des ma. Dramas. B. 1936, 140. ⫺ 11 Klein (wie not. 1) 43⫺49. ⫺ 12 Scharfe, M.: Die Religion des Volkes. Kleine Religionsgeschichte des Pietismus. Gütersloh 1980, 142 sq. ⫺ 13 Biesel, E.: „Dann die Weiber in Betrübnussen/Widerwertigkeit vnud Kümmernussen einfallen“. Gelehrte und volksnahe Vorstellungen von Teufelspakt und Hexensabbat. In: Hexenwahn ⫺ Ängste der Neuzeit. Ausstellungskatalog B. 2002, 120⫺127, hier 124. ⫺ 14 Klein (wie not. 1) 65. ⫺ 15 Barrand, A. G.: The Morris Dancer as Straight Man. In: Bennett, G. (ed.): Spoken in Jest. Sheffield 1991, 119⫺138. ⫺ 16 ibid., 73. ⫺ 17 cf. Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003; id.: Europ. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004; id.: Märchen der Welt. CDROM B. 2006 (jeweils s. v. T., T.en etc.). ⫺ 18 Kretzenbacher, L.: T.verbot und Warnlegende. Ein ma. Predigtexempel in der steir. Barockpassiologie. In: Rhein. Jb. für Vk. 12 (1961) 16⫺22; id.: Salomes Tanz zum Tode. Zum Kontinuitätsproblem von Apokryphen und Legenden. In: Alpes Orientales 5 (1969) 183⫺198; Bausinger, H.: Volkssage und Geschichte. Die Waldenburger Fastnacht. In: Württembergisch Franken 41 (1957) 107⫺130. ⫺ 19 HDS 1 (1961) 98. ⫺ 20 ibid., 97. ⫺ 21 Graber, G.: Sagen aus Kärnten. Lpz. 1914, num. 360. ⫺ 22 ibid., num. 362. ⫺ 23 z. B. Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, 201, 205, 254, 262. ⫺ 24 cf. auch Herrera-Sobek, M.: The Devil in the Discotheque. In: Bennett, G./Smith, P. (edd.): Monster with Iron Teeth. Perspectives on Contemporary Legend 3. Sheffield 1988, 147⫺ 157. ⫺ 25 Deneke, B.: Materialien aus dem Umkreis der Sage vom Überzähligen. In: ZfVk. 57 (1961) 195⫺229; zu neueren Belegen cf. Brunvand, J. H.: Enc. of Urban Legends. Santa Barbara/Denver/Ox. 2001, 115 sq. ⫺ 26 cf. Kretzenbacher, L.: Freveltanz und „Überzähliger“. In: Carinthia 1,144 (1954) 843⫺ 866. ⫺ 27 Schneider, M.: Der Teufel als Tänzer ⫺ zu einem Motiv der Volkssage. In: Festschr. K. Horak. Innsbruck 1980, 189⫺214; Rausmaa, P.-L.: „Dance is the Devil’s Creation.“ Attitudes towards Dancing in Finnish Belief Legends. In: Arv 49 (1993) 51⫺ 58. ⫺ 28 ibid., 852⫺855. ⫺ 29 ibid., 855. ⫺ 30 Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, num. 101; cf. auch Karlinger, F./Übleis, I.: Südfrz. Sagen. B. 1974, 37⫺43; Röhrich, L.: T. und
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Tod in der Volkslit. In: Link, F. (ed.): T. und Tod in Lit. und Kunst. B. 1993, 599⫺634, hier 622 sq. ⫺ 31 Totentanz-Forschungen. Hb. zum 9. internat. Totentanz-Kongreß 17.⫺20. Sept. 1998. ed. U. Wunderlich. Düsseldorf 1998. ⫺ 32 ibid., 599⫺619; Greyerz, O. von: Totentanzlieder. In: SAVk. 25 (1925) 161⫺179; Stegemeier, H.: The Dance of Death in Folksong. Diss. Chic. 1939. ⫺ 33 Jungraithmayr, H.: Märchen aus dem Tschad. MdW 1981, num. 10. ⫺ 34 Müller/Röhrich L 5, N 1; Knoop, O.: Sagen und Erzählungen aus der Provinz Posen. Posen 1893, 72 sq. ⫺ 35 Jegerlehner (wie not. 23) 201. ⫺ 36 ibid., 255, 200. ⫺ 37 z. B. Karlinger/Übleis (wie not. 30); cf. auch Röhrich (wie not. 30) 622 sq. ⫺ 38 Karlinger, F.: Einführung in die rom. Volkslit. 1. Mü. 1969, 119 sq. ⫺ 39 Karasek-Langer, A./Strzygowski, E.: Sagen der Deutschen in Wolhynien und Polesien. Posen 1938, num. 417. ⫺ 40 ibid., num. 375; Schell, O.: Berg. Sagen. Elberfeld 21922, num. 673. ⫺ 41 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg 1. Wien 1879, num. 287. ⫺ 42 Zingerle, I. V.: Sagen aus Tirol. Innsbruck 21891, num. 490. ⫺ 43 Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staats 2. Glogau 1871, num. 77; Meyer, G. F.: Schleswig-Holsteiner Sagen. Jena 1929, 252. ⫺ 44 Röhrich (wie not. 30) 627. ⫺ 45 Ranke, K.: Idg. Totenverehrung 1 (FFC 140). Hels. 1951; Röhrich (wie not. 30) 627⫺ 630. ⫺ 46 z. B. Lavater, L.: Von Gespänsten. Zürich 1569, Bl. 48 b. ⫺ 47 z. B. Gredt, N.: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette 1963, num. 884. ⫺ 48 z. B. Grimm DS 252; Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, num. 245. ⫺ 49 z. B. Gredt (wie not. 47) num. 874⫺876; Brøndegaard, V. J.: Elfentanz und Hexenring. In: Rhein. Jb. für Vk. 19 (1968) 162⫺210. ⫺ 50 EM 9, 1172. ⫺ 51 z. B. Croker, T. C.: Ir. Elfenmärchen. Übers. von den Brüdern Grimm. Lpz. 1826, 9. ⫺ 52 Uther, H.J.: Die letzte Bitte Verurteilter. Zur Umsetzung von Rechtsvorstellungen in Volkserzählungen. In: Anales de la Universidad de Chile 5,17 (1989) 441⫺449.
Innsbruck
Ingo Schneider
Tanz in der Dornhecke (AaTh/ATU 592), seit der frühen Neuzeit bekanntes Schwankmärchen mit ausgeprägter Tendenz zur J Diskriminierung sozialer Gruppen oder ethnischer Minderheiten (J Stereotypen, ethnische)1. Die Normalform verläuft wie folgt: Ein junger Mann bringt einen anderen durch ein magisches J Musikinstrument in einer Dornhecke (J Dorn, Dornbusch, Dornenhecke) zum T.en und hört erst zu spielen auf, als dieser ihm eine Forderung erfüllt. Vom Gericht aufgrund einer Anklage des Gegenspielers zum Tode verurteilt, bittet der junge Mann vor der Vollstreckung darum, sein Instrument noch einmal spielen zu dürfen (J Gnade, letzte). Damit zwingt er alle, so lange zu tanzen, bis das J Urteil aufgehoben wird.
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Tanz in der Dornhecke
AaTh/ATU 592 liegt das vielgestaltige Motiv vom Musikinstrument zugrunde, das Zuhörende mit magischer Kraft zwingt, ihm zu folgen (cf. z. B. J Orpheus, ATU 570*: J Rattenfänger von Hameln) oder zu tanzen. Frühneuzeitliche Var.n von AaTh/ATU 592 adaptierten dieses Motiv vermutlich aus Erzählelementen von Heldenepen. Nach den Unters.en J. J Boltes2 ist als früheste Fassung die engl. Verserzählung Jak and his Step Dame (15. Jh.; auch u. d. T. The Frere and the Boye [ca 1512]) anzusehen. Der von der J Stiefmutter gehaßte Stiefsohn muß das Vieh hüten; zum Essen gibt sie ihm verdorbene Speisen mit. Ahnungslos teilt Jack sein Mahl mit einem Fremden und erhält zum Dank drei J Wünsche frei. Er erbittet eine Pfeife, einen Bogen und darum, daß die Stiefmutter J furzen muß, wenn sie ein Scheltwort ausspricht. Den von der Stiefmutter mit seiner Bestrafung beauftragten J Mönch schickt er in ein Gebüsch und nötigt ihn mittels seiner Pfeife zum T.en. Als der Vater seinen Sohn nicht zur Rechenschaft ziehen will, verklagen ihn Stiefmutter und Mönch wegen Zauberei vor dem Kirchengericht. Der Bischof will die Pfeife hören und muß so lange tanzen, bis er verspricht, Jack unbehelligt zu lassen.
Dieser Vorläufer einer J Jack Tale wurde auch ins Niederländische übersetzt (Antw. 1528)3. Eine Forts. (Amst. 1600; späteres Volksbuch) führt die Geschichte weiter mit der Klage der Stiefmutter vor einem weltlichen Gericht, der Verurteilung des Jungen zum Tode (Erhängen), mit der Bitte um eine letzte Gnade und der Errettung auf die bekannte Weise. Als Jack sich mit den Schätzen der Stiefmutter von dannen macht, begeht sie aus Verzweiflung Selbstmord. Aus Reue wird Jack Einsiedler in der Wüste. Die ndl. Schwankdichtung bildete ⫺ mit der Titelillustration ⫺ die Vorlage für Dietrich Albrechts Verserzählung Eine kurtzweilige Historia, welche sich hat zugetragen mit einem Bawrenknecht vnd einem Münche […] (Erfurt 1599 oder früher), die auch in einer Ausg. von 1618 mit ähnlichem Titel existiert, deren Autor Albrecht Dietrich genannt wird. Der Text ist Ausdruck urban geprägten Denkens, in dessen Mittelpunkt das Geld steht. Als Nebenstrang ist eingangs eine Episode eingebaut, in der geschildert wird, wie der Nachbar den einfältigen, aber fleißigen Knecht abwerben will. Auf der Ausg. von 1599 beruht Jakob J Ayrers
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Faßnachtspiel von Fritz Dölla mit seiner gewünschten Geigen (vor 1605): Ein junger Knecht erhält nach drei Jahren im Dienst eines geizigen Bürgers ganze drei Pfennige als Lohn, schenkt sie zwei Bettlern und darf drei Wünsche äußern: Er erbittet eine nie fehlende Armbrust, eine magische Fidel und die Gabe, daß ihm niemand eine Bitte abschlagen kann. Ein Mönch bezweifelt die Schützenkünste, muß sich nackt ausziehen und das getroffene Tier aus der Dornhecke holen. Zum T.en gezwungen, kauft er sich beim Knecht durch Übergabe von Geld frei, das er dem Kloster gestohlen hat. Danach verklagt er den Knecht beim Rat der nächsten Stadt als Räuber. Während der Knecht mit Hilfe seines magischen Instruments seine Begnadigung herbeiführt, muß der Mönch den Klosterdiebstahl bekennen und wird verurteilt4.
Zu den Änderungen bzw. Zusätzen des Autors gehört, daß er die antikathol. Züge der Erzählung verstärkt, auf die Figur der bösen Stiefmutter als Gegenspielerin verzichtet und statt dessen den Mönch als abtrünnigen und diebischen Klosterbruder darstellt. 1604 brachte Tobia´sˇ Mourˇenı´n aus Leitomischl Albrechts gereimte Fassung als Historia kratochvilna´ o jednom sedlske´m pacholku […] (Kurzweilige Geschichte von einem Bauernknecht […]) in tschech. Übers. heraus. Als ,Opfer‘ führt er statt eines Mönchs einen J Juden ein, so daß die Handlung durch J Antisemitismus statt durch antikathol. Tendenzen geprägt ist5. Im Laufe des 17. Jh.s erschien auch eine öfter aufgelegte dän. Übers., die schon der Titel als von Albrecht abhängig ausweist: En lystig Historie Om en Munk og en Bonde-Dreng […]. Tilsammendragen af Diderich Albret (s. l. s. a.; Nachdr.e 1699, 1709). Das dreiteilige Schwankbuch Der Geist von Jan Tambaur (1690), eine Übers. aus dem Niederländischen (1656), enthält die Prosaerzählung als eigenmächtige Hinzufügung des Übersetzers. Der Text basiert offenbar auf Albrechts Verserzählung, aber die Handlung spielt im Elsaß und ist eingangs mit dem Volksbuch vom gehörnten J Siegfried verknüpft. Der Tänzer in der D. ist auch hier ein Jude, der dem Bauern das magische Musikinstrument zu einem niedrigen Preis abhandeln will. Vom Erzähler werden kommentierend antijüd. Züge eingebracht6. Die 1815 erstmals erschienene Version der Brüder J Grimm (KHM 24; seit 1819: KHM 110: Der Jude im Dorn) hatte entscheidenden
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Tanz in der Dornhecke
Einfluß auf die Entwicklung des Erzähltyps im 19./20. Jh.: Nachdem ein fleißiger Knecht drei Jahre bei einem Geizhals gedient hat, bekommt er dafür nur drei Heller. Einem Männchen gibt er sein letztes Geld und erhält dafür eine Fidel, die alle Zuhörenden zum T.en bringen kann. Dann trifft er auf einen Juden, der dem Gesang eines Vogels zuhört. Der Knecht schießt den Vogel, schickt den Juden in die D., in die das Tier gefallen ist, und beginnt zu spielen. Mit zerfetzten Kleidern und blutigen Beinen bittet der Jude den Knecht aufzuhören und bietet ihm einen Beutel Gold an. Darauf erhebt der Jude bei einem Richter Klage gegen den Knecht, der zum Tod verurteilt wird. Im Angesicht des Todes bittet der Knecht den Richter, noch einmal geigen zu dürfen, und bringt alle zum T.en, bis der Richter ihn begnadigt. Dann zwingt der Knecht den Juden zu ,gestehen‘, er habe das Gold gestohlen, worauf der Jude gehenkt wird.
Im Verlauf der Editionsgeschichte der KHM zwischen 1815 und 1858 unterzog W. Grimm KHM 110 ständiger Bearb. (bes. 1837), verstärkte die antijüd. Züge und stellte den Juden explizit als Schuldigen dar7. Im 19./20. Jh. ist der Erzähltyp in Nord-, West- und Südeuropa aufgezeichnet worden, aber auch in Nord- und Südamerika, im Nahen Osten sowie in den vormals europ. Kolonialgebieten in Nordafrika und Asien. Bezeichnend für mündl. Überlieferung ist der Umstand, daß sich engl., frz., ndl. und einige mitteleurop. Fassungen zwar an der engl. Verserzählung orientieren, daß aber zumeist die mit der Stiefmutter verbundene Handlung entfällt und sich das Geschehen statt dessen auf die Auseinandersetzung mit dem Gegenspieler und dessen Tanz sowie die Errettung des Protagonisten durch den Einsatz seines Musikinstruments (oft Geige, Gusli, Flöte) konzentriert. Der ,Held‘ ist immer ein sympathisch gezeichneter männlicher Angehöriger der unteren Sozialschichten. In manchen Var.n ist der Erzähltyp mit anderen Geschichten kombiniert und Teil der Abenteuer des starken Knechts (AaTh/ATU 650 A: J Starker Hans), des Hasenhüters (AaTh/ATU 570: J Hasenhirt), des Drachenkämpfers (AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder) oder des aus Naivität Furchtlosen (AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen)8. Der Gegenspieler tritt in der Figur eines Juden, eines Geistlichen oder (selten) eines Zauberers auf9, ohne daß ein geogr. Schwer-
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punkt der jeweiligen Gestalten auszumachen wäre. Die niedrige gesellschaftliche Stellung der Protagonisten läßt darauf schließen, daß die Erzählung an die Machtlosen gerichtet war. Während in den engl. Var.n des 15./16. Jh.s der Protagonist als Stiefsohn bezeichnet wird, ist er bei Albrecht ein einfacher Bursche, in Fassungen des 19./20. Jh.s u. a. ein Soldat10, ein armer Hirte11 oder ein Dummling mit dem Allerweltsnamen Hans (Jack, Janko etc.)12. Die dürftigen Lebensumstände der Protagonisten werden durch Bettler oder Gefährten ihrer Armut wie J Christus, J Petrus und J Johannes, denen sie uneigennützig helfen13, akzentuiert. Als Belohnung für die Hilfe erhalten sie J Zaubergaben14, mit denen sie ihren ursprünglichen Sozialstatus überwinden können. Andere Gaben sind transzendenter (Aufnahme in den Himmel)15 oder märchenhafter Art (Heirat mit einer Kaiserstochter)16. Alle Gaben befriedigen im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit oder wirken lebensrettend (Befreiung vom Galgen). 1 Zusammenfassend cf. Bolte, J.: Das Märchen vom T.e des Mönches im Dornbusch. In: Festschr. zur Begrüßung des 5. allg. dt. Neuphilologentages. B. 1892, 1⫺76; id.: Nachträgliches zum T.e des Mönches im Dornbusch. In: ArchNSprLit. 90 (1893) 289⫺295; BP 2, 490⫺503; Just, G.: Magische Musik im Märchen. Ffm./Bern/N. Y./P. 1991, 11⫺45; Scherf, 635⫺637, 878⫺881; Dekker/van der Kooi/Meder, 81⫺83; Uther, H.-J.: Hb. zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 247⫺ 250. ⫺ 2 Bolte 1892, 1893 (wie not. 1). ⫺ 3 Zum folgenden cf. BP 2, 490⫺494. ⫺ 4 Ayrer, J. (d. Ä.): Opus Thaeatricum. Dreißig außbündtige schöne Comedien und Tragedien […] 2. Nürnberg 1618, 97b⫺ 101b. ⫺ 5 Korn, E.: Der Märchenheld als Judenfeind. Antisemitismus in dem Brüder Grimm-Märchen „Der Jude im Dorn“. In: Praxis Deutsch 17 (1990) H. 103, 47⫺51, hier 49; cf. auch Petzoldt, L.: The Eternal Loser. In: Internat. Folklore Review 4 (1986) 28⫺48. ⫺ 6 EM-Archiv: Jan Tambaur (ca 1660) 251⫺266. ⫺ 7 cf. KHM/Uther 4, 212⫺215; Bluhm, L.: Grimm-Philologie. Beitr.e zur Märchenforschung und Wiss.sgeschichte. Hildesheim/Zürich/ N. Y. 1995, 28⫺32; Korn (wie not. 5); Shojaei Kawan, C.: Rechtsverwirklichung und Rechtsverdrehung im europ. Volksmärchen. In: Lox, H./Lutkat, S./Kluge, D. (edd.): Dunkle Mächte und was sie bannt/Recht und Gerechtigkeit im Märchen. Krummwisch 2007, 168⫺199, hier 180 sq. ⫺ 8 BP 2, 494⫺501. ⫺ 9 Lothar [d. i. Grimm, F. P.]: Volkssagen und Märchen der Ausländer. Lpz. 1820, 26. ⫺ 10 Gasˇparı´kova´, num. 223, 518. ⫺
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Tänzersage
11
Ro´na-Sklarek, E.: Ung. Volksmärchen. Lpz. 1909, num. 11. ⫺ 12 BP 2, 494⫺501. ⫺ 13 z. B. BFP. ⫺ 14 z. B. Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1867, num. 16. ⫺ 15 z. B. Cerny, E. de: Contes et le´gendes de Bretagne. P. 1899, 91. ⫺ 16 Rona-Sklarek (wie not. 11).
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Während eines nächtlichen (Weihnachts-)Gottesdienstes versammelt sich vor der J Kirche (J Friedhof) eine Gruppe junger Menschen. Sie locken die Tochter des Geistlichen zu sich und beginnen zu tanzen und zu singen. Der erzürnte Priester verflucht die Tänzer dazu, ein Jahr lang weiter zu tanzen. Nach Ablauf der Frist sterben einige der Tänzer, andere tragen eine Zitterkrankheit davon und irren mit Bettelbriefen rastlos umher.
sowie auf die Herkunft und Funktion des überlieferten Liedes. E. Schröder4 glaubte in der zum Tanz gesungenen lat. Strophe den Rest einer dt. Ballade erkennen zu können, J. Meier folgte ihm darin5 und übernahm Schröders ndd. Rekonstruktion in seine wiss. dt. Balladenausgabe6. Dabei ist bis heute nicht mit Sicherheit auszumachen, ob es sich bei der Strophe um den Teil eines überlieferten Liedes oder um eine zum Erzählanlaß hergestellte Neudichtung handelt und in welcher europ. Volkssprache (frz.7, dt.8) dieses Lied ursprünglich gesungen worden sein könnte. Nach A. Holtorf9 handelt es sich um ein ma. Spottlied. Die meisten Forscher gehen davon aus, daß es sich bei der T. um ein tatsächliches Ereignis aus der Zeit um 1020 gehandelt habe10. Ein Zusammenhang mit der erst seit dem 15. Jh. bezeugten Tanzkrankheit (Veitstanz) scheidet aus zeitlichen Gründen aus11. Das Exempel besteht aus den folgenden Hauptmotiven:
Die drei ältesten Aufzeichnungen der T. finden sich in ma. lat. Hss.(12./13. Jh.), die sich im Westen Deutschlands, in Frankreich und England erhalten haben1. Zwei davon (die nach betroffenen Tänzern benannte Othbertus- bzw. Theodoricus-Version) sind in Ichbzw. Wir-Form von angeblichen Teilnehmern und späteren Fahrenden abgefaßt, die dritte (und kürzeste) Version berichtet das Ereignis chronikalisch. Nur die Theodoricus-Version enthält ein bei dem tänzerischen J Frevel gesungenes Lied in lat. Sprache, ein Langzeilenpaar mit Endreim und Refrain: „Equitabat Bovo per silvam frondosam / Ducebat sibi Mersuinden formosam. / Quid stamus? Cur non imus?“ Die T. hat in der ma. und frühneuzeitlichen Exempelliteratur, vor allem durch die Aufnahme in das Speculum historiale (26,10) des J Vincent de Beauvais, starke literar. Verbreitung erfahren2, die bis in die Sagensammlungen des 19. Jh.s nachwirkte3. Der Motivbestand hat sich im Laufe der Jh.e wenig verändert, lediglich die Entführung der Tochter des Geistlichen und einige Nebenzüge sind in späteren Überlieferungen verloren gegangen. Herkunftstheorien und Deutungsversuche sind kontrovers. Das Forschungsinteresse konzentrierte sich vor allem auf die Suche nach Urform oder Archetypus und Ursprungsort
Tanzen vor der Kirche oder auf dem Friedhof: Hier spiegelt sich ein aus vorchristl. Zeit herrührender Brauch, gegen welchen die Kirche jahrhundertelang einen erbitterten Kampf geführt hat. In der kompromißlosen Abwehrhaltung der Geistlichen gegen Sinnenlust und Lebensfreude spielten neben Konzils- und Synodalbeschlüssen sowie Verboten narrative Exempel mit Warncharakter wie die T. eine große Rolle12. Störung des Gottesdienstes oder Mißachtung des Sakraments: In zahlreichen neuzeitlichen Var.n wird erzählt, daß Tänzer bestraft wurden, weil sie an Sonn- oder Festtagen vor oder während des Gottesdienstes tanzten oder nicht damit aufhörten, während ein Priester mit dem Sakrament an ihnen vorbeiging. Als Strafe für den Frevel wird nur noch in wenigen Fällen das Dauertanzen erwähnt, meistens ist von einer Versteinerung der Frevler die Rede13. Der Bannfluch: Es wäre denkbar, daß das bereits aus dem 15. Jh. in England bezeugte Märchen AaTh/ ATU 592: J Tanz in der Dornhecke mit seinem Motiv von der Pfeife als Zaubergabe, die alle Menschen tanzen läßt (Mot. D 1415.3), von der T. beeinflußt sein könnte. Wunderelemente: In den ältesten Aufzeichnungen wird die T. mit mirakulösen Zügen angereichert. So heißt es, der Priester habe seinen Sohn ausgeschickt, die Tochter aus dem Reigen zu befreien. Er habe sie an der Hand ergriffen und ihr dabei den Arm abgerissen, ohne daß ein Tropfen Blut geflossen sei. Die Tänzer hätten während der ganzen Zeit weder Hunger, Durst noch Müdigkeit verspürt. Das Wunder habe Neugierige aus allen Landen herbeigelockt, sogar Kaiser Heinrich II. sei gekommen und habe ein Schutzdach über den Tänzern errichten lassen, aber was die Zimmerleute tagsüber aufbauten, sei nachts
Stony Brook, N. Y.
Ruth B. Bottigheimer
Tänzersage (ATU 779 E*), ein um 1020 datiertes, in Kölbigk (nahe Bernburg, SachsenAnhalt) lokalisiertes ma. Exempel von einem frevlerischen J Tanz.
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Taoistisches Erzählgut
wieder zerstört worden. Der Kaiser habe den Arm der Tochter des Priesters in Gold und Silber fassen und in der Kirche aufbewahren lassen. Die Folgen des Tanzes: Der tremor membrorum, von dem die Tänzer nach Ablauf des Fluchs befallen waren, ist bereits aus Augustinus’ De civitate Dei (22,8) bezeugt.
Den stärksten Beweis dafür, daß es sich bei der T. wahrscheinlich um eine Verbindung aus präexistenten Elementen und ihre Lokalisierung an einem neuen Ort handelt, stellt jedoch die sehr viel ältere Vita Eligii (1. Hälfte 8. Jh.) dar. Darin wird berichtet, der hl. Eligius habe in der Nähe von Noyon am Petrustag gegen das Abhalten von Spielen und Tänzen gepredigt und sei daraufhin von den Tänzern mit dem Tod bedroht worden. Mit seinem Gebet habe er erreicht, daß die Tanzenden zu rasen anfingen und ein ganzes Jahr lang nicht davon ablassen konnten. Erst bei der Wiederkehr des Festes habe er die 50 verbliebenen Tänzer von dem Fluch befreit14. Mit diesem frühen Zeugnis verliert die T. viel von ihrer Singularität. 1
Schröder, E.: Die Tänzer von Kölbigk. Ein Mirakel des 11. Jh.s. In: Zs. für Kirchengeschichte 17 (1897) 94⫺164; Borck, K.-H.: Der Tanz zu Kölbigk. Diss. Münster 1951; Chesnutt, M.: The Colbeck Legend in English Tradition of the Twelfth and Thirteenth Centuries. In: Newall, V. (ed.): Folklore Studies in the Twentieth Century. Woodbridge/Totowa, N. J. 1978, 158⫺166; Rädle, F.: Das Tanzlied von Kölbigk und die Legende vom Kölbigker Tanz. In: Verflex. 9 (21995) 616⫺620; Schroeder, J.: Zur Herkunft der ältesten Fassung der Tanzlegende von Kölbigk. In: Litterae medii aevi. Festschr. J. Autenrieth. Sigmaringen 1988, 183⫺189. ⫺ 2 Pauli/Bolte 1, num. 388; Grimm DS, num. 232; Schenda, R.: Die frz. Prodigienlit. in der 2. Hälfte des 16. Jh.s. Mü. 1961, 94 sq.; Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 143. ⫺ 3 Grimm DS, num. 232 (aus verschiedenen neuzeitlichen Qu.n kontaminiert). ⫺ 4 Schröder (wie not. 1) 152. ⫺ 5 Meier, J.: Das Tanzlied der Tänzer von Kölbigk. In: SAVk. 33 (1934) 152⫺165. ⫺ 6 DVldr 2, num. 39. ⫺ 7 Verrier, P.: La plus vieille Citation de carole. In: Romania 58 (1932) 380⫺421. ⫺ 8 Metzner, E. E.: Zur frühesten Geschichte europ. Balladendichtung. Der Tanz von Kölbigk. Ffm. 1972, 260. ⫺ 9 Holtorf, A.: Das Tanzlied von Kölbigk. In: Jungbluth, G. (ed.): Interpretationen mhd. Lyrik. Bad Homburg u. a. 1969, 13⫺45, hier 40 sq. ⫺ 10 Metzner (wie not. 8) 155⫺163. ⫺ 11 Martin, A.: Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland. In: ZfVk. 24 (1914) 113⫺134, 225⫺ 239; Petzoldt, L.: Dt. Volkssagen 1. Mü. 1970, num. 285; Chesnutt (wie not. 1) 158. ⫺ 12 Balogh, J.: Tänze in Kirchen und auf Friedhöfen. In: Ndd. Zs.
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für Vk. 6 (1928) 1⫺14 (mit zahlreichen Nachweisen); cf. HDA 4 (1931⫺32) 1406 sq.; Kretzenbacher, L.: Tanzverbot und Warnlegende. In: Rhein. Jb. für Vk. 12 (1961) 16⫺22. ⫺ 13 Stieren, A.: Ursprung und Entwicklung der T. Diss. Münster 1911, 4; ergänzend: RTP 2 (1887) 135 sq.; Paris, G.: Les Danseurs maudits. In: J. de savants (1899) 733⫺747; ZfVk. 19 (1909) 309, num. 2 (maltes.); Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 143 (1). ⫺ 14 MGH SS Rerum Merovingicarum 5. ed. B. Krusch. Hannover/Lpz. 1902, 711 sq.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Taoistisches Erzählgut. Als Begleitelement des religiösen Taoismus ist das taoist. E. (t. E.) nur vor diesem Hintergrund verständlich. Gemäß der Überlieferung entstand der religiöse Taoismus im 2. Jh. n. u. Z. als sog. Himmelsmeister-Taoismus bzw. Taoismus der Orthodoxie und Einheit. Begründet wurde er durch Taishang Laojun (Erhabener Lord Lao), mit weltlichem Namen Laozi (Meister Lao), den die Legende als Autor des Daode jing (Schrift vom Weg und seiner Wirkkraft) betrachtet. Dieser initiierte den ehemaligen Beamten Zhang Daoling als Himmelsmeister und beauftragte ihn, das Volk in den religiösen Diensten anzuführen; dazu gehörte u. a. die Vertreibung oder Dienstbarmachung der J Dämonen. Dergestalt verbanden sich im Taoismus von Anfang an exorzistische und literar. Traditionen des antiken J China. Die Schriftreligion des Taoismus wird von Priestern getragen, den Meistern des Tao, die auf allen Ebenen der Gesellschaft wirken. Grundidee ist die Wiedererlangung der J Unsterblichkeit des Menschen, d. h. seines ursprünglich göttlichen Wesens, das er im profanen Leben nach der Geburt allmählich verliert. Rituelle Effektivität ergibt sich aus der Pflege der göttlichen Natur des Menschen durch Selbstkultivierung, durch die der einzelne in die Unsterblichkeit eingehen kann. Die magische, heilende Wirkung der Priester basiert gleichfalls auf dem Erfolg dieser Selbstkultivierung. Die Gegenwart des Göttlichen wird in den taoist. Ritualen reflektiert, die der Sicherung von Staat und Gesellschaft dienen sollen. T.s E. manifestiert sich in schriftl. und mündl. Traditionen, deren wechselseitige Beziehungen oft schwer zu bestimmen sind. Dem
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Taoistisches Erzählgut
säkularen t.n E. steht in Tempeln und kaiserlichen Bibl.en der taoist. Kanon gegenüber, in den viele der hagiographischen Slgen Eingang fanden. Die in rezenten Niederschriften mündl. und schriftl. Erzählguts vorgenommene Bezeichnung lokaler und regionaler Überlieferungen der allg. Volkskultur als taoist. ist problematisch1. Themen der antiken chin. Mythologie, die Teil des t.n E.s wurden, finden sich etwa in den aus dem 4. Jh. v. u. Z. stammenden phil. Werken Zhuangzi (Meister Zhuang) und Liezi (Meister Lie) sowie Huainanzi (Meister Huainan; 2. Jh. v. u. Z.). Thematisch wichtig sind der J Kulturheros Fu Xi, die Xiwangmu (Kgl. Mutter des Westens) und Laozi2. Die Kgl. Mutter des Westens soll nach kanonischen Erzählungen wie Yongcheng jixian lu (Ber. zu den versammelten Unsterblichen von Yongcheng) des Du Guangting (9. Jh.) im Kunlun-Gebirge die Pfirsiche der Unsterblichkeit hüten. Diese Gestalt gehört zum Erzählgut, seit der Taoist Dongfang Shuo Kaiser Han Wudi (2. Jh. v. u. Z.) visionär mit der Göttin zusammenführte3. Nach der legendenhaft ausgeschmückten populären Überlieferung des späteren Taoismus übergab Laozi dem Zöllner Yin Xi das Daode jing. Laozi soll zuvor als Archivar unter der Zhou-Herrschaft mit seinem guten Rat kein Gehör mehr gefunden haben. Er gab sein Amt auf und machte sich auf, China zu verlassen, hinterließ aber mit jenem Buch dem Land die Essenz seines Wissens um gute Herrschaft und das rechte Leben. Er soll dann in Indien in Gestalt des J Buddha den Buddhismus gelehrt haben. Im 5. Jh. entstand die Schrift Huahu jing (Schrift über die Bekehrung der Barbaren), auf der spätere populäre Erzählungen gründen, wie die Laojun bashiyi hua tushuo (Bildtexte zu den 81 Wandlungen von Lord Lao)4. Das Buch Shizhou ji (Ber. zu den zehn Provinzen; 6. Jh.?) und das Shanhai jing (Buch der Berge und Meere; 3./4. Jh.) verweisen u. a. auf Orte, an denen sich die Heilmittel zur Erlangung der Unsterblichkeit finden sollen5. Die Suche nach diesen Mitteln kennzeichnet die taoist. Hagiographie. Themen wie die Höhlenparadiese der Unsterblichen repräsentiert das Taohuayuan ji (Ber. von der Pfirsichblütenquelle; 4./5. Jh.) des Tao Qian6. Ähnliches Erzählgut findet sich in der Gattung zhiguai
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xiaoshuo (Novellen zu merkwürdigen Begebenheiten). Die im 3./4. Jh. verfaßten Werke Bowu zhi (Umfassende Angelegenheiten) des Zhang Hua und J Sou shen ji des Gan Bao überliefern Ber.e und Belehrungen über Erscheinungen und Wunder7. Explizit taoist. Überlieferungen mit Parallelen zu Quellen des Typs der ,Novellen zu merkwürdigen Begebenheiten‘ bieten z. B. die im 3.⫺10. Jh. entstandenen Biogr.n Liexian zhuan (Hervorragender Unsterblicher), Shenxian zhuan (Göttlicher Unsterblicher), Xuxian zhuan (Weiterer Unsterblicher), Yixian zhuan (Mutmaßlich Unsterblicher)8. Ein bedeutendes außerkanonisches Werk ist Hong Mais Yijianzhi (Ber. des Yijian; 12. Jh.)9. Standardthemen des t.n E.s sind Heilung und Rettung durch Taoisten, die selbst unsterblich sind oder es werden. Grundlage ist das erfolgreiche Streben nach dem changsheng (Langes Leben) durch taoist. Selbstkultivierung, was z. T. auch in späten Novellen und Reiseberichten Widerhall findet, so in Biji xiaoshuo daguan (Slg novellistischer Pinselnotizen) oder Wuchao xiaoshuo daguan (Slg von Novellen der Wuchao-Epoche), Werken mit literar. Entlehnungen und Anspielungen aus dem taoist. Themenkreis. Bedeutend ist die Aufnahme von Wunderberichten in kaiserliche Enz.n, so zur Song-Epoche Taiping (Großer Frieden; 10. Jh.) in Taiping yulan (Zur Kaiserlichen Inspektion), Taiping guangji (Weite Ber.e) und Taiping huanyuji (Ber.e zu Kosmos und Welt). Am Beginn solcher Schrifttraditionen stehen lokale Überlieferungen. Seit der Tang- und Song-Zeit (6.⫺12. Jh.) sind die baxian (Acht Unsterbliche) ein Schlüsselthema, wie seit der Jin/Yuan-Zeit (12.⫺14. Jh.) die qizhen (Sieben Vollkommenen). Beide Gruppen legendärer und hist. Personen verschiedener Epochen und Herkunft zeigen taoist. Typisierungen und Ideale der Lebensform, die das Erzählgut prägen10. Die Sieben Vollkommenen des QuanzhenTaoismus haben durch den zölibatären Lebensweg quanzhen (Vollkommene Verwirklichung) mit Wundern und Heilungen Stoff für Novellen und Theaterstücke geliefert11. Die Vollkommenen sind: Ma Danyang (1123⫺83), Qiu Changchun (1148⫺1227), Liu Chuxuan (1147⫺1203), Tan Chuduan (1123⫺85), Wang Chuyi (1142⫺1217), Hao Datong (1140⫺
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Taoistisches Erzählgut
1212) und Sun Buer, die ehemalige Gattin von Ma Danyang. Begründer des Quanzhen-Taoismus ist Wang Chongyang (1112⫺70). Themen für Erzählungen liefert z. B. Wang Chuyi (Meister Schirm-Yang)12: Wang wird magisch empfangen und nach langer Schwangerschaft geboren, d. h. mit spezifischer Vorbestimmung. Die wunderbare J Empfängnis gehört zum hagiographischen Standardrepertoire des t.n E. s. Im Alter von sieben Jahren soll Wang gestorben und wieder zum Leben erwacht sein. In jungen Jahren trifft Wang den Gott Donghua jiaozhu (Patriarch der Lehre aus dem Östl. Blütenpalast), der ihn langes Leben lehrt. Als Asket Wang Tiejiao (Wang, der Eisenfuß) zieht er bettelnd umher. Nachts steht er auf einem Bein an einem Abgrund. Ein Herr aus den himmlischen Palästen prophezeit ihm Ruhm am Hof und den Rang eines Patriarchen. Dieser Gott ist einer der spirituellen Urahnen des Quanzhen-Taoismus. Leben und Tod, die Kernthemen des Taoismus, sind in Wangs Person vereint13.
Hist. bedeutend ist Qiu Changchun, der 1222 von Peking zu Dschingis Khan reiste, wie im Xuanfeng qinghuilu (Ber. zur gefeierten Begegnung mit dem Taoismus) und im Changchunzhenren xiyouji (Westreise des Adepten Ewiger Frühling) aufgezeichnet14. Qiu dozierte beim Khan über die Pflege des Lebens. Die Gruppe der Acht Unsterblichen ist wenig einheitlich. Während der Dichter Du Fu (8. Jh.) von Yinzhong baxian (Acht Freunden des Weines) spricht (u. a. von den Dichtern Li Bai und Su Jin), entsteht in der Song-Zeit die Bezeichnung Shuzhong baxian (Acht Unsterbliche aus Shu). Dazu gehören neben Li Bai die Taoisten Zhang Daoling und Li Babai. Nach dem 14. Jh. gibt es drei Gruppen acht Unsterblicher mit verschiedener Besetzung15, die Namen und Traditionen der Han- und SongEpochen vereinen. Taten und Wunder sowie Erscheinungsweisen und Metamorphosen der Unsterblichen der 2. Gruppe, die seit der Yuan-Zeit höchste Beliebtheit genießt, sind Themen für Theaterstücke. Die Novelle Baxianchuchudong youji (Die Acht Unsterblichen gehen auf Reisen nach Osten; Ming-Zeit) nennt anstelle von Xu Shenweng die Unsterbliche Ho Xiangu. Legendäre und hist. Namen treten einzeln oder in wechselnden Verbindungen auf. In der Lit. wie in der bildenden Kunst war das Thema ,Acht Unsterbliche überqueren das Meer‘ sehr beliebt. Die Unsterblichen sind volksnah. Jedermann, Gelehrter oder Bettler, konnte sich in Zhang Guolao, Li Tie-
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guai oder in einem anderen Unsterblichen wiederfinden. Volkslieder in modernen Slgen aus den Provinzen enthalten einen beträchtlichen Anteil von Liedern, die diese Themen direkt oder indirekt ansprechen16. Erzählgut in regionalen Liedformen ist in seinem Bestand kaum auszuloten. Dazu gehören z. B. Rituallieder (fashige) und liturgische Lieder (yishige), die zu Hochzeiten oder bei Bauarbeiten gesungen wurden17. Es ist problematisch, solche Traditionen, die keinen direkten Bezug zu Buddhismus oder Konfuzianismus aufweisen, als t.s E. zu deklarieren, wie es etwa in neueren Studien für Überlieferungen zu Berufsgottheiten geschieht. Lu Pan, der Patron der Zimmerleute, soll zur Zeit des Konfuzius einen Holzvogel gefertigt haben, der drei Tage in der Luft bleiben konnte18. Nur aufgrund des Umstandes, daß Taoisten in Gildenhäusern Liturgien feierten, kann Lu Pans Geschichte noch nicht als t.s E. definiert werden. Die Schwelle zwischen spezifisch t.m E. und der Allgemeinkultur wird jedoch rasch überschritten, wie der Roman Fengshenyanyi (Investitur der Götter; 16. Jh.) des Taoisten Liu Xixing, der sich im Alter dem Buddhismus zuwandte, etwa anhand der populären und hagiographisch spektakulären Gottheit No Cha zeigt. No Cha, die magisch empfangene und ungebärdige Wiedergeburt des Unsterblichen Lingzhu zi (Magische Perle), besteht mit Hilfe eines Taoisten Kämpfe gegen Gottheiten zu Wasser und zu Lande. No Cha wird durch den Taoisten nach seinem Selbstmord mit einem neuen Leib und neuen Waffen (Speer und Feuerrad) ausgerüstet19.
Ähnlich nehmen die vielen Erzählungen von Fuchsgeistern (J Fuchs) Bezug auf Einzelaspekte der taoist. interpretierten Verbindung der Geschlechter und aktivieren Vorstellungen von Metamorphosen, sexueller Kultivierung, Verlust und Gedeihen gemäß dem Verhältnis positiver und negativer Lebenskräfte (Yin/ Yang)20. In all diesen Fällen, so auch in einer Vielzahl von Erzählungen der Ming- und Qing-Zeit, läßt sich die Aufhebung einer eindeutigen Zuordnung zum t.n E. erkennen21. Die spezifische Thematik des t.n E.s kann unstrittig nur im Bezug auf die kanonischen Überlieferungen definiert werden, wie sie in dem monumentalen Werk Lishizhenxiantidao tongjian (Durchgehender Leitfaden von Ha-
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Tapferes Schneiderlein
giographien der Unsterblichen aller Zeiten, die mit Tao eins wurden; 13. Jh.) des Zhao Daoyi und in zwei Folgesammlungen ähnlichen Titels vorliegen22. Eine analytische Aufarbeitung wurde weithin zugunsten einer hoch spezialisierten und doch gelegenheitsbedingten Sammeltätigkeit vernachlässigt23, was eine abschließende Würdigung des Bestandes t.n E.s vorerst noch nicht ermöglicht. 1 cf. bes. Liu Shouhua: Daojiao yu Zhongguo minjian wenxue (Chin. taoist. Volkserzählungen). Taipeh 1991. ⫺ 2 ibid., 29⫺31, 51⫺56. ⫺ 3 Weng Tuchien (Wieger) u. a. (edd.): Tao-tsang tzu-mu yin-te/ Combined Indices to the Authors and Titles of Books in Two Collections of Taoist Literature. Taipeh 1966, num. 782; Schipper, K. M.: L’Empereur Wou des Han dans la le´gende taoiste. P. 1965; Seidel, A. K.: La Divinisation de Lao Tseu dans le Taoisme des Han. P. 1966. ⫺ 4 Reiter, F. C. (ed.): Leben und Wirken Lao-tzu’s in Schrift und Bild. Lao-chün pashih-i-hua t’u-shuo. Würzburg 1990. ⫺ 5 Mathieu, R.: E´tude sur la mythologie et l’ethnologie de la Chine ancienne. P. 1983; Weng Tuchien u. a. (wie not. 3) num. 598, 1025. ⫺ 6 Schmidt-Glintzer, H.: Geschichte der chin. Lit. Mü. 1990, 186⫺192. ⫺ 7 Kikuya, N.: Geschichte der chin. Lit. Übers. E. Feifel. Hildesheim 21960, 150, 159. ⫺ 8 Kaltenmark, M.: Le Lie-sien tchouan (Biographies le´gendaires des Immortels taoistes de l’antiquite´). Peking 1953; Güntsch, G.: Das Shen-hsien chuan und das Erscheinungsbild eines Hsien. Ffm. 1988; Campany, R. F.: To Live as Long as Heaven and Earth. A Translation and Study of Ge Hong’s Traditions of Divine Transcendents. Berk. 2002; Reiter, F. C.: Studie zu den „Überlieferungen von mutmaßlich Unsterblichen“ (I-hsien chuan) aus dem taoist. Kanon. In: Oriens 29⫺30 (1986) 351⫺396. ⫺ 9 SchmidtGlintzer (wie not. 6) 357 sq.; id.: Hong Mai. In: KNLL 8 (1990) 29 sq.; Ter Haar, B. J.: Newly Discovered Anecdotes from Hong Mai’s (1123⫺1202) „Yijian zhi.“ In: J. of Sung-Yuan Studies 23 (1993) 19⫺41; Inglis, A. D.: Hong Mai’s Informants for the Yijian zhi. ibid. 32 (2002) 83⫺126; id.: Hong Mai’s „Record of the Listener“ and Its Song Dynasty Context. Albany, N. Y. 2006. ⫺ 10 Liu Shouhua (wie not. 1) 60⫺75 (ohne Berücksichtigung der Quanzhen-Traditionen). ⫺ 11 Hawkes, D.: Quanzhen Plays and Quanzhen Masters. In: Bulletin de l’E´cole franc¸aise d’Extreˆme-Orient 69 (1981) 153⫺170. ⫺ 12 Eskildsen, S.: The Teachings and Practices of the Early Quanzhen Taoist Masters. N. Y. 2004. ⫺ 13 Reiter, F. C.: Grundelemente und Tendenzen des religiösen Taoismus. Stg. 1988, 77⫺90. ⫺ 14 Waley, A.: The Travels of an Alchemist. The Journey of the Taoist Ch’angch’un from China to the Hindukush at the Summons of Chingiz Khan. L. 1963; Weng Tuchien u. a. (wie not. 3) num. 176, 1418. ⫺ 15 Liu Shouhua (wie
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not. 1) 60⫺75. ⫺ 16 ibid., 263⫺277 (nennt zahlreiche Titel). ⫺ 17 ibid., 263⫺265, 270⫺272. ⫺ 18 Chamberlain, J.: Chinese Gods. Hongkong 1983, 145⫺152; Ma Shutian: Quanxiang zhongguo sanbai shen/300 Chinese Gods with Portraits. Nanchang 1995, 123 sq. ⫺ 19 cf. Grube, W.: Die Metamorphosen der Götter. Leiden 1912, 157; Schmidt-Glintzer (wie not. 6) 432. ⫺ 20 Bischoff, F. A.: Sex Tricks of Chinese Fox-Fiends. In: Asiat. Forschungen 141 (2002) 1⫺6; Kehren, D.: The Fox in the Early Period of China. In: Walreavens, H. (ed.): Der Fuchs in Kultur, Religion und Folklore Zentral- und Ostasiens 2. Wiesbaden 1992, 7⫺23. ⫺ 21 cf. Kuhn, F.: Der Turm der fegenden Wolken. Ffm. 1975; Pu Sung-ling: Gaukler, Füchse und Dämonen. Übers. E. P. Schrock/Liu Guan-ying. Basel 1955. ⫺ 22 Weng Tuchien u. a. (wie not. 3) num. 296⫺298. ⫺ 23 cf. Eberhard, W. und A.: Südchin. Märchen. MdW 1976; Eberhard, W.: The Supernatural in Chinese Folktales from Cheˆkiang. In: id.: Studies in Chinese Folklore and Related Essays. Bloom. 1970, 67⫺72; Eberhard, Typen.
Berlin
Florian C. Reiter
Tapferes Schneiderlein (AaTh/ATU 1640), altes, in zahlreichen Redaktionen verbreitetes Schwankmärchen. Die wichtigste Ausprägung ist die west- und mitteleurop. Redaktion, die folgendes Erzählgerüst aufweist: (1) Ein schmächtiger J Schneider (J Schuster, Junge, J Aufschneider, Feigling, Tunichtgut, Weber, Zigeuner) tötet sieben (mindestens zwei, manchmal bis zu Tausende von) Fliegen, schreibt einen Spruch wie ,Sieben auf einen Streich‘ auf einen Zettel, den er an seiner Kleidung (Ausrüstung) anbringt, und zieht in die Welt. (2.1) Er begegnet einem (mehreren) J Riesen (Räuber, Drachen), beeindruckt diesen mit seinem Spruch, übertölpelt ihn bei mehreren J Kraftproben und/oder legt ihn, nachdem er sich ihm angeschlossen hat, auf andere Art herein. (2.2) Diener eines Fürsten finden das am Wegesrand schlafende tapfere Schneiderlein (t. S.) und führen es zu ihrem Herrn. Dieser verspricht ihm seine Tochter (und die Hälfte seines Reichs), wenn das t. S. bestimmte Aufgaben vollbringe. Öfters werden solche J Mutproben vom Helden verlangt, weil der Herrscher ihn loswerden will. Vom Helden wird verlangt, (2.2.1) drei (zwei) Riesen (Räuber, Drachen) zu töten ⫺ es wirft aus einem Baum (Versteck) Steine auf sie, worauf sie sich gegenseitig einen Mordversuch vorwerfen und einander töten oder so lange streiten, bis sie so müde sind, daß das t. S. sie köpfen kann; (2.2.2) ein J Einhorn (Nashorn) zu fangen ⫺ das t. S. läßt es mit seinem Horn in einen Baum rennen; (2.2.3) ein Wildschwein unschädlich zu machen ⫺ das t. S. sperrt es in ein Gebäude (Kapelle) ein oder flüchtet auf einen Baum, das Tier schläft darunter
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ein, so daß es getötet werden kann (ißt von den Früchten des Baumes und stirbt daran; wird betäubt); (2.2.4) ein anderes feindliches Wesen oder Tier (z. B. Drache, Bär, Auerochse) zu beseitigen ⫺ dies gelingt ihm mittels einer List. (3) Ein feindliches (türk., maur.) Heer kämpft gegen den König, und das t. S. muß es vertreiben. (3.1) Es will flüchten, aber sein aufgeregtes Pferd (auf dem es festgebunden ist) stürmt dem Feind entgegen. Vor Angst greift das t. S. ein Wegkreuz (Kruzifix, Wegweiser, Baum), damit erschlägt es den Feind oder die Feinde flüchten (ergeben sich), weil sie glauben, er sei J Christus (Gott, der Teufel), und/oder (3.2) es will sich in seiner Verzweiflung von dem Feind töten lassen und reitet ihm, eingehüllt in ein weißes Hemd und mit einer brennenden Fackel in der Hand, entgegen. Seine Truppen folgen seinem Beispiel; der Feind flüchtet. (4) Das t. S. heiratet die Prinzessin. Diese entdeckt, als es im Schlaf von seinem Beruf redet, daß sie nicht standesgemäß geheiratet hat. Soldaten bekommen den Auftrag, das t. S. zu töten, aber es verscheucht (gewarnt von einem Diener) diese mit einer prahlerischen Auflistung seiner Taten.
Diese Redaktion ist über Europa hinaus in den von Europäern besiedelten bzw. von ihrer Kultur stark beeinflußten außereurop. Regionen verbreitet. Sie erscheint zuerst Mitte des 16. Jh.s im Wegkürtzer des Martin J Montanus (ca 1557) mit den Episoden (1), (2.2), (2.2.1), (2.2.2), (2.2.3) und (4)1. Die weitere Verbreitung erfolgte dann über Schwank- und Volksbücher. Eine Fassung im aus dem Niederländischen übers. Schwankbuch Der Geist von Jan Tambaur (ca 1660: [1], [2.2], [2.2.2], [2.2.3])2 wurde später u. a. von J. Talitz3 und L. J Wolff aufgegriffen; letzterer arbeitete sie 1702 zu einem Predigtmärlein um4. Bis ins 20. Jh. hat im ndl., fries., fläm. und dt./ndd. Sprachgebiet eine Fassung aus dem späten 16. Jh. nachgewirkt, die vielleicht erstmals als Kalendertext veröffentlicht worden war. Der Name des Helden ist hier Hans/Jan/Schuster Onverzaagt5: Een Kouszen-Verzoolder tot Koning verkooren (1596)6 oder Het wonderlyk […] Leven van Kleyn Kobisje, alias Koningh zonder Onderzaten (Ende 17. Jh.)7. Diese Fassung, die die Episoden (1), (2.2), (2.2.2), (2.2.1), (3), (4) enthält, wurde in Flandern noch bis in die 2. Hälfte des 19. Jh.s nachgedruckt8. Auch in Dänemark (Historie om en Skomager-Svend i Rysz-Land; spätes 18. Jh.: [1], [2.2]: [2.2.3.1], [2.2.2], [3.1], [3.2])9 und Schweden (Storkjerta, eller Den tapper Skrädderen; 1824: [1], [2.2]: [2.2.1], [2.2.2], [2.2.3])10
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erschienen Volksbuchfassungen, die lange nachgewirkt haben. Weitaus größte Popularität jedoch hatte die Fassung der Brüder J Grimm. In der Erstausgabe (1812) der KHM bieten sie noch nacheinander eine Montanus-Bearb. und ein mündl. Fragment aus Hessen; seit 1819 sind diese beiden Texte unter Einarbeitung eines zweiten hess. Fragments u. d. T. Das t. S. zusammengefügt, KHM 20 enthält die Episoden (1), (2.1), (2.2), (2.2.1), (2.2.2), (2.2.3), (4)11. Seit 1819 ist Episode (2.1) dann ein fester Bestandteil des Erzähltyps. Sie setzt sich gewöhnlich aus einer Kette von Erzähltypen und -motiven aus dem Bereich AaTh/ATU 1000⫺1200: Tales of the Stupid Ogre zusammen. Meistens zeichnet sich folgender Verlauf ab: Als Eingang dienen überwiegend Erzähltypen aus den Gruppen AaTh/ATU 1049, 1060⫺1063 B, 1070, 1071, 1083⫺1090, 1095, 1096: J Wettstreit mit dem Unhold und AaTh/ATU 1050⫺1052: J Baum biegen, fällen, tragen, vor allem AaTh/ ATU 1060: Squeezing the (Supposed) Stone (Europa, Nordasien, Nord- und Mittelamerika), AaTh/ATU 1062: Throwing a Stone (Europa, Nord- und Mittelasien, Nord- und Mittelamerika), AaTh/ATU 1063: Throwing a Club (Europa, Mittelasien, Südamerika), AaTh/ATU 1049: The Heavy Axe (Europa, Mittelasien, Nordamerika), AaTh/ATU 1051: Bending a Tree (Europa) und AaTh/ATU 1052: Carrying a Tree (Europa, Nord- und Mittelamerika). Danach schließt das t. S. sich den Riesen an. Als diese verängstigt in der Nacht versuchen, es im Bett zu töten, rettet es sich ⫺ durch Wechsel seiner Schlafstelle (cf. J Bettplatztausch) und legt sich unter dem Bett schlafen (AaTh/ATU 1115: J Mordversuch mit dem Beil [Europa, Vorder-, Nord- und Mittelasien, Nord- und Mittelamerika]). Regional (Nordeuropa12, Turkvölker, Kaukasus13) gibt es statt dieses Anschlags auch den Versuch, es zu J verbrennen (AaTh/ATU 1116: Attempted Burning; J Tötungsversuche). Der Held entledigt sich zum Schluß des Riesen meistens während eines Eßwettstreits, bei dem er seinen Gegner dazu bringt, sich den Bauch aufzuschlitzen (AaTh/ATU 1088: Eating/Drinking Contest [Europa, Mittelasien, Nordamerika]; cf. J Gastrotomie). Öfter, bes. in (Süd-)Osteuropa und bei den Turkvölkern, schenkt der Drache (Riese) ihm Geld und hilft ihm, es
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nach Hause tragen. Der Drache ergreift die Flucht, als ihm vorgetäuscht wird, man sei dort auf Drachenfleisch versessen (AaTh/ATU 1149: J Kinder begehren das Fleisch des Unholds)14. In mittelasiat. Var.n beeindruckt das t. S. einen Riesen folgendermaßen: Als dieser es bittet, ihm seine Haare, einen Zahn und eine Laus vorzuzeigen, präsentiert es ihm einen Pferdeschwanz, eine Pflugschar und eine Schildkröte15. Oft in diese Episode integriert sind auch die Erzähltypen AaTh/ATU 1045: Das große J Seil, AaTh/ATU 1061: Biting a Stone to Pieces, AaTh/ATU 1063 A: Throwing Contest und AaTh/ATU 1159: cf. J Einklemmen unholder Wesen; verstreut und seltener AaTh/ATU 1050, 1064, 1070, 1072, 1083, 1084, 1085, 1089, 1095, 1119, 1121, 1131, 1133, 1137, 1145, 1150 und 1153. In Süd- und Ostasien und seinen Einflußgebieten finden sich, neben offenkundigen Var.n der in (West- und Mittel-)Europa vorherrschenden Redaktion von AaTh/ATU 164016, mehrere z. T. erheblich ältere Geschichten, die wegen einer teilweisen Übereinstimmung von Motiven und Episoden meistens zu diesem Erzähltyp gerechnet werden. (1) Erstmals im chin.-buddhist., aus dem Sanskrit übers. J Po-Yu-King wird erzählt, wie eine Frau ihrem Mann, dessen sie überdrüssig ist, vergiftete Pillen auf eine Reise mitgibt. Räuber essen die Pillen und sterben. Er köpft sie und rühmt sich vor dem König als ihr Überwinder. Er muß einen Löwen töten, klettert aber vor Angst zitternd auf einen Baum. Aus Versehen läßt er sein Messer fallen und tötet das Tier damit17. Vergleichbares findet sich im Dharmakalpadruma (Wunschbaum der Religion; 16. Jh.?)18. (2) Im Bhı¯masena-Ja¯taka hilft der Boddhisattva (J Buddha) als Bogenschütze einem starken, aber ängstlichen Weber beim Überwinden von Tiger und Büffel: Er läßt die Tiere von Bauern töten, sagt jedoch, er habe sie lebend fangen und dem König zeigen wollen. Als der Weber, der den Schützen schlecht behandelt, in den Krieg muß und vor Angst den Kriegselefanten beschmutzt, läßt der Schütze ihn absteigen und führt selbst das Heer zum Sieg19.
Das Motiv vom Kriegszug ist eine Vorstufe der Episode (3), die erstmals im mongol., auf ind. Vorlagen zurückgehenden J Siddhi Kür20 erscheint. Diese jüngere Form von (3) ist konstitutiver Bestandteil der meisten Var.n der reichen, motivlich und strukturell sehr unterschiedlich verlaufenden jüngeren ind. Überlieferung von AaTh/ATU 164021. Kernmotive dieser Redaktion sind auch das von der Frau
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des Helden (oder vom lebensmüden Helden) vergiftete Essen, das von Räubern oder Elefanten verzehrt wird, und die glückliche Tötung eines Löwen (Tigers) durch das fallende Messer22. Als Eingangsthema begegnet neben dem hier relativ seltenen Fliegentöter-Motiv23 öfter auch AaTh/ATU 177: J Dieb und Tiger: Der Held führt (reitet) im Dunkeln einen Tiger in den Stall, in der Meinung, es sei ein Esel24. Motive aus dieser ind. Redaktion von AaTh/ ATU 1640, bes. aus der Episode vom Tiger und dem Baum25, finden sich überall in Asien in vergleichbaren Erzählungen über feige oder prahlerische Helden26. Die Episode strahlte bis nach Südeuropa aus27. Auch in der weitgehend der europ. Tradition folgenden südamerik. Überlieferung von AaTh/ATU 1640 tauchen gelegentlich solche ind. Motive auf 28. Auf Ostasien beschränkt ist das Motiv vom angeblichen Meisterschützen, der einen Pfeil in den After (Auge) eines toten Tiers steckt und sich danach seiner Treffsicherheit rühmt29. Zwischen der relativ konstanten europ. Redaktion und der vielgestaltigen ind. Redaktion haben sich Sonderformen entwickelt oder auch spezifische ökotypische Motive ausgebildet, wodurch der Erzähltyp aufgrund vielfältiger Einflüsse einen äußerst variablen Charakter aufweist: In Osteuropa und Nordasien, mit Ausläufern bis in die Türkei30, wird der Erzähltyp zu einer Parodie auf Heldenlieder und -epen ausgebaut. Der Fliegentöter hinterläßt auf einem Pfahl eine Nachricht seiner Taten. Mit List, Glück und der Hilfe zweier Rekken weiß er alle Feinde zu überwinden und bekommt eine Prinzessin (Zarin) zur Frau31. Öfters gewinnt er hier im Kampf mit den Unholden wie in Episode (3.2)32. Wahrscheinlich stammt das dän. Volksbuch, das einen Schuster aus Rußland in der Rolle des Helden kennt und das gleiche Motiv aufweist, aus dieser Tradition33. In balkan., türk. und kaukas. Var.n machen die Räuber (Drachen, Teufel, Riesen) in Episode (2) den Furchtsamen oft zu ihrem Schwager. Als sie auf Raub ausziehen, hilft ihm seine Frau: Sie nimmt, als er sich versteckt, verkleidet seinen Platz ein. Ihre Brüder, die den Betrug ahnen, verwunden sie. Am nächsten Tag schickt sie ihren Ehemann zu ihren Brüdern; er ist dort verbunden, wo diese sie verletzt haben, so daß sie glauben, er sei dabeigewesen34. In einigen kaukas. und südruss. Var.n findet sich das folgende Eingangsmotiv: Eine Frau ist ihres ängstlichen Mannes überdrüssig; sie setzt ihn vor die Tür. Er läßt sich von einem Riesen über einen Fluß tragen und sagt, er sei so leicht, weil er sich am Him-
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mel festhalte. Den ungläubigen Riesen sticht er mit dem Messer in den Rücken und sagt, jetzt habe er losgelassen. Nun glaubt der Riese ihm35.
Sonderformen gibt es auch im Bereich der europ. Redaktion. In mittel- und westeurop. Var.n hilft ein in (2.1) übertölpelter Riese dem t.n S. bei den Aufträgen von Episode (2.2)36. Deshalb hält der Riese auch um die Hand der Prinzessin an. Sie entscheidet sich jedoch für das t. S. (er bewirkt, daß der Riese Gestank verbreitet, worauf sich die Prinzessin dem t.n S. zuwendet; cf. AaTh/ATU 559: J Mistkäfer)37. Bekannt durch eine Bearb. von L. J Bechstein38 wurde eine Var. aus Tirol, in der AaTh/ATU 1640 und AaTh/ATU 1088 mit AaTh/ATU 1563: J „Beide?“ verknüpft sind39. Weit verbreitet ist die Einbettung von AaTh/ATU 300: cf. J Drache, Drachenkampf, Drachentöter in Episode (2.1)40. Öfter werden Teile von AaTh/ATU 1640 in Konglomerate (von Motiven) aus Märchen und Schwänken übernommen, oder Var.n von AaTh/ATU 1640 werden eingeleitet von (oder erweitert mit [Teilen von]) anderen Erzähltypen wie AaTh/ATU 307, 326, 328, 513, 650 und vor allem AaTh/ATU 164141. Die europ. Hauptredaktion von AaTh/ATU 1640 ist wohl der populären Lit. der frühen Neuzeit zu verdanken. Sie war mit ihrem atypischen und unheroischen Helden, einem traditionell als schwächlich geltenden Schneider oder Schuster, intentional wohl eine Parodie auf die damals gängigen Ritterromane (cf. J Ritter, Kap. 3). Als Ganzes ist sie nicht abhängig von den älteren ind. Fassungen, wie J. J Hertel meinte42, und auch nicht im pers.kaukas.-kleinasiat. Raum entstanden (W. J Liungman)43, sondern mit Hilfe von bereits länger in Europa bekannten Motiven und Episoden konstruiert wie ,Sieben auf einen Streich‘ (Anspielungen seit 1527, u. a. bei J Luther44), dem Eberfang (u. a. eingebettet in Fassungen der J Sieben weise Meister)45, der Einhornjagd (tradiert seit dem frühen 13. Jh.46) und der aus dem Orient stammenden, in Europa bereits als selbständige Erzählung bekannten Episode vom unfreiwilligen Helden auf dem Schlachtfeld (u. a. im engl. Schwankbuch A Hundred Mery Tales [1526])47. Eine Vorform von AaTh/ATU 1640 findet sich auch in einem frühen Kommentar zum hero-
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isch-komischen Epos Il Malmantile racquistato des Florentiners Lorenzo J Lippi48. Allg. und fast weltweite Beliebtheit bis nach Ozeanien49 erlangte AaTh/ATU 1640 nach 1800, nachdem der Erzähltyp mit dem Zyklus vom Wettstreit mit dem Unhold verschmolzen war. Außerdem beeinflußte das Schwankmärchen auch vergleichbare ind. und andere östl. Erzählungen von feigen Aufschneidern, die als zum Erzähltyp gehörig betrachtet werden können. AaTh/ATU 1640 wurde damit vor allem ein Schwankmärchen. Nur in relativ wenigen Var.n, bes. mit der Schlußepisode (3), erreicht der vermeintlich Tapfere durch Glück und Zufall sein Ziel, meistens aber dominieren Schlauheit und List. So wird aus dem lächerlichen Aufschneider zum Schluß eine Identifikationsfigur, nicht nur für Kinder und sozial Niedrigstehende, sondern für ein sehr breites Publikum. Zur Beliebtheit trugen auch die zahllosen seit ca 1875 nachzuweisenden kolorierten Separatdrucke bei. In populären Medien wie Bilderbogen, Reklamesammelbildern und Oblaten war AaTh/ATU 1640 seitdem präsent, ebenso später in Film (z. B. in W. J Disneys Trickfilm The Brave Little Tailor mit Mickey Mouse in der Hauptrolle [1938]), Märchenspiel und Märchenballett. Heute wird das Schwankmärchen vor allem auf Schallplatten, Musikkassetten, Videos und DVDs angeboten50. 1 Montanus/Bolte, num. 5; ndd. im „Wegekörter“ (1592), cf. Ndd. Jb. 20 (1894) 135⫺138. ⫺ 2 Uther, H.-J.: Märchen vor Grimm. MdW 1990, num. 10. ⫺ 3 EM-Archiv: Talitz, Kurtzweiliger Reyßgespann (1663) 330 sq. ⫺ 4 Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 67; cf. auch ead.: Erzähler auf der Kanzel. In: Fabula 2 (1959) 1⫺26, hier 15 sq. ⫺ 5 van der Kooi; Ble´court, W. de: Volksverhalen uit Noord-Brabant. Utrecht/Antw. 1980, num. 4 (7); Mont, P. de/Cock, A. de: Dit zijn Vlaamsche vertelsels. Gent/Deventer 1998, num. 29; Cornelissen, P. J./Vervliet, J. B.: Vlaamsche volksvertelsels en wondersprookjes. Lier 1900, num. 46; Meyere, V. de: De Vlaamsche vertelselschat 1. Antw. 1925, num. 13; Witteryck, A. J.: Oude Westvlaamse volksvertelsels. Brügge/Brüssel 1946, num. 9; Behrend, P.: Märchenschatz. Danzig 1908, num. 24 (S. Unverzagt); Henßen, G.: Volkserzählungen aus dem westl. Niedersachsen. Münster 1963, num. 7 (Jan Unverzagen); Dittmaier, H.: Sagen, Märchen und Schwänke von der unteren Sieg. Bonn 1950, num. 364. ⫺ 6 Meder, T./Hendriks, C.: Vertelcultuur in Nederland. Volksverhalen uit de Collectie Boekenoogen (ca 1900). Amst. 2005, 754⫺
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758. ⫺ 7 BP 1, 151⫺154. ⫺ 8 Witteryck (wie not. 5) 281. ⫺ 9 Bødker, L.: The Brave Tailor in Danish Tradition. In: Studies in Folklore. Festschr. S. Thompson. Bloom. 1957, 1⫺23. ⫺ 10 Bäckström, P. O.: Svenska folkböcker 1. Stockholm 1845, num. 4. ⫺ 11 KHM/Uther 4, 43⫺46; Rölleke, H.: Das T. S. in W. Grimms Märchenwerkstatt. In: Waltende Spur. Festschr. L. Denecke. Kassel 1991, 172⫺177; Scherf 2, 1171⫺1174. ⫺ 12 Säve, P. A./Gustavson, H.: Got˚ berg, länska sagor 1. Uppsala 1952, num. 38; A G. A.: Nyländska folkssagor. Helsingfors 1887, num. 128. ⫺ 13 Ku´nos, I.: Türk. Märchen aus Stambul. Leiden 1905, 56⫺62; Sˇakryl, K. S.: Abchazskie narodnye skazki. M. 1975, num. 36; Amonov, R.: Tadzˇikskie skazki. M. 1961, 203⫺208; Bleichsteiner, R.: Kaukas. Forschungen. Wien 1919, CIV sq. (armen.). ⫺ 14 Berze Nagy, J.: Re´gy magyar ne´pmese´k. Pe´cs 1960, 109⫺113; Gasˇparı´kova´, num. 132; Stroescu 2, num. 4584; Hahn, num. 18 (griech.); Nikiforov, A. L.: Severnorusskie skazki 1. ed. V. Ja. Propp. M./Len. 1961, num. 4; Ku´nos (wie not. 13); Amonov (wie not. 13) 209⫺211; Rozenfel’d, A. Z./ Rycˇkovoy, N. P.: Skazki i legendy gornych tadzˇikov. M. 1990, num. 19; Kralina, N.: Sto skazok udmurtskogo naroda. Izˇevsk 1961, num. 73. ⫺ 15 Amonov (wie not. 13). ⫺ 16 Unbescheid, G.: Märchen aus Nepal. MdW 1980, num. 32; Jonker, J. C. G.: Rottineesche teksten met vertaling. Leiden 1911, num. 34 (indon.). ⫺ 17 Chavannes 2, num. 301. ⫺ 18 Hertel, J.: Ind. Märchen. MdW 1953, num. 36. ⫺ 19 Cowell, E. B.: The Ja¯taka or Stories of the Buddha’s Former Births 1. Nachdr. L. 1969, 80; cf. Parker, H.: Village Folktales of Ceylon 1⫺3. L. 1910⫺14, hier t. 3, num. 132. ⫺ 20 Lo˝rincz. ⫺ 21 Mayeda, N./Brown, W. N.: Tawi Tales. Folk Tales from Jammu. New Haven 1974, 454⫺460. ⫺ 22 Steel, F. A./Temple, R. C.: Wide-Awake Stories. Bombay/ L. 1884, 89⫺97; Bradley-Birt, F. B.: Bengal Fairy Tales. L./N. Y. 1920, 49⫺52; Kingscote, H./Sa´strıˆ, N.: Tales of the Sun, or Folklore of Southern India. L. 1890, num. 9; Blackburn, S.: Moral Fictions. Tamil Folktales from Oral Tradition. Hels. 2001, num. 16; Borooah, J.: Folktales of Assam. Gauhati 1955, 86⫺90. ⫺ 23 Steel/Temple (wie not. 22); Unbescheid (wie not. 16); Parker (wie not. 19) t. 1, num. 55; ibid., t. 3, num. 259. ⫺ 24 Dracott, A. E.: Simla Village Tales, or, Folk Tales from the Himalayas. L. 1914, 56⫺59; Swynnerton, C.: Romantic Tales from the Panjaˆb. L. 1908, num. 65; Frere, M.: Old Deccan Days. L. 41889, num. 16; Mode, A./Ray, A.: Bengal. Märchen. Ffm. 1967, 320⫺327. ⫺ 25 wie not. 22. ⫺ 26 O’Connor, W. F.: Folk Tales from Tibet. L. 1906, num. 22 (3); Eberhard, W.: Volksmärchen aus Südost-China (FFC 128). Hels. 1941, 238⫺241; Seki, num. 349; Gaudes, R.: Kambodschan. Volksmärchen. B. 1987, num. 75; Voorhoeve, P.: Overzicht van de volksverhalen der Bataks. Vlissingen 1927, num. 195; Christensen, A.: Pers. Märchen. MdW 1958, num. 8; Jason, H.: Märchen aus Israel. MdW 1976, num. 43 (aus Jemen); Amonov (wie not. 13) 443 sq. ⫺ 27 Dirr, A.: Kaukas. Märchen. MdW 1920,
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num. 21 (georg.); Dolidze, N. I.: Gruzinskie skazki. Tiflis 1956, 364⫺368; Khatchatrianz, I.: Armenian Folk Tales. Phil. 1946, 43⫺51; BFP; Hörstel, W.: Aus dem sonnigen Süden. Nürnberg 1904, 156⫺163 (ital.). ⫺ 28 Folk-Lore J. 3 (1885) 299 sq. (chilen.); Romero, S./Cascudo, L. da Caˆmara: Cuentos populares do Brasil. Rio de Janeiro 31954, num. 18. ⫺ 29 Ting; Choi, num. 356. ⫺ 30 Eberhard/Boratav, num. 365. ⫺ 31 ˇ istov, K.: PerAfanas’ev 3, num. 430, 431, 578; C stenek dvenadcat’ stavesˇkov. Petrozavodsk 1958, 107⫺114 (aus Karelien); Beke, Ö.: Tscheremiss. Märchen, Sagen und Erzählungen. Hels. 1938, num. 26, 42; Kralina (wie not. 14); E˙rgis, num. 270, 283. ⫺ 32 Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. SPb. 1915, num. 43; Chudjakov, A.: Velikorusskie skazki. ed. V. G. Bazanov/O. B. Alekseev. M./Len. 1964, num. 11. ⫺ 33 Bødker (wie not. 9). ⫺ 34 Kretschmer, P.: Neugriech. Märchen. MdW 1917, num. 33; BFP; Camaj, M./Schier-Oberdorffer, U.: Alban. Märchen. MdW 1974, num. 70; Eberhard/ Boratav, num. 365; Bleichsteiner (wie not. 13) CI sq. (georg.). ⫺ 35 Sˇakryl (wie not. 13); Hoogasian-Villa, S.: 100 Armenian Tales. Detroit 1966, num. 64; Khatchatrianz (wie not. 27); Bleichsteiner (wie not. 13) CII sq. (awar.); Kralina (wie not. 14); Dume´zil, G.: Contes lazes. P. 1937, num. 4. ⫺ 36 Gerstner-Hirzel, E.: Aus der Volksüberlieferung von Bosco Gurin. Basel 1979, num. 245; Sirova´tka, O.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1980, num. 25. ⫺ 37 Cosquin 1, num. 19; de Mont/de Cock (wie not. 5) num. 16. ⫺ 38 Bechstein, L.: Neues Dt. Märchenbuch. ed. H.-J. Uther. MdW 1997, num. 17. ⫺ 39 Zingerle, I. und J.: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. ed. O. von Schaching. Regensburg/Rom 2 1916, 137⫺147; Hüllen, G.: Märchen der europ. Völker 6. Münster 1965, 194⫺211 (ital.); Kooi, J. van der: Volksverhalen uit Friesland. Utrecht/Antw. ´ Su´illeabha´in/Christiansen; 1979, num. 45. ⫺ 40 O Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 2. Grenoble 1971, num. 127 (3); Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1867, num. 31; Ge´czi, L.: Ungi ne´pmese´k e´s monda´k. Bud. 1989, num. 124; Sirova´tka (wie not. 36); BFP; Cepenkov, M. K.: Makedonski narodni prikazni 1. ed. K. Penusˇliski. Skopje 1989, num. 44; Veckenstedt, E.: Wend. Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Graz 1880, 68⫺72; Jason; Robe; Nascimento. ⫺ 41 Rausmaa, SK 6, 301; MNK; Dobrovol’skij, V. N.: Smolenskij e˙tnograficˇeskij sbornik 1. SPb./M. 1891, num. 36; Jason (wie not. 26); Ramstedt, G. J.: Kalmück. Sprachproben 1. Hels. 1909, num. 13; Marzolph; Bodding, P. O.: Santal Folk Tales 3. Oslo 1929, num. 52; Nascimento. ⫺ 42 Hertel, J.: Zum Märchen vom t.n S. In: ZfVk. 23 (1913) 51⫺57. ⫺ 43 Liungman, Volksmärchen, 321. ⫺ 44 BP 1, 149. ⫺ 45 Tubach, num. 717; Campbell, K.: The Seven Sages of Rom. Boston 1907, lxxxii sq.; Bebel/Wesselski 2, num. 114. ⫺ 46 Tubach, num. 5021; Einhorn, J. W.: Spiritalis unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Lit. und Kunst des MA.s. Mü. 1976, 128 sq. ⫺
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Tapferkeit und Feigheit
47
Zall, P. M.: A Hundred Merry Tales and Other English Jestbooks of the Fifteenth and Sixteenth Centuries. Lincoln/L. 1963, 122 sq. ⫺ 48 EM 8, 1095. ⫺ 49 cf. Senft, G.: What Happened to „The Fearless Tailor“ in Kilivala. In: Anthropos 87 (1992) 407⫺421. ⫺ 50 KHM/Uther 4, 45.
Groningen
Jurjen van der Kooi
Tapferkeit und Feigheit. T. wird einer Person attestiert, die sich trotz drohender J Gefahr einer Situation stellt. Dabei ist männliche T. vor allem auf Kampfhandlungen bezogen, während eine vorwiegend weibliche T. meist auf kampflosen Widerstand abzielt. T. wird seit Platon als Kardinaltugend (J Tugenden und Laster) aufgefaßt. Aristoteles verstand darunter die Mitte zwischen Kühnheit und F.1 T. fand vielfach Darstellung in der christl. Ikonographie und in der barocken Emblematik2. In ihrer religiösen und ethischen Dimension berührt sie sich mit der Standhaftigkeit von J Märtyrern. Die exemplarische Funktion von Jugend- und Kriegserzählungen mit dem Thema T. kann darin bestehen, Kriegsbegeisterung hervorzurufen (J Krieg)3. Die narrative Bedeutung der T. zeigt sich darin, daß durch diese Eigenschaft das Heldische (J Held, Heldin) überhaupt definiert wird. In Volkserzählungen, Epen und Ritterromanen (J Heldensagen) sind J Furchtlosigkeit und T. meist Vorbedingungen für den Erfolg des Helden4, wobei sich die T. im Kampf und im Krieg, bei J Mutproben und beim Lösen scheinbar unlösbarer J Aufgaben manifestiert (z. B. J Qualnächte)5. T. ist körperlich und geistig6 bestimmbar, aber auch eine Eigenschaft von J unscheinbaren Helden oder von Vertretern sonst verspotteter Berufe (J Schneider, J Schuster)7. J Gegenspieler des tapferen Helden8 sind J Ritter (in Var.n von AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder)9 und J Riesen (J David und Goliath), gefährliche Tiere (z. B. J Löwen), J Drachen und J Gespenster. In der Sage kann der tapfere Held auch versagen10. T. kann im Zusammenhang mit J Charakterproben wichtig sein, etwa wenn tapferes Standhalten zur J Erlösung von Menschen und Orten führt11. In AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen wird soldatische T. relativiert12. Der Held erinnert mit seiner Furchtlosigkeit an J Siegfried und
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mit seiner Tumbheit an J Parzival13. Die Nähe dieser leicht komischen Protagonisten zum wirklichen Helden zeigt etwa die dän. Erzählung Prinz ohne Angst, in der neben Gespenstern auch ein Drache überwunden werden muß (AaTh/ATU 326, 300: cf. J Drache, Drachenkampf, Drachentöter)14. Frauen und Mädchen können sich ebenfalls durch T. auszeichnen, wenn sie als Erlöserinnen ihrer Geschwister oder Geliebten handeln (AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder), als Kämpferinnen und Herrscherinnen jeglicher Gefahr trotzen (J Heldenjungfrau, J Frau in Männerkleidung)15 oder Hexen, Räubern und Mördern gewachsen sind (AaTh/ ATU 956 B: Das tapfere J Mädchen und die Räuber; AaTh/ATU 311, 312: J Mädchenmörder; AaTh/ATU 955: J Räuberbräutigam)16. T. charakterisiert nicht nur menschliche Helden und Heldinnen, sondern auch Tiere wie etwa das J Pferd, das seinen Herrn bewacht oder sogar rächt, und das J Kamel, das sich gegenüber stärkeren Tieren zur Wehr setzen kann. Der J Hund spielt eine widersprüchliche Rolle: Neben Geschichten von Hunden, die Menschen retten, und von tapferen Jagdhunden steht das Schimpfwort ,feiger Hund‘17. Andere Tiere, so die Hasen, dienen als Sinnbild für F. (z. B. AaTh/ATU 70: J Hasen und Frösche). Schwache Tiere müssen ihre körperliche Unterlegenheit meist mit List und Schlauheit kompensieren (J Stark und schwach)18. Den mutigen Helden parodiert AaTh/ATU 1640: J Tapferes Schneiderlein. In diesem Schwankmärchen finden sich Motive vom dummen Riesen und vom J Starken Hans (AaTh/ATU 650 A). Während aber der letztere die personifizierte J Stärke darstellt, scheint das Schneiderlein die F. und Prahlerei selbst zu sein. In einem solchen Fall kann die These, wonach Märchenfiguren keine charakterlichen J Ambivalenzen aufweisen19, relativiert werden, denn das Austricksen des Riesen setzt eine größere T. voraus als eine J Flucht vor ihm: Die sonst polarisierten Eigenschaften Mut/F. sind in einer Person vereinigt. In einem tschech. Märchen verteilen sich die beiden gegensätzlichen Eigenschaften jedoch auf zwei Personen: Der Furchtsame tritt nur kurz als Kontrast zu seinem beherzten Bruder auf, um sofort zu verschwinden, als er vom mitter-
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Tapferkeit und Feigheit
nächtlichen Höllenspektakel im Schloß hört20. In AaTh/ATU 940: Das hochmütige J Mädchen und AaTh/ATU 1676 B: J Tod durch Schrecken versagen die Protagonisten bei einer J Mutprobe auf dem J Friedhof und ergreifen die Flucht oder sterben sogar vor Schreck. F. ist Gegenstand des J Spotts und des J Fluchs. Bereits im J Philogelos werden Scherze über Feiglinge wiedergegeben (num. 206⫺210, 217 sq.), die ihre F. meist auf witzige Weise rechtfertigen: So wird von einem Boxer berichtet, der sich auf die Stirn schreibt, dies sei eine lebenswichtige Stelle. Als er viele Hiebe einstecken muß, fragt er die Anwesenden, ob der andere nicht lesen könne. Aus der ma. arab. Lit. sind ebenfalls absurd-komische Erzählungen bekannt21: Ein feiger J Soldat, der nicht gegen die Feinde antreten will, begründet dies damit, daß er sie nicht kenne22. Im Schwank wird bes. soldatische F. thematisiert23, aber auch AaTh/ATU 1231: J Sieben Schwaben ist ein Beispiel für absurde F. In AaTh/ATU 179: Was der J Bär dem sich Totstellenden ins Ohr flüstert wird der Feigling von seinen Kameraden verspottet. Bereits im Altertum galt F. als ehrenrührig. In der höfischen Dichtung ist das ,Verliegen‘ bei der Geliebten, das Versäumen höfischer Pflichten, identisch mit F. (J Erek). Der J Betrüger in AaTh/ATU 300 schaltet den Drachentöter feige aus und macht seine unrechtmäßigen Ansprüche geltend24. Moralische Genugtuung ruft hervor, wenn sonst verwegene Räuber sich erschrecken und vertreiben lassen (AaTh/ATU 1653: cf. J Räuber unter dem Baum; AaTh/ATU 130, 210: cf. J Tiere auf Wanderschaft). Die Verachtung von F. spiegelt sich auch in Redensarten (dem Feigling ,fällt [rutscht] das Herz in die Hose‘25), im Witz und im Schwank wider26. F. tritt auch als ethnisches J Stereotyp auf, wobei Pazifismus und F. nicht immer klar zu trennen sind27. So gilt der Schwabe als grob, dumm und feige28. Auch den J Juden attestiert man F. Es zeugt indessen von Selbstironie, wenn der Spott über jüd. F. oft von Juden selbst verübt wird29. 1 Stammkötter, F.-B.: T. In: Lex. des MA.s 8. Stg./ Weimar 1999, 464. ⫺ 2 Evans, M.: Tugenden. In: LCI 4 (1972) 364⫺380; Henkel, A./Schöne, A. (edd.): Emblemata. Stg. 1978, Reg. s. v. T. ⫺ 3 Christadler, M.: Kriegserziehung im Jugendbuch. Literar. Mobilmachung in Deutschland und Frank-
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reich vor 1914. Diss. Ffm. 1977; Amberger, W.: Männer, Krieger, Abenteurer. Der Entwurf des „soldatischen Mannes“ in Kriegsromanen über den Ersten und Zweiten Weltkrieg. Diss. Ffm. 1984. ⫺ 4 Röhrich, L.: Grausamkeit, Brutalität, Angst. In: id.: „und weil sie nicht gestorben sind …“ Köln/Weimar/Wien 2002, 206⫺220, hier 213; cf. Mot., Reg. s. v. Bravery; Uther, H.-J.: Europ. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004; id.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003; id.: Märchen der Welt. CDROM B. 2006. ⫺ 5 Horn, K.: Der aktive und der passive Märchenheld. Basel 1983, bes. 53⫺61. ⫺ 6 Scherf, 1175⫺1178; Tubach, num. 753; Stammkötter (wie not. 1). ⫺ 7 Aitken, H./Michaelis-Jena, R.: Märchen aus Schottland. MdW 1965, num. 65; cf. KHM 163. ⫺ 8 Müller, J.: Sagen aus Uri 1. Basel 1945, num. 15. ⫺ 9 BP 3, 18, 20, 424. ⫺ 10 Guntern, J.: Volkserzählungen aus dem Oberwallis. Basel 1978, num. 117. ⫺ 11 Sutermeister, O.: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz. Aarau 21873, num. 17; Bechstein, L.: Märchenbuch 1. ed. H.-J. Uther. MdW 1997, num. 30; KHM 197. ⫺ 12 Moser-Rath, Schwank, 227 sq.; cf. auch MNK 1863 A. ⫺ 13 KHM/Uther 4, 13. ⫺ 14 Bødker, L.: Dän. Volksmärchen. MdW 1964, num. 30. ⫺ 15 Wienker-Piepho, S.: Frauen als Volkshelden. Diss. Ffm. u. a. 1988; Feustel, E.: Rätselprinzessinnen und schlafende Schönheiten. Typologie und Funktionen der weiblichen Figuren in den KHM der Brüder Grimm. Hildesheim u. a. 2004, hier 291⫺ 298; Maissen, F.: Von starken Männern und tapferen Frauen in der Bündner Sage. In: Bündner Jb. 23 (1981) 67⫺73; Früh, S.: Die Frau, die auszog, ihren Mann zu erlösen. Europ. Frauenmärchen. Ffm. 1985, 71⫺121, 151 sq.; Köhler-Zülch, I./Shojaei Kawan, C.: Schneewittchen hat viele Schwestern. Gütersloh 1988, num. 12, 15; Gobrecht, B.: Märchenfrauen. Von starken und schwachen Frauen im Märchen. Fbg/Basel/Wien 1996, 21⫺68. ⫺ 16 BurdeSchneidewind, G.: Hist. Volkssagen zwischen Elbe und Niederrhein. B. 1969, num. 183; Köhler-Zülch/ Shojaei Kawan (wie not. 15) num. 1, 8. ⫺ 17 Röhrich, Redensarten 2, 755⫺766, hier 755.⫺ 18 Lüthi, M.: „Er fürchtet sich vor mir, ich mich vor ihm.“ Zum Thema Wechselseitige Angst in der Volkserzählung. In: Rhein.-westfäl. Zs. für Vk. 24,1⫺4 (1978) 231⫺244, hier 237. ⫺ 19 EM 2, 1243. ⫺ 20 Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 21984, num. 17. ⫺ 21 Marzolph, Arabia ridens 2, s. v. Feigling. ⫺ 22 ibid., num. 45. ⫺ 23 Moser-Rath, Schwank, 227 sq. ⫺ 24 Propp, V.: Morphologie des Märchens. ed. K. Eimermacher. Mü. 1973, 61. ⫺ 25 Röhrich, Redensarten 2, 705 sq. ⫺ 26 Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 279. ⫺ 27 Landmann, S.: Jüd. Witze. Mü. 1963, 133⫺138; Röhrich (wie not. 26); Schwarzbaum, 186 sq. ⫺ 28 Röhrich (wie not. 26) 249⫺ 258. ⫺ 29 ibid., 279; Landmann (wie not. 27); ead.: Jüd. Witze. Nachlese 1960⫺1976. Mü. 31980, 147⫺ 151; cf. auch z. B. Stroescu, num. 1579⫺1621 (Zigeuner).
Basel
Katalin Horn
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Tapisserien
Tapisserien. Wie Wandmalereien nutzten Adel und Patriziat des MA.s und der frühen Neuzeit gewirkte, gestickte oder mit Applikationen versehene Wandteppiche1, um Innenräume zu schmücken und mit Hilfe der darauf dargestellten Motive und Szenenfolgen ihre standesbezogenen Vorstellungen und Ideologiemodelle repräsentativ und selbstidentifikatorisch vorzuführen. Ein Großteil dieser Objekte bezieht sich auf tradierte Erzählstoffe, die bereits literar. geformt im Umlauf waren. Meist wurden diesen Einzelmotive oder bestimmte Handlungsabschnitte von offensichtlich hohem Identifikationswert entnommen; nur selten ist der gesamte Handlungsverlauf eines Epos oder einer Erzählung vom Beginn bis zum Schluß ins Bildmedium übertragen (J Bildquellen, Kap. 3). Zahlreiche T. reflektieren Erzählungen, so die bis ins 16. Jh. beliebten Wandbehänge (u. a. Basel, Hist. Museum; Chaˆteau La Palisse, Allier; Chaˆteau Langeais, Indre-etLoire)2 mit dem Motiv der sog. Neuf Preux (der vorbildlichen Helden aus heidnischem Altertum, Judentum und Christentum)3 oder die Weiberlisten- und Minnesklaven-Teppiche. Zu letzteren gehören z. B. der Malterer-Teppich (ca 1310/30, Freiburg, Augustinermuseum), auf dem den aus antiker und bibl. Tradition entnommenen Erzählungen von J Aristoteles und Phyllis (AaTh/ATU 1501), J Vergil im Korb und J Simson und Dalila mit J Iwein aus dem Epos J Hartmanns von Aue auch ein Minneheld des höfischen Romans beigesellt wird4, oder der Regensburger Medaillonteppich (ca 1370, Regensburg, Stadtmuseum), der die Baumgartenszene aus dem J Tristanroman in ein Programm von insgesamt 74 Darstellungen von Liebespaaren und Minnesklaven integriert. Vor allem im 15. Jh. tradieren vorwiegend oberrhein. Teppiche (u. a. Basel, Hist. Museum; Zürich, Schweiz. Landesmuseum; Nürnberg, Germ. Nationalmuseum) Minnesklaven-Exempla in unterschiedlichen Kombinationen. Der beliebteste bereits literar. geformte Stoff, der als Tapisserie umgesetzt wurde, war der auch in Wandmalerei, Skulptur, Elfenbeinschnitzereien und zahlreichen anderen Gegenständen adeligen (Luxus-) Gebrauchs tradierte Tristanstoff 5. Nur selten lassen sich die erhaltenen Zeugnisse eindeutig auf eine konkrete Textfassung (Eilhart von Oberge, Gottfried von Straßburg etc.) beziehen; offenbar war die Ver-
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mittlungsinstanz zwischen literar. ,Vorlage‘ und Bildwerk der mündl. gesellschaftliche Diskurs über Lit. Drei niedersächs. Leinenteppiche mit Wollstickerei (Kloster Wienhausen bei Celle) entnehmen dem Themenangebot bestimmte Erzählabschnitte: Der älteste (um 1300) schildert auf drei durch Wappenfriese und Schriftzeilen getrennten Bildstreifen die Tristanhandlung vom Kampf mit Morolt bis zum Minnetrank und gliedert dabei den Erzählvorgang in drei in sich geschlossene Handlungsabschnitte: Moroltkampf, Heilungsfahrt nach Irland, Brautwerbungsfahrt mit Drachenkampf 6. Dem gleichen Handlungsstrang ist der um etwa ein Vierteljahrhundert jüngere, fragmentierte zweite Teppich gewidmet, während der Inhalt des jüngsten (ca 1360) von der Schwalbenhaar-Episode als Auftakt der Brautwerbung bis zum Tod Tristans und Isoldes reicht. Eine entweder als raumteilender Behang oder als Tischdecke dienende Weißstickerei (ca 1375, Erfurt, Dommuseum) zeigt in zwei gegeneinander kopfstehenden Streifen zu je 13 Szenen die Romanhandlung von der Schwalbenhaar-Episode bis zur Bestrafung des Hofzwergs Melot, der, ohne es beweisen zu können, Tristan und Isolde des Ehebruchs beschuldigt hatte. Ähnliche Auswahlakzente setzt das wohl thüring. Fragment eines mit Applikationen versehenen Wandbehangs (ca 1375, London, Victoria and Albert Museum). Vermutlich zur Hochzeit von Laodamia Acciaiouli und Piero di Luigi Giuccardini 1395 entstand ein Deckenpaar in sizilian. Weißstickerei (Florenz, Bargello; London, Victoria and Albert Museum), dessen 14 Szenen ausschließlich Tristans Kampf mit Morolt schildern, wobei die Figuren der Handlung die Wappen der beiden Florentiner Familien auf ihren Schilden tragen. Allein die Drachenkampf-Episode wurde für einen fragmentierten elsäss. Stickteppich von 1539 (Leipzig, Museum des Kunsthandwerks), dessen einst 21 Szenen sich deutlich auf das Prosa-Volksbuch von 1498 beziehen, aus dem gesamten Themenangebot des Romans ausgewählt. Noch um 1580 wurde der Tristanstoff auf einer Folge von sieben Brüsseler Wirkteppichen (Brüssel, Ministe`re des Affaires E´trange`res; Brüssel, Muse´e Communal) dargestellt.
Häufig wurde nur eine einzige Kernszene der Vorlage herausgelöst und ⫺ oft kombiniert mit Einzelszenen aus anderen Zusammenhängen ⫺ in neuer Deutung präsentiert. Beim Tristanstoff ist dies die Baumgartenszene, in der, den Bildtyp der Sündenfall-Ikonographie reflektierend (J Adam und Eva), der vergebliche Versuch Markes, Tristan und Isolde des Ehebruchs zu überführen, zum Ideologiemodell gerinnt7. Eine Schweizer Weißstickerei von 1552 (ehemals Berlin, Schloßmuseum, 1945 verbrannt) trug die Szene, ebenso eine fragmentierte sizilian. Steppdecke, um 1395 (Florenz, Privatsammlung); auf einer
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Tapisserien
norddt. Leinenstickerei aus der 1. Hälfte des 15. Jh.s (Nürnberg, Germ. Nationalmuseum) trägt Isolde ein pfeildurchbohrtes Herz in der Hand, Tristan bietet ihr einen Ring dar. Aus anderen Erzählungen stammen vorwiegend Passagen, die Krisensituationen unterschlagen und häufig mit der Erringung einer ebenbürtigen Gattin ⫺ und damit der Grundlegung der Landesherrschaft ⫺ enden. Dem J Parzival-Stoff entnimmt ein aus der gleichen Werkstatt wie die Wienhausener Tristan-Teppiche stammender gestickter Behang (Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum)8 allein Gawans Minnebegegnung mit Orgeluse: Die gefährliche, zur Erringung von Land und Frau führende Aventiure hat offensichtlich identifikatorischen Charakter für Auftraggeber und Publikum. Ein ähnliches Programm verwirklicht der Anfang des 15. Jh.s am Mittelrhein entstandene Teppich nach Rudolfs von Ems Wilhelm von Orlens 9, der mit der ersten Begegnung der Protagonisten Wilhelm und Amelie beginnt und mit der Entführung der Geliebten endet, die folgende Problematisierung der Minne bis zur endlichen Hochzeit aber unterschlägt. Eine Reihe oberrhein. Teppiche des 15. Jh.s verbildlicht Erzählungen, bei denen es in unterschiedlichen Variationen stets um die Bewährung eines getrennten Liebes- oder Ehepaares (J Trennen, Trennung) und um das Wiederfinden und die Versöhnung mit der verlorenen oder verstoßenen Gemahlin geht10, d. h. um die Rückgewinnung von gesellschaftlicher Harmonie. Ein Straßburger Wandbehang (ca 1480/90) exemplifiziert dies anhand der alemann. Verserzählung Die Königin von Frankreich (Nürnberg, Germ. Nationalmuseum; cf. J Sibylla); sechs aus verschiedenen Straßburger Behangserien stammende Teilstücke (London, Victoria and Albert Museum; New York, The Cloisters; Köln, Museum für angewandte Kunst; Glasgow, Burrell Collection; Paris, Muse´e Cluny; Nürnberg, Germ. Nationalmuseum) tradieren das elsäss. Versepos Der Bussard (Anfang 14. Jh.) im Bildmedium11; ein rhein. Teppichpaar (Basel, Hist. Museum) schildert nach der auf Heinrich den Löwen (ATU 156 A: J Löwentreue) bezogenen Erzählung Der Herzog von Braunschweig des Michel Wyssenherre (Mitte 15. Jh.) die Orientabenteuer des Helden12; ein in Basel ge-
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wirkter Wandbehang (Besanc¸on, Muse´e des Beaux-Arts) überträgt die Erzählung Der Graf von Savoyen (Ende 14. Jh.?) ins Milieu der J Wildmenschen13. Der möglicherweise zur Hochzeit des Berner Schultheißen Petermann von Wabern mit Kunigunde von Spiegelberg, deren Wappen die Protagonisten führen, 1467 entstandene Behang kombiniert das in der oberrhein. Teppichwirkerei beliebte und in zahlreichen internat. Zeugnissen tradierte Wildmenschen-Motiv mit einem höfischen Erzählstoff: Die aufsteigende städtische Patrizierschicht bedient sich auf ihrer Identitätssuche zwar der über das Bildmedium vermittelten tradierten höfischen Lit., nimmt sie jedoch nur als Vorwand zum gesellschaftlichen Spiel statt wie einst der Adel als Anlaß zu ständischer Selbstbestätigung. 1 cf. Kurth, B.: Die dt. Bildteppiche des MA.s 1⫺3. Wien 1926; Schuette, M./Müller-Christensen, S.: Das Stickereiwerk. Tübingen 1963; Cantzler, C.: Bildteppiche der Spätgotik am Mittelrhein. Tübingen 1990; Wilckens, L. von: Die textilen Künste. Mü. 1991. ⫺ 2 Schroeder, H.: Der Topos der Nine Worthies in Lit. und bildender Kunst. Göttingen 1971; Wyss, R. L.: Die neun Helden. Eine ikonographische Studie. In: Zs. für schweiz. Archäologie und Kunstgeschichte 17 (1957) 73⫺106. ⫺ 3 Schröder, H.: Der Topos der Nine Worthies in Lit. und bildender Kunst. (Diss. Regensburg 1969) Göttingen 1971; Un Reˆve de chevalerie: Les Neuf Preux. ed. J. Favier. Ausstellungskatalog P. 2003. ⫺ 4 Rushing, J. A.: Images of Adventure. Ywain in the Visual Arts. Phil. 1995, 219⫺244. ⫺ 5 Frühmorgen-Voss, H.: Tristan und Isolde in ma. Bildzeugnissen. In: ead.: Text und Ill. im MA. Mü. 1975, 119⫺139; Ott, N. H.: ,Tristan‘ auf Runkelstein und die übrigen zyklischen Darstellungen des Tristanstoffes. In: Haug, W./Heinzle, J./ Huschenbett, D./Ott, N. H.: Runkelstein. Die Wandmalereien des Sommerhauses. Wiesbaden 1982, 194⫺239. ⫺ 6 Ricklefs, J.: Der Tristanroman der niedersächs. und mitteldt. Tristanteppiche. In: Ndd. Jb. 86 (1963) 33⫺48; Fouquet, D.: Wort und Bild in der ma. Tristantradition. B. 1971; Frühmorgen-Voss und Ott (wie not. 5). ⫺ 7 Fouquet, D.: Die Baumgartenszene des Tristan in der ma. Kunst und Lit. In: Zs. für dt. Philologie 92 (1973) 360⫺370; Ott, N. H.: Geglückte Minne-Aventiure. In: Jb. der Oswald von Wolkenstein-Ges. 2 (1982/83) 1⫺32; Curschmann, M.: Images of Tristan. In: Gottfried von Straßburg and the Medieval Tristan Legend. ed. A. Stevens/ R. Wisbey. L. 1990, 1⫺17. ⫺ 8 Ott (wie not. 7); Wilckens, L. von: Die Bildfolge von Gawan auf dem gestickten Behang in Braunschweig. In: Ndd. Beitr.e zur Kunstgeschichte 33 (1994) 41⫺56. ⫺ 9 Ott (wie not. 7); Cantzler (wie not. 1) 147⫺149, num. 1. ⫺ 10 Rapp Buri, A./Stucky-Schürer, M.: Zahm und
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Tarnkappe
wild. Basler und Straßburger Bildteppiche des 15. Jh.s. Mainz 1990. ⫺ 11 Verflex. 1 (21978) 1145⫺1148. ⫺ 12 Wilckens, L. von: Zwei Bildteppiche mit Szenen aus der Sage von Heinrich dem Löwen. In: Heinrich der Löwe und seine Zeit 3. Ausstellungskatalog Mü. 1995, 115⫺ 117; Ott, N. H.: Encounters with the Other World. The Medieval Iconography of Alexander the Great and Henry the Lion. In: Demons. ed. R. Petzoldt/P. Neubauer. Ffm. u. a. 1998, 73⫺99. ⫺ 13 Schanze, F.: Der Graf von Savoyen. In: Verflex. 3 (21981) 217⫺ 219; Ott, N. H.: Ikonographische Narrationen. Zu Gebrauchssituation und Deutungsangebot literar. Bildzeugnisse in MA. und früher Neuzeit. In: Lares 65 (1999) 101⫺117; Rapp Buri, A.: Die Geschichte des Grafen von Savoyen auf einem Basler Wirkteppich um 1475/80. In: Lit. und Wandmalerei. 1: Erscheinungsformen höfischer Kultur und ihre Träger im MA. ed. E. C. Lutz/J. Thali/R. Wetzel. Tübingen 2002, 491⫺506.
München
Norbert H. Ott
Tarnkappe (Mot. D 1361.12, D 1361.14 sq.), J Mantel, Umhang, J Hut oder andere Kopfbedeckung (mhd. tarn: verhüllen, verbergen; mhd. kappe: Kapuzenmantel; lat. cappa: Umhang, Kappe, Helm), der oder die ihren Träger J unsichtbar macht, diesem dabei aber zu sehen erlaubt. Die T. gehört zu den typischen J Zaubergaben. In der griech. Mythologie verleiht der hundshäutige Helm des Hades seinem Träger Unsichtbarkeit. Durch ihn verborgen lenkt in J Homers Ilias (5,845) Pallas Athene den Wagen des Diomedes im Kampf gegen Ares. Einen unsichtbar machenden Helm erlangt J Perseus von den Nymphen für den Kampf gegen die Medusa (Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 2,4,1⫺2,4,5). Im dt.sprachigen ma. Heldenepos ist die T. bzw. die tarnhuˆt (mhd. huˆt: J Haut) meist ein Mantel1 oder eine Kappe2; das gilt auch für das helkeppelıˆn3 (mhd. heln: verbergen, verhehlen) bzw. die nebelkappe4. T.n gehören häufig zur Ausstattung von J Zwergen5. Diese plündern z. B. im Schutz einer Nebelkappe (Mot. F 451.3.3.8.)6, die hier eine Kopfbedekkung ist, Erbsenfelder7. Mit der T. verbunden ist oft auch die außergewöhnliche J Stärke der Zwerge8. Dieser Zug findet sich bereits im Nibelungenlied: Siegfried (J Sigurd, Siegfried), der dem Zwerg Alberich die T. abnimmt, erlangt durch sie zusätzliche Kräfte (346⫺348).
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Er gebraucht die T. bei der J Freierprobe auf Isenstein (466⫺480) und in Gunthers und Brunhilds J Hochzeitsnacht (672, 680⫺700), um an Gunthers Stelle (J Stellvertreter) Brunhild zu besiegen. Das Unsichtbarwerden mittels einer T. weist Parallelen zum J Gestaltund J Kleidertausch auf; die T. wird stoffgeschichtlich mitunter als Substitution älteren Gestaltwandelzaubers dargestellt9. Die T. ist meist nicht selbstverständlicher Besitz des Helden, sondern muß erst erworben werden. Häufig geschieht dies durch Ablistung im Rahmen von AaTh/ATU 518: J Streit um Zaubergegenstände. Der Held begegnet zwei (drei) Brüdern (Knaben, Riesen, Teufeln), die um meist drei ererbte (gestohlene) Zaubergaben streiten, unter ihnen oft eine T. oder ein anderer Gegenstand (Wunschuhr, Hemd, Fes, Peitsche), der unsichtbar macht10. Der hinzukommende Protagonist wird zum J Schiedsrichter des Streits ernannt und nutzt dies, um die Zaubergegenstände unter Zuhilfenahme ihrer magischen Kräfte zu entwenden.
Nachdem der Held auf diese Weise in den Besitz einer T. gelangt ist, wird sie auffällig oft in Brautwerbungsgeschichten (J Braut, Bräutigam; J Entführung) als Requisit eingesetzt. Die T. hilft beim Bestehen von Freierproben (AaTh/ATU 519: cf. J Heldenjungfrau; AaTh/ ATU 306: cf. Die zertanzten J Schuhe). In zahlreichen Var.n von AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau wird eine T. bei der Rückgewinnung der verlorenen Gattin verwendet11. Sie kann aber auch bei der J Magischen Flucht (AaTh/ATU 313 sqq.) des Paares vor den verfolgenden Brauteltern zum Einsatz kommen12. In heutigen populären Erzählungen findet sich eine solche T. als Zaubergabe nur selten. Bekanntestes Beispiel für ihren Einsatz sind Joanne K. Rowlings Harry Potter-Romane (1997⫺2007). 1 cf. Ehrismann, O.: T. und Gestaltentausch. Erinnerungen an Siegfried. In: Doppelgänger ⫺ endlose Spielarten eines Phänomens. ed. I. Fichtner. Bern u. a. 1999, 175⫺200. ⫺ 2 Geißler, F.: Brautwerbung in der Weltlit. Halle 1955, 179 sq.; Löwis of Menar, A. von: Die Brünhildsage in Rußland. Lpz. 1923, 25, 78, 84. ⫺ 3 Laurin und der Kleine Rosengarten. ed. G. Holz. Halle 1897, V. 482, 749. ⫺ 4 Lütjens, A.: Der Zwerg in der dt. Heldendichtung des MA.s. Breslau 1911, 80 sq. ⫺ 5 ibid.; HDA 9 (1938⫺41) Nachtrag, 1030⫺1033; cf. Pfister, F.: Alexander und
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Tarzan
Anteloie. In: GRM 29 (1941) 81⫺91. ⫺ 6 HDA 9 (1938⫺41) Nachtrag, 1030⫺1032. ⫺ 7 ibid., 1064. ⫺ 8 ibid., 1062. ⫺ 9 Geißler (wie not. 2) 176⫺181; Ehrismann (wie not. 1). ⫺ 10 Eberhard/Boratav, num. 84 (IV), 175 (III), 183 (III). ⫺ 11 cf. BP 2, 318⫺335. ⫺ 12 JAFL 25 (1912) 196⫺198 (mexikan.); JAFL 37 (1924) 86⫺91 (Schoschonen).
Zürich
Tobias Bulang
Tarzan, von dem US-amerik. Autor Edgar Rice Burroughs (1875⫺1950) geschaffener Dschungelheld. Burroughs erster T.-Roman erschien u. d. T. T. of the Apes. A Romance of the Jungle 1912 komplett in der Okt.ausgabe des Abenteuermagazins All-Story1. Der einjährige Sohn eines engl. Lords wächst nach dem Tod seiner Eltern im afrik. Urwald bei einem Stamm von Menschenaffen (J Affe) auf und erhält von seiner Adoptivmutter den Namen T. (Affensprache: Weißhaut). Im Mittelpunkt der Handlung steht, wie sich T. körperlich und geistig entwikkelt, im Dschungel diverse gefährliche Abenteuer erlebt, zum Anführer der Affenhorde aufsteigt und später den Anforderungen der J Zivilisation begegnet.
Ab 1913 konnte Burroughs seine Geschichte als Forts.sroman in der New York Evening World und anderen Tageszeitungen unterbringen; kurze Zeit später erschien die Buchausgabe ebenfalls u. d. T. T. of the Apes (Chic. 1914). Die Dschungelsaga entwickelte sich in der Folge zu einem der größten Erfolge der Romanliteratur2. Die T.-Geschichten machten den Titelhelden zu einer der bekanntesten Figuren der populären Lesestoffe des 20. Jh.s. Zusätzlich zu den insgesamt 24 Bänden (1914⫺47) verfaßte Burroughs zwei Kinderbücher um T.: The T. Twins (N. Y. 1927) und T. and the T. Twins with Jad-Bal-Ja, the Golden Lion (Racine, Wisc. 1928); die unvollendete Erzählung T. The Lost Adventure wurde von Joe Lansdale abgeschlossen (Milwaukie 1995). Zahlreiche Auftritte in weiteren Medien der Unterhaltungsindustrie wie im Comic (ab 1929), im Radio (ab 1934) und bes. im Film (ab 1918) vergrößerten den Bekanntheitsgrad der Figur zusätzlich, wie auch das lukrative Geschäft mit T.-Produkten jeglicher Art3. Die T.-Figur besitzt ein großes J Identifikationspotential. In ihm sind sowohl der edle J Wilde als auch die überlebensgroße Retterfigur enthalten. Der Autor bekannte sich zur es-
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kapistischen Funktion der T.-Geschichten und sah darin auch einen Grund für ihren Erfolg bei den Lesern4. T.s weltweite Bekanntheit führte zu Bezeichnungen wie ,folk hero‘5 oder ,Pop-Ikone‘6. T. ist ein früher Superheld, der konsequent ubiquitär vermarktet wurde, und insofern ein Vorgänger J Supermans. Der literar. Wert von Burroughs’ Schöpfung wird generell niedrig eingestuft7, u. a. da der Autor im Handlungsverlauf den Zufall arg strapazierte8 und einen äußerst unwahrscheinlich anmutenden Plot anbot9. Burroughs selbst stimmte dieser Einschätzung durchaus zu10, dennoch bemühte er sich zeitlebens, dem Ghetto der Massenliteratur zu entfliehen. Um den Lesern T.s Entwicklung plausibler erscheinen zu lassen11, erfand Burroughs mit den ,Großen Affen‘ eine Menschenaffenart, die mit dem Gorilla verwandt, jedoch intelligenter sei12. Später (1927) erklärte er allerdings, daß er die Grundidee seiner T.-Erzählungen selbst für äußerst unwahrscheinlich halte13. Als Quellen der Inspiration für seine T.-Figur nannte Burroughs mehrfach die Sage von J Romulus und Remus, den legendären Gründern Roms, die von einer J Wölfin gesäugt worden waren, sowie Rudyard Kiplings Figur des Mogli in den ,Dschungelbüchern‘ (1894/95), der ebenfalls von einer Wölfin (in einem Wolfsrudel) aufgezogen wurde14. Kipling ging in seiner Autobiographie Something of Myself (1937) im Zusammenhang mit den zahlreichen Imitatoren auch auf Burroughs ein15. Die Basis für die T.-Serie wurde in den frühen Romanen gelegt: T. heiratet seine Begleiterin, die Amerikanerin Jane Porter; Sohn Jack kommt zur Welt, der später zu Korak (Affensprache: der Töter) avanciert; die Familie lebt auf einer Farm in Ostafrika, die von befreundeten Eingeborenen unterhalten wird16. Bereits mit dem zweiten Band, The Return of T. (1915), begann Burroughs, Erzählungen zu verfassen, in denen das Thema der ,lost race‘ im Mittelpunkt steht ⫺ die Entdeckung unbekannter, von der Außenwelt abgeschnittener Zivilisationen; diese Untergattung der Fantasy- bzw. Science Fiction-Literatur war von Henry Rider Haggard (1856⫺1925) gegen Ende des 19. Jh.s entwickelt worden17. Der Topos der ,lost race‘ zieht sich durch fast alle T.-Romane und gerinnt zur Formel18: T. er-
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Tarzan
fährt vom Verschwinden (Verschleppung, Gefangenschaft) einer Person und bricht zu ihrer J Rettung auf (J Suchen, Suchwanderung); dabei entdeckt er ,lost races‘ bzw. ,lost worlds‘. Damit ist zugleich eine gängige Grundstruktur der seriellen Popularliteratur beschrieben, die möglicherweise auf eine direkte Verbindung zwischen Haggard und Burroughs, zu dessen Jugendlektüre Haggards Werke zählten19, schließen läßt. Zudem bestehen auffällige Gemeinsamkeiten von Haggards ,She‘ und Burroughs’ ,La‘ in The Return of T. und in anderen T.-Romanen20: Beide Figuren beherrschen als Göttin/Hohepriesterin eine verborgene Stadt voller Reichtümer, beide versuchen vergeblich, den Helden zu verführen21. Von bleibendem Interesse sind zwei Kriegserzählungen: T. the Untamed (1919) schildert die Auseinandersetzung zwischen brit. und dt. Kolonialtruppen in Ostafrika während des 1. Weltkriegs; T. and ,The Foreign Legion‘ (1947, geschrieben 1944) hat den Kampf alliierter Soldaten gegen die jap. Besatzer Sumatras im 2. Weltkrieg zum Inhalt. In beiden Fällen werden die Gegner der Briten der Kriegspropaganda gemäß als hinterhältig, sadistisch und feige dargestellt. T. the Untamed führte in den 1920er Jahren dazu, daß der anfänglich hohe Absatz dt. T.-Ausg.n des Stuttgarter DieckVerlags wegen einer Protestwelle einbrach. Den Unmut löste hauptsächlich das von Stefan Sorel, dem Verf. der T.-Parodie T. hat geträumt (Wien 1924), nach der Lektüre der engl. Orig.ausgabe publizierte Buch T., der Deutschenfresser. Eine Studie über Völkerverhetzung (B. 1925) aus22. Bereits 1918 startete der erste T.-Stummfilm in den Kinos. Die Verfilmung von T. of the Apes (Regie Scott Sidney) gelang relativ buchgetreu, wenn auch das offene Ende des Romans einem Happy-End weichen mußte23. Der Film war, wie auch die nachfolgenden Verfilmungen, kommerziell sehr erfolgreich. Dabei wichen die Inhalte der Filme immer stärker von Burroughs‘ Erzählungen ab. Das gilt bes. für die ab 1932 u. d. T. T. the Ape Man von Metro-Goldwyn-Mayer produzierten Tonfilme mit dem Hauptdarsteller Johnny Weissmuller, in denen das Image T.s als Familienmensch neu definiert wurde24. Nach Weissmullers Rückzug 1948 ebbte der Erfolg ab. In dt. Kinos waren seine Filme nach ihrem Ver-
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bot in den 30er Jahren erst ab 1950 zu sehen. Ihre anhaltende Beliebtheit führte dazu, daß auch die anschließenden T.-Filme mit dem Hauptdarsteller Lex Barker in der Bundesrepublik Deutschland Kassenerfolge wurden. Mit dem Film Greystoke: The Legend of T. (USA 1984. Regie Hugh Hudson) wurde der Versuch unternommen, eine am ersten Roman orientierte ,realistische‘ T.-Verfilmung herzustellen. Im Vordergrund stand dabei die Darstellung der Konfrontation des Dschungelmenschen von adliger Geburt mit der viktorianischen Aristokratie. Das Zeichentrick-Musical T. (1999) aus den Disney-Studios schließlich bereitete die Geschichte stark verändert für ein Kinderpublikum auf. Der erste T.-Comic erschien 1929 zeitgleich in 13 US-amerik. Ztgen. Der Zeichner Harold (Hal) Foster bebilderte auf 300 Feldern mit untergesetzten Textblöcken die auf 15000 Wörter gekürzte Fassung von T. of the Apes, die zehn Wochen lief 25. Nach positiver Reaktion folgte 1931 eine farbige Sonntagsseite zu T. Mitte der 1930er Jahre erschien die ComicSerie in mehr als 250 Ztgen26. Nach Fosters Ausscheiden 1937 entwickelte Burne Hogarth, Fosters Nachfolger, seinen eigenen dynamischen, später manieristischen Stil. Erst mit Russ Manning kehrte in den 1970er Jahren ein T. zurück, der an die Romane erinnerte. Im Bereich der Comicbücher ist besonders Joe Kubert zu erwähnen, der mehrere T.-Bücher werkgetreu als Comic umsetzte. T.s weltweiter Medienerfolg führte zu zahlreichen Imitationen und Plagiaten. Als erfolgreichster Epigone gilt Bomba the Jungle Boy. Die Erlebnisse dieser jugendlichen T.-Kopie erschienen 1926⫺37 in 20 Romanen, verfaßt von John Duffield unter dem Pseud. Roy Rockwood. Die zunächst im südamerik. und später im afrik. Dschungel angesiedelten Geschichten erzielten mehrere Neuauflagen. 1949⫺55 wurden 12 Kinofilme zu Bomba produziert; 1967 kam eine Comic-Serie hinzu. Zu den bekanntesten europ. T.-Imitationen zählen die langlebigen Comic-Reihen Akim von Augusto Pedrazza (seit 1950) und Tibor von Hansrudi Wäscher (seit 1959). 1 Lupoff, R.: Edgar Rice Burroughs. Master of Adventure. N. Y. 1968, 180; cf. zu Burroughs allg. Brady, C. A.: The Burroughs Cyclopaedia. Jefferson,
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Tataren
N. C. 1996; Zeuschner, R. B.: Edgar Rice Burroughs. The Exhaustive Scholar’s and Collector’s Descriptive Bibliogr. of American […] Editions. Jefferson, N. C. 1996; Ullery, D. A.: The T. Novels of Edgar Rice Burroughs. Jefferson, N. C. 2001; Fenton, R. W.: Edgar Rice Burroughs and T. A Biogr. of the Author and His Creation. Jefferson, N. C. 2003. ⫺ 2 Lorenz, D.: Alles über T. Braunschweig 2 1982, 11. ⫺ 3 cf. Taliaferro, J.: T. Forever. The Life of Edgar Rice Burroughs, Creator of T. N. Y. 1999, 259. ⫺ 4 cf. Porges, I.: Edgar Rice Burroughs. The Man Who Created T. 1⫺2. N. Y. 1975, 220. ⫺ 5 Fuchs, W./Reitberger, R.: Comics. Anatomie eines Massenmediums. Mü. 1971, 65. ⫺ 6 Taliaferro (wie not. 3) 15. ⫺ 7 Nicholls, P. (ed.): The Enc. of Science Fiction. L. u. a. 1979, 97. ⫺ 8 Lupoff (wie not. 1) 186. ⫺ 9 Taliaferro (wie not. 3) 78; Porges (wie not. 4) 223. ⫺ 10 cf. Taliaferro (wie not. 3) 76. ⫺ 11 Lorenz (wie not. 2) 25. ⫺ 12 cf. ibid., 76. ⫺ 13 cf. Porges (wie not. 4). ⫺ 14 Lupoff (wie not. 1) 223. ⫺ 15 Kipling, R.: Something of Myself. L. 1937, 219; cf. Lupoff (wie not. 1) 220; Porges (wie not. 4) 217. ⫺ 16 cf. Lorenz (wie not. 2) 17. ⫺ 17 Rottensteiner, F.: Der Zauberer des Zululandes. In: Haggard, H. R.: Allan Quatermain. Mü. 1979, 347; Porges (wie not. 4) 243; Nicholls (wie not. 7) 364; Pesch, H.: Fantasy. Theorie und Geschichte. Forchheim 1982, 119; Lorenz (wie not. 2) 20. ⫺ 18 Pesch (wie not. 17) 123; Rottensteiner (wie not. 17) 348 sq. ⫺ 19 Porges (wie not. 4) 214. ⫺ 20 Lupoff (wie not. 1) 227 sq.; Pesch (wie not. 17). ⫺ 21 cf. auch Nicholls (wie not. 7) (erotisches Motiv der versuchten Verführung des Helden durch die Königin oder Hohepriesterin). ⫺ 22 cf. Lorenz (wie not. 2) 115⫺117; Taliaferro (wie not. 3) 202⫺206; Porges (wie not. 4) 599⫺610. ⫺ 23 Lorenz (wie not. 2) 129. ⫺ 24 Taliaferro (wie not. 3) 298. ⫺ 25 Porges (wie not. 4) 753. ⫺ 26 Taliaferro (wie not. 3) 293.
Bollschweil
Heinz Ludwig
Tataren, ein mit Siedlungsschwerpunkt im Wolgaraum lebendes Turkvolk, dessen nationales Territorium die Republik Tatarstan mit der Hauptstadt Kasan innerhalb der Russ. Föderation ist1. Die knapp sieben Millionen T. sind bis auf eine christl.-orthodoxe Minderheit sunnit. Muslime. Ihre Ethnogenese war ein komplexer Prozeß der Verschmelzung verschiedener, überwiegend türk. Siedler der Wolgaregion mit herrschenden Gruppen der (mongol.) Goldenen Horde. Die T. der Republik Tatarstan leben heute in einem vielgestaltigen ethnischen Umfeld mit Sprechern des Russischen, finno-ugr. Sprachen und anderer Turksprachen (J Baschkiren, J Tschuwaschen).
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Das Ethnonym Tatar wurde in der Geschichte Eurasiens als Fremdbezeichnung für eine Vielzahl von Bevölkerungsgruppen verwendet. Einen Sonderfall bilden heute die Krimtataren, die sich kulturell stärker auf das Osman. Reich orientierten und hier nicht behandelt werden2. Aber auch die eigentlichen T. sind eine durchaus heterogene Volksgruppe mit teilweise versprengten Siedlungsgebieten vom Wolgaraum bis nach Westsibirien. Dies wird im Bereich der populären Traditionen bes. bei den sibir. T. und den Mischär-T. deutlich3. Die tatar. mündl. Erzählüberlieferungen stehen trotz einer gewissen Eigenständigkeit in einem engen Verhältnis zu den Überlieferungen der muslim. Turkvölker Rußlands und Zentralasiens; bes. eng sind die Verbindungen zu den benachbarten und sprachlich nahestehenden Baschkiren. Mündl. Erzählüberlieferungen spielen bei den Wolga-T. im Vergleich zu den mittelasiat. Turkvölkern (J Kasachen, J Kirgisen) eine geringere Rolle4. Dies hängt möglicherweise mit der längeren Seßhaftigkeit und einer bedeutenderen Rolle der Schriftkultur zusammen. Texte tatar. Volkserzählungen wurden seit der Mitte des 19. Jh.s systematisch dokumentiert und beschrieben5; außerhalb des Russ. Reichs wurde die tatar. Erzählüberlieferung bes. durch die Forschungen von F. W. J Radloff 6 und G. Ba´lint7 bekannt. Eine erste Blütezeit der innertatar. schriftl. Rezeption mündl. Erzählüberlieferungen waren die beiden Jahrzehnte vor der Oktoberrevolution. Seit den 1930er Jahren wurden folkloristische Forschungen, bes. Feldforschungen, in größerem Maßstab durch die Kasaner Filiale der Akad. der Wiss.en vorangetrieben8. In der Stalinzeit (J Marxismus; J Rußland, Kap. 2.2⫺2.3) schwankte die ideologische Bewertung der tatar. Volksliteratur (und damit deren wiss. Beurteilung) bes. in Hinblick auf die Heldensagen erheblich. Weitestgehend ausgeblendet blieben in sowjet. Zeit die mündl. Überlieferungen des volkstümlichen Islam bei den T., z. B. Bittgesänge oder Heiligenlegenden. Hier hat seit den späten 1980er Jahren und bes. beginnend mit der Auflösung der UdSSR ein Paradigmenwechsel stattgefunden9. Im Zuge einer nationalen und religiösen Wiederbesinnung wird heute der tatar. populären Tradition im weitesten Sinne (Überlieferungen, Fe-
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Tataren
ste etc.) vermehrt eine tragende gesellschaftliche Rolle für die Festigung einer tatar. Identität der Republik Tatarstan zugeschrieben. Die Publ.stätigkeit auf diesem Gebiet (Volksausgaben und Kinderbücher mit Stoffen der Volksliteratur) innerhalb Tatarstans hat sich vervielfacht, dabei werden durchaus auch sowjet. Traditionen im Umgang mit Volksliteratur fortgeführt. Unter den kleinen Formen der Volksüberlieferung ist der gemeintürk. Bestand bes. bei den Sprichwörtern (mäkal‘)10 und Rätseln (tabı¨sˇmak)11 groß. Lieder und andere mündl. Überlieferungen, die sich auf Lebenslaufrituale beziehen, weisen hingegen eher eine spezifisch tatar. Ausprägung auf, z. B. Lieder, die bei der Verabschiedung der Braut aus ihrer Familie gesungen werden (kı¨z yı¨latuw gˇ¨ırları¨); dies gilt auch für Lieder und Texte, die bei Bräuchen und Festen des Jahreslaufs vorgetragen wurden12. Darüber hinaus sind Überlieferungen im Kontext landwirtschaftlicher Gemeinschaftsarbeiten der Dorfbewohner dokumentiert13. In Zusammenhang mit einer volkstümlichen islam. Religiosität stehen die Bittgedichte (mönägˇät; arab. muna¯gˇa¯t), in denen frei formulierte persönliche Anliegen in einer von religiösen Formeln geprägten Sprache vorgebracht werden14. In gebundener Sprache gehalten sind gleichfalls Gedichte (bäyet; arab. bait [Doppelvers]) über lokale und persönliche tragische Ereignisse (letztere meist aus weiblicher Perspektive gesehen)15. Einen hist. Referenzpunkt haben die zahlreichen tatar. Ortslegenden (z. B. über die Gründung und Eroberung Kasans)16. Hist. epische Erzählstoffe im Sinne der mittelasiat. Überlieferung gibt es bei den Tataren nur in Ansätzen, bes. bei den Mischär-T. und bei den T. Sibiriens, so etwa das Idegäj-Epos17. Allg. verbreitet sind hingegen schwankhafte Kurzerzählungen über den gewitzten Xugˇa Nasretdin (J Hodscha Nasreddin)18 und den frechen Betrüger Aldar Taz19, die auch bei anderen Turkvölkern bekannt sind. Das auf dem Gebiet der satirischschwankhaften Volkserzählung publizierte Material wirkt häufig im Sinne eines sozialistischen Diskurses gefärbt; der Unterschied zwischen ursprünglicheren und rezenten Var.n eines Stoffs ist nur schwer zu erkennen. Fabeln bilden einen eher marginalen Bestandteil der tatar. Erzähltraditionen20.
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Zaubermärchen machen etwa die Hälfte des dokumentierten Bestands an volkstümlichen tatar. Erzählungen aus21; sie können durchaus umfangreich sein und sind generell von größerer Bedeutung als bei den Turkvölkern Zentralasiens. Bei den tatar. Märchen mischen sich im bes. Maß oriental. Überlieferungen und regionale Traditionen des Wolgaraums. Da eine autoritative Monogr. zu den tatar. Märchen nicht existiert, ist bei der Formulierung allg. Tendenzen allerdings Vorsicht angebracht. Dies gilt um so mehr, als schon frühzeitig bei der Verschriftlichung der Märchen (z. B. durch G. Tukay, 1886⫺1913)22 die Grenzen zwischen Volks- und Buchmärchen unscharf wurden. In tatar. Märchen existiert eine häufig bäuerliche osteurop. Lebenswelt (Honig, Sauna, Beerensammeln) neben oriental. Sphären im Stil der Erzählungen aus J Tausendundeine Nacht. Tatar. Märchen erzählen immer wieder die Geschichte der abenteuerlichen J Suchwanderungen eines Helden (häufig jüngster Sohn), wobei das Objekt der Suche die Braut oder ein Schatz sein kann. Nicht selten gibt es starke weibliche Helferfiguren. Gegenspieler sind z. B. mythol. Erscheinungen wie Dämonen (diyüw; J Dev), die einsam im Wald lebende, menschenfressende J Hexe (gˇalmawı¨z) und J Schlangen23. Interessanterweise spielen die bei vielen anderen Turkvölkern phantasievoll und breit ausgestalteten J Eingangsformeln in den Märchen der T. eine geringe Rolle. Bei Erzählungen, welche die Tradition mittelasiat. Heldenepen aufnehmen, findet sich die übliche mittelasiat. Ausgangskonstellation eines nach langer Kinderlosigkeit der Eltern wundersam schnell heranwachsenden Helden (J Erwachsen bei Geburt). Rorlich, A.: The Volga Tatars. Stanford 1986. ⫺ Battal, T.: La Litte´rature des Tatars de Crime´e. In: Bazin, L. u. a. (edd.): Philologiae Turcicae fundamenta 2. Wiesbaden 1964, 785⫺792; Fisher, A.: The Crimean Tatars. Stanford 1987. ⫺ 3 Paasonen, H.: Mischärtatar. Volksdichtung. ed. E. Karahka. Hels. 1953. ⫺ 4 Matthews, D. J./Bukharaev, R. (edd.): Historical Anthology of Kazan Tatar Verse. Richmond 2000. ⫺ 5 Gatina, X.: Tatar xalı¨k igˇatı¨. Äkiyätlär (Tatar. Folklore. Märchen) 1. Kasan 1977, 10 sq. ⫺ 6 Radloff, W.: Proben der Volkslitteratur der türk. Stämme 1⫺10. SPb. 1866⫺1907, bes. t. 1 (1866), 4 (1872), 6 (1886), 9 (1907). ⫺ 7 Ba´lint, G.: Kaza´niTata´r nyelvtanulma´nyok (Kasantatar. Sprachstu1 2
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Tau
dien) 1⫺3. Bud. 1875/76/77. ⫺ 8 Urmancˇe, F. I.: Tatar xalı¨k igˇatı¨ (Tatar. Folklore). Kasan 2005, 7⫺33; Vasil’ev, M. A.: Pamjatniki tatarskoj narodnoj slovesnosti. Skazki i legendi (Denkmäler der tatar. Folklore. Märchen und Legenden). Kasan 1924. ⫺ 9 Urmancˇe (wie not. 8) 29⫺31. ⫺ 10 Isänbät, N.: Tatar xalı¨k mäkal’läre (Tatar. Sprichwörter) 1⫺3. Kasan 1959/63/67. ⫺ 11 Urmancˇeev, F. I./MiPnullin, K. M.: Tatar xalı¨k igˇatı¨. Xrestomatiya (Tatar. Folklore. Chrestomathie). Kasan 2005, 120⫺124. ⫺ 12 ibid., 43 sq. ⫺ 13 Urmancˇe (wie not. 8) 72⫺74. ⫺ 14 ibid., 302⫺ 309. ⫺ 15 ibid., 309⫺319. ⫺ 16 Urmancˇeev/MiPnullin (wie not. 11) 256⫺307. ⫺ 17 Urmancˇe (wie not. 8) 208⫺258. ⫺ 18 Äxmät, A.: Xugˇa Nasretdin mäzäkläre (Hodscha Nasreddins Schwänke). Kasan 1962. ⫺ 19 Samaletdinov, L.: Tatar xalı¨k igˇatı¨. Äkiyätlär (Tatar. Folklore. Märchen) 3. Kasan 1981, 13⫺15. ⫺ 20 Yärmi, X./Gatina, X.: Tatar xalı¨k äkiyätläre (Tatar. Volksmärchen). Kasan 1999, 5⫺74. ⫺ 21 Gatina, X./Yärmi, X.: Tatar xalı¨k igˇatı¨. Äkiyätlär (Tatar. Folklore. Märchen) 2. Kasan 1978, 5; cf. allg. Boratav, P. N.: Le Conte et la le´gende. In: Bazin u. a. (wie not. 2) 44⫺67; Jarmuchametov, Ch. Ch.: Tatarskie narodnye skazki (Tatar. Volksmärchen). Kasan 1957. ⫺ 22 Friederich, M.: Ghabdulla Tuqaj (1986⫺1913). Ein hochgelobter Poet im Dienste von tatar. Nation und sowjet. Sozialismus. Wiesbaden 1998. ⫺ 23 Urmancˇe (wie not. 8) 35⫺37.
Gießen
Mark Kirchner
Tau, Wasser, das sich bes. nachts oder in den frühen Morgenstunden auf dem Boden, auf Pflanzen oder Gegenständen in Form von Tropfen niederschlägt. Dem T. werden in der Erzählliteratur meist positive Symbolwerte zugewiesen: Er kommt vom Himmel, gilt als rein und besitzt Einfluß auf irdisches Geschehen (Mot. D 572.7, D 902.2, D 1599.6)1. In der jüd.-christl. Überlieferung2 steht der T. für Fruchtbarkeit (dies auch im europ. Volksglauben)3, für Gottes Hilfe, Segen, Gnade und Gunst (Dtn. 33,13; Ps. 133,3; Spr. 19,12), sein Ausbleiben gilt als Strafe und Fluch (2. Sam. 1,21; 1. Kön. 17,1; Hag. 1,10). Als Symbol des Lebens und dessen Erneuerung (Jes. 26,19) dient er in der christl. Natursage als Speise des J Phönix, des Vogels der Unsterblichkeit und Auferstehung4. Der Esel allerdings, der sich in der äsopischen Fabel AaTh/ATU 292: The Donkey Tries to Get a Cricket’s Voice nach dem Beispiel der Grille ausschließlich von T. ernährt, um eine süße Stimme wie diese zu bekommen, hungert sich zu Tode.
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In der Heiligenlegende weiß sich die hl. Agatha mittels des durch J Engel bereitgestellten himmlischen T.s vor dem Feuer ihres Verfolgers sicher (cf. Dan. 3,50)5. Ein Erlösungstopos der Legende scheint noch im Schwankmärchen KHM 147, AaTh/ATU 753: J Christus und der Schmied im Hinweis des Bettlers durch, er habe in der Glut des verjüngenden Schmiedefeuers gesessen wie in einem kühlen T. In Volksglauben und Volkserzählung fungiert T. als vielfältiges J Heilmittel (Mot. D 1500.1.18.1, D 2161.4.14.3)6, als eine Art J Lebenswasser (Mot. E 80.4.1); in afrik. Märchen heilt er Verstümmelungen7, in europ. J Zaubermärchen8 zumeist J Blindheit (cf. AaTh/ATU 613: Die beiden J Wanderer)9. Oft mit dem Morgentau gleichgesetzt, begegnet T. als Symbol der Frühe, der Frische, des Aufbruchs und der Sorgenfreiheit, so in der Phraseologie (,vor T. und Tag‘, ,taufrisch‘)10 und im Wanderlied (,Im Frühtau zu Berge‘)11. Aufgrund seiner angeblichen Süße (cf. Mot. F 962.7.1) wird der T. seit der Antike mit J Honig verglichen12. Antike Naturkunde, christl. Naturallegorese und Natursage deuten Perlen ⫺ den T.tropfen in Gestalt, Reinheit und Vollkommenheit ähnlich ⫺ als aus der Befruchtung einer Muschel durch T. entstanden13. Das Blut der christl. Märtyrer wird als roter T. gepriesen (cf. Mot. F 962.4.2)14. Das J Wasser des T.s ist kostbarer als J Regen und gilt im Exemplum als Luxus: Eine Frau, die nur in T. badet, wird mit Krankheit gestraft15. Demgegenüber finden sich auch negative Symbolwerte wie Vergänglichkeit (Hos. 6,4, 13,3)16 und Ausgestoßensein (Dan. 4,30; 5,21). Allerdings gilt T. nur sehr vereinzelt als wirklich schädlich (giftig: Mot. B 765.3) oder dem Dämonischen dienlich (Mot. G 303.1.5: Erschaffung von Teufeln mit Hilfe von T. ). T.tropfen werden in der Natursage und im Mythos als J Tränen der Engel (Mot. A 1132)17 oder Heiligen18, von Mond, Sternen19 oder Morgenröte20 gedeutet; in griech. (T. als Gabe des Mondes)21 und afrik. Mythen22 ist der T. nicht selten in ätiologisch-kosmologische, oft lunare Kontexte eingebunden. T. hat Zeichencharakter (Mot. R 268: T. in Fußabdruck läßt Spur erkennen), auch ex negativo: In KHM 160, AaTh/ATU 407: J Blu-
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Taub, Taubheit ⫺ Taube
menmädchen erkennt der Mann seine Frau unter den drei in Blumen verwandelten Frauen, die auf dem Feld stehen, da sie als einzige nachts im Haus verweilen kann und daher kein T. auf sie gefallen ist (Mot. H 63.1), und erlöst sie. 1
Tervarent, G. de: Attributs et symboles dans l’art profane 1450⫺1600. t. 2. Genf 1959, 325; Boedeker, D. D.: Descent from Heaven. Images of Dew in Greek Poetry and Religion. Chico, Calif. 1984; Lurker, M. (ed.): Wb. der Symbolik. Stg. 51991, 738 sq.; Becker, U.: Lex. der Symbole. Fbg/Basel/Wien 1992, 299; Bies, W.: Vom Zauber des T.s in Werken der Inklings. In: Inklings. Jb. für Lit. und Ästhetik 24 (2006) 169⫺188. ⫺ 2 Kat[snelson], J.: Dew. In: Enc. Judaica 5. Jerusalem 1971, 1600⫺1602; Lurker, M.: Wb. bibl. Bilder und Symbole. Mü. 31987, 289⫺291; Henkel, A./Schöne, A. (edd.): Emblemata. Stg. 1967, 468 sq. ⫺ 3 Stegemann [, V.]: T. In: HDA 8 (1936⫺ 37) 683⫺693, hier 684⫺687. ⫺ 4 Broek, R. van den: The Myth of the Phoenix. Leiden 1972, 340⫺356. ⫺ 5 Legenda aurea/Benz, 199. ⫺ 6 Knoop, O.: Der T. im Glauben und in der Sage der Provinz Posen. In: ZfVk. 22 (1912) 89⫺95, hier 89; Wuttke, A.: Der dt. Volksaberglaube der Gegenwart 3. Bearb. E. H. Meyer. Lpz. 41925, num. 113; HDA 8, 687⫺691. ⫺ 7 Schmidt, num. 378 A 4, cf. auch 888 B. ⫺ 8 Bies, W.: Vom Zauber des T.s ⫺ und des Märchens. In: Märchenspiegel 17,2 (2006) 22⫺29. ⫺ 9 BP 2, 472, 476; Scherf 1, 75 sq.; ibid. 2, 1374 sq. ⫺ 10 DWb. 11,1,1 (1935) 323⫺330; Röhrich, Redensarten 3 (1992) 1602. ⫺ 11 Rölleke, H. (ed.): Das Volksliederbuch. Köln 1993, 366. ⫺ 12 cf. DWb. 4,2 (1877) 1793; Vries, J. de: Altgerm. Religionsgeschichte 2. B. 21957, 384; G[utsfeld], A.: Honig. 2: Griechenland und Italien. In: DNP 5 (1998) 710. ⫺ 13 C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde. Lat.-dt. 9. Darmstadt 1979, 80⫺ 83 (9,107); Der Physiologus. Tiere und ihre Symbolik. Übers. O. Seel. Zürich/Mü. 51987, 66 sq., 118 sq.; Henkel/Schöne (wie not. 2) 732 sq.; Ohly, F.: T. und Perle. In: id.: Schr. zur ma. Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977, 274⫺292. ⫺ 14 Legenda aurea/Benz 306. ⫺ 15 Tubach, num. 1666. ⫺ 16 Eberhard, W.: Lex. chin. Symbole. Köln 1983, 278. ⫺ 17 Knoop (wie not. 6) 89. ⫺ 18 Dh. 2, 257; HDA 8, 683 sq. ⫺ 19 Schmidt, num. 98, 197 E 4. ⫺ 20 Lurker, M.: Lex. der Götter und Dämonen. Namen, Funktionen, Symbole, Attribute. Stg. 21989, 127 sq. ⫺ 21 Sittig [, E.]: Herse. In: Pauly/Wissowa 1,8,1 (1912) 1146⫺1149; Lurker (wie not. 1). ⫺ 22 Schmidt, num. 22, 65.
Berlin
Werner Bies
Taub, Taubheit J Schwerhörig, Schwerhörigkeit
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Taube, J Vogel, der fast weltweit in Mythos und Märchen gegenwärtig und in der Vorstellung der Menschen überwiegend mit positiven Eigenschaften versehen ist1. Seit der Antike2 gilt die T. als gut- und sanftmütig, eine Zuweisung, die in der christl. Tradition3 mit entsprechend religiösen Akzentuierungen fortgeschrieben wurde: Die arglose, geduldige T. ist Vorbild christl. Einfalt (Mt. 10,16) und Symbol der Unschuld. Auf die Friedfertigkeit der T. wurde in der Antike aus dem vermeintlichen Fehlen der Galle, dem Sitz des Hasses und des Neides, geschlossen, obschon einige Autoren durchaus erkannten, daß die T. in Wirklichkeit lediglich keine Gallenblase hat. Geleugnet wurde diese Erkenntnis von christl. Autoren, die nun umgekehrt aus der kanonischen Friedfertigkeit der T. ihre Gallenlosigkeit ableiteten4. Wohl auch wegen ihres Gurrens und Liebesspiels stellt die T. ein Symbol der J Liebe und Fruchtbarkeit dar. Der Göttin Aphrodite (J Venus) und altoriental. Liebesgöttinnen zugeordnet, ist die T. auch in der arab. Erzählliteratur5 erotisch und sexuell konnotiert. Für (Liebes-)Treue und Gattenliebe steht sie in der Antike sowie im Christen- und Judentum ⫺ im A. T. verknüpft mit Schönheit, Zuneigung, Zärtlichkeit und Eintracht (Hhld. 1,15; 2,12; 2,14; 4,1; 5,2; 5,12; 6,9) ⫺, sowie in der Emblematik der frühen Neuzeit6. Gepaart mit Langlebigkeit ist diese Zuschreibung auch in der chin. Symbolik belegt7. In der ma. europ. Lit. reicht die Treue der keuschen Turteltaube über den Tod hinaus; ihr Klagen ⫺ eine häufige Deutung ihres Rufs (cf. KHM 69, AaTh/ATU 405: J Jorinde und Joringel) ⫺ gilt hier als Trauer um den verstorbenen Gatten8. Bis heute ist das Turteltaubenpaar auch in der Phraseologie Sinnbild für Liebende und ,Täubchen‘ ein Kosewort9. Als Gottesvogel begegnet die (weiße10) T. in der christl. Überlieferung, sie gilt als Trägerin der göttlichen Tradition, Symbol der Reinheit und ist allgegenwärtig in christl. Erzählstoffen11, in Mirakeln, Legenden und Exempla12. Ihre Erscheinung bei der Taufe Jesu (J Christus) als Geist Gottes (Mt. 3,16; Mk. 1,10; Lk. 3,21 sq.; Joh. 1,32) kennzeichnet diesen als Erwählten, so wie sie später als göttliches Zeichen in Legende und Märchen (AaTh/ATU 517, 725: J Prophezeiung künftiger Hoheit)
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Taube
u. a. Päpste und Bischöfe ausweist13. Als Verkörperung des Hl. Geists begegnet sie ebenso im Exemplum14 und ist als solcher auch im wunderkritischen Geistlichenschwank (AaTh/ ATU 1837: J Heiliger Geist in der Kirche) präsent. Sie fungiert als Botin und Mittlerin Gottes, als dessen engelsgleiche Gesandte15, die z. B. in der Legende die hl. J Katharina mit himmlischer Speise stärkt16. Sie wohnt im Kirchenraum der Messe bei17, greift hier im Falle sündigen Verhaltens auch ein18. Häufig begegnet die (weiße) T. als Seelenvogel (J Seelentier), etwa im Volksglauben als J Seele eines unschuldig hingerichteten Mannes19; als christl. Sinnbild der reinen, keuschen und einfältigen Seele20 ist sie Seele des J Märtyrers in der Heiligenlegende21, des taufunschuldig Gebliebenen wie des geläuterten Sünders in Büßererzählungen22. Zum Symbol der Erlösung und des Friedens, oft mit einem Ölzweig dargestellt, wurde die T. in christl.-jüd. Tradition, weil sie J Noah das Ende der J Sintflut ankündigt (Gen. 8,8⫺12). Z. T. in dieser Tradition stehend, ist sie in Phraseologie und politischer Symbolik, in Kunst und populärer Ikonographie so ausschließlich zur ,Friedenstaube‘23 geworden, daß bisweilen alle anderen semantischen Zuordnungen überschrieben scheinen. Die T. ist mithin sanft, schwach, schutzsuchend und, etwa in der Emblematik, furchtsam24, in allen Gattungen traditionellen Erzählens wehrloses Opfer größerer Tiere. In Sprichwort und Fabel ist sie vor allem den Raubvögeln unterlegen25, in der christl. Tradition, hauptsächlich in der Sintflutexegese (Gen. 8,6⫺12), wird sie als gut, treu und zuverlässig in Polarität zum pflichtvergessenen J Raben, Vogel des Bösen und der Sünde26, gestellt, in der ma. Allegorese als Symbol des Kontemplativen und Geistigen im Gegensatz zum Falken als dem Repräsentanten des Aktiven und Kämpferischen27. Aus Angst sind die schutzbedürftigen T.n in der äsopischen Fabel töricht genug, sich den sie vermeintlich schützenden, in Wahrheit aber tyrannischen Falken zum König zu wählen (AaTh/ATU 231**: The Falcon and the Doves; cf. J Königswahl der Tiere). In einer hinduist. Erzählung rettet der König die schwache T. vor dem Falken, der gleiches Verständnis für sich einklagt und ⫺ es handelt sich um eine Tugendprobe ⫺ den
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opferbereiten König als Nahrungsersatz fordert28. Wenn umgekehrt ausgerechnet schwache, friedfertige T.n den wilden und bösen J Wolf, Verschlinger und Repräsentanten der Finsternis, des Dämonischen und Bösen, zerfleischen, ist in Lügenmärchen von der J Verkehrten Welt (AaTh/ATU 1935) ein kaum steigerungsfähiger Grad der Verkehrung erreicht. Als hilfsbereit begegnet die T. in der äsopischen Fabel29, als menschennahe, oft traute Helferin im Märchen30, z. B. in AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella. Sie ist J Ratgeberin, Wegweiserin, Botin und Berichterstatterin31, enthüllt Wahrheiten und erinnert an die vergessene J Braut (Kap. 6)32. Sie fungiert als Beibringerin33, etwa von Zaubermitteln wie dem Zauberschlüssel (AaTh/ATU 442: The Old Woman in the Forest). Bei alledem hilft der T. ihre Flugfähigkeit, z. B. in den Schwänken AaTh/ATU 1296 B: J T.n im Brief und AaTh/ ATU 1213: The Pent Cuckoo34. Auch in Verwandlungsepisoden, etwa in AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler35, tritt die T. auf, auch als J Tierbräutigam und oft, weil sie als anmutig gilt, als Verwandlungsform eines Mädchens oder einer Frau und umgekehrt (AaTh/ ATU 408: Die drei J Orangen; J Tierverwandlung)36. T.nmädchen stellen auch eine Var. der J Schwanjungfrau dar37. Ohnehin scheint die T. unabhängig von einzelnen bestimmten Motiven dank ihrer positiven Konnotationen und Liebessymbolik für die Liebesthematik im Märchen bes. geeignet38. Im Sprichwort ,Der Spatz in der Hand ist besser als die T. auf dem Dach‘ symbolisiert die T. das schwer Erreichbare39. Die gebratenen T.n, die dem Menschen in den Mund fliegen und zum Topos der im Überfluß vorhandenen, ohne Arbeit zugänglichen beweglichen Gaumenfreuden zählen, sind ein festes Motiv der Vorstellungen von einem J Schlaraffenland (AaTh/ATU 1930)40, aber, wie das Sprichwort mahnt, nicht real41. Eher selten sind negative Funktionen erkennbar, Eigenschaften oder Symbolwerte der T. wie z. B. die Einfalt in der Ätiologie AaTh/ ATU 240: J Eiertausch der Vögel, ihr törichter, auf fehlender Einsicht in gesellschaftliche Verhältnisse beruhender Stolz in der Fabel Die T. und die Krähe42, ihr hastiger Leichtsinn in der Fabel Die T. und das Bild43 oder Unbelehrbarkeit und Leichtsinn im Tiermärchen AaTh/
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Taube und Frosch streiten
ATU 236: J Nestbau der Vögel. Als Todesund Unglücksvogel begegnet sie in der ind. Tradition44. Erst in jüngerer Zeit wird die Krankheiten verbreitende T. als Beschmutzerin der Städte, als J ,Ratte der Lüfte‘45, gehaßt. 1
Wander 4 (1876) 1041⫺1046; DWb. 11,1,1 (1935) 166⫺168; StandDict. 1 (1949) 322; Tervarent, G. de: Attributs et symboles dans l’art profane 1450⫺1600. t. 1⫺2. Genf 1958/59, hier t. 1, 104⫺106; t. 2, 418; Hoffmann, H.: Das T.nbuch. Ffm. 21987; Lurker, M. (ed.): Wb. der Symbolik. Stg. 51991, 739; Schenda, R.: Das ABC der Tiere. Mü. 1995, 362⫺ 367; Haag-Wackernagel, D.: Die T. Vom hl. Vogel der Liebesgöttin zur Straßentaube. Basel 1998. ⫺ 2 Keller, O.: Die antike Tierwelt 2. Lpz. 1913, 121⫺ 131; Steier, [A.]: T. In: Pauly/Wissowa 8 (1932) 2479⫺2500; Hünemörder, C.: T. In: DNP 12,1 (2002) 45⫺47. ⫺ 3 Poeschke, J.: T. In: LCI 4 (1972) 241⫺244; Schmidtke, D.: Geistliche Tierinterpretation in der dt.sprachigen Lit. des MA.s (1100⫺1500). 1: Text. (Diss. B. 1966) B. 1968, 417⫺426, 436⫺439; Lurker, M.: Wb. bibl. Bilder und Symbole. Mü. 3 1987, 371 sq.; Hünemörder, C.: T. 1: Gelehrte Tradition. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 491 sq.; Grams-Thieme, M.: T. 2: Kunsthist. ibid., 492; Schwank, B.: T. 1: Biblisch. In: LThK 9 (32003) 1277; Stork, H.-W.: T. 2: Ikonographisch. ibid., 1277 sq. ⫺ 4 Dittmar, H.: Symbol der Sehnsucht aller: die Friedenstaube. Düsseldorf 1959, 21; Hünemörder (wie not. 2) 46; id. (wie not. 3) 491. ⫺ 5 Chebel, M.: Die Welt der Liebe im Islam. Mü. 1997, 407 sq. ⫺ 6 Henkel, A./Schöne, A. (edd.): Emblemata. Stg. 1967, 854⫺862, hier 857⫺860. ⫺ 7 Eberhard, W.: Lex. chin. Symbole. Köln 1983, 278. ⫺ 8 Der Physiologus. Übers. O. Seel. Zürich/Mü. 5 1987, 41 sq., hier 42; Messelken, H.: Die Signifikanz von Rabe und T. in der ma. dt. Lit. (Diss. Köln 1964) Köln 1965, 77⫺81, 95⫺106. ⫺ 9 Wander 4 (1876) 1039 sq. ⫺ 10 Zur Farbe weiß cf. Dicke/Grubmüller, num. 72, 553. ⫺ 11 Brückner, Reg. s. v. T. ⫺ 12 Tubach, num. 217, 235, 1754⫺1773, 1955, 2933, 3546, 3602, 4405, 4976. ⫺ 13 Greßmann, H.: Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderoriental. T.ngöttin. In: ARw. 20 (1920⫺ 21) 1⫺40, 323⫺359; Günter 1949, 96, 151, 249; Gunkel, H.: Das Märchen im A. T. Neuausg. Ffm. 1987, 165⫺167. ⫺ 14 Tubach, num. 1762 sq. ⫺ 15 ibid., num. 217, 235. ⫺ 16 Legenda aurea/Benz, 922. ⫺ 17 Tubach, num. 1765, 1767 sq. ⫺ 18 Brückner, 232; Dvorˇa´k, num. 1754*. ⫺ 19 Schneeweis, [E.]: T. In: HDA 8 (1936⫺37) 693⫺705, hier 696 sq., 705. ⫺ 20 Junge, L.: Die Tierlegenden des hl. Franz von Assisi. Lpz. 1932, 103⫺105. ⫺ 21 Günter, H.: Legenden-Studien. Köln 1906, 11, 19, 60, 88, 96. ⫺ 22 Moser, D.-R.: Die Tannhäuser-Legende. B./N. Y. 1977, 52⫺54, 72; id.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 255, 272, 342, 346, 465, 536 sq. ⫺ 23 Dittmar (wie not. 4) 91, 93 sq., 100 sq.,
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111⫺173. ⫺ 24 Henkel/Schöne (wie not. 6) 854 sq. ⫺ 25 Wander 4 (1876) 1041⫺1044; Dicke/Grubmüller, num. 240, 534; Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi 11. B./N. Y. 2001, 275⫺277, hier 276. ⫺ 26 Messelken (wie not. 8) I, VII, 30, 173⫺203. ⫺ 27 Ohly, F.: Probleme der ma. Bedeutungsforschung und das T.nbild des Hugo de Folieto. In: id.: Schr. zur ma. Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977, 32⫺92, hier 49. ⫺ 28 Meisig, M.: König S´ibi und die T. Wandlung und Wanderung eines Erzählstoffes von Indien nach China. Wiesbaden 1995. ⫺ 29 Dicke/Grubmüller, num. 37. ⫺ 30 Hendriks, H.: Die beseelten Tiergestalten des dt. Volksmärchens und ihre Entsprechung im Volksglauben. Diss. (masch.) Bonn 1952, 20⫺23. ⫺ 31 Al Shahi, A./Moore, F. C. T.: Wisdom from the Nile. Ox. u. a. 1978, 175; Zwernemann, J.: Erzählungen aus der westafrik. Savanne. Stg. 1985, num. 76; Schmidt 2, num. 1020, 1068, 1138. ⫺ 32 BP 2, 517 sq., 527; BP 4, 213; Goldberg, C.: The Forgotten Bride (AaTh 313 C). In: Fabula 33 (1992) 39⫺54. ⫺ 33 Hahn 1, num. 32. ⫺ 34 Moser-Rath, Schwank, 385, 436. ⫺ 35 Löwis of Menar, A. von: Finn. und estn. Märchen. MdW 1962, num. 5 (finn.). ⫺ 36 Prym, E./ Socin, A.: Der neu-aram. Dialekt des Tøuˆr ‘Abdıˆn 2. Göttingen 1881, 116 sq., 164, 180 sq., 192; Al Shahi/ Moore (wie not. 31) 62, 65. ⫺ 37 Eberhard/Boratav, num. 83. ⫺ 38 Hahn 2, num. 102. ⫺ 39 Wander 4 (1876) 669 (s. v. Spatz); Röhrich, Redensarten 3 (1992) 1602 sq. ⫺ 40 Pleij, H.: Der Traum vom Schlaraffenland. Ffm. 2000, bes. 195. ⫺ 41 Wander 4 (1876) 1041⫺1043, 1045 sq. ⫺ 42 Dicke/ Grubmüller, num. 554. ⫺ 43 ibid., num. 551. ⫺ 44 Haag-Wackernagel (wie not. 1) 148. ⫺ 45 ibid., 9, cf. 217⫺221; Meyer, H.: [Kap.] 7: 19./20. Jh. In: Mensch und Tier in der Geschichte Europas. ed. P. Dinzelbacher. Stg. 2000, 404⫺568, hier 537 sq.
Berlin
Werner Bies
Taube und Frosch streiten (AaTh/ATU 238), Tiermärchen, die im weitesten Sinn zu den J Rangstreitdichtungen zählen. Unter AaTh/ ATU 238 werden disparate Erzählungen zusammengefaßt, die sich sowohl in bezug auf die Tiere als auch die Demonstration ihrer Fähigkeiten unterscheiden. Es sind nur relativ wenige Fassungen bekannt, vornehmlich aus Osteuropa und dem Baltikum. Daneben gibt es vereinzelte Var.n im rom. Sprachraum, die inhaltlich sowohl von den osteurop. und balt. als auch untereinander stark abweichen. Zwei Tiere von unterschiedlicher Art treffen zusammen, rühmen sich ihres bes. Sehvermögens oder Gehörs und demonstrieren ihre Fähigkeiten: Ein Vogel (T., Rabe, Falke) erkennt aus großer Höhe auf der Erde ein Samenkorn (läßt ein Samenkorn fallen und sieht, wohin es fällt). Ein F. (Biene) hört es aufschlagen.
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Tauben im Brief
Der erstmals von A. J Aarne 1911 beschriebene Erzähltyp basiert auf einer finn. Fassung mit T. und F., die sonst als Handlungsträger nicht weiter vorkommen1. Aarnes knappe Inhaltswiedergabe übernahm S. J Thompson 1928 für den internat. Typenkatalog2 und ergänzte 1961 (AaTh) weitere Fassungen (lett., litau.), darunter irrtümlich frz. und russ. Var.n. ATU verweist auf sard., estn., ukr. und jap. Texte. In weiteren Fassungen sind es ein anderer Vogel (Rabe3, Falke4) und ein Insekt (Biene5), in den rom. zwei Säugetiere (Tiger und Maultier6; Katze und Hund7), die miteinander konkurrieren. In Litauen und Argentinien wurden auch Var.n aufgezeichnet, in denen zwei Menschen ihr Seh- und Hörvermögen messen8. Die Tiere sind charakteristische Repräsentanten der jeweiligen Eigenschaft; in der sard. Var. sind mit Hund und Katze zudem zwei Tierarten vertreten, die traditionell als verfeindet gelten9. Nähere Beziehungen zur heimischen Fauna oder eine symbolische Bedeutung für das jeweilige Land lassen sich nicht erkennen. Nach H. J Schwarzbaum war die altägypt. Erzählung vom Seh- und Hör-Vogel von großem Einfluß für die neueren Fassungen: Zwei Geier rühmen sich ihrer Fähigkeiten und stellen sie unter Beweis10. Einzig in einer ukr. Fassung schließen sich verallgemeinernde Überlegungen an den Wettstreit der Tiere an11. Im Gegensatz zu anderen Rangstreiterzählungen, in denen es darum geht, welches Tier in einer Eigenschaft das stärkere ist, und das körperlich unterlegene den Wettstreit durch eine List gewinnt (J Stark und schwach), messen sich in AaTh/ATU 238 die Konkurrenten in verschiedenen Disziplinen; der Streit endet unentschieden. 1 Aarne, A.: Finn. Märchenvar.n (FFC 5). Hamina 1911; Rausmaa, SK 5, num. 184 (9 Var.n). ⫺ 2 Aarne, A./Thompson, S.: The Types of the FolkTale (FFC 74). Hels. 1928. ⫺ 3 Kippar; Kerbelyte˙, LPTK; Danner, E.: Die Tanne und ihre Kinder. B. 1961, 101 (litau.). ⫺ 4 SUS; Kulisˇ, P.: Zapiski o juzˇnoj Rusi 2. SPb. 1857, 32 sq. ⫺ 5 SUS; Kippar; Kerbelyte˙, LPTK. ⫺ 6 Chertudi, S.: Cuentos folklo´ricos de la Argentina 1. Buenos Aires 1964, num. 25. ⫺ 7 Rapallo, C.: Fiabe di animali in Sardegna. Indice dei tipi. In: Brads 11 (1982⫺83) 85⫺94, hier 91. ⫺ 8 cf. Kerbelyte˙, B.: Tipy narodnych skazok (Typen von Volkserzählungen) 1⫺2. M. 2005, hier t. 1, 48 sq. und t. 2, 666; Chertudi (wie not. 6). ⫺ 9 Ra-
246
pallo (wie not. 7). ⫺ 10 cf. Schwarzbaum, Fox Fables, 236; Brunner-Traut, E.: Altägypt. Märchen. MdW 5 1979, 130⫺133. ⫺ 11 cf. Kulisˇ (wie not. 4).
Göttingen
Rita Boemke
Tauben im Brief (AaTh/ATU 1296 B), neuzeitlicher, bes. in Europa verbreiteter Erzähltyp aus dem Umkreis jener Dummenschwänke (J Dummheit), in denen die Unwissenheit eines Mannes betr. Inhalt und Funktion von J Briefen oder anderen Schriftstücken belacht wird (cf. J Analphabetenschwänke). Ein Mann (Herr, Bauer) läßt einem Freund (Bekannten, Kollegen) von seinem Diener (eine bestimmte Zahl von) Leckerbissen ([zum Essen bzw. Schlachten bestimmte] Tiere [Krebse]) überbringen und erwähnt das Geschenk in einem Begleitschreiben. Der Diener nascht davon (die Tiere [alle, einige] entwischen ihm). Als der Empfänger nach den im Brief genannten Geschenken fragt, antwortet der Diener erleichtert: ,Ein Glück, daß sie im Brief (noch da) sind.‘
Die älteste, in der mitteleurop. Unterhaltungsliteratur oft nachgedruckte und nacherzählte Var. findet sich bei J. P. de J Memel1; dort wird der Diener mit einem Korb voller Krebse ausgeschickt. Diese Fassung wurde noch im 19./20. Jh. in weiten Teilen Europas tradiert2. In verstreuten Belegen handelt es sich um andere Tiere: Vögel wie Tauben (meistens zwei)3, Krammetsvögel4 oder Rebhühner5, Fische (Aale6), Schafe7, einen Hasen8 oder einen Hund. Im letzten Falle ruft der Diener dem weglaufenden Tier nach: ,Es nützt dir nichts, ich habe die Adresse‘ (cf. AaTh/ ATU 1689 B: J Rezept gerettet)9. Nicht immer ist der Diener ein Dummkopf. In Fassungen aus dt. Schwankbüchern des 17./ 18. Jh.s präsentiert der Überbringer eine schlaue Ausrede dafür, daß er einen der im Brief genannten Kuchen (Kapaune) gegessen hat: er sei ihm entflogen10. In anderen Fassungen behauptet er, das Tier sei ihm zugedacht gewesen. Auf die schlagfertige Antwort des Empfängers, dann müsse der Diener sich für das Geschenk auch bei dem Geber bedanken, weiß er nichts zu erwidern11. Eine gleichfalls als ATU 1296 B klassifizierte Erzählung gestaltet die Pointe etwas anders:
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Taubmann, Friedrich
Ein Diener (indian. Sklave, Junge) muß jemandem einen Korb mit Trauben (Feigen, Apfelsinen) samt einem Brief bringen. Unterwegs ißt er einige der Früchte, was der Beschenkte aufgrund des Briefes erkennt. Der Diener bemerkt, der Brief habe ihn verpetzt. Als er beim nächsten Mal wieder Trauben samt einem Brief wegbringen muß, nascht er wieder davon, legt vorher aber den Brief unter einen Stein.
Dieser Schwank findet sich in dem mehrfach aufgelegten L’Adieu de l’aˆme de´vote laschant le corps (1590) des Jesuitenpaters Louis Richeoˆme12. Die Geschichte spielt dort in Brasilien13. Andere frühe europ. Fassungen, z. B. in Lope de J Vegas Drama El Nuevo Mundo descubierto por Cristo´bal Colo´n (1627) oder in John Wilkins’ Mercury, Or the Secret and Swift Messenger (1641)14, bleiben in Südoder Mittelamerika angesiedelt. Vorstufe dieses Schwanks ist eine erstmals von Petrus Martyr de Angleria in der 3. Lieferung (1516) seines De rebus Oceanicis et Orbe novo veröff., in Hispaniola spielende Conquista-Anekdote: Ein Herr schickt seinen Knecht mit gebratenen Baumratten (Capromys pilorides Pall.) zu einem Freund. Unterwegs ißt der Knecht drei. Der Freund schreibt auf dem Blatt eines Cope´ia-Baumes zurück, wie viele er empfangen hat. Als der Herr den Knecht zur Rede stellt, gesteht dieser, daß er drei gegessen hat, wundert sich aber, wie der Herr davon wisse. Darauf erwidert jener: ,Der Brief hat es mir erzählt.‘ Seitdem glauben die Eingeborenen, daß die Blätter auf Befehl der Eroberer sprechen.
Seit dem späten 17. Jh. tauchen in Mitteleuropa jedoch auch Var.n auf, die entweder nicht lokalisiert sind oder in der Region der Erzähler spielen. Die älteste Var. findet sich im Erbauungsbuch Bibl. Bilderbanquet (ca 1691)16 und wurde von A. J Strobl im Ovum Paschale (1698) nacherzählt17. Auch die wenigen bekannten mitteleurop. Var.n aus dem 19./ 20. Jh., einige fries.18 und eine von den Brüdern J Grimm nach der Vorlage von L. J Aurbacher (1834) bearb. Fassung (KHM 185, seit 1843)19, gehören zu dieser Gruppe. Jüngere Var.n aus der span.sprechenden Welt bezeugen dort die Dominanz der älteren in Amerika spielenden Fassung20. Dem Umfeld von AaTh/ATU 1296 B zuzurechnen ist auch der zum ersten Mal in der Farce de Guillerme (ca 1500)21 vorgefundene, auch in jüngerer Zeit gelegentlich notierte Schwank vom Diener, der Früchte austragen
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muß, die meisten davon aufißt, und, als er gefragt wird, wie er das gemacht hat, die letzte nimmt und sagt: ,So.‘22 1 Moser-Rath, Schwank, 392 sq., 446. ⫺ 2 Kristensen, E. T.: Molbo- og aggerbohistorier 1⫺2. Viborg/ ˚ rhus 1893/1903, hier t. 1, num. 59 und t. 2, num. A 161; Het grappige boek. Tiel 1855, 1; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Leer 1994, num. 73 (oldenburg.); György, num. 29; SUS; Schullerus, P.: Rumän. Volksmärchen aus dem mittleren Harbachtal. ed. R. W. Brednich/I. Talos¸. Buk. 1977, num. 30. ⫺ 3 Christensen, A.: Molboernes vise Gerninger. Kop. 1939, num. 48; van der Kooi; György, num. 29. ⫺ 4 Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg. ed. S. Neumann. B. 1963, num. 19. ⫺ 5 Neumann, S.: Ein mecklenburg. Volkserzähler. B. 1968, num. 17. ⫺ 6 Christensen (wie not. 3); Neumann, S.: Der Ochse als Bürgermeister. Rostock 1999, num. 68 (aus Pommern); Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 3. Jena 1900, num. 209. ⫺ 7 Christensen, A.: Pers. Märchen. MdW 1958, num. 20. ⫺ 8 Archiv van der Kooi, Groningen (ndl. Kalendergeschichte); van der Kooi; Stroescu, num. 3218. ⫺ 9 ibid.; cf. auch Meulemans, A.: Leuvense Almanakken (1716⫺1900). Antw. 1982, num. 1508. ⫺ 10 EM-Archiv: Zincgref/Weidner, Apophthegmata 5 (1655) 7. ⫺ 11 ibid. 4 (1655) 162; Exilium melancholiae (1643) 508, num. 27; Lexicon apophthegmaticum (1718) 405, num. 1980. ⫺ 12 Irimia-Tuchtenhagen, S.: Richeoˆme, L. In: Biogr.-bibliogr. Kirchenlex. 18. Herzberg 2001, 1896⫺1898. ⫺ 13 Wesselski, A.: Ein amerik. Motiv in einem Grimmschen Märchen. In: Euphorion 30 (1929) 545⫺551, hier 546 sq. ⫺ 14 cf. Eco, U.: Die Grenzen der Interpretation. Mü. 1995, 12 sq. ⫺ 15 Wesselski (wie not. 13) 548. ⫺ 16 Birlinger, A.: Nimm mich mit! Fbg 1871, 279⫺283 (aus Schwaben). ⫺ 17 Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 95. ⫺ 18 van der Kooi 1296 B*; Kooi, J. van der/ Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 104. ⫺ 19 KHM/Uther, num. 185. ⫺ 20 Hansen, num. *1709 F; Espinosa, A. M.: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 2. Madrid 1988, num. 290. ⫺ 21 Viollet LeDuc, E. L. N. (ed.): Ancien The´aˆtre franc¸ois 1. P. 1854, 328. ⫺ 22 ZfVk. 16 (1906) 32 sq.; Gasˇparı´kova´, num. 549.2.
Groningen
Jurjen van der Kooi
Taubmann, Friedrich, * Wonsees (Oberfranken) 15. 5. 1565, † Wittenberg 14. 3. 1613, dt. klassischer Philologe und neulat. Dichter. Nach dem Schulabschluß an der neugegründeten Fürstenschule im ehemaligen Zisterzienserkloster Heilsbronn (1590) erteilte T. als
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Taubmann, Friedrich
Hofmeister Unterricht bei fränk. Adelsfamilien. 1592⫺95 studierte er mit einem Stipendium des Kurfürsten Christian II. an der Univ. Wittenberg. 1593 krönte ihn der neulat. Lyriker Paul Schede (1539⫺1602) zum poeta laureatus. 1595 wurde T. zum Magister promoviert und auf den Lehrstuhl für Poesie und Rhetorik berufen, den er bis zu seinem Tod innehatte. Als erstes Werk T.s erschienen Lusos duo juveniles: Martinalia & Bacchanalia (Wittenberg 1592, erneut 1593), satirische Kleinepen auf die Martinsgans (J Martin, Hl.) sowie Fastnachtsgedichte. Die später veröff., mehrfach aufgelegten Melodaesia (Lpz. 1597 u. ö.) und Schediasmata poetica (Wittenberg 1604 u. ö.) umfassen neben Wiederveröffentlichungen weitere frühe Stücke (Juvenilia) sowie geistliche, panegyrische und epigrammatische Dichtungen. Von T.s Werken wirkten bes. die Abhdlg über die lat. Sprache (Dissertatio de lingua Latina. [Wittenberg] 1602 u. ö.) sowie die kommentierten Ausg.n von J Plautus (1605 u. ö.) und J Vergil (1618 u. ö.) nach1. Das Interesse an T. bezeugen zwei viele Jahrzehnte nach seinem Tod verfaßte Biogr.n2. Wegen seiner „scherzhaften Reden und lustigen Einfälle“3 war T. als Univ.slehrer und enger Vertrauter seines sächs. Landesherrn sehr beliebt. Bereits zu Lebzeiten kursierten offenbar zahlreiche Anekdoten und Witzeleien, die vereinzelt in die Schwankbücher des 17. Jh.s gelangten4. Sie zeigen T. als weisen J Narren und Spaßmacher, als humorvollen, intelligenten, schlagfertigen und gewitzten Menschen. Kumuliert erscheinen solche Begebenheiten über T.s Leben und Tod innerhalb der in Gelehrtenkreisen kursierenden Ana-Lit. Die Ausg. Tavbmaniana/ Oder/ Des Sinnreichen Poetens/ F./ T.s/ Nachdenckliches Leben/ Scharffsinnige Sprüche/ Kluge Hof-/ und scherzhaffte/ Studenten-Reden/ wie auch Dessen/ Denckwürdige Gedichte/ artige Begebenheiten/ Und was dem allen gleichförmig war in der 1. Hälfte des 18. Jh.s mit einem guten Dutzend Aufl.n (Ffm./Lpz. 1703, 1704, 1707, 1717 u. ö.) ein ungewöhnlicher Publikumserfolg. Das Werk kompiliert in vier Teilen (1) Äußerungen berühmter Personen über T., (2) eine Biogr. und (4) einige seiner ,ernst- und scherzhaften‘ Gedichte. Im dritten und umfangreichsten Teil sind T. zugeschriebene
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Apophthegmata, Bonmots, Anekdoten, Wortwitze, Wortspiele, Scherz- und Rätselfragen etc. versammelt. Vergleichbar anderen Narrenfiguren der Erzählüberlieferung seit der Renaissance (z. B. Arlotto J Mainardi, J Gonnella, J Claus Narr, Cle´ment Marot), diente T. als J Kristallisationsgestalt für umlaufende Wanderstoffe5, wie z. B. die bes. mit T.s Namen verbundene Anekdote vom J Brotlöffel oder die Schwänke AaTh/ATU 1528: J Neidhart mit dem Veilchen (hier Erdbeere) und AaTh/ATU 1698 C: Two Persons Believe Each Other Deaf (cf. J Schwerhörig, Schwerhörigkeit) zeigen6. Andere Anekdoten aus dem Alltagsleben T.s sind nur in Verbindung mit seinem Namen überliefert worden und könnten autobiogr. Züge tragen, auch wenn genretypisch um der Pointe willen Übertreibungen einkalkuliert werden müssen: So heißt es, T. sei schon während der Schulzeit um kluge Antworten nicht verlegen gewesen7. Andere Anekdoten zeigen T. als Kirchenkritiker, wenn er den Namen des zeitweilig am sächs. Hof weilenden Kardinals M. Khlesl mittels eines Kryptogramms abfällig deutet8 oder die papistischen Seelsorger mit Hilfe eines Buchstabentausches als große Esel (cf. J Papst) hinstellt9. Die Anekdoten tragen durchaus sozialkritische Züge und sparen weder Ständekonflikte noch Spott aus. T. äußert sich über Mißstände in der universitären Ausbildung, scherzt über den eigenen Berufsstand, prangert die schlechten Gewohnheiten von Studenten an und läßt sich im Gewand des Narren über geldgierige Adlige, überhebliche Geistliche, vorwitzige und heuchlerische Hofbedienstete, Ärzte, betrügerische Advokaten und Handwerker aus. Von den Tavbmaniana gibt es wenigstens zwei spätere Teilausgaben, in denen die zahlreichen lat. Sentenzen ins Deutsche übertragen sind bzw. erklärt werden (1797, 1831). Sie hielten das Interesse des gehobenen Bürgertums an T. und den mit ihm verbundenen Anekdoten wach10. Darüber hinaus finden sich T.-Anekdoten vereinzelt11 oder reihenweise12 in der Unterhaltungsliteratur des 18./19. Jh.s und gingen mit dem Namen T. verbunden in Sprichwortsammlungen13 ein; gelegentlich kam es zu Wiederabdrucken von T.-Anekdoten in neueren Slgen14.
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Tauchen nach dem Spiegelbild ⫺ Taucher
1
Genthe, W. G.: F. T. als Mensch und Gelehrter. Lpz. 1859; Ebeling, F. W.: F. T., ein Kulturbild. Lpz. 1882 (21884, 31887); Hofmann, M.: F. T. aus Wonsees. In: Archiv für die Geschichte von Oberfranken 45 (1965) 117⫺133; Münch, D.: Der humorvolle Poet und Philologe F. T. aus Oberfranken. Bayreuth 1984; Wiegand, H.: T., F. In: Killy, W. (ed.): Lit.lex. 11. Gütersloh/Mü. 1991, 310; Dünnhaupt, G.: F. T. In: Personalbibliogr.n zu den Drucken des Barock 6. Stg. 1993, 4004⫺4028. ⫺ 2 Brandt, F.: Gläntzende Tauben-Flügel / das ist: Ausführlicher Ber. / Von dem Leben und Todt Herrn F. T.s […]. Kop. 1675; [anonym:] T.us Redivivus et Defensus. Wahrhafftige Beschreibung des Löblich-geführten Lebens Friderici T.i […]. Helmstedt 1699 (1700). ⫺ 3 [Zedler, J. H.:] Grosses Universal-Lexicon aller Wiss.en und Künste 42. Lpz. 1744, 216 sq., hier 216. ⫺ 4 z. B. EM-Archiv: Gerlach, Eutrapeliae 3 (1656) num. 578; Gepflückte Fincken (1667) num. 64, 141, 142, 144; Fasciculus facetiarum (1670) 201, 203, 207, 210; Zeitvertreiber (41685) 87⫺91 (10 Texte); Arlequin (1691) 91, 92. ⫺ 5 cf. Nachweise bei Moser-Rath, Schwank, 76⫺78, 430 sq., 441. ⫺ 6 Hier zitiert nach Tavbmaniana […]. Ffm./Lpz. 1717, 198, 165⫺168, 215⫺217. ⫺ 7 ibid., 83⫺88. ⫺ 8 Schmidt, L.: Die Volkserzählung. B. 1963, 343⫺349. ⫺ 9 Tavbmaniana (wie not. 6) 124 sq., 120 sq. ⫺ 10 Simon von Cyrene [Pseud.]: T.s Leben, Anekdoten, witzige Einfälle und Sittensprüche. P. 1797; ferner T.iana […]. Kritisch bearb. von Prof. [E. F. C.] Oertel. Mü. 1831. ⫺ 11 z. B. EM-Archiv: Sinnersberg, Belustigung (1747) num. 275⫺289 (T.-Anekdoten unter dem Namen Gutsmuth); Buch der Weisen und Narren (1705) num. 491; Apophthegmata (1705) 34. ⫺ 12 EM-Archiv: Neues Vademecum (1786) t. 2, num. 4⫺44, 201⫺244, 342⫺346, 367⫺372, 375⫺389, 391, 394, 414⫺453 und t. 3, num. 1⫺23. ⫺ 13 Wander, K. F. W.: Sprichwörter-Lex. CD-ROM B. 2001, s. v. T. (11 Aussprüche). ⫺ 14 z. B. Kapfhammer, G.: Bayer. Schwänke. Düsseldorf/Köln 1974, 190⫺194.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Tauchen nach dem Spiegelbild J Spiegelbild im Wasser Taucher (AaTh/ATU 434*), sagenhafte Erzählung über einen Fischmenschen: Ein junger Mann, dessen Leidenschaft das Tauchen ist, lebt lieber im Wasser als auf dem Land. Durch den J Fluch seiner Mutter wird er in einen Menschen mit Fischmerkmalen verwandelt. Der König, der auf den T. aufmerksam wird, schickt ihn von Mal zu Mal weiter und tiefer in das Meer, damit er die J Unterwasserwelt und Fundamente seines Inselkönigreichs erkunde. Als sich der T. eines Tages weigert, eine gefährliche Tiefe zu ergründen, wirft
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der König seine Krone ins Meer. Obwohl der T. Schlimmes ahnt, kann er sich dem Befehl des Königs nicht widersetzen. Von seinem Tauchgang kehrt er nicht wieder zurück1.
Der Verbreitungsschwerpunkt der T.-Erzählung liegt in der Gegend von Neapel und auf Sizilien. Dort trägt der junge Mann den Namen Nicola (kurz Cola), Niccolo` und den Beinamen Pesce oder Piscis (ital. bzw. lat. für Fisch)2. Sporadisch ist die Thematik auch für Griechenland3, Frankreich4, Spanien5, entfernt auch für Estland6 und Puerto Rico7 belegt. Ein Überblicksartikel, der zahlreiche schriftl. und mündl. Quellen des MA.s und der frühen Neuzeit nennt, stammt von H. Ullrich8. Eine umfangreiche Darstellung der ital. Var.n lieferte G. J Pitre`9. Eine ausführliche Monogr. liegt von K. J. Heinisch vor10. Die neueren Arbeiten von G. B. J Bronzini und F. La Guardia diskutieren die ital. Textbelege und Studien und erörtern Bezüge zur antiken Mythologie11. Stoffgeschichtlich bedeutend ist im Zusammenhang mit AaTh/ATU 434* bes. die Erzählung von J Theseus, der König Minos zum Beweis seiner Abstammung von Poseidon einen ins Meer geworfenen Ring hochholt (Pausanias, Graeciae Descriptio 1,17,3)12. Auch wird ein Bezug zum hl. J Nikolaus als Schutzpatron der Seefahrer und der Stadt Bari hergestellt, der einen Knaben rettet, als diesem ein Opferbecher ins Meer fällt und er dabei über Bord geht13. Die erste namentliche Erwähnung des T.s als ,nichola debar‘ (ca 1190) stammt von dem prov. Troubadour Raimon Jordan14. Ungefähr zeitgleich erzählt Walter J Map in seinem Werk De nugis curialium (4,11; ca 1183/1198) von Nicolas Pipe, der Gegenstände vom Meeresgrund heraufhole und die Schiffe vor Unwetter warne; als der sizilian. König Wilhelm ihn zu sich holen läßt, stirbt er, weil ihm das Meer fehlt15. Weitere Erzählbelege finden sich u. a. bei J Gervasius von Tilbury (Otia Imperialia; ca 1210)16 und Pedro J Mexı´a (Silva de varia leccio´n 1,13; 1553)17. Von letzterem dürfte J Cervantes Kenntnis gehabt haben, der im Don Quijote (2,18; 1615) erwähnt, daß ein fahrender Ritter u. a. „schwimmen können muß wie der Nicolao oder Niccolo` Pesce es den Berichten nach konnte“18. Bei Athanasius J Kircher (Mundus
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subterraneus 2,15; 1664/65), dem „Kronzeugen aller Taucher-Erzählungen der Folgezeit“19, wird Pescecola als eine reale Person beschrieben: Er lebt vom Austern- und Korallensammeln und ist als Briefbote für die Fischer tätig; Seeleute halten ihn zunächst für ein Seeungeheuer, lassen sich aber von ihm gegen eine Mahlzeit unterhalten. Durch seinen dauernden Aufenthalt im Wasser ähnelt er mehr einer Amphibie als einem Menschen: So sind ihm zwischen den Fingern Schwimmhäute gewachsen, und die Lunge ist so ausgeweitet, daß er einen ganzen Tag lang unter Wasser bleiben kann20.
Der Stoff war nach der Renaissance auch in literar. Werken beliebt und erlangte bes. durch J Schillers Ballade Der T. (1797) Berühmtheit. Schillers mutmaßliche Qu. war das Hausbuch Tisch-Gebete und Unterhaltungen in Liedern und Versen (1790) des württemberg. Pfarrers C. G. Göz, bei dem die Geschichte des Tauchgangs um den goldenen Königsbecher als Exempel gegen allzu große Gewinngier dient21. Schiller arbeitete den Stoff zu einer Liebesgeschichte zwischen dem T. und der Königstochter um. Ludwig J Tieck verwendete den Stoff in der auf Dialogen aufgebauten Novelle Wassermensch (1835). Das Motiv wird im Sonett Nicola Pesce (1882) von Conrad Ferdinand Meyer in „ein kleines narzißtisches Lehrstück“ überführt22. Darüber hinaus wurde die T.-Erzählung in Schauspielen23 und Werken der Kinder- und Jugendliteratur24 adaptiert. Ein estn. Ökotyp von AaTh/ATU 434* kann auf Schillers Dichtung zurückgeführt werden: 1878 schrieb der estn. Schriftsteller Carl Robert Jakobson die Ballade zu einem Märchen um. Bei ihm verwandelt sich der Held in eine Ente, welche die in das Meer geworfene Schmuckspange der umworbenen Königstochter nach oben holt; märchenhafte Elemente sind hinterlistiger Nebenbuhler und glücklicher Ausgang25. Diese Fassung diente offensichtlich als direktes Vorbild für Märchentexte, die den Sammlern J. J Hurt und M. J. J Eisen zugeschickt wurden26. A. J Aarne nahm den Stoff aufgrund von zwei Var.n des estn. Folklorearchivs in den estn. Typenindex auf27 und ordnete die Erzählung als Subtyp 434* dem Typ AaTh/ATU 434: Der gestohlene J Spiegel zu. 1 cf. Calvino, I.: Fiabe italiane. Turin 1956, num. 147. ⫺ 2 Croce, B.: La leggenda di Niccolo` Pesce. In: Giambattista Basile 3 (1885) 49⫺52; id.: La Le´gende
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du plongeur a` Naples. In: Me´lusine 3 (1886⫺87) 38⫺42; Pitre`, G.: Studi di leggende popolari in Sicilia e nuova raccolta di leggende siciliane. Turin 1904, 1⫺173; Calvino (wie not. 1). ⫺ 3 Meyer, G.: Il Cola Pesce in Grecia. In: Archivio per lo studio delle tradizioni popolari 14 (1895) 171 sq.; Politis, N. G.: Cola Pesce in Grecia. ibid. 22 (1903) 212⫺217. ⫺ 4 Zs. für Völkerpsychologie und Sprachwiss. 15 (1884) 478; 17 (1887) 131 sq.; Ullrich, H.: Beitr.e zur Geschichte der T.sage. Progr. Dresden 1884, 3⫺8, hier 7 sq. ⫺ 5 Croce, B.: La storia popolare spagnola di Niccolo` Pesce. In: Napoli nobilissima 5 (1896) 141⫺143; Baroja, C.: El ,Pesce Cola‘ o el ,Peje Nicolao‘. In: Revista de dialectologı´a y tradiciones populares 39 (1984) 7⫺16. ⫺ 6 Järv, R.: Tracing the Original. Baltic Sea Islands in Estonian Fairy Tales. In: J. of Indian Folkloristics N. S. 5 (2003) 49⫺66. ⫺ 7 JAFL 39 (1926) 291 sq. (puertorikan.). ⫺ 8 Ullrich (wie not. 4). ⫺ 9 Pitre` (wie not. 2). ⫺ 10 Heinisch, K. J.: Der Wassermensch. Entwicklungsgeschichte eines Sagenmotivs. Stg. 1981. ⫺ 11 Bronzini, G. B.: Cola Pesce e il tuffatore. Dalla leggenda moderna al mito antico. In: Lares 66 (2000) 341⫺376; La Guardia, F.: La leggenda di Cola Pesce fra mito antico e studi moderni. ibid. 69 (2003) 535⫺ 562. ⫺ 12 cf. Heinisch (wie not. 10) 278; La Guardia (wie not. 11) 539⫺545. ⫺ 13 Heinisch (wie not. 10) 24 sq.; Bronzini (wie not. 11) 364 sq. ⫺ 14 Pitre` (wie not. 2) 358; Heinisch (wie not. 10) 32 sq. ⫺ 15 ibid., 33 sq. ⫺ 16 Liebrecht, F. (ed.): Des Gervasius von Tilbury ,Otia Imperialia‘. Hannover 1856, 11 sq.; cf. Heinisch (wie not. 10) 34 sq. ⫺ 17 ibid., 74⫺78. ⫺ 18 Cervantes Saavedra, M. de: Don Quijote de la Mancha. ed. A. M. Rothbauer. Stg. 1964, 801. ⫺ 19 Heinisch (wie not. 10) 162. ⫺ 20 ibid., 162⫺168.⫺ 21 Breymayer, R.: Der endlich gefundene Autor einer Vorlage von Schillers ,T.‘: Christian Gottlieb Göz (1746⫺1803). In: Bll. für württemberg. Kirchengeschichte 83⫺84 (1983/84) 54⫺96. ⫺ 22 cf. Matt, P. von: Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte. Mü./Wien 1998, 127. ⫺ 23 Scott, T. F: The Boy from the Sea. A Legend of Sicily. Odessa, Tex. 2005; Buttitta, I.: Colapesce. Messina 1986. ⫺ 24 Susani, C.: Cola Pesce. Mailand 2004; Robb, P.: Midnight in Sicily. L. 1999. ⫺ 25 Jakobson, C. R.: Niglas ja kuninga tütar (Niglas und die Königstochter). In: Sakala Lisaleht 16 (1878) 3 sq.; cf. Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 95. ⫺ 26 Eesti Rahvaluule Arhiiv (Estn. Archiv für Vk.) H I 4, 756/9 (3); H I 5, 320 (2); E 11949/54; E 22761/9; cf. Järv (wie not. 6). ⫺ 27 Aarne, A.: Estn. Märchen- und Sagenvar.n (FFC 25). Hels. 1918, 28.
Tartu
Risto Järv
Taufe. Als T. bezeichnet man allg. das Eintauchen, Besprengen oder Begießen mit J Wasser, im speziellen das christl. J Sakrament
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der T. als Sinnbild der Aufnahme der getauften Person in die Gemeinschaft der Gläubigen1. Die Struktur des Ritus lehnt sich an die bibl. Bußtaufe im Jordan durch den hl. J Johannes Baptista an. Die zugehörige Taufformel umfaßt Glaubensbekenntnis, Anrufung des dreifaltigen Gottes (J Trinität), Abschwören vom Bösen, Salbung und Handauflegen als Übereignung an Gott, Anlegen des weißen Taufkleides und Übergabe der brennenden Kerze als Eintrittsritus zu den Heilsgütern der Kirche. Wenngleich nach wie vor fester Bestandteil der J Initiation in eine christl. Gemeinschaft, ist die T. bes. in den westl. Gesellschaften „oft zu einer religiösen Verbrämung der natürlichen Geburt verkommen“2. Beim Taufakt nennt der Taufpate (J Pate, Patin) oder Familienstellvertreter den vorher gewählten Eigennamen des Täuflings, früher häufig einen J Namen, zu dessen Träger die Eltern oder Taufpaten einen bes. Bezug hatten3: Nikolaus von Tolentino erhielt bei der T. den Namen des hl. J Nikolaus von Myra, dem seine Eltern eine Wallfahrt versprochen hatten4; der Erzmärtyrer J Stephan soll der schwangeren Mutter des späteren Königs Stephan von Ungarn im Traum erschienen sein und ihr den Taufnamen des ungeborenen Kindes mitgeteilt haben5. Auch der Tagesheilige spielte bei der Namengebung eine wichtige Rolle, wie etwa bei J Luther, dessen Namenspatron der hl. J Martin von Tours ist6. In Legenden taufen im Namen Gottes Päpste und Heilige: J Petrus tauft die hl. Perpetua, Linus deren Sohn7, Sylvester den Kaiser J Konstantin d. Gr., der hl. Antoninus den 30jährigen Augustinus und dessen Sohn. Nach der T. der hl. J Katharina erschien ihr im Traum J Christus und steckte ihr einen kostbaren Ring an den Finger zum Zeichen, daß sie jetzt eine Braut Christi sei8. Die altkirchliche Auffassung der T. erhielt in der Schrift De baptismo des Augustinus die im Christentum über die Reformation hinaus gültige Richtschnur9; für die Taufliturgie der luther. Kirchen ist Luthers Taufbüchlein von 1526 die maßgebliche Urform geworden10. Nach Augustinus ist der Glaube die Voraussetzung für die geistige Wiedergeburt in der T. Getauft wurde zunächst in Brunnen oder Flüssen, seit dem 6. Jh. in kirchlichen Taufbekken oder eigenen Taufkapellen, den Baptiste-
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rien. Die Taufkirche des Lateran in Rom soll an jener Stelle stehen, an der Kaiser Konstantin getauft worden ist11. Exempla verweisen darauf, daß der Gläubige in der Kirche getauft sein muß12. Für die J Legenda aurea ist die Kirche „das Wirtshaus Gottes, darin die Sakramente vollbracht werden“13. Beispielerzählungen deuten Glaubensinhalt und Taufhandlungen in allen Details aus14. Die T. spendet normalerweise ein kirchlicher Amtsträger, doch im Notfall vermag jeder Getaufte den Priester zu ersetzen. Daß Christus selbst der eigentliche Spender der T. ist, deuten Heiligenviten narrativ aus, so für Christina, Calixtus, Venerandus von Troyes oder das Kind der Spanierin Lucia in der Gefangenschaft15. Bei der T. der Ämilia Bicheria flog eine J Taube als Zeichen des Hl. Geistes dreimal um das Baptisterium und ließ sich auf dem Kopf des Täuflings nieder16. Geschichtlich stand die Erwachsenentaufe am Beginn; der Übergang zur Kindertaufe erfolgte jedoch im Osten wie im Westen schon im späten Altertum. Die christl. Kirchen praktizieren heute sowohl die Kinder- als auch die Erwachsenentaufe; Baptisten, Adventisten u. a. Freikirchen jedoch befürworten eine persönliche Glaubenstaufe. Aus den Taufregistern konnte bis in die Neuzeit der Geburtstag des Kindes ermittelt werden, da die T. wegen der hohen Säuglingssterblichkeit unmittelbar nach der Geburt gefordert war. Den J Seelen der Ungetauften wies man als ewigen Aufenthaltsort nur den sog. Limbus zu, d. h., ihnen blieb angeblich der Himmel verschlossen. Ma. Legenden sprechen daher von der Notwendigkeit, sogar Totgeborenen Lebenszeichen zu entlocken, um sie taufen zu können, wofür sich vielfach bes. Gnadenorte zur ,Erweckungstaufe‘ entwickelten17. Eine kurzzeitige Erweckung Verstorbener zur T. wird etwa dem hl. J Patrick (Tubach, num. 475) oder dem hl. Martin zugeschrieben18. Noch um 1900 erwirkten Missionare Hinrichtungsaufschub für Aufständische in Afrika, um diese taufen zu dürfen19. Das Wasser für die T. weiht der Geistliche in der kathol. Kirche bis auf den heutigen Tag in der Osternacht20. Dem Taufwasser wurde eine heilende Wirkung zugeschrieben21. Die Legenda aurea berichtet aus mehreren Quellen über die T. Konstantins d. Gr.: Eine Quelle
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weiß, er sei dadurch vom Aussatz befreit worden, eine andere, er habe die T. so lange aufgeschoben, bis er sie am Jordan vollziehen lassen konnte22. Das Wasser für die T. schlug Bischof Septimus wie J Moses aus dem Felsen (J Quellwunder)23, es konnte aber auch aus Feuer kommen (Mt. 3,11)24 oder aus den Wolken25. Noch heute bevorzugt das span. Königshaus Jordanwasser für die T. seiner Nachkommen26. Einige christl. Denominationen wie die Quäker kennen in der Tradition des ma. Manichäismus nur die ,Geisttaufe‘ durch Handauflegen, da sie bewußt auf alle ,materialistischen‘ Zeichen verzichten27; andere lassen nur das vollständige Untertauchen der Erwachsenen in Wasserbecken bis hin zum körperlich fühlbaren Absterben im Eiswasser und zum Aufwärmen des neuen Menschen gelten28. Auch die Chrisamsalbe, ein vom Bischof geweihtes wohlriechendes Öl, mit dem der Täufling auf der Stirn gesalbt wird, besitzt Erzählwert: Als das Chrisam bei der T. des heidnischen Königs Chlodwig fehlte, brachte eine Taube für St. Remigius es vom Himmel; seitdem in Reims in einer Ampulle aufbewahrt, diente es der Salbung der frz. Könige29. Korporative T.n im Urchristentum, die in der gesellschaftlichen Funktion des ,ganzen Hauses‘ von Familienverbänden begründet waren, unterscheiden sich von frühneuzeitlichen Berichten über Massen- und Einzeltaufen im Zusammenhang der Türkenkriege30 oder der Eroberung Südamerikas bis hin zur Niederwerfung der Kolonialrevolten in Afrika31. Sie zeigen einerseits europ. Unverständnis für fremde Kulturen und andererseits das positive Bestreben der christl. Missionare, die Menschenwürde der Farbigen auch durch deren T. zu bestätigen. In der sog. Bluttaufe erlangt der J Märtyrer die göttliche Gnade, wobei sich Aufopferung in Erlösung, Passio in himmlische Seligkeit verwandelt. Schon im 5. Jh. verehrte man daher die unschuldigen Kinder von Bethlehem als Erstlingsmärtyrer, „denn sie wurden von ihrem Blute getauft und aller Erbsünde ledig“32. Die hl. Katharina stärkte die 50 ,Meister der Weisheit‘ vor ihrem Feuertod ohne vorherige T. mit den Worten: „Fürchtet euch nicht, denn euer Blut wird euch taufen und krönen.“33 Der hl. J Georg tröstete Alexandria, die Gattin des Tyrannen Dacianus, wäh-
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rend ihres Martyriums mit den Worten: „[…] die Ausgießung deines Blutes wird deine Taufe sein und deine Krone.“34 Der Gedanke, allen Menschen zur vita beatifica zu verhelfen, führte zu theol. Vorstellungen wie der ,Begierdetaufe‘. In der Legenda aurea findet sich die Geschichte von dem heidnischen, jedoch gerechten Kaiser Trajan, der durch das Gebet J Gregors d. Gr. gerettet wird35. Andererseits konnten die Meinungen entstehen, daß die T. irdisches Leben verschmähen lasse (cf. 1. Kor. 9). So trat der Gnostiker Markion im 2. Jh. für ein absolutes Eheverbot von Getauften ein36. Ähnliche Vorstellungen entwickelten die Paulusakten jener Zeit aus Kleinasien. Sie berichten von einem sprechenden Löwen, der den Apostel um die T. bittet und danach eine ihm begegnende Löwin keines Blicks mehr würdigt37. Wie alle Übergangsriten ist der zunächst rein liturgische Akt der Kindertaufe zu einem Familienfest ausgeschmückt worden, vornehmlich in der bürgerlichen Gesellschaft durch gemeinsames Essen und Trinken, Geschenke, Tauftaler oder Patenbriefe38. Die Aufklärung geißelte ausschweifende Feiern und Trinkgelage anläßlich von T.n39. In der Gegenwart ranken sich allerdings um die T. nur noch wenige narrative Überlieferungen (J Taufschwänke)40. Die Seefahrt kennt sprachliche Analogien wie Matrosen- und Äquatortaufe oder Schiffstaufe. Unter ,Getauften‘ Weinen oder Bieren versteht man betrügerisches Verwässern. Eine Sonderstellung besitzt die Weihehandlung der Glockentaufe (J Glocke)41. 1
Allg. cf. Edsman, C.-M. u. a.: T. In: RGG 6 (31962) 626⫺659, hier 636; Backhaus, K. u. a.: T. In: LThK 9 (32000) 1282⫺1295; Gerlitz, P. u. a.: T. In: TRE 32 (2001) 659⫺741. ⫺ 2 Lohfink, G.: Braucht Gott die Kirche? Fbg 1998, 88. ⫺ 3 Brückner, A.: Namenstag. In: Keß, B. (ed.): Geschenkt! Zur Kulturgeschichte des Schenkens. Heide 2001, 106⫺108. ⫺ 4 Prugger, M.: Lehr- und Exempelbuch. Augsburg 81744, 151. ⫺ 5 ibid. ⫺ 6 cf. allg. Brückner, A.: Namengebung. In: LThK 7 (31998) 627 sq.; Mitterauer, M.: Ahnen und Hll. Namengebung in der europ. Geschichte. Mü. 1993. ⫺ 7 Legenda aurea/Benz, 508 sq., 353, 636. ⫺ 8 Prugger (wie not. 4) 154 sq. ⫺ 9 RGG 6, 643. ⫺ 10 Cornehl, P.: Zur Geschichte der evangel. T. In: Tausend Jahre T.n in Mitteldeutschland. ed. B. Seyderhelm. Ausstellungskatalog Regensburg 2006, 80⫺93. ⫺
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Taufschwänke
11 Lex. der Kunst 1. Lpz. 1987, 398. ⫺ 12 Tubach, num. 467. ⫺ 13 Legenda aurea/Benz, 990. ⫺ 14 Tubach, num. 464⫺476. ⫺ 15 Legenda aurea/Benz, 486, 795 sq.; Günter 1949, 218, 235. ⫺ 16 Günter 1949, 96, 250. ⫺ 17 Prosser, M.: Erweckungstaufe. Säuglingssterblichkeit und Wallfahrt für tote Kinder in vormoderner Zeit. In: Bayer. Jb. für Vk. (2003) 101⫺ 138. ⫺ 18 Legenda aurea/Benz, 861 sq. ⫺ 19 Mahr, J.: Die Gnade will menschliche Mittel. In: Frankfurter Allg. Ztg (30.9.2005) 8. ⫺ 20 Hartinger, W.: Religion und Brauch. Darmstadt 1992, 17, 234, 236. ⫺ 21 Tubach, num. 470. ⫺ 22 Legenda aurea/Benz, 353. ⫺ 23 Günter 1949, 195. ⫺ 24 Günter 1910, 135 sq. ⫺ 25 Legenda aurea/Benz, 285. ⫺ 26 Frankfurter Allg. Ztg (16.1.2006) 8. ⫺ 27 RGG 6, 643, 645. ⫺ 28 Wiedergeboren aus Eis(-wasser) und Geist. In: Christ in der Gegenwart 58 (2006) 41 (Photo). ⫺ 29 Legenda aurea/Benz, 114; cf. Maier, P.: Chrisam. In: LThK 2 (31994) 1099. ⫺ 30 cf. Heller, H.: Türkentaufe um 1700. In: id. (ed.): Glaubensflüchtlinge und Glaubensfremde in Franken. Würzburg 1987, 255⫺ 271. ⫺ 31 Mahr (wie not. 19) 17. ⫺ 32 Legenda aurea/Benz, 73; Prugger (wie not. 4) 147; cf. ferner Sauerländer, W.: Die Heiligen der röm. Kirche im Werk des P. P. Rubens. In: Zur Debatte 35 (2005) 18⫺21. ⫺ 33 Legenda aurea/Benz, 921. ⫺ 34 ibid., 305. ⫺ 35 ibid., 229. ⫺ 36 Rahner, H.: Markion. In: LThK 7 (21962) 92 sq. ⫺ 37 Jäckel, D.: Der Herrscher als Löwe. Köln 2006, 161. ⫺ 38 Schauerte, H.: Volkskundliches zur T. In: ZfVk. 53 (1956⫺57) 77⫺90; Pieske, C. u. a.: Das ABC des Luxuspapiers. B. 1984, 219⫺221 (Patenbriefe). ⫺ 39 cf. Alzheimer, H.: Hb. zur narrativen Volksaufklärung. B./N. Y. 2004, 479. ⫺ 40 Spirago, F.: Beispielslg für das christl. Volk. Lingen 61926, 595. ⫺ 41 cf. Fuchs, G.: Glockenweihe. In: LThK 4 (31995) 750 sq.
Würzburg
Annemarie Brückner
Taufschwänke. Wie andere christl. sakrale Handlungen (J Sakramente) ist auch die J Taufe in populären Erzählungen Gegenstand humorvoller bis satirischer Darstellung. Aber während andere Wirkungsbereiche des J Pfarrers (J Pope), bes. Predigt (J Predigtschwänke), Abnahme der Beichte (J Beichtschwänke) und Vermittlung der christl. Lehre (J Katechismusschwänke), in offenbar hohem Maße zu komischen Erzählungen gereizt haben, sind T. eher sporadisch überliefert. Bei den in den Typenkatalogen erfaßten Erzählungen handelt es sich häufig um Einzelbelege1, wie die für Dänemark und Estland gut dokumentierte Überlieferung zeigt2.
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Es wurden zwei Sammeltypen formuliert, wobei sich der eine auf den christl. Taufakt, der andere auf die Namensgebung bezieht. AaTh/ATU 1823: Jokes about Baptism umfaßt Erzählungen über komische Ereignisse bei einer Kinds- oder Erwachsenentaufe. Frühe Belege finden sich in der dt. Schwankliteratur des 16. Jh.s. So heißt es in der 1. Historie des J Eulenspiegelbuchs von 1515, daß der Schalk dreimal getauft worden sei: einmal in der Kirche, zum zweiten Mal, als die angetrunkene Patin mit ihm in einen Bach fiel, und schließlich, als man ihn nach der Heimkehr mit Wasser reinigte. Diese Erzählung kehrt noch in der mündl. Überlieferung des 20. Jh.s wieder3. Weniger ausgeprägt ist das Nachleben anderer Stoffe aus dieser Zeit: Soweit es darin um Geistliche geht, die nicht in der Lage sind, ihren Beruf ordentlich auszuüben, weisen die Schwänke z. T. eine antiklerikale Tendenz auf. Ein Taufschwank bei Heinrich J Bebel (1508) erzählt von einem Priester, der nicht imstande ist, die lat. Taufinstruktion richtig zu lesen, und deshalb zunächst um den Taufstein tanzt und anschließend hineinscheißt4. Diesen Schwank übernahmen spätere Kompilatoren wie Hans Wilhelm J Kirchhof (1563) und Otho J Melander (1604)5. Eine andere Bebelsche Fazetie handelt von einem Pfarrer, der einen Furz der Patin als Zeichen dafür interpretiert, daß er den Teufel vertrieben habe; als die Patin meint, der Täufling habe gefurzt, wird dieser von dem Geistlichen getadelt6. Diese Erzählung wurde von Jacob J Frey (1558), Michael J Lindener (1558) und von Kirchhof adaptiert7. Bei Kirchhof werden auch ein Pfarrherr und ein Bischof vorgeführt, die nicht zu taufen verstehen8, was wiederum Melander leicht abgeändert aufgriff 9. Die im 17. Jh. häufiger belegte Erzählung von einer Jüdin, die mehr von der Taufe als von der Beschneidung hält, weil den Christen weniger abgewaschen als den Juden abgeschnitten werde10, ist dagegen nur bedingt zu den T.n zu zählen. Zweifel am Vollzug der Taufe hat in einem offenbar sehr beliebten Taufschwank der jüngeren Überlieferung ein Bauer, der bei der selbst vorgenommenen Nottaufe seines Kindes Gottes Sohn zu erwähnen vergißt; als der Pfarrer am nächsten Tag davon erfährt und fragt, wo der Sohn bleibe, antwortet der Bauer, jener ⫺ nämlich sein eigener älterer Sohn ⫺
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komme gleich und bringe ein Kalb mit, damit die Nottaufe anerkannt werde. Dieser erstmals im 18. Jh. belegte Schwank11 wurde speziell in Norddeutschland bis ins 20. Jh. erzählt12. In einer Erzählung aus Thüringen können Pfarrer und Täufling wegen Hochwassers nicht zusammenkommen, so daß der Geistliche das Kind mit einer Spritze über den Fluß hinweg tauft, doch im Gebet Gottes Sohn nicht erwähnt; der Taufakt wird wiederholt13. In einem slovak. Schwank kommt es ebenfalls zu einer Taufe durch den Vater: Der Geistliche lehnt es ab, ein Zigeunerkind zu taufen; der Vater weiß jedoch, daß mit Wasser getauft wird, steckt den Kopf seines Sohnes dreimal in einen Bach und sagt dazu: ,Ich taufe dich.‘14 Häufig handeln T. von einfältigen J Paten oder Eltern. In dän. Schwänken fällt der Täufling auf dem Weg zur Kirche vom Wagen15, oder das Kind und die taube (dümmliche) Patin werden vom Regen so durchnäßt, daß beim Taufakt vorrangig davon die Rede ist16. Diese beiden Sujets werden auch miteinander verbunden17. In tschech. und kroat. Var.n bringt ein kinderreicher Vater statt des Täuflings den Sprößling vom Vorjahr zur Taufe; dieser wird noch einmal getauft18, oder der Pfarrer macht den Vater auf das Versehen aufmerksam19. Beliebt sind auch Schwänke, in denen der Vater die Frage, wann das Kind geboren sei, nicht genau beantworten kann: ,Als ich fort war, um mir Tabak zu holen.‘20 Teilweise sind die Täuflinge schon älter. In Estland kursiert die Erzählung von einem Bauern, der sein Kind taufen lassen will. Als der Pfarrer fragt, wo das Kind denn sei, antwortet der Bauer, es stehe draußen und halte das Pferd21. In finn. Schwänken werden die Kinder in der Regel erst getauft, wenn sie selbst zur Kirche gehen können. Ein Täufling beschwert sich nach dem Taufakt über das kalte Wasser22; ein anderer ist auf der Jagd, als der Pfarrer kommt23, oder die Kinder kriechen unter das Bett und verhandeln von dort mit dem Geistlichen24. Bei der Erwachsenentaufe in einer afro-amerik. Erzählung soll der Täufling seinen Glauben bekennen und wird so lange untergetaucht, bis er sagt: ,Ich glaube, daß ihr Hurensöhne versucht, mich zu ertränken!‘25 Makaber sind T., in denen von toten Kindern die Rede ist. In Estland ist eine Erzäh-
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lung von einem Priester belegt, dem bei der Taufe am Fluß das Kind ins Wasser gefallen und ertrunken ist, worauf der Geistliche gelassen meint, Gott habe gegeben und genommen26. Ebenfalls in Estland aufgezeichnet ist der Schwank von einem Bauern, der den Pastor zur Taufe bittet. Als dieser fragt, warum der Bauer das Kind nicht zur Kirche bringe, antwortet der, es habe einen kleinen Fehler, es sei tot27. Mitunter kommt es auch gar nicht zur Taufe, weil die anwesenden Paten alles, was der Pfarrer sagt, auch wenn es nicht zur Taufe selbst gehört, nachsprechen (ATU 1821 [3]), so daß dieser sie wegschickt und sich um andere Paten bemüht28. Wie wenig die Taufe verändere, betont ein Schwank aus Serbien: Als ein ,nichtsnutziger Christ‘ den ,türk. Glauben‘ angenommen hat, fordert ein Türke einen anderen Christen auf, diesem Beispiel zu folgen. Doch der entgegnet: Wenn man einem Hund ein Ohr oder den Schwanz ausreiße, könne man ihn anders nennen, aber er bleibe ein Hund29. In thematischer Nähe zu T.n steht der folgende Witz: Zwei arme Juden erfahren, daß in einer kathol. Kirche in New York jeder Jude, der sich taufen läßt, 100 Dollar bekommt. Sie beschließen, daß einer von ihnen sich taufen lassen soll und sie das Geld teilen. Als dieser gebadet, neu eingekleidet, gespeist und getauft aus der Kirche kommt, fragt der andere: „Nu, was ist mit dem Geld?“ Der Getaufte antwortet: „Das ist, was wir Christen an den Juden nicht ausstehen können, daß sie immer nur ans Geld denken!“30 Schwänke, die zum Sammeltyp AaTh/ATU 1821: Naming the Child (Baptism) gehören, führen Eltern und Paten vor, die nicht mit der Namensgebung (J Name) bei der Taufe oder der Namensgebung überhaupt umzugehen verstehen. Im arab. Sprachgebiet ist vom Anfang des 13. Jh.s ein Schwank von einem Dummen (J Dummheit) überliefert, der seinem Sohn den vollen Namen einer berühmten Person gibt31. Bei Bebel fährt ein Pfarrer den Paten, der sagt, daß er ein Mädchen zur Taufe bringe, derb an, er wolle den Namen des Täuflings wissen, sein Geschlecht könne er selbst erkennen32. Diese Begebenheit wird bei Frey weiter ausgeführt33. Aus dem 17. Jh. ist ein Taufschwank überliefert, in dem ein einfältiger Bauer, der auf Geheiß des Pfarrers einen Na-
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Taufschwänke
men aus dem Kalender heraussuchen soll, einen Monatsnamen für das Kind auswählt34. Vielfach rät der Pfarrer, dem Kind den Namen des Vaters zu geben, worauf dieser glaubt, künftig ohne Namen leben zu müssen (ATU 1821 [2]). Dieser Subtyp ist aus Deutschland35 belegt, daneben liegen zwei Var.n aus dem fries. Sprachgebiet36 und je eine Aufzeichnung aus Ungarn37 und aus Bulgarien38 vor. In der intensiv erfaßten dän.39, aber auch in der dt.40 und estn.41 Überlieferung findet sich eine Fülle z. T. obskurer Namen, die der Pate dem Pfarrer vorschlägt. Nur selten scheint es dabei jedoch ⫺ wie im Dänischen ⫺ zur Herausbildung variantenreicher Ökotypen gekommen zu sein. Hier ändert der Pfarrer entweder merkwürdig klingende Namen um42 oder er macht aus Satan, wie der Bauer seinen Sohn nennen möchte, Nathan oder Jonathan43; ein Vater, dessen Sohn Johann heißt, will seine Tochter Johun nennen44; eine Patin gibt zu bedenken, daß das Kind den vorgesehenen Namen lebenslang behalten müsse45. In norddt. Erzählungen und Sagwörtern soll dem Bauernsohn nur ein ganz gewöhnlicher Name gegeben werden46. In einem finn. Schwank sind die Paten zufrieden, wenn das Kind ,Irgendwie‘ heißt (AaTh 1821 A: Child Named „Somebody“/ATU 1821 [1])47. Als wahr wird folgende Geschichte aus den USA dargestellt: In einer Geburtsklinik werden Ärzte öfter nach Namen gefragt. Ein Arzt schlägt spaßeshalber ,Placenta‘ vor und stellt später fest, daß die Eltern ihre Tochter tatsächlich so genannt haben48. Zumeist geht es in T.n weniger darum, die Taufe selbst komisch zu relativieren, sondern darum, die an der Taufe beteiligten Personen bloßzustellen. T. tendieren daher ⫺ in Abweichung zu den Feststellungen L. Raudseps ⫺ meist eher zu Dummenschwänken als zu antiklerikalen Schwänken. 1
z. B. Krzyz˙anowski 1821; Megas/Puchner 1821; BFP *1821 B. ⫺ 2 cf. Kristensen, E. T.: Vore Fædres ˚ rhus 1899, num. 31, 272⫺274, 281, Kirketjeneste. A ˚ rhus 285 sq.; id.: Molbo- og aggerbohistorier 1⫺2. A 1892/1903, hier t. 2, num. 344; Raudsep, num. 39⫺ 41, 45, 47. ⫺ 3 Debus, O.: Till Eulenspiegel in der dt. Volksüberlieferung. (Diss. masch.) Marburg 1951, 160 sq. ⫺ 4 Bebel/Wesselski 2, num. 33. ⫺ 5 Kirchhof, Wendunmuth 1,2, num. 95; EM-Archiv: Melan-
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der, Jocorum atque seriorum liber 1 (1604) num. 98; verkürzt auch bei Kristensen 1899 (wie not. 2) num. 275. ⫺ 6 Bebel/Wesselski 1,2, num. 123. ⫺ 7 Frey/ Bolte, num. 70; Lindener, M.: Schwankbücher. Rastbüchlein und Katzipori 1. ed. K. Heidemann. Bern u. a. 1991, num. 6; Kirchhof, Wendunmuth 1,2, num. 94; ibid. 2, num. 103. ⫺ 8 ibid., 5, num. 58. ⫺ 9 Melander (wie not. 5) 527. ⫺ 10 Moser-Rath, Schwank, 259, 361, not. 89. ⫺ 11 EM-Archiv: Bienenkorb 6 (1771) num. 65. ⫺ 12 cf. Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg. ed. S. Neumann. B. 31965, num. 233; Neumann, S.: Der Ochse als Bürgermeister. Schwänke aus Pommern. Rostock 1999, num. 113. ⫺ 13 Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 1⫺3. Jena 1892/95/1900, hier t. 1, num. 57. ⫺ 14 Gasˇparı´kova´, V.: Ostrovtipne´ prı´behy i velike´ ciga´nstva a zˇarty. Bratislava 1981, num. 147. ⫺ 15 Kristensen 1903 (wie not. 2) num. 341, 346. ⫺ 16 ibid., 1, num. 270⫺272; ibid., 2, num. 327⫺331, 336⫺338, 345, 576. ⫺ 17 ibid., 2, num. 339, 341. ⫺ 18 Simonides, D.: Skarb w garncu. Opole 1979, num. 50. ⫺ 19 Narodna umjetnost 9 (1972) 119. ⫺ 20 Rausmaa, SK 6, num. 463. ⫺ 21 Raudsep, num. 44. ⫺ 22 Rausmaa, SK 6, num. 461. ⫺ 23 ibid., num. 462. ⫺ 24 Rausmaa 1823 (2). ⫺ 25 Dorson, R.: Negro Folktales in Michigan. Cambr., Mass. 1956, 173. ⫺ 26 Raudsep, num. 48.⫺ 27 ibid., num. 43. ⫺ 28 DBF A 2, 356 sq. ⫺ 29 Karadzˇic´, V. S.: Srpske narodne pripovetke. Belgrad 41937, num. 76. ⫺ 30 Landmann, S.: Die klassischen Witze der Juden. Ffm./B. 1989, 153. ⫺ 31 Marzolph, Arabia ridens, num. 966 (a). ⫺ 32 Bebel/ Wesselski 1,2, num. 45. ⫺ 33 Frey/Bolte, num. 58. ⫺ 34 EM-Archiv: Scheer-Geiger 1 (1673) num. 59; Helmhack, Fabel-Hannß (1729) num. 39. ⫺ 35 Merkens (wie not. 13) t. 2, num. 105; Kooi, J. van der/ Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Märchen und Schwänke aus dem Oldenburger Land. Leer 1994, num. 204. ⫺ 36 van der Kooi 1821. ⫺ 37 Kova´cs, A.: König Ma´tya´s und die Ra´to´ter. Lpz./Weimar 1988, 220. ⫺ 38 BFP *1821 B. ⫺ 39 Kristensen 1899 (wie not. 2) num. 277⫺279; id. 1903 (wie not. 2) num. 325 sq. ⫺ 40 Kooi, J. van der/ Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 188 a⫺b; iid. (wie not. 35) num. 205. ⫺ 41 Raudsep, num. 306 sq. ⫺ 42 Kristensen 1892 (wie not. 2) num. 264⫺267; ibid., 2, num. 342 sq. ⫺ 43 ibid., 1, 261; ibid., 2, num. 332⫺335, cf. auch num. 337, 339, 576. ⫺ 44 id. 1899 (wie not. 2) num. 280. ⫺ 45 id. 1892 (wie not. 2) num. 263. ⫺ 46 Merkens (wie not. 13) t. 2, num. 168; Neumann, S.: Mecklenburgs Sprichwortschatz. Rostock 2005, 69. ⫺ 47 Rausmaa, SK 6, num. 459. ⫺ 48 Singers and Storytellers. ed. M. C. Boatright/W. M. Hudson/A. Maxwell. Dallas 1961, 183.
Rostock
Siegfried Neumann
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Tausch von Pseudotätigkeiten
Tausch von Pseudotätigkeiten (AaTh 9 A/ ATU 9, AaTh/ATU 1530), Schwänke, in denen sich ein J Trickster dadurch Vorteile verschafft, daß er vorgibt, eine unbedingt notwendige Tätigkeit auszuüben (J Täuschung). Es treten sowohl tierische als auch menschliche Akteure auf. In dem AaTh/ATU 9: Der unreelle J Partner zugeordneten Tiermärchen AaTh 9 A: In the Stable the Bear Threshes werden Tätigkeiten aus dem Bereich der Landwirtschaft thematisiert: J Fuchs (Füchsin) und J Bär (Wolf, Tiger, Krebs, Ameise, Schildkröte, Igel, Vogel) bauen zusammen Getreide an. Beim J Dreschen behauptet der Fuchs, den Dachfirst (Stein, Lehmhaufen, Himmel) halten zu müssen, damit er dem Bären nicht auf den Kopf falle; der Bär drischt das Getreide allein.
AaTh 9 A wurde in Europa am häufigsten in Finnland aufgezeichnet. Weitere Belege stammen aus Nord-, Süd- und Osteuropa; afrik. Var.n liegen aus Nord- wie Südafrika vor. Im neuen internat. Typenkatalog ATU (2004) wurde AaTh 9 A mit AaTh 9 B: In the Division of the Crop the Fox Takes the Corn und AaTh 9 C: In Cooking the Dinner the Fox’s Porridge is Light, mit denen er häufig verbunden ist, zu ATU 9 zusammengefaßt. In dieser Kombination ist AaTh 9 A mitunter nicht ausgeführt, und es ist nur noch die Rede davon, daß die Tiere gemeinsam dreschen1 oder ein Tier ein anderes bei der Ernte ,überlistet‘2; häufig angeschlossen werden in diesem Fall AaTh/ATU 1030: J Ernteteilung und AaTh/ ATU 2: J Schwanzfischer. In thematischer Nähe zu AaTh 9 A stehen andere Erzählungen, in denen der Trickster behauptet, die Arbeit, die er selbst zu übernehmen anbietet, sei die schwerere, und sich dann auf Kosten des überlisteten Tiers ausruht. So fragt in einer tadschik. Erzählung der Fuchs den Wolf, ob dieser den ,schweren‘ Strick oder den ,leichten‘ Pflug ziehen wolle3, und auch in einem serb. Text wählt sich der Fuchs immer die leichtesten Arbeiten4. Im Gegensatz zum Erzähltyp AaTh 9 A, in dem der Trickster durch seine Pseudotätigkeit die eigentliche Arbeit vermeidet, überredet in AaTh/ATU 1530: Holding up the Rock der Trickster den anderen dazu, seine vermeintliche Aufgabe zu übernehmen, um ihn hereinzu-
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legen. AaTh/ATU 1530 liegt in zwei Ausprägungen vor: einer europ.-asiat. und einer afrik.-amerik., die deutlich häufiger belegt ist. Die europ.-asiat. Form wurde für die internat. Typenkataloge zugrunde gelegt: Ein Trickster stemmt sich unter einen großen Stein (Mauer, Haus, Höhle, Baum, Säule eines Klosters, Berg) und behauptet vor seinem leichtgläubigen oder dummen Gegenüber, daß seine Tätigkeit von immenser Wichtigkeit sei (Welt oder Gebäude stürze sonst ein), so daß er sie nicht unterbrechen dürfe. Um eine andere Tätigkeit verrichten zu können, bittet der Trickster den Dummen, seinen Platz einzunehmen, und bestiehlt ihn oder demonstriert ihm auf diese Weise seine intellektuelle Überlegenheit (AaTh/ATU 1332, 1384: cf. J Narrensuche).
In dieser Form mit menschlichen Protagonisten ist der Schwank in Europa, Asien und Nordamerika verbreitet. Belege liegen aus Irland, der Slovakei und Lettland vor, darüber hinaus aus Ost- und Südosteuropa, dem asiat. Teil Rußlands, aus Zentralasien, Iran, Katar, Georgien, der Türkei, dem berber. Erzählgut sowie von marokkan. Juden. Bereits in der griech. Antike war eine vergleichbare betrügerische Übergabe bekannt. Unklar ist jedoch, ob ein Zusammenhang zur populären Überlieferung vorliegt5: J Herakles überredet J Atlas, der den Himmel auf seinen Schultern trägt, ihm zu helfen, die goldenen Äpfel der Hesperiden zu stehlen. Herakles übernimmt von Atlas die Last; dieser will sie aber, nachdem er die Äpfel geholt hat, nicht wieder auf sich nehmen. Herakles gibt daher vor, er benötige eine Pause, und flieht, von Atlas abgelöst, mit den Äpfeln (Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 2,5,11). Häufig tritt AaTh/ATU 1530 in Kombination mit anderen Schwänken auf, in denen ein Trickster andere Personen durch List besiegt, z. B. mit AaTh/ATU 1542: J Peik6, AaTh/ ATU 1384: cf. Narrensuche7, AaTh/ATU 1525: cf. J Meisterdieb8, AaTh/ATU 1535: J Unibos9 oder AaTh/ATU 1528: J Neidhart mit dem Veilchen10; in einzelnen Fällen ist AaTh/ ATU 1530 auch mit AaTh/ATU 1525 H4: J Junge im Bienenkorb11, AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit 12, AaTh/ATU 1540: J Student aus dem Paradies (Paris)13, AaTh/ ATU 327: The Children and the Ogre14, AaTh/ ATU 700: J Däumling15, AaTh/ATU 328: J Corvetto16, AaTh/ATU 1004: J Schwänze in der Erde17, AaTh/ATU 1541: Für den langen J
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Tausch: Der vorteilhafte T.
Winter 18, AaTh/ATU 1385: J Pfand der dummen Frau19 oder AaTh/ATU 1540 A*: Lady Sends Pig as Wedding Hostess kombiniert20. In der nordafrik. Überlieferung ist eine Verknüpfung mit AaTh/ATU 1575*: The Clever Shepherd und AaTh/ATU 1592: J Mäuse fressen Eisen belegt21. Die Pseudotätigkeiten werden teilweise variiert. In einer ir. Erzählung hält der Trickster ein vermeintlich schwer zu bändigendes Tier fest (Schafbock, Ziege), bittet einen Passanten, diese Aufgabe zu übernehmen, und geht22. Größere Popularität als in Europa und Asien erlangte AaTh/ATU 1530 in Afrika und auf dem gesamten amerik. Kontinent. Die zahlreichen Var.n unterscheiden sich insofern von der europ.-asiat. Ausprägung, als die Protagonisten in der Regel Tiere sind, die Motivation für den Betrug, die in den europ.asiat. Fassungen häufig in Diebstahl besteht, eher in Flucht und Rache zu sehen ist und die Erzählung mit anderen Erzähltypen kombiniert wird. W. Bascom vertritt daher die Auffassung, daß die amerik. Fassungen von den afrik. beeinflußt sind23. Ein J Löwe (Leopard, Hyäne etc.)24 hat einen J Hasen (Kaninchen, Schakal, Spinne, Kojote etc.) gefangen und will ihn fressen. Der Hase läßt den Löwen einen Felsen (Decke einer Höhle) halten, da dieser sonst abstürze, und entkommt. Manchmal verspricht der Trickster dem anderen Tier auch Fressen als Lohn für das Halten des Felsens oder betrügt es um dieses25. Häufig stirbt das betrogene Tier vor Erschöpfung26. Mitunter betrügt ein menschlicher Trickster ein Tier (Wolf, Jaguar, Hyäne)27.
Erzählungen, in denen ausschließlich Tiere agieren, sind meist mit AaTh/ATU 34: cf. J Spiegelbild im Wasser kombiniert28, häufig auch mit AaTh/ATU 175: J Teerpuppe und/ oder weiteren Erzähltypen29. Bei den Tacana (Mittelamerika) wird die zu verrichtende Tätigkeit variiert: Ein Ozelot läßt einen Jaguar eine Malve festhalten, damit er nicht vom Sturm weggerissen werde30. Auf den Kapverd. Inseln wurde eine Var. aufgezeichnet, die mit AaTh/ATU 3: cf. J Scheinverletzungen kombiniert ist31. 1
Qvigstad, J.: Lappiske eventyr or sagn 3. Oslo 1929, num. 2; Henßen, G.: Sagen, Märchen und Schwänke des Jülicher Landes. Bonn 1955, num. 437 a; Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, num. 2. ⫺ 2 Doerfer, G.: Sibir. Märchen. MdW 1983, num. 59. ⫺ 3 STF, num. 237. ⫺ 4 Eschker, W.: Serb.
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Märchen. MdW 1992, num. 48. ⫺ 5 cf. Hansen, W.: Ariadne’s Thread. Ithaca/L. 2002, 199⫺201. ⫺ 6 Eschker (wie not. 4) num. 88; Pilicˇkova, S.: Nasradin Hoca and Itar Pejo ⫺ Spiritual Twins. Skopje 1996, num. 6 (mazedon.); Schullerus, num. 1332; Potanin, G. N.: Kazak’-kirgizskija i altajskija predanija, legendy i skazki. Petrograd 1917, num. 33; Jarmuchametov, Ch. Ch.: Tatarskie narodnye skazki. Kasan 1957, 170. ⫺ 7 Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 116. ⫺ 8 Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoi gubernii. Petrograd 1915, num. 135. ⫺ 9 ibid.; Kralina, N.: Sto skazok udmurtskogo naroda. Izˇevsk 1961, num. 83; Rozenfel’d, A. Z./Rycˇkovoj, N. P.: Skazki i legendy gornych tadzˇikov. M. 1990, num. 46. ⫺ 10 Peuckert, W.E.: Hochwies. Göttingen 1959, num. 215; Lintur (wie not. 7) num. 95. ⫺ 11 Munka´csi, B.: Volksbräuche und Volksdichtung der Wotjaken. Hels. 1952, num 81. ⫺ 12 Zelenin (wie not. 8); Peuckert (wie not. 10). ⫺ 13 Lintur (wie ˇ istov, K. V.: Perstenek ⫺ dvenadcat’ stanot. 7); C vesˇkov. Izbrannye russkie skazki Karelii. Petrozavodsk 1958, 36⫺38. ⫺ 14 Levin, I.: Märchen aus dem Kaukasus. MdW 1978, num. 32 (kabardin.). ⫺ 15 ibid. ⫺ 16 Sˇakryl, K. S.: Abchazkie narodnye skazki. M. 1975, num. 72. ⫺ 17 STF, num. 237. ⫺ 18 Bıˆrlea, O.: Antologie de prosa˘ populara˘ epica˘ 3. Buk. 1966, 495 sq. ⫺ 19 Lintur (wie not. 7) num. 95. ⫺ 20 Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Permskoj gubernii. Petrograd 1914, num. 31. ⫺ 21 Topper, U.: Märchen der Berber. MdW 1986, ´ Su´illeabha´in/Christiansen. ⫺ 23 Basnum. 31. ⫺ 22 O com, W.: African Folktales in the New World. Bloom./Indianapolis 1992, 114⫺136. ⫺ 24 Robe; Schmidt, S.: Märchen aus Namibia. MdW 1980, num. 48; Klipple; Bascom (wie not. 23); Schmidt, S.: Tiergeschichten aus Afrika. Köln 1996, num. 38; ead.: Hänsel und Gretel in Afrika. Köln 1999, num. 1530. ⫺ 25 Bascom (wie not. 23); Hansen (wie not. 5) 197⫺199. ⫺ 26 JAFL 96 (1912) 200 sq. (mexikan.). ⫺ 27 Parsons, E. C.: Folk-lore from the Cape Verde Islands 1. Cambr., Mass./N. Y. 1923, num. 21. ⫺ 28 Espinosa, J. A.: Spanish Folk-Tales from New Mexico. N. Y. 1937, num. 106; Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y Nuevo Me´jico 2. Stanford [1957], num. 376; Robe, S. L.: Mexican Tales and Legends from Los Altos. Berkeley/L. A./L. 1970, num. 6. ⫺ 29 Robe; Paredes, A.: Folktales from Mexico. Chic./L. 1970, num. 26; Rael (wie not. 28) num. 373; Robe (wie not. 28) num. 17; id.: Mexican Tales and Legends from Veracruz. Berkeley/L. A./L. 1971, num. 3. ⫺ 30 Hissink, K./Hahn, A.: Die Tacana 1. Stg. 1961, num. 337. ⫺ 31 Parsons (wie not. 27).
Göttingen
Doris Boden Johanna Ella
Tausch: Der vorteilhafte T. (AaTh/ATU 170, 1655), Schwankmärchen über die gewinnbringenden T.geschäfte eines Tricksters, von dem
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Tausch: Der vorteilhafte T.
Versionen mit tierischen wie auch mit menschlichen Protagonisten existieren. In AaTh/ATU 170: The Fox Eats His Fellow Lodgers ist es meist der J Fuchs, der sich durch falsche Anschuldigungen stufenweise wertvollere Beutetiere ergaunert: Ein Fuchs übernachtet auf einem Bauernhof (im Haus eines Hahns), beschädigt einen seiner Schuhe und beschuldigt den Hahn (Gans), diese Tat begangen zu haben. Er verlangt den Hahn als Ersatz für seinen Schuh. In der nächsten Herberge frißt der Fuchs den Hahn und beschuldigt den Bock (Schaf), den Hahn gefressen zu haben. Er verlangt deshalb den Bock als Kompensation. Im nächsten Quartier behauptet der Fuchs, daß der Ochse den Bock gefressen habe, und bekommt den Ochsen. Zuletzt erwirbt der Fuchs ein Pferd.
Das Tiermärchen wurde vor allem in Irland, Finnland, den balt. Ländern, Rußland, der Ukraine, Süd- und Südosteuropa, in weiten Teilen des Nahen Ostens und im Kaukasus aufgezeichnet. Einzelbelege liegen aus Madagaskar, Laos und der Karibik vor. In den georg. Var.n erwirbt der Fuchs den Hahn, indem er diesen seine Getreidekörner fressen läßt. Seine weiteren Anschuldigungen gegenüber den Gastgebern macht er dadurch glaubhaft, daß er nachts den Hahn auf das Horn eines Schafes und das Schaf auf das Horn eines Ochsen spießt. Als der Fuchs den Ochsen getötet und heimlich der jüngsten Tochter (Prinzessin) ein blutiges Messer in die Tasche gesteckt hat, darf er sie mitnehmen1. Auf ähnliche Weise erwirbt das betrügerische Tier auch in ukr., russ. und estn. Var.n eine junge Frau, die von ihm in einen Sack (Weinschlauch) gesteckt, doch von Fremden gegen einen oder mehrere Hunde ausgetauscht wird, die den Fuchs letztendlich in die Flucht schlagen (zerreißen)2. Die Motive von den Getreidekörnern in der georg. Var. und vom Mädchen im Sack stellen das Bindeglied zwischen dem Tiermärchen und dem anthropomorphen Schwankmärchen AaTh/ATU 1655: The Profitable Exchange dar. Dieses verläuft folgendermaßen: Ein einfacher Mann besitzt (erwirbt) ein Getreidekorn (Erbse, Bohne, Maiskolben, Splitter, Dorn). Als der Hahn (Maus) das Getreidekorn auffrißt, fordert und erhält der Mann den Hahn. Als der Hahn wiederum durch das Schwein (Widder, Bock, Katze) getötet wird, bekommt der Mann das Schwein. Für das Schwein erhält er dann eine Kuh (Stier, Ochse, Esel) und für die Kuh schließlich ein Pferd.
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Die Geschichte kann hier enden, wird aber in den meisten Fällen mit einer Episode über eine Hochzeit fortgesetzt. Manchmal ist das Mädchen am Ende Teil der regulären T.sequenz. In anderen Fällen ist der Held (durch T.handel) am Schluß im Besitz einer Leiche und kann durch Betrug die Prinzessin des Mordes bezichtigen, so daß diese den Helden heiratet, um einen Skandal zu verhindern (cf. Mot. K 1383). Wie im Tiermärchen gibt es auch hier Texte, in denen das Glück schließlich zerstört wird. Der Held erhält seine Braut durch T. und steckt sie in einen Sack. Andere tauschen sie dann gegen einen bissigen Hund (Ratten, Mäuse, Katze, Schlange) aus, und sobald der Held den Sack öffnet, wird er angegriffen (ihm die Nase abgebissen), und er muß flüchten (cf. Mot. K 1223.1)3. Dieses Schwankmärchen ist nahezu weltweit verbreitet: von Finnland bis Malta und von den Färöern bis in die Türkei, bei Zigeunern und Juden, von Rußland bis in den Kaukasus und in die Mongolei, in weiten Teilen des Mittleren und Fernen Ostens, in Afrika von Libyen bis in den Kongo und von Togo bis nach Madagaskar sowie in Nord- und Südamerika4. In AaTh/ATU 1655 ist der Protagonist fast immer ein Mensch, ab und zu ein Tier (Hahn, Vogel, Maus, Hase, Ratte). Die Reihenfolge und die Art der getauschten Tiere können sich ändern, meistens jedoch erhält der Held ein wertvolleres Tier. Neben Tieren gibt es auch allerhand Gegenstände als T.objekt, z. B. eine Kerze, Brot, Milch, Wasser, Zwiebeln, ein Messer, einen Kessel, ein Schwert, ein Fischnetz oder Ölkrüge. Die ganze T.sequenz erinnert an ein Kettenmärchen5. Manchmal ist der Betrüger eine regionale Tricksterfigur, etwa die Spinne J Anansi6 oder Pedro Malas-Artes7. Eine fries. und einige dt. Var.n enden mit dem Zaubermärchen AaTh/ATU 571: J Klebezauber. Der Held heiratet die Prinzessin, die über die merkwürdige Personenkette lachen mußte8. In osteurop. Fassungen mündet die Erzählung regelmäßig in AaTh/ATU 158: J Tiere auf dem Schlitten9. In einer sizilian. Var. beißt ein Hund den Küster in die Nase. Daraufhin fordert dieser Hundehaare, um die Blutung zu stillen. Der Hund wiederum verlangt
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Tausch: Der vorteilhafte T.
dafür Brot, worauf eine ganze Reihe von Aufgaben folgt (ATU 2034 F: The Clever Animal and the Fortunate Exchange)10. In einigen Erzählungen wird der profitable T. durch List und Betrug erzwungen, vielfach scheint es jedoch eher um den ebenso sonderbaren wie natürlichen Lauf der Dinge zu gehen, ohne daß eine betrügerische Absicht vorläge. Manche jap. Var.n sehen den profitablen T. eher als Gebetserhörung: Ein armer Junge betet für Glück und Reichtum, und sein Gebet wird erhört11. Die möglicherweise älteste westl. Fassung ist in den ersten 400 Versen des altfrz. Fabliau Trubert von J Douin de Lavesne (13. Jh.) zu finden: Trubert läßt eine Ziege bemalen und bietet sie der Herzogin für sexuelle Gefälligkeiten und Geld an. Das Paar wird vom Herzog gestört und Trubert erhält viel Geld sowie die Ziege zurück. Der Herzog bekundet Interesse an der Ziege. Trubert verlangt Geld sowie vier Haare aus dem Hintern des Herzogs; dieser zahlt statt dessen einen hohen Geldbetrag (cf. AaTh/ATU 1420 G: J Anser venalis).
Die Refs saga, Teil der isl. Gautreks saga (Ende 13. Jh.), weist ebenfalls gewisse Übereinstimmungen mit der Geschichte vom vorteilhaften T. auf: Der faule Bauernsohn Ref (isl. refr: Fuchs) verläßt das väterliche Haus mit einem Ochsen. Den Ochsen verschenkt er und erhält dafür einen Schleifstein und mehrfach genaue Handlungsanweisungen, die seinen Besitz vergrößern helfen: Für den Schleifstein erhält Ref einen goldenen Ring, dann zwei Hunde mit Ringen am Halsband und für diese ein Schiff mit Besatzung und Ladung sowie einen goldenen Helm und ein Panzerhemd. Zum Schluß besitzt Ref eine Flotte. Um der vermeintlichen Bedrohung durch Ref zu entgehen, bietet König Gautrek Ref die Hand seiner Tochter Helga an und schenkt ihm Land und einen Adelstitel12.
Frühe Var.n von AaTh/ATU 1655 können auch in Japan nachgewiesen werden13. Als älteste Qu.n werden das Konjaku monogatari (Erzählungen aus alter Zeit; frühes 12. Jh.) und die Geschichte von Warashibe Chooja (Reicher Herr Strohhalm) aus dem Uji-Shu¯i monogatari (Nachgetragene Erzählungen aus Uji; 1213⫺18) genannt. Die Geschichten beginnen häufig damit, daß ein armer oder fauler Junge mit einem Strohhalm in die Welt zieht und nach T.aktionen zum Landbesitzer avanciert oder durch den König reich belohnt wird14.
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Die Erzählung vom vorteilhaften T. bildet ein Pendant zu dem Schwankmärchen AaTh/ ATU 1415: J Hans im Glück15, in dem der naive Held wertvolle Dinge gegen immer wertlosere tauscht, dabei aber trotzdem glücklich bleibt. Ähnlich verläuft auch Hans Christian J Andersens Schwank Hvad Fatter gjør, det er altid det Rigtige (1861), in dem jeder T. ungünstig ist (von Pferd zu Kuh, Schaf, Gans, Huhn und einem Sack fauler Äpfel), eine letzte Wette aber wieder günstig verläuft16. Das Volksmärchen vom vorteilhaften T. ist bisher kaum wiss. bearbeitet. Für Kanada hat L. J Lacourcie`re gezeigt, daß die Erzählung vorwiegend Kindern erzählt wurde, und zwar häufiger von Frauen als von Männern17. Alte Qu.n sowie die Gestalt des Fuchses als klassischem Betrüger lassen auf eine europ. Herkunft von AaTh/ATU 170 und 1655 schließen. Polygenese von AaTh/ATU 1655 liegt aber ebenso im Rahmen des Möglichen. Es ist anzunehmen, daß ursprünglich sowohl das Tiermärchen als auch das Schwankmärchen mit dem ertragreichsten T. endeten18: ein wertvolles Tier, eine gute Partie oder großer Reichtum. Der Erfindungsreichtum des Betrügers wurde belohnt. Die Episode vom ,Mord‘ an der Leiche, mit dem die Braut erworben wird, ist wahrscheinlich späteren Ursprungs, möglicherweise unter Einfluß des Schwanks AaTh/ATU 1535: J Unibos, in dem ebenfalls für die ,Tötung‘ der Leiche eine Entschädigung verlangt wird19. Diese Episode kommt häufig im Mittleren Osten und in Afrika vor20. Die Episode von der Entführung in einem Sack und dem Austausch der entführten Person findet sich ähnlich auch in AaTh/ATU 327 C: J Junge im Sack der Hexe und in AaTh/ ATU 1535. Dort wird der Held (Heldin) befreit und der Sack mit wertlosen Gegenständen (Dünger, Modder, Dornenzweige) gefüllt, oder es wird ein Tier hineingesteckt. R. T. J Christiansen vermutete, daß es sich dabei um eine spätere südeurop. Ergänzung handelt21, andere Autoren sind der Ansicht, daß ital. Novellen als Qu. gedient haben22 und wieder andere verorten die Herkunft der Episode im Orient23. Vor allem diese Episode soll die (ursprünglich wohl eher humoristisch gemeinte) Erzählung vom vorteilhaften T. anscheinend mit einem relativierenden und moralisierenden
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Täuschung
Ende versehen. Der Schelm wird für seine Gier bestraft und steht schlechter da als am Anfang24. 1 cf. Kurdovanidze; Dolidze, N.: Die Zauberkappe. B. 1957, 83⫺86. ⫺ 2 Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 2; Afanas’ev 1, num. 1; Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 26. ⫺ 3 cf. auch BP 2, 201⫺203. ⫺ 4 Robe; HoogasianVilla, S.: 100 Armenian Tales and Their Folkloristic Relevance. Detroit 1966, num. 96; Sidel’nikov, V. M.: Kazachskie narodnye skazki. M. 1952, 136⫺ 138, 147⫺151; JAFL 32 (1919) 164 sq. (frankokanad.); Fansler, D. S.: Filipino Popular Tales. Nachdr. Hatboro 1965, num. 32. ⫺ 5 cf. Romero, S.: Folclore brasileiro 2. Rio de Janeiro 31954, 52. ⫺ 6 Klipple; Flowers; Doelwijt, T.: Verhalen uit de Surinaamse verteltraditie. In: Dieren. Volksverhalen uit kleurrijk Nederland. Rotterdam 1990, 168⫺173; Keizer, H. P.: De mooiste Surinaamse mythen en sagen. Hoevelaken 2004, 155⫺161; Huyser, A.: Anansi. Surinaamse volksverhalen. Havelte 2006, 79⫺ 87. ⫺ 7 Romero (wie not. 5) num. 5. ⫺ 8 cf. Dykstra, W.: Uit Friesland’s volksleven van vroeger en later 1. Leeuwarden 1896, 55⫺58; Henßen, G.: Dt. Volkserzählungen aus dem Osten. Münster 1963, 27⫺29; Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen 1. Norden/Lpz. 1891, 233⫺238; Woeller, W.: Dt. Volksmärchen von arm und reich. B. 1959, 241⫺ 249. ⫺ 9 Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, 25⫺29; Afanas’ev 1, num. 8; Range, J. D.: Litau. Volksmärchen. MdW 1981, num. 1; Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. SPb. Nachdr. 2002, num. 70; Gehnert, H.: Balt. Märchen 2. Hannover-Döhren 1964, 68⫺71 (estn.); Jannsen, H.: Märchen und Sagen des estn. Volkes. Dorpat 1881, num. 1; Konkka, U. S.: Karel’skie narodnye skazki. Petrozavodsk 1959, 51⫺53; Re´dei, K.: Zyrian Folklore Texts. Bud. 1978, num. 34; Löwis of Menar, A. von: Finn. und estn. Volksmärchen. MdW 1922, num. 6 (finn.). ⫺ 10 Crane, T. F.: Italian Popular Tales. Boston/N. Y. 1885, num. 79. ⫺ 11 Ikeda, num. 842 A. ⫺ 12 Nedoma, R.: Gautreks Saga Konungs. Die Saga von König Gautrek. Göppingen 1990, 76⫺89. ⫺ 13 Ikeda, num. 842 A⫺842 B. ⫺ 14 ibid., num. 842 B. ⫺ 15 cf. auch Liungman, Volksmärchen, num. 1415. ⫺ 16 Christiansen, R. T.: Bodach an-t-sı´lein (Der Bettler und das Getreidekorn). In: Be´aloideas 3,2 (1931) 107⫺120; Lacourcie`re, L.: Les E´changes avantageux (conte-type 1655). In: Les Cahiers de Dix 35 (1970) 227⫺250; Uther, H.-J.: Glück im Unglück. Hans Christian Andersens Schwank „Was Vater tut, ist stets das Richtige“ im Spiegel literar. und mündl. Überlieferungen. In: Fabula 46 (2005) 116⫺125. ⫺ 17 Lacourcie`re (wie not. 16) 247, 249; cf. Camaj, M./Schier-Oberdorffer, U.: Alban. Märchen. MdW 1974, num. 15; Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 2. P. 1973, num. 54. ⫺ 18 cf. Fansler (wie not. 4) 264. ⫺ 19 Lacourcie`re (wie not. 16) 247 (nennt noch
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AaTh/ATU 1536, 1537 als mögliche Qu.n). ⫺ 20 ElShamy, Types. ⫺ 21 cf. Christiansen (wie not. 16) 117, 119. ⫺ 22 Karlinger, F./Gre´ciano, G.: Prov. Märchen. MdW 1974, 272. ⫺ 23 Espinosa 2, 234 sq. ⫺ 24 Hörstel, W.: Aus dem sonnigen Süden. Nürnberg 1904, 212 (ital.).
Amsterdam
Theo Meder
Täuschung 1. Begriff ⫺ 2. T. als Waffe ⫺ 3. T. als Falle ⫺ 4. Requisiten ⫺ 5. Der Einsatz des eigenen Körpers ⫺ 6. Sinnestäuschung ⫺ 7. Signifikante Handlungsträger
1 . B eg ri ff. Unter T. versteht man eine als J List angewandte bewußte Irreführung, die auf Vorstellungen und Handlungen eines anderen, meist zum eigenen Vorteil, einwirken soll. In Erzählungen ist T. ganz überwiegend arglistig (J Manipulation) und geschieht in böser Absicht durch Vorspiegelung falscher oder Unterdrückung wahrer Tatsachen1. Gattungsmäßig sind T.en bes. häufig Strukturelemente des J Schwanks, sie spielen aber auch in Tiermärchen und Zaubermärchen eine wichtige Rolle. Die zentralen Funktionen von T.smanövern wie J Verstellung, Ablenkung, Prahlerei (J Aufschneider) und J Lügen in Erzählungen unterschiedlichster Gattungen werden in S. J Thompsons Motif-Index unter Deceptions (Mot. K 0⫺K 2388; J Betrüger, J Trickster), der zweitgrößten Motivgruppe überhaupt, dokumentiert. T.en können zu unterschiedlichen Zwecken inszeniert und demnach auch sehr verschieden bewertet werden. Neben egoistischer Profitgier und böswilliger J Schädigung anderer kann eine T. gemäß dem im Zaubermärchen wirkenden J Optimismus (J Wunschdichtung) auch wichtig sein, um dem Helden das Leben zu retten und ihm zu Glück und Reichtum zu verhelfen (cf. u. a. AaTh/ATU 700: J Däumling). In Lügengeschichten und bei Lügenwetten schwingt bei täuschenden J Übertreibungen auch Spaß mit. Bewußte T.en steigern überdies oft die J Dynamik der Handlung. So fungieren etwa die absichtlich falschen Rateversuche, mit denen die Protagonistin in AaTh/ATU 500: J Name des Unholds das siegessichere dämonische Wesen darüber hinwegtäuscht, daß sie seinen richtigen Namen kennt, als episches Spannungselement.
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Täuschung
2 . T. a ls Wa ff e. T. ist die Waffe der (physisch oder sozial) Schwachen bzw. Unterlegenen gegen die Starken bzw. Mächtigen (J Stark und schwach). Helden bedienen sich in existentiellen und sozialen Notlagen der verschiedensten T.stricks, um zu überleben und/ oder den Sieg davonzutragen. Dabei kann es darum gehen, den Gegner durch vorgetäuschte Gier nach dessen Fleisch (AaTh/ATU 125, 1149: J Kinder begehren das Fleisch des Unholds; AaTh/ATU 126: J Schaf verjagt den Wolf ), durch Vorspiegelung scheinbarer Stärke (AaTh/ATU 1045, 1046, 1053: Das große J Seil) oder durch fingierte Kraftleistungen oder Mutproben (AaTh/ATU 1060⫺ 1063, 1070, 1071: cf. J Wettstreit mit dem Unhold; AaTh/ATU 1640: J Tapferes Schneiderlein) einzuschüchtern. Der Held kann den Nachstellungen des dummen J Ogers auch etwa dadurch entkommen, daß er einen hintersinnigen Namen angibt (AaTh/ATU 1135: cf. J Polyphem) oder ihn durch J Bettplatztausch oder Tausch der J Kopfbedeckungen dazu bringt, daß er unwissend seine eigenen Kinder tötet. Die leichtgläubigen, dummen oder eitlen jenseitigen Gegenspieler werden nicht selten zur fatalen und närrischen J Imitation einer vorgetäuschten Handlung (J Scheinverletzungen) verleitet, die dann zu Verwundung oder Vernichtung führt (J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung). Manchmal genügt schon das Ausnutzen der Unwissenheit des Gegenspielers, um ihn irrezuführen. So wird das Vertragsprinzip in AaTh/ATU 1030: J Ernteteilung, die Ernte danach aufzuteilen, was oberhalb bzw. unterhalb der Erde wächst, vereinbart, ohne daß dem dummen J Teufel das Anbauprodukt bekannt und die damit verbundene T.sabsicht erkennbar ist. Ähnliche T.en liegen in AaTh/ ATU 1184: Letztes J Laub, AaTh/ATU 1185: J Eichelsaat oder AaTh/ATU 1590: J Eid auf eigenem Grund und Boden vor. Umgekehrt nutzt die Protagonistin in AaTh/ATU 327: J Hänsel und Gretel ihre angebliche Unerfahrenheit beim Anmachen des Backofens dazu, die J Hexe herbeizulocken und in den Ofen zu schieben. In AaTh 300 A/ATU 330: cf. J Schmied und Teufel schützt der Handlungsträger u. a. Altersschwäche vor, um den Teufel (Tod) dazu
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zu bringen, als Wegzehrung Früchte von einem Baum zu pflücken, auf dem er ihn dann festbannt. Ähnlich setzt der vom Tod Bedrohte in vielen Erzählungen das T.smanöver der letzten J Gnade (Bitte) ein, um den Gegner bzw. Rechtsprechenden zu düpieren (AaTh/ATU 927 A: Der letzte J Wunsch). In AaTh/ATU 331: J Geist im Glas erfüllt der Dämon arglos die Bitte seines Opfers, in ein kleines Gefäß zu schlüpfen, in dem er gefangengesetzt wird. Der zum Tode Verurteilte erbittet sich von der rechtsprechenden Instanz oft, die J Todesart wählen zu dürfen, findet dann aber keinen passenden Baum für den Strick (AaTh 1587/ATU 927 D: J Baum zum Hängen gesucht), oder er bittet, an Altersschwäche sterben zu dürfen. Auch ein letztes Gebet kann als T.smittel eingesetzt werden, entweder um Hilfe herbeizuholen (AaTh/ATU 312: cf. J Mädchenmörder) oder um den Widersacher endlos hinzuhalten (AaTh/ATU 1199: J Gebet ohne Ende; AaTh/ATU 227: J Fuchs und Gänse). 3 . T. a ls Fa ll e. Oft findet der Feind mit arglistiger T. Zugang zu seinen Opfern. In AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen schlüpft der Wolf in die Kleider der Großmutter, in AaTh/ ATU 123: J Wolf und Geißlein gibt er vor, die Ziegenmutter zu sein, indem er seine Stimme verstellt und seine Pfote färben läßt. In Fabeln täuschen Raubtiere gelegentlich Freundschaft oder ein frommes Leben vor, um Beute anzulocken (cf. AaTh/ATU 62: J Friedensfabel; AaTh/ATU 61 A: J Fuchs als Beichtvater; AaTh/ATU 113 B: J Scheinbüßende Tiere). In AaTh/ATU 61: J Fuchs und Hahn kann der Fuchs einen Vogel fangen, weil er diesen dazu überredet hat, ihm mit geschlossenen Augen etwas vorzusingen. Ist das Opfer gefangen, kann es seinerseits ein T.smanöver einsetzen, um dem Angreifer wieder zu entkommen (AaTh/ATU 122 A⫺B: J Wolf verliert seine Beute; AaTh/ATU 6, 122 C, 227*: J Überreden zum Sprechen, Singen etc.). 4 . Req ui si te n. T.en können durch den Einsatz irreführender J Requisiten, durch die Inszenierung wunderbarer Ereignisse oder die Vorspiegelung falscher Tatsachen erfolgen. Die Hexe in AaTh/ATU 327 A setzt ein verlokkendes Lebkuchenhaus ein, um die Kinder
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über ihr wahres Wesen zu täuschen. In Var.n von AaTh/ATU 1004: J Schwänze in der Erde steckt ein J Trickster die abgeschnittenen Schwänze der Schweine, die er verkauft hat, in einen Sumpf, damit es für den Besitzer so aussieht, als sei seine Herde dort versunken. Ein anderer läßt Krebse mit brennenden Kerzen auf dem Rücken als wandelnde Seelen auf dem Friedhof krabbeln (AaTh/ATU 1740: J Lichterkrebse), um einen Pfarrer davon zu überzeugen, daß die Endzeit gekommen sei. Ein Liebespaar macht den Ehemann der Frau glauben, seine durch einen unterirdischen J Gang unbemerkt ins Nachbarhaus gekommene Frau sei die Frau des anderen (AaTh 1419 E: J Inclusa). In AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater bildet vorgetäuschter Reichtum den konstituierenden Zug; ähnlich verhilft eine Katze in AaTh/ATU 545 A: J Katzenschloß einem armen Mädchen durch Bluff zu Reichtum und Glück. In AaTh/ATU 1546: Besitz eines J Goldklumpens vorgetäuscht wird mit einem fiktiven Wertobjekt ein Vermögen erschwindelt. In AaTh/ATU 982: Die vorgetäuschte J Erbschaft sichert sich der Vater die Zuwendung seiner Erben, indem er sie glauben läßt, er sei nach wie vor sehr reich. Eine kluge Frau inszeniert zur Sicherstellung eines Schatzes (AaTh/ATU 1381 B: cf. Die geschwätzige J Frau) oder zur Verheimlichung eines Totschlags (AaTh/ATU 1600: Der begrabene J Schafskopf ) z. B. einen Wunderregen (J Regen), wodurch die wahre Aussage eines meist tölpelhaften Mitwissers als unwahr erscheint. In Ehebruchschwänken kann der Ehefrau ein vorgetäuschtes Ereignis dazu dienen, die Aussage über ihre Untreue zu entkräften (AaTh/ATU 1422: cf. J Ehebruch verraten). Leichtgläubige fallen auch auf die Beweiskraft manipulierter Objekte, auf vorgetäuschte Wunder oder auf die Wirkungskraft pseudomagischer Objekte herein. Obwohl der wahre Held die Zungen herausgeschnitten hat, reicht einem Betrüger das Vorführen der Drachenköpfe zunächst, um den Sieg im Drachenkampf vorzutäuschen (AaTh/ATU 300). In AaTh/ATU 313 sqq.: J Magische Flucht gaukeln sprechende Blutstropfen, Speichel oder Exkremente die Anwesenheit der Fliehenden vor und verzögern hierdurch deren Verfol-
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gung. In AaTh/ATU 327 A täuscht Hänsel die Hexe bei der für ihn lebensbedrohlichen Feistprobe (J Dick und fett), indem er ein Knöchelchen anstelle seines Fingers herausstreckt. Eine eifersüchtige Gegenspielerin verleumdet die beneidete Frau bei ihrem Mann, sie habe ein Tier geboren (J Tiergeburt) oder ihre Kinder aufgefressen (J Kannibalismus), indem sie Welpen in die Wiege legt oder den Mund (Kleider) der Frau mit Blut beschmiert. Im Schwank fällt ein Geistlicher auf den ähnlichen Trick eines Diebs herein: Er macht die mit Sauerrahm beschmutzten Heiligenbilder für einen Milchdiebstahl verantwortlich (AaTh/ATU 1572A*, 1829 A*: Der naschhafte J Heilige). Der Jäger zeigt der Königin in AaTh/ATU 709: J Schneewittchen Lunge und Leber eines Tiers als angeblichen Beweis für die Tötung des Mädchens (J Tierherz als Ersatz). Abgewiesene Liebhaber besorgen sich, z. T. nach einer Wette um die Treue der Gattin, das (Wissen um das) Erkennungszeichen und können so ihre Behauptung, die Frau verführt zu haben, glaubhaft erscheinen lassen (AaTh/ ATU 882, 892: J Cymbeline). In AaTh/ATU 1736*: Der hölzerne J Säbel rettet sich der Soldat mit einem vorgetäuschten Wunder aus einer ausweglosen Situation: Die Klinge seiner Waffe habe sich als göttliches Zeichen dafür, daß der von ihm hinzurichtende Verbrecher unschuldig sei, in Holz verwandelt. Ein um seinen Lohn betrogener Knecht rächt sich an dem geizigen Priester mit einem ähnlichen Trick: Die Wiese, die er hätte mähen sollen, sei auf wunderbare Weise auferstanden (AaTh/ATU 1736: Die auferstandene J Wiese). Trickster bringen Gegenstände mit angeblich zauberischen Fähigkeiten zu hohen Preisen an den Mann, nachdem sie in einer ausgeklügelten Scheinaktion deren angebliche Wirkung vorgeführt haben (AaTh/ATU 1535: J Unibos; AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit; AaTh/ATU 1542: J Peik). An sprachlichen Mitteln können das Verbreiten eines J Gerüchts (cf. auch J Klatsch) oder das absichtliche doppeldeutige oder unvollständige Weiterleiten einer Botschaft zur T. eines Gegenspielers eingesetzt werden. 5 . D er Ei ns at z d es ei ge ne n Kör pe rs. Der eigene Körper, bes. die J Stimme, ist ein geeignetes Instrument für allerlei T.smanöver2.
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Ein Soldat lenkt die Aufmerksamkeit von sich ab, indem er sich schlafend stellt (AaTh/ATU 306: Die zertanzten J Schuhe), ein Schuldner, indem er sich J totstellt (AaTh/ATU 1654: J Räuber in der Totenkammer). Der durch Einnahme von Schlafmitteln absichtlich herbeigeführte J Scheintod (Mot. K 522.0.1) als eine Form des vorgetäuschten Todes ist im Zyklus von J Salomon und Markolf überliefert. Ein scheinbar toter Mann erscheint in zweierlei Formen: einerseits als bewußte Inszenierung eines Dummkopfs (AaTh/ATU 1406: J Wette der Frauen, wer den Mann am besten narrt), andererseits als Selbsttäuschung eines Narren aufgrund einer Todesprophezeiung (AaTh/ ATU 1313, 1313 A⫺C: J Mann glaubt sich tot). Um das hilfreiche Tier in AaTh/ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein zu schlachten, gibt die tückische Stiefmutter eine Krankheit vor, die angeblich nur durch Verzehr bestimmter Teile eben jenes Tieres geheilt werden kann (cf. auch AaTh/ATU 314: J Goldener). Eine treulose J Mutter (AaTh/ATU 590) oder J Schwester (AaTh/ATU 315) stellt ihren Sohn bzw. Bruder vor die schwierige J Aufgabe, ein Heilmittel für ihre vorgebliche Krankheit zu besorgen, in der Absicht, ihn auf diese Weise zu beseitigen. In Ehebruchgeschichten sind vorgetäuschte Krankheiten ein bewährtes Mittel, um Besuche mit dem/der Geliebten zu organisieren oder den plötzlich auftauchenden Ehemann nach Medizin zu schicken (Mot. K 1569.3, K 1514.11; AaTh/ ATU 1360 C: Der alte J Hildebrand); sie bieten dem Düpierten aber auch die Gelegenheit, die Ehefrau in flagranti mit einem Liebhaber zu erwischen (Mot. K 1533.1). Ein Schlaumeier täuscht Schwerhörigkeit vor und nimmt den Gruß der Hausbewohner als Einladung, sich an den Tisch zu setzen und die besten Speisen zu verzehren; durch ähnliche Manipulation gelangt er schließlich ins Bett der Hausfrau (AaTh/ATU 1544: Der schlaue J Gast im Nachtquartier). Wohl in allen Volkserzählgattungen weit verbreitet ist die T.sthematik des ,Anders scheinen als sein‘, die durch J Kleider-, J Rollen-, J Geschlechts- oder J Gestalttausch (J Stellvertreter, J Verwandlung) verwirklicht wird (cf. auch AaTh/ATU 1558: J Kleider machen Leute).
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6 . S in ne st äu sc hu ng. In einigen Erzähltypen bildet die magische induzierte Sinnestäuschung den konstituierenden Zug. Ein Zauberer bewirkt in AaTh/ATU 987: J Augenverblendung, daß eine Braut sich auf dem Weg zur Kirche blamiert, indem sie ein Flachsfeld für einen Bach hält und ihre Kleider hochhebt, um ihn zu durchwaten (cf. auch J Saba: Königin von S. ). In AaTh/ATU 1423: Der verzauberte J Birnbaum wird demgegenüber dem gehörnten Ehemann eingeredet, daß das von ihm beobachtete Liebesspiel der Frau mit einem anderen Mann in Wirklichkeit eine optische T. war. Weber oder Maler bedienen sich eines vergleichbaren Betrugsmotivs in AaTh/ ATU 1620: J Kaisers neue Kleider. In AaTh/ ATU 1577: Die getäuschten J Blinden spielt ein Trickster seine Opfer gezielt gegeneinander aus, etwa, indem er sie durch das Klimpern von Münzen glauben läßt, er habe einem von ihnen Geld gegeben, daß alle unter sich aufteilen sollen. 7 . S ig ni fi ka nt e H an dl un gs tr äg er. Der Verstellungskünstler par excellence ist der J Meisterdieb (AaTh/ATU 1525 sqq.), der die ihm auferlegten Geschicklichkeitsproben mit Hilfe von allerhand T.smanövern durchführt und sich dabei als ein die Kunst der J Verkleidung, Mimik und Gestik perfekt beherrschender Schauspieler entpuppt. In der Tierwelt übernimmt der J Fuchs diese Rolle: Er stellt sich krank und veranlaßt so den tatsächlich kranken Wolf zur Hilfeleistung (AaTh/ATU 4, 72: J Kranker trägt den Gesunden). In Gefangenschaft kann er entkommen, indem er sich totstellt und achtlos weggeworfen wird (AaTh/ ATU 33: cf. J Rettung aus dem Brunnen). Mit dem gleichen Trick gelingt es ihm auch, ohne großen Aufwand an Nahrung zu kommen (AaTh/ATU 1: J Fischdiebstahl; AaTh/ATU 56 A: cf. J Fuchs und Vogeljunge). In AaTh/ ATU 2: J Schwanzfischer täuscht er dem Wolf vor, er habe mit seinem Schwanz Fische gefangen, worauf dieser ihn mit fatalen Folgen nachahmt. Aufschneider und Schelme demonstrieren die Übertrumpfungsstrategie ,Mehr scheinen als sein‘ (J Schein und Sein) durch List und T. So imponiert das tapfere Schneiderlein (AaTh/ ATU 1640) seiner Umwelt mit der Heldentat, ,sieben auf einen Streich‘ erschlagen zu haben,
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Tausend mit einem Schuß
wobei keiner vermutet, daß es sich dabei nur um Fliegen gehandelt hat. Auch die umgekehrte T.sstrategie ,Weniger scheinen als sein‘ wird aktiv verfolgt, indem der Schelm sich dumm stellt oder Einfältigkeit vorschützt. Schelme nutzen Verkleidung und T., um die menschlichen Schwächen anderer zu entlarven, speziell derjenigen, die mit ihrer eigenen Klugheit prahlen. Auch der J unscheinbare Held aus den Zaubermärchen, der J Jüngste und/oder Dümmste, täuscht seine Umwelt mit Identitätsverdunkelung eher passiv. Er wird unterschätzt und oft verspottet, während Erzähler und mit den betr. Erzählungen vertraute Hörer bzw. Leser ihn von Anfang als Wertträger erkennen. 1 cf. allg. Mot., Reg. s. v. Deceived, Deceiver, Deception etc.; ATU, Reg. s. v. Deceived, Deception etc.; Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003; id.: Europ. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004; id.: Märchen der Welt. CD-ROM B. 2006. ⫺ 2 cf. auch Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, 91⫺96.
Mariakerke
Harlinda Lox
Tausend mit einem Schuß (AaTh/ATU 1053), Schwankepisode aus dem Umkreis von AaTh/ ATU 1000⫺1199: Tales of the Stupid Ogre: Ein Wandergeselle (Schneider, Zigeuner) tritt in den Dienst eines dümmlichen (gutmütigen) Riesen (Drache, Schlange, Lindwurm; J Dienst beim Dämon). Als er aufgefordert wird, zum Abendessen ein Schwein (zwei Schweine, Ochsen) niederzustrecken, erwidert er prahlerisch: „Warum nicht tausend mit einem Schuß?“ Das Ungeheuer ist von der angeblichen J Stärke seines Dieners eingeschüchtert.
Die Episode ist nach der Erzählung einer Bäuerin aus Döbling zuerst in F. Ziskas Oesterr. Volksmæhrchen (1822) belegt1. Aus dieser Slg übernahmen die Brüder J Grimm in der 5. Aufl. (1843) das Märchen Der Schneider und der Riese fast wörtlich als KHM 1832. Die darin enthaltene, als AaTh/ATU 1053 typisierte Episode hat allerdings kaum nachgewirkt. Die wenigen als AaTh/ATU 1053 klassifizierten Texte liegen für den europ. Traditionsraum hauptsächlich aus der finno-ugr. Überlieferung vor3; darüber hinaus ist die Episode einmal in Argentinien aufgezeichnet worden4.
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Ist der Held ein Zigeuner, so stellt er in den als AaTh/ATU 1053 klassifizierten Var.n seine Stärke allerdings mit einem Vorhaben, das eher mit AaTh 1053 A/ATU 1045 (3): cf. Das große J Seil verwandt ist, unter Beweis: Er bindet die Schwänze der Ochsen zusammen, um sie gleichzeitig wegzubringen. Anschließend verscheucht er seinen Widersacher (hier einen Lindwurm) mit der Drohung, ihn seinen Kindern zum Abendessen zu servieren (cf. AaTh/ATU 1149: cf. J Kinder begehren das Fleisch des Unholds) und erlangt so dessen Gespann und Pferde5. In den für die Färöer, Albanien und die Ukraine angeführten Var.n zu KHM 183 dient die Prahlerei des Helden, daß er statt der geforderten zwei Wildschweine gleich tausend mit einem Schuß niederstrecken wolle, eher allg. dazu, den Gegenspieler durch angebliche außergewöhnliche Stärke zu beeindrucken6. AaTh/ATU 1053 kommt nicht als selbständige Erzählung vor, sondern immer gemeinsam mit anderen zur Gruppe der Schwänke vom dummen Teufel (Oger, Dämon) gehörenden Erzähltypen. Kontaminationen liegen vor mit AaTh/ATU 1045, AaTh/ATU 1049, 1060: J Wettstreit mit dem Unhold; AaTh/ATU 1050⫺1052: J Baum biegen, fällen, tragen und AaTh/ATU 1149. AaTh/ATU 1053 dient in diesen Episodenschwänken dazu, den Sieg des Aufschneiders über den starken Widersacher vorzubereiten. Einzig in der österr. Var. erscheint die großsprecherische, märchentypisch stilisierte Gegenfrage, auf die das EM-Lemma verweist, als angeblicher Beweis der Stärke des Protagonisten7. Daß der Konflikt auf das Gegensatzpaar prahlerischer Schneider/dummer Riese ausgerichtet ist, könnte einen Einfluß von AaTh/ATU 1640: J Tapferes Schneiderlein andeuten. Allerdings wird der Held in der dt.sprachigen Var. nicht unbedingt als positiver Märchenheld empfunden, da er im Zuge des letzten Abenteuers (AaTh/ATU 1051) einfach aus der Geschichte verschwindet. 1 Ziska, F.: Oesterr. Volksmaehrchen. Wien 1822, 9⫺ 13. ⫺ 2 KHM/Uther 4, 338 sq. ⫺ 3 MNK; Beke, Ö: Tscheremiss. Märchen, Sagen und Erzählungen. Hels. 1938, num. 57; Paasonen, H.: Mischärtatar. Volksdichtung. ed. E. Karahka. Hels. 1953, num. 5 (⫽ Kecskeme´ti/Paunonen); cf. Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. Petrograd 1915,
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Tausendundein Tag
num. 42. ⫺ 4 Hansen. ⫺ 5 Beke (wie not. 3); Paasonen (wie not. 3). ⫺ 6 BP 3, 332 sq. (Element C). ⫺ 7 Ziska (wie not. 1).
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Harlinda Lox
Tausendundein Tag, von dem frz. Orientalisten F. Pe´tis de la Croix (1653⫺1713) u. d. T. Les Mille et un Jours in fünf Bänden (1710/ 11/11/12/12) veröff. Slg oriental. Geschichten1. Die Slg soll nach Ausweis des Vorw.s die gekürzte Fassung einer pers. Hs. eines Derwischs Mocle`s aus Isfahan sein; dort hatte sich Pe´tis 1674⫺76 aufgehalten. Wie zuletzt P. Sebag schlüssig nachgewiesen hat2, handelt es sich aber vorrangig um adaptierte Fassungen von Geschichten eines türk. Werks des auf pers. bzw. arab. Vorbilder zurückgehenden ,Freude nach Leid‘-Genres3 und weiterer Mss. aus der kgl. Bibl. zu Paris. Die Mystifizierung steht in Zusammenhang teils mit der beginnenden literar. Mode orientalisierender Märchensammlungen (cf. J Contes de[s] fe´es, Kap. 2.2)4, teils wohl auch mit einer gewissen Konkurrenz zwischen Pe´tis und A. J Galland. Zuvor hatten beide Gelehrte unabhängig voneinander die gleichen Werke der oriental. Erzählliteratur übersetzt, so u. a. die Geschichten J Sindbad des Seefahrers und türk. bzw. pers. Versionen von J Kalila und Dimna. Bereits 1709 waren drei Geschichten aus dem für die Mille et un Jours ausgewerteten türk. Ms. in der Übers. durch Pe´tis ohne dessen Autorisierung im 8. Band von Gallands adaptierter Fassung von J Tausendundeine Nacht erschienen5. Der überwältigende Erfolg von Gallands Werk wird nach gängiger Forschungsmeinung als Motivation für die Veröff. von Pe´tis’ Slg angesehen. Es gilt mittlerweile als erwiesen, daß die von diesem übersetzten Geschichten von dem frz. Schriftsteller Alain Rene´ Lesage (1668⫺ 1747) sprachlich überarbeitet wurden6. Die Slg enthält 18 von einer J Rahmenerzählung7 zusammengehaltene Geschichten8: Aufgrund eines J Traums hält Prinzessin Farrukhnaz, die Tochter des Herrschers von Kaschmir, Männer grundsätzlich für treulos und lehnt eine Ehe ab (Mot. T 311.0.1): In ihrem Traum hatte eine Hirschkuh den gefangenen Hirsch gerettet, als aber die Hirschkuh gefangen war, hatte der Hirsch ihr nicht geholfen. Ihre Amme Sutlumeme´ will Farrukhnaz von ihrer Abneigung heilen, indem sie ihr an
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tausendundeinem Tag Geschichten erzählt. Die Rahmenhandlung schließt damit, daß zunächst die Prinzessin durch eine andere Interpretation des Traums bekehrt wird. Darauf folgt eine weitläufige Brautwerbungsgeschichte mit zauberhaften Elementen (Verwandlung in Reh durch Zauberin), an deren Ende die glückliche Heirat mehrerer Paare steht.
Die von Sutlumeme´ erzählten Geschichten füllen die Tage 1⫺190 und 960⫺1001. Angeblich im Orig. enthaltene weitere Geschichten will der Herausgeber entfernt haben, da sie entweder schwer nachvollziehbare Wunder J Mohammeds oder unschickliche Themen behandelten. Die Geschichten stehen teils getrennt voneinander, teils untereinander verschachtelt (num. 6, 7; num. 8⫺15). Es handelt sich meist um weitläufig erzählte und mit Zaubermotiven überhäufte Konglomerate, so daß die folgende Inhaltsangabe nur die zentralen Handlungselemente wiedergibt: num. 1 (Tag 1⫺16)9 ⫽ Aboulcassem, der durch seine Großzügigkeit verarmte Sohn eines Juweliers, wird in Kairo von seiner Geliebten, der Tochter des Wesirs, getrennt; in Bagdad hilft er einer mißhandelten Prinzessin; in Basra erweckt er Neid durch zügelloses Verschenken des von seinem Gastgeber zur Verfügung gestellten Reichtums. Am Schluß werden die Liebenden am Hof des J Ha¯ru¯n ar-Rasˇ¯ıd wieder vereint. ⫺ 2 (16⫺19, 26⫺30) ⫽ Die Feenprinzessin Cheheristany heiratet Ruzvanschad, Prinz von China, unter der Bedingung, daß er ihre Taten nicht hinterfragt: Sie wirft ihren Sohn ins Feuer und gibt ihre Tochter an eine Hündin. Als sie bei einem Kriegszug die Vorräte des Heers zerstört, kritisiert er sie. Sie klärt ihn auf: Der Minister wollte alle vergiften; das Feuer ist ein Salamander, der den Sohn erziehen sollte; die Hündin ist eine Fee. Die Feenfrau verläßt ihn (Marzolph *832 A; cf. Die gestörte J Mahrtenehe) und kehrt erst zehn Jahre später wieder zu ihm zurück. Sein Sohn wird König von China; seine Tochter Balkis (J Saba: Königin von S.) heiratet später J Salomo10. ⫺ 3 (19⫺21) ⫽ Eine geflüchtete Prinzessin wird von ihrem Platz als rechtmäßige Gattin des Königs von Tibet durch eine Frau und deren Liebhaber vertrieben, die durch Zauberringe (J Ring) jede beliebige Gestalt annehmen können (J Verwandlung). Als der König den Geliebten der Frau einmal in seiner wahren Gestalt sieht, bemerkt er den Betrug11. ⫺ 4 (21⫺26) ⫽ Der Wesir fällt in Ungnade, als sein ins Wasser gefallener Ring nicht wiedergefunden werden kann (cf. AaTh/ATU 736 A: Ring des J Polykrates). Als im Gefängnis eine Ratte über sein exquisites Granatkernkompott läuft, weiß er, daß er nicht noch tiefer sinken kann: Er wird wieder in seinen Posten eingesetzt12. ⫺ 5 (30⫺45) ⫽ Der ins Unglück gefallene Couloufe soll als Mittelsmann eine Frau heiraten und wieder verstoßen, damit deren Mann, der sie verstoßen hatte, sie nach den
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Tausendundein Tag
rechtlichen Vorschriften wieder heiraten kann. Er erkennt in ihr seine vermißte Geliebte Dilara und weigert sich, die Vereinbarung einzuhalten. Durch die Hilfe des befreundeten Königs erlangt er die aufs Geratewohl versprochene Brautgabe, und alles endet glücklich13. ⫺ 6 (45⫺48, 60⫺82) ⫽ AaTh 851 A/ ATU 851: cf. J Rätselprinzessin14. ⫺ 7 (48⫺60) ⫽ Eine schöne Frau rächt sich am Kadi, indem sie ihn glauben macht, sie sei die (abstoßend häßliche) Tochter des Färbers, um deren Hand er anhält ⫹ AaTh/ATU 678: cf. J Seelentier15. ⫺ 8 (82 sq., 99, 108 sq., 115⫺120, 145, 190) ⫽ Bedreddin Lolo, der König von Damaskus, erkennt durch das Beispiel seines Ministers Atalmulc, daß Glück und Zufriedenheit nur begrenzt zu erreichen sind (cf. AaTh/ ATU 844: J Hemd des Glücklichen)16. ⫺ 9 (83⫺99) ⫽ AaTh/ATU 910 D: cf. J Schatz hinter dem Nagel ⫹ AaTh/ATU 885 A: J Scheintote Prinzessin17. ⫺ 10 (99⫺108) ⫽ Auf der Suche nach Bedy al-Jemal, in die er sich aufgrund eines Bildes verliebt hat (J Fernliebe), gelangt Seyf el-Mulouk, der Sohn des Sultans von Ägypten, auf eine Insel götzendienerischer Neger, später auf eine Insel mit Riesenameisen und anderen Monstern. Vermittels seines Zauberrings rettet er die Tochter des Königs von Sarandib (Ceylon) vor dem verliebten Dämon, der sie entführt hat, und kehrt nach Ägypten zurück. Von seinem untreuen Bruder verstoßen und dem Scharfrichter überantwortet, wird er von diesem verschont, verzehrt sich aber weiter in unerfüllter Liebe18. ⫺ 11 (109⫺115) ⫽ AaTh/ATU 575: J Flügel des Königssohnes19. ⫺ 12 (120⫺135, 141⫺145) ⫽ Hormoz versucht als verkleideter Gärtnergehilfe (J Kahlkopf), die Liebe der umschwärmten Prinzessin Rezia zu gewinnen. Er ist zunächst erfolglos, später hilft ihm der J Zauberer Avicenna, der sich aber selbst in Rezia verliebt. Als Hormoz sie heiratet, hat Avicenna sie dazu verwünscht, daß sie sich tot stellt, sobald Hormoz sich ihr nähert20. ⫺ 13 (135⫺141) ⫽ Der Gelehrte Avicenna läßt sich ein Jahr in einer Höhle voller Zauberbücher einschließen und wird zu einem unbesiegbaren Magier21. ⫺ 14 (145⫺156) ⫽ AaTh/ ATU 1730: cf. J Liebhaber bloßgestellt22. ⫺ 15 (156⫺190) ⫽ Phantastische Abenteuer des Aboulfaouaris: Auf der ersten Reise sammelt er Perlen (cf. AaTh/ATU 936*: J Hasan von Basra), befreit ein Schiff am J Magnetberg und wird schließlich mit der von ihm geliebten Zoroastrierin Canzade, die sich nur scheinbar mit ihrem vorherigen Gatten verbrennen ließ, vereint. Auf der zweiten Reise wird er Imam eines Volks muslim. Dämonen, wird auf der Rückreise durch die Luft aber von dem ihn transportierenden bösen Dämon abgeworfen. Er hilft einem Dämon, der (erfolglos) den Zauberring des Salomo stehlen will, kommt zur Höhle des Antichrist, lebt einige Jahre in Gesellschaft des J Chadir und kehrt gerade rechtzeitig nach Hause zurück, um mit Hilfe des Kalifen ¤Alı¯ die Heirat seiner Frau mit einem jungen Mann zu verhindern23. ⫺ 16 (960⫺976) ⫽ Die beiden Dämonen Dahy und Ady werden von ihrem Herrn, einem Brahmanen, wegen Untreue ih-
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rer magischen Kräfte beraubt und altern, wenngleich sie J unsterblich bleiben. Sie erhalten ihre Kräfte erst wieder, nachdem sich nach zahlreichen Abenteuern zwei junge Frauen in sie verliebt haben24. ⫺ 17 (976⫺987) ⫽ Abderrahmane überläßt seinem Freund, dem König von Mossul, selbstlos seine eigene Frau (J Athis und Prophilias), die er nach diversen Abenteuern allerdings unberührt wieder zurückerhält 25. ⫺ 18 (987⫺1001) ⫽ AaTh/ATU 712: J Crescentia26.
Pe´tis’ Slg war mit mehr als 20 frz. Ausg.n bis 188527 außerordentlich erfolgreich. Das Werk wurde in zahlreiche europ. Sprachen übersetzt (engl. 1714; ndl. 1739; dt. 1745; dän. 1745; ital. 1798; griech. 1762, zusammen mit 1001 Nacht)28. Im 19. Jh. wurde es sogar ins Türkische ,rückübersetzt‘ (1867⫺70, 1873)29 und erschien auch auf Persisch (1895). Darüber hinaus wurde T. T. oft in Fassungen publiziert, die durch Geschichten aus anderen oriental. oder orientalisierenden Slgen ergänzt waren. Die erste derartige Fassung (P. 1826) wurde 1827⫺32 in einer ⫺ u. a. auch von J Goethe gepriesenen ⫺ dt. Übers. durch F. H. von der J Hagen vorgelegt. Hierauf beruht noch die neuere dt. Ausg. durch P. Ernst30, die im 2. Band u. a. Geschichten aus folgenden Slgen anfügt: aus der türk. Slg. J Vierzig Wesire (nach der Übers. von Pe´tis; P. 1707), den Nouveaux Contes orientaux des Grafen Caylus (P. [1743] 1780)31, den Me´langes de litte´rature orientale von D. D. Cardonne (zuerst P. 1770)32, der Suite des Mille et une Nuits von D. Chavis und J. Cazotte (zuerst u. d. T. Continuation […]. Genf 1788⫺89), J. J Hammer(-Purgstall)s Slg Rosenöl (1⫺2. Stg./Tübingen 1813) und dem Peregrinaggio des J Christoforo Armeno (zuerst Venedig 1557). Pe´tis’ Slg wirkte bes. im Werk Carlo J Gozzis nach, der vier Erzählungen als Theaterstücke verarbeitete: La donna serpente (1762; nach num. 2), I pitocchi fortunati (1764; num. 5), Turandot (1762; num. 6)33 und Il re cervo (1762; num. 7). Die 11. Erzählung ist die Grundlage für Hans Christian J Andersens Märchen Den flyvende Kuffert (1839). In der Überlieferung der Balkanländer gilt T. T. durch den Einfluß der griech. Übers. als Bestandteil der ,Märchen der Halima‘, der eigentlich von J Scheherazade erzählten Geschichten aus 1001 Nacht34. 1 Balay¨, C.: Franc¸ois Pe´tis de la Croix et les „Mille et un Jours“. In: Studies in Voltaire and the Eighteenth Century 215 (1982) 9⫺43; Sebag, P.: Sur deux Orien-
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Tausendundeine Nacht
talistes franc¸ais du XVIIIe sie`cle. F. Pe´tis de La Croix et le sieur de La Croix. In: Revue de l’Occident musulman et de la Me´diterranne´e (1978) H. 1, 89⫺ 117; Hahn, F.: Franc¸ois Pe´tis de la Croix et ses „Mille et Un Jours“. Amst./N. Y. 2002; Pe´tis de la Croix, F.: Les Mille et un Jours. ed. P. Brunel (unter Mitarbeit von C. Bahier-Porte/F. Mancier). In: id.: Histoire de la sultane de Perse et des vizirs. ed. R. Robert. […]. P. 2006, 211⫺905. ⫺ 2 Pe´tis de la Croix, F.: Les Mille et un Jours. Contes persans. ed. P. Sebag. P. (1980) 22003, bes. 617⫺647. ⫺ 3 Wiener, A.: Die Faragˇ ba¤d asˇ-sˇidda-Lit. In: Der Islam 4 (1913) 270⫺298, 387⫺420; Tietze, A.: Das türk. Ferec ba¤d es¸-s¸idde als Medium der Wanderung oriental. Stoffe ins Abendland. In: Proc. of the XXII Congress of Orientalists 2. Leiden 1957, 412⫺420; Baldauf, I.: Freude nach Bedrängnis? Literar. Geschichten zwischen Osman., Pers. und Tatar. In: Armag˘an. Festschr. A. Tietze. Prag 1994, 29⫺46. ⫺ 4 cf. Fe´eries 2 (2004⫺05) (Sonderheft „Le Conte oriental“). ⫺ 5 Marzoph/van Leeuwen 2, 673. ⫺ 6 Balay¨ (wie not. 1) bes. 15⫺21. ⫺ 7 Chauvin 5, 130⫺132, num. 112; Rossi, E.: La fonte turca della novella-cornice dei ,Mille et un giorno‘ di Pe´tis de la Croix. In: Oriente moderno (1949) 28⫺33. ⫺ 8 Chauvin 4, 219⫺222. ⫺ 9 Chauvin 5, 8⫺10, num. 5. ⫺ 10 Chauvin 6, 159 sq., num. 343. ⫺ 11 Chauvin 7, 119 sq., num. 390. ⫺ 12 Chauvin 5, 217, num. 127; cf. Chauvin 7, 132 sq., num. 401. ⫺ 13 Chauvin 5, 49 sq., num. 144. ⫺ 14 Chauvin 5, 191⫺193, num. 113; Pe´tis de la Croix, F.: Histoire du prince Calaf et de la princesse de la Chine. ed. P. Sebag. P./Montreal 2000. ⫺ 15 Chauvin 5, 286⫺288, num. 171; Robert, R.: Lectures croise´es d’un conte oriental: Pe´tis de la Croix (Les Mille et un Jours, 1710), Mlle Falques (Contes du se´rail, 1753). In: Fe´eries 2 (2004⫺05) 29⫺45. ⫺ 16 Chauvin 5, 174 sq., num. 99. ⫺ 17 Chauvin 5, 133⫺135, num. 63. ⫺ 18 Chauvin 6, 183, num. 348; Chauvin 7, 70⫺72, num. 373 B. ⫺ 19 Chauvin 5, 232 sq., num. 132; cf. Lesage, A.-R.: Arlequin Mahomet. In: id.: Œuvres choisies 12. P./Amst. 1783, 69⫺96. ⫺ 20 Chauvin 6, 50⫺52, num. 217. ⫺ 21 Chauvin 5, 142 sq., num. 69. ⫺ 22 Chauvin 6, 13, num. 186. ⫺ 23 Chauvin 5, 10; ibid. 7, 60⫺64, num. 6. ⫺ 24 Chauvin 5, 17 sq., num. 12. ⫺ 25 Chauvin 5, 137, num. 65. ⫺ 26 Chauvin 6, 159 sq., num 323; Rossi, E.: La fonte turca della novella poetica albaˇ ami (sec. XVIII⫺ nese, „Erveheja“ di Muhamet C XIX). In: Oriente moderno (1948) 143⫺153; Marzolph, U.: Crescentia’s Oriental Relatives. The „Tale of the Pious Man and His Chaste Wife“ in the „Arabian Nights“ and the Sources of „Crescentia“ in Near Eastern Narrative Tradition. In: Marvels & Tales (im Druck). ⫺ 27 Chauvin 4, 123⫺132. ⫺ 28 Chauvin 4, 48. ⫺ 29 Baldauf (wie not. 3) 38. ⫺ 30 Erzählungen aus T. T. Vermehrt um andere Morgenländ. Geschichten. t. 1⫺2. ed. P. Ernst. Ffm. (1909) 1962 u. ö. ⫺ 31 Boch, J.: De la Traduction a` l’invention. Aux sources des contes orientaux de Caylus. In: Fe´eries 2
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(2004⫺05) 47⫺59. ⫺ 32 Marzolph, U.: The Literary Genre of „Oriental Miscellany“. In: Le Re´pertoire narratif arabe. Transmission et ouverture. ed. F. Bauden (im Druck). ⫺ 33 Di Francia, L.: La leggenda di Turandot nella novellistica e nel teatro. Triest 1932. ⫺ 34 Papachristophorou, M.: The „Arabian Nights“ in Greece. In: Fabula 45 (2004) 311⫺329, bes. 312 sq.; Tonnet, H.: La Fortune en Gre`ce des „Mille et une Nuits“ et du recueil de contes de „Syntipas“. In: Chraı¨bi, A. (ed.): Les Mille et une Nuits en partage. P. 2004, 412⫺421, bes. 413; Anghelescu, M.: Les „Mille et une Nuits“ dans la litte´rature roumaine du XVIIIe sie`cle. In: Actes du XXIXe Congre`s Internat. des Orientalistes. E´tudes arabes et islamiques. 2: Langue et litte´rature. P. 1975, 13⫺17; Aretov, N.: Pa˘rvonacˇalni nabljudenija va˘rchu pronikvaneto na „1001 nosˇcˇ“ v Ba˘lgarija prez va˘zrazˇdaneto (Erste Unters.en zur Verbreitung von „1001 Nacht“ in Bulgarien während der Wiedergeburt). In: Literaturna misl 28 (1984) 139⫺161.
Göttingen
Ulrich Marzolph
Tausendundeine Nacht 1. Allgemeines ⫺ 2. Textgeschichte ⫺ 2.1. Frühe Textgeschichte ⫺ 2.2. Gallands Übertragung und ihre Nachwirkung ⫺ 2.3. Gedr. Ausg.n und Übers.en ⫺ 3. Charakteristika ⫺ 4. Internat. Rezeption
1 . All ge me in es. T. N. (arab. Alf laila walaila, wörtlich Tausend Nächte und eine Nacht) ist die internat. bekannteste Geschichtensammlung oriental. Ursprungs. Die Slg, die in zahlreichen z. T. divergierenden Versionen vorliegt, ist durch eine J Rahmenerzählung charakterisiert, in der die Wesirstochter Sˇahraza¯d (J Scheherazade) dem Herrscher Sˇahriya¯r tausendundeine J Nacht lang Geschichten erzählt und ihn hierdurch von seiner krankhaften Misogynie heilt. Die Slg wurde im Westen durch die auf diversen arab. Mss. und mündl. Quellen beruhende Übertragung Les mille et une Nuit des frz. Orientalisten A. J Galland (t. 1⫺12. P. 1704⫺17) bekannt1. Aus Sicht der heutigen Forschung bezeichnet T. N. weniger ein konkretes Buch oder Werk, sondern eher ein literar. Phänomen, das von verschiedenen, meist anonymen Autoren über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrtausend unter Rückgriff auf unterschiedlichste Quellen geschaffen wurde und dessen Bildmächtigkeit die populäre Wahrnehmung des islam. Orients entscheidend prägte. Die Erforschung der textlichen Genese von T. N. ist mit den Namen zahlreicher Wissen-
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schaftler des 18.⫺20. Jh.s verbunden, so u. a. J. (von) J Hammer(-Purgstall) (1774⫺1856)2, M. J. de Goeje (1836⫺1909)3, H. Zotenberg (geb. 1836)4, E. J Cosquin (1841⫺1919)5, V. J Chauvin (1844⫺1913)6, D. B. MacDonald (1863⫺1943)7, E. J Littmann (1875⫺1958)8, M. Mahdi (geb. 1926)9 und H. Grotzfeld (geb. 1935)10. Wichtige literaturwiss. Arbeiten haben M. Gerhardt11 und D. Pinault12 vorgelegt. Nach diversen Überblicksdarstellungen zum bisherigen Forschungsstand13 enthält eine Reihe von rezenten Sammelbänden neueste Forschungsergebnisse14. 2 . Tex tg es ch ic ht e. In der Forschung besteht Konsens darüber, daß der Nukleus von T. N. auf einem nicht erhaltenen iran. Prototyp beruht, der z. T. Elemente ind. Ursprungs integrierte. Nach der Übers. ins Arabische wurde das Werk bis zur ,Entdeckung‘ durch Galland im wesentlichen in zwei Epochen im Irak (Bagdad) der abbasid. Epoche (bis 1258) und im Ägypten (Kairo) der Mamlu¯kenzeit (Mitte 13. bis Anfang 16. Jh.) erweitert15. 2 .1 . Frü he Te xt ge sc hi ch te. Die wichtigsten Zeugnisse für die frühe Textgeschichte von T. N. sind zwei relativ kurze Erwähnungen in Werken arab. Autoren des 10. Jh.s: im Geschichtswerk Muru¯gˇ ad-dahab (Die Goldsteppen) von Mas¤u¯dı¯ (gest. ca 956)16 sowie im Kita¯b al-Fihrist (Bücherkatalog; verfaßt 987) des Bagdader Buchhändlers Ibn an-Nadı¯m17. Beide Autoren stimmen darin überein, daß die Slg sich von dem pers. Werk Heza¯r afsa¯n(e) (1000 Geschichten) herleitet; das pers. Wort afsa¯n(e) wird auf Arabisch mit h˚ ura¯fa wiedergegeben, einem Terminus, der sich auf einen Protagonisten phantastischer Geschichten zur Zeit des Propheten J Mohammed bezieht18. Nach Ibn an-Nadı¯m, der die Rahmenerzählung skizziert und angibt, mehrfach vollständige Exemplare des Buchs gesehen zu haben, umfaßte das Werk ca 200 Erzählungen, die er allerdings als langweilig und dumm bezeichnete. Einige Elemente der Rahmenerzählung sind bereits aus der ind. Überlieferung belegt19, so das Motiv vom Mann, der durch den Ehebruch seiner Frau die Lebensfreude verliert und sie erst wiedererlangt, als er sieht, daß es anderen nicht besser ergeht20, die Strategie,
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den angedrohten Tod durch das Erzählen von Geschichten hinauszuzögern21, sowie die Erzählungen AaTh/ATU 670: cf. J Tiersprachenkundiger Mensch und AaTh/ATU 1426: J Frau im Schrein. Iran. Ursprungs sind die Namen der Handlungsträger der Rahmenerzählung; allerdings diente der Iran in arab. Erzählungen bereits früh zur Lokalisierung merkwürdiger und wunderbarer Ereignisse22. Als arab. Vorläufer von T. N. ist ein unvollendetes (und verlorenes) Werk des Abu¯ ¤Abdalla¯h Muhø ammad ˇ ahsˇiya¯rı¯ (gest. 942) angesehen ibn ¤Abdu¯s al-G worden, dessen Ziel es war, aus der mündl. Überlieferung seiner Zeit 1000 Erzählungen zu sammeln23. Ein Parallelwerk zu T. N. mit einigen inhaltlichen Überschneidungen ist die anonym verfaßte Slg von ,wunderbaren Geschichten‘ der Istanbuler Hs. Ayasofya 3397 (J Arab.-islam. Erzählstoffe, Kap. 6)24. Das früheste erhaltene textliche Zeugnis von T. N. ist ein aus dem 9. Jh. datiertes Papierfragment mit der Titelseite und der ersten Textseite der hier Hadı¯tß Alf Laila (Geschichte der 1000 Nächte) benannten Slg25. Der älteste dokumentarische Nachweis der später geläufigen Namensform liegt in dem Notizbuch eines jüd. Buchverleihers aus Kairo aus der Mitte des 12. Jh.s vor26. Das älteste erhaltene Ms. der Slg (t. 1⫺3 mit den Nächten 1⫺282)27 stammt mit großer Sicherheit aus dem 15. Jh.28 Darüber hinaus liegt aus der Zeit vor Galland weniger als ein Dutzend arab. (und einige türk.) Mss. vor, von denen keines vollständig ist29. Gegenüber Littmanns Vermutung, nach der die spätere Namensform der Slg unter Rückgriff auf den türk. Stabreim bin bir (1001) entstanden sei, ist in der pers. Lit. die Zahl 1001 (heza¯r-o yek) bereits seit dem 12. Jh. als Bezeichnung einer unendlich großen Anzahl belegt30. 2 .2 . G al la nd s Ü be rt ra gu ng un d i hr e Nac hw ir ku ng. Die Übertragung Gallands stützt sich etwa zur Hälfte auf das älteste erhaltene Ms.31 Darüber hinaus fügte Galland die ursprünglich eigenständige Slg der Erzählungen von J Sindbad dem Seefahrer ein, ergänzte die Slg mit Geschichten aus anderen, z. T. nicht identifizierten Mss. und fügte zuletzt seine Bearb. der mündl. vorgetragenen Märchen des syr. Maroniten J Hanna¯ Diya¯b
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(sog. orphan tales)32 an33. Der internat. Erfolg von Gallands kreativer Übertragung führte, z. T. bereits während der Entstehungsphase, zu Übers.en in zahlreiche europ. Sprachen34, rief neben diversen Nachahmungen35, so u. a. der Slg J Tausendundein Tag, eine regelrechte Mode orientalisierender J Contes de(s) fe´es hervor36 und führte zu ersten wiss. Auseinandersetzungen mit den Ursprüngen der Slg37. In Reaktion auf die sprunghaft gestiegene europ. Nachfrage nach vollständigen Exemplaren von T. N. wurden im 18./19. Jh. weitere Mss. angefertigt, teils unter Hinzufügung von Geschichten aus unterschiedlichsten arab. Mss. in Ägypten38, teils als lange Zeit nicht als solche identifizierte, von Arabern oder Orientalisten im Westen vorgenommene ,Fälschungen‘39. Einige Mss. dieser Epoche sind separat untersucht bzw. übersetzt worden40. 2 .3 . G ed r. Au sg .n un d Ü be rs .e n. Nachdem sich die frühen europ. Übers.en von T. N. ausschließlich auf Galland gestützt hatten, wurden erst im 19. Jh. gedr. Ausg.n erstellt, auf deren Grundlage von Galland unabhängige Übers.en entstanden. Die wichtigsten dieser Ausg.n sind Kalkutta I (t. 1⫺2. ed. A. al-Shirwa¯nı¯. Kalkutta 1814/18), Bulaq I (t. 1⫺ 2. Kairo 1835), Kalkutta II (t. 1⫺4. ed. W. H. Macnaghten. Kalkutta 1839/39/40/42) und Bulaq II (t. 1⫺4. Kairo 1862)41. Die Breslauer Ausg. (t. 1⫺12. ed. M. Habicht/H. L. Fleischer. Breslau 1825⫺43) ergänzt den Kernbestand von T. N. mit Geschichten aus einem fiktiven ,tunis.‘ Ms.42 Die bislang einzige kritische Ausg. eines arab. Ms.s legte Mahdi 1984 für das von Galland benutzte älteste erhaltene Ms. vor43. Auf die Ausg. Bulaq I stützt sich weitgehend die zuerst 1838⫺40 in monatlichen Lfgen erschienene engl. Übers. von E. W. Lane44. Demgegenüber ist die Ausg. Kalkutta II Grundlage der meisten späteren Übers.en45, so u. a. der von R. Burton46; Burton stützt sich streckenweise eng auf die frühere Übers. von J. Payne47 und bringt in den Suppl.bänden auch Geschichten aus anderen Ausg.n bzw. Mss. Die häufig nachgedr. engl. Übers. von P. Mathers beruht auf der stark erw. frz. Ausg. von J. C. V. Mardrus, die u. a. auch Schwänke des J Hodscha Nasreddin und Texte zeitgenössischer Märchensammlungen aus der arab.
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Welt integriert48. Wichtige vollständige dt. Übers.en sind die von J. H. Voss (nach Galland)49, Habicht, F. H. von der J Hagen und C. Schall (nach der Breslauer Ausg.)50, G. Weil (mit Ergänzungen aus Gothaer Mss.)51, F. P. Greve (nach Burton, mit Vorw. von H. von J Hofmannsthal)52 und Littmann (weitgehend nach Kalkutta II)53. Auch das von orientalistischen Interferenzen unbeeinflußte älteste Ms. wurde (nach der Ausg. Mahdi) mittlerweile mehrfach übersetzt54. 3 . C ha ra kt er is ti ka. Während die meisten Texte von T. N. weitgehend identische Versionen der Rahmenerzählung sowie der am Anfang des Werks stehenden Geschichten enthalten55, unterscheidet sich das Repertoire der später hinzugefügten oft. Bes. der Kernbestand weist gemeinsame Charakteristika auf, die für die Wahrnehmung großer Teile der Slg prägend sind: Zum ersten verhindern sie ebenso wie die Rahmenerzählung die drohende Hinrichtung des Erzählers (einer anderen Person; sog. ransom motif)56; zum zweiten sind die Geschichten oft kunstvoll ineinander verschachtelt; zum dritten fungiert das Erzählen als Selbstaussage: Die Erzähler teilen durch ihre Erzählung mit, wer sie sind57. Zahlreiche Geschichten der Slg sind darüber hinaus durch gemeinsame Wertvorstellungen verbunden, welche die Ethik der erfolgreichen Kaufmannsklasse propagieren, die wahrscheinlich den größten Teil der Zuhörerschaft bei öffentlichen Darbietungen der Geschichten aus T. N. im ursprünglichen Kontext stellte: Danach rechtfertigt abschließender Erfolg die eingesetzten Mittel, mögen sie auch manchmal gegen Gesetze oder Moral verstoßen58. In Anlehnung an die Gattung der Fürstenspiegel (J Speculum principum) kann T. N. daher als ,Kaufmannsspiegel‘ bezeichnet werden59. Die in T. N. angeführten Geschichten weisen eine große Gattungsbreite auf: von märchenhaften und phantastischen Erzählungen (cf. auch J Magnetberg, J Messingstadt) über novellenartige Erzählungen60 und volkstümliche Epen wie das von ¤Umar ibn an-Nu¤ma¯n61 bis hin zu kurzen Legenden, didaktischen Erzählungen, Fabeln, Schwänken und Anekdoten, zu denen sich oft Parallelen in Werken der klassischen arab. Lit. finden62.
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Die Forschung hat verschiedene Schichten der Entstehung von T. N. isoliert, denen jeweils die Geschichten bestimmter Gattungen zugeordnet werden. So gehörten die Ehebruchschwänke und manche der Fabeln (bes. die mit Parallelen in J Kalila und Dimna)63 einer ind. Schicht an, Zaubermärchen einer iran.64; in den novellenartigen Liebesgeschichten wirke griech. Einfluß nach65, manche der didaktischen und legendenhaften Erzählungen gingen auf jüd. Quellen zurück66; zahlreiche Anekdoten, so der Zyklus um den abbasid. Herrscher J Ha¯ru¯n ar-Rasˇ¯ıd und den als ,Hofnarr‘ agierenden Dichter J Abu¯ Nuwa¯s, seien der vor dem Mongolensturm (1258) zu datierenden Bagdader Schicht, die schwankhaften Geschichten um diebische und betrügerische Unterschichtshelden der Kairoer Schicht in der Mamlu¯kenzeit (Mitte 13. bis Anfang 16. Jh.) zuzuordnen67. Allerdings sind diese Schichten selten klar voneinander zu trennen; vielmehr ähnelt T. N. nach H. und S. Grotzfeld in seiner heute vorliegenden Form einem mehrmals zerfallenen Palast, auf dessen Ruinen ständig neue Gebäude errichtet wurden68. 4 . Rez ep ti on. Die Nachwirkung von T. N. in der internat. Lit. sowie anderen künstlerischen Darstellungsformen kann kaum überschätzt werden. Bereits in Giovanni J Sercambis (1348⫺1424) Novella d’Astolfo sowie Ludovico J Ariostos (1474⫺1533) Orlando furioso (Canto 28) liegen Parallelen zur Geschichte der zwei von ihren Frauen hintergangenen Könige aus der Rahmenerzählung von T. N. vor, die möglicherweise auf mündl. Vermittlung zurückgehen69. Frühe Übereinstimmungen zwischen Erzählungen aus T. N. und westl. Erzählgut sind ferner für J Adenet le Rois Cle´omade`s, die ma. Geschichten von der schönen J Magelone und J Floire et Blancheflor, den byzant. Roman Digenis Akritas sowie J Caldero´ns La vida es suen˜o diskutiert worden70. Einer der interessantesten Fälle von Rezeption betrifft die Geschichte der gelehrten Sklavin Tawaddud, die über die auch von Lope de J Vega bearb. span. Übers. La Doncella Teodor in den Maya-Büchern aus Chilam Balam adaptiert wurde71. Die Rezeption nach Galland bewirkte, daß kaum ein europ. Schriftsteller des 18./19. Jh.s
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nicht auf irgendeine Weise von T. N. beeinflußt war72, so in der dt. Lit. etwa Wilhelm J Hauff 73 oder J Goethe74. Über die Auswahlausgaben und deren Nacherzählungen wurden zahlreiche Geschichten der Slg popularisiert, bes. diejenigen, die erst durch Galland zum Inbegriff von T. N. wurden, aber ursprünglich nicht zu der Slg gehörten75: die Geschichten von J Aladdin (AaTh/ATU 561) und J Ali Baba und den vierzig Räubern (AaTh 676 ⫹ 954/ATU 954), der Zyklus der Sindbad-Erzählungen sowie die Geschichte vom fliegenden Ebenholzpferd (AaTh/ATU 575: J Flügel des Königssohnes)76. Übers.en ins Türkische gibt es zwar bereits seit dem frühen 15. Jh.77, aber erst mit den arab. Druckausgaben des 19. Jh.s verbreitete sich T. N. wahrhaft internat. Aus neuerer Zeit liegen Einzelstudien etwa zu Ostafrika78, Indonesien79, Japan80 oder Hawaii81 vor. Seit Mitte des 19. Jh.s findet auch in Lit. und Schauspiel des arab. Raums eine kreative Adaptation bzw. eine Rückbesinnung auf die Erzählungen aus T. N. statt82. Auch der Film hat seit Georges Me´lie`s’ Palais de Mille et une Nuits (1905) häufig Erzählungen aus T. N. aufgegriffen83. Meisterwerke dt. Stummfilmkunst wie Ernst Lubitschs Sumurun (1920) oder Fritz Langs Der müde Tod (1921) bedienen sich ihrer als Setting84, und von Douglas Fairbanks’ Thief of Bagdad (1924)85 oder Lotte Reinigers Scherenschnittfilm Die Abenteuer des Prinzen Achmed (1926)86 über Pier Paolo Pasolinis Il fiore delle Mille e una notte (1974)87 bis zum Trickfilm Aladin der J Disney-Studios88 werden die bekannten Geschichten immer wieder für die Leinwand adaptiert. Abgesehen von dem konkreten Bezug zu einzelnen Geschichten sind Bilder aus T. N. untrennbarer Bestandteil von Ikonographie und Sprache des Alltags geworden, so vor allem der sprichwörtliche ,Geist aus der Flasche‘ (AaTh/ATU 331: J Geist im Glas) aus der Geschichte vom Fischer und dem Dämon89 und der Spruch ,Sesam, öffne dich!‘ aus der Geschichte von Ali Baba. Anfang des 21. Jh.s finden sich markante Begriffe aus T. N. auch im Internet, so u. a. die Zahl 1001 als Inbegriff von Unendlichkeit oder der Name Aladdin etwa für magisch anmutende Suchmaschinen; Ali Baba ist wohl der häufig-
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ste Name für oriental. Restaurants, und Sindbad findet sich oft als Markenname von Reisebüros. 6 . E rz äh lt yp en. Die bislang umfassendste Bestandsaufnahme der unterschiedlichen Texte von T. N. in der von U. J Marzolph und R. van Leeuwen erarbeiteten Arabian Nights Enc. (2004) zählt 551 einzelne Erzählungen (davon 64 Dubletten). Nachdem die Erzählungen der Slg über Chauvins Zusammenstellung90 bereits in den von S. J Thompson erstellten Katalogen (Mot., AaTh [1961]) ausführlich berücksichtigt worden waren, hat H. El-Shamy 2006 einen detaillierten Motivindex zu T. N. vorgelegt91. Einen Überblick zu Themen und Motiven der Slg nach anderen Kriterien hat N. Elisse´eff erarbeitet92. Die folgende Ausw.93 listet ausschließlich Erzähltypen nach den unterschiedlichen Ausg.n, Mss. bzw. Übers.en auf 94. Aus g. Ka lk ut ta II (1 83 9⫺ 42 ): Marzolph/van Leeuwen, num. 1 ⫽ AaTh/ATU 1426: Frau im Schrein. ⫺ 2 und 3 ⫽ AaTh/ATU 207 A: cf. J Aufstand der Arbeitstiere ⫹ AaTh/ATU 670: cf. Tiersprachenkundiger Mensch. ⫺ 7 ⫽ AaTh/ATU 449: J Sidi Numan. ⫺ 8 ⫽ AaTh/ATU 331: Geist im Glas. ⫺ 10 ⫽ AaTh/ATU 178: cf. J Hundes Unschuld ⫹ AaTh/ ATU 916: The Brothers Guarding the King’s Bedchamber and the Snake. ⫺ 11 ⫽ AaTh/ATU 1422: cf. J Ehebruch verraten. ⫺ 33 ⫽ AaTh 1681*/ATU 1430: cf. J Luftschlösser. ⫺ 39 ⫽ AaTh/ATU 519: cf. J Heldenjungfrau. ⫺ 41 ⫽ cf. AaTh/ATU 516 A: cf. Der treue J Johannes ⫹ AaTh/ATU 861: J Rendezvous verschlafen. ⫺ 44 ⫽ AaTh/ATU 157 A: cf. Tiere lernen J Furcht vor den Menschen. ⫺ 47 ⫽ AaTh/ATU 155: J Undank ist der Welt Lohn. ⫺ 56 ⫽ AaTh/ATU 763: J Schatzfinder morden einander. ⫺ 61 ⫽ AaTh/ATU 567: Das wunderbare J Vogelherz. ⫺ 95 ⫽ AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände. ⫺ 99 ⫽ AaTh/ATU 1645: J Traum vom Schatz auf der Brücke. ⫺ 103 ⫽ AaTh/ATU 575: Flügel des Königssohnes. ⫺ 118 ⫽ AaTh/ATU 1529: J Dieb als Esel. ⫺ 133 ⫽ AaTh/ATU 1610: J Teilung von Geschenken und Schlägen. ⫺ 138 ⫽ AaTh/ATU 891 B*: The King’s Glove. ⫺ 163 ⫽ AaTh/ATU 712: J Crescentia ⫹ AaTh/ATU 881: J Frau in Männerkleidung. ⫺ 172 ⫽ AaTh/ATU 759: J Engel und Eremit. ⫺ 178 ⫽ AaTh/ATU 936*: J Hasan von Basra ⫹ AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau. ⫺ 179 ⫽ AaTh/ATU 1137: J Polyphem. ⫺ 182 ⫽ AaTh/ATU 891 B*: The King’s Glove. ⫺ 183 ⫽ AaTh/ATU 1422: cf. Ehebruch verraten. ⫺ 187 ⫽ AaTh/ATU 1419 D: The Lovers as Pursuer and Fugitive. ⫺ 193 ⫽ AaTh/ATU 1515: Die weinende J Hündin. ⫺ 196 ⫽ AaTh/ATU 1358 B: cf. J Ehebruch belauscht. ⫺ 198 ⫽ AaTh/ATU 1730: cf.
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J Liebhaber bloßgestellt ⫹ AaTh/ATU 2036: A Drop of Honey Causes Chain of Accidents. ⫺ 199 ⫽ AaTh/ ATU 750 A: Die drei J Wünsche. ⫺ 204 ⫽ AaTh/ ATU 1426: Frau im Schrein. ⫺ 205 ⫽ AaTh/ATU 978: J Stadt der Gauner. ⫺ 207 ⫽ AaTh/ATU 1591: Die drei J Gläubiger. ⫺ 224 ⫽ AaTh/ATU 1526: J Bettler als Pfand ⫹ AaTh/ATU 1737: J Pfarrer im Sack. ⫺ 227 ⫽ AaTh/ATU 1889 H: cf. J Unterwasserwelt. ⫺ 229 ⫽ AaTh/ATU 1137: Polyphem. ⫺ 230 ⫽ AaTh/ATU 936*: Hasan von Basra ⫹ AaTh/ATU 400: Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau. ⫺ 238 ⫽ AaTh 1681*/ATU 1430: cf. Luftschlösser. ⫺ 247 ⫽ cf. J Lahmer und Blinder. ⫺ 253: cf. AaTh/ ATU 214 B: J Esel in der Löwenhaut. ⫺ 255 ⫽ AaTh/ATU 613: Die beiden J Wanderer ⫹ AaTh/ ATU 736 A: Ring des J Polykrates. ⫺ 256 ⫽ AaTh/ ATU 1889 H: cf. Unterwasserwelt. Aus g. Br es la u ( 18 25 ⫺4 3): 263 ⫽ AaTh/ATU 1531: J Bauer wird König für einen Tag ⫹ AaTh/ ATU 1556: Die doppelte J Pension. ⫺ 266 ⫽ cf. AaTh/ATU 921 B*: Die seltsamen J Berufe der drei Söhne. ⫺ 285 ⫽ AaTh/ATU 891 B*: The King’s Glove. ⫺ 289 ⫽ AaTh/ATU 655: Die scharfsinnigen J Brüder. ⫺ 291 ⫽ AaTh/ATU 910 D: cf. J Schatz hinter dem Nagel. ⫺ 295 ⫽ AaTh/ATU 1423: Der verzauberte J Birnbaum. ⫺ 299 ⫽ AaTh/ATU 763. ⫺ 304 ⫽ AaTh/ATU 1617: J Kredit erschwindelt. ⫺ 306 ⫽ AaTh/ATU 712: Crescentia ⫹ AaTh/ ATU 881: Frau in Männerkleidung. ⫺ 307 ⫽ AaTh 930 B/ATU 930 A: Die vorbestimmte J Frau. ⫺ 308 ⫽ AaTh/ATU 1641: J Doktor Allwissend. ⫺ 309 ⫽ AaTh/ATU 1654: J Räuber in der Totenkammer. ⫺ 313 ⫽ AaTh/ATU 891 B*: The King’s Glove. ⫺ 316 ⫽ AaTh/ATU 938: J Placidas. ⫺ 337 ⫽ AaTh/ATU 960 A: J Kraniche des Ibykus. Ü be rs . G al la nd 95: 346 ⫽ AaTh/ATU 561: Alad(d)in. ⫺ 349 ⫽ AaTh/ATU 726**/836 F*: The Miser and the Eye Ointment. ⫺ 350 ⫽ AaTh/ATU 836 F*: The Miser and the Eye Ointment. ⫺ 351 ⫽ AaTh/ ATU 449: Sidi Numan. ⫺ 352 ⫽ AaTh/ATU 736 A: Polykrates: Ring des P. ⫺ 353 ⫽ AaTh 676 ⫹ 954/ ATU 954: Ali Baba und die vierzig Räuber. ⫺ 354 ⫽ AaTh/ATU 1617: Kredit erschwindelt. ⫺ 355 ⫽ AaTh/ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt ⫹ AaTh/ATU 653: Die vier kunstreichen J Brüder (Kap. 7). ⫺ 356 ⫽ AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne. Ms. Wo rt le y- Mo nt ag ue 96: 357 ⫽ AaTh 655 A/ ATU 655: Brüder: Die scharfsinnigen B. ⫺ 365 ⫽ AaTh/ATU 1250: J Brunnenkette. ⫺ 369 ⫽ cf. AaTh/ATU 1739: J Priester soll Kalb gebären. ⫺ 370 ⫽ AaTh/ATU 926: cf. J Salomonische Urteile. ⫺ 371 ⫽ AaTh/ATU 1381: cf. Die geschwätzige J Frau ⫹ AaTh/ATU 1642: Der gute J Handel. ⫺ 375 ⫽ AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter. ⫺ 376 ⫽ AaTh/ATU 1538: J Rache des Betrogenen ⫹ AaTh/ATU 1551: J Wettbetrug. ⫺ 377 ⫽ AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit. ⫺ 380 ⫽ AaTh/ATU 560: J Zauberring. ⫺ 382 ⫽ AaTh/ATU 613: Wanderer: Die beiden W. ⫹ AaTh/ ATU 707: Söhne: Die drei goldenen S. ⫺ 384 ⫽
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AaTh/ATU 881: Frau in Männerkleidung. ⫺ 388 ⫽ AaTh/ATU 1423: Birnbaum: Der verzauberte B. ⫺ 390 ⫽ AaTh 949*/ATU 888 A*: The Basket Maker ⫹ AaTh/ATU 1000: cf. J Zornwette. ⫺ 393 ⫽ AaTh/ATU 1730: cf. Liebhaber bloßgestellt. ⫺ 394 ⫽ AaTh/ATU 1419: The Returning Husband Hoodwinked. ⫺ 395 ⫽ AaTh/ATU 1545: J Junge mit vielen Namen. ⫺ 398 ⫽ AaTh/ATU 1419: The Returning Husband Hoodwinked. ⫺ 400 ⫽ AaTh/ATU 613: Wanderer: Die beiden W. ⫺ 401 ⫽ AaTh/ATU 861: Rendezvous verschlafen. ⫺ 402 ⫽ AaTh/ATU 1380: J Blindfüttern. ⫺ 403 ⫽ AaTh/ATU 1741: J Priesters Gäste. ⫺ 406 ⫽ AaTh/ATU 1563: J „Beide?“ ⫺ 408 ⫽ AaTh/ATU 938. ⫺ 503 ⫽ AaTh/ATU 1284: cf. Irrige J Identität ⫹ cf. AaTh/ATU 1288 A: Sich nicht J zählen können ⫹ cf. AaTh/ATU 1406: J Wette der Frauen, wer den Mann am besten narrt. ⫺ 504 ⫽ AaTh/ATU 1537: Die mehrmals getötete J Leiche. ⫺ 508 ⫽ AaTh/ATU 1288: J Beinverschränkung ⫹ cf. AaTh/ATU 1327: Emptying the Flour Sack. ⫺ 511 ⫽ AaTh/ATU 1380: Blindfüttern. ⫺ 512 ⫽ AaTh/ATU 712: Crescentia ⫹ AaTh/ATU 881: Frau in Männerkleidung. ⫺ 517 ⫽ AaTh/ATU 1641: Doktor Allwissend. Ms. Ch av is 97: 409 ⫽ AaTh/ATU 852: J Redekampf mit der Prinzessin ⫹ AaTh/ATU 921 E: Never Heard Before ⫹ AaTh/ATU 922 A: J Achikar. ⫺ 411 ⫽ AaTh 851 A/ATU 851: cf. J Rätselprinzessin ⫹ AaTh/ATU 910 K: J Gang zum Eisenhammer (Kalkofen). ⫺ 412 ⫽ AaTh/ATU 562: J Geist im blauem Licht ⫹ AaTh/ATU 681: J Relativität der Zeit. ⫺ 413 ⫽ AaTh/ATU 62: J Friedensfabel. ⫺ 414 ⫽ AaTh/ATU 150: Die drei J Lehren des Vogels ⫹ AaTh 245*/ATU 68*: The Fox Jeers at the Fox Trap. ⫺ 415 ⫽ J Athis und Prophilias. ⫺ 417 ⫽ AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen. Ü be rs . Wei l98: 435 ⫽ cf. AaTh/ATU 681: Relativität der Zeit. ⫺ 436 ⫽ AaTh/ATU 1215: J Asinus vulgi. ⫺ 439 ⫽ AaTh/ATU 976: Die vornehmste J Handlung. ⫺ 440 ⫽ AaTh/ATU 910 B: cf. Die klugen J Ratschläge. ⫺ 441 ⫽ AaTh/ATU 678: J Seelentier. ⫺ 443 ⫽ cf. AaTh/ATU 681: Relativität der Zeit ⫹ AaTh/ATU 1510: J Witwe von Ephesus. Ü be rs . Mar dr us 99: 452 ⫽ AaTh/ATU 1675: J Ochse als Bürgermeister. ⫺ 453 ⫽ AaTh/ATU 1419 B: J Bock im Schrank. ⫺ 454 ⫽ AaTh/ATU 1534: Die Urteile des J Schemjaka. ⫺ 456 ⫽ cf. AaTh/ ATU 681: Relativität der Zeit. ⫺ 458 ⫽ AaTh/ATU 1164: J Belfagor. ⫺ 459 ⫽ AaTh/ATU 910 D. ⫺ 461 ⫽ AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella. ⫺ 462, 463 ⫽ AaTh/ATU 314: J Goldener. ⫺ 464 ⫽ AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter ⫹ AaTh/ATU 879: J Basilikummädchen. ⫺ 466 ⫽ AaTh/ATU 1419 C: Der einäugige J Ehemann. ⫺ 468 ⫽ AaTh/ATU 449: Sidi Numan. ⫺ 471, 472 ⫽ AaTh 513 C/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue. ⫺ 473 ⫽ AaTh/ATU 923 B: The Princess Who Is Responsible for Her Own Fortune. ⫺ 474 ⫽ AaTh 621/ATU 857: J Lausfell erraten. ⫺ 476 ⫽ AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit. ⫺ 478 ⫽ AaTh/ATU 314: Gol-
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dener. ⫺ 479 ⫽ AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler. ⫺ 489 ⫽ AaTh/ATU 1567 C: Den großen J Fisch befragen. 1 Galland, A.: Les mille et une Nuit 1⫺12. P. 1704/ 04/04/04/04/04/06/09/12/12/17/17; id.: Les mille et une Nuits 1⫺3. ed. J.-P. Sermain/A. Chraı¨bi. P. 2004. ⫺ 2 Hammer, J. de: Sur l’Origine des Mille et une Nuits. In: J. asiatique 10 (1827) 253⫺256; Hammer-Purgstall, J. de: Note: Sur l’Origine des Mille et une Nuits. ibid. 3,8 (1839) 171⫺176; id.: Der Tausend und einen Nacht noch nicht übers. Mährchen, Erzählungen und Anekdoten 1⫺3. Stg. 1823 (Faks. Hildesheim/N. Y. 1976). ⫺ 3 Goeje, M. J. de: De arab. nachtvertellingen. In: De gids 50 (1886) 385⫺ 413. ⫺ 4 Zotenberg, H.: Notice sur quelques mss. de „Mille et une Nuits“ et la traduction de Galland. In: Notices et extraits des mss. de la Bibl. Nationale 28 (1887) 167⫺235. ⫺ 5 Cosquin, E.: Le Prologue-cadre des „Mille et une Nuits“ [1909]. In: id.: E´tudes folkloriques. P. 1922, 265⫺347. ⫺ 6 Chauvin, V.: Bibliogr. des ouvrages arabes ou relatifs aux Arabes publie´s dans l’Europe chre´tienne de 1810 a` 1885. t. 4⫺7. Lie`ge/Leipzig 1900/01/02/03. ⫺ 7 MacDonald, D. B.: Maximilian Habicht and His Recension of the „Thousand and One Nights“. In: J. of the Royal Asiatic Soc. (1909) 685⫺704; id.: „Ali Baba and the Forty Thieves“ in Arabic from a Bodleian Ms. ibid. (1910) 327⫺386; id.: Lost Mss. of the „Arabian Nights“ and a Projected Edition of that of Galland. ibid. (1911) 219⫺221; id.: A Preliminary Classification of Some Mss. of the „Arabian Nights“. In: A Volume of Oriental Studies. Festschr. E. G. Browne. Cambr. 1922, 304⫺321; id.: The Earlier History of the „Arabian Nights“. In: J. of the Royal Asiatic Soc. (1924) 353⫺397. ⫺ 8 Littmann, E.: „T. N.“ in der arab. Lit. Tübingen 1922; id.: Alf layla wa-layla. In: EI2 1 (1960) 358⫺364. ⫺ 9 Mahdi, M.: The Thousand and One Nights (Alf Layla wa-Layla) from the Earliest Known Sources 1⫺3. Leiden 1984/84/94. ⫺ 10 Grotzfeld, H.: Neglected Conclusions of the „Arabian Nights“. In: J. of Arabic Literature 16 (1985) 73⫺87; id.: Textverarbeitung, Var.n und Korruptelen und Prolog und Rahmengeschichte von „T. N.“ In: Festschr. H.-R. Singer. Ffm. 1991, 841⫺854; id.: The Age of the Galland Ms. of the „Nights“. Numismatic Evidence for Dating a Ms. In: J. of Arabic and Islamic Studies 1 (1996⫺97) 50⫺64; id.: Proto-ZÄRHss. von „1001 Nacht“ in den Gothaer Beständen. In: Wilhelm Pertsch ⫺ Orientalist und Bibliothekar. Zum 100. Todestag. ed. H. Stein. Gotha 1999, 91⫺ 108. ⫺ 11 Gerhardt, M.: The Art of Story-telling. A Literary Study of the „Thousand and One Nights“. Leiden 1963; cf. Marzolph/van Leeuwen 2, 570⫺573. ⫺ 12 Pinault, D.: Story-telling Techniques in the „Arabian Nights“. Leiden 1992. ⫺ 13 Grotzfeld, H. und S.: Die Erzählungen aus „T.r N.“ Darmstadt 1984; Walther, W.: „Tausend und eine Nacht“. Eine Einführung. Mü. 1987; Irwin, R.: The Arabian Nights. A Companion. L. 1994 (Neudruck L. 2004); Mar-
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ein Nächten. Die in anderen Versionen von „1001 Nacht“ nicht enthaltenen Geschichten der WortleyMontague-Hs. der Oxforder Bodleian Library. Ffm. 1995; Chraı¨bi, A.: Contes nouveaux des „1001 Nuits“. E´tude du ms. Reinhardt. P. 1996; Bauden, ` propos F.: Un Ms. ine´dit des „Mille et une Nuits“. A de l’exemplaire de l’Univ. de Lie`ge (Ms. 2241). In: Chraı¨bi (wie not. 14) 465⫺475. ⫺ 41 Chauvin 4, 17 sq.; Mahdi (wie not. 9) t. 3, 87⫺126; Marzolph/van Leeuwen 2, 545 sq. ⫺ 42 MacDonald 1909 (wie not. 7); Marzolph/van Leeuwen 2, 579 sq. ⫺ 43 Mahdi (wie not. 9) t. 1⫺2. ⫺ 44 Lane, E. W.: The Thousand and One Nights, Commonly Called in England „The Arabian Nights’ Entertainments“ 1⫺3. L. 1839/40/41; cf. Chauvin 4, 102⫺107; Marzolph/van Leeuwen 2, 617⫺620. ⫺ 45 Marzolph/ van Leeuwen 2, 724⫺727. ⫺ 46 Burton, R. F.: A Plain and Literal Translation of the „Arabian Nights’ Entertainments“ 1⫺16. Benares [i. e. L.] 1885; cf. Chauvin 4, 82⫺85; Marzolph/van Leeuwen 2, 505⫺508. ⫺ 47 Payne, J.: The Book of the Thousand Nights and One Night 1⫺9. L. 1882; Chauvin 4, 110 sq.; Marzolph/van Leeuwen 2, 668⫺670. ⫺ 48 Mathers, P.: The Book of the Thousand Nights and One Night 1⫺4. L. 1937; Mardrus, J. C. V.: Le Livre des Mille Nuits et une nuit 1⫺16. P. 1899⫺ 1904; cf. Chauvin 9, bes. 80⫺75; Larzul (wie not. 31) 140⫺216; Marzolph, U.: Juhø a¯ in the „Arabian Nights“. In: J. of Arabic Literature 36,3 (2005) 311⫺ 322, hier 313 sq. ⫺ 49 Voß, J. H.: Die Tausend und Eine Nacht 1⫺6. Bremen 1781/81/82/82/83/85; cf. Wieckenberg, E.-P.: Johann Heinrich Voß und „Tausend und eine Nacht“. Würzburg 2002. ⫺ 50 Habicht, M./Hagen, F. H. von der/Schall, C.: Tausend und eine Nacht 1⫺15. Breslau 1825; cf. Chauvin 4, 96 sq. ⫺ 51 Weil, G.: Tausend und Eine Nacht 1⫺4. Stg. 1838/ 39/41/41; cf. Chauvin 4, 116⫺120; Marzolph/van Leeuwen 2, 736. ⫺ 52 Greve, F. P.: Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten 1⫺12. Lpz. 1907⫺ 08; cf. allg. Martens, K.: Felix Paul Greves Karriere. Frederick Philip Grove in Deutschland. St. Ingbert 1997. ⫺ 53 Littmann, E.: Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten 1⫺6. (Lpz. 1921/22/24/26/ 27/28) Ffm. 1953 u. ö. ⫺ 54 Haddawy, H.: The Arabian Nights. N. Y. 1990; Leeuwen, R. van: De vertellingen van duizend-en-e´e´n-nacht 1⫺14. Amst. 1993⫺96; Ott, C.: T. N. Mü. 2004. ⫺ 55 cf. hingegen Grotzfeld, H.: Neglected Conclusions of the „Arabian Nights“ [1985]. In: Marzolph (wie not. 25) 87⫺ 104. ⫺ 56 Gerhardt (wie not. 11) 401⫺416. ⫺ 57 Todorov, T.: Les Hommes-re´cits. In: id.: Poe´tique de la prose. P. 1971, 78⫺91; id.: Narrative Men [1977]. In: Marzolph (wie not. 25) 226⫺238. ⫺ 58 Coussonnet, P.: Pense´e mythique, ide´ologie et aspirations sociales dans un conte des „Mille et une Nuits“. Kairo 1989; Molan, P. D.: Sindbad the Sailor. A Commentary on the Ethics of Violence [1978]. In: Marzolph (wie not. 25) 327⫺346. ⫺ 59 cf. Chraı¨bi, A.: Situation, Motivation, and Action in the „Arabian Nights“. In: Marzolph/van Leeuwen 1, 5⫺9, hier 6. ⫺ 60 Heath,
301
Taylor, Archer
P.: Romance as Genre in „The Thousand and One Nights“ [1987⫺88]. In: Marzolph (wie not. 25) 170⫺ 225. ⫺ 61 Paret, R.: Der Ritter-Roman ¤Umar an-Nu¤man und seine Stellung zur Slg von T. N. Tübingen 1927; Marzolph/van Leeuwen 1, 430⫺439, num. 39. ⫺ 62 cf. Marzolph/van Leeuwen 2, 470⫺472; Yamanaka, Y.: Alexander in the „Thousand and One Nights“ and the Ghaza¯lı¯ Connection. In: Yamanaka/ Nishio (wie not. 14) 93⫺115. ⫺ 63 Osigus, A.: Ein Fabelzyklus in 1001 Nacht. Diss. Münster 2000. ⫺ 64 cf. Marzolph (wie not. 22) 278⫺280. ⫺ 65 Grunebaum, G. E. von: Greek Form Elements in the „Arabian Nights“ [1942]. In: Marzolph (wie not. 25) 137⫺169. ⫺ 66 Perles, J.: Rabbinische Agadas in „1001 Nacht“. In: Monatsschrift für Geschichte und Wiss. des Judenthums 22 (1873) 14⫺34, 61⫺85, 116⫺125; Marzolph/van Leeuwen 2, 609 sq. ⫺ 67 Schützinger, H.: Die Schelmengeschichten in „T. N.“ als Ausdruck der ägypt. Volksmeinung. In: Rhein. Jb. für Vk. 21 (1973) 200⫺215; Grotzfeld, H.: Contes populaires de l’e´poque Mamlouke dans les „Mille et une Nuits“. In: Aram 9⫺10 (1997⫺98) 43⫺ 54; Perho, I.: The „Arabian Nights“ as a Source for Daily Life in the Mamluk Period. In: Studia Orientalia 85 (1999) 139⫺162. ⫺ 68 Grotzfeld/Grotzfeld (wie not. 13) 68 sq. ⫺ 69 Wesselski, MMA, num. 1. ⫺ 70 Marzolph/van Leeuwen 1, 172 ⫺174, num. 103; 2, 673 sq., 551 sq., 510; 1, 392 sq., num. 263. ⫺ 71 Marzolph/van Leeuwen 1, 409 sq.; Parker, M.: The Story of a Story across Cultures. The Case of the „Doncella Teodor“. L. 1996. ⫺ 72 Irwin (wie not. 13) 236⫺292. ⫺ 73 Fattah, A. R. A.: Wilhelm Hauff und „1001 Nacht“. Diss. Lpz. 1970; Bondavalli, L.: Wilhelm Hauff e le „Mille e una notte“. In: Il paese altro. Presenze orientali nella cultura tedesca moderna. ed. M. E. D’Agostini. Neapel 1983, 127⫺ 150. ⫺ 74 Mommsen, K.: Goethe und 1001 Nacht. B. 1981. ⫺ 75 Hora´lek, K.: Märchen aus „Tausend und einer Nacht“ bei den Slaven. In: Fabula 10 (1969) 155⫺195; Cox, H. L.: „L’Histoire du cheval enchante´“ aus „1001 Nacht“ in der mündl. Überlieferung Frz.-Flanderns. In: Volkskultur, Geschichte, Zeugen. Festschr. W. Brückner. Würzburg 1990, 581⫺596; Badalkhan, S.: The Tale of „Aladdin and the Magic Lamp“ in Balochi Oral Tradition. In: Fabula 45 (2004) 207⫺220; Chraı¨bi, A.: Galland’s „Ali Baba“ and Other Arabic Versions. In: Marvels & Tales 18 (2004) 159⫺169; Papachristophorou, M.: The „Arabian Nights“ in Greece. A Comparative Survey of Greek Oral Tradition. In: Fabula 45 (2004) 311⫺329; Marzolph, U.: Märchen aus „T. N.“ in der mündl. Überlieferung Europas. In: Sichtweisen der Märchenforschung. ed. C. Schmitt. Baltmannsweiler (im Druck). ⫺ 76 Marzolph/van Leeuwen 1, 172⫺174, num. 103. ⫺ 77 Birkalan, H.: The „Thousand and One Nights“ in Turkish. In: Fabula 45 (2004) 221⫺236, hier 224 sq. ⫺ 78 Geider, T.: Alfu Lela Ulela. The „Thousand and One Nights“ in Swahili-speaking East Africa. In: Fabula 45 (2004) 246⫺ 260. ⫺ 79 Cohen, M. I.: „Thousand and One Nights“
302
at the Komedie Stamboel. In: Ouyang/van Gelder (wie not. 14) 103⫺114. ⫺ 80 Sugita, H.: The „Arabian Nights“ in Modern Japan. In: Yamanaka/Nishio (wie not. 14) 116⫺153; Mori, C.: Mishima et „Les Mille et une Nuits“. Re´ception et re´appropriation des „Nuits“ au Japon. In: Chraı¨bi (wie not. 14) 151⫺161; ead.: Fortunes et infortunes d’une œuvre. Une sociologie de la re´ception des „Mille et une Nuits“ au Japon. In: Joly/Kilito (wie not. 14) 313⫺ 324. ⫺ 81 Bacchilega, C./Arista, N.: The „Arabian Nights“ in a Nineteenth-century Hawaiian Newspaper. ibid., 189⫺206. ⫺ 82 Walther, W.: Modern Arabic Literature and the „Arabian Nights“. In: Marzolph/van Leeuwen 1, 54⫺61; Malti-Douglas, F.: Shahraza¯d Feminist [1997]. In: Marzolph (wie not. 25) 347⫺ 364; Benzakour-Chami, A.: Le Parfum des „Nuits“ dans la litte´rature fe´minine du Maroc. In: Joly/Kilito (wie not. 14) 275⫺297. ⫺ 83 Irwin, R.: „A Thousand and One Nights“ at the Movies. In: Ouyang/van Gelder (wie not. 14) 91⫺101; Kleiner, F.: Scheherazade im Kino. „1001 Nacht“ aus Hollywood. Marburg 2006. ⫺ 84 Haase, D.: The „Arabian Nights“, Visual Culture, and Early German Cinema. In: Fabula 45 (2004) 261⫺273, bes. 268⫺270. ⫺ 85 Liptay, F.: WunderWelten. Märchen im Film. Remscheid 2004, bes. 153⫺179. ⫺ 86 Happ, A.: Lotte Reiniger. Schöpferin einer neuen Silhouettenkunst. Tübingen 2004, 21⫺27. ⫺ 87 Ouyang, W.-C.: Ide´ologie du genre et subjectivite´ auctoriale dans „Les Mille et une Nuits“ de Pasolini. In: Chraı¨bi (wie not. 14) 81⫺ 94. ⫺ 88 Cooperson, M.: The Monstrous Births of „Aladdin“ [1994]. In: Marzolph (wie not. 25) 265⫺ 282; Marzolph, U.: Das Aladdin-Syndrom. Zur Phänomenologie des narrativen Orientalismus. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschr. R. Schenda. Bern 1995, 449⫺462. ⫺ 89 Marzolph/van Leeuwen 1, 183 sq., num. 8. ⫺ 90 Chauvin. ⫺ 91 El-Shamy, H.: A Motif Index of „Alf laylah wa laylah“. In: J. of Arabic Literature 36 (2005) 235⫺ 268; id. (wie not. 20). ⫺ 92 Elisse´eff, N.: The´mes et motifs des „Mille et une Nuits“. Essai de classification. Beirut 1949. ⫺ 93 Marzolph, U.: The „Arabian Nights“ in Comparative Folk Narrative Research. In: Yamanaka/Nishio (wie not. 14) 3⫺24; El-Shamy (wie not. 20) 657⫺667. ⫺ 94 ibid. 2, 745⫺782 (Konkordanztabelle); zu Unters.en der einzelnen Geschichten cf. die bibliogr. Angaben bei Marzolph/van Leeuwen. ⫺ 95 wie not. 1. ⫺ 96 Tauer (wie not. 40). ⫺ 97 v. Burton (wie not. 46) 16, 3⫺368. 98 Weil (wie not. 51). ⫺ 99 Mardrus (wie not. 48).
Göttingen
Ulrich Marzolph
Taylor, Archer, * Philadelphia 1. 8. 1890, † Napa (Kalifornien) 30. 9. 1973, nordamerik. Folklorist, Germanist und Philologe. T. stammte aus einer Quäkerfamilie. Er studierte
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Taylor, Archer
1906⫺09 Sprach- und Lit.wissenschaften mit Schwerpunkt Deutsch am Swarthmore College bei Philadelphia sowie 1909⫺10 an der Univ. of Pennsylvania in Philadelphia (Master of Arts 1910). Eine danach unternommene mehrmonatige Studienreise durch Europa beeinflußte entscheidend seine spätere wiss. Beschäftigung mit Lit. und mit sprachlichen Phänomenen. In Philadelphia unterrichtete er 1910⫺12 Deutsch am Pennsylvania State College. 1912⫺15 setzte er sein Studium an der Harvard Univ. in Cambridge (Mass.) mit den Fächern Anglistik, Germanistik und Skandinavistik fort und wurde 1915 mit der Diss. The Märchen-Motifs in Wolfdietrich promoviert. 1915⫺25 lehrte T. als Assistenzprofessor Germanistik an der Washington Univ. in St. Louis (Missouri). 1925 erhielt er den Ruf an die Univ. of Chicago und leitete dort 1927⫺39 das Department of Germanic Languages and Literatures. Danach war T. bis zu seiner Emeritierung 1958 an der Univ. of California in Berkeley als Professor of German Literature and Folklore tätig. T. war Mitbegründer der California Folklore Soc. (1941), Herausgeber der Zs. Modern Philology (1925⫺39), Mitherausgeber der Zs. California Folklore Quart. (seit 1947 Western Folklore; 1942⫺54) und der Zs. Fabula (1958⫺74). Gemeinsam mit M. J Kuusi begründete T. die internat. Zs. Proverbium (1965⫺75). 1936⫺37 war er Präsident der American Folklore Soc. und 1951 Präsident der Modern Language Assoc. of America. Seit 1959 war er Ehrendoktor der Univ. Kiel. Zu T.s Ehren wurden zwei Festschr.n publiziert1. Sein Nachlaß und große Teile der Bibl. befinden sich an der Univ. of Georgia in Athens2. T. war ein ungemein produktiver Wissenschaftler (mehr als 400 Veröff.en, etwa 800 Rez.en), der auch grundlegende Beitr.e für Hbb. wie HDA, HDM oder StandDict. verfaßte. Lebenslang trat er für eine vergleichende und hist. fundierte Erzählforschung ein (J Geogr.hist. Methode, J Komparatistik)3. Mit S. J Thompson, F. L. J Utley und W. D. J Hand gehört T. zu den einflußreichsten nordamerik. Erzählforschern seiner Zeit, welche die Verbindung zu Europa nie abreißen ließen. Seine wiss. Stärke lag in der Verbindung von Lit.- und Sprachwissenschaft sowie Vk. unter Berufung auf schriftl. Quellen aus aller Welt,
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von der Antike bis zur Moderne; auch war er ein großer Kenner auf dem Gebiet des Buchwesens4. Von den für die Erzählforschung relevanten Genres interessierten ihn bes. J Sprichwörter, J Redensarten5 und J Rätsel6, doch hat er auch Veröff.en zu Märchen7, Sagen8, Volksliedern9, Balladen10 und Gebärden11 vorgelegt. Für die internat. Erforschung des Sprichworts hat T. über 100 selbständige Publ.en und Beitr.e verfaßt12. Seine Arbeit The Proverb (Cambr., Mass. 1931) mit separatem Index (An Index to „The Proverb“ ([FFC 73]. Hels. 1934) ist ein Standardwerk der internat. Parömiologie13. Eine weitere grundlegende Arbeit stellt T.s Unters. English Riddles from Oral Tradition (Berk. 1951) dar. Eine breite internat. Nachwirkung innerhalb der J Anordnungsprinzipien14 von Volkserzählungen erreichte T.s Analyse der sog. J Kettenmärchen, die er in ihrer J Formelhaftigkeit zum erstenmal zu unterscheiden suchte15. Diese Einteilung übernahm Thompson später für den internat. Typenkatalog AaTh (1961). 1 Humaniora. Essays in Literature, Folklore, Bibliogr. Festschr. A. T. on His Seventieth Birthday. Locust Valley, N. Y. 1960; Proverbium 15 (1970) 417⫺552. ⫺ 2 cf. Arlt, G. O.: A. T. In: Festschr. T. 1960 (wie not. 1) 1⫺7 (Biogr.); Loomis, C. G.: Bibliogr. of the Writings of A. T. ibid., 356⫺374; Hand, W. D.: A. T. (1890⫺1973). In: JAFL 87 (1974) 3⫺9; Ward, D.: A. T. 1890⫺1973. In: Fabula 15 (1974) 124⫺127; Mieder, W.: Introduction. In: T., A.: The Proverb/An Index to „The Proverb“. Nachdr. ed. W. Mieder. Bern 1985, V⫺LIII. ⫺ 3 cf. T., A.: Comparative Studies in Folklore. Asia ⫺ Europe ⫺ America. Taipei 1972. ⫺ 4 cf. id.: Renaissance Reference Books. A Checklist of Some Bibliogr.s Published before 1700. Berk./L. A. 1941; id.: A History of Bibliogr.s of Bibliogr.s. New Brunswick 1955; id./Ellis, F. H.: A Bibliogr. of Meistergesang. Bloom. 1936; T., A.: Problems in German Literary History of the 15th and 16th Centuries. N. Y. 1939; id./Arlt, G. O.: Printing and Progress. Berk. 1941; T., A.: Renaissance Guides to Books. Berk. 1945; id./Mosher, F. J.: The Bibliogr. History of Anonyma and Pseudonyma. Chic. 1951; T., A.: Book Catalogues. Their Varieties and Uses. Chic. 1957; id.: Catalogues of Rare Books. Lawrence 1958; id.: The Literary History of Meistergesang. N. Y. 1937; id.: General Subject-Indexes since 1548. Phil. 1966. ⫺ 5 id.: Selected Writings on Proverbs (FFC 216). ed. W. Mieder. Hels. 1975. ⫺ 6 T. A./Hull, V.: Bibliogr. of Riddles (FFC 126). Hels. 1939; T., A.: The Literary Riddle before 1600. Berk. 1948; id.: An Annotated
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Technik ⫺ Teeren und federn
Collection of Mongolian Riddles. In: Transactions of the American Philosophical Soc. 44 (1954) 319⫺ 425; id./Hull, V.: A Collection of Irish Riddles. Berk./L. A. 1955. ⫺ 7 T., A.: The Black Ox. A Study in the History of a Folk-Tale (FFC 70). Hels. 1927. ⫺ 8 id.: The Devil and the Advocate. In: Publ.s of the Modern Language Assoc. 36 (1921) 35⫺59; id.: Northern Parallels to the Death of Pan. In: Washington Univ. Studies 10,1 (1922) 3⫺102. ⫺ 9 cf. id.: ,Niemals‘ in einem hist. Schweizer Volkslied. In: Volkskundliche Gaben. Festschr. J. Meyer. B. 1934, 280 sq. ⫺ 10 id.: Edward and Sven i Rosenga˚rd. A Study in the Dissemination of a Ballad. Chic. 1931. ⫺ 11 id.: The Shanghai Gesture (FFC 166). Hels. 1956 (zur internat. Verbreitung der Gebärde und Redensart ,einem eine lange Nase machen‘). ⫺ 12 cf. bes. T., A.: Proverbial Comparisons and Similes from California. Berk./L. A. 1954; id./Whiting, B. J.: A Dict. of American Proverbs and Proverbial Comparisons and Expressions, 1820⫺1880. Cambr. 1958. ⫺ 13 Nachdr. in einem Band (Hatboro 1962; cf. auch T./Mieder [wie not. 2]). ⫺ 14 T., A.: Anordnungsprincipien. In: HDM 1 (1930⫺33) 73⫺79. ⫺ 15 id.: A Classification of Formula Tales. In: JAFL 46 (1933) 77⫺88; id.: Formelmärchen. In: HDM 2 (1934⫺40) 164⫺191.
Burlington
Wolfgang Mieder
Technik J Modernismen Teeren und federn (AaTh/ATU 1383, 1681). In Schwänken bildet die J Strafe des T.s und F.s ein wesentliches Handlungselement mit unterschiedlicher Funktion, vor allem in Fassungen von AaTh/ATU 1383: The Woman Does Not Know Herself und AaTh/ATU 1681: The Boy’s Desasters. In Sagen und Märchen ist das T. und F. selten erwähnt (Mot. Q 414.1: Boiling in oil [lead, tar]); cf. AaTh 833*: Vanity Punished [estn., slov.]). Rechtsquellen bewerten das T. und F. als Mittel der Volksjustiz ohne ordentliches Gerichtsverfahren. Dabei wurden vermeintlich oder tatsächlich Schuldige mit Teer bestrichen (in Teer gesiedet oder gewälzt), mit J Federn beworfen und fortgejagt und dadurch für vogelfrei erklärt1. AaTh/ATU 1383 basiert in Grundzügen auf dem Topos der dummen Frau, die alles verkehrt macht. Zwar ist eine große Zahl ähnlicher Dummengeschichten (J Dummheit) seit dem Spätmittelalter bekannt, aber die Strafaktion des T.s und F.s ist als späte Zutat erst seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s nachweisbar2.
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Ein Mann zieht seiner schlafenden (betrunkenen) Frau zur Strafe für ihr törichtes Verhalten ein anderes Kleid an (entblößt sie durch Zerteilen der Kleidung) und schneidet ihr zusätzlich die Haare ab, oder er beschmiert seine faule (dumme, betrunkene) Frau (J Fleiß und Faulheit) mit Teer (Sirup) und überschüttet sie mit Federn. Niemand erkennt sie mehr. Auch sie selbst zweifelt an ihrer Identität (glaubt, daß sie ein Tier oder ein Teufel sei; fragt ihre Kinder nach deren Mutter; ist verwirrt).
Der aktionsreiche Schwank zeigt Frauen, deren geistige und sprachliche Gaben sehr bescheiden sind, in erniedrigender Situation. Die Komik beruht auf absurdem Mißgeschick und daraus resultierenden Zweifeln an der eigenen Identität3. Eher selten endet der Schwank harmonisch wie in russ. Fassungen, in denen der Bauer seiner Frau verzeiht und sie wieder aufnimmt4. Es ergeben sich verschiedentlich Kontaminationen mit AaTh/ATU 1284: cf. Irrige J Identität, AaTh/ATU 1285: J Hemd anziehen, AaTh/ATU 1332, 1384: J Narrensuche, AaTh/ATU 1385: J Pfand der dummen Frau, AaTh/ATU 1540: J Student aus dem Paradies (Paris)5, ohne daß ein geogr. Schwerpunkt auszumachen wäre. In Verbindungen mit AaTh/ATU 1382: Der törichte J Kuhhandel und AaTh/ATU 1385 wird die Frau wegen ungeschickt verlaufener Handelsgeschäfte geteert und gefedert6. In Schwänken mit J Brautproben enden die Prüfungen der Braut damit, daß der Freier, entnervt von dem ständigen Mißgeschick seiner Zukünftigen, ihr ein Narrengewand überwirft, so daß sie sich selbst nicht mehr erkennt. Diese Alternative zur Strafe des T.s und F.s wurde durch KHM 34, AaTh/ATU 1450: J Kluge Else und daran anknüpfende Fassungen bes. in Mitteleuropa bekannt7. Nicht immer verlaufen die Aktionen zu Ungunsten der dummen Frau. Manchmal hilft ihr der glückliche Zufall: In einer anschließenden Episode werden durch das merkwürdige Aussehen der Frau Räuber erschreckt. Sie lassen ihre Beute (Schätze) im Stich und ergreifen von Panik ergriffen die Flucht (AaTh/ATU 1653: cf. J Räuber unter dem Baum, AaTh/ ATU 1527: cf. J Räuber betrogen)8. Im Mittelpunkt von AaTh/ATU 1681: The Boy’s Disasters steht ein dummer Mann, der unfähig ist, in alltäglichen Situationen adäquat zu reagieren. Ein Mann (Junge) erleidet eine Reihe von Mißgeschicken: Er tötet versehentlich sein Pferd (Hund).
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Teeren und federn
Er versucht, einen Hecht (Ente) zu erschlagen, und verliert dabei seine Axt im Fluß (See). Als er nackt ins Wasser steigt, um diese zu suchen, werden ihm seine Kleider gestohlen. Er gerät in Behälter mit Teer und Federn, kommt geteert und gefedert nach Hause zurück und wird dort vom Hund, der ihn nicht erkennt, gebissen. Er tritt im Haus ein Baby tot, stößt ein Messer vom Schrank, das ihm im Fallen den Penis abtrennt, und wird daraufhin von seiner Frau fortgejagt.
Der Dummenschwank ist vor allem aus nord- und osteurop. mündl. Überlieferung bekannt, Geschichten mit vergleichbaren Abenteuern sind aber auch in anderen Regionen aufgezeichnet worden9. Charakteristisch ist die Verknüpfung mehrerer zusammenhangloser Episoden, die ähnliche Mißgeschicke des Dummen bei der Erledigung von Hausarbeiten betreffen können; daher kommt es oft zu unterschiedlichen typol. Zuordnungen. Es ergeben sich bes. Affinitäten zu AaTh/ATU 1408: J Hausarbeit getauscht, AaTh 1218, 1677/ATU 1218: J Eierbrüter, AaTh/ATU 1319: J Eselsei ausbrüten und AaTh/ATU 1696: J „Was hätte ich sagen (tun) sollen?“10 sowie zu AaTh/ATU 1681 A⫺B: cf. J Mißverständnisse und daraus resultierenden absurden Handlungen bei J Freierproben11. Die Mißgeschicke des Dummen werden mitunter durch T. und F. bestraft. Mit Eiern und Kleie (Honig bzw. Teer und Federn) bedeckt, wird der Dummkopf für den Teufel gehalten12. In Ehebruchschwänken findet sich das Motiv des T.s und F.s auch als Bloßstellung und Bestrafung des unerwünschten Freiers13. Eheleute agieren dabei gemeinsam, staffieren den Getäuschten (oft Geistlicher) als Teufel aus und geben ihn öffentlich der Lächerlichkeit preis (AaTh/ATU 1358 A: cf. J Ehebruch belauscht)14. Andere J Täuschungen betreffen die listige Errettung einer dem Teufel verschriebenen Seele (J Teufelspakt), die ebenfalls durch gemeinsames Handeln eines Ehepaars erreicht wird. Die nackte Ehefrau läßt sich mit Sirup oder Teer bestreichen und wälzt sich in Federn, der Teufel erschrickt vor dem seltsamen Geschöpf und flieht15. Der Mann kann dadurch die geforderte J Aufgabe, ein unbekanntes Tier vorzuführen, erfüllen (AaTh/ ATU 1091, 1092: cf. J Frau als unbekanntes Tier)16. Eher singulär scheint ein türk. Schwank zu sein, in dem sich eine Frau mit Hilfe von Honig federt, um als ,Todesengel‘
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einen reichen Mann zu erschrecken und zur Heirat zu zwingen17. Die J Verkleidung mit Teer und Federn dient aber auch als Selbstschutz einer listigen Frau, wie in zahlreichen Fassungen von AaTh/ ATU 311: cf. J Mädchenmörder: Sie wälzt sich in Teer und Federn, um in dieser Aufmachung den Bräutigam sowie die Hochzeitsgäste zu täuschen und sich dadurch aus der Gewalt des Dämons zu befreien. Im ganzen zeigen die Volkserzählungen keine individualisierten Vertreter der Dummheit. Die Dummköpfe sind als Karikaturen menschlichen Fehlverhaltens anzusehen, der Anteil weiblicher und männlicher Handlungsträger erscheint ausgewogen. Leser und Leserinnen genießen es ebenso wie Zuhörer solcher Geschichten, wenn in künstlerischer Stilisierung, Abstraktion und gar Übertreibung ein menschliches Fehlverhalten vorgeführt wird. Redensartlich wird T. und F. mit Drohungen, seelischen Qualen oder dauerhaften Bloßstellungen in Zusammenhang gebracht18. Ironisch gewendet kommt das Motiv häufiger in den Comics der von Morris (i.e. Maurice de Be´ve`re) gezeichneten Lucky Luke-Reihe (1946⫺2002) als Strafe für Falschspieler und Betrüger vor. Als Foltermethode erscheint das T. und F. bei Edgar Allan J Poe in der Erzählung The System of Doctor Tarr and Professor Fether (1845) und bei Mark Twain in The Adventures of Huckleberry Finn (1885, Kap. 11, 19, 22, 33). 1 cf. Kaufmann, E.: T. und F. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 5. B. 1998, 135⫺137. ⫺ 2 BP 1, 335⫺342, 520⫺528; Hünnerkopf, R.: Frieder und Katherlieschen. In: HDM 2 (1934⫺40) 229 sq.; Scherf, 1402 sq. ⫺ 3 Mägiste, J.: Woten erzählen. Hels. 1959, num. 7. ⫺ 4 Afanas’ev, num. 518; Pomeranceva, E˙. V.: Pesni i skazki Jaroslavskoj oblasti. Jaroslavl 1958, num. 20. ⫺ 5 z. B. Christiansen, R. T.: Folktales of Norway. L./Chic. 1964, num. 77; Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning 1 A 2. ˚ berg, G. A.: Nyländska folkHels. 1920, num. 263; A sagor. Hels. 1887, num. 319; Bødker, L./Hüllen, G.: Begegnung der Völker im Märchen. 2: Deutschland⫺Dänemark. Münster 1966, 99⫺118; Kova´cs, ´ .: König Ma´tya´s und die Ra´to´ter. Lpz./Weimar A 1988, 96 sq.; Novikov, N. V. (ed.): Pesni, skazki, poslovicy, pogovorki i zagadki, sobrannye N. V. Ivanickim v Vologodskoj gubernii. Vologda 1960, num. 36; EM 6,807; EM 9,1204. ⫺ 6 Baughman; Kvideland, R./Sehmsdorf, H. K.: All the World’s Reward. Seattle/L. 1999, num. 56 (dän.). ⫺ 7 Uther, H.-J.:
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Teerpuppe
Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 85⫺87. ⫺ 8 Sˇejn, P. V.: Materialy dlja izucˇenija byta i jazyka russkago naselenija severa-zapadnago kraja 2. SPb. 1893, num. 89; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 1961, num. 43. ⫺ 9 ElShamy, Types; Nowak, num. 404; Lo˝rincz; Choi, num. 513; Ikeda, num. 2043; Hansen; Baughman; cf. weitere Angaben bei ATU 1681. ⫺ 10 Meier, H.: Span. und port. Märchen. MdW 1940, num. 57 (span.); Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 2. Madrid 1988, num. 370; Tille, Soupis 1, 431 sq. ⫺ 11 z. B. Sakya, K./Griffith, L.: Tales of Kathmandu. Brisbane 1980. ⫺ 12 z. B. BFP. ⫺ 13 EM 8, 1060. ⫺ 14 Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977, 69 sq. ⫺ 15 z. B. Grannas, G.: Plattdt. Volkserzählungen aus Ostpreußen. Marburg 1957, 50⫺ 53. ⫺ 16 BP 1, 411 sq.; BP 3, 358. ⫺ 17 Boratav, N. P.: Türk. Volksmärchen. B. 1967, 309⫺313. ⫺ 18 Wossidlo, R.: Mecklenburg. Sagen 2. Rostock 1931, 223.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Teerpuppe (AaTh/ATU 175), weitverbreiteter Schwank mit menschlichen und tierischen Handlungsträgern. Die Normalform verläuft wie folgt1: Ein Mann hat einen Garten, in dem ein Tier allnächtlich Früchte stiehlt. Um den J Dieb zu fangen, stellt der Mann eine J Puppe her, die er mit einer klebrigen Substanz (Teer, Wachs, Leim, Klebstoff) bestreicht. Bei seinem nächsten Besuch spricht der Dieb die T. an und ärgert sich, als sie nicht antwortet. Er attackiert sie nacheinander mit seinen Pfoten, die eine nach der anderen am Teer kleben bleiben, manchmal auch mit dem Kopf oder Bauch, die dann ebenfalls festkleben. Am nächsten Tag findet der Besitzer den Dieb und will ihn töten; der Dieb kann den Mann jedoch gewöhnlich mit einem Trick überlisten und entkommt.
AaTh/ATU 175 ist erst seit der Mitte des 19. Jh.s belegt, vor allem aus Afrika und beiden Teilen Amerikas. Ein motivlich verwandter früher Beleg findet sich in dem in Pali verfaßten buddhist. Werk Sam ø yutta nika¯ya (In Gruppen geordnete Slg; 47,7)2: Jäger, die Affen fangen wollen, legen auf deren Wegen Leimköder aus. Kluge Affen meiden die klebrigen Stellen, aber ein törichter und lüsterner Affe greift danach, will dann die festgeklebte Hand mit der anderen lösen und macht weitere Befreiungsversuche, bis auch Füße und Schnauze festkleben. Dieser Affe ist dem Verderben ausgeliefert. In der abschließenden Belehrung heißt es, Mönche
310
sollten nicht auf Abwegen wandeln, d. h. den fünf ,Wunschgenüssen‘ folgen. In einer Erzählung des Jaina-Mönchs Hemacandra (1088⫺ 1172) leckt ein alter Affe nach blutigem Kampf mit einem anderen um die Weibchen an Pech, das er für Wasser hält, und klebt bei den folgenden Befreiungsversuchen immer weiter fest. Die Moral warnt vor sexueller Lust, welche die Seele durch die fünf Sinne verderbe3. Dieses Klebemotiv erscheint in den frühen religiösen Qu.n in mehreren Formen: In einem Ja¯taka (num. 55) kämpft der Bodhisattva (J Buddha) mit einem Dämon, der ihn fressen will. Alle seine Waffen ⫺ Pfeile, Schwert, Speer, Keule, zuletzt Hände, Füße und Kopf ⫺ bleiben an dessen Haaren hängen. Als der Dämon jedoch erkennt, daß der Angegriffene den Tod nicht fürchtet, läßt er ihn gehen4. In zwei ähnlichen Erzählungen (3. und 5. Jh.) aus dem chin. J Tripitøaka werden die Glieder des Helden beim Kampf in den Bauch des Ungeheuers gezogen und bleiben dort haften, sein Geist ist jedoch unbezwinglich5. In neueren mündl. Erzählungen aus Indonesien bleibt einem Affen ein Glied nach dem anderen z. B. an einer Seegurke oder Krake haften6. Typischere T.n-Texte stammen aus Madagaskar und verschiedenen Teilen Asiens7. AaTh/ATU 175 wurde in Europa weniger häufig aufgezeichnet8. In Afrika dagegen ist der Erzähltyp äußerst beliebt. Der Dieb kann eine J Schildkröte, ein Kaninchen (J Brer Rabbit, J Hase), ein J Schakal oder die Spinne J Anansi sein; auch der Geschädigte ist oft ein Tier oder eine Gruppe von Tieren9. Manchmal erscheint eine lebende Schildkröte in der Rolle der T.10 Viele andere Details der afrik. Var.n finden sich auch im afro-amerik. Erzählgut, bes. im Süden der Vereinigten Staaten und auf den Westind. Inseln11. Zu Beginn der Erzählung bauen hier die Tiere einen J Brunnen für ihre Gemeinschaft (AaTh/ATU 55: J Tiere bauen einen Weg). Ein Tier verweigert die Mitarbeit und darf deshalb nicht aus dem Brunnen schöpfen. Es stiehlt jedoch heimlich Wasser oder verschmutzt es12. Die T. hat manchmal die Gestalt einer attraktiven Frau und erregt die Lust des Diebs13. Um wieder freizukommen, täuscht der Dieb oft vor, er ängstige sich vor einem Element, in dem er in Wirklichkeit zu Hause ist (AaTh/
311
Teerpuppe
ATU 1310: Der ertränkte J Krebs)14. So bittet Brer Rabbit in den J Uncle Remus-Geschichten15 wie auch in später aufgezeichneten afroamerik. Var.n Brer Fox darum, ihn nicht in die Dornen zu werfen, aber nachdem er dort gelandet ist, erklärt er, dort sei er geboren und aufgewachsen16. Bes. in span.sprachigen Var.n aus Amerika ist die T.n-Geschichte oft Bestandteil einer Kette von Erzähltypen (z. B. Verbindungen mit AaTh/ATU 8: cf. J Schönheitskur, AaTh/ ATU 34: cf. J Spiegelbild im Wasser, AaTh/ ATU 49 A: The Wasp Nest as King’s Drum, AaTh/ATU 66 A: J Hallo, Haus!)17. In einer typischen Kombination behauptet der gefangene Dieb einem vorbeikommenden Tier, häufig einem Kojoten (J Coyote Stories), gegenüber, er warte auf etwas Gutes (z. B. ein gutes Essen). Der Kojote erklärt sich bereit, seinen Platz einzunehmen und wird verbrüht oder erleidet eine andere Verletzung18. Diese Forts. ist auch in Afrika sehr beliebt19. Nach der T.nEpisode verletzt manchmal das Kaninchen den Kojoten, indem es ihm ein Stück stacheligen Kaktus zuwirft, das der Kojote im Maul auffängt20. Gelegentlich findet eine Wiederbelebung statt, nachdem der Dieb gefangen, gekocht und verschlungen worden ist21. Selten ist der Dieb kein Tier, sondern ein Mensch22. Die indian. Var.n werden auf afro-amerik. oder lateinamerik. Quellen zurückgeführt23, ähnliches gilt für franko-amerik. Var.n24. Das markanteste Motiv der T.n-Geschichte ist der Kampf mit einer klebrigen Substanz, der für den Angreifer nach und nach zu einer vollständigen und selbstverschuldeten Fesselung führt. Die Wiederholung kontraproduktiver Handlungen (J Selbstschädigung) verlängert die komische Szene. In span.sprachigen Var.n erscheint AaTh/ ATU 175 auch in Verbindung mit AaTh/ATU 650 A: J Starker Hans25 und AaTh/ATU 700: J Däumling26. In einer gut dokumentierten litau. Erzählung befehlen die Brüder eines Mädchens, dessen Stelle eine Hexe eingenommen hat, der Betrügerin zur Strafe, nach einem mit Teer bedeckten Pferd zu schlagen, und das Pferd läuft mit ihr fort27. Diese Geschichte wurde erstmals 1857 veröffentlicht, früher als alle afrik. oder amerik. T.n-Erzählungen28. In einer sam. Erzählung29, die Nähe zu AaTh/ ATU 311: cf. J Mädchenmörder aufweist,
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nimmt ein Bär nacheinander mehrere Schwestern zur Frau und tötet eine nach der anderen. Die letzte Schwester bestreicht die Zimmerecken mit Teer, woraufhin der Bär nacheinander an seinen vier Tatzen und am Kopf festklebt. Bes. A. M. J Espinosa hat sich mit dem Ursprung und den Verbreitungswegen der T.nErzählung beschäftigt30. Trotz der Existenz der frühen ind. und chin. Texte war W. Norman Brown der Ansicht, die Erzählung entspreche eher der afrik. als der ind. Mentalität31. Espinosa definierte den Erzähltyp viel breiter als Brown und bezog alle Texte mit dem Klebemotiv ein: Er bestimmte zehn über die ganze Welt verteilte Ausprägungen, die er z. T. noch ausdifferenzierte32. Wie viele andere J Trickstererzählungen basiert die T.n-Geschichte darauf, daß sich ein Außenseiter gegen eine Gruppe oder einen einzelnen Vertreter der Gesellschaft durchsetzt. Daß ein Gegenspieler mit List dazu gebracht wird, seine eigene Gefangennahme herbeizuführen oder an ihr mitzuwirken, ist ein geläufiger erzählerischer Kunstgriff (J Gefangenschaft, Kap. 2.5; AaTh/ATU 38, 151, 1159, 1160: J Einklemmen unholder Wesen); hier jedoch ist es der Trickster-Protagonist selbst, der in die Falle geht. Andere Erzählungen, in denen Erzählfiguren auf übernatürliche Weise durch Festkleben hilflos gemacht werden, sind AaTh/ATU 571: J Klebezauber und AaTh 571 A/ATU 581 B: cf. J Liebhaber bloßgestellt. 1 Espinosa, A. M.: European Versions of the TarBaby Story. In: FL 40 (1929) 217⫺227, hier 224. ⫺ 2 Feer, L. (ed.): The Samyutta-nika¯ya of the Suttapitaka. 5: Sala¯-yatana-vagga. (L. 1898) Nachdr. L. 1960, 3, 7. ⫺ 3 Jacobi, H. (ed.): Sthavira´valı´charita or Paris´isøtaparvan. Being an Appendix of the Trisøasøtis´ala¯ka¯purusa¯carita by Hemacandra 1⫺2. Kalkutta 1883, hier t. 2, 720⫺745. ⫺ 4 Cowell, E. B. (ed.): The Ja¯taka 1. L. 1957, num. 55. ⫺ 5 Chavannes 1, num. 89; t. 3, num. 410. ⫺ 6 de Vries 1, num. 42; Espinosa 2, num. 35 (Typ 6). ⫺ 7 Thompson/Roberts; Bødker, Indian Animal Tales, num. 154; Haring; Longchamps, J. de: Contes malgaches. P. 1955, num. 8; Fansler, D. S.: Filipino Popular Tales. Lancaster/ N. Y. 1921, num. 48 a; Ting; Folk Tales from China 2. Peking 1961, 93⫺100 (Zhuang). ⫺ 8 Espinosa (wie not. 1); Ara¯js/Medne; Delarue/Tene`ze; Camarena/ Chevalier; Oriol/Pujol; Szabo´, L.: Kolalapp. Volksdichtung [1]. Göttingen 1967, num. 23; Schleicher, A.: Litau. Märchen, Sprichwörter, Rätsel und Lieder. Weimar 1857, 35⫺37; Lintur, P. V.: Ukr. Volks-
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Tegethoff, Ernst
märchen. B. 1972, num. 21; Espinosa 2, num. 35 (Typ 3; typisch für die Iber. Halbinsel); Meier, H./ Karlinger, F.: Span. Märchen. MdW 1961, num. 36; Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 1. Madrid 1987, num. 77, 78. ⫺ 9 Arewa, num. 736; Lambrecht, num. 932, 2260; Coetzee 175, 175 A⫺C; cf. ferner Werner, A.: The Tar-Baby Story. In: FL 10 (1899) 282⫺294; Paulme, D.: La Statue enduite de glu, un motif de conte et ses avatars africains. In: Le Conte, pourqoui? comment? P. 1984, 55⫺77; Schmidt, S.: Tiergeschichten in Afrika. Köln 1996, 40⫺43, 139 sq.⫺ 10 Espinosa 2, num. 35 (Typ 4 A); Schmidt, num. 518. ⫺ 11 Dance, D.: Folklore from Contemporary Jamaicans. Knoxville 1985, num. 17. ⫺ 12 Espinosa 2, num. 35 (Typ 4); Klipple, num. 55; Arewa, num. 1981; Lambrecht, num. 736 (8); Flowers; Paulme, D.: Le Puits des animaux ou la main prise. In: Cahiers de litte´rature orale 2 (1977) 60⫺102; Frobenius, L.: Erzählungen aus dem West-Sudan. Jena 1922, num. 49; Baer, F. E.: Sources and Analogues of the Uncle Remus Tales (FFC 228). Hels. 1980, 99⫺101. ⫺ 13 Espinosa 1, num. 35 (Typ 4); Kosack, G.: Die Mafa im Spiegel ihrer oralen Lit. Köln 2001, 362⫺365. ⫺ 14 Espinosa 1, num. 35 (Typ 1 und 3); Frobenius (wie not. 10) num. 48. ⫺ 15 Harris, J. C.: The Complete Tales of Uncle Remus. ed. R. Chase. Boston 1955, 6⫺8, 12⫺14; Baer (wie not. 12) 29⫺ 32. ⫺ 16 Dorson, R. M.: American Negro Folktales. Greenwich 1968, 75 sq.; Reaver, J. R.: Florida Folktales. Gainesville 1987, num. 6; Burrison, J. A.: Storytellers. Folktales & Legends from the South. Athens, Ga/L. 1991, 153 sq. ⫺ 17 Boydstun, L. C.: The Classification and Analysis of the SpanishAmerican Versions of the Tar-Baby Story. Diss. Palo Alto 1947; Hansen, num. 175, **74; Pino Saavedra, num. 229. ⫺ 18 Espinosa 2, num. 35 (Typ 1 und 2); Crowley, D. J.: I Could Talk Old-Story Good. Creativity in Bahamian Folklore. Berk./L. A. 1966, 91, 148; Dorson, R.: Folktales Told around the World. Chic./L. 1975, 527⫺533 (Peru); Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of the Sikuani Indians. L. A. 1992, num. 74. ⫺ 19 Baer (wie not. 12) 48 sq.; Schmidt, num. 528; Lambrecht, num. 660 A; cf. auch JAFL 43 (1930) 152⫺156. ⫺ 20 Robe 74 C*, 175; Boydstun (wie not. 17) 61; Paredes, A.: Folktales of Mexico. Chic. 1970, num. 26. ⫺ 21 Karlinger, F./Freitas, G. de: Brasilian. Märchen. MdW 1972, num. 56; Parsons, E. C.: Taos Tales. N. Y. 1940, num. 72⫺75. ⫺ 22 JAFL 43 (1930) 156, 162; Pino Saavedra, num. 241. ⫺ 23 Thompson, S.: Tales of the North American Indians. Bloom. 1929, 258; id.: European Tales among the North American Indians. Colorado Springs 1919, 440, 444⫺448; Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of the Geˆ Indians. L. A. 1978, num. 121; iid.: Folk Literature of the Warao Indians. L. A. 1970, num. 194. ⫺ 24 Delarue/Tene`ze; Dorson, R.: Buying the Wind. Chic./ L.1964, 248 sq.; Lindahl, C./Owens, M./Harrison, C. R.: Swapping Stories. Folktales from Louisiana. Jackson, Miss. 1997, num. 33, 49, 190, 200. ⫺ 25 Ca-
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marena/Chevalier 650 D; Espinosa 2, num. 35 (Typ 3); Meier/Karlinger (wie not. 8); Espinosa hijo (wie not. 8). ⫺ 26 Pino Saavedra 2, num. 92. ⫺ 27 Taylor, A.: The Tarbaby Once More. In: J. of the American Oriental Soc. 64 (1944) 4⫺7; Espinosa 2, num. 35 (Typ 2). ⫺ 28 Schleicher (wie not. 8). ⫺ 29 Szabo´ (wie not. 8). ⫺ 30 Espinosa (wie not. 1); id.: Notes on the Origin and History of the Tar-Baby Story. In: JAFL 43 (1930) 129⫺209; id.: More Notes on the Origin and History of the Tar-Baby Story. In: FL 49 (1938) 168⫺181; id.: A New Classification of the Fundamental Elements of the Tar-Baby Story on the Basis of Two Hundred and Sixty-seven Versions. In: JAFL 56 (1943) 31⫺37; Espinosa 2, num. 35. ⫺ 31 Brown, W. N.: The Tar-Baby Story at Home. In: The Scientific Monthly 19 (1922) 228⫺243; cf. Jacobs, J.: Indian Fairy Tales. L. 1892, 305⫺309; Parsons, E. C.: ,Tar Baby‘. In: JAFL 35 (1922) 330. ⫺ 32 Espinosa 2, num. 35.
Los Angeles
Christine Goldberg
Tegethoff, Ernst, * Kassel 10. 10. 1890, Todesdatum unbekannt, dt. Germanist und Romanist mit volkskundlichen Interessen1. 1909⫺14 studierte T. Germanistik, Romanistik und Anglistik an der Ludwig-Maximilians-Univ. in München sowie zwei Semester an der Akad. für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt am Main. 1914⫺18 war er Soldat im Verband des bayr. Reserve Infanterie-Regiments 16. Das Studium in München nahm er 1919 wieder auf. 1922 legte er eine auf 212 Fassungen basierende Diss. über den J Amor und Psyche-Komplex (AaTh/ATU 425 sqq.) vor (Studien zum Märchentypus von Amor und Psyche. Bonn/Lpz. 1922)2. Hier kam T. zu dem Ergebnis, daß die einzelnen Motive des Zyklus keine genuinen Bestandteile seien. Allein das Motiv der gestörten J Mahrtenehe hielt T. für konstitutiv und führte es auf J Träume zurück3. Eine kleinere Abhdlg T.s galt den Jenseitswesen im dt. und frz. Märchen4. 1923 brachte T. in der Reihe Die Märchen der Weltliteratur eine zweibändige Anthologie u. d. T. Frz. Volksmärchen5 heraus. Sie enthält im 1. Band Textbeispiele älterer Dichtungen des MA.s (Epen, Fabliaux und Farcen, z. T. in verkürzter Prosawiedergabe) sowie der frühen Neuzeit (Auszug aus J Rabelais’ J Gargantua), Novellen des 17./18. Jh.s (J La Fontaine, J Perrault und einige J Contes de fe´es) und im 2. Band nach Regionen gegliederte Texte
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Teilung der Eier
aus neueren Slgen mündl. Überlieferungen der 2. Hälfte des 19. Jh.s. T. war um eine originalgetreue Übers. bemüht, verwendete allerdings einen archaisierenden Sprachduktus. Eine weitere kommentierte Ausg. u. d. T. Märchen, Schwänke und Fabeln (Mü. 1925) umfaßt repräsentative europ. Vers- und Prosaerzählungen des MA.s. Wie seine Vorbilder F. J Panzer und F. von der J Leyen betrachtete T. Märchen als Vorformen literar. Werke und als deren stofflichmotivische Basis. Dies führte zu heute z. T. als fragwürdig angesehenen Ursprungstheorien. Ein Beispiel hierfür ist T.s HDM-Art. J Goldener (AaTh/ATU 314), in dem er die Vermutung äußert, das Märchen sei kelt. Ursprungs, und eine Verbindung zum Werwolfglauben (J Wolfsmenschen) herstellt6. 1
cf. Archiv der Ludwig-Maximilians-Univ., München; Uther, H.-J.: Europ. Märchen und Sagen. CDROM B. 2004, 30510⫺30512 (Kurzbiogr.). ⫺ 2 cf. ferner T., E.: Spuren germ. Heldensage im südfrz. Märchen. In: Zs. für Deutschkunde 38 (1928) 243⫺ 253. ⫺ 3 Zur Kritik cf. Swahn, J.-Ö.: The Tale of Cupid and Psyche. (Aarne-Thompson 425 & 428). Lund 1955, 398⫺403, bes. 402. ⫺ 4 id.: Die Dämonen im dt. und frz. Märchen. In: SAVk. 24 (1923) 137⫺166. ⫺ 5 Digitalisiert in Uther (wie not. 1). ⫺ 6 id.: Goldener (Grindkopf). In: HDM 2 (1934⫺40) 648⫺651.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Teilung der Eier (AaTh/ATU 1663), humoristische Erzählung aus einer Gruppe von Schwänken, in denen eine J Tricksterfigur ⫺ gelegentlich zu ihrem eigenen Vorteil ⫺ eine ungerechte bzw. arithmetisch ungleiche, jedoch logisch begründbare Aufteilung von Gegenständen vornimmt. Die Normalform des Erzähltyps ist als Denksportaufgabe (J Scharfsinnsproben) formuliert: Ein Mann wird aufgefordert, fünf J Eier gerecht unter zwei Männern (einem anderen Mann sowie sich selbst) und einer Frau aufzuteilen. Er teilt jedem Mann ein Ei zu, der Frau jedoch drei. Als Begründung führt er an, daß die Männer mit ihren Hoden jeder schon zwei ,Eier‘ hätten.
In der ältesten belegten Form des Erzähltyps im Peregrinaggio (1557) des J Christoforo Armeno1 ist es die Königin selbst, die im Rahmen weiterer Rätselaufgaben einen der
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scharfsinnigen Prinzen die Teilung vornehmen läßt2. Diese Fassung ist u. a. in einem dt. Schwankbuch des 18. Jh.s aufgegriffen worden3. Ansonsten ist der obszöne Schwank relativ selten und fast aussschließlich im Vorderen Orient4 sowie dessen Einflußgebiet im Mittelmeerraum (Balkan, Italien)5 belegt; außerhalb dieses Gebiets erscheint einzig eine finn. Var.6 Die Struktur des Erzähltyps im engeren Sinn ist relativ stabil; allerdings zeigen Rahmen, Protagonisten und Requisiten eine große Variationsbreite: In einer palästinens. Var. wird der Erfolg eines klugen und bescheidenen Mannes mit dem eines gierigen Nachbarn kontrastiert7; die armen. Var. baut das Geschehen in die seit der arab. ma. Lit. bekannte Geschichte vom Fischer ein, der dem Herrscher einen Fisch als Geschenk überbringt8; in der türk. Var. ist J Hodscha Nasreddin der Kluge9; in einem ital. Zaubermärchen (AaTh 884 B/ATU 884: cf. J Frau in Männerkleidung ⫹ AaTh/ATU 812: J Rätsel des Teufels) dient AaTh/ATU 1663 als eine von mehreren schwierigen Aufgaben, welche die als Mann verkleidete Heldin bewältigt10. Manchmal folgt der Erzähltyp auf AaTh/ATU 1533: Die sinnreiche J Teilung des Huhns11; nur singulär teilt eine Frau zu ihrem eigenen Vorteil12. In einer anderen, nur selten belegten Ausprägung des Erzähltyps sollen die Eier zwischen einem Mann (Vater) sowie zwei Frauen (Mutter, Tochter) aufgeteilt werden. Hier erhält die Mutter auch nur ein Ei, mit der Begründung, daß sie abends (beim nächtlichen Koitus) die zwei Eier des Vaters von diesem erhalte. Die früheste bekannte Var. dieser Fassung findet sich bei Martin J Montanus etwa gleichzeitig mit der Fassung des Peregrinaggio; es werden nur drei Eier aufgeteilt, wobei die Tochter ihre Aussicht auf einen Mann als Argument dafür nimmt, daß auch ihr ein Ei reiche, um bald drei zu besitzen13. Bei Johann Peter de J Memel und (hiernach) im Schwankbuch Sommer-Klee bekommt die Tochter von J Johannes (Evangelista), der von J Petrus zum Teilen aufgefordert wird, drei von fünf Eiern zugesprochen14. In zwei slav. Var.n aus mündl. Überlieferung teilt die Tochter selbst zu ihrem eigenen Vorteil15. Das wahrscheinlich im 18. Jh. entstandene vorderoriental. Volksbuch von ,Räuber und Richter‘ ⫺ die weitläufige Adaptation einer
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Teilung der Eier
ˇ auzı¯ belegten Anekschon bei J Ibn al-G dote16 ⫺ bringt in der pers. Fassung17 die Normalform von AaTh/ATU 1663 als dritte Aufgabe nach AaTh/ATU 1533 sowie einer zweiten Aufgabe, die auch in der türk. Fassung des Volksbuchs enthalten ist18. Hier soll der Protagonist fünf Stück Geflügel (Tauben, Hennen, Gänse etc.) gerecht unter sieben Personen aufteilen; er bildet insgesamt vier Gruppen von je drei, indem er jedem Paar (Mann und Frau, zwei Söhne [Bedienstete], zwei Töchter) ein Tier zuspricht, sich selbst zwei.
Diese Art der Teilung geht in ihrer Kombination mit AaTh/ATU 1533 auf den Midrasch Echa rabbati (5. Jh.)19 zurück, findet sich im 9. Jh. in der arab. Lit.20, wird im europ. MA. u. a. in der Compilatio singularis exemplorum (13. Jh.) und in J Johannes Gobis Scala coeli (num. 296)21, später im J Ma’assehbuch22 aufgegriffen und ist aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s vorwiegend im slav.23 und balt.24 Raum, seltener in Rumänien25 und im Vorderen Orient26 belegt. Die ma. arab. Lit. kennt zudem eine Fassung, in welcher der Protagonist anbietet, Gruppen mit ungeraden oder geraden Zahlen (zu je drei bzw. vier Stück) zu bilden; im zweiten Fall erhalten die drei Männer und die drei Frauen je ein Tier, der Trickster selbst drei27. Diese Aufgabe ist einerseits mit AaTh/ATU 1533 durch das Motiv verbunden, daß die teilende Person sich selbst bevorteilt (Mot. J 1241); andererseits steht sie AaTh/ATU 1663 nahe, da bis auf die ma. arab. Fassung immer ⫺ gelegentlich mit ausdrücklichem Hinweis auf die christl. J Trinität28 ⫺ Gruppen von je drei gebildet werden. Vor diesem Hintergrund kann AaTh/ATU 1663 als eine Variation der in AaTh/ATU 1533 gestellten Aufgabe gesehen werden, initiiert durch eine pubertär anmutende Freude an den Trivialitäten der männlichen J Genitalien29. Zwei andere, überaus selten belegte Erzählungen bieten weitere Variationen der grundlegenden Pointe an. In der ersten übervorteilt der Trickster seine Genossen gleich zweifach: Der magere Trickster teilt zwei fette und ein mageres Tier mit zwei beleibten Genossen: Die beiden und das magere Tier sind drei, er und die zwei fetten Tiere gleichfalls (Mot. J 1241.4).
Dieser Trick findet sich mit Rebhühnern in der Compilatio singularis exemplorum30. In der
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engl. Chronik des Roger of Wendover (gest. ca 1236) wird er vom Erzähler als Erlebnisbericht des Jahres 883 mit Fischen präsentiert31. Die zweite Erzählung, nach A. J Wesselski eine ,nicht unwitzige Steigerung‘ der Aufteilung von fünf Tieren unter sieben Leute, ist ausschließlich für die Schwänke des Hodscha ˇ uhø a¯ belegt32: Nasreddin/G Der Trickster teilt zwei Schafe und einen Hammel unter sich und zwei anderen Männern auf: Die beiden Männer und ein Schaf sind drei; er, der Hammel und das andere Schaf sind ebenfalls drei (Mot. J 1241.1). 1 Piemontese, A. M.: Gli „Otto Paradisi“ di Amir Khusrau da Delhi. Una lezione persiana del „Libro di Sindbad“ fonte del „Peregrinaggio“ di Cristoforo Armeno. In: Atti della Accademia Nazionale dei Lincei 402, Classe di scienze morali, storiche e filologiche 9,6,3 (1995) 317⫺418, bes. 327⫺330. ⫺ 2 Die Reise der Söhne Giaffers. Aus dem Ital. des Christoforo Armeno übers. durch Johann Wetzel 1583. ed. H. Fischer/J. Bolte. Tübingen 1895, 49; Cristoforo Armeno: Peregrinaggio di tre giovani figliuoli del re di Serendipo. ed. R. Bragantini. Rom 2000, 49 sq. ⫺ 3 EM-Archiv: Sinnersberg, Belustigung (1747) num. 216. ⫺ 4 Jason, Iraq; El-Shamy, Types; Marzolph. ⫺ 5 BFP; Megas/Puchner; Loukatos, D. S.: Neoelle¯nika laographika keimena. Athen 1957, num. 17; Karlinger, F.: Ital. Volksmärchen. MdW 1973, num. 52. ⫺ 6 Rausmaa; cf. auch Kecskeme´ti/Paunonen. Die bei ATU 1663 angeführten poln., port. und ung. Belege (Krzyz˙anowski 1533 B; Cardigos 1663; MNK 1663*) entsprechen dem nur durch den Gedanken der aufzuteilenden Eier, strukturell nicht verwandten Erzähltyp ATU 1533 B. ⫺ 7 Schmidt, H./Kahle, P.: Volkserzählungen aus Palästina 2. Göttingen 1930, num. 114. ⫺ 8 Arnold, W.: Aram. Märchen. MdW 1994, num. 9; cf. Marzolph, Arabia ridens 2, num. 468. ⫺ 9 Walker, W. S./Uysal, A. S.: Tales Alive in Turkey. Cambr., Mass. 1966, 233. ⫺ 10 Karlinger (wie not. 5). ⫺ 11 Loukatos (wie not. 5); Jason, Iraq; Meißner, B.: Neuarab. Geschichten aus dem Iraq. Lpz. 1903, num. 35. ⫺ 12 BFP. ⫺ 13 Montanus/Bolte, 275 sq. ⫺ 14 EM-Archiv: de Memel, Lustige Gesellschaft (1656) num. 992; Sommer-Klee (1670) num. 532. ⫺ 15 Anthropophyteia 7 (1910) 424 (dalmatin.); Hnatjuk, V.: Das Geschlechtleben des ukr. Bauernvolkes in Österreich-Ungarn 2. Lpz. 1912, num. 359. ⫺ 16 Chauvin 5, num. 110; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 952. ⫺ 17 Haag-Higuchi, R.: Unters.en zu einer Slg pers. Erzählungen. B. 1984, num. 25; Marzolph, U.: Narrative Ill. in Persian Lithographed Books. Leiden/Boston/Köln 2001, 238 sq.; Dozd va qa¯z˙i-ye Bag˙da¯d (Der Dieb und der Richter von Bagdad). Teheran [ca 1958], 30 sq. (bibliogr. Nachweis bei Marzolph, U.: Da¯sta¯nha¯-ye sˇirin. 50 pers. Volksbüchlein aus der 2. Hälfte des 20. Jh.s. Stg. 1994, num. 27). ⫺
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Teilung der Frau
Köhler/Bolte 1, 499. ⫺ 19 Midrasch Echa Rabbati. Übers. A. Wünsche. Lpz. 1881, 47 sq.; cf. Fischer/ Bolte (wie not. 2) 207; Köhler/Bolte 1, 500 sq. ⫺ 20 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 90; Sadan, J.: The „Nomad versus Sedentary“ Framework in Arabic Literature. In: Fabula 15 (1974) 57⫺86, bes. 77 sq. ⫺ 21 cf. Wesselski, MMA, num. 40; Hodscha Nasreddin 2, num. 399. ⫺ 22 cf. Fischer/Bolte (wie not. 2) 207. ⫺ 23 Afanas’ev, num. 499; Pomeranzewa, E.: ˇ endej, I.: Russ. Volksmärchen. B. 31966, num. 87; C Skazki Verchoviny. Uzˇgorod 1959, 77⫺79; Kabasˇnikau˘, K. P.: Kazki i legendy rodnaga kraju. Minsk 1960, 221 sq.; Mykytiuk, B.: Ukr. Märchen. MdW 1979, num. 56; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. ˇ ajkanovic´, V.: Srpske narodne pri1961, num. 49; C povetke. Belgrad 1929, num. 98; Narodna umjetnost 5⫺6 (1967⫺68) 367. ⫺ 24 Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, num. 103; Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 116. ⫺ 25 Stroescu, num. 4664; Stephani, C.: Märchen der Rumäniendeutschen. MdW 1991, num. 94. ⫺ 26 Marzolph *1663; Marzolph, U.: Pers. Märchen Miniaturen. Köln 1985, 103 sq.; El-Shamy, Types 1533 B§. ⫺ 27 Marzolph und Sadan (wie not. 20); El-Shamy, Folk Traditions J 1241.0.1§. ⫺ 28 Johannes Gobi, Scala coeli, num. 206; Kabasˇnikau˘ (wie not. 23). ⫺ 29 cf. Fischer/Bolte (wie not. 2); Sinnersberg (wie not. 3). ⫺ 30 Wesselski, MMA, num. 40. ⫺ 31 DBF B 2, 94 sq. ⫺ 32 Hodscha Nasreddin 2, num. 399; Galley, M./Sinaceur, Z. I.: Dyab, Jha, LaÅaˆba. P. 1994, num. 8. 18
Göttingen
Ulrich Marzolph
Teilung der Frau (Mot. M 241.1), Erzählmotiv, das in drei verschiedenen Ausprägungen der physischen bzw. realen vertikalen/horizontalen Halbierung der Frau mit jeweils unterschiedlichen Folgen vorkommt. Zum einen wird die T. der F. lediglich zum Schein als Prüfung der Vertragstreue verlangt. Diese Situation trifft z. B. für ältere Var.n von AaTh/ATU 505: cf. J Dankbarer Toter, u. a. im Märe und Ritterroman des 13.⫺16. Jh.s sowie im Volksbuch, zu1: Einem Reisenden, der sein gesamtes Vermögen eingesetzt hat, um einen fremden Toten zu begraben, begegnet unterwegs ein Fremder. Er bietet dem Verarmten seine Hilfe unter der Bedingung an, daß aller Gewinn geteilt würde. Als der Mann eine Prinzessin zur Frau bekommt, verlangt der Helfer ein Jahr später die T. der F. (bzw. die T. des Kindes der beiden; AaTh/ATU 926: cf. J Salomonische Urteile). In einigen Var.n wird dem Helfer eine großzügige Entschädigung angeboten, die er zurückweist. Als der
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Mann das Schwert zieht, um das Verlangte auszuführen, fällt ihm der Helfer in den Arm, gibt sich als der dankbare Tote zu erkennen und versichert, er habe die T. der F. nur vorgeschlagen, um die Treue des Mannes zu prüfen. Danach verschwindet er.
In AaThATU 506*: Prophecy Escaped verlangt der Helfer, ein Heiliger, die T. der F., nachdem er den jungen Mann, dem vorausgesagt worden war, er werde im 20. Lebensjahr durch Erhängen sterben, vor diesem Schicksal bewahrt hat (cf. AaTh/ATU 934: cf. J Todesprophezeiungen). In der zweiten Ausprägung ist die T. der F. zwingende Voraussetzung für die J Erlösung einer verwunschenen Prinzessin und wird real vollzogen. Dieses Motiv begegnet in Var.n von AaTh 507 C/ATU 507: J Giftmädchen. Die Fassungen beginnen wie jene vom dankbaren Toten, die Prinzessin wird hier aus der Gewalt eines Unholds (Oger, Teufel) befreit, der mittels Zaubergaben überwunden wird. Die erworbene Prinzesin aber ist vergiftet. Der dankbare Tote teilt die verwunschene Prinzessin, worauf eine oder mehrere Schlangen ihren Körper verlassen. In einer nordafrik. Var. fallen ihr nach der T. zwei Dracheneier aus dem Leib2, in einem russ. Märchen sind es junge Drachen3. Sie wird wieder zusammengesetzt und ist für immer von ihrem Zauber erlöst. Oft wird die T. der F. durch den dankbaren Toten auch nur angedroht, worauf die Schlangen dem Giftmädchen aus dem Mund fallen. In der dritten Form des Motivs führt die T. zum Tod der Frau. Die erste Erzählung des mongol. J Siddhi Kür4, eine Bearb. der ind. Slg J Veta¯lapan˜cavim ø s´atika¯, ist typol. zu AaTh/ATU 653: Die vier kunstreichen J Brüder zu stellen; sie findet eine Forts. mit dem Streit der Brüder, die sich nicht einigen können, wer die gerettete Prinzessin zur Frau erhalten soll. Daher zerstückeln sie die Frau (cf. AaTh/ATU 945: J Glück und Verstand). Außer in der Erzählüberlieferung erscheint das Motiv der T. der F. als Gegenstand minnekasuistischer Erörterungen bei Andreas Capellanus (De amore, ca 1185)5: Zur Entscheidung aufgefordert, welcher von zwei Liebhabern die richtige Wahl getroffen habe ⫺ derjenige, der sich für die obere, oder derjenige, der sich für die untere Hälfte der Frau entschieden habe ⫺, urteilt ein Ritter zugunsten desjenigen, der die obere Hälfte gewählt hat (cf. J Wahl: Kluge
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Teilung des Geldes
und törichte W.). Eine anzügliche Wendung nimmt das Motiv später in den beiden Fassungen des mhd. Märe Die Heidin (nach 1250)6. Geschildert wird das Orientabenteuer eines Ritters, der um die Ehefrau eines heidnischen Königs wirbt. Für seine intensive Werbung bietet ihm die Frau schließlich von selbst eine ihrer Körperhälften an und läßt ihn zwischen jener oberhalb und unterhalb des Gürtels wählen. Der Ritter entscheidet sich für die obere Hälfte, da er hofft, durch Liebkosungen bald die andere zu gewinnen. Als dies nichts fruchtet, befielt er listig seiner Hälfte, sich dem König zu verweigern, weshalb der König sich mit seiner Frau streitet und sie verprügelt. Die Frau gibt sich daraufhin dem Ritter hin. In einer anderen Fassung des Märe verabschiedet der Ritter sich danach von der Frau, in der anderen zieht er mit ihr in seine Heimat.
In einem weiteren Sinne gehört das Motiv von der T. der F. zu den Erzählungen aus dem Bereich der fatalen J Anatomie. BP 3, 490⫺517. ⫺ 2 BP 3, 506 sq. ⫺ 3 Chudjakov, J. A.: Velikorusskie skazki 3. M. 1862, 165⫺168; cf. Köhler/Bolte 1, 21⫺24. ⫺ 4 Jülg, B.: Kalmük. Märchen. Die Märchen des Siddhi-Kür oder Erzählungen eines verzauberten Toten. Lpz. 1866, num. 1. ⫺ 5 Andreas Cappellanus: De amore libri tres. ed. E. Trojel. Mü. 21972, 206⫺213. ⫺ 6 Die Heidin (B.). In: Novellistik des MA.s. Märendichtung. ed. K. Grubmüller. Ffm. 1996, 364⫺496, 1153⫺1171; cf. Schirmer, K. H.: Die Heidin. In: Verflex. 3 (21981) 612⫺ 615; Fischer, H.: Studien zur dt. Märendichtung. Tübingen 1968, 312 sq., 416 sq. 1
Zürich
Tobias Bulang
Teilung des Geldes (AaTh/ATU 1615), Erzählung über den Erwerb von (gestohlenem) Geld durch eine List, oft mit schwankartiger Ausprägung: Ein Trickster beobachtet Diebe oder andere Personen beim Zählen bzw. Aufteilen von Geld (Schatz). Er kennzeichnet daraufhin seine einzige eigene Münze und plaziert sie unbemerkt im Geld der anderen. Daraufhin beansprucht er die gesamte Summe für sich, da sie die gekennzeichnete Münze beinhalte. Die so Überrumpelten geben ihm einen Anteil am Geld.
Die Grundidee, daß es möglich ist, sich durch Zugabe einer geringwertigen Münze zu einem großen Geldbetrag einen Anteil daran zu sichern, ist bereits in John J Bromyards
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Summa predicantium (A 12,4; 14. Jh.) erwähnt. Die eigentliche Erzählung findet sich zuerst im Schimpf und Ernst (num. 566; 1522) des Johannes J Pauli, der vielfach auf Bromyard zurückgegriffen hat, ohne ihn zu nennen; Martin J Montanus bringt in seinem Wegkürtzer (num. 6) eine mit AaTh/ATU 785: J Lammherz kombinierte Var. von einem dreisten Schwaben, der den lieben Gott auf seiner J Erdenwanderung begleitet und sich mit der besagten Methode einen Anteil an den 100 Gulden sichert, die der Herr für das Erwecken eines Toten erhalten hat1. Möglicherweise stammt AaTh/ATU 1615 aus der vorderoriental. Überlieferung. Ähnliche Geschichten scheinen etwa in (späteren) Fassungen von J Tausendundeine Nacht durch (cf. auch AaTh/ATU 1617: J Kredit erschwindelt)2. In der mündl. Überlieferung des 19./ 20. Jh.s ist der Erzähltyp vorwiegend aus dem arab. Raum belegt (Nordafrika, Libanon, Jemen)3. Die Belege aus Südosteuropa (Griechenland, Mazedonien)4 bzw. Südasien (Indien, Nepal)5 könnten als Abstrahlungen der vorderoriental. Überlieferung zu verstehen sein. Die arab. Var. aus Tunesien nutzt AaTh/ ATU 1615 als Einleitung zu AaTh/ATU 1535: J Unibos: Dschuha (J Hodscha Nasreddin), von seinen reichen mißgünstigen Verwandten um sein einziges Kalb gebracht, verkauft das Fell des Tiers auf dem Markt für einen Heller; er kennzeichnet diesen, indem er in ihn ein Loch macht, durch das er einen roten Faden zieht. Auf dem Heimweg sieht er zwei Männer, die sich einen gefundenen Schatz teilen. Er wirft seine Münze in die Goldkiste, macht sie so glauben, daß es sich um seinen Besitz handle, und erhält die Hälfte des Geldes6.
Ähnliche Erzählungen liegen aus Algerien (berber.) und dem Libanon (arab.) vor7. In einer bei der jüd. Bevölkerung Tunesiens aufgezeichneten Var. ist der Erzähltyp mit AaTh/ ATU 1525 H: cf. J Diebswette sowie AaTh/ ATU 1529: J Dieb als Esel verknüpft8. Eine Erzählung aus Nepal verbindet ihn mit AaTh/ ATU 1542: J Peik, AaTh/ATU 1545: J Junge mit vielen Namen und AaTh/ATU 1573*: The Clever Servant as Trouble Maker9. Nicht immer ist das, was der Trickster sich aneignet, Geld oder Gold. In südasiat. Var.n hat er es auf Betelnüsse bzw. Getreide abgesehen10. In dem verwandten Text eines jüd.-je-
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Teilung von Geschenken und Schlägen
menit. Erzählers näht ein Dieb den Stoffballen eines anderen mit seinem eigenen Mantel zusammen und behauptet daraufhin, die Ware gehöre ihm (cf. auch AaTh/ATU 1642 A: cf. Der gute J Handel)11. Alle Var.n von AaTh/ATU 1615 haben dieselbe moralische Tendenz: Der Betrüger bleibt ungestraft und im Besitz des Vermögens, das er sich angeeignet hat ⫺ sei es als Ausgleich, weil er selbst Opfer einer vorherigen Ungerechtigkeit war, sei es als Sieg über andere Diebe oder einfach aus Freude über eine geglückte List, die einem sozial Benachteiligten zu Reichtum und Wohlstand verhilft. 1 Montanus/Bolte. ⫺ 2 Marzolph/van Leeuwen 1, 451, num. 425; cf. auch Chauvin 7, 153, num. 433. ⫺ 3 Stumme, H.: Tunis. Märchen und Gedichte 2. Lpz. 1893, 136 (⫽ Hodscha Nasreddin, num. 387); cf. ZfVk. 5 (1895) 59 sq.; ZfVk. 6 (1896) 268 (berber.). ⫺ 4 Pilicˇkova, S.: Nasradin Hodzˇa i Itar Pejo. Skopje 1996, num. 156. ⫺ 5 Jason, Indic Oral Tales; Thompson/Roberts. ⫺ 6 Nowak, num. 391 (a). ⫺ 7 Frobenius, L.: Volksmärchen der Kabylen 1. Jena 1921, num. 35; Nowak, num. 391 (b). ⫺ 8 Noy, D.: Shiv’im sepurim ve-sipur mi-pi yehudey Tunisya. Jerusalem 1966, num. 60. ⫺ 9 Jason, Indic Oral Tales. ⫺ 10 Thompson/Roberts. ⫺ 11 Noy, D.: Jefet Schwili erzählt. B. 1963, 356.
Weiden
Sebastian Schott
Teilung von Geschenken und Schlägen (AaTh/ATU 1610), weitverbreiteter und bis ins 20. Jh. beliebter Schwank. Hauptfigur ist ein (dem Anschein nach) Einfältiger (Untertan), der die (den Herrschern nicht bekannte) Korruption von Angehörigen des Hofstaats (Dienern) anprangert, wobei er selbst nicht immer ungeschoren davonkommt. Ein Mann (Bauer, Fischer), der seinem Fürsten (Herrn) ein Geschenk (verlorene Kostbarkeit) (zurück)bringen will, wird von einem Diener (Wachtposten) nur unter der Bedingung eingelassen, daß er ihm einen Teil (Hälfte) der erwarteten J Belohnung abtritt. Dieser Vorgang wiederholt sich (meistens) bei einem zweiten (dritten, vierten) Diener, dem er ebenfalls einen Anteil abgeben soll. Der Fürst will sich dankbar zeigen, aber der Mann weist einen Geldbetrag zurück und bittet statt dessen um 100 J Schläge. Dem erstaunten Fürsten erklärt er den Grund für seine Bitte, woraufhin den Dienern ihr Anteil ausbezahlt wird (ihm selbst manchmal auch, mit leichten Schlägen). Alternativ zu diesem Schluß heißt es, der Mann habe sich
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durchprügeln lassen, bis er seinen Anteil erhalten habe. Danach habe er um Einhalt gebeten: die restlichen Schläge seien den Dienern versprochen. Diese bekommen ihre Strafe; er hingegen wird reich beschenkt.
Dieser aus Europa, Asien, Nordafrika und Mittelamerika bezeugte Schwank ist zuerst in der arab. Lit. des 10. Jh.s1 im Werk al-Agˇwiba al-muskita (Schlagfertige Antworten) des Ibn abı¯ ¤Awn (gest. 934) und im Muru¯gˇ ad-dhab (Goldsteppen) von al-Mas¤u¯dı¯ (gest. 956) belegt: Ein Diener bringt einem trübsinnigen Kalifen einen Straßenerzähler und will dafür die Hälfte der Belohnung. Es gelingt dem Erzähler nicht, seinen Herrn zum J Lachen zu bringen. Erst als er die ihm deshalb versprochenen Prügel mit dem Diener teilen will, lacht der Kalif 2. Bei J Ibsˇ¯ıhı¯ (gest. ca 1450) und in J Tausendundeine Nacht ist diese Erzähler-Redaktion aus dem Geschichtenkreis um J Ha¯ru¯n arRasˇ¯ıd belegt3. Noch im 19. Jh. wurde sie im islam. Bereich so weitergegeben4. Darüber hinaus gibt es andere Gründe für den Besuch des Mannes bei dem Herrscher. Jede Redaktion hat ein eigenes Verbreitungsgebiet und weist teilweise eine lange und komplexe Geschichte auf. Im spätma. Europa erzählt erstmals Franco J Sacchetti in seinen Trecentonovelle (1392⫺97; num. 195)5 von einem Bauern, der einen entflohenen Vogel (Falken, Papagei) wieder einfängt. Bis ins 20. Jh. findet sich diese Redaktion, z. T. mit leichten Abweichungen, in großen Teilen Europas6. Am beliebtesten wurde eine Fassung, in der ein Mann (Fischer) seinem Fürsten einen sehr schönen (sonderbaren) Fisch (Hecht) anbietet. Der älteste Beleg befindet sich in einer engl. Hs. der J Gesta Romanorum (ca 1440)7. Diese Fassung wurde vorwiegend literar. verbreitet. Sie erscheint u. a. im Schwankroman über den J Pfaffen vom Ka(h)lenberg (1473) und in den Facetiae Heinrich J Bebels (1508)8. Aus mündl. Überlieferung ist sie in neuerer Zeit auch in weiten Teilen Europas und Asiens sowie in Nordafrika aufgezeichnet worden9. Seltener dokumentiert ist eine Fassung mit einer Frucht (Birne, Apfel), die sich der Herrscher sehnlichst wünscht oder die ihm geschenkt wird (zu fatalen Folgen cf. AaTh/ATU 1689: Das kleinere J Übel). Frühe Belege gibt es bei John J Bromyard10 und Johannes J Pauli11, neuere z. B. aus Österreich und Sardinien12. In
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Teilung von Geschenken und Schlägen
einer etwas abweichenden und mit J Hodscha Nasreddin verbundenen Fassung will dieser dem Tamerlan (Timur, 1236⫺1405) zu viele Gurken schenken13. Jünger scheint die vor allem in Mittel- und Osteuropa bekannte, aber auch anderswo in Europa kursierende Fassung über ein von einem Bauern zurückgebrachtes verlorenes (gestohlenes) fürstliches Schmuckstück (Ring, Krone)14. Beschränkt auf den Orient ist eine u. a. ca 1700 von dem Historiker Nicolo` J Manucci mitgeteilte Fassung: Ein Musiker will dem Fürsten ein Gedicht vortragen15. Oft wird der Schwank mit anderen Erzähltypen eingeleitet. In Mittel- und Osteuropa verbreitet ist eine Kontamination mit AaTh 160 A*/ATU 1897: The Pike Caught by the Fox: Ein Bauer (Fischer) findet einen Hecht und einen Fuchs, die sich ineinander verbissen haben, und will dieses Wunder seinem Fürsten zeigen16. Das erste schriftl. Zeugnis findet sich im dt. Schwankbuch Allabattritta (1731) des E. M. Freudenberg17. Verbunden mit dem Motiv des Zum J Lachen Bringens begegnet der Schwank 1819 erstmals bei den Brüdern J Grimm (KHM 7). Aus Mittel- und Nordeuropa sowie aus Mittelamerika ist er in einer Verknüpfung mit AaTh/ATU 1642: Der gute J Handel überliefert18: Ein König verspricht demjenigen, der seine schwermütige Tochter zum Lachen bringen kann, ihre Hand (cf. auch AaTh/ATU 571: J Klebezauber). Ein Dummkopf will sich wegen seines bis dahin erfolglosen Handels beim König beklagen und muß dafür einen Teil seiner Belohnung an dessen Diener abtreten. Durch sein tölpelhaftes Benehmen bzw. die geteilten Prügel erheitert er die Prinzessin. Er will sie aber nicht heiraten, sondern akzeptiert eine andere Belohnung.
Öfter läßt sich der Bauer seinen Anteil an den Schlägen für eine spätere Auszahlung aufschreiben; den Gutschein verkauft er dann seinem Gutsherrn oder einem Juden. Als dieser sich beim Herrscher wegen der ,Belohnung‘ meldet, bekommt er Prügel19. Vielerorts verbinden Erzähler AaTh/ATU 1610 mit J Kristallisationsgestalten wie Friedrich d. Gr. (J Alter Fritz)20 oder Kaiser Karl V.21 Sie führen den Schwank mit dem Thema des sog. Ritterschlags des Bauern dann oft weiter: Der Herrscher will den klugen Bauern in den Adelsstand erheben. Dieser läßt bei der dazugehörigen Zeremonie einen Furz abgehen. Er rettet
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sich aus der Lage mit den Worten: „Wenn der Edelmann oben reinfährt, muß der Bauer unten raus.“22 1 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 351. ⫺ 2 Basset 1, num. 48. ⫺ 3 Marzolph/van Leeuwen 1, 293 sq. ⫺ 4 El-Shamy, Types. ⫺ 5 Keller, W.: Ital. Märchen. MdW 1929, num. 5. ⫺ 6 Böhm, M./Specht, F.: Lett.litau. Volksmärchen. MdW 1924, num. 36 (litau.); Tinneveld, A.: Vertellers uit de Liemers. Wassenaar 1976, num. 12; Lox, H.: Van stropdragers en de pot van Olen. Löwen 1999, num. 59; Schott, A. und A.: Rumän. Volkserzählungen aus dem Banat. ed. R. W. Brednich/I. Talos¸. Buk. 1971, num. 49. ⫺ 7 Herrtage, S. J. H.: The Early English Versions of the Gesta Romanorum. L./N. Y./Toronto 1879, num. 90. ⫺ 8 Bobertag, F.: Narrenbuch. B./Stg. 1884, 8⫺15; Bebel/Wesselski 1,1, num. 56. ⫺ 9 Kapełus´, H./Krzyz˙anowski, J.: Sto bas´ni ludowych. W. 1957, num. 88; Imbriani, V.: La novellaja fiorentina. Livorno 1877, num. 46; E˙rgis, num. 316; Sheikh-Dilthey, H.: Märchen aus dem Pandschab. MdW 1976, num. 71; Laoust, E.: Contes berbe`res du Maroc 2. P. 1949, num. 60. ⫺ 10 Wright, T.: A Selection of Latin Stories. L. 1842, num. 127. ⫺ 11 Pauli/Bolte 1, num. 614. ⫺ 12 Karlinger, F.: Das Feigenkörbchen. Kassel 1973, 22⫺26 (sard.); Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus dem Burgenlande. Graz 1977, num. 21. ⫺ 13 Hodscha Nasreddin 1, num. 328. ⫺ 14 van der Kooi; BFP; Kristensen, E. T.: Danske skjæmtesagn 1. Aarhus 1900, num. 43; Huizenga-Onnekes, E. J.: Het boek van Minne Koning. Groningen 1930, 84⫺86; Stübs, H.: Ull Lüj vertellen. Greifswald 1938, num. 64 (aus Pommern); Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 1961, num. 32; Gasˇparı´kova´, num. 213, 281; Sˇejn, P. V.: Materialy dlja izucˇenija byta i jazyka russkago naselenija severo-zapadnago kraja 2. SPb. 1893, num. 95. ⫺ 15 Zachariae, T.: Niccolao Manucci als Geschichtenerzähler. In: ZfVk. 33/34 (1923/24) 69⫺81, hier 72 sq.; Stein, H.: Der Sündensack. Lpz./Weimar 1991, num. 44 (usbek.). ⫺ 16 MNK; Reinhard, J. R.: Strokes Shared. In: JAFL 36 (1923) 380⫺400, hier 387 (poln.), 392 sq. (russ.); Kristensen (wie not. 14) num. 130, 138; Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, num. 445; ´ .: König Ma´tya´s Lox (wie not. 6) num. 60; Kova´cs, A und die Ra´to´ter. Lpz./Weimar 1988, 198⫺192 (ung.). ⫺ 17 EM-Archiv: Freudenberg, Allabattritta (1731) num. 255. ⫺ 18 Simonsuuri, L./Rausmaa, P.L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 130; Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 1. Hels. 1917, 42 sq., 249; Kristensen, E. T.: Fra Bindestue og Kølle 1. Kop. 1896, num. 24; Lox, H.: Fläm. Märchen. MdW 1999, num. 57; KHM/Uther, num. 7; Haas, A.: Rügensche Sagen und Märchen. Stettin 3 1903, num. 221; Sirova´tka, O.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1980, num. 27; Wheeler, H. T.: Tales from Jalisco, Mexico. Phil. 1943, num. 167; Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y Nuevo Me´-
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Teilung der Schweine
jico 2. Stanford [1957], num. 314. ⫺ 19 van der Kooi; Grannas, G.: Plattdt. Volkserzählungen aus Ostpreußen. Marburg 1957, num. 41; Berze Nagy 1610 (Var. 3); Sirova´tka (wie not. 18); Gasˇparı´kova´, num. 118. ⫺ 20 Tinneveld (wie not. 6); Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 213; Bodens, W.: Sage, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1937, num. 1099, 1103; Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen. Stettin 1886, num. 24, 25. ⫺ 21 Lox (wie not. 6) num. 59 sq.; Bodens (wie not. 20) num. 1105. ⫺ 22 Lox (wie not. 6) num. 59 sq.; Bodens (wie not. 20); Jahn (wie not. 20) num. 24; Fox, N.: Märchen und Tiergeschichten. Saarlautern 1942, num. 24; Cammann, A.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien. Göttingen 1967, num. 67.
Groningen
Jurjen van der Kooi
Teilung der Schweine (AaTh/ATU 1036), Schwank, der zur Gruppe der Geschichten über die Partnerschaft von Mann und Oger (AaTh/ATU 1030⫺1059) innerhalb des Zyklus vom dummen J Teufel (Riesen) (AaTh/ATU 1000⫺1199) gehört und vorwiegend in Kombination mit anderen Erzählungen begegnet: Zwei Männer (Mann und Teufel [Riese]) züchten zusammen J Schweine, die sie manchmal vorher gestohlen haben. Als die Zeit kommt, die Herde zu teilen, behauptet der eine (kluge) Mann, die Schweine mit geringelten Schwänzen (d. h. die meisten) gehörten ihm, die mit den geraden Schwänzen dem anderen.
AaTh/ATU 1036 wurde am häufigsten in Finnland, Schweden, Frankreich, Ungarn, Großbritannien und den USA aufgezeichnet. Darüber hinaus ist der Erzähltyp sporadisch in anderen europ. Regionen belegt. Die Struktur und die Thematik von AaTh/ ATU 1036 finden sich auch in anderen Geschichten wieder, in denen es um Betrug bei einer Teilung von Erträgen geht (AaTh/ATU 9: Der unreelle J Partner, AaTh/ATU 1030: J Ernteteilung, AaTh/ATU 1037: J Teufel schert die Sau). Der älteste bekannte Text, in dem AaTh/ATU 1036 vorkommt, wurde 1844 in Neuengland gedruckt; hier folgt die T. der S. auf eine zweiepisodige Ernteteilungsgeschichte, d. h. es handelt sich um eine Aneinanderreihung von drei ähnlichen Vorfällen1. Manchmal erklären die Erzähler, wie es dazu kommt, daß die Schweineschwänze geringelt sind. Z. B. werfen die Partner die Schweine abwechselnd über einen Zaun, und
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der schlaue Mann sagt, daß er die Schwänze der von ihm hinübergeworfenen Tiere geringelt habe2. Oder er behauptet, die Schwänze der Schweine ringelten sich aufgrund guter Behandlung3. Bes. wenn der Antagonist der Teufel ist, wird seinem listigen Partner eine Identität verliehen: z. B. ist er der Zauberer Jack aus Kent4 oder J Eulenspiegel5. AaTh/ATU 1036 paßt gut in den Rahmen eines Arbeitsvertrags (z. B. AaTh/ATU 1000: cf. J Zornwette, AaTh/ATU 1029: cf. J Frau als unbekanntes Tier) als einer der Wettbewerbe, bei denen es einem klugen Knecht gelingt, seinen Herrn zu überlisten6. Diese erzählerische Kombination ist bes. in der bask. Überlieferung beliebt7. Manchmal erscheint AaTh/ATU 1036 auch zusammen mit Episoden, die aus AaTh/ATU 1640: J Tapferes Schneiderlein bekannt sind8. In der Slovakei wird diese Verbindung folgendermaßen realisiert: Ein Mann macht einen Handel mit Unholden (Teufeln), den die letzteren bereuen. In der Hoffnung, ihr Geld zurückzubekommen, fordern sie ihn zu mehreren Wettbewerben heraus (z. B. AaTh/ATU 1060, 1063, 1084: cf. J Wettstreit mit dem Unhold). Er gewinnt alle9.
Kombinationen wie diese finden sich in Ungarn10 innerhalb einer komplexeren Erzählung (AaTh/ATU 800: J Schneider im Himmel ⫹ AaTh/ATU 804 B: J Kirche in der Hölle ⫹ AaTh/ATU 1063 ⫹ 1084 ⫹ 1083 ⫹1096 ⫹ 1036): Drei Männer wünschen sich etwas; der letzte, ein Zigeuner, möchte gern zwölf Kinder haben. Als er aber nach Hause kommt, wünscht er sich vor Schreck über die vielen Kinder in die Hölle. Später sucht einer seiner Söhne ihn erst im Himmel, dann in der Hölle. Er befreit seinen Vater sowie eine Königstochter, um die er mehrere Wettbewerbe mit den Teufeln bestehen muß. Eine der Aufgaben ist ein Wettbewerb im Schweineaustreiben. Der Sohn des Zigeuners gewinnt diesen (indem er behauptet, er habe alle Schweine mit Ringelschwänzen ausgetrieben) wie auch die übrigen Wettbewerbe und heiratet die Prinzessin (bekommt von ihrem Vater viel Geld)11.
Wie bei anderen Erzählungen über betrügerische Teilungen entfaltet sich die Komik der T. der S. hauptsächlich vor Zuhörern/Lesern, die Kenntnisse im Bereich der Landwirtschaft bzw. Tierzucht besitzen. So weiß im Fall von AaTh/ATU 1036 das Publikum, daß die mei-
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Teilung: Die sinnreiche T. des Huhns
sten Schweine Ringelschwänze haben. Der geringelte Schwanz kann sowohl abhängig von der Schweinerasse sein als auch ein Zeichen für Gesundheit, ist also kein festes Attribut12. 1 Spirit of the Times 14 (14. Mai 1844) 109; cf. Dorson, R. M.: Jonathan Draws the Long Bow. Cambr., Mass. 1946, 55. ⫺ 2 Chase, R.: Grandfather Tales. Boston 1948, num. 9; Roberts, L. W.: South from Hell-fer-Sartin. Berea, Ky 1964, num. 39; JAFL 35 (1922) 310, num. 108 (Virginia); SUS. ⫺ 3 Simpson, J.: The Folklore of the Welsh Border. L. 1976, 57 sq.; Leather, E. M.: The Folk-Lore of Herefordshire. Hereford/L. 1912, 165; DBF B 1, 94. ⫺ 4 Simpson (wie not. 3). ⫺ 5 Brendle, T. R./Troxell, W. S.: Pennsylvania German Folk Tales. Norristown 1944, 158. ⫺ 6 ´ O Su´illeabha´in/Christiansen; Oriol/Pujol; Liungman 1, 387; Cabal, C.: Los cuentos tradicionales asturianos. Madrid 1924, 174⫺181. ⫺ 7 Arnaudin, F.: Contes populaires de la Grande-Lande 1. ed. A. Dupin/J. Boisgontier. Bordeaux 1966, num. 53; Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen 2. MdW 1923, num. 59; Maugard, G.: Contes des Pyre´ne´es. P. 1955, num. 23. ⫺ 8 Cirese/Serafini; Seignolle, C.: Le Diable. P. 1959, num. 54. ⫺ 9 Gasˇparı´kova´, num. 211; Mode, H.: Zigeunermärchen aus aller Welt 1. Wiesbaden 1983, num. 65. ⫺ 10 MNK. ⫺ 11 MNK (Var. 18, 22); Sklarek, E.: Ung. Volksmärchen. Lpz. 1901, num. 24; Ortutay, G.: Ung. Volksmärchen. B. 1957, num. 33; Kova´cs, A.: Ung. Volksmärchen. MdW 1974, num. 44. ⫺ 12 Dawson, H. C.: The Hog Book. Chic. 1913, bes. 45⫺86.
Los Angeles
Christine Goldberg
Teilung: Die sinnreiche T. des Huhns (AaTh/ ATU 1533), humoristische Erzählung über die Aufteilung eines zubereiteten Huhns (J Hahn, Huhn; anderes Geflügel) unter mehreren Personen, wobei die sowohl quantitativ als auch qualitativ ungleiche T. durch metaphorische Bezüge gerechtfertigt wird: Ein Gast teilt ein Huhn unter den Mitgliedern einer Familie auf: Dem Vater gibt er den Kopf ⫺ als Oberhaupt der Familie; der Mutter den Hals ⫺ da sie gleich nach ihm kommt (Herz als Mittelpunkt der Familie; Innereien als Zeichen der Fruchtbarkeit); den zwei Töchtern die Flügel ⫺ da sie bald davonfliegen werden, um sich zu verheiraten; den zwei Söhnen die Beine ⫺ als Stützen des Hauses. Den Rumpf behält er als ,Rest‘ für sich (und seine Familie).
Der älteste Beleg der Erzählung liegt im Midrasch Echa Rabbati (5. Jh.) vor1; die listige T. des Huhns ist hier eine von drei J Scharf-
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sinnsproben, die dem Protagonisten abverlangt werden, bevor er das von einem Freund aufbewahrte Erbe seines verstorbenen Vaters erhält. Von der Midrasch-Erzählung leiten sich wohl die meisten Var.n aus Europa und dem Vorderen Orient ab2. In der arab. Lit. findet sich der Erzähltyp seit dem 9. Jh.3; weitere Frühbelege enthalten die norw. Ma´gus-Saga (ca 1300)4, die Scala coeli (1323⫺30; num. 206) des J Johannes Gobi Junior sowie die Novellensammlung des Franco J Sacchetti (Ende 14. Jh.; num. 123). Für die europ. Lit.en liegen zahlreiche Nachweise vor, u. a. als Exemplum, Novelle oder Schwank. Aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 1553 von Nordost- und Osteuropa über Deutschland bis nach Südeuropa, auf dem Balkan, in Nordafrika und dem Vorderen Orient belegt. Die Struktur der Erzählung mit ihrem binären Schema ist weitgehend stabil: Dem Gast (Mönch, Reisender, Räuber, Student, König, Beduine, Leibeigener etc.), der die T. vornimmt, steht der Hausherr (Reicher, König, Seßhafter, Großgrundbesitzer, Adliger etc.) mit seinen Angehörigen gegenüber. In einer ital.5 sowie in den skand. Var.n6 teilt immer ein Student. In den dt. Var.n wird die T. häufig von einem Mönch, der bei einem Adligen zu Gast ist, vorgenommen7. Meist wird das Geflügel für eine Familie geteilt; es kann aber auch für König (Kalif) und Höflinge (Wesire) geschehen8. In einer griech. Var. bekommt der König den Kopf, die Frau den einen Flügel und der Prinz den anderen, während der Gast für sich und seine eigene Familie den Rest nimmt9. Die Familie des Hausherrn kann aus nur drei (vier) Mitgliedern (Vater, Mutter, Tochter und manchmal Sohn) bestehen, so fast immer, wenn der Erzähltyp sich mit AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter verbindet10. Zu den Kindern des Hausherrn können Dienstboten kommen, die bei der T. ähnlich bedacht werden wie die Söhne11; manchmal stehen sie anstelle der Söhne12; in zwei ital. Var.n werden die vom Gast (König) mitgebrachten Diener (Läufer) bei der T. mitberücksichtigt13. Weitere Personen, unter denen das Geflügel aufzuteilen ist, können der Priester (der wegen seiner Tonsur den Hahnenkamm erhält)14 oder der Bruder des Hausherrn15 sein.
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Teilung: Die sinnreiche T. des Huhns
Während dem Vater stets der Kopf zugesprochen wird, erhält die Mutter meist den Hals, manchmal die Innereien16, das Herz17 oder den Bürzel18, seltener Beine19, Brust20, Rücken21, Rumpf 22, Bauch23 oder einen Flügel24. Selten teilen sich Vater und Mutter den Kopf 25. Manchmal wird die Frau bei der T. gar nicht berücksichtigt26. Die Beine gehen gewöhnlich an die Söhne und die Flügel an die Töchter, manchmal auch umgekehrt27. In einer katalan. Var. wird ausnahmsweise die Brust gedrittelt und auf Vater, Mutter und Tochter verteilt28. Selten behält der Gast die Schenkel oder auch die Flügel als die einem Reisenden gebührenden Teile für sich29. In der Midrasch-Fassung rechtfertigt sich der Reisende, er habe den wie ein Schiff geformten Rumpf des Huhns genommen, da er mit einem Schiff abreisen werde30. T. und Erklärung werden normalerweise durch den Gast vorgenommen. Einzig in den Kontaminationen mit AaTh/ATU 875 erklärt meist die Tochter des Bauern bzw. Hausherrn die Kriterien der von dem Gast vorgenommenen T.31 Seltener teilt sie das Huhn selbst und nimmt sich als Symbol der Heirat die Flügel32. Der Nutzen, den der Schlaue aus der T. zieht, kann neben dem unmittelbaren Nutzen wirtschaftlicher (Geld33, Getreide34, Brot35, Ackerland36, Balken für ein Dach37) oder gesellschaftlicher Art sein ⫺ letzteres bes. im Fall der klugen Bauerntochter, die sich die Heirat mit einem reichen Mann (Adligen) verdient, oder im Fall des Bauern, der zur Belohnung für seine kluge T. vom Frondienst befreit wird38. Bes. in ital. und span. Var.n ist der Erzähltyp mit AaTh/ATU 875 verbunden39, in manchen dieser Var.n darüber hinaus mit AaTh/ ATU 875 A: Girl’s Riddling Answer Betrays a Theft 40. Hier bildet die T. eine der Episoden, in denen das Mädchen seine J Klugheit beweist. Die Verbindung mit AaTh/ATU 1663: J T. der Eier, die sich schon im Midrasch und in der Scala coeli findet, ist bes. im Nahen Osten41 und in Osteuropa42 verbreitet. Geteilt werden in diesen Var.n nur selten Eier43; meist soll der Protagonist fünf Stück Geflügel gerecht unter sieben Personen aufteilen. In osteurop. Var.n wird AaTh/ATU 1663 dadurch angebunden, daß eine dritte Person (Nachbar, Bruder, Kollege) durch die Belohnung des Tei-
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lenden neidisch geworden ist und versucht, dessen Erfolg für sich zu wiederholen44. Auffällig ist, daß die Verbindung mit AaTh/ATU 1663 in dt.45 und skand.46 Var.n nicht vorkommt. 1 Wünsche, A.: Der Midrasch Echa Rabbati. Lpz. 1881, 47; Cohen, A.: Midrash Rabbah. Lamentations. L. 31961, 72⫺74; Hasan-Rokem, G.: Web of Life. Folklore and Midrash in Rabbinic Literature. Stanford 2000, 46 sq. ⫺ 2 Spies, O.: Oriental. Stoffe in den KHM der Brüder Grimm. Walldorf 1952, 40 sq.; Gaster, M.: The Exempla of the Rabbis 1. L./ Lpz. 1924, num. 303; Schwarzbaum, 446 sq. ⫺ 3 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 90; Sadan, J.: The ,Nomad versus Sedentary‘ Framework in Arabic Literature. In: Fabula 15 (1974) 59⫺86, hier 77 sq.; Ghersetti, A.: „La Division du poulet“ ou „Quand les Moqueurs sont souvent moque´s“. De l’anecdote a` la nouvelle. In: Middle Eastern Literatures 10 (2007) 15⫺33. ⫺ 4 Köhler/Bolte 2, 646 sq. ⫺ 5 Sacchetti, F.: Il Trecentonovelle. ed. V. Marucci. Rom 1996, num. 123. ⫺ 6 Kristensen, E. T.: Danske Skjæmtesagn. Aarhus 1900, num. 45; Liungman, Volksmärchen, num. 1533*. ⫺ 7 Pauli/Bolte, num. 58; Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 2. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1894, num. 215; t. 3 (1900) num. 132; Wünsche, A.: Zwei Dichtungen von H. Sachs nach ihren Qu.n. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 11 (1897) 36⫺48; Harsdörffer, P.: Nathan und Jotham 2. Nürnberg 1659, num. 149; Widebram, F.: Delitiae poetarum Germanorum 6. Ffm. 1612, 1115; EM-Archiv: Jan Tambaur (ca 1600) 5; Ketzel 1 (1607) 177; Zincgref/ Weidner 4 (1655) 239 sq.; Lexicon apophthegmaticum (1718) num. 1665; Bienenkorb 1 (1768) num. 20. ⫺ 8 Hoogasian-Villa, S.: 100 Armenian Tales. Detroit 1966, num. 74; Meissner, B.: Neuarab. Geschichten aus dem Iraq. Lpz. 1903, num. 35. ⫺ 9 Loukatos, S. S.: Neoelle¯nika laographika keimena. Athen 1957, num. 17. ⫺ 10 Alcover, M. A.: Aplec de rondaies mallorquines 4. Palma de Mallorca s. a., 152⫺158; Amades, num. 370; Georgeakis, G./Pineau, L.: Le Folk-Lore de Lesbos. (P. 1894) Nachdr. 1968, 101⫺104; Cascudo, L. da Caˆmara: Contos tradicionais do Brasil. Bahia 21955, 205⫺214; Gonzenbach, num. 1; Comparetti, D.: Novelline popolari italiane 1. Turin 1875, num. 43. ⫺ 11 Gobi, J.: La Scala coeli. ed. M.-A. Polo de Beaulieu. P. 1991, num. 206. ⫺ 12 Köhler/Bolte 1, 499; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 21984, num. 70. ⫺ 13 Gonzenbach, num. 1; Jb. für rom. und engl. Lit. 7 (1866) 382⫺384. ⫺ 14 Sacchetti (wie not. 5). ⫺ 15 Grisanti, C.: Folklore di Isnello. Palermo 21981, 286⫺289. ⫺ 16 Carmoly, E.: Le Jardin enchante´. Contes chalde´ens. Brüssel 1844, num. 2; Gaster (wie not. 2); Liungman, Volksmärchen, num. 1533*; Jb. (wie not. 13); Harsdörffer (wie not. 7). ⫺ 17 Marzolph, U.: Pers. Märchen Miniaturen. Köln 1985, num. 12; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 90. ⫺
Tekerleme ⫺ Television
333 18
Hammer-Purgstall, J. von: Rosenöl 2. Stg. 1813, num. 74; Sadan (wie not. 3); Afanas’ev, num. 499; Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. B. 31966, num. 87; Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, num. 103; Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 116. ⫺ 19 Alcover (wie not. 10); Amades, num. 370; Georgeakis/Pineau (wie not. 10); Cascudo (wie not. 10). ⫺ 20 Calvino, I.: Fiabe italiane. Turin 21959, num. 121; Gonzenbach, num. 1. ⫺ 21 Grisanti (wie not. 15); Comparetti (wie not. 10); ˇ ajkanovic´, V.: Srpske narodne pripovetke. Belgrad C 1929, num. 98. ⫺ 22 Moldavskij, D. M.: Russkaja satiricˇeskaja skazka. M./Len. 1955, 134⫺136; Hallgarten, P.: Rhodos. Die Märchen und Schwänke der Insel. Ffm. 1929, 222 sq. ⫺ 23 Jb. 7 (wie not. 13). ⫺ 24 Loukatos (wie not. 9). ⫺ 25 Rausmaa, SK 6, num. 179; Moldavskij (wie not. 22) 222⫺224. ⫺ 26 Köhler/ Bolte 2, 646 sq.; Gobi (wie not. 11). ⫺ 27 Kabasˇnikau˘, K. P.: Kazki i legendy rodnaga kraju. Minsk 1960, num. 91; Köhler/Bolte 2, 646 sq.; Sadan (wie not. 3); Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 263; Liungman 2, 322. ⫺ 28 Amades, num. 370. ⫺ 29 Gonzenbach, num. 1; Hallgarten (wie not. 22). ⫺ 30 cf. auch Carmoly (wie not. 16); Liungman, Volksmärchen, num. 1533*; Georgeakis/Pineau (wie not. 10). ⫺ 31 Amades, num. 370; Georgeakis/Pineau (wie not. 10); Gonzenbach, num. 1; Comparetti (wie not. 10). ⫺ 32 Finamore, G.: Tradizioni popolari abruzzesi 1. Lanciano 1882, num. 36; Georgeakis/Pineau (wie not. 10). ⫺ 33 Peuckert (wie not. 27); Viidalepp (wie not. 18); Rausmaa, SK 6, num. 179; Narodna umjetnost 5⫺6 (1967⫺68) 303⫺432, num. 34; Comparetti (wie not. 10). ⫺ 34 Jarmuchametov, Ch. Ch.: Tatarskie narodnye skazki. Kasan 1957, 161 sq.; Kabasˇnikau˘ (wie not. 27); Mykytiuk, B.: Ukr. Märchen. MdW 1979, num. 56. ⫺ 35 Afanas’ev, ˇ endej, I.: num. 499; Moldavskij (wie not. 22). ⫺ 36 C Skazki verchoviny. Uzˇgorod 1959, num. 25; Jech (wie not. 12). ⫺ 37 Ambainis (wie not. 18). ⫺ 38 Pomeranzewa (wie not. 18); Jech (wie not. 12). ⫺ 39 wie not. 13. ⫺ 40 Georgeakis/Pineau (wie not. 10); Gonzenbach, num. 1; Comparetti (wie not. 10). ⫺ 41 Carmoly (wie not. 16); Hammer-Purgstall (wie not. 18); Meissner (wie not. 8); Köhler/Bolte 1, 499; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 90; Sadan (wie not. 3). ⫺ 42 Afanas’ev, num. 499; Moldavskij (wie not. 22); Kabasˇnikau˘ (wie not. 27); Pomeranzewa ˇ endej (wie not. 36); Mykytiuk (wie (wie not. 18); C not. 34); Jech (wie not. 12); Ambainis (wie not. 18); Viidalepp (wie not. 18); Narodna umjetnost 5⫺6 ˇ ajkanovic´ (wie (1967⫺68) 303⫺432, num. 34; C not. 21); Hoogasian-Villa (wie not. 8). ⫺ 43 Köhler/ Bolte 1, 499; Loukatos (wie not. 9). ⫺ 44 Afanas’ev, ˇ endej (wie not. 36). ⫺ 45 wie not. 7. ⫺ num. 499; C 46 wie not. 6.
Venedig
Antonella Ghersetti
Tekerleme J Eingangsformel(n)
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Television 1. Begriff und Geschichte ⫺ 2. Fernseh- und Medientheorien ⫺ 3. Serialität und Serien ⫺ 4. Fernsehen und Volkserzählung ⫺ 5. Märchen im Kinderund Familienfernsehen
1 . B eg ri ff un d G es ch ic ht e. T. (engl. Kunstwort aus griech. te¯le: fern; lat. visio: das Sehen) ist der Begriff für Fernsehen (F.), der im engl. und rom. Sprachraum wie auch z. B. in Nord- und Osteuropa dominiert und mit dem Export des Mediums in außereurop. Sprachen Eingang gefunden hat (Kurzform: TV). Die Bezeichnung wurde von K. Perskij (1900) geprägt1. Das Wort Fernseher war ursprünglich auf den Zuschauer gemünzt2, während es heute alltagssprachlich das Fernsehgerät bezeichnet. Die Historiographie des F.s ist weithin technikgeschichtlich und national orientiert3. Die zum Ende des 19. Jh.s vorgestellten Verfahren zur Wiedergabe von Bildern basierten auf der funktechnischen Entwicklung des Radios, an dem sich das F. zunächst auch inhaltlich orientierte und mit dem es institutionell verbunden ist (J Rundfunk). 1940 existierten in den USA bereits 23 Fernsehstationen4. Seit den 1950er Jahren entwickelte sich das F. in den Industriestaaten zum Leitmedium; führend waren hierbei die USA5. Heute sind in den Industrieländern mehr als 90 % aller Haushalte mit mindestens einem Fernsehgerät ausgestattet6. Die tägliche Sehdauer betrug 2005 in Europa durchschnittlich 227 und in den USA 299 Minuten7. Das F. verkörpert eine weithin bildlich illustrierte sekundäre Mündlichkeit; durch seinen bildlich-mündl. Charakter spricht es auch weniger gebildete Bevölkerungsschichten an. Mit anderen Massenmedien steht das F. in vielfältigen Interaktionsbeziehungen. Wesentliche Unterschiede zum Kino (J Film) bestehen in der privaten Rezeptionssituation, der ständigen Verfügbarkeit des F.s, seiner programmlichen Vielfalt und geringeren sinnlichen Attraktivität. Bes. das frühe F. (Pantoffelkino) war dem Kino aufgrund der Miniaturisierung seines Bildes unterlegen. Die technische Weiterentwicklung des F.s hat dies z. T. kompensiert, indem es seine Ausdrucksmittel gesteigert hat (Farbe, Verwendung größerer Einstel-
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lungen, Verbesserung von Bildschärfe und Ton). Aufgrund fehlender Speichermöglichkeiten definierte sich das frühe F. als Übertragungsmedium. Es mußte ,live‘ senden, wodurch es eine Erlebnisqualität erzielte, die das Kino nicht bieten kann. Dabei dominierte die noch heute breit plazierte Studiosendung, in der berichtet, erzählt oder dargestellt wird8. Zunehmend wurde auch vom Ort des Geschehens berichtet, eine Sensation, die sich in märchenhaften Umschreibungen früher Fernsehgeräte (z. B. Zauberspiegel, magisches Auge) niederschlägt9. Daneben konnten von Beginn an Kinofilme übertragen werden. Mit der Einführung der Magnetaufzeichnung stiegen die Möglichkeiten, ,filmischer‘ zu produzieren. Heute beteiligt sich das F. vielfach an der Herstellung von Kinoproduktionen. Die inhaltliche Entwicklung des F.s wird maßgeblich von seiner Institutionalisierung beeinflußt, die sich zwischen den Polen des staatlich kontrollierten und des werbefinanzierten F.s US-amerik. Prägung bewegt10. Der Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen F.s verpflichtet zur Information, Bildung und J Unterhaltung, wodurch sich das Angebot funktional gliedert. TV-Produktionen werden durch Zeitformate standardisiert11 und tendieren zur Kleinteiligkeit (Magazinisierung)12, um flexibler disponierbar (J Werbung) und konsumierbar zu sein. Das Programm soll mit dem Tagesablauf konvergieren, so daß für die unterschiedlichen Altersgruppen spezielle Fernsehzeiten konsumintensiv sind. Beiträge des TV-Programms lassen sich nach fiktionalen und nonfiktionalen Inhalten, nach Verwendungs- und Darstellungsformen und nach Genres differenzieren13. Möglich ist zudem ihre zielgruppenspezifische Aufbereitung (nach Altersstufen, sozialem, regionalem oder religiösem Bezug). In der Genretheorie wird der Begriff des TV-Genres, da seine Grenzen häufig verwischt sind, durch den des Formats ersetzt, der z. B. nach emotionalen Färbungen oder Zeitschienen differenziert14. Die Sendeteile werden in weichen Übergängen zu einer fortwährenden Erzählung verflochten (Programmfluß)15. 2 . Fer ns eh - u nd Me di en th eo ri en. Als tertiäres Medium (J Medien, audiovisuelle)16
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erzeugt das F. Öffentlichkeit, die in privater Umgebung rezipiert wird, löst habitualisierende und emotionale Effekte aus, deren Dauerhaftigkeit eine ähnliche Wirkung wie emotionale Bindungen erzielt17. Fernsehtheorien sind Einzelmedientheorien, in denen singuläre Merkmale nicht selten pauschalisiert werden. So wurde z. B. unter dem Eindruck des frühen kommerziellen F.s in den USA dessen omnipotente Wirkung unterstellt, die durch ein simples Reiz-Reaktionsmodell erklärt werden sollte: Die sog. Hypodermic-Needle Theory unterstellt, daß jedes Individuum auf von den Massenmedien erzeugte Stimuli in der gleichen Weise reagiert18. Mit Skepsis betrachtet auch die Kritische Theorie das F.; ihr Konzept der Kulturindustrie19 zielt auf den Waren- und Tauschcharakter der industrialisierten Kulturproduktion. Die Wirkung des F.s sei bes. fatal, weil es zur Vollständigkeit der äußeren Erscheinung dränge20 und in häuslicher Atmosphäre ein vermeintliches Gemeinschaftsgefühl erzeuge21. Von der Massenkommunikationsforschung wurde das F. vornehmlich in empirisch belegten Wirkungsansätzen thematisiert. Man mißt ihm eine eher verstärkende Wirkung von beim Zuschauer schon vorhandenen Bedürfnissen bei22. Zudem wird die Fernsehkommunikation als stufenhafter Prozeß dargestellt, in dem medienaktive Meinungsführer die Rezeption beeinflussen23. Kulturwiss. orientierte Interpretationen weisen die Ausschließlichkeit wirkungstheoretischer Ansätze zurück24 und betrachten telegene Nutzungsszenarien als Teil der Alltagspraxis25. Ihre kultursemiotisch untermauerten Analysen zeigen, daß populäre Fernsehinhalte von heterogenen Zuschauergruppen mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen werden26. Mediensoziologie und -erziehung thematisieren den Einfluß des F.s auf Gesellschaft, Zuschauergruppen und Individuen. Ihr Ausgangspunkt ist der (z. B. sozialisierende) Einfluß des TV-Konsums. Erörtert werden etwa die Wirkung von Gewaltdarstellungen (J Grausamkeit)27, bes. auf Kinder und Jugendliche28, die Virtualität der TV-Welt (Wirklichkeit aus zweiter Hand)29 oder die Einschaltquotenmentalität30. Medienphilosophie und -anthropologie untersuchen die Auswirkungen kommunikativer
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Kulturtechniken und sehen in der Telepräsenz eine Tendenz zur Entzeitlichung, Entterritorialisierung31 und Entkörperlichung des Menschen sowie zur Fragmentierung seiner Wahrnehmung32, betonen den Zwang der Eigenlogik33 des die Sinne verlängernden wie amputierenden F.s34, was kulturpessimistisch35, z. T. mit utopischem Ausblick36, gedeutet wird. Das in Anlehnung an die Diskurstheorie37 entwickelte Konzept eines eigenständigen Dispositivs F. sucht Technik, Institutionen, Programme, Ästhetik und Rezeption der Fernsehkommunikation sowie deren gesellschaftliche, macht- und ordnungspolitische Rahmenbedingungen als dynamisches und hist. veränderliches Netzwerk abzubilden. Es mißt der apparativen Anordnung im häuslichen Wohnumfeld eine Schlüsselfunktion zu38. 3 . S er ia li tä t u nd Se ri en. Aufgrund der Fülle von TV-Inhalten ist eine sparten- und genreübergreifende Programmgeschichte nur schwer zu erfassen; versucht wurde sie z. B. für das west-39 und gesamtdt. F.40 Die Entwicklung televisuellen Erzählens wird im folgenden am Beispiel des dt. F.s dargestellt, das internat. verbreitete Fernsehformate einschließt. Ein Grundzug des Fernsehprogramms und seiner Ästhetik ist die Serialität41. Ihr entspricht die ritualisierte TV-Rezeption, die vom häuslichen Umfeld, dem zeitlich linearisierten Programm und von hohen Ausstrahlungs- und Wiederholungsraten begünstigt wird. Serialität an sich ist insofern kein Kriterium für Trivialität42, diese wird jedoch durch kostensparende Produktionsweise, Stereotypisierung von Charakteren, Handlungsverläufen und Weltbildern, konventionelle Darstellungsmuster und das Redundanzprinzip begünstigt43. TV-Serien haben ihre Vorgänger in der frühen Serienliteratur, dem Fortsetzungsroman in J Zeitungen und J Illustrierten, dem J Comic und der Radioserie44. Serien haben das F. von Beginn an begleitet. Die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD), die am 25.12.1952 ihren regelmäßigen Sendebetrieb aufnahm, brachte schon in den Anfangsjahren unterhaltsam-didaktisierende Familien- und Krimiserien (Unsere Nachbarn heute abend: Die Familie Schölermann; Der Polizeibericht meldet, Stahlnetz).
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Nach Gründung des Zweiten Dt. F.s (ZDF, 1963) wurden dort verstärkt amerik. Tier-, Krimi- und Westernserien ausgestrahlt (z. B. Fury, Lassie, Flipper; 77 Sunset Strip; Bonanza). Das ostdt. Staatsfernsehen (ab 1956 Dt. Fernsehfunk, ab 1972 F. der DDR) stellte z. B. im Krimibereich eigene Serien her (Polizeiruf 110)45, für den ARD und ZDF gleichfalls Großserien produzierten (Tatort, Der Kommissar). Familienserien mit sozialkritischer Tendenz etablierten sich zu einem festen Bestandteil des Programms (im Comedy-Format: Ein Herz und eine Seele)46. Eine neue Seriengeneration entstand in den 1980er Jahren mit dem Import von Dallas und Dynasty (dt.: Der Denver-Clan). Waren diese in den USA tagsüber gesendet worden, eroberten sie in Deutschland das Abendprogramm47. Elemente des Heimatfilms und seiner romantischen Landschaft nutzend48, knüpfte das ZDF 1985 mit der Schwarzwaldklinik daran an, in deren Gefolge weitere Arzt-49, dann Anwalts-, Förster- und Pfarrerserien, entstanden. Ein anderes Konzept verfolgte die ARD mit der Lindenstraße. Die nach dem Vorbild der brit. Coronation Street50 produzierte Endlosserie thematisiert den Alltag ,gewöhnlicher‘ Menschen, die eine räumliche und soziale Gemeinschaft bilden. 1992 startete der private Sender Radio Te´le´vision Luxembourg (RTL) eine werktäglich ausgestrahlte Serie, die vom Leben Berliner Heranwachsender erzählt (Gute Zeiten, Schlechte Zeiten). Ihr Erfolg ließ weitere Daily Soaps entstehen51. Ab 2000 wurde mit Big Brother ein neues, aus den Niederlanden importiertes Format der Reality TV Soap ausgestrahlt: Hier lassen sich Menschen in einem Wohncontainer von TV-Zuschauern rund um die Uhr beobachten52. 2004 schlossen sich dt. Sender dem europ. Boom zur Produktion von Telenovelas an (Bianca ⫺ Wege zum Glück, Sturm der Liebe, Verliebt in Berlin, Rote Rosen). Im Mittelpunkt der Serien stehen familiäre bzw. freundschaftliche Beziehungen; die Rollenharmonie der Serienfiguren wird vorübergehend gestört, Konfliktlösungen bringen neue Verwicklungen mit sich53. Durch diese Verknüpfungsform sind Serien im Gegensatz zu Telenovelas auf Endlosigkeit angelegt. Die Handlungsführung ist mehrsträngig und ineinander verwoben. Handlungsstränge enden ab-
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rupt im Augenblick höchster Spannung (Cliffhanger)54, um den Zuschauer auf die nächsten Folgen neugierig zu machen. Da diese dicht aufeinander folgen, ergibt sich eine beinahe zeitliche Parallelität zum Leben des Zuschauers, welche seine Bindung an die Serie ebenso vertieft wie ihr emotionaler Realismus. 4 . F. u nd Vo lk se rz äh lu ng. Das F. knüpft derart komplex an populäre Erzähltraditionen und Formen alltäglichen Erzählens an, daß es als einflußreichster zeitgenössischer Erzähler anzusehen ist. Strukturen, Themen, Motive und Figuren der Volkserzählung lassen sich in vielen Bereichen der TV-Unterhaltung nachweisen55. Unmittelbarer auf das populäre Erzählen bezogen als Serien sind Formate, die vor allem im Kontext des Reality TV anzutreffen sind. Zu diesen zählen Boulevard-Magazine, in denen J Sensationsberichte vorzugsweise über schreckliche Begebenheiten präsentiert und J Gerüchte und J Klatsch über (sog.) Prominente verwertet werden. J Lebens- und J Rechtfertigungsgeschichten werden in DokuSoaps oder Reality-Shows (z. B. Gerichts- und Talkshows) inszeniert. Das für die Sage typische Wirken des Numinosen bestimmt die sich um J Horror und J Science Fiction drehenden TV-Genres (Mystery-Serien und -Dokumentationen)56. Häufiger erscheinen in den phantastischen Formaten J Wiedergänger, J Dämonen, J Teufel, J Hexen, J Engel, Zeitreisen, J Verwandlungen oder Körpermutationen57. Strukturvorlagen werden mit anderen Genres vermischt, so daß z. B. auch Sagenhaftes der Zuschauererwartung entsprechend glücklich endet. Aber auch Dokumentationen beschäftigen sich mit Märchen, Legenden und Sagen. In QuizShows werden Fragen zum Märchen gestellt58, in Sketch-Shows Witze erzählt (und dargestellt). Das F. hat aber auch in anderen Bereichen an der Folklorisierung von Volkskultur (z. B. des Volkslieds) bedeutsamen Anteil. Thematisch tendiert das F. zum schemaorientierten Erzählen. Auch wenn es sich exotische oder tabuisierte Bereiche erschließt, ist die Angebotsbreite des F.s vielfach durch Variation der dem Zuschauer bekannten Handlungs- und Erzählweisen geprägt. Dazu gehört das Happy-End, wie es aus dem Märchen be-
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kannt ist (cf. J Wunschdichtung). Märchentypische Themen erweisen sich in Drehbüchern immer wieder als zugkräftig. Analogien liegen zwischen Märchen und Liebesfilm vor. Liebesfilme mit deutlicher Märchenstruktur sind im F. häufig und können als dessen wichtigste Märchenform angesehen werden59. Oft begegnen der unterlegene Held (J Unscheinbar), der den mächtigeren Gegenspieler besiegt (J David und Goliath)60, das Böse, das sich selber schädigt (J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung), oder trügerischer J Schein, der entlarvt wird. Den märchentypisch stereotypen Kategorien von J Gut und Böse sind TVProduktionen in starkem Maß verpflichtet. In Telenovelas spielt der Motivkomplex der mißhandelten oder unschuldig verfolgten J Frau (Kap. 3. 1.2) eine große Rolle. Ein populäres Märchenmotiv, mit dem Liebende zusammengeführt werden, ist die Schuhprobe (J Schuh, Kap. 2.1). Die Märchenfilmanalyse muß den ,medialen Zwang‘ von Vorlage und Bearb. reflektieren61. Zu den wesentlichen Kennzeichen filmischen bzw. televisuellen Märchenerzählens gegenüber den Vorlagen gehören Motivierung des Geschehens, Ausfabulierung von Figuren und J blinden Motiven und Konkretisierung des Milieus, Einfügung von Parallelhandlungen und Nebenfiguren, Individualisierung von Figuren, Moralisierung des Geschehens, Aktivierung passiver Heldenrollen, Abbau der formelhaften Erzählweise, der Märchenstruktur entsprechende Behandlung des Wunderbaren62 und z. T. Vermeidung von Grausamkeiten (Kleinkinderprogramm)63. 5 . M är ch en im Ki nd er- u nd Fa mi l ie nf er ns eh en. Das Kinderfernsehen spiegelt weithin die Genres für Erwachsene in nuce wider. Es läßt sich grob in Programme für Kleinkinder (drei bis sieben Jahre) und ältere Kinder untergliedern. 1953 begann die Ausstrahlung eines regelmäßigen, pro Tag maximal halbstündigen Kinderprogramms64, das pädagogische Bedenken gegenüber dem neuen Medium (Passivierung, Reizüberflutung, Wertezerstörung) auszuräumen suchte65. Zunächst orientierte sich das F. am Kinderfunk und schuf traditionelle Erzählsituationen. Bis 1959 war etwa die Hälfte aller Sendungen fiktiven Gehalts66. Dabei
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wurde in Anlehnung an C. J Bühlers Theorie der Lesealter das Märchen favorisiert67, dessen phantasieerzeugende Wirkung sich im stilisierenden J Puppentheater oder J Schattenspiel entfalten sollte, während der ,platte Naturalismus‘ des Realfilms abgelehnt wurde68. Märchen wurden des öfteren in Magazinsendungen von moderierenden ,Kinderfernsehtanten‘ erzählt (Kinderstunde mit Dr. Ilse Obrig69; Erzählen, Spielen, Basteln). Mit einer Lesereihe, in der bekannte Schauspieler Märchen vortrugen (Es war einmal), eröffnete 1963 das ZDF sein Kinderprogramm. Das ostdt. F. startete 1955 die Reihe Meister Nadelöhr erzählt Märchen (später Zu Besuch im Märchenland), in der ein Realdarsteller als Moderator, Erzähler und Sänger gemeinsam mit Puppen agierte. Seine Rolle war dem J Tapferen Schneiderlein (AaTh/ATU 1640) nachempfunden. Die mit dem Schneider zusammenlebenden Puppen prägten jahrzehntelang das Kleinkinderprogramm der DDR; sie traten auch im allabendlichen, vom Sandmännchen (J Sandmann) gerahmten Abendgruß auf 70. Wurden in den 1950er Jahren die J Kinderund Hausmärchen der Brüder J Grimm, darunter auch unbekanntere Erzählungen, bevorzugt71, wollte das Kinderfernsehen der 1960er Jahre fremdes Kulturgut vermitteln (westdt. Der Märchenflieger erzählt, Märchen aus 1001 Tag, Mit dem Märchenzoo, Märchen der Völker)72. Ende der 1960er Jahre, als traditionelle Erziehungskonzepte in Frage gestellt wurden, nutzte man das F. zur Vorschulerziehung, um kognitive und soziale Fähigkeiten zu vermitteln. Vorreiter war die 1969 in den USA gestartete Sesame Street, die im westdt. Kinderfernsehen einen Boom eigener Vorschulsendungen auslöste (Maxifant und Minifant, Die Sendung mit der Maus, Das Feuerrote Spielmobil etc.) und ab 1973 vom Norddt. Rundfunk (NDR) mit dt. Sendeteilen ausgestrahlt wurde. Der geforderten Alltagsthematik stand das Märchen im Wege, es wurde allenfalls gegenwartsorientiert umgesetzt73. So parodierte die Froschpuppe Kermit in der Sesamstraße Märchen, indem sie als Reporter berichtete (z. B.: Kermit interviewt Aschenputtel und den Prinzen)74. In der Puppenspielreihe Hallo Spencer wurden Märchen auch als Rollenspiel genutzt (z. B. AaTh/ATU 513 A: J Sechse kommen durch die Welt)75.
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Märchen aller Kontinente wurden noch einmal ab 1979 vom Bayer. Rundfunk (BR) in einer über hundert Folgen umfassenden Reihe mit Handpuppen umgesetzt76. Die Augsburger Puppenkiste inszenierte erfolgreiche Kinderbücher, während Volksmärchen nur anfangs eine Rolle spielten77. In den Prager Filmstudios Barrandov entstanden in Koproduktion mit dem Westdt. Rundfunk (WDR) ,moderne Filmmärchen‘ als realfilmische Gegenwartsserien, in denen alltägliche Probleme von Kindern durch magische Helfer oder Requisiten gelöst werden: in Pan Tau (1969⫺72) durch einen Zauberer, der sich durch Streichen seiner Melone verkleinern oder vergrößern kann78, in Luzie, der Schrecken der Straße (1980) durch Knetmännchen, im Fliegenden Ferdinand (1984) durch eine Riechblume, die einem Schuljungen das Fliegen und die Verwandlung in den eigenen Vater ermöglicht. Das Übernatürliche ereignet sich hier für die Kinder mit der Logik des ,selbstverständlichen Märchenwunders‘, während es die Erwachsenen überrascht und Komik erzeugt. Die TV-Serie Die Märchenbraut (1981) beginnt mit einem Märchenerzähler im F., dessen Sendung von einem unfreiwillig herbeizitierten Zauberer gestört wird. Dieser nimmt ihn in sein Reich mit, wo die Märchen nach einem festen Spielplan aufgeführt werden, der von dem fremden Besucher ebenso gestört wird wie Märchenfiguren die moderne Alltagswelt durcheinanderbringen. Der Umstieg zwischen beiden Welten erfolgt durch Requisiten wie Zaubermantel oder -glöckchen und führt absurde Situationen herbei79. Im F. werden eingekaufte oder TV-koproduzierte Kinofilme übertragen80. Zu den im dt. F. am meisten wiederholten Kinderfilmen zählen Märchenfilme der Barrandov-Studios81, wie Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (1973), frei nach Bozˇena J Neˇmcova´ (AaTh 510 A: cf. J Cinderella)82, oder Wie man Dornröschen wachküßt (1977; AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit)83. Das F. der DDR sendete vielfach sowjet. Märchenfilme84, produzierte aber auch selbst Märchenrealfilme nach eher unbekannten Vorlagen. Prominente Beispiele sind etwa J Gevatter Tod (1980; AaTh/ ATU 332)85 und J Jorinde und Joringel (1986; AaTh/ATU 405). Hier werden die Märchen hist. konkretisiert. Jorinde und Joringel spielt
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im 30jährigen Krieg und ist als Antikriegsgeschichte konzipiert86. In den 1980er Jahren ließ das ZDF etwa jährlich in Zusammenarbeit mit anderen europ. Sendeanstalten aufwendig ausgestattete Märchenrealfilme in den Studios Bratislava herstellen87. Als Familienfilme suchen sie durch eine komplexere Handlungsstruktur neben Kindern Erwachsene anzusprechen. So gelangt in Frau Holle (1984; AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen) ein Zirkusjunge in das Haus der Jenseitigen, wo er sich austobt, nachdem er der Todesgöttin Frau Hippe entkommen ist88. Es wurden auch unbekanntere Märchen verfilmt, z. B. Der Salzprinz (1983; AaTh/ATU 923: J Lieb wie das Salz), Das J Wasser des Lebens (1987; AaTh/ATU 551) oder Der treue J Johannes (1988; AaTh/ATU 516). Im Bereich des Animationsfilms sind aufgrund unterschiedlicher Stile und Techniken einerseits vielfältige künstlerische Versuche, andererseits industrialisierte Formen der Märchenadaption entstanden. Für die globalisierend wirksame Märchenfilmproduktion ist nach wie vor Walt J Disneys Zeichenstil zentral89, der weltweit das Image von Märchenfiguren geprägt hat und heute durch die Computeranimation weiter perfektioniert wird. 1990 konnte das Disney Animation Department mit The Little Mermaid nach J Andersen an die großen Erfolge der 1930er Jahre anknüpfen90. Disney-Filme werden in vielen Ländern über den Disney Channel91 oder Nikkelodeon und weitere Spartenkanäle gezeigt, im dt. F. über Super-RTL, das zu 50 % der Walt Disney Company gehört. Im ostdt. Kinderfernsehen war der Zeichentrickfilm im Vergleich zum westdt. F. weniger dominant. Zu den beliebtesten längeren osteurop. Zeichentrickfilmen zählt Das bucklige Pferdchen (1975; AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter) nach der gleichnamigen Vorlage von Petr Pavlovicˇ J Ersˇov92. Das ZDF kaufte seit den 1970er Jahren jap., auf Kinderbuchklassikern beruhende Zeichentrickserien (z. B. Heidi, Die Biene Maja, Pinocchio). Die nur teilanimierten93 und damit kostensparend produzierten Serien der Nippon Animation nutzen in Anlehnung an Disney das Kindchen-Schema (kleiner Körper, großer Kopf mit großen, runden Augen)94. In
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J Sindbad wird der Seefahrer als verniedlichte Kindfigur dargestellt, die mit ihren Freunden aus Versatzstücken oriental. Märchen kompilierte Geschichten erlebt. Ähnlich suchte die 1999 erstausgestrahlte dt. Serie SimsalaGrimm95 Märchen der Brüder Grimm durch Serienfiguren zu verbinden. ARD und ZDF gründeten 1997 den gemeinsamen werbefreien Kinderkanal (KIKA). Mit ihm sollte ein Gegengewicht zu den temporeichen und gewaltsamen Actionserien gesetzt werden96, die im Zuge des Zeichentrickbooms seit Zulassung der privaten Sender zunehmend ausgestrahlt wurden97. 1 Perskyi, C.: Te´le´vision au moyen de l’e´lectricite´. In: Hospitalier, M. E.: Congre`s internat. d’e´lectricite´. P. 1901. ⫺ 2 Schäffner, G.: F. In: Faulstich, W. (ed.): Grundwissen Medien. Mü. 42000, 174⫺200, hier 174. ⫺ 3 Abramson, A.: The History of T., 1880 to 1941. Jefferson, N. C. u. a. 1987; id: The History of T., 1942 to 2000. Jefferson, N. C. u. a. 2003; Smith, A. (ed.): T. An Internat. History. Ox. 21998. ⫺ 4 Schäffner (wie not. 2) 179. ⫺ 5 Castleman, H./Podrazik, W. J.: Watching TV. Six Decades of American T. Syracuse, N. Y. 22003, 71. ⫺ 6 T./IP (2006) 12. ⫺ 7 ibid., 35. ⫺ 8 Hickethier, K.: Geschichte des dt. F. s. Stg./Weimar 1998, 81. ⫺ 9 Reichertz, J.: Das F. als Akteur. In: Ziemann, A. (ed.): Medien der Gesellschaft ⫺ Gesellschaft der Medien. Konstanz 2006, 231⫺246, hier 232; Hickethier, K. (ed.): Der Zauberspiegel ⫺ das Fenster zur Welt. Unters.en zum Fernsehprogr. der fünfziger Jahre. Siegen 1990. ⫺ 10 Jäckel, M./Brosius, H.-B.: Nach dem Feuerwerk. 20 Jahre duales F. in Deutschland. Mü. 2005. ⫺ 11 Hickethier, K.: Dispositiv F. In: Montage/av 4,1 (1995) 63⫺83, hier 77. ⫺ 12 id.: Film- und Fernsehanalyse. Stg. 42007, 209. ⫺ 13 Mikos, L.: Film- und Fernsehanalyse. Konstanz 2003, 252; Gehrau, V.: Fernsehgenres und Fernsehgattungen. Mü. 2001. ⫺ 14 Hickethier, K.: Genretheorie und Genreanalyse. In: Felix, J. (ed.): Moderne Film Theorie. Mainz 2 2003, 62⫺96, hier 89 sq. ⫺ 15 id. (wie not. 12) 208. ⫺ 16 id.: Mediengeschichte. In: Rusch, G. (ed.): Einführung in die Medienwiss. Wiesbaden 2002, 171⫺188, hier 172. ⫺ 17 Schenk, M.: Medienwirkungsforschung. Tübingen 1987, 77 sq. ⫺ 18 ibid., 22 sq. ⫺ 19 Horkheimer, M./Adorno, T. W.: Dialektik der Aufklärung [1944]. Ffm. 1988, 128⫺176; Adorno, T. W.: Re´sume´ über Kulturindustrie. In: Prokop, D. (ed.): Medienforschung 1. Ffm. 1985, 476⫺483. ⫺ 20 id.: Prolog zum F. In: id.: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Ffm. 1963, 69⫺80, hier 71. ⫺ 21 ibid., 74 sq. ⫺ 22 Schenk (wie not. 17) 379⫺420. ⫺ 23 ibid., 244⫺279. ⫺ 24 Hall, S.: „Encoding/Decoding“. In: id. u. a. (edd.): Culture, Media, Language.
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L. 1980, 128⫺138. ⫺ 25 Fiske, J.: Die brit. Cultural Studies und das F. In: Winter, R./Mikos, L. (edd.): Die Fabrikation des Populären. Bielefeld 2001, 17⫺ 68. ⫺ 26 id.: T. Culture. L./N. Y. 1987; Hepp, A.: Fernsehaneignung und Alltagsgespräche. Opladen 1998; Fiske (wie not. 25) 35; id./Hartley, J.: Reading T. L./N. Y. 22003; Mikos (wie not. 13) 261. ⫺ 27 Keppler, A.: Mediale Gegenwart. Eine Theorie des F.s am Beispiel der Darstellung von Gewalt. Ffm. 2006; Kunczik, M.: Gewalt und Medien. Köln 52006; id.: Gewalt im F. Köln 1975; Gunter, B./Harrison, J./Wykes, M.: Violence on T. Mahwah, N. J. 2003; Merten, K.: Gewalt durch Gewalt im F.? Opladen 1999; Groebel, J.: Gewaltprofil des dt. Fernsehprogr.s. Opladen 1993. ⫺ 28 Kübler, H. D.: Kinder und Fernsehgewalt. In: Erlinger, H. D. u. a. (edd.): Hb. des Kinderfernsehens. Konstanz 1995, 469⫺ 488. ⫺ 29 Mander, J.: Schafft das F. ab! Eine Streitschrift gegen das Leben aus zweiter Hand. Hbg 1979. ⫺ 30 Bourdieu, P.: Über das F. Ffm. 1998. ⫺ 31 Faßler, M.: Medienanthropologie oder: Plädoyer für eine Kultur- und Sozialanthropologie des Medialen. In: Pirner, M. L./Rath, M. (edd.): Homo medialis. Perspektiven und Probleme einer Anthropologie der Medien. Mü. 2003, 31⫺48, hier 43. ⫺ 32 Kübler, H.-D.: Wie anthropol. ist mediale Kommunikation? ibid., 63⫺82. ⫺ 33 McLuhan, M./Fiore, Q.: The Medium Is the Massage. N. Y. 1967. ⫺ 34 McLuhan, M.: Understanding Media. L. (1964) 2003; Hartmann, F.: Medienphilosophie. Wien 2000, 238⫺269. ⫺ 35 z. B. Virilio, P.: Information und Apokalypse. Mü. 2000. ⫺ 36 z. B. Flusser, V.: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen 62000. ⫺ 37 Foucault, M.: Dispositive der Macht. B. 1976. ⫺ 38 Hickethier (wie not. 11); cf. auch Riedel, K. V.: F. und Volkskultur. In: Beitr.e zur dt. Volks- und Altertumskunde 9 (1965) 23⫺37, hier 27. ⫺ 39 Kreuzer, H./Thomsen, C. W. (ed.): Geschichte des F.s in der Bundesrepublik Deutschland 1⫺5. Mü. 1993⫺94. ⫺ 40 Hickethier (wie not. 8). ⫺ 41 id.: Die Fernsehserie und das Serielle des F. s. Lüneburg 1991, 14. ⫺ 42 ibid., 8. ⫺ 43 Faulstich, W.: Ästhetik des F. s. Tübingen 1982, 129. ⫺ 44 Hickethier (wie not. 41) 17. ⫺ 45 Löcher, U./Rosenstein, D.: Zur Geschichte der Fernsehserie in der DDR. Siegen 2001. ⫺ 46 Wichterich, C.: Unsere Nachbarn heute abend. Ffm. 1979; Seeßlen, G.: Der Tag, als Mutter Beimer starb. B. 2001. ⫺ 47 Ang, I.: Das Gefühl Dallas. Bielefeld 1986, 69. ⫺ 48 Seeßlen (wie not. 46) 161⫺169. ⫺ 49 Roßmann, C.: Die heile Welt des F. s. Eine Studie zur Kultivierung der Krankenhausserien. Mü. 2002. ⫺ 50 Frey-Vor, G.: Coronation Street. Infinite Drama and British Reality. Trier 1991. ⫺ 51 Cippitelli, C./Schwanebeck, A. (edd.): Pickel, Küsse und Kulissen. Soap Operas im F. Mü. 2 2004. ⫺ 52 Lücke, S.: Real Life Soaps. Ein neues Genre des Reality TV. Münster 2002. ⫺ 53 Bausinger, H.: Heile Familienwelt. Anmerkungen zu dt. Fernsehserien. In: Der Bürger im Staat 20 (1970) 145⫺150, hier 148; Mikos, L.: Es wird dein Leben!
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Familienserien im F. und im Alltag der Zuschauer. Münster 1994, 143⫺151. ⫺ 54 Ang (wie not. 47) 67. ⫺ 55 Schmitt, C.: Populäre Medien in der volkskundlichen Erzählforschung. In: SAVk. 97 (2001) 67⫺78, hier 69 sq.; Wienker-Piepho, S.: Das Ende der alten Geschichten? F. und Erzählkultur. In: Die Kunst des Erzählens. Festschr. W. Scherf. Potsdam 2002, 124⫺139; Haase, D.: T. In: id. (ed.): The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales 3. Westport, CT/L. 2007, 947⫺951. ⫺ 56 Jörg, H.: Die sagen- und märchenhafte Leinwand. Erzählstoffe, Motive und narrative Strukturen der Volksprosa im „klassischen“ dt. Stummfilm (1910⫺1930). Sinzheim 1994; Koven, M. J.: Discourses of Belief in ,The XFiles‘. In: id.: Film, Folklore and Urban Legends. Lanham, Md. 2007, 69⫺81; id.: The Convergence of Folklore, Belief, and Popular Media: The Case of ,Most Haunted‘. ibid., 153⫺174; Rieken, B.: Teufel, Dämonen, Ungeheuer. Die Umsetzung von Sagenmotiven im Horror- und Sciencefictionfilm. In: Schmitt, C. (ed.): Erzählkulturen im Medienwandel. Münster/N. Y./Mü./B. (im Druck). ⫺ 57 Shojaei Kawan, C.: Hexen, Engel, Heilige. Über das Wunderbare und das Dämonische im Unterhaltungsfilm. ibid. ⫺ 58 Bendix, R.: Vom Witz zur Quizshow. Das abgekürzte Märchen als (bisweilen auch kulturelles) Kapital. In: ead./Marzolph, U. (edd.): Hören, Lesen, Sehen, Spüren. Märchenrezeption im europ. Vergleich. Baltmannsweiler 2008, 234⫺247. ⫺ 59 Kölbl, A.: Fiktionen der Liebe. Europ. Volksmärchen und populäre Spielfilme im Vergleich. Mü. 2006. ⫺ 60 cf. Mikunda, C.: Der verbotene Ort oder Die inszenierte Verführung. Ffm. 22005, 22⫺24. ⫺ 61 Schmitt, C.: Mündl. und mediales Erzählen. Klischees zum Phänomen filmischer Märchenbearb. In: Franz, K./Kahn, W.: Märchen ⫺ Kinder ⫺ Medien. Baltmannsweiler 2000, 67⫺81, hier 75⫺77. ⫺ 62 id.: Adaptionen klassischer Märchen im Kinderund Familienfernsehen. Ffm. 1993, 256⫺328. ⫺ 63 ibid., 377⫺391. ⫺ 64 Stock, H.-J.: Das Kinderprogr. des DDR-F.s. In: Erlinger u. a. (wie not. 28) 43⫺86, hier 47; Schmidbauer, M.: Die Geschichte des Kinderfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland. Mü. u. a. 1987, 11. ⫺ 65 Stötzel, D. U./ Merkelbach, B.: Das Kinderfernsehen der ARD in den 50er Jahren. In: Erlinger, H. D./Stötzel, D. U. (edd.): Geschichte des Kinderfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland. B. 1991, 143⫺179, hier 150⫺155. ⫺ 66 ibid., hier 147 (1953⫺59: 48,67 %). ⫺ 67 Foerster, O./Holz, H.-J.: F. für Kinder und Jugendliche. Mü. 1963, 21. ⫺ 68 Wetterling, H.: Das F. in pädagogischem Aspekt. Mü. 1960, 86; Schmitt, C.: Entwicklungslinien des Puppenspiels im Kinderfernsehen der Bundesrepublik von den Anfängen bis zur Gegenwart. In: Erlinger, H. D./Mattusch, U. (edd.): Kinderfernsehen. 3: Genres im Kinderfernsehen. Essen 1991, 11⫺71, hier 27; Schmitt (wie not. 62) 145. ⫺ 69 Hickethier, K.: Ilse Obrig und das Klingende Haus der Sonntagskinder. Die Anfänge des dt. Kinderfernsehens. In: Erlinger/Stötzel (wie not. 65) 93⫺142. ⫺ 70 Grazzi, V./Mikos, L.: „Sand-
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Tell, Wilhelm
mann, lieber Sandmann …“ Erfolgsfaktoren einer beliebten Kindersendung. In: Televizion 20,1 (2007) 52⫺54. ⫺ 71 Schmitt (wie not. 62) 149. ⫺ 72 ibid., 156 sq. ⫺ 73 Jerrendorf, M.: Grimms Märchen in Medien. Diss. Tübingen 1985, 169 sq. ⫺ 74 Schmitt (wie not. 62) 197. ⫺ 75 ibid., 516, num. 137. ⫺ 76 ibid., 203⫺206, 549 sq. ⫺ 77 Rebehn, L./Schmitt, C.: Kasper, Kermit, Kalle Wirsch. Zur Entwicklung des Puppenspiels im F. In: Erlinger u. a. (wie not. 28) 297⫺314, hier 301. ⫺ 78 Künnemann, H.: Pan Tau. In: LKJ 3 (1972) 5 sq. ⫺ 79 Schmitt (wie not. 62) 36⫺ 39. ⫺ 80 cf. Erhart, R.: Die Schöne und das Biest. Von der Erzählung zum Film. Ffm. 2007. ⫺ 81 Schmitt (wie not. 62) 553. ⫺ 82 ibid., 358, 445 sq., num. 25; id.: … so leben sie noch heute. Märchenadaptionen in Film und F. In: Erlinger, H. D./Foltin, H.-F. (edd.): Unterhaltung, Werbung und Zielgruppenprogramme. Mü. 1994, 405⫺437, hier 431. ⫺ 83 id.: Rückschritt oder Neubesinnung? Anmerkungen zum gegenwärtigen Märchenboom unseres Kinderfernsehens. In: Köstlin, K. (ed.): Kinderkultur. Bremen 1987, 389⫺400, hier 398. ⫺ 84 Berger, E./ Giera, J. (edd.): 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. B. 1990, 148⫺263. ⫺ 85 ibid., 106⫺ 110. ⫺ 86 Schmitt (wie not. 62) 473 sq., num. 69. ⫺ 87 ibid., 206⫺209, 548 sq. ⫺ 88 Liptay, F.: WunderWelten. Märchen im Film. Remscheid 2004, 312⫺ 335. ⫺ 89 Zipes, J.: Fairy Tales and the Art of Subversion. The Classical Genre for Children and the Process of Civilization. N. Y./L. 22006, 193⫺212; Tomkowiak, I.: Disneys Märchenfilme. In: Bendix/ Marzolph (wie not. 58) 209⫺233. ⫺ 90 Bendix, R.: Seashell Bra and Happy End. Disney’s Transformations of „The Little Mermaid“. In: Fabula 34 (1993) 280⫺290. ⫺ 91 Clancy, S.: T. and Children. In: Zipes, J. (ed.): The Oxford Enc. of Children’s Literature 4. Ox. 2006, 79⫺81, hier 80. ⫺ 92 Schmitt (wie not. 62) 439 sq., num. 14. ⫺ 93 Thiele, J.: Trickfilm-Serien im F. Oldenburg 1981, 57⫺59. ⫺ 94 ibid., 49. ⫺ 95 cf. Kahn, W. (ed.): SimsalaGrimm ⫺ Klimbim? Lpz. 2000; Drascek, D.: „SimsalaGrimm“. Zur Adaption und Modernisierung der Märchenwelt. In: SAVk. 97 (2001) 79⫺89. ⫺ 96 Höfer, G./Janßen, S. R.: Gewalt als Unterhaltung im Kinderfernsehen? Analysen von Actionserien und Zeichentrickprogr.en. Coppengrave 1995. ⫺ 97 Eßer, K.: Von Null auf Hundert. Das Zeichentrickangebot im dt. (Kinder)F. In: Erlinger u. a. (wie not. 28) 315⫺335.
Rostock
Christoph Schmitt
Tell, Wilhelm. Die Sage um einen Meisterschützen (J Schützenkünste), der seine Unabhängigkeit gegenüber einem Herrscher oder dessen Stellvertreter demonstriert, ist eine ursprünglich bes. in Nordeuropa und auf
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den Brit. Inseln verbreitete Wandersage1. So berichtet die Prosa-Edda in der Egils saga (J Edda) von Egil, der auf Befehl eines Herrschers einen Apfel vom Haupt seines dreijährigen Sohnes schießen mußte (Mot. F 661.3; J Apfelprobe); in den Gesta Danorum des J Saxo Grammaticus (10,7,1) findet sich die Erzählung über den Skiläufer und Meisterschützen Toko, dem König Harald Blauzahn gleiches befiehlt2. Die bekannteste Version über einen Meisterschützen stammt aus der Schweiz; hier heißt der Held W. T. T.s Widersacher ist der Landvogt Geßler, der seine Untertanen quält und demütigt. T. verweigert den J Gruß an den J Hut des Landvogts Geßler und wird gezwungen, einen Apfel vom Haupt seines Kindes zu schießen. Trotz des erfolgreichen Schusses wird T. verhaftet (weil er für den Fall eines Fehlschusses einen zweiten Pfeil für den Landvogt im Köcher hatte) und soll fern der Heimat eingekerkert werden. Beim Boottransport auf dem stürmischen See gelingt ihm die Flucht. T. lauert dem Tyrannen bei Küßnacht auf und erschießt ihn mit seiner Armbrust. Seinen Tod soll T. gefunden haben, als er ein Kind aus dem durch Wildwasser angeschwollenen Schächenbach rettete.
T.s Tat verbindet sich in der Geschichtskonstruktion mit dem eidgenössischen Bündnis von 1291 sowie dem Rütlischwur zur gemeinsamen Verteidigung durch Vertreter der drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden von 1307. T. ist jedoch in keiner dies betr. Quelle erwähnt3. Nach ihm benannt sind dagegen die drei Schläfer (drei T.en) im Innern eines Berges, die auf ihre Wiedererweckung in der Notzeit warten, wo sie den Menschen wieder zu Hilfe kommen sollen (J Entrückung)4. Erstmals wird W. T. im 15. Jh. in schriftl. Quellen erwähnt. Bes. das Weiße Buch von Sarnen (1470, Vorlage von ca 1420) siedelt T.s Taten in der Zeit des schweiz. Freiheitskampfes an5. Das für 1477 belegte ,Alte T.enlied‘ sowie eine Luzerner Stadtchronik (verfaßt zwischen 1482 und1488) berichten von T.s Tat6. 1568 machte der Basler Pfarrer Heinrich Pantaleon im 2. Teil seines Teutscher Nation Heldenbuch auf die Zusammenhänge zwischen der urner. Tradition und der Schilderung bei Saxo Grammaticus aufmerksam7. Hist. belegbar ist die Person des T. nicht, doch durch ihre Verbindung mit dem Mythos der schweiz. Staatsgründung mutierte sie vom
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Tell, Wilhelm
legendären zum hist. Erzählstoff, dessen wiss. Überprüfung und Anzweiflung seit dem 16. Jh. beständig für Kontroversen sorgt. U. Freudenberg mußte 1760 sein lat. Pamphlet zum dän. Ursprung der T.sage unter Androhung der Todesstrafe dementieren8; hundert Jahre später wurde die Nachbildung einer Puppe, die den liberalen Luzerner Historiker F. E. Kopp darstellte, auf der Rütliwiese verbrannt: Kopp hatte es gewagt, die T.-Überlieferung als Sagenstoff zu entlarven9. In der schweiz. Geschichtsschreibung, Politik und Öffentlichkeit hat die Frage von T.s Historizität kontinuierlich Diskussionsstoff geliefert. Neben Quellenwerken, die das vorhandene und z. T. widersprüchliche hist. Material zur Verfügung stellen10, ist eine Fülle von sekundären Darstellungen unterschiedlichster Intention erschienen11. Doch vollständiger zusammengetragen wurden die älteren und mit T. zweifelsohne verwandten Sagen erst im 19. und 20. Jh. Die erste ausführliche volkskundliche Studie zum T.stoff stammt von E. L. Rochholz (1877)12. Er unternahm mythol. orientierte vergleichende Textstudien zu allen Einzelelementen der Sage, u. a. Waffe und Apfelschuß, untersuchte das Umfeld von Sagen um Meisterschützen und überprüfte den Sagenfundus zu den verschiedenen T.skapellen in der Urschweiz ⫺ welche alle erst mehr als dreihundert Jahre nach der sagenhaften Tat erbaut worden sind. Seine Unters. der Quellenlage zum Personennamen T. machte deutlich, daß der Name selbst fast gar nicht aufzufinden war; die wenigen Nachweise deuten auf Fälschungsversuche hin, die dem Bestreben nach Historizität dienten13. Die bisher vollständigste Quellensammlung zum T.stoff stammt von H. de J Boor14; seither wurden weitere vereinzelte Nachweise publiziert15. Eine folkloristisch-psychoanalytische Interpretation des Stoffes hat A. J Dundes vorgelegt. Neben den phallischen Symbolen des Geßler-Hutes auf der Stange, der erhobenen Häupter von Vater und Sohn T. und des Pfeiles sieht Dundes in der T.erzählung eine Var. des J Ödipusstoffes (AaTh/ATU 931): Ein Held kann seinen VaterDiktator töten, um das ,Vaterland‘ zu kontrollieren oder sein ,Mutterland‘ zu befreien, das unter der grausamen Hand des Vater-Diktators leidet16.
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T.s Weg zum schweiz. Nationalhelden17 führte vom ,Alten T.enlied‘ und von ersten Chronikerwähnungen über verschiedene Medien: Das für 1512 belegte Urner T.spiel bezeugt eine florierende T.spieltradition18. In den schweiz. Glaubenskriegen und Bauernaufständen des 16. und 17. Jh.s war T. eine Identifikationsfigur; später wurde ihre symbolische Ausstrahlung sowohl von den Verfechtern der Frz. Revolution19 als auch im Widerstand gegen die napoleonische Besatzung innerhalb der Eidgenossenschaft genutzt20. Erst J Schillers hist. Drama W. T. (1804) popularisierte den T.stoff weit über den dt.sprachigen Raum hinaus21. Obwohl T. die Titelfigur des Dramas blieb, waren es hier die Figuren der hist. verbürgten Stauffacher, Fürst und Melchthal, die den erfolgreichen Aufstand der Urschweizer planten. Die Inszenierung des Schwurs der Eidgenossen auf der Rütliwiese wurde zu einem Symbol demokratischer Hoffnung in einer Zeit fremder Besetzung und revolutionären Umbruchs in ganz Europa. Obwohl anfänglich kritisch betrachtet, begann Schillers T. auch die schweiz. Tradition nachhaltig zu prägen. Am sagenhaften Ort des Geschehens, im urner. Altdorf, sowie in Interlaken wurden bis heute bestehende T.spielgesellschaften gegründet22. Darüber hinaus wurde der T.stoff auch durch Rossinis an Schiller angelehnte Oper Guillaume T. (1829) bekannt. Bildliche Darstellungen von T. sind nach Schillers Stück vermehrt nachzuweisen (Skulpturen, Gemälde)23. Der sagenhafte Charakter der T.gestalt beflügelte ihre symbolische Nutzbarkeit. Die einflußreichsten Vorlagen waren Ernst Stückelbergers Fresken in der T.skapelle aus den 1880er Jahren, das 1895 in Altdorf errichtete T.denkmal (J Denkmalerzählungen) und Ferdinand Hodlers lebensgroßes Porträt des Nationalhelden. Auch Briefmarken und das Schweizer Fünffranken-Stück zeigten und zeigen T.24; schweiz. Markenprodukte sind durch das Gütesiegel in Form einer Armbrust ausgezeichnet. Als Werbefigur ist T. aus der schweiz. Wirtschaft ⫺ vom Gasthausschild bis zur Käsewerbung ⫺ nicht wegzudenken25. Gleichzeitig ist der Apfelschuß als Hauptmotiv der Sage so stark in das kollektive Gedächtnis eingegangen, daß er vom Cartoon bis zum Fernsehgag immer wieder eingesetzt wird26.
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Temme, Jodocus Donatus (Deodatus) Hubertus
Eine der neueren einflußreichen Bearb.en des T.stoffs stammt von Max Frisch. Er stellte in seinem gegenwartskritischen Essay W. T. für die Schule (1971), geschrieben aus der Perspektive des verängstigten Landvogts Geßler, für den T. zum Terroristen wird, den Ursprungsmythos in Frage und löste aggressive Diskussionen aus27. 1
cf. allg. Stunzi, L. (ed.): T. Werden und Wandern eines Mythos. Bern/Stg. 1973. ⫺ 2 ibid., 108⫺111. ⫺ 3 Salis, J. R. von: Ursprung, Gestalt und Wirkung des schweiz. Mythos von T. ibid., 9⫺88, hier 10. ⫺ 4 Grimm DS 298 (mit Lit.); Schenda, R.: Die drei T.e aus dem Modejournal. Bemerkungen zu einer Schweizer Sage bei den Brüdern Grimm. In: Neue Zürcher Ztg num. 67 (16./17.11.1985) 70; Beck, M.: W. T. Sage oder Geschichte? In: Dt. Archiv für Erforschung des MA.s 36 (1980) 1⫺24. ⫺ 5 Wirz, H. G. (ed.): Das Weiße Buch von Sarnen. Aarau 1947. ⫺ 6 Salis (wie not. 3) 9⫺88. ⫺ 7 Stunzi (wie not. 1) 109. ⫺ 8 Bendix, R.: Backstage Domains. Playing „William T.“ in Two Swiss Communities. Bern 1989, 25⫺33, hier 33. ⫺ 9 Kopp, F. E.: Geschichte der eidgenössischen Bünde 1⫺7. Lpz. u. a. 1845⫺71. ⫺ 10 cf. Qu.nwerk zur Entstehung der Schweiz. Eidgenossenschaft 1⫺9. Aarau 1933⫺75. ⫺ 11 cf. Heinemann, F.: T.-Bibliogr. […] Bern 1907. ⫺ 12 Rochholz, E. L.: T. und Geßler. Heilbronn 1877. ⫺ 13 ibid., 270⫺285. ⫺ 14 Boor, H. de: Die nord., engl. und dt. Darstellungen des Apfelschußmotivs [1947]. In: id.: Kl. Schr. 2. B. 1966, 117⫺ 174. ⫺ 15 z. B. Williams, M.: A Welsh Version of the William T. Legend. In: FL 72 (1961) 317⫺319. ⫺ 16 Dundes, A.: The Apple Shot. Interpreting the Legend of William T. In: WF 50 (1991) 327⫺360, hier 355. ⫺ 17 cf. Bendix, R.: National Sentiment in Enactment and Discourse of Swiss Political Ritual. In: American Ethnologist 19,4 (1992) 768⫺790. ⫺ 18 Wehrli, M.: Das Lied von der Entstehung der Eidgenossenschaft. Das Urner T.enspiel. Aarau 1952; Bendix (wie not. 8) 28⫺31; Vögtlin, A.: Das T.Schauspiel in der Schweiz. In: Die Bücherwelt 1 (1898⫺99) 1009⫺1018; Eberle, O.: Das Alte Urner Spiel vom T. aus dem Jahre 1512. Luzern 1968; id.: Theatergeschichte der inneren Schweiz. Königsberg 1929. ⫺ 19 Jost, F.: La Fortune d’un he´ros. Guillaume T. en Europe. Fribourg 1964, 223⫺251; Berchtold, A.: W. T. im 18. und 19. Jh. In: Stunzi (wie not. 1) 167⫺311; Bendix (wie not. 8) 25⫺33. ⫺ 20 ibid., 31⫺33. ⫺ 21 Utz, P.: Die ausgehöhlte Gasse. Stationen der Wirkungsgeschichte von Schillers „W. T.“ Königstein 1984; Graus, F.: Lebendige Vergangenheit. Köln/ Wien 1975, 61⫺72; Bendix (wie not. 8) 34 sq. ⫺ 22 ibid. ⫺ 23 Heinemann, F.: T.-Iconographie. W. T. und sein Apfelschuss […]. Luzern/Lpz. 1902. ⫺ 24 Bendix (wie not. 8) 42 sq. ⫺ 25 cf. Mettler, H./Lippuner, H.: „T.“ und die Schweiz ⫺ die Schweiz und
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„T.“ Zürich 1983, 397. ⫺ 26 Windisch, U./Cornu, F.: T. im Alltag. Zürich 1988. ⫺ 27 cf. auch Marchi, O.: Schweizer Geschichte für Ketzer […]. Zürich 1971.
Göttingen
Regina Bendix
Temme, Jodocus Donatus (Deodatus) Hubertus (Pseud. Heinrich Stahl), * Lette (westfäl. Grafschaft Rheda) 22. 10. 1798, † Zürich 14. 11. 1881, dt. Jurist, Schriftsteller und Politiker1. Nach dem Jurastudium in Münster und Göttingen (1814⫺17) war T. erfolgreich im preuß. Justizdienst tätig, zunächst in Hohenlimburg (1822⫺24 Studienbegleiter des Prinzen Franz von Bentheim) und Arnsberg, dann in Ragnit (Memel), Stendal, Greifswald und Berlin. 1844 wurde er wegen seiner kritischen Haltung gegenüber dem Justizwesen nach Tilsit versetzt, 1848 nach Berlin berufen und im selben Jahr nach Münster versetzt. 1848 war T. Mitglied der Preuß. Nationalversammlung, 1849 Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung und Mitglied des Stuttgarter Rumpfparlaments. Zweimal wegen Hochverrats angeklagt, kam er in Münster in Untersuchungshaft (27. 12. 1848⫺27. 1. 1849, 4. 7. 1849⫺6. 4. 1850). Die erste Anklage wurde abgewiesen, die zweite endete mit Freispruch, doch wurde er 1851 in einem Disziplinarverfahren ohne Pensionsansprüche seines Amtes enthoben. 1851 übernahm T. die Chefredaktion der oppositionellen Neuen Oderzeitung in Breslau, 1852 emigrierte er wegen weiterer behördlicher Schikanen nach Zürich, wo er als freier Schriftsteller und zunächst unbesoldeter Professor der Rechte, unterbrochen durch seine Tätigkeit als preuß. Abgeordneter in Berlin (1863⫺64) und durch einen erneuten Aufenthalt in Tilsit (1878), bis zu seinem Tod lebte. T. verfaßte Schriften und Lehrbücher zum preuß. und Schweizer Zivil- und Strafrecht und war bereits seit den späten 1820er Jahren ⫺ auch aus finanziellen Gründen ⫺ schriftstellerisch tätig. Bes. seit 1850 trat er als produktiver und erfolgreicher Autor vor allem von Kriminalnovellen und -romanen hervor. Er gilt als Mitbegründer der dt. Kriminalerzählung2. Seine Werke, die die zeitgenössische literar. Kritik oft negativ, z. B. als „Journalund Leihbibliothekenfutter“3, beurteilte, wur-
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Tempus im Märchen ⫺ Tendenzhaftigkeit
den von der Nachmärz-Zensur wegen ihrer gesellschaftskritischen Implikationen teilweise verboten. Für die Erzählforschung ist T. als früher Sammler und Herausgeber von Sagen relevant. Während seine unter dem Pseud. H. Stahl erschienenen Westphäl. Sagen und Geschichten (Elberfeld 1831) mit 30 kürzeren und acht langen ,romantisch umkleideten‘ Texten der Unterhaltung dienen sollten, fühlte sich T. in drei weiteren Slgen der Wiss. verpflichtet. Zusammen mit dem Landrat W. J. A. von Tettau (1804⫺94) publizierte er Die Volkssagen Ostpreußens, Litthauens und Westpreußens (1837)4, es folgten die von ihm allein veröff. Slgen Die Volkssagen der Altmark (1839)5 und Die Volkssagen von Pommern und Rügen (1840)6. Sie zeigen die Akzeptanz der vor allem mit J Herder beginnenden Aufwertung mündl. Überlieferungen als Volkspoesie (J Naturpoesie, J Volksdichtung) auch außerhalb philol. Kreise7. Unter Berufung auf die Dt. Sagen J. und W. J Grimms unterschied T. Geschichts- und Ortssagen und verstand seine Slgen als einen Beitr. zur flächendeckenden Erfassung dt. Sagen8. Den weitaus größten Teil der Texte entnahm er Chroniken und anderen schriftl. Qu.n. Aus mündl. Überlieferung stammende Texte sammelte T. selbst oder erhielt sie durch Freunde und Korrespondenten. Herkunftsnachweise finden sich allein bei schriftl. Qu.n. Geschichte und Sage grenzte er voneinander ab: die Sage sei nicht durch hist. Faktizität, sondern durch Glauben bestimmt9 und eng mit abergläubischen Vorstellungen und Bräuchen verbunden (denen er jeweils kleine Abteilungen mit Beispielen widmete)10. Unter Volksliedern, Märchen und Sagen sind für T. letztere die ,nationalste Volkspoesie‘, da sie einerseits den Charakter von J Nationen erkennen ließen11 und andererseits das Nationalgefühl (J Patriotismus) förderten12. In den drei wiss. intendierten Slgen bemühte sich T. um eine ,einfache und prunklose Darstellungsweise‘, um den rechten ,Ton‘, und erweist sich somit als früher Vertreter einer Normierung bei der Präsentation von Volkserzählungen13. 1 Erinnerungen von J. D. H. T. ed. S. Born. Lpz. 1883 (Neudruck: T., J. D. H.: Augenzeugenberichte der dt. Revolution 1848/49. Ein preuß. Richter als Vorkämpfer der Demokratie. ed. M. Hettinger. Darmstadt 1996); Brümmer, F.: T., J. Deodatus H.
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In: ADB 37 (1894) 558⫺560; Gust, M.: J. D. H. T. Ein münsterländ. Schriftsteller und Politiker des 19. Jh.s. Münster 1914, 63⫺75 (zu T. als Sagensammler); Hettinger, M.: J. D. H. T. (1798⫺1881) ⫺ nicht nur ein Juristenleben. In: Vom ma. Recht zur neuzeitlichen Rechtswiss. Festschr. W. Trusen. Paderborn u. a. 1994, 335⫺364; Gödden, W./Kessemeier, S. (edd.): J. T.-Lesebuch. Köln 2004. ⫺ 2 Meyer-Krentler, E.: T., J. D. H. In: Killy, W. (ed.): Lit. Lex. 11. Gütersloh/Mü. 1991, 318 sq. ⫺ 3 Stern, A.: Lex. der dt. Nationallitteratur. Lpz. 1882, 362 sq., hier 363. ⫺ 4 Tettau, W. J. A. von/T., J. D. H.: Die Volkssagen Ostpreußens, Litthauens und Westpreußens. B. 1837 (21865; Nachdr. Hildesheim/ N. Y. 21994; 271 Texte). ⫺ 5 T., J. D. H.: Die Volkssagen der Altmark. Mit einem Anhange von Sagen aus den übrigen Marken und aus dem Magdeburgischen. B. 1839 (Nachdr. u. d. T. Volkssagen aus der Mark Brandenburg. Hildesheim/N. Y. 21993; Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003; 137 Texte). ⫺ 6 id.: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. B. 1840 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1976; Uther [wie not. 5]; 283 Texte); cf. Tietz, K.-E.: „Zeugniß von dem Sagenreichthum Pommerns“. In: Märchenspiegel 7,4 (1996) 83⫺88, hier 84. ⫺ 7 cf. von Tettau/T. (wie not. 4) III. ⫺ 8 T. (wie not. 5) IV. ⫺ 9 id. (wie not. 6) VI. ⫺ 10 von Tettau/T. (wie not. 4) XVIII; T. (wie not. 5) VIII; id. (wie not. 6) XVIII. ⫺ 11 von Tettau/T. (wie not. 4) IV; T. (wie not. 5) IV. ⫺ 12 von Tettau/T. (wie not. 4) V. ⫺ 13 ibid., XVIII; T. (wie not. 5) VI sq., IX; id. (wie not. 6) XII sq.; cf. Köhler-Zülch, I.: Der Diskurs über den Ton. In: Homo narrans. Festschr. S. Neumann. Münster u. a. 1999, 25⫺50.
Göttingen
Ines Köhler-Zülch
Tempus im Märchen J Stil
Tendenzhaftigkeit. Der Begriff Tendenz ⫺ Streben und Wirken in einer bestimmten Richtung ⫺ geht auf lat. tendere zurück und kam über das frz. tendance im 18. Jh. in die dt. Sprache. Tendenz in einem weitgefaßten Sinn ist eine elementare Funktion der J Kommunikation und damit der Sprache, die immer dann gegeben ist, wenn mit einer Äußerung bei dem (den) Adressaten etwas bewirkt werden soll. In K. Bühlers Modell wird sie als Appellfunktion bezeichnet1, in der neueren Sprechakttheorie meist als performativ2. In dieser generellen Bedeutung ist Tendenz auch eine Eigenschaft von Erzählungen, gleich ob sie auf Belehrung (J
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Tendenzhaftigkeit
Didaktisches Erzählgut), J Erbauung oder J Unterhaltung zielen. D.-R. J Moser faßt den Befund so zusammen: „Jede Volkserzählung ist ein Intentionat und ein Kompositum zugleich.“3 Die T. wird aber im allg. nur registriert, wenn der Appell explizit gemacht wird, wenn die Absicht bes. offenkundig ist (der ,gehobene Zeigefinger‘) und vor allem, wenn die Tendenz von akzeptierten J Normen wegführt und eigenen Intentionen zuwiderläuft. In diesen Fällen werden Erzählungen oft als tendenziös bezeichnet, was in der Regel kritische Distanz impliziert. Wie für Ideologie (J Ideologisierung) gibt es auch für T. drei verschiedene Bewertungen: T. kann neutrale Bezeichnung für die grundsätzlich gegebene Intentionalität sein. Sie kann ins Positive gewendet werden wie im Fall der literar. Bewegung des Jungen Deutschland (1830⫺50), die ihre gesellschaftskritische Poesie als Tendenzdichtung bezeichnete. Am häufigsten ist aber die negative Konnotation, die auf das Falsche oder Unangemessene einer Tendenz zielt. Ausdrücklich wird die T. herausgestellt, wo weltanschauliche Entwürfe oder Ideologien miteinander in Wettstreit treten. In der Reformation denunziert J Luther die Heiligenlegende als tendenziöse ,Lügend‘; als Antwort auf die antikathol. Erzählungen entstanden tendenziöse antiluther. Geschichten (J Konfession, Konfessionen)4. Die Gegenreformation fand ihren entscheidenden Ausdruck in der organisierten Glaubenspropaganda, die auf umfassende Missionierung und vor allem gegen die evangel. Konfession gerichtet war; die Antwort war ,militanter Protestantismus‘5. Im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen spielt T. als Moment der Propaganda eine wichtige Rolle in J Gerüchten und sagenartigen Geschichten. Aber auch in friedlicheren Kontroversen wird oft über angebliche oder wirkliche T. gestritten: Der Versuch, feministische und allg. emanzipatorische Vorstellungen in Märchenfassungen zu integrieren, für den es seit den 1970er Jahren zahlreiche Beispiele gibt6, geriet in Konflikt mit konservativen Auffassungen und wurde als T. in Frage gestellt7. Solange Erzählungen selbstverständlicher Bestandteil einer Tradition sind, tritt ihre T. zurück. Die Entdeckung und Entlarvung ten-
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denziöser Implikationen ist deshalb in vielen Fällen erst das Ergebnis hist. Zugriffe; man kann sagen: das notwendige Ergebnis, da die zeitgebundenen Tendenzen aus der Distanz aufgrund veränderter Prämissen auffällig werden. So wurden in der Heldensage neben christl. auch frühe ,nationalistische‘ Tendenzen festgestellt8; die T. der Kreuzzugsdichtung (J Kreuzzüge) tritt aus der geschichtlichen Entfernung deutlicher hervor; und die im MA. ausgebildete und weit in die Neuzeit hineinreichende Exempeltradition ist so stark durch ihre T. geprägt, daß die entsprechenden Erzählungen später als Tendenzsagen bezeichnet wurden9. In der Epoche der J Aufklärung waren Warnerzählungen verschiedenen Zuschnitts verbreitet, und Märchenstoffe, die später mit glücklichem Ausgang präsentiert wurden, traten in J Schreckmärchen in Erscheinung10, deren T. in der Romantik aufgedeckt und angegriffen wurde. Auch die oft triviale T. der J Moralischen Geschichten wurde erst in einer späteren Phase kritisch durchleuchtet. Die T. von kolonialistisch gefärbten Erzählungen (J Kolonialismus) wurde erst deutlich nach dem Rückbau eurozentrischer Gedankenwelten, die T. und Stereotypie ethnischer Witze erst durch die Überwindung des Ethnozentrismus (J Stereotypen, ethnische). Daß in der Volkserzählung ein starker sozialkritischer Einschlag vorhanden ist (J Herr und Knecht, J Sozialkritik), wurde lange durch harmonisierende Sozialvorstellungen und Interpretationen verdeckt und erst im Rahmen der marxistischen Folkloristik entschieden herausgestellt (J Marxismus). Dabei kam das Wechselspiel zwischen entschiedener Tendenzkritik und ausgeprägter T. der Kritik ⫺ allgemeiner gesprochen: die Dialektik von Tendenz und Gegentendenz ⫺ deutlich zum Vorschein. Diese Pendelbewegung läßt sich immer wieder beobachten; sie scheint bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich. Auch die Aufdeckung der bürgerlich bestimmten Besänftigungstendenzen in den J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm führte zunächst zu einer einseitigen Betonung des Aufbruchscharakters des Märchens (E. J Bloch). Die Demaskierung von T. ist in vielen Fällen nicht nur ideologiekritisch, sondern auch ideologisch motiviert.
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Tene`ze, Marie-Louise
1 Bühler, K.: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Ffm. 31965. ⫺ 2 Austin, J.: How to Do Things with Words. Ox. 21975; id.: Zur Theorie der Sprechakte. Stg. 1972; Hindelang, G.: Einführung in die Sprechakttheorie. Tübingen 21994. ⫺ 3 Moser, D.-R.: Intentionalität und Rezeption katechetischer Volkserzählungen. In: Bausinger, H./Moser-Rath, E. (edd.): Direkte Kommunikation und Massenkommunikation. Tübingen 1976, 65⫺72, hier 72; cf. id.: Die Tannhäuser-Legende. B./N. Y. 1977. ⫺ 4 cf. Brückner, 262⫺264 u. ö.; WilliamsKrapp, W.: Die dt. und ndl. Legenden des MA.s. Tübingen 1986, 373. ⫺ 5 Zeeden, E. W.: Das ZA. der Gegenreformation. Fbg 1967, 18. ⫺ 6 cf. Doderer, K. (ed.): Über Märchen für Kinder von heute. Weinheim/Basel 1983; Zipes, J.: Breaking the Magic Spell. Radical Theories of Folk and Fairy Tales. Austin 1979; id. (ed.): Don’t Bet on the Prince. Contemporary Feminist Fairy Tales in North America and England. Aldershot u. a. 1987. ⫺ 7 Haas, G.: Wozu Märchen gut sind. Überlegungen zur zeitgenössischen Märchendiskussion und Märchendidaktik. In: Doderer (wie not. 6) 157⫺174; Schenda, R.: Kinderund Märchenbücher, Märchenforschung und Geschichte. In: Börsenblatt für den dt. Buchhandel (4.10.1978) 25⫺29. ⫺ 8 Schütte, G.: Tendensdigtning i heltesagnet. In: DSt. (1934) 145⫺165. ⫺ 9 MoserRath, Predigtmärlein, 47; Bausinger, 211. ⫺ 10 cf. Kaiste, J.: Das eigensinnige Kind. Schrecken in pädagogischen Warnmärchen der Aufklärung und der Romantik. Uppsala 2005.
Tübingen
Hermann Bausinger
Tene`ze, Marie-Louise (geb. Alterauge), * Longeville-le`s-St-Avold 24. 8. 1922, frz. Erzählforscherin. T. studierte 1941⫺44 Germanistik, Romanistik und Vk. an der Univ. Heidelberg (Promotion im März 1944)1 und 1946⫺48 Französisch, Deutsch und Englisch an der Univ. Straßburg (Abschluß mit der Prüfung für das höhere Lehramt). Seit 1947 gehört sie dem Centre national de la recherche scientifique an, zunächst als Referendarin am Inst. des hautes e´tudes alsaciennes der Univ. Straßburg, seit 1948 als Mitarbeiterin des neueingerichteten Centre d’ethnographie franc¸aise (1970 umbenannt in Centre d’ethnologie franc¸aise) am Muse´e national des arts et traditions populaires in Paris. Sie ist Gründungsmitglied der Internat. Soc. for Folk Narrative Research und seit 1992 Ehrenmitglied der Folklore Fellows in Helsinki. In Straßburg war T. mit der Bestandsaufnahme der Arbeiten zur regionalen Ethnogra-
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phie und der Versendung des Fragebogens zum (unpublizierten) frz. Vk.atlas betraut. Als Nachfolgerin von L. Dumont leitete sie in Paris 1948⫺52 das Bulletin Le Mois d’ethnographie franc¸aise, 1953⫺70 die Zs. Arts et traditions populaires2. In ihr veröffentlichte sie regelmäßig eine bibliogr. Chronik nach den methodischen Vorgaben der Commission internat. des arts et traditions populaires. Darüber hinaus war sie 1956⫺66 für den frz. Teil der Internat. volkskundlichen Bibliogr. zuständig. Entscheidend für ihre Hinwendung zur Erzählforschung, speziell zur mündl. Überlieferung der frz. Landbevölkerung und zur frz. Regionalliteratur3, war die Begegnung mit P. J Delarue, dem Initiator des frz. Typenkatalogs Le Conte populaire franc¸ais4. Nach Delarues Tod (1956) führte T. die Arbeit an dem seither allg. kurz ,Delarue/T.‘ genannten Werk fort, das als musterhaft detaillierter Typenkatalog wegweisend für eine Reihe späterer Kataloge wurde5. Der 1964 publizierte 2. Band zum Zaubermärchen6 orientiert sich vollständig an Delarues Konzeption eines analytischen Katalogs der Erzähltypen, die in J Frankreich sowie in überseeischen frz.sprachigen Gebieten nachgewiesen sind: Er enthält für jeden Typ einen repräsentativen Mustertext, eine detaillierte Motivanalyse aller nachgewiesenen Var.n und einen Kommentar. Die Folgebände zu den Tiermärchen (1976)7 und Legendenmärchen (1985)8 gestaltete T. eigenständiger, auch unter dem Eindruck ihres wiss. Austauschs mit P. N. J Boratav9. Beide Bände leitet sie mit einer Studie ein, in der sie die jeweilige Gattung charakterisiert, nahestehenden Genres gegenüber abgrenzt oder Zusammenhänge mit anderen Formen der mündl. Überlieferung, die ähnliche Gegenstände behandeln, aufzeigt. Verwandtschaften zwischen Erzähltypen betont sie, indem sie diese gemeinsam untersucht, auch wenn sie im AaTh-Katalog an anderer Stelle erscheinen oder fehlen. Sie unterstreicht die Bedeutung regionaler J Variationen von Erzähltypen und stellt gleichzeitig Verbindungen mit den großen kulturellen Komplexen her, die sich in der ,Einheit Frankreich‘ treffen. Im Jahr 2000 veröffentlichte sie zuletzt den Band zu den Novellenmärchen10.
Erste Feldforschungen hatte T. für ihre Diss. unternommen, der Erhebungen über Feuer und Wasser im lothring. Volksglauben und Volksbrauch zugrunde liegen11. 1964⫺66 arbeitete sie an dem Großprojekt des Centre national de la recherche scientifique im Aubrac mit, bei dem sie die Aufzeichnungen zur mündl. Überlieferung durchführte. Hier
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Tene`ze, Marie-Louise
ergab sich ein fruchtbarer wiss. Austausch mit J.-M. Guilcher, der mit den Erhebungen zum Volkstanz befaßt war. In ihrer Publ.12 ging T. bes. auf Prozesse der J Vermittlung und Produktion von Erzählungen (vor allem schwankhaften Erzählungen und Anekdoten) sowie auf die Zusammenhänge zwischen dem Erzählgut und anderen Aspekten der regionalen Kultur ein. In diesem Zusammenhang setzte sie sich mit der Persönlichkeit der Erzähler und Erzählerinnen und deren Repertoires auseinander, die eine Auswahl von Geschichten aus dem wirklichen Leben und aus der Überlieferung bieten. Später publizierte T. Archivtexte, die der Ethnograph V. Smith Mitte des 19. Jh.s im Velay-Forez erhoben hatte. In einer kommentierten Ausg. seiner Mss. veröffentlichte sie das vollständige Repertoire der Sängerin und Erzählerin Nannette Le´vesque13; eine weitere Ausg. widmete sie Erzählungen, die Smith bei anderen Erzählern gesammelt hatte14. Darüber hinaus hat T. zwei kommentierte Ausg.n ausgewählter Märchen aus Frankreich publiziert15 und Beiträge für die EM verfaßt, darunter den Art. Frankreich. In ihren Aufsätzen zeigt sich ein Bestreben, die untersuchten Erzählungen in mündl., schriftl. oder bildliche Kontexte zu stellen16, sowie eine Offenheit für interdisziplinäre Dialoge17. Als Ergebnis ihrer Forschungen zur Struktur traditioneller Erzählungen, bes. des Zaubermärchens, dem sie bereits mehrere Studien gewidmet hatte18, erschien 2004 in Paris die Studie Les Contes merveilleux franc¸ais. Recherche de leurs organisations narratives. Als Ausgangshypothese dient V. Ja. J Propps Postulat, allen Zaubermärchen liege eine archetypische Form zugrunde (J Morphologie des Erzählguts), vorausgesetzt wird gleichzeitig aber auch die Existenz der durch das internat. Katalogsystem etablierten Erzähltypen (J Typus). Auf dieser Basis legt T. eine innere Ordnung der Gattung mit Gruppen und Untergruppen offen und kommt gegen Propp zu dem Schluß, daß Erzählstruktur und Bedeutung der Gattung das Ergebnis eines Evolutionsprozesses seien. 1
Alterauge, M.-L.: Feuer und Wasser im Lothringer Glauben und Brauch. Diss. (masch.) Heidelberg 1944; Teilveröff. in frz. Sprache: T., M.-L.: Le Folklore des eaux dans le de´partement de la Moselle. In: Nouvelle Revue des traditions populaires 2 (1950) 134⫺161, 309⫺330; cf. auch Annales de l’Est 2
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(1951) 127⫺135, 317⫺326. ⫺ 2 cf. bes. T., M.-L. (ed.): Approches de nos traditions orales. P. 1970 (Sonderheft von Arts et traditions populaires 18 [1970] H. 1⫺3, auch unabhängig erschienen). ⫺ 3 T., M.-L.: E´tude du proverbe: „Niais de Sologne qui ne se trompe qu’a` son profit“. In: Arts et traditions populaires 3 (1955) 211⫺226; ead.: De quelques Travaux franc¸ais et e´trangers consacre´s au paysan dans la litte´rature franc¸aise, du XIe au XVIIIe sie`cle. In: L’Ethnographie (1966⫺67) 3⫺15. ⫺ 4 cf. ead.: Le Conte populaire franc¸ais. Catalogue raisonne´ […]. In: Arts et traditions populaires 6 (1958) 289⫺ 303. ⫺ 5 cf. Camarena/Chevalier; Angelopoulou/ Brouskou; Angelopoulou/Kaplanoglou/Katrinaki; Aprile. ⫺ 6 Delarue, P./T., M.-L.: Le Conte populaire franc¸ais. Catalogue raisonne´ des versions de France et des pays de langue franc¸aise d’outre-mer: Canada, Louisiane, Iˆloˆts franc¸ais des E´tats-Unis, Antilles Franc¸aises, Haı¨ti, Iˆle Maurice, La Re´union. t. 2. P. 1964. ⫺ 7 ibid. 3. P. 1976. ⫺ 8 ibid. 4,1. P. 1985. ⫺ 9 Zu Katalogisierungsfragen cf. auch T., M.-L.: Les Catalogues de contes: outils pour quelles recherches? In: Quand le Crible e´tait dans la paille. Festschr. P. N. Boratav. P. 1978, 359⫺364 (⫽ Cahiers de litte´rature orale 57⫺58 [2005] 219⫺223). ⫺ 10 Delarue, P./T., M.-L. (unter Mitarbeit von J. Bru): Le Conte populaire franc¸ais […] 4,2. P. 2000. ⫺ 11 wie not. 1. ⫺ 12 T., M.-L.: Litte´rature orale narrative. In: L’Aubrac. 5,3: Ethnologie contemporaine. Litte´rature orale, musique, danse. P. 1975, 31⫺164; ead.: Re´cits et contes populaires d’Auvergne recueillis […] dans le pays d’Aubrac. [P.] 1978; cf. auch ead.: Motifs stylistiques de contes et aires culturelles. Aubrac et France du Centre. In: Me´langes de folklore et d’ethnographie de´die´s a` la me´moire d’Elise´e Legros. Lüttich 1973, 45⫺83; ead.: Quatre Re´cits du loup. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 351⫺367. ⫺ 13 ead./Delarue, G. (edd.): Nannette Le´vesque, conteuse et chanteuse du pays des sources de la Loire. La collecte de Victor Smith 1871⫺1876. [P.] 2000. ⫺ 14 T., M.-L. (ed.): Contes du Velay. Contes recueillis par Victor Smith de 1869 a` 1876. Retournac 2005. ⫺ 15 Begegnung der Völker im Märchen […]. 1: Frankreich ⫺ Deutschland […]. ed. M.-L. T./G. Hüllen. Münster 1961 (dt. und frz.); Contes de France. ed. M.-L. T./P. Delarue. P. 1980. ⫺ 16 T., M.-L.: Jean de Calais (Mt. 506 A) en France Tradition e´crite, tradition orale, imagerie. In: Humaniora. Festschr. A. Taylor. Locust Valley, N. Y. 1960, 286⫺308; ead.: Le Chauffeur du diable: Des „contextes“ d’un conte. In: Le Conte, pourquoi? comment? ed. G. Calame-Griaule/V. Görög-Karady/ M. Chiche. P. 1984, 347⫺376; ead.: The Devil’s Heater: On the ,Contexts‘ of a Tale. In: J. of Folklore Research 20 (1983) 197⫺218. ⫺ 17 ead.: La Famille dans les contes populaires: La relation du (des) fre`re(s) et de la sœur. In: Dialogue 84 (1984) 124⫺ 138. ead.: La Fille difficile et le mari lointain. Re´flexions comparatives a` partir de quelques contes de France et d’Europe. In: La Fille difficile. Un contetype africain. ed. V. Görög-Karady/C. Seydou. P.
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Teppich
2001, 299⫺315. ⫺ 18 ead.: Du Conte merveilleux comme genre. In: Arts et traditions populaires 18 (1970) 11⫺65; ead.: Le Conte merveilleux franc¸ais: Proble´matique d’une recherche. In: Ethnologie franc¸aise 2 (1972) 97⫺106; ead.: Distinctions fondamentales dans la mise en ordre de l’ensemble des contes traditionnels franc¸ais. In: SF 20 (1974) 124⫺133. ⫺
Toulouse
Josiane Bru
Teppich, aus Garn gewebter oder geknüpfter, oft farbiger Bodenbelag, der als Schutz vor Beschmutzung, als Wärmedämmung wie auch als Raumschmuck (cf. J Tapisserie) dient. Oriental. Knüpfteppiche, wegen ihrer Schönheit und Dauerhaftigkeit internat. geschätzt, werden seit mindestens 2500 Jahren hergestellt und dienen als Symbole weltlicher und geistlicher Macht1. Bereits seit der griech.-röm. Antike (Äschylos, Agamemnon, 897⫺974)2 ist der Brauch belegt, für wichtige Persönlichkeiten den Boden mit einem T. zu bedecken. J. G. J Frazer zufolge beruht das weitverbreitete J Tabu der Berührung des Bodens (Mot. C 520) auf der Vorstellung, sie beeinträchtige die Heiligkeit einer Person oder eines Gegenstands3. Die fliegenden Zauberteppiche (Mot. D 1155, D 1520.19; J Fluggeräte) des internat. Erzählguts bilden ein Äquivalent zu den europ. J Siebenmeilenstiefeln und gelten als Inbegriff oriental. Pracht (J Exotik, Exotismus). Nach rabbinischer Überlieferung besaß J Salomo einen riesigen fliegenden T. aus grüner Seide, auf dem er zusammen mit seinem gesamten Gefolge so schnell reiste (J Luftreisen), daß sie in Damaskus frühstücken und in Medien zu Abend essen konnten4. Reflexe dieser Vorstellung finden sich u. a. in späteren Fassungen von J Tausendundeine Nacht bei der Schilderung der Begegnung Salomos mit der Königin von J Saba5. Ansonsten kommen fliegende T.e in der Überlieferung des Nahen Ostens selten vor. A. J Gallands Ausg. von 1001 Nacht bietet nur ein einziges Beispiel: In der von dem syr. Erzähler J Hanna¯ Diya¯b stammenden Geschichte des Prinzen Ahmed und der Fee Perı¯ Banu¯ (AaTh/ATU 653 A: Die vier kunstreichen J Brüder ⫹ AaTh/ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt)6 ist der T. einer von drei Zaubergegenständen, derer sich drei
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Brüder bedienen, um die Heilung ihrer Kusine zu erreichen7. Der fliegende T. in J Goethes Stück Was wir bringen (1802)8 geht ebenso auf diese Geschichte zurück wie die fliegenden T.e in den orientalisierenden Stummfilmen Der müde Tod (Deutschland 1921; Regie Fritz Lang) oder The Thief of Bagdad (USA 1924; Regie Raoul Walsh)9. In anderen Erzählungen stehen Zauberteppiche gewöhnlich in Zusammenhang mit Flucht oder Entführung10. In AaTh/ATU 518: J Streit um Zaubergegenstände entkommt der Trickster oft mit Hilfe eines Zauberteppichs11. Einmal schlägt der Lenker seinen fliegenden T. wie ein Reittier, um ihn in Gang zu setzen12. Ein Zauberteppich kann manchmal auch ohne eigentlichen Transport auf Wunsch an einen anderen Ort befördern13. Darüber hinaus kommen T.e in unterschiedlichen Erzählungen und Funktionen vor. In türk. oder pers. Var.n von AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne gibt eine der Schwestern zu Beginn manchmal das (nicht eingelöste) Versprechen, sie werde für den König einen riesigen T. anfertigen14. In Var.n von AaTh/ ATU 888 A*: The Basket-Maker webt eine Person, die in Gefahr ist, einen T., der ihre mißliche Lage schildert, und kann dadurch Helfer benachrichtigen15. Als alltäglicher Gegenstand der Raumausstattung kann ein T. eine Fallgrube verdecken (cf. Mot. K 735.1)16. In einer verbreiteten modernen Wandersage stirbt die Großmutter auf einer Reise; die Angehörigen wickeln die Leiche in einen T. (Segeltuch etc.), um sie nach Hause zu transportieren, verlieren aber T. und Inhalt17. Daß Kleopatra sich in einen T. gerollt bei Cäsar einschmuggeln ließ, ist seit dem 19. Jh. überliefert; in der ursprünglichen Fassung dieser Erzählung in J Plutarchs Lebensbeschreibung Cäsars (Bioi paralle¯loi, Kap. 49) ist die Königin allerdings in ein Bündel Bettzeug gewikkelt18. 1 Gantzhorn, V.: The Christian Oriental Carpet. Köln 1991; Schwarz, H.-G.: Orient ⫺ Occident. Der oriental. T. in der westl. Lit., Ästhetik und Kunst. Mü. 1990, 107⫺113; Brisch, K.: T.e, oriental. In: Lex. des MA.s 8. Stg. 1999, 548 sq. ⫺ 2 Taplin, O.: The Stagecraft of Aeschylus. Ox. 1977, 308⫺316. ⫺ 3 Frazer, J. G.: The Golden Bough 10. L. u. a. 31966, 1⫺18. ⫺ 4 Jellinek, A.: Bet ha-Midrasch 5. Jerusalem 2 1938, xi⫺xii, 22⫺26; cf. Seligsohn, M.: Solomon.
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Terenz
In Rabbinical Literature and Legend. In: The Jewish Enc. 11. N. Y./L. 1916, 436⫺448, hier 440. ⫺ 5 Marzolph/van Leeuwen 2, 513 sq. ⫺ 6 ibid. 1, 80⫺82, num. 355. ⫺ 7 cf. Farnham, W. E.: The Contending Lovers. In: Publ.s of the Modern Language Assoc. 35 (1920) 247⫺323, hier 271⫺274, 280⫺284; Bascom, W. R.: African Dilemma Tales. Den Haag/P. 1975, num. 36; Marzolph 653 A (Ib); Eberhard/Boratav, num. 291. ⫺ 8 Mommsen, K.: Goethe und 1001 Nacht. B. 1960, 78⫺84; cf. ferner Albrecht, M. von: Der T. als literar. Motiv. In: Dt. Beitr.e zur geistigen Überlieferung 7 (1972) 11⫺89; Schwarz (wie not. 1) 135⫺248. ⫺ 9 cf. Liptay, F.: WunderWelten. Märchen im Film. Remscheid 2004, bes. 153⫺179. ⫺ 10 Bar-Itzhak, H./Shenhar, A.: Jewish Moroccan Folk Narratives from Israel. Detroit 1991, 64; ElShamy, H.: Folktales of Egypt. Chic. 1980, num. 26; Marzolph 567 (IVb); Prym, E./Socin, A.: Syr. Sagen und Märchen. Göttingen 1881, num. 23. ⫺ 11 Spitta-Bey, G.: Contes arabes modernes. Leiden/P. 1883, num. 9; cf. Marzolph/van Leeuwen 1, 139 sq., num. 475; Eberhard/Boratav, num. 174 (IV, 7), 204 (III, 4), 205 (I, 9), 212 (III, 3), 213 (III, 4 c). ⫺ 12 Spitta-Bey (wie not. 11) num. 9; El-Shamy (wie not. 10) num. 7. ⫺ 13 Temple, R. C.: The Legends of the Panjaˆb 2. Bombay/L. 1884⫺1900, 113; BarItzhak/Shenhar (wie not. 10) 64. ⫺ 14 Eberhard/Boratav, num. 239 (III, 3); Marzolph 707. ⫺ 15 Eberhard/Boratav, num. 208 (V); Marzolph *888 B (Var. 2). ⫺ 16 Bar-Itzhak/Shenhar (wie not. 10) 44; Marzolph/van Leeuwen 1, 215, num. 520; Marzolph *314 (Ib). ⫺ 17 Brunvand, J. H.: Enc. of Urban Legends. Santa Barbara u. a. 2001, 361⫺363; Brednich, R. W.: Die Spinne in der Yucca-Palme. Mü. 1999, num. 29; für weitere moderne Wandersagen zu T.en cf. ibid., num. 69; id.: Das Huhn mit dem Gipsbein. Mü. 1993, num. 124. ⫺ 18 Whithorne, J.: Cleopatra’s Carpet. In: Atti del XXII congresso internazionale di papirologia 1998. t. 2. Florenz 2001, 1287⫺1293.
Los Angeles
Christine Goldberg
Terenz (Publius Terentius Afer), * Karthago (?) 195 (185?) a. Chr. n., † nach 160 a. Chr. n., neben J Plautus der bedeutendste röm. Komödiendichter. Sueton (Anfang 2. Jh. p. Chr. n.) berichtet in seiner T.-Biographie, daß der Dichter um 194 (nach alternativer Überlieferung um 184) a. Chr. n. in Karthago geboren, als Kind versklavt und nach Rom gebracht, dort im Haushalt des Senators Terentius Lucanus gefördert und freigelassen worden und schließlich 159 auf einer Griechenlandreise ums Leben gekommen sei1. T. ist der einzige röm. Autor aus republikanischer Zeit, dessen Lebenswerk vollständig überliefert ist. Dank Auszügen aus den anti-
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ken Aufführungsunterlagen, die in den Hss. den Komödientexten vorausgehen, sind die Aufführungen der Komödien des T. genau datierbar: Andria (Das Mädchen aus Andros) wurde 166 gespielt, Hecyra (Die Schwiegermutter) erstmals 165, nach dieser und einer weiteren abgebrochenen Vorstellung schließlich erfolgreich 160, Hautontimoroumenos (Der Selbstquäler) 163, Eunuchus (Der Eunuch) 161, Phormio 161 und Adelphoe (Die Brüder) 1602. Wie bei den Komödien seines Vorgängers Plautus handelt es sich auch bei den Stükken des T. um lat. Übertragungen griech. Vorlagen der hellenistischen Neuen Komödie. Die röm. Lit.kritik nennt diese Komödien daher fabulae palliatae (Stücke im griech. Gewand [pallium]), die also trotz der lat. Sprache in der griech. Lebenswelt angesiedelt sind3. Dabei verzichtet die röm. Palliata auf das typische Fünf-Akt-Schema der griech. Neuen Komödie und unterscheidet sich von dieser durch größere metrische Vielfalt und einen höheren Anteil an von Musik begleiteten Versen, auch wenn bei T. das opernhafte Element der röm. Komödie deutlich schwächer ausgebildet ist als bei Plautus und T. im Durchschnitt mehr als die Hälfte eines Stückes im reinen Sprechvers gestaltet. T.’ Komödien spielen in der bürgerlichen Alltagswelt Athens. Die komische Handlung, deren Ziel die Erfüllung eines am Anfang gestörten oder problematischen Liebesverhältnisses ist, lebt von der Interaktion fester Typenrollen ⫺ verliebter Jünglinge, geiziger und uneinsichtiger Väter, resoluter Ehefrauen (bes. Phormio), gerissener Sklaven (z. B. Andria, Hautontimoroumenos) und Schmarotzer (Eunuchus, Phormio), verführerischer Hetären (Eunuchus), habgieriger Kuppler (Phormio) und bramarbasierender Soldaten (Eunuchus) ⫺ und vollzieht sich im Durchspielen immer wiederkehrender szenischer Motive: Wegen ihrer Liebesleidenschaft geraten die Söhne in Konflikt mit ihren Vätern; zugunsten der Jünglinge entwickeln in Andria und Hautontimoroumenos die Sklaven, im Phormio der Schmarotzer Intrigen gegen die Alten; mit Ausnahme von Adelphoe führt in allen Stükken das J Wiedererkennen eines ausgesetzten oder vergewaltigten Mädchens (J Aussetzung, J Vergewaltigung) schließlich das glückliche Ende des Stücks herbei.
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Terenz
T.’ griech. Vorlagen4 sind namentlich bekannt, aber bis auf wenige Überreste verloren: Die von Hecyra und Phormio stammen von Apollodor aus Karystos (3. Jh. a. Chr. n.), die der übrigen Stücke von Menander (ca 342/41⫺ 291/90). Für Andria, Eunuchus und Adelphoe bezeugen die Prologe, daß T. neben den gleichnamigen menandrischen Originalen jeweils ein weiteres, thematisch verwandtes Stück benutzt und aus diesem Szenen in seine lat. Fassung eingearbeitet hat (vornehmlich zur Steigerung der Komik). Des weiteren macht der T.-Kommentar des Aelius Donatus (4. Jh. p. Chr. n.) vereinzelt auf Eingriffe des T. in seine Vorlagen (etwa die Umsetzung von Monolog in Dialog und umgekehrt) aufmerksam5; noch weitergehende, Dramaturgie und Ethos der Stücke betr. Änderungen (z. B. in der Schlußszene von Adelphoe) wurden von der Forschung immer wieder angenommen, obwohl die zu geringe Kenntnis der griech. Originale keine sicheren Schlüsse auf das Ausmaß von T.’ Eigenständigkeit zuläßt. Insgesamt sind in den Stücken des T. Handlungsführung und Ethos der griech. Vorlagen reiner bewahrt als in den Komödien des Plautus. Eine wesentliche Neuerung gegenüber der bisherigen Gattungstradition nimmt T. jedoch dadurch vor, daß er konsequent im Prolog auf die sonst übliche Exposition verzichtet und diesen statt dessen in allen Stücken zur Selbstrechtfertigung und zu literar. Polemik nutzt6: Der Prologsprecher nimmt den Dichter vor Angriffen zeitgenössischer Bühnendichter in Schutz, welche die Komödien des T. vor allem wegen der Verarbeitung mehrerer griech. Vorlagen in einem lat. Stück kritisierten und ihn bezichtigten, nicht seine eigenen Komödien, sondern diejenigen seiner aristokratischen Freunde auf die Bühne zu bringen. Der Verzicht auf die traditionelle Funktion des Prologs bedeutete einen Bruch mit einem Theaterbrauch und hatte zur Folge, daß der Zuschauer sein Wissen nun ganz aus dem Handlungsverlauf des Stückes schöpfen mußte. Die Komödien des T. haben eine ungeheuere Nachwirkung entfaltet7. In der Generation nach dem Tod des Dichters wurden alle Stücke wiederaufgeführt. Cicero und Cäsar rühmten T.’ Sprachkunst und die Reinheit seines lat. Sprachgebrauchs. Tatsächlich waren es vor allem seine sprachlichen und stilistischen
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Vorzüge, die T. bis in die Neuzeit den Status eines Schulautors sicherten. Diesem verdankt er eine intensive Kommentierung ⫺ ganz oder zum großen Teil erhalten sind die Kommentare des Donatus und des Eugraphius (5./6. Jh. p. Chr. n.) sowie mehrere karoling. und spätma. Kommentare8 ⫺ und eine ungemein breite Überlieferung in vier (fragmentarisch erhaltenen) antiken sowie in rund 750 ma. und humanistischen Hss. Verloren gegangen ist eine spätantike Hs., in der alle Szenen der T.Stücke mit Bildern illustriert waren; mehrere ma. Kopien dieser Bilderhandschrift sind erhalten. Über die stilistischen Vorzüge hinaus schätzte man die Komödien des T. wegen ihres Reichtums an Sentenzen mit Lebensweisheiten und moralischen Belehrungen. Diese Sentenzen ⫺ die bekannteste wohl Hautontimoroumenos 77: ,Ich bin ein Mensch; nichts von dem, was Menschen treiben, ist mir, glaub‘ ich, fremd‘ ⫺ wurden aus den Stücken exzerpiert und in ma. Florilegien sowie in protestant. Exempelsammlungen aufgenommen9. Auf vereinzelte Kritik am Status des T. als Schulautor stößt man bei den Kirchenvätern, die seine Unmoral verurteilten: So zitiert Augustinus (Confessiones 1,16,26) die Verse Eunuchus 584⫺591 als Beleg für den verderblichen Einfluß des Autors auf die Jugend: In ihnen beruft sich der Jüngling Chaerea zur Rechtfertigung einer Vergewaltigung auf den J Danae-Mythos10. Im 10. Jh. p. Chr. n. schrieb die Dichterin Hrotsvit von Gandersheim Lesekomödien, welche die Werke des als moralisch anstößig empfundenen T. ersetzen sollten11. Das Bestreben, inhaltlich unbedenkliche, vorzugsweise der Bibel entlehnte Stoffe in einer an T. geschulten Form und Sprache szenisch zu bearbeiten, kennzeichnet auch die lat. Schuldramen des Humanismus; bes. beliebt war der noch im späten 18. Jh. nachgedr. Terentius Christianus (1591) von Cornelius Schoon12. Das MA. verstand und rezipierte die Stücke des T. als Lesetexte. Als Bühnendichter wurde T. erst in der Neuzeit wiederentdeckt13, die Stücke wurden seit dem späten 15. Jh. in die Sprachen der entstehenden Nationalliteraturen übersetzt und auf den europ. Bühnen gespielt. Seltener als die Komödien des Plautus adaptierten neuzeitliche Dramatiker auch die des T. in eigenen Bühnenstücken: in Italien
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Terminologie
Ludovico J Ariosto Eunuchus in I Suppositi, in England George Chapman Hautontimoroumenos und Adelphoe in All Fools (1599) und Charles Sedley Eunuchus in Bellamira (1687), in Frankreich Molie`re Adelphoe in L’E´cole des maris (1661) und Phormio in Les Fourberies de Scapin (1671). Auch die erzählende Lit. bediente sich seiner Stoffe: Alexandre Dumas d. J. verarbeitete Motive der Hecyra in seinem Roman La Dame aux came´lias (1848); Thornton Wilders Roman The Woman of Andros (1930) basiert auf Andria. Aus g. n: Bentley, R.: P. Terentii Afri comoediae. Cambr. 1726. ⫺ Kauer, R./Lindsay, W. M./Skutsch, O.: P. Terenti Afri comoediae. Ox. 1958. ⫺ Barsby, J.: Terence 1⫺2. Cambr., Mass. 2002. 1
cf. Gratwick, A.: Terence. In: The Cambridge History of Classical Literature. 2: Latin Literature. Cambr. 1982, 814⫺816 (moderne Biogr.n hegen mehrheitlich zu großes Vertrauen in die Zuverlässigkeit der antiken biogr. Tradition). ⫺ 2 Deufert, M.: Textgeschichte und Rezeption der plautinischen Komödien im Altertum. B./N. Y. 2002, 88⫺96, 224⫺ 226 (zu den didaskalischen Notizen). ⫺ 3 Varro, Fragment 306; cf. Funaioli, H. (ed.): Grammaticae Romanae Fragmenta. Lpz. 1907. ⫺ 4 cf. Haffter, H.: T. und seine künstlerische Eigenart. Darmstadt 1966; Ludwig, W.: The Originality of Terence and His Greek Models. In: Greek, Roman and Byzantine Studies 9 (1968) 169⫺182. ⫺ 5 cf. Jachmann, G.: P. Terentius Afer. In: Pauly/Wissowa 9 A (1934) 598⫺ 650, hier 631⫺642. ⫺ 6 Gilula, D.: The First Realistic Roles in European Theatre. Terence’s Prologues. In: Quaderni urbinati di cultura classica 33 (1989) 95⫺106. ⫺ 7 Marti, H.: Zeugnisse zur Nachwirkung des Dichters T. im Altertum. In: Musa Iocosa. Festschr. A. Thierfelder. Hildesheim/N. Y. 1974, 158⫺ 178; Henkel, N./Worstbrock, F. J.: T. In: Verflex. 9 (21995) 698⫺709, hier 700⫺707; Villa, C.: T. im MA. und im Humanismus. In: Lex. des MA.s 8. Mü./Zürich 1999, 549 sq. ⫺ 8 Riou, Y.-F.: Les Commentaires me´die´vaux de Terence. In: Mann, N./Munk Olsen, B. (edd.): Medieval and Renaissance Scholarship. Leiden/N. Y./Köln 1997, 33⫺49. ⫺ 9 cf. Villa (wie not. 7) 549; Brückner, 598. ⫺ 10 Zu den wenigen Bezugnahmen auf den griech. Mythos in den Komödien des T. cf. Radke, G.: T. und die Mythologie. In: Gymnasium 58 (1951) 72⫺75. ⫺ 11 Giovini, M.: Rosvita e l’„imitari dictando“ terenziano. Genua 2003. ⫺ 12 cf. Barth, S.: Cornelius Schoon (um 1541⫺1611): Terentius Christianus. In: Brüggemann, T. (in Zusammenarbeit mit O. Brunken) (ed.): Hb. der Kinder- und Jugendlit. Von 1570⫺1750. Stg. 1991, 358⫺380. ⫺ 13 Überblicksdarstellungen bei Reinhardstoettner, K.: Plautus. Spätere Bearb.en plautinischer Lustspiele. Lpz. 1886, 1⫺111; Duckworth, G. E.: The Nature of Ro-
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man Comedy. L. 21994, 396⫺433; Kruschwitz, P.: T. Hildesheim/Zürich/N. Y. 2004, 214⫺216.
Leipzig
Marcus Deufert
Terminologie 1. Allgemeines ⫺ 2. Gattungstypologie ⫺ 3. Textund Kontextfragen
1 . All ge me in es. T. bezeichnet die Gesamtheit aller mit einer genauer bestimmten Bedeutung versehenen Begriffe (Termini) eines Fachgebiets. Anders als Benennungen der Umgangssprache sind Fachausdrücke mehr oder weniger streng definiert, wenngleich eine Normierung in vielen Fällen nur beschränkt möglich oder sinnvoll ist. Die T. wiss. Disziplinen, die sich durch Neuinterpretation alter Begriffe oder die Einführung von Neubildungen oder Fremdwörtern in ständigem Wandel befindet, wird in Begriffswörterbüchern erfaßt. Über ihre einschlägigen Lemmata hinaus reflektiert die EM die aktuelle T. der hist.-vergleichenden Erzählforschung. Wiss. Begriffsbildung unterliegt stets den hist. Rahmenbedingungen, wird von zeittypischen Interessen geleitet und ist an unterschiedlichen Zielen ausgerichtet1. In einem frühen Stadium werden meist Ausdrücke der Gemeinsprache herangezogen und bezüglich Inhalt, Form und z. T. auch J Funktion beschreibend präzisiert (Realdefinition). Eine abgestimmte Korrelierung und Systematisierung der Begriffe, deren logische Zu-, Über- oder Unterordnung in einer Taxonomie, geschieht im Rahmen von spezielleren Theoriekonzepten und führt zu Nominaldefinitionen, bei denen die Übereinstimmung zwischen Begriffsinhalt und Begriffsbenennung häufig aufgelöst oder nicht mehr erkennbar ist. Eine nach einheitlichen Regeln systematisierte T. wird zur Nomenklatur. Die beiden wichtigsten Problemfelder für die Arbeit an T.n betreffen (1) die Begriffsbildung (Synonymie, Polysemie, Homonymie) bzw. die Frage, wo Unterscheidungen notwendig sind und wie Eindeutigkeit zu erreichen ist, sowie (2) die Äquivalenz von Begriffen in verschiedenen Sprachen2. Wiss.stheoretisch lassen sich jeweils analytische und synthetische, qualitative und quanti-
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Terminologie
tative sowie empirische und theoretische Begriffe unterscheiden. Letztere Kategorisierung (J Kategorie) ist für die Erzählforschung bes. bedeutsam, weil diese zum einen auf der Beschreibung weltweit verbreiteter (in erfahrungsnahen Begriffen fixierter) Erzählungen und des Erzählens selbst gründet und zum anderen auf ein (mittels abstrakterer Begrifflichkeit zu sublimierendes) Erklären und adäquates Verstehen von Erzählgegebenheiten und Erzählprozessen zielt. Eine umfassende konsistente Erzähltheorie, die einen allseitig akzeptierten einheitlichen Bezugsrahmen bieten könnte, gibt es bisher nicht (J Theorien der Erzählforschung), sie ist unter hermeneutischer Perspektive (J Hermeneutik) aufgrund der vielfältigen und wechselnden Sinnhorizonte der Rezipienten auch nicht zu erwarten. So bleibt eine Taxonomie des Erzählens als ein umgreifendes, in sich schlüssiges Begriffssystem wohl unabdingbar auf Teilbereiche beschränkt. Generell ist die T. der Erzählforschung das etwas uneinheitliche Ergebnis einer Entwicklung, die sich u. a. aufgrund unterschiedlicher disziplinärer Querverbindungen in verschiedenen Ländern unterschiedlich vollzogen hat, wenngleich andererseits zahlreiche Übereinkünfte ⫺ z. B. bei den J Typen- und J Motivkatalogen (J Anordnungsprinzipien) ⫺ wirksam geworden sind. Inkonsequenzen und Inkongruenzen wurden und werden zunehmend durch internat. Kooperation ausgeglichen. 2 . G at tu ng st yp ol og ie. Ein Kerngebiet in der Erzählforschung, das terminologisch intensiv bearbeitet worden ist, betrifft die Unterscheidung der Genres (J Gattungsprobleme, J Textsorte). Hier gibt es, mit spezifischen Blickrichtungen, eine Fülle von Ansätzen. H. Kuhn hat hinsichtlich der Gattungstypologie grundsätzlich bemerkt, daß Sprachfunktionen fast immer polymorph und Sprachgestalten immer polyfunktional sind und daß daher jeder Einzelfall literar. Gattungsnamen nur zutreffend verstanden werden kann, wenn der ganze Horizont seiner theoretischen und hist. Bedingungen mitgedacht ist3. Während L. J Honko trotz aller Komplexität ein idealtypisches Gattungssystem konstruiert4, weil es helfe, existierende Erzählformen zu erkennen und über sie zu sprechen5, sieht D. Ben-Amos
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im Bestreben, eine Gattungstaxonomie zu schaffen, die Gefahr, daß die Lebenswirklichkeit darin verloren geht6. Gattungsdefinitionen sind gedankliche Konstrukte; sie fördern die Analyse der Erzählwirklichkeit(en), bilden jedoch selbst keine Wirklichkeit ab. Aussagekräftige Beispiele bieten die auf germ. Sprachen beschränkte, höchst vielfältige, aber rein lexikalische Zusammenstellung zur Volksliteratur von L. J Bødker einerseits7 und die knappere, systematisierte T. (engl., dt., russ.) der Ethnopoetik von H. J Jason andererseits8. Jason ordnet die Termini nach philol., anthropol. und semiotischem Erkenntnisinteresse samt den entsprechenden methodischen Zugängen und betont unter diesen Aspekten das internat. Gemeinsame. Dagegen werden in ihrer systematischen Trennung des Erzählens nach dem je gegebenen (realistischen, phantastischen oder symbolhaften) Erzählmodus unter den Genrebegriffen ⫺ etwa bei Sage/Legende ⫺ sprach- und kulturbedingte Differenzierungen sichtbar. Ein später erschienenes Hb. Jasons ist als praktische Anleitung für die Erstellung von Indizes gedacht. Sie konzentriert sich speziell auf Klassifikationskonzepte für narrative Motive, Typen und ethnopoetische Genres9. Auch volkssprachliche Bezeichnungen wie ,Vertelsel‘, ,Löögschen‘, ,Döntjes‘, ,wahre Geschichten‘ oder ,alte Wahrheiten‘ deuten bereits kategorielle Unterscheidungen an10. In diesen Benennungen spiegeln sich populäre Wertsysteme, die aber für eine Fachterminologie nicht konsistent genug erscheinen. Unter literaturwiss. Aspekten wird eine Gattung vorzugsweise induktiv auf der Basis eines speziellen Textkorpus bestimmt, eventuell in Abgrenzung zu einer kontrastiven Gattung. Dies ist z. B. bei der Märchencharakterisierung M. J Lüthis der Fall, der sich ganz auf europ. J Buchmärchen stützt und das J Märchen gegenüber der J Sage abgrenzt11. In D.-R. J Mosers Einordnungsversuch des Märchens als ,transitorische Gattung‘ werden zahlreiche Genres aufeinander bezogen, freilich auch entschieden vager gefaßt12. Nicht nur die Bestimmung einer Gattung, sondern auch deren weitere Differenzierung kann nach verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen. Relativ äußerlich bleiben inhaltsbezogene Aspekte, etwa beim J Witz (Irren-, Kan-
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Terminologie
nibalen-, Elefantenwitz) oder J Volkslied (Wallfahrts-, Soldaten-, Heimatlied), doch treten neben eher inhaltsbeschreibende Termini meist zugleich andere, durch formale und funktionale Merkmale näher bestimmte Begriffe (cf. Bildwitz oder Kettenlied bzw. Identitätswitz oder Spottlied)13. Terminologisch befriedigender ist es, wenn eine Gattung vollständig unter einheitlichen Gesichtspunkten differenziert wird, z. B. der J Schwank strukturell als Ausgleichs-, Steigerungs-, Übertrumpfungstyp14. De facto ist das aber meist schwierig, wie das Beispiel der regionalen und internat. Typenkataloge zeigt. Die Großgruppen der Sage hat H. J Bausinger modellhaft als ,Sagendreieck‘ nach Anlässen bestimmt: Ein ungewöhnliches Ereignis führt zur hist., ein unerklärliches Erlebnis zur dämonologischen, eine Objektivation zur ätiologischen Sage15. Unter dem Aspekt je spezifischer Repräsentation von Wirklichkeit hat H. Gerndt Honkos Vorschlag weitergeführt und die sagenhaften Untergattungen auf drei Achsen (fiktional-faktisch, profan-sakral, subjektnahobjektiviert) angeordnet16. Da Sagen ,äußere Erfahrungswelt mit inneren Erlebnisformen verbinden‘17, besitzt jede einzelne Sagengruppe stets ein bes. Mischungsverhältnis ihrer Wirklichkeitsaspekte. Neben A. J Jolles, der die J Einfachen Formen als Ausdruck spezieller ,Geistesbeschäftigungen‘ definierte, hat bes. C. W. von J Sydow ein ausgefeiltes terminologisches System der Kategorien der Prosa-Volksdichtung entworfen, dessen Begrifflichkeit (z. B. J Chimäremärchen, Chimerat; J Dit) sich aber nur z. T. hat durchsetzen können. Daß bestimmte Termini allein in beschränktem Kreise, kurzzeitig oder gar nicht akzeptiert werden, kommt bes. dort, wo sie in sehr spezielle Theoriekonzepte eingebunden sind, häufiger vor. Das gilt z. B. für die von A. J Wesselski vorgeschlagenen Begriffe J Gemeinschafts-, J Kultur-, Mythen-, Wahn- und Wundermotiv18. 3 . Tex t- un d Kon te xt fr ag en. Auf untergeordneten Ebenen gibt es eine Vielzahl von Begriffen, die in bestimmten Konstellationen zueinander in Beziehung stehen. Auf der Inhaltsebene ist bes. an die J Handlungsträger der Erzählüberlieferung zu denken, die in verschiedenen Kulturkreisen unterschiedliche
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Ausprägungen und J Namen besitzen (z. B. J Elf, Elfen; J Fairy; J Fee, Feenland; J Peri; J Samovila)19. Generell bedarf es für die Interpretation des Texts, zumal in vergleichender Perspektive, neben den spezifischen Verfahrensweisen der zugehörigen analytischen Kategorien, die ⫺ wie etwa J Stoff, J Motiv und J Thema ⫺ jeweils genauer bestimmt und unterschieden werden müssen und in ihrem gegenseitigen Verhältnis abzuklären sind20. In Hinblick auf die J Ästhetik und Anthropologie des Märchens hat bes. Lüthi viele Termini entwickelt oder präzisiert und beispielhaft erläutert21. Nicht zuletzt gibt es für alle großen Problemfelder des Erzählens ⫺ zur Entstehung oder spezifischen Schöpfung von Erzählungen22, zu ihrer Tradierung und Einbindung in J Kommunikationsprozesse und J Performanzen sowie zu ihrem authentischen oder medial gestützten J Sitz im Leben ⫺ ein differenziertes, bisher freilich meist nur teilweise aufeinander abgestimmtes und ansatzweise systematisiertes Begriffsrepertoire, das den Erzählforschern zur Verfügung steht. 1 cf. Orth, E. W.: T. In: Hist. Wb. der Philosophie 10. Basel 1998, 1009⫺1012. ⫺ 2 Arntz, R./Picht, H.: Einführung in die T.arbeit. Hildesheim u. a. 1991. ⫺ 3 Kuhn, H.: Zur Typologie mündl. Sprachdenkmäler. Mü. 1960, 21. ⫺ 4 Honko, L.: Methods in Folk-Narrative Research. In: Ethnologia Europaea 11 (1979⫺ 80) 6⫺27, bes. 12. ⫺ 5 EM 5, 750⫺753. ⫺ 6 BenAmos, D.: Do We Need Ideal Types (in Folklore)? Turku 1992. ⫺ 7 Bødker, L.: Folk Literature (Germanic). Kop. 1965. ⫺ 8 Jason, H.: Ethnopoetics. A Multilingual Terminology. Jerusalem 1975. ⫺ 9 ead.: Motif, Type and Genre. A Manual for Compilation of Indices and a Bibliogr. of Indices and Indexing (FFC 273). Hels. 2000. ⫺ 10 cf. Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 9. ⫺ 11 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Bern 1961. ⫺ 12 Moser, D.-R.: Theorie- und Methodenprobleme der Märchenforschung. In: Jb. für Vk. 3 (1980) 47⫺64. ⫺ 13 cf. Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977; id.: Die Textgattungen des populären Liedes. In: Brednich, R. W./Röhrich, L./Suppan, W. (edd.): Hb. des Volksliedes 1. Mü. 1973, 19⫺35. ⫺ 14 Bausinger, H.: Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. In: Fabula 9 (1967) 118⫺136. ⫺ 15 Bausinger. ⫺ 16 Gerndt, H.: Kulturwiss. im ZA. der Globalisierung. Münster u. a. 2002, 29⫺46, hier 34⫺ 36. ⫺ 17 Jeggle, U.: Tödliche Gefahren. Ängste und ihre Bewältigung in der Sage. In: ZfVk. 86 (1990) 53⫺66, hier 56. ⫺ 18 Wesselski, Theorie. ⫺ 19 Holbek, B./Piø, J.: Fabeldyr og sagnfolk. Kop. 1967; Briggs, K.: A Dict. of Fairies, Hobgoblins, Brownies, Bogies and Other Supernatural Creatures. L.
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Testament des Hundes
1976. ⫺ 20 Greverus, I.-M.: Thema, Typus und Motiv. Zur Determination in der Erzählforschung. In: Laographia 22 (1965) 130⫺139. ⫺ 21 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie. Göttingen 31990, bes. 185⫺189. ⫺ 22 Honko, L.: Memorate und Volksglaubensforschung. In: Petzoldt, L. (ed.): Vergleichende Sagenforschung. Darmstadt 1969, 287⫺306.
München
Helge Gerndt
Testament des Hundes (AaTh/ATU 1842), meist relativ kurze humoristische Erzählung mit religiöser Thematik. Das Grundgerüst des Erzähltyps besteht aus einer zweimaligen Abfolge von Aktion und Reaktion: Ein Mann (Priester, Schäfer, Bauer; selten Frau) will seinem J Hund (Esel, Schwein; selten Ziege, Schaf) ein christl. J Begräbnis zukommen lassen (hat das Tier auf dem Friedhof begraben) und wird vom Priester (Bischof) deswegen getadelt. Als er allerdings mitteilt, das Tier habe dem Kleriker testamentarisch Geld hinterlassen, sieht dieser kein Problem mehr.
In der ältesten nachgewiesenen Fassung, einem weitschweifig erzählten Fabliau des Rutebeuf (13. Jh.)1, beerdigt ein Priester seinen geliebten Esel und muß sich deshalb vor dem Bischof rechtfertigen; gleichfalls mit einem Esel finden sich relativ kurze Versionen der Erzählung u. a. in John J Bromyards Summa praedicantium (D 4,13), der J Mensa philosophica (num. 121)2, den Cuentos des Juan de Arguijo (ca 1600)3 und der dt. Schwankliteratur4. Aus mündl. Überlieferung ist die Esel-Fassung einzig für Italien belegt: Hier lehnt der zuerst angesprochene Priester das Ansinnen ab, den Maulesel zu beerdigen, während der zweite das J Bestechungsgeld annimmt und sich über den ersten lustig macht. In der Var. aus der Toskana ist die Besitzerin des Tiers eine alte Frau5; in der Var. aus Venetien läßt der Priester den Esel in einem Trauerzug aus dem Dorf tragen, dann aber den Berg hinabwerfen6. In seinen wirkungsmächtigen Facetiae (num. 36) hat J Poggio Bracciolini den Schwank auf einen Hund übertragen. Mit diesem Tier findet er sich in zahlreichen Texten, von Heinrich J Steinhöwels Esopus7 über das Tagebuch des Angelo J Poliziano8, die J Cent nouvelles Nouvelles (num. 96), Johannes J Paulis
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Schimpf und Ernst (num. 72, 874) und zahlreiche dt. Schwanksammlungen9 bis in die mündl. Überlieferung Europas (litau.10, dän.11, fries.12, dt.13, ir.14, frz.15, katalan.16, russ.17, ukr.18, poln.19, sorb.20, tschech.21, slovak.22) sowie des islam. Vorderen Orients (u. a. türk.23, aserbaidschan.24, pers.25, arab.26). Als erster begründet J Pelba´rt von Temesva´r (num. 142)27 den Wunsch des Besitzers nach einem religiösen Begräbnis seines Tiers damit, daß es zu Lebzeiten einen J Schatz gefunden habe. Dieser Zug findet sich später in einigen der dt. Schwankbücher28 sowie in Var.n aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s (russ.29, ir.30). Eine seltenere Ausprägung mit einem Schwein, die zuerst bei Hans J Sachs (1532)31 belegt ist, nennt in ihren aus mündl. Überlieferung einzig auf dem Balkan (alban.32, griech.33, rumän.34) aufgezeichneten Var.n gleichfalls meist den Schatzfund. Singulär werden auch ein Ziegenbock35 oder ein Schaf 36 angeführt. Das Vorkommen des Schwanks in islam.oriental. Var.n hat Anlaß zu Spekulationen über einen möglichen oriental. Ursprung gegeben37. Als Argument diente vor allem die in der Bibl. orientale (zuerst 1697) des Barthe´lemy d’Herbelot nach den Letøa¯Åif (Feinsinnige Anekdoten) des türk. Autors La¯mi¤ı¯ C ¸ elebı¯ (gest. 1531) angeführte Fassung38. Demgegenüber hat A. J Christensen zu Recht auf die prinzipielle Unvereinbarkeit der Grundidee des Schwanks mit islam. Vorstellungen verwiesen, bes. mit der rituellen Unreinheit des Hundes; er plädierte daher für Vermittlung aus Europa, etwa anhand einer von R. J Köhler postulierten, allerdings bis heute rein hypothetischen türk. Übers. der Fazetien des Poggio39. Auf La¯mi¤ı¯ C ¸ elebı¯ geht wohl auch die Fassung im zuerst 1904 gedr. pers. Schwankbuch Reya¯z˙ ø aal-hø eka¯ya¯t (Geschichtengärten) des Mirza¯ H biballa¯h Ka¯sˇa¯ni zurück40, das im Iran als Volksbüchlein bis in die 2. Hälfte des 20. Jh.s verbreitet war41. Nur vage mit AaTh/ATU 1842 verwandt ist die in zahlreichen jüd.-oriental. Var.n wie auch im Kaukasus und bei den Kasachen belegte Geschichte von dem Mann, der (oft während einer Reise oder Pilgerfahrt) seinen Esel (Hund) beerdigt; im Laufe der Zeit entwickelt sich der Ort als Grabstätte eines angeblichen Heiligen zu einem Pilgerzentrum42.
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Testament des Hundes
Die Bandbreite der schriftl. wie mündl. Überlieferung erweist AaTh/ATU 1842 als einen prägnanten Schwank über Habgier und Korruption, wobei fast ausschließlich der Klerus Ziel des Spotts ist: die Übertragung des Konflikts auf eine adlige Dame und den Bürgermeister (mit Beerdigung im Rathaus) in einem dt. Schwankbuch43 ist ohne Nachwirkung geblieben. Gleichzeitig deutet die problemlose Adaptation der Situation an unterschiedliche religiöse Kontexte an, daß derlei Sichtweisen ubiquitär sind. Ein Zusammenhang von AaTh/ATU 1842 mit dem dt. Sprichwort ,Da liegt der H. begraben‘ ist nach L. J Röhrich eher unwahrscheinlich44. Gier, A.: Fabliaux. Stg. 1985, num. 14. ⫺ 2 Tubach, num. 376. ⫺ 3 Chevalier, M.: Cuentos folklo´ricos en la Espan˜a del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 237. ⫺ 4 Wesselski, A.: Johann Sommers Emplastrum Cornelianum und seine Qu.n. In: Euphorion 15 (1908) 1⫺19, hier 17 (num. 87); EM-Archiv: Zincgref/Weidner, Apophthegmata 4 (1655) 225b. ⫺ 5 Karlinger, F.: Ital. Volksmärchen. MdW 1973, num. 14; Schenda, R.: Märchen aus der Toskana. MdW 1996, num. 41. ⫺ 6 Jb. für rom. und engl. Lit. 7 (1866) 288⫺290, num. 21. ⫺ 7 Steinhöwels Äsop. ed. H. Österley. Tübingen 1873, num. 163; cf. auch Keller/Johnson J 1607; Neugaard J 1607; Cifarelli, num. 174. ⫺ 8 Angelo Polizianos Tagebuch (1477⫺ 1479). ed. A. Wesselski. Jena 1929, num. 227. ⫺ 9 EM-Archiv: Zincgref/Weidner, Apophthegmata 3 (1653) 255e; 4 (1655) 176 sq.; Gerlach, Eutrapeliarum 1 (1656) num. 587; Scheer-Geiger 1 (1673) num. 66; Conlin 1 (1706) 97 sq.; 7 (1711) 430 sq.; Vademecum 2 (1765) num. 27; Bienenkorb 9 (1772) num. 67. ⫺ 10 Danner, E.: Die Tanne und ihre Kinder. B. 3 1961, 114⫺116; Kerbelyte˙, LPTK 2. ⫺ 11 Holbek, B.: Dän. Volksmärchen. B. 1990, num. 52; Kamp, J.: Danske Folkeæventyr. Kop. 1891, num. 16. ⫺ 12 van der Kooi. ⫺ 13 Witzschel, A.: Sagen aus Thüringen. Wien 1866, num. 144; Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, num. 28; Kubitschek, R.: Böhmerwäldler Bauernschwänke. Wien/Prag/Lpz. 1920, 16; Meyer, G. F.: Plattdt. Volksmärchen und Schwänke. Neumünster 1925, num. 162; Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 291; Grannas, G.: Plattdt. Volkserzählungen aus Ostpreußen. Marburg 1957, num. 53; Nedo, P.: Lachende Lausitz. Ffm. 1957, 41; Neumann, S.: ´ CurPlattdt. Schwänke. Rostock 1968, 116. ⫺ 14 O raoin, M.: An gadhar a cuireadh sa teampall (Der Hund, der auf dem Friedhof begraben wurde). In: Be´aloideas 58 (1990) 203⫺215. ⫺ 15 Thibault, C.: Contes de Champagne. P. 1960, num. 25. ⫺ 16 Amades, num. 1345; cf. Amades, J.: El testamento de animales en la tradicio´n catalana. In: Revista de dialec1
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tologı´a y tradiciones populares 18 (1962) 339⫺ 394. ⫺ 17 Krypta´dia 1 (1883) 151⫺153, num. 48. ⫺ 18 Popov, P. M.: Ukrainski narodni kazky, lehendy, anekdoty. Kiev 1957, 338 sq. ⫺ 19 Krzyz˙anowski. ⫺ 20 Nedo (wie not. 13). ⫺ 21 Tille, Soupis 2, 367; Gasˇparı´kova´, V.: Ostrovtipne´ prı´behy i velike´ ciga´nstva a zˇarty. Bratislava 1981, 93. ⫺ 22 Polı´vka 5, 65 sq. ⫺ 23 Walker, W. S./Uysal, A. E.: Tales Alive in Turkey. Cambr., Mass. 1966, 248. ⫺ 24 Achundov, A.: Azerbajdzˇanskie skazki. Baku 1955, 296 sq.; Versˇinin, A.: Skazki narodov nasˇej rodiny. Gor’kij 1962, num. 82; cf. auch Chalilov, Ch.: Skazki narodov Dagestana. M. 1965, num. 91. ⫺ 25 Christensen, A.: Contes persans en langue populaire. Kop. 1918, num. 17; Kuka, M. N.: Wit, Humour and Fancy of Persia. Bombay 1937, 278, num. 167. ⫺ 26 El-Shamy, Types; Hanauer, J. E.: Folk-Lore of the Holy Land. L. 1907, 263. ⫺ 27 Tubach, num. 4949. ⫺ 28 EM-Archiv: Gerlach, Eutrapeliarum 1 (1656) num. 587; Scheer-Geiger 1 (1673) num. 66. ⫺ 29 Krypta´dia 1 (1883) 151⫺157 (2 ´ Curraoin (wie not. 14) (Hund findet Var.n). ⫺ 30 O verlorenen Geldbeutel). ⫺ 31 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 3. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1900, num. 29. ⫺ 32 Lambertz, M.: Alban. Märchen. Wien 1922, 86. ⫺ 33 Hallgarten, P.: Rhodos. Ffm. 1929, 55 sq.; Loukatos, D. S.: Neoelle¯nika laographika keimena. Athen 1957, num. 56; Ranke, K.: European Anecdotes and Jests. Kop. 1972, num. 193 (aus Zypern); Orso, E. G.: Modern Greek Humor. Bloom./L. 1979, num. 149. ⫺ 34 Stroescu, num. 5687 (Var. 1). ⫺ 35 Krypta´dia 1 (1883) 153⫺157 (⫽ Afanas’ev, Anh. 3, num. 3; Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. B. 31966, num. 77). ⫺ 36 Stroescu, num. 5687 (Var. 3). ⫺ 37 Pitre`, G.: Note comparative. In: Krypta´dia 4 (1888) 192⫺261, hier 220; Amalfi, G.: Eine türk. Erzählung in einem ital. Schwanke. In: ZfVk. 4 (1894) 428⫺ 430. ⫺ 38 Herbelot, [B.] d’: Bibl. orientale ou Dict. universel […]. Maestricht 1776, 210 (s. v. Cadhi); cf. auch Christensen (wie not. 25) 77. ⫺ 39 ibid.; Feilberg, H. F.: Hundens Testamente. In: Festschr. E. T. Kristensen. Kop. 1917, 11⫺28. ⫺ 40 Ka¯sˇa¯ni, Mirza¯ H ø abiballa¯h: Reya¯z˙ al-hø eka¯ya¯t. Teheran 1333/1954, 141 sq. (Kap. 15,6). ⫺ 41 Marzolph, U.: Da¯sta¯nha¯-ye sˇirin. 50 pers. Volksbüchlein aus der 2. Hälfte des 20. Jh.s. Stg. 1994, num. XXXVIII; cf. Marzolph, Arabia ridens 1, 125 sq. ⫺ 42 Typ 1842 *D bei: Jason; Jason, Types; Jason, Iraq; Soroudi; cf. ferner Chalilov (wie not. 24); Levin, I.: Märchen aus dem Kaukasus. MdW 1978, num. 45 (tschetschen.); Gamsatow, G. G.: Die verwechselten Beine u. a. Märchen aus Dagestan. B. 21986, 254⫺257 (tabassaran.); Sidel’nikov, V. M.: Kazachskie narodnye skazki. M. 1952, 84⫺86. ⫺ 43 EM-Archiv: Conlin 1 (1706) 97 sq., 7 (1711) 430 sq. ⫺ 44 Röhrich, Redensarten 2, 761; cf. auch Witzschel (wie not. 13).
Göttingen
Ulrich Marzolph
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Testamentsschwänke
Testamentsschwänke 1. Allgemeines ⫺ 2. Sonderbare Testamente ⫺ 3. Testamentsbetrug ⫺ 4. Kluge Interpretationen eines (kryptischen) Testaments ⫺ 5. Vorgetäuschter Reichtum
1 . All ge me in es. Der hist.-gesellschaftlich bedeutende Akt der schriftl. Fixierung des letzten Willens hat auch in der Erzählkultur seinen Niederschlag gefunden. In Exempel und Sage geht es bes. um das nicht erfüllte Testament (T.), den nicht erfüllten letzten Willen: Ein Toter kehrt wieder, weil das hinterlassene Geld nicht nach seinen Anweisungen verteilt wurde, weil das Erbe in falsche Hände geraten ist oder weil eine im T. vorgesehene Stiftung nicht eingehalten wurde (Mot. E 236.4)1. Im Märchen spielen T.smotive kaum eine Rolle. In der Schwanküberlieferung wird das Thema T. motivreicher dargestellt, wobei eher J Klugheit und J List der Protagonisten Bewunderung und Heiterkeit hervorrufen als J Dummheit belacht wird. Das vorliegende Material ist in Form, Funktion und Thematik nicht homogen, dennoch lassen sich vier Gruppen unterscheiden. 2 . S on de rb ar e T.e. Erzählungen über eigenartige oder komische T.e finden sich bes. in der älteren europ. Unterhaltungsliteratur. Oft handelt es sich dabei um sehr kurze Texte, teilweise mit Beispielfunktion, die immer wieder aufgegriffen wurden. Es folgen hier einige Beispiele aus den humoristisch-anekdotischen Beilagen ndl. Kalender des 19. Jh.s2: Ein Advokat überschreibt sein ganzes Vermögen einem Irrenhaus: Narren haben ihn reich gemacht, zu Narren solle sein Geld zurückkehren (1806). ⫺ Ein Londoner hinterläßt einem Freund, der ihn betrogen hat, ein Gemälde von der Schlange, die ihren Retter in die Hand beißt (cf. AaTh/ATU 155: J Undank ist der Welt Lohn) (1827). ⫺ Ein frömmelnder Erbschleicher biedert sich einer reichen alten Dame an, in der Hoffnung, ihr Erbe zu werden. Sie hinterläßt ihm auf Lebzeiten ein Eckchen in ihrem Betzimmer (1831). ⫺ Ein Edelmann verschreibt dem Arzt, dessen Ungeschicklichkeit ihn das Leben kosten wird, eine Jahresrente: wovon solle er sonst leben, wenn die Leute hörten, wie unfähig er ist (1864).
Texte dieser Art zirkulierten bereits im Altertum; im spätantiken J Philogelos (num. 104) ist die Rede von einem Geizhals, der sich in seinem T. selbst als Erben einsetzt (Mot. W
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153.8). Dieser Gruppe zuzurechnen sind auch Scherztestamente3 und alte T.sparodien, häufig auch Tiertestamente wie das Testamentum porcelli (4. Jh.) oder das Testamentum domini asini (13. Jh.), in dem ein Bauer um seinen toten Esel klagt, für ihn die Kirchenglocken läuten, eine Seelenmesse feiern läßt etc.4 Auf der Iber. Halbinsel spielten solche Tiertestamente noch lange Zeit eine Rolle, u. a. im Zusammenhang mit Karnevalsbräuchen; sie gelangten auch nach Lateinamerika5. 3 . T.s be tr ug. Schwänke, die T.sbetrug thematisieren, enthalten als zentrales Motiv den Versuch eines Tricksters, die letztwillige Verfügung eines Sterbenden (Verstorbenen) zu seinen Gunsten zu beeinflussen. In der Divina comedia (Inferno 30, 31⫺45) gibt J Dante dem Florentiner Gianni Schicchi einen Platz bei den Fälschern, weil er im Namen eines anderen ein T. gemacht hatte. Aus alten DanteKommentaren und jüngeren ital. Novellen6 wird ersichtlich, daß Dante hier auf ATU 1588***: The Fraudulent Will anspielt: Ein Mann (Frau) stirbt, bevor er ein T. machen konnte. Verwandte (Freunde, Mitglieder des Personals), die fürchten, daß sie nichts oder zu wenig erben werden, erwecken den Anschein, daß der Verstorbene noch lebt und lassen eine Person (Diener), die ihm ähnlich sieht, in seinem Bett ein T. diktieren. Diese Person läßt sich selber einen viel größeren Teil der Erbschaft überschreiben als abgemacht oder sogar den ganzen Besitz des Verstorbenen.
Dieser Schwank wurde von Jean-Franc¸ois Regnard (1655⫺1705) in seine Komödie Le Le´gataire universel (1708) eingearbeitet. In der Folgezeit hat er sich nach Mitteleuropa und Mittelamerika verbreitet, er ging auch in die mündl. Überlieferung ein7. Eine Vorstufe findet sich in der antiken Überlieferung: Leodike, die verstoßene erste Frau des syr. Königs Antiochos II. Theos, ließ im Jahre 246 v. u. Z. ihren Mann vergiften. Ihr Diener gab sich auf ihren Befehl als Antiochos aus und teilte dessen Ministern mit, daß er Leodikes Sohn Seleukos Kallinikos zu seinem Nachfolger bestimme8. Weit verbreitet in Europa und auch in Vorderasien ist der jüngere, im 19. und 20. Jh. namentlich in der mündl. Überlieferung tradierte Schwank AaTh/ATU 1407 A: „Everything!“: Ein geiziger Mann (Bauer, Pastor, Gutsherr) heiratet ein Mädchen, das angibt, nur sehr wenig zu
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Testamentsschwänke
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essen (oder eine Frau stellt eine solche Magd ein). Als er herausfindet, daß sie ein richtiger J Vielfraß ist, bekommt er vor Schreck oder Wut einen Schlaganfall. Seine letzten Worte sind „Sie … alles“ („die Hälfte“). Er hatte sagen wollen, daß seine Frau alles gefressen hatte, die anwesenden Verwandten verstehen jedoch, sie solle alles erben.
die Absichten des Testators zu interpretieren weiß, sowie solche, (4.2) in denen er einem von den T.svollstreckern Benachteiligten den ihm zustehenden Erbteil zukommen läßt, indem er den verborgenen Sinn des T.s entschlüsselt.
In den meisten Var.n ist dieser Ausgang für die Frau ein reiner Glücksfall, aber manchmal spielt sie auch eine aktive Rolle und weiß den Notar persönlich davon zu überzeugen, daß ihr Mann mit diesen Worten sein T. machen wollte9. Daß ein Versuch, den Inhalt eines T.s zu beeinflussen, nicht immer gelingt, zeigt folgender, die sprichwörtliche Habgier der Geistlichkeit anprangernde Schwank (cf. auch AaTh/ ATU 1842: J T. des Hundes):
(4.1) Hierzu gehören die europ. Var.n von AaTh/ATU 1553: J Ochse für fünf Pfennig, eines weitverbreiteten Erzähltyp oriental. Herkunft, in denen eine Witwe (Witwer) ein wertvolles Erbstück, dessen Ertrag laut T. ihres Mannes einem guten Zweck zukommen soll, sehr günstig anbietet, es aber nur zusammen mit etwas Wertlosem verkauft, für das sie einen hohen Preis verlangt. Weit verbreitet (Europa, Nordamerika, Südafrika, Australien) ist auch der offensichtlich junge, meistens als Witz betrachtete Erzähltyp ATU 1855 B: The Check in the Coffin, in dem ein Mann seine drei (Schwieger-)Söhne (Freunde) auf dem Sterbebett bittet, ihm nach seinem Tod einen bestimmten Betrag in den Sarg (Grab) mitzugeben. Meistens ist dieser Mann oder der dritte Freund (Schwiegersohn) ein Jude, und es handelt sich um eine Bitte, aber manchmal, wie in folgender Var. auch um einen schriftl. letzten Willen:
Ein Mönch ist damit beauftragt, das T. eines todkranken alten Mannes zu schreiben. Der Alte, der nicht mehr ganz bei Sinnen ist, sagt „Ja“ zu jedem Vorschlag des Mönchs, Gelder und Güter der Kirche zu überschreiben. Als dies jedoch seinem Sohn, der dabei anwesend ist, zu weit geht und er vorschlägt, den Mönch die Treppe hinabzuwerfen, bejaht der Alte das auch. Der Mönch wird hinausgeworfen.
Dieser von J Luther10 erzählte Schwank findet sich in zahlreichen Schwankbüchern der Neuzeit, u. a. bei Johannes J Pauli11 und Hans Wilhelm J Kirchhof 12; Hans J Sachs bearbeitete den Stoff im Jahre 154113. Manchmal kommt der Kranke auch von selbst zur Besinnung: Frz. Mönche bringen eine sehr kranke alte Dame dazu, alle ihre Güter ihrem Kloster zu überschreiben. Unverhofft bessert sich der Gesundheitszustand der Frau, und sie ändert ihr T. zugunsten ihrer Nachkommen. Ein Witzbold schreibt am nächsten Tag an die Tür des Klosters: Hier wohnen die Mönche des alten T.s, des neuen T.s wurden sie nicht teilhaftig14.
Ein ähnliches Spiel mit der religiösen und der weltlichen Bedeutung des Wortes T. findet sich auch heute noch in manchen Witzen: Ein Rabbi beklagt sich bei Gott, daß sein Sohn, für den er schon das T. gemacht hatte, sich habe taufen lassen. Gott antwortet darauf, das sei ihm auch so ergangen. Auf die Frage, was Gott denn daraufhin getan habe, antwortet dieser: ,Hab ich gemacht eine neues T.‘15
4 . K lu ge In te rp re ta ti on en ei ne s ( kr yp ti sc he n) T. s. Zu dieser Gruppe sind Schwänke zu rechnen, (4.1) in denen ein kluger Kopf ein T. zum eigenen Nutzen und gegen
Ein reicher Mann vermacht in seinem T. seinen drei Freunden, einem Deutschen, einem Russen und einem Juden, sein ganzes Geld zu gleichen Teilen, unter der Bedingung, daß jeder ihm 100 Rubel in das Grab lege. Der Deutsche legt 100 Rubel in Gold in das Grab, der Russe legt einen Hundertrubelschein dazu. Der Jude steckt die 200 Rubel ein und legt einen Wechsel über 300 ins Grab16.
Nicht immer gelingt dem Trickster dieser Streich. In einer oldenburg. Var. hat der Erblasser das Geld in seinem Sarg dem Pfarrer vermacht. Dieser kassiert den Scheck17. (4.2) Das Motiv von der richtigen Interpretation eines kryptischen T.s war bes. in der älteren jüd. Überlieferung beliebt. Bereits im Babylon. Talmud findet sich die Erzählung vom klugen Rabbi, der das T. eines Mannes, welcher seinen drei Söhnen nur Fässer mit Erde, Knochen und Füllstoffen hinterläßt, richtig zu deuten weiß: Sie sollen seinen Grundbesitz, sein Vieh und seine Matratzen und Kissen erben (AaTh/ATU 655: Die scharfsinnigen J Brüder, AaTh/ATU 976: Die vornehmste J Handlung, cf. auch AaTh/ATU 920
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Testerzählungen
C: J Schuß auf den toten König)18. Diese Erzählung fand auch Eingang in die klassische arab.19 und die ältere russ. Volksliteratur, in letzterer mit J Salomo als weisem Deuter20. Andere kluge, bes. in der jüd. Überlieferung beliebte T.sdeutungen sind: Ein Kaufmann stirbt auf Reisen. Er macht einen ihn begleitenden Freund zum Erben seines ganzen Vermögens unter der Bedingung, daß er seiner Frau das gibt, ,was er wolle‘. Als der Freund der Frau nur eine Kleinigkeit geben will, geht sie zum Richter (Rabbi). Dieser erklärt, der Freund solle der Witwe alles geben, was er selbst hatte haben wollen21. ⫺ Der Erbe ist ein Sklave, nur muß er dem Sohn des Verstorbenen einen Wunsch erfüllen. Dieser wünscht sich auf Anraten des Rabbis den Sklaven22.
5 . Vorge tä us ch te r Rei ch tu m. Mancher Erblasser hat in der Hoffnung, im Alter gut betreut zu werden, bei seinen Erben absichtlich Erwartungen auf ein Erbe geweckt. In der Volkserzählung wird dieses Motiv in AaTh/ ATU 982: Die vorgetäuschte J Erbschaft exemplifiziert: Ein Mann hat seinen Kindern bereits zu Lebzeiten seinen ganzen Besitz überlassen und wird nun schlecht von ihnen behandelt. Er täuscht daher vor, er habe noch eine Truhe voll Geld, die derjenige erben solle, in dessen Haus er stirbt. In der Truhe sind nur Steine. In der arab. Überlieferung ist es ein todkranker Armer, der von seinem Herrn gepflegt und schließlich begraben wird, nachdem er den Herrn auf einen angeblich vergrabenen Schatz aufmerksam gemacht hatte23. Zum Umfeld dieses alten und weitverbreiteten Erzähltyps gehört das engl. Schwanklied The Pretended Country Squire (17. Jh.): Ein Fremder wird im Hause eines Bäckers aufgenommen. Er gibt sich als reicher Gutsherr aus und lebt bei der Familie, ohne zu bezahlen. Nach seinem Tode beerdigt man ihn pompös, weil er in seinem T. der Gastfamilie seine gesamte Habe vermacht hat. Es stellt sich jedoch heraus, daß er ein völlig mittelloser Mann war24. 1 Tubach, num. 1930⫺1934, 5296; Müller/Röhrich G 29, 30. ⫺ 2 Archiv van der Kooi, Groningen. ⫺ 3 Stroescu, num. 4477. ⫺ 4 Lehmann, P.: Die Parodie im MA. Stg. 21963, 170⫺172. ⫺ 5 Garcı´a de Diego, P.: El testamento en la tradicio´n. In: Revista de dialectologı´a y tradicio´nes populares 9 (1953) 601⫺666, ibid. 10 (1954) 400⫺471; Amades, J.: El testamento de animales en la tradicio´n catalana. ibid. 18 (1962) 339⫺392. ⫺ 6 Wesselski, A. (ed.): Dante-Novellen. Wien/Mü. 1924, 40⫺42, 125 sq.; Singleton, C. S.:
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Dante Alighieri, The Divine Comedy, Inferno 2. Commentary. L. 1971, 550⫺552; Rotunda K 455.8.3*, K 1628*, K 1854*. ⫺ 7 Altrocchi, R.: The Story of Dante’s Gianni Schicchi and Regnard’s ,Le´gataire Universel‘. In: Publ.s of the Modern Language Assoc. 29 (1914) 200⫺224; Wesselski, Theorie, 14. ⫺ 8 Altrocchi (wie not. 7) 203. ⫺ 9 Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg. ed. S. Neumann. B. 1963, num. 16; MNK 1407 A; Eberhard/Boratav, num. 367; Jason, Types 1407* B. ⫺ 10 Bebel/Wesselski 1, num. 81. ⫺ 11 Pauli/Bolte, num. 497. ⫺ 12 Kirchhof, Wendunmuth 1,2, num. 47. ⫺ 13 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 3. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1900, num. 131. ⫺ 14 Archiv van der Kooi, Groningen (ndl. Kalendergeschichte von 1818). ⫺ 15 Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 283. ⫺ 16 ibid., 289. ⫺ 17 Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Leer 1994, num. 148. ⫺ 18 Schwarzbaum, 204⫺206. ⫺ 19 Schwarzbaum, 47, 215 sq. ⫺ 20 ibid. ⫺ 21 Schwarzbaum, 293; Richmann, J.: Laughs from Jewish Lore. N. Y. 1954, 222; cf. auch Rotunda J 1179.13*. ⫺ 22 Schwarzbaum, 294 sq.; Gaster, M.: The Exempla of the Rabbis. L. 1924, num. 399; Richmann (wie not. 21) 238 sq. ⫺ 23 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 815. ⫺ 24 Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, num. 441.
Groningen
Jurjen van der Kooi
Testerzählungen. Der Begriff T. basiert auf der Kategorie Tests (Mot. H 0⫺H 1599) des Motif-Index, die bes. in Zauber- und Schwankmärchen sowie in Schwänken vertreten ist. Die von S. J Thompson entwickelten Anordnungsprinzipien sehen die Themenbereiche Identity Tests (Mot. H 0⫺H 199), Tests of Truth (Mot. H 200⫺H 299), Marriage Tests (Mot. H 300⫺H 499), Tests of Cleverness (Mot. H 500⫺H 899), Tests of Prowess: Tasks (Mot. H 900⫺H 1199), Tests of Prowess: Quests (Mot. H 1200⫺H 1399) und Other Tests (Mot. H 1400⫺H 1599) vor. Die Kategorie T. wirkt fast ausschließlich in Motivkatalogen und entsprechenden Diskussionen nach, z. B. in der Verbindung mit J Archetypen und J Motiven1. In der EM sind die entsprechenden Themen, Stoffe und Motive vor allem unter folgenden Stichwörtern abgehandelt: J Apfelprobe; J Aufgaben, unlösbare; J Bastard; J Bewährungsprobe; J Bocca della verita`; J Brautproben (AaTh/ATU 1451⫺1461, 1463); J Charaktereigenschaften und -proben; J Deszendenzproben; J Dienst
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Teufel
beim Dämon; J Erkennungszeichen; J Freier, Freierproben; J Furcht, Furchtlosigkeit; J Geschicklichkeitsproben; J Geschlechtsproben; J Gottesurteil; J Keuschheit; J Kraftproben; J Mutproben; J Prüfung; J Rätsel; J Scharfsinnsproben; J Suchen, Suchwanderung; J Wache halten; J Zeichen edler Herkunft.
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1 . J üd ., ch ri st l. un d i sl am . Tra di ti on en. Gegenstand des vorliegenden Art.s sind nicht allg. böse J Geister (J Dämonologie), sondern die Idee eines Obersten bzw. Fürsten der J Dämonen, der als Gegenspieler des guten J Gottes oder (tendenziell dualistisch) als Verkörperung eines bösen Prinzips auftritt (J Dualismus)1. Methodisch ist es wichtig, präzise zu fragen, welche hist. Ideen und Bilder im Hintergrund eines Belegs plausibel anzunehmen sind, statt unreflektiert aus dem Gesamtrepertoire der T.svorstellungen zu schöpfen. Bes. ist zwischen kirchlich-theol. T.svorstellungen und solchen im populären Erzählgut sorgfältig zu unterscheiden, obwohl beide Bereiche intensiv interagieren. Die jüngere Religionswissenschaft ist sehr zurückhaltend in der Anwendung des Begriffs T. auf Gestalten in polytheistischen Religionen und spricht lieber von funktional verwandten Gegengöttern2 oder Zwischenwesen.
eines T.s im alten Israel nur allmählich heraus und wurde in alttestamentlicher Zeit noch nicht systematisiert. In der Forschung hat vor allem die Frage Interesse gefunden, inwiefern das Dämonische (Gefährlich-Fremde, Unberechenbare, Numinos-Erschreckende [J Numinoses], Destruktive)3 in Jahwe selbst einen ursprünglichen Platz hatte und mit Entstehung einer eigenen T.sgestalt aus Jahwe ausgegrenzt wurde, der damit zu einem ungebrochen ,guten‘ Gott wurde. Klassischer Beleg ist 1. Chron. 21,1 (Satan als Verführer; J Verführung), während die unmittelbare Vorlage 2. Sam. 24,1 noch Gott selbst in seinem Zorn diese Funktion wahrnehmen läßt (cf. auch Jub. 48,8⫺9). In den ältesten bibl. Erzählzusammenhängen mit einer T.sgestalt ist diese Mitglied des göttlichen Hofstaates, also Figur in einer monarchischen Symbolwelt und vor allem noch kein Gegner Gottes, so Sach. 3,1⫺ 2; Hi. 1⫺2 (reiches Nachleben bis zum Goetheschen J Faust), wo er die Schuld der Menschen vor Gott zur Anklage bringt (cf. Apk. 12,10). Hebr. satan heißt Widersacher (cf. Num. 22,22; 22,32), wohl auch Ankläger vor Gericht oder vielleicht eher Verleumder; das Wort steht noch bei J Hiob immer mit Artikel4 und wird erst im 1. Buch der Chronik zum (artikellosen) Eigennamen. Auf das Motivfeld um den T. nehmen auch Figuren wie der Würgeengel (Ex. 12) und Azazel (Lev. 16) Einfluß, daneben Chaoskampfmythen (Typ Baal-Jam bzw. Marduk-Tia¯mat). In den Qumra¯n-Hss. heißt der T. meist Belial (hebr. Nichtsnutz, Destruktivität; griech. Beliar), so auch in den Testamenten der zwölf Patriarchen (2. Jh. a. Chr. n.⫺2. Jh. p. Chr. n.) und 2. Korintherbrief 6,155. Wohl unter iran. Einfluß fokussiert sich die altjüd. Dämonologie in achämenid. und hellenist. Zeit zunehmend in der Gestalt eines T.s, der unterschiedliche J Namen tragen kann (Satan, Mastema, Semjaza, griech. diabolos: Widersacher, Verleumder, Zwietrachtstifter)6 und eher Verführer zum moralisch Bösen als Inbegriff destruktiver Kräfte ist. Weder Judentum noch Christentum oder Islam sind im strengen Sinne dualistisch: der T. ist immer Kreatur, nie böses Urprinzip7.
1 .1 . A . T. u nd fr üh es Ju de nt um. Obwohl der Glaube an Dämonen Teil jeder antiken Religion ist, bildete sich die Vorstellung
1 .2 . Frü he s C hr is te nt um un d Alt e K ir ch e. Frühes Christentum und Alte Kirche entfalten und vertiefen die T.svorstellung, die
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Garry, J./El-Shamy, H. (edd.): Archetypes and Motifs in Folklore and Literature. A Handbook. Armonk, N. Y./L. 2005, bes. 235⫺259.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Teufel 1. Jüd., christl. und islam. Traditionen ⫺ 1. 1. A. T. und frühes Judentum ⫺ 1. 2. Frühes Christentum und Alte Kirche ⫺ 1. 3. Ma. und neuzeitliches Judentum ⫺ 1. 4. Islam ⫺ 1. 5. Christentumsgeschichte seit dem MA. ⫺ 2. Religionsgeschichtliche Parallelgestalten ⫺ 3. Der T. im populären Erzählgut ⫺ 3. 1. Phänomenologie ⫺ 3. 2. Zentrale Motive und Erzählfunktionen ⫺ 3. 3. Erzählgattungen ⫺ 3. 4. Allg. Entwicklungstendenzen: Dämonisierung, Entdämonisierung, Redämonisierung ⫺ 4. Hist. Schichtung und Forschungsfragen
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ein wichtiges Element der Interpretation des Bösen wird. Jesus J Christus deutet seine Heilungen und J Exorzismen als Antizipationen der bevorstehenden endzeitlichen Entmachtung des T.s (Lk. 10,18; 11,14⫺26 u. ö.; J Eschatologie). Diesen begleitet eine Gefolgschaft von bösen J Engeln (Mt. 25,41; 2. Kor. 12,7 u. ö.). Die Leitmetaphorik scheint eher militärischer als monarchischer Art zu sein: Der T. ist weniger König als Führer einer dämonischen Armee, die u. a. J Krankheit und J Besessenheit verursacht (Mk. 3,22⫺30 u. ö.; cf. 5,9; Lk. 11,18) und das Leben der Jünger bedroht (Lk. 22,31; 2. Kor. 2,11). Für J Paulus ist der T. ,Gott dieser Weltzeit‘ (2. Kor. 4,4), für das Johannesevangelium ,Fürst dieser Welt‘ (Joh. 12,31; 14,30; 16,11). Bes. politische Weltherrschaft (Mt. 4,1⫺11 u. ö.) und röm. Staat (Apk. 13,17⫺18 u. ö.) können als Sphären teuflischer Macht gedeutet werden (cf. auch Babylon. Talmud, Baba Batra 16a: Satan als Herr der Erde). Auch Häretiker (2. Kor. 11,15) und Juden (Joh. 8,44; Apk. 2,9; 3,9)8 gelten vielfach als vom T. besessen. Ältere Texte (Markusevangelium, echte Paulusbriefe) verwenden noch häufig das hebr. Fremdwort satan(as), spätere eher das griech. diabolos, wozu zahlreiche Umschreibungen treten (Verderber, Feind etc.). Der T. wird nicht nur zur Fokussierungsfigur des Bösen, sondern zum Inbegriff aller äußeren und inneren Gefährdungen des Christseins überhaupt (1. Petr. 5,8; Eph. 6,11). Die Johannesapokalypse (12⫺13) spricht vom T. ebenfalls vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner endzeitlichen Entmachtung und intensiviert die J Schlangen- bzw. J Drachensymbolik9. In der Alten Kirche stabilisieren sich die divergenten Vorstellungen zu einem zunehmend einheitlichen Bild, das sich deutlich vom älteren jüd. (T. als Teil des göttlichen Hofstaates) unterscheidet10. Der T. tritt als handelnde Figur in Legendenstoffen auf (eher als Versucher [J Versuchung] denn als Höllenfürst) und wird auch Gegenstand von J Jenseitsvisionen (z. B. T.skampf in den Acta Perpetuae et Felicitatis)11. Der Name J Luzifer (Lichtträger) für den T. entstammt der Vulgata (Jes. 14,12). Der dort angeführte Himmelssturzmythos (cf. Lk. 10,18) wird auf den T. bezogen und begründet die Idee ursprünglicher strahlender Schönheit des T.s, die sich aufgrund seines Falls in Häß-
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lichkeit verwandelt habe. Auch in den spätantiken Mönchsviten tritt der T. als Versucher auf, unter Umständen verkleidet als ,Engel des Lichts‘ (schon 2. Kor. 11,14)12, wobei er weniger mit libidinösen als mit erschreckenden Bildern heimsucht (cf. J Antonius Eremita, Hl.). Bildliche Darstellungen zeigen den T. etwa seit dem 6. Jh. schwarz ⫺ er heißt altkirchlich ,der Schwarze‘ als Nachfolger des Unterweltgottes Pluton/Dis13 ⫺ oder blau, mit Klauen, fratzenhaftem Gesicht, gelegentlich Flügeln oder Schlangenhaaren, zuweilen kleiner als Menschenmaß (Eidolongestalt, meist dünn und ausgemergelt), seltener als J Riese oder überhaupt theriomorph. In Slgen religiöser Erzählungen wie den an T.sgeschichten reichen Dialogi (6,115) J Gregors d. Gr. wird dem MA. das gesamte antike Motivrepertoire in narrativen Szenarien vermittelt. 1 .3 . Ma. un d n eu ze it li ch es Ju de nt um. Im rabbin. Judentum hat der T. eine dreifache Funktion: Er verführt zum Bösen, reizt Gott zum Zorn gegen die Menschen und zerstört das Leben (J Tod); Satan, ,böser Trieb‘ und Todesengel können identifiziert werden (Babylon. Talmud, Baba Batra 16a). Als ,Satan der Ankläger‘, Verführer und Zerstörer wird er auch mit der Schlange des J Paradieses gleichgesetzt (so zuerst Weish. 2,24). Häufig sind Erzählungen über Bewährungsproben der Frommen, bei denen der T. in J Verkleidung erscheint14. Obwohl das Judentum durchaus T.svorstellungen kennt, werden diese niemals so stark systematisiert wie im Christentum15. Viele antike jüd. Texte erwähnen den T. gar nicht (4. Esr.). Im frühen MA. setzt sich der Name Samael für den T. durch, der zuerst als Name eines der gefallenen Engel bezeugt ist (äthHen. 6,3 bzw. griech. Bar. 4,8 und bei den gnostischen Ophiten; zu hebr. sami: blind). Die Mandäer kennen ihn als Simyail16, die harran. Sabier als Mara Samia. Das Verhältnis zu anderen Dämonennamen wie J Asmodeus bleibt oft ungeklärt. In der J Kabbala ist Samael der blinde Engel, eine Manifestation der ,anderen Seite‘ (d. h. des Bösen), im Sohar oft zusammen mit J Lilith (zuweilen als achte und zehnte Sefira der ,anderen Seite‘). Seit Targum Pseudo-Jonathan Gen. 3,6 wird er mit dem Todesengel identifiziert (so vor allem in den Legenden vom Tod
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des J Mose). In der späteren Kabbala (seit Isaak Luria [gest. 1572]) ist sein Name tabu und wird mit den hebr. Buchstaben Samekh Mem abgekürzt. 1 .4 . I sl am. Im Islam ist Iblı¯s (vorkoranisch nicht bezeugt, etymol. wohl zu griech. diabolos)17 ein sˇaitøa¯n (Satan, im Islam auch Gattungsname und daher öfters im Plural: Dämon)18 bzw. eine gˇinn; umstritten ist seine frühere Zugehörigkeit zu den Engeln. Zum Verständnis der Figur zentral ist die Legende, Iblı¯s habe den neugeschaffenen J Adam nicht verehren wollen, wie von Allah angeordnet, und sei darum aus dem Himmel verstoßen worden (Sure 2,34; 7,11⫺18; 15,26⫺42; 38,73⫺ 82 u. ö.). Diese Legende hat eine antik-jüd. Vorgeschichte (Vita Adae et Evae, 12⫺17)19. Spätere islam. Spekulationen über Iblı¯s haben deutlich andere Wege eingeschlagen als das Christentum20, während das populäre Erzählgut ihn oft mit den gˇa¯nn zusammenbringt21. Opfer an alte Naturgeister werden im Islam häufiger als solche an den Satan interpretiert (cf. Sure 6,121)22. In die orientalisierende Lit. Europas wurde seine Figur vor allem durch William Beckfords Roman Vathek (Lausanne 1787) und die Übers.en von J Tausendundeine Nacht23 eingeführt. Eine komplexe dualistischgnostische Mythologie um den T. (malik øta¯Åu¯s) hat sich bei der libanes.-syr. Religion der Jeziden gebildet, die aus islam. und christl. Außenperspektive (fälschlich) als T.sanbeter charakterisiert wurden24. 1.5. Christentumsgeschichte seit dem MA. Der T. mit seinen dämonischen Scharen bleibt eine zentrale Figur christl. Imagination und Mythologie25. Wegweisend wird die Auffassung des Kirchenvaters Augustinus (354⫺ 430), dessen kohärente Gesamtsicht die altkirchlichen Reflexionen zum Thema26 zu einem gewissen Abschluß bringt. Danach ist der T. als ehemaliger Engel ein Geschöpf Gottes (Ablehnung des manichäischen Dualismus). Wie der Mensch hatte er einen freien Willen, hat diesen aber in einem Akt des Stolzes bzw. der Anmaßung mißbraucht (J Hybris), verlor seine himmlische Herrlichkeit und Stellung und wurde zum Verführer für Engel und Menschen (De civitate Dei 11). Andere Kirchenväter führen den Fall des T.s auf Neid bzw. Miß-
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gunst zurück. Die mit ihm gefallenen Engel wurden zu Dämonen (cf. Apk. 12,4; 12,7⫺12). Im Gegensatz zum Menschen kann er nicht erlöst werden: In den gegen Origenes gerichteten Anathematismen der Synode von Konstantinopel (543)27 wird die Lehre von der ,Allversöhnung‘ verworfen (Origenes, De principiis 3,6,5). Seit seinem Sturz versucht der T. erfolgreich, den Menschen in seinen Fall hineinzuziehen. J Sünde und speziell Götzendienst bringen den Menschen in den Machtbereich des T. s., welcher der Civitas Dei eine eigene Civitas diaboli gegenüberstellt. Diese Verfallenheit des Menschen an den T. wird im Heilswerk Christi grundlegend durchbrochen, das durch die Kirche (bes. die J Taufe) dem einzelnen Menschen zugeeignet wird. Dabei deutet die Alte Kirche die Überwindung des T.s teils als Rechtshandel zwischen Gott und T. (so Irenäus), teils als dessen Überlistung (Origenes, Gregor von Nyssa, Leo d. Gr. u. a.). Die Absage (abrenuntiatio) an den T. ist Teil der Taufrituale. Daneben behauptet die populäre apotropäische Magie ihren Platz in der Dämonenabwehr28. Eine Steigerung der Verfallenheit des Menschen an Sünde und T. geschieht im J T.spakt, der durch Götzendienst und alles zustande kommt, wodurch der Mensch sich dämonischer Kräfte bedienen will (bes. auch J Magie und jede Form von J Divination)29. Manche populären Vorstellungen über den T. und die Dämonen versuchte die Kirche dagegen abzuwehren (Synode von Braga [574]: kein Einfluß des T.s auf das Wetter)30. Die Macht des T.s gilt als gewaltig, aber immer durch Gottes Willen begrenzt. Wie der Name des T.s, so sind auch seine Erscheinungsformen und seine jeweiligen bildlichen Darstellungen unterschiedlich31. Während der T. des frühen MA.s Klauen hat, setzt sich der Pferdefuß im 15. Jh. durch. Hochma. sind neben Hörnern auch Fledermausflügel häufig32. Daneben stehen vollständig theriomorphe Darstellungen (Drache, Löwe, Schlange, Bär, Ziegenbock, Affe, Kröte), auch monströse Mischwesen (vor allem drachenhafter Art, Schlange mit Menschenkopf). Weit verbreitet ist seit der Renaissance sein Erscheinen als schwarzer Hund33. Plausibel ist ein Einfluß satyrähnlicher Naturgeister auf die Ikonographie (Hörner, Ziegenbeine), in deren Gefolge
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der T. (aber erst spätma.) zum ,nord. Phantom‘ mit Hörnern, Schweif und Klauen (Goethe, Faust 1, 2497 sq.) wird. Zu beachten ist die Beimischung animalischer Elemente auch in seiner menschlichen Erscheinung. Immer ,verrät‘ ein Detail den T. (Ziegen- oder Pferdefuß, blitzende Zähne, Gestank). Auf die satyrhaften Züge haben wohl auch die bibl. ziegenbockähnlichen Felddämonen (Lev. 17,7; Jes. 13,21 und 34,14; Kult: 2. Chron. 11,15) Einfluß gehabt34. Der spät bezeugte lahme Fuß des T.s (J Hinken, Hinkender) verbindet ihn mit dem Schmiedegott Hephaistos (seit dessen Sturz aus dem Olymp). In der J Hölle ansässig und dort von Finsternis und J Feuer (oder Eis: Dante, Inferno, 34) umgeben, kann sich der T. auf der Erde frei bewegen, wobei ihm mitunter einzig ,hl. Orte‘ verwehrt sind. Die alten T.snamen werden bei den Renaissance-Dämonologen auf verschiedene Dämonen verteilt, wie das Wort T. auch bedenkenlos im Plural verwendet wird. Eine bes. Rolle spielt der T. im spätma. Ideengeflecht um den Hexensabbat (J Sabbat), wobei er konkurrierende Gestalten (Diana) verdrängt35. Die theol. ,Biogr.‘ des T.s wurde durch geistliche Volksschauspiele präsent gehalten und nimmt dort auch burleske Züge an (diableries; traditionsgeschichtliche Bezüge zum J Puppentheater36). Als eine Art endzeitlicher irdischer Vertreter des T.s wird seit der Spätantike der Antichrist37 zum Gegenstand zahlreicher religiöser Dichtungen (vor allem im geistlichen Spiel), dessen Charakter und Ikonographie oft mit der des T.s verschmilzt. Zuweilen gilt er als Sohn des T.s (wie J Merlin oder J Robert der T.). Der Protestantismus bringt anfänglich keineswegs eine Abnahme des T.sglaubens. Im Gegenteil wird christl. Existenz bei J Luther38 in hohem Maße als Kampf mit dem T. qualifiziert (cf. sein berühmtes Kirchenlied Ein feste Burg ist unser Gott [1529]). Die Ambivalenz zwischen irdischer Übermacht des T.s und völliger Entmachtung angesichts des Evangeliums kennzeichnet auch weiterhin den protestant. T.sglauben, während kathol. Frömmigkeit bis ins 19. Jh. weithin ungebrochen in den durch Augustinus und das MA. vorgezeichneten Bahnen bleibt. Konsequent deutete Luther alle Wesen des populä-
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ren Glaubens wie J Gespenster, Poltergeister (J Geist, Geister), Wassermänner (J Wassergeister), ja sogar Heinzelmännchen (J Hausgeister) als Erscheinungen des T.s39. Naturkatastrophen, Epidemien, Revolutionen oder Geisteskrankheiten führte er auf den T. zurück (Großer Katechismus). Diese Vorstellungen erreichten aber nie breite Akzeptanz. Der populäre protestant. T.sglaube fand im 16. Jh. seinen Ausdruck einerseits in Exempelsammlungen wie Andreas J Hondorffs Promptuarium exemplorum (1568 u. ö.), deren Erzählgut z. T. schon in Luthers Tischreden (1566) angelegt ist. Andererseits handeln die protestant. Traktate der J T.literatur nicht von Luthers T. sondern benennen Fehlverhalten metaphorisch als Teufeleien, synonym zum J Narrentopos und warnen vor Hab- und Spielsucht, Buhlerei, Trinksucht, Geiz, Prasserei und anderen Lastern. Erst im 17. und 18. Jh. mehrten sich die kritischen Stimmen gegenüber dem T.sglauben, während dämonologische Erklärungen etwa für Krankheiten oder Wetterunglücke rasch an Plausibilität verloren. Ein Schlüsseltext für den Zerfall des Konsenses in Sachen T., Hexen, Dämonen wird B. Bekkers De betooverde wereld 1⫺4 (1691⫺93). Zu dieser innerkirchlichen Kritik tritt diejenige der Aufklärungsphilosophie hinzu, bis der T. im späten 18. und 19. Jh. weithin aus dem evangel.-theol. Diskurs verschwindet. F. D. Schleiermachers einflußreiche evangel. Dogmatik kommt grundsätzlich ohne einen T. aus40. In kathol. Dogmatiken bleiben die traditionellen Lehrstücke zum T. erhalten, werden in der kirchlichen Praxis aber marginalisiert. Verdinglichungen des T.sglaubens (u. a. leibliche Erscheinung, J Wetterzauber, J Luftreisen, J Tierverwandlung) reagieren oft stabilisierend auf religiöse Krisen und entfalten eine eigene Rationalität41. Bis in die Gegenwart können nächtliche und andere Schreckerfahrungen in konventionalisierten Erfahrungsberichten als T.sbegegnungen interpretiert werden, keineswegs nur in kathol. Kontexten, sondern auch z. B. im nordamerik. konservativen Protestantismus42. Konkurrierende Mythologien des T.s sind am Rande der Kirchen und in separaten christl. Gemeinschaften formuliert worden, nicht nur bei den J Bogomilen und Katha-
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rern43 und nicht nur in der älteren Zeit (cf. T.serzählungen bei den Mormonen44 oder die unter amerik. Shakern ehemals verbreitete Geschichte vom Grab des T.s in Mount Sinai [Massachusetts])45. 2 . Rel ig io ns ge sc hi ch tl ic he Pa ra ll el g es ta lt en. Der T. ist kein Universale der Religionsgeschichte, sondern tritt nur in bestimmten Konstellationen auf. Doch gibt es ein Umfeld (oft nur entfernt) teufelsähnlicher Gestalten, wobei hier nur jene Fälle zu behandeln sind, die das Böse in einer Figur fokussieren. Eine Analogie zum T. bietet der Zoroastrismus in der Figur des Angra Mainyu (mitteliran. Ahriman, griech. Areimanios), des Gegenspielers des guten Gottes Ahura Mazda¯ und Schöpfers einer bösen Gegenschöpfung, der u. a. Kriechtiere und Insekten zuzurechnen sind. Mythol. Erzählgut über ihn ist über Plutarch (De Iside et Osiride, Kap. 46, 47 [aus Theopomp]) Teil des europ. Bildungserbes46. Im Mithraismus wurde er möglicherweise kultisch verehrt. Auch im Iran existierte mit dem Zervanismus spätantik eine dualistische Radikalisierung. Inwiefern dieser nur Gelehrtenspekulation oder gelebte Religion war, ist umstritten. Für letzteres sprechen seine Nebenüberlieferungen, u. a. in Armenien (Eznik von Kolb [5. Jh.]). Der altägypt. Seth (griech. seit Herodot 2,144 und 2,156 mit Typhon gleichgesetzt) ist ursprünglich Gott der Wüste, des ,Draußen‘, der Fremdländer, wird aber in hellenist.-röm. Zeit zunehmend zur T.sgestalt (vor allem im Zauber)47. Ähnlich ist die Wolkenschlange Apophis ewiger Gegenspieler des ägypt. Sonnengottes. In der spätantiken Philosophie kennt zuerst der Christengegner Porphyrios (De abstinentia 2,41) in seiner neuplatonischen Phase einen ,Vorsteher‘ der Dämonen, die er analog christl. Vorstellungen schildert; vereinzelt auch die Hermetiker [cf. Laktanz, Divinae institutiones 2,14,6; PseudoAsclepius 3,28]), während im 2. Jh. Kelsos eine solche Idee noch ganz fremd war (bei Origenes, Contra Celsum 6,42). In seiner Jugend hatte Porphyrios noch Sarapis/Pluton als Fürsten der Dämonen gesehen48. Auch Hekate erscheint als Herrin der Dämonen49. L. J Röhrichs Feststellung, der T. sei erst christl., ist daher insgesamt etwas zu vereinfacht50.
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Entfernter teufelsähnliche Figuren kennen auch andere Religionen, so das vedische Pantheon Rudra, den dunklen ,Außenseiter‘ des Kultsystems (ähnlich dem T. wird er mit Kreuzwegen [J Wegkreuzung] verbunden)51. Bei ihm wie dem späteren Weltzerstörer S´iva bleiben Züge, die auch dem christl. T. zu eigen sind, noch in eine einzige Gottheit integriert. J Trickster werden in monotheistischen Kontexten oft als T. interpretiert. So nimmt der germ. J Loki in manchen ma. Überlieferungen Züge eines T.s an und wird z. B. in der Snorra Edda (71⫺74; J Edda) zum Verursacher alles Bösen und Erzstörenfried in der Welt der Götter. Inwieweit diese Entwicklung vom Christentum abhängig ist, bleibt in der Forschung umstritten52. Auch andere Trickstergestalten wurden in einer Außenperspektive oft als T.sfiguren mißverstanden, z. B. bei den Samojeden53. Aber selbst Hochgötter können mit dem T. identifiziert werden, so auf Teneriffa die Gottheit, die im Pico de Teide ihren Wohnsitz hat54. Eine andere Gruppe von Göttern, die häufig mit dem T. identifiziert wurden, sind Todesgötter und Unterweltsfürsten. Im Buddhismus wird der alte Todesgott Ma¯ra zum exemplarischen Versucher J Buddhas und seiner Anhänger. Aus diesen Quellen wird er in viele asiat. (chin., jap., korean., mandschur.) Mythologien übernommen (chin.: Molo)55, fast immer als dämonischer Versucher und oft mit dem Beinamen ,der Böse‘. Auch in märchenähnlichen Texten (Ja¯taka, num. 40)56 ist er eine wichtige Figur, die in erschreckenden und libidinösen Verwandlungen auftritt (z. B. in Affinität zur Figur des dummen T.s). Autochthone Totengötter wie der mongol. Erlig qagan und der tibet. gS´in-rje nähern sich in buddhist. Interpretation der Figur eines Höllenfürsten an, sind aber nicht böse, eher zornig57. Sie haben daher nur begrenzt Ähnlichkeit mit dem T., dem sie jedoch ikonographisch zuweilen nahestehen. Das Sächs. Taufgelöbnis (8. Jh.) setzt die germ. Götter Donar, Wotan und Saxnot mit den ,dioboles‘ gleich. Bis ins 19. Jh. wurden im Missionskontext viele Figuren paganer Mythologien mit dem T. identifiziert58. Das zusammenfassende Geschichtswerk des aztek. Christen Domingo Francisco de San Anto´n Mun˜o´n Chimalpahin Cuauhtlehuanit-
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zin (1579⫺ca 1660) qualifiziert Götter wie Huitzilopochtli als diablo (span. Lehnwort im aztek. Text)59. Der Geist Cheepi der nordamerik. Indianerstämme (Algonkin) wurde durch die europ. Siedler des 17./18. Jh.s als ,T.‘ interpretiert60, ebenso der Tarneq der Inuit oder die gehörnte Donogaotmaske der Seneca, aber auch von christianisierten Indianern selbst61. Der hawaiian. Meeres- und Unterweltgott Kanaloa (Maori: Tangaroa-i-te-po), der Vergnügen daran fand, Böses zu tun62, galt christl. Missionaren als Satan, wohl auch, weil er in den Mythen öfters in Opposition zum Schöpfergott Kane tritt63. Ethnologie und Religionswissenschaft haben solche Vergleiche autochthoner Figuren mit dem T. seit dem späten 19. Jh. meist energisch zurückgewiesen64. Dabei haben sie jedoch gelegentlich die christl. Vorstellungen als dualistisch entstellt und in der Folge eine überzogene Differenz zwischen christl. und nichtchristl. Mythologien konstruiert, also auch ihrerseits eine koloniale Überlegenheitsattitüde eingenommen (J Kolonialismus). In manchen Fällen haben auch nichtchristl. Erzähler im Schatten des Christentums die T.sfigur direkt übernommen und z. T. polemisch gegen die europ. Einwanderer gewendet65. Im christl. Diskurs schwankt die Interpretation paganer Götter zwischen einer Identifikation mit heilvollen Mächten (Lehre von der praeparatio evangelica) oder mit Dämonen. So kann in der Alten Kirche der griech. J Zeus gleichermaßen mit Gott wie mit dem T. identifiziert werden. Schon der neutestamentliche T.sname Beelzebul (später Beelzebub) stammt aus einem Götternamen, dem ekronit. Baal Zebub (2. Kön. 1,2⫺3,6,16), dessen Name (vielleicht nur volksetymol. oder als Heilgott) ,Herr der Fliegen‘ bedeutet (cf. Zeus apomyios)66. Vergleiche des T.s mit anderen religionsgeschichtlich relevanten Figuren haben zwar nur begrenzten heuristischen Wert, können aber doch Interpretationsvorgänge zwischen Religionen erhellen. Solche Gleichsetzungen mit dem christl. T. sind nicht ,wahr‘ oder ,falsch‘, sondern primär selbst ein Faktum der Geschichte populärer interreligiöser Deutungen. Mythol. Figuren, die ein vorweltliches Chaos verkörpern (z. B. babylon. Tia¯mat), sind meist nicht ,aktiv‘ genug, um als T.sfiguren gelten zu können. Anders dagegen ist die
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jüd. Mythologie um Liwjatan (J Leviathan) und Behemot zu sehen, die gelegentlich als Dämonen gelten (Liwjatan als T. auch christl.: Isidor von Sevilla, Etymologiae 8,11,27). Noch John Milton unterscheidet Satan von der Anarchin Chaos (Paradise Lost 2, 895⫺1055). 3 . D er T. im po pu lä re n E rz äh lg ut. Der T. gehört zu den am häufigsten vorkommenden Figuren der populären Erzählkultur in Europa und in vielen außereurop. Ländern67. Er steht in einer bis ins frühe MA. reichenden christl. Tradition und ist in allen Erzählgattungen präsent68. T.serzählungen spielten in den konfessionellen Auseinandersetzungen der Reformation und Gegenreformation genauso eine Rolle wie in der Zeit der Aufklärung, in der die Kritik an Figuren wie dem T. einsetzte69. Trotzdem waren der Glaube an den T. ebenso wie entsprechende Volkserzählungen im 19. und teilweise noch im 20. Jh. sehr verbreitet. Der T. dient zur ironisch-satirischen Geißelung menschlicher Schwächen. In dieser Funktion ist der T. nicht mehr ,der Böse‘, sondern ,das Böse‘70. Er verkörpert das Schlechte, Häßliche, Abgründige und ist daher als „Superlativ alles Bösen“71 „die große Schreckensfigur der europäischen Erzählkulturtradition“72. Er personifiziert die Gefährdung des menschlichen Daseins (J Personifikation)73. Dementsprechend ist der T. eine außerordentlich komplexe, in sich widersprüchliche und durch kulturelle Prozesse sich laufend verändernde Figur. Wurde er in MA. und früher Neuzeit vielfach zu religiöser Unterweisung benutzt, so avancierte er im Prozeß der Modernisierung zum Inbegriff für Unaufgeklärtheit und Dummheit. 3 .1 . P hä no me no lo gi e. In Erzählungen wird meist von einem T. gesprochen, obwohl die Vorstellung besteht, daß es viele unterschiedliche ⫺ männlich imaginierte ⫺ T. gibt. Über die Zahl der T. herrscht Unklarheit; entsprechend unterschiedlich sind die genannten Größenordnungen74. Dabei gibt es junge und alte, große und kleine sowie unterschiedlich mächtige T. Sehr verbreitet ist die Vorstellung, daß der T. eine Familie mit Frau(en), Kindern, Mutter, Schwieger- und Großmutter besitzt (J T.s Mutter, T.s Großmutter). Die ⫺ im
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kirchlichen Diskurs absurde ⫺ Rede von des T.s Mutter ist erstaunlich verbreitet; analog der Marienfigur neben dem ,strengen‘ Christus ist sie im Märchen oft gutmütig und steht Bedrängten bei. Neben weitere Namen des T.s treten Umschreibungen (der Feind, der Schwarze, der Böse). Aus J Tabugründen ist die Zahl der Ersatznamen größer als für jede andere Erzählfigur, dt. etwa Gottseibeiuns, der Leibhaftige, Meister Urian, der alte Griesgram, de ole Jong, Junker Voland75. In manchen Sprachen heißt er Schelm (dän. Drolen, altisl. skelmir). Manche Soziolekte kennen spezifische Tabunamen (engl. Davy Jones in der Seefahrt). J Euphemismen sind nicht selten, z. B. neugriech. ,der gute Mensch‘ (ho kalos anthropos) bzw. ,der Geliebte‘ (ho katakalos), ebenso Entstellungen (dt. Deibl, Deuker etc.; frz. diacre; poln. diacheł, skrzabeł). Letztere werden bes. häufig im J Fluch gebraucht, denn den T. beim Namen zu nennen führt dazu, daß er sogleich erscheint, es sei denn, man fügt „Gott behüte und bewahre uns!“ oder eine andere Abwehrformel (J Abwehrzauber) hinzu. Viele ältere Bezeichnungen (z. B. Lindwurm) und metaphorische Komposita wie z. B. Ehe-T., Fluch-T., Sauf-T., die durch die protestant. T.literatur des 16./17. Jh.s Verbreitung gefunden hatten, sind weitgehend vergessen. Die Erscheinungsform des T.s, die sich im Hochmittelalter in Anlehnung an antike Vorbilder allmählich entwickelte76, ist in Erzählungen sehr variabel77. Z. B. treten J Tod und T. als austauschbare Figuren auf (u. a. AaTh/ ATU 330 A: cf. J Schmied und T.)78. Als Inbegriff für Häßlichkeit besitzt der T. Hörner, Schwanz, Hakennase, kleine Flügel; er ist haarig, hat feurige Augen, einen Pferdefuß, hinkt und stinkt (Mot. G 303.4⫺G 303.5)79. Er reagiert empfindlich, wenn er verunglimpft oder absichtlich häßlich dargestellt wird: Einen Maler, der Maria bes. schön und ihn bes. häßlich gemalt hat, stürzt der T. vom Gerüst (Tubach, num. 3573)80. Grundsätzlich läßt sich zwischen schwarzen und weißen T.n unterscheiden, solchen, die in eigener dämonischer Gestalt erscheinen und solchen, die als Mann oder Frau oder überhaupt in Verkleidung oder J Verwandlung auftreten81. Der T. ist dafür berüchtigt, daß er
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sich in nahezu jedes Lebewesen oder Objekt transformieren kann. Häufig tritt der T. in menschlicher Gestalt auf, wobei er das Aussehen konkreter Personen (z. B. Ehemann, Mönch) perfekt zu imitieren versteht, ohne selbst einen festen Körper zu besitzen82. Charakteristisch ist überhaupt die Maskerade, die jedoch oft durch verräterische Merkmale durchschaubar wird. Er verrät sich oft, indem sein Pferde(Bocks-, Geiß-, Ochsen-, Krähen-)fuß oder seine unter dem Hut verborgenen Hörner entdeckt werden oder wenn Flammen aus seinem Mund (Nasenlöcher) züngeln oder Bocks- bzw. Schwefelgestank zurückbleibt. Als Karten- oder Würfelspieler wird er zufällig erkannt, als eine Karte herunterfällt und unter dem Tisch sein Pferdefuß sichtbar wird83. Zweifel treten auf, wenn der schwarz gekleidete Unbekannte weder ißt noch trinkt, überraschend auftaucht oder verschwindet und niemandem bekannt ist. Der T. begegnet ferner in der Gestalt des feurigen Liebhabers, hübschen Tänzers, Pfeifers (ATU 570*: J Rattenfänger von Hameln), eleganten Herrn, erfolgreichen J Spielers oder wilden Jägers (J Wilde Jagd). Für J Musik und J Tanz gilt: „Wo Tanz ist, da ist der Teufel.“84 Verführerisch nähert er sich jungen Mädchen in Gestalt eines attraktiven Manns und exzellenten Tänzers und entführt seine Partnerin gegen J Mitternacht von der Tanzfläche; hierzu gibt es auch Beispiele im rezenten Erzählgut85. Erscheint er dagegen in deformierter Gestalt, so besitzt er einen kürzeren Arm, geht quer, blickt wie ein Schwein, ist riesengroß oder zwergenklein. Die meisten Attribute, mit denen sich der T. vom Menschen unterscheidet, weisen ihn als mißgestaltet, tierisch oder lasterhaft aus. In Gestalt von Tieren bevorzugt der T. Katze, Hund (Pudel), Ziegenbock, Pferd, Schwein und Henne, wobei es sich häufig um schwarze Exemplare (J Farben, Farbsymbolik) handelt. Unter den wilden Tieren wählt er Rabenvögel sowie Maus, Frosch, Hase, Wolf, Schlange und vor allem den J Affen aus, der als des T.s mißratene Kopie des Menschen gilt86. Der T. kann sich jedoch nicht in einen Esel verwandeln, da dieser das Jesuskind getragen hat (cf. ATU 750 E: Flight to Egypt), und er vermag nicht die Gestalt von Taube
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oder Lamm (Schaf) anzunehmen, da es sich um christl. Symbolfiguren handelt87. Der T. der Volkserzählung lebt und wirkt nahezu überall auf der Erde, bevorzugt jedoch numinose oder unwirtliche Orte wie den Wald oder sumpfige oder felsige Gebiete. Bestimmte Orte (Einöden, Ruinen, Friedhöfe) sind mit dem T. verbunden (seltener die freie Natur). Ähnliches gilt für bestimmte Zeiten (Walpurgisnacht, Zeit zwischen den Jahren, Mitternacht u. a.). Der T. zeigt sich bes. an liminalen Zeiten und Orten oder bei Situationen des Übergangs zwischen Leben und Tod, Natur und Kultur (J Grenze). Er hält sich aber auch in unmittelbarer Nähe zu den Menschen auf, in deren Häusern und sogar in der Kirche. Seine eigentliche Heimat ist die Hölle, ein mit großen Ängsten besetzter Ort, dessen konkrete Beschaffenheit und Ausstattung (z. B. T.s Küche, beheizte Kessel) meist nur vage beschrieben werden88. Die T. fühlen sich in der Hölle wohl, Rauch und Gestank stören sie nicht, man hört sie singen, sie freuen sich über die Qual der Verdammten, und sie vergnügen sich mit Karten- und Kegelspiel89. Das Wirken des T.s soll vielfältige Spuren in Stein, Erde oder an Gebäuden hinterlassen haben. Dabei handelt es sich angeblich um Abdrücke von Krallen, Fingern, Zehen, Klauen, Gesäß und Fuß- oder Hufspuren (cf. J Jungfernsprung). Wo der T. getanzt hat, ist das Gras eingedrückt, verbrannt und wird nach einigen Tagen rot90. Unnatürlich wirkende Felsformationen werden ätiologisch als der T. selbst, als dessen Zehe, Flasche, Würfelspiel, Backtrog, Tisch, Lehnstuhl oder Kanzel gedeutet. 3 .2 . Z en tr al e Mot iv e u nd Er zä hl f un kt io ne n. Die Vielfalt der Motive, in denen der T. in unterschiedlichsten Funktionen in Erscheinung tritt, ist in ihren regionalen, sozialen und zeitlichen Akzentuierungen nahezu unüberschaubar und nur annähernd erfaßt (cf. Mot., Reg. s. v. Devil, bes. Mot. G 303 sqq., ferner Mot. C 12, D 210⫺219, M 211⫺218). Systematisierungsansätze sind regional oder motivlich beschränkt91. Der internat. Typenkatalog ATU hat unter Religious Tales eine eigene Kategorie The Devil (ATU 810⫺ATU 826) eingeführt, andere Typenkataloge haben T.ssagen sowie weitere T.serzählungen in einer
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eigenen Rubrik92 oder in alphabetischer Folge (z. B. Tubach, num. 1527⫺1665) zusammengefaßt. Dabei sind gattungs- und genrespezifische Unterschiede zu beachten93, wobei sich auch religionsgeschichtliche Probleme ergeben. Stärker der Theologie verhaftet sind T.sgestalten im geistlichen Volksschauspiel, der didaktischen Exempelliteratur und teilweise der Sage, während der T. des Märchens und der Schwankerzählung davon weit entfernt ist94. Der extreme Gegensatz zwischen Gott und T. wird in vielen Sprichwörtern aufgegriffen95. Ein wichtiges Thema sind die J Erdenwanderungen von Gott und T. und daraus resultierende Konflikte. So beklagt sich z. B. der T. über die Ungerechtigkeit der Menschen, da er für alle Fehler Gottes verantwortlich gemacht werde und Gott den Dank erhält, wenn er Gutes tue (AaTh/ATU 846: J Gott und T. auf Wanderschaft). Wo der T. mit Gott als Schöpfer konkurriert (J Schöpfung), ist er stets der Unterlegene96. Die vom T. erschaffenen Tiere wie etwa Affe, Ziege oder Wolf gelten als mißlungene bzw. minderwertige Kreaturen (ATU 773: Contest of Creation between God and the Devil). Konfrontiert man das populäre Erzählgut mit dem kirchlichen Modell, fällt der stark dualistische Grundzug in vielen Erzählkulturen auf, vor allem im slav. und südosteurop. Raum97. Man hat hierin eine Nachwirkung bogomil. und kathar. T.slehren sehen wollen (T.sname altruss. daher häufiger Satanael). Sicher konstatiert werden kann jedoch nur der Unterschied zur kirchlichen Lehre (T. als J Schatten Gottes)98. Viele Legenden und hist. Sagen erzählen, wie Menschen vom T. geholt werden (J Pfaffenköchin, J T.sbraut), was immer mit brutaler Gewalt geschieht. Durch den T. kann man in den Besitz übernatürlicher Kräfte und auf diese Weise zu J Reichtum, Macht, seltenen Gütern und Wissen gelangen. Voraussetzung dafür ist der T.spakt, wodurch die J Seele dem T. verschrieben wird, der sie nach einer bestimmten Frist zu holen versucht99. Häufig nutzt der T. eine Notlage, um gegen die Verschreibung der Seele seine Hilfe anzubieten, oder er wird durch Anrufung seines Namens oder Verwendung eines Zauberbuchs (J Faust) herbeizitiert100. Bes. J Schatzsucher
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versuchen sich der Hilfe des T.s zu bedienen. Dagegen versucht er als Schatzhüter, die Schatzgräber zu erschrecken oder irrezuführen. Er verursacht schlechte Witterung und Krankheiten, kann Menschen bis zum J Selbstmord treiben, verführt zu unchristl. Lebenswandel und ist für allerlei Schabernack und Spuk verantwortlich. Immer sucht der T. nach Möglichkeiten, Gewalt über Seelen zu erlangen. Er will Menschen durch Betrug und Verführung vom christl. Lebenswandel abbringen. Sorgfältig registriert er menschliche Verfehlungen (AaTh/ATU 826: J Sündenregister auf Kuhhaut) und scheut vor der Entführung ungetaufter Kinder101 nicht zurück. Am Sterbebett versucht er, dem Engel im letzten Moment die Seele des Sterbenden zu entreißen (AaTh/ATU 808, 808 A: J T. und Engel kämpfen um die Seele), und verstümmelt sterbende Sünder so, daß sie nicht mehr beichten können. Letztere werden meist gerettet, da sie ihre J Reue mit dem Herzen oder mit Gesten bekunden können (Tubach, num. 4902, 4903). Grundsätzlich erweist sich der T. gegenüber Menschen, die in ihrem Glauben gefestigt sind, als weitgehend machtlos102. Während die Kirche den T. mit Exorzismen, Gebeten und Segnungen vertreibt, wird der T. in der Sage auch durch J Glockengeläut, den Sonnenaufgang, geistliche Lieder u. a. verjagt, oft auch einfach durch das J Kreuzzeichen, ein J Gebet, geweihte Gegenstände (Weihwasser, Rosenkranz, Medaillen, Johanniswein) oder die Bitte um göttlichen Beistand (Beistand der Heiligen). Außer mit kirchlichen Hilfsmitteln kann der T. jedoch auch durch J List besiegt werden. Dabei wird der T. vor allem als dümmlich und letztlich machtlos dargestellt103. Weit verbreitet sind Erzählungen über den geprellten T., den man überlisten und durch christl. Mittel in Schach halten kann104 oder der mit Hilfe seiner eigenen Großmutter getäuscht (z. B. AaTh/ATU 461: Drei J Haare vom Bart des T.s) und um die versprochene Seele gebracht wird (z. B. AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände)105. In der verbreiteten Sage über den T. als Lehrmeister in ,Schwarzen Schulen‘ bleibt er ohne den erhofften Ertrag, da der letzte Schüler, der ihm zum Lohn gehören soll, entkommt, indem er ihm seinen Schatten überläßt106. Im Schwankmärchen von der J
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Ernteteilung (AaTh/ATU 1030) zwischen Bauer und T. verliert der T., weil er nicht über die Beschaffenheit der Feldfrüchte Bescheid weiß. Viele J Wetten und Zweikämpfe verliert der T. durch J Täuschung und Bluff 107. Manchmal verspricht oder verkauft der Vertragspartner des T.s diesem unwissentlich sein Kind (J Kind dem T. verkauft oder versprochen), weil er nicht weiß, worum es bei dem Abkommen geht (J Erster, Erstes, Zuerst; J Jephtha). Nur scheinbar gerät ein so versprochener Mensch in die Gewalt des T.s, vielmehr wird er im letzten Augenblick gerettet, indem er sich durch seinen Glauben oder christl. Mittel zu schützen weiß. Mitunter bietet sich der Vater ersatzweise an, wobei er sich vom T. magische Objekte ausbedingt, mit deren Hilfe er den T. so lange prügelt, bis dieser auf die Seele verzichtet108. Der T. taucht häufig dort auf, wo übermenschliche Kräfte im Spiel scheinen. So ist er in vielen Sagen J Baumeister großer Kirchen, Brücken, Burgen, Mauern oder Treppen109. Bei Kirchen glaubt der T., er baue ein großes Wirts- oder Freudenhaus, und erkennt die wahre Bestimmung des Gebäudes erst, als ein Kreuz auf den Turm gesetzt wird110. Wo der Bauherr einen Pakt mit dem T. eingeht, z. B. beim Bau der Regensburger Brücke111, wird dieser in der Regel um die als Lohn versprochene Seele geprellt, da statt eines Menschen ein Geißbock (Hund, Hahn) als erstes Lebewesen über die Brücke getrieben wird (AaTh/ ATU 1191: J Brückenopfer). Häufig verliert der T. seinen Anspruch auf die Seele, weil er die Aufgabe nicht termingerecht (Tagesanbruch) beendet (cf. J Hahn, Huhn). Beim Versuch des T.s, große Steine gegen Kirchen zu werfen, fängt Gott (Heiliger, Engel) sie ab, oder der vorzeitige Tagesanbruch läßt die Kraft des T.s erlahmen. Auch für schlechte Witterung und daraus resultierende Katastrophen wie Überschwemmungen wird der T. verantwortlich gemacht112. 3 .3 . E rz äh lg at tu ng en. In Sagen ist der T. als Inkarnation alles Bösen die Kontaminationsfigur schlechthin113. In sagenhaften Geschichten von heute spielt der T. jedoch nur noch eine sehr geringe Rolle114. In Zauber- und Schwankmärchen hat der T. eine erhebliche und mit der Sage weithin ver-
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gleichbare Bedeutung. Als menschenfressendes Ungeheuer oder furchterregendes Wesen tritt der T. selten in Erscheinung (J Menschenfleisch riechen). Häufiger bedient er sich der mit ihm Paktierenden, um an andere Seelen zu gelangen (AaTh/ATU 360, 1697: J Handel mit dem T.), oder er scheitert trotz Drohungen und Bestechungen (AaTh/ATU 1130: J Grabhügel). Die J Rätsel des T.s (AaTh/ATU 812) lassen sich lösen. Öfter agiert der T. ebenso wie vergleichbare Wesen (J Dev) in der Rolle eines J Helfers. Ein Märchenheld tritt als Knecht sogar freiwillig in den Dienst des T. s., wobei es ihm Vergnügen bereitet, in der Hölle seinen ehemaligen Vorgesetzten kräftig einzuheizen (AaTh/ATU 475: J Höllenheizer). Exempel und Legenden warnen vor den Verführungen des T.s115. Wer die Zehn Gebote (J Dekalog) übertritt oder gegen die gesellschaftlichen Normen handelt, muß mit dem T. rechnen116. Sonn- und Feiertagsfrevler (J Frevel, Frevler) werden vom T. geneckt, bedroht oder entführt117. Der T. soll das Kartenspiel (Kartenschlagen) erfunden haben, um den Menschen eine Alternative zum Evangelium zu geben118. Zudem ist der T. Anstifter verwerflicher Liebesverhältnisse. Unvorsichtig ausgesprochene Flüche oder J Verwünschungen können dazu führen, daß der T. diese Wirklichkeit werden läßt119. Gebote und Tabus werden durch das strafende Eingreifen des T.s sanktioniert, so daß er als Vollstrecker des schlechten Gewissens gilt120. Während die frühen Legenden meist mit J Erlösung enden, nehmen die Partner des T.s seit dem späten MA. häufig ein schlechtes Ende121. T.sbündner können sich aber retten, wenn der T. die Wünsche nicht erfüllen kann oder sich austricksen läßt. Zudem greift die Gottesmutter häufig helfend gegen den T. ein122. Über den T. existieren unzählige Sprichwörter und Redensarten123. Er wird auch hier als Verkörperung allen Übels angesehen. Öfter wird der T. allerdings auch in seiner Machtlosigkeit vorgeführt und als furchtsamer, armer oder dummer T. apostrophiert. In neuerer Zeit schlägt die Konnotation des T.s mitunter in Bewunderung um (,T.skerl‘). In populären Schauspielen, Bräuchen und Figuralprozessionen taucht der T. seit dem späten MA. ⫺ durch furchterregende Ge-
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sichtsmasken visualisiert124 ⫺ häufig auf 125. In der Fastnacht, die als J Verkehrte Welt verstanden worden ist, übernahm der T. eine Schlüsselrolle126. Zahlreiche (früh-)neuzeitliche Erzählungen berichten von fastnächtlichen Umzügen Jugendlicher, bei denen sich der T. als J Überzähliger einfindet127. In Passionsspielen und Karfreitagsprozessionen verkörpert der T. vor allem die menschlichen Anfechtungen. Szenisch taucht er im Zusammenhang mit der Versuchung Jesu, dem Sturz Luzifers, mit J Judas, Herodes, den Schächern (J Dismas der rechte Schächer) und der Hölle auf 128. Bei Nikolausspielen und -bräuchen läßt sich der T. unter verschiedenen Namen (Krampus, Swarte Pitt, Belzebock, Bartel, Semper, Hans Muff, Hans Trapp, Knecht Ruprecht) als Begleiter des hl. J Nikolaus ausmachen129. Zwischen Martinstag und Weihnachten traten die finsteren Begleiter des Nikolaus als (pädagogische) Schreck- oder Strafgestalten in Aktion130. In Weihnachts-, Paradies- und Adam-und-Eva-Spielen begegnet der T. vor allem bei der Versuchung Evas im Paradies und zusammen mit Judas Ischarioth131. Bei Krippen(spielen) erscheint der T. oft in der Szene des Bethlehemit. Kindermordes132. 3 .4 . All g. En tw ic kl un gs te nd en ze n: Dämonisierung, Entdämonisierung, Redämonisierung. Die Austauschbarkeit des T.s mit anderen Figuren impliziert zahlreiche nicht nur narratologische, sondern auch religionsgeschichtliche Probleme. Bes. Interesse hat in der Forschung die schon im 19. Jh. breit entfaltete Theorie gefunden, der T. ersetze im germ. Sprachraum ältere Riesengestalten; dabei seien zahlreiche Erzählmotive vom J Riesen bzw. J Oger auf den T. übertragen worden. Bedeutungsverschiebungen Dämon/Riese sind in einigen Sprachen nachweisbar133. Diese Theorie liegt auch der Einordnung der T.smotive (Mot. G 303 sqq.: Devil innerhalb Mot. G 0⫺G 699: Ogres) zugrunde und ist für einzelne Motivfelder ausführlich dokumentiert worden134. Religionsgeschichtlich war ein Zusammenhang Riesen/Dämonen durch Genesis 6,1⫺4 vorgegeben; er ist auch im Judentum gut bezeugt. Vergleichbar wäre die Interpretation afrik. Ogerfiguren als gˇinn in islam. Kontexten135. Viele Ogertypen (z. B. der griech.
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drakos) werden jedoch nicht mit dem T. identifiziert, so daß nach bes. Entwicklungsbedingungen zu fragen ist. Im Gegenzug sind neuzeitlich in vielen Erzähltypen für den T. andere Figuren eingetreten (J Entmythisierung), z. B. J Räuber136 oder J Unholde. Ansätze einer eigenen T.smythologie sind auch unabhängig von jeder kirchlichen Theologie entstanden. Um eine Dämonisierung handelt es sich, wenn Häretiker, Zauberer, Hexen oder Juden, selbst Aussätzige auf breiter Ebene mit dem T. verglichen wurden. Vergleichbare Tendenzen sind bis in die Gegenwart festzustellen. Heute werden u. a. Ritualmörder, Massenmörder, Altnazis, Waffenoder Drogenhändler und ähnliche Figuren dämonologisch aufgeladen und als T. bezeichnet. Die ,Verteufelung‘ von Menschen kann zur Metapher absinken, aber auch ganze Völker oder sonstige Gemeinschaften treffen. Selbst Leo XIII. bezeichnete den Bund der J Freimaurer als ,Satans Reich‘ (Enzyklika Humanum genus, 1884). Die ältere T.sbündnersage geht im 19. Jh. in die bürgerliche J Satanismus-Angst über, die im späten 20. Jh. in den USA zeitweise panisch-epidemische Strukturen angenommen hat und auch nach Europa übergriff 137. 4 . H is t. Sc hi ch tu ng un d For sc hu ng sf ra ge n. In der Figur des T.s werden wechselhafte abendländ. Interpretationen des Bösen sichtbar, die sich in Lit. und Kunst spiegeln138. Daß der T. zu allen Zeiten gleichermaßen Objekt der Angst gewesen wäre, ist fraglich139. Universalhist. Deutungen (Spätmittelalter als ,Zeit der Angst‘ vor dem T. durch gesteigerte moraltheol. Culpabilisation der Gläubigen) entziehen sich oft der Verifizierbarkeit. Da eine profunde Gesamtdarstellung des Phänomens T. in der Erzähltradition fehlt, bleiben Fragen bezüglich des Alters, der Genese und Verbreitung von Motiven sowie des Funktionswandels und der Performanz der Erzählungen weithin ungeklärt. Röhrich gelangte 1958 zu der Einschätzung: „Christliches Gedankengut verschiedener zeitlicher Schichten, aber auch Vorchristliches und Entchristlichtes sind fast unentwirrbar vereint.“140 Röhrich brachte die damals gängige Auffassung zum Ausdruck, nach der aus vorchristl. Dämonenspuk christl. T.sspuk, aus dem Wil-
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den Heer das höllische Heer und den Riesen die T. geworden seien141. Ähnlich argumentierte auch V. Höttges: „Der Teufel ist lebendiger geblieben als sein heidnischer Vorgänger, den er aus einzelnen Landschaften (Schlesien) fast völlig vertrieben hat.“142 Damit folgt die ältere Forschung J. J Grimms Dt. Mythologie (1835): „Nirgends aber stellt sich der teufel heidnischer dar als wo er an die stelle der alten riesen getreten ist.“143 In der jüngeren Forschung wird dagegen kaum mehr ein Zusammenhang zu vorchristl. Erzählungen hergestellt. Vielmehr sieht Röhrich für die meisten Sagen „die Vorstufe in erbaulichen und warnenden Predigtexempeln“144. Neben einer präzisen soziohist. Verortung der Erzählungen richtet sich das heutige Interesse verstärkt auf die darin zum Ausdruck kommende kulturelle Bedeutung des T.s und dessen Wertigkeitswandel. So wird der T. heute meist als einer unaufgeklärten vorindustriellen Welt zugehörig betrachtet. Eine radikale Umwertung der T.sbilder, die teils gegen, teils neben die traditionellen T.sbilder traten, fand in Lit. und Kunst seit etwa Ende des 18. Jh.s statt. Schon bei William Blake und dann in der Romantik, gesteigert bei Victor Hugo, Charles Baudelaire und ähnlichen Dichtern wird der T. bzw. Luzifer zum emanzipatorischen Symbol tragischer Hybris. Auch sonst ist im Prozeß der Modernisierung durch den Verlust des Glaubens an den T. dessen Bedeutung für die Erzählkultur schon im 19. Jh. weitgehend verloren gegangen. In den bürgerlichen Erzählsammlungen des 19. Jh.s zieht der T. fast stets den kürzeren, ist im Grunde eine komische Figur145 und „dient listigen Vertretern sozial unterschiedlicher Gruppen als Spielball ihrer Interessen“146. Auch sonst tritt im populären Erzählgut die kirchliche T.sauffassung in den Hintergrund. Verbreitet ist die psychologisierende Verlagerung in einen seelischen Innenraum (T. als Schatten im Sinne C. G. J Jungs)147. Doch bleibt die Figur präsent. Romantik und Esoterik revitalisieren den T. Der Platz des T.s in den jeweiligen Konstruktionen von Wirklichkeit ist oft in hohem Maße ambivalent. Neben ungebrochenen T.sglauben treten symbolische Interpretationen, Verflüchtigung zu reinen Chiffren, aber vor allem viele Zwischenbereiche, in denen das Teuflische ⫺ ohne förmlich
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geglaubt zu werden ⫺ irritierend und destruktiv in moderne Lebenswelten eintritt148. Zeitgleich scheint der T. einen fundamentalen Funktionswandel zu durchlaufen, wie seine Präsenz in der Lit. (z. B. Thomas Manns Doktor Faustus, 1947)149 und deren Spielarten wie den Horrorgeschichten (z. B. Stephen Kings The Shadow of the Scorpion, 1978), in esoterisch-satanistischen Bewegungen und der Musik (Psychedelic Rock, Heavy Metal) belegen150. Im Film151 wird der T. als Träger des Unheimlichen und Diabolischen wiederentdeckt. In der Werbung des späten 20. Jh.s steht der T. vor allem als Chiffre für Sinnlichkeit, Egoismus und unbeschwerte Schamlosigkeit. 1 cf. allg. Felber, A./Hutter, M. u. a.: T. In: RGG 8 (42005) 179⫺195; Klein, W./Nielsen, K. u. a.: T. In: TRE 33 (2002) 113⫺147; Gerwing, M. u. a.: T. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 578⫺591; Roskoff, G.: Geschichte des T. s. Eine kulturhist. Satanologie von den Anfängen bis ins 18. Jh. 1⫺2. Lpz. 1869 (Nachdr. u. a. Stg. 1993, Köln 2003); Petzoldt, R./Neubauer, P. (edd.): Demons. Mediators between This World and the Other. Ffm. u. a. 1998; Russell, J. B.: The Devil. Perceptions of Evil from Antiquity to Primitive Christianity. Ithaca/L. 1977; id.: Mephistopheles. The Devil in the Modern World. Ithaca, N. Y. 1986; id.: The Prince of Darkness. Radical Evil and the Power of Good in History. Ithaca, N. Y. 1988; Ferreiro, A. (ed.): The Devil, Heresy, and Witchcraft in the Middle Ages. Festschr. J. B. Russell. Leiden 1998; Crispino, A. M./Giovannini, F./ Zatterin, M. (edd.): Das Buch vom T. Geschichte, Kult, Erscheinungsformen. Bindlach 1991; Di Nola, A. M.: Der T. Wesen, Wirkung, Geschichte. Mü. 1990; Pagels, E.: Satans Ursprung. Ffm. 1996; Muchembled, R.: Une Histoire du diable. XIIe⫺XXe sie`cle. P. 2000; Girard, R.: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Mü. 2002. ⫺ 2 Stietencron, H. von (ed.): Dämonen und Gegengötter. Ffm. 1984. ⫺ 3 Volz, P.: Das Dämonische in Jahwe. Tübingen 1924. ⫺ 4 Nielsen, K.: s´atøan. In: Theol. Wb. zum A. T. 7. Stg. u. a. 1993, 745⫺751; Day, P. L.: An Adversary in Heaven. S´atøan in the Hebrew Bible. Atlanta 1988; Riley, G. R.: Devil. In: Toorn, K. van der u. a. (edd.): Dict. of Deities and Demons in the Bible. Leiden u. a. 21999, 244⫺249; Breytenbach, C./Day, P. L.: Satan. ibid., 726⫺732; Forsyth, N.: The Old Enemy. Satan and the Combat Myth. Princeton 1987. ⫺ 5 Sperling, S. D.: Belial. In: van der Toorn u. a. (wie not. 4) 169⫺171. ⫺ 6 cf. Raumer, R. von: Die Einwirkung des Christentums auf die ahd. Sprache. B. 1851, 379⫺383 (Feminina für den T. wie ahd. unholda sind selten, 383). ⫺ 7 EM 3, 244; Frenschkowski, M.: Dualismus. In: Horn, F. W. u. a. (edd.): Taschenlex. Religion und
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Teufel
denzbl. des Vereins für ndd. Sprachforscher 15 (1891) 18⫺32, 44⫺48. ⫺ 96 Johns, A.: Slavic Creation Narratives. The Sacred and the Comic. In: Fabula 46 (2005) 257⫺290. ⫺ 97 Lixfeld, H.: Gott und T. als Weltschöpfer. Mü. 1971; Lex. des MA.s (wie not. 1) 591. ⫺ 98 Dh. 1, 44. ⫺ 99 Zelger, R.: T.sverträge. Märchen, Sage, Schwank, Legende im Spiegel der Zeitgeschichte. Ffm. u. a. 1996. ⫺ 100 Baader (wie not. 88) 93 sq.; Joisten/Abry (wie not. 87) 280; Schönwerth (wie not. 74) t. 3, 51 sq. ⫺ 101 Löwis of Menar, A. von: Finn. und estn. Märchen. MdW 1922, num. 15 (finn.). ⫺ 102 Janson, S.: Jean Bodin ⫺ Johann Fischart. De la De´monomanie des sorciers (1580). Vom Außgelaßnen wütigen Teuffelsheer (1581) und ihre Fallberichte. Ffm. u. a. 1980, 182; Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Stg. 1991, 201⫺211. ⫺ 103 Leyen, F. von der: Der gefesselte Unhold. In: Unters.en und Qu.n zur germ. und rom. Philologie 1. Festschr. J. von Kelle. Prag 1908, 7⫺35; Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, 144⫺167. ⫺ 104 Wünsche, A.: Der Sagenkreis vom geprellten T. Lpz./Wien 1905 (Nachdr. Lpz. 1975). ⫺ 105 Kippar, P.: Eesti loomamuinasjuttude vahekorrast vanapagana-muinasjuttudega (Das Verhältnis der estn. Tiermärchen und der T.smärchen). In: Rahvaluulest. ed. H. Ahven/I. Sarv. Tallinn 1987, 57⫺ 75. ⫺ 106 Christiansen, Migratory Legends, num. 3000; EM 11, 1239 sq. ⫺ 107 cf. z. B. Cammann, A.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien. Göttingen 1967, 281⫺283; Schönwerth (wie not. 74) t. 2, 251 sq., 274 sq.; t. 3, 76 sq. ⫺ 108 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, 107 sq.; Lox, H.: Der personifizierte Tod in den Volksmärchen unter bes. Berücksichtigung des Erzählkomplexes ,Schmied und T.‘ (AaTh 330). In: Tod und Wandel im Märchen. ed. U. Kammerhofer. Salzburg 1990, 85⫺106. ⫺ 109 Boberg; Dünninger, J.: Fränk. Sagen vom 15. bis zum Ende des 18. Jh.s. Kulmbach 1963, 79⫺83; Höttges. ⫺ 110 [Aurbacher, L.:] Ein Volksbüchlein 2. ed. J. Sarreiter. Lpz. 1879, 126. ⫺ 111 Böck, E.: Regensburger Stadtsagen, Legenden und Mirakel. Regensburg 1982, 277 sq.; Schöppner, A.: Sagenbuch der Bayer. Lande 1. Mü. 1852, num. 113. ⫺ 112 Balys (wie not. 30); Höttges, 276. ⫺ 113 Röhrich (wie not. 50) 295; Fielhauer, H. und H. (edd.): Die Sagen des Bezirkes Scheibbs. Scheibbs 1975, 197⫺213; Haller, R.: Grünhütl. T.ssagen aus dem Bayer. Wald. Grafenau 1978; Petzoldt, L.: Dt. Sagen. Stg. 1977, bes. 80⫺93; id.: Dt. Volkssagen. Mü. 21978, 278⫺295, 451⫺458; Röhrich, L.: Die dt. Volkssage. In: Studium Generale 11 (1958) 664⫺691, hier 670 sq.; Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1966, 280⫺316. ⫺ 114 Fischer, H.: Der Rattenhund. Köln/Bonn 1991, 26⫺28; Herrera-Sobek (wie not. 85); Klintberg, B. af: Die Ratte in der Pizza und andere moderne Sagen und Großstadtmythen. Kiel 1990, 243⫺245. ⫺ 115 Vooys, C. G. N. de (ed.): Middelnederlandse legenden en exempelen. Groningen/Den Haag 1926, 159⫺198;
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Levy, B. J.: Black Humour. The Role of the Devil in the Fabliau. In: Atti del V colloquio della Internat. Beast Epic, Fable and Fabliau Soc. Alessandria 1987, 129⫺146; Matuszak, J.: Das Speculum exemplorum als Qu. volkstümlicher Glaubensvorstellungen des SpätMA.s. Siegburg 1967, 37⫺45. ⫺ 116 Schmidt, L.: Der Hochmut des zu hohen Hutes. Eine T.ssage bei Karl Heinrich Waggerl. In: Jb. für Vk. N. F. 3 (1980) 37⫺46. ⫺ 117 cf. z. B. Joisten/Abry (wie not. 87) 54, 130, 176, 205, 244, 265, 272; Zender (wie not. 113) num. 858⫺860, 943, 944. ⫺ 118 Schönwerth (wie not. 74) t. 3, 43. ⫺ 119 Baader (wie not. 88) 230. ⫺ 120 Röhrich (wie not. 73) 176 sq. ⫺ 121 id. (wie not. 50) 256. ⫺ 122 z. B. Hahner, G.: Der Exempelgebrauch im Lauretanum Mariale des Laurentius Lemmer. Würzburg 1687. Würzburg 1984, num. 25⫺27, 36, 62, 63, 65, 74, 92, 99, 100, 102, 127, 128, 179. ⫺ 123 Röhrich, Redensarten 3, 1608; cf. Acker, A. van: De duivel in spreekwoorden en gezegden. Kortreijk-Heule 21977. ⫺ 124 Mezger, W.: Das große Buch der schwäb.-alemann. Fasnet. Stg. 22001, 12; id.: Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Konstanz 1991, 39, 107; Schicht, J.: Schemen, Masken, Larven. Konstanz 2007, 4⫺19. ⫺ 125 Bomke, W. F.: Die T.sfiguren der mittelengl. Dramen. Ffm. u. a. 1990; Rudwin, M. J.: Der T. in den dt. geistlichen Spielen des MA.s und der Reformationszeit. Göttingen 1915; Schicht (wie not. 124). ⫺ 126 Brant, S.: Das Narrenschiff. Basel 1494, Kap. 20; Mezger 1991 (wie not. 124) 102⫺131; id. 2001 (wie not. 124) 10⫺12; Moser, D.-R.: Fastnacht ⫺ Fasching ⫺ Karneval. Graz/Wien/Köln 1986, 205⫺231. ⫺ 127 Deneke, B.: Materialien aus dem Umkreis der Sage vom Überzähligen. Versuch einer Sichtung. In: ZfVk. 57 (1961) 195⫺229. ⫺ 128 Henker, M./Dünninger, E./Brockhoff, E. (edd.): Hört, sehet, weint und liebt. Passionsspiele im alpenländ. Raum. Mü. 1990, 29 sq., 49 sq. ⫺ 129 Schuhladen, H.: Die Nikolausspiele des Alpenraumes. Innsbruck 1984; Mezger, W.: St. Nikolaus. Zwischen Kult und Klamauk. Ostfildern 1993, 124 sq. ⫺ 130 ibid., 151⫺174. ⫺ 131 Kretzenbacher, L.: Schlangenteufel und Satan im Paradeisspiel. In: Schmidt, L. (ed.): Masken in Mitteleuropa. Wien 1955, 72⫺93; Bausinger, H. (ed.): Schwäb. Weihnachtsspiele. Stg. 1959, 58; Pausch, O.: Das Wildalpener Paradeisspiel mit einem Postludium. Vom Jüngling und dem T. Wien/Köln/Graz 1981. ⫺ 132 Pfistermeister, U.: Barockkrippen in Bayern. Stg. 1984, 135; Schubert, K.: Das Alt-Egerer Krippentheater. Mü. 1986, 99⫺108. ⫺ 133 cf. Lokotsch, K.: Etymol. Wb. der europ. Wörter […] oriental. Ursprungs. Heidelberg 21975, 41, num. 509, Reg. s. v. dev; EM 3, 569 sq., 227. ⫺ 134 Höttges. ⫺ 135 EM 10, 245. ⫺ 136 EM 3, 227; EM 8, 1408. ⫺ 137 Frenschkowski, M.: Die Geheimbünde. Eine kulturgeschichtliche Analyse. Wiesbaden 22008, 97⫺ 106, 136⫺138. ⫺ 138 Schnierer, P. P.: Entdämonisierung und Verteufelung. Studien zu Darstellungsund Funktionsgeschichte des Diabolischen in der engl. Lit. seit der Renaissance. Tübingen 2005; Cox, J. D.: The Devil and the Sacred in English Drama,
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Teufel als Advokat
1350⫺1642. N. Y. 2000; Praz, M.: Liebe, Tod und T. Die schwarze Romantik. Mü. 41994; Kittsteiner, H. D.: Die Abschaffung des T.s im 18. Jh. In: Schuller, A./Rahden, W. von (edd.): Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen. B. 1993, 55⫺92; Brittnacher, H. R.: Der Leibhaftige. Motive und Bilder des Satanismus. Wetzlar 1999; Milner, M.: Le Diable dans la litte´rature franc¸aise de Cazotte a` Baudelaire 1⫺2. P. 1960; Holz, J.: Im Halbschatten Mephistos ⫺ Literar. T.sgestalten von 1750 bis 1850. Ffm. 1989; Spatz, I.: Die frz. T.sdarstellung von der Romantik bis zur Gegenwart. Diss. Mü. 1960; Warkentin, A.: The Devil in the German Traditional Story. Chic. 1936; Zieren, H.: Studien zum T.sbild in der dt. Dichtung von 1050 bis 1250. Bonn 1937; Osterkamp, E.: Lucifer. B./N. Y. 1979; Villeneuve, R.: Dict. du Diable. P. 1998 (populärwiss., aber materialreich). ⫺ 139 Villeneuve, J.: Le Sens de l’intrigue ou La narrativite´, le jeu et l’invention du diable. St-Nicolas 2004. ⫺ 140 Röhrich 1958 (wie not. 113) 671. ⫺ 141 ibid., 671, 678 sq.; id. (wie not. 50) 254. ⫺ 142 Höttges, 9. ⫺ 143 Grimm, Mythologie 2, 822⫺ 860, hier 852. ⫺ 144 Röhrich (wie not. 73) 177; cf. id.: Eine T.serzählung des 13. Jh.s und ihr Weiterleben bis zur Gegenwart. Exempel und Sage. In: Der Deutschunterricht 14 (1962) 49⫺68; id.: Sage. Stg. 2 1972, 2, 4. ⫺ 145 cf. exemplarisch KHM 29, 82, 125, 148, 189, 195. ⫺ 146 KHM/Uther 4, 349 sq. ⫺ 147 EM 11, 1241. ⫺ 148 Lehmann (wie not. 72) 21, 63, 144. ⫺ 149 Bleiler, E. F.: The Guide to Supernatural Fiction. Kent, Ohio 1983; Mot., Reg. s. v. Devil; Warren, A.: Devil, The. In: Joshi, S. T. u. a. (edd.): Supernatural Literature of the World 1. Westport/L. 2005, 333⫺ 335. ⫺ 150 cf. Crispino u. a. (wie not. 1) 100⫺103, 105⫺113, 113⫺127, 139⫺146, 169⫺184; ferner Bäumer, U.: Wir wollen nur deine Seele. Rockszene und Okkultismus. Bielefeld 41986; Wenisch, B.: Satanismus. Schwarze Messe ⫺ Dämonenglaube ⫺ Hexenkulte. Mainz/Stg. 1988; Lenz, P.: It Isn’t Rock’n Roll ⫺ That’s Why We Like It. Faschistische und satanistische Tendenzen des Heavy Metal im Kontext der Geschichte der Rockmusik. In: Dahl, E./ Dürkorb, C.: Rock Lyrik. Exemplarische Analysen engl.sprachiger Songtexte. Essen 1989, 188⫺212; Introvigne, M./Türk, E.: Satanismus. Zwischen Sensation und Wirklichkeit. Fbg/Basel/Wien 1995; Lehmann (wie not. 72). ⫺ 151 Bach, V.: Im Angesicht des T. s. Seine Erscheinung und Darstellung im Film seit 1980. Mü. 2006.
Hofheim Regensburg
Marco Frenschkowski Daniel Drascek
Teufel als Advokat (AaTh/ATU 821 A), unter den Legendenmärchen eingeordneter J Rechtsfall, in dem der T. einem bedrängten Menschen zu Hilfe kommt und dessen Gegenspieler mit sich nimmt:
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Ein J Kaufmann (Landsknecht, Bote etc.) gibt dem Wirt, bei dem er logiert, sein gesamtes Geld zur Aufbewahrung. Als er es später zurückverlangt, streitet der J Wirt ab, es erhalten zu haben (cf. AaTh/ATU 1617: J Kredit erschwindelt). Nach der folgenden Auseinandersetzung wird der Mann verhaftet, und ein voreingenommener J Richter will ihn zum Tode verurteilen. Im Gefängnis erbietet sich der T., ihn vor dem Galgen zu retten, wenn er ihm seine Seele verschreibe (J Teufelspakt). Obwohl der Mann ablehnt, steht der T. ihm bei, indem er vor Gericht den wahren Sachverhalt berichtet, so daß der Wirt veranlaßt wird, zu schwören, wenn seine Aussage nicht wahr sei, solle ihn der T. holen. Daraufhin packt der T. den meineidigen Wirt, um mit ihm zur Hölle zu fahren (J Eid, Meineid). Das Geld wird dem freigesprochenen Eigentümer übergeben (manchmal befreit ihn der T. erst unmittelbar vor der Hinrichtung).
Frühe Anklänge an den Erzähltyp enthalten die J Gesta Romanorum (num. 118; verbunden mit AaTh/ATU 810: J Fallstricke des Bösen), in denen ein Ritter sein Geld zurückerhält, jedoch nicht durch die Hilfe des T.s, sondern die List einer klugen Frau. Die erste bekannte Textfassung (in Versen) findet sich im Libro de buen amor (1330, num. 33) des span. Dichters Juan J Ruiz. In der frühen Exempelliteratur begegnen auch abweichende Var.n, in denen der T. zwar aufgrund eines Paktes zur Stelle ist, als sein Schutzbefohlener gehenkt werden soll. Als der Strick reißt, liefert er jedoch einen neuen, statt den Verurteilten zu retten1. Hier tritt der T. noch als unberechenbarer Menschenfeind auf, dem es nur um den eigenen Vorteil geht. Die Standardversion des Erzähltyps findet sich in dt. Sprache erstmals in dem Meisterlied Vyl dick auß poser gewonheit entspringet des Nürnberger Meistersingers Hans Folz (spätes 15. Jh.)2: Hier vertraut ein Kaufmann dem Wirt sein Geld an, als er aus Furcht vor Räubern seine Geschäftsreise unterbricht und statt dessen eine Pilgerreise unternimmt. L. J Schmidt sieht hierin einen Hinweis auf einen der Legende nahestehenden Ursprung der Erzählung3. Doch auch die Breite der Darstellung bei Folz weist auf die Adaption eines bereits vorgefundenen Stoffs hin. In den Prosaerzählungen des 16. Jh.s rückt dem betrügerischen Wirt ein Landsknecht aus Zorn über die Unterschlagung zu Leibe. Diese Version taucht erstmals in den Tischreden Martin J Luthers auf; dort lehnt auch der
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Teufel und Engel kämpfen um die Seele
Landsknecht standhaft das Ansinnen des T.s ab, sich ihm zu verschreiben. Zum Schluß warnt Luther davor, den Höllenfürsten überhaupt beim Namen zu nennen4. Mit meist geringfügig variiertem Inhalt, z. T. an Luther anknüpfend, begegnet die Erzählung im 16. Jh. dann u. a. in den lat. veröff. Tischgesprächen (1554) von Johannes J Gast(ius)5, in den Wunderzeichen von Job(us) J Fincel(ius) (1556)6, im Wunderwerck und Wunderzeichen Buch von Kaspar J Goltwurm (1557)7, in Johannes J Weyers Werk über den Dämonenglauben (1565)8 sowie im Historienbuch (1576) des Wolfgang J Bütner9. Die größte Verbreitung im 16. Jh. erfuhr der Erzähltyp jedoch wohl durch das in 40 Aufl.n erschienene Promptuarium exemplorum (1568) des Pfarrers Andreas J Hondorff 10, der die Erzählung von Fincel nachdruckte11. Im 17. Jh. ist der Erzähltyp in dem Geschichtswerk von S. J Goulart über die frz. Religionskriege (1600)12 und in verschiedenen literar. Fassungen des 16. Jh.s adaptiert, so u. a. durch J. J Praetorius13. Im 19. Jh. nahmen die Brüder J Grimm Luthers Text in ihre Dt. Sagen (num. 211) auf, und A. J Kuhn griff für seine Märk. Sagen und Märchen (1843) auf Fincel zurück14. Der Erzähltyp wurde im dt.sprachigen Raum jedoch auch aus der mündl. Überlieferung aufgezeichnet15 und als Volksschauspiel aufgeführt16. Desgleichen liegen Belege vor aus dem ndl.-fläm.17 und dem fries. Sprachgebiet18, aus England19, Dänemark20, Island21, Norwegen22, Schweden23, Finnland24, Estland25, Rußland26, Polen27, Tschechien28, Spanien29 und Portugal30. Hinzu kommen Einzelaufzeichnungen aus Mexiko31 und Brasilien32, die mit Auswanderern dorthin gelangt sein dürften. Eine größere Verbreitung scheint der Erzähltyp allerdings nur in Deutschland, Finnland und Estland gefunden zu haben. Meist erscheint der T. als Helfer Unterdrückter oder unschuldig Verurteilter, aber auch mit der Absicht, mit deren Kontrahenten in die Hölle zu fahren. Das wird in bestimmten Kontaminationen, etwa von AaTh/ATU 821 A mit AaTh/ATU 360: J Handel mit dem T., in denen den drei Protagonisten sogar ein Mord unterstellt werden soll, bes. deutlich. Daß die Opfer des T.s Kriminelle sind, verdeutlicht die didaktische Funktion dieser Erzählungen.
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1 Tubach, num. 1628. ⫺ 2 Die Meisterlieder des Hans Folz [. ..]. ed. A. L. Mayer. B. 1908, num. 32; BP 2, 566. ⫺ 3 Schmidt, L.: Der T. als Fürsprech. In: id.: Die Volkserzählung. B. 1963, 79⫺106, 373⫺375, hier 101. ⫺ 4 Doktor Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausg. Tischreden 1⫺6. Weimar 1912⫺21, num. 6809. ⫺ 5 Gastius, J.: Convivalium sermonum libri 2. Basel 31561, 127 sq. ⫺ 6 Fincelius, J.: Wunderzeichen. Wahrhafftige beschreibung und gruendlich verzeichnus schrecklicher Wunderzeichen und Geschichten 1. Jena 1556, M 8v. ⫺ 7 Goltwurm, K.: Wunderwerck und Wunderzeichen Buch [. ..]. Ffm. 1567, 129 sq. ⫺ 8 Weyer, J.: De praestigiis daemonum. Von Teuffelsgespenst, Zauberern und Gifftbereitern [. ..]. Ffm. 1586, 267 b⫺268 a. ⫺ 9 Bütner, W.: Epitome historiarum. ed. W. Steinhart. Lpz. 1596, Bl. 21 b. ⫺ 10 Hondorff, A.: Promptuarium exemplorum. Ffm. 1595, 58v⫺59r. ⫺ 11 cf. auch BP 2, 566; Schmidt (wie not. 3) 104⫺106; Rehermann, 158 sq.; Brückner, 417⫺519. ⫺ 12 Goulart, S.: Thre´sor d’histoires admirables et me´morables de nostre temps 1. Köln 1610, 283 sq. ⫺ 13 Praetorius, J.: Gazophylaci gavdivm. Das ist Ein Ausbund von Wündschel-Ruthen [. ..]. Lpz. 1667, 101⫺ 103. ⫺ 14 Kuhn, A.: Märk. Sagen und Märchen. B. 1843, num. 242. ⫺ 15 z. B. Stahl, H. [i. e. Temme, J. D. H.]: Westphäl. Sagen und Geschichten. Elberfeld 1831, 122; Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, num. 205 (⫹ AaTh/ATU 360); Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, num. 324; Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 197; Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, num. 64. ⫺ 16 Schmidt (wie not. 3) 79⫺100. ⫺ 17 Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, num. 448; Goyert, G./Wolter, K.: Vläm. Sagen, Legenden und Volksmärchen. Jena 1917, 141 sq. ⫺ 18 van der Kooi. ⫺ 19 DBF B 1, 145⫺148. ⫺ 20 Kristensen, E. T.: Æventyr fra Jylland 4. Kop. 1897, num. 54. ⫺ 21 Sveinsson 821. ⫺ 22 Hodne. ⫺ 23 Liungman, 412⫺ 414 (AaTh 1130 ⫹ AaTh 821 A); Liungman, Volksmärchen; Wigström, E.: Sagor och äfventyr upptecknade i Ska˚ne. Stockholm 1884, 94 sq.; Säve, P. A./ Gustavson, H.: Gotländska sagor 1. Uppsala 1952, num. 52. ⫺ 24 Rausmaa, SK 2, num. 60⫺63. ⫺ 25 Loorits, O.: Estn. Volkerzählungen. B. 1959, num. 156. ⫺ 26 SUS. ⫺ 27 Krzyz˙anowski. ⫺ 28 Tille, Soupis 2,2, 368 sq. ⫺ 29 Camarena/Chevalier. ⫺ 30 Cardigos. ⫺ 31 Robe, S. L.: Mexican Tales and Legends from Los Altos. Berk./L. A./L. 1970, num. 158. ⫺ 32 Romero, S.: Folclore brasileiro 2. ed. L. da Caˆmera Cascudo. Rio de Janeiro 31954, 174⫺178.
Rostock
Siegfried Neumann
Teufel und Engel kämpfen um die Seele (AaTh/ATU 808, 808 A), Legendenmärchen über bußfertige Sünder (J Sünde), die sich für
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Teufel und Engel kämpfen um die Seele
eine einzige zu Lebzeiten begangene gute Tat den Eintritt ins J Paradies erwerben. Die beiden thematisch eng verbundenen, typol. z. T. unterschiedlich eingeordneten Erzählungen dienen der Bestätigung der von kirchlicher Seite nicht gestützten Ansicht, daß ein einziges gutes Werk der J Seele den Weg zum Himmel öffne. Solche Vorstellungen (J Jüngstes Gericht, J Jenseitsvisionen) werden seit alters ⫺ in Europa bes. seit dem Hochmittelalter ⫺ thematisiert. Sie haben sich vor allem im weitverbreiteten Bild der J Seelenwaage, Symbol der J Gerechtigkeit als Requisit des Totengerichts in Lit. und bildender Kunst, niedergeschlagen1. Nach der Wägung der Seele fällt die Entscheidung über den Aufenthalt der Verstorbenen in J Himmel oder J Hölle (cf. auch die Vorstellung vom J Buch des Lebens). AaTh/ATU 808: The Devil and the Angel Fight for the Soul schildert einen Wettstreit zwischen J Engel (E.) und J Teufel um die Seele ( J Dualismus): Am Totenbett eines (reichen, geizigen) Mannes streiten ein (mehrere) Vertreter der guten Werke und ein (mehrere) Vertreter der schlechten Werke um dessen Seele. Schließlich senkt sich die Waagschale durch einen Strohhalm (Gold, andere Gegenstände; Taschentuch mit Tränen des reuigen Mörders) zu seinen Gunsten, weil er einmal Gutes getan hat.
Die lange literar. Tradition geht von der griech. Legende über den geizigen Zöllner Telon(e)arius in der Vita des hl. Johannes Eleemo¯n (gest. 620) aus. Danach will der Zöllner einen aufdringlichen Bettler durch einen Stein verjagen, findet aber keinen und wirft ihm statt dessen aus Zorn ein Weizenbrot vor die Füße. Als Todkranker erlebt er das Geschehen der jenseitigen Seelenwägung in einer Traumvision, in der sein Handeln als Almosen gewertet wird. Wieder erwacht, bekehrt er sich. Die Erzählung wurde durch die J Legenda aurea2 weiter verbreitet und fand Aufnahme in zahlreiche Exempelsammlungen, wobei auch andere mirakulöse Jenseitswägungen der Seele für einen positiven Ausgang sorgen: das während des Wettstreits von E. und T. vom Sterbenden abgegebene Versprechen, zu Unrecht erworbenes Gut zurückzugeben (Tubach, num. 232), ein Tropfen vom Blut J Christi (Tubach, num. 713) oder ein Kreuznagel (Tubach, num. 1501 a). Singulär scheint ein Exempel J E´tiennes de Bourbon (num. 441) zu
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sein, in dem ein Todkranker T. und E. auffordert, um seine Seele zu streiten (Tubach, num. 1492 a). Eine Ausdifferenzierung erfährt die Thematik im Zuge der seit dem 11./12. Jh. einsetzenden Verehrung der Muttergottes und der sich ausbildenden Rolle ihrer Gnadenmittlerschaft. Als mediatrix (omnium) gratiarum sorgt Maria für eine Umkehrung der Entscheidung3. Sie legt ihre Hand auf die Waage zugunsten des Sünders (Tubach, num. 4180), der ins Diesseits zurückkehren kann, oder drei ihrer Tränen bleiben auf der Waage liegen. Die Mittlerrolle übernehmen ebenso der hl. J Michael (Tubach, num. 1511)4, der hl. Dionysius (Tubach, num. 1409)5, namenlose Heilige (Tubach, num. 4198) oder allegorische Gestalten wie Frau Buße (Heinrich von Burgeis: Der Seele Rat, Anfang 14. Jh.)6. Bes. Bedeutung erlangen auf weltliche Kristallisationsgestalten übertragene Legenden: Dem Kaiser Heinrich II. hilft der hl. Laurentius, indem er einen Goldklumpen als Zeichen für den ihm von Heinrich zu Lebzeiten gestifteten Goldkelch auf die Waage legt (Tubach, num. 1501 d)7; J Karl d. Gr. steht der hl. J Jacobus aufgrund dessen zahlreicher Kirchenstiftungen bei und beschwert die Waage mit Steinen und Bauholz (Tubach, num. 946)8. Aber selbst um die Seele eines heiligmäßigen Menschen wie J Martin von Tours entbrennt der Streit9. Die Mirakel wurden im geistlichen Spiel10 und durch Prediger des 16./17. Jh.s wie Bernhardinus de Bustis, H. J Rauscher, G. Strigenitz, C. Selhamer, D. J Wenz und J Abraham a Sancta Clara11 popularisiert. Im 19. Jh. als Legendenballaden gestaltet12, gelangten sie z. T. noch in Sagensammlungen des 19. Jh.s, unterstützt durch eine Fülle von Bildzeugnissen. In Sagen und Legenden des 19. Jh.s symbolisieren andere Requisiten das ,Gewicht‘ der guten Tat: in Anlehnung an die Telon(e)ariusLegende ein in die Waage geworfener Strohhalm13 oder ein Sack Getreide14. Ohne das Bild des ,Kampfes‘ zu gebrauchen, erfolgt oft auch nur eine Aussage über den Verbleib der Toten bei E.n oder T.n, je nachdem welche Tat(en) vollbracht worden waren. Zumeist handelt es sich nur um wenige Texte (bis auf Lettland: 11; Litauen: 8)15, was mit der oft vernachlässigten Aufzeichnung legendenhafter Texte zu tun haben könnte. Eine liv. Fassung
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Teufel und Engel kämpfen um die Seele
zeigt sozialkritische Züge (Gutsherr zum T., Kind des Armen zum E.)16. Verwandte Legendenmärchen sind unter AaTh/ATU 802 A*: His Faith into the Balance erfaßt, in denen der Tote selbst das Jenseitsgericht anruft: Als ein Geistlicher sieht, wie seine guten und schlechten Taten gewogen werden, bittet er darum, sein Schicksal im Namen Christi (Jungfrau Maria) in die Waagschale werfen zu dürfen, und ist gerettet. Affinitäten bestehen außerdem zu Legendenmärchen mit Schilderungen der Aufnahme ins Jenseits wie AaTh/ATU 750 E*: Hospitality and Sin oder AaTh/ATU 756 C: Die zwei J Erzsünder17. AaTh/ATU 808 A: The Death of the Good and of the Bad Man ist mit der weitverbreiteten Vorstellung des J Seelentiers verbunden und sporadisch aus mündl. Überlieferung des 19./ 20. Jh.s bekannt: Als ein frommer Mann stirbt, fliegt eine Biene aus seinem Mund. Ein weißer Vogel (Taube, zwei Vögel) und ein schwarzer Vogel (Rabe) streiten sich darum, der weiße Vogel bekommt sie. Als ein schlechter Mann stirbt, erhält der schwarze Vogel das ausschleichende Tier.
Das von A. J Aarne aufgrund estn. Volkserzählungen unter Typ 808* klassifizierte Legendenmärchen18 zeigte S. J Thompson zunächst als irregulären Erzähltyp (808**) an19. 1961 übernahm er ihn unter der Nummer AaTh 808 A mit Hinweis auf eine walis. und eine engl. Var., sieben estn., fünf litau., eine serbokroat. und drei griech. Fassungen. H.-J. J Uther konnte in ATU (2004) weitere Fassungen (bret., bask., fries., russ. und jüd. [aus Irak]) nachweisen20. Nicht immer bemächtigen sich die durch ihre Farbsymbolik als Vertreter des Guten charakterisierten Tiere des ausschleichenden Tiers21, sondern häufiger der sterblichen Überreste ⫺ selbst des Teufelsbündners Jack a Kent22. AaTh/ATU 808 A wird gewöhnlich selbständig überliefert. In bret. Fassungen bildet es das Schlußelement von AaTh/ATU 756 B: J Räuber Madej: Im Kampf mit einem Raben erhält die Taube die sterblichen Überreste des reuigen Räubers. E. tragen seine Seele in den Himmel23. Eine entferntere Analogie bietet ein ukr. Legendenmärchen, das vom Tod eines Gerechten und eines Sünders erzählt: Eine Taube küßt die Seele des Gerechten, ein Rabenvogel die Seele des Sünders24.
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1 Kretzenbacher, L.: Die Seelenwaage. Zur religiösen Idee vom Jenseitsgericht auf der Schicksalswaage in Hochreligion, Bildkunst und Volksglaube. Klagenfurt 1958; Wagner, F.: Mene mene tekel u-pharsin. „Gezählt, gewogen und zu leicht befunden“ (Dan. 5,25⫺28). Bemerkungen zum Motiv der Seelenwägung. In: Psyche¯ ⫺ Seele ⫺ anima. Festschrift K. Alt. Stg./Lpz. 1998, 369⫺384. ⫺ 2 Legenda aurea/ Benz, 147⫺155, hier 148 sq. ⫺ 3 cf. EM 12, 497⫺ 502; Wesselski, A.: Klaret und sein Glossator. Brünn/Prag/Lpz./Wien 1936, 79⫺81; Gulli Grigioni, E.: Il motivo della contesa nella leggende della Madonna e dei Santi. In: La drammatica popolare nella Valle Padana. Atti del 4o convegno di studi sul folklore padano […]. Modena 1977, 293⫺304. ⫺ 4 Grimm DS 512. ⫺ 5 Grimm DS 439; Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. Lpz. 1853, num. 5. ⫺ 6 Kretzenbacher (wie not. 1) 144⫺149; Verflex. 3 (21981) 706 sq. ⫺ 7 Legenda aurea/Benz, 572 sq.; Grimm DS 485; Rehermann, 154; cf. Kretzenbacher (wie not. 1) 120⫺126. ⫺ 8 ibid., 124 sq.; Dorn, E.: Der sündige Heilige in der Legende des MA.s. Mü. 1967, 78⫺ 80. ⫺ 9 Legenda aurea/Benz, 862; Brückner, 242. ⫺ 10 Kretzenbacher, L.: Legende und Spiel vom Traumgesicht des Sünders auf der Jenseitswaage. In: Rhein. Jb. für Vk. 7 (1956) 145⫺172. ⫺ 11 Brückner, 242; Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 35, cf. auch num. 36. ⫺ 12 Sˇra´mkova´, M./Sirova´tka, O.: Katalog cˇesky´ch lidovy´ch balad (Katalog der tschech. Volksballaden). Brünn 1990, num. 16; cf. Erk/Böhme, num. 217 a, 218, 2031⫺2038; Kretzenbacher (wie not. 1) 201⫺207. ⫺ 13 Krzyz˙anowski 750 C. ⫺ 14 Karlinger, F./Mykytiuk, B.: Legendenmärchen aus Europa. MdW 1967, num. 21 (aus Friaul). ⫺ 15 Rausmaa, SK 2, 338; Jauhiainen, num. C 51, C 61; Loorits 808*; Ara¯js/Medne; SUS; Kerbelyte˙; Cirese/Serafini E 756.1; Polı´vka 4, 151 sq.; SUS; cf. Haboucha **809; Jason (jüd. aus Ägypten); ElShamy, Types; Basset 3, num. 146 (⫽ Ibsˇ¯ıhı¯ 2, 323); Thuriet, C.: Traditions populaires de la Haute-Saoˆne et du Jura. P. 1892, 345; Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staates 1. Glogau 1868, num. 482; Kuhn, A./Schwartz, W.: Norddt. Sagen, Märchen und Gebräuche […]. Lpz. 1859, num. 239; Henßen, G.: Ungardt. Volksüberlieferungen. Marburg 1959, num. 42; Gasˇparı´kova´, V.: Ostrovtipne´ prı´behy i velike´ ciga´nstva a zˇarty. Bratislava 21981, num. 46. ⫺ 16 Loorits. ⫺ 17 cf. auch Gaster, M.: The Exempla of the Rabbis. L./Lpz. 1924, num. 397; Schwarzbaum, 158 sq. ⫺ 18 Aarne, A.: Estn. Märchen- und Sagenvar.n (FFC 25). Hamina 1918, num. 808*. ⫺ 19 id.: The Types of the Folk-Tale. Translated and Enlarged by S. Thompson (FFC 74). Hels. 1928. ⫺ 20 Kerbelyte˙; Baughman; Camarena/Chevalier; Polı´vka 4, 151; Megas/Puchner; Jason; Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 153; Soupault, R.: Bret. Märchen. MdW 1959, num. 3; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Die Frau, die verlorenging. Leer 2003, num. 381; Mousaios-Bougioukos, K.: Paramythia tou Libisiou kai te¯s Makre¯s. Athen 1976, num. 26. ⫺
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Teufel tötet Frau und Kinder
Aarne (wie not. 19); Baughman. ⫺ 22 Ashton, J. W.: Jack a Kent. The Evolution of a Folk Figure. In: JAFL 47 (1934) 326⫺368, hier 367. ⫺ 23 Anderson, W.: Buße des Räubers. In: HDM 1 (1930⫺34) 356⫺358, hier 356 sq.; Andrejev, N. P.: Die Legende vom Räuber Madej (FFC 69). Hels. 1927, 8, 157 sq., 249 sq. ⫺ 24 cf. ibid., 250. 21
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Teufel tötet Frau und Kinder (AaTh/ATU 1119⫺1121). Unter diesem Stichwort werden drei verwandte Erzähltypen aus dem Umfeld der Geschichten vom dummen T. (Riese; AaTh/ATU 1000⫺1199) zusammengefaßt, in denen ein J Oger versucht, den Helden zu töten, durch diesen aber überlistet wird und den Tod seiner eigenen Angehörigen verursacht bzw. selbst zu Schaden kommt (J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung). Die meist als Episoden vertretenen Erzähltypen sind weltweit verbreitet und treten jeweils in Kombination mit bestimmten Märchentypen auf. In AaTh/ATU 1119: The Ogre Kills His Mother (Wife)1 konterkariert der Trickster die Tötungsabsicht des Unholds (Hexe): Als der Held erfahren hat (ahnt), daß der Oger ihn und seine Geschwister (Gefährten) töten will, tauschen sie heimlich mit den im selben Raum schlafenden Kindern des Ogers (Mutter, Frau) den Schlafplatz (J Bettplatztausch), die Kopfbedeckung (J Kopfbedeckungen vertauscht), die Kleidung oder ein anderes J Erkennungszeichen, worauf der Oger irrtümlich eines oder mehrere seiner eigenen Kinder tötet (frißt)2.
Als Märcheneingang findet sich hier meist AaTh/ATU 327 B: J Däumling und Menschenfresser, vereinzelt auch AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel 3, AaTh/ATU 462: The Outcast Queens and the Ogress Queen4 oder AaTh/ ATU 313 E*: cf. J Magische Flucht5. Auf die erfolgreiche J Täuschung des Ogers und die Flucht aus seinem Haus folgen ⫺ entsprechend der latenten Rivalität zwischen dem Trickster und seinen Begleitern ⫺ häufig die Erzähltypen AaTh/ATU 328: J Corvetto oder AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue. Abweichungen von diesem Erzählschema (und dieser Figurenkonstellation) zeigen KHM 56: Der Liebste Roland, in dem gleich zu Beginn die Stiefmutter irrtümlich ihre eigene
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Tochter tötet, sowie ein ir. Schwank und zwei argentin. Erzählungen6, in denen jeweils AaTh/ATU 1535: J Unibos den Rahmen bildet: Um der Rache der Nachbarn bzw. der Brüder zu entgehen, tauscht der Held den Schlafplatz mit seiner Mutter, die getötet wird; daran schließt sich AaTh/ATU 1537: Die mehrmals getötete J Leiche an. In einem pers. Erzähltyp (Marzolph *1119) wird die böse Tochter getötet und in Reis gekocht der Mutter zugesandt. Nacheinander essen die Familienmitglieder davon und sehen das tote Mädchen. Als sie dies der Mutter erzählen, glaubt sie ihnen nicht und tötet sie aus Wut; als sie aber selbst diese Vision hat, begeht sie Selbstmord. AaTh/ATU 1120: The Ogre’s Wife Thrown into the Water ist in Europa, im Kaukasus und in Kleinasien, in der jüd.-oriental. Überlieferung und in Mittelamerika verbreitet7. Den Rahmen dieser schwankhaften Ausprägung bildet in der Mehrzahl der Belege die in AaTh/ ATU 650 A: J Starker Hans auftretende J Zornwette (AaTh/ATU 1000): Der Held vereinbart mit seinem Dienstherrn als Arbeitslohn, daß derjenige, der zuerst zornig werde, dem anderen ein Stück Haut (Ohr, Nase) überlassen müsse, und bewältigt die fast unlösbaren J Aufgaben in Trickster-Manier (cf. AaTh/ATU 1000⫺1029: Labor Contract). Als der Arbeitgeber gemeinsam mit seiner Frau aus Angst vor dem Helden die Flucht ergreift, werden sie von diesem heimlich begleitet (cf. AaTh/ATU 1132: Flight of the Ogre with His Goods in the Bag). Nachdem er entdeckt worden ist (sich zu erkennen gegeben hat), wechselt der Trickster bei der Übernachtung auf einer Brücke (am Flußufer) den Schlafplatz mit der Ehefrau (dem Dienstherrn)8, worauf diese von ihrem Ehepartner ins Wasser gestoßen wird.
Entgegen der Beschreibung bei AaTh/ATU 1120 ist der Arbeitgeber nur selten ein Oger im engeren Sinn (T.9, Riese10), sondern ein Bauer oder ⫺ wie in den ost- und südosteurop. Belegen ⫺ ein Pope (Derwisch11, Pfarrer12). Der Held tritt dabei meist als Rächer seiner Brüder auf, die vorher an der Zornwette gescheitert waren. In AaTh/ATU 1121: The Ogre’s Wife Burned in Her Own Oven werden die Angehörigen (Mutter, Kinder, Ehefrau) der Ogerfigur zu Opfern des Tricksters13: Der Held täuscht seine Gegenspieler durch angebliche Unwissenheit (Mot. G 526) und läßt sich zei-
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Teufel tötet Frau und Kinder
gen, wie man in den Ofen kriecht, das Feuer anfacht14 oder die Temperatur des Kochwassers prüft15. Der Oger frißt dann oft seine eigenen Angehörigen und wird bei der Verfolgung des geflohenen Helden getötet.
Damit steht AaTh/ATU 1121 dem Erzähltyp AaTh/ATU 327 A nahe, in dem die Hexe selbst überlistet und in den für den Helden bestimmten Backofen gestoßen wird; gemeinsam ist beiden Erzähltypen die Täuschung durch angebliche Unwissenheit des Helden. Der abschließende Zug findet sich entsprechend auch in AaTh/ATU 1119. Als Rahmen für AaTh/ATU 1119⫺1121 fungieren neben den bereits erwähnten Typen auch AaTh/ATU 327 C: J Junge im Sack der Hexe oder AaTh/ATU 1060⫺1114: J Wettstreit mit dem Unhold 16, vereinzelt AaTh/ATU 124: J Wolf im Schornstein17 oder AaTh/ATU 812: J Rätsel des T.s18. Entsprechend diesen Erzähltypen ist der Held fast immer der Jüngste, Kleinste oder am wenigsten Angesehene unter seinen Gefährten; er verfügt aber über außergewöhnliche Klugheit bzw. schafft es aus seiner Naivität heraus, den Oger zu besiegen. Gelegentlich können auch Tiere als Protagonisten auftreten, wie in afrik. Var.n von AaTh/ ATU 111919 und mittelamerik. Var.n von AaTh/ATU 112120. 1
Texte (Ausw.): Be´aloideas 2,1 (1929) 10⫺12; DBF A 1, 154 sq.; Aichele, W./Block, M.: Zigeunermärchen. MdW 1926, num. 42 (aus Rumänien), 54 (aus der Bukowina); Megas, G. A.: Griech. Volksmärchen. MdW 1965, num. 34; Mayeda, N./Brown, W. N.: Tawi Tales. Folk Tales from Jammu. New Haven 1974, num. 45; Parker, H.: Village Folk-Tales of Ceylon 1. L. 1910, num. 48; ibid. 3 (1914) num. 219; Chase, R.: Grandfather Tales. American-English Folk Tales. Boston 1948, num. 4; Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y Nuevo Me´jico. Stanford [1957], num. 333; JAFL 39 (1926) 345 sq., num. 30 (aus Puerto Rico); Andrade, M. J.: FolkLore from the Dominican Republic. N. Y. 1930, num. 25 (⫹ AaTh/ATU 1120); Pino Saavedra 2, num. 139; Pino Saavedra, Y.: Cuentos mapuches de Chile. Santiago de Chile 1987, num. 36, 37; Topper, U.: Märchen der Berber. MdW 1986, num. 6; Jungraithmayr, H.: Märchen aus dem Tschad. MdW 1981, num. 17. ⫺ 2 cf. auch Razafindramiandra, M. N.: Märchen aus Madagaskar. MdW 1988, num. 22 (nur bedingt AaTh/ATU 1119 zuordenbar: Die drei Mädchen täuschen ihre kannibalischen Gastgeber, indem sie Bananenstauden unter ihre Bettdekken legen). ⫺ 3 Daum, W.: Märchen aus dem Jemen. MdW 1983, num. 9; Diller, I.: Zypriot. Märchen.
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Athen 1982, num. 72. ⫺ 4 Parker (wie not. 1) 1, num. 48. ⫺ 5 El-Shamy, H. M.: Tales Arab Women Tell […]. Bloom. 1999, num. 46. ⫺ 6 Be´aloideas 10, 1⫺2 (1940) 184⫺186; Chertudi, S.: Cuentos folklo´ricos de la Argentina 1. Buenos Aires 1960, num. 73, 84. ⫺ 7 Texte (Ausw.): Konkka, U. S.: Karel’skie narodnye skazki. M./Len. 1963, num. 75; Paasonen, H./Ravila, P.: Mordwin. Volksdichtung 3. Hels. 1941, 339⫺341; Zentralarchiv der dt. Volkserzählung, Marburg, num. 143103; Aichele/Block (wie not. 1) num. 40 (aus Rumänien); Espinosa 1, num. 167; Anthropophyteia 2 (1905) num. 422 (südslav.); Hallgarten, P.: Rhodos. Die Märchen und Schwänke der Insel. Ffm. 1929, 223⫺227; Cammann, A.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien. Göttingen 1967, num. 66 (aus der Ukraine); Hnatjuk, V.: Das Geschlechtleben des ukr. Bauernvolks in Österreich⫺ Ungarn 1⫺2. Lpz. 1909/12, t. 1, num. 300; ibid. 2, ˇ endej, I. : Skazki verchoviny. Uzˇgorod num. 331; C 1959, num. 14; Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen, B. 1966, num. 72, 73; Walker, W. S./Uysal, A. E.: Tales Alive in Turkey 1. Cambr., Mass. 1966, 71⫺77, num. 1,6; Mittlgen der Anthropol. Ges. in Wien 69,2 (1939) 210⫺212 (las.); Noy, D.: Contes populaires, raconte´s par des Juifs du Maroc. Jerusalem 1965, num. 67; Baharav, Z.: Sixty Folktales, Collected from Narrators in Ashkelon. ed. D. Noy. Haifa 1964, num. 20. ⫺ 8 cf. Barag (der Held zieht manchmal seinen Schafspelz [Bauernrock] der Herrin an, worauf diese von ihrem Mann ertränkt wird). ⫺ 9 z. B. Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, num. 58. ⫺ 10 Andrade (wie not. 1). ⫺ 11 Hoogasian-Villa, S.: 100 Armenian Tales. Detroit 1966, num. 71. ⫺ 12 Berze Nagy, num. 1015** (Var. 2) (Pastor). ⫺ 13 Texte (Ausw.): Rußwurm, C.: Sagen aus Hapsal, der Wiek, Ösel und Runö. Reval 1861, num. 96; Beke, Ö.: Volksdichtung der Tscheremissen 1. Bud. 1951, num. 24; Nikiforov, A. I.: Severnorusskie skazki. ed. V. Ja. Propp. M./Len. 1961, num. 8; Meier, H.: Span. und port. Märchen. MdW 1940, num. 54 (port.); Todorovic´-Strähl, P./Lurati, O.: Märchen aus dem Tessin. MdW 1984, num. 44; Henßen, G.: Ungardt. Volksüberlieferungen. Marburg 1959, num. 18; Daum (wie not. 3 [⫹ AaTh/ATU 1119]); Knowles, J. H.: Folk-Tales of Kashmir. L. 1888, 331⫺337; Rael (wie not. 1 [⫹ AaTh/ATU 1119]). ⫺ 14 z. B. Aichele/Block (wie not. 1) num. 2; Hahn, num. 95 (alban). ⫺ 15 z. B. DBF A 1, 266 sq. ⫺ 16 z. B. Chase, R.: The Jack Tales. Cambr., Mass. 111958, num. 1; Dorson, R. M.: Buying the Wind. Chic. 1964, 168⫺172. ⫺ 17 Jahn, S. al-Azharia: Arab. Volksmärchen. B. 1970, num. 7 (⫹ AaTh/ ATU 327 C). ⫺ 18 Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 65. ⫺ 19 Klipple 1119 (Hase und Menschenkind, Leopard und Gazelle, Leopardin und Lamm, Spinne und Leopard). ⫺ 20 Flowers 1121, num. 1 (Tiger und Ogerfrau), num. 3 (Hund, Schildkröte und Frau des T.s); Wheeler, H. T.: Tales from Jalisco, Mexico. Phil. 1943, num. 187 (Hase und Kojote).
Graz
Bernd Steinbauer
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Teufel als Frauenwächter ⫺ Teufel zeigt dem Mann die Untreue seiner Frau
Teufel als Frauenwächter (AaTh/ATU 1352), misogyner Schwank zum Thema Treulosigkeit (J Treue und Untreue, J Ehebruch) der als lüstern und verführbar angesehenen (zumeist auch arglistigen und streitsüchtigen) J Frau (Kap. 3. 2.5)1. Wohl entstanden in einem ma. asketisch-klerikalen Milieu, wird der Schwank erstmals von J Jacques de Vitry in seinen Sermones feriales et communes (13. Jh.) dargeboten2. Eine Frau fragt ihren Mann, der (ihr eine Weile entrinnen will und deshalb) auf Reisen (Pilgerfahrt) geht, wer auf sie aufpassen soll. Er befiehlt sie dem T. an. Dieser muß sich sehr abplagen, die Frau von ihren ehebrecherischen Absichten abzuhalten. Als der Mann wieder heimkommt, sagt der T., er würde lieber zehn wilde Stuten hüten als eine solche Frau.
Eine zweite ma. Fassung findet sich in einem anonymen frz. Ms. des Promptuarium exemplorum (1322)3, eine dritte, in welcher der T. lieber wilde Schweine hütet als eine einzige Frau, in der Compilatio singularis exemplorum (158 a; spätes 13. Jh.) und, aus dieser Slg übernommen, in der in der frühen Neuzeit weitverbreiteten und oft gedr. J Mensa philosophica (14./15. Jh.)4. Dieses Sammelwerk war auch die Qu. für die Var. im Emplastrum Cornelianum des J. J Sommer (1605)5. Der ital. Humanist Laurentius J Abstemius verarbeitete den Schwank zu einer lat. Fabel (Hecatomythium [1495]): Als Aufpasser fungiert hier ein Freund des Ehemanns; lieber würde er einen Sack Flöhe hüten6. Auch diese Fassung wurde öfter nacherzählt, u. a. von Burkart J Waldis (1548)7. Hans J Sachs griff den Stoff zweimal auf, in einem Meisterlied (1550)8 und in einem Spruchgedicht (1558)9: Hier stöhnt der T., in der Hölle habe er mehr Ruhe gehabt. Auf dem Spruchgedicht beruht das Fastnachtspiel Wie der T. einer Bulerin ihr Ehr vor ihren Bulern hütet, bis ihr Ehemann wider kommt (1598) von Jacob J Ayrer10. Verbunden mit regionalen Überlieferungen begegnet AaTh/ATU 1352 in dem Sagenkreis um den Kobold Hödecke oder Hütchen, Hausgeist des Schlosses Wintzenburg und des Hofes des Bischofs von Hildesheim: Hödecke, der versprochen hat, auf die Frau eines verreisten Roßhändlers aufzupassen, klagt nachher, es wäre ihm lieber gewesen, alle Schweine im Lande Sachsen zu hüten. Erstmals erzählt von Johannes Trithemius (1462⫺1516), dem Abt
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des Benediktinerklosters von Sponheim, im Chronicon Insigne Monasterii Hirsaugiensis (abgeschlossen 1514), wurde diese Fassung in viele Werke der Magica- und Kuriositätenliteratur des 16.⫺18. Jh.s aufgenommen11 und begegnet als Konglomerat aus verschiedenen Qu.n in den Dt. Sagen der Brüder J Grimm (Grimm DS 75). AaTh/ATU 1352 findet sich vor allem in der literar. Tradition. Für die Überlieferung im 19./20. Jh. ist der Erzähltyp in Typenkatalogen aus Brasilien, Portugal, Italien, Griechenland und Polen aufgeführt12. Diese Nachweise repräsentieren möglicherweise gelegentliche Niederschläge von Lesestoffen. Bei anderen zu AaTh/ATU 1352 gestellten Schwänken handelt es sich um thematisch verwandte Stoffe. So wettet in einer poln. Var. der T. mit einem Bauern, daß er es einen Tag mit dessen bösem Weib aushalten könne. Er verliert, der Bauer weiß sie dann zu ,zähmen‘13. 1 Paden, W. D.: Mt. 1352: Jacques de Vitry, The Mensa Philosophica, Hödeken, and Tennyson. In: JAFL 58 (1945) 35⫺47. ⫺ 2 Greven, J.: Die Exempla aus den Sermones feriales et communes des Jakob von Vitry. Heidelberg 1914, num. 67; Wesselski, MMA, num. 4. ⫺ 3 cf. Marie de France: Die Fabeln. ed. K. Warnke. Halle 1898, LXV (Abdruck). ⫺ 4 Mensa philosophica. Faks. und Kommentar. ed. E. Rauner/B. Wachinger. Tübingen 1995, 293 (Buch 4, num. 23). ⫺ 5 Wesselski, A.: Johann Sommers Emplastrum Cornelianum und seine Qu.n. In: Euphorion 15 (1908) 1⫺19, hier 17, num. 86. ⫺ 6 cf. Neveletus, I. N.: Mythologia Aesopica. Ffm. 1610, 560, num. 62; cf. Wesselski, MMA, 193 sq. ⫺ 7 Waldis, B.: Esopus 1. ed. H. Kurz. Lpz. 1862, 279 sq. ⫺ 8 Goetze, E./Drescher, C. (edd.): Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs 5. Halle 1904, num. 649. ⫺ 9 Goetze, E.: Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs 1. Halle 1893, num. 197. ⫺ 10 Ayrers Dramen 4. ed. A. von Keller. Stg. 1865, 2673 sq. ⫺ 11 Paden (wie not. 1) 43; Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staates 2. Glogau 1871, num. 1082. ⫺ 12 Nascimento; Cardigos; Cirese/Serafini; Megas/ Puchner; Krzyz˙anowski. ⫺ 13 Simonides, D. und J.: Märchen aus der Tatra. MdW 1994, num. 79.
Groningen
Jurjen van der Kooi
Teufel zeigt dem Mann die Untreue seiner Frau (AaTh/ATU 824), Oberbegriff für eine misogyne, zwischen Legende, Schwank und Exemplum oszillierende Erzählung, die in zwei Redaktionen begegnet. Gemeinsames Thema
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Teufel und eiserner Mann
ist die Vorstellung, daß Frauen keine J Treue kennen. Die Erzählungen sind wohl unabhängig voneinander aufgrund ähnlicher Vorstellungen entstanden. Der T. (Waldgeist) zeigt einem Mann, der meint, seine Frau liebe ihn ebenso wie er sie, daß er ihr nicht trauen kann. Der T. schläfert ihn ein, verwandelt sich in einen hübschen jungen Burschen und verspricht der Frau, sie zu heiraten und reich zu machen, wenn sie ihren schlafenden Mann töte. Die Frau ist einverstanden. Als sie ihn jedoch erstechen (mit einem Beil erschlagen) will, weckt der T. ihn auf. Die Frau wird bestraft.
Die Redaktion findet sich bes. im nordost-, ost- und südosteurop. Raum und ist dort meistens mit AaTh/ATU 921 B: Der beste J Freund, der schlimmste Feind verbunden1: Ein Mann soll vom T., den er gerettet hat, eine Belohnung bekommen, muß aber dazu seinen treuesten Freund mitbringen. Er nimmt seine Frau mit. Es folgt AaTh/ATU 824. Der T. erklärt, er habe seine Schuld beglichen, statt der Ehefrau hätte er seinen Hund mitbringen sollen. Oder: Am nächsten Tag kommt der Mann mit seinem Hund; dieser läßt den T. nicht heran, und der Mann wird belohnt. Auch in der zweiten Redaktion zeigt der T. ein ambivalentes Verhalten. Er ist nicht nur Zerstörer und Verderber, sondern auch Wohltäter und Helfer. Aber seine Unterstützung bedeutet zugleich auch Unglück: Indem er dem Mann die Augen über seine Ehefrau öffnet, zerstört er zugleich dessen Ehe (cf. auch AaTh/ ATU 1353: Böses J Weib schlimmer als der T.). Ein Waldgeist (alter Mann, T.) verzaubert einen Mann, der meint, seine Frau würde ihn nie betrügen, in einen Ziegenbock und bringt ihn zu seiner Frau ins Haus. In der Nacht kommt ein Liebhaber zu der Frau; der Bock muß mit ansehen, wie sie sich mit diesem vergnügt (wird getötet, als er zu meckern anfängt).
Diese Redaktion ist u. a. in Finnland, den balt. Ländern und Rußland verbreitet und wurde entweder selbständig erzählt2 oder vermischt sich mit anderen Erzählungen, die meistens zu einer Bestrafung der Frau führen, wie AaTh/ATU 1380: J Blindfüttern3 oder AaTh/ ATU 571 A⫺B: cf. J Liebhaber bloßgestellt. Im letzten Fall fängt die Erzählung folgendermaßen an: Drei Brüder bitten nacheinander in einem Wald einen Waldgeist um Feuer. Dieser fragt sie, ob sie glaubten, daß ihre Frauen ih-
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nen die Treue hielten. Die ersten zwei sagen ja (nein), diese bekommen kein Feuer; der dritte weiß es nicht und wird verzaubert etc.4 Beide Ausformungen von AaTh/ATU 824 scheinen relativ jung zu sein und sind nur aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s bekannt. Für die 1. Redaktion gibt es jedoch eine motivische Überschneidung mit einer ma. russ. Überlieferung, in der J Salomo ohne Mühe eine Frau dazu bringen kann, ihren Mann zu erdolchen, während er schläft5. 1 cf. EM 5, 278; BFP, num. 921 B; Bıˆrlea, O.: Antologie de proza˘ populara˘ epica˘ 1. Buk. 1966, 395 sq., 397 sq. ⫺ 2 SUS; Barag; Aarne, A.: Estn. Märchenund Sagenvar.n (FFC 25). Hels. 1918; Ara¯js/Medne; Sebeok, T. A.: Studies in Cheremis Folklore 1. Bloom. 1952, 70. ⫺ 3 Paasonen, H./Karahka, E.: Mischärtartar. Volksdichtung. Hels. 1953, num. 17. ⫺ 4 Rausmaa, P.-L./Schellbach-Kopra, I.: Finn. Volksmärchen. MdW 1993, num. 47; Beke, Ö.: Tscheremiss. Märchen, Sagen und Erzählungen. Hels. 1938, num. 62; cf. auch Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. SPb. 1915, num. 22. ⫺ 5 Veselovskij, A. N.: Slavjanskie skazanija o Solomone i Kitovrase i zapadnye legendy o Morol’fe i Merline (Slav. Erzählungen über Salomon und Kitovras und westl. Sagen über Morolf und Merlin). SPb. 1872, 86 sq.
Groningen
Jurjen van der Kooi
Teufel und eiserner Mann (AaTh/ATU 1162), Erzählung aus dem Umkreis der Geschichten vom dummen T. (Unhold). Das Grundgerüst der Erzählung läßt sich trotz der wenigen vorliegenden Var.n relativ klar erschließen: Ein unscheinbarer Held (Soldat) soll (will) dadurch, daß er den nächtlichen J Spuk in einem Haus beseitigt (cf. AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen), die erkrankte (von bösen Geistern besessene, verwandelte) Prinzessin befreien. Er stattet sich mit diversen eisernen Requisiten aus (Rute, Harke, Hammer etc.; J Eisen) und besorgt sich einen J Automaten in Gestalt eines Mannes, dessen Körperteile (Arm, Mund) vermittels eines Federwerks so bewegt werden können, daß es den Anschein erweckt, als handle die Figur selbständig. Als die Spukgestalten (T., Dämonen) erscheinen, gibt der Held ihnen oft zunächst Eisenkugeln zu knacken, wobei er selbst Nüsse knackt oder die Eisenkugeln von dem Automaten zerbeißen läßt (cf. AaTh/ATU 1061: cf. J Wettstreit mit dem Unhold). Dann spielt er mit ihnen Karten (J Spieler), wobei vereinbart wird, daß der Verlierer vom Gewinner Schläge erhält. Wenn der Held verliert, nimmt er seine Zuflucht zu einer Aus-
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Teufel schert die Sau
rede oder schützt sich durch einen eisernen Helm1. Wenn er gewinnt, läßt er den Automaten so heftig Prügel austeilen, daß die Spukgestalten fliehen (teils erst nach mehrmaligem Auftreten). Manchmal fordert der Held den Dämon auf, dem Automaten seine Hand in den Mund zu stecken2 (zur Demütigung in den Mund zu pissen3). Als der Dämon dies tut, läßt der Held dessen Hand (Hoden) im Mund des Automaten festklemmen (cf. AaTh 1159, 1160/ATU 1159: J Einklemmen unholder Wesen; AaTh/ATU 1161: cf. J Bärenführer).
Hauptsächlich im östl. Baltikum (bes. Estland) verbreitet, ist der Erzähltyp aus der Überlieferung des 19./20. Jh.s, wenngleich seltener, auch in finn.4, russ.5 und schwed.6 Var.n belegt7. Die betr. Erzählungen besitzen oft eine schwankhafte Ausprägung und sind in den wesentlichen Zügen der Handlung stabil; Variationen betreffen meist nur einzelne Handlungsträger, Elemente oder Motivationen. Ein finn. Text beginnt etwa mit dem Motiv J Kind dem T. verkauft oder versprochen: Der König verirrt sich im Wald und verspricht dem T. dafür, daß er ihn auf den richtigen Weg bringt, das erste, dem er zu Hause begegnet; dies ist seine Tochter. Als der T. die Königstochter später holen will, läßt der König ihn von dem eisernen Mann festhalten, bis er verspricht, sie in Ruhe zu lassen8. In einer estn. Var. ist die Prinzessin in einen kleinen schwarzen Hund verzaubert (AaTh/ATU 401: J Prinzessin als Hirschkuh) und wird stückweise erlöst, indem der Held mehrere Male nacheinander beim Kartenspiel gewinnt9. In einer anderen gewinnt der Held mit Hilfe einer glühenden Eisenhand gegen den T. beim Fingerhakeln10. In Estland gehören solche Geschichten oft zu einem längeren Erzählzyklus von J Herr und Knecht, wobei der Held meist stereotyp Ants (Hans) heißt. 1 Eesti Rahvaluule Arhiiv ([ERA] Estn. Archiv für Vk.) H II 22, 1080/90 (3) (Var. von 1889); cf. auch Kerbelyte˙, LPTK. ⫺ 2 ERA (wie not. 1) H III 6 (25/ 36) (Var. von 1890). ⫺ 3 ibid., EÜS VII 1964/7 (169) (Var. von 1910). ⫺ 4 Rausmaa, SK 3, num. 64. ⫺ 5 Afanas’ev, num. 153. ⫺ 6 Liungman 1, 399⫺401. ⫺ 7 Die bei ATU angeführten dt. und afrik. Belege sind nicht zutreffend. ⫺ 8 Rausmaa, SK 3, num. 64. ⫺ 9 Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 78; ERA (wie not. 1) H III 3, 157/64 (1) (Var. von 1899). ⫺ 10 Eisen, M. J.: Hans ja vanapagan. Rahva jutud Kavala-Hansu viguritest vanapaganaga. Tartu
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1903, 11 sq., cf. 13; ERA (wie not. 1) E 11113/5 (9) (Var. von 1894).
Tartu
Reet Hiiemäe
Teufel schert die Sau (AaTh/ATU 1037), Schwank aus dem Umkreis des Themenfeldes vom geprellten T. oder Unhold: Der T. beobachtet, wie Gott (Schäfer, Frau) Schafe züchtet und beim Scheren gute Wolle gewinnt. Er möchte es ihm gleichtun und versucht, eine Sau zu scheren, erntet dabei aber lediglich viel Geschrei und wenig Wolle. Erbost tötet (häutet) er das Tier (jagt es fort, verwünscht es). Seitdem haben die Schweine keine Haare auf dem Rücken.
Die spärlichen Nachweise aus mündl. Überlieferung gehören fast ausschließlich dem 20. Jh. an und konzentrieren sich auf die Ostseeländer1; Streubelege finden sich bei Flamen, Friesen und Sorben, auf Malta sowie im span.-amerik. Raum. Der Var.nbestand ist instabil und neigt zur Verkürzung auf die Pointe vom geringen Erfolg des Geprellten, dessen Ertrag manchmal sogar noch vom Wind weggetragen wird2. Mitunter ist eine Kontamination mit AaTh/ATU 1036: J Teilung der Schweine zu beobachten, mit einer ätiologischen Erklärung dafür, warum die Schweine Ringelschwänze haben3. Als ältester Beleg für AaTh/ATU 1037 gilt die Strophe eines Meistersingerlieds in der Colmarer Liederhandschrift (spätes 15. Jh.): „Geschreies vil und lützel wolle gap ein suˆ“4, die davon handelt, daß der T., verärgert über den mangelnden Erfolg des Scherens, einem Schwein die Haut abzieht. Die ursprünglich dualistische Ausprägung der mit AaTh/ATU 1030: J Ernteteilung verwandten Erzählung spiegelt sich in frühen bildlichen Zeugnissen, die sich seit dem ausgehenden MA. bes. in Deutschland und in den Niederlanden auf geschnitzten Chorgestühlen5, graphischen Blättern und Gemälden finden6. In Pieter Brueghels d. Ä. berühmtem Redensartenbild (1559) sind im Vordergrund ein Schafscherer und ein Schweinescherer nebeneinander dargestellt. Da alle Szenen des Bildes Visualisierungen von Redensarten darstellen, wird deutlich, daß die Erzählung bereits damals in ihrer Verkürzung als Redensart geläufig war7. Der Schrumpfungsprozeß der zweigestaltigen Erzählung
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Teufel im Spukschloß ⫺ Teufel als Tagelöhner
verlief wahrscheinlich über einen Wellerismus vom Typus ,Viel Geschrei und wenig Wolle, sagte der T., da er eine Sau schor‘, der seit dem 16. Jh. reich bezeugt ist und auch in andere europ. Sprachen Eingang gefunden hat8. Die weitere Verkürzung zum Sprichwort ,Viel Geschrei und wenig Wolle‘ fand ebenfalls früh statt und ist bereits im 15. Jh. in einem Fastnachtspiel von den J Sieben weisen Meistern9 belegt. Die Redensart fand seit dem 16. Jh. weite Verbreitung und lebt in der Gegenwart in mehreren europ. Sprachen weiter10. Die bei ATU 1037 angeführte Inhaltsangabe bezieht sich auf eine Seitenform der Erzählung, die zuerst in der altspan. Exempelsammlung El Conde Lucanor (1330⫺35; num. 43) des Infanten Don J Juan Manuel bezeugt ist: Der Gute und der Böse teilen den Ertrag von Schafen unter sich auf. Der Böse teilt dem Guten die Lämmer zu, er selbst nimmt sich Milch und Wolle. Bei der Teilung der Schweine nimmt der Böse die Ferkel und überläßt dem Guten die Milch und die Wolle der Schweine. Es folgen weitere Episoden mit der Teilung der Feldfrüchte (Goldberg *K 171.5, cf. AaTh/ATU 1030) und dem gemeinsamen Besitz einer Frau (Goldberg K 171.7).
Vom vergeblichen Scheren der Schweine ist hier ebensowenig die Rede wie in der bisher einzigen mündl. Var. dieser Seitenform, die 1926 in der schwed. Provinz Halland aufgezeichnet wurde11. Ihr Inhalt ist logischer: Ein Bursche (Trickster) und ein Riese betreiben gemeinsam Schaf- und Schweinezucht. Von den Schafen behält der Riese die Lämmer zur Aufzucht, der Bursche die Wolle und die Milch; bei den Schweinen möchte der Riese die Borsten schneiden und die Milch nehmen, während der Bursche mit den Ferkeln wiederum das Bessere für sich behält. 1
Repräsentativ cf. Dh. 1, 192 (lett.); 3, 10 sq. (estn). ⫺ 2 Mifsud-Chircop. ⫺ 3 Nedo, P.: Sorb. Volksmärchen. Bautzen 1956, num. 83 b; van der Kooi. ⫺ 4 Bartsch, K.: Meisterlieder der Kolmarer Liederhs. Stg. 1862, 260. ⫺ 5 Meyer, A.: Rund um das Sprichwort: „Viel Geschrei und wenig Wolle!“ In: SAVk 41 (1944) 37⫺42, hier 40 sq. ⫺ 6 Röhrich, L.: Sprichwörtliche Redensarten in bildlichen Zeugnissen [1959]. In: Mieder, W. (ed.): Ergebnisse der Sprichwörterforschung. Bern 1978, 87⫺107, hier 93 sq. ⫺ 7 Dundes, A./Stibbe, C.: The Art of Mixing Metaphors. A Folkloristic Interpretation of the Netherlandish Proverbs by Pieter Bruegel the Elder (FFC 230). Hels. 1981, num. 106; cf. allg. Mieder, W. (ed.): The Netherlandish Proverbs. An Internat.
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Symposium on the Peter Brueg(h)els. Burlington 2004. ⫺ 8 Wander 1, 1601 sq.; Röhrich, Redensarten 1, 541; Hoefer, E.: Wie das Volk spricht. Stg. 91885, num. 1899. ⫺ 9 Keller, A. von: Fastnachtspiele aus dem 15. Jh. 2. Stg. 1853, 743; Singer, S.: Viel Geschrei und wenig Wolle. Nachtrag. In: SAVk. 41 (1944) 159 sq., hier 159. ⫺ 10 Wander 1, 1602; Röhrich, Redensarten 1, 540 sq. ⫺ 11 Liungman 2, num. 1037.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Teufel im Spukschloß J Einklemmen unholder Wesen
Teufel als Tagelöhner (AaTh/ATU 820), Erzählungen, in denen der T. als Helfer von Entrechteten auftritt. Es lassen sich drei Ausprägungen unterscheiden. AaTh/ATU 820: The Devil as Substitute for Day Laborer at Mowing hat folgenden Inhalt: Der T. in Gestalt eines alten, schwächlichen Männchens bietet einem gebrechlichen Tagelöhner, der die Arbeit für den Gutsherrn nicht mehr leisten kann, seine Hilfe an. Er erntet und drischt in kürzester Zeit und trägt alles Gedroschene und den Bullen des Gutsherrn dazu auf einmal fort, gibt alles dem Tagelöhner und fährt meist anschließend mit dem Gutsherrn in die Hölle.
Diese Version ist erst seit dem 19. Jh. belegt und überwiegend nur in Streubelegen bezeugt. Sie ist vor allem in Nord- und Mitteleuropa überliefert, wie Belege aus Norwegen1, Schweden2, Dänemark3, Estland4 und Deutschland5 zeigen; vereinzelte Aufzeichnungen gibt es auch aus Spanien6 und Ungarn7 sowie von den Woten8. AaTh/ATU 820 A: The Devil Mows with a Magic Sickle stellt eine verkürzte Abwandlung von AaTh/ATU 820 dar: Ein Verwalter drangsaliert einen Tagelöhner, der nicht schnell genug mäht. Ein Fremder erbietet sich, statt seiner zu mähen. In Gestalt des Tagelöhners mäht er mit einer magischen Sense mit dem Verwalter um die Wette, bis dieser tot zusammenbricht. Der Fremde ist der T., der die J Seele des Toten holt und dem Tagelöhner die Sense gibt; dieser wird damit der beste Mäher, solange er die Sense nicht ansieht. Als er es dennoch tut, hat er nur einen Ast (Pferderippe) in der Hand.
Diese ebenfalls erst seit dem 19. Jh. bezeugte Version begegnet in Finnland9, Deutschland10,
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Teufel: Der dem T. Versprochene wird Priester
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im fries. Sprachgebiet11, in Irland (ausnahmslos zusammen mit AaTh/ATU 1090: cf. J Wettstreit mit dem Unhold)12 und in Spanien13, wobei nur in Finnland, Friesland und Irland eine größere Verbreitung belegt ist. Auch in AaTh/ATU 820 B: The Devil at Haying geht es z. T. um eine scheinbar unerfüllbare Aufgabe:
man 1, GS 819; Stroebe, K.: Nord. Volksmärchen 1. MdW 1915, num. 15. ⫺ 15 Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 21966, num. 917. ⫺ 16 Woeller, W.: Dt. Volksmärchen von arm und reich. B. 1959, num. 55. ⫺ 17 Cirese/Serafini. ⫺ 18 z. B. Holbek (wie not. 3). ⫺ 19 cf. auch Woeller, W.: Sozialer Protest in den Volksmärchen Mecklenburgs und Pommerns. In: Lud 48 (1963) 367⫺386, hier 377.
Ein armer Bauer wird von einem reichen Bauern zu einem Mähwettstreit aufgefordert. Ein eigenartiger Fremder verspricht zu helfen. Er erscheint im letzten Moment und erledigt die Arbeit. Oder der T. verlangt, eine Frau, die ihm verfallen ist, solle die Heumahd an einem Tag beendet haben, um ihr Leben zu retten. Auch ihr hilft ein Fremder (Heiliger). Soweit der T. mit im Spiel ist, tritt er entweder als Helfer der Bedrängten auf oder stellt im Gegenteil die Aufgabe.
Rostock
Erzählungen dieses Typs sind aus Schweden14, Deutschland15, Österreich16 und Italien17 belegt. Alle drei Typen gehören motivisch eng zusammen und vermischen sich teilweise18. Sozialer Hintergrund sind spätfeudale Verhältnisse, die durch die Willkür der Gutsherren gekennzeichnet sind (J Herr und Knecht)19. Diese werden hier, ähnlich wie in AaTh/ATU 821 A: J T. als Advokat, durch den T. abgestraft. 1 Flatin, T.: Noka æventy aa gamle truir. Risør 1922, 6.⫺ 2 Bondeson, A.: Halländska sagor. Lund 1880, 68; id.: Historiegubbar pa˚ Dal. Stockholm 1886, 111. ⫺ 3 Holbek, B.: Dän. Volksmärchen. B. 1990, num. 24. ⫺ 4 Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 105 (T. hilft beim Dreschen). ⫺ 5 Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, num. 220.1; Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen. ed. S. Neumann/K.-E. Tietz. Bremen/Rostock 1998, num. 45 (⫹ AaTh/ATU 650 A); Neumann, S.: Mecklenburg. Volksmärchen. B. 1971, num. 133 (⫹ AaTh/ATU 761). ⫺ 6 Camarena/Chevalier; Rey-Henningsen, M.: The Tales of the Ploughwoman (FFC 259). Hels. 1996, num. 21 (verkürzt ⫹ AaTh/ATU 1175). ⫺ 7 Berze Nagy 819 (3 b, 4 b). ⫺ 8 Kecskeme´ti/Paunonen. ⫺ 9 Simonsuuri, L./ Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 66; Jauhiainen E 461. ⫺ 10 Wossidlo, R.: Mecklenburg. Sagen 1. Rostock 1939, num. 480 a, b (verkürzt). ⫺ 11 van der Kooi; Kooi, J. van der/Meerburg, B. A. G.: Fries. Märchen. MdW 1990, num. 37. ⫺ 12 ´ O Su´illeabha´in/Christiansen. ⫺ 13 Camarena Laucirica, J.: Cuentos tradicionales de Leo´n 1. Madrid 1991, num. 134 (⫹ AaTh/ATU 778*). ⫺ 14 Liung-
Siegfried Neumann
Teufel: Der dem T. Versprochene wird Priester (AaTh/ATU 811). Das alte und weitverbreitete Motiv, wonach ein in Not geratener Vater wissentlich oder unwissentlich dem T. das eigene Kind verspricht (J Kind dem T. verkauft oder versprochen) oder es ihm verschreibt (J Teufelspakt), bildet oft den Eingang in Zauber- und Legendenmärchen wie AaTh/ATU 310, 313, 314, 315, 400, 401, 425, 500, 706 und 710. Für AaTh/ATU 756 B, 810 sqq. ist das Motiv konstitutiv. In dem in fast ganz Europa verbreiteten Erzähltyp AaTh/ATU 811 macht der Versprochene den Pakt folgendermaßen rückgängig: Die Übergabe bzw. der J Dienst beim Dämon beginnt erst nach Erreichen eines bestimmten Alters. Der Versprochene wird Geistlicher und/oder nimmt (auf Anraten eines Geistlichen) heilige Gegenstände (Texte) mit zum vereinbarten Treffpunkt (Hölle). Dadurch verliert der T. seine Macht und muß das Schriftstück mit der Vereinbarung (den Versprochenen) zurückgeben.
Der nur für das 19./20. Jh. dokumentierte Erzähltyp steht in engem Zusammenhang mit AaTh/ATU 756 B: J Räuber Madej und kann als eine J Schwundstufe dieser älteren Bußerzählung betrachtet werden. Der Unterschied besteht darin, daß in AaTh/ATU 811 die Episode der Bekehrung und/oder Erlösung des Räubers, dessen künftigen Strafort der Versprochene in der Hölle zu sehen bekommt, fehlt. Rudimentär erhalten bleibt die Episode z. B. in ostslav. Var.n, in denen der Versprochene später ein hoher geistlicher Würdenträger wird, einem großen Sünder eine J Buße auferlegt und ihn nach vielen Jahren von seinen J Sünden freispricht1. Vor allem in Regionen mit überwiegend evangel.-luther. Bevölkerung begibt sich der junge Mann, inzwischen als Pfarrer tätig (auf Rat eines anderen Geistlichen), öfters nicht in
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Teufels Rätsel ⫺ Teufelsbraut
die Hölle, sondern an einen anderen Ort, an dem die Übergabe stattfinden soll. Dort vertreibt er den T. mit der Bibel oder mit Gebeten2. Er kann dem T. auch Rätsel aufgeben, die dieser nicht zu lösen vermag (cf. AaTh/ ATU 812: J Rätsel des T.s)3. In röm.-kathol. oder griech.-orthodoxen Regionen fährt er fast immer als Priester zur Hölle ein und entmachtet den T. mit Weihwasser oder Kruzifix4. In mitteleurop. Var.n muß der Oberteufel manchmal große Mühe aufwenden, um den Pakt wiederzufinden: Schließlich meldet sich ein hinkender T., der den Pakt mit dem Vater geschlossen hatte5. Gelegentlich reichen in der Hölle auch vom Geistlichen erlernte Gebete aus6. Fast immer ist es der Vater, der das Kind verspricht, nur gelegentlich eine Mutter, die entweder aus Not7 oder aus Wut gegen ihren Ehemann handelt8. In Irland ist der Erzähltyp oft mit AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen9 oder mit der seit dem MA. tradierten Heldensage Echtra Nerai (Jenseitsreise des Nera)10 kombiniert; der junge Mann kann statt eines dem T. versprochenen Kindes auch ein Sohn des T.s sein, der als Priester seine Gemeinde vor dem T. rettet11. SUS; Barag. ⫺ 2 Kohl-Larsen, L.: Das Haus der Trolle. Kassel 1982, num. 16 (aus Lappland); Hodne; Meyer, G.: Das Volksmärchen in SchleswigHolstein. Verz. der Märchentypen. In: Ndd. Zs. für Vk. 10 (1932) 196⫺223, hier num. 811; Bıˆrlea, O.: Antologie de proza˘ populara˘ epica˘ 1. Buk. 1966, 393. ⫺ 3 Schulenburg, W. von: Wend. Volkssagen und Gebräuche aus dem Spreewald. Lpz. 1880, 189 sq.; Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem oberpfälz.-böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num. 47; Jahn, U.: Volkssagen aus Pommern und Rügen. ed. S. Neumann/K.-E. Tietz. Bremen/Rostock 1999, num. 398. ⫺ 4 Henßen, G.: Volk erzählt. Münsterländ. Sagen, Märchen und Schwänke. Münster 1935, num. 177; BFP. ⫺ 5 Benzel, U.: Sudetendt. Volkserzählungen. Marburg 1962, num. 164; Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 3. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 1990, 154⫺156 (Sage eines poln. Internierten); Jones, W. H./Kropf, L. L.: The ˇ ajkanoFolk-Tales of the Magyars. L. 1889, 7⫺13; C vic´, V.: Srpske narodne pripovetke 1. Belgrad 1927, num. 74; Stojanovic´, M.: Pucˇke pripoviedke i pjesme. Zagreb 1867, num. 6. ⫺ 6 Haltrich, J.: Dt. Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. Mü. 61956, num. 28. ⫺ 7 BFP. ⫺ 8 Jones/Kropf ´ Su´illeabha´in/Christiansen. ⫺ 10 cf. (wie not. 5). ⫺ 9 O MacKillop, J.: Dict. of Celtic Mythology. Ox./N. Y. 1998, 149 sq.; Cross, T. P./Slover, C. H.: Ancient 1
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Irish Tales. Dublin 1969, 248⫺253; Watson, A.: A Structural Analysis of Echtra Nerai. In: E´tudes celtiques 23 (1986) 129⫺142. ⫺ 11 ´ Duilearga. Curtin, J.: Irish Folk-Tales. ed. S. O Dublin/Cork 1944, 75⫺84.
Groningen
Jurjen van der Kooi
Teufels Rätsel J Rätsel des Teufels Teufelsaustreibung J Exorzismus Teufelsbraut. In der gelehrten wie populären Überlieferung gilt die J Hexe als Braut des J Teufels1; damit assoziiert werden Vorstellungen vom Hexenritt und Teufelstanz in der Walpurgisnacht. In der Erzählforschung ist der Begriff T. hingegen bes. mit einer Erzählung verbunden, in welcher der Teufel als Rächer für ein gebrochenes Eheversprechen in Erscheinung tritt: Eine junge Frau schwört ihrem Geliebten J Treue und beteuert, falls sie je einen anderen als ihn heiraten werde, solle sie der Teufel holen. Am Tag ihrer Hochzeit mit einem anderen Mann erscheinen zwei Fremde. Als einem von ihnen die Ehre des ersten J Tanzes mit der Braut gewährt wird, entführt er sie in die Lüfte, worauf sie nie wieder gesehen wird. Am nächsten Tag kommen die Fremden mit den Kleidern und dem Schmuck der Frau zurück und erklären, Gott habe ihnen nur über die Braut Gewalt gegeben, nicht über ihr Eigentum.
Die älteste bekannte Aufzeichnung der Geschichte findet sich in Johann Georg Gödelmanns Tractatus de magis, veneficis et lamiis (1591)2, auf dem die Fassung in den Dt. Sagen (Grimm DS 209) beruht. Es schließt sich eine Vielzahl an Belegen aus der dt.sprachigen Exempelliteratur des 17. und 18. Jh.s an3. Die Fassung bei Martin J Delrio wurde in der Gegenreformation in der jesuit. Lit. häufig nachgedruckt4. J Abraham a Santa Clara hat in seiner Predigtsammlung Heilsames GemischGemasch (1704) dem Text auch eine Abb. von Teufel und Tänzerin beigegeben5. Die Erzählung von der treulosen Frau diente den kathol. Predigern dabei nicht als Warnung vor den Gefahren des Tanzens, sondern vor den bösen Folgen des Treuebruchs6. Aus mündl. Überlieferung des 19. Jh.s wurde die Erzählung als Sage u. a. in Schles-
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Teufelsgeschöpfe ⫺ Teufelliteratur
wig-Holstein7, Mecklenburg8, Baden9, der Schweiz10 und Österreich11 aufgezeichnet. Im Gegensatz zu der sehr stabilen literar. Tradition ist in den Sagenaufzeichnungen eine größere Variationsbreite anzutreffen. So wurde z. B. aus Schleswig-Holstein überliefert, daß der Teufel nicht mit der Braut tanzt, sondern vor der Kirche eine schwere Kette nach ihr wirft, deren Spur noch an der Kirchenmauer zu erkennen sei12; in einem Text aus Graubünden erscheint bei der Trauhandlung eine Schlange und unterbricht die Zeremonie13. Parallel zur Prosaüberlieferung fand der Stoff auch als Volksballade Verbreitung. In den Niederlanden war sie vermutlich bereits im 17. Jh. bekannt14. Die Aufzeichnungen in dt. Sprache beginnen mit der literar. überformten Version in Des Knaben Wunderhorn (1808)15. Ihr schließt sich im 19. und 20. Jh. eine Fülle von Zeugnissen aus dem gesamten dt. Sprachraum an16. Für das Volkslied, aus dem Friedrich J Schiller den Stoff für seine unvollendete Ballade Rosamund oder die Braut der Hölle17 geschöpft hat, ist der Eingang „Es war einmal ein Mädchen, das hatt’ zwei Knaben lieb“ typisch. Ludwig J Tieck zufolge war der Stoff um 1800 auch als Puppenspiel bekannt18. In AaTh/ATU 312 C: The Rescued Bride verheiratet ein Mann seine Tochter mit dem Teufel (Dämon, Oger). Ein Familienmitglied errettet die T., indem es den Bösen besiegt oder überlistet. Im weiteren Sinn zum Thema der T. gehörig sind auch osteurop. Var.n von AaTh/ATU 407 B: J Blumenmädchen, in denen eine junge Frau vom Teufel als Brautwerber verfolgt wird und sich nur durch den Tod entziehen kann (J Selbstmord). Ein vornehmer Herr pflückt die auf ihrem Grab wachsende Blume (J Grabpflanzen), worauf sich die Blume wieder in das Mädchen zurückverwandelt19. 1 Behringer, W. (ed.): Hexen und Hexenprozesse in Deutschland. Mü. 42000, 243; Grimm, Mythologie 2, 860. ⫺ 2 Gödelmann, J. G.: Tractatus de magis, veneficis et lamiis. Ffm. 1591, 12 sq.; id.: Von Zäuberern, Hexen vnd Vnholden. Übers. G. Nigrinus. Ffm. 1592, 9. ⫺ 3 Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 220; EM-Archiv: Gerlach, Eutrapeliarum 1 (1656) 53, num. 282; [Harsdörffer, G. P.:] Der grosse SchauPlatz jämmerlicher Mord-Geschichte. Hbg 1656, 594 sq.; Conlin 2 (1706) 113 sq. ⫺ 4 Fischer, E.: Die
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„Disquisitionum magicarum libri sex“ von Martin Delrio als gegenreformator. Exempel-Qu. (Diss. Ffm.) Hannover 1975, num. 130; Brückner, 440, num. 88. ⫺ 5 Abb. bei Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Stg. 1991, 213. ⫺ 6 cf. etwa Wenz, D.: Lehrreiches Exempelbuch. Augsburg 1757, 92⫺94, num. 24. ⫺ 7 Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder aus den Herzogthümern Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, 172, num. 256. ⫺ 8 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, num. 607. ⫺ 9 Baader, B.: Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gebieten. Karlsruhe 1851, num. 370; Birlinger, A./Buck, M. R.: Sagen, Märchen und Aberglauben. Freiburg 1861, 276, num. 427. ⫺ 10 Jecklin, D.: Volksthümliches aus Graubünden 2. Chur 1876, 148. ⫺ 11 Vernaleken, T.: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Wien 1859, 375 sq. ⫺ 12 Müllenhoff (wie not. 7). ⫺ 13 Jecklin (wie not. 10) 16⫺18. ⫺ 14 Erk/Böhme 1, 632 (zu num. 211). ⫺ 15 Arnim, L. A. von/Brentano, C.: Des Knaben Wunderhorn 3. Heidelberg/Ffm. 1808, 102 sq. ⫺ 16 ibid., num. 211a⫺h; DVldr 10, 213, num. K 8. ⫺ 17 Schiller, F.: Werke 12. Weimar 1982, 261⫺268. ⫺ 18 Tieck, L.: Poetisches J. 1. Jena 1800, 59 sq. ⫺ 19 Moo´r, E.: Ein Beitr. zur Symbiose von Sage, Märchen und Volkslied. Das Motiv von der Brautwerbung des Teufels in ung. Märchen und Balladen. In: Ung. Jbb. 5 (1925) 428⫺434.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Teufelsgeschöpfe J Dualismus
Teufelliteratur 1. Begriff und Problem ⫺ 2. Textkorpus ⫺ 3. Zeitgenössische Wirkungsgeschichte ⫺ 4. Theol. Implikationen und realhist. Auswirkungen
1 . B eg ri ff un d P ro bl em. Als Teufel- oder Teufelsbücher bezeichnet man in der Germanistik heute protestant. Rügetraktate des 16. und 17. Jh.s., vornehmlich der 2. Hälfte des 16. Jh.s; seit K. J Goedeke (1859)1 werden sie meist unter der Bezeichnung T. zusammengefaßt2, umgangssprachlich ist auch von Teufelsliteratur die Rede; zu ihrer Zeit hat man einzelne Exemplare der Gattung einfach Teufel genannt. Die T. ist ein reißerisch belehrendes Genre dt. Druckerzeugnisse, in dem ein (sei es auch geringfügiges) Fehlverhalten harsch kritisiert und seine angebliche Sündhaftigkeit mit dem metaphorischen Begriff der Teufelei oder
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Teufelliteratur
Teufelsbesessenheit bedacht wird. Der im Titel genannte Teufel erscheint in den Texten selbst nur selten, er sollte lediglich ihre Attraktivität erhöhen und zugleich die Schwere des dargestellten Vergehens und die drohende Verdammnis unterstreichen. Die z. T. nur flugschriftartigen Publ.en besitzen für die Erzählforschung aus drei Gründen bes. Bedeutung: (1) weil sie eine Reihe von sagenhaften Exempelgeschichten enthalten, (2) weil sie als Pastorentraktate protestant. Gesellschaftskritik der frühen Neuzeit transportieren, (3) weil ihre nachträgliche akademische Stilisierung zu Texten eines ,dt.‘ Teufelsbildes das Bewußtsein nationaler Mentalitätsprägungen mitbestimmt hat und also weiterhin kritisch zu reflektieren bleibt. Begriff und Sache gehören zum Textkanon der frühen Germanistik, der sich publikumswirksam in den erstmals 1859⫺67 erschienenen Bildern aus der dt. Vergangenheit des Germanistikprofessors und Schriftstellers Gustav Freytag spiegelt. Das Schlußkapitel seines 2. Bandes Jh. der Reformation (1859) trägt den Titel Der dt. Teufel im 16. Jh. Freytag vertritt darin dezidiert die Ansicht, daß in dieser Textgattung die leibhaftige Teufelserfahrung Martin J Luthers literar. entmythisiert und damit rationales Denken vorbereitet werde3. Bereits Freytags Kollege G. Gervinus hatte Luther zwar ebenfalls mit der Gattung in Verbindung gebracht, die metaphorische Gleichsetzung der ,Lasterhaften‘ und Verteufelten aber auch mit Sebastian J Brants Narren verglichen4. Seit M. Osborn (1893) wurde der gesamte Komplex der T. auf- und durchgearbeitet, so daß die Wirkungsgeschichte und ihre sozialhist. Hintergründe heute genauer erkennbar sind5. 2 . Tex tk or pu s. Bis 1604 erschienen fast 40 unterschiedliche Werke in über 100 Ausgaben6 dieser moralischen Schriften als Traktate, Predigten, Reimgedichte oder Dramen von 32 Autoren evangel. geistlichen Standes. Der früheste Traktat des Genres, der Sauffteuffel von Matthäus Friderich, erschien 1552 in Leipzig; die neue Gattung baute Andreas Musculus in Frankfurt an der Oder mit seinen drei parallelen Schriften Hosenteuffel (1555), Fluchteuffel (1555) und Eheteuffel (1556) aus. Aus dem Jahr 1557 stammen zwei Titel, die den Entste-
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hungsumkreis gut markieren: eine Predigt über den Geitz Teuffel von Johannes Winustede (gedr. in Schleusingen) und Von den zehen Teuffeln oder Lastern, damit die bösen vnartigen Weiber besessen sind von Nicolaus Schmidt (gedruckt in Lpz.)7. Weitere Titel sind: Spielteuffel von Eustachius Schildo (Frankfurt an der Oder 1557). ⫺ Jagteuffel von Cyriakus Spangenberg (Eisleben 1560). ⫺ Von Junker Geitz vnd Wucherteuffel von Albert von Blankenberg (Eisleben 1562). ⫺ Faulteuffel von Joachim Westphal (Eisleben 1563). ⫺ Zauberteuffel von Ludovicus Milichius (Ffm. 1563). ⫺ Gesindteuffel von Peter Glaser (Lpz. 1564). ⫺ Haussteuffel von Adam Schubart (Weißenfels 1564). ⫺ Bannteuffel von Jodocus Hocker (Ffm. 1564). ⫺ Hoffteuffel über die Zustände bei Hofe von Johannes Chryseus (Ffm. 1564). ⫺ Hurnteuffel von Andreas Hoppenrod (Eisleben 1565). ⫺ Hoffartsteuffel von Joachim Westphalus (Eisleben 1565). ⫺ Tantzteuffel von Florian Daule (Ffm. 1567). ⫺ Schrapteuffel über das Geldschröpfen von Milichius (s. l. 1567). ⫺ Heylige Kluge vnd Gelehrte Teuffel von Andreas Fabricius (Eisleben 1567). ⫺ Pestilentzteuffel von Hermann Strack (Ffm. 1569). ⫺ Sabbathsteuffel von Caspar Faber (Oberursel 1572). ⫺ Melancholischer Teufel von Simon Musaeus (Tham 1572). ⫺ Sorgen Teufel von Andreas Lang (Ffm. 1573). ⫺ Eydteuffel von Christoph Obenhin (Ursel 1574)8. ⫺ Pfarr- und Pfründbeschneiderteuffel von Christoph Marstaller (Ursel 1575). ⫺ Vom Geitz Teuffel von Johannes Brandmüller (Basel 1579). ⫺ Gerichts-Teuffel von Georg an Wald (St. Gallen 1580). ⫺ Lügen- und Lästerteuffel von Conrad Porta (Eisleben 1581). ⫺ Kleider-, Pluder-, Pauss- vnd Kraussteuffel von Johannes Strauss (Lpz. 1581). ⫺ Schmeichelteuffel von Hermann Heinrich Frey (Schweinfurt 1581). ⫺ Schmeichler- oder Fuchsschwentze Teuffel von Johannes Rhodius (Erfurt 1581). ⫺ Neidhard oder Neidteuffel von Rhodius (Erfurt 1582). ⫺ Herzenstrost wider den Sorgeteufel von Laurentius Drabitius (Erffordt 1585). ⫺ Bettel vnd Garte-Teuffel von Ambrosius Pape (Magdeburg 1586). ⫺ Sakramentsteuffel von Johann Schütz (Ffm. 1588). ⫺ Gewissensteuffel von Heinrich Decimator (Magdeburg 1604).
Der Frankfurter Verleger Sigmund Feyerabend faßte den größten Teil der Einzelschriften in einem zweispaltig gedr. Folioband mit 20 Nummern zusammen (Ffm. 1569), die ab der 2. Aufl. (erw. um vier Nummern 1575, um zehn weitere 1587/88) unter dem endgültigen Titel erschienen: Theatrum Diabolorum. Das ist: Warhaffte eigentliche vnd kurtze Beschreibung, Allerley grewlicher, schrecklicher vnd abschewlicher Laster, so in diesen letzten, schweren vnd bösen Zeiten, an allen Orten vnd Enden fast bräuchlich, auch grausamlich im schwang
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Teufelliteratur
gehen. Darauß ein jeder frommer Christ sonderlich zu sehen vnd fleissig zu lernen, wie daß wir in disem elenden vnd müheseligen Leben, nit mit Keysern, Königen, Fürsten vnd Herrn, oder anderen hohen, gewaltigen Potentaten, sondern mit dem allermächtigsten vnd stärkesten Fürsten dieser Welt, dem Teuffel, zu kämpffen vnd zu streiten […]
Das Sammelwerk wird von dem umfangreichen und noch im 17. Jh. zweimal separat aufgelegten Traktat Der Teuffel selbs des Jodocus Hocker nach Hermann Hamelmann (1568) eingeleitet; die übrigen Texte handeln nicht vom Teufel. Das direkt und tatsächlich vom Satan angerichtete Hexenwerk hingegen fand in einer ebenso repräsentativen Konkurrenzpublikation des Frankfurter Verlegers Nikolaus Basse´ durch den Herausgeber Abraham Saur Aufnahme. Der Titel dieses Folianten lautet: Theatrum de Veneficis. Das ist: Von Teuffelsgespenst, Zauberern und Giftbereitern, Schwartzkünstlern, Hexen und Unholden, vieler fürnemen Historien und Exempel (Ffm. 1586).
Nur jenes Werk zählt zur J Magica-Lit. Die T. hingegen gehört zur Gattung der Moralspiegel (J Tugenden und Laster). In seinen Katalog der protestant. Teufelerzählungen des 16. Jh.s (1974) hat R. Alsheimer auch die Aufl.n des Theatrum Diabolorum aufgenommen9. Dabei erweist sich Hockers Traktat über den Teufel selbst mit 34 Einzelerzählungen als recht ergiebig, während die übrigen Titel oft wie Predigten nur ein einziges Exempel bieten (höchstens aber sechs). Der Hosen Teuffel des Musculus enthält eine einzige scherzhafte Geschichte, die auch sonst bekannt ist: Ein Künstler malt den Teufel in Pluderhosen und erhält dafür von ihm eine Ohrfeige, weil sich der Teufel so häßlich nie zeigen würde10. Die erzählerische Kargheit dieser Texte hängt einerseits an ihrem Umfang, vor allem aber an ihrer eifernden Sittenkritik, die laut Feyerabend in seiner Vorrede zum Theatrum Diabolorum von 1588 „nützlich [ist], nicht allein den Leyen vnd gemeinen Christen, sonder auch wol vielen Gelehrten, als Pfarrherrn, Capelanen, vnd andern der Kirchen Fürstehern, mag wol sagen auch den Gelehrten der Rechten vnd Artzney“, denn die Texte zeigen an, „wie der Teuffel nicht allein der Seelen deß Menschen, sonder auch Leib vnd Gut, nach-
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stelle, vnd wie er derselbigen mißbrauche, so wol wieder Weltliche Recht, vnd natürliche Ordnung, als wieder Gottes Wort, ja wieder alle Sinn, Witz, vnd Vernunfft“. Das eigentliche Ziel dieser Texte, die Sozialdisziplinierung, ist in dieser Aussage klar ausgesprochen. 3. Z ei tg en ös si sc he Wi rk un gs ge s ch ic ht e. Die Schriften erschienen zumeist in mehreren Aufl.n und waren in Territorien orthodox luther. J Konfession weit verbreitet. Allein Feyerabend setzte noch vor dem Erscheinen seines Folianten 1220 Einzelexemplare von T. auf den beiden Frankfurter Buchmessen des Jahres 1568 ab, der Buchhändler Michael Harder lieferte auf der Fastenmesse 1569 nach Leipzig und Magdeburg 452 dieser Kleinschriften11. Man rechnet für die 2. Hälfte des 16. Jh.s mit insgesamt etwa 300000 verkauften Teufelsbüchern. Auf kathol. Seite regte sich allerdings sogleich Widerstand: Im Herzogtum Bayern wurden schon 1566 „alle die neuen Tractätl, welche in Teufels Namen intitulirt sind: als Hosenteufel, Spielteufel und so weiter“ verboten. Sie sind „der ärgerlichen Exempel und Anzüg halber nicht zu leiden“. Es gebe genug „der heilsamen guten Schriften bei der katholischen christlichen Kirche“12. Der bekannte Kontroversist Johannes Nas formulierte 1588 beim Erscheinen der 3. Gesamtauflage des Theatrum Diabolorum, es „sein viel teuflische Bücher ausgangen, die ins Teufels Namen beschrieben, ins Teufels Namen gedruckt, ins Teufels Namen gekauft und gelesen und für große Kunst beschreit werden und seind ihre Meister nicht unter den geringsten Wortsknechten berühmt worden“. Als ein kathol. Gelehrter daraufhin sprach: „Ich will auch einen Teufel ausgehen lassen“, habe man ihn beschieden: „Von uns Katholischen sollen die Teufel nicht ausgebrütet werden, wir wollen die Sekten darum nicht neiden, gleich und gleich gehört zusammen.“13 4 . The ol . I mp li ka ti on en un d r ea lh is t. Au sw ir ku ng en. Die ideengeschichtliche Problematik des Phänomens T. und ihre fortschreitend angemessenere Rekonstruktion unter Lit.historikern läßt sich zwischen den Thesen der germanistischen Diss.en von Osborn (1893) und B. Ohse (1961) ablesen14. Da-
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Teufels Mutter, Teufels Großmutter
zwischen liegt auf evangel.-theol. Seite die sog. Luther-Renaissance seiner aus den Qu.n neu erschlossenen persönlichen Theologie. Hierzu gehört fast zentral das Thema der Verquikkung von Satanologie und Eschatologie durch die Festlegung „nullus diabolus nullus redemptor“15. Die Vorstellung, daß der Mensch zwischen Gott und Satan steht, nimmt christl. Existenz grundsätzlich und überzeitlicher in den Blick als der herrschaftsorientierte Konfessionsstaat der frühen Neuzeit, der in seinem Gottesgnadentum für sich beanspruchte, der autorisierte Gegenspieler des Teufels in der Welt und nicht selbst auch ein Stück teuflischer Welt im Sinne von Luthers Theologie zu sein. Deshalb trifft Osborns allzu geradlinige Ableitung der T. als luther. Gattung des personifizierten Leibhaftigen in jenen Spezialteufeln für alle Laster, Mißstände und Unglücke dieser Welt nicht zu. Luthers tatsächliche Theologie des Satanischen erweist nach Ohse vielmehr die Titulierung moralisierender Traktate und der J Personifikation der Laster durch Teufelnamen als literar. Topos in der Nachfolge spätma. Moralspiegelautoren. Die Visualisierung in optisch wirkungsvollen Holzschnitten lag im Trend der Zeit und ihrem Bilderkampf der Konfessionen, die sich gegenseitig als vom Teufel besessen und von ihm direkt in die Hölle geholt darstellten. So kam es, daß der Saufteufel mit einem hohen zylindrischen Weinglas, dem grünen Spechter oder Krautstrunk, in der gereckten Rechten den Sabbatschänder von der Kirchentür in die Gastwirtschaft lockt, wie es auf katechetischen Konfessionsgemälden luther. Kirchen im 17. Jh. deutlich zu sehen ist16. Literar. findet sich diese Gestalt im Sabbathsteuffel, in dem als einziges Strafexempel die Geschichte von sechs ,Vollsäufern‘ erzählt wird, die einem Teufelsbild an der Wand zuprosten. Fünf von ihnen sind am nächsten Tage tot17. 1
Goedeke, K.: Grundriß zur Geschichte der dt. Dichtung aus den Qu.n 2. Dresden 21886, 479⫺ 482. ⫺ 2 Gervinus, G. G.: Geschichte der dt. Dichtung 3. Lpz. 41854, 17 sq.; Freytag, G.: Bilder aus der dt. Vergangenheit 2. Lpz. 371922, 344⫺381; Janssen, J.: Geschichte des dt. Volkes seit dem Ausgang des MA.s 6. Fbg 171924, 515⫺522; Osborn, M.: Die T. des XVI. Jh.s. B. 1893; Grimm, H.: Die dt. T. des 16. Jh.s. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 2 (1960) 513⫺570; Ohse, B.: Die T. zwischen Brant
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und Luther. Diss. B. 1961; Alsheimer, R.: Katalog protestant. Teufelserzählungen des 16. Jh.s. In: Brückner, 417⫺519; Stambaugh, R. (ed.): Teufelbücher in Auswahl 1⫺5. B./N. Y. 1970/72/73/78/80; Bebermeyer, G.: T. In: RDL 4 (21984) 367⫺403; Bachorski, H. J.: Teufelbücher. In: Killy, W. (ed.): Lit.lex. 14. Gütersloh u. a. 1993, 420⫺422; Mahal, G.: Teufelsbuch. In: RDL 3 (32003) 592⫺594. ⫺ 3 Freytag (wie not. 2) 353⫺360, 376⫺378. ⫺ 4 Gervinus (wie not. 2). ⫺ 5 Osborn, Ohse, Alsheimer und Stambaugh (wie not. 2). ⫺ 6 cf. ibid., 538. ⫺ 7 Bibliogr. bei Goedeke (wie not. 1); Osborn (wie not. 2); Grimm (wie not. 2). ⫺ 8 Drama als Mikrofiche ed. Mü. 1991. ⫺ 9 Alsheimer (wie not. 2). ⫺ 10 ibid., 494. ⫺ 11 Janssen (wie not. 2) 516. ⫺ 12 ibid., 517. ⫺ 13 Nas, J.: Angelus paraeneticus […]. Ingolstadt 1588, 2⫺9 (zitiert nach Janssen [wie not. 2] 517). ⫺ 14 Osborn und Ohse (wie not. 2). ⫺ 15 Brückner, W./Alsheimer, R.: Das Wirken des Teufels. Theologie und Sage im 16. Jh. In: Brückner, 394⫺416, hier 402⫺405, 414 sq. ⫺ 16 Brückner, W.: Luther. Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jh.s. Regensburg 2007, 191 sq. ⫺ 17 Alsheimer (wie not. 2) 497.
Würzburg
Wolfgang Brückner
Teufels Mutter, Teufels Großmutter. Die Idee, daß der Teufel (T.) eine Mutter (Mot. G 303.11.3), Großmutter (Mot. G 303.11.4) oder Frau hat, ist aus der populären Phraseologie ebenso wie aus Erzählungen, bes. Märchen, bekannt. Die Gestalt bzw. das Doppelgespann T. und seine (Groß-)Mutter/Frau ⫺ dargestellt als „entweder in Streit und Schlägerei begriffen oder als untrennbar zusammengehörige Potenzierungen des Teuflischen“1 ⫺ ist in der dt. Lit. seit dem 13. Jh., in der engl. seit Ende des 14. Jh.s erwähnt; dabei wurde die früher überwiegende Mutter (dt.) bzw. Frau (,dam‘; engl.) des T.s erst seit der 2. Hälfte des 18. Jh.s weitgehend von der Großmutter verdrängt2. Die Mutter des T.s wurde mit Übeln verschiedenster Art gleichgesetzt, z. B. im Rahmen der religiösen und politischen Polemik des 16. Jh.s: So bezeichnet Erasmus J Alberus in einer Schrift gegen die Wiedertäufer die Vernunft als „deß Teufels Mutter (vnd Braut)“3. Sprichwörter, Redensarten und Wellerismen über des T.s (Groß-)Mutter finden sich in den meisten Teilen Europas, in Amerika vor allem in den USA4. In der Ukraine ist vom T. und seiner Tante die Rede5, im Schwedischen wird ,der T. und seine Großmutter‘ in der Bedeu-
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Teufels Mutter, Teufels Großmutter
tung ,alle Welt‘ gebraucht6. Einige Sprichwörter beziehen sich auf das lärmende Wesen des T.s, etwa: „Der T. und seine Großmutter sind zu Gaste im Haus (wenn’s Spektakel gibt)“7. Das Phänomen des Regens bei Sonnenschein, zu dem eine Fülle von Redensarten existiert, wird u. a. mit den Worten kommentiert, der T. schlage (oder bleiche) seine Frau, Mutter, Groß- oder Schwiegermutter8. Eine Reihe von Forschern bemühte sich im 19. und frühen 20. Jh. darum, Zusammenhänge zwischen Gestalten aus Mythologie (z. B. Juno, J Frau Holle) und älterer Dichtung (z. B. Grendels Mutter aus dem J Beowulf-Epos) und der Mutter oder Großmutter des T.s herzustellen9. Aus religionswiss. Sicht etwa wurde ein Versuch unternommen, des T.s (Groß-)Mutter auf als Magna Mater Deum bezeichnete Göttinnen wie Cybele zurückzuführen, die von den Christen den Spottnamen Magna Mater Daemonum erhielten10. Im Märchen ist die Frau, Mutter oder Großmutter des T.s eine J Helferin, die verhindert, daß der Protagonist vom Dämon gefressen wird (J Menschenfleisch riechen). In KHM 125, AaTh/ATU 812: J Rätsel des T.s hat der Böse eine steinalte Großmutter, die ihm den Haushalt führt. Sie versteckt einen der Soldaten, die aus Not einen J T.spakt geschlossen hatten, und ermöglicht ihm damit, die Lösungen der Rätsel zu erlauschen, durch die sich die drei befreien können. In ähnlicher Weise steht die Frau, Mutter oder Großmutter des Unholds dem Helden in AaTh/ATU 461: Drei J Haare vom Bart des T.s bei; z. B. verwandelt in der Fassung der Brüder J Grimm (KHM 29) die Großmutter des T.s den Helden in eine Ameise und versteckt ihn in ihren Rockfalten11. In der Rolle des T.s erscheint in solchen Märchen oft auch ein anderer Unhold, z. B. ein Drache oder Riese. So wird in ATU 328 A: Jack and the Beanstalk (J Bohnenranke) der Junge von der Frau des Riesen beschützt, die ihn im Ofen versteckt. Entsprechende Episoden, in denen die Helferin die Frau, Haushälterin, Gefangene oder Tochter des Unholds sein kann (Mot. G 530.2), sind Bestandteil einer Reihe weiterer Erzähltypen12. Gewisse Analogien hierzu bietet schon die HymiskviÎa (Strophe 8⫺13) der LiederEdda (J Edda): J Thor und Tyr finden in der Halle des Riesen Hymir zwei Frauen vor, die
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,verhaßte‘ 900köpfige Ahne und Hymirs goldene Gattin, die den Besuchern rät, hinter einer Säule unter den Kesseln Platz zu nehmen, bevor ihr Mann kommt13. An derartige Szenen erinnern in Mythen nordamerik. Indianer die Reisen zu einem Kulturheros (Weltschöpfer, Herrn der Tiere), der mit seiner Großmutter zusammenlebt (Mot. A 31). Die Großmutter kocht für die Besucher, und der Kulturheros stattet die Männer mit den erbetenen Fähigkeiten oder Eigenschaften aus14. Völlig anders akzentuiert ist eine ir. Heiligenlegende mit ätiologischem Schlußteil: Des T.s Mutter macht sich in Gestalt einer schönen Frau an einen Heiligen heran, der sie an ihren Hufen erkennt; sie heiratet einen anderen Mann, der hl. J Patrick bannt sie und verwandelt die beiden Kinder des Paars: so seien Katze und Hund in die Welt gekommen15. Die literar. Existenz der Mutter, Frau oder Großmutter des T.s geht in Einzelfällen über das Phraseologische hinaus. Als Randfigur erscheint des T.s Großmutter u. a. im dt. Legendenspiel von der J Päpstin Johanna (ca 1480; unter dem Namen Lillis [J Lilith])16 und in Wilhelm J Hauffs Memoiren des Satan (1826)17; breiteren Raum nimmt sie in einem Filmskript von Lou Andreas-Salome´ ein, das sexuelle und transzendente Themen in scherzhafter Weise behandelt18. 1 Kuusi, M.: Regen bei Sonnenschein (FFC 171). Hels. 1957, 264. ⫺ 2 Götze, A.: T.s Großmutter. In: Zs. für Dt. Wortforschung 7 (1905/06) 28⫺35; cf. ferner Grimm, Mythologie 2, 842; ibid. 3, 297. ⫺ 3 Götze (wie not. 2) 30 sq. ⫺ 4 Kuusi (wie not. 1) 95 sq., 99⫺124, 263⫺267; Wander 4, s. v. T. (num. 171, 376, 779, 923, 1434, 1460, 1491 sq., 1498, 1504, 1638, 1669, 1678); Götze (wie not. 2) 28⫺35; Grimm, Mythologie 2, 842; DWb. 21, 267; Chamberlain, I. C.: The Devil’s Grandmother. In: JAFL 13 (1900) 278⫺280; Röhrich, Redensarten 3, 1619. ⫺ 5 Dölger, F. J.: „T.s Großmutter.“ Magna Mater Deum und Magna Mater Daemonum. Die Umwertung der Heidengötter im christl. Dämonenglauben. In: id.: Antike und Christentum 3. Münster 1932, 153⫺176, hier 153. ⫺ 6 Götze (wie not. 2) 35. ⫺ 7 Lehmann, E.: T.s Großmutter. In: ARw. 8 (1905) 411⫺430, bes. 412 sq.; id.: Fadens Oldemor. In: Dania 8 (1901) 179⫺194; Oxford Dict. of English Proverbs. Ox. 31970, 179, s. v. Devil and his Dam. ⫺ 8 Kuusi (wie not. 1). ⫺ 9 z. B. Grimm, Mythologie 2, 841; Wuttke, A.: Der dt. Volksaberglaube der Gegenwart. (Hbg 1860) B. 31900, 37; kritisch Lehmann (wie not. 7) 414 sq.; Dölger (wie not. 5) 153⫺156;
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Teufelspakt
Kuusi (wie not. 1). ⫺ 10 Dölger (wie not. 5) 174⫺ 176. ⫺ 11 BP 1, 289. ⫺ 12 Goldberg, C.: At the Ogre’s House. In: FL 115 (2004) 309⫺320. ⫺ 13 Edda 2. Übers. F. Genzmer. Jena 1941, 18 sq.; Grimm, Mythologie 2, 841 sq. ⫺ 14 JAFL 8 (1895) 193; ibid. 24 (1911) 209⫺ 211; ibid. 38 (1925) 72 sq.; cf. Thompson, S.: Tales of the North American Indians. (Cambr., Mass. 1929) Bloom. 1966, 275 (not. 13). ⫺ 15 Be´aloideas 21 (1951) num. 92 (mit engl. Resümee); cf. Cross G 303.11.3. ⫺ 16 Schernberg, D.: Ein schoen Spiel von Frau Jutten. Nach dem Eislebener Druck von 1565. ed. M. Lemmer. B. 1971, 31 (V. 41⫺63). ⫺ 17 Hauff, W.: Werke 2,1. ed. F. Bobertag. B./Stg. [ca 1891], 32, 116; Götze (wie not. 2) 34. ⫺ 18 Andreas-Salome´, L.: Der T. und seine Großmutter. Jena 1922.
Los Angeles
Christine Goldberg
Teufelspakt. Die Vorstellung, daß Menschen durch ein Bündnis mit einer jenseitigen Macht ihre Zwecke zu erreichen suchen, scheint zu naheliegend, um einer spezifischen Religion zuschreibbar zu sein. Dennoch ist das Motiv in seiner konkreten Gestaltung markant durch die jüd.-christl. Tradition geprägt: der T. als gedankliches Gegenstück zum Gottesbund (den das Christentum in der J Taufe individuell ratifiziert)1; entsprechend trägt der Pakt2 vielfach Merkmale einer ,Antitaufe‘, so namentlich in der Absage an Gott oder speziell an J Christus (J Satanismus) und (allenfalls) der Ablegung eines dämonologischen Credos3. Die Idee eines Pakts mit dem Dämon taucht bereits in den Evangelien auf 4, scheint auch (wenige, später mindestens so gedeutete) Belege im A. T. (Jes. 28,15; 25,18)5 zu besitzen. Die rechtsförmliche Verbindung mit dem personal gedachten Bösen (cf. J Dämon, J Dämonologie), die ein Mensch eingeht, um im Tausch für das Seelenheil irdische Güter (zumeist Macht, Liebe, Wissen) zu erlangen, ist als tragendes Motiv erstmals in drei griech. Texten der christl. Spätantike belegt6: in den T.-Erzählungen von J Cyprianus, Proterius/ Helladius sowie von J Theophilus. Einen in der Kaiserchronik (um 1140) angedeuteter T. des Julianus Apostata (ATU 931 A: J Elternmörder) geht anscheinend auf eine verlorene griech. Erzählung zurück7. Die Datierung dieser drei Geschichten ist unsicher; die Geschichte von Cyprianus (cf. Tubach, num. 1406) könnte ins 4. Jh., die von
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Proterius und Helladius (Tubach, num. 3566) ins 5. Jh. gehören, die Theophilus-Erzählung (Tubach, num. 3572) liegt zwischen 650 und 8508. Ungeklärt sind auch Fragen nach den Quellen, der Autorschaft, dem Publikum, der Zweckbestimmung oder der Textsorte (die Einordnung als ,Legende‘ sagt wenig). In der Begegnung des Cyprianus9 mit dem Teufel fehlen Apostasie (denn Cyprianus ist Heide) und expliziter Pakt, ebenso die sonst beliebten Schauerelemente. Eine Hauptfunktion der Erzählung liegt in der Diffamierung religiöser Praktiken der Nichtchristen (speziell des Liebeszaubers) und der Propagierung der Ehelosigkeit durch ein nach Alleingeltung erst strebendes Christentum. Die Glaubenserprobung der Neokonvertitin Justina ist gekoppelt mit der Bekehrung Cyprians zu jener Macht, die sich als die stärkere erwiesen hatte10. Die Passio Cypriani et Justinae berichtet fortsetzend das Martyrium der beiden11. Die Proterius/Helladius-Geschichte12 gehört in den Mirakelanhang der verbreiteten apokryphen J Basilius-Vita (wurde aber auch separat tradiert). Zum Inhalt: Der Christ Proterius macht sich dank Hilfe des Dämons, mit dem er einen schriftl. Vertrag geschlossen hat, die Tochter seines Herrn Helladius geneigt. Nach der Heirat entdeckt die Frau das Geheimnis ihres Mannes; sie wendet sich an Basilius um Hilfe. Dieser unterwirft Proterius mit dessen Einverständnis einer 40tägigen J Buße, dann führt er ihn zur öffentlichen Vergebung der J Sünden in die Kirche. Dort kommt es zur letzten Auseinandersetzung mit dem leibhaftig anwesenden Dämon; dank des Gebets der Gemeinde kann Basilius den Vertrag zerreißen und Proterius befreit seiner Gattin übergeben.
Hier liegt ein im späteren Sinne ,klassischer‘ Pakt vor: Glaubensabschwörung in einer Teufelsversammlung (oder vor dem Dämon allein) und Ausstellung eines schriftl. Vertrags. Spiegelbildlich dazu verläuft die Befreiung des Proterius vom Pakt (immerhin nachdem der Dämon ihm zu Heirat und sozialem Aufstieg verholfen hat, jedoch Vertragsuntreue vorausgeahnt und eine schriftl. Abmachung verlangt hatte13): Selbsteinkehr in strenger Isolation, öffentliche Buße in der Kirche mit Störmanövern des Dämons, Wiederaushändigung der Pakturkunde dank des Gebets. Der hl. Basilius erscheint als helfende Gegenfigur zum Zauberer (oder Juden), der den Kontakt zum Dämon vermittelt hatte. In der Überzeugung,
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daß die Auflösung des Pakts möglich sei, liegt eine zentrale Botschaft des Texts: Die Sünde, wenn noch so schwer, kann bei J Reue und Buße vergeben werden. Das Paktmotiv dient hier so der Buß-Pastoral. Direkter Gegenspieler des Dämons ist nicht Proterius, sondern der Bischof; so zeigt sich, wer Verfügungsgewalt über die Seelen hat. Bei der in Kurz- und Langversion vorliegenden griech. Theophilus-Geschichte14 ist der Teufelsbündner sozial hochrangig und moralisch bewußt; so führt der Abfall zu einem psychischen Drama. Anlaß zum Pakt ist keine Liebesaffäre, sondern eine soziale Kränkung des Helden; Vermittlerdienste beim Teufel leistet kein heidnischer Zauberer, sondern ein Jude; bei der Wiedererlangung des Heils hilft Maria. Durch den Bericht über das fromme Ende des Theophilus wird die mariologisch akzentuierte Bekehrungsgeschichte vitenhaft abgerundet. Im Westen wurden einerseits diese Geschichten übersetzt, im Anschluß daran zahlreiche neue lat. Versionen geschaffen und an die Vulgärsprachen weitervermittelt15. Anderseits entwickelte man mit dem Motiv neue Exempla: so von Gerbert von Aurillac, dem nachmaligen Papst Silvester II.16; vom Dieb, der dank Pakt ungestraft seinem Gewerbe nachzugehen hofft; vom Ritter, der Gott abschwört, nicht aber Maria, und so gerettet wird; von der Ehefrau, die sich mit dem Pakt vor dem prügelnden Ehemann retten will (cf. Tubach, num. 3566⫺3572)17. Wichtig für die Entwicklung des T.-Motivs ist der bei Augustinus auftretende Diskurs vom Dämonenpakt als Voraussetzung für jede Art abergläubischer Praktiken18. Augustinus faßt Zauberriten und ihre Utensilien als Zeichen zur Kommunikation mit Dämonen auf; die zugrundeliegende Semantik bedingt indessen eine freiwillige Absprache der Menschen mit den bösen Kräften. Er formuliert seine T.spaktlehre in De doctrina Christiana 2,20⫺ 23. Diese Theorie wurde später von der Scholastik aufgegriffen und ausgebaut (etwa von Thomas von Aquin)19. Sie schließt so aus material belegbaren Indizien (Zauberpraktiken, Utensilien) auf einen Sachverhalt ⫺ den Dämonenpakt ⫺, der für die Zeit als real galt, juristisch aber schwer nachweisbar war20. Durch diese Konstruktion bekam die augusti-
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nische Theorie praktische Brisanz: Gewisse sozial auffällige Gruppen konnten wegen ihrer Lebenspraktiken ins Visier kirchlich-staatlicher Instanzen geraten und so Opfer von Verfolgung warden; der Vorwurf des Dämonenpakts gab dazu eine rechtlich verwertbare Grundlage21. Ein Paradebeispiel liefert neben der Vernichtung des Templerordens die europ. J Hexenverfolgung der frühen Neuzeit, etwa im J Malleus maleficarum (2,1⫺2: über die Paktformen); gegenläufig dazu spielte die Frage des T.s auch eine Rolle in aufklärerischen Traktaten von Verfolgungsgegnern22. Spätestens mit dem Aufschwung vulgärsprachlicher Lit.en lassen sich Motivverbreitung und -entwicklung höchstens noch in Einzelaspekten, aber nicht mehr im ganzen, überschauen und verfolgen23. Stark erweitert wird auch das Spektrum der Textsorten, in denen das Motiv produktiv ist: Neben der hagiographischen Prosa erscheinen nun die Chronistik, die lehrhafte Lyrik, das Drama, später der Roman, die das in Handlungen eingebundene Motiv über die Generationen hin weitervermitteln. Gewisse Perioden und Regionen zeigen ungleiche Affinität zum Motiv24: so das 16. Jh.25, das nachma. Spanien26, die Aufklärung27, die Romantik (E. T. A. J Hoffmann), der Realismus28, die amerik. Lit.29 Die für die neuzeitliche Hochliteratur bedeutsamste T.geschichte bringt die Historia von D. Johann Fausten von 1587. Das Buch vom Teufelsbündner J Faust (zum poln. Gegenstück dieser Figur cf. J Twardowski) knüpft für das zentrale Motiv bei der Theophilus-Geschichte an (sozialer Rang des Protagonisten, Rundung zur Vita), doch das schlimme Ende des Helden zeigt hier die Konstellation einer Antilegende. Einen Bruch mit der Motivtradition und damit die Modernität der Figur sah man darin, daß hier das Böse so banalisiert wird, daß auch die Vergebung der Schuld unerheblich wird, womit allein die Mechanik des T.s bleibt und der Held um die Chance der Erlösung gebracht wird30. Auch in den konfessionellen Auseinandersetzungen tritt das Muster auf, wenngleich hier mit geringeren praktischen Auswirkungen: So läßt der Protestant Thomas Naogeorgius (Kirchbauer) im Pammachius (1538) den Papst einen T. schließen; protestant. Qu.n greifen die Gerbert-Geschichte auf 31; andererseits erscheint J Luther
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im Kleid des Basilius, wenn er einen Studenten vom T. befreit32. Die Blutverschreibungen an Maria im 17. Jh. und die Anheimstellungen an J Christus im Agnus Dei-Brief (J Lamm Gottes) sind Vorbilder für Positiv-Pakte und den Sinn christl. Amulette im Barock. Nachdem der Teufelsglaube mit der Aufklärung zumindest in seiner kruden Ausprägung die dogmatische Verbindlichkeit verloren hatte, konnte das Motiv entweder historisiert oder als Metonymie für rational faßbare Sachverhalte gestaltet werden33. In Jeremias J Gotthelfs Die schwarze Spinne (1842) etwa erscheint der T. einerseits in der historisierenden Perspektive der Binnenerzählung als real, andererseits ist er Chiffre für das überdauernde Böse im menschlichen Verhalten. Im allg. kommt es zu einschneidenden Veränderungen des T.-Motivs: oft Entsexualisierung des Pakts, (erneut) Ausrichtung auf männliche Figuren, Einbau in Lebensgeschichten34. Mit der Entsexualisierung und ⫺ gegenüber dem frühneuzeitlichen Hexenstereotyp ⫺ der Ausrichtung auf männliche Figuren als Vertragspartner wird auf die ursprüngliche Motivkonfiguration zurückgegriffen, nachdem sich unter dem Einfluß des Stereotyps der Hexe seit dem 15. Jh. eine konkurrierende Tradition gebildet hatte. Eine nur ästhetisch intendierte Remythisierung macht sich in der Romantik bemerkbar35: Der T. stellt nicht mehr geglaubte Wahrheit, wohl aber ein ästhetisch attraktives Symbol der Sünde und des Bösen dar. Aufklärung im Zeichen der Psychologie leistet eine Arbeit S. J Freuds zu einem hist. belegten Fall aus dem 17. Jh.36 Noch kaum aufgearbeitet hat die Forschung die Tradition des T.-Motivs in Volkserzählungen37. Diese zeigen es in entwicklungsgeschichtlicher Gemengelage. Fälle, in denen gegenüber den spätantiken und ma. Belegen deutliche Umformungen aller wesentlichen Konstituenten des Motivgefüges (Profil des Teufels und des Teufelsbündners, Motivation zum Pakt, Auswirkungen des Pakts) eingetreten sind, die möglicherweise im Zusammenhang mit einer J Entmythisierung (Figur des geprellten Teufels38) stehen (z. B. AaTh/ATU 811: Der dem J Teufel Versprochene wird Priester, AaTh/ATU 1030: J Ernteteilung), finden sich neben Beispielen, in denen das archaische
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Teufelsbild noch faßbar bleibt. Nicht selten ist der Dämon harmlos geworden (z. B. AaTh/ ATU 361: J Bärenhäuter, AaTh/ATU 475: J Höllenheizer, AaTh/ATU 360, 1697: J Handel mit dem Teufel); dazu paßt, daß er Verstöße gegen den Pakt nicht ahndet (z. B. AaTh/ATU 361). Daneben finden sich allerdings Fälle, in denen der Teufel sich in Aussehen oder bei seinen Paktbedingungen in Täuschungsabsicht harmlos gibt (AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände, AaTh/ATU 810: J Fallstricke des Bösen); vor solcher Mimikry hatte bereits die voraufklärerische Theologie gewarnt39. Doch kann der Teufel auch eine Forderung stellen, die dann vom menschlichen Vertragspartner listigerweise zu Ungunsten des Bösen bloß formal erfüllt wird (AaTh/ATU 1191: J Brückenopfer, J Kind dem Teufel verkauft oder versprochen). Schließlich kann der Teufel sich auch in seiner Gefährlichkeit zeigen (AaTh/ ATU 812: J Rätsel des Teufels). Sehr oft liegen dem T. wirtschaftliche Motive, vielfach bittere Not zugrunde (Ausnahme: AaTh/ATU 1130: J Grabhügel) ⫺ auch dies schon ein Topos der ma. Dämonologie40. Indessen kann der T. auch zum Erreichen anderer erstrebenswerter Ziele dienen: Erfolg in der Gesellschaft (Paganinis Violinkunst als Ergebnis eines T.s), Erfolg bei Frauen. Die Frage nach der Erlaubtheit des T.s gar nicht stellen Erzählungen wie AaTh/ATU 361, 475, 812, oder der T. erscheint als bloße Fahrlässigkeit (AaTh/ATU 706, 810). Auch die Einschätzung des Risikos wandelt sich: Es besteht nur noch in einem beschränkten materiellen Verlust (AaTh/ATU 1030) oder im Tod, der ohnehin jeden trifft (Grimm DS 211). Gemindert scheint die Gefahr auch bei einem kollektiven Pakt, bei dem nur einer dem Teufel anheimfällt (Grimm DS 211) oder man sich durch erfolgreiches Rätsellösen von der Vertragseinlösung freimachen kann (AaTh/ATU 360, 1697: Handel mit dem Teufel). Ebenfalls selten muß zur Überwindung des Teufels noch eine himmlische Gegenmacht direkt oder vermittelt durch die Kirche und ihre Diener eingreifen (AaTh/ATU 706). Meist genügen die menschlichen Kräfte: so die Liebe (KHM 31, AaTh/ATU 706), diffuses Vertrauen in den guten Ausgang (AaTh/ATU 810, 361), Vertrauen ins eigene (intellektuelle) Können (z. B. AaTh/ATU 1030)41. Das Motiv des Drecks, aus dem Gold wird (AaTh/ATU
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475; cf. ATU 476: Coal Turns into Gold), genaue Umkehr des alten dämonologisch ernstgemeinten Topos, kann den Prozeß der Entmythisierung schlagend veranschaulichen. Wenn in der Märchen- und Sagentradition der Teufelsbündner häufig Soldat, Bauer, Jäger ist, dürften sich einesteils motivunabhängige Gegebenheiten beim sozialen Profil des Märchen- und Sagenpersonals überhaupt durchsetzen; andererseits werden in solcher berufsständischer Ausrichtung vielleicht Adressierungen durch die dahinterstehende kirchliche Pastoral sichtbar42. Die Produktivität dieser literar. Modelle und ihre ungebrochene Attraktivität bei den Rezipienten bis hin in die Gegenwart wird etwa an Übernahmen derselben in nicht-literar. Medien ablesbar (cf. die Opern Faust, Freischütz, Robert le diable [J Robert der Teufel]; die Filme Rosemary’s Baby [1968], The Devil’s Advocate [1997]; Comics). 1 Gen. 9,1⫺17 (Noah), Gen. 17,7 (Abraham), Ex. 6,2⫺8, Dtn. 26,16⫺19 und 29,12 sq. (Sinaibund), Ex. 23,32 (Ablehnung fremder Bünde); für das N. T. Lk. 22,20, 1. Kor. 11,25, 2. Kor. 3,6; typischerweise die Belege im Hebräerbrief häufig (etwa 7,22; 8,6⫺ 13; 9,1,1⫺15); zur terminologischen Grundproblematik dieser Belegslg cf. Kutsch, E.: Bund I. In: TRE 7 (1981) 397⫺403. ⫺ 2 Haug, W.: Der T. vor Goethe oder Wie der Umgang mit dem Bösen als felix culpa zu Beginn der Neuzeit in die Krise gerät. In: DVLG 75 (2001) 185⫺215 (unterscheidet vier Haupttypen). ⫺ 3 Radermacher, L. (ed.): Griech. Qu.n zur Faustsage. Der Zauberer Cyprianus. Die Erzählung des Helladius. Theophilus. Wien/Lpz. 1927, 124⫺129, 166⫺169. ⫺ 4 cf. Mt. 4,8 (3. Versuchung Jesu); Mt. 12,24, Mk. 3,22, Lk. 11,15 (Dämonenbund-Vorwurf der Pharisäer an Jesus). ⫺ 5 Diese und die Versuchung Jesu spielen später in der dämonologischen Diskussion eine gewisse Rolle, cf. Christian Thomasius, Processus inquisitorii contra sagas, § 6⫺9. ⫺ 6 Radermacher (wie not. 3). ⫺ 7 D’Agostino, A.: Il patto col diavolo nelle letterature medievali. In: Studi medievali 3,45 (2004) 699⫺752, hier 711 (mit not. 33). ⫺ 8 Radermacher (wie not. 3) 40 sq., 62⫺68, 69; ferner D’Agostino (wie not. 7) 703 sq., 709. ⫺ 9 Radermacher (wie not. 3) 76⫺113 (Text mit Übers.); cf. auch Kretzenbacher, L.: Teufelsbündner und Faustgestalten im Abendlande. Klagenfurt 1968, 18⫺24. ⫺ 10 cf. die variierenden Titel der griech. Fassungen bei Radermacher (wie not. 3). ⫺ 11 ibid., 76 sq. ⫺ 12 ibid., 122⫺149. ⫺ 13 ibid., 126⫺ 129. ⫺ 14 ibid., 164⫺177, 182⫺219 (griech. Text, z. T. mit Übers.; die Kurzfassung ist wohl älter, cf. ibid., 155⫺160). ⫺ 15 cf. Kretzenbacher (wie not. 9); id.:
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Magier, Teufelsbündner und „faustischer Mensch“ im Abendlande. In: Antaios 10 (1969) 258⫺273; D’Agostino (wie not. 7); DiAmico, E. F.: The Diabolical Pact in Literature. Its Transition from Legend to Literary Theme. Diss. Detroit 1979; SorvakkoSpratte, M.: Der T. in dt., finn. und schwed. FaustWerken. Ein unmoralisches Angebot? Würzburg 2008. ⫺ 16 Graf, A.: Miti, leggende e superstizioni del Medio Evo 2. Turin 1893, 3⫺75. ⫺ 17 cf. auch D’Agostino (wie not. 7) 711⫺725. ⫺ 18 MPL 34 (Augustinus, De doctrina christiana 2,20). ⫺ 19 Harmening, D.: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Unters.en zur kirchlich-theol. Aberglaubenslit. des MA.s. B. 1979, 309⫺317; Graf, R.: T.sverbündete im Corpus iuris canonici. In: Forum Kathol. Theologie 16 (2000) 185⫺200. ⫺ 20 cf. Neumann, A.: Verträge und Pakte mit dem Teufel. Antike und ma. Vorstellungen im Malleus maleficarum. St. Ingbert 1997; Habiger-Tuczay, C.: Magie und Magier im MA. Mü. 2003, 105⫺120. ⫺ 21 Belege für den Paktvorwurf bei einer Ketzerverfolgung etwa bei Caesarius von Heisterbach, Dialogi 5,18 (Ketzer in Besanc¸on) oder bei Jakob Fullonius (Brief von 1509 zum Ketzerprozeß in Bern), cf. Greyerz, H. von: Studien zur Kulturgeschichte der Stadt Bern am Ende des MA.s. In: Archiv des hist. Vereins des Kantons Bern 35 (1940) 177⫺491, hier 477 sq., 251 sq. ⫺ 22 z. B. Christian Thomasius, De crimine magiae, § 22, 35, 36, 42; id., Processus inquisitorii contra sagas, § 24. ⫺ 23 Frenzel, Motive, 681⫺ 694; Überblick bei Habiger-Tuczay, C.: Der Dämonenpakt in den ma. Qu.n. In: Amsterdamer Beitr.e zur älteren Germanistik 43⫺44 (1995) 221⫺240; ead. (wie not. 20). ⫺ 24 Frenzel, Motive, 685, 687, 691. ⫺ 25 Alsheimer, R.: Katalog protestant. Teufelserzählungen des 16. Jh.s. In: Brückner, 417⫺519 (bes. num. 8, 10, 30, 32, 130, 174, 178, 179, 195, 201, 276, 343, 351, 493, 523, 540, 541, 565, 645, 667, 681, 767, 817); Scholz Williams, G./Schwarz, A.: Existentielle Vergeblichkeit. Verträge in der Me´lusine, im Eulenspiegel und im Dr. Faustus. B. 2003. ⫺ 26 Frenzel, Motive, 687 sq. ⫺ 27 cf. die Modifikation der alten Fabel in Lessings Plänen zum „Faust“; Schmidt, K. M.: Faust. Ma. Legende ⫺ moderner Mythos? In: Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): Künstler ⫺ Dichter ⫺ Gelehrte. Konstanz 2005, 749⫺790, hier 785. ⫺ 28 Hoffmann, V.: „Zum wilden Mann“. Die anthropol. und poetologische Reduktion des T.themas in der Lit. des Realismus am Beispiel von Wilhelm Raabes Erzählung. In: Jb. der dt. Schillerges. 30 (1986) 472⫺492; id.: Strukturwandel in den „T.geschichten“ des 19. Jh.s. In: Titzmann, M. (ed.): Modelle des literar. Strukturwandels. Tübingen 1991, 117⫺127; id.: Der Wertkomplex ,Arbeit‘ in ausgewählten T.geschichten der Goethezeit und des Realismus. In: Segeberg, H. (ed.): Vom Wert der Arbeit. Zur literar. Konstitution des Wertkomplexes ,Arbeit‘ in der dt. Lit. (1770⫺1930). Tübingen 1991, 194⫺203; id.: Der Erzähler als dämonologischer Grenzüberschreiter. In: Frank, G./Lukas, W. (edd.): Norm ⫺ Grenze ⫺ Abweichung. Kultursemiotische
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Studien zu Lit., Medien und Wirtschaft. Passau 2004, 94⫺106. ⫺ 29 Fisch, H.: The Pact with the Devil. In: Yale Review 69 (1979⫺80) 520⫺531. ⫺ 30 Haug (wie not. 2) 206⫺209, 214 sq.; SorvakkoSpratte (wie not. 15). ⫺ 31 Brückner, 434 (num. 30), 483 (num. 523). ⫺ 32 ibid., 432 (num. 10). ⫺ 33 Hoffmann 1986 (wie not. 28) 472 sq., 486; id. 1991 (wie not. 28) 194; id. 2004 (wie not. 28) 95 sq. ⫺ 34 cf. die Arbeiten von Hoffmann (wie not. 28). ⫺ 35 Frenzel, Motive, 691. ⫺ 36 Freud, S.: Eine Teufelsneurose im 17. Jh. Wien 1923. ⫺ 37 cf. KHM/Uther 3, Reg. s. v. Teufel und T.; Wagner, W.-H.: Teufel und Gott in der dt. Volkssage. Greifswald 1930; Horn, T.: Der Teufel in Theologie und Volksmärchen. (Diss. masch.) Innsbruck 1962; Röhrich, L.: Teufelsmärchen und Teufelssagen. In: Lüthi, M./Röhrich, L./Fohrer, G. (edd.): Sagen und ihre Deutung. Göttingen 1965, 28⫺58; Kretzenbacher (wie not. 9); Zelger, R.: Teufelsverträge. Märchen, Sage, Schwank, Legende im Spiegel der Rechtsgeschichte. Ffm. u. a. 1996, 104⫺ 118; Garry, J./El-Shamy, H. (edd.): Archetypes and Motifs in Folklore and Literature. N. Y./L. 2005, 303⫺311. ⫺ 38 Zelger (wie not. 37). ⫺ 39 z. B. Malleus maleficarum 2,1,1. ⫺ 40 ibid. ⫺ 41 cf. auch Röhrich (wie not. 37) 40⫺42. ⫺ 42 Zelger (wie not. 37) 138⫺175 (sozialer Status des Teufelsbünders und allfällige Maskierung des Teufels sind nicht genügend differenziert).
Muri
Andre´ Schnyder
Text bezeichnet ein Wort-,Gewebe‘ (lat. textus: Geflecht), d. h. eine zusammenhängende sprachliche Äußerung, die mindestens einen Satz (so etwa beim J Sprichwort), in der Regel aber eine mehr oder weniger große Anzahl von Sätzen umfaßt und inhaltlich oder formal eine Einheit repräsentiert. Im Gegensatz zur T.linguistik, in der T. sowohl ein ,Autoren-‘ oder ,Performanzprodukt‘ als auch eine abstrakte theoretische Einheit bedeutet1, wird der Begriff in Lit.wissenschaft und Erzählforschung viel weniger problematisiert und meist als genereller Terminus für die von ihnen untersuchten Objekte, für jedwede Art von sprachlichen Gebilden, nicht nur Erzählungen im weiten Sinne, verwendet2. Auf dieser allg. Ebene spricht man (mit einem aus der Linguistik übernommenen Begriff) von verschiedenen J T.sorten (cf. J Gattungsprobleme) und ⫺ auf einen bestimmten J Stoff bezogen ⫺ z. B. von T.geschichte, methodisch von T.analyse und T.interpretation (J Semantische Analyse, J Interpretation), T.doku-
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mentation, T.kritik und T.vergleich (J Philol. Methode), in hist. Sicht vom ursprünglichen oder authentischen T. (J Authentizität), von T.treue oder T.variation (J Variabilität)3. T.e sind allg. in ein kulturelles Milieu sowie innerhalb dessen in spezielle situative J Kontexte (J Buch, J Performanz) eingebunden. T. kann als Begriff aber auch, etwa aus poststrukturalistischer Sicht, eine über Sprachliches hinausgehende metaphorische Bedeutung gewinnen, selbst der Kontext kann manchmal zum T. werden4. Wieweit das empirische Objekt der Erzählforscher als T. oder als ein Prozeß ⫺ als künstlerische Kommunikationsform ⫺ aufzufassen ist, wird kontrovers diskutiert5. E. C. Fine unterscheidet ein ethnolinguistisches, ein literar. und ein performatives T.modell, welch letzteres allein auch das ,Design‘ des Vortrags (Betonungen, rhythmische Pausen) festzuhalten vermag6. Kultursemiotische Studien fassen noch weitere Phänomene ⫺ z. B. Bilder, Lebensstile oder Kulturen ⫺ als T.e auf 7, und in der Linguistik werden nicht allein sprachliche T.e analysiert, sondern unter rezeptionsästhetischen Aspekten ist auch die J Kommunikation über T.e ein Forschungsthema8. Es lassen sich schriftl. und mündl. sowie ⫺ was gerade bei T.en aus der populären Überlieferung bedeutsam ist ⫺ verschriftlichte T.e unterscheiden, deren Entstehung je spezifischen Regelhaftigkeiten unterliegt (J Lit. und Volkserzählung, J Orale Tradition) und die auf diversen T.ebenen (im Hinblick auf Stoff, J Thema, J Morphologie des Erzählguts, J Struktur; cf. auch J Syntagmatische Achse) sowie intra- oder intertextuell untersucht werden können. Generell ist die mündl. Überlieferung gegenüber der schriftl. durch parataktischen Aufbau und kürzere Sätze sowie durch Wiederholungen und J Formelhaftigkeit gekennzeichnet, aber eben auch durch stimmliche Modulation (J Stimme) und begleitende Gestik (J Gebärde). Mündl. tradierte T.e sind flexible Gebilde, werden oft nur lückenhaft erinnert und erscheinen bei jedem Vortrag, der nicht ausdrücklich Worttreue erfordert (z. B. J Zauberspruch), in einer neuen T.gestalt und veränderten Präsentationsform aus der Fülle möglicher Realisationen. Da es in der Volksüberlieferung zwar einen J Archetyp geben mag, aber nie eine J Urform im strengen
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Textsorte
Sinne, die für den Traditionsprozeß bedeutsam wäre, werden textkritische Editionen von Aufzeichnungen aus der J Feldforschung anders angelegt als literar. T.ausgaben. Sie präsentieren z. B. keinen Lesarten-Apparat verschiedener T.fassungen, sondern notieren eventuell Hör- und Übermittlungsfehler sowie vor allem Daten zu J Erzählern, Vortragspraxis und Erzählsituationen sowie zur Überlieferungslage9. Die einen T. begleitenden Beigaben (Titel, Vorw., Anmerkungen, auch J Illustrationen) werden als ⫺ lektüreleitende, epochenabhängige ⫺ Paratexte bezeichnet10; für das Internet typisch ist die nichtlineare Verflechtung von Schrift, Bild und Ton zu einem komplexen Zeichenkonglomerat mit Vorläufigkeitscharakter, dem Hypertext oder Hypermediatext11, der durch gezielte ,Navigation‘ über ,Hyperlinks‘ erschlossen werden muß. 1 Vater, H.: Einführung in die T.linguistik. Struktur, Thema und Referenz in T.en. Mü. 21994; Dressler, W. (ed.): T.linguistik. Darmstadt 1978; Heinemann, W./Viehweger, D.: T.linguistik. Eine Einführung. Tübingen 1991; Antos, G./Tietz, H. (edd.): Die Zukunft der T.linguistik. Traditionen, Transformationen, Trends. Tübingen 1997. ⫺ 2 cf. die Art. T. etc. in RDL 3 (2003) 594⫺619. ⫺ 3 Dearing, V. A.: Principles and Practice of Textual Analysis. Berk./L. A./L. 1974. ⫺ 4 Ricœur, P.: The Model of the T. Meaningful Action Considered as a T. In: Social Research 38 (1971) 529⫺562. ⫺ 5 Ben-Amos, D.: Toward a Definition of Folklore in Context. In: JAFL 84 (1971) 3⫺15; Wilgus, D. K.: „The T. Is the Thing.“ ibid. 86 (1973) 241⫺252; Hymes, D.: Breakthrough into Performance. In: Ben-Amos, D./Goldstein, K. S. (edd.): Folklore. Performance and Communication. Den Haag/P. 1975, 11⫺74; Dundes, A.: Texture, T., and Context [1964]. In: id.: Interpreting Folklore. Bloom./L. 1980, 20⫺32; Bauman, R.: Story, Performance, and Event. Contextual Studies of Oral Narrative. L./N. Y. 1986. ⫺ 6 Fine, E. C.: The Folklore T. From Performance to Print. Bloom. 1984. ⫺ 7 Bachmann-Medick, D. (ed.): Kultur als T. Die anthropol. Wende in der Lit.wiss. Ffm. 1996. ⫺ 8 Schmidt, S. J.: Lit.wiss. zwischen Linguistik und Sozialpsychologie. Einige Konzepte und Probleme einer theoretisch-empirischen Lit.wiss. In: Zs. für germanistische Linguistik 2 (1974) 49⫺80, hier 63. ⫺ 9 Fischer, H.: Erhebung und Verarbeitung von T.en alltäglichen Erzählens. In: Raible, W. (ed.): Zwischen Festtag und Alltag. Tübingen 1988, 85⫺109. ⫺ 10 cf. Firmbach-Dassing, H.: Paratexte von Sagenbüchern. Diss. Würzburg 2003; Haase, D.: Framing the Brothers Grimm. Paratexts and Intercultural Transmission in Postwar English-Language Editions of the „Kinder- und Hausmärchen“. In: Fabula 44 (2003) 55⫺68. ⫺
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11 cf. Köck, C.: Bilderfolgen. Wahrnehmungswandel im Wirkungsfeld neuer Medien. In: Gerndt, H./ Haibl, M. (edd.): Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwiss. Münster u. a. 2005, 199⫺209, hier 204; Porombka, S.: Hypertext. Zur Kritik eines digitalen Mythos. Mü. 2001; Freisler, S.: Hypertext ⫺ Eine Begriffsbestimmung. In: Dt. Sprache 22 (1994) 19⫺50.
München
Helge Gerndt
Textsorte, ein Begriff, der seit den 1960er Jahren in der Linguistik als analytische Kategorie einer speziellen Textlinguistik auftaucht und später auch in der Lit.wissenschaft zur Charakterisierung von Texten nach funktionalen oder sozialen Kriterien verwendet wird. T. bezeichnet komplexe Muster sprachlicher Kommunikation, die als mehr oder weniger feste Bezugsgrößen des sprachlichen Austauschs in einer Sprach- oder Kulturgemeinschaft regulative Funktionen besitzen1. T.n ermöglichen die Unterscheidung verschiedener Klassen, Arten, Typen oder Gruppen von J Texten mit gleichen situativen und meist auch sprachlich-strukturellen Merkmalen2. Der Begriff T. wird jedoch in diversen Texttypenhierarchien nicht einheitlich verortet. Von manchen Autoren wird er z. B. der Textart, von anderen der Textgruppe untergeordnet und seinerseits weiter in T.nvarianten untergliedert3. Bei der Bestimmung von T. und der Definition von konkreten T.n spielt die Diskussion um die Auswahl der Differenzierungskriterien eine wesentliche Rolle, d. h. in welchem Umfang, Gewichtungsgrad und gegenseitigem Verhältnis jeweils textinterne Merkmale (cf. J Stil, J Stoff, J Struktur, J Thema) und/oder textexterne Aspekte (J Funktion, J Kontext, J Zielform) berücksichtigt werden sollen. Grundlegende Unterscheidungen betreffen in formaler Hinsicht mündl. und schriftl. fixierte Texte sowie unter funktionalen Gesichtspunkten poetische Texte und Gebrauchstexte, die sich ihrerseits wieder vielfältig differenzieren lassen4. Inhaltlich und hinsichtlich der Rezeption sind fiktionale (J Fiktionalität) und nichtfiktionale (J Faktizität) Texte zu trennen5, wenngleich es Übergänge gibt. Etwas Erzähltes, das gegenüber dem bloßen Informationsaustausch oder einer Sachdarstellung in der Regel fiktionale Elemente enthält,
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Textsorte
kann man in literar. und nichtliterar., in ästhetisch hervorragende und ästhetisch weniger anspruchsvolle Texte scheiden. Letzteren wären die J Trivialliteratur und die J Einfachen Formen zuzuordnen, obwohl diese, bes. das Märchen, durchaus einer eigenen, oft ausgeprägten (Popular-)Ästhetik unterworfen sind6. Daneben gibt es weitere Differenzierungsmöglichkeiten, vor allem nach der jeweiligen Textfunktion (normativ, informativ, appellativ, unterhaltend, belehrend), die nicht zuletzt vom Rezipienten durch Präsupposition, d. h. sein unterstellendes Vorwissen in bezug auf Inhalt und Struktur einer bestimmten T. beeinflußt ist7. Weitere Gliederungsaspekte bieten das je gegebene Strukturmuster der T.n (Deskription, Narration, Exposition, Argumentation, Instruktion) oder der intendierte Verwendungszweck (z. B. Aufruf, Lied, Rezension)8. Unter den hist. Texten der barockzeitlichen J Erbauungsliteratur hat z. B. O. Pfefferkorn als die neben Kirchenlied, geistlichem Lied, J Emblem, J Flugblatt und J Exemplum wichtigsten T.n J Predigt, Andacht und J Gebet unterschieden. Diese Einteilung nahm er vor aufgrund jeweils unterschiedlicher Gewichtung der den konkreten Text gestaltenden Prinzipien ⫺ Rhetorik, Polyfunktionalität und Mehrfachadressierung, Meditation, Intertextualität und Mystik ⫺ und interpretierte sie als in einer Folgebeziehung zueinander stehend: erst auf der Basis der Predigt werde die sinnvolle Rezeption der Andacht und darauf gestützt die des Gebets möglich9. Eine auf T.n bezogene stilistische Analyse der J Kinderund Hausmärchen der Brüder J Grimm erweist viele der pauschalen Charakterisierungen dieses Korpus, die unter Rezeptions- bzw. Gattungsstilaspekten oder textlinguistischen Gesichtspunkten vorgenommen wurden, als unzutreffend und bestimmt die KHM mit einem deren Qu.n zeitlich nahen Terminus als ,Predigtmärlein für Kinder‘10. Prinzipiell ist festzuhalten, daß sich Texte nach verschiedenen Kriterien und unterschiedlichen Abstraktionsniveaus klassifizieren lassen. So ergibt sich für T.n eine spezifische Lesart (etwa im Sinne von Textmuster) und eine unspezifisch-vage als ein Oberbegriff mit extrem weiter Ausdehnung (etwa im Sinne von Textgruppe). Beide haben ihre Berechtigung; denn im ersten Fall zielt man auf eine T.ntypo-
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logie, ein theoretisches System, das im Prinzip auf alle denkbaren Texte anwendbar ist, und im zweiten Fall besitzt der Begriff einen heuristischen Charakter11. Dieser Ansatz ist einer Erzählforschung dienlich, die sich von vornherein auf eine ausgewählte Textart, vor allem auf mündl. tradierte Texte, bezieht, für welche bereits im Alltag eine gewisse standardisierte Form sowie auch ein allg. Vorverständnis über diese Form besteht. Empirische Forschung verlangt, daß der Erstellung einer T.ntypologie (sofern sie überhaupt umfassend und zugleich hinreichend präzise möglich ist) eine T.nbeschreibung vorausgeht. Das Studium alltäglicher Erzählungen muß sich auf einer alltagsnahen Ebene vollziehen. Um das zu unterstreichen und ohne Vollständigkeit anzustreben, hat K. Adamzik knapp 4000 umgangssprachliche und wiss. T.nbezeichnungen aufgelistet12. Allein unter den Lemmata der EM befinden sich viele weitere, insgesamt ca 180 Begriffe, die sich als T.n mit verschiedenen Funktionsaspekten und auf unterschiedlichem Abstraktionsniveau verstehen lassen (von J Ammenmärchen über J Jenseitsvisionen und J Orakel bis J Zigeunererzählungen). In der Erzählforschung wird der Begriff T. überwiegend unspezifisch und oft synonym mit (Volkserzähl-)Gattung verwendet (J Gattungsprobleme)13. Statt eine sprachwiss. Textklassifikation zu übernehmen, erscheint es hier ergiebiger, das Anregungspotential zu nutzen, das die Textlinguistik für die Gattungsdiskussion zur Verfügung stellt. So kann etwa die Unterscheidung von Texten nach der in ihnen zum Ausdruck kommenden Sprechhaltung, wie sie H. Weinrich anhand von Tempusuntersuchungen getroffen hat, z. B. auch die Charakteristik von J Sage und J Märchen erhellen: Während nämlich eher ,besprechende‘ Texte (Sage) im Präsens, Perfekt oder Futur mitgeteilt werden, steht ein erzählender Text (Märchen) im Präteritum, Plusquamperfekt oder Konditional. Dem ersten entspricht situativ eine gespannte Zuhörhaltung, dem zweiten dagegen ein entspanntes Zuhören. In einer bestimmten Erzähl- oder Kommunikationssituation markiert der Märchenerzähler so u. a. mit grammatischen Mitteln die Grenze zwischen der Alltagswelt und der erzählten Welt. Er führt zugleich den Zuhörer mit der J
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Textkritik ⫺ Thailand
Eingangsformel ,Es war einmal‘ weniger in eine andere, vergangene Zeit als vielmehr in eine andere Sphäre mit einem eigenen Zeitbegriff (ein Schlaf kann dort 100 Jahre dauern), und er bestimmt auch das Ende der erzählten Welt durch eine J Schlußformel wie z. B. ,und wenn sie nicht gestorben sind …‘14. 1 Klausnitzer, R.: Lit.wiss. Begriffe, Verfahren, Arbeitstechniken. B./N. Y. 2004, 56. ⫺ 2 Bußmann, H.: Lex. der Sprachwiss. Stg. 32002, 690. ⫺ 3 cf. Gobyn, L.: T. n. Ein Methodenvergleich, ill. an einem Märchen. Brüssel 1985, 268; cf. Marfurt, B.: T. Witz. Möglichkeiten einer sprachwiss. T.n-Bestimmung. Tübingen 1977. ⫺ 4 Rolf, E.: Die Funktionen der Gebrauchstextsorten. B. 1993. ⫺ 5 Gobyn (wie not. 3) 271. ⫺ 6 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Göttingen 21990. ⫺ 7 Schmidt, S. J.: Texttheorie. Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation. Mü. 1973. ⫺ 8 cf. Lex. des gesamten Buchwesens 7. Stg. 2006, 390. ⫺ 9 Pfefferkorn, O.: Übung der Gottseligkeit. Die T.n Predigt, Andacht und Gebet im dt. Protestantismus des späten 16. und des 17. Jh.s. Ffm. 2005. ⫺ 10 Stolt, B.: T.nstilistische Beobachtungen zur „Gattung Grimm“. In: Die Brüder Grimm. Erbe und Rezeption. Stockholmer Symposium 1984. ed. A. Stedje. Stockholm 1985, 17⫺27. ⫺ 11 Adamzik, K.: T.n ⫺ Texttypologie. Eine kommentierte Bibliogr. Münster 1995. ⫺ 12 ibid., 255⫺284. ⫺ 13 cf. Fischer, H.: Erhebung und Verarbeitung von Texten alltäglichen Erzählens. In: Raible, W. (ed.): Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beitr.e zum Thema „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“. Tübingen 1988, 85⫺109. ⫺ 14 Weinrich, H.: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stg. u. a. 41977, bes. 48⫺50.
München
Helge Gerndt
Textkritik J Philologische Methode
Thailand. Über die Ursprünge der Thai ist viel spekuliert worden. In Forscherkreisen wird angenommen, daß die frühesten Spuren der Tai-sprechenden Völker (zu deren Sprachgruppe die Thai von T. gehören) im ersten Jahrtausend n. u. Z. in der Region Guangxi, im Südosten Chinas, zu finden sind. In der Mitte des 11. Jh.s kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen der Tai mit der chin. Herrschaft, die mit ihrer blutigen Niederwerfung endeten. Wahrscheinlich waren diese Niederlage und die anschließende erzwungene Si-
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nisierung der Tai-sprechenden Völker die Gründe für die Flucht vieler Tai südwärts in die bergigen Gegenden des heutigen nördl. Vietnam. Von dort eroberten sie in den folgenden zwei Jh.en große Teile des mittleren Mekong-, des Chaophraya- und des mittleren Irrawaddy-Flußgebiets. Dort bilden ihre Nachkommen noch immer die größte Bevölkerungsschicht. Die Grenzen des heutigen T. (wörtlich: Land der Freien; bis 1939: Siam) waren traditionell nicht geogr. festgelegt; dies geschah erst zwischen 1863 und 1907 durch Eingriffe der damaligen Kolonialmächte England und Frankreich in den Nachbarländern (cf. J Birma, J Laoten, J Kambodscha, J Vietnam). Das siames. Reich war das einzige Land Südostasiens, das nicht von Kolonialmächten beherrscht wurde. Den modernen thailänd. Staat bewohnen außer den Thai noch ethnische Minderheiten wie die Karen, Hmong, Yao, Lisu, Lahu, Lawa, Akha und Khmu, die jeweils eine eigene Kultur und oft eine eigene Erzähltradition bewahrt haben; bes. die der Khmu wurde ausführlicher dokumentiert1. Die diversen literar. Gattungen in ihrer Definition in der Thai-Sprache können oft nur andeutungsweise mit europ. Termini wiedergegeben werden. Die Erzählung allg. bezeichnen die Thai mit dem Wort nitha¯n (aus Pa¯li: nida¯na) oder niya¯i. Wenn es um das Erzählte oder eine Slg von Erzählungen geht, wird oft rüangla¯olüe verwendet. Witzige und schwankhafte Geschichten werden rüangtalok oder kletprawat genannt. Für Geschichten mit übernatürlichem Inhalt ist die Bezeichnung thepniya¯i (wörtlich: göttliche Geschichten) üblich. Innerhalb T.s sind unterschiedliche kulturelle Traditionen erkennbar. So ist der dichtbevölkerte Nordosten kulturell stark mit den Laoten verbunden. Der Norden ist durch die sog. Lanna¯ Thai-Kultur geprägt, die eine eigene literar. Tradition entwickelte und bis Anfang des 20. Jh.s ein eigenes Schriftzeichensystem benutzte. Einer der bekanntesten Sammler von Lanna¯-Erzählungen ist Sanguan Chotisukharat, dessen Bücher jedoch ausschließlich auf Thai erschienen sind2. Auch im Süden T.s entstand eine eigene Identität, die vom Islam geprägt ist und in einer spezifischen Lit. Ausdruck findet3.
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Thailand
Abgesehen von diesen Differenzierungen geht die traditionelle Thai-Lit. etwas vereinfacht auf zwei sehr unterschiedliche Strömungen zurück. Sie ist zum einen von der ind. Kultur geprägt und beschäftigt sich inhaltlich und formal mit dem Hof und städtischen Kulturen. Zum anderen gibt es eine einheimische Tradition, deren Stoffe und Erzählungen andere Tai-sprechende Völker ⫺ die nicht den Einflüssen der Mon und Khmer unterworfen waren ⫺ teilen und die von Erzählern in den Dörfern lebendig gehalten wurden. Beide Strömungen sind nicht immer getrennt. Oft dienen Volkserzählungen als Inspiration für höfische literar. Werke wie Bo˘t lakho˘n (Theaterskizzen) von König Rama II. (1804⫺24)4. Weitere Beispiele für kulturelle Einflüsse lassen sich im Zusammenhang mit Ursprungsmythen (J Schöpfung) beobachten. Zum einen gibt es Erzählstränge, die auf der buddhist. Slg Aggan˜n˜a suttanta (Ursprungserzählungen)5 basieren6, zum anderen erzählen einige dieser Mythen von einer Urzeit, in der eine Verbindung zwischen Himmel und Erde bestand, die dann zerstört wurde, und vom Überleben der ersten Menschen in einem J Kürbis. Diese Mythen sind auch bei anderen Völkern des östl. Asiens bekannt7. Beispiele finden sich ferner in Ätiologien über die Sonnen- und Mondfinsternis, die als Verursacher die ind. Ra¯hu nennen8. Andere Mythen erinnern an die typisch ostasiat. Deutung dieses Naturereignisses, derzufolge gelegentlich ein riesiger Frosch versucht, den Himmelskörper zu verschlingen9. Wie bei anderen südostasiat. Völkern gehen auch bei den Thai viele literar. Werke auf ind. Erzählgut zurück; die klassischen Dichter sind ohne Kenntnisse der hinduist. Götterwelt und der Pura¯nø as kaum zu verstehen. Bes. das J Ra¯ma¯yanø a-Epos ist in seiner Thai-Version (Ra¯makien) sehr beliebt. Es hat die bildende Kunst, Musik und Lit. auf vielfältige Weise beeinflußt10. So initiierten z. B. die Abschiedswörter des Affenherrschers Ba¯li an Sugrı¯va ein moralisches Lehrgedicht namens Pha¯li son no˘ng (Ba¯li lehrt die Jüngeren)11. Auch die J Ja¯takas sind eine stete Quelle der Inspiration. Am Anfang des 16. Jh.s war Lanna¯, der heutige Norden T.s, ein Zentrum für buddhist. Studien, wo eine Slg von 50 nichtkanonischen
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Ja¯takas entstand, die sich bis heute großer Beliebtheit erfreuen12. Zur richtigen Einordnung märchenhafter Erzählungen der klassischen thailänd. Lit. ist die Kenntnis des kosmologischen Textes Traiphu¯mikha¯tha¯ (Predigt über die drei Welten) und des dazugehörenden Samutpha¯p Traiphu¯m unverzichtbar. Diese Texte gehen auf das 14. Jh. zurück, wenngleich die ältesten überlieferten Fassungen erst aus dem 18. Jh. stammen. In diesen Büchern wird das ganze Universum beschrieben, von den höchsten Himmelsgegenden bis zu den tiefsten Höllen, die eigene, sichtbare Welt genauso wie die Welt der Ja¯takas und die Gegend der fabelhaften Mischwesen im Himapha¯nwald. Bis Anfang des 19. Jh.s haben Autoren die Traiphu¯m-Texte als Stoffreservoir benutzt, wobei sie keineswegs der Ansicht waren, die Realität zu verlassen. Viele dieser märchenhaften Erzählungen weisen ind. Lokalkolorit auf; die Handlungsträger ⫺ meist Prinzen und Prinzessinnen ⫺ haben ind. Namen, ebenso die genannten Länder und Hauptstädte. Die Handlung kann auf einheimisches Erzählgut zurückgehen (z. B. Kraitho˘ng [nach der Hauptfigur benannt] von Rama II.) oder auf freier Erfindung beruhen, die nichts mehr mit ind. Traditionen gemein hat. Während des 17. Jh.s war der siames. Hof bes. weltoffen. Aus dieser Zeit stammen Einflüsse aus der arab. Lit., wovon das Märchen Rüang sipso˘ng Liem (Über den zwölf Ecken) zeugt, welches offensichtlich auf der Geø a¯tim atø-Tøa¯’ı¯ baschichte vom freigebigen H siert13. Möglicherweise ist in dieser Zeit auch das nira¯t-Genre (lyrische Reisebeschreibung mit der Klage über die Trennung von der Geliebten) nach pers. Vorbild eingeführt worden; eines der frühesten Thai-nı¯ra¯ts ist wohl Kamsuan Sı¯ Pra¯t (Sı¯ Pra¯ts Klage; verfaßt Ende 17. Jh). Nang Tantrai (Frau Tantrai), ein Zyklus von Tiergeschichten, geht auf das ind. J Pan˜catantra zurück14. Die ind. Lokanı¯ti (Allg. Leitfaden) war Vorbild für eine Fülle von supha¯sit (Spruchdichtungen)15. Eine solche Slg kurzer Sprichwörter wird dem legendären Phra Ruang zugerechnet16. Es gibt auch längere moralische Dichtungen in der supha¯sitGattung. Am bekanntesten sind Sawatdı¯raksa¯ (Lehrgedicht für Prinzen)17 und Supha¯sit so˘n ying (Sprichwörter für Frauen), die beide dem
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Thailand
Dichter Suntho˘n Phu¯ (1786⫺1855) zugeschrieben werden, sodann Supha¯sit Thai so˘n cha¯i (Thai-Sprichwörter für junge Männer)18 und Supha¯sit wa¯t krasatrı¯ (Sprichwörter für Damen)19. Slgen von Rechtserzählungen der Thai sind bisher mit Ausnahme des Wat Chang Kham-Ms.s20 ⫺ einer Zusammenstellung von Rechtsregeln, Urteilsgeschichten und überarbeiteten Episoden aus Ja¯takas21 ⫺ kaum untersucht worden. Mit huapho˘-Geschichten hat W. Klausner ein lokales Genre der Volksüberlieferung entdeckt, das sich auf humoristische Weise mit den Schwierigkeiten eines Mannes befaßt, den hohen Ansprüchen der buddhist. Mönchsgemeinschaft, z. B. dem Enthaltsamkeitsgebot und dem Alkoholverzicht, gerecht zu werden. Ein ähnliches Korpus ist auch für Zentralthailand beschrieben worden22. Die mündl. Erzähltraditionen T.s wurden bisher nur ansatzweise dokumentiert. Eine erste detaillierte Unters. für die Provinz Chonburi führte K. Attagara durch. Sie stellte 128 Erzählungen nach 25 Kategorien zusammen23. 1982/83 erforschte S. Kriengkraipetch die mündl. Überlieferungen eines Ortes in der Provinz Suphanburi24. Im Norden T.s führten V. Phlenge und C. Uparanukhro umfangreiche Feldforschungen durch25. Für den Süden T.s legte P. Phromkaew eine Slg vor26. Sehr beliebt im ganzen Land sind Episoden aus dem Leben des Tricksters Si Thanonchai27, der im Nordosten T.s auch unter dem Namen Siang Miang28 bekannt ist. Mit Wortspielen, List und Frechheit hält er dem Hof einen Spiegel vor ⫺ ein wichtiges soziales Ventil in der hierarchisch geprägten thailänd. Gesellschaft. In der höfischen Lit. ist Ironie eine Seltenheit; eine Ausnahme bildet die Parodie Raden Landai (Der Edelmann Landai), verfaßt von Maha¯ Montrı¯ (1. Hälfte 19. Jh.)29. Inzwischen hat sich die thailänd. Erzählkultur grundsätzlich verändert. Zwar sind die klassischen Werke noch Teil des schulischen Lehrplans, Volkserzählungen aber sind größtenteils unter der Konkurrenz des Fernsehens (J Television) verschwunden. Dennoch läßt sich gelegentlich in Cartoons oder in den zahllosen gedr. Bildserien älteres einheimisches Erzählgut in neuer Form entdecken. 1 Lindell, K./Swahn, J.-Ö./Tayanin, D.: Folk Tales from Kammu [1]⫺6. L. u. a. 1977/78/84/89/95/98; iid: The Flood. Three Northern Kammu Versions of
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the Story of Creation [1976]. In: The Flood Myth. ed. A. Dundes. Berk./L. A./L. 1988, 265⫺280. ⫺ 2 Chotisukharat, S.: Prachum Tamna¯n Lanna¯thai (Erzählungen der Lannathai). Bangkok 1972; Chotisukharat, S.: Tamnan Mueang Nuea (Geschichten aus dem Norden). Bangkok 1961. ⫺ 3 Pongpaiboon, S.: Local Literature of Southern T. In: 5th Internat. Conference on Thai Studies. L. 1993, 1⫺33; Gesick, L.: In the Land of Lady White Blood. Ithaca, N. Y. 1995. ⫺ 4 Bo˘tlakho˘n Kraitho˘ng. Übers. P. Chaya. Bangkok 1981; cf. auch Formoso, B.: Tai Cosmology and the Influence of Buddhism. In: Diogenes 174 (1996) 61⫺82. ⫺ 5 Aggan˜n˜a suttanta, Dı¯gha Nika¯ya 1⫺3. ed. J. E. Carpenter. L. 1960, hier t. 3, 80⫺ 98. ⫺ 6 Mulholland, J.: Thai Book of Genesis. Canberra 1989; Textor, R. B.: Roster of the Gods. An Ethnography of the Supernatural in a Thai Village 1⫺6. New Haven 1973, 522; Terwiel, B. J.: The Tale of the Giant Rice-kernel and the Cursing Widow. In: Oosten, J. (ed.): Text and Tales. Studies in Oral Traditions. Leiden 1994, 10⫺23; id.: Rice Legends in Mainland Southeast Asia. In: Contributions to Southeast Asian Ethnography 10 (1994) 5⫺36. ⫺ 7 id.: Der Ursprung der Menschheit in der Ahom Lit. In: Völkerkunde-Tagung 1991. t. 2: Regionale Völkerkunde. ed. M. S. Laubscher. Mü. 1994, 161⫺ 185. ⫺ 8 Attagara, K.: The Folk Religion of Ban Nai. Bangkok 1968, 465. ⫺ 9 Plenge, V./Uparanukhro, C.: Duai Panya¯ lae Khwa¯mrak. Nitha¯n Chaomüang Nüa (Mit Weisheit und Liebe. Erzählungen der Leute aus dem Norden). Bangkok 1976, 58. ⫺ 10 Singaravelu, S.: The Ra¯ma Story in the Thai Cultural Tradition. In: J. of the Siam Soc. 70 (1982) 50⫺70. ⫺ 11 Wenk, K.: Phali lehrt die Jüngeren ⫺ Pha¯li so˘n no˘ng. Ein Beitr. zur Lit. und Soziologie des alten T. Hbg 1977. ⫺ 12 Velder, C.: Muschelprinz und duftende Blüte, Liebesgeschichten aus T. Zürich 1997 (Übers. von zwölf dieser Geschichten). ⫺ 13 Dangel, R.: Ha¯tim aus dem Stamme Ta¯i in einem siames. Märchen. In: Studi e materiali di storia delle religioni 10 (1934) 205⫺222. ⫺ 14 Ginsburg, H. D.: The Thai Tales of Nang Tantrai and the Pisaca Tales. In: J. of the Siam Soc. 63 (1975) 279⫺314. ⫺ 15 Seni Pramoj, M. R.: Interpretative Translations of Thai Poets. Bangkok 1965; Peltier, A.-R.: Dictons et proverbes Thai. Bangkok 1980; Bhamorabutr, A.: Thai Proverbs. Bangkok 1980. ⫺ 16 Prachum Suphasit Phra Ruang. Bangkok [1999]. ⫺ 17 Rajadhon, P. A.: Thai Literature and Swasdi Raksa. In: The Standard 286 (21.6.1952); Umavijani, M.: Sunthorn Phu, an Anthology. Bangkok 1990, 82⫺88; Wenk, K.: Studien zur Lit. der Thai 1⫺3. Hbg 1982⫺87, hier t. 1, 138⫺155. ⫺ 18 ibid., t. 3; Vella, W.: Women not to Marry. A Thai Father’s Instructions to His Son. In: Anuson W. Vella. ed. R. D. Renard. Honululu 1986, 71⫺73. ⫺ 19 Wenk (wie not. 17) t. 1, 174⫺202. ⫺ 20 Wichienkeeo, A./Wijeyewardene, G.: The Laws of King Mangrai (Mangrayathammasart). Canberra 1986. ⫺ 21 Huxley, A.: The Traditions of Mahosadha. Legal Reasoning from Northern T. In: Bulletin of the
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Tharsander
School of Oriental and African Studies 60 (1997) 315⫺326. ⫺ 22 Klausner, W.: Reflections in a Log Pond. Bangkok 1974, 91⫺93; Attagara (wie not. 8) 313⫺320. ⫺ 23 Attagara (wie not. 8). ⫺ 24 Kriengkraipetch, K.: Thai Folk Belief about Animals and Plants and Attitudes toward Nature. Culture and Environment in T. Bangkok 1989, 195⫺211. ⫺ 25 Plenge/Uparanukhro (wie not. 9). ⫺ 26 Phromkaew, P.: Nitha¯n Phünban Pha¯k Tai (Lokale Erzählungen aus dem Süden). Songkhla 1985. ⫺ 27 Frankfurter, O.: Ein siames. Eulenspiegel. Die Erlebnisse des Sri Thanonxai. In: T’oung Pao 5 (1894) 234⫺ 259. ⫺ 28 Nathalang, S. (ed.): Thai Folklore. Insights into Thai Culture. Bangkok 2000, 86. ⫺ 29 Wenk (wie not. 17) t. 3, 235⫺303.
Hamburg
Barend Jan Terwiel
Tharsander (aus dem Griechischen geklittert: mutiger Mann), Pseud. für Georg Wilhelm Wegener (Wegner), * 5. 9. 1692 Oranienburg, † 16. 8. 1765 Germendorf (Brandenburg-Preußen), dt. evangel. Pfarrer und Aufklärer. Wegener studierte seit Herbst 1710 an der Univ. Halle, seit Frühjahr 1711 an der Univ. Jena Philosophie, Theologie und Physik (Abschluß in Theologie 1713). Seit Ende 1713 war er Hauslehrer auf einem Gut in Hirschfelde bei Strausberg und begann dort mit der Lektüre der ,magischen Bücher‘ (u. a. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, J Paracelsus, Giovan Battista Della Porta; cf. J Magica-Lit.). Im Okt. 1716 studierte er in Frankfurt an der Oder Jura (Abbruch 1718), danach im Selbststudium Botanik und Mathematik im bürgerlichen Elternhaus in Oranienburg. Seit 1719 arbeitete er als Vikar und von 1721 an als Landpastor in Germendorf und Nassenheide (nahe Oranienburg)1. Wegeners Nachlaß befindet sich heute in der Kirchenbibliothek Spandau. Wegener besaß eine umfangreiche Privatbibliothek mit fast 1400 Bänden2, die es ihm ermöglichte, sowohl als Briefschreiber in die zeitgenössische phil. Polemik einzugreifen als auch als Herausgeber tätig zu werden (J Kompilationsliteratur). Seine Publ.stätigkeit begann Wegener mit einem Neudruck des von Uranophilo (i. e. J. J. Ebeling) begründeten Allg. sehr curieusen und immerwährenden Hauß- und Reisekalender, oder Oeconomischund einem jeden nützlichen Hb. (B. 1733, 3 1751). Er verbesserte und ergänzte den Text und fügte ein 4. Kapitel an.
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Als Wegeners Hauptwerk gilt der Schau⫽ Platz Vieler Ungereimten Meynungen und Erzehlungen; Worauf die unter […] Der Magiae Naturalis So Hoch gepriesenen Wissenschaften und Künste […] Und Viel andere fabelhafte, abergläubische und ungegründete Dinge mehr, Vorgestellet, geprüfet und entdecket werden […] 1⫺3 (B. 1735⫺43). Das in unterschiedlichen Aufl.n mit jeweils knapp 900 Seiten pro Band vorliegende Werk enthält ein Sachregister und schließt mit einer Fehlerberichtigung ab. Ganz im Stil der Zeit, die mit der Entstehung und Ausbreitung der preiswerten periodischen Publizistik verknüpft ist3, kündigte der Herausgeber (Vorrede, t. 1) an, daß es sich um eine Monatsschrift handle, die 80 Themen umfassen sollte (realisiert: 82), von denen er bis zu sechs Themen in den ein- bis zweimonatlich erscheinenden Faszikeln (24 Stück) abdruckte. Das Werk ist thematisch folgendermaßen gegliedert: Themen in t. 1: (1) Das große Platonische Weltjahr; (2) Das große Stufenjahr [die Lebensalter der Menschen]; (3) Von der Fatalität gewisser Zahlen und Zeiten; (4) Von gewissen abergläubischen Zeiten; (5) Die Fatalität gewisser Örter; (6) Die Fatalität gewisser Namen; (7) Von der Astrologie überhaupt; (8) Von Nativität [Horoskop] stellen; (9) Von der Wetter Prophezeiungen und Erwählungen; (10) Von den Prodigiis oder Wunderzeichen überhaupt; (11) Von den Omnibus und Ahnungen; (12) Todes Vorboten; (13) Allerhand Blutzeichen am Himmel; (14) Von Kometen, Finsternissen und anderen himmlischen Zeichen; (15) Allerhand wunderbare Regen; (16) Vom Donnerkeil; (17) Von dem Wasser über der Veste [Gen. 1,6⫺7]; (18) Luftreisen; (19) Magie überhaupt; (20) Von den verborgenen Eigenschaften; (21) Von den Geistern überhaupt; (22) Von der Hierarchia Coelesti; (24) Von Gespenstern allgemein; (25) Von der Erscheinung der abgeschiedenen Seelen und dem Astral-Geist; (26) Kobold und Wassernixen; (27) Das wütende Heer; (28) Von den Vampiren und schmatzenden Toten; (29) Nekromantie und Bannen der Geister; (30) Schatzgraben und Sprengwurzel; (31) Der Alraun. Themen in t. 2: (32) Von Incubis und Succubis, Wechselbälge; (33) Alpdrücken und Wechselzöpfe [enthält Mahr und Trude]; Von der Wahrsagerei überhaupt; (34) Geheime Wahrsagerkünste; (35) Orakel der Heiden und Sibyllen; (36) Chiromantie und Physiognomie; (37) Geomantie; (38) Wahrsagen durch Los; (39) Auslegung der Träume; (40) Auguris und Auspictis [Vogelflug als Vorzeichen]; (41) Onomantie oder Weissagung aus dem Namen; (42) Feuer- und Wasserproben; (43) Amulett und Anhängsel; (44) Kraft der Worte; (45) Segen sprechen [u. a.: Polemik gegen alte Kirche]; (46) gefrorene und
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Theater
eingeschlossene Worte (AaTh/ATU 1889 F: J Gefrorene Worte); (47) Die jüd. Kabbala; (48) Zauberei; (49) Werwölfe [J Wolfsmenschen]; (50) Zauberische Krankheiten und Heilungen; (51) Versetzung der Krankheiten [Transplantatio morborum]; (52) Von der Heilung der Kröpfe; (53) Festmachen [J Hiebund stichfest] und Gewehrversagen; (54) Unsichtbar machen; (55) Riesen und Zwerge [Reiseberichte, Grabfunde]; (56) Zeugung der Tiere und Pflanzen ohne Samen [Entstehung von niederen Tieren aus Schmutz]; (57) Vernunft und Sprache der Tiere [kluge Tiere sind z. B. Papageien und Elefanten]; (58) Wunderbare Tiere. Themen in t. 3: (59) Wunderbare Heuschrecken; (60) Wunderbare Gewächse [z. B. nicht Pflanze, nicht Tier]; (61) Monstra und Mißgeburten; (62) Wunderbare Hörner [Walzähne; Horn des Einhorns]; (63) Teufelshöhlen und -örter [z. B. Skylla und Charybdis; Fata Morgana]; (64) Wunderbare Brunnen und Seen; (65) Wunderbare Schriften [auch Geheimschriften]; (66) Wunderbare Spiegel; (67) Kreaturen, die im Feuer leben; (68) Von den Geschlechtsmerkmalen [Völkerstereotypen]; (69) Aberglauben bei dem Gebet; (70) Steine und ihre geheimen Kräfte; (71) Musik und deren wunderbare Wirkung; (72) Zeugung schöner Kinder; (73) Vom ewigen Juden (AaTh/ATU 777: J Ewiger Jude); (74) Von den Zigeunern; (75) Der Sonnen-Ostertanz [spezielles astronomisches Phänomen]; (76) Auferstehung der Toten bei Kairo in Ägypten [spezielles Phänomen, betreffend Fruchtbarkeit des Nilwassers]; (77) Ob der Mensch eine kleine Welt sei [Mikrokosmos-Diskurs der Stoiker]; (78) Arte memoriali artificiali [Memorieren von Wörtern, Versen und Zahlen]; (79) Von einigen großsprecherischen Gelehrten; (80) Allerhand fabelhafte, abergläubige und ungereimte Dinge [z. B. Somnambulismus, Veitstanz]; (81) Sympathie und Antipathie; (82) Zusätze und Verbesserungen.
Die Kapitel über die einzelnen Themen beginnen in der Regel mit einer Definition des Phänomens oder Ereignisses, danach folgen Belege aus dem Korpus der Magia naturalis des 15.⫺17. Jh.s, wobei Wegener der wörtlichen Zitierweise wenig Wert zumaß, jedoch die Autorität der zitierten Autoren durch Fußnoten wahrte. Innerhalb der Texte legte er bes. Gewicht auf die Entlarvung von Täuschungen, Fälschungen und Humbug (J Magie, J Magisches Weltbild). Im 19. Jh. wurde Wegener oft direkt und indirekt zitiert und als Quelle für Magiediskurse verwendet, etwa in G. C. Horsts Zauberbibliothek (1821⫺26) und in G. G. Soldans Geschichte der Hexenprozesse (neu ed. 1843 u. ö.) bis hin zum HDA (143 Belege)4. Wegener scheint sein gesamtes publizistisches Œuvre schon 1735 geplant zu haben. In
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der Vorrede des 1. Bandes des Schau-Platzes verwies er seine Leser betr. Magnetismus der Körper und Alchimie auf selbständige Traktate, die er zu schreiben gedenke. Den Magnetismus handelte er dann aber doch in seinem Hauptwerk in Kap. 81 ab. Zur Alchimie kam heraus: Adeptus Ineptus, Oder Entdeckung der falsch berühmten Kunst Alchimie genannt (B. 1744). Im selben Jahr erschien auch Die Unnötige Furcht für den Cometen in einer Predigt über Jer. 10,2. Später griff Wegener einen Zeitungsbericht auf, um seine Phil. Abhdlg von Gespenstern worinn sogleich eine kurtze Nachricht über den Wustermark. Kobold gegeben wird (B. 1747) zu rechtfertigen: In Braunschweig war in dem 1745 gegründeten Carolinum, einer modernen Bildungseinrichtung, ein angeblicher Wiedergänger aufgetaucht. Das letzte gedr. Traktat Wegeners beschäftigte sich innerhalb eines Preisausschreibens der Berliner Akad. der Wiss.en mit der Leibnizschen Monadenlehre und wurde als Akad.schrift gedruckt: Wiederlegung der Leibnitzischen Monadologie und der Einfachen Dinge (B. 1748). Im Vorwort zum 3. Band des Schau-Platzes stellte Wegener Überlegungen darüber an, wie sinnvoll die Herausgabe eines magischen Wb.s sein könne. Dies hätte er durch die Verkürzung seiner thematischen Texte leicht erarbeiten können. Er verzichtete darauf, weil er befürchtete, daß es unkalkulierbare, d. h. gegenaufklärerische Wirkungen bei den Lesern hervorrufen könne. 1 Lebenslauf […] Hrn. Georg Wilhelm Wegners, gewesener Prediger zu Germendorf und Nassenheide, in der Mittelmark, von ihm selbst aufgesetzt. In: Nova Acta Historico-Ecclesiastica. Oder Slg zu den neuesten Kirchengeschichten 49. Weimar 1767, 105⫺121; Biedermann, H.: Lex. der magischen Künste. Graz 31998, 422 sq. ⫺ 2 Plümacher, E.: Die Bibl. der St. Nikolai-Kirche in Spandau. In: Jb. für Berlin-Brandenburg. Kirchengeschichte 46 (1971) 35⫺ 101. ⫺ 3 Weber, J.: Straßburg 1605. Die Geburt der Ztg. In: Jb. für Kommunikationsgeschichte 7 (2005) 3⫺24. ⫺ 4 cf. HDA (CD-ROM B. 2006).
Bremen
Rainer Alsheimer
Theater J Märchenballett, J Märchenspiel, J Oper, J Puppentheater, J Schattenspiel, J Volksschauspiel
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Theatrum diabolorum ⫺ Theatrum Europaeum Denckwürdiger Geschichten
Theatrum diabolorum J Teufelliteratur
Theatrum Europaeum Denckwürdiger Geschichten. Das T. E. ist neben der Biblia Sacra (1625⫺27) und der Topographia des M. J Zeiller mit ihren exakten Städtebildern (1642⫺ 55) die ambitionierteste ill. Serienedition des Kupferstechers und Verlegers Matthäus Merian d. Ä. (1593⫺1650)1: T. E., oder, Ausführliche und warhafftige Beschreibung aller und jeder denckwürdiger Geschichten: so sich hin und wieder in der Welt fürnemblich aber in Europa, und Teutschlanden […] zugetragen haben […] mit vieler fürnehmer Herren und Potentaten contrafacturen, wie auch berühmten Städten, Vestungen, Pässen, Schlachten und Belägerungen eigentlichen Delineationen und Abrissen gezieret.
Das T. E. gilt als exemplarisches Produkt der frühen dt.sprachigen Publizistik und erregte bald nach dem Erscheinen des 1. Bandes (1633) breites Interesse bei den gebildeten Lesern. Seit Beginn der Presseforschung ist es ein wichtiger hist. Fundus dieser Spezialdisziplin2. Inhalt des T. E. ist die Beschreibung ,denkwürdiger Geschichten‘ eines Jh.s (1617⫺1718), das den 30jährigen Krieg und die Zeit der schwed. Vormachtstellung in Europa bis zum Tode Karls XII. im 2. Nord. Krieg umfaßt. Die Edition der insgesamt 21 ⫺ bis zu 1500 Seiten starken ⫺ Folianten erstreckte sich über den Zeitraum von 1633⫺1738, wobei die ersten zehn Bände mehrere Aufl.n erfuhren3. Nach gut hundert Erscheinungsjahren war die Konzeption des Werkes offensichtlich für die Leser nicht mehr zeitgemäß und die Publ. wurde eingestellt. Das T. E. schloß chronologisch und editorisch direkt an die ebenfalls bei Merian erschienene Hist. Chronica, oder, Beschreibung der führnemsten Geschichten so sich von Anfang der Welt auff unsere Zeitten zugetragen […] (1630⫺34) des J. L. Gottfried4 an, deren letzter Teil über die ,Monarchie der Römer‘ vermutlich teilweise von dem ersten Textkompilator des T. E., J. P. J Abelin, verfaßt worden war. Gemäß dem damaligen Geschichtsverständnis begann die letzte, d. h. die ,röm.‘ Epoche der Weltchronik mit dem Leben des ,Monarchen‘ Julius Caesar und enthielt fünf Abschnitte: Caesar bis J Konstantin d. Gr. (einschließlich des frühen Christentums); Kon-
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stantin d. Gr. bis zum Jahr 1000 p. Chr. n.; 1000⫺1500; 1500⫺1618; 1618⫺33. Für jede der Epochen waren vor Beginn der eigentlichen Texte die wichtigsten Persönlichkeiten in Form von Porträtmedaillons imaginiert. Bedeutsame Phänomene und Ereignisse erhielten Darstellungen in Druckgrafiken, wobei Merian nicht nur neue Stiche verwendete, sondern für den 1. Band und für den Beginn der ,röm.‘ Epoche z. B. auf seine Illustrationen zum A. T. und zum N. T. zurückgriff. Abelin, der bis zu seinem Tode (1637) die Texte für die ersten beiden Bände des T. E. zusammenstellte und damit die inhaltliche Gliederung vorgab, und Gottfried, der Verf. der dreibändigen Weltchronik, wurden irrtümlicherweise seit der Mitte des 19. Jh.s als Pseud.e desselben Autors angesehen5. Inzwischen ist bekannt, daß der Frankfurter Schullehrer Abelin nicht mit dem reformierten Pastor der Gemeinde Offenbach J. L. Gottfried (um 1654⫺1733) identisch ist. Beide arbeiteten nicht nur in ihrem jeweiligen Hauptberuf, sondern auch als Autoren für verschiedene zeitgenössische Verlage6. Dafür, daß auch die Nachfolger Abelins die Kompilationstätigkeiten gegen Geld ausübten und sich wenig Ruhm von ihrer Arbeit erhofften, spricht, daß ein Großteil der Bände anonym herausgegeben wurde. Als weitere Verf. findet man auf den Titelblättern: H. Oraeus (Ber.szeitraum 1632⫺42), J. P. Lotichius (1643⫺47), J. G. Schieder (1647⫺ 57), M. Meyer (1657⫺65), W. J. Geiger (1665⫺ 71), D. Schneider (1701⫺03)7. Die ersten beiden Bände geben die Struktur der späteren Ausg.n grundsätzlich vor. Der erste Band enthält als Frontispiz eine Erdkugel, auf der Europa durch Beleuchtung hervorgehoben wird. Mittelpunkt und Schauplatz der Landkarte bildet das Reichsgebiet, auf dem sich zu jener Zeit der europ. Krieg abspielte, ergänzt um die Gebiete der kriegführenden Länder: Habsburg einschließlich span. Linie, Frankreich und südl. Schweden. Auf einem Thron sitzt die Königin Europa, umgeben von den Allegorien und Symbolen der anderen Kontinente. Eine umfassendere zweite Europakarte schließt sich an. Sie enthält die Verbreitungsgebiete der Juden, Griechen und Römer in der Antike8. Die ersten Bände des T. E. sind rein annalistisch gegliedert. Später tritt eine Untergliede-
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Theatrum de veneficis ⫺ Thema
rung nach Nationen dazu. In die Texte wurden als Abb.en eingefügt: Porträts, Festungen, belagerte und gestürmte Städte, Schlachtenszenen und Heerlager, aber auch bes. Naturereignisse, exotische Landschaften und Orte aus fremden Erdteilen, Vulkane, Kometen, Mißgeburten (J Prodigien) und sonstiges ,Denkwürdiges‘. Hauptquellen waren, wie bei den frühen Ztgen, die zur Leipziger Messe herausgegebenen Nachrichten (Meßrelationen). Nach H. Bingel faßte das T. E. von Anfang an interpretierte Geschichte (J Historie, Historienliteratur) zusammen. Dies betrifft sowohl die Bilder als auch die Texte. Anhand der frühen Bände läßt sich nachweisen, wie z. B. bei Neuauflagen schwedenfreundliche Interpretationen abgeschwächt wurden, als der Verlagsort Frankfurt am Main unter kaiserlichen Einfluß kam9. Bilddarstellungen von Ereignissen erlangten den Status hist. Faktizität für die dt. Nationalgeschichte. Der 2. Prager Fenstersturz von 1618 etwa gilt seit seiner Darstellung durch Holzschnitt und Kupferstich, die auch auf Flugblättern verbreitet wurde10, unwiderlegbar als Auftakt des 30jährigen Krieges. Von bes. Bedeutung für die dt. Nationalliteratur ist J Schillers Übernahme von Schilderungen aus dem T. E., welche er als Hauptquellen für seine Geschichte des 30jährigen Kriegs (1791⫺ 93) verwendete11. In Schillers dramatischer Trilogie Wallenstein (1798⫺99) lassen sich Regie- und Bühnenanweisungen belegen, die auf den entsprechenden Kupferstichen im T. E. aufbauen. Die Curiosa und Exotica, die als Belehrungs- und Unterhaltungsstoff im T. E. aufgeführt sind, wirkten kaum in die im 18. und 19. Jh. entstehende dt. Volksliteratur hinein, vermutlich weil sie den Sagen- und Märchenherausgebern zu aktuell waren. 1 Wüthrich, L. H.: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ä. 1⫺4. Basel/Hbg 1966⫺ 96. ⫺ 2 Bingel, H.: Das T. E., ein Beitr. zur Publizistik des 17. und 18. Jh.s. Diss. Mü. 1909 (Nachdr. Vaduz 1988). ⫺ 3 Ber.szeitraum der Bände: t. 1 (Zeitraum 1617⫺28) ist erschienen 1635, 1643, 1662; t. 2. (1629⫺32) 1633, 1637, 1646, 1679; t. 3 (1633⫺38) 1639, 1644, 1670; t. 4 (1639⫺42) 1643, 1648, 1639; t. 5 (1643⫺Juni 1647) 1647, 1651, 1707; t. 6 (Juli 1647⫺50) 1652, 1663; t. 7 (1651⫺März 1657) 1663, 1685; t. 8 (April 1657⫺Mai 1660) 1667, 1693; t. 9 (Juni 1660⫺65) 1662, 1699; t. 10 (1665⫺71) 1677, 1703; t. 11 (1672⫺78/79) 1682; t. 12 (1679⫺86) 1691;
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t. 13 (1687⫺90) 1698; t. 14 (1691⫺95) 1702; t. 15 (1696⫺1700) 1707; t. 16 (1701⫺03) 1717; t. 17 (1704⫺06) 1718; t. 18 (1707⫺09) 1720; t. 19 (1710⫺ 12) 1723; t. 20 (1713⫺15) 1734; t. 21 (1716⫺18) 1738. ⫺ 4 Wüthrich, L. H.: Gottfried, J. L. In: NDB 6 (1964) 677 sq. ⫺ 5 Liliencron, R. von: Abelin, J. P. In: ADB 1 (1875) 18 sq.; cf. Droysen, G.: Arlanibaeus, Godofredus, Abelinus. Habilitationsschrift B. 1864. ⫺ 6 Schmale, W.: Das 17. Jh. und die neuere europ. Geschichte. In: Hist. Zs. 264 (1997) 587⫺611 (mit not. 6, 7). ⫺ 7 Tabellarisch dargestellt bei Bingel (wie not. 2) 6. ⫺ 8 cf. Schmale (wie not. 6). ⫺ 9 Bingel (wie not. 2) 19⫺21. ⫺ 10 z. B. Alexander, D./ Strauss, W. L. (edd.): The German Single-Leaf Woodcut 1600⫺1700. t. 1. N. Y. 1977, 333 (Wenzel Kralow. ⫺ 11 Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. 4: Hist. Schr. ed. G. Fricke/H. G. Göpfert. Mü. 31962, 1041⫺ 1043.
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Theatrum de veneficis J Malleus maleficarum
Theatrum vitae humanae J Beyerlinck, Laurentius, J Zwinger, Theodor
Thema. Begriffsgeschichtlicher Ausgangspunkt des in allen europ. Sprachen verbreiteten Wortes ist nicht das griech. Substantiv ,thema‘ in seiner Grundbedeutung (das Hingestellte), sondern in jener spezialisierten Bedeutung, wie sie in lat. rhetorischen Schr. vom 1. Jh. p. Chr. n. an zu finden ist1. In den Controversiae (1,2,14; 7,5,12) Senecas d. Ä. bezeichnet ,thema‘ das Textstück, das den Tatbestand eines (zumeist fingierten) Rechtsfalls skizziert und als solches den Schülern zur Bearb., d. h. zur Abfassung einer Parteienrede (declamatio), vorgelegt wurde. Auch bei Quintilian ist der Zusammenhang mit dem Schulunterricht deutlich (Institutio oratoria 2,10,5; 4,2,28; 5,10,9; 7,1,4; 12,8,6: „themata in scholis posita“). Er weist darauf hin, daß Cicero das griech. Wort mit ,propositio‘ wiedergibt, schlägt selbst als Übers. ,positio‘ vor (2,10,15), rückt seine Verwendung jedoch vor allem in die semantische Nähe der rhetorischen Termini ,materia‘ (J Stoff) und ,argumentum‘ (5,10,9). Die bei Quintilian vorbereitete, wenn auch noch nicht vollzogene Bedeutungserwei-
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Thema
terung von ,thema‘ im Sinne einer allg. Bezeichnung für die zu bearbeitende ,materia‘ wird für die folgenden Jh.e grundlegend, auch wenn es in der Spätantike noch Verf. von Rhetoriken gibt, die um die enge technische Wortbedeutung von ,thema‘ wissen (Victorinus, Iulius Victor)2. Der Funktionsverlust der Rhetorik vom frühen MA. an ⫺ genauer: die Verlagerung ihrer Anwendung allein auf die Predigt ⫺ bewirkt für den allg. Schulunterricht, daß das Regelwerk der Rhetorik in engen Zusammenhang mit dem der Grammatik tritt und beide als Rüstzeug für die sprachliche Ausbildung im weiten Sinn genutzt werden (Sprachlehre, Dichtererklärung, Abfassung von Texten). So können Definitionen wie „thema quod est materia“ in einen grammatischen Traktat aufgenommen werden3 und rhetorische Schemata der ,inventio‘ (Lehre von der Auffindung der Stoffe, also ,Stoffsammlung‘) bei der Dichtererklärung, zumal der Erklärung der Werke J Vergils, Anwendung finden. Ein in diesem Zusammenhang bes. aufschlußreiches Beispiel stellt das spätkaroling. Fragment eines Vergilkommentars dar, in dem es heißt: „Secunda periocha est ,ti‘ id est quid. Ad quam interrogationem redditur ,thema‘ id est res, quae titulo ipsius operis declaratur“ (Der zweite Umstand ist die Frage nach dem Was, auf die sich das T. bezieht, das heißt der Gegenstand, der im Titel des Werks ausgedrückt wird)4. Die Identifikation von T. und Gegenstand des Werks mit der zusätzlichen Veranschaulichung, daß das T. gleichsam als Werktitel formuliert oder formulierbar ist, kennzeichnet die Bedeutung von T. im ganzen Verlauf des MA.s und darüber hinaus. Belege hierfür finden sich in späteren lat. Dichtungslehren, z. B. bei Geoffroi de Vinsauf (Poetria nova, V. 54; um 1200) oder bei Eberhard dem Deutschen (Laborintus, V. 269 u. ö.; 13. Jh.), welch letzterer für ,thema‘ eine bes. Vorliebe zu haben scheint. Man darf jedoch davon ausgehen, daß diese Verwendung des Wortes für den ma. Schulbetrieb im lat. Europa insgesamt charakteristisch ist, denn alle europ. Volkssprachen kennen den Terminus in identischer Bedeutung, das Französische vom 13. Jh. an, das Italienische und das Englische vom 14. Jh. an, das Deutsche wohl erst vom 15. Jh. an5.
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Einige Belege: Bei Jean de Meun wird der Gegenstand der Predigt des Genius ,theme‘ genannt (Roman de la Rose, V. 19458); J Boccaccio läßt seine fröhliche Runde (lieta brigata), von Ausnahmen abgesehen, Novellen über ein festgelegtes ,tema‘ erzählen (9,10), und bei J Chaucer (The Pardoner’s Prologue, V. 425 sq.) verkündet der Ablaßkrämer, daß das T. seiner Predigten stets dasselbe ist: „Therfore my theme is yet, and evere was, ,Radix malorum est Cupiditas.‘“ Europ. Belege für T. in der Bedeutung ,Gegenstand eines Werks‘ ⫺ gleichgültig, ob dieses im Titel steht oder nicht ⫺ aus dem 16. bis 19. Jh. brauchen hier sicher nicht angeführt zu werden; dennoch sei es gestattet, den Überblick mit Goethe zu beschließen: „Liebe sei vor allen Dingen / Unser Thema, wenn wir singen“ (West-östl. Divan, Buch des Sängers, Elemente).
Die europ. Geschichte des Wortes T. in der hier interessierenden Bedeutung ausführlicher als in anderen Kompendien darzustellen, schien notwendig, um auf die Schwierigkeit aufmerksam zu machen, die darin besteht, einen seit über eintausend Jahren festgelegten Sprachgebrauch dadurch zu ,bereichern‘, daß man dem Wort für wiss. Zwecke spezialisierte Bedeutungen zuweist. Daß man solche Versuche überhaupt unternommen hat (übrigens ohne sich dabei zu fragen, ob europ. Wissenschaftler anderer Sprachen derartigen Bedeutungsspezialisierungen folgen können), liegt vor allem daran, daß man gegenüber dem von mehreren Forschern des 20. Jh.s semantisch oft recht eng definierten Terminus J Motiv einen weiter gespannten Terminus zu benötigen glaubte. Im Falle der motivgeschichtlichen oder der motivanalytischen J Interpretation eines einzelnen literar. oder der mündl. Erzähltradition angehörenden J Textes bedarf es einer Begriffsspezialisierung von T. jedoch keineswegs. Abgesehen davon, daß es sich, jedenfalls im Deutschen, nicht empfiehlt, dem Wort den Status eines bes. wiss. Begriffs zu verleihen, da es bereits eine präzise und für die Interpretation durchaus verwendbare Bedeutung besitzt, könnte man einfach so verfahren, daß man im Sinne einer Hierarchisierung von Motivfunktionen dasjenige Kern- oder Zentralmotiv, das den Gegenstand des Textes determiniert, T. des Textes nennt (als ob es im Titel stünde). H. Petriconi hat mehrere von ihm literaturgeschichtlich untersuchte Motive Themen genannt (Die verführte Unschuld, 1953; Das Reich des Untergangs, 1958; Verzicht auf Liebe6, Der Tod des Helden7). Er hätte auch
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Thema
von Motiven sprechen können, wählte aber T., um einerseits den bes. Stellenwert des Motivs im jeweiligen Werk, andererseits die literaturgeschichtliche Filiation der von ihm untersuchten Werke besser hervortreten zu lassen. In dieser Weise gelangen bei ihm, wie man sieht, nur ganz konkret definierte Motive (Grundwort mit spezifischem Zusatz, also nicht ,Unschuld‘, sondern ,verführte Unschuld‘ etc.), die eine ,Lit.geschichte‘ haben, zur Darstellung. Dieser Definition von T. neigt auch T. Wolpers (1993) zu, der ⫺ ohne sich auf Petriconi zu beziehen ⫺ die Definition von T. an ein um ein ,qualifying adjective‘ erweitertes ,abstract noun‘ bindet8. Daß man in anderen Sprachen, zum Beispiel dem Französischen oder Englischen, seit der Mitte des 20. Jh.s um eine Revitalisierung von ,the`me‘ bzw. ,theme‘ bemüht ist, hat ⫺ was nicht immer erkannt wird ⫺ seinen Grund vor allem darin, daß man den dt. kontrastierenden Begriffsbestimmungen von Motiv und Stoff nicht zu folgen vermochte, und dies um so weniger, als ,the`me‘ bzw. ,theme‘ in beiden Sprachen auch ,Stoff ‘ meinen kann. Auch der Vorschlag von R. Trousson, bestimmte für die Darstellung eines hist. Längsschnitts geeignete antike mythol. Stoffe ,the`me‘ zu nennen (Le The`me de Prome´the´e dans la litte´rature europe´enne, 1964) und die Entfaltung eines entsprechenden Forschungsprogramms als ,the´matologie‘ zu empfehlen, hängt mit der frz. Zurückhaltung gegenüber dem dt. literaturwiss. Begriff Motiv zusammen (im Deutschen würde man in der Tat am einfachsten vom Prometheus-Motiv sprechen). Im engl. wiss. Wortgebrauch von ,theme‘ scheint eine brauchbare semantische Abgrenzung von ,motif‘ bisher nicht gelungen zu sein. Das gilt jedenfalls für das von J.-C. Seigneuret herausgegebene Dict. of Literary Themes and Motifs 1⫺2 (1988) wie auch für H. S. und I. Daemmrichs Handbuch Themes and Motifs in Western Literature (1987, 21995), in denen beiden recht unsauber mit Elementen einer funktionalen und zugleich semantischen Differenzierung von ,theme‘ und ,motif‘ operiert wird9. Was die dt. Erzählforschung betrifft, sind u. a. von M. J Lüthi und von I.-M. J Greverus Versuche der Differenzierung von T. und Motiv unternommen worden. Nach Lüthi ist das Motiv ,konkret‘, das T. (als ,Idee‘, ,Pro-
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blem‘, ,Hoffnung‘ etc.) ,geistig‘ ⫺ eine Auffassung, die sich in dieser Formulierung nicht nur recht weit vom allg. Sprachgebrauch entfernt, sondern auch den Motivbegriff selbst semantisch sehr strapaziert10. Greverus diskutiert eine (wichtige) praktische Frage: In dem konkreten Fall der Katalogisierung der Motive der dt.sprachigen Bergmannssage schlägt sie vor, den Terminus T. für die Kennzeichnung einer Grundidee (z. B. ,Der verschüttete Bergmann‘) zu reservieren, für deren erzählerische Realisierung in den verschiedenen Texten ein Inventar verschiedener Motive (z. B. ,Brot und Öl versiegen nicht‘) zur Verfügung steht11. Greverus‘ Vorschlag erfüllt nicht nur die Bedingung einer klaren funktionalen Hierarchisierung von T. und Motiv, sondern auch die der Anwendung auf ein klar definiertes Textkorpus. Angesichts der vorangehenden Überlegungen erscheint es als unergiebig, darüber nachzudenken, was ein T. überhaupt sei (analoge Schwierigkeiten bestehen bei dem Versuch der semantischen Definition von Motiv). Es verdient aber durchaus Interesse ⫺ bei einem Einzeltext oder einem Textkorpus oder einer Textreihe ⫺ zu fragen, was als der Gegenstand (das T.) des jeweiligen Textes verstanden werden kann und welche Texte unter dasselbe (einmal definierte) T. zu stellen sind. Es liegt dabei auf der Hand (wie im Falle eines Motivs12), daß die Bestimmung des T.s eines Textes (wenn es nicht, wie in glücklicheren Zeiten des ma. Schulunterrichts, bereits im Titel formuliert ist) die Leistung des Interpreten ist. 1 Der Begriff T. fehlt in den zahlreichen rhetorischen Schr. Ciceros; vielleicht ist dies der Grund dafür, daß er von H. Lausberg, der ihn noch in der 2. Aufl. seiner „Elemente der literar. Rhetorik“ erwähnt (Mü. 1963, 22), in sein „Hb. der literar. Rhetorik“ 1⫺2 (zuletzt Stg. 31990) nicht aufgenommen ist; er fehlt auch bei Ueding, G./Steinbrink, B.: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stg. 31994 und Barck, K. u. a. (edd.): Ästhetische Grundbegriffe 6. Stg. 2005. ⫺ 2 Halm, C.: Rhetores Latini minores. Lpz. 1863, 201, 374. ⫺ 3 Keil, H.: Grammatici Latini 8. Lpz. 1870, 295. ⫺ 4 Das lat. Textstück bei Bayer, K./Götte, J.: Vergil: Aeneis und die VergilViten. Mü. 1958, 988. ⫺ 5 Umfangreiches dt. Belegmaterial bei Schulz, H./Basler, O.: Dt. Fremdwb. 5. B. 1981, 219⫺221. ⫺ 6 Petriconi, H.: Metamorphosen der Träume. Fünf Beispiele einer Lit.geschichte als Themengeschichte. Nachwort M. Kruse. Ffm. 1971, 99⫺114. ⫺ 7 ibid., 115⫺158. ⫺ 8 Wolpers,
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Theogonie
T.: Motif and Theme as Structural Content Units and ,Concrete Universals‘. In: Sollors, W. (ed.): The Return of Thematic Criticism. Cambr., Mass./L. 1993, 80⫺91. ⫺ 9 cf. bes. Daemmrich, H. S. und I.: Themes and Motifs in Western Literature. Tübingen 1987, 239⫺241; cf. auch Thematics Reconsidered. Festschr. H. S. Daemmrich. Amst./Atlanta 1995. ⫺ 10 Lüthi, M.: Motiv, Zug, T. aus der Sicht der Volkserzählforschung. In: Elemente der Lit. Beitr.e zur Stoff-, Motiv- und Themenforschung 1. Festschr. E. Frenzel. Stg. 1980, 11⫺24. ⫺ 11 Greverus, I.-M.: T. und Motiv. Zu einem Index der dt.sprachigen Bergmannssage. In: Tagung der Internat. Soc. for Folk-Narrative Research in Antwerp. Antw. 1963, 78⫺85; cf. auch ead.: T., Typus und Motiv. Zur Determination in der Erzählforschung. In: Laographia 22 (1965) 130⫺139. ⫺ 12 cf. Mölk, U.: Motiv, Stoff, T. In: Ricklefs, U. (ed.): Fischer Lex. Lit. 2. Ffm. 1996, 1320⫺1337, bes. 1327.
Göttingen
Ulrich Mölk
Theogonie. Theogonia (griech: Entstehung, Abstammung der Götter) ist der traditionelle (seit Chrysippos bezeugte) Titel einer Schrift des griech. Dichters J Hesiod (8. Jh. v. u. Z.) mit etwa 1020 Versen1. Eine einleitende Offenbarungsszene (Beauftragung des Dichters, Musenhymnus und -anruf, V. 1⫺115) ähnelt signifikant dem Typus semit. Prophetenberufungen (Am. 7,14 sq.) und wurde später oft nachgeahmt2. Hesiods T. (V. 116⫺1020) gliedert sich nach der Abfolge der Göttergenerationen mit ihren Herrscherfiguren Uranos, Kronos und J Zeus3. Beobachten läßt sich eine Entwicklung vom Formlosen (Chaos) zum Gestalteten, von naturhaften ,Urgöttern‘ über die traditionellen Götter des Kults hin zu Abstraktionen, in denen sich Kultur verkörpert. Dabei ist das Pantheon in einen genealogischen Gesamtzusammenhang gebracht, der im Geltungsbereich griech. Kultur eine elementare Referenzgröße wurde (cf. Herodot 2,53). Alle J Götter sind geschlechtliche Wesen und zeugen bzw. gebären Kinder; zugleich umfassen ihre Zuständigkeiten und Kompetenzen alle Bereiche der natürlichen und sozialen Wirklichkeit. Ein Fortschrittsparadigma wird insofern definiert, als sich die Mächte der Ordnung und Kultur gegen die (älteren) Mächte eines naturhaften Chaos durchsetzen müssen (Schlacht der Götter gegen die Titanen und gegen Typhaon). Hesiod steht dabei z. T. in Kontinuität zu westasiat. Mythologien (be-
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zeugt in hethit. und hurrit. Quellen)4, die eine Sukzession von Göttergenerationen kennen und auch sonst motivlich nahe verwandt sind (Kastration des Vatergottes durch den ,jungen Gott‘, gewaltsamer Herrscherwechsel)5. Dabei fokussiert die T. das Gesamte der Wirklichkeit in einer ,totalen‘ narrativen Ätiologie. Die Präsokratiker haben wenig später den theogonischen Mythos in kosmologischen Logos übersetzt6. Berührungen mit Märchen- (Rettung durch Zeus als J jüngstes der Geschwister) und Sagenmotiven (J Drachenkampfszenarien) sind vielfach zu beobachten. Teils in weiterführender Vertiefung, teils im Widerspruch zu Hesiod kennt die klassische Antike Texte, die als T.n anzusprechen sind, aber nie allg. rezipiert wurden, sondern immer nur Lit. religiöser Sondergruppen, Kultvereine oder (in hellenist.-röm. Zeit) der orientalisierenden Mysterien waren7. Die orphische T. von Derveni ist Teil des ältesten erhaltenen literar. griech. Papyrus (2. Hälfte 5. Jh. v. u. Z.)8; sie diente offenbar einem Initiationszusammenhang. Weitere orphische T.n ⫺ sog. rhapsodische T.n ⫺ mit altem Motivgut sind aus Zitaten erschließbar9. T.n werden Musaios, Epimenides, Pherekydes von Syros, Akusilaos und anderen frühen Dichtern zugeschrieben (parodiert bei J Aristophanes, Ornithes). Hellen.-röm. Autoren wie Philon von Byblos (ca 64⫺141 n. u. Z.)10 und später Neuplatoniker wie Damaskios (Peri archo¯n) zitieren oriental. T.n und Kosmogonien (J Schöpfung), die große Ähnlichkeit mit u. a. phöniz., ugarit., althebr. Texten haben und offenbar aus authentischen Quellen (Sanchunjathon, Mochos) schöpfen, also oriental. Mythologie an die hellen.-röm. Kultur vermitteln. Am Beginn größerer mythol. Kompilationen stehen T.n bei Pseudo-Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ (1. Jh. n. u. Z.) und J Ovid, Metamorphosen. Rituelle und magische Verwendung ist u. a. durch Zaubertexte bezeugt (Leidener Kosmopoiia, 4. Jh. n. u. Z.). In einem weiteren Sinn wird T. im modernen Sprachgebrauch als Teilbegriff innerhalb des Zusammenhangs Schöpfung/Weltentstehung verwendet und steht dann oft neben Kosmogonie und J Anthropogonie. Im Kontext der Erzählforschung sollten als T.n nur komplexe Erzählzusammenhänge bezeichnet werden, welche (1) die Entstehung einer Mehr-
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Theogonie
zahl von mythol. Wesen thematisieren, (2) diese Entstehung nicht primär als Tat einer Schöpfergottheit qualifizieren, und (3) kosmogonische und anthropogonische Stoffe integrieren. Dabei können narrative Passagen, Genealogien und reflektierende Passagen abwechseln. Hymnische Formen sind häufig. Grundlegend ist in jedem Fall, daß auch die Götter entstanden sind. Dabei können Emanations-, Schöpfungs- und Geburtsvorstellungen nebeneinander bestehen, so daß eine scharfe Grenzziehung zwischen T.n und allg. Schöpfungs- und Weltentstehungsmythen kaum ø gveda signalisiert 10, möglich ist. Im altind. R 121 vielleicht die Entwicklung einer T. zu einer Schöpfungstheologie, während 10,90 den verbreiteten, wohl gemeinidg. Mythos vom Urriesen (Purusøa, Ymir) als Rahmen einer die T. umspannenden Kosmogonie verwendet11. In einem monotheistischen Bezugsrahmen können gnostische und gnosisnahe Ursprungsmythen Ähnlichkeiten mit T.n aufweisen, auch wenn die ,Götter‘ hier eher Emanationen, kosmische Kräfte oder Engelwesen sind, deren Ausdifferenzierung Hesiods Göttergenealogien gleicht. Die kopt. Schrift ohne Titel (NagHammadi Codex 2,5; Ende 3. Jh. n. u. Z.) tritt schon in ihrem Prolog (97,24⫺98,11) als Gegenmodell zu Hesiods Vorstellung vom anfänglichen Chaos auf 12. Auch das Apokryphon des Johannes, die Hypostase der Archonten13 u. a. gnostische und manichä. Texte enthalten in ihrer Darstellung der Selbstentfaltung bzw. dramatischen Geschichte der Potenzen des Pleromas (himmlische Welt) Elemente einer T. Obwohl ursprünglich meist mündl. tradiert, neigen T.n wegen ihrer Komplexität rasch zur Verschriftlichung, sobald Schriftsysteme zur Verfügung stehen, stabilisieren sich damit inhaltlich und werden zu Teilkomplexen entstehender heiliger Schriften14. Oft stehen T.n und Kosmogonien am Anfang größerer religiöser Kompositionen, so im Kojiki (Anfang 8. Jh.) und Nihongi (720) der jap. Shinto¯-Religion, im bibl. Buch Genesis oder im Popol Vuh der Quiche´-Indianer (J Maya)15. Der eddische Codex Regius (J Edda) stellt das Gedicht Vo˛lospa´ an den Anfang, das am ehesten einer altnord. T. entspricht (und die Handlungslinie bis in die J Eschatologie ausdehnt)16. Das finn. J Kalevala enthält in seiner Endfassung von 1849 zwar in seinen ersten beiden Gesängen theogo-
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nische und kosmogonische Motive, doch wurden sie erst von E. Lönnrot kompositionell an dieser Stelle plaziert. Theogonische und kosmogonische Kompositionen dienen nicht allein der ätiologischen Erklärung natürlicher, kultureller und sozialer Strukturen, sondern vor allem auch ihrer Legitimation. So mündet das hawai. Schöpfungsepos Kumulipo (cf. J Maui)17 in Listen von über 800 Generationen von Königen mit ihren Frauen und legitimiert eine herrschende Dynastie. Das altbabylon. Schöpfungsepos Enuma elisˇ (J Sumer. und babylon. Erzählgut) begründet die Vorherrschaft des Stadtgottes Marduk über die anderen Götter und legitimiert damit die Vormachtsansprüche Babylons. Es wurde wie andere T.n rituell verwendet (Neujahrsfest). Ähnliches gilt für die altägypt. T.n von Heliopolis, Hermopolis und Memphis18. Die umfangreichen altind. Pura¯nø as kennen eine kanonische (nur partiell verwirklichte) Reihenfolge von fünf Themen, die stark an Hesiods T. erinnert: Sarga (Schöpfung), Pratisarga ([periodische] Neuschöpø s´a (Genealogien), Manvantaram fung), Vam (Epochen der Menschheitsgeschichte), Vam ø s´a¯nuca¯rita (Geschichte der Generationen; i. e. der Königsfamilien)19. Eine artifizielle T., die sich u. a. aus kelt., germ., griech.-röm. und finn. Motiven speist, enthält J. R. R. J Tolkiens Silmarillion (1977)20. 1 Hesiod: Theogony. ed. M. L. West. Ox. 1966 (1982); Stoddard, K.: The Narrative Voice in the Theogony of Hesiod. Boston 2004. ⫺ 2 cf. Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum 4,24 (vom ältesten engl. Dichter Caedmon und seiner Berufung zum Dichter eines Schöpfungshymnus). ⫺ 3 Zum Inhalt cf. EM 6,943 sq. ⫺ 4 cf. Haas, V.: Geschichte der hethit. Religion. Leiden 1994, 106⫺152; Texte aus der Umwelt des A. T.s 3,4. Gütersloh 1994, 828⫺844 (Qu.n). ⫺ 5 West, M. L.: The East Face of Helicon. West Asiatic Elements in Greek Poetry and Myth. Ox. 1997; Burkert, W.: Die Griechen und der Orient. Mü. 22004, 67⫺73 u. ö. ⫺ 6 cf. Ebach, J.: T. In: Hb. religionswiss. Grundbegriffe 5. Stg. 2001, 173⫺177, hier 174 (kritisch gegen eine zu schlichte Antithetik Mythos/Logos im T.-Kontext). ⫺ 7 Schwabl, H.: Weltschöpfung. In: Pauly/Wissowa Suppl. 9 (1962) 1433⫺1582 (grundlegend); Ziegler, K.: T. n. In: Roscher, W. H. (ed.): Ausführliches Lex. der griech. und röm. Mythologie. 5. Lpz. 1924, 1469⫺1554. ⫺ 8 Laks, A./Most, G. W. (edd.): Studies on the Derveni Papyrus. Ox. 1997. ⫺ 9 West, M. L.: The Orphic Poems. Ox. 1983. ⫺ 10 Baumgar-
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Theophilus
ten, A. J.: The Phoenician History of Philo of Byblos. Leiden 1981. ⫺ 11 Geldner, K.: Der Rigveda 1⫺4. Cambr., Mass. 1951⫺57, hier t. 3 (1951) 286⫺289, 347⫺349. ⫺ 12 cf. Schenke, H.-M. u. a. (edd.): Nag Hammadi Deutsch 1. B./N. Y. 2001, 235⫺262, hier 242 (Übers. H.-G. Bethge). ⫺ 13 ibid., 96⫺150 (Übers. M. Waldstein), 215⫺233 (Übers. U. U. Kaiser); cf. insgesamt Rudolph, K.: Die Gnosis. Göttingen 21980, 76⫺127; id.: T., Kosmogonie und Anthropogonie in den mandä. Schr. Göttingen 1965. ⫺ 14 cf. Frenschkowski, M.: Hl. Schr. Wiesbaden 2007, 98 sq., 121, 229⫺232 u. ö. ⫺ 15 Tedlock, D.: Popol Vuh. N. Y. u. a. 1985. ⫺ 16 Neckel, G. (ed.): Edda. Die Lieder des Codex Regius (…) 1. Heidelberg 51983, 1⫺16. ⫺ 17 Beckwith, M. W.: The Kumulipo. A Hawaiian Creation Chant. (Chic. 1951) Honolulu 1972. ⫺ 18 cf. Köthen-Welpot, S.: T. und Genealogie im Pantheon der Pyramidentexte. Bonn 2003. ⫺ 19 Winternitz, M.: A History of Indian Literature 1. Delhi 1981, 499 sq. ⫺ 20 cf. Frenschkowski, M.: Leben wir in Mittelerde? Religionswiss. Betrachtungen zu Tolkiens „The Lord of the Rings“. In: Le Blanc, T./ Twrsnick, B. (edd.): Das Dritte ZA. Wetzlar 2006, 240⫺264.
Hofheim
Marco Frenschkowski
Theophilus, Teufelsbündner (J Teufelspakt), der im Mittelpunkt eines ma. Marienmirakels steht1. T., als Erzdiakon Stellvertreter des Bischofs von Adana in Kilikien, wird nach dessen Tod zum Nachfolger gewählt, lehnt aber aus Demut ab. Vom neuen Bischof wird er als Stellvertreter abgesetzt und verschreibt sich (durch Vermittlung eines Juden) dem J Teufel, um sein Amt zurückzuerhalten. Nach einiger Zeit bereut er und bittet Maria um Hilfe, die ihn (nachdem er 40 Tage und Nächte zu ihr gebetet hat) schließlich mit J Christus versöhnt und die Verschreibung aus der J Hölle zurückholt (Mot. H 1273.1); T. macht das Wunder bekannt und stirbt wenig später.
Die beiden ältesten griech. Fassungen der T.-Legende entstanden zwischen 650 und 8502; der Diakon Paulus von Neapel (nicht identisch mit J Paulus Diaconus, wie von einigen Autoren angenommen wird)3 übersetzte um 870 die längere der beiden zusammen mit der Legende der J Maria Aegyptiaca für Karl den Kahlen in lat. Prosa4. Der Teufelsbündner T. und die Hure Maria sollen offenbar beweisen, daß durch J Reue und J Buße (der lange ReueMonolog des T. wird wörtlich wiedergegeben) Vergebung auch für schwerste J Sünden erlangt werden kann. Wie die meisten Marien-
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mirakel ist die T.-Geschichte einfach strukturiert5 (Kernmotive sind der Teufelspakt und die Rettung des Sünders durch Maria6) und wird von den zahlreichen Bearbeitern kaum verändert. Seit dem 12. Jh. ist sie in fast allen lat. und volkssprachigen Slgen von Marienmirakeln enthalten; dabei verlagert sich das Interesse von der Reue und Buße des Sünders auf das Eingreifen Marias, die in die Hölle hinabsteigt, um die Verschreibung zurückzufordern, und so zur direkten Gegenspielerin des Teufels wird. Die lat. Version der T.-Geschichte des Paulus war in ganz Europa verbreitet (mehr als 100 Hss. sind überliefert7) und diente fast allen ma. Bearb.en als direkte oder indirekte Quelle (bekannt sind griech., lat., frz., ital., span., port., mhd., mittelndd., ndl., engl., altisl. Fassungen; eine neugriech. Version des 17. Jh.s diente als Vorlage für arab. und rumän. Übers.en8). Die T.-Geschichte wird gelegentlich in selbständigen lat. Gedichten sowie in einer Verslegende der Hrotsvith von Gandersheim (vor 959)9 behandelt. Die J Legenda aurea führt die Geschichte im Kap. über Mariä Geburt an10. In Exempelsammlungen (Caesarius von Heisterbach, Henmannus Bononiensis, Johannes Herolt)11 wird T. als Beispiel für die Macht und die Gnade Marias angeführt (John J Bromyard nennt sie lapsorum reconciliatrix12), daneben als Mahnung vor Zweifeln der Möglichkeit der Gnade (desperatio, so z. B. im J Alphabetum narrationum13) oder auch als Warnung vor Ehrgeiz (ambitio, so bei J Johannes Gobi Junior14). In knapper Form wird die T.-Legende häufig in Predigten zu Marienfesten angeführt, erstmals bei Fulbert von Chartres anläßlich des Festes Mariä Geburt (Anfang 11. Jh.)15. Im Deutschen ist die Legende häufig in größere Werke eingegliedert, u. a. als Teil der mhd. Rede vom Glauben des Armen Hartmann (einer der ersten dt. religiösen Laienbrüder, Mitte 12. Jh.)16. Sie erscheint auch unter den Marienmirakeln des mhd. Passionals (ca 1300)17. Die altfrz. Fassung des Anglonormannen Adgar (12. Jh.)18 stellt eine relativ genaue Übers. des lat. Texts von Paulus dar, während andere den Anteil wörtlicher Rede sogar noch ausweiten. Die T.-Erzählung in den Miracles de Nostre Dame des Gautier de
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Theorien der Erzählforschung
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Coinci (gest. 1236)19 mit über 2000 Versen enthält neben dem hochrhetorischen Monolog u. a. eine lange Predigt des Bischofs zum Lobe Marias. In engl. Legendare ⫺ das South English Legendary (13. Jh.) und Übers.en der Legenda aurea20 ⫺ wurde die T.-Legende ebenfalls aufgenommen. Im dramatischen Miracle de The´ophile des frz. Dichters Rutebeuf (ca 1260) dürfte der Kampf Marias mit dem Teufel pantomimisch dargestellt worden sein. Das verhältnismäßig kurze Drama (663 Verse; acht Rollen, die möglicherweise von zwei Darstellern gespielt werden konnten21) war wohl zur Aufführung bei einem Marienfest bestimmt. Drei mittelndd. T.-Spiele des 15. Jh.s gestalten die Bischofswahl zu Anfang und die Teufelsszenen breit aus22. Im Jesuitendrama bleibt der Stoff bis ins 17. Jh. beliebt23. In der Neuzeit findet T. vor allem wegen offensichtlicher Ähnlichkeiten mit J Faust Beachtung24; wichtigstes verbindendes Element ist die Verschreibung (die T. seit dem 13. Jh. häufig mit seinem J Blut unterzeichnet25; Mot. M 201.1.2). Während mehrere lit.hist. Unters.en zur T.-Legende vorliegen, stehen entsprechende mentalitäts- und frömmigkeitsgeschichtliche Arbeiten noch aus.
147⫺170; EM 3, 453; Figge, R.: Die T.- und Basilius-Legende bei Hrotsvitha von Gandersheim (Faustsage) und ihre kirchen- und rechtsgeschichtliche Bedeutung. In: Unsere Diözese [Hildesheim] in Vergangenheit und Gegenwart 24 (1955) 38⫺64. ⫺ 10 Gier (wie not. 1) 224⫺229. ⫺ 11 Tubach, num. 3572. ⫺ 12 Gier (wie not. 1) 259. ⫺ 13 ibid., 255. ⫺ 14 ibid., 255⫺258. ⫺ 15 ibid., 232⫺ 235. ⫺ 16 Maurer, F. (ed.): Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jh.s 2. Tübingen 1965, 569⫺628. ⫺ 17 Richert, H.-G. (ed.): Marienlegenden aus dem alten Passional. Tübingen 1965. ⫺ 18 Kunstmann, P. (ed.): Adgar, Le Gracial. Ottawa 1982; cf. Gier (wie not. 1) 212⫺217. ⫺ 19 Koenig, F. (ed.): Les Miracles de Nostre Dame par Gautier de Coinci 1. Genf 1966. ⫺ 20 Görlach, M.: T.-Legende: 4. Engl. Lit. In: Chiesa u. a. (wie not. 1) 669. ⫺ 21 Frank, G. (ed.): Rutebeuf. Le Miracle de The´ophile. P. 21970, xi. ⫺ 22 Petsch, R. (ed.): T. Mittelndd. Drama in drei Fassungen. Heidelberg 1908. ⫺ 23 cf. Rädle, F.: Die T.-Spiele von München (1596) und Ingolstadt (1621). In: Acta Conventus Neo-Latini Amstelodamensis. Mü. 1979, 886⫺897; id.: Lat. Ordensdramen des 16. Jh.s. B. 1979, 436⫺519. ⫺ 24 Kretzenbacher, L.: Teufelsbündner und Faustgestalten im Abendlande. Klagenfurt 1968. ⫺ 25 Gier (wie not. 1) 132, 255.
1 Plenzat, K.: Die T.legende in den Dichtungen des MA.s. B. 1926; Gier, A.: Der Sünder als Beispiel. Zu Gestalt und Funktion hagiographischer Gebrauchstexte anhand der T.legende. Ffm. 1977; Kunze, K./ Linke, H.: T. In: Verflex. 9 (21995) 775⫺782; Chiesa, P./Gier, A./Ott, N. H./Görlach, M.: T.-Legende. In: Lex. des MA.s 8. Mü. 1997, 667⫺670; d’Agostino, A.: Theophiliana. In: Studi vari di lingua e letteratura italiana in onore di Giuseppe Velli 1. Mailand 2000, 199⫺219; Koll, B.: T. In: Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): MA. Mythen. 3: Verführer ⫺ Schurken ⫺ Magier. St. Gallen 2001, 915⫺926. ⫺ 2 Radermacher, L.: Griech. Qu.n zur Faustsage. Wien 1927, 69. ⫺ 3 Dorn, E.: Der sündige Hl. in der Legende des MA.s. Mü. 1967, 48; Koll (wie not. 1) 916. ⫺ 4 cf. Gier (wie not. 1) 41; Meersseman, G. G. (ed.): Kritische Glossen op de griekse T.-Legende (7e eeuw) en heer latijnse vertaling (9e eeuw). Brüssel 1963. ⫺ 5 Gier, A.: Prole´gome`nes a` l’e´tude structurale des „Cantigas de Santa Maria“, d’Alphonse le Savant. In: Estudos portugueses. Festschr. L. Stegagno Picchio. Lissabon 1991, 57⫺67. ⫺ 6 Radermacher (wie not. 2) 41. ⫺ 7 Gier (wie not. 1) 344⫺ 347. ⫺ 8 Villecourt, L. de: Les Collections arabes des miracles de la S. Vierge. In: Analecta Bollandiana 42 (1924) 21⫺68, 266 sq., hier bes. 273 sq. ⫺ 9 Homeyer, H. (ed.): Hrotsvithae opera. Paderborn 1970,
1. Allgemeines ⫺ 2. Theorien der Herkunft und Verbreitung ⫺ 3. Gattungstheorien ⫺ 4. Formale und ästhetische Theorien ⫺ 5. Theorien der Interpretation ⫺ 6. Erzählerpersönlichkeit, Performanz und Kontext
Bamberg
Albert Gier
Theorien der Erzählforschung
1 . All ge me in es. Theorien (T.n) dienen der volkskundlichen Erzählforschung (E.) als analytisches Hilfsmittel zur Gewinnung wiss. Erkenntnisse aus sprachgebundenen Manifestationen der Volkskultur (J Text). Insofern sie in Zusammenhang mit Methoden der E. entwickelt werden, stehen sie mit diesen in enger Beziehung und sind von ihnen nicht immer eindeutig zu differenzieren. Grundsätzlich fokussieren T.n allg. Fragen, während Methoden eher an praktischen Phänomenen orientiert sind. Multidisziplinär konstituiert, arbeitet die hist. und vergleichende E. (Folkloristik; cf. J Komparatistik) mit T.elementen der Philologien (einschl. klassische Philologie, Mediävistik und Altorientalistik), der Ethnologie, Anthropologie, Soziologie, Psychologie, Jurisprudenz und Theologie sowie der Geschichts-,
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Theorien der Erzählforschung
Religions-, Kunst- und Medienwissenschaften, auf deren textbezogene T.bildungen die E. ihrerseits zurückwirkt (J Philol. Methode)1. Ein disziplinübergreifender T.- und Methodendiskurs wird seit Mitte der 1960er Jahre in der Narratologie (auch Narrativistik, Narrativik) geführt. In dieser zwischen Lit.wissenschaft, Linguistik, Kommunikationswissenschaft und Sprachphilosophie entwickelten und strukturalistisch, diskursanalytisch und auf abstrakte Modellbildung ausgerichteten Disziplin wird die Aufstellung gattungsübergreifender Erzähltheorien angestrebt2. Die E. hat für die Vk. wichtige Impulse geliefert. Beinahe alle wichtigen T.n der Vk. tauchten zuerst in der E. auf oder wurden hier zuerst theoretisiert. Die zu Beginn des 19. Jh.s begründete Märchenforschung steht am Anfang der E. und übt in ihr theoretisch und methodisch eine Leitfunktion aus3, weshalb die E. vielfach unter dem Begriff Märchenforschung subsumiert wird. Paradigmatischen Charakter für die Entwicklung der E. haben die Arbeiten von J. und W. J Grimm. Zur spezifischen Erforschung ihres umfangreichen Werks, seiner hist. Bedingungen und weitreichenden Rezeption hat sich in den letzten Jahrzehnten die Grimm-Philologie herausgebildet4. Eigenständige T.n hat die E. weniger hervorgebracht, sie ist jedoch in allg. T.diskurse involviert. In vergleichenden oder zusammenfassenden Darstellungen bes. zum Märchen werden theoretische Aspekte angesprochen, die das Märchen als solches untersuchen, es internat. vergleichend betrachten und die Forschungsgeschichte teilweise mitreflektieren. Auch wenn selten ausdrücklich von einer ,T. des Märchens‘ (A. J Wesselski) gesprochen wird, arbeiten Märchenforschung bzw. E. allg. mit theoriegestützten Methoden und Konzepten, die dem vorwiegend empirisch ausgerichteten Fach eine profilgebende Identität verleihen5. Gegenstand der E. sind sowohl fiktionales als auch faktisches Erzählen, ihre T.n beschäftigen sich häufig mit Themen, die im weitesten Sinn der J Interpretation zuzurechnen sind. Sie betreffen Alter und Ursprung, Aufbau und Struktur von Erzähltexten, Deutung und Bedeutung sowie kontextuelle Phänomene.
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2 . T.n de r H er ku nf t u nd Ve rb re it un g. Mit zunehmendem Interesse an der mündl. und schriftl. Überlieferung von Erzähltexten entstanden seit Beginn des 19. Jh.s T.n zur Herkunft (J Altersbestimmung des Märchens) und J Verbreitung von Märchen. Dominant waren im 19. Jh. Überlegungen, nach denen sich die zeitgenössischen Märchen aus alten idg. Mythen und Glaubensvorstellungen entwickelt hätten (cf. auch J Mythol. Schule). Auf dieser Grundannahme fußt auch die J ide. T., nach der sich Märchen bereits in der hypothetischen Urheimat der Indoeuropäer herausgebildet hatten und sich mit deren Wanderungen in ihre heutigen Siedlungsräume ausbreiteten. So nimmt T. J Benfeys J ind. T. als hypothetischen Ausgangspunkt der ide. Märchen das alte Indien und das buddhist. Mittelasien an. Aus diesen auf dem Konzept der Monogenese aufbauenden T.n entwickelten J. und K. J Krohn die J geogr.-hist. Methode, die mit Vertretern wie A. J Aarne und W. J Anderson in der 1. Hälfte des 20. Jh.s in der E. führend war. Sie zielt auf die J Rekonstruktion einer ,Weltgeschichte‘ der Märchen und die Analyse ihrer Verbreitungswege (J Wandertheorie; J Diffusion), wobei es unter anderem darum ging, die J Urform eines Märchens zu ermitteln. Diese Zielsetzung ist der Fragestellung der J Fragmententheorie vergleichbar. Gegen Versuche, hypothetische Urfassungen zu rekonstruieren, wandte sich bereits J. J Be´dier (J Agnostische T. ). Der These einer kontinuierlichen Verbreitung von Erzähltypen stellte C. W. von J Sydow sein Konzept des J Ökotyps entgegen. Wesselski kritisierte die Ausrichtung der geogr.-hist. Methode auf die mündl. Tradierung von Erzähltexten, der er die Relevanz der Lit. für die Überlieferung von Erzählungen entgegenhielt (J Schriftlichkeit; J Lit. und Volkserzählung) und damit eine z. T. polemisch geführte Auseinandersetzung hervorrief. Speziell mit Vermittlungsvorgängen befaßten sich u. a. Anderson (J Experimentelle E.; J Selbstberichtigung) und L. J De´gh (J Conduit-Theorie). Seit den 1960er Jahren machte die volkskundliche E. eine Modernisierung durch und bezieht neben Interdependenzen zwischen mündl. und schriftl. Qu.n auch kultur- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte in ihre Forschung ein6.
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Theorien der Erzählforschung
Gleichzeitig und kontrovers zu den monogenetischen T.n wurde im 19. Jh., z. T. auf A. J Bastians J Elementargedanken basierend, vor allem aber auf E. B. J Tylor (J Survivaltheorie) zurückgehend, die J anthropol. T. (cf. auch J Ethnol. T.) entwickelt. Diese baut auf der Annahme auf, Menschen in unterschiedlichen Teilen der Welt durchliefen zu unterschiedlichen Zeiten die gleichen menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsstufen. Hieraus resultiert das Grundaxiom der J Polygenese (J Generatio aequivoca). In diesem Kontext steht auch die den Zusammenhang von Mythos und Ritus in mündl. und schriftl. Überlieferung betrachtende J ritualistische T. Die ethnol. J Kulturkreislehre kartierte Mythen- und Erzählmotive, die häufig in Beziehung zu Objekten der materiellen Kultur gesetzt und nach Paradigmen von Migration und Kulturtransfer interpretiert wurden. Kulturkreislehre und geogr.-hist. Methode blieben jedoch auf ihre jeweiligen Disziplinen beschränkt und nahmen voneinander kaum Notiz. Über die Ethnologie hinaus fanden diese T.n Anhänger u. a. in der J Anthroposophie (cf. auch J Völkerpsychologie). 3 . G at tu ng st he or ie n. J Gattungsprobleme stellen ein spezifisches Arbeitsfeld innerhalb der E. dar (cf. J Einfache Formen). Unter anderem werden hierbei sprach- und kulturspezifische Termini und Definitionsmerkmale hinsichtlich einer Metaterminologie und der Möglichkeit der Korrelation von Texten diskutiert. Eine folkloristische Gattungstheorie hat sich beginnend mit den Brüdern Grimm bes. seit den 1920er und dann den 1960er Jahren herausgebildet7. Eine weltweite auf der hist. Poetik von A. N. J Veselovskij fußende Gattungsgeschichte wurde von der sowjet. Erzählforschung, bes. von E. M. J Meletinskij, erarbeitet. Neue Aspekte für diesen T.bereich ergeben sich möglicherweise in Zusammenhang mit der Einbeziehung der Volksliteraturen in das Konzept der Weltliteratur und transnationaler Lit.geschichtsschreibung8. 4 . For ma le un d ä st he ti sc he T. n. Zum formalen Bereich der Märchentextanalyse sind die zu Beginn des 20. Jh.s von A. J Olrik ausgearbeiteten J epischen Gesetze zu zählen. V.
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Ja. J Propp lenkte den Blick auf die J Morphologie des Erzählguts. Dieser Ansatz wurde seit den 1960er Jahren maßgeblich von Forschern in Frankreich (A. J. J Greimas; C. Bremond), in den USA (A. J Dundes) und der Sowjetunion (Meletinskij) aufgegriffen. Aus der Lit.wissenschaft adaptierten sie die Semiotik und aus Linguistik und Ethnologie den J Strukturalismus, den sie weiterentwikkelten (cf. J Motivem). Die J Formeltheorie nach M. J Parry und A. B. J Lord zielt auf die Rekurrenz von epischen und narrativen Versatzstücken ab. Mit ihr lassen sich J Stabilität und J Variabilität von mündl. vorgetragenen Epen (J Oral Poetry) und Volkserzählungen erfassen. Eine führende Rolle in der Erforschung der J Ästhetik im Märchen kommt der ontologischen Formbetrachtung M. J Lüthis zu. 5 . T.n de r I nt er pr et at io n. Etwa seit den 1980er Jahren zeichnet sich erneut ein größeres Interesse an Ansätzen der Interpretation und J Hermeneutik ab. Demgegenüber war die E. des J Marxismus maßgeblich durch J Ideologisierung geprägt; seine Anhänger gingen Fragen der Klassengeschichte in Märchen nach. Die rassistische T. des dt. J Nationalsozialismus basierte auf bereits im 19. Jh. vorhandenen völkischen Ideen (cf. J Antisemitismus; J Rassismus); zwischen den Weltkriegen bestimmten die dt. morphologische Lit.wissenschaft und (in geringerem Maße) die Volkstumsideologie neuere T.bildungen. Die Mythol. Schule mit ihren Richtungen J Natur-, J Astral-, J Sonnen- und J Mondmythologie wurde im nationalsozialistischen Deutschland wiederbelebt; diese wiss. obsoleten T.n tauchen bis heute im Rahmen populärpsychol. und esoterischer Märchendeutungen auf 9. Seit S. J Freud nutzen Vertreter der J Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie (C. G. J Jung) Märchen als Beleg- und Analysematerial (J Psychologie). Einer an Freuds Arbeiten orientierten analytischen Interpretation populärer Erzählformen widmeten sich Dundes und sein Schülerkreis. B. J Holbeks (1987) Interpretation dän. Märchen ist zugleich eine T., ein komplexer Versuch, Variierung und Erzählen theoretisch zu interpretieren. Mit der Kritik an der Vernachlässigung sozial und kulturell determinierter Geschlechterbeziehungen
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Theorien der Erzählforschung
und der ihnen zugrundeliegenden Ideologien innerhalb der E. entwickelte sich seit den 1980er Jahren ein auf Dekonstruktion und Gender Studies gründender neuer Schwerpunkt der Textinterpretation10. Die interkulturell orientierte E. (J Interethnische Beziehungen) befaßt sich mit J Exotik und Exotismus, J Kolonialismus, J Stereotypisierung des Fremden und Kulturkontakt. Sie basieren auf geschichtswiss. und imagologischen T.elementen sowie Ansätzen des Postkolonialismus und der interkulturellen Kommunikation11. 6 . E rz äh le rp er sö nl ic hk ei t, Pe rf or m an z u nd Ko nt ex t. Parallel zu den vorherrschenden Ansätzen der Textforschung entwickelten sich seit Anfang des 20. Jh.s J Funktionalismus und J Kontextforschung. Innerhalb der Kontextforschung ging es zunächst um Charakteristika von Erzählerpersönlichkeiten (J Erzählen, Erzähler) und Einbettung der Erzählungen in das Leben von Erzählgemeinschaften (J Biologie des Erzählguts; J Milieutheorie; J Sitz im Leben12; cf. auch J Feldforschung). Zu den führenden Forscherpersönlichkeiten auf diesem Gebiet zählen u. a. G. J Ortutay und De´gh. Seit den 1960er Jahren verschob sich, vor allem in den USA, der Schwerpunkt der Arbeiten stärker zu einer Kontextforschung hin, deren T.n aus Ethnologie, u. a. Funktionalismus, Soziolinguistik und Sprechakttheorie abgeleitet sind (J Performanz). Seit den 1960er Jahren wenden sich Erzählforscher auch stärker den faktischen Erzählformen zu. Das J alltägliche Erzählen reflektiert im wesentlichen biogr. und hist. Inhalte, z. B. Jugend-, Arbeits-, Kriegs- und Migrationserinnerungen, Katastrophenerfahrungen oder die Zeitzeugenschaft hist. Ereignisse (J Oral History; J Rechtfertigungsgeschichten; J Lebensgeschichte; J Autobiographie; J Familiengeschichten). Als interdisziplinäre Wiss. greift E. dabei auf T.n der Vk., Kulturanthropologie, Geschichtswissenschaft, Biogr.forschung, Soziologie und Sozialpsychologie zurück13 und entwickelt sich so zu einer kulturwiss. Mentalitäts- und Bewußtseinsforschung, in der individuelles, kollektives und kulturelles Gedächtnis gleichermaßen manifest werden (cf. J Kollektivität, Kollektivbewußtsein). Eine eigene Methodologie, die sich theoretisch
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aus Medienwissenschaft und Computer-Philologie ableitet, verlangt die Analyse fiktionaler und faktischer Erzähltexte im Internet14. 1 Überblicksdarstellungen: Lüthi, Märchen, 63⫺82; Zipes, J.: Breaking the Magic Spell. Radical Theories of Folk and Fairy Tales. Austin 1979; Moser, D.-R.: T.- und Methodenprobleme der Märchenforschung. In: Jb. für Vk. N. F. 3 (1980) 47⫺64; Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1987, 187⫺403; Voigt, V.: Suggestions Towards a Theory of Folklore. Bud. 1999; Gatto, G.: La Fabia di tradizione orale. Mailand 2006; Pöge-Alder, K.: Märchenforschung. T.n, Methoden, Interpretationen. Tübingen 2007. ⫺ 2 Todorov, T.: Grammaire du De´came´ron. Den Haag 1969; Dijk, T. A. van/Ihwe, J./ Petöfi, J. S./Rieser, H.: Prolegomena zu einer T. des ,Narrativen‘. In: Ihwe, J. (ed.): Lit.wiss. und Linguistik 2. Ffm. 1973, 51⫺77; Chatman, S.: Towards a Theory of Narrative. In: New Literary History 6 (1975) 295⫺318; Haubrichs, W. (ed.): E. T.n, Modelle und Methoden der Narrativik 1⫺3. Göttingen 1976/77/78; Prince, G.: Narratology. The Form and Functioning of Narrative. B./N. Y./Amst. 1982; Toolan, M. J.: Narrative. A Critical Linguistic Introduction. L./N. Y. 1988; Chafe, W.: Some Things that Narratives Tell Us about the Mind. In: Britton, B. K./Pellegrini, A. D. (edd.): Narrative Thought and Narrative Language. Hillsdale 1990, 79⫺98; Adam, J.-M.: Le Texte narratif. Traite´ d’analyse pragmatique et textuelle. P. 1994; Genette, G.: Die Erzählung. Mü. 1994; Jahn, M./Nünning, A.: A Survey of Narratological Models. In: Lit. in Wiss. und Unterricht 27 (1994) 283⫺303; Jahn, M.: Narratologie. Methoden und Modelle der Erzähltheorie. In: Nünning, A. (ed.): Lit.wiss. T.n, Modelle und Methoden. Trier 1995, 29⫺50; Bal, M.: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Toronto/Buffalo/L. 21997; Herman, D.: Scripts, Sequences, and Stories. Elements of a Postclassical Narratology. In: Publ.s of the Modern Language Assoc. 112 (1997) 1046⫺1059; Weber, D.: Erzähllit. Göttingen 1998; Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. Mü. 1999; Schmidt-Knaebel, S.: Textlinguistik der Einfachen Form. Ffm. u. a. 1999; Kindt, T. (ed.): What Is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. B./N. Y. 2003; Schönert, J.: Zum Status und zur disziplinären Reichweite von Narratologie. In: Borso`, V./Kann, C. (edd.): Geschichtsdarstellung. Medien ⫺ Methoden ⫺ Strategien. Köln/Weimar/Wien 2004, 131⫺ 143; Fludernik, M.: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt 2006. ⫺ 3 Aarne, A.: Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung (FFC 13). Hamina 1913. ⫺ 4 Bluhm, L.: Die Brüder Grimm und der Beginn der Dt. Philologie. Hildesheim 1997. ⫺ 5 Dorson, R. M.: Current Folklore Theories. In: Current Anthropology 4 (1963) 93⫺112; Honko, L.: Methods in Folk-Narrative Research. Their Status and Future. In: Ethnologia Europaea 11 (1979) 6⫺
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Theriomorphisierung
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Budapest
Vilmos Voigt
Theriomorphisierung (aus griech. the¯rion: [wildes] Tier und morphe¯: Gestalt) bedeutet wörtlich ,Tiergestaltigkeit‘. In einem weiteren Verständnis umfaßt T. das Auftreten bestimm-
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Theriomorphisierung
ter Phänomene oder Figuren in Tiergestalt (J Tier, Tiere), das von der Vorstellung des J Seelentiers über den großen Bereich der J Fabelwesen, J Halbwesen und J Monstren, die ganz oder teilweise in Tiergestalt erscheinen (J Hundsköpfige), bis etwa zur Manifestation von J Hexen oder des J Teufels als Tier reicht; auch mythol. Vorstellungen von halbtierischen Mischwesen (cf. etwa J Sphinx) gehören hierzu1. Nach einer engeren Definition bezeichnet T. die Verkörperung menschlicher Verhaltensweisen durch das Aussehen und Verhalten von Tieren, wie sie vor allem in J Fabel, J Tierepos und J Tiermärchen eine Rolle spielen. Damit ist die T. ein Komplementärphänomen zur J Anthropomorphisierung. Nicht immer eindeutig zu trennen ist die T. von der J Verwandlung von Menschen in Tiere (J Tierverwandlung). Allg. spiegelt eine T. oft das ambivalente Verhalten des Menschen zum Tier, auf relativ trivialem Niveau etwa, wenn J Treue mit J Hunden oder Launenhaftigkeit mit J Katzen in Zusammenhang gebracht wird. Tiere als J Personifikationen von J Tugenden und Lastern finden sich bereits in der religiösen Symbolik: In der buddhist. Lehre werden die ,Wurzeln ungesunden Handelns‘ als J Hahn, J Schlange und J Schwein vorgestellt; diese jagen und quälen einander ebenso, wie das Zusammenspiel von Verlangen, Haß und Wahn die Menschen in einem Zustand des Leidens hält2. Weltweit überliefert ist der Glaube, der Mensch könne sich die Kraft wilder Tiere einverleiben (cf. J Wolfsmenschen); er findet einen praktischen Ausdruck in den von Kriegern getragenen Fellen (J Tierhaut) etwa von J Bären oder Leoparden, in den Hauern von Wildschweinen als Helmschmuck myken. oder germ. Krieger oder in den Darstellungen wilder Eber, J Löwen oder Bären auf germ. Schilden3. In der Heraldik sind es die furchterregenden Eigenschaften bes. von J Adler und Löwe, welche diejenigen, die sie im Wappen tragen, sowohl assimilieren als auch ihren Gegnern kommunizieren wollen4. Der Zusammenhang zwischen Aggressivität und Sexualität legt nahe, daß theriomorphe Verkörperungen beides miteinander verbinden. So wird der animalische Charakter von Sexualität in Erzählungen oft durch ein Tier,
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meist einen J Affen oder Bären (J Bärensohn), verkörpert (cf. J Sodomie)5. Geschichten mit tierischen Handlungsträgern dienen einerseits oft dazu, soziale Regeln der menschlichen Gemeinschaft zu versinnbildlichen oder zu kommentieren6. Andererseits werden nicht nur Menschen in fiktionalen Erzählungen als Tiere imaginiert, sondern Tiere wurden in weltlichen und kirchlichen J Tierprozessen real wie Menschen verurteilt7. Das vermeintlich statische Verständnis der Klassifikationsfunktion von Mensch-Tier-Metaphern wurde von Anthropologen in Frage gestellt, die etwa die Bedeutung dieser Metaphern für bestimmte Gemeinschaften hervorheben8 oder versuchen, das Konzept des J Totemismus durch Betonung der Wechselbeziehung zwischen Mensch und Tier wiederzubeleben9. Sowohl in Form von Erzählungen als auch in rituell aktivierten mythol. Repräsentationen hebt die T. die durch die Fähigkeit der sprachlichen Artikulation begründeten Unterschiede zwischen Menschen und Tieren auf und stattet Tiere mit dem Vermögen aus, einander als bewußt handelnde Wesen zu erkennen ⫺ eine Fähigkeit, welche die Menschen von anderen Primaten unterscheidet10. Aus der Perspektive biologischer Evolution und kultureller Entwicklung kann der oft in Erzählungen ausgedrückte Wunsch, Unterschiede zwischen Mensch und Tier zu überwinden, als Versuch verstanden werden, an das von M. Donald als ,mimetisch‘ bezeichnete Evolutionsstadium anzuknüpfen, wobei unter Mimesis etwas verstanden wird, das die Ausbildung gesellschaftlicher Rollen, die Mitteilung von Gefühlen und die Vermittlung von Grundfertigkeiten erlaubt, unabhängig von Sprache und anderen symbolischen und semiotischen Hilfsmitteln11. Verhaltensforschung und Evolutionstheorie haben ein bemerkenswertes Zusammenfließen von Erzählen und Theorie hervorgebracht. Das Wissen über die genetische Nähe von Menschen und Primaten dient ⫺ zusammen etwa mit der Langzeitbeobachtung konträrer sozialer Verhaltensformen bei eng verwandten Affenrassen12 ⫺ als Erklärung für menschliches Verhalten; darüber hinaus liefert es Metaphern für Verhaltenskomponenten wie Gewalt, Hierarchie oder Sexualität. Auf populä-
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Theseus
rer Ebene nehmen journalistische Berichte über menschliche Gewalttaten und menschliches Sexualverhalten, gestützt durch Hinweise auf die Soziobiologie oder die Evolutionstheorie, in der Gegenwart die Rolle ein, die einst Mythen oder Erzählungen spielten. Angesichts der heute in der westl. Populärkultur herrschenden Reflexivität13 ist es wahrscheinlich, daß Geschichten über Tiere, die sich wie Menschen, und Menschen, die sich wie Tiere verhalten, vom breiten Publikum, wenn auch unbewußt, mit Berichten der Massenmedien über die Evolutionstheorie in Zusammenhang gebracht werden und sich zu einer neuen Mythologie entwickeln. Auf wiss. Niveau ist diese Konvergenz am produktivsten in W. Burkerts Religionstheorie zu beobachten, die Kontinuitäten zwischen menschlichem und tierischem rituellem Verhalten, bes. in bezug auf Hierarchie, Gewalt und Unterwerfung, betont14. 1
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Villanova, Pa
Gustavo Benavides
Theseus, Held der griech. Mythologie1. T. wird zum ersten Mal bei J Homer (Ilias 1,265⫺267; Odyssee 11,321⫺325, 631) erwähnt. Sporadisch finden sich Elemente des Mythos in der antiken griech. Lyrik und Tragödie, bei den Logographen und später in der lat. Lit.2 Eine vollständige Darstellung des Lebens und der Heldentatenvon T. ist durch J Plutarch (Theseus; 1. Jh.) überliefert. T. ist der uneheliche Sohn des athen. Königs Aigeus und/oder Poseidons und Aithras, der Tochter von Pittheus von Troizen: Pittheus macht Aigeus betrunken, damit er mit Aithra schläft; in derselben Nacht schläft aber auch Poseidon mit ihr. Aigeus versteckt sein Schwert unter einem großen Stein und beauftragt Aithra, ihren Sohn nach Athen zu schikken, wenn dieser den Stein anheben kann. T. wächst in Troizen auf. Mit 16 Jahren macht er sich auf die Reise nach Athen. Unterwegs begegnet er Wegelagerern, die er auf die gleiche Weise tötet, wie sie selbst Reisende quälten: u. a. Prokrustes, der seine Opfer in sein Bett legte und sie streckte, wenn sie kleiner als das Bett waren, ihnen Beine und Arme abschnitt, wenn sie größer waren. In Athen will J Medea, T.’ Stiefmutter, T. vergiften lassen, damit ihr eigener Sohn Thronfolger werden kann. Aigeus erkennt T. aber an seinem Schwert (J Erkennungszeichen), verhindert den Mord und verbannt Medea aus Athen. T. wird als rechtmäßiger Thronfolger anerkannt. Er tötet den Stier von Marathon. Dieser Stier hatte u. a. Androgeos, den Sohn des kret. Königs Minos, getötet. Daraufhin hatte Minos verlangt, daß die Athener dem Minotaurus alle neun Jahre sieben Knaben und sieben Mädchen opfern. Um den Minotaurus zu töten, läßt sich T. als Opfer auswählen. In Kreta tötet er den Minotauros und findet mit Hilfe eines Fadens, den ihm Ariadne (AaTh/ATU 874*: J AriadneFaden), die Tochter von Minos, gab, aus dem Labyrinth. Er verläßt Kreta zusammen mit Ariadne, läßt sie aber auf Naxos zurück. Aufgrund eines Versehens (auf T.’ Schiff sind schwarze Segel gesetzt; Erkennungszeichen, Kap. 12) glaubt Aigeus, sein Sohn sei tot, und stürzt sich aus Verzweiflung von der Akropolis oder ins Meer, das seitdem die Bezeichnung Ägäis trägt. Daraufhin wird T. König von Athen, vereint die zwölf Gemeinden Attikas und führt weitere Reformen (Unterteilung der Bevölkerung in Klassen, neue Rituale) ein.
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Thomas, Hl.
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Einigen Qu.n zufolge überzieht T. zusammen mit J Herakles das Land der Amazonen mit Krieg und nimmt deren Königin Antiope als Beute mit; nach anderen Qu.n soll T. Antiope entführt haben. Antiope gebiert T. den Sohn Hippolytos. Nach ihrem Tod heiratet T. Phädra, die jüngere Schwester Ariadnes. T. bekämpft zusammen mit Peirithoos, dem König der Lapithen, die Zentauren. Sie rauben J Helena aus Sparta, die nach Losentscheid T. zufällt; Peirithoos soll zum Ausgleich Persephone, die Frau des Hades, erhalten. T. und Peirithoos ziehen in die J Unterwelt, um Persephone zu holen, aber Hades nimmt sie gefangen; erst vier Jahre später befreit Herakles T. Inzwischen haben die J Dioskuren ihre Schwester Helena befreit, und Athen wird von Menestheus regiert. T. geht daher nach Skyros, wo er stirbt oder von Lykomedes, dem König der Insel, ermordet wird.
for T. N. Y. 1970. ⫺ 2 Calame (wie not. 1); Peyronie (wie not. 1) 1367⫺1370. ⫺ 3 Calame (wie not. 1) 398⫺406. ⫺ 4 Peyronie (wie not. 1) 1367; Calame (wie not. 1) 397⫺399. ⫺ 5 cf. ibid., 400. ⫺ 6 RankeGraves (wie not. 1) 374. ⫺ 7 Lauremberg, P.: Neue und vermehrte Acerra philologica. Ffm./Lpz. 1717; Schumann, V.: Nachtbüchlein (1559). ed. J. Bolte. Tübingen 1893; Makowka, S.: Die T.-Sage in der frz. Lit. unter bes. Berücksichtigung von Andre´ Gides „The´se´e“. Diss. (masch.) Tübingen 1953; Peyronie (wie not. 1) 1370⫺1377; Kern, M./Ebenbauer, A.: Lex. der antiken Gestalten in den dt. Texten des MA.s. B./N. Y. 2003, 609⫺611; Köhn, S.: T. In: Walther, L.: Antike Mythen und ihre Rezeption. Lpz. 2003, 244⫺250.
T. war ein panhellen. Held, der vor allem in Athen verehrt wurde3. Der T.mythos hat sich etappenweise herausgebildet4. Als älter gelten die schon bei Homer erwähnten Episoden der Reise nach Kreta einschließlich des Kampfes mit dem Minotaurus (Odyssee 11,321⫺325), des Kampfs mit den Zentauren (Ilias 1,265⫺ 267) und des Abstiegs in die Unterwelt (Odyssee 11,631); teilweise werden die beiden letzteren als spätere Interpolationen (Peisistratus, 5. Jh. v. u. Z.) aufgefaßt5. Die demokratische Politik des T. als König scheint auf eine spätere, mit den politischen Zielen von Kleisthenes, dem Begründer der Demokratie in Athen (5. Jh. v. u. Z.), verbundene Überarbeitung des Mythos zurückzugehen6. Das Amazonenthema steht im Kontext der Erzählungen um Herakles. Die mythische T.-Biographie enthält Episoden, die für das Leben mythischer J Helden charakteristisch sind: J Suchwanderung nach dem Vater, Kampf mit Ungeheuern und Antagonisten, J Brautraub, J Jenseitswanderung. Episoden des T.mythos, insbesondere das Abenteuer auf Kreta, haben die Lit. bis heute inspiriert7.
Thomas, Hl., Apostel (Festtag 21. Dez.; kathol. seit 1970: 3. Juli)1. T. wird in den synoptischen Evangelien in den sog. Zwölferlisten (Mk. 3,18; Mt. 10,3; Lk. 6,15; Apg. 1,13) an fünfter bis achter Stelle unter den Jüngern Jesu erwähnt. Bei J Johannes Evangelista ist er siebenmal genannt (Joh. 11,16; 14,5; 20,24⫺ 29; 21,2), davon dreimal mit dem pleonastischen Beinamen Zwilling (griech. Didymos; aram. T’oma) bezeichnet. Wessen Zwilling er sein soll, wird aber nicht gesagt. Johannes schildert auch das Zweifeln des T. an der Auferstehung J Christi, dem er die Finger in die Seitenwunde legen muß, um überzeugt zu werden. Damit ist T. zum sprichwörtlichen ungläubigen T. geworden. Die verbreitetsten Legenden über den biogr. kaum zu greifenden T. gehen im wesentlichen auf die in Ostsyrien (Anfang 3. Jh., wahrscheinlich in Edessa) entstandenen und ins Griechische übers. apokryphen T.akten zurück2, in denen T. Judas oder Judas T. (,der auch Didymus ist‘) genannt wird, was auf eine Verbindung von Joh. 14,22 („Spricht zu ihm Judas, nicht der Ischariot“) mit der späteren Erkennungsszene zurückgehen dürfte und zu einem fiktiven Judas T. und der Vorstellung eines Zwillingsbruders Jesu führte.
1
Herter, H.: T. In: Pauly/Wissowa Suppl. 13 (1973) 1045⫺1238; Ranke-Graves, R. von: Les Mythes grecs 1. P. 1967, 344⫺393; Grimal, P.: The Dict. of Classical Mythology. Ox. 2005, 445⫺452; Kirk, G. S.: Myth. Its Meaning and Functions in Ancient and Other Cultures. Cambr./Berk./L. A. 1970; Peyronie, A.: The´se´e. In: Dict. des mythes litte´raires. ed. P. Brunel. P. u. a. 1988, 1365⫺1380; Calame, C.: The´se´e et l’imaginaire athe´nien. Le´gende et culte en Gre`ce antique. Lausanne 1996; Ward, A.: The Quest
Athen
Manouela Katrinaki
In den T.-Akten, die eine deutlich gnostisch-enkratitische Grundtendenz haben3, wird von der Mission des Apostels in Indien erzählt, die aufgrund einer Aufforderung durch Christus erfolgt. Der Schreiner und Baumeister Judas T. wird von Abbanes, Bote von König Gundoforus, als Sklave nach Indien gebracht und soll einen prächtigen Palast in röm. Bauweise errichten (das Motiv des Sklavenkaufs ent-
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Thomas, Hl.
fällt in späteren Fassungen). Unterwegs nehmen die beiden an der Hochzeit einer Königstochter teil, bei der T. vom Mundschenk geohrfeigt wird, weil ihm eine jüd. Musikantin einen Hymnus in seiner Sprache wiederholt. Der erzürnte T. prophezeit dem Mundschenk, daß er sterben und ein Hund ihm die Hand, mit der er ihn schlug, bringen werde. Dies geschieht, nachdem der Mundschenk von einem Löwen zerrissen worden ist. Jüdin und Brautpaar bekehren sich zum Christentum. Bei Gundoforus angelangt, entwirft T. ihm einen Palast und erhält große Schätze zur Errichtung des Bauwerks. T. verteilt diese allerdings an die Armen; er predigt und bekehrt dabei viele Menschen. Der empörte König läßt T. in den Kerker werfen. Dem König erscheint der kürzlich verstorbene Bruder und berichtet, T. habe dem König einen Palast im Himmel errichtet; der König bekehrt sich und läßt T. befreien. T. wirkt auch einige Wunder: Er erweckt z. B. einen Jüngling wieder zum Leben, der vom Gift eines Drachen, einer Verwandlungsform Satans, getötet wurde. Ein Eselsfüllen spricht T. an und bittet um die Auszeichnung, von ihm geritten zu werden. T. heilt einen Besessenen und einen Mann, dem die Hand verdorrte, weil er seine Frau wegen Ehebruchs getötet hatte; sie wird erweckt und erzählt von der Unterwelt. T. zieht weiter ins Landesinnere Indiens und bekehrt vornehme Frauen, die sich nach der Aufforderung des T. zur Enthaltsamkeit ihren Männern verweigern (J Keuschheit). Der König läßt ihn dafür vielfach martern und befiehlt ihm, dem Sonnengott zu opfern. T. beschimpft den im bronzenen Standbild versteckten J Teufel und läßt das J Götzenbild wie Wachs schmelzen. Schließlich wird T. von vier Soldaten mit Lanzen durchbohrt.
Von den T.-Akten gibt es zwei lat. Fassungen4, die beide den Text der Quelle stark bearbeiten, die Miracula sancti Thomae apostoli facta in India und die wesentlich stärker verbreitete Passio Thomae apostoli (beide spätestens 4. Jh.?), auf welche die wirkungsmächtigsten T.legenden des MA.s sowie Erwähnungen in Chroniken zurückgehen und die man früher irrtümlicherweise J Gregor von Tours zuschrieb. Die Miracula straffen die Handlung; die Tierwunder werden z. B. übergangen. Die Passio greift wesentlich stärker ein, sie kürzt, arbeitet um und erweitert. Dort wird T. vom wütenden Oberpriester mit seinem Schwert getötet, die T.reliquien werden nach Edessa gebracht, wobei auf den J Abgar-Brief angespielt wird. Nach J Johannes Chrysostomus soll T. die hl. J Drei Könige getauft und zu Bischöfen ernannt haben5. In der Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica6, einer Marienlebenkompilation des 13. Jh.s, ver-
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säumt T. Mariä Himmelfahrt, sieht sie aber beim Gebet im Himmel. Er bittet Christus um ein konkretes Zeichen und erhält ihren Gürtel. Nicht alle Quellen berichten von einem Märtyrertod des T.: Clemens von Alexandrien7 spricht von einem natürlichen Tod bei Heraklion, die Gebeine des T. seien in einer Translatio nach Edessa gebracht worden. Eusebius von Cäsarea verlagert die Missionierung nach Edessa und läßt T. zum Mitbegründer des nordsyr. Christentums werden8. Eine andere Version bieten die T.christen Indiens. Dort soll T. sieben Gemeinden gestiftet und in Mailapur bei Madras einen König bekehrt haben. Später sei er auf einem Berg in der Nähe getötet worden. Seine Grabstätte ist Wallfahrtsort geblieben (2004 vom Vatikan anerkannt), obwohl seine Gebeine nach Edessa überführt wurden9. Es sind zahlreiche Wunder post mortem überliefert: Ein Patriarch der ind. Kirche berichtet Papst Calixtus II. 1122 über T.wunder. Nach der Translatio des T. in eine nicht identifizierbare Stadt Hulna, wo nur treue Christen leben, sei eine prachtvolle T.kirche entstanden10. Sie wird ausführlich als grandioses, nur acht Tage im Jahr betretbares Bauwerk beschrieben, in dem viele Wunder geschähen. Der Leichnam des T. werde an diesen Tagen auf einen goldenen Stuhl gesetzt, von wo aus er die Eucharistie nur an untadelige Menschen mit der rechten Hand, mit der er die Wunde Christi berührt habe, verabreiche. J Caesarius von Heisterbach erzählt die Heimkehrergeschichte des Ritters und T.verehrers Gerhard von Holenbach11, der dem als Pilger verkleideten Teufel Herberge gewährt und ihm einen Pelzmantel als Decke gibt. Der Gast verschwindet mit dem Mantel, was Gerhards Frau sehr verärgert. Gerhard pilgert daraufhin zur T.kirche nach Indien, verspricht seiner Frau die Rückkehr innerhalb von fünf Jahren und zerschneidet einen Ring, der nach seiner Rückkehr wieder zusammengefügt werden soll (J Erkennungszeichen). Sollte er nicht rechtzeitig zurückgekehrt sein, so dürfe sie erneut heiraten. Er versäumt die Frist, wird auf Anordnung des T. vom Teufel rasch zu seiner Frau zurückgebracht, die bereits erneut geheiratet hat. Sie aber wirft sich Gerhard nach Zusammenfügen des Rings in die Arme (cf. AaTh/ATU 974: J Heimkehr des Gatten). T. vermag auch Tiere zum Sprechen zu bewegen, etwa ein Eselsfüllen12. In einer böhm. Sage fährt T. in der T.nacht in einem feurigen Wagen auf den Kirchhof, wo alle Toten mit Namen T. auf ihn warten13.
T. durfte in keinem Apostelbuch oder nach dem Festkalender angelegten Legendar fehlen. Maßgeblich für das T.bild des späten MA.s war die Version der J Legenda aurea des J
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Thomas Becket(t)
Jacobus de Voragine14, die im wesentlichen eine gekürzte Fassung der Passio bietet, aber auch Erweiterungen aufweist. So heißt es im Zusammenhang mit der Mundschenk-Geschichte, daß Augustinus über dieses Wunder befremdet gewesen sei. Übers.en verschiedener lat. Versionen in die Volkssprachen sind zahlreich. Beispielsweise wurden Legenden wie auch einzelne Mirakel mindestens 31mal ins Deutsche und Niederländische übersetzt15. Die Version des am stärksten verbreiteten dt. Legendars Der Heiligen Leben bietet neben einer Version der Passio die Mirakel von der T.kirche und von Gerhard von Holenbach16. In dt. Oster- und Passionsspielen ist häufig die bibl. Szene, in der T. an der Auferstehung zweifelt, dargestellt17. Sowohl Marco J Polo18 als auch Jean de J Mandeville19 berichten von einem Besuch am T.grab in Mailapur. T. werden auch apokryphe Evangelien zugeschrieben. Das kopt. T.evangelium, das auf eine griech. Vorlage zurückgeht, bietet 114 Logien Jesu an die Jünger, darunter auch Parabeln; das Evangelium Thomae de infantia salvatoris erzählt als Kindheitslegenden Jesu die J Kornlegende (ATU 750 E [2])20 und die Geschichte vom fünfjährigen Jesus, der Tonvögel ins Leben ruft; letztere fand auch im Koran (Sure 5,110) Aufnahme. 1
cf. u. a. Scholten, C.: T., Apostel. In: LThK 9 (32006) 1505⫺1509; Drijvers, H. J. W.: T., Apostel. In: TRE 33 (2002) 430⫺433; Mimouni, S.: T. In: Dict. de spiritualite´ 15. P. 1991, 708⫺718; Lechner, M.: T. (Apostel). In: LCI 8 (1976) 468⫺475; Williams-Krapp, W.: T. (Apostel). In: Verflex. 9 (21995) 811 sq. ⫺ 2 Drijvers, H. J. W.: T.akten. In: Hennecke, E./Schneemelcher, W.: Neutestamentliche Apokryphen in dt. Übers. 1⫺2. Tübingen 61990/97, hier t. 2, 289⫺367. ⫺ 3 cf. auch EM 1, 658⫺660. ⫺ 4 cf. Zelzer, K.: Zu den lat. Fassungen der T.akten. 1: Gehalt, Gestalt, zeitliche Einordnung; 2: Überlieferung und Sprache. In: Wiener Studien 84 (1971) 161⫺179 und 85 (1972) 185⫺212. ⫺ 5 MPG 56, 638. ⫺ 6 Vögtlin, A. (ed.): Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica. Tübingen 1888, V. 7445⫺ 7475; Gärtner, K.: Vita beatae virginis Mariae et salvatoris rhythmica. In: Verflex. 10 (21996) 436⫺ 443. ⫺ 7 MPG 8, 1261. ⫺ 8 Eusebius: Ausgewählte Schr. 2: Kirchengeschichte. Mü. 1932, 1,13. ⫺ 9 Lipsius, R. A.: Die apokryphen Apostelgeschichten und Apostellegenden 2. Braunschweig 1887, 418⫺420. ⫺ 10 cf. Wilhelm, F.: Dt. Legenden und Legendare. Lpz. 1907, 43⫺59; Zelzer 1971 (wie not. 4) 176 sq. ⫺ 11 Tubach, num. 1580. ⫺ 12 Frenken, G.: Wunder und Taten der Heiligen. Mü. 1925, 51 sq. (dt.). ⫺
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Grohmann, J. V.: Sagen aus Böhmen. Prag 1863, 99 sq. ⫺ 14 Iacopo da Varazze: Legenda aurea. ed. G. P. Maggioni. Florenz 21998, 53⫺62. ⫺ 15 Williams-Krapp, W.: Die dt. und ndl. Legendare des MA.s. Tübingen 1986, 464 (Reg.); cf. auch Wilhelm (wie not. 10) 1*⫺42* (Ausg. mehrerer Texte); Wilhelm, U./Williams-Krapp, W. (edd.): Die Elsäss. Legenda aurea 1. Tübingen 1980, 33⫺40. ⫺ 16 Brand, M./Jung, B./Williams-Krapp, W. (edd.): Der Heiligen Leben. 2: Der Winterteil. Tübingen 2004, 322⫺ 331. ⫺ 17 Bergmann, R.: Katalog der dt.sprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des MA.s. Mü. 1986, 531. ⫺ 18 Marco Polo: Il milione. Zürich 6 1997, Kap. 177. ⫺ 19 Letts, M. (ed.): Mandeville’s Travels. Text and Translations. Nachdr. Nendeln 1967, 123⫺126, 327⫺330, 461⫺463, 484 sq., 496. ⫺ 20 Hennecke/Schneemelcher (wie not. 2) hier t. 1, 93⫺113, 192⫺204, 349⫺360; EM 7, 1355 sq.; Nagy, I.: Studien zur folkloristischen Erforschung des apokryphen T.evangeliums. In: Europ. Ethnologie und Folklore im internat. Kontext. Festschr. L. Petzoldt. Ffm. 1999, 647⫺658, hier bes. 656⫺658.
Augsburg
Werner Williams-Krapp
Thomas Becket(t), * London wohl 21. 12. 1118, † Canterbury 29. 12. 1170, engl. Heiliger (Festtag 29. Dez.). Der Sohn eines Kaufmanns, seit 1155 Freund, Ratgeber und Kanzler Heinrichs II., wurde 1162 zum Erzbischof von Canterbury erhoben. Nach der Niederlegung des Kanzleramts widersetzte sich B. der Wiedereinführung kgl. Vorrechte im kirchlichen Bereich und beharrte auf der Unabhängigkeit der engl. Kirche in Amtsvergabe und Gerichtsbarkeit. Wegen Meineids und Hochverrats angeklagt, floh er 1164 nach Frankreich, kehrte aber nach oberflächlicher Versöhnung mit dem König am 2. 12. 1170 nach Canterbury zurück und wurde nach erneuten Konflikten wenige Wochen später von vier Rittern im Dom von Canterbury ermordet. Unmittelbar danach brachten die Mönche in Canterbury den Kult um den Märtyrer B. in Gang (Heiligsprechung 21. 2. 1173). Heinrich II. unterzog sich 1174 am Grab B.s der öffentlichen Kirchenbuße. Heinrich VIII. initiierte einen Prozeß wegen Landes- und Hochverrats, ließ 1538 Schrein und Reliquien zerstören und hob den B.-Kult auf1. Erst 1970 wurde der Kult durch die Anglikan. Kirche wieder erlaubt2. Der Konflikt mit dem König und B.s gewaltsamer Tod3, die umgehende Heiligsprechung und die sofort einsetzenden Mirakeler-
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zählungen lösten eine umfangreiche Produktion von Viten, chronikalischen Texten und Briefen4 sowie bildlichen Darstellungen5 aus. In der Folgezeit wird B. Gegenstand einer großen Zahl lat. Gedichte, Hymnen, Conductus, episch gehaltener Texte, Memorialverse und Viten6, von denen auch altfrz. und isl. Bearb.en7 vorliegen. B.s Aufnahme in die J Legenda aurea8 sorgte ebenso nachhaltig für seinen Kult wie die Kanonisierung als Märtyrer, welche die bis ins 15. Jh. hinein europaweit bedeutende Wallfahrt nach Canterbury (cf. J Chaucer) begründete9. Die Zahl der B. zugeschriebenen Wunder ist exorbitant. Allein in den wenige Jahre nach B.s Tod angelegten Slgen sind ca 700 Wunder bezeugt10: Auf B.s Fürsprache wird eine Unzahl von Krankheiten geheilt11. Das ,Wasser des hl. T.‘ (Blut soll sich mit dem Quell in der Kathedrale vermischt haben) heilt Blinde, Lahme, Taube und Paralytiker12, es macht verdorbenes Bier wieder trinkbar (J Blutwunder). Das Bierfaß einer Frau, welche die Heiligkeit B.s leugnet, fließt anhaltend über13. B. macht die Selbstkastration eines Mönches rückgängig14, hilft bei schwierigen Geburten15, läßt eine Mißgeburt gesunden16 und eine tote Kuh bzw. einen z. T. gehäuteten Ochsen wiederauferstehen17.
Im zeitgenössischen historiographischen wie hagiographischen Diskurs wurden B. die verschiedenartigsten Rollen zugeschrieben, so die des J Simon Magus, des Verräters Mordred aus der J Artustradition, aber auch die des J Jonas18. J Giraldus Cambrensis, der B. typol. mit dem Märtyrerapostel J Jacobus vergleicht19, und J Caesarius von Heisterbach stilisieren spätere Geistliche (Patriarch Heraclius im Streitgespräch mit Heinrich II., 1185; den 1225 ermordeten Erzbischof von Köln) zu einem zweiten B.20 Wenngleich der spektakuläre Mord im Dom und die B.-Mirakel die Erzähltradition geprägt haben, verknüpfen sich zahlreiche weitere Erzählmotive mit B.s Leben. Bereits seine Geburt wird durch legendenhafte Motive überhöht. Das aus der Prise d’Orange (J Guillaume d’Orange) stammende Motiv der Liebe von B.s Mutter zu dem Palästina-Pilger Gilbertus, dem sie nach London nachreist und, zum Christentum bekehrt, B. gebiert21, verbindet sich mit Träumen der Mutter von B.s künftiger Größe während der Schwangerschaft (Themse fließt durch den Mutterleib; das Un-
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geborene wird so groß, daß sie nicht durch das Domportal treten kann; zwölf Sterne fallen in ihren Schoß) und nach der Geburt (vom elterlichen Haus breitet sich ein Feuer aus, das fast ganz London zerstört; der Säugling kann nicht durch einen noch so großen Purpurmantel zugedeckt werden)22. Die Erzählung, nach der der Kanzler B. und Heinrich II. darüber streiten, wessen Mantel einem frierenden Armen gegeben werden soll, parodiert die Mantelteilung des hl. J Martin23. Das Sprichwort ,Engelmann, zeig den Sterz her‘ (15. Jh.) wird dadurch erklärt, daß Bauern B.s Esel den Schwanz abgeschnitten haben; künftig werden alle Knaben des Dorfes mit dem Penis am Hintern geboren24. Während seiner Zeit als Erzbischof trägt B. ein monastisches härenes Untergewand voller Würmer25. Christologische Züge hat die Nachricht, daß er im Verborgenen 13 Armen die Füße gewaschen und 26 Arme gespeist habe26. Ein Mönchsarzt sieht in B.s Todesjahr dessen Namen und den Heinrichs II. im J Buch des Lebens27. Schließlich wird die Koinzidenz wichtiger Ereignisse (Geburt, Taufe, Exilierung, Rückkehr nach England, Translatio, Tod des Königs) auf einen Dienstag (wohl wegen des ähnlichen Klangs von ,dies Martis‘ und ,dies martyris‘) unterstrichen28.
Nachhaltig hat die Figur B. auf spätma. Predigt-, Exempel- und Legendensammlungen gewirkt29, so z. B. auf Wilhelm von Peyraud (ca 1200⫺71), der B. mehrfach als jüngeres Beispiel der Unbestechlichkeit notiert30, J E´tienne de Bourbon (num. 308: Von B. exkommuniziertes Brot wird schwarz, nach Absolution wieder weiß)31 oder J Thomas Cantipratanus (Maria flickt B.s härenes Untergewand)32. Zahlreiche Exempel finden sich bei Caesarius von Heisterbach: Libri VIII miraculorum 3,33: B. preist Schönheit des Gewandes seiner Geliebten (i. e. Maria), die ihm als Zeichen seines künftigen Amtes ein purpurnes Meßgewand schenkt33. ⫺ Dialogus miraculorum 7,4: B. setzt einfältigen Priester ab, der nur Marienmesse lesen kann, wird auf Marias Hinweis, B. trage ein von ihr genähtes Untergewand, von B. wieder eingesetzt34. ⫺ 8,69: Diskussion in Paris, ob B. Märtyrer gewesen sei35; Engel singen bei B.s Requiem36. ⫺ 10,56: Sprechender Vogel ruft B. um Hilfe37.
Der J Liber exemplorum (num. 183: Unbotmäßige Kleriker sind gekrönte Dämonen38; num. 181: Jagdfalke Heinrichs II. wird mit B.s Hilfe geheilt39) und das J Speculum laicorum (num. 546: Eitle Frau wünscht sich von B. schönere Augen, erblindet, wünscht sich frühere Augen zurück40) erwähnen B. ebenso wie Thomas Brinton (2. Hälfte 14. Jh.), der B. in seinen Predigten als perfekten Kirchenführer
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rühmt41. Für die weitere Überlieferung dürfte die Legenda aurea entscheidend sein, die eine Kompilation der bekanntesten B.-Erzählstoffe bietet42: Härenes Untergewand, Fußwaschung der 13 Armen und Geldgabe; Vision vom freien 13. Apostelthron, der für B. bestimmt ist; der zunächst von B. abgesetzte einfältige Priester, der aufgrund der Erzählung Mariens, sie habe B.s Untergewand genäht, wieder ins Amt kommt43; Gesang der Engel bei B.s Requiem44; Frau wünscht sich von B. schönere Augen45; betrügerischer Knecht bringt in einem Gefäß statt ,Wasser des hl. T.‘ einfaches Wasser, nach Öffnen ist das Gefäß leer; sprechender Vogel ruft B. um Hilfe an46; von B. geheilter Kranker bittet wegen seines Seelenheils um erneute Krankheit47.
Die anhaltende Beliebtheit der Figur B.s seit der frühen Neuzeit zeigen zahlreiche historisierende, psychologisierende und religiös grundierte Dramen, Erzählungen und Romane48. Bes. erwähnenswert ist die Darstellung im Jesuitendrama T. B. des Georg Bernardt (1595⫺ 1660)49, in Conrad Ferdinand Meyers Novelle Der Hl. (1879)50, in T. S. Eliots Drama Murder in the Cathedral (1935)51 sowie in Jean Anouilhs Schauspiel B. ou l’Honneur de Dieu (1959). Der B.-Konflikt ist auch mehrfach in Film und Musiktheater bearbeitet worden52. Sigel: MTB ⫽ Robertson, J. C./Sheppard, J. B. (edd.): Materials for the History of T. B. 1⫺7. (L. 1875⫺85) Nachdr. Nendeln 1965. 1
Knowles, D.: T. B. L. 1970; Jansen, S.: Wo ist T. B.? Der ermordete Hl. zwischen Erinnerung und Erzählung. Husum 2002; Duggan, A.: T. B. L. 2004; Vollrath, H.: T. B. Höfling und Hl. Göttingen/Zürich 2004; cf. auch Duggan, A. J.: B. In: TRE 5 (1980) 394⫺397; Daemmrich, H. S. und I. G.: Themen und Motive in der Lit. Tübingen 21995, 342 sq.; Schnith, K.: T. B. In: Lex. des MA.s 8. Stg. u. a. 1997, 702⫺704; Vollrath, H.: T. B. In: LThK 9 (32000) 1523 sq. ⫺ 2 ead. 2004 (wie not. 1) 130. ⫺ 3 cf. u. a. Borenius, T.: The Murderers of T. B. in Popular Tradition. In: FL 43 (1932) 175⫺192; Davidson, H. R. E.: Folklore and Myth. ibid. 87 (1976) 131⫺145, hier 141. ⫺ 4 cf. allg. MTB; Duggan, A. (ed.): The Correspondence of T. B., Archbishop of Canterbury 1⫺2. Ox. 2000; Staunton, M.: T. B. and His Biographers. Woodbridge 2006; cf. auch Berschin, W.: Biogr. und Epochenstil im lat. MA. 4,2. Stg. 2001, 384⫺414. ⫺ 5 Borenius, T.: St. T. B. in Art. L. 1932; Hildburgh, L.: Representations of the Saints in Medieval English Alabaster Carvings. In: FL 61 (1950) 68⫺87, hier 75 sq.; Farmer, D. H.: T. B. von Canterbury. In: LCI 8 (1976) 484⫺489; Ford, B. (ed.): The Cambr. Guide to the Arts in Bri-
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tain 2. Cambr. 1988, 53⫺57, 173⫺177. ⫺ 6 Schmidt, P. G.: Die Ermordung T. B.s im Spiegel zeitgenössischer Dichtungen. In: Mittellat. Jb. 9 (1973) 159⫺ 172; Swietek, F. R.: A Metrical Life of T. B. by Simon Aurea Capra. ibid. 11 (1976) 177⫺195; Vernet, A.: La ,Thomaide‘, poe`me latin ine´dit consacre´ a T. B. [1975]. In: id.: E´tudes me´die´vales. P. 1981, 223⫺240; Thompson, P. A.: An Anonymous Life of T. B. In: Mittellat. Jb. 20 (1985) 147⫺154; Froidmont, T. von: Die Vita des hl. T. B. ed. P. G. Schmidt. Stg. 1992; Saints’ Lives by Walter of Chaˆtillon: Brendan, Alexis, T. B. ed. C. Wollin. Toronto 2002; cf. auch Rigg, A. G.: A History of AngloLatin Literature 1066⫺1422. Cambr. 1992, 77⫺83; Szöve´rffy, J.: Secular Latin Lyrics and Minor Poetic Forms of the Middle Ages 3. Concord, N. H. 1994, 466⫺472. ⫺ 7 La Vie de saint T. le martyr par Guernes de Pont-Sainte-Maxence. Poe`me historique du XIIe sie`cle (1172⫺1174). ed. E. Walberg. Lund 1922; La Vie de T. B. par Beneit. ed. B. Schlyter. Lund 1941; Tho´mas Saga Erkibyskups 1⫺2. ed. E. Magnu´sson. L. 1875/83. ⫺ 8 Iacopo da Varazze: Legenda aurea. ed. G. P. Maggioni. Florenz 1998, 103⫺ 107. ⫺ 9 Foreville, R.: Canterbury-Wallfahrt. In: Lex. des MA.s 2. Stg. u. a. 1983, 1455⫺1457; Bonser, W.: The Cult of Relics in the Middle Ages. In: FL 73 (1962) 234⫺256, hier 254 sq. ⫺ 10 MTB 1, 1⫺136; MTB 2, 21⫺281. ⫺ 11 Foreville, R.: T. B. dans la tradition historique et hagiographique. L. 1981, 443⫺468 (mit statistischer Erfassung der Krankheiten); cf. auch Finucane, R. C.: The Miracle-Working Corpse. A Study of Medieval English Pilgrims and Their Beliefs. Diss. Stanford 1972, 84⫺97; Ward, B.: Miracles and the Medieval Mind. Aldershot 21987; Stemmler, T.: Hagiographie als Propaganda. Die Kanonisation T. B.s in zeitgenössischen Texten. In: Lat. Biogr. von der Antike bis in die Gegenwart. Festschr. W. Berschin. Heidelberg 2002, 519⫺529. ⫺ 12 MTB 2, 43, 49⫺54, cf. auch 134⫺136. ⫺ 13 MTB 2, 253 sq.; MTB 1, 500 sq.; cf. Borenius (wie not. 3) 176 sq. (B. als Patron der Brauer). ⫺ 14 MTB 1, 171⫺173, cf. auch 177 sq., 375⫺377, 520. ⫺ 15 MTB 1, 226⫺228; MTB 2, 134 sq. ⫺ 16 MTB 1, 203 sq. ⫺ 17 MTB 1, 536⫺ 538. ⫺ 18 Jansen (wie not. 1) 105⫺114. ⫺ 19 Giraldus Cambrensis: Opera 7. ed. J. F. Dimock. L. 1877, 51. ⫺ 20 ibid. 8. ed. G. F. Warner. L. 1891, 210 sq.; cf. auch Bartlett, R.: Gerald of Wales 1146⫺1223. Ox. 1982, 83; Kleine, U.: Mirakel zwischen Kult-Ereignis und Kultbuch. Die Verehrung Erzbischofs Engelberts von Köln im Spiegel der ,Miracula Engelbert‘ des Caesarius von Heisterbach. In: Mirakel im MA. ed. M. Heinzelmann/K. Herbers/D. R. Bauer. Stg. 2002, 271⫺310, hier 277, 298. ⫺ 21 MTB 2, 453⫺458; cf. auch Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948, 117 sq.; DBF B 2, 4. ⫺ 22 MTB 2, 356⫺359; MTB 4, 81 sq. ⫺ 23 MTB 3, 24 sq.; Walsh, M. W.: Medieval English ,Martinmesse‘. The Archaeology of a Forgotten Festival. In: FL 111 (2000) 231⫺254, hier 240; cf. auch Berschin (wie not. 4) 400. ⫺ 24 Ulmschneider, H.: Greker,
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Thomas Cantipratanus
Troisner, die edln Romer und König Artus’ Tafelrunde. In: Festschr. Berschin (wie not. 11) 1077⫺ 1099, hier 1082 sq.; Jones, M. H.: Saints and Other Horse-mutilators, or Why all Englishmen Have Tails. In: Fauna and Flora in the Middle Ages. ed. S. Hartmann. Ffm. 2007, 155⫺170, hier 163 sq. ⫺ 25 MTB 3, 37. ⫺ 26 MTB 3, 89; cf. auch Weinreich, O.: Triskaidekatische Studien. Gießen 1916, 6 sq. ⫺ 27 MTB 1, 143. ⫺ 28 Matthaeus Paris: Chronica Maiora. ed. H. R. Luard. L. 1874, 261; cf. auch Lewis, S.: The Art of Matthew Paris in the ,Chronica Majora‘. Cambr. 1987, 86 sq. ⫺ 29 cf. Welter, J.-T.: L’Exemplum dans la litte´rature religieuse et didactiˆ ge. P./Toulouse 1927; Mosher, J. A.: que du Moyen A The Exemplum in the Early Religious and Didactic Literature of England. N. Y. 1911, 111 sq. ⫺ 30 Menzel, M.: Predigt und Geschichte. Hist. Exempel in der geistlichen Rhetorik des MA.s. Köln/Weimar/ Wien 1998, 197 sq. ⫺ 31 Tubach, num. 754. ⫺ 32 MTB 2, 293, 297. ⫺ 33 Tubach, num. 4831, cf. num. 4829. ⫺ 34 Tubach, num. 3231. ⫺ 35 Baldwin, J. W.: A Debate at Paris over T. B. between Master Roger and Master Peter the Chanter. In: Studia Gratiana 11 (1967) 119⫺132. ⫺ 36 Tubach, num. 4830; MTB 2, 298. ⫺ 37 Tubach, num. 2929; MTB 1, 529 sq. ⫺ 38 Tubach, num. 3949. ⫺ 39 Tubach, num. 1970; MTB 1, 528 sq. ⫺ 40 Tubach, num. 1951. ⫺ 41 The Sermons of Thomas Brinton, Bishop of Rochester (1373⫺89). ed. M. A. Devlin. L. 1954, 3, 4, 122, 125, 413, 414 sq., 417, 425. ⫺ 42 Iacopo da Varazze (wie not. 8) 103, 11; 105, 26⫺34; 106, 45 sq.; 106, 52⫺107, 56; 107, 57⫺70. ⫺ 43 Tubach, num. 3231. ⫺ 44 Tubach, num. 4830. ⫺ 45 Tubach, num. 1951. ⫺ 46 Tubach, num. 2929. ⫺ 47 cf. Tubach, num. 4361. ⫺ 48 Püschel, B.: T. B. in der Lit. Bochum 1963; Grassin, J.-M.: Le Mythe litte´raire de T. B. a` l’e´poque moderne. In: T. B. Actes du Colloque internat. de Se´die`res, 19⫺24 aouˆt 1973. ed. R. Foreville. P. 1975, 285⫺297; cf. auch Frenzel, Stoffe, 779⫺ 782. ⫺ 49 Bernardt, G.: T. B. 1626. ed. F. Rädle. Amst. 2007; cf. Rädle, F.: ,Faustsplitter‘ aus lat. Dramen im Clm 26017. In: Festschr. B. Bischoff. Stg. 1971, 478⫺495, hier 495; Valentin, J.-M.: Les Je´suites et le the´aˆtre. P. 2001, 498⫺501. ⫺ 50 Meyer, C. F.: Sämtliche Werke 13. ed. H. Zeller/A. Zäch. Bern 1962, 283⫺305 (zu Qu.n und Entstehungsgeschichte). ⫺ 51 Gordon, L.: Eliot’s New Life. Ox. 1988, 28⫺37. ⫺ 52 Lex. des Internat. Films A⫺C. Reinbek 1995, 456 sq.; Lex. Lit.verfilmungen. ed. K. M. und I. Schmidt. Stg./Weimar 22001, 5, 49; Pipers Enz. des Musiktheaters 5. ed. C. Dahlhaus. Mü. 1994, 16⫺ 18.
Berlin
Wolfgang Maaz
Thomas Cantipratanus (auch T. von Cantimpre´, Henry Brabanc¸on, T. von Bellinghen oder ähnlich; eigentlicher Name Guillaume
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Henri), * Leeuw-St. Pierre, wahrscheinlich 1201, † Löwen ca 1270⫺72, Moraltheologe, Hagiograph, Naturforscher, bedeutender Enzyklopädist. T. trat 1217 in das AugustinerChorherrenstift Cantimpre´ bei Cambrai ein und wechselte mit ca 30 Jahren in den Dominikanerorden zu Löwen. Er studierte Theologie in Lüttich und Löwen, zwischen 1233 und 1237 bei J Albertus Magnus in Köln und ca 1237⫺40 am Colle`ge de St.-Jacques in Paris. Seit 1246 war T. Subprior und Lektor in Löwen. Ob er seit 1263 Suffraganbischof war, ist umstritten1. T. verfaßte Viten von Christina Mirabilis von St.-Trond (1232), Lutgard von Tongern, der Schutzpatronin von Flandern (nach 1246), Margarete von Ypern (1240), Marie d’Oignies (1231) und Johannes von Cantimpre´ (1260). Er berief sich hierbei auf Gewährsleute oder auf Aussagen der noch lebenden Personen2. Ab ca 1225 arbeitete T. an dem naturwiss. Kompendium Liber de natura rerum (vollendet ca 1240⫺48). Das anonym verfaßte und weitverbreitete Werk wurde auch seinen Zeitgenossen Albertus Magnus, Bartholomaeus Anglicus und Guillaume de Moerbeke zugeschrieben. Gegenstände sind die menschliche Anatomie, Tiere, Pflanzen, Metalle, Edelsteine, Monstra, Meteorologie und Kosmos. Eingestreut sind wie bei Alexander J Neckam moralisierende Deutungen und symbolische Übertragungen der Phänomene. Der Liber de natura rerum war als Hilfsmittel für Prediger gedacht, um durch belehrende und unterhaltsame Themen aus der Natur den Glauben zu stärken und in alltäglichen Fragestellungen der Gläubigen (z. B. Gesundheit, Landwirtschaft) Ratschläge für die Seelsorge bereitzuhalten. Von dem in drei Redaktionen vorliegenden Werk3 stammen vermutlich nur die ersten beiden mit 19 bzw. 20 Kap.n von T. selbst. Die breit tradierte 3. Redaktion ist eine wahrscheinlich von fremder Hand gekürzte Fassung. Sie enthält 17 Bücher in neuer Anordnung; die Prologe fehlen meist; einige Kapitel wurden gestrichen. Darüber hinaus gibt es über hundert bisher kaum untersuchte andere Fassungen; alle sind durch Beschreibungen von Heilmethoden und Rezepten ergänzt. T. hat viele verschiedene Quellen, die schwer zu trennen und manchmal falsch zugewiesen
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Thomas Cantipratanus
sind, verarbeitet. Hauptsächlich beruft sich der Verf. auf antike und ma. Autoritäten, z. B. auf Aristoteles, J Plinius d. Ä., Solinus, den hl. Ambrosius, J Jacques de Vitry (Liber monstrorum), J Basilius und J Isidor von Sevilla4. Die scholastische Tradition schlägt sich in der Form der ,Quaestiones‘ nieder; die naturwiss. Darstellung der J Fabelwesen steht in der Tradition des J Alexanderromans und der naturwiss. Werke der lat. Spätantike; Beschreibungen des J Einhorns gehen auf J Claudius Aelianus und Solinus zurück. Der Liber de natura rerum ist als Ganzes noch nicht ediert. Es existieren zahlreiche volkssprachliche Übers.en, so die mittelndl. Reimfassung Jacobs von Maerlant (Der Naturen Bloeme, ca 1270⫺80), eine altfrz. Umdichtung von Teilen des Werks in moralisierenden Versen (ca 1300)5, oder die weitverbreitete frühneuhochdt. Übers. Konrads von J Megenberg (Buch der Natur, ca 1350), welche Berichte von Fabelwesen in die dt. Lit. einführte6. Zwei weitere Übertragungen, Peter Königschlachers Buch von naturen der ding (1472) und Michael Baumanns Buch von der natur vnd eygenschafft der dingk (1478), liegen nur hs. vor7. Zahlreiche Enzyklopädisten benutzten das Werk als Quelle8 und übernahmen die phantastischen Tiergeschichten, so J Vincent de Beauvais (Speculum naturale), Albertus Magnus9, J Johannes von Werden, bis hin zu Conrad J Gesner und Ulisse J Aldrovandi. Das zwischen 1255 und 1263 verfaßte Bonum universale de apibus (Erstdruck Straßburg 1472), mit Übers.en ins Mittelniederländische, Niederländische, Niederdeutsche und auszugsweise auch ins Deutsche, ist das für die Erzählforschung bedeutsamste Werk des T.10 In dieser Exempelsammlung, die wohl auf eine Weisung (admonitio) des Generalkapitels von 1255 oder 1256 zurückgeht11, überträgt er Ordnung und Verhalten des J Bienenvolkes gleichnishaft auf die menschliche Gesellschaft, bes. auf das Ordensleben und die Organisation der kathol. Kirche12. Jedes Kapitel beginnt mit einem Abschnitt aus dem Liber de natura rerum (Kap. 9,1); die jeweils beschriebene Eigenschaft der Bienen wird durch Beispielgeschichten aus dem Orden, oft mit Namensnennung, im geistlich-moralischen Sinne erläutert. Buch 1 behandelt Leben und Stellung der Prä-
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laten, Buch 2 Entsprechendes für die Untergebenen. T. nutzt die Darstellung für Kritik, spricht menschliche Schwächen ebenso an wie kirchliche Mißstände, die selbst in Klöstern herrschten (Mord, Ausschweifung, Nachlässigkeit im Beruf), und verurteilt Besitz und Reichtum bes. des Klerus. Als Quellen für geistliche Auslegungen zieht er u. a. Aristoteles, J Seneca (Epistulae morales) und die Kirchenväter heran. Die Inhalte der Exempla reichen von Erscheinungen und Wundern, die oft bibl. Beispielen ähneln, über als Gottesstrafe oder Gotteslohn aufzufassende natürliche Ereignisse bis hin zu Beispielen für das Wirken des J Teufels und von Exorzismen. Antijüd. Tendenzen sind erkennbar. Für verschiedene Exempla (z. B. 2,29,22; 2,30,37; 2,36,2; 2,48,5; 2,49,11; 2,53,9; 2,56,2) bietet T. den frühesten Erzählbeleg. Die Grundform des Bonum universale de apibus wurde von Johannes J Nider in dessen Formicarius (1436⫺38) aufgegriffen. Zahlreiche Beispielgeschichten des T. wurden von weiteren spätma., frühneuzeitlichen und barocken Autoren überliefert, z. B. J Henmannus Bononiensis13, Johannes J Pauli14, Hieronymus J Rauscher15, F. Schilling (1668)16, B. J Kybler17, M. J Delrio18 und I. J Ertl19. Sie finden sich ferner in der anonymen J Mensa philosophica und im J Speculum exemplorum. Im 18./19. Jh. läßt die Nachwirkung spürbar nach, aber indirekt greifen die Herausgeber von Märchen- und Sagensammlungen durch sekundäres Zitieren gelegentlich auf T. zurück (cf. z. B. Grimm DS 354; cf. J Jude, Judenlegenden, Kap. 3), bringen Übers.en als Frühbelege für Erzähltraditionen20 oder benutzen die Exempla für mythol. Spekulationen21. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Ausw.)22: 1,20,8 ⫽ Weihwasser tilgt Teufelsmal; Teufel läßt Prälaten durch einfältigen Dorfprediger grüßen. ⫺ 1,25,8 ⫽ Heide läßt sich bekehren, als sein Gefangener ihm ein in seinem Herzen befindliches Kruzifix aus Wachs zeigt, das ihn seine Qualen ertagen läßt (Tubach, num. 1338). ⫺ 2,7,4 ⫽ AaTh/ATU 980 D: Der undankbare J Sohn. ⫺ 2,18,3 ⫽ Kruzifix verneigt sich als Reaktion auf Kniebeuge des Betenden (cf. Mot. D 1622.1). ⫺ 2,20,2 ⫽ J Athis und Prophilias. ⫺ 2,21 ⫽ Gastfreundlichkeit im Traum durch Hinweis auf Schatz belohnt (Mot. N 531.2). ⫺ 2,25,14 ⫽ Weil ein Adliger einem Bettler die Erfüllung seines dritten Wunsches versagt, fällt er zur
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Thomas Cantipratanus
Strafe vom Pferd (cf. Mot. Q 286). ⫺ 2,25,5 ⫽ Geschlachteter und teilweise verzehrter Ochse zieht am nächsten Tag wieder den Pflug (cf. Mot. E 32). ⫺ 2,40,1 ⫽ Hostie im Bienenstock (Mot. B 259.4). ⫺ 2,29,22 ⫽ Ritualmordlegende (Mot. V 361; J Kinderblut). ⫺ 2,29,24 ⫽ Kopf eines Enthaupteten bittet Maria, ihm die Beichte abzunehmen (Tubach, num. 4793). ⫺ 2,29,26 ⫽ Mönch überquert Fluß auf Mantel (Mot. D 1524.1.3). ⫺ 2,30,9 ⫽ Penis verwandelt sich in Schlange, als ein junger Mann onaniert. Er beichtet seine Sünde. ⫺ 2,30,37 ⫽ Treue Ehefrau läßt Kupplerin verprügeln (Mot. K 1683). ⫺ 2,30,40 ⫽ Ehebrecher wird bei nächtlicher Heimkehr in eine Schreckensgestalt verwandelt (Tubach, num. 55). ⫺ 2,30,45 ⫽ Mönch legt sich auf glühende Kohlen, um der Versuchung zu widerstehen (Mot. D 1841.3.2). ⫺ 2,30,52 sq. ⫽ Mädchen schlägt Geistlichen, der sie küssen will (Mot. T 322). ⫺ 2,30,55 ⫽ Bestrafte Unzucht: Mann stirbt qualvoll, nachdem er seine Ehefrau auf sodomistische Weise zum Koitus gezwungen hatte. ⫺ 2,33,2 ⫽ Wer viel stiehlt, wird König genannt, wer wenig stiehlt, Dieb (Mot. U 11.2). ⫺ 2,36,2 ⫽ Keuschheitsprobe: In Unwissenheit aufgezogener Junge hält glühendes Eisen; nachdem er verführt worden ist, verbrennt er sich und erzählt naiv von der Verführung (Mot. H 412.4.1 ⫹ Mot. T 617). ⫺ 2,39,20 ⫽ Plötzlicher Tod von unzüchtigem Priester und Nonne (Tubach, num. 1481, 2441). ⫺ 2,40,3 ⫽ Der hl. Andreas von Slagelse wird auf einer Pilgerfahrt in Jerusalem von seinen Freunden verlassen. Ein Reiter bietet an, ihn auf dem Pferd mitzunehmen, und er wird auf wunderbare Weise nach Hause entrückt (Tubach, num. 3791). ⫺ 2,40,6 ⫽ Hostie bleibt unwürdigem Priester im Mund stecken; er stirbt einen qualvollen Tod (Tubach, num. 2263). ⫺ 2,43,2 ⫽ AaTh/ATU 910 C: J Barbier des Königs. ⫺ 2,48,3 ⫽ ATU 682: J Augustinus und das Knäblein. ⫺ 2,49,5 ⫽ Qualen eines ehebrecherischen Ritters: feuriges Bad, Eisenbett, Paarung mit Kröte. ⫺ 2,49,11 ⫽ J Schuß in den Himmel. ⫺ 2,49,13 ⫽ Tanzende kommen durch Brückeneinsturz zu Tode, weil sie vor einer vorbeigetragenen Hostie nicht niedergefallen waren (Tubach, num. 1421). ⫺ 2,49,15 ⫽ ATU 779 E*: J Tänzersage. ⫺ 2,49,17 ⫽ Geburt eines hundsköpfigen Kindes wegen mangelnder Frömmigkeit des Vaters (Mot. T 551.3.1). ⫺ 2,49,17 ⫽ Mann möchte vor seiner Hinrichtung zur Buße verstümmelt werden (Mot. Q 522). ⫺ 2,51,4 ⫽ Vision einer armen Seele. ⫺ 2,51,11 ⫽ Kranker kann wählen zwischen einem Jahr weltlicher Qual und drei Tagen Fegefeuer. Weil die kurze Qual so stark ist, entscheidet er sich für die längere Dauer (Tubach, num. 4002). ⫺ 2,53,5 ⫽ cf. AaTh/ATU 812: J Rätsel des Teufels. ⫺ 2,53,9 ⫽ Mäher, der seine Arbeit für nachmittäglichen Gottesdienst ausgesetzt hatte, findet eine Goldmünze an einer Grasstoppel. ⫺ 2,53,14 ⫽ Helfende Tote treten für einen Priester ein (Tubach, num. 3214). ⫺ 2,53,17 ⫽ AaTh/ ATU 769: J Tränenkrüglein. ⫺ 2,56,2 ⫽ Trinker verkauft Seele unwissentlich dem Teufel (Mot. M 211.1). ⫺ 2,57,18 ⫽ Teufel entführen Grafentochter
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und bringen sie nach einigen Stunden zurück. ⫺ 2,57,20 sq. ⫽ Jüngling meint, nachts seine tote Geliebte zu treffen; auf der Totenbahre befindet sich ein künstlich von Teufeln zusammengesetzter falscher Körper. ⫺ 2,57,29 ⫽ Gebete erlösen Prior von Halluzination. ⫺ 2,57,34 ⫽ Teufel durch Kreuz abgewehrt (Mot. G 303.16.3). ⫺ 2,57,68 ⫽ Wahnsinniger verbrennt Ketzer; wird zur Belohnung gesund (Mot. V 321). 1 cf. Colvenerius, G. (ed.): Thomae Cantipratani miraculorum et exemplorum memorabilium sui temporis libri duo. Douai 1605; Vet, W. A. van der: Het Bie¨nboc van T. van Cantimpre´ en sijn exempelen. Diss. Den Haag 1902; Hünemörder, C.: T. von Cantimpre´ OP. In: Verflex. 9 (21995) 839⫺851; Hermant, P.: Le Folklore dans l’œuvre de T. de Cantimpre´. In: Le Folklore brabanc¸on 16 (1937) 329⫺393. ⫺ 2 cf. auch Roisin, S.: La Me´thode hagiographique de T. de Cantimpre´. In: Miscellanea historica. Festschr. A. de Meyer. Löwen/Brüssel 1946, 546⫺557. ⫺ 3 ibid., 18⫺31; cf. auch Ferckel, C.: Die Gynäkologie des T. von Brabant. Mü. 1912, 11⫺18. ⫺ 4 cf. Brückner, A.: Qu.nstudien zu Konrad von Megenberg. Diss. Ffm. 1961, 12 sq. (mit Auflistung der Qu.n). ⫺ 5 Hilka, A.: Eine altfrz. moralisierende Bearb. des Liber de monstruosis hominibus Orientis aus T. von C., De naturis rerum. B. 1933. ⫺ 6 Buckl, W.: T. von Cantimpre´. In: Killy, W.: Lit.lex. 11. Gütersloh/Mü. 1991, 342 sq.; Brückner (wie not. 4) 5⫺14; Boese, H.: T. Cantimpratensis Liber de natura rerum. 1: Text. B./N. Y. 1973. ⫺ 7 Hünemörder (wie not. 1). ⫺ 8 Brückner (wie not. 4) 14. ⫺ 9 Bormans, J. H.: T. de Cantimpre´ indique´ comme une des sources ou` Albert le Grand et surtout Maerlant ont puise´ les mate´riaux de leurs e´crits sur l’histoire naturelle. In: Bulletin de l’Acade´mie Royale des Sciences, de Lettres et des Beaux-Arts de Belgique 1,19 (1852) 132⫺159. ⫺ 10 Hs. Trier, Stadtbibl., 2017/660 8∞, 192v⫺194v; cf. Colvenerius (wie not. 1). ⫺ 11 Schürer, M.: Das Exemplum oder die erzählte Institution. Studien zum Beispielgebrauch bei den Dominikanern und Franziskanern des 13. Jh.s. (Diss. Dresden 2004) B. 2005, 103⫺117. ⫺ 12 ibid., 123⫺ 177. ⫺ 13 Hilka, A.: Das Viaticum narrationum des Henmannus Bononiensis. B. 1935, num. 24, 40; Colvenerius (wie not. 1) (mit Auflistung der Qu.n). ⫺ 14 Pauli/Bolte 1, *24. ⫺ 15 cf. Brückner, 239, 248. ⫺ 16 Schilling, F.: Geistliche Ehrnporten Mariae. Wien 1668, 17. ⫺ 17 Vollmer, R.: Die Exempel im „Wunderspiegel“ des P. Benignus Kybler S. J. von 1678. Würzburg 1989, 125. ⫺ 18 Fischer, E.: Die „Disquisitionum magicarum libri sex“ von Martin Delrio als gegenreformator. Exempel-Qu. Diss. Ffm. 1975, num. 83, 84, 172, 183, 217, 227 u. ö. ⫺ 19 Herzog, U.: Geistliche Wohlredenheit. Die kathol. Barockpredigt. Mü. 1991, 434. ⫺ 20 Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, num. 185, 190, 194, 195, 300 sqq. (insgesamt 16 Texte). ⫺
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Thompson, Stith
Kaufmann, A.: T. von Chantimpre. Köln 1899. ⫺ Numerierung nach Colvenerius (wie not. 1).
Würzburg Göttingen
Dorothea Hoffmann Hans-Jörg Uther
Thompson, Stith, * Bloomfield (Kentucky) 7. 3. 1885, † Columbus (Indiana) 10. 1. 1976, nordamerik. Anglist und Folklorist1. T. studierte 1907⫺09 engl. Lit. an der Univ. of Wisconsin in Madison und 1911⫺12 an der Univ. of California in Berkeley sowie 1912⫺14 an der Harvard Univ. in Cambridge (Massachusetts) bei G. L. Kittredge, bei dem er 1914 mit der Diss. European Borrowings and Parallels in North American Indian Tales promoviert wurde2. Er lehrte 1914⫺18 Englisch an der Univ. of Texas in Austin, 1918⫺20 am Colorado College in Colorado Springs und 1920⫺ 21 an der Univ. of Maine in Orono, danach über dreißig Jahre (1921⫺55) an der Indiana Univ. in Bloomington. 1939 wurde er zum Professor für Englisch und Folklore, 1953 zum Distinguished Service Professor ernannt. Seit 1942 bis zu seiner Pensionierung (1955) organisierte er alle vier Jahre eine FolkloristikSommerschule für Wissenschaftler und Studenten. 1949 schuf er ein Doktorandenprogramm für Folkloristik, zu dessen Promovenden u. a. W. E. J Roberts, D. J Noy, E. W. J Baughman und H. J Ikeda gehörten. 1937⫺40 war T. Präsident der American Folklore Soc. Seine zahlreichen und z. T. ausgedehnten Reisen nach Europa und Südamerika trugen zur internat. Vernetzung der Folkloristik bei. Zu den Ehrungen, die ihm zuteil wurden, zählt auch die Verleihung des Doctor honoris causa der Univ. Kiel (gemeinsam mit A. J Taylor, 1959). Mit Volkserzählungen, zunächst Sagen- und Balladenthemen, beschäftigte sich T. bereits in seinen ersten Studienjahren. Bes. intensiv setzte er sich mit den Überlieferungen der indigenen Völker Nordamerikas auseinander. Ähnlichkeiten zwischen autochthonen und europ. Erzählungen standen im Mittelpunkt seiner Diss.3 Einer von ihm zusammengestellten Anthologie, Tales of the North American Indians4, gab er umfangreiche vergleichende Anmerkungen zu deren J Motiven bei und setzte damit eine von F. J Boas begonnene Arbeit
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fort. Anhand seiner Typenmonographie über die bei den nordamerik. Indianern verbreitete Geschichte vom Mädchen, das einen J Stern heiratet (Mot. A 762.1), konnte T. zeigen, daß die J geogr.-hist. Methode auch dann anwendbar ist, wenn frühe literar. Quellen fehlen5. Mit der Unters. amerik. Überlieferungen europ. Herkunft befaßte T. sich nicht. Der Kommentar zu J Chaucers Miller’s Tale stellt seine einzige ausführlichere Studie zu einer Erzählung aus traditioneller europ. Überlieferung (AaTh/ATU 1361: J Flut vorgetäuscht) dar6. T. arbeitete ferner an Lehrbüchern und Anthologien mit7. T.s Indizes zur traditionellen internat. Erzählüberlieferung (The Types of the Folktale, Motif-Index of Folk-Literature) sind die zentralen Nachschlagewerke der hist.-vergleichenden Erzählforschung8. Sie sind zur Erfassung großer Materialmassen angelegt und nach inhaltlichen Kriterien strukturiert (J Anordnungsprinzipien, J Komparatistik). T.s umfangreichstes Werk ist der aus dem Anmerkungsteil zu Tales of the North American Indians erwachsene Motif-Index (cf. J Motivkataloge, Kap. 2)9. Ein frühes Ms. davon gab er 1924 Taylor mit, der es in Finnland K. J Krohn zeigen sollte. Krohn äußerte sich ermutigend, erklärte aber, vordringlicher sei die Revision des J Typenkatalogs von A. J Aarne (cf. J Typus)10. Diesen ,Urkatalog‘11 übersetzte T. ins Englische und stellte ihn auf eine breitere Quellenbasis, die auch die Formulierung neuer Typen erlaubte12; der noch weit umfangreicheren 2. Revision fügte er u. a. zahlreiche Hinweise auf unpublizierte Archivtexte hinzu13. In welchem Maße Schlüsselmotive komplexer Erzählungen auch in einfachen Erzählungen und manchmal in weit voneinander entfernten Weltteilen vorkommen, konnte T. demonstrieren, indem er The Types of the Folktale und den Motif-Index durch Querverweise vernetzte14. Zusammen mit J. J Balys sowie mit Roberts erstellte T. Kataloge neuerer Volkserzählungen aus Indien, um Materialien zur Überprüfung der J ind. Theorie zu erschließen15. Schüler T.s verfaßten ähnliche Indizes für Teile Afrikas16 sowie für Ozeanien17, Westindien18, Japan19, die angloamerik.20 oder die talmudisch-midraschische Überlieferung21.
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Thompson, Stith
T.s Buch The Folktale22 ist bis heute die einzige ausführliche Darstellung der Ergebnisse der geogr.-hist. Methode in engl. Sprache. Es bietet größtenteils einen Abriß der wichtigsten Erzählungen in The Types of the Folktale und Tales of the North American Indians und behandelt eher Forschungsergebnisse als Primärmaterial23. Gegenstand des 4. Teils ist die Entwicklung der internat. Folkloristik und der geogr.-hist. Erzählforschung. Mit ,folktale‘ meinte T. alle Formen traditioneller Prosaerzählungen24. Er unterschied komplexe Erzählungen, deren Wiedergabe bes. Erinnerungsvermögen und Geschick verlangt, von einfachen Geschichten, die jeder erzählen kann. T. war zwar die Bedeutung literar. Quellen bewußt, doch betonte er, daß von ihm ausgewiesene Erzähltypen eine starke mündl. Präsenz aufweisen mußten. Er glaubte, daß die Unters. der neueren mündl. Überlieferung zum Verständnis von Erzählungen, die in früheren Jh.en verfaßt worden waren, beitragen werde25. T.s Fokussierung auf Inhalte machte Gattungsdifferenzierungen (J Gattungsprobleme) relativ unwichtig; subjektive Interpretationen lehnte er als Empiriker ab26.
Das Ziel der Erzählforschung war für T. wie für viele seiner Zeitgenossen die J Rekonstruktion der ,Lebensgeschichte‘ aller Erzähltypen, woraus sich letztlich die Geschichte der gesamten Gattung Volkserzählung ergeben sollte27. Trotz eines sich seit den 1970er Jahren vollziehenden Paradigmenwechsels hin zu J Kontext- und J Performanzforschung werden weiterhin Motiv- und Typenkataloge nach T.s Vorgaben veröffentlicht, da sie für die volkskundliche Erzählforschung unerläßliche Materialgrundlagen bereitstellen28. 1
Crowley, D. J.: S. T., 1885⫺1976. In: WF 35 (1976) 268 sq.; Dorson, R. M.: S. T., 1885⫺1976. In: JAFL 90 (1977) 2⫺7; Ortutay, G.: S. T. (1885⫺1976). In: Acta Ethnographica 27 (1977) 199⫺201; Roberts, W. E.: S. T. (1885⫺1976). In: Fabula 21 (1980) 286⫺ 290; T., S.: A Folklorist’s Progress. Reflections of a Scholar’s Life. ed. J. H. McDowell u. a. Bloom. 1996; id.: Second Wind. A Sequel after Ten Years to Folklorist’s Progress. Bloom. 1966 (als Ms. vervielfältigt); Richmond, W. E.: Studies in Folklore in Honor of Distinguished Service Professor S. T. Bloom. 1957; Roberts, W. E.: S. T., His Major Works and a Bibliogr. In: Arv (1965) 5⫺20; Reminiscences of an Octogenarian Folklorist (an Interview of Dr. Hari S. Uphadhyaya with Dr. S. T.). In: Asian Folklore Studies 27 (1968) 107⫺145. ⫺ 2 Erw. Druckfassung: id.: European Tales among the North American Indians. A Study in the Migration of Folk-Tales. Colorado Springs 1919. ⫺ 3 cf. ibid. ⫺ 4 id.: Tales of the North American Indians. Cambr.,
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Mass. 1929 (Bloom./L. 21966). ⫺ 5 id.: The Star-Husband Tale. In: Studia Septentrionalia 4 (1953) 93⫺ 163. ⫺ 6 id.: The Miller’s Tale. In: Bryan, W. F./ Dempster, G.: Sources and Analogues of Chaucer’s Canterbury Tales. Chic. 1941, 106⫺123. ⫺ 7 Page, C. H. (ed.): British Poets of the Nineteenth Century. Neuausg. S. T. Chic./N. Y. 1929; Canby, H. S./Pierce, F. E./MacCracken, H. N./T., S.: English Composition in Theory and Practice. N. Y. 31933; T., S. (ed.): Our Heritage of World Literature. N. Y. 1938 (t. 1⫺ 2. ed. id./J. Gassner. N. Y. 1942); Grebanier, B. D. N./T., S. (edd.): English Literature and Its Backgrounds. N. Y. 1939⫺40 (t. 1⫺2. ed. B. D. N. Grebanier/S. Middlebrook/S. T./W. Watt. N. Y. 4 1952). ⫺ 8 cf. kritische Würdigungen von W. Anderson in ZfVk. 59 (1963) 89⫺98 und H. Schwarzbaum in Fabula 6 (1964) 182⫺194; zur Geschichte der Typenkataloge cf. T., S.: Fifty Years of Folktale Indexing. In: Humaniora. Festschr. A. Taylor. Locust Valley, N. Y. 1960, 49⫺57. ⫺ 9 id.: Motif-Index of FolkLiterature. A Classification of Narrative Elements in Folk-Tales, Ballads, Myths, Fables, Mediaeval Romances, Exempla, Fabliaux, Jest-Books, and Local Legends 1⫺6 (FFC 106⫺109, 116⫺117). Hels. 1932⫺36, rev. und erw. Ausg. Bloom. 1955⫺58 (Kop. 1955⫺58) u. ö., CD-ROM Bloom./Indianapolis 1993. ⫺ 10 id. 1996 (wie not. 1) 88 sq. ⫺ 11 Aarne, A.: Verz. der Märchentypen (FFC 3). Hels. 1910. ⫺ 12 The Types of the Folktale. A Classification and Bibl. Antti Aarne’s Verz. der Märchentypen […] Translated and Enlarged by S. T. (FFC 74). Hels. 1928. ⫺ 13 The Types of the Folktale. A Classification and Bibl. Antti Aarne’s Verz. der Märchentypen […] Translated and Enlarged by S. T. Second Revision (FFC 184). Hels. 1961 u. ö. ⫺ 14 T., S.: Narrative Motif-Analysis as a Folklore Method (FFC 161). Hels. 1955. ⫺ 15 id./Balys, J.: The Oral Tales of India. Bloom. 1958, cf. v; T., S./Roberts, W. E.: Types of Indic Oral Tales. India, Pakistan and Ceylon (FFC 180). Hels. 1960, cf. 3. ⫺ 16 Klipple; Clarke. ⫺ 17 Kirtley. ⫺ 18 Flowers. ⫺ 19 Ikeda. ⫺ 20 Baughman. ⫺ 21 Neuman. ⫺ 22 T., S.: The Folktale. N. Y. 1946 (Nachdr. Berk./L. A./L. 1977; ital.: La fiaba nella tradizione popolare. Mailand 1967). ⫺ 23 cf. die Rez.en von K. Jackson in FL 58 (1947) 339⫺341; M. P. Redfield in American J. of Sociology 53 (1947) 155 sq.; A. H. Gayton in American Anthropologist 50 (1948) 131 sq.; E. Fischoff in Annals of the American Academy of Political and Social Science (1948) 168 sq.; W. Anderson in SAVk. 45 (1948) 218⫺224. ⫺ 24 T. 1946 (wie not. 22) 3⫺6. ⫺ 25 id.: Unfinished Business: The Folktale. In: Medieval Literature and Folklore Studies. Festschr. F. L. Utley. New Brunswick, N. J. 1970, 213⫺222; id.: Story-Telling to Story-Writing. In: Banasˇevic´, N. (ed.): Actes du Ve congre`s de l’Assoc. internat. de litte´rature compare´e, Belgrad, 1967. Amst. 1969, 433⫺449. ⫺ 26 id. 1970 (wie not. 25) 221; id. 1946 (wie not. 22) 99 sq., 383⫺388; cf. auch die Gewichtung der Aufgabenbereiche der Folkloristik in id.: The Future of
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Thoms, William John ⫺ Thor
Folklore Research in the United States. In: Proc. of the American Philosophical Soc. 93 (1949) 244⫺ 247. ⫺ 27 id. 1946 (wie not. 22) 428⫺448; cf. id.: The Folk-Tale since Basile. In: The Pentamerone of Giambattista Basile 2. ed. N. M. Penzer. L./N. Y. 1932, 286⫺304; id.: Hypothetical Forms in Folktale Study. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 369⫺372; id.: The Challenge of Folklore. In: Publ.s of the Modern Language Assoc. of America 79 (1964) 357⫺365. ⫺ 28 cf. Uther, H.J.: Type and Motif-Indexes 1980⫺1995: An Inventory. In: Asian Folklore Studies 55 (1996) 299⫺317; id.: Indexing Folktales: A Critical Survey. In: J. of Folklore Research 34,3 (1997) 209⫺220.
Los Angeles
Christine Goldberg
Thoms, William John J Folkore, Folkloristik Thor, Donnergott (J Blitz, J Donner) der altnord. Mythologie1. T. ist neben seinem Vater Odin die zentrale Gestalt unter den Asengöttern; seine Mutter ist die Erdgöttin Jo˛rÎ. T.s wesentliche Eigenschaft ist seine außergewöhnliche J Stärke. Seine Attribute sind Hammer, Kraftgürtel (J Gürtel) und Eisenhandschuhe; er unternimmt seine Fahrten in einem von zwei Ziegenböcken gezogenen Wagen. Als Beschützer der Götter und Menschen vor den J Riesen hat T. die Aufgabe der ordnungserhaltenden Kriegsgottheit inne; aufgrund seiner Fähigkeit, J Regen zu spenden, ist er zugleich ein Fruchtbarkeitsgott. Bereits J. J Grimm hat auf die Parallelen zwischen T. und dem ind. Indra aufmerksam gemacht2; diese wurden von der vergleichenden religionswiss. Forschung aufgegriffen und systematisiert3. L. J Uhland widmete 1836 der Figur des T. eine erste monogr. Unters.4 Für T. sind ebenso wie für die Gesamtheit der altnord. Überlieferung Quellen im eigentlichen Sinn, die Glaubensvorstellungen, Kulte oder gar Praxen belegen würden, außerordentlich spärlich vorhanden und immer mit größter Vorsicht zu interpretieren; bei den erhaltenen schriftl. Zeugnissen handelt es sich überwiegend um Göttererzählungen, die ausnahmslos aus nach-heidnischer Zeit stammen und in der Regel stark literarisiert sind5. In den wesentlichen Zügen ist das Bild, das man sich von T. machen kann, von der Lit. des isl. MA.s geprägt.
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Allg. wird mit einer starken Verbreitung der T.skulte im westl. Norwegen und ⫺ davon ausgehend ⫺ in den westl. Kolonien während der späten Wikingerzeit gerechnet; T. war vermutlich der Hauptgott der norw. Auswanderer. In einer nach wie vor zentralen, jedoch sehr hypothetischen Unters. postulierte H. Ljungberg eine in die skand. Frühgeschichte zurückreichende Kontinuität der Verehrung eines ursprünglichen, axttragenden Sonnenund Himmelsgottes, dessen Partnerin eine Göttin vom Typ Terra mater gewesen sei und aus dem sich sekundär der hammertragende Donnergott entwickelt habe; die ma. Lit. wie die frühneuzeitliche gelehrte (Olaus Magnus, Olof Rudbeck u. a.) und die volkstümliche Überlieferung bildeten für Ljungberg die letzten Ausläufer dieses anfänglich im östl. Norden lokalisierten Frühlings- und Sommerkults um den Donnergott6. C. W. von J Sydow plädierte für die Berücksichtigung des Zusammenhangs zwischen der Göttersage und anderen Formen der volktümlichen Überlieferung ⫺ Sage und Märchen, Glaube und Brauch7. Im Zentrum der in den skaldischen Gedichten, den J Edda-Liedern, der Prosa-Edda des Snorri Sturluson und den Sagas überlieferten T.serzählungen steht der Kampf des Gottes gegen die Riesen und gegen Ungeheuer von der Art der Midgardschlange8. Während T. den Riesen immer überlegen ist, demonstriert ´ tSnorri in der Erzählung von T.s Reise zu U garÎa-Loki (Snorra Edda, Gylfaginning, Kap. 44⫺47) T.s Machtlosigkeit gegenüber den Naturkräften, denn in der Auseinandersetzung mit den Fluten, dem Feuer, dem Alter, dem Tod ⫺ so Snorris christl. Perspektivierung ⫺ stößt selbst die Macht des stärksten der heidnischen Götter an ihre Grenzen9. Neben dieser Erzählung, die u. a. das Motiv des Schlachtens und Wiederbelebens von T.s Böcken behandelt (cf. J Pelops)10, sind aus Sicht der Erzählforschung bes. die folgenden Geschichten interessant: T.s Fischzug, der in einigen Skaldengedichten und im Edda-Lied von Hymir (HymiskviÎa) dargestellt wird (u. a. T. als Töter des J Drachen bzw. des J Leviathans11, Lebensei [J External Soul]12); T.s Kampf mit GeirrøÎr in der Prosa-Edda13; T.s Auseinandersetzung mit Hrungnir (Pferdewettkampf, dreizackiges Herz, Wetzstein in T.s Schädel14). In den eddischen Alvı´ssma´l hat T. die Rolle des listigen
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Thor
Fragestellers inne; er hält den unwillkommenen Freier seiner Tochter, den Zwerg Alvı´ss, so lange hin, bis dieser vom ersten Sonnenstrahl versteinert wird (J Versteinerung)15. Die eddische ÏrymskviÎa handelt vom Diebstahl des Hammers durch einen Riesen und davon, wie T. sein Werkzeug zurückgewinnt.
Von den zahlreichen nachma. Bearb.en der mit T. verbundenen Erzählungen verdient vor allem die Ballade Thord af Havsga˚rd Erwähnung, die bis in Details auf die ÏrymskviÎa zurückgeht und in Dänemark (16./18. Jh.), Norwegen (18. Jh.) und Schweden (17. Jh.) aufgezeichnet wurde sowie für die Färöer bezeugt ist16. Die von einem Göttermythos in ein Heldenabenteuer verwandelte Ballade ist nach S. J Grundtvig das einzige rein mythische Eddalied, das ganz und gar in eine ma. Volksballade übergegangen ist17. In neuzeitlichen Slgen sind Sagen zu T. bes. aus Norwegen und Schweden belegt18; die Sagen Islands sprechen meist eher unspezifisch von ,Odin und T.‘ Die moderne Rezeption der Figur umfaßt zahlreiche Medien. Populäre Darstellungen zeigen T. in der Regel mit seinen Attributen Hammer, Gürtel, Handschuhe, Böcke und Wagen19. In der amerik. Populärkultur nach dem 2. Weltkrieg wurde er hauptsächlich als Titelheld des Comics (The Mighty) T. bekannt20. Darüber hinaus erschien die Figur z. B. in Fernsehtrickfilmen der Reihe The Marvel Superheroes (1966), seit den 1990er Jahren in Videofilmen, Videospielen und als Spielzeug. 2007 inszenierte das Stadttheater Turku (Finnland) das neue Musical Thorin vasara (T.s Hammer)21. Die oft kreative Auseinandersetzung mit der ma. T.sfigur zeigt, daß die Faszinationskraft der Mythen über den nord. Donnergott weitgehend ungebrochen ist22. 1
Vries, J. de: Altgerm. Religionsgeschichte 1⫺2. B. 1956/57; Turville-Petre, E. O. G.: Myth and Religion of the North. The Religion of Ancient Scandinavia. L./N. Y. 1964 (Neudruck Westport, Conn. 1975); Halvorsen, E. F.: Ïo´rr. In: Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder 20. Kop. 1976, 391⫺395; Simek, R.: T. In: Lex. der germ. Mythologie. Stg. 1995, 403⫺413; Beck, H.: Donar-Ïo´rr. In: Reallex. der Germ. Altertumskunde 6. B./N. Y. 1986, 1⫺7; Schjødt, J. P.: Ïo´rr. In: Pulsiano, P. (ed.): Medieval Scandinavia. An Enc. N. Y./L. 1993, 672 sq.; Lindow, J.: Handbook of Norse Mythology. St. Barbara u. a. 2001; allg. cf. Lindow, J.: Scandinavian Mythology. An Annotated Bibliogr. N. Y./L. 1988. ⫺ 2 Grimm, Mythologie, XXV. ⫺ 3 Turville-Petre (wie 2
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not. 1) 103⫺105; Simek (wie not. 1), 411; zu T.s Beziehungen zu den Donnergöttern der sam. und der finn. Überlieferung cf. Bertell, M.: Tor och den nordiska a˚skan. Föreställningar kring världsaxeln. Diss. Stockholm 2003. ⫺ 4 Uhland, L.: Sagenforschungen. 1: Der Mythos von T. nach nord. Qu.n [1836]. In: id.: G. W. 2. ed. H. Fischer. Darmstadt 1977, 3⫺132; cf. Schweikle, G.: Ludwig Uhland als Germanist. In: Bausinger, H. (ed.): Ludwig Uhland. Dichter ⫺ Politiker ⫺ Gelehrter. Tübingen 1988, 149⫺181. ⫺ 5 cf. bes. Beck (wie not. 1); Ross, M. C.: Prolonged Echoes. Old Norse Myths in Medieval Northern Society 1⫺2. Odense 1994/98; Böldl, K.: Eigi einhamr. Beitr.e zum Weltbild der Eyrbyggja saga und anderer Isländersagas. B./N. Y. 2005. ⫺ 6 Ljungberg, H.: Tor. Undersökningar i indoeuropeisk och nordisk religionshistoria. 1: Den nordiske a˚skguden och besläktade indoeuropeiska gudar. Den nordiske a˚skguden i bild och myt. Uppsala/Lpz. 1947. ⫺ 7 Sydow, C. W. von: Tors färd till Utga˚rd. In: DSt. (1910) 65⫺105, hier 65. ⫺ 8 cf. bes. Ross (wie not. 5); Jackson, P.: T.smythen. In: Reallex. der Germ. Altertumskunde 30. B./N. Y. 2005, 490⫺498. ⫺ 9 Ross (wie not. 5) t. 1, 258⫺268; Schulz, K.: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga. Heidelberg 2004. ⫺ 10 Zum möglichen kelt. Einfluß auf einzelne Motive dieser Erzählung cf. von Sydow (wie ´r not. 7); Chesnutt, M.: The Beguiling of Ïo´rr. In: U Dölum til Dala. ed. R. W. McTurk/A. Wawn. Leeds 1989, 35⫺63. ⫺ 11 Gschwantler, O.: Christus, T. und die Midgardschlange. In: Festschr. O. Höfler. Wien 1968, 145⫺ 168; Meulengracht Sørensen, P.: T.’s Fishing Expedition. In: id.: At fortælle Historien/Telling History. Triest 2001, 59⫺70. ⫺ 12 Sydow, C. W. von: Jätten Hymes bägare. In: Folkminnen och Folktankar 1 (1914) 113⫺150. ⫺ 13 Ross, M. C./Martin, B. K.: Narrative Structures and Intertextuality in Snorra Edda. The Example of Ïo´rr’s Encounter with GeirrøÎr. In: Lindow, J./Lönnroth, L./Weber, G. W. (edd.): Structure and Meaning in Old Norse Literature. Odense 1986, 56⫺72. ⫺ 14 Simek (wie not. 1) 199⫺202. ⫺ 15 Ross (wie not. 5) 113. ⫺ 16 The Types of the Scandinavian Medieval Ballad. ed. B. R. Jonsson/S. Solheim/E. Danielson. Stockholm u. a. 1978, 252; Grüner Nielsen, H.: Torsvisen pa˚ Færøerne. In: Festschr. H. F. Feilberg. Stockholm u. a. 1911, 72⫺ 76; Harris, J.: Eddic Poetry and the Ballad. Voice, Vocality, and Performance with Special Reference to DgF 1. In: Balladenstimmen. ed. J. Glauser/B. Sabel. Tübingen/Basel (im Druck); cf. auch Norsk Folkediktning. 6: Folkeviser. ed. O. Bø/S. Solheim. Oslo 3 1957, 278. ⫺ 17 Grundtvig, S.: Danmarks gamle Folkeviser 1. Kop. 1853, 1. ⫺ 18 Faye, A.: Norske Folke-Sang. Oslo 21948; Schön, E.: Asa-Tors hammare. Gudar och jättar i tro och tradition. Stockholm 2004, 211⫺219. ⫺ 19 ibid., 95⫺129, 211⫺220; Simek (wie not. 1) 412 sq. ⫺ 20 Erstmals in „Journey into Mystery“ num. 83 (Aug. 1962). ⫺ 21 Musik Aivar Joonas, Libretto Villu Kangut/Mario Kivistik. ⫺ 22 cf. Donoghue, H.: From Asgard to
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Tibetisches Erzählgut
Valhalla. The Remarkable History of the Norse Myths. L./N. Y. 2007, bes. 195⫺199; Näsström, B.M.: Fornskandinavisk religion. En grundbok. Lund 2002, bes. 339 (zum Mißbrauch des T.hammers in neonazistischen Kreisen); Schnurbein, S.: Religion als Kulturkritik. Neugerm. Heidentum im 20. Jh. Heidelberg 1992 (allg. zum Rekurs auf T. in neuheidnischen Kulten).
Basel/Zürich
Jürg Glauser
Tibetisches Erzählgut. Der tibet. Kulturraum reicht über die politischen Grenzen Tibets hinaus und schließt auch tibet.-sprachige Gebiete wie Ladakh, die nördl. Himalajaregionen J Nepals und Bhutan ein. Die hist. greifbare Zeit des tibet. Reichs beginnt mit der Herrschaft Songtsen Gampos (1. Hälfte 7. Jh.). Das von ihm erstmals geeinte tibet. Königreich zerfiel um 842. In den folgenden Jh.en stritten verschiedene Kräfte um die Vormacht. Seit 1642 wurde Tibet unter einer Zentralgewalt von Lhasa aus regiert, geführt von den Dalai Lamas und gestützt von der chin. Mandschu-Dynastie, nach deren Sturz sich Tibet 1912 unabhängig erklärte. 1950/51 wurde Tibet von chin. Truppen besetzt. 1959 floh der Dalai Lama ins ind. Exil und gründete dort eine Exilregierung. Das hist. Tibet ist seither aufgeteilt in die ,Autonome Region‘ (Westund Zentraltibet) sowie die chin. Provinzen Qinghai und Sichuan, die die osttibet. Provinzen Amdo und Kham umfassen. Die Lit.geschichte Tibets beginnt mit der Entwicklung der tibet. Schrift, die während der Regierungszeit Songtsen Gampos auf der Grundlage eines ind. Alphabets entwickelt worden sein soll. Die ältesten Schriftzeugnisse in tibet. Sprache sind die zu Beginn des 20. Jh.s im zentralasiat. Dunhuang entdeckten Mss., die überwiegend aus der Zeit stammen, in der Dunhuang Teil des tibet. Reichs war1. Neben Verwaltungsdokumenten, Chroniken und Übers.en buddhist. Texte finden sich hier Ursprungsmythen und Spruchdichtungen. Der im Vergleich mit den Nachbarregionen China und Indien relativ späte Beginn der Schriftlichkeit bedeutet u. a., daß Zeugnisse der frühen Dichtungen und Erzählungen der vorbuddhist. Zeit nur durch spätere Adaptionen bezeugt sind. Zudem war und ist die Schrift bes. für die Erzählliteratur ein eher se-
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kundäres Medium gegenüber der bis heute lebendigen Tradition des mündl. Vortrags durch professionelle Barden und Geschichtenerzähler oder in familiären Kontexten durch Privatpersonen. Eine nennenswerte Anzahl von Legenden und anderen Erzählungen (sowohl ind. als auch tibet. Herkunft) sowie Texte einheimischer tibet. Lit. sind seit der formativen Phase der tibet. Kultur im 11./12. Jh. überliefert, die mit der sog. Zweiten Verbreitung des Buddhismus zusammenfällt (J Buddhist. Erzählgut). In dieser Zeit wurden Elemente der aus Indien kommenden buddhist. Lit. mit Formen und Inhalten der einheimischen Überlieferung verschmolzen. Mit dem Ende des Buddhismus in Indien im frühen 13. Jh. riß dieser Einfluß ab, und in den folgenden Jh.en wurden im wesentlichen die Genres und Stoffe weitergeführt, die in der formativen Phase entwickelt worden waren2. Die tibet. Dialekte sind sehr unterschiedlich; daher verdient gerade bei den mündl. überlieferten Gattungen wie Märchen, Fabel, Legende und Lied die konkrete dialektale Gestalt bes. Aufmerksamkeit. Neben der mündl. Überlieferung existiert eine schriftl. Tradition in Form von Mss. Seit dem 15. Jh. wurden vor allem zentrale religiöse Texte auch in Form von Blockdrucken verbreitet, wodurch in den folgenden Jh.en bes. buddhist. Legenden Verbreitung fanden. Der moderne Buchdruck mit beweglichen Lettern spielt erst seit der Besetzung Tibets durch China (1950/51) eine nennenswerte Rolle. Das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit ist dynamisch, da sowohl mündl. Erzählgut verschriftlicht als auch schriftl. Erzählungen mündl. weitertradiert wurden. Im 19. und frühen 20. Jh. waren tibet. Erzählungen nur begrenzt zugänglich. Manche waren nur in ihrer mongol. Übers. bekannt (J Mongolen), manche wurden von Missionaren in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich gesammelt, und manche wurden durch Studien des buddhist. Kanons bekannt3. Im frühen 20. Jh. waren es brit. Militärbeamte, die vor Ort Erzählungen aufzeichneten und veröffentlichten4. Seit Mitte des 20. Jh.s sind die Aktivitäten weit gestreut und abhängig von den jeweiligen hist. Kontexten und Interessenlagen. Bes. wichtig sind die Veröff.en des mongol. Forschers T. Damdinsüren, seiner Tochter A.
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Tibetisches Erzählgut
Tsendina und seines Schülers D. E¨ndon (Yönten), die Erzählsammlungen in mongol. und tibet. Sprache publizierten und analysierten5. In Japan beschäftigten sich vor allem Buddhismuskundler mit tibet. Fassungen buddhist. Erzählungen6. Aus Ungarn sind die Publ.en von G. Bethlenfalvy und L. Lo˝rincz zu nennen7. In Westeuropa haben sich u. a. R. A. Stein und A. W. Macdonald um die wiss. Erforschung tibet. Erzählungen verdient gemacht8. Daneben erschienen an ein breiteres Publikum gerichtete Übers.en tibet. Märchen9. In Tibet selbst hing die Forschungslage wesentlich von den politischen Entwicklungen ab. Nach der Besetzung Tibets durch China wurden das Sammeln und die Veröff. von Folklore zunächst als Beitr. zur Förderung der Volkskultur betrachtet und unterstützt. Während der chin. Kulturrevolution (1966⫺76) waren u. a. der Vortrag des tibet. Gesar-Epos (J Geser-Khan) oder das Erzählen von Legenden untersagt. Seit den späten 1970er und den 1980er Jahren wird die Verbreitung und Erforschung tibet. Erzählungen von staatlicher Seite wieder gefördert. Auch die im Exil lebenden Tibeter sammeln und publizieren traditionelles Erzählgut. Daneben begann in jüngerer Zeit eine Forschergruppe um D. Schuh (Bonn), die mündl. Erzählüberlieferung zu dokumentieren10. Erzählungen werden auf Tibetisch u. a. als sgrung (Erzählung, Epos), gtam rgyud (Erzählung, Geschichte) oder lo rgyus (Geschichte [auch im hist. Sinne]) bezeichnet. Sie können in Prosa oder als Dichtung abgefaßt sein, am häufigsten ist jedoch eine Mischung von Prosa und Versen, wobei im mündl. Vortrag die metrischen Passagen nach festgelegten Melodien gesungen werden. Spruchdichtung und Erzählungen haben seit der frühesten greifbaren Zeit eine bedeutende Rolle gespielt. So berichten die Quellen, daß die Kultur in vorbuddhist. Zeit durch sgrung, lde’u und bon (Erzählungen, Rätselsprüche und Bön) getragen wurde11. Alte mythol. Stoffe berichten vom Ursprung des Kosmos, der Menschheit und der tibet. Clane (J Schöpfung). Volksmärchen und populäre Erzählungen spielen weitgehend im dörflichen Milieu oder unter Nomaden, wobei Tätigkeiten wie das Hüten der Tiere (Schafe,
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Yaks) oder Textilarbeiten (Weben, Spinnen) oft den Hintergrund bilden. Zu den genuin tibet. Vorstellungen gehören Gestalten wie die Masang (Wesen mit übernatürlichen Kräften, die Tibet schon vor den Menschen bewohnten), der sagenhafte Schneemensch Yeti oder die Dremos (bären- oder menschenähnliche Wesen)12, ferner Dämonen in Menschengestalt und J Wiedergänger sowie die Geister des dreigeteilten Kosmos: die Götter des Himmels, die Mächte des Zwischenreichs und die unterirdischen Schlangengeister, die im Wasser leben. Ferner spielt in manchen Erzählungen die Idee einer Außenseele eine Rolle, die ihren Sitz in einem Gegenstand außerhalb des Körpers nehmen kann und ausschlaggebend für das Wohlbefinden des Menschen ist (J External Soul). Unter den tibet. Märchen findet man Zaubermärchen, Geistergeschichten und Abenteuergeschichten. Oft geht es darum, wie jemand durch Klugheit oder Tugendhaftigkeit sein Glück macht (König wird, den richtigen Mann gewinnt). Einige Motive haben direkte Parallelen im westl. Erzählgut, wie z. B. das Schuhmotiv aus AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella oder das Motiv des Froschs als Bräutigam (cf. AaTh/ATU 440: J Froschkönig)13. Sprechende Tiere gehören zum festen Bestand tibet. Tiermärchen, bes. sprechende Vögel; weitere Akteure sind im tibet. Hochland heimische Tiere wie Yaks, Schafe, Adler, Hirsche, Pferde und Hunde, aufgrund des ind. Einflusses auf die tibet. Lit. treten aber auch Tiere aus wärmeren Klimazonen wie Elefanten und Affen auf. Zuweilen erscheinen Gebrauchsgegenstände als Handlungsträger (J Gegenstände handeln und sprechen). Neben Märchen sind Legenden sehr beliebt. Diese sind oft von ind. Vorgeburtsgeschichten (J Ja¯takas und Avada¯nas; tibet. skyes rabs und rtogs brjod) abgeleitet (J Dzanglun)14. Ein beträchtlicher Anteil ind. Legenden wurde aus dem Sanskrit übersetzt und in den tibet. buddhist. Kanon aufgenommen15. Später extrahierten buddhist. Gelehrte diese erbaulichen Geschichten und stellten sie in Anthologien zusammen. Legenden aus dem Vinaya enthält das ’Dul ba pha’i gleng’ bum chen mo (Umfassende Slg von 100000 Erzählungen aus dem Vinaya) des Bu-ston Rin-chen-grub (1290⫺1364), auf dem wiederum die Slg ’Dul
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Tibetisches Erzählgut
ba gleng ,bum (100000 Erzählungen aus dem Vinaya) des ersten Dalai Lama dGe-’dun-grub (1391⫺1475) basiert; eine Anthologie buddhist. Erzählzyklen bietet das mDo las byung ba’i gtam rgyud sna tshogs (Verschiedenartige Geschichten aus den Sutras) des Zhe-chen Padma rnam-rgyal (1871⫺1926). Auch Viten bzw. Hagiographien (tibet. rnam thar), die entweder frühere Existenzen oder das hist. Leben einer buddhist. Persönlichkeit beschreiben, gehören in diesen Kontext16. Manche Legenden wurden, ebenfalls unter dem Namen rnam thar, als Opernlibretti verwendet17. Mit dem Buddhismus gelangten auch nichtbuddhist. Geschichten aus Indien nach Tibet, wie z. B. Geschichten aus dem J Pan˜catantra. Frühe tibet. Beispiele solcher literar. Erzählzyklen aus dem 11.⫺13. Jh. sind Nor bu’i rgyan (Juwelenschmuck), eine Erzählsammlung, die den Kommentar zu den Strophen des Jantuposøanø abindu (Tropfen, der die Menschheit nährt) aus dem buddhist. Kanon bildet, und die Erzählungen des Martön (dMar-ston, 13. Jh.), die die Klugheitsstrophen Legs par bshad pa rin po che’i gter (Schatz wohlformulierter Sentenzen) des Sakya Pandita (Sa-skya Panø dø ita) erläutern18. Ferner gibt es aus dieser Periode tibet. Adaptionen von zwei ind. Erzählzyklen, den Geschichten des Leichendämons (J Veta¯lapan˜cavim ø s´atika¯, tibet. Ro dngos grub can gyi sgrung) und der S´ukasaptati (J Papageienbuch), wobei die Grundstruktur übernommen wurde, die enthaltenen Geschichten jedoch von den ind. abweichen. Beide Zyklen werden traditionell mit der Präsenz des bengal. Mönchsgelehrten Atis´a (982⫺1054) in Tibet in Verbindung gebracht und wurden in der frühen Lit. der Kadampa-Schule (ca 11.⫺13. Jh.) überliefert19. Weitere frühe Kadampa-Werke, die ind. und tibet. Legenden, Anekdoten und didaktische Erzählungen enthalten, sind die Kommentare zu Potowas dPe chos (Dharma in Beispielen) und zu Be’u bum sngon po (Das blaue Euter) seines Schülers Dolpa Rinpoche20. Unter den in Fabeln und didaktischen Erzählzyklen agierenden Tieren treten häufig Vögel auf, wie in den Geschichten vom ,alten getupften Spatzen‘ (mChil rgan rgya bo) oder den literar. Erzählungen vom Vogel Blauhals (mGrin sngon zla ba’i rtogs brjod, 1737 verfaßt von Blo-bzang bstan-pa’i rgyal-mtshan) und
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vom Dharma der Vögel (Bya chos rin chen phreng ba)21. Der populärste Schwankheld der tibet. Überlieferung ist der Trickster Akhu Tönpa (A-khu ston-pa), dessen dreiste Abenteuer zuweilen überkommene Hierarchien in Frage stellen, zuweilen aber mit Derbheiten und sexuellen Anzüglichkeiten primär der Unterhaltung dienen22. Das tibet. Epos besteht aus knapper Erzählprosa und zu festen Melodien gesungenen Liedern, die bes. die wörtliche Rede der Akteure wiedergeben23. Es handelt vom Sieg des Königs Gesar über die feindlichen Nachbarkönigreiche. Gemäß der epischen Tradition gilt Gesar als Herrscher des Königreiches Ling (Gling) in Osttibet. Das Epos hat keine feste Form und Länge. Es wird von Barden vorgetragen, die entweder bestimmte Episoden erlernt oder durch Eingebung erlangt haben. 1
Stein, R. A.: Die Kultur Tibets. B. 1993, 305⫺312; Lalou, M.: Inventaire des mss. tibe´tains de Touenhouang conserve´s a` la Bibl. Nationale 1⫺3. P. 1939/ 50/61; Thomas, F. W.: Ancient Folk Literature from North Eastern Tibet. B. 1957. ⫺ 2 cf. allg. Stein (wie not. 1) 299⫺340; Kuijp, L. van der: Die tibet. Lit. In: Neues Hb. der Lit.wiss. 24: Süd- und zentralasiat. Lit.en. Wiebelsheim 2002, 115⫺132; Dylykowa, W. S.: Tibetskaja literatura (Die tibet. Lit.). M. 1990. ⫺ 3 Jülg, B.: Mongol. Märchen-Slg. Die neun Märchen des Siddhi-Kür. Innsbruck 1868; ˙ o-rubFrancke, A. H.: Die Geschichten des Toten N can. Eine tibet. Form der Veta¯lapan˜cavim ø s´atika¯ aus Purig. In: ZDMG 75 (1921) 72⫺96; id.: Zwei Erzählungen aus der tibet. Veta¯lapan˜cavim ø s´atika¯. In: Zs. für Indologie und Iranistik 6,2 (1923) 244⫺254; Schiefner, F. A. von: Tibetan Tales Derived from Indian Sources. L. 1882. ⫺ 4 O’Connor, W. F.: Folk Tales of Tibet. (L. 1906) Nachdr. Kathmandu 1977 u. ö. ⫺ 5 cf. E¨ndon, D.: Skazocˇnye sjuzˇety v pamjatnikach tibetskoj i mongol’skoj literatur (Märchensujets in den Denkmälern der tibet. und mongol. Lit.). M. 1989. ⫺ 6 z. B. Hikata, R.: Honjo¯-kyo¯-rui no shiso¯shi-teki kenkyu¯ (Eine hist. Unters. der Gedanken in den Ja¯takas und ähnlichen Erzählungen). Tokio 2 1978. ⫺ 7 Bethlenfalvy, G.: Three Pan˜catantra Tales in an Unedited Commentary to the Tibetan Subha¯søitaratnanidhi. In: Acta Orientalia Hungarica 18 (1965) 317⫺338; Lo˝rincz, L.: Märchen, Sagen und Schwänke vom Dach der Welt. Tibet. Tiermärchen und Dre-mo-Märchen. In: Tibetan and Buddhist Studies. ed. L. Ligeti. Neu Delhi 2000, 117⫺127. ⫺ 8 Stein, R. A.: Recherches sur l’e´pope´e et le barde au Tibet. P. 1959; Macdonald, A. W.: Mate´riaux pour l’e´tude de la litte´rature populaire tibe´taine 1⫺2. P. 1967/72. ⫺ 9 Hoffmann, H.: Märchen aus Tibet.
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Tieck, Ludwig
MdW 1965; Hermanns, M.: Himmelsstier und Gletscherlöwe. Mythen, Sagen und Fabeln aus Tibet. Eisenach 1955. ⫺ 10 Beitr.e zur tibet. Erzählforschung 1⫺15. ed. D. Schuh. St. Augustin 1982⫺2005; id.: Tibet. Hss. und Blockdrucke sowie Tonbandaufnahmen tibet. Erzählungen. Wiesbaden 1973; id.: Tibet. Hss. und Blockdrucke (Slg Waddell der Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz, Berlin). Wiesbaden 1981. ⫺ 11 Namkhai Norbu: Drung, Deu and Bön. Narrations, Symbolic Languages and the Bön Tradition in Ancient Tibet. Neu Delhi 1995. ⫺ 12 Lo˝rincz (wie not. 7). ⫺ 13 Causemann, M.: Füchse des Morgens. Märchen einer tibet. Nomadenfrau. Köln 1986, 181⫺190, 149⫺160; Kretschmar, M.: Märchen und Schwänke aus Mustang (Nepal). St. Augustin 1985, 218⫺223. ⫺ 14 Schmidt, I. J.: Dzanglun oder der Weise und der Thor. SPb./Lpz. 1843 (tibet. Orig. und Übers.). ⫺ 15 Ruegg, D. S.: Ordre spirituel et ordre temporel dans la pense´e bouddhique de l’Inde et du Tibet. P. 1995, 111⫺116; id.: Remarks on the Place of Narrative in the Buddhist Literatures of India and Tibet. In: India, Tibet, China. Genesis and Aspects of Traditional Narrative. ed. A. Cadonna. Florenz 1999, 193⫺227; Panglung, J. L.: Die Erzählstoffe des Mu¯lasarva¯stiva¯da-Vinaya analysiert auf Grund der tibet. Übers. Tokio 1981. ⫺ 16 Robinson, J. B.: The Lives of Indian Buddhist Saints. Biogr., Hagiography and Myth. In: Tibetan Literature. ed. J. I. Cabezo´n/R. R. Jackson. Ithaca, N. Y. 1996, 57⫺69; Vostrikov, A. I.: Tibetskaya istoricˇeskaya literatura. M. 1962 (engl.: Tibetan Historical Literature. Kalkutta 1970). ⫺ 17 Stein (wie not. 1) 334⫺337. ⫺ 18 Roesler, U.: Not a Mere Imitation. Indian Narratives in a Tibetan Context. In: Facets of Tibetan Religious Tradition and Contacts with Neighbouring Cultural Areas. ed. A. Cadonna/E. Bianchi. Florenz 2002, 153⫺177. ⫺ 19 Macdonald (wie not. 8); Herrmann, S.: Die tibet. Version des Papageienbuches. St. Augustin 1983; Lo˝rincz, L.: Contes du cadavre ensorcele´ (ro sgrun˙) dans la litte´rature et le folklore tibe´taines. In: Acta Orientalia Hungarica 18 (1965) 305⫺316; id.: Les Recueils Ro-sgrun˙ tibetains content 21 contes. ibid. 21 (1968) 317⫺337. ⫺ 20 Roesler, U.: Der „dPe chos rin chen spungs pa“ des Poto-ba Rin-chen-gsal. Zur Verschmelzung ind. und tibet. Traditionen in einem frühen „Stufenweg zur Erleuchtung“. (im Druck). ⫺ 21 Conze, E.: The Buddha’s Law among the Birds. Ox. 1955; Tibetan Didactic Tales on Animal and Bird Themes 1⫺2. ed. D. Sangpo. Dalhousie 1978. ⫺ 22 Dpal ldan Bkra shis/Kun mchog dge legs/ Sturat, K.: Tibetan Tricksters. In: Asian Folklore Studies 58 (1999) 5⫺30. ⫺ 23 Hermanns, M.: Das Nationalepos der Tibeter. Gling König Ge sar. Regensburg 1965; Hummel, S. (ed.): Mythologisches aus Eurasien im Ge-sar-Heldenepos der Tibeter. Ulm 1993, 99⫺109; Samuel, G.: The Gesar of Eastern Tibet. In: Cabe´zon/Jackson (wie not. 16) 358⫺ 367; Stein (wie not. 8).
Oxford
Ulrike Roesler
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Tieck, Ludwig (Pseud.e Peter Leberecht, Gottlieb Färber), * Berlin 31. 5. 1773, † ebenda 28. 4. 1853, Schriftsteller und Mitbegründer der dt. J Romantik. Persönlich gefördert wurde T. durch die publizistischen Größen der Berliner Spätaufklärung, bes. F. Nicolai. T. studierte 1792⫺94 in Halle, Göttingen und Erlangen. 1794 ließ er sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder. T. war die zentrale Dichterfigur der Jenaer Frühromantik und stand in Kontakt mit J Novalis, August Wilhelm und Friedrich Schlegel sowie J Brentano. Nach einer Schaffenskrise wandte er sich der Edition altdt., engl. und span. Lit. zu. In den 1820er und 1830er Jahren als Berühmtheit des Lit.betriebs in Dresden lebend, widmete T. sich vorzugsweise der Gattung Novelle. Sein letztes Lebensjahrzehnt verbrachte er am Hof Friedrich Wilhelms IV. in Potsdam bzw. Berlin. Gemeinsam mit seinem Schulfreund Wilhelm Heinrich Wackenroder hatte sich T. in die Kunst und Lit. des MA.s vertieft. Bald schrieb er seine ersten, ironisch-desillusionierenden Erzählungen für die von J Musäus übernommene Buchreihe Straußfedern (1794⫺ 98). Mit Wackenroder verfaßte T. die Phantasien über die Kunst (Hbg 1799), in die ein orientalisierendes Märchen eingefügt ist, und die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (B. 1797). Der Titel verweist wohl auf J Bürgers Herzensausguß über Volkspoesie (1767). T.s Haltung zur Volksdichtung war ambivalent1 und von einem gebrochenen Enthusiasmus gekennzeichnet. In der Volksliteratur suchte er „Poesie und romantische liebenswürdige Albernheit“2. Für den Konflikt zwischen echter und Pseudo-Volksdichtung, den J Schiller durch seine Kritik an Bürger zugespitzt hatte, wählte T. eine ironische Lösung. Er machte freilich gerade bei Bürger den volkstümlichen ,Grundton‘ namhaft3. An J Gozzis fiabe waren schon T.s frühes ,Feenmärchen fürs Theater‘ Das Reh (1790) sowie das Libretto Das Ungeheuer und der verzauberte Wald (Bremen 1800) angelehnt4. T. dramatisierte auch Volksbuchstoffe, z. B. in Leben und Tod der hl. Genoveva (Jena 1800; J Genovefa) und Kaiser Octavianus (Jena 1804; J Octavian). Seine Bearb.en waren für das formenreiche romantische Theater prototypisch.
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Tieck, Ludwig
Zunächst von aufklärerischem Sammeleifer animiert, machte T. sich mit Adaptionen ,altfränk.‘ Erzählstoffe einen Namen. Diese unter dem Pseud. P. Leberecht in drei Bänden gedr. Volksmährchen (B. 1797) enthalten keineswegs nur vorgängige ma. oder volksläufige Stoffe, sondern mit Karl von Berneck auch eine MA.tragödie eigener Erfindung, mit dem Prolog ein originelles Metadrama und mit dem Blonden Eckbert ⫺ nach früheren, durch J Tausendundeine Nacht angeregten Texten, T.s erstes genuines Kunstmärchen5. In den Volksmährchen bearbeitete T. bereits vor den Brüdern J Grimm Stoffe von J Perrault, wobei die literarhist. Bedeutung dieser Texte in ihren romantischen und antiklassizistischen Implikationen liegt: In dem Drama Ritter Blaubart, das die Grimmsche Fassung des Stoffs (KHM 62 [1812]) beeinflußte, griff T. ebenso wie in der Erzählung Die sieben Weiber des Blaubart Perraults La Barbe-Bleue (AaTh/ATU 312: cf. J Mädchenmörder) auf. Der Ritter Blaubart trägt, rationale Kritik provozierend, den Untertitel Ein Ammenmährchen von Peter Leberecht und parodiert zeitgenössische triviale Ritterstücke6. Auf Le Chat botte´ (AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater) geht T.s illusionsbrechendes Stück Der gestiefelte Kater zurück, das für die Bearb. durch die Brüder Grimm (KHM 33 [1812]) herangezogen wurde7. Zu Le petit Chaperon rouge (AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen) verfaßte T. das Dramolett Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens (Jena 1800). In T.s parodistischer Fassung stirbt das Rotkäppchen wie bei Perrault; der bei T. als Freigeist aufgefaßte Wolf wird allerdings für sein Verbrechen bestraft: Er wird vom Jäger, den T. neu einführte, erschossen8. T. hielt viele Märchen für „durch Tradition und viele Jahre verwandelte und verderbte epische Gedichte“ (cf. J Gesunkenes Kulturgut)9. Für die populären Stoffe des frühen Buchdrucks verwendete er schon 1797 den später von J. J Görres eindeutig geprägten Terminus Volksbuch10. Zahlreiche im dt. Sprachraum beliebte Volksbuchstoffe bearbeitete T. für die Volksmährchen als epische Nacherzählung mit eigenen lyrischen Einfügungen: Die Geschichte von den Heymons Kindern in zwanzig altfränk. Bildern (J Haimonskinder); Liebesgeschichte der schönen Magelone und des
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Grafen Peter von Provence (J Magelone); Sehr wunderbare Historie von der Melusina (J Melusine); Denkwürdige Geschichtschronik der Schildbürger in zwanzig lesenswürdigen Kap.n (J Schildbürger). Gleiches gilt für Der getreue Eckart und der Tannenhäuser (Jena 1799; J Tannhäuser). Schon der Titel Volksmährchen war gegen das inflationäre Stichwort Volk gerichtet, gegen den Dünkel der aufgeklärten Bildungsschicht ebenso wie gegen herablassende Popularität ⫺ daher die ambivalente Konstruktion mit zwei einander unterminierenden Vorreden und die Heterogenität der Texte. Was T. als echtes Volksgedicht bezeichnete, war stets am Rezipienten ausgerichtet11; die Idee einer anonymen mündl. Produktionsinstanz für Volkspoesie teilte er nur kurzfristig, wie auch das Volk im J Herderschen Sinn für ihn auf Dauer nicht maßgeblich war. Eher identifizierte er im kreativen Individuum (etwa seinem Idol J Shakespeare) die Volksnähe als dessen Verbindung zu einer Kulturnation und einer breiten Leserschicht. Den von den Brüdern Grimm vertretenen Gedanken der J Naturpoesie hat sich T. nie ernsthaft angeeignet. Er erklärte sie 1829 als Täuschung der Textgeschichte: „Ein solches altes Poem wird durch die Ueberlieferung, die es bald roh, bald unverständlich macht, bald Widersprüche hineinbringt, gleichsam in ein Natur-Produkt verwandelt“ oder „fast wieder wie ein Natur-Produkt“, so daß „man kaum noch den ordnenden und schaffenden Menschengeist gewahr wird.“12 Volkstümlichkeit fand T. im Theater und in der Erzählliteratur. Er schrieb Gedichte, die sowohl thematisch als auch formal volksliedartig wirkten, doch bemühte er sich nicht aktiv um anonyme Volkspoesie. Zur Grundfrage philol.-hist. Treue verhielt sich T. ambivalent: Die Magelone wollte er nicht verändern, weil er sie für authentisch hielt13; zugleich rechtfertigte er Eingriffe an der Melusina dadurch, daß mündl. überlieferte Stoffe ihre ursprüngliche Form verloren hätten14. T.s Gattungsterminologie ist wenig elaboriert; zeittypisch bleiben die Bezeichnungen Märchen und Sage diffus. Das Märchen vom Roßtrapp (verfaßt 1793; cf. J Jungfernsprung) etwa basiert auf einer Sage aus dem Harz. Auch arbeitete T. später Stoffe der Volkspoesie ein: in den Roman Vittoria Accorombona
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(Breslau 1840) die Sage von der ausschleichenden Maus nach J Paulus Diaconus15 (AaTh/ ATU 1645 A: J Guntram), in Novellen die ital. Sage von Cola Pesce (Der Wassermensch. Breslau 1835; AaTh/ATU 434*: J Taucher) oder die span. um die Glocke von Aragon (Breslau 1839)16. Drei späte Texte, primär literar.-hist. Allegorien, nannte er selbst Märchen-Novellen: Die Vogelscheuche (B. 1834), Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein (Lpz. 1835) und das Fragment Hütten-Meister (verfaßt 1841). Auch Werke der Slg Phantasus 1⫺3 (B. 1812/12/16) trugen im Untertitel neben Begriffen wie Erzählung und Novelle die Bezeichnung Märchen, so etwa Der Runenberg (erstmals Köln 1804), Liebeszauber, Die Elfen, Der Pokal sowie das Drama Fortunat (AaTh/ ATU 566: J Fortunatus)17. Neben diesen romantischen Kunstmärchen, die bewußt Motive der Volkserzählung akkumulieren, verfaßte T. für den Phantasus zudem Leben und Thaten des kleinen Thomas, genannt Däumchen (AaTh/ATU 327 B: J Däumling und Menschenfresser). 1843 erschien Das Märchen vom gestiefelten Kater in den Bearbeitungen von Straparola, Basile, Perrault und L. T. (Lpz.) mit 12 Radierungen von Otto Speckter. T. war zentraler Initiator einer Mediävistik, die das Gelehrte mit dem Prinzip der Verständlichkeit verband. Seine prononciert nichtwiss. Adaptionen ma. Lyrik (Minnelieder aus dem Schwäb. ZA. B. 1803) zeugen von diesem Kompromißideal. Als Fürsprecher des Volksbuchs ebenso wie der Heldenepik, als Büchersammler und Editor, der sich freilich für mündl. Überlieferung nicht explizit einsetzte, als komparatistischer Quellenforscher18 zum engl. und span. Drama des 16./17. Jh.s, vor allem aber als direktes persönliches Vorbild Brentanos und damit der ganzen zweiten Romantikergeneration initiierte T. indirekt die literar. Vk. mit. Die Brüder Grimm wurden zu ihren Projekten durch die Minnelieder angeregt. Die vielschichtige Beziehung zwischen T. und ihnen ist indes noch wenig erforscht. Über die Volkspoesie äußerte T., „der Deutsche kann den Bemühungen eines v. d. Hagen, Grimm und anderer Freunde nicht dankbar genug sein“19, und 1846 erinnerte er in seiner Vorrede zu den von A. J Asbjørnsen und J. J Moe gesammelten Norw. Volksmärchen daran, wie seit Perrault, Musäus und seiner eigenen
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Arbeit eine „ganze reiche Literatur dieser Märchen […] entstanden und aus allen Ländern der Erde zusammengetragen“ sei20. 1 Fink, G.-L.: Volk und Volksdichtung in der ersten Berliner Romantik. In: Brinkmann, R. (ed.): Romantik in Deutschland. Stg. 1978, 532⫺549; Hölter, A.: L. T. Lit.geschichte als Poesie. Heidelberg 1989, 235⫺241; cf. Scherer, S./Stockinger, C. (edd.): L.-T.Hb. B./N. Y. (im Druck). ⫺ 2 L. T.: Volksmährchen. Scherzhafte Vorrede. In: Schweikert, U.: L. T. 1. Mü. 1971, 151. ⫺ 3 Lüdeke, H.: L. T. und die Brüder Schlegel. Briefe. ed. E. Lohner. Mü. 1972, 74. ⫺ 4 Marelli, A.: L. T.s frühe Märchenspiele und die Gozzische Manier. Diss. Köln 1968. ⫺ 5 Mayer, M./ Tismar, J.: Kunstmärchen. Stg. 31997, 58⫺65, hier 59 sq.; T., L.: Schr. 1789⫺1794. ed. A. Hölter. Ffm. 1991; cf. Hölter, A.: Über Weichen geschickt und im Kreis gejagt. Wie T.s ,Blonder Eckbert‘ den modernen Leser kreiert. In: Kremer, D. (ed.): Die Prosa L. T.s. Bielefeld 2005, 69⫺94; allg. zur Anbahnung des Genres Fink, G.-L.: Naissance et apoge´e du conte merveilleux en Allemagne 1740⫺1800. P. 1966; Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. Stg. 1988. ⫺ 6 Scherer, S.: Witzige Spielgemälde. T. und das Drama der Romantik. B./N. Y. 2003, 272⫺ 291. ⫺ 7 Braun-Biehl, J.: Ausschweifendere Geburten der Phantasie. Eine Studie zur Idee des „Kindermärchens“ bei T., Brentano, Jacob und Wilhelm Grimm und E. T. A. Hoffmann. Diss. (masch.) Mainz 1990, 22⫺63. ⫺ 8 Scherer (wie not. 6) 402⫺ 407; Jäger, H.-W.: Trägt Rotkäppchen eine Jakobinermütze? In: Bark, J. (ed.): Lit. soziologie. Stg. 1974, 159⫺180. ⫺ 9 T., L.: Schr. 1836⫺1852. ed. U. Schweikert. Ffm. 1986, 1008 sq. ⫺ 10 Kreutzer, H. J.: Der Mythos vom Volksbuch. Stg. 1977. ⫺ 11 T., L.: Kritische Schr. 1⫺4. Lpz. 1848⫺52 (Nachdr. B. 1974), hier t. 1, XIV. ⫺ 12 T., L.: Schr. 1⫺28. B. 1828⫺54 (Nachdr. 1966), hier t. 11 (1829) XLII, LXXXIII. ⫺ 13 ibid., VIII. ⫺ 14 ibid., LVII. ⫺ 15 Hölter, A.: Gar nicht grau. Arno Schmidts „Kleine graue Maus“. In: Bluhm, L./Hölter, A. (edd.): Romantik und Volkslit. Heidelberg 1999, 185⫺209. ⫺ 16 cf. T. (wie not. 9) 1222⫺1228 (zu den Qu.n). ⫺ 17 cf. z. B. Thalmann, M.: Das Märchen und die Moderne. Stg. 1961, 35⫺58; Schumacher, H.: Narziß an der Qu. Das romantische Kunstmärchen. Wiesbaden 1977, 53⫺69; Kreuzer, I.: Märchenform und individuelle Geschichte. Zu Text- und Handlungsstrukturen in Werken L. T.s zwischen 1790 und 1811. Göttingen 1983, 117⫺187; Mayer/ Tismar (wie not. 5) 41 sq.; Wührl, P.-W.: Das dt. Kunstmärchen. Heidelberg 1984, 85⫺88, 238⫺251; Klotz, V.: Das europ. Kunstmärchen. Stg. 1985, 149⫺161. ⫺ 18 Hölter, A.: Frühe Romantik ⫺ frühe Komparatistik. Gesammelte Aufsätze zu L. T. Ffm. 2001, 231⫺238. ⫺ 19 T. (wie not. 11) t. 2 (1848) 123. ⫺ 20 ibid., 416 sq.
Münster
Achim Hölter
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Tiefenpsychologie
Tiefenpsychologie, Bezeichnung für psychol., psychotherapeutische und psychiatrische Richtungen, nach deren Auffassung J unbewußte, d. h. in den Tiefenschichten der Persönlichkeit wurzelnde Kräfte Erleben, Verhalten und Einstellungen von Individuen, Gruppen, Gesellschaften und Kulturen maßgeblich beeinflussen1. Der Begriff geht auf E. Bleuler (1857⫺ 1937) zurück, der 1910 die J Psychoanalyse S. J Freuds als T. bezeichnete und dafür plädierte, psychoanalytisches Gedankengut in die J Psychiatrie einzubeziehen2. Zur T. zählen vor allem die psychoanalytischen Richtungen, d. h. die Trieb- und Strukturtheorie Freuds, die Objektbeziehungstheorien, interpersonelle Psychoanalyse, Neopsychoanalyse (E. Fromm, K. Horney), Ich-Psychologie, Selbstpsychologie, feministische Psychoanalyse, die strukturalistische Theorie J. Lacans und die sozialwiss. Theorie A. Lorenzers3, ferner die Individualpsychologie A. Adlers sowie die komplexe oder analytische J Psychologie C. G. J Jungs. Darüber hinaus sind von der T. u. a. auch Daseinsanalyse, Existenzanalyse und Logotherapie, Schicksalsanalyse sowie Gestalttherapie beeinflußt. Das Menschenbild der heutigen T. ist maßgeblich geprägt durch die neuere Säuglingsforschung, die das Baby nicht mehr als passiv und undifferenziert, sondern als aktiv handelnd und ganzheitlich empfindend betrachtet4. Bei aller Unterschiedlichkeit gehen Psychoanalyse, Individualpsychologie und komplexe Psychologie von folgenden Gemeinsamkeiten aus: (1) Das Verhalten und Erleben des einzelnen wird in hohem Maß durch Einflüsse aus der Kindheit bestimmt. (2) Das Unbewußte greift in das bewußte Erleben ein und beeinflußt das beobachtbare Verhalten sowie das Weltbild. Zugrunde liegen psychische Vorgänge, die als ein Spiel antagonistischer Kräfte betrachtet werden (Psychodynamik), z. B. J Konflikte zwischen Trieb und Moral, Autonomie und Bindung, Liebe und Haß (J Ambivalenz), Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben. Gelangen die Antagonismen nicht zum Ausgleich, können psychische Krankheiten auftreten. (3) Zugrunde liegt ein Menschenbild, das zwar um die Entwicklungsmöglichkeiten und das Ressourcenpotential des einzelnen und der Gesellschaft weiß, gleichzeitig aber defizitorientiert und sich der tragischen Dimensionen der menschlichen Existenz bewußt ist. Dies ist zum einen dadurch bedingt, daß
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die T. ihr Wissen vorwiegend aus Einzelfallstudien über leidende Personen bezieht, zum anderen hängt es mit den geistigen Wurzeln der T. zusammen. Ideengeschichtlich betrachtet liegen ihre Grundlagen einerseits in der Aufklärung, weil sie danach strebt, ,Licht‘ auf das Unbewußte zu werfen und dem einzelnen zu mehr ,Aufklärung‘ über sich selbst und über andere zu verhelfen; andererseits wurzelt sie in der Romantik mit ihrem regen Interesse an inneren Vorgängen und Emotionen, die nicht allein positiv erlebt werden, da man durch sie auch mit dem Unheimlichen, Destruktiven, Abgründigen, Diabolischen in Berührung kommt5, wie etwa der Bereich der ,Schauerromantik‘ (J Schauergeschichte, Schauerroman) verdeutlicht. (4) Tiefenpsychol. Erkenntnisse lassen sich nicht allein über kognitive Prozesse vermitteln, da das Unbewußte sich dem bewußten Zugriff verschließt. Vielmehr bedarf es alternativer Zugänge, und dazu zählt neben der Intuition vor allem das Prinzip der freien J Assoziation, das u. a. bei der J Traumdeutung und der Frage nach den Kindheitseinflüssen zum Tragen kommt. Dieses Prinzip ist zwar im kausalanalytisch orientierten Wiss.ssystem der Neuzeit und Gegenwart marginalisiert, aber wiss.stheoretisch und -geschichtlich betrachtet dem ,analogischen Rationalitätstypus‘ zuzuordnen, der gängigen Kriterien von Wissenschaftlichkeit vollauf genügt6. Darüber hinaus bedarf es einer in der Regel längerfristigen Selbsterfahrung, um den dynamischen Charakter unbewußter Einflüsse zu erfahren und um zu erleben, daß man als Patient oder Lehranalysand das Wissen über sich selbst vermehren und durch eine positive Beziehung zum Psychoanalytiker emotionale Defizite ausgleichen kann.
Die T. nimmt daher im Rahmen der Wiss.en eine Sonderstellung ein. Ihre methodische Bandbreite reicht von streng naturwiss. Ausrichtung über geistes- und kulturwiss. Vorgehensweisen (causa efficiens) ⫺ in der Individualpsychologie wird allerdings auch der aristotelischen Zielursache (causa finalis) Bedeutung beigemessen7 ⫺ über geistes- und kulturwiss. Vorgehensweisen bis zur Einbeziehung von Techniken, die eher künstlerischen Gestaltungsprinzipien entsprechen. An der Naturwissenschaft orientiert sind neben kausalanalytischen Vorgehensweisen die Libidotheorie und die Theorie des psychischen Apparates bei Freud sowie neuerdings die Neuro-Psychoanalyse, welche u. a. danach strebt, über die Funktionen des Es, Ich und Über-Ich empirische Korrelate im Gehirn abzuleiten8. In der Tradition der Geisteswissenschaften stehen hingegen die Interpretation von Verhalten, Erleben und Einstellungen ⫺ einschließlich der Traumdeutung ⫺, während Intuition und freie As-
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Tiefenpsychologie
soziation künstlerischen Prinzipien entsprechen9. Die Sonderstellung der T. wirft hinsichtlich ihres Ertrags allg. für die Kulturwissenschaften und bes. für die Erzählforschung Probleme auf. Von Beginn an haben sich ihre Vertreter auch zu Fragen des kulturellen Lebens geäußert und sind damit oft auf Ablehnung seitens der etablierten Wiss.en gestoßen. Kritisiert werden u. a. die Einseitigkeit des Weltbildes (J Weltanschauung, Weltbild) sowie die mangelnde Berücksichtigung des hist. und gesellschaftlich-kulturellen Kontexts. Das hängt mit den z. T. dogmatischen Ausbildungsbedingungen in psychoanalytischen Vereinen10 zusammen sowie mit dem Bedürfnis, sich in einem praxisorientierten Feld auf ,gesichertes‘ Wissen stützen zu können ⫺ und zu müssen, wenn man erfolgreich heilen möchte. Da man als Lehranalysand zudem die Kraft der Psychodynamik erlebt, erfährt man sie gleichzeitig als subjektiv gesichertes Faktum und riskiert dabei zu übersehen, daß die tiefenpsychol. Theorien und Techniken, die der individualistisch geprägten Kultur des 20. Jh.s entspringen, nicht ohne weiteres auf vergangene Zeiten und auf nicht-individualistische Kulturen übertragbar sind. Auf der anderen Seite reagieren Kulturwissenschaftler, die über keine psychoanalytische Selbsterfahrung verfügen, mitunter verständnislos oder ablehnend, wenn sie durch tiefenpsychol. Lektüre mit den vermeintlich peinlichen und erschreckenden Seiten der menschlichen Existenz konfrontiert werden, so daß sie unter Umständen das Lehrgebäude der T. als solches in Frage stellen. Angemessener ist demgegenüber eine Haltung, die sachlich danach fragt, welchen Ertrag die T. gegenüber anderen Theorien ermöglicht. Akzeptiert man, daß die Grenzen zwischen psychischer Normalität und Pathologie fließend sind, dann erhält das vermeintlich ,ganz Andere‘ heuristischen Wert für die Allgemeinheit. So hat H. J Bausinger bereits 1958 den Vorschlag gemacht, „über die krankhaften Grenzfälle des Erzählens und die damit verbundene Auffassung der Welt“ zu berichten, da sich vom Pathologischen her das Normale meist besser verstehen lasse11. Darüber hinaus wiesen Erzählforscher wie A. J Dundes darauf hin, daß die T. eine Mög-
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lichkeit bietet, ins Innere und in verborgene Schichten des Individuums und der Kultur vorzudringen, um so das Bedürfnis nach Erklärung sowie nach Sinn und Bedeutung zu befriedigen12. Beim Märchen bietet die J Flächenhaftigkeit Anknüpfungspunkte, wenn innere Vorgänge in Handlungen umgesetzt werden13, bei der Sage bzw. modernen Sage das Interesse am Abgründigen und Unheimlichen14. Allerdings ist der tiefenpsychol. Zugang, sofern er die hist. und kulturelle Seite unberücksichtigt läßt, weniger für das folkloristische Material und dessen Kontext geeignet als eher für den heutigen individualistisch orientierten Rezipienten und seine Bedürfnisse. In Anbetracht der Fülle an populärwiss. Büchern vor allem zur tiefenpsychol. Märchendeutung kann es ein legitimes Anliegen der volkskundlichen Erzählforschung sein, sich auch mit den Rezipienten und ihrer Welt zu beschäftigen15. 1 Elhardt, S.: T. Stg. 162005; Ellenberger, H. F.: Die Entdeckung des Unbewußten. Zürich 21996; Hofstätter, P. R.: Einführung in die T. Wien 21948; Rattner, J.: Klassiker der Psychoanalyse. Weinheim 2 1995; Schönpflug, W.: Geschichte und Systematik der Psychologie. Weinheim 22004, 345⫺363; Wiesenhütter, E.: Grundbegriffe der T. Darmstadt 21981; Wyss, D.: Die tiefenpsychol. Schulen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Göttingen 61991; Zaretsky, E.: Freuds Jh. Die Geschichte der Psychoanalyse. Wien 2006. ⫺ 2 Bleuler, E.: Die Psychanalyse Freuds. Verteidigung und kritische Bemerkungen. In: Jb. für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen 2 (1910) 623⫺730; cf. allg. Scharfetter, S.: Eugen Bleuler (1857⫺1939). Polyphrenie und Schizophrenie. Zürich 2006. ⫺ 3 Mertens, W.: Psychoanalyse. Geschichte und Methoden. Mü. 1997, 15⫺43, 121 sq. ⫺ 4 cf. Wöller, W./Kruse, J.: Tiefenpsychol. fundierte Psychotherapie. Stg. 22005, 223 sq. ⫺ 5 cf. Rieken, B.: Therapeutisches Interesse und ein Blick hinter die Kulissen. Zur Rezeption des Märchens in der T. In: Bendix, R./Marzolph, U. (edd.): Hören, Lesen, Sehen, Spüren. Märchenrezeption im europ. Vergleich. Baltmannsweiler 2008, 113⫺128. ⫺ 6 cf. Gloy, K.: Vernunft und das Andere der Vernunft. Fbg/Mü. 2001, 207 sq.; ead.: Das Analogiedenken unter bes. Berücksichtigung der Psychoanalyse Freuds. In: ead./Bachmann, M. (edd.): Das Analogiedenken. Fbg/Mü. 2000, 256⫺297. ⫺ 7 cf. Rieken, B.: Die Individualpsychologie Alfred Adlers und ihre Bedeutung für die Erzählforschung. In: Fabula 45 (2004) 1⫺32, hier 19⫺23; Schmidt, R.: Kausalität, Finalität und Freiheit. Perspektiven der Individualpsychologie. Mü./Basel 1995, 24⫺45; Wexberg, E.: Individualpsychologie. Stg. 1987, 12⫺59. ⫺
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Kaplan-Solms, K./Solms, M.: Neuro-Psychoanalyse. Eine Einführung mit Fallstudien. Stg. 2003. ⫺ 9 Die Behauptung (EM 11, 11), der T. liege das „mechanistische, rückständige kartesianische Weltbild“ zugrunde, gilt daher nur bedingt. ⫺ 10 Balint, M.: Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. Stg. 21997, 307⫺346; Cremerius, J.: Wenn wir als Psychoanalytiker die psychoanalytische Ausbildung organisieren, müssen wir sie psychoanalytisch organisieren. In: Psyche 41 (1987) 1067⫺1096; Kraft, H.: Über innere Grenzen. Initiation in Schamanismus, Religion und Psychoanalyse. Mü. 1995, 224⫺230. ⫺ 11 Bausinger, H.: Strukturen des alltäglichen Erzählens. In: Fabula 1 (1958) 239⫺254, hier 254. ⫺ 12 Dundes, A.: Analytical Essays in Folklore. Den Haag/P./N. Y. 1979, XI sq.; Rieken, B.: „Nordsee ist Mordsee.“ Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen. Münster u. a. 2005, 26⫺55; Röhrich, L.: „und weil sie nicht gestorben sind …“ Anthropologie, Kulturgeschichte und Deutung von Märchen. Köln u. a. 2002, 404 sq. ⫺ 13 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Tübingen 9 1992, 13⫺24; Lüthi, Märchen (91996), 105⫺114; id.: Es war einmal … Vom Wesen des Volksmärchens. Göttingen 81998, 11⫺23; cf. auch Dundes, A.: “To Love My Father All.” A Psychoanalytic Study of the Folktale Source of “King Lear”. In: id. (ed.): Cinderella. A Casebook. N. Y. u. a. 1988, 229⫺244; Laiblin, W. (ed.): Märchenforschung und T. Darmstadt 1986; Scherf, W.: Die Herausforderung des Dämons. Form und Funktion grausiger Kindermärchen. Eine volkskundliche und tiefenpsychol. Darstellung […]. Mü. u. a. 1987; Tatar, M.: Von Blaubärten und Rotkäppchen. Grimms grimmige Märchen. Salzburg/Wien 1990. ⫺ 14 Dundes, A.: The Vampire as Bloodthirsty Revenant. A Psychoanalytic Post Mortem. In: id. (ed.): The Vampire. A Casebook. Madison/L. 1998, 159⫺175; id.: Bloody Mary in the Mirror. A Ritual Reflection of Pre-Pubescent Anxiety. In: id.: Bloody Mary in the Mirror. Essays in Psychoanalytic Folkloristics. Jackson 2002, 76⫺ 94; Isler, G.: Die Sennenpuppe. Eine Unters. über die religiöse Funktion einiger Alpensagen. Basel/ Bonn 1971; id.: T. und Sagenforschung. In: Röhrich, L. (ed.): Probleme der Sagenforschung. Fbg 1973, 149⫺164; id.: Lumen Naturae. Zum religiösen Sinn von Alpensagen. Küsnacht 2000; Lixfeld, H.: Tiefenpsychol. Sagendeutung und volkskundliche Erzählforschung. Zur Unters. der „Sennenpuppe“ durch Gotthilf Isler. In: Fabula 14 (1973) 124⫺137; Lüthi 1998 (wie not. 13) 57⫺67; Rieken, B.: Arachne und ihre Schwestern. Eine Motivgeschichte der Spinne von den „Naturvölkermärchen“ bis zu den „Urban Legends“. Münster u. a. 2003, 167⫺223. ⫺ 15 cf. EM 11, 28 sq.; Rieken (wie not. 5).
Wien
Bernd Rieken
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Tier, Tiere 1. Allgemeines ⫺ 2. T.erzählungen ⫺ 3. Quellen und Rezeptionsprozesse ⫺ 4. T.erzählungen und Moral
1 . All ge me in es. Die Beziehungen zwischen Menschen und T.en sind vielfältig1: Als Nutztiere waren und sind T.e für den Menschen von existentieller Bedeutung2, bes. die in Herden gehaltenen Huftiere in Hirtenkulturen (J Kuh; J Ochse; J Stier). Aus ihrer Bedeutung erklärt sich die Wahrnehmung bes. der großen Landraubtiere, der Reptilien (J Krokodil; J Schlange) und Großkatzen, aber auch der großen Greifvögel, die für Nutztiere und Menschen gefährlich waren. Zugleich wurden J Löwe, J Bär und J Adler zu Sinnbildern von Kraft und Macht (J Theriomorphisierung). T.e sind erhoffte Jagdbeute und Wildbret (J Jagd, Jagen, Jäger). Neben herrschaftlichen Jagdvergnügungen3 gehörten zur höfischen Unterhaltung fürstliche T.gärten4, die schon im MA. exotische T.e beherbergten. Zug- und Reittiere5 wurden nicht nur als Nutztiere, sondern auch zur Repräsentation von Herrschaft (J Pferd; J Esel), vor allem aber zu militärischen Zwecken eingesetzt6. Legendär ist der Einsatz von Kriegselefanten durch Hannibal (J Elefant). Auch in der arab. Kultur hatten und haben Reittiere (J Kamel) repräsentative und religiöse Bedeutung und waren neben dem Jagdfalken auch Gefährten des Menschen7. T.e waren und sind aufgrund ihrer Anhänglichkeit und Wachsamkeit geschätzte Begleiter des Menschen (J Katze; J Hund; J Gans)8. Sie sind aber auch Nahrungskonkurrenten und Vorratsschädlinge und werden daher, wie J Spinne, Schabe, J Ratte und J Maus, als Ungeziefer wahrgenommen. 2 . T.e rz äh lu ng en. In der literar. und mündl. Überlieferung, in Exempeln, Sagen, Legenden, Märchen, Sprichwörtern und modernen Sagen9, spiegelt sich die Wahrnehmung von T.en durch den Menschen10. T.protagonisten sind konstitutiv für J T.märchen, T.fabel (J Fabel), J T.epos und J T.schwank. In ihnen verkörpern T.e menschliche Eigenschaften (J Anthropomorphisierung) wie Schläue, Verschlagenheit (J Fuchs), Falschheit, Feigheit oder Dummheit (J Wolf). Die Beliebtheit der
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T.motivik in vielen Kulturen spiegelt sich auch in der humoristischen Kurzprosa11. In T.fabel und T.schwank werden menschliche Fehler und Tugenden pointiert sowie Machtverhältnisse thematisiert und ihre Legitimation hinterfragt (J Stark und schwach)12. T.verhalten läßt sich als Sinnbild für reale Vorgänge nutzen (AaTh/ATU 220, 220 A: J Parlament der Vögel); es verdeutlicht J Konflikte, ermöglicht J Sozialkritik (AaTh 103, 104, 222/ATU 103, 222: J Krieg der T.e; J Königswahl der T.e; AaTh/ATU 112: J Feldmaus und Stadtmaus) und persifliert politische Verhältnisse. T.e sind zentrale Elemente im Zaubermärchen. Sie begegnen hier als Helfer (J Dankbare [hilfreiche] T.e), oder sie sind als T.e geborene oder in T.e verwandelte Protagonisten (J T.verwandlung; J T.braut, T.bräutigam, T.ehe; J T.schwäger). Erzählstoffe wirken mitunter auf die tatsächliche Behandlung von T.en durch Menschen zurück; so hatte die Ausrottung der Adler, Geier und Wölfe in Mitteleuropa ihre Ursache u. a. in Erzählungen über angeblichen Kinderraub13. 3 . Q ue ll en un d Rez ep ti on sp ro ze ss e. Vorstellungen vom Gestaltwechsel zwischen Mensch und T. kennen bereits archaische Gesellschaften (J Jägerzeitliche Vorstellungen); in religiöser Bedeutung vor allem als Wiedergeburt des Menschen in einem T. (J Seelenwanderung) finden sie sich in der buddhist. und hinduist. Tradition (J Ja¯taka; J Pan˜catantra[m])14. Für die T.verwandlung im Märchen spielt auch die Rezeption und Transformation von Erzählstoffen aus den mediterranen Kulturen eine Rolle. Im alten Ägypten wurden Götter in T.gestalt (Horus, Bastet, Anubis [cf. J Hundsköpfige]) verehrt15, die auch als J Halbwesen auftreten konnten und ambivalente Deutung erfuhren (J Sphinx). In der griech.-röm. Antike waren Vorstellungen der T.verwandlung von Göttern verbreitet16, oder T.e traten als Begleiter der Götter auf (J Eule der Athene)17. Vorstellungen von Halbwesen (Pan, Minotaurus, Kentauren), Chimären und anderen J Fabelwesen18 (J Pegasus) wurden ebenso tradiert wie rituelle Handlungen (T.opfer und T.spiele19). Analogien zu antiken T.orakeln (J Divination) finden sich in Prodigien: J Vogelschwärme etwa wurden als Vorzeichen von Krieg und Not gedeutet20.
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Für die Tradierung von T.vorstellungen der Antike waren die J Bestiarien21, allen voran der J Physiologus, grundlegend. Sie übertrugen eine fabulierende, phantastische Deutung der T.welt in christologische Auslegung, die in der beziehungsreichen T.symbolik der ma. Sakralkunst22 nachgewirkt hat, vor allem im Sinnbild des Pelikans23 für die Eucharistie, des J Einhorns für J Christus und des J Phönix für die Auferstehung Christi. Die christl. T.allegorese wirkte auch auf die Verwendung von T.figuren als Fastnachtsgestalten24. Die allg. verbreitete Vorstellung gegenseitiger Toleranz und Hilfe zwischen Mensch und T. könnte in Europa durch eine franziskan. Schöpfungsdeutung beeinflußt sein (J Franz von Assisi, Hl.)25. Als Christussymbol war zunächst der J Fisch verbreitet, später setzten sich das J Lamm und als Auseinandersetzung mit antiken Hirtengestalten der Gute Hirte durch26. T.e sind, bes. auf ma. Altären, als Evangelistensymbole eingeführt (Löwe, Stier, Adler)27. Solche Verwendungen von T.en als Sinnbild waren im MA. auch in der halb- und außerbibl. Typologie der Stände-Ikonographie angelegt28. Die ambivalente Deutung von T.en als eher nützlich oder als eher gefährlich29, die auch in den Religionen Asiens verbreitet war30, findet sich schon im bibl. Kontext des alten Israel31. Die christl. dualistische Deutung (J Dualismus) fußt möglicherweise auf dieser Ambivalenz32; so wurde der J Wal im Physiologus bereits mit den Verlockungen des J Teufels33 in Verbindung gebracht und ging in Gestalt eines Ungeheuers oder monströsen Fischs vielfach in Darstellungen des Höllenrachens ein34. Die breite Rezeption der bibl. Erzählung von J Jonas hat diese Deutung in der frühen Neuzeit transformiert. Der J Drache ist in sakraler Kunst, Lit. und populären Erzählungen das bedrohliche T. schlechthin (J Georg, Hl.; J Margarete, Hl.)35. T.gestalten, die auf ma. T.vorstellungen zurückgehen36, finden sich in der Lit. wieder37, heute etwa in Fantasy-Lit. wie Joanne K. Rowlings Harry Potter-Romanen (1997⫺2007). Antike T.legenden wurden auch in Heiligenviten rezipiert38. In christl. Heiligenlegenden gehorchen T.e den Heiligen, retten diese vor dem Tod, weisen ihnen den Weg (J Wegweisende Gegenstände und T.e; cf. auch J Ge-
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Tier, Tiere
spannwunder), sterben, weil sie ihnen Schaden zugefügt haben, tragen sie, folgen ihnen (J Biene), werden von ihnen geheilt, lassen Leichen von Märtyrern unberührt (cf. J Antonius Eremita, Hl.; J Paulus Eremita, Hl.)39. Motive wie das der Vögel, die in der Karwoche sterben und am Ostertag wieder lebendig werden, sind aus Legendaren vielfach in die Volksüberlieferung übernommen worden40. Im islam. Heiligenwunder begegnen fromme, gehorsame und furchtlose, ebenso wie sprechende und vom Tod erweckte T.e41. Die T.deutungen der Bibel wurden mit ihrer Verbreitung durch Übers. und Buchdruck weiter popularisiert42. Bibl. T.rätsel aus griech.patristischen und byzant. Qu.n wurden über ma. Hss. vermittelt, über Klosterschulen in Europa weit verbreitet und waren noch im 19. Jh. als Hausinschriften beliebt43. In der Reformationszeit sind in Satiren, auf Flugblättern und in frühen Drucken der Lutherbibel T.e für die Agitation gegen J Papsttum und Ausbeutung der Bevölkerung durch den Adel genutzt worden44. Diese allegorische und symbolische Präsenz von T.en findet sich in Kunst und Lit. des 16./17. Jh.s wieder und ging z. T. in die populäre Überlieferung ein (AaTh/ATU 361: J Bärenhäuter)45. Vorstellungen vom T. als Alter ego des Menschen (AaTh/ATU 1645 A: J Guntram) fanden bis in die frühe Neuzeit im Glauben an reale T.verwandlung Ausdruck. Die Furcht vor dem Werwolf (J Wolfsmenschen) hat in der Zeit der Hexenprozesse zur Verfolgung von Menschen geführt, wie auch die Vorstellung, Hexen und Zauberer könnten sich in T.e verwandeln, Anlaß für Verfolgung durch die Inquisition waren46. In den T.büchern des MA.s und der frühen Neuzeit, vor allem bei J Thomas Cantipratanus, J Albertus Magnus und Conrad J Gesner47, wird neben der Tradierung von T.erzählungen das Bemühen um naturwiss. Annäherung an das Thema T. erkennbar. In der bildenden Kunst48, vor allem aber in Emblematik und Exempelliteratur des 17./18. Jh.s fand die T.motivik der Antike eine christl. Umdeutung (J Jesuit. Erzählliteratur; J Emblem)49. 4 . T.e rz äh lu ng en un d Mor al. Im 19. Jh. schlug sich in T.märchen jene Moralisierung nieder, die E. Fuchs als epochalen Um-
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bruch von der Galanterie zur Prüderie nachgezeichnet hat: Die Zoten des Spätmittelalters50 und der Renaissance, die raffinierten Koketterien des 18. Jh.s hatten in T.erzählungen, in denen T.e Spiegelbilder der menschlichen Triebhaftigkeit und Lüsternheit waren, ihre Spuren hinterlassen51. Dies hatte, ebenso wie die Verwendung von T.namen für die Genitalien52, Einfluß auf die Deutungen von T.en in Lit. und Märchen. Die Rezeption antiker Erzählstoffe um die geschlechtliche Verbindung mit T.en (J Sodomie) findet sich vielfach in der kaum verblümten erotischen Symbolik von T.märchen53. Die Brüder J Grimm verzichteten auf offensichtliche sexuelle Anspielungen in den J Kinder- und Hausmärchen (KHM 1, AaTh/ATU 440: J Froschkönig)54. In vielen Märchen erweist sich das Handeln von T.en als Kritik am Umgang des Menschen mit dem T. (AaTh/ATU 130: cf. J T.e auf Wanderschaft; AaTh/ATU 248: J Hund und Sperling). Ferner wird die J Feindschaft zwischen T.en und Menschen (AaTh/ATU 159 B, 285 D) thematisiert. T.e werden jedoch gern auch als Helfer des Menschen (AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater; AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella) gezeichnet. Der Gedanke des T.schutzes, den die bürgerliche Gesellschaft des frühen 19. Jh.s entdeckte, ließ sich gerade in Erzählstoffen hist. und kulturenübergreifend legitimieren, in denen verachtete und gequälte T.e als Helfer mit außergewöhnlichen Eigenschaften ausgestattet sind55. Im 19. Jh. geriet auch Naturgeschichte zur Erzählung: Mit der zehnbändige Ausgabe von Brehms Thierleben (1876⫺79) entstand eine neue Form erzählender T.bilder, die moralische Wertungen und auch klassenspezifische Deutungen enthielt56. Die älteren, in Fabeln und Märchen gezeichneten Eigenschaften der T.e wurden integriert, freilich mit umgekehrten Vorzeichen: Man maß die T.welt am Tugendkatalog der menschlichen Gesellschaft (J Tugenden und Laster). Den reinen und keuschen T.en (Biene57) standen solche mit verwerflichen Eigenschaften gegenüber (diebische J Elster) ⫺ Differenzierungen und Wertungen, die aus der Klassengesellschaft des Industriezeitalters stammen. In dieser neu entstehenden Kultur58, die sich bereits in literar. Bildern wie E. T. A. J Hoffmanns Meister Floh (1822; J Floh) abzeichnete, war eine Voraus-
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setzung für die breite Wahrnehmung der von C. Darwin entwickelten Evolutionstheorie geschaffen, die das alte Kontrastbild von J Affe und Mensch59 auf den Kopf stellte und neue Fremdheiten hervorbrachte (z. B. Sozialdarwinismus)60. T.märchen und T.geschichten sind ein beliebtes Sujet der Kinderliteratur61 wie etwa Lewis Carolls J Alice im Wunderland, Hugh Loftings J Doctor Dolittle oder Erich Kästners Die Konferenz der Tiere (1949) belegen. Aus der alltäglichen Präsenz von T.en in der Umwelt des Menschen erklärt sich ihre Beliebtheit in Witz, Karikatur und komischer Lit.62 Anthropomorphisierungen von T.en in den Unterhaltungsmedien, die sie als Sympathieträger (J Delphin) oder Monster (Hai) aufbereiten, greifen auf stereotype Darstellungen in literar. und mündl. Erzählungen zurück, spiegeln einen anthropozentrischen Umgang mit dem T. wider und zeigen Projektionen menschlicher Ängste und Wünsche. Das alte Motiv von Tierorganen als Ersatz (AaTh/ATU 660: Die drei J Doktoren) ist in Erzählungen über Herztransplantationen aktualisiert63, schürt die Furcht vor dem Überschreiten der Artengrenze und zeigt doch die Notwendigkeit, über das Verhältnis von Mensch und T. aus ethischer und moralphil. Sicht nachzudenken64. 1 Dinzelbacher, P. (ed.): Mensch und T. in der Geschichte Europas. Stg. 2000; Becker, S./Bimmer, A. C. (edd.): Mensch und T. Kulturwiss. Aspekte einer Sozialbeziehung. Marburg 1991; Münch, P./ Walz, R. (edd.): T.e und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses. Paderborn 1998. ⫺ 2 Benecke, N.: Der Mensch und seine Haustiere. Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung. Stg. 1994. ⫺ 3 cf. Weick, R.: Der Habicht in der dt. Dichtung des 12. bis 16. Jh.s. Göppingen 1993. ⫺ 4 Kaufmann, A.: Über T.liebhaberei im MA. In: Hist. Jb. der Görres-Ges. 5 (1984) 399⫺423. ⫺ 5 Oeser, E.: Pferd und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung. Darmstadt 2007; Wieczorek, A./Tellenbach, M. (edd.): Pferdestärken. Das Pferd bewegt die Menschheit. Mainz 2007. ⫺ 6 Hennebert, E.: Histoire militaire des animaux. P. 1893. ⫺ 7 Marzolph/ van Leeuwen 2, 476⫺478; Eisenstein, H.: Mensch und T. im Islam. In: Münch/Walz (wie not. 1) 121⫺ 145. ⫺ 8 cf. Huhn, V.: Löwe und Hund als Symbole des Rechts. In: Mainfränk. Jb. für Geschichte und Kunst 7 (1955) 1⫺63. ⫺ 9 cf. z. B. Brednich, R. W.: Die Spinne in der Yucca-Palme. Mü. 1990, 94⫺100; id.: Pinguine in Rückenlage. Mü. 2004, 19⫺30; Klintberg, B. af: Die Ratte in der Pizza. Kiel 1990;
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Fischer, H.: Der Rattenhund. Köln 1991, 66 sq., 69⫺ 72, 102⫺118; Campion-Vincent, V.: Contemporary Legends about Animal-Releases in Rural France. In: Fabula 31 (1990) 242⫺253; Barloy, J.-J.: Rumeurs sur les animaux myste´rieux. In: Communications 52 (1990) 197⫺218; Burger, P.: De Wraak van de kangoeroe. Amst. 1993, 129⫺139. ⫺ 10 Schenda, R.: Das ABC der T. e. Märchen, Mythen und Geschichten. Mü. 1995; Schwab, U. (ed.): Das T. in der Dichtung. Heidelberg 1970; Newall, V.: Discovering the Folklore of Birds and Beasts. Tring 1971; Porter, J. R./ Russel, W. M.: Animals in Folklore. Norwich 1978; Tremain, R.: The Animals’ Who’s Who. 1146 Celebrated Animals in History, Popular Culture, Literature, and Lore. L. 1982; Top, S.: Dieren in het volksleven. Löwen 1993. ⫺ 11 cf. z. B. Schwarzbaum, Fox Fables; Marzolph, Arabia ridens, Reg. s. v. T. ⫺ 12 Moser-Rath, Schwank, 221, 240; cf. Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 241. ⫺ 13 Falkner, C.: Sagen aus dem Ötztal. In: Ötztaler Buch. Innsbruck 1963, 111⫺182, hier 159 sq.; Felle, M.: Adlerfang und Adlerjagd im Oberallgäu. Ein Beitr. zur Jagdgeschichte des 19. Jh.s. In: Dona ethnologica Monacensia. Festschr. L. Kretzenbacher. Mü. 1983, 45⫺65; Rheinheimer, M.: Die Angst vor dem Wolf. Werwolfglaube, Wolfssagen und Ausrottung der Wölfe in Schleswig-Holstein. In: Fabula 36 (1995) 25⫺78; cf. Campion-Vincent, V.: Le Fait du loup. De la peur a` la passion. Le renversement d’une image. Grenoble 2002. ⫺ 14 Malinar, A.: Wechselseitige Abhängigkeiten und die Hierarchie der Körper. Zum Verhältnis zwischen T.en und Menschen in hinduist. Traditionen nach der episch-puranischen Lit. In: Münch/Walz (wie not. 1) 147⫺177; Schmithausen, L./Maithrimurthi, M.: T. und Mensch im Buddhismus. ibid., 179⫺ 224. ⫺ 15 Boessneck, J.: Die T.welt des Alten Ägypten. Mü. 1988; Houlihan, P. F.: The Animal World of the Pharaos. Kairo 1996; Störk, L.: T.e im Alten Ägypten. In: Münch/Walz (wie not. 1) 87⫺119; Brunner-Traut, E.: Altägypt. T.geschichte und Fabel. Darmstadt 61980. ⫺ 16 Dierauer, U.: Das Verhältnis von Mensch und T. im griech.-röm. Denken. In: Münch/Walz (wie not. 1) 37⫺85; Toynbee, J. M. C. (ed.): Animals in Roman Life and Art. Ithaca 1973; Giebel, M.: T.e in der Antike. Von Fabelwesen, Opfertieren und treuen Begleitern. Darmstadt 2003. ⫺ 17 Douglas, N.: Birds and Beasts of the Greek Anthology. L. 1928. ⫺ 18 cf. Robinson, M. W.: Fictitious Beasts. A Bibliogr. L. 1961; Barber, R. W./Riches, A.: A Dict. of Fabulous Beasts. L. 1971; South, M. (ed.): Mythical and Fabulous Creatures. N. Y. 1987; Schöpf, H.: Fabeltiere. Graz 1988; Grambo, R.: Enhjørning, Kentaur og Verdenstre. In: Livstegn 6 (1989) 12⫺25; Pascual, L. M.: La tradicio´n animalistica en la literatura catalana medieval. Alicante 1996; Cherry, J. (ed.): Fabeltiere. Stg. 1997. ⫺ 19 Vroede, E. de: Menschen spielen mit T.en. Ganswurf, Gansritt, Hahnenschlagen. In: Bekker/Bimmer (wie not. 1) 61⫺81. ⫺ 20 Steffek, H.-W.: Die Finkenvögel in Sprache und Volksleben der Su-
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Tier, Tiere
detendeutschen. In: Jb. für ostdt. Vk. 21 (1978) 180⫺ 245; Becker, S.: Die Legende vom Christvogel. Zur Regionalität und Ökotypik aitiologischer Deutungen im Volksglauben Tirols. In: Petzoldt, L. (ed.): Studien zur Stoff- und Motivgeschichte der Volkserzählung. Ffm. u. a. 1995, 177⫺198. ⫺ 21 Cle´bert, J. P.: Dict. du symbolisme animal. P. 1971; Biancotto, G.: Bestiaires du moyen aˆge. P. 1980; Friedman, H.: A Bestiary for St. Jerome. Animal Symbolism in European Religious Art. Wash. 1980; Farkas, A. (ed.): Monsters and Demons in the Ancient and Medieval Worlds. Mainz 1987; Muratova, X./Poirion, D.: Le Bestiaire. P. 1988; Clark, W. B./Munn, M. T. (edd.): Beasts and Birds of the Middle Ages. Phil. 1989; George, W.: The Naming of the Beasts. Natural History in the Medieval Bestiary. L. 1991; Voisenet, J.: Bestiaire chre´tien. Toulouse 1994; Hassig, D.: Medieval Bestiaries. Cambr. 1995; Morini, L. (ed.): Bestiari medievali. Turin 1996; Febel, G./Maag, G. (edd.): Bestiarien im Spannungsfeld zwischen MA. und Moderne. Tübingen 1997. ⫺ 22 Michel, P.: T.symbolik. Bern/B. 1991; id.: T.e als Symbol und Ornament. Möglichkeiten und Grenzen der ikonographischen Deutung, gezeigt am Beispiel des Zürcher Großmünsterkreuzgangs. Wiesbaden 1979; Hicks, C.: Animals in Early Medieval Art. Edinburgh 1993; Wolff-Quenot, M. J.: Bestiaire de pierre. Le symbolisme des animaux dans les cathe´drales. Straßburg 1992; Miquel, D. P.: Zoologie mystique. Dictionnaire symbolique des animaux. P. 1991; Schmidtke, D.: Geistliche T.interpretation in der dt.sprachigen Lit. des MA.s (1100⫺1500). Diss. B. 1966; Achermann, A.: Les Animaux de la sculpture me´die´vale en France. Toulouse 1970; Collins, A. H.: Symbolism of Animals and Birds, Represented in English Church Architecture. L./N. Y. 1913. ⫺ 23 Portier, L.: Le Pe´lican. Histoire d’un symbole. P. 1984; Reinitzer, H.: Kinder des Pelikans. In: id. (ed.): All’ Geschöpf ist Zung’ und Mund. Beitr.e aus dem Grenzbereich von Naturkunde und Theologie. Hbg 1984, 191⫺260; Gerhardt, C.: Die Metamorphosen des Pelikans. Exempel und Auslegung in ma. Lit. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, 17; id.: Arznei und Symbol. Bemerkungen zum altdt. Geiertraktat mit einem Ausblick auf das Pelikanexempel. In: Harms, W./ Reinitzer, H. (edd.): Natura loquax. Ffm./Bern/Cirencester 1981, 109⫺182. ⫺ 24 Leibbrand, J.: Speculum bestialitatis. Die T.gestalten der Fastnacht und des Karnevals im Kontext christl. Allegorese. Mü. 1989. ⫺ 25 Köpf, U.: Bemerkungen zum franziskan. Schöpfungsverständnis. In: Wölfel, E. (ed.).: Unsere Welt ⫺ Gottes Schöpfung. Marburg 1992, 65⫺76; Feld, H.: Beseelte Natur. Franziskan. T.erzählungen. Tübingen 1993. ⫺ 26 Kretzenbacher, L.: Christus der Gute Hirte tränkt als Blutquell seine Schäflein. Zu den bibl. Grundlagen eines volksbarocken Bildgedankens in der Steiermark und in Kärnten. In: Bekker, S. (ed.): Volkskundliche Tableaus. Münster 2000, 157⫺168. ⫺ 27 Nilgen, U.: Evangelisten und Evangelistensymbole. In: LCI 1 (1968) 696⫺713; List, C.: T. e. Gestalt und Bedeutung in der Kunst.
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Stg./Zürich 1993, 65⫺88. ⫺ 28 Ohly, F.: Halbbibl. und außerbibl. Typologie [1975]. In: id.: Schr. zur ma. Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977, 361⫺ 390. ⫺ 29 Sälzle, K.: T. und Mensch ⫺ Gottheit und Dämon. Das T. in der Geistesgeschichte der Menschheit. Mü. 1965. ⫺ 30 Sterck, R.: The Animal and the Daemon in Early China. Albany 2002. ⫺ 31 Janowski, B./Neumann-Gorsolke, U./Gleßmer, U. (edd.): Gefährten und Feinde des Menschen. Das T. in der Lebenswelt des alten Israel. Neukirchen-Vluyn 1993; cf. Messelken, H.: Die Signifikanz von Rabe und Taube in der ma. Lit. Diss. Köln 1965. ⫺ 32 Lixfeld, H.: Gott und Teufel als Weltschöpfer. Eine Unters. über die dualistische T.erschaffung in der europ. und außereurop. Volksüberlieferung. Mü. 1971; Blankenburg, W. von: Heilige und dämonische T. e. Lpz. 21975; Sälzle (wie not. 29). ⫺ 33 cf. Kühnel, H.: Die Fliege ⫺ Symbol des Teufels und der Sündhaftigkeit. In: Tauber, W. (ed.): Aspekte der Germanistik. Göppingen 1989, 285⫺305. ⫺ 34 cf. Altendorf, H.-D.: Die Entstehung des theol. Höllenbildes in der Alten Kirche. In: Jezler, P. (ed.): Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im MA. (Ausstellungskatalog) Zürich 1994, 27⫺32. ⫺ 35 cf. Abel, O.: Die vorweltlichen T.e in Märchen, Sage und Aberglaube. Karlsruhe 1923. ⫺ 36 Jauß, H.-R.: Unters.en zur ma. T.dichtung. Tübingen 1959; Ziolkowski, J.: Talking Animals. Medieval Latin Beast Poetry 750⫺1150. Phil. 1993; Bichon, J.: L’Animal dans la litte´rature franc¸aise au XIIe`me et XIIIe`me sie`cles. Lille 1976. ⫺ 37 z. B. Ansell, R. P.: Animal Lore in English Literature. L. 1932; Houwen, L. (ed.): Animals and the Symbolic in Medieval Art and Literature. Groningen 1997; Niderst, A. (ed.): L’Animalite´. Hommes et animaux dans la litte´rature franc¸aise. Tübingen 1994. ⫺ 38 Reidt, J. P.: Die Heiligen und die T.welt. Dülmen 1902; Falsett, H.-J.: Ir. Heilige und T.e in ma. lat. Legenden. Diss. Bonn 1960; Gerlach, P.: T., T. e. In: LCI 4 (1972) 315⫺317; Herzog, U.: Vorschein der neuen Erde. Der Heilige und die T.e in der ma. Legende. In: Verborum amor. Studien zur Geschichte und Kunst der dt. Sprache. Festschr. S. Sonderegger. B./N. Y. 1992, 249⫺262; Elsensohn, F.: T.e der Heiligen. Ein kleines Stundenbuch der Heiligen und ihrer Legendentiere. Bern 2002. ⫺ 39 Dotzler, A.: Die T.e in der christl. Legende. Regensburg 21901; Günter, H.: Legenden-Studien. Köln 1906, 32⫺35, 96, 128, 158 sq.; id.: Die christl. Legende des Abendlandes. Heidelberg 1910, 14⫺31, 56⫺70, 80⫺84; Günter 1949, 33, 45 sq., 144 sq., 154, 178⫺184; Loomis, C. G.: White Magic. 1948, 58⫺70. ⫺ 40 Tubach, num. 4084, 5082. ⫺ 41 Gramlich, R.: Die Wunder der Freunde Gottes. Theologien und Erscheinungsformen des islam. Heiligenwunders. Wiesbaden 1987. ⫺ 42 Pangritz, W.: Das T. in der Bibel. Mü./Basel 41963. ⫺ 43 Hepding, H.: Hess. Hausinschriften und byzant. Rätsel. In: HessBllfVk. 12 (1913) 161⫺182. ⫺ 44 z. B. Harms, W. (ed.): Ill. Flugblätter der Reformation und der Glaubenskämpfe. Coburg 1983, num. 19; Schmidt, P.: Die Illustration der Lutherbibel 1522⫺1700. Ba-
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Tier: Das unterschobene T
sel 1977, 101, 213, 244, 262⫺265, 401⫺409, 420⫺ 424. ⫺ 45 cf. Davenport, W.: Bird Poems from the Parliament of Fowls to Philip Sparrow. In: Boffey, J./Cowen, J. (edd.): Chaucer and Fifteenth-Century Poetry. L. 1991, 66⫺83; Sax, B.: The Parliament of Animals. Anecdotes and Legends from Books of Natural History 1775⫺1900. N. Y. 1992. ⫺ 46 Leubuscher, R.: Ueber die Wehrwölfe und Thierverwandlungen im MA. (B. 1850) Nachdr. Allmendingen 1981. ⫺ 47 Aiken, P.: The Animal History of Albertus Magnus and Thomas of Cantimpre´. In: Speculum 22 (1947) 205⫺225. ⫺ 48 Dittrich, S. und L.: Lex. der T.symbole. T.e als Sinnbilder in der Malerei des 14.⫺17. Jh.s. Petersberg 2004. ⫺ 49 cf. Ohly (wie not. 28). ⫺ 50 Jones, M.: Folklore Motifs in Late Medieval Art. Erotic Animal Imagery. In: FL 102 (1991) 192⫺219. ⫺ 51 Fuchs, E.: Ill. Sittengeschichte 2. ed. T. Huonker. Ffm. 1985, 16. ⫺ 52 id.: Geschichte der erotischen Kunst 1⫺3. Mü. 1928 (Nachdr. B. 1977). ⫺ 53 cf. Afanas’ev, A. N.: Russkie zavetnye skazki (Russ. geheime Märchen). M. 1994. ⫺ 54 Röhrich, L.: Wage es, den Frosch zu küssen! Das Grimmsche Märchen Nummer Eins in seinen Wandlungen. Köln 1987; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 2 sq.; cf. dagegen 94 sq. ⫺ 55 Löfgren, O.: Natur, T.e und Moral. Zur Entwicklung der bürgerlichen Naturauffassung. In: Jeggle, U. u. a. (edd.): Volkskultur in der Moderne. Reinbek 1986, 122⫺144. ⫺ 56 ibid.; Schmoll, F.: Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im dt. Kaiserreich. Ffm./N. Y. 2004, 237⫺383. ⫺ 57 Schenda, R.: Die Verfleissigung der Deutschen. Materialien zur Indoktrination eines Tugend-Bündels. In: Jeggle (wie not. 55) 88⫺108; Bekker, S.: Der Bienenvater. In: Becker/Bimmer (wie not. 1) 163⫺194. ⫺ 58 Buchner, J.: Kultur mit T.en. Zur Formierung des bürgerlichen T.verständnisses. Münster/N. Y. 1996. ⫺ 59 Corbey, R./Theunissen, B. (edd.): Ape, Man, Apeman. Changing Views since 1600. Leiden 1995; Ingensiep, H. W.: Mensch und Menschenaffe. In: Münch/Walz (wie not. 1) 429⫺ 446. ⫺ 60 Wiedenmann, R.: Die Fremdheit der T. e. Zum Wandel der Ambivalenz von Mensch-T.-Beziehungen. ibid., 351⫺381. ⫺ 61 Haas, G.: T.buch. In: LKJ 3 (1984) 538⫺541; Blount, M.: Animal Land. The Creatures of Children’s Fiction. L. 1974; Grieser, D.: Im T.garten der Weltlit. Auf den Spuren von Kater Murr, Biene Maja, Bambi, Möwe Jonathan und den anderen. Mü. 1991. ⫺ 62 Dorson, R. M.: Man and Beast in American Comic Legend. Bloom. 1982; Röhrich, L.: Ausgemachte Viechereien. Fbg 1977. ⫺ 63 WiebelFanderl, O.: „Herz tot, Patient wohlauf “. Ein Beitr. zur metaphorischen Repräsentation von Transplantationserlebnissen. In: Natur und Kultur. ed. R. W. Brednich/A. Schneider/U. Werner. Münster u. a. 2001, 405⫺413. ⫺ 64 Gräfrath, B.: Zwischen Sachen und Personen. Über die Entdeckung des T.es in der
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Moralphilosophie. In: Münch/Walz (wie not. 1) 383⫺405.
Marburg
Siegfried Becker
Tier: Das unterschobene T. (AaTh/ATU 1440), seit dem MA. bekannte schwankhafte Erzählung. Im Unterschied zu der listigen Substitution eines T.s für einen vom Ehemann ertappten Liebhaber in AaTh/ATU 1419 B: J Bock im Schrank handelt es sich hier um das Unterschieben eines T.s (Pferd, Esel, Kalb, Ziege) anstelle der begehrten Frau im Bett: Ein Bischof macht einer schönen Müllerin auf dem Markt Anträge und lädt sie zum Abendessen ein. Sie sagt, ihr Name sei ,Frau Eslerin‘. Sein Knecht kommt bei ihrem Mann ,Frau Eslerin‘ abholen, dieser gibt ihm eine Eselin mit, die zurechtgemacht und ins Bett gelegt wird. Der Bischof springt nackt ins Bett, bemerkt seinen Irrtum und ersticht wütend die Eselin. Der Müller erstreitet vor Gericht auch noch Schadenersatz.
Ältester Beleg für AaTh/ATU 1440 ist ein Lied, das im 15. Jh. erstmals hs. nachgewiesen ist1 und als Flugblattballade im 16./17. Jh. in Deutschland2 und im 18./19. Jh. in England3 sehr populär war. Das teilweise recht obszöne4 Erzähllied fand in mehrere Liederbücher5 und in den Meistersang6 Eingang. Die dt. Ballade hat eine für das 16. Jh. typische antiklerikale Tendenz7, die hier durch den Verdacht der J Sodomie, den der Geistliche durch Töten des T.s abwehren will, extrem gesteigert ist. In der engl. Ballade, in der ein Gutsherr mit der Frau seines armen Müllers schlafen will, findet sich statt dessen eine antifeudale Tendenz. Mitte des 16. Jh.s fand eine Prosaauflösung des Lieds Aufnahme in Martin J Montanus’ Gartengesellschaft8 und gelangte von dort in Schwankbücher des 17. Jh.s9. Die aus der mündl. Überlieferung aufgezeichneten Prosafassungen des 19./20. Jh.s gehen wahrscheinlich auf diese Schwankbücher zurück. Ein Bauer (Müller) verspricht seine Tochter gegen ihren Willen seinem (alten, häßlichen) Herrn (Nachbarn). Am Hochzeitstag schickt der Herr seinen Knecht, das abzuholen, ,was ihm versprochen wurde‘. Der Vater schickt ihn auf das Feld, auf dem seine Tochter arbeitet, und diese gibt dem Knecht eine Stute (Eselin, Kalb). Sein Herr sagt ihm, er solle das Gebrachte ins Schlafzimmer bringen. (Die Stute wird als Braut gekleidet und ins Bett gelegt.) In einigen Var.n nennt die Tochter sich (nennt der Vater
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Tieramme
sie) ,Frau Pferd‘ (,Frau Esel‘). Als der Herr nach ,Frau Pferd‘ fragt, bringt der Knecht ein wirkliches T. Der düpierte Herr wird zum allgemeinen Gespött.
Der inhaltlich recht einheitliche Schwank ist vor allem im nördl. und östl. Europa verbreitet (norw.10, schwed.11, finn.12, estn.13, lett.14, russ.15, ung.16). Doch auch in Irland17, im span.18 und port.19 Sprachraum sowie im frz.sprachigen Kanada20 erfreute er sich einiger Beliebtheit. In den frankokanad. Var.n ist der Schwank mit AaTh/ATU 1535: J Unibos, AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit und AaTh/ ATU 1785: The Clergyman Put to Flight During His Sermon verbunden21, in chilen. mit AaTh/ATU 1730 B*: cf. J Liebhaber bloßgestellt und AaTh/ATU 1781: Sexton’s Own Wife Brings Her Offering22. In einer vage vergleichbaren jap. Erzählung wird die Braut in der Sänfte gegen ein Kalb ausgetauscht und dieses ins Hochzeitsbett gelegt23. In einer ung. Erzählung schiebt der Trickster einer dummen Braut in der Hochzeitsnacht im Bett eine Ziege als Bräutigam unter24. 1
Anzeiger für Kunde der teutschen Vorzeit 7 (1838) 67⫺71. ⫺ 2 Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977, num. D 42. ⫺ 3 ibid., num. E 45; Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm. u. a. 1979, 427 sq. ⫺ 4 Erk/Böhme, num. 155 (nur Abdruck der ersten Strophe des Lieds, das „ein häßliches kulturhistorisches Sittenbild entrollt“). ⫺ 5 Roth (wie not. 2) 324 sq. ⫺ 6 Hartmann, A.: Dt. Meisterlieder-Hss. in Ungarn. Mü. 1894, 68. ⫺ 7 Roth (wie not. 2) 235. ⫺ 8 Montanus/Bolte, num. 105. ⫺ 9 Kirchhof, Wendunmuth 4, 246; EM-Archiv: Melander 1 (1604) 702; de Memel, Lustige Gesellschaft (1656) 398; Schau-Platz der Betrieger (1687) 448. ⫺ 10 Hodne; Kvideland, R.: Norske eventyr. Bergen 1972, num. 49; id./Eirı´kson, H. Ö.: Norw. und isl. Volksmärchen. B. 1988, num. 49. ⫺ 11 Liungman 2, 314 sq.; Sahlgren, J./Liljeblad, S.: Svenska sagor och sägner 2. Stockholm 1938, num. 33. ⫺ 12 Rausmaa, SK 6, 478. ⫺ 13 cf. Aarne, A.: Estn. Märchen- und Sagenvar.n (FFC 25). Hamina 1918, num. 1191*. ⫺ 14 Ara¯js/Medne. ⫺ 15 SUS. ⫺ 16 ´ Su´illeabha´in/Christiansen. ⫺ 18 LoMNK. ⫺ 17 O renzo Ve´lez, A.: Cuentos anticlericales de tradicio´n oral. Valladolid 1997, num. 25 sq.; Pino Saavedra, num. 217. ⫺ 19 Cardigos; Soromenho, A. da Silva und P. Caratwo: Contos populares portugueses (ine´ditos) 2. Lissabon 1984, num. 500, 501. ⫺ 20 Le-
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mieux, G.: Les Vieux m’ont conte´ 1. Montre´al 21977, num. 6; ibid. 2 (1974), num. 4; ibid. 3 (1982), num. 1. ⫺ 21 wie not. 20. ⫺ 22 Pino Saavedra, num. 217. ⫺ 23 Ikeda, num. 896. ⫺ 24 Be´res, A.: Rozsa´lyi ne´pmese´k. Bud. 1967, num. 89.
München
Klaus Roth
Tieramme (Mot. B 535). Weibliche Tiere als Ernährerinnen und Ziehmütter alleingelassener, ausgesetzter (J Aussetzung) oder von ihnen geraubter Menschenkinder spielen seit der Antike eine Rolle in den Kindheitsschilderungen von Göttern, Helden und Heiligen (cf. J Speisewunder): Eine Ziege ernährt den J Zeus und den Asklepios, eine Bärin die J Atalante und den Paris, eine Hirschkuh den Telephos, eine Wölfin J Romulus und Remus, eine Hündin den J Kyros1; zum Schutz vor der Verfolgung durch den dämonischen König Z˙ahø hø a¯k wird der pers. Held Fereidun von seiner Mutter in die Obhut des Besitzers einer Wunderkuh gegeben (J Firdausı¯)2. Wölfinnen und Hündinnen J säugen ir. Heilige und Helden3, eine Hirschkuh den hl. J Stephan; eher indirekte Ernährerinnen scheinen die weißen Kühe ir. Heiligenlegenden zu sein4. In der weltlichen Lit. des MA.s werden Helden wie J Octavian (cf. auch J Reali di Francia) oder Lion de Bourges5 von einer Löwin gesäugt, ähnlich wird Orson (J Valentin und Orson) von einer Bärin, Wolfdietrich von Wölfen ernährt6, Paris dagegen in dt. Fassungen des J Troja-Romans von einer Hirschkuh oder einer wilden Hündin7; eine Hirschkuh nährt auch das Kind der J Genovefa. In Anlehnung an diese tradierten Muster erzählen Märchen von verlassenen Säuglingen, die von verschiedenen Haustieren (darunter Schweinen und Stuten), von Hirschkühen, Gazellen, selbst Tigerinnen gesäugt werden8; in einer dt. Var. von AaTh/ ATU 650 A: J Starker Hans ernährt eine Bärin nicht nur das von ihr verschleppte Kind, sondern auch dessen Mutter mit Bärenmilch und Fleisch (cf. J Bärensohn)9. Als Kinderräuberinnen und -ernährerinnen erscheinen im südafrik. Erzählgut Löwinnen und Hyänen10, bei den indigenen Völkern Südamerikas fungieren u. a. Jaguare als T.n11. Weltweit populäre Phantasiefiguren des 20. Jh.s sind Mowgli, der Zögling einer Wölfin in Rudyard Kiplings Dschungelbuch12, und der von einer Affenmutter gesäugte J Tarzan. Kiplings Inspirationsquelle dürfte wohl unter den zahlreichen, Authentizität beanspruchenden Berichten über Wild- oder Wolfskinder zu suchen sein, die bes. gehäuft aus Indien vorliegen13.
Das Spektrum der T.n erstreckt sich also von den klassischen Milchlieferanten des Men-
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Tieramme
schen über Haustiere, die zu anderen Zwecken gehalten werden, und positiv konnotierte scheue Wildtiere ⫺ bes. die Hirschkuh, die in der Hagiographie häufig auch als Nährerin erwachsener Heiliger erscheint14 ⫺ bis hin zu gefährlichen Raubtieren. Die karnivoren T.n sehen in den Kindern zunächst nur eine Beute, können jedoch dem Charisma der Geraubten nicht widerstehen; mit ihrer J Milch verleihen sie ihnen außergewöhnliche J Stärke. In den Mythen altai. Turkvölker können die Wolfsamme und ihr Zögling zu Stammeltern der jeweiligen Gemeinschaft werden15. Das Gelingen der unlösbar scheinenden J Aufgabe, J Löwen-, Bären- oder Wolfsmilch zu holen, in Abenteuermärchen wie AaTh/ATU 315: Die treulose J Schwester ist möglicherweise in Analogie zur rituellen J Adoption durch Jenseitswesen zu verstehen, die in ähnlichen Erzählkontexten vorkommt. In einer Reihe von Mythen teilt sich das Säugetier die Ernährerrolle mit einem Vogel, wobei diese Zieheltern heilige bzw. numinose Tiere sind: Ein Specht steht der Wölfin in der Erzählung von Romulus und Remus zur Seite, eine Krähe assistiert ihr in der Kindheitsgeschichte von Kun-mo, dem späteren Herrscher der Wu-sun (möglicherweise Vorfahren der Kasachen), sowie im mongol. J DzˇangarEpos und in der Legende eines buddhist. Mönchs aus dem 20. Jh.16 Nährende Vögel sind oft auch die alleinigen Erhalter von Menschenkindern: Es heißt, J Semiramis sei nach ihrer Aussetzung von Tauben gefüttert, der pers. Held Za¯l17 vom Riesenvogel Simorg˙ (J Phönix, Kap. 4.2) großgezogen worden. Im ind. Märchen von der Storchentochter (Thompson/Roberts 709 A: The Stork’s Daughter)18 wird das Kind armer Eltern von einem Storchenpaar (Krähen, Adler) aufgenommen (entführt), liebevoll aufgezogen und mit Kostbarkeiten überhäuft19.
Schließlich spielen als Nährmütter auch Bienen eine Rolle, in J Vergils Georgica (4,152) etwa des Zeus; Kindern, die später große Dichter, Gelehrte oder Heilige wurden, sollen sie mit ihrem J Honig die Kunst der Rede eingeflößt haben20. In der Mythologie sind T.nvorstellungen allerdings teilweise fließend: So ist die Ziege, die den Zeus in der kret. Höhle nährt, eine Transformationsfigur der Nymphe Amaltheia (oder Aix) mit dem Füllhorn21; hinter den Bienen, die Zeus und seinen
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Sohn Melitheos22 erhalten, könnten sich Priesterinnen oder Nymphen23 verbergen; schon bei Plutarch (Vitae parallelae, Romulus 4) findet sich eine rationalisierende Deutung der kapitolin. Wölfin als Prostituierte (lupa); und der Löwe, der das Kind Ottaviano geraubt hat, erweist sich im 2. Buch der Reali di Francia als der hl. Markus. Pervertiert ist das Motiv der T. im Bild der ,Judensau‘ bzw. des Milch oder Urin eines Mutterschweins trinkenden ,Saujuden‘, das seit dem 13. Jh. auf Reliefs und Skulpturen vor allem dt. Kirchen sowie in Buch- und Flugblattillustrationen erscheint, als antijüd. Gleichnis auch Eingang in die Lit. fand und später zur nationalsozialistischen Hetzparole wurde24. 1 Pauly/Wissowa 1,1 (1894) 1721; 1,2 (1896) 1650, 1891; 1,18,2,2 (1949) 1492; 2,9 (1934) 363 (Hündin wohl fälschlich für Hindin, cf. u. a. Kl. Pauly 5, 568); 2,1 (1914) 1080⫺1089; Günter 1949, 33; Günter 1910, 51. ⫺ 2 Ferdowsi, A.: Shahnameh. The Persian Book of Kings. N. Y. u. a. 2006, 16 sq. ⫺ 3 Cross A 511.10.2.1, T 611.10, T 611.10.2, cf. T 611.10.1. ⫺ 4 Plummer, C.: Bethada Na´em NE´renn/Lives of the Irish Saints 2. Ox. 1922, 122, 125, 129, 159; Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948, 22. ⫺ 5 Zur dt. Fassung, dem „Herpin“ der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, cf. Verflex. 2 (21980) 483 sq. ⫺ 6 Verflex. 10 (21999) 1315⫺1317. ⫺ 7 Birkhan B 535. ⫺ 8 Cosquin, E.: Le Lait de la me`re et le coffre flottant [1908]. In: id.: E´tudes folkloriques. P. 1922, 199⫺ 264, hier 214, 228, 259; Mode, H.: Zigeunermärchen aus aller Welt 4. Wiesbaden 1985, num. 197 (aus Rumänien); Boratav, P. N.: Türk. Volksmärchen. B. 1967, num. 35; Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1987, 544. ⫺ 9 Pröhle, H.: Märchen für die Jugend. Halle 1854, num. 29. ⫺ 10 Schmidt, num. 886, 1815. ⫺ 11 Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of South American Indians. General Index. L. A. 1992, B 535, B 535.0.4, B 535.0.8.⫹; cf. auch Thompson, S.: Tales of the North American Indians. Bloom./ L. 21966, 316 sq. (not. 146 b). ⫺ 12 Kipling, R.: The Jungle Book. L. 1894; Disney-Verfilmung: The Jungle Book. USA 1967 (Regie Wolfgang Reitherman). ⫺ 13 Blumenthal, P. J.: Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen. Wien/Ffm. 22003; cf. ferner Bruland, H.: Wilde Kinder in der Frühen Neuzeit. Stg. 2008; Goldstuck, A.: The Leopard in the Luggage. L. u. a. 1993, 54⫺65. ⫺ 14 Günter 1949, 130. ⫺ 15 Namu, J.: Myths and Traditional Beliefs about the Wolf and the Crow in Central Asia. In: Asian Folklore Studies 65 (2006) 161⫺177, hier 174 sq. ⫺ 16 ibid., 161⫺ 177. ⫺ 17 Ferdowsi (wie not. 2) 63⫺66. ⫺ 18 cf. ferner Wilbert/Simoneau (wie not. 11) B 535.0.7. ⫺ 19 Parker, H.: Village Folk-Tales of Ceylon 1. L. 1910,
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Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe
num. 12 (4 Var.n); Frere, M.: Old Deccan Days. L. 1889, num. 6. ⫺ 20 Pauly/Wissowa 3,1 (1897) 448; EM 2, 304. ⫺ 21 Pauly/Wissowa 1,1 (1894) 1130, 1721; Kl. Pauly 1, 287, 211. ⫺ 22 Pauly/Wissowa 3,1 (1897) 449. ⫺ 23 Pauly/Wissowa 15,1 (1931) 525⫺527; Kl. Pauly 3, 1176 sq.; 1, 899. ⫺ 24 Shachar, I.: The „Judensau“. A Medieval Anti-Jewish Motif and Its History. L. 1974.
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe 1. Allgemeines ⫺ 2. Gestaltungen in der europ. Lit. ⫺ 3. Zaubermärchen ⫺ 4. Gattungs- und figurenübergreifende Aspekte der internat. Überlieferung ⫺ 5. Deutungen
1 . All ge me in es. Liebesbeziehungen und erzwungene oder freiwillig eingegangene Ehen bzw. Verlöbnisse, in denen einer der Partner vor oder nach der Hochzeit als Tier (T.) erscheint (Mot. B 600⫺B 699), gehören zu den Hauptthemen des Zaubermärchens. Im Mittelpunkt der Handlung steht im allg. eine J Erlösung und/oder eine z. T. durch J Tabubruch ausgelöste J Suchwanderung. Die Thematik wird vor allem in folgenden Typenkomplexen behandelt: AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau, AaTh/ ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt, AaTh/ATU 425 sqq.: J Amor und Psyche (einschließlich AaTh 428/ATU 425 B: J Prinz als Wolf und AaTh/ATU 432: J Prinz als Vogel), AaTh 433, 433 A⫺C/ATU 433 B: J König Lindwurm, AaTh/ATU 441: J Hans mein Igel, AaTh/ATU 402: J Maus als Braut und AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen. Gattungsübergreifend spielen J Schwanjungfrau-Erzählungen und verwandte Überlieferungen eine Rolle. 2 . G es ta lt un ge n i n d er eu ro p. Li t. Zu den ma. Gestaltungen des Themenbereichs zählen die weitverzweigte J Melusine-Überlieferung, der Lai Yonec der J Marie de France (cf. AaTh/ATU 432), die lat. Versnovelle J Asinarius (AaTh/ATU 430), die Versromane Guinglain ou Le Bel Inconnu von Renaut de Beaujeu (Ende 12. Jh.; cf. 1. Teil von AaTh/ ATU 400 [1]) und J Friedrich von Schwaben (AaTh 401/ATU 400: J Prinzessin als Hirsch-
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kuh). In Italien war seit Ende des 15. bis ins 20. Jh. die Storia di Liombruno (AaTh/ATU 400 [1]) äußerst beliebt1. Breite internat. Rezeption erfuhren einige T.braut- und T.bräutigammärchen der Autorinnen des J Conte de fe´es2, vor allem La Belle et la Beˆte (AaTh/ATU 425 C: Beauty and the Beast) von Madame de J Villeneuve und Madame J Le Prince de Beaumont sowie Erzählungen von Madame d’ J Aulnoy, unter deren 23 Märchen sich allein sieben T.braut- und T.bräutigamgeschichten befinden. Elf Beispiele enthalten ferner die J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm3. 3 . Z au be rm är ch en. Im europ. Zaubermärchen sind im wesentlichen zwei Gruppen von T.partnern zu unterscheiden: einerseits verwandlungsfähige, meist übernatürliche Geliebte, andererseits erlösungsbedürftige Wesen, die verzaubert wurden (J T.verwandlung) oder in T.gestalt geboren sind (J T.geburt). Eine weitaus geringere Rolle spielen in Europa T.partner ohne anthropomorphen oder übernatürlichen Hintergrund ⫺ so in Erzählungen über das eheliche Zusammenleben menschlicher Frauen mit J Bären (J Bärensohn; AaTh/ATU 650 A: J Starker Hans), im span.port. Sprachbereich auch mit Affen4. Eine Sonderform der T.braut ist die Protagonistin von AaTh/ATU 408, die einer Frucht entsprungen und in einer oder mehreren Metamorphosen sowohl T. (vor allem J Fisch oder J Vogel) als auch Pflanze bzw. Pflanzenrest ist. Tierhafte Züge5 zeigen während der Zeit ihrer Abenteuer, in der sie am Rande der Gesellschaft leben, auch unverzauberte menschliche Märchenbräute und -bräutigame: die Aschenkatze6 und Allerleirauh bzw. Esels-, Schweine-, Katzen-, Mäusehaut7 (AaTh/ATU 510 A⫺B: J Cinderella) sowie der J Bärenhäuter (AaTh/ATU 361). In den eigentlichen T.braut- und T.bräutigammärchen tragen die verwandlungsfähigen oder erlösungsbedürftigen T.partner häufig die Gestalt schrecklicher J Schlangen oder J Drachen. Als Vögel besitzen männliche T.partner erotische Konnotationen; ansonsten präsentieren sie sich als abstoßend und widerwärtig wie das (Borsten-)Schwein oder der (Schwein-)Igel in AaTh/ATU 441, sie sind stark und furchterregend wie Bär oder J Wolf
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oder stellen das (Un-)T. schlechthin dar (AaTh/ATU 425 C). Anziehend und zutraulich wirken T.bräute in Gestalt von J Tauben, Schwimmvögeln oder Katzen; vielfach sind sie aber auch in Amphibien (Frösche, Kröten) oder Nagern (Mäuse, Ratten) verkörpert. Erlösungsbedürftige T.partner erscheinen u. a. als unerkannt Leidende und die Nähe von Mann und Kind Suchende (AaTh/ATU 408; AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut; AaTh/ATU 409: J Wolfsmädchen), als Helferinnen (AaTh/ATU 402), als sich aufdringlich (AaTh/ATU 440: J Froschkönig) oder mutwillig Gebärdende (AaTh/ATU 441; AaTh/ATU 409 A: The Girl as Goat). Der Grund für die Ungestalt des T.partners wird oft nicht mitgeteilt, vielfach geht diese aber auf den übereilten Wunsch eines Elternteils (KHM 108, AaTh/ATU 441: „Ich will ein Kind haben, und sollt’s ein Igel sein“) oder ein anderes Fehlverhalten in Zusammenhang mit der lange unerfüllten Sehnsucht nach einem Kind zurück (J Empfängnis: Wunderbare E.)8; manchmal ist das T. auch von Kinderlosen adoptiert worden (AaTh/ATU 425 D: The Vanished Husband ). Bräute oder junge Ehefrauen wiederum werden oft von neidischen Gegenspielerinnen verzaubert oder machen nach Anschlägen auf ihr Leben eine Metamorphose durch. Furchtlosigkeit, Selbstüberwindung, Geduld und Freundlichkeit des erlösenden Partners, in AaTh/ATU 425 sqq. die Liebe zum verschwundenen Ehemann stellen die Voraussetzung zur Erlösung dar (cf. J Bewährungsprobe). Ein häufiges Erlösungsmittel bildet das Verbrennen der J T.haut, daneben spielen andere als destruktiv erscheinende Maßnahmen wie Auspeitschung oder Enthauptung, aber auch Beischlaf, Küsse oder Zärtlichkeiten eine Rolle9. So ist die Entzauberung des Froschkönigs nach allg. Vorstellung oft mit einem Kuß verbunden10, obwohl sie in der dominierenden Grimm-Fassung (KHM 1) des Märchens durch einen Akt der Zerstörung und Auflehnung erfolgt. Die übernatürlichen männlichen Partner der T.bräutigammärchen bedienen sich der T.verwandlung, um Liebesverhältnisse anzuknüpfen, und entziehen sich der menschlichen Geliebten, nachdem diese ein Verbot übertreten oder ein Geheimnis verraten hat (AaTh/ ATU 425 sqq., AaTh/ATU 432). Dagegen wer-
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den weibliche übernatürliche Wesen oft von menschlichen Männern ihrer Hüllen (d. h. ihrer wahren Natur) beraubt, zur Ehe gezwungen (AaTh/ATU 400 [3]) und erlangen ihre Freiheit erst zurück, als sie T.haut oder J Federkleid wiederfinden. In beiden Fällen kommt es im Zaubermärchen nach langer Suche und J Prüfung des menschlichen Partners jedoch zu einer glücklichen Wiedervereinigung. Anders gelagert sind Problematik und Figurenkonstellation in AaTh/ATU 552: J T.schwäger: Hier werden menschliche Frauen z. T. entführt (J Brautraub; J Entführung), z. T. sind sie Gegenstand eines Handels zwischen dem Vater und den Freiern, die (z. B. als Bär, Adler, Delphin) oft Züge von J T.königen oder J Herren der T.e tragen und im Verlauf der Handlung als Helfer des Helden agieren. 4 . G at tu ng s- un d f ig ur en üb ergr ei f en de As pe kt e d er in te rn at . Ü be rl ie fe r un g. Die Unmöglichkeit einer exakten Abgrenzung nicht nur der Erzähltypen, sondern auch der Phänomenologie der Figuren sowie der Erzählgattungen wird an AaTh/ATU 400 und 425 sqq. deutlich, die zu den ältesten Märchenformen überhaupt gehören und in denen anthropomorphe, meist übernatürliche Wesen und T.partner austauschbar sind. So erscheint in der frühesten Quelle für AaTh 425 sqq., den Metamorphosen des J Apuleius, der Gott Amor als übernatürlicher Gatte (ein Schlangenmonstrum als Ehemann wird aber suggeriert)11, und in J Basiles Bearb.en des Amor und Psyche-Komplexes (2,2; 2,9; 5,4) treten nur anthropomorphe Liebhaber auf. Es scheint sich in diesen frühen literar. Gestaltungen jedoch weniger um ursprüngliche Formen als um Rationalisierungen oder um Euphemisierungen einer die J Sodomie tangierenden Motivik zu handeln, denn in der klassischen Mythologie finden sich tiergestaltige Liebhaber in großer Zahl (cf. z. B. J Zeus). In Ostasien weit verbreitet sind an den Amor und Psyche-Komplex erinnernde Erzählungen über die Liebesbeziehung bzw. Besuchsehe zwischen einer menschlichen Frau und einem Unsichtbaren oder in menschlicher Gestalt Erscheinenden, der in frühen Belegen (in Japan seit der 1. Hälfte des 8. Jh.s) ein göttliches Schlangenwesen oder ein Schlangengeist, spä-
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ter eine Schlange (d. h. ein mit aggressiver und obszöner Sexualität assoziiertes T.12) ist. In ihnen überschneiden sich Mythos, hist. und dämonologische Sage, genealogische Erzählung, Kultlegende und Ätiologie13. Sie enden mit J Trennung und/oder Tod der Gattin14, Tötung des Schlangenbräutigams15 oder Abtreibung der Schlangenbrut16; darüber hinaus existieren Realisierungen als Märchen, in denen sich Elemente von AaTh/ATU 425 sqq. und AaTh/ ATU 408 verbinden17. Eine Reihe weiterer, z. T. sehr alter chin. und jap. Erzählungen handelt davon, daß die Familien der jungen Frauen deren Ehe mit einem T. (Bär, Pferd [Sou shen ji, num. 350]) nicht akzeptieren können und dieses umbringen (für Indien cf. J Tiger)18, aber auch, daß die menschliche Ehefrau den Getöteten (Hund) rächt19. Ähnliche übergreifende Querbeziehungen weisen Erzählungen mit umgekehrter Personenkonstellation (männlicher Held und weibliche Übernatürliche bzw. T.gestaltige) auf. So bildet die Erlösung der T.braut in AaTh/ATU 400 (1) und (2) eine ins Positive gewendete Parallele zum meist unglücklich endenden Sagentyp vom J Schlangenkuß (cf. auch AaTh/ ATU 401 A*: The Soldiers in the Enchanted Castle); die Gattin kann aber auch eine anthropomorphe Fee sein20 oder eine Jenseitige, die nach Belieben T.gestalt annimmt21. AaTh/ ATU 400 (3) steht Sagen über meist zum Scheitern verurteilte Ehen oder Liebesbeziehungen mit anthropomorphen weiblichen Alpdruckgeistern oder übernatürlichen Wesen (J Mahrtenehe: Die gestörte M.), Meerjungfrauen22, Seehundmädchen23, Himmelsjungfrauen in Schwanen-, Enten- oder Kranichgestalt oder auch taubengestaltigen J Peris24 nahe. Ostasiat. Fassungen (Erstbeleg: Sou shen ji, num. 354) stellen meist negative Realisierungen des Märcheninhalts dar (der Ehemann scheitert nach langer Prüfung), nur einmal im Jahr trifft das Paar wieder zusammen25; jap. Var.n (erstmals im frühen 8. Jh. in den Fudoki nachgewiesen) können auch als Kurzform mit der Heirat, sagentypisch mit der Flucht der übernatürlichen Frau oder nach Märchenart mit der glücklichen Wiedervereinigung des Paars schließen26. Im wesentlichen mit der Schwanjungfrau-Tradition stimmen die chin. Erzählungen von der Schnecken-27, Tiger-,
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Fuchs- oder Muschelfrau28 überein: Die Ehefrau verläßt ihren Mann, sobald sie das T.kleid wiederfindet. Der Mahrtenehen-Tradition entsprechen ostasiat. Erzählungen, in denen dem Ehemann die T.natur seiner Frau zunächst nicht bekannt ist: Ein Mann rettet ein T., das dann in weiblicher Gestalt zu ihm kommt und als Ehefrau mit ihm zusammenlebt; die Trennung wird durch sein Mißtrauen, die Erkenntnis ihres Wesens, Tabubruch oder eine ihr zugefügte Verletzung bewirkt29. Des öfteren steht der Liebe zu der T.frau eine menschliche Partnerin im Wege: Die menschgewordene schöne Bärin erhängt sich, als der Mann zu Frau und Kindern zurückkehrt (korean.)30; die eifersüchtige Ehefrau tötet die Krebsfrau (jap.)31; der Mann bringt seine Frau um, als er herausfindet, daß sie eine verwandelte Schlange ist (u. a. chin., pers.)32. In der chin. Überlieferung spielt die Füchsin als Projektion männlicher Phantasien und Ausdruck der ambivalenten Haltung einer patriarchalischen Gesellschaft gegenüber Frauen eine wichtige Rolle: Sie erscheint als gefährliche Verführerin (J Fuchs, Kap. 3.1), kann jedoch auch eine helfende Rolle spielen33. Anrührende Züge tragen dagegen jap. Fuchsfraugeschichten, wenn etwa die Füchsin, obwohl aufgrund der Umstände zum Weggang gezwungen, weiterhin für Reichtum und Wohlergehen der Familie sorgt34. Ähnlich wie die Melusine-Geschichte begründen Mythen und Erzählungen von tiergestaltigen Ehepartnern oft die Herkunft von Herrschergeschlechtern (des jap. Kaiserhauses, der korean. Yi-Dynastie), bedeutenden Familien oder berühmten Männern. Dies gilt für die ostasiat. Überlieferungen vom schlangengestaltigen Liebhaber35 und die Schwanjungfrau-Erzählungen ebenso wie für ir. Sagen über Seehundmädchen36; auf die Ehe einer Prinzessin mit einem Wunderhund führen die ostasiat. Stammesvölker der Yao und Hsiamin ihre Existenz zurück37. Unter den ätiologischen Erzählungen ist bes. die Geschichte vom Ursprung der Seidenraupe hervorzuheben38. In Ostasien existieren darüber hinaus viele T.braut- oder T.bräutigammärchen, die dem traditionellen Zaubermärchen zuzuordnen sind; z. B. weisen das korean. Märchen vom Schlangen-39, das jap. vom Schnecken-40 und das chin. vom Froschbräutigam41 Entsprechun-
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gen zum König Lindwurm-Komplex, AaTh/ ATU 441 und AaTh/ATU 425 sqq. auf. Gewisse Überschneidungen lassen sich mit den T.ehe-Überlieferungen der indigenen Völker Amerikas feststellen42. In diesen bildet das Jagdglück ein Schwerpunktthema43: Während sich in den Beziehungen mit Büffelfrauen oder -männern der unerbittliche Antagonismus zwischen Jägern und Gejagten widerspiegelt, ist das Verhältnis zum Hirsch- oder Rehwild liebevoll44; andere Geschichten erzählen, wie von Walen und Adlern entführte Frauen sich retten oder gerettet werden45. In Erzählungen südamerik. Indianer erscheinen neben den internat. gängigen T.partnern (bes. Vögel, Schlangen) eine Reihe regionaltypischer T.gestalten (bes. häufig Jaguare, Tapire, Reptilien). Z. T. zeigen sich die T.partner in menschlicher Gestalt; Kinder aus solchen Verbindungen sind teils Menschen, teils T.e, teils Halbwesen, teils Monstren. Auch hier wird vielfach der T.mann von den Verwandten des Mädchens erschlagen46. Den natürlichen Gegebenheiten entsprechend sind in Polynesien vor allem Geschichten von Ehen bzw. Liebschaften mit Wassertieren, bes. mit Aalen, zu finden47; aus solchen Ehen gehen ebenfalls Kinder in unterschiedlicher Gestalt hervor, wobei die anthropomorphen oft von T.en geboren werden48. Im afrik. Erzählgut sind T.e oft als Symbolfiguren für Menschen aufzufassen: Z. B. steht in Nama-Erzählungen der trampelnde, trompetende Elefantenehemann, vor dem die Frauen (meist mit Hilfe ihrer Brüder) flüchten49, für den gewalttätigen menschlichen Ehepartner50. Diesen verkörpert auch der J Löwe in über ganz Afrika verbreiteten Variationen des Erzähltyps vom dickköpfigen Mädchen, das bei der Wahl seines Ehemanns den eigenen Vorstellungen folgen möchte51: Ein Löwe (Schlange, Hyäne) kommt in Gestalt eines schönen jungen Manns zum Tanz (kommt als Bewerber); ein Mädchen verliebt sich in ihn, geht mit ihm und begibt sich damit in Lebensgefahr; es wird gefressen oder rettet sich mit Hilfe des Bruders (der kleinen Schwester).
Diese Geschichten mahnen heiratsfähige Mädchen, nicht zu hohe Ansprüche an den Ehemann zu stellen und den ausgesuchten (älteren) Kandidaten ohne Widerspruch zu akzeptieren52. Var.n, in denen die Frau bei ihrem
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T.mann bleibt und ihm T.kinder gebiert, spiegeln die gesellschaftlich geforderte lebenslange Loyalität zum Ehemann wider53. Als Warnung vor der Ehe mit Fremden könnten Geschichten von der Liebe zu einer verwandelten Löwin54 oder Gazelle verstanden werden55. Eine Erzählung der Fulbe, in der ein Mann sich aus jeder T.art eine Frau wählt, illustriert Probleme der Polygynie56. Bei den Nama-sprechenden Völkern spielt die Schlange als T.partner eine zentrale Rolle: Die Wasserschlange, die sich z. T. in menschliche oder halbmenschliche Gestalt verwandeln kann, fängt sich Mädchen, läßt sie aber oft gegen Opfergaben wieder frei57. Realistisch erzählte Geschichten über Liebhaber in Schlangengestalt und ihre Tötung verlaufen ähnlich wie die jap. Mythen58. 5 . D eu tu ng en. Erklärungen und Interpretationen der Liebes- oder Ehebeziehungen zwischen menschlichen und tierischen Partnern im Zaubermärchen wurden aus unterschiedlichen Perspektiven formuliert. Aus ethnol. Sicht wird auf Vorstellungen verwiesen, nach denen die T.e ursprünglich Menschen59 bzw. den Menschen sehr ähnlich waren oder Menschen- und T.gestalt wie Kleider an- und abgelegt werden konnten60. Einen totemistischen Hintergrund (J Totemismus) postulierte E. M. J Meletinskij: der Held erwerbe mit Hilfe seiner ein anderes Totem vertretenden Frau Güter aus dem Besitz der anderen Gruppe; bei der Entwicklung der Erzählung zum Märchen habe sich der Schwerpunkt vom Wohlergehen des Stammes auf das individuelle Glück verlagert61. V. Ja. J Propp brachte die T.gestalt des Bräutigams in AaTh/ATU 425 sqq. mit der T.maskierung der Initiierten in den Männer- oder Waldhäusern in Zusammenhang62. Mit Blick auf psychol. Aspekte behandelten B. J Holbek und W. J Scherf AaTh/ATU 433 B als komplexe, drei Generationen betreffende Familiengeschichte, wobei Holbek den Blick auf die Entwicklung und Entscheidung der Partnerin63, Scherf auf die des (T.-)Gatten richtete64. M. J Lüthi sieht in Geschichten von T.braut und T.bräutigam u. a. das ambivalente Verhältnis der Geschlechter verkörpert65; nach B. Bettelheim kommen in T.bräutigammärchen die Überwindung der Vorstellung, daß Sexualität schmutzig und abstoßend sei, und
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die Verwandlung primitiver Sexualität in Liebe zum Ausdruck66. Bettelheims Deutung kritisierte J. Zipes als unhistorisch und schablonenhaft, vielmehr setzten diese Märchen „Maßstäbe und Regeln für sexuelles und soziales Verhalten, die den [. ..] beschränkenden Formen der Sozialisation entsprachen“67. 1 Fiocchi, A.: Liombruno. [Salzburg] 1977. ⫺ 2 cf. Scherf, 28, 1056 sq., 1378, 101; Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. Stg. 1988, 49 sq., 63⫺ 68, 348 sq., 356 sq. ⫺ 3 KHM 1, 13, 63, 69, 88, 92, 106, 108, 123, 135, 161. ⫺ 4 Camarena/Chevalier [714]; Cardigos 714; Dodds, G. T.: Monkey-spouse Sees Children Murdered, Escapes to Freedom! A Worldwide Gathering and Comparative Analysis of Camarena-Chevalier Type 714, II⫺IV Tales. In: Estudos de literatura oral 11/12 (2005⫺06) 73⫺95. ⫺ 5 cf. Meletinsky, E.: Die Ehe im Zaubermärchen. In: Acta ethnographica 19 (1970) 281⫺292, hier 290 (Rückführung auf rituelle Maskeraden). ⫺ 6 Basile 1,6; Rooth, A. B.: The Cinderella Cycle. Lund 1951, 18 sq., 111⫺114. ⫺ 7 Cox, M. R.: Cinderella. L. 1893, 53⫺79. ⫺ 8 Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1987, 477 sq., 481; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 88 sq. ⫺ 9 cf. Holbek (wie not. 8) 483. ⫺ 10 Zahlreiche Beispiele und Illustrationen bei Röhrich, L.: Wage es, den Frosch zu küssen. Köln 1987, 38 sq., 62⫺64 und pass. ⫺ 11 cf. Naumann, N.: „Amor und Psyche“ und der Gott von Miwa. In: Fabula 28 (1987) 1⫺33, hier 3. ⫺ 12 Eberhard, W.: Volksmärchen aus SüdostChina (FFC 128). Hels. 1941, num. 20. ⫺ 13 Naumann (wie not. 11) 8⫺10, 14⫺17, 26⫺28; Seki, K.: The Spool of Thread. A Subtype of the Japanese Serpent-Bridegroom Tale. In: Studies in Japanese Folklore. ed. R. M. Dorson. Bloom. 1963, 267⫺288; Ikeda 411 C; Choi, num. 201. ⫺ 14 Naumann (wie not. 11); Ozawa, T.: Die Schlange und ihre phantasierte Form Ryu. In: T.e und T.gestaltige im Märchen. ed. A. Esterl/W. Solms. Regensburg 1991, 65⫺ 77. ⫺ 15 Ikeda 411 A⫺C; Seki, num. 133 B, 136, 137; cf. Seki, num. 135 (Affenbräutigam); Eberhard, W.: Folktales of China. Chic./L. 1965, num. 29 (Schildkrötengeist). ⫺ 16 Naumann (wie not. 11) 21; Ikeda 411 C; Ozawa (wie not. 14) 71. ⫺ 17 Eberhard, Typen, 47⫺52, num. 31. ⫺ 18 Eberhard, Typen, 64, num. 38; 79 sq., num. 45; Seki, num. 139; Ikeda 411 E. ⫺ 19 Seki, num. 138; Ikeda 411 D. ⫺ 20 Rossi de S.ta Juliana, H. von: Märchen und Sagen aus dem Fassatale. ed. U. Kindl. Vigo di Fassa 1984, num. 2. ⫺ 21 Fiocchi (wie not. 1). ⫺ 22 Almqvist, B.: Of Mermaids and Marriages. In: Be´aloideas 58 (1990) 1⫺ 74. ⫺ 23 Christiansen, Migratory Legends, num. 4080; Nı´ Fhloinn, B.: Tadhg, Donncha and Some of Their Relations. Seals in Irish Oral Tradition. In: ´ Islanders and Water-Dwellers. ed. P. Lysaght/S. O ´ hO ´ ga´in. Dublin [1999], 223⫺245, hier Catha´in/D. O 234⫺237. ⫺ 24 Eberhard, Typen, 55⫺59, num. 34;
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Benfey 1, 262⫺264; Ikeda 400; Seki, num. 149; Choi, num. 205; cf. Eberhard (wie not. 12) num. 21; Scott, J.: Bahar-Danush; or, Garden of Knowledge 2. L. 1799, 213⫺224; cf. auch Thompson, S.: Tales of the North American Indians. Bloom./L. 1966, num. 76. ⫺ 25 Eberhard, Typen, 55⫺59, num. 34; Ikeda 400; ferner Benfey 1, 263. ⫺ 26 Ikeda 400. ⫺ 27 Eberhard, Typen, 59⫺61, num. 35, cf. 64⫺70, num. 39; cf. dagegen Ting 400 C. ⫺ 28 Eberhard, Typen, 62 sq., num. 37; auch Thompson (wie not. 24) num. 61 (Eskimo); cf. dagegen Ting 400 D. ⫺ 29 Choi, num. 207; Seki, num. 141⫺143, 144 A, 146; Ikeda 413 A⫺C, 413 E; Ting 411. ⫺ 30 Choi, num. 213. ⫺ 31 Ikeda 408 C. ⫺ 32 Eberhard (wie not. 12) 57 sq.; Marzolph 411; Benfey 1, 256 sq. ⫺ 33 Huntington, R.: Alien Kinds. Foxes and Late Imperial Chinese Narrative. Cambr., Mass. 2004. ⫺ 34 Seki, num. 147; Ikeda 413 D; Ozawa (wie not. 14) 74; Naumann (wie not. 11) 22 sq.; Choi, num. 208; cf. auch Ikeda 413 C (selbstaufopfernde Schlangenfrau). ⫺ 35 Naumann (wie not. 11) 10, 14⫺16, 26 sq.; Choi, num. 201. ⫺ 36 Nı´ Fhloinn (wie not. 23) 234⫺236, 238 sq. ⫺ 37 Eberhard, Typen, 71⫺76, num. 41. ⫺ 38 Eberhard, Typen, 79 sq., num. 45; Seki, num. 139; Ikeda 411 E. ⫺ 39 Choi, num. 200. ⫺ 40 Ikeda 425 A. ⫺ 41 Eberhard, Typen, 76⫺78, num. 42, 43; Ting 440 A. ⫺ 42 Thompson (wie not. 24) num. 63 (Schlange als Liebhaber), 64 (Entstehung des Sternbilds des Großen Bären). ⫺ 43 ibid., num. 65; cf. Hambruch, P.: Malai. Märchen. MdW 1922, num. 60 (Java). ⫺ 44 Thompson (wie not. 24) num. 57, 59, 66. ⫺ 45 ibid., num. 60, 62. ⫺ 46 Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of South American Indians. General Index. L. A. 1992, 453⫺456. ⫺ 47 Kirtley, 137⫺ 139. ⫺ 48 Kirtley, 138. ⫺ 49 Schmidt, S.: Children Born from Eggs. Köln 2007, num. 925; Schmidt, num. 925. ⫺ 50 cf. auch Schmidt, S.: Zaubermärchen aus Afrika. Erzählungen der Damara und Nama. Köln 1994, 217, 226 sq. ⫺ 51 Görög-Karady, V./Seydou, C. (edd.): La Fille difficile. Un conte-type africain. P. 2001; Steinbrich, S.: Imagination und Realität in westafrik. Erzählungen. Köln 1997, 236⫺266. ⫺ 52 Schmidt (wie not. 49) num. *906*A, 914; Schmidt, num. 895, 914, 925, cf. 919; Steinbrich (wie not. 51) 243⫺266; ead.: Gazelle und Büffelkuh. Frauen in Erzählungen der Fulbe und Haussa. Hohenschäftlarn 1982, 20 sq., 116⫺118 (Pferd), 155 sq., cf. 19; Seydou, C.: Du Mariage sauvage au mariage he´roı¨que. In: Le Mariage dans les contes africains. ed. V. Görög-Karady. P. 1994, 85⫺ 134, hier 89⫺102. ⫺ 53 Steinbrich (wie not. 51) 255. ⫺ 54 Geider, T.: Die Figur des Oger in der traditionellen Lit. und Lebenswelt der Pokomo in Ost-Kenya 1⫺ 2. Köln 1990, hier t. 1, 232 sq.; t. 2, 625⫺633 (cf. AaTh/ATU 552). ⫺ 55 Steinbrich 1982 (wie not. 52) 82, 208 sq. (Gazelle schädigt Felder). ⫺ 56 ibid., 86⫺ 88. ⫺ 57 Schmidt, num. 1722, 1723, cf. 923. ⫺ 58 Schmidt, num. 1760. ⫺ 59 cf. EM 12, 311; Schmidt (wie not. 50) 224. ⫺ 60 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 89⫺91. ⫺
Tierbücher ⫺ Tiere aneinander gebunden
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61 Meletinsky (wie not. 5) 285⫺289. ⫺ 62 Propp, V.: Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens. Mü./Wien 1987, 160. ⫺ 63 Holbek (wie not. 8) 490, 527, 529. ⫺ 64 Scherf, W.: T.dämonen im Zaubermärchen. In: Esterl/Solms (wie not. 14) 123⫺127, hier 123. ⫺ 65 Lüthi, M.: Volksmärchen und Volkssage. Bern/ Mü. 1961, 10 sq., cf. 13; cf. ferner id.: Das Volksmärchen als Dichtung. Köln 1975, 183. ⫺ 66 Bettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen. Stg. 1977, 269⫺285, 290⫺296. ⫺ 67 Zipes, J.: Klassische Märchen im Zivilisationsprozeß. Die Schattenseite von „La Belle et la Beˆte“. In: Doderer, K. (ed.): Über Märchen für Kinder von heute. Weinheim/Basel 1983, 57⫺77, hier 60.
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Tierbücher J Bestiarien
Tiere aneinander gebunden (AaTh/ATU 78, 78 A, 278), Bezeichnung für unterschiedlich motivierte Tiererzählungen. Fassungen mit menschlichen bzw. dämonischen Protagonisten sind selten. In AaTh/ATU 78: Animal Tied to Another for Safety soll das Zusammenbinden zwei wilden T.n mehr Sicherheit verschaffen: Ein starkes Tier (Dämon) fürchtet sich vor einem Menschen (schwächeres Tier) und erzählt davon einem anderen starken Tier (J Stark und schwach). Dieses macht sich darüber lustig und will dem starken, aber ängstlichen Tier einen Streich spielen. Es schlägt vor, sich vorsichtshalber aneinanderzubinden, gemeinsam seien sie noch stärker. So nähern sie sich ihrem Gegner, der das starke Tier begrüßt und zu erkennen gibt, daß er das angebundene Tier für eine ihm offerierte Beute hält. Dieses jedoch ergreift in Todesangst die Flucht und schleift seinen Begleiter mit, der dabei zumeist sein Leben lassen muß (cf. auch AaTh/ATU 125, 1149: J Kinder begehren das Fleisch des Unholds).
Schwerpunkt der Überlieferung mit Nachweisen seit dem 19. Jh. ist Asien mit kurd.1, tadschik.2, kirgis., uigur.3, tuwin.4, mongol.5 und kalmück.6 Fassungen. Zahlreiche Belege sind auch aus China7, Kambodscha8, Indonesien9 und Indien10 verzeichnet. Handlungsträger ist vor allem ein Tiger (Löwe, Wolf, Bär, Dämon), der sich an einen Fuchs (Affe, Schakal, Wolf) binden läßt, weil er sich vor einem Menschen (Schakal, Esel, Ziege, Hase) fürchtet. Aus dem südl. Afrika sind einige Fassungen mit wechselnden Handlungsträgern aufge-
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zeichnet worden11, aus Europa nur ung. Var.n.12. Chin. und kambodschan. Fassungen beginnen häufig mit AaTh/ATU 126: J Schaf verjagt den Wolf. Andere Kombinationen gibt es mit AaTh/ATU 275: J Wettlauf der T., AaTh/ ATU 1049: cf. J Wettstreit mit dem Unhold, AaTh/ATU 1115: J Mordversuch mit dem Beil und AaTh/ATU 181: The Man Tells the Leopard’s Secret. In manchen Var.n wird der Verlust des Schwanzes bzw. seine Deformation als Ätiologie für das Aussehen des Tiers benutzt (cf. AaTh/ATU 64: cf. J Schwanzlose T.)13. In AaTh/ATU 78 A: Animal Tied Up Because of a Storm steht ein schwaches, aber listiges Tier im Zentrum der Handlung. Es beabsichtigt, ein größeres Tier durch eine Täuschung zu überrumpeln: Wegen einer angeblich bevorstehenden Naturkatastrophe (Sturm, Ende der Welt, große Flut) bindet ein schwächeres (trickreiches) Tier ein stärkeres an, will dieses jedoch in Wahrheit schlagen bzw. töten und zieht ihm das Fell ab.
Dieser Erzähltyp ist seit dem 19. Jh. bes. in Mittel- und Südamerika vertreten14. Einzelne Var.n finden sich bei Afro-Amerikanern in den USA15 sowie im kapverd.16, südafrik.17 und philippin. Erzählgut18. Der Trickster ist im afro-amerik. Erzählgut häufig das Kaninchen (J Brer Rabbit), in Mexiko der Affe (Fuchs, Opossum), in Westindien die Schildkröte, während der Düpierte in der Regel der Tiger, in Mexiko der Fuchs (Kojote), im afro-amerik. Erzählgut der Löwe sein kann. Das ängstliche Tier läßt sich zumeist anbinden, zuweilen steigt es auch in einen Korb (Sack, Netz, Hängematte), und der Betrüger braucht nur die Taue zu kappen, um den Gegner in eine Schlucht zu befördern. Weitere Qualen erleidet es, wenn der Trickster auf es uriniert oder es steinigt. Häufig bildet AaTh/ATU 78 A eine Episode innerhalb einer Reihe von Trickstergeschichten, z. B. in Verbindung mit AaTh/ATU 8: J Schönheitskur, AaTh/ATU 34: cf. J Spiegelbild im Wasser, AaTh/ATU 49 A: The Wasp Nest as King’s Drum, AaTh/ATU 175: J Teerpuppe oder AaTh/ATU 1530: J Tausch von Pseudotätigkeiten sowie mit Brer Rabbit-Erzählungen19. Im Gegensatz zu AaTh/ATU 78 und AaTh/ ATU 78 A ist AaTh/ATU 278: The Frog and
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Tiere borgen voneinander
the Mouse Tied Together eine Fabel mit langer literar. Tradition. Das Geschehen ergibt sich aus der vermeintlichen Hilfsbereitschaft eines Wassertiers gegenüber einem Landtier: Frosch und Maus (sind befreundet und) binden sich aneinander, weil das Nagetier nicht allein ein Gewässer überqueren kann. Die Maus wird absichtlich vom Frosch ertränkt (ertrinkt aus Versehen). Ein Raubvogel (Adler, Falke, Geier etc.) trägt die tote Maus davon und zieht zugleich den Frosch aus dem Wasser, der ebenfalls gefressen wird (sich gerade noch retten kann, weil der Strick reißt).
Die Fabel ist in zentralen europ. Slgen des MA.s vertreten20 und fand Eingang in volkssprachliche Kompilationen des 15.⫺17. Jh.s21. Bes. einflußreich für die neuere Überlieferung wurde J La Fontaines Bearb. (Fables 4,11). Die Fabel ist häufig in Lesebüchern des 19./ 20. Jh.s zu finden. Sie demonstriert das problematische Zusammenleben zweier unterschiedlicher T., aus dem ein drittes Tier seinen Nutzen zieht22. In der pers. Überlieferung ist AaTh/ATU 278 im Masßnavi (6,2632) des ˇ ala¯loddin J Rumi23 sowie im Anva¯r-e SoG heili (num. 117), einer Version von J Kalila und Dimna, vertreten. Mündl. Fassungen des 19./20. Jh.s folgen bis auf kleinere Abweichungen der literar. Tradition. Es liegen finn.24, estn.25, lett.26, dt.27, ung.28, bulg.29, tschech.30, ukr.31, port.32 und zahlreiche griech. Belege33 vor. Aus Nordafrika (marokkan.34) und Asien (tadschik.35, afghan.36, ind.37, indon.38) sind Var.n mit ätiologischem Schluß bekannt: Z. B. hat der Frosch seit dem Sturz keine Stimme mehr bzw. will künftig nur noch mit seinesgleichen verkehren39. 1
Dzˇalil, O., D. und, Z.: Kurdskie skazki, legendy i predanija. M. 1989, num. 180, 183. ⫺ 2 Rozenfel’d, A. Z./Rycˇkovoj, N. P.: Skazki i legendy gornych tadzˇikov. M. 1990, num. 19, 34. ⫺ 3 Reichl, K.: Märchen aus Sinkiang. MdW 1986, num. 5, 40. ⫺ 4 Taube, E.: Tuwin. Volksmärchen. B. 1978, num. 10, 58. ⫺ 5 Lo˝rincz. ⫺ 6 Dzˇimbinov, B.: Kalmyckie skazki. M. 1962, num. 10. ⫺ 7 Ting. ⫺ 8 Gaudes, R.: Kambodschan. Volksmärchen. B. 1987, num. 11. ⫺ 9 de Vries 2, num. 87. ⫺ 10 Jason, Indic Oral Tales; Bødker, Indian Animal Tales, num. 540, 569. ⫺ 11 Schmidt, num. 645; Grobbelaar, P. W.: Die Volksvertelling as Kultuuruiting. Diss. (masch.) Stellenbosch 1981, 728. ⫺ 12 MNK. ⫺ 13 z. B. Aichele, W./ Block, M.: Zigeunermärchen. MdW 1962, num. 1. ⫺ 14 Robe; Hansen, num. **74 A; Pen˜alosa; Nascimento; Flowers; MacDonald K 713.1.1; JAFL 40
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(1927) 313⫺316, 319⫺324, 326⫺337, 371 sq.; Chertudi, S.: Cuentos folklo´ricos de la Argentina 2. Buenos Aires 1964, num. 9; Pino Saavedra 3, num. 229. ⫺ 15 Harris, J.: The Complete Tales of Uncle Remus. ed. R. Chase. Boston 1955, 351⫺355, 481⫺ 488; MacDonald K 713.1.1. ⫺ 16 Parsons, E. C.: Folk-Lore from the Cape Verde Islands 1. Cambr., Mass. 1923, num. 2. ⫺ 17 Coetzee, num. 126. ⫺ 18 Wrigglesworth, H.: Philippin. Märchen. MdW 1993, num. 42. ⫺ 19 Hansen, num. **74 A.⫺ 20 Tubach und Dvorˇa´k, num. 3425; Äsop/Holbek 2, num. 29, 35; Dicke/Grubmüller, num. 167; Schwarzbaum, Fox Fables, IV, 6⫺9. ⫺ 21 Keller/Johnson J 681.1; Cifarelli, num. 223, 225; Kirchhof, Wendunmuth 7, num. 71, 72; Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 224. ⫺ 22 Tomkowiak (22 Belege); cf. auch MacDonald J 681.1. ⫺ 23 Marzolph, ˇ ala¯loddin Rumi’s „MasßU.: Popular Narratives in G navi“. In: The Arabist 13⫺14 (1995) 275⫺287, hier 282⫺284. ⫺ 24 Rausmaa, SK 5, num. 207. ⫺ 25 Kippar. ⫺ 26 Ara¯js/Medne. ⫺ 27 Neumann, S.: Ein mecklenburg. Volkserzähler. Die Geschichten des August Rust. B. 51979, num. 212; id.: Mecklenburg. Volksmärchen. B. 1971, num. 54. ⫺ 28 MNK. ⫺ 29 BFP. ⫺ 30 Dvorˇa´k, num. 3425. ⫺ 31 SUS. ⫺ 32 Martinez J 681.1. ⫺ 33 Megas. ⫺ 34 ElShamy, Types. ⫺ 35 STF, num. 229, 280. ⫺ 36 Lebedev, K. L.: Die Teppichtasche. Kassel 1986, 212⫺ 214. ⫺ 37 Jason, Indic Oral Tales, 278; Bødker, Indian Animal Tales, num. 1004; Sheik-Dilthey, H.: Märchen aus dem Pandschab. MdW 1976, num. 46 (mit derselben Moral wie STF, num. 229, 280). ⫺ 38 de Vries 1, num. 48. ⫺ 39 STF, num. 229, 280.
Sterup
Gundula Hubrich-Messow
Tiere borgen voneinander (AaTh/ATU 235, 244), Bezeichnung für eine Gruppe von Fabeln bzw. Tiergeschichten, die Charakter und Merkmale von Tieren begründen (cf. auch AaTh/ ATU 234: J Blindschleiche und Nachtigall). AaTh/ATU 235: The Jay Borrows the Cuckoo’s Skin dient als Sammelbecken für heterogene Tiermärchen ⫺ häufig mit ätiologischer Tendenz. Mündl. Aufzeichnungen aus Europa sind nur sporadisch zu verzeichnen1. Viele Belege liegen aus Ostasien2, Südamerika3 und bes. Ost- und Südafrika4 vor. Ein Kuckuck (Eichelhäher, anderer Vogel, anderes Tier) ist mit seinem Aussehen nicht zufrieden und leiht sich (für ein Fest) J Federn (Flügel, Hörner, Pfeife) eines Pfaus (Frosch, andere Tiere). Dann aber verweigert er die Rückgabe (lockt statt dessen den Leihgeber auf der Suche nach seinen Federn durch den Wald; legt seine Eier in das fremde Nest).
Die Texte stimmen in der Handlungsstruktur weitgehend überein: Nach Darstellung der
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Tiere borgen voneinander
Ungleichheit borgt ein Tier von einem anderen und verweigert die Rückgabe. Selten wird der Tierbetrüger von dem Leihgeber (oder dessen Artgenossen) attackiert, wie z. B. die Eule, die daher nur noch nachts ausfliegt (port.)5. In den Gegenständen und Figurenkonstellationen sowie in der Begründung für das Ausleihen gibt es eine große Varianz6: Eulen borgen Federn von Nachbarn (Pandschab), ein Hund leiht Hörner vom Hirsch (chin.), die Schildkröte vom Truthahn den Skalp und vom Rebhuhn die Pfeife (Cherokesen), die Ratte Flügel von der Fledermaus (samoan.), der Kuckuck Getreide von der Turteltaube (frz.)7. Nach O. J Dähnhardt liegen die Gründe für die Entstehung solcher Ätiologien in vielen Ländern in der ungleichen Verteilung von Schmuck und Schönheit bei den Tieren. Solche Geschichten spiegelten darüber hinaus populäre Auffassungen wider, wonach Leihgeschäfte mit Unterschlagungen in Zusammenhang gebracht werden. Anzunehmen seien Polygenese und eine Wanderung der Stoffe nur in begrenzten Regionen8. AaTh/ATU 244: The Raven in Borrowed Feathers demonstriert Eitelkeit und Hochmut (J Hybris) sowie die Übertretung von Standesgrenzen als charakterliches oder soziales Fehlverhalten. Eine Krähe (anderer Rabenvogel) schmückt sich mit geliehenen oder gesammelten Federn des Pfaus (andere Tiere), als seien es die eigenen. Die Pfauen erkennen das so ausstaffierte Tier als nicht zu ihrer Art gehörig und berauben es seines Schmucks.
Die seit J Phädrus (1,3) tradierte Fabel ist in den meisten wichtigen Fabel- und Exempelsammlungen des MA.s vertreten und hat innerhalb der Äsopika seit der frühen Neuzeit in weiten Teilen Europas nachgewirkt9, insbesondere durch die Bearb.en J La Fontaines (4,9) und J Lessings (2,6)10. AaTh/ATU 244 ist aber auch aus der ma. jüd. und der älteren ind. Überlieferung bekannt. In der literar. Überlieferung behält die Fabel ihre homogene Struktur bei. Allerdings ergibt sich im Pro- bzw. Epimythion durch die mit dem Borgen von Federn verbundene Vortäuschung äußerer Schönheit und die Weigerung der Rückgabe des Geliehenen thematisch ein breiter Anwendungsbereich. Die Prahlerei wird als Untugend herausgestellt und verdeutlicht eingängig den Gegensatz von J Schein
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und Sein. Hans Wilhelm J Kirchhof z. B. illustriert in seiner Moral die Folgen der Hoffart: Die Krähe wird entblößt und verspottet11. In einer anonymen Fabel des 16. Jh.s fallen Tauben über die Krähe her und beißen sie zu Tode. Problematisiert wird das Verhalten in Gefahrensituationen: statt neutral zu bleiben, sei eine Entscheidung für einen der beiden Kontrahenten nötig, sonst geriete man zwischen die Fronten12. L. Weidner polemisiert in den von ihm fortgesetzten Teutschen Apophthegmata J. W. J Zincgrefs gegen den prunksüchtigen J Papst. Der nackte, von anderen Vögeln reich beschenkte Vogel verhält sich undankbar, als er zu Amt und Würden gekommen ist. Erst unter der Androhung, ihn wieder arm und schmucklos zu machen, erkennt er die Vögel (Klerus) als seine Wohltäter an und verspricht, sie gebührend zu beachten13. Bei W. J Kobolt gibt sich die Krähe als Vogel aus fremden Ländern aus14. Vereinzelte, aus mündl. Überlieferung aufgezeichnete Fassungen des 19./20. Jh.s stammen aus Nord-, West- und Südosteuropa15, sind aber auch in birman., chin., mexikan., puertorikan., westind. und sudanes. Slgen vertreten16. Die Var.n stellen weitgehend keine expliziten Bezüge zur menschlichen Gesellschaft her. So bleibt in einer katalan. Fassung der häßliche Vogel, der nachts Federn gestohlen hatte, lieber zu Hause, um nicht entdeckt zu werden17. Mit einer Ätiologie schließt auch ein birman. Tiermärchen: Als der Geier nach und nach seine Kopffedern verliert, helfen ihm andere Vögel aus, so daß er wieder ganz passabel aussieht. In seinem Stolz strebt er die Königswürde an (cf. J Königswahl der Tiere), die Vögel reißen ihm die überlassenen Federn und seine eigenen aus, weshalb der Geier noch heute alt, kahl und häßlich aussieht18. Die Redensart ,sich mit fremden Federn schmücken‘ als Beispiel für Prahlerei mit fremdem Gut bzw. mit Verdiensten anderer ist sprichwörtlich geworden19. 1 Rausmaa, SK 5, num. 182; Kerbelyte˙ 3, num. ´ Su´illeabha´in/Christiansen. ⫺ 2 Ting; de 1. 1.2.11; O Vries 2, num. 172; Inada, K./Ozawa, T.: Nihon mukashibanashi tsu¯kan 28. Tokio 1988, 23. ⫺ 3 Baer, F. E.: Sources and Analogues of the Uncle Remus Tales (FFC 228). Hels. 1980, 158 sq.; Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of South American Indians. L. A. 1992, num. A 2241. ⫺ 4 Schmidt 2, num.
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Tiere: Die eitlen T.
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606; Haring, num. 2. 1.235. ⫺ 5 Coelho, G. T.: Contes et le´gendes du Portugal. P. 1965, 70⫺74. ⫺ 6 cf. Dh. 3, 133⫺140; Dzˇimbinov, B. O.: Kalmyckie skazki. M. 1962, 74; Schmidt, S.: Tiergeschichten in Afrika. Köln 1996, num. 51 b. ⫺ 7 Beispiele nach Dh. 3, 131⫺133. ⫺ 8 cf. Dh. 3, 123, 141. ⫺ 9 Tubach und Dvorˇa´k, num. 1360; Dicke/Grubmüller, num. 470; Dömötör, num. 435; Cifarelli, num. 217, 224; Keller/Johnson J 951.2; Chevalier, M.: Cuentos folklo´ricos en la Espan˜a del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 24; Adrados, F. R.: History of the Graeco-Latin Fable 3. Leiden 2003, num. H. 103; Fuchs, M.: Die Fabel von der Krähe, die sich mit fremden Federn schmückt, betrachtet in ihren verschiedenen Gestaltungen in der abendländ. Lit. Diss. B. 1886; Dähnhardt, O.: Beitr.e zur vergleichenden Sagen- und Märchenforschung. Lpz. 1908, 1⫺10; Austin, H. D.: The Origin and the Greek Versions of the Strange-Feather Fable. In: Festschr. A. M. Elliott 1. Baltimore 1911, 305⫺327; Schwarzbaum, Fox Fables, 178⫺188; Rumpf, M.: Luxuria, Frau Welt und Domina Perchta. In: Fabula 31 (1990) 97⫺ 120, bes. 107 sq. ⫺ 10 Tomkowiak, 226. ⫺ 11 Kirchhof, Wendunmuth 7, num. 52. ⫺ 12 Sobel, E.: Alte Newe Zeitung. A Sixteenth Century Collection of Fables. Berk./L. A. 1958, num. 7; cf. Adrados (wie not. 9) num. M. 180; ibid., num. not.-H. 77. ⫺ 13 EM-Archiv: Zincgref/Weidner 4 (1655) 485 sq. ⫺ 14 Kobolt, W.: Schertz und Ernst beysammen. Augsburg 1747, 572 sq. ⫺ 15 z. B. Kippar; Ara¯js/Medne; Kerbelyte˙, LPTK; MNK; SUS; BFP; Megas; Cardigos; Amades, num. 988. ⫺ 16 z. B. Ting 224*; Robe; JAFL 40 (1927) 355 sq., num. 41, 42 (puertorikan.); Htin Aung, M.: Burmese Folk-Tales. Ox. 21954, 54 sq. ⫺ 17 Amades, num. 988. ⫺ 18 Htin Aung (wie not. 16). ⫺ 19 Röhrich, Redensarten 1, 423.
ten1. Eine frühe Version mit Ziege und Löwe ist aus dem syr. Gebiet bekannt2. Bedeutende Fabel- und Exempelkompilatoren des europ. MA.s und der frühen Neuzeit griffen die Thematik auf, die ebenso aus Anspielungen und Sprichwörtern bekannt ist3. Die Fabel findet sich sowohl in lat. als auch in volkssprachigen Werken, u. a. bei John J Bromyard (D 9,20), J Jacques de Vitry (Sermones vulgares, num. 274), Ulrich J Boner (num. 56), J Johannes Gobi Junior (num. 437), J Gerhard von Minden (num. 50), Burkart J Waldis (1,36), Georg J Rollenhagen (3,1,6) und J La Fontaine (Fables 6,9), ferner in Schwank- und Unterhaltungsbüchlein4. Die Aufnahme in Schul- und Lesebücher bezeugt ihre hohe didaktische Wertschätzung5. In der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s wechseln die traditionellen Figuren der Fabel; der Stoff paßt sich an die regionalen Gegebenheiten an; eine Moralisation entfällt weitgehend. Dominiert in der literar. Tradition der Hirsch als Handlungsträger6, tritt später ein für die jeweilige Region typisches Tier an dessen Stelle wie Elch (litau.)7, Antilope (ostafrik.)8 oder ⫺ in Abhängigkeit von La Fontaine ⫺ Wildochse (madegass.)9. AaTh/ATU 132: The Goat Admires His Horns in the Water zeigt den Gegensatz zwischen Narzißmus (J Narziß) bzw. Machtphantasien und Realität.
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Ein J Ziegenbock bewundert sein Spiegelbild mit Bart und Hörnern und meint, den Wolf (Bär, Fuchs) jedenfalls brauche er nicht zu fürchten. Das genannte Tier steht hinter ihm, hört die Rede zufällig und fragt nach. Der Ziegenbock antwortet: ,Was sagt man nicht alles, wenn man zuviel getrunken hat.‘
Kathrin Pöge-Alder
Tiere: Die eitlen T. (AaTh/ATU 77, 132), Bezeichnung zweier äsopischer Fabeln, welche die Folgen von Eitelkeit und Prahlerei thematisieren. AaTh/ATU 77: The Stag Admires Himself in a Spring thematisiert den Gegensatz zwischen Schönheit und Nützlichkeit: Ein J Hirsch (Fuchs) betrachtet die Schönheit seines Geweihs (Schwanz) und die Häßlichkeit seiner dünnen Beine in einem Wasserspiegel (J Schön und häßlich). Darüber spüren ihn Jäger (Hunde, Löwe) auf, die ihn aufgrund seiner Schnelligkeit zuerst nicht fangen konnten. Als er sich mit seinem Geweih im Dickicht verhakt, wird er erlegt. Sterbend sinniert er, seine Beine hätten ihn retten können, nun aber komme er durch sein Geweih, auf das er so stolz war, um.
Seit J Phädrus (1,12) und J Babrios (num. 43) ist diese Fabel in der Überlieferung vertre-
Die ältere Überlieferung von AaTh/ATU 132 ist umfassend dokumentiert10. Aufgrund der Anspielung auf den Genuß alkoholischer Getränke ist der Erzähltyp in der didaktischen Lit. jedoch kaum verbreitet, sondern kommt mehr als Sprichwort11 und in mündl. tradierten Texten des 19./20. Jh.s vor12. Während in den frühen Fassungen der Bock vom Wolf gefressen wird, schließen neuere Var.n meist mit der Ausrede des Bocks und enden harmlos, etwa mit dem Vorwurf des Ziegenbocks an den Wolf: „Glaubst du an das Geschwätz von Besoffenen!“; daraufhin läßt der Wolf ihn in dem Glauben, der Bock sei betrunken, ziehen
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(finn.)13. Kontrahent des Ziegenbocks (vereinzelt des Schafs14) ist zumeist der Wolf15, seltener ein Rabe16, Bär17, Löwe18 oder Fuchs19. In einer ähnlich gelagerten port. Erzählung ist es ein kleiner Vogel, der den Himmel herausfordert: Als es donnert, entschuldigt sich der Vogel, er habe wohl zu viel gegessen, das habe ihm den Kopf verdreht20. 1 Tubach und Dvorˇa´k, num. 4589; Dicke/Grubmüller, num. 272; Cifarelli, num. 83; Adrados, F. R.: History of the Graeco-Latin Fable 3. Leiden/Boston 2003, num. H. 76, M. 112; Schwarzbaum, Fox Fables, 375⫺378, 498 (not. 17). ⫺ 2 Adrados (wie not. 1) 102. ⫺ 3 Dicke/Grubmüller, num. 272; Tubach und Dvorˇa´k, num. 4589. ⫺ 4 Kirchhof, Wendunmuth 7, num. 47; EM-Archiv: Cocay, Labyrinth (1650) 23 a. ⫺ 5 Tomkowiak, 218; Kippar. ⫺ 6 cf. Kippar; ´ Su´illeabha´in/Christiansen; Camarena/ Liungman; O Chevalier; Gonza´lez Sanz; van der Kooi; MNK; Dvorˇa´k, num. 4589; SUS; Kurdovanidze; Megas; Ting; Scheu, H./Kurschat, A.: Pasakos apie pauksˇcˇius/Zˇemait. Tierfabeln. Heidelberg 1913, num. 13; Schippers, J. A.: Middelnederlandse fabels. Nijmegen 1995, num. 135. ⫺ 7 Kerbelyte˙, LPTK 1. ⫺ 8 Klipple. ⫺ 9 Haring, num. 2. 1.77. ⫺ 10 Babrius and Phaedrus/Perry, num. 695; Dicke/Grubmüller, num. 605, cf. auch num. 64; Cifarelli, num. 327; Adrados (wie not. 1) num. M. 190; Schwarzbaum, Fox Fables, 13 (not. 5), 306⫺308, 377 sq. ⫺ 11 Dicke/Grubmüller, num. 605. ⫺ 12 z. B. cf. MNK 10,1, num. 79**; MacDonald, M. R.: The Storyteller’s Sourcebook. Detroit 1982, K 1775; HubrichMessow. ⫺ 13 Rausmaa, SK 5, num. 128. ⫺ 14 Am Ur-Quell 2 (1891) 175 (aus Dithmarschen). ⫺ 15 Kippar; Ara¯js/Medne; Hodne; Liungman, Volksmärchen, num. GS 131; Camarena/Chevalier; Legros; MNK 132, cf. 79**; Hansen, num. 246**A (puertorikan.); Kvideland, R./Sehmsdorf, H. K.: All the World’s Reward. Seattle/L. 1999, num. 63 (schwed.); Schippers (wie not. 6) num. 483; Rogasener Familienblatt 1 (1897) 8 (aus Pommern); Zs. für rhein.westfäl. Vk. 28 (1931) 30, num. 3; Woeste, J. F.: Volksüberlieferungen in der Grafschaft Mark. Iserlohn 1848, num. 15.1; Henßen, G.: Volk erzählt. Münsterländ. Sagen, Märchen und Schwänke. Münster 1935, num. 108; Soromenho, A. da Silva und P.: Contos populares portugueses (ine´ditos) 1. Lissabon 1984, num. 75. ⫺ 16 Folkets Almanak (1893) 254 (dän.). ⫺ 17 Hubrich-Messow; Legros 154. ⫺ 18 Robe. ⫺ 19 wie not. 14. ⫺ 20 Cardigos.
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Kathrin Pöge-Alder
Tiere fressen einander (AaTh 20, 20 A/ATU 20 A, AaTh/ATU 20 C, 20 D*, 231*), Komplex von Tiererzählungen, die häufig Kombi-
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nationen mit anderen Tiergeschichten eingehen. Die einzelnen Erzähltypen unterscheiden sich kaum in der Konstellation der Handlungsträger: Eine bunte Schar von T.n, meist kleine, wehrlose Haus- oder Hoftiere (Hahn, Gans, Vogel, Kaninchen, Katze) und große und/oder wilde T. (Ziege, Ochse, Wolf, Bär, Fuchs, Tiger), die sich als natürliche Feinde in der Nahrungskette gegenüberstehen, gehen zusammen auf eine Reise (fliehen). Unterwegs fallen die T. in eine Grube (Höhle). Als sie hungrig werden, nimmt das freundschaftliche Einverständnis zwischen ihnen ein jähes Ende: Unter verschiedenen Vorwänden und meist auf Anraten des J Fuchses fressen sie jeweils das kleinste oder schwächste Tier. Nur Fuchs und Wolf (Bär) überleben. Dem Fuchs gelingt es, auch den Bären zu überlisten und zu entkommen.
Während AaTh 20, 20 A/ATU 20 A: Animals Caught in a Pit Eat One Another Up und AaTh/ATU 231*: Animals Eat Each Other unmittelbar das Auswahlverfahren in der Grube thematisieren, setzt AaTh/ATU 20 C: The Animals Flee in Fear of the End of the World mit einer scherzhaften Paraphrasierung der Eschatologie-Thematik ein. Eine zufällig herabgefallene Eichel (Nuß), ein Blatt oder ein nicht lokalisierbares Geräusch (Furz) veranlaßt ein furchtsames Tier (Hühnchen, Maus, Hase, Katze) zur sofortigen Flucht, weil es glaubt, daß das Ende der Welt nahe sei (die Erde brenne, der Himmel einstürze; AaTh 2033/ATU 20 C: cf. J Heilung des Hähnchens) oder Krieg ausgebrochen sei (die Türken einfallen; cf. AaTh/ATU 1321 C: Fools are Frightened at the Humming of Bees). Andere T. (Gans, Hase, Fuchs, Wolf, Bär), die dem furchtsamen Tier zufällig begegnen, werden über die bevorstehende Katastrophe informiert und schließen sich ihm an. Manchmal wird das J Mißverständnis aufgeklärt. Auf ihrer Flucht laufen (hüpfen, fliegen) die T. gewöhnlich über die Grube; die Haustiere kommen darüber hinweg, die anderen fallen hinein.
Unter AaTh/ATU 20 D*: Pilgrimage of the Animals sind jene Erzählungen gestellt, in denen eine J Wallfahrt als Eingangsmotiv erscheint: (1) Eine Katze will ihre Sünden beichten. Auf dem Weg trifft sie zufällig T. (Hase, Fuchs, Wolf, Bär), welche die gleiche Absicht haben. Sie gelangen an eine Grube und vereinbaren, daß derjenige, der die Grube auf einer Stange überqueren könne, von seinen Sünden freigesprochen werde. Alle T. außer der Katze fallen hinein. (2) Ein Hahn möchte nach Rom reisen, weil er Papst (Abt) werden will. Seine Frau begleitet ihn als zukünftige Päpstin. Auch andere T. übernehmen eine
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Funktion und reisen mit: u. a. die Ente als Kreuzträger, die Gans als Würdenträger, die Haubenlerche als Novize, die Krähe als Schwarzrock, die Elster als Kellermeister. Als letztes Tier schließt sich ihnen der Fuchs an; er lockt die Gefährten unter dem Vorwand, ihnen die Beichte abnehmen zu wollen, in seine Höhle und frißt sie (cf. AaTh 61 A/ATU 20 D*: J Fuchs als Beichtvater). (3) Ein Fuchs (Füchsin) täuscht vor, daß er kein Fleisch mehr fresse, seine Sünden bereue und auf Wallfahrt gehen wolle (cf. AaTh 61 A/ATU 20 D*, AaTh/ATU 62: J Friedensfabel, AaTh/ATU 113 B: J Scheinbüßende T.). Vor allem Vögel (Hahn, Taube, Ente, Wiedehopf etc.) sind von seinem frommen Aussehen angetan und folgen ihm auf die Pilgerreise. Abends kehren die T. arglos im Fuchsbau (Herberge) ein, um auszuruhen oder zu beichten, und werden vom Fuchs verschlungen. Mitunter wird der Fuchs am Ende von einem der Vögel überlistet und ebenfalls getötet.
Eine Freßkette ist bereits in der arab. Lit. im 9. Jh. belegt1. Sie findet sich später in den Enz.n von J Damı¯rı¯ und J Ibsˇ¯ıhı¯ sowie in der Anekdotensammlung J Nuzhat al-udaba¯Å. Das Motiv der Pilgerfahrt des Fuchses nach Rom (AaTh/ATU 20 D* [2]) erscheint in der 7. Branche des J Roman de Renart. Im J Papageienbuch ist eine Var. von AaTh/ATU 20 D* (3) enthalten2. Die Nachweise aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s belegen eine weite Verbreitung der Erzähltypen. AaTh 20, 20 A/ATU 20 A ist von Nord- und Osteuropa bis nach Zentralasien dokumentiert. Einzelbelege liegen aus West-, Mittel- und Südeuropa, Nordamerika, der Karibik sowie Nord- und Westafrika vor. Verknüpfungen mit AaTh/ATU 21: Die eigenen J Eingeweide fressen sind schwerpunktmäßig in der osteurop. und slav. Überlieferung nachgewiesen. AaTh/ATU 20 C ist in ganz Europa sowie in Asien bis hin nach China aufgezeichnet worden. Weitere Belege stammen aus Nordamerika, von südamerik. Indianern, aus Nord-, Ost- und Südafrika sowie aus Australien. Die Episode von AaTh/ATU 20 D*, in welcher der Hahn Papst werden will, ist vor allem aus Dänemark, Deutschland und Italien dokumentiert. Darüber hinaus ist AaTh/ATU 20 D* hauptsächlich durch Var.n aus dem südund südosteurop. sowie dem islam.-oriental. Überlieferungsgebiet belegt. Der Erzähltyp gehört zu den beliebtesten im Iran3. Das Verbreitungsgebiet von AaTh/ATU 231* ist demgegenüber weniger kohärent, was mög-
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licherweise daraus resultiert, daß dieser Erzähltyp sich mit den bereits genannten teilweise deckt; Belege stammen aus der lett., fries., griech., mexikan. und puertorican. Überlieferung. Die Zahl der Reisegefährten sowie die Eingangsmotivik, die Bestimmungen für das Auswahlverfahren in der Grube und der Ausgang sind variabel. Die Motive, welche die Wanderschaft der T. auslösen, stehen nicht unbedingt im Vordergrund der Eingangssequenz. Zugunsten der Ausgestaltung der anschwellenden Tierkette kann das erzählerische Moment hinter dem Frage-und-Antwort-Spiel zwischen dem Anführer der Gesellschaft und jedem neuen Gefährten, das manchmal bis zu siebenmal wiederholt wird4, zurücktreten. Auch die sprachspielerischen Verdopplungen der Namen wie ,Henny-penny‘, ,Cocky-locky‘, ,Goosey-poosey‘ und ,Foxy-woxy‘ in engl.sprachigen5 oder ,Göschen-Pöschen‘, ,Häntjen-Päntjen‘ und ,Küken-Püken‘ in ndd. Var.n6 verleihen dem Erzählgeschehen eine gewisse Leichtigkeit. Das Kernstück der Erzähltypen bildet das Auswahlverfahren in der Gefangenschaft. In den Grube-Redaktionen halten die hungrigen T. häufig einen Sängerwettbewerb ab: Sie beschließen, der Reihe nach den Gefährten mit der jeweils schwächsten7 oder höchsten8 Stimme zu fressen. Oder es wird dasjenige Tier zur Beute gemacht, das angeblich den häßlichsten Namen hat9 oder das süßeste Fleisch besitzt10, wobei der Fuchs die Auswahl immer mit dem kleinsten und hilflosesten Tier beginnt. Zur Beseitigung des letzten Gegners in der Grube setzt er oft ein Täuschungsmanöver ein: Er gibt vor, sich ⫺ zur Stillung seines Hungers ⫺ selbst zu verstümmeln, überredet den Wolf (Bär), dasselbe zu tun (AaTh/ATU 21), und verursacht dadurch dessen Tod (J Imitation: Fatale und närrische I.)11. Schließlich kann sich der Fuchs durch List aus der Grube retten: Er überredet z. B. einen Ziegenbock dazu hineinzuspringen und steigt über dessen Hörner hinaus (cf. AaTh/ATU 30⫺33: cf. J Rettung aus dem Brunnen)12. Häufiger noch erzwingt er die Hilfe eines kleinen Vogels (Drossel, Specht, Star), der ihm ⫺ aufgrund der Drohung, der Fuchs werde sonst seine Jungen auffressen ⫺ einen Haufen aus Zweigen aufschichtet oder mit seinem Schnabel Stufen in
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die Wand der Grube hackt (AaTh/ATU 56 A: cf. J Fuchs und Vogeljunge)13. Manchmal fordert der siegessichere Fuchs ⫺ ähnlich wie der Protagonist in AaTh/ATU 223: The Birds and the Jackal ⫺ vom Vogel noch, ihm zu fressen und zu trinken zu geben und ihn zum Lachen zu bringen. Sein dritter Wunsch wird ihm häufig zum Verhängnis: Jagdhunde werden durch sein lautes Gelächter auf ihn aufmerksam und zerfleischen ihn14. In den Versionen (2) und (3) von AaTh/ ATU 20 D* nimmt der Fuchs den Gefährten jeweils einzeln die Beichte ab, bezeichnet ihr natürliches Verhalten als sündhaft und frißt sie zur Strafe (cf. AaTh/ATU 113 B). So muß der Hahn sterben, weil er die Leute mit seinem Krähen stört, und die Henne, weil sie die Menschen mit ihren Küken belästigt. Dem Pfau wirft der Fuchs Selbstherrlichkeit vor, und vom Kopfschmuck des Enterichs behauptet er, dies sei die Krone des Königs, die der Enterich gestohlen habe. Nur ein einziger Vogel kann sich durch eine List aus der aussichtslosen Situation befreien: Der Wiedehopf (Wachtel) bittet den ,Beichtvater‘ um die Erlaubnis, zur Abwehr der Schuldvorwürfe Zeugen beizubringen, was dieser ⫺ gierig auf weitere Beute ⫺ zugesteht. Die Düpierung des Fuchses bleibt auch in der Höhle-Redaktion nicht aus, denn der Vogel lockt einen Jäger mit seinem Jagdhund zum Bau, und der Fuchs wird getötet15. 1 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 111. ⫺ 2 Hatami, M.: Unters.en zum pers. Papageienbuch des Nah˚ sˇabı¯. (Diss. Mainz) Fbg 1977, num. 50. ⫺ 3 Marˇ ajkanovic´, V.: Srpske narodne zolph, 19. ⫺ 4 cf. C pripovetke 1. Belgrad 1927, num. 2; Range, J. D.: Litau. Volksmärchen. MdW 1981, num. 5; STF, num. 395. ⫺ 5 cf. Jacobs, J.: English Fairy Tales. L. 1982, 13⫺16; Chambers, R.: Popular Rhymes of Scotland. L./Edinburgh 1870, 59; DBF A 2, 532 sq. ⫺ 6 cf. Hubrich-Messow 20 C. ⫺ 7 cf. Sˇakryl, K. S.: Abchazskie narodnye skazki. M. 1975, num. 32; Kooi, J. van der/Meerburg, B. A. G.: Fries. Märchen. MdW 1990, num. 115; Afanas’ev, num. 29; Kallas, O.: Achtzig Märchen der Ljutziner Esten. Dorpat 1900, num. 77. ⫺ 8 cf. Range (wie not. 4); Sˇva¯be, A.: Latvju tautas pasakas 2. Riga 1923, 12⫺ 14. ⫺ 9 cf. Roberts, L.: I Bought Me a Dog and Other Folktales from the Southern Mountains. Berea, Ky 1954, num. 25; Bosˇkovic´-Stulli, M.: Narodne pripovijetke. Zagreb 1963, num. 3; Lintur, P. V.: ˇ ajkaUkr. Volksmärchen. B. 1972, num. 9. ⫺ 10 cf. C novic´ (wie not. 4). ⫺ 11 cf. Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, num. 11, 12; Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B.
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1980, num. 5; van der Kooi/Meerburg (wie not. 7); Galkin, P./Kitajnik, M./Kusˇtum, N.: Russkie narodnye skazki Urala. Sverdlovsk 1959, 152⫺154; Ramanau˘, E. R.: Belarusskija narodnyja kazki. Minsk 1962, num. 85; Volkov, A. A.: Karakalpakskie narodnye skazki. Nukus 1959, 59⫺61; Nikiforov, A. I.: Severnorusskie skazki. ed. V. Ja. Propp. M./Len. 1961, 27 sq.; Afanas’ev, num. 29; Munka´csi, B.: Volksbräuche und Volksdichtung der Wotjaken. Hels. 1952, num. 77; Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. B. 1964, num. 13; Lintur (wie not. 9). ⫺ 12 cf. Sˇva¯be (wie not. 8); Ambainis (wie not. 11). ⫺ 13 cf. Sˇakryl und van der Kooi/Meerburg (wie not. 7); Ramanau˘ und Nikiforov (wie not. 11). ⫺ 14 cf. Pomeranzewa (wie not. 11); Afanas’ev, num. 30; Lintur (wie not. 9); Viidalepp (wie not. 11). ⫺ 15 cf. Hahn, num. 40; Megas, G. A.: Griech. Volksmärchen. MdW 1965, num. 10; Lorimer, D. L. R. und E. O.: Persian Tales. L. 1919, num. 20; Osmanov, N.: Persidskie skazki. M. 1958, num. 75; Orbeliani, S.-S.: Die Weisheit der Lüge. B. 1933, num. 16; Levin, I.: Märchen vom Dach der Welt. MdW 1986, num. 25 (tadschik.).
Mariakerke
Harlinda Lox
Tiere lernen sprechen (AaTh/ATU 1750, 1750 A, ATU 1750 B), Bezeichnung für Schwänke, in denen schlaue Untergebene dörfliche Würdenträger, die oft als leichtgläubig dargestellt werden, oder deren dumme Ehefrauen ausnutzen. Sie bedienen sich der weitverbreiteten Vorstellung, T. könnten die menschliche Sprache benutzen, um ihre Gedanken wie ein menschliches Wesen auszudrücken1. AaTh/ATU 1750: The Hen Learns to Speak und AaTh/ATU 1750 A: Sending a Dog to Be Educated gehören zu den Ehebruchschwänken, in denen der Ehebruch bestraft wird. AaTh/ ATU 1750 begegnet in folgender Grundform: Ein J Betrüger verspricht der Pastorenfrau, ihrer Henne (Hennen, Gans) das Sprechen beizubringen. Er erhält für das Tier reichlich Korn, schlachtet und ißt es jedoch (ißt jeden Tag ein Tier). Als die Auftraggeberin sich erkundigt, was die Henne gelernt habe, erklärt der Betrüger, sie sage (singe), die Pastorenfrau habe mit einem Bauern geschlafen. Die Pastorenfrau verzichtet auf die Rückgabe des Tiers und zahlt ein Schweigegeld.
Die frühesten schriftl. Zeugnisse finden sich in der dt. Lit. des 16./17. Jh.s. Hans J Sachs bearbeitete den Stoff in seinem Meisterlied Die Edelfrau mit den huenern (1552)2. Auch in die Kompilationen von Johannes J Pauli3 und Otho J Melander4 wurde er aufgenommen.
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Tiere lernen sprechen
Aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 1750 mit relativ wenigen Belegen nachgewiesen. Die Var.n stammen schwerpunktmäßig aus dem nord- und osteurop. Raum. Europ. Siedler brachten den Schwank auch nach Übersee. Einige wenige Var.n wurden von franko- und anglo-amerik. Erzählern aufgezeichnet. Im mediterranen Raum und vor allem im Vorderen Orient bildet AaTh/ ATU 1750 die erste Episode einer ganzen Kette von Betrügereien, die von einer listigen Frau verübt werden5. Im Unterschied zu AaTh/ATU 1750 geht es in AaTh/ATU 1750 A, ähnlich wie in AaTh/ ATU 1675: J Ochse als Bürgermeister, um den Schulbesuch des Haustiers: Ein Pfarrer (Bischof, Bauer, Gutsherr) hat einen Hund, den er sehr liebt. Sein Knecht (Diener, Sohn, Küster) redet ihm ein, das Tier sei so klug, daß es auf einer Schule die menschliche Sprache erlernen könne. Der leichtgläubige Besitzer schickt seinen Knecht los, um den Hund dort hinzubringen. Dieser verkauft (ertränkt) das Tier jedoch, läßt den Besitzer aber für den angeblichen Schulbesuch bezahlen. In schwankhafter Steigerung verlängert der Trickster die Lehrzeit des Hundes oft mehrfach, um seinem dummen Auftraggeber möglichst viel Geld abzuknöpfen. Als die Lehrzeit des Hundes zu Ende ist, soll der Knecht das Tier abholen. Der Knecht kehrt jedoch allein zurück und teilt dem Besitzer mit, er habe den sprechenden Hund ertränkt, weil jener das Liebesleben seines Herrn mit der Köchin (Haushälterin) ausgeplaudert habe. Der Auftraggeber billigt die Bestrafung des schwatzhaften Hundes.
Der früheste literar. Beleg läßt sich in der Fazetien-Slg Hore di ricreatione (1568, num. 6 [e]) des Lodovico J Guicciardini nachweisen. Der Schwank wurde im 19. Jh. auch in einem dt. Bauernkalender überliefert6. Das zentrale Verbreitungsgebiet von AaTh/ ATU 1750 A scheint der dt.sprachige Raum zu sein, mit Ausläufern nach Skandinavien, Lettland und in die Ukraine, ferner in die Niederlande und nach Friesland. In Flandern wurde die Erzählung als erotisches Schwankmärchen aufgezeichnet7. Im mediterranen Raum und im Vorderen Orient findet sich AaTh/ATU 1750 A eher sporadisch. Die Erzähltypen AaTh/ATU 1750 und AaTh/ATU 1750 A berühren sich mit Schwänken wie AaTh/ATU 243 A, 1422: J Ehebruch verraten und AaTh 1352 A: J S´ukasaptati. Die Komik von AaTh/ATU 1750 und AaTh/ ATU 1750 A resultiert wesentlich aus der la-
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konischen Frageform, in der zum Schluß der Ehebruch des Verheirateten (Übertretung das Enthaltsamkeitsgebots) verraten wird. So wird behauptet, der Hund habe gefragt: „Wat makt uns Herr Pastor? Krüppt he noch ümmer ’n beten bi Mina ünner?“8 oder „Sech äs, Köster, slöpp use Pastor ümmer noch bi sine Hushöllerske?“9 Die Trickster haben die Lacher auf ihrer Seite, auch wenn sie die T. oft auf grausamste Weise umbringen. Wenn T. im Zaubermärchen ein Geheimnis verraten, trägt es zur Heilung oder Rettung des tiersprachenkundigen Helden bei oder erweist sich als anderweitig hilfreich. Im Gegensatz dazu nimmt der Betrüger, der in AaTh/ATU 1750 und AaTh/ ATU 1750 A die angebliche Schwatzhaftigkeit des Hundes ins Spiel gebracht hat, den möglichen sozialen Sturz des Handlungsträgers in Kauf. Die Handlungsträger von AaTh/ATU 1750 und AaTh/ATU 1750 A sind oft Geistliche bzw. deren Frauen. Dabei ist AaTh/ATU 1750 A stärker sozialkritisch geprägt, da der Handlungsträger hier fast durchgängig ein Geistlicher ist. In einigen Var.n wird darüber hinaus aufgedeckt, daß der Küster die Armenkasse geplündert hat10. Auch ATU 1750 B: Teaching the Donkey to Speak handelt von einem einfältigen Herrn, den ein gewitzter Untergebener überlistet. Im Unterschied zu den beiden vorgenannten Erzähltypen hofft der Protagonist in ATU 1750 B jedoch auf eine andere Lösung des Problems: Ein Gutsherr (Bauer) will, daß sein Esel (Hund, Kalb, Kamel, Affe, Elefant) sprechen (lesen, schreiben) lernt. Er beauftragt (zwingt) einen Untergebenen (Jude, J Hodscha Nasreddin, J Eulenspiegel), das Tier gegen Bezahlung zu unterrichten. Er räumt ihm für die Ausbildung eine lange Frist (ein Jahr, zehn, 25 Jahre) ein. Der Lehrer hofft, daß in dieser Zeit entweder der Gutsherr, der Esel oder er selbst stirbt.
Die Erzählung ist in der Lit. des 16./17. Jh.s mehrfach belegt11. In älteren literar. Qu.n soll der Esel lesen lernen, so im Pfaffen Amis des J Strickers (num. 1), in einer Fazetie J Poggios (num. 250), in Sebastian J Brants Fabelsammlung, im engl. Schwankbuch Merry Tales (1567, num. 99)12 und in dem Meisterlied Ewlenspigel mit dem esel (1547)13 von Hans Sachs, das auf das Eulenspiegelbuch (num. 29) zurückgeht. Im Hecatomythion (2,33) des Lau-
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Tiere auf dem Schlitten
rentius J Abstemius soll der Esel zudem schreiben lernen, ebenso im Esopus von Burkart J Waldis (4,97). In der Novellensammlung des Bonaventure J Des Pe´riers (num. 88) lernt ein Affe angeblich beinahe sprechen, in Guicciardinis Detti et fatti ein Elefant. Ein Esel, dem das Sprechen beigebracht werden soll, ist zuerst in J La Fontaines Fables (6,19) belegt. Die relativ wenigen Aufzeichnungen aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s liegen aus Teilen Mittel- und Osteuropas, aus Ägypten, Palästina und Indien sowie der jüd. Überlieferung aus Spanien, Vorderasien und Afghanistan14 vor. Die Erzählung ist recht stabil. Mitunter wird sie mit AaTh/ATU 1682: J Pferd fasten lehren kombiniert15. Der Tierbesitzer wird in der Regel ein oder mehrmals um Geld betrogen, lediglich in einer Erzählung kommt er zu Vernunft, als ihm vorgeführt wird, daß der Esel nach acht Wochen ,I-Ah‘ sagen kann16. 1 cf. Wesselski, A.: Das lachende Buch. Lpz. 1914, 22⫺24. ⫺ 2 Goetze, E./Drescher, C. (edd.): Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs 1⫺5. Halle 1893/94/1900/03/04, t. 5, num. 822. ⫺ 3 Pauli/ Bolte, num. 843. ⫺ 4 EM-Archiv: Melander, Jocorum atque seriorum liber 1 (1604) num. 379. ⫺ 5 cf. Meier, H./Woll, D.: Port. Märchen. MdW 1975, num. 57; Boratav, P. N.: Türk. Volksmärchen. B. 1967, num. 40; Schmidt, H./Kahle, P.: Volkserzählungen aus Palästina 2. Göttingen 1930, num. 129. ⫺ 6 Der Bauernkalender auf das Jahr 1856. Langnau 1855 (Der verräterische Hund). ⫺ 7 Krypta´dia 7 (1901) 40⫺42. ⫺ 8 cf. Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen 2. MdW 1927, 181 sq. ⫺ 9 cf. Henßen, G.: Volk erzählt. Münsterländ. Sagen, Märchen und Schwänke. Münster 1935, num. 268. ⫺ 10 cf. Kooi, J. van der/ Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 167; Meyer, G. F.: Plattdt. Volksmärchen und Schwänke. Neumünster 1925, 177 sq. ⫺ 11 Hodscha Nasreddin, 2, num. 552. ⫺ 12 Stiefel, A. L.: Die Qu.n der engl. Schwankbücher des 16. Jh.s. In: Anglia 31 (1908) 453⫺520, hier 500. ⫺ 13 Goetze/Drescher (wie not. 2) t. 4, num. 443. ⫺ 14 Soroudi 1750 *B. ⫺ 15 cf. Berger, K.: Erzählungen und Erzählstoffe aus Pommern 1840⫺1938. Münster u. a. 2001, 88, num. 1675 A; Hodscha Nasreddin 2, num. 552; Soroudi 1750 *B⫺1750 *A. ⫺ 16 Debus, O.: Till Eulenspiegel in der dt. Überlieferung. Diss. (masch.) Marburg 1951, 181 sq.
Mariakerke
Harlinda Lox
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Tiere auf dem Schlitten (AaTh/ATU 158), Schwank, in dem der Protagonist durch seine Hilfsbereitschaft um seinen Besitz kommt: Der J Fuchs (Mann, Frau) nimmt Wildtiere (Wolf, Bär, Hase) auf seinem Schlitten mit. Als die Deichsel bricht, sollen die Passagiere einen Ersatz suchen, finden aber nichts Passendes. Der Fuchs geht selbst in den Wald. Die anderen T. fressen das Zugtier (Pferd, Ochse, Bock) und stopfen den Kadaver mit Stroh aus.
AaTh/ATU 158 ist vor allem aus Nord- und Osteuropa belegt: aus Finnland und Karelien innerhalb der Kontaktzone zwischen westl. und östl. Märchentraditionen (23 Var.n)1, bei Esten (53)2, Woten (3), Wepsen (8), Letten (65), Litauern (157) und Syrjänen (7); aus Mittel- und Osteuropa bei Deutschen, Tschechen, Slovaken, Polen (4), Weißrussen (16), Ukrainern (21), Russen (27), Tscheremissen (5), Wotjaken (4) und Mordwinen (1) und aus Südosteuropa bei Slovenen und Mazedoniern sowie aus der Türkei. Der Schwank wurde den Tiermärchen zugeordnet, obwohl auch Var.n mit menschlichen Protagonisten vorliegen3. AaTh/ATU 158 ist relativ selten separat aufgezeichnet worden4, meist wird eine Erklärung, wie der Protagonist zu Schlitten und Zugtier gekommen ist und/oder wie er auf den Verlust von beidem reagiert, hinzugefügt: Oft ergaunert sich der Protagonist das Zugtier auf die für AaTh/ATU 170, 1655: Der vorteilhafte J Tausch typische Weise5. Seltener tauscht der Fuchs es für ein Gebäckstück ein, das er zur Hälfte gefressen und dann ausgestopft hat6. Estn. Var.n ist meist AaTh/ATU 8*: The Fox Trades the Burned Bones of the Bear for Reindeer vorangestellt7. Auf Fassungen von AaTh/ATU 158 mit dem Fuchs als Protagonisten folgen häufig Erzähltypen, in denen der Fuchs sich erneut fremdes Eigentum erschleicht (AaTh/ATU 1: J Fischdiebstahl)8 oder eines der T., die ihn um das Zugtier gebracht haben, bestraft (AaTh/ATU 2: J Schwanzfischer9, AaTh/ATU 21: Die eigenen J Eingeweide fressen10, mitunter auch AaTh/ATU 3: cf. J Scheinverletzungen und AaTh/ATU 4: J Kranker trägt den Gesunden11). Sowohl Var.n mit einem Tierprotagonisten als auch solche mit einem menschlichen Akteur können mit AaTh 20: cf. J T. fressen einander enden12. Selten sind Verknüpfungen
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Tiere auf Seereise
von AaTh/ATU 158 mit Zaubermärchen, so mit AaTh/ATU 530: J Prinzessin auf dem Glasberg, AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater oder AaTh/ATU 572*: The Barking Dog’s Head, the Striking Axe, etc.13 Insgesamt verdeutlichen Kombinationen mit AaTh/ATU 158, daß ergaunertes Eigentum schnell wieder verloren geht. Auch wird das Ausnutzen von Hilfsbereitschaft bestraft, so in einer wotjak. Var.: Hier erschlägt der Mann die T., die sein Pferd gefressen haben, verkauft ihre Felle und erwirbt von dem Erlös einen neuen Schlitten und ein neues Pferd14. Zwar existieren Hinweise darauf, daß AaTh/ ATU 158 mitunter gesungen wurde, es liegen jedoch keine Informationen über Melodien vor15. 1
Krohn, K.: Tutkimuksia suomalaisten kansansatujen alalta (Unters.en zum finn. Volksmärchen). 1: Eläinsadut (Tiermärchen). Hels. 1887, 183⫺187; Rausmaa, P.-L.: Läntinen ja itäinen satuperinne Suomessa (Die östl. und die westl. Märchentradition in Finnland). In: Kalevalaseuran Vuosikirja 53 (1973) 121⫺136; Rausmaa, SK 5, 217 sq.; Kippar, P.: Über den internat. Hintergrund der estn. Tiermärchen. In: Specimina Sibirica 3 (1990) 97⫺104, hier 99; ead.: Estonskie skazki o zˇivotnych (Estn. Tiermärchen). Autoreferat Tallinn 1991, 14. ⫺ 2 Kippar, P.: Loomad, linnud, putukad. Eesti loomamuinasjutte. Varrak 1997, 10⫺12, 284, num. 14. ⫺ 3 Mann: z. B. Jannsen, H.: Märchen und Sagen des estn. Volkes 1. Dorpat 1881, num. 1; Gehnert, H.: Balt. Märchen 2. Hannover 1964, 68⫺71 (estn.); Löwis of Menar, A. von: Finn. und estn. Märchen. MdW 1922, num. 6 (finn.); Kralina, N. P.: Sto skazok udmurtskogo naroda. Izˇevsk 1961, num. 30; Mägiste, J.: Woten erzählen. Hels. 1959, num. 179; Re´dei, K.: Zyrian Folklore Texts. Bud. 1978, num. 34; Frau: Beke, Ö.: Tscheremiss. Märchen, Sagen und Erzählungen. Hels. 1938, num. 68; Konkka, U. S.: Karel’skie narodnye skazki. Petrozavodsk 1959, 51⫺53. ⫺ 4 z. B. Mägiste (wie not. 3); Baer, A.: Der gläserne Berg. Estn. Märchen. B. 21970, 177⫺179; Maticˇetov, M.: Zverinice iz Rezije. Ljubljana 1973, num. 26. ⫺ 5 AaTh/ATU 170: z. B. Mägiste (wie not. 3) num. 191; Sˇvabe, A.: Latvju tautas pasakas 2. Riga 1923, num. 20; Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, num. 15; Range, J. D.: Litau. Volksmärchen. MdW 1981, num. 1; Cammann, A.: Märchenwelt des Preußenlandes. Schloß Bleckede 1973, 300⫺302; Gasˇparı´kova´ 2, num. 572; Afanas’ev 1, num. 8; Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. Petrograd 1915, num. 80; AaTh/ATU 1655: Jannsen, Gehnert, von Löwis of Menar, Re´dei, Beke und Konkka (wie not. 3); Eberhard/Boratav, num. 35. ⫺ 6 Kallas, O.: Achtzig Märchen der Ljutziner Esten. Dorpat 1900, num. 73; Kabasˇnikau˘, K. P.: Kazki i
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legendy rodnaga kraju. Minsk 1960, num. 7; Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 1; Tosˇev, K.: Makedonske narodne pripovijetke. Sarajevo 1954, 157⫺159. ⫺ 7 Kippar. ⫺ 8 Kallas (wie not. 6); Range (wie not. 5); Slancˇiauskas, M.: Sˇiaure˙s Lietuvos pasakos. Vilnius 1974, 418 sq. (hier vorangestellt); Cammann (wie not. 5); Kabasˇnikau˘ und Lintur (wie not. 6); Zelenin (wie not. 5) num. 120. ⫺ 9 wie not. 8; Afanas’ev 1, num. 7; Doerfer, G.: Sibir. Märchen 2. MdW 1983, num. 32 (ewenk.). ⫺ 10 Range und Cammann (wie not. 5); Kabasˇnikau˘ (wie not. 6); Afanas’ev 1, num. 7. ⫺ 11 Gasˇparı´kova´ 2, num. 572; Lintur (wie not. 6); Afanas’ev 1, num. 8. ⫺ 12 SUS; Kippar; Jannsen und Gehnert (wie not. 3); Sˇvabe (wie not. 5); Kecskeme´ti/ Paunonen. ⫺ 13 Kippar; Kerbelyte˙, B.: Semanticˇeskaja klassifikacija verbal’nych tekstov. Katalog skazok o zˇivotnych po sisteme Aarne (Semantische Klassifikation mündl. Texte. Tiermärchenkatalog nach dem System von Aarne). In: Fol’klor. Kompleksnaja tekstologija. M. 1998, 251⫺317, hier 279. ⫺ 14 Kralina (wie not. 3). ⫺ 15 Salve, K./Sarv, V.: Setu lauludega muinasjutud (Setu-Volksmärchen mit Liedern). Tallinn 1987 (mit engl. und russ. Resümee), 52⫺54.
Tallinn
Pille Kippar
Tiere auf Seereise (AaTh/ATU 204, 289), Erzählungen über Konflikte von Haustieren, die sich während einer gemeinsamen Seereise (J Reise) ergeben. AaTh/ATU 204: Animals in Peril at Sea ist ein scherzhaftes Tiermärchen: Haustiere, die eine Seereise unternehmen, geraten in Seenot. Flugfähige T. wie der Hahn können sich retten, indem sie auf einen Mast flattern (wegfliegen), Schwimmvögel wie die Ente entkommen auf dem Wasser, die Säugetiere jedoch ertrinken. Die letzten Rufe der Tiere sind lautmalerisch; damit wird die charakteristische Stimme des Tiers erklärt. Diese Onomatopoesie geht in Übers.en allerdings manchmal verloren (cf. auch AaTh/ATU 236*: Miscellaneous Tales with Imitation of Bird Sounds, AaTh/ ATU 211 B*: Animals Go into a Tavern).
Literar. Zeugnisse aus älterer Zeit scheinen nicht zu existieren. Im 19./20. Jh. sind Var.n aus mündl. Überlieferungen bes. in Dänemark1, vereinzelt auch in Norwegen2, Schweden3, Estland4, Deutschland5 und bei den Friesen6 aufgezeichnet worden. Weitere Belege stammen aus Algerien7 und von Madagaskar8. Bes. beliebt soll AaTh/ATU 204 in der Südsee sein9. Die am häufigsten genannten Vögel sind Hahn (Huhn), Ente (Gans), bei den Säugetie-
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Tiere auf Seereise
ren sind es Schwein (Widder, Schaf, Ziege, Bock), Maus (Ratte, Katze) und Esel (Maulesel). Vereinzelt sind auch Wassertiere an Bord wie Krebs (Südsee) oder Fisch (Algerien), die nach dem Untergang des Schiffs in ihrem Element sind. Meistens sind drei T. unterwegs10, doch es werden auch bis zu sieben Reisegefährten genannt11. Manchmal reist ein Vogel allein und trifft erst am Ende auf einen weiteren Artgenossen12. Der Untergang der Säugetiere wird zwar nicht immer explizit erwähnt, es gibt jedoch kaum eine Rückkehr von ihrer Reise ⫺ abgesehen von der Rettung einer Ratte durch einen Tintenfisch13. Ungewöhnlich für Tiermärchen sind häufiger zu findende Lokalisierungen, in einer pommerschen Var. z. B. der Hinweis auf einen Wolgaster Schoner, der sich auf der Rückreise von England im Kattegat befindet und bei Helsingör in einen Sturm gerät14. Zwei der fünf dän. Var.n nennen ebenfalls das Kattegat15, in der dritten Var. befindet sich das Schiff auf dem Weg nach Lübeck16; die beiden anderen Var.n verlegen den Ort des Geschehens in den Limfjord17. In der schwed. Var. wird die Insel Öland angesteuert18, die estn. Var. spielt nahe Narwa19. AaTh/ATU 289: A Bat, a Diver, and a Thornbush Shipwrecked ist eine ätiologisch endende Tiererzählung. Sie weist eine lange literar. Tradition auf und erklärt die Eigenschaften und Lebensgewohnheiten von T.n und Pflanzen als Folge einer gemeinsamen, desaströs verlaufenen Seereise: Eine J Fledermaus, ein Dornbusch und ein Tauchervogel wollen gemeinsam Handel treiben. Zu diesem Zweck leiht sich die Fledermaus Geld, der Dornbusch zieht sich Kleider an, und der Tauchervogel besorgt Gold, Kupfer, Erz oder andere Edelmetalle. Alle erleiden Schiffbruch, können sich aber retten. Seitdem sucht der Tauchervogel im Wasser nach seinen Wertgegenständen; der Dornbusch hält jeden Vorbeikommenden fest, da er nach seinen Kleidern sucht; die Fledermaus fliegt nur nachts, um ihren Gläubigern zu entgehen.
Die Tiererzählung besitzt einen relativ stabilen Handlungsverlauf und weist keine Kombinationen oder Ähnlichkeiten mit anderen Erzähltypen auf. Sie ist im späten MA. bei J Johannes von Capua20, danach bei Hans Wilhelm J Kirchhof 21 und anderen Kompilatoren des 16. Jh.s22, später u. a. bei J La Fontaine (Fables 12,7) und J Lessing23 belegt. Aus
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mündl. Überlieferung ist sie im Baltikum24, in Ungarn25, Slovenien26 und England27 aufgezeichnet worden. Einzelbelege liegen aus Abchasien28, den USA29 und von den südamerik. Indianern30 vor. Die Fledermaus kommt regelmäßig vor; bei Kirchhof wird ein Mensch zur Strafe erst in das angebliche Teufelsgeschöpf verwandelt; hier fehlt auch der Dornstrauch. Dieser wird in litau. Fassungen durch eine Sumpfpflanze bzw. eine Klette ersetzt31. Anstelle des nicht näher spezifizierten Tauchervogels, der auf sein Geld oder Edelmetall wartet, kann es sich um einen Strand- bzw. Wasserläufer handeln, der am Ufer nach seinen Edelsteinen sucht (litau.)32; oder es ist eine Möwe, die auf ihr Kupfer hofft (mittelndl.)33, ein Kormoran, der auf ein Schiff wartet (engl.)34, ein Eisvogel35, der Fische fängt, die vermutlich seine Ware verschluckt haben (abchas.), oder eine Schwalbe (lett.)36. 1 Kristensen, E. T.: Danske Dyrefabler og Kjæde˚ rhus 1896, num. 30⫺34; cf. Christensen, remser. A N.: Folkeeventyr fra Kær herred. ed. L. Bødker. Kop. 1963⫺67, num. 10. ⫺ 2 Hodne. ⫺ 3 Bondeson, A.: Svenska folksagor fra˚n skilda landskap. Stockholm 1882, num. 70. ⫺ 4 Kippar; cf. Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 25. ⫺ 5 Hubrich-Messow; Haas, A.: Pommersche Sagen. B. 1912, num. 199; cf. Kubitschek, R.: Böhmerwäldler Bauernschwänke. Wien/Prag/Lpz. 1920, 74. ⫺ 6 van der Kooi. ⫺ 7 Nowak, num. 14. ⫺ 8 Haring, num. 7.204 (I). ⫺ 9 Hambruch, P.: Südsee-Märchen. MdW 1916, 275. ⫺ 10 z. B. Hodne; van der Kooi. ⫺ 11 z. B. Nowak, num. 14. ⫺ 12 Bondeson (wie not. 3). ⫺ 13 Hambruch (wie not. 9) num. 41. ⫺ 14 Haas (wie not. 5). ⫺ 15 Kristensen (wie not. 1) num. 31, 32. ⫺ 16 ibid., num. 34. ⫺ 17 ibid., num. 30, 33. ⫺ 18 Bondeson (wie not. 3). ⫺ 19 Loorits (wie not. 4). ⫺ 20 Dicke/Grubmüller, num. 145, 146; Schwarzbaum, Fox Fables, xli (not. 29), 148 (not. 18), 228, 230 (not. 26); Schippers, A.: Meddelnederlandse fabels. Nijmegen 1999, num. 409. ⫺ 21 Kirchhof, Wendunmuth 4, num. 160⫺162. ⫺ 22 Cifarelli, num. 106. ⫺ 23 Tomkowiak, 208. ⫺ 24 Kippar; Ara¯js/Medne; Kerbelyte˙, B.: Litau. Volksmärchen. B. 1978, num. 13; Scheu, H./Kurschat, A.: Pasakos apie pauksˇcˇius. Zˇemait. Tierfabeln. Heidelberg 1913, num. 1. ⫺ 25 MNK. ⫺ 26 Maticˇetov, M.: Zverinice iz Rezij. Ljubljana/Triest 1973, num. 2. ⫺ 27 Dh. 4, 274. ⫺ 28 Bgazˇba, C. S.: Abchazskije skazki. Suchumi 1959, 177; cf. Dh. 4, 306. ⫺ 29 MacDonald A 2275.5.3. ⫺ 30 Wilbert, J./Simoneau, K. (edd.): Folk Literature of South American Indians. General Index. L. A. 1992, Mot. A 2491.1. ⫺
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z. B. Kerbelyte˙ (wie not. 24). ⫺ 32 ibid. ⫺ 33 Schippers (wie not. 20). ⫺ 34 Dh. 2, 274. ⫺ 35 Bgazˇba (wie not. 28). ⫺ 36 Ara¯js/Medne.
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Sterup
Gundula Hubrich-Messow
Tiere auf Wanderschaft (AaTh/ATU 130, 210), weitverbreitete Gruppe von Tiermärchen mit schwankhaften Zügen. Die bekannteste Fassung zu AaTh/ATU 130: The Animals in Night Quarters findet sich bei den Brüdern J Grimm (KHM 27: Die Bremer Stadtmusikanten): J Esel, J Hund, J Katze und J Hahn werden von ihren Besitzern schlecht behandelt, weil sie zu alt geworden sind, um ihre Pflichten zu erfüllen. Sie entfliehen und beschließen, nach Bremen zu ziehen, um dort Stadtmusikanten zu werden. In der Nacht kommen sie zu einem Haus im J Wald, in dem J Räuber ihre Beute teilen. Die T. steigen einander auf den Rücken und brechen mit ihrer ,Musik‘ lärmend in das Haus ein, so daß die Räuber das Weite suchen. Als später einer der Räuber als Kundschafter zurückkommt, wird er von den T.n, die es sich im Haus bequem gemacht haben, angegriffen (von der Katze gekratzt, vom Hund gebissen, vom Esel getreten, vom Hahn durch Krähen erschreckt). Der Räuber stürzt davon und berichtet seinen Kumpanen so entsetzt von der überstandenen Gefahr, daß die T. fortan in Ruhe in dem Haus leben können.
Diese als idealtypisch empfundene Erzählfassung stellt entwicklungsgeschichtlich gesehen eine Spätform dar. Der früheste Beleg für den ausgeformten Erzähltyp AaTh/ATU 130, der u. a. von A. J Aarne1 und H.-J. J Uther2 untersucht worden ist, findet sich in dem lat. Tierepos J Ysengrimus (um 1148) des Nivardus von Gent: Hier überredet im Schlußteil (4,1⫺810) der Fuchs die Wildtiere Hirsch und Reh sowie die Haustiere Esel, Widder, Ziegenbock, Hahn und Gans, denen die Schlachtbank droht, mit ihm eine Wallfahrt nach Rom zu unternehmen (AaTh/ATU 20 D*: cf. J Tiere fressen einander). Als sie in einem unbewohnten Haus übernachten, gesellt sich der Wolf Ysengrimus, der leichte Beute wittert, als frommer Einsiedler zu ihnen und möchte am Mahl teilnehmen. Der Widder serviert ihm jedoch mehrmals denselben Wolfsschädel und täuscht ihm vor, die Gruppe habe mehrere Wölfe getötet, so daß Ysengrimus um sein Leben fürchtet und fliehen will, dabei aber von den T.n noch übel zugerichtet wird. Als er zusammen mit anderen Wölfen zurückkehrt, klettern die T. auf den Dachboden, von wo der Esel herabfällt und dabei
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zwei Wölfe tötet, worauf das ganze Wolfsrudel die Flucht ergreift3.
Da das Motiv des mehrmals gezeigten Wolfskopfs auch in AaTh/ATU 125: J Kinder begehren das Fleisch des Unholds auftritt, handelt es sich hier möglicherweise bereits um eine Kombination zweier Erzählungen. Auch in den weiteren literar. Belegen geht es um eine Auseinandersetzung unter T. n. So richten sich in der inhaltlich ähnlichen Darstellung der 8. Branche (um 1190) des altfrz. J Roman de Renart Fuchs, Esel und Widder auf einer Reise nach Rom in einem leeren Wolfshaus ein, töten den heimkehrenden Wolf und vertreiben das Wolfsrudel4. Wahrscheinlich aus diesen Tierepen schöpfte Hans J Sachs den Stoff für sein umfangreiches Meisterlied Der Kecklein (1551), in dem Katze, Ochse, Pferd und Hahn in einem leeren Wolfshaus übernachten. Als die Wölfe morgens heimkehren, hören sie einen Hahn krähen und schicken den Kecklein nachzusehen, was in dem Haus los ist. Der wird von den T.n nach ihrer jeweiligen Art angegriffen, entflieht und berichtet den anderen Wölfen, daß ihn mehrere Handwerker übel zugerichtet hätten5. Dieser Bericht über das mißverstandene Geschehen, vermutlich eine Zutat des Autors, erscheint in der Folge vielfach als wesentlicher Bestandteil des Erzähltyps. Eine weitere Änderung, die in der Folge häufig wiederkehrt, nahm Georg J Rollenhagen vor, der denselben Stoff wenig später für sein Versepos Froschmeuseler (3,1,9; 1595) verwandte: Hier halten sich die wilden Tiere Löwe, Leopard, Wolf und Bär in einem Waldhaus auf und werden daraus von den flüchtigen Haustieren Ochs, Esel, Hund, Katze, Hahn und Gans vertrieben. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 130 nahezu in ganz Europa häufig belegt. Ein Großteil der Belege weist noch einen ähnlichen Inhalt auf wie die spätma. Fassung des Ysengrimus: Die entflohenen Haustiere, meist unter Führung von Ochse, Pferd, Esel oder Widder, geraten in Konflikt mit den wilden T.n des Waldes (Wölfe, gelegentlich Bären), die durch körperliche Gewalt vertrieben (durch mehrmaliges Zeigen eines Wolfkopfs verjagt) und z. T. auch getötet werden.
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Tiere auf Wanderschaft
Aarne unterscheidet bei AaTh/ATU 130 zwei Erzählformen: In der ersten befinden sich die wandernden T. in einem von ihnen selbst gebauten Haus (AaTh/ATU 130 A: cf. J Hausbau der T.); in der zweiten übernachten sie in einem fremden Haus. In den meisten Ländern begegnet ferner noch eine KHM 27 nahestehende Version, die man als 3. Form bezeichnen kann6. In Belegen aus Finnland, Schweden und Dänemark haben es die wandernden T. auch mit Trollen, Kobolden oder Gespenstern zu tun7; in Texten aus Finnland, Polen und Rumänien hingegen mit dem Teufel8, was wiederum auf ältere Glaubensvorstellungen verweisen könnte. Die Aufzeichnungen aus den Ländern Asiens zeigen im Handlungsablauf in der Türkei9, in Georgien10 und im Iran11 weitgehende Übereinstimmungen mit KHM 27. In Fassungen aus dem Kaukasus halten sich Füllen, Ziege und Schwein aber auch allein durch ihr gemeinsames Konzert die Wölfe vom Leibe12. In den USA begegnen ausfabulierte, der Fassung der Brüder Grimm nahestehende Versionen mit Räubern als Gegenspielern13, während sich die wandernden T. in Belegen aus Mexiko14 und aus Argentinien15 mit regionaltypischen Raubtieren auseinanderzusetzen haben. Hier deutet sich bereits die weitreichende Variabilität des Erzähltyps AaTh/ATU 130 an, dessen Inhalt der jeweiligen Wirklichkeit mehr oder minder angepaßt wurde. Zu Beginn der Erzählungen leben die Haustiere in der Regel in einer Gemeinschaft mit Menschen, die sich ihnen gegenüber undankbar zeigen: Die T. sollen (soweit ein Grund zu ihrer Flucht genannt wird) ihres Alters halber vertrieben, oder, wenn ein Fest ansteht, geschlachtet werden, fliehen jedoch mitunter auch, weil sie wegen eines merkwürdigen Geräuschs fürchten, der Himmel stürze ein (AaTh/ATU 20 C: cf. T. fressen einander)16. Auf der Flucht bildet sich in zufälliger, ganz unterschiedlicher Zusammensetzung eine Gesellschaft von Leidensgenossen, in der jeweils ein Tier die Führung übernimmt. Sie suchen eine neue Bleibe oder wollen, speziell in der 3. Form, als Musikanten in einer großen Stadt auftreten (außer Bremen z. B. Amsterdam17, Riga18), kommen jedoch niemals dort an.
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Bei den Vertriebenen handelt es sich um gefährliche wilde Tiere oder um Räuber. Daher werden die Vertreiber, die selbst schuldlos vertrieben worden sind, nicht zu Schuldigen. Vielmehr wird ihr Tun legitimiert und demonstriert zugleich, daß gemeinsames und listiges Handeln in Notsituationen auch Alten und eindeutig Schwächeren die Kraft gibt, sich gegen überlegene Gegenspieler zur Wehr zu setzen und diese zu besiegen. In der 3. Form verjagen die von Menschen verjagten T. dabei wieder Menschen, die sich asozial verhalten, was z. T. durchaus sozialkritisch gesehen wird. Das ist in der Regel mit deutlicher Parteinahme der Erzähler und zum Schluß, wenn die mißverstandene Art der Vertreibung durch die T. von einem der betroffenen Wölfe oder Räuber ausgemalt wird, oft auch recht humorvoll geschildert19. Dabei wählten manche Erzähler sogar die Form der Ich-Erzählung20. Zwar erscheint gelegentlich auch ein Mensch als Helfer der Haustiere, indem er sie vor den Absichten der Besitzer warnt, mit ihnen geht oder sie führt bzw. ihnen sogar bei der Auseinandersetzung mit Gespenstern21, einem Riesen22, meist jedoch mit der Räuberbande23 beisteht. Dies bleibt jedoch die Ausnahme und ist nicht konstitutiv für AaTh/ATU 130. Das gilt im Grunde auch für die teilweise eingebundenen Elemente anderer Erzähltypen (AaTh/ ATU 20 C, 20 D*, 125, 130 A). Speziell in Dänemark24, Deutschland25 und in Friesland26 wurde auch gelegentlich das Motiv der Fahrt auf einem kleinen gebrechlichen Wägelchen, vor das Mäuse gespannt sind, aus AaTh/ ATU 2022: cf. J Tod des Hühnchens in AaTh/ ATU 130 eingefügt. Kontaminationen mit anderen Erzähltypen sind eher selten27. In manchen Aufzeichnungen erlangen die T. kein neues Refugium, sondern können mit ihren arteigenen ,Waffen‘ wenig ausrichten, werden gefressen28 bzw. vertrieben und finden andernorts den Tod29; oder sie gehen nach ihrer erfolgreichen Aktion wieder auseinander30 bzw. kehren zurück zu den Menschen31, sofern sie nicht überhaupt Wölfe oder Räuber aus dem Haus anderer Leute vertreiben, die ihren tierischen Helfern dankbar eine neue Heimstatt gewähren32. Im Laufe des 20. Jh.s ist die variationsreiche mündl. Ausformung von AaTh/ATU 130 weitgehend durch Adaptationen von KHM 27 ab-
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gelöst worden, wie sich an zahlreichen Aufzeichnungen ablesen läßt. In einer Region mit reicher Märchenüberlieferung wie Mecklenburg gehen sogar alle Belege, wiewohl z. T. individuell abgewandelt, auf KHM 27 zurück33. Dies ist ein Ergebnis der nahezu globalen Verbreitung der J Kinder- und Hausmärchen, deren Wirkung durch die reiche Bebilderung zahlreicher Ausg.n noch verstärkt wurde. Speziell KHM 27 wurde nicht nur von zahlreichen Künstlern illustriert34, sondern fand auch einen Platz in Schulbüchern35 und bot die Vorlage für originelle Umdichtungen36. Interpretationsversuche glitten z. T. ins Spekulative ab37. Bei der Nutzung der Erzählung zu Werbezwecken wurde sie ihres sozialkritischen Gehalts entkleidet38. Ähnliche Erzählelemente wie in AaTh/ATU 130 erscheinen auch schon früh in altind. Quellen: Hier sucht eine Ziege Schutz in der Höhle eines Löwen, den sie mit der Prahlerei verjagt, schon eine Menge Elefanten und Löwen gefressen zu haben (AaTh/ATU 126: J Schaf verjagt denWolf ). Die möglicherweise aus solchen Anfängen entstandene Grundform des nach Aarne für Asien typischen Erzähltyps AaTh/ATU 210: Rooster, Hen, Duck, Pin, and Needle on a Journey hat folgenden Inhalt: Ein Ei, ein Skorpion, eine Nadel, ein Stück Kot und ein schwerer Gegenstand (z. B. Mörser, Mühlstein) gelangen auf ihrer gemeinsamen Reise in das Haus einer alten Frau ( cf. J Gegenstände handeln und sprechen). Dort legt sich das Ei auf den Herd, der Skorpion in ein Wassergefäß, die Nadel auf die Erde, der Kot an die Tür und der schwere Gegenstand auf einen Balken darüber. Als die Frau heimkommt und am Herd zu wirtschaften beginnt, wird sie von dem platzenden Ei beschmutzt und, als sie sich waschen will, vom Skorpion gestochen; als sie wegläuft, tritt sie sich die Nadel in den Fuß, gleitet dann auf dem Kot aus und wird von dem herabstürzenden Gegenstand erschlagen. In einer anderen Form der Erzählung können die in dieser Weise tätigen Gegenstände und Kleintiere ihr allerdings auch gegen einen sie bedrohenden Eindringling (Dieb, Menschenfresser, Ungeheuer) beistehen.
Diese Erzählung ist in Asien und Europa weit verbreitet, während sich das Vorkommen in Afrika auf Marokko und in Amerika auf einige Länder der Karibik beschränkt. Der pessimistische Ausgang, bei dem es sich im Grunde um den Mord an einer schuld- und wehrlosen Frau handelt39, ist vor allem für Ostasien be-
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legt und scheint zu dominieren, während der Schluß mit der Hilfeleistung seltener aufgezeichnet worden ist40. In Erzählungen aus Japan z. B. bedrängt ein Affe ein schwächeres Tier (Krabbe, Fasan) und wird dafür getötet41. In der mitteleurop. Überlieferung ist der positive Ausgang von AaTh/ATU 210 vielfach mit AaTh/ATU 2022 verbunden, wobei es dem Räuber des Hühnchens (Fuchs, Habicht) an den Kragen geht42. Daneben begegnen jedoch auch Aufzeichnungen, in denen das unschuldige Opfer ein junges Mädchen ist43. Einige dieser Belege zeigen eine sozialkritische Färbung: Hier werden hartherzige Gutsherren von den Gegenständen malträtiert und schließlich erschlagen44 oder vertrieben45. Im Falle des einäugigen und einfüßigen Unholds Verlioka in der ostslav. Erzählüberlieferung, der mehrere Mädchen und eine alte Frau getötet hat, verhütet seine Hinrichtung durch die Gegenstände sogar weiteres Unheil (AaTh/ATU 210*: Verlioka). Während die Tötung Unschuldiger in AaTh/ ATU 210 befremdlich und unmoralisch erscheint, ist sie in Fällen, in denen sie den Mord an Unschuldigen oder Schwächeren verhindert bzw. einen Akt als gerecht angesehener Bestrafung darstellt, zumindest nachvollziehbar. Das mag auch W. J Grimm empfunden haben, als er der nicht recht motivierten Tötung des Herrn Korbes (KHM 41) in der 6. Aufl. der KHM (1850) die Bemerkung hinzufügte: „Herr Korbes muß ein sehr böser Mann gewesen sein.“46 Die Belege von AaTh/ATU 210 zeigen also bei allen gemeinsamen bzw. verwandten Handlungszügen eine andere Wirklichkeitseinstellung und Moralauffassung als diejenigen für AaTh/ATU 130, ja ein archaischeres Weltbild, das man in der europ. Überlieferung z. T. an gängigere Auffassungen anzupassen versuchte47 und das doch letztendlich die Identifikation mit dem Dargestellten erschwert. 1 Aarne, A.: Die T. auf der Wanderschaft (FFC 11). Hamina 1913. ⫺ 2 Uther, H.-J.: „Es hatte ein Mann einen Esel …“ Zur Entstehung, Bildgeschichte und Bedeutung des Märchens. In: Die Stadtmusikanten in Bremen. Geschichte, Märchen, Wahrzeichen. ed. A. Röpke/K. Hackel-Stehr. Bremen 1993, 18⫺52. ⫺ 3 Dicke/Grubmüller, num. 336. ⫺ 4 Roman de Renard 1. ed. E. Martin. Straßburg 1882, 265⫺278. ⫺ 5 Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs
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5. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1904, num. 735. ⫺ 6 z. B. Woeller, W.: Dt. Volksmärchen von Arm und Reich. B. 1959, num. 30; Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen 2. MdW 1927, num. 10; Grüner, G.: Waldeck. Volkserzählungen. Marburg 1964, 273 sq.; Wildhaber, R./Uffer, L.: Schweizer Volksmärchen. MdW 1971, num. 44; Witteryck, A.: Oude Westvlaamsche volksvertelsels. Brügge/Brüssel 1946, num. 23; Aitken, H./Michaelis, R.: Schott. Volksmärchen. MdW 1965, num. 44; Sirova´tka, O.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1980, num. 42; Bolhar, A.: Slovenske narodne pra´vljice. Ljubljana 7 1974, 111 sq.; Bosˇkovic´-Stulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975, num. 61 (⫹ AaTh/ATU 122 M*); Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1977, num. 36; Simonides, D. und J.: Märchen aus der Tatra. MdW 1994, num. 35; Nedo, P.: Die gläserne Linde. Bautzen 1972, 104⫺108. ⫺ 7 Simonsuuri, L./ Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 13; Schier, K.: Schwed. Volksmärchen. MdW 1971, num. 43; Kristensen, E. T.: Danske Dyrefabler. ˚ rhus 1896, num. 2, 5; Säve, P. A./Gustavson, H.: A Gotländska sagor 1. Stockholm 1952, num. 82; Holbek, B.: Dän. Volksmärchen. B. 1990, num. 2. ⫺ 8 Löwis of Menar, A. von: Finn. und estn. Volksmärchen. MdW 1922, num. 45 (finn.); Wisła 7 (1983) 685; Bıˆrlea, O.: Antologie de proza˘ populara˘ epica˘. Buk. 1966, 374 sq. ⫺ 9 Eberhard, Typen, num. 11. ⫺ 10 Kurdovanidze. ⫺ 11 Marzolph. ⫺ 12 Dirr, A.: Kaukas. Märchen. MdW 1920, num. 33. ⫺ 13 Campbell, M.: Tales from the Cloud Walking Country. Bloom. 1958, 226⫺228; Chase, R.: The Jack Tales. Cambr., Mass. 1976, num. 4. ⫺ 14 Robe. ⫺ 15 Karlinger, F./Pögl, J.: Märchen aus Argentinien und Paraguay. MdW 1987, num. 38. ⫺ 16 z. B. Bll. für Pommersche Vk. 6 (1898) 135; Wisser (wie not. 6) num. 2; Dykstra, W.: Uit Friesland’s volksleven van vroeger en later 2. Leeuwarden 1896, 138; Mont, P. de/Cock, A. de: Vlaamsche volksvertelsels. Gent 1898, 73; Bulletin de folklore 2 (1896) 14 (frz.); Bolhar (wie not. 6). ⫺ 17 Madsen, J.: Folkeminder fra Hanved Sogn ved Flensborg. Kop. 1870, 67. ⫺ 18 Ambainis (wie not. 6) 58. ⫺ 19 Uther (wie not. 2) 49. ⫺ 20 Kristensen (wie not. 7) num. 15; Sirova´tka (wie not. 6). ⫺ 21 z. B. Kristensen (wie not. 7) num. 7. ⫺ 22 Kuhn, A.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen 2. Lpz. 1859, 229. ⫺ 23 z. B. Meier, E.: Dt. Volksmärchen aus Schwaben. Stg. 1852, num. 3; Bll. für Pommersche Vk. 9 (1901) 46; Bondeson, A.: Halländska sagor. Lund 1880, num. 11; Jacobs, J.: Celtic Fairy Tales. L. 1892, num. 14; Schulenburg, W. von: Wend. Volksthum in Sage, Brauch und Sitte. B. 1882, 23; Kubı´n, J. Sˇ.: Povı´dky kladske´ 1. Prag 1908, num. 5; Sirova´tka (wie not. 6); Stojanovic´, M.: Pucˇke pripoviedke i pjesme. Zagreb 1867, num. 2. ⫺ 24 Grundtvig, S.: Gamle Danske Minder i Folkemunde 1. Kop. 1865, num. 251; Kristensen, E. T.: Æventyr fra Jylland 2. Kop. 1884, num. 49; id. (wie not. 7) num. 1, 10; Kamp, J.: Danske Folkeæventyr 2. Kop. 1891, num. 2; DSt. (1906) 3. ⫺ 25 Birlinger,
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A.: Nimm mich mit. Fbg 1891, 232; Neumann, S.: Mecklenburg. Volksmärchen. B. 1971, num. 42. ⫺ 26 Dykstra (wie not. 16) 138. ⫺ 27 Henßen, G.: Sagen, Märchen und Schwänke des Jülicher Landes. Bonn 1955, num. 437 b (AaTh/ATU 130 ⫹ 41 ⫹ 103); Meder, T.: De Bremer Stadsmuzikanten. In: Dekker/Kooi/Meder, 69⫺74. ⫺ 28 Capeller, C.: Litau. Märchen und Geschichten. B. 1924, num. 1. ⫺ 29 Gonzenbach, num. 66. ⫺ 30 Sirova´tka (wie not. 6). ⫺ 31 Dh. 4, 212 (lett.). ⫺ 32 Wisła 3 (1889) 780; Simonides (wie not. 6); Zaunert, P.: Dt. Märchen aus dem Donauland. MdW 1958, 48⫺51; Massignon, G.: Folktales of France. Chic./L. 1968, num. 52; cf. auch Cammann, A.: Der weite Weg der Bremer Stadtmusikanten. In: Jb. der Wittheit in Bremen 19 (1975) 149⫺162; Grimms Märchen internat. ed. I. Tomkowiak/U. Marzolph. Paderborn u. a. 1996, 130⫺ 146. ⫺ 33 Neumann (wie not. 25) num. 26; id.: Ein mecklenburg. Volkserzähler. B. 1968, num. 204; id.: Eine mecklenburg. Märchenfrau. B. 1974, num. 8; id.: Mecklenburg. Erzähler der Gegenwart und ihre Märchen. In: Märchen in unserer Zeit. ed. H.-J. Uther. Mü. 1990, 102⫺114, hier 108⫺111. ⫺ 34 cf. bes. Uther (wie not. 2). ⫺ 35 Tomkowiak, 239 sq. ⫺ 36 cf. Mieder, W. (ed.): Grimmige Märchen. Ffm. 1986, 148⫺165. ⫺ 37 Uther, H.-J.: Die Bremer Stadtmusikanten. Ein Märchen und seine Interpreten. In: Telling Reality. Folklore Studies in Memory of B. Holbek. ed. M. Chesnutt. Kop./Turku 1993, 89⫺ 104. ⫺ 38 Richter, D.: Die Bremer Stadtmusikanten in Bremen. In: Uther (wie not. 33) 27⫺38. ⫺ 39 z. B. Tijdschrift voor ind. Taal-, Land- en Volkenkunde 40 (1898) 357; ibid. 45 (1902) 432. ⫺ 40 Bradley-Birt, F. B.: Bengal Fairy Tales 1. L./N. Y. 1920, num. 12; Mode, H./Ray, A.: Bengal. Märchen. Lpz. 1997, 190⫺192; Htin Aung, M.: Burmese Folk-Tales. L. 2 1954, 93⫺97; Eberhard, W.: Folktales of China. L. 1965, num. 63. ⫺ 41 Brauns, D.: Jap. Märchen und Sagen. Lpz. 1885, 29; cf. auch Seki, K.: Folktales of Japan. Chic. 1963, num. 6; abweichend bei Hammitzsch, H.: Jap. Volksmärchen. MdW 1962, num. 101 (Dämonengott). ⫺ 42 Bll. für Pommersche Vk. 9 (1900/01) 39 sq.; Busch, W.: Ut oˆler Welt. Mü. 1910, num. 12; Meyer, G. F.: Plattdt. Volksmärchen und Schwänke. Neumünster 1925, num. 20; Bødker, L./Hüllen, G.: Begegnung der Völker im Märchen. Dänemark ⫺ Deutschland. Münster 1966, num. 16 (dt.); Kooi, J. van der/Meerburg, B. A. G.: Fries. Märchen. MdW 1990, num. 120. ⫺ 43 cf. z. B. Vk. 14 (1901/02) 79; Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1867, num. 41. ⫺ 44 Grannas, G.: Plattdt. Volkserzählungen aus Ostpreußen. Marburg 1957, num. 40; Range, J. D.: Litau. Volksmärchen. MdW 1981, num. 16. ⫺ 45 Delarue, num. 29. ⫺ 46 Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 100 sq. ⫺ 47 Krohn, K.: Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung (FFC 96). Hels. 1931, 31⫺37.
Rostock
Siegfried Neumann
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Tiere bauen einen Weg
Tiere bauen einen Weg (AaTh/ATU 55), zusammenfassende Bezeichnung für Tiermärchen, in denen ein Tier sich einer Gemeinschaftsarbeit verweigert (cf. auch AaTh/ATU 43, 81, 130 A: J Hausbau der T.). Europ. Fassungen von AaTh/ATU 55 aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s enden mit der Erklärung bestimmter Eigenheiten von T.n. Dabei lassen sich zwei Redaktionen unterscheiden. In der Wegebau-Redaktion (Nord-, Nordost-, Südosteuropa) befiehlt Gott (beschließen die T.), einen Weg zu bauen. Das die Mitarbeit verweigernde Tier (rumän., slov., poln., lett.: Maulwurf; finn.: vorwiegend Spitzmaus) darf den Weg nicht benutzen und wird im Fall der Benutzung getötet. Das Tiermärchen erklärt, warum man am Weg häufig bestimmte tote T. findet (sie unter der Erde leben)1. In der Wasserbau-Redaktion (Ost- und Südosteuropa, Italien, Frankreich, China)2 befiehlt Gott den Vögeln, ein Flußbett oder einen Brunnen zu graben. Ein Vogel (oft Milan, Rabenvogel, Specht) weigert sich aus Faulheit oder Eitelkeit. Er darf fortan nicht aus Flüssen und Quellen trinken, sondern nur noch Regenwasser. Mit der Erzählung wird der Ruf des Vogels interpretiert, der angeblich um Regen bittet.
Thematisch abweichende Darstellungen und andere Figurenkonstellationen weisen Tiertrickstergeschichten auf, die in ganz Afrika bekannt sind3 und sich von dort sowohl nach Amerika4 als auch zu den Inseln im Ind. Ozean5 verbreitet haben. Sie gelten seit H. A. Junod und E. Jacottet6 als altafrik. Erzählgut. Der Trickster (Hase, Schakal) weigert sich während einer Dürrezeit, mit an einem Brunnen (Damm) zu graben. Nach dessen Fertigstellung bringt er die aufgestellten Wächter dazu, sich von ihm binden zu lassen, und nimmt sich immer wieder Wasser.
In Erzählungen aus der westafrik. Savanne wird der Trickster häufig mit einer J Teerpuppe (AaTh/ATU 175) gefangen, an der er kleben bleibt7, in anderen Gebieten von der allg. als klug geltenden J Schildkröte. In Erzählungen aus dem südl. und südöstl. Afrika ist die Schildkröte mit Leim bestrichen, nach S. C. Hattingh8 eine spätere, unter dem Einfluß der Teerpuppen-Erzählung entstandene Fassung. Ganz im Geiste der Trickstergeschichten entkommt der Held durch einen neuen Trick. Von dieser laut D. Paulme in den wasserarmen Savannen beheimateten Brunnen-Form weichen die Var.n in den wasserreichen Waldgebieten häufig ab9, da kein Zwang
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besteht, durch Gemeinschaftsarbeit einen Brunnen zu bauen. Es kann das Eingangsmotiv der verweigerten Mitarbeit fehlen, der Trickster stiehlt nur das bewachte Wasser oder Essen des Königs10; er gibt statt dessen vor, beim gemeinsamen Bau mitzuwirken, vertreibt dann aber alle T. aus dem Haus11; oder er ist derjenige, der die Essensdiebe besiegt12. 1 Dh. 3, 323 sq.; Rausmaa, SK 5, num. 53⫺55; Goldberg, H.: Finn. Märchen. B. 1969, 191⫺201; Scheu, H./Kurschat, A.: Pasakos apie pauksˇcˇius. Zˇemait. Tierfabeln. Heidelberg 1913, num. 74; Maticˇetov, M.: Zverinice iz Rezij. Ljubljana/Triest 1973, num. 9; FL 20 (1909) 390 (ind.). ⫺ 2 Krzyz˙anowski, num. 2537; Scheu/Kurschat (wie not. 1) num. 73; Danner, E.: Die Tanne und ihre Kinder. B. 1961, 159; Maticˇetov (wie not. 1) num. 8; Ting; Dh. 3, 312⫺323. ⫺ 3 Hattingh, S. C.: Sprokiesvorsing. Met spesiale Toepassing op die Afrikaanse Volksverhale. Johannesburg 1950, 72⫺145; Paulme, D.: Le Puits des animaux, ou la main prise. In: Cahiers de litte´rature orale 2 (1977) 60⫺102; Klipple, 34⫺41 (19 Var.n); Arewa, num. 1981 (8 Var.n); Lambrecht, num. 736 (1 Var.); Jacottet, E.: The Treasury of Ba-Suto Lore. L. 1908, 32⫺35; FL 20 (1909) 442⫺446; Werner, A.: Myths and Legends of the Bantu. L. 1933, 254⫺258; Lindblom, G.: Kamba Folklore 1. Uppsala 1928, 29⫺37; Kohl-Larsen, L.: Der Hase mit den Schuhen. Tiergeschichten der Iraku. Kassel 1958, 44⫺49; Tubiana, M. J. und J.: Contes Zaghawa. P. 1961, 92⫺ 95; Hauenstein, A.: Fables et contes angolais. St. Augustin 1976, 120⫺123; Baer, F.: Sources and Analogues of the Uncle Remus Tales (FFC 228). Hels. 1980, 63 sq., 99⫺101; Schmidt, num. 518; ead.: Hänsel und Gretel in Afrika. Köln 1999, 301 sq.; Mbele, J. L.: Matengo Folktales. Bryn Mawr 1999, 34⫺42, 43⫺47. ⫺ 4 MacDonald A 2233.1.1; Harris, J. C.: The Complete Tales of Uncle Remus. ed. R. Chase. Boston 1955, 137⫺141, 347⫺351, 389⫺391; Baer (wie not. 3) 99⫺101, 109 sq.; Courlander, H.: Terrapin’s Pot of Sense. N. Y. 1957, 46⫺49; Saucier, C. L.: Folk Tales from French Louisiana. N. Y. 1962, 84⫺ 103. ⫺ 5 Paulme (wie not. 3) 60; Haring, L.: Eastward to the Islands: the Other Diaspora. In: JAFL 118 (2005) 290⫺307, hier 295. ⫺ 6 Junod, H. A.: Les Chants et les contes des Ba-Ronga de la Baie de Delagoa. Lausanne 1897, 130; Jacottet (wie not. 3) 32; Hattingh (wie not. 3); Dundes, A.: African and AfroAmerican Tales. In: Crowley, D. J. (ed.): African Folklore in the New World. Austin/L. 1977, 35⫺53, hier 42; Baer (wie not. 3). ⫺ 7 Paulme (wie not. 3). ⫺ 8 Hattingh (wie not. 3). ⫺ 9 Paulme (wie not. 3) 78. ⫺ 10 Junod, H. A.: The Life of a South African Tribe 2. Neuchaˆtel/L. 1913, 207⫺210; Kilian-Hatz, C./ Naude, D.: Folktales of the Kxoe in the West Caprivi Narrated by Dao Ngyengye. Köln 1999, 187⫺ 208; Burton, W. F. P.: The Magic Drum. L. 1961, 100⫺103. ⫺
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Tierehe ⫺ Tierepos
11
Harris (wie not. 4) 137⫺141; Baer (wie not. 3) 63 sq. ⫺ 12 Theal, G. M.: The Yellow and Dark-Skinned People of Africa South of the Zambesi. L. 1910, 94; Tubiana/Tubiana (wie not. 3) num. 22; Hauenstein (wie not. 3) 120⫺123; Harris (wie not. 4) 347⫺ 351; Baer (wie not. 3) 99⫺101.
Hildesheim
Sigrid Schmidt
Tierehe J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe
Tierepos 1. Allgemeines ⫺ 2. Merkmale und Wesenszüge des T.epos ⫺ 3. Antike ⫺ 4. MA. ⫺ 4. 1. Ecbasis captivi ⫺ 4. 2. Ysengrimus ⫺ 4. 3. Vogelversammlungen ⫺ 5. 16. Jh. ⫺ 5. 1. Frosch-Mäuse-Krieg ⫺ 5. 2. Johann Fischarts Flöh Haz ⫺ 6. 17. Jh. ⫺ 7. Nachwirkungen
1 . All ge me in es. Literar. Gattungs- und Typenbegriffe können im Deutschen leicht mit dem Bestimmungswort Tier (T.) komponiert werden (z. B. T.märchen, T.schwank, T.fabel [J Fabel], T.sage, T.geschichte, T.volkserzählung, T.ätiologie, T.beschreibung, T.gedicht, T.drama, T.epigramm, T.gleichnis, T.allegorie, T.komödie, T.novelle, T.erzählung, T.roman, T.satire, T.buch) und spezifizieren so das literar. Genre1. T.dichtung dagegen fungiert eher als Sammelbezeichnung2. Wenn J Epos als eine „narrative Großform in Versen“ zu bestimmen ist3, dann handelt es sich beim T.epos um eine solche „mit Tieren als Handlungsträgern“4. Allerdings werden auch literar. Werke kleinepischer Art bzw. in Prosa abgefaßte romanartige Textkorpora dem T.epos zugeschlagen, wenn T.e als Sprechende und Handelnde auftreten. Der Begriff T.epos begegnet im 19. Jh. zuerst bei J. J Grimm (1834) und G. G. Gervinus (1835)5. Dagegen bezeichnete J. C. Gottsched 1752 den Reynke de Vos (J Reineke Fuchs) auch als ,komische Epopee‘6. Der Oberbegriff T.epik für die Gesamtheit von T.epen wurde erstmals 1867 von W. Wackernagel7 verwendet8. 2 . Mer km al e u nd We se ns zü ge de s T.e po s. Zu den charakteristischen Merkmalen des T.epos (und darüber hinaus der meisten Spielarten der T.dichtung) gehört, daß die
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T.e als Handlungsträger vermenschlicht werden. Diese J Anthropomorphisierung erstreckt sich auf alle Ebenen menschlichen Verhaltens, Denkens und Handelns (Motorik, Empfindungen, Emotionen, Verstand, Gesellschaftsformen u. a.)9, bezieht sich aber bes. auf die Sprachfähigkeit der T. e. Dabei gilt ein schon von J. Grimm aufgestellter Grundsatz als Qualitätsmerkmal, nach dem die schlüssige Vermischung und Verzahnung menschlicher und tierischer Elemente ausschlaggebend ist10. Keineswegs geht es im T.epos um mimetische Darstellung des in der Natur beobachtbaren T.verhaltens und auch nicht um die Erschaffung gemischter Charaktere durch die Vermenschlichung. Vielmehr kennzeichnet das T.epos eine feste Typik der T.figuren, die von J Lessing für die T.fabel konstatierte ,Bestandheit der Charaktere‘11. Danach ist der J Fuchs schlau und listig und darüber hinaus lernfähig, der J Wolf hingegen immer dumm und gefräßig. Diese Typisierung zielt weiter auf den Gegensatz von Schelm (J Trickster) und J Dümmling12 und von Weisheit und Torheit (J List, J Dummheit)13. Unklar ist, wie weit bei den J Charaktereigenschaften der T.e im T.epos interpretierte Naturbeobachtung oder lediglich Zuschreibung aus menschlicher Sicht (J Bestiarien) zugrunde liegt14. Ein weiteres Merkmal des T.epos ist der individuelle, in der Tradition festgelegte J Name der handelnden T.e, etwa Renart/Reineke etc. für den Fuchs und Ysengrin/Isengrin etc. für den Wolf; dabei begegnen auch sprechende Namen wie Schantecler für den Hahn (frz. Chantecler) oder Marquart für den Häher (Markwart: Grenzwächter). Kennzeichnend für das T.epos ist die Spannung von Individualisierung durch Namengebung (Reineke) und Typisierung als T.gattung (Fuchs)15. Menschen, die neben den handelnden T.en auftreten, übernehmen meist Nebenrollen, kommunizieren sprachlich eher selten mit den T.figuren und werden von diesen öfter funktionalisiert: In der häufig vertretenen Episode AaTh/ATU 2: J Schwanzfischer z. B. veranlaßt der Fuchs Menschen, den Wolf zu malträtieren16. Die Vermenschlichung der T.e und ihr Agieren in bestimmten Gesellschaftsformen ermöglichten es den Verf.n, im T.epos relativ gefahrlos Kritik an gesellschaftlichen Mißständen zu üben, auch indem die „bittere warheit Poeti-
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Tierepos
scher weise vermummet/ […] vnd der rechte ernst/ im schertz vnd mit lachendem munde ausgesprochen […] wird“17. 3 . Ant ik e. Das älteste T.epos ist die Batrachomyomachia (1. Jh. a. Chr. n.; J FroschMäuse-Krieg)18, die J Homers Ilias mit ihren Heldenkämpfen parodiert. Beim homerischen Epos entspricht die hohe Stilebene dem hohen Gegenstand und Personal (Götter und Helden), seine Parodie kennzeichnen die (niederen) T.figuren: Agieren im homerischen Epos Hektor und J Achilleus, so sind es hier der Froschkönig Physignathos (Pausback) und der Mäuseprinz Psicharpax (Krümelklau), die sich dennoch eines hohen Stils bedienen, wobei der Kontrast Komik erzeugt. Als Schullektüre genutzt und bearbeitet, wurde der griech. Text mit einer lat. Übers. versehen erstmals 1474/75 in Brescia gedruckt und entfaltete auch mit Übers.en in die Volkssprachen seit dem 16. Jh. eine beachtliche Wirkung. Zu den antiken Epenparodien gehört ferner mit gut 400 Hexametern das lat. Kurzepos Culex (Die Mücke), das, dem jungen J Vergil zugeschrieben, wohl erst aus der Zeit des Kaisers Tiberius (14⫺37 p. Chr. n.) stammt. Eine Mücke sticht einen schlafenden Hirten, rettet ihn so vor einer Schlange, wird jedoch von ihm erschlagen. Sie berichtet ihm im Traum von der Unterwelt und erhält zum Dank ein förmliches Begräbnis19.
Dieses politische Scherzgedicht enthält zahlreiche Anspielungen, etwa die vom Mückengrabmal auf das Mausoleum des Augustus. 4 . M A. Das T.epos als Gattung ist nach F.P. Knapp nicht aus der antiken Epenparodie mit T.protagonisten ableitbar, sondern eine Erfindung des MA.s, ein Produkt der Wechselwirkung von gelehrt-schriftl. und populärer Überlieferung sowie des germ.-rom. Kulturkontakts im (ehemaligen) karoling. Mittelreich Lotharingien20. Während die T.dichtung in einigen ihrer Ausprägungen kulturübergreifend in archaische Zeit zurückreicht und die (T.-)Fabel ihren Sitz im Leben in der griech. Gesellschaft hatte (J Äsop, J Äsopika)21, setzt das T.epos die feudale Gesellschaftsordnung des MA.s (J Feudalismus) voraus22. Das ma. T.epos besteht aus einer Zusammenstellung einzelner einepisodischer T.fabeln und
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-schwänke, die einen kohärenten Erzählzusammenhang bilden. Es zielt wie die (T.-)Fabel auf Belehrung, indem in verhüllender Weise über die anthropomorphisierten T.figuren Einsichten und Erfahrungen in bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse (z. B. Anpassung und Widerstand) vermittelt werden. J Luther nannte den Reineke Fuchs eine „lebenddige Contrafactur deß Hoflebenß“23, J Goethe sah in ihm einen Hof- und Regentenspiegel24 (cf. J Speculum principum). Die Lehre ergibt sich über J Parodie und J Satire. Das ma. T.epos parodiert bes. (wie schon das antike) das Heldenepos, aber auch höfische Dichtung, Minnesang und J Jenseitsvisionen, später auch andere literar. Gattungen und darüber hinaus Personen und Verhältnisse, Sitten und Bräuche, Ereignisse und Einrichtungen, bes. des kirchlichen und politischen Lebens25. Die Satire hingegen entlarvt mit den Mitteln des Angriffs, beruhend auf einer Norm und der Indirektheit (eben über die T.figuren)26, die als brüchig dargestellte Ordnung einer T.gesellschaft ⫺ als Spiegel der menschlichen Sozietät ⫺, in der Fressen vor der Moral, Eigen- vor Gemeinnutz kommt und strikter Rechtsformalismus zu Unrecht führt27. Dabei kann ein hist. Bezug auf Personen oder Standesvertreter und Ereignisse angedeutet werden, zumal wenn ⫺ wie in den Reineke Fuchs-Dichtungen ⫺ der Fuchs als Katalysator erscheint, der die menschliche Ämter und Würden prätendierenden Vertreter der T.hierarchie auf ihre ,wahre Natur‘ reduziert, etwa den Bären (Kaplan), der dem Honig heillos verfallen ist28. Bes. das Rechtswesen und das Mönchtum, vor allem in der Konstellation Wolf als Mönch (ATU 77**: Wolf at School), stehen im Zentrum satirischer Handlungen im T.epos, ebenso wie das Motiv vom Hoftag (AaTh/ATU 50: Der kranke J Löwe)29. 4 .1 . E cb as is ca pt iv i. In der Ecbasis captivi (11. Jh.)30 ⫺ als Vorläufer des ma. T.epos betrachtet, aber auch als sein ältestes Zeugnis angesehen31 ⫺ steht der Hoftag des kranken Löwen (AaTh/ATU 50) im Zentrum der Binnenfabel. Das 1229 leoninische Hexameter umfassende und zahlreiche J Horaz-Zitate aufweisende Werk eines anonymen Autors ist wahrscheinlich im Gebiet um Toul und die Vo-
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gesen um 1040 entstanden. Nach einem Prolog (1⫺68) setzt die Außenfabel ein: Ein Kalb flieht aus dem Stall und gerät in die Höhle (Wolfsburg) eines Wolfs, der es zum Ostermahl verspeisen will. Eine Kuhherde (angeführt von einem Stier) stürmt heran. Der Wolf hält die Burg für uneinnehmbar, fürchtet sich aber dennoch vor den Tücken des Fuchses (69⫺391). Auf Bitten der Diener (Otter und Igel) erzählt der Wolf als Ursache für seine Furcht vor dem Fuchs in der Binnenfabel die Geschichte vom Hoftag des kranken Löwen und seiner Heilung durch den Fuchs u. a. mit einem Fell vom Wolf, einem Ahn des Erzählers, im Kern also der Geschehnisablauf wie im Reineke Fuchs. Der Hoftag nimmt ein festliches Ende, an dem der Fuchs als Lehen eine Höhle im Wald erhält ⫺ das aber ist die Wohnung des Erzählers (392⫺1097). Wieder in der Außenfabel beansprucht der Fuchs die Höhle und nimmt sie mit der Herde ein; der Stier tötet den Wolf. Die Herde kehrt mit dem Kalb heim, das kurz von seinem Erleben berichtet und ein Dankgebet für seine Errettung spricht (1098⫺1223).
Die bereits im Titel angezeigte bildliche, allegorische Darstellung (per tropologiam) gilt sowohl für die Außenfabel, in der das Kalb für einen jungen Mönch steht, welcher ⫺ von der sündigen Welt (Wolf) verlockt ⫺ die Klostergemeinschaft (Herde) verläßt, aber von dieser unter Führung des Abts (Stier) wieder heimgeholt wird, als auch für die Binnenfabel. Hier nutzt der Verf. den Auftritt zahlreicher T.e am Hof des Löwenkönigs, um in Episoden, angelehnt an die menschliche Sozietät, mit satirischen Mitteln ein von Grausamkeit, Täuschung/Verstellung und Dummheit bestimmtes Verhalten bloßzustellen32. Ob und wieweit der Verf. autobiogr. Züge einbringt, ist unklar. Die Ecbasis läßt sich als Warnung für den einzelnen in einer monastischen Gemeinschaft verstehen. 4 .2 . Yse ng ri mu s. Im T.epos J Ysengrimus (Eisenmaske, -helm), meist mit dem nicht gesicherten Verf.namen Magister Nivardus von Gent verbunden, dem ältesten lat. T.epos (um 1148/49), verbinden sich das Hoftagsmotiv und das vom Wolfsmönch, das erstmals in der Fecunda ratis des J Egbert von Lüttich belegt ist. Der Antagonismus von Fuchs und Wolf 33, der im Ysengrimus noch titelgebende Figur ist, konstituiert die mit diesem T.epos einsetzende Tradition, die in volkssprachlichen Versionen mit dem Fuchsnamen im Titel bis heute ein europ. Erzählthema darstellt.
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Während der Ysengrimus mit dem Tod des Wolfs endet und damit (wie der Reinhart Fuchs mit dem Tod des Löwenkönigs schließend) ein Zeugnis finalen Erzählens bietet, bevorzugen die auf zentralen Fabeln des Ysengrimus weiterbauenden volkssprachlichen T.epen wie J Roman de Renart und Reineke Fuchs einschließlich ihrer fläm.-ndl. und engl. Fassungen eine zyklische Struktur34. Außerhalb dieser Tradition steht Ramon J Llull mit seinem vor 1285 verfaßten, häufig gedr. und öfter übers. Llibre de les be`sties35; das oft als Fabelsammlung bezeichnete T.epos ist als Llulls bedeutendste epische Leistung anzusehen36. 4 .3 . Vog el ve rs am ml un ge n. Alexander von Roes, ein nur aus seinen Schr. bekannter Kölner Kanoniker, verfaßte 1284 mit De pavo (272 V.e) eine Parabel in Hexametern, die auf das Lyoner Konzil von 1245 anspielt (Absetzung von Papst Innozenz IV. durch Kaiser Friedrich II.)37. In Form eines Vogelkonzils wird die „verhängnisvolle Verbindung von Papsttum und Franzosentum gegen das Imperium der Deutschen“ thematisiert38. Sind in den Fuchs-Wolf-Epen Säugetiere die hauptsächlichen Handlungsträger (Vögel, vor allem Hahn, Henne und Rabe spielen nur eine geringe Rolle), treten im Spätmittelalter im Pavo und in den davon unabhängigen Dichtungen vom J Parlament der Vögel (AaTh/ ATU 220, 220 A), auch als Vogelrat oder Vogelsprache bezeichnet, J Vögel in den Vordergrund39. Unter den zahlreichen, meist anonym überlieferten Fassungen unterschiedlichen Umfangs und variierender Gestaltung, doch zumeist tierepischen Zuschnitts ragen der frühe Rat der Vögel Ulrichs von Lilienfeld (um 1355) und J Chaucers T.allegorie The Parlement of Foules (ca 1382; 100 siebenzeilige Strophen) heraus. Das Motiv des lehrhaften Rats der Vögel liegt auch einer Reihe weiterer Texte zugrunde, darunter dem Synodus avium von Johannes Major (1557), in der die Argumente der theol. Auseinandersetzung zwischen Philipp J Melanchthon und Matthias Flacius satirisch kommentiert werden. 5 . 1 6. Jh. 5 .1 . Fro sc h- Mä us e- Kr ie g. Im 16. Jh. werden neben alten auch neue Stoffe zu T.epen verarbeitet. Im Rückgriff auf den antiken
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Frosch-Mäuse-Krieg gestaltete Georg J Rollenhagen sein satirisches T.epos Froschmeuseler (1595) in knapp 20 000 Knittelversen zu dem damit umfangreichsten dt. Werk dieser Art. Mit Ausweitungen von Einzelszenen, einer Vielzahl von Sprichwörtern sowie mit der Aufnahme von Fabeln, Exempeln, Schwänken, Sagen und anderen Erzählstoffen hat Rollenhagen ein Werk enzyklopädischen Ausmaßes geschaffen. Bemerkenswert ist der Vergleich mit dem Reineke Fuchs in der Vorrede. Die Erzählstoffe werden nicht von einem auktorialen Erzähler dargeboten, sondern von den Handlungsträgern selbst erzählt, sogar als von ihnen oder ihren Verwandten selbst erlebt ausgegeben. Neben der humanistisch grundierten Lehre für Lebensführung (Buch 1), Religionsübung (Buch 2) und Kritik am Kriegswesen (Buch 3) gilt die satirische Stoßrichtung politischen und religiösen Erscheinungen der Reformationszeit. Jacob Balde hat etwa 1635 eine in fünf Bücher eingeteilte und 2562 Hexameter umfassende Batrachomyomachia verfaßt40. Dem zentralen 3. Buch mit der Götterversammlung gehen zwei Bücher (die Ereignisse bis zum Tod des Mäuseprinzen und die Vorbereitungen des Krieges) voraus, zwei weitere (die eigentliche Schlacht und das Ende des Krieges) folgen ihr. Baldes Werk ist röm. geprägt, aber stilistisch umgestaltet; es ist anschaulich und mit Gleichnissen durchsetzt. Die Dialogpartien sind zu Charakterbildern der Sprecher ausgestaltet. An die dargestellten Ereignisse knüpft er moralische Belehrungen; sie bilden den ernsten Hintergrund für den parodistischen Witz. Baldes Kenntnis und Nutzung von Rollenhagens Buch wird neuerdings problematisiert41. 50 Jahre vor Adolf Glaßbrenners Werk Neuer Reineke Fuchs (1846) erfuhr auch der Froschmeuseler eine anonym erschienene freie Bearb., Der neue Froschmäuseler, die Joachim Heinrich Campe zugeschrieben wird. Beide üben satirische Kritik an den Verhältnissen ihrer Zeit, Campe speziell an dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. Von dem nicht für die Jugend bestimmten Werk erschien nur der erste Band (1796, erneut 1797)42. 5 .2 . J oh an n Fis ch ar ts Fl öh Ha z. Im späten 16. und beginnenden 17. Jh. gaben Johann J Fischart und Wolfhart Spangenberg
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dem T.epos noch einmal neue Impulse. Fischarts Flöh Haz Weiber Traz (Trotz) erschien erstmals 157343. Die einleitende Flohs klag (1⫺ 892) dürfte jedoch von Mathias Holtzwart stammen, erst der 2. Teil, Verantwortung der Weiber (893⫺2120), dazu 13 Rezepte gegen J Flöhe, ein Flohlied und ein Epilog, ist von Fischart verfaßt44. Die Anregung zu den satirischen Flohgedichten (auch frz. Humanisten) dürfte über einen 38 Hexameter umfassenden, Ovid zugeschriebenen Text aus dem 12. Jh., De pulice45, erfolgt sein, ein erotisches Kabinettstück, in dem sich der Sprecher die Fähigkeit zur Verwandlung in einen Floh wünscht, um an einer Jungfrau ungestraft seine Lust befriedigen zu können46. 1577 erschien eine von Fischart umgearbeitete und auf das Doppelte erw. Ausg. der Flöh Haz (Vorrede gezeichnet mit dem Decknamen Hultrich Elloposcleros)47. In einer fiktiven Gerichtsszene klagt ein verletzter Flohnarr vor Jupiter und einer Stechmücke wegen seiner üblen Erfahrungen bei den Menschen. Nun gelüstet ihn nach dem süßen Blut eines vornehmen Mädchens. Um ihn abzuschrecken, erzählt sein Vater seine eigenen gefahrvollen Jugendstreiche u. a. in einem ritterlichen Flohheer. Trotzdem fällt der Floh mit Verwandtschaft und Gesellen das schöne Mädchen während eines Hochzeitsmahls an, dieses aber tötet alle Flöhe bis auf den einen, der nun bei Jupiter die Weiber wegen ihrer Grausamkeit und Ungerechtigkeit anklagt. Jupiter beauftragt seinen Flohkanzler, den Dichter, die Klage anzunehmen, zu prüfen und den Streit zu entscheiden. In seiner Urteilsbegründung berührt der Kanzler alle Klagegründe, die als Unrechtstaten der Flöhe zu werten sind. Sein Urteil: Ab sofort steht den Flöhen nur Tierblut zu.
Vor allem Figuren und Geschehnisse aus Ritterromanen wie dem J Amadis (das 6. Buch dieses Romans hat Fischart 1572 verdeutscht) werden parodiert48. In Fischarts Werk spielen humanistische Tradition und volkstümliche Überlieferung eine wichtige Rolle, wobei zahlreiche Erzählmotive vorkommen49. 6 . 1 7. Jh. In der posthumen 6. Ausg. der Flöh Haz von 1610 hat Spangenberg eine Reihe von Ergänzungen angebracht50. Das Lob der Mucken ist eine freie Übers. von J Lukians Laus muscae, erweitert um unterhaltsamen Fabelstoff wie die Erzählung von der Fliege, die keinen Respekt vor der Königskrone hat. Es folgt Des Flohes Strauß mit der
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Lauß, ein J Rangstreit um den Vorrang zwischen J Laus und Floh, in den Schwänke eingelegt sind (vom Edelmann, der einen halben Taler für eine Laus bezahlt; von der Bürgermeisterwahl mit Hilfe einer Laus; von der Hofdame, die statt eines vermeintlichen Flohs eine Laus aus ihrem Dekollete´ zieht; cf. AaTh/ ATU 282 C*: J Laus und Floh, AaTh/ATU 1268*: cf. J Bürgermeisterwahl). Das erste eigenständige Werk Spangenbergs ist Ganß König (Straßburg 1607)51, ein T.epos in sechs Kap.n (4188 Knittelverse), die der Verf. zum Fest der Martinsnacht vor Freunden und Bekannten von 1601 bis 1607 aufeinanderfolgend vorgetragen hat. Mit der Fabel von der Königswahl der Gans, ihrem Märtyrertod, ihrer Heiligsprechung und Verklärung verbunden ist eine Schilderung von Bräuchen mit Beispielgeschichten sowie aus humanistischer Bildungstradition stammenden Anmerkungen52. Bereits 1608 konzipiert und 1617 aktualisiert, erscheint Spangenbergs EselKönig erst 1625 mit fingiertem Druckort und Verleger unter dem Decknamen Adolf Rosen von Creutzheim. Der Autor gibt in einer Ms.fiktion vor, den Text „auß vhralter Cimmerischer / dieser Zeit ohnbekanter Zungen / in unsere gemeine Mutter Sprache verteutschet“ zu haben53. Es handelt sich um ein umfangreiches Prosawerk in 34 Kap.n mit zwei Vorreden (Verleger und Autor). In der zweiten Vorrede wird ein 1617 im selben Verlag (Carolus, Straßburg) erschienenes Esellob von G. F. Messerschmid (Pseud.: Griphangnus Fabrus Miranda) Von Deß Esels Adel, Und der Saw Triumph, eine Übers. von A. Banchieris La nobilita` dell asino atta balippa dal Peru` (1592, 1599), in einem Göttersymposium in der Art von Traiano Boccalinis Ragguagli di Parnasso (1612, dt. Übers.: Relation ausz Parnasso, 1617) einer literar. Prüfung nach der Meistersingerpraxis ⫺ nicht nach den Regeln von Martin Opitz (1597⫺1639) ⫺ unterzogen54. Der EselKönig erzählt „die Bedrohung der Herrschaft des Löwengeschlechts durch intrigante Cliquen, vor allem durch ,Kreuzfuchs‘ u[nd] ,Bruder Esel vom Rosenkreuz‘, aber auch durch die Dummheit des Volks, ihre Ablösung durch die Herrschaft des Esels Simplicius u[nd] ihre Wiederherstellung“55. Die satirischen Anspielungen gelten den Rosenkreu-
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zern (Hauptschriften um 1617) sowie politischen und gesellschaftlichen Vorgängen im beginnenden 30jährigen Krieg; bemerkenswert ist der Hinweis in der 1. Vorrede auf den Reinike de Vos als Anreger des EselKönig56. Spangenberg hat die J Königswahl der T.e auch in zwei anderen geplanten Werken, in denen die Fische den Delphin absetzen und den Stockfisch wählen bzw. das Gewürm den Frosch dem Basilisken vorzieht (Ganß König, Vorrede), thematisieren wollen. Doch ist diese Tetralogie nicht zustande gekommen57. Die vorhandenen T.epen kreisen um Freundschaften und Feindschaften der T.e und um ihr Sozialverhalten, das sich ohne weiteres auf menschliche Gesellschaften übertragen läßt58. Mit dem 30jährigen Krieg endet die produktive Phase des satirischen T.epos. Nach W. E. Schäfer „dürfte dem Publikum klar geworden sein, daß die grotesk-komische Darstellung des Krieges im Medium von Tieren den eigenen Erfahrungen nicht mehr entspricht“59. 7 . Nac hw ir ku ng en. In den folgenden Jh.en gibt es kaum eigenständige T.epen. Zu den wenigen bekannteren Werken gehört Giovanni Battista Castis Gli animali parlanti (1802, dt. [anonym:] Die redenden Thiere, 1817), eine von Goethe geschätzte Satire, die den Gegensatz von absolutistischer Herrschaft und republikanischer Staatsform thematisiert und in den agierenden T.figuren Mißstände am Hof und allg. gesellschaftliche Zustände aufs Korn nimmt. Zumeist werden bekannte Stoffe wie der Frosch-Mäuse-Krieg bes. auf der Grundlage von Rollenhagens Froschmeuseler bearbeitet, gekürzt und geglättet als Volksbuch, als Kinder- oder Jugendbuch und ebenso als freie Bearb. herausgegeben60. Dasselbe gilt für das Reineke-Fuchs-Thema61 ⫺ das mit Goethes Hexameterepos von 1794 weltliterar. Geltung erlangt hat ⫺, auch in der Tradition des Roman de Renart62 und in den engl. Bearb.en von Reynard the Fox63. Bes. die ma. Fuchs-WolfT.epen haben eine breite und vielfältige europ. Nachwirkung bis in die Gegenwart hinein64. Selbst das dem Pulex zugrundeliegende Motiv der Verwandlung des Liebenden in einen Floh lebt im Gedicht Der Floh von Wilhelm J Busch fort65.
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cf. Knapp, F. P.: Das lat. T.epos. Darmstadt 1979, bes. 102⫺114. ⫺ 2 cf. Schweikle, I.: T.dichtung. In: Metzler Lit. Lex. ed. G. und I. Schweikle. Stg. 1990, 464 sq.; Düwel, K.: T.dichtung. In: Lit.wiss. Lex. ed. H. Brunner/R. Moritz. B. 22006, 407⫺409; Grubmüller, K.: T.dichtung. In: Killy, W. (ed.): Lit.lex. 14. Gütersloh/Mü. 1993, 432⫺434; Knapp, F. P.: T.epos. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 765 sq. ⫺ 3 Fromm, H.: Epos. In: RDL 1 (31997) 480⫺484, hier 480; cf. EM 4, 75 sq.; cf. Aristoteles, Poetica 14,59 (b8). ⫺ 4 Düwel, K.: T.epik. In: RDL 3 (32003) 639⫺641, hier 639. ⫺ 5 Grimm, J.: Reinhart Fuchs. B. 1834, X, XIX; Gervinus, G. G.: Geschichte der poetischen Nationallit. Lpz. 1835, bes. 103, 105. ⫺ 6 Gottsched, J. C.: Heinrichs von Alkmar Reineke der Fuchs. Lpz. 1752, 83. ⫺ 7 Wackernagel, W.: Von der Thiersage und den Dichtungen aus der Thiersage [1867]. In: id.: Kl.re Schr. 2. Lpz. 1873, 272⫺285. ⫺ 8 cf. Rombauts, E./Welkenhuysen, A.: Aspects of the Medieval Animal Epic. Löwen/Den Haag 1975. ⫺ 9 Kehne, B.: Formen und Funktionen der Anthropomorphisierung in Reineke Fuchs-Dichtungen. Ffm. u. a. 1990; Düwel, K.: Von Menschen und T.en in Fabeln und T.dichtung. In: Das T. in Dichtung und Bildender Kunst. ed. M. Pufal/K. Wächtler. Hannover 2003, 1⫺31, hier 1. ⫺ 10 Grimm (wie not. 5) VIII. ⫺ 11 Lessing, G. E.: Werke 5. ed. H. G. Göpfert. Mü. 1973, 352⫺419, hier 389; Jauss, H. R.: Unters.en zur ma. T.dichtung. Tübingen 1959, 201 sq.; cf. EM 2, 1243. ⫺ 12 Meiners, I.: Schelm und Dümmling in Erzählungen des dt. MA.s. Mü. 1967. ⫺ 13 Jauss (wie not. 11) 99 sq. ⫺ 14 cf. Dittrich, L.: Emblematische Weisheit und naturwiss. Realität. In: Jb. für internat. Germanistik 13,2 (1981) 36⫺60; Düwel (wie not. 9) 3⫺5. ⫺ 15 Jauss (wie not. 11) 201⫺218; cf. Düwel (wie not. 9) 2 sq. ⫺ 16 Robertson, S. S.: Those Beastly People. A Study of Human Beings in Animal Epics. In: Canadian J. of Netherlandic Studies (1981) 63⫺68; Ruberg, U.: Das ,Manthier‘. Zur Rolle des Menschen in der T.epik, insbesondere im „Froschmeuseler“ Georg Rollenhagens. In: T.epik und T.allegorese. ed. B. Jahn/O. Neudeck. Ffm. u. a. 2004, 217⫺227, bes. 217⫺220. ⫺ 17 Doderer, K.: Über das „betriegen zur Warheit“. Die Fabelbearb.en Martin Luthers. In: Wirkendes Wort 14 (1964) 379⫺388; cf. Düwel, K./Ohlemacher, J.: „das ist der wellt lauf“. Zugänge zu Luthers Fabelbearb. In: Martin Luther. ed. H. L. Arnold. Mü. 1983, 121⫺143; Rollenhagen, G.: Froschmeuseler. ed. D. Peil. Ffm. 1989, 27. ⫺ 18 Die Batrachomyomachia. ed. R. Glei. Ffm. u. a. 1984; Pseudo-Homer: Der Froschmäusekrieg; Theodoros Prodromos: Der Katzenmäusekrieg. ed. H. Ahlborn. B. 41988; zum frühen ägypt. Katzenmäusekrieg cf. EM 1, 186. ⫺ 19 Vergil: Die Mücke. ed. M. Schmidt. B. 1959; cf. Albrecht, M. von: Geschichte der röm. Lit. 1. Bern 1992, 562. ⫺ 20 Knapp (wie not. 2) 765. ⫺ 21 cf. Schöne, A.: Vom Biegen und Brechen. Göttingen 1991, bes. 13; Düwel (wie not. 9) 5 sq. ⫺ 22 Jauss (wie not. 11) bes. 20. ⫺ 23 Nach Mathesius, J.: Histo-
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rien […]. Nürnberg 1600, 126. ⫺ 24 Menke, H.: Ars vitae aulicae oder descriptio mundi perversi. Grundzüge einer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte vom Reineke Fuchs. In: Ndd. Jb. 98⫺99 (1975/76) 94⫺ 136, hier 117 sq. ⫺ 25 Lehmann, P.: Die Parodie im MA. Stg. 1913 (21963), 23 sq. ⫺ 26 Brummack, J.: Satire. In: RDL 3 (32003) 355⫺360, hier 355 sq.; cf. Düwel (wie not. 2) 408. ⫺ 27 Brummack (wie not. 26) 357; cf. Düwel, K.: Reinhart/Reineke Fuchs in der dt. Lit. In: Michigan Germanic Studies 7 (1981) 233⫺248. ⫺ 28 Schwab, U.: Zur Datierung und Interpretation des Reinhart Fuchs. Neapel 1967, 87 sq.; Jauss (wie not. 11) 214. ⫺ 29 Knapp (wie not. 2) 765. ⫺ 30 Ecbasis captivi per tropologiam. Die Flucht eines Gefangenen (tropologisch). ed. W. Trillitzsch. Lpz. [1964]. ⫺ 31 Düwel (wie not. 4) 640 (votiert für „Vorläufer“, da „noch nicht das konventionalisierte [mit Namen versehene] Personal und die typischen Episoden“ vorhanden sind); cf. auch Knapp (wie not. 1) V, 90; id. (wie not. 2) 765; anders Syndikus, A.: Ecbasis captivi. In: Killy (wie not. 2) 3 (1989) 162 sq., hier 162; Berteloot, A./Rohr, G. W.: Unter T.en. Fabelhafte Ausstellung um Reineke, Isegrim & Co. Siegen 2005, 19. ⫺ 32 Syndikus (wie not. 31) 163; dagegen Knapp (wie not. 2) 765 (betrachtet Binnen- wie Außenfabel als „das eher magere pseudo-epische Skelett für eine sprunghafte Aneinanderreihung zoomorpher Abbilder menschl[ichen] Fehlverhaltens“). ⫺ 33 Jauss (wie not. 11) 77 u. ö. ⫺ 34 ibid., 240⫺314. ⫺ 35 Llull, R.: Llibre de les be`sties. ed. P. Bohigas. Barcelona 1965; zu zwei mittelgriech. Reinhart Fuchs-Dichtungen cf. Irmscher, J.: Das mittelgriech. T.epos. In: Rombauts/Welkenhuysen (wie not. 8) 207⫺228, hier 224 sq. ⫺ 36 EM 8, 1157. ⫺ 37 Die Schr. des Alexander von Roes. ed. H. Grundmann/H. Heimpel. Weimar 1949, 104⫺123 (Text und Übers.). ⫺ 38 ibid., 12, 18⫺67 (Memoriale). ⫺ 39 Henkel, N.: Rat der Vögel (Vogelsprache). In: Verflex. 7 (21989) 1007⫺1011; cf. auch Alavi, B.: Mantøeq otø-tøair (Die Sprache der Vögel). In: KNLL 1 (1988) 823 sq. ⫺ 40 Batrachomyomachia. Homers Froschmäusekrieg auf röm. Trompete geblasen von Jacob Balde S. J. (1637/1647). ed. V. Lukas. Mü. 2001 (Text und Übers. von Buch 1). ⫺ 41 ibid., 62⫺72. ⫺ 42 cf. Brunken, O.: Georg Rollenhagen […]. In: Brüggemann, T. (in Zusammenarbeit mit O. Brunken): Hb. zur Kinder- und Jugendlit. von 1570 bis 1750. Stg. 1991, 843⫺874, hier 874. ⫺ 43 Fischart, J.: Flöhhatz, Weibertratz. ed. A. Haas. Stg. 1967. ⫺ 44 Sommerhalder, H.: Johann Fischarts Werke. B. 1960, 41. ⫺ 45 Die Autorschaft eines Ofilius Sergianus für den „Pulex“ ist eine Erfindung von Melchior Goldast, cf. Lenz, F. W.: De pulice libellus. In: Maia 14 (1962) 299⫺333, hier 302 sq. ⫺ 46 ibid., 301. ⫺ 47 Fischart, J.: Flöh Haz […]. ed. A. Hauffen. Stg. [1895], 3⫺129; cf. Sommerhalder (wie not. 44). ⫺ 48 Zur Interpretation cf. ibid., 42⫺52. ⫺ 49 cf. EM 4, 1222 sq. ⫺ 50 Spangenberg, W.: Sämtliche Werke 3,1⫺2. ed. A. Vizkelety. B./N. Y. 1977/78, hier t. 3,1, 147⫺208; cf. Schäfer, W. E.: Die satirischen Schr.
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Tierfabel ⫺ Tiergeburt
Wolfhart Spangenbergs. Tübingen 1998, 15⫺36 (sieht die Stücke im Kontext menippischer Satiren mit ironischen Enkomien und T.epen im Zentrum). ⫺ 51 Ganß König. Ein Kurtzweylig Gedicht / von der Martins Ganß […] durch Lycosthenem Psellionoros Andropediacum. In: Vizkelety (wie not. 50) 3⫺142. ⫺ 52 Schäfer (wie not. 50) 37. ⫺ 53 Vizkelety (wie not. 50) t. 3,2 (Titelblatt), cf. 326 (bezeichnet das Werk als Tierroman). ⫺ 54 cf. bes. Schäfer (wie not. 50) 62⫺ 67 u. ö. ⫺ 55 id.: Spangenberg, W. In: Killy (wie not. 2) 11 (1991) 86 sq. ⫺ 56 Schäfer (wie not. 50) 51⫺69, 70⫺103. ⫺ 57 cf. ibid., 32⫺36. ⫺ 58 ibid., 33. ⫺ 59 ibid., 31. ⫺ 60 Brunken (wie not. 42) 872⫺ 874. ⫺ 61 EM 11, 494⫺498 (mit not. 45⫺89). ⫺ 62 EM 11, 802 (mit not. 19). ⫺ 63 Varty, K.: Reynard the Fox. Social Engagement and Cultural Metamorphoses in the Beast Epic from the Middle Ages to the Present. N. Y./Ox. 2000. ⫺ 64 Flinn, J.: Le Roman de Renart dans la litte´rature franc¸aise et dans les litte´ratures ˆ ge. Toronto 1963, 529⫺688; e´trange`res au Moyen A Menke, H.: Bibliotheca Reinardiana 1. Stg. 1992; id. (wie not. 24); Berteloot, A./Geeraedts, L./Menke, H. (edd.): Reynke de Vos ⫺ Lübeck 1498. Zur Geschichte und Rezeption eines dt.-ndl. Bestsellers. Münster 1998; Berteloot/Rohr (wie not. 31). ⫺ 65 Lenz (wie not. 45) 332 sq.
Göttingen
Klaus Düwel
Tierfabel J Fabel
Tiergatte J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe
Tiergeburt. Weltweit und zu allen Zeiten finden sich Geschichten über Frauen, die ein Tier oder Tiere zur Welt gebracht haben sollen1. Erzählt wird vorwiegend von der J Geburt männlicher Tiere und von Tierarten mit eher negativen Konnotationen wie J Schlange, J Schwein2 oder J Hund. Die jeweils angeführte Spezies hat Symbolcharakter und spielt meist auf Eigenschaften an, die den betr. Tieren in Lit. und Volkserzählung unterstellt werden3: der J Bär ist stark, Hund und Schwein sind unrein4 etc. In Zaubermärchen kann jeder übermäßige Kinderwunsch eines Elternteils ⫺ etwa aufgrund langer Kinderlosigkeit (J Unfruchtbarkeit) ⫺ dazu führen, daß zwergwüchsige Kinder (AaTh/ATU 700: J Däumling) oder Tier-
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kinder (AaTh/ATU 430: J Asinarius) geboren werden. Eine J Verwünschung kann die Geburt eines J Monstrums verursachen5: In dt. Var.n von AaTh/ATU 433 B: J König Lindwurm wird die Gräfin von ihrem Mann als ,Schlange‘ oder ,Aalhaut‘ beschimpft; dies hat zur Folge, daß sie einen Schlangenknaben zur Welt bringt6. In dän. Var.n gebiert die Königin (oft neben einem gesunden Menschenkind) einen Lindwurm, weil sie sich über konkrete Anweisungen bzw. Eßtabus (J Tabu) hinweggesetzt hat7. Nach B. J Holbek verweist die Tiergestalt des Königssohns auf eine bes. Mutterbindung und die Schlangenform auf ein Problem des männlichen Wesens mit seiner Sexualität8. Tiergestalt bedeutet im Märchen entweder Verwandlung als J Strafe (cf. J Tierverwandlung), oder sie ist an- und ablegbare Erscheinungsform (cf. J Schwanjungfrau)9. Im griech. Ökotyp AaTh/ATU 409 A: The Girl as Goat verbirgt sich etwa unter der J Ziege ein anmutiges Mädchen10. Die J Erlösung erfolgt durch Verbrennen der J Tierhaut. Erlösungsbedürftig sind im Märchen auch von einer menschlichen Frau geborene halb tierische, halb menschliche Misch- oder Zwitterwesen11 wie etwa der J Igel in AaTh/ATU 441: J Hans mein Igel12. Archaische Vorstellungen spiegeln sich in Märchen vom J Bärensohn13, den ein Bär mit einer menschlichen Frau gezeugt hat14 (cf. AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen, AaTh/ATU 650 A: J Starker Hans). Manchmal war die Frau bei der Entführung durch den Bären bereits schwanger; folglich ist der Bärensohn halb Bär, halb Mensch15. Bärensöhne beziehen außer dem Namen auch ihren großen Appetit und ihre tierisch wilde Stärke vom Vater16. In Märchen über unschuldig verfolgte J Frauen (Kap. 3. 1.2) werden Neugeborene mit J Zeichen edler Herkunft mit Tierkindern vertauscht, bzw. es wird der jungen Mutter unterstellt, sie habe (etwa aufgrund von J Sodomie) ein Tier geboren17. Diese J Verleumdung und die Vertauschung menschlicher Kinder mit Hundewelpen oder anderen Tierkindern (Mot. K 2115) sind konstitutiver Bestandteil von AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne18 und erscheinen auch in Märchen wie AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder und AaTh/ATU 710: J Marienkind. Der
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Tierhaut
Frau des Königs wird unterstellt, sie habe ein Schwein geboren, eine J Maus, ein Stück Holz oder ein Ungeheuer aus Fleisch19. Die vermeintlichen T.en führt in einer griech. Var. von AaTh/ATU 707: Söhne: Die drei goldenen S. erst der Vogel der Wahrheit J ad absurdum20. In AaTh/ATU 872*: Brother and Sister bewirkt eine Widersacherin die J Schwangerschaft der Heldin, indem sie diese Schildkröten- oder Schlangeneier verschlucken läßt, die in ihrem Bauch reifen21. Das als Monstrum geborene J Wunderkind (AaTh/ATU 708) ist gelegentlich ein Tier: eine J Katze, ein kleiner schwarzer Hund, ein großes ,garstiges Tier‘ oder ein stacheliges Ungeheuer22. In AaTh/ATU 711: Die schöne und die häßliche J Schwester bekommt die Königin J Zwillinge, eine schöne Tochter und ein zotteliges Ungeheuer, in einer isl. Var. z. B. eine schwarze Katze23. Umgekehrt gebiert ein Tier in AaTh/ATU 300 A: J Drachenkampf auf der Brücke den dritten der magisch empfangenen Drillingsbrüder24; obwohl ausdrücklich ein Hunde- oder Kuhsohn, ist dieser allg. nicht tiergestaltig gedacht. In einer Reihe schwankhafter Erzählungen bilden sich Männer (bes. Vertreter des Klerus) ein, sie seien schwanger; bei der ,Geburt‘ wird ihnen dann ein Tier unterschoben: Ein dummer Mönch hält einen J Hasen für sein Kind25, der Priester ein Kälbchen (AaTh/ATU 1739: J Priester soll Kalb gebären). In einer sizilian. Erzählung ,gebiert‘ ein Geistlicher eine Küchenschabe26. Schwankhaft ausgestaltet ist auch KHM 147, AaTh/ATU 753: J Christus und der Schmied; hier gebären zwei Frauen aus Entsetzen die ersten J Affen als negatives Gegenstück des Menschen. 1 Krappe, A. H.: Animal Children. In: California Folklore Quart. 3 (1944) 45⫺52, hier 45. ⫺ 2 cf. Furche, B.: Sinnschaffende Verfahren in ital. Volksmärchen. Vom „Re Porco“ und anderen ital. Volksmärchen. Diss. Tübingen 1992. ⫺ 3 cf. Wilpert, G. von: Sachwb. der Lit. Stg. 1979, 837⫺839. ⫺ 4 Lurker, M.: Wb. der Symbolik. Stg. 1991, 659; cf. allg. Schenda, R.: Das ABC der Tiere. Mü. 1995. ⫺ 5 Gobrecht, B.: Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit im europ. Zaubermärchen. Zeiten der Bedrohung für die Heldin und ihre Kinder. In: Fabula 33 (1992) 55⫺65, hier 59. ⫺ 6 Zaunert, P.: Dt. Märchen seit Grimm. MdW 1981, num. 16; Bechstein, L.: Sämtliche Märchen. ed. W. Scherf. Düsseldorf/Zürich 1999, 688⫺692. ⫺ 7 Barüske, H.: Dän. Märchen.
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Ffm./Lpz. 1993, num. 25; Frosch bei Taube, E.: Volksmärchen der Mongolen. Mü. 2004, num. 46; Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1987, 487, 490; cf. auch O’Sullivan, S.: Folktales of Ireland. L. 1968, num. 19. ⫺ 8 Holbek (wie not. 7) 457⫺498, bes. 481, 490; cf. Scherf, W.: Tierdämonen im Zaubermärchen. In: Tiere und Tiergestaltige im Märchen. ed. A. Esterl/W. Solms. Regensburg 1991, 114⫺129, hier 123. ⫺ 9 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 89. ⫺ 10 Angelopoulou/Brouskou 409 A; cf. Krappe (wie not. 1) 46; Dohle bei Hahn, num. 57; Eschker, W.: Serb. Märchen. MdW 1992, num. 37. ⫺ 11 HDA 8, 827. ⫺ 12 Röhrich, L.: „und weil sie nicht gestorben sind …“. Anthropologie, Kulturgeschichte und Deutung von Märchen. Köln/Weimar/Wien 2002, 225; Geiger, R.: Erlösung aus der Tierverzauberung. In: Esterl/Solms (wie not. 8) 95⫺113, hier 108; cf. Scherf, 565⫺568. ⫺ 13 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 84. ⫺ 14 Colshorn, C. und T.: Märchen und Sagen aus Hannover. (Hannover 1854) Nachdr. Hildesheim u. a. 1984, num. 5; Karlinger, F./Laserer, E.: Bask. Märchen. MdW 1990, num. 9. ⫺ 15 Cosquin, num. 1; Afanas’ev, num. 152; Panzer, F.: Studien zur germ. Sagengeschichte 1. Mü. 1910, 18. ⫺ 16 Gobrecht, B.: Der Bär im Märchen. In: Märchenforum 32 (2006/07) 3⫺7, hier 3; Meraklis, M. G.: Studien zum griech. Märchen. Wien 1992, 128; Panzer (wie not. 15) 30 sq. ⫺ 17 Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. B. 1964, num. 38; Braga, T.: Contos tradicionaes do povo portuguez 1. Porto 1883, num. 39; Löwis of Menar, A. von: Russ. Volksmärchen. ed. R. Olesch. MdW 1980, num. 26. ⫺ 18 cf. Marzolph/van Leeuwen 1, 73 sq., num. 382; 425 sq., num. 356; Afanas’ev, num. 284 (Hund); Mayeda, N./Brown, W. N.: Tawi Tales. Folk Tales from Jammu. New Haven 1974, 548 (Affen). ⫺ 19 Robe; Hahn, num. 69; Marzolph/van Leeuwen 1, 425 sq., num. 356; Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 1. Madrid 1987, num. 138. ⫺ 20 Hahn, num. 69. ⫺ 21 Camaj, M./Schier-Oberdorffer, U.: Alban. Märchen. MdW 1974, num. 31. ⫺ 22 Delarue; Barüske (wie not. 7) num. 8; Petzoldt, L.: Märchen Österreichs. MdW 1991, num. 38; Levin, I.: Zarensohn am Feuerfluß. Kassel 1984, num. 14 (russ.); Sirova´tka, O.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1980, num. 3; cf. Hodne. ⫺ 23 Schier, K.: Märchen aus Island. MdW 1998, num. 22. ⫺ 24 Afanas’ev, num. 136, 137, 139. ⫺ 25 cf. Zapperi, R.: Geschichten vom schwangeren Mann. Mü. 1994, 139⫺147. ⫺ 26 ibid., 55⫺57, 276.
Gebenstorf
Barbara Gobrecht
Tierhaut ist die äußere Begrenzung des Körpers bei Wirbeltieren, die meist mit J Haaren, J Federn oder Schuppen bedeckt ist. T.e und Felle wurden vom Menschen bereits früh z. B.
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Tierhaut
zum Bau von Behausungen, als Schreibmaterial (Pergament), vor allem aber zur Herstellung von J Kleidung verwendet. Im archaischen Denken weisen Vorstellungen von der Tier- und der Menschenwelt noch nicht die späteren trennenden Grenzen auf und stehen gleichgeordnet nebeneinander (J Archaische Züge im Märchen, J Totemismus)1: Der Übergang zwischen menschlichen und tierischen Daseinsformen braucht keine Magie; er erfolgt vielmehr fließend (J Magisches Weltbild), da das Tier einen menschlichen Kern hat2. Vorstellungen von T.en, die wie ein Kleidungsstück an- und abgelegt werden und dem Träger die Kräfte des entsprechenden Tiers verleihen oder die menschliche Seite eines Tierprotagonisten erkennen lassen, sind weit verbreitet (cf. J Theriomorphisierung). So wird in nordamerik. Indianermärchen von Adlerhäuten erzählt, die Menschen zu Adlern werden lassen3; in den Erzählungen der Inuit legen Seehunde an jedem neunten Tag ihre T.e ab und werden zu Menschen4; in der altnord. Mythologie erfüllt das J Federhemd der Göttin Freyja (J Edda, 10,3⫺9) eine entsprechende Funktion. In Zaubermärchen dient die T. zum Wechsel zwischen Menschen- und Tiergestalt (AaTh/ ATU 400⫺449: Supernatural or Enchanted Wife; J Schwanjungfrau)5. Ein als Tier geborener oder verwunschener Protagonist wird mit dem Ablegen der T. zum Menschen und durch Vernichtung (meist J Verbrennen) der T. (Mot. C 421, L 162) aus seiner Tiergestalt erlöst (AaTh 433, 433 A⫺C/ATU 433 B: J König Lindwurm, AaTh/ATU 441: J Hans mein Igel; cf. AaTh/ATU 430: J Asinarius; cf. AaTh/ATU 426: J Mädchen und Bär; J Erlösung)6. In einer Roma-Var. von AaTh/ATU 425 A: cf. J Amor und Psyche beklagt die Heldin, daß ihr Vater sie einem Pferd zur Frau gegeben habe. Daraufhin wirft das Pferd seine T. ab und wird ein Mensch7. Gelegentlich besteht die Gefahr, daß die T. des übernatürlichen Bräutigams oder der übernatürlichen Braut (J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe) zu früh vernichtet wird (cf. AaTh/ATU 409 A: The Girl as Goat, AaTh/ATU 409 A*: The Girl as Snake, AaTh/ATU 425 A, AaTh/ATU 433 B, AaTh/ATU 441, AaTh/ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt). Konflikte entstehen auch dann, wenn der Mann
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das weibliche Tierwesen in der menschlichen Gestalt festhält und es an der Rückkehr in seine eigentliche Daseinsform hindern will, indem er die T. versteckt (J Mahrtenehe: Die gestörte M. ). Wird sie von der Frau gefunden, verläßt diese den Mann (cf. auch AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau). Möglicherweise finden sich Relikte der Vorstellung vom Übergang zwischen Tier- und Menschengestalt mittels einer Hülle in Märchen, in denen die Hexe ihren Stiefkindern verzauberte Hemden überwirft, worauf sie als Schwäne davonfliegen, nachts aber ihre T. abstreifen können (KHM 49, AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder). Umgekehrt wird der böse Zauber von der Schwester der Tierbrüder durch Hemden gebrochen, die sie genäht hat8. T. und Hemd werden einander auch in Var.n von AaTh 433, 433 A⫺C/ATU 433 B gegenübergestellt9, wobei dem Motiv vom Ablegen der T. hier zudem das Bild der J Schlange zugrunde liegt, die durch ihre Häutungen zum Sinnbild der J Unsterblichkeit wird. Manchmal gehören das Fell oder die T. indessen nicht unmittelbar zu den menschlichen oder tierischen Protagonisten, sondern dienen als J Verkleidung und Versteck: In AaTh/ ATU 510 B: cf. J Cinderella flieht die Prinzessin in einem aus Tierfellen genähten Kleid unerkannt, in AaTh/ATU 214 B: J Esel in der Löwenhaut imitiert ein mit einem Löwenfell bekleideter Esel den Löwen10. Andere Figuren nutzen eine T. zum Betrug: Ein Geistlicher verkleidet sich mit einer T. als J Teufel und bringt so einen Armen um den gerade gefundenen Schatz (AaTh/ATU 831: J Pfarrer als Teufel). In einer Var. von AaTh/ATU 854: Der goldene J Bock schlüpft der Protagonist in die Haut eines ,musizierenden Bären‘, um eine unlösbare J Aufgabe zu erfüllen11. In AaTh/ ATU 361: J Bärenhäuter schließt der Held einen Pakt mit dem Teufel, wonach er sich mehrere Jahre nicht waschen und seine Kleidung, ein Bärenfell, nicht ablegen darf. In weiteren Erzählungen läßt sich der Held in eine T. einnähen, um von einem Vogel als vermeintliche Beute auf einen Berg oder Baum getragen zu werden, wo er eine Geliebte findet12, einen Schatz gewinnt (AaTh/ATU 936*: J Hasan von Basra) oder aus einer ausweglo-
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Tierherz als Ersatz
sen Situation gerettet wird (J Herzog Ernst, J Sinbad der Seefahrer). Vereinzelt begegnen T.e ferner in anderen Kontexten. In AaTh 621/ATU 857: J Lausfell erraten ist die T. einer außergewöhnlich großen Laus Gegenstand einer J Freierprobe. In AaTh/ATU 1535: J Unibos gibt der Protagonist vor, durch den Verkauf einer T. reich geworden zu sein, und animiert so seinen Gegenspieler, sich selbst zu schädigen (J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung). Dem Teufel dient eine T. als Schreibunterlage, um die Namen von Sündern zu notieren (AaTh/ATU 826: J Sündenregister auf der Kuhhaut). 1
Röhrich, L.: Mensch und Tier im Märchen. In: Karlinger, F.: Wege der Märchenforschung. Darmstadt 1973, 220⫺253, hier 232; id.: Tiererzählungen und ihr Menschenbild. In: Nøjgaard, M. (ed.): The Telling of Stories. Odense 1990, 13⫺33, hier 30, 32. ⫺ 2 id. 1973 (wie not. 1) 245⫺247. ⫺ 3 HDA 8 (1936⫺37) 1645. ⫺ 4 Röhrich 1973 (wie not. 1) 244; HDA 8, 1629. ⫺ 5 cf. HDA 8, 1642⫺1646. ⫺ 6 Röhrich 1973 (wie not. 1) 237, 245; Horn, K.: Die Identität des Helden und der Heldin. Leib, Kleid und T. im Volksmärchen. In: Symbolik des menschlichen Leibes. ed. P. Michel. Bern u. a. 1995, 191⫺200, hier 197 sq.; cf. Horn, A.: Mythisches Denken und Lit. Würzburg 1995, 106. ⫺ 7 Aichele, W./Block, M.: Zigeunermärchen. MdW 1969, 40⫺47, hier 41 (aus Bulgarien). ⫺ 8 Röhrich 1973 (wie not. 1) 248; BP 1, num. 95. ⫺ 9 z. B. Bødker, L.: Dän. Volksmärchen. MdW 1964, num. 2. ⫺ 10 Esterl, A.: Von Tiermärchen und Märchentieren. In: Tiere und Tiergestaltige im Märchen. ed. ead./W. Solms. Regensburg 1991, 8⫺12, hier 11; cf. Muhawi, I.: Gender and Disguise in the Arabic ,Cinderella‘. A Study in the Cultural Dynamics of Representation. In: Fabula 42 (2001) 263⫺283. ⫺ 11 Scherf 2, 1263⫺1266; Haltrich, J.: Sächs. Volksmärchen aus Siebenbürgen. ed. H. Markel. Buk. 2 1972, num. 41. ⫺ 12 Krzyz˙anowski 300 A; Tekinay, A.: Materialien zum vergleichenden Studium von Erzählmotiven in der dt. Dichtung des MA.s und den Lit.en des Orients. Ffm./Bern/Cirencester 1980, 73 sq.
Basel
Katalin Horn
Tierherz als Ersatz (Mot. K 512.2), weltweit verbreitetes Motiv: Die mit der Tötung eines (durchwegs unschuldigen) Menschen beauftragte Person führt den Auftrag aus J Barmherzigkeit nicht aus, zeigt dem Auftraggeber als Beleg für die angebliche Erledigung aller-
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dings das J Herz (anderes inneres Organ, Blut) eines Tieres anstelle des Herzens des zu tötenden Menschen vor. Oft dient der Tötungsauftrag der Sicherung der Machtposition eines J Herrschers und ist stereotype Zugabe von Exempla über J Tyrannen. Erste Ansätze des Motivs finden sich in der religiösen Lit. des alten Ägypten (13. Jh. v. u. Z.): Nach einer Auseinandersetzung zwischen Wahrheit und Falschheit, die personifiziert auftreten (cf. AaTh/ATU 613: Die beiden J Wanderer), soll die Wahrheit wilden Löwen vorgeworfen werden; auf ihre Bitten hin erbarmen sich die Diener, die den Auftrag ausführen sollen, berichten bei ihrer Rückkehr aber von erfolgreicher Erledigung1. Bei J Herodot (1,107⫺113) erscheint das Motiv im Rahmen der J Kyros-Erzählung: Da der med. Herrscher Astyages die in einem Traum angezeigte spätere Machtübernahme seines Enkels verhindern will, erteilt er den Auftrag, diesen zu töten; der Kanzler Harpagios gibt den Knaben aber an einen Hirten, der ihn an Kindes Statt aufzieht (cf. auch J Aussetzung); als Beleg für die Ausführung des Auftrags wird das totgeborene Kind der Frau des Hirten vorgezeigt2. In den J Gesta Romanorum (num. 20) will ein Herrscher das Eintreffen einer Prophezeiung verhindern, die besagt, daß ein armer Junge dereinst sein Schwiegersohn werden wird; die Diener verschonen den Jungen und weisen das Herz eines Hasen vor; der Junge wird von einem Adligen adoptiert und später aufgrund eines vertauschten Briefs mit der Prinzessin verheiratet (AaTh/ATU 930: cf. J Uriasbrief ). In der isl. Drauma-Jo´ns Saga ist der Herrscher neidisch auf Jo´ns Fähigkeit, Träume zu deuten, und weist seine Frau an, Jo´n zu töten; statt dessen verbündet sie sich mit diesem und weist das Herz eines Hundes vor3. In der in J Tausendundeine Nacht enthaltenen Geschichte von Qamar az-zama¯n und Budu¯r verleumden zwei Frauen nach einem erfolglosen J Verführungsversuch die von ihnen begehrten jungen Männer Amgˇad und As¤ad, deren Vater sie daraufhin töten lassen will; die mit der Tötung beauftragte Person läßt sie entkommen und zeigt statt dessen eine Flasche mit dem Blut eines Vogels vor4. Das seit Mitte des 19. Jh.s ˚ osrou-e dı¯vza¯d in Iran verbreitete Volksbuch H (Der von einem Div gezeugte H ˚ osrou), eine Var. von AaTh/ATU 315: Die treulose J
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Tierhochzeit
Schwester, beginnt mit dem Befehl des Königs, das während seiner Abwesenheit geborene Kind zu töten, falls es ein Mädchen sei; der Bruder erbarmt sich und zieht das Mädchen in einem unterirdischen Gemach auf 5. In Erzählungen aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s erscheint das Motiv in unterschiedlichen Erzähltypen. Charakteristisch ist es für AaTh/ATU 671: cf. J Tiersprachenkundiger Mensch (Vater befiehlt Tötung des Sohnes), AaTh/ATU 709: J Schneewittchen ([Stief-]Mutter befiehlt Tötung der [Stief-] Tochter), AaTh/ATU 882: cf. J Cymbeline (Mann befiehlt, Frau wegen angeblichen Ehebruchs zu töten), AaTh/ATU 883 A: Das unschuldig verleumdete J Mädchen (Vater befiehlt Tötung der Tochter, Bruder erbarmt sich) sowie für die J Genovefa-Erzählung. Darüber hinaus erscheint es etwa in Var.n von AaTh/ATU 510 B: cf. J Cinderella6, AaTh/ ATU 567 A: cf. Das wunderbare J Vogelherz7 und AaTh/ATU 923: J Lieb wie das Salz8 sowie in einer Reihe disparater Erzählungen9. Mehrere Texte beinhalten Elemente von J Kannibalismus. Diese können darin bestehen, daß das Blut des Opfers getrunken10 oder eines seiner inneren Organe (Herz, Leber) gegessen werden sollen11. Diese Variation erscheint oft in Erzählungen, in denen der Haß einer männlichen Figur gegen den weiblichen Nachwuchs eine Rolle spielt (AaTh/ATU 315, ElShamy 931 C§)12. 1 El-Shamy, H.: Folktales of Egypt. Chic. 1980, 261, num. 14; El-Shamy, Types 613 B§. ⫺ 2 Hansen, W. F.: Ariadne’s Thread. Ithaca/L. 2002, 410 sq.; cf. auch id.: Anthology of Ancient Greek Popular Literature. Bloom. 1998, 22⫺24. ⫺ 3 Boberg K 512.2; Schlauch, M.: Romance in Iceland. N. Y. 1934, 73. ⫺ 4 Chauvin 5, num. 120; Marzolph/van Leeuwen, 341⫺345, num. 61, hier 341 sq.; El-Shamy, H.: A Motif Index to The Thousand and One Nights. Bloom. 2006, K 512.1.2§. ⫺ 5 Marzolph, U.: Narrative Illustration in Persian Lithographed Books. Leiden/Boston/Köln 2001, 250 sq.; id.: Wenn der Esel singt, tanzt das Kamel. Mü. 1994, num. 15. ⫺ 6 asSa¯rı¯sı¯, ¤U.: al-H ø ika¯ya asˇ-sˇa¤bı¯ya fı¯ l-mugˇtama¤ alfilastø¯ını¯ (Die Volkserzählung in der palästinens. Gesellschaft). Amman 1984, 161⫺163; cf. auch ElShamy, H.: Tales Arab Women Tell. Bloom. 1999, num. 10. ⫺ 7 Esche, A.: Märchen der Völker Burmas. Lpz. 1967, 369⫺374. ⫺ 8 Klipple. ⫺ 9 cf. Boberg K 512.2; Boogs 706 C*; Neuman K 512⫹; ElShamy, Types, Reg. s. v. K 512.1.2§. ⫺ 10 cf. ElShamy (wie not. 6) num. 5, 8; Le´gey, F.: Contes et
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le´gendes populaires du Maroc recueillis a` Marrakech. P. 1926, num. 20; Müller, D. H.: Die Mehriund Soqotri-Sprache 2. Wien 1905, num. 3. ⫺ 11 Le´gey (wie not. 10). ⫺ 12 Müller (wie not. 10); ElShamy (wie not. 6) num. 12; Rhodokanakis, N.: Der vulgärarab. Dialekt im Dofa¯r (Zfa¯r). Wien 1908, num. 16.
Bloomington
Hasan El-Shamy
Tierhochzeit (Mot. B 280⫺B 285.8). Die T., bes. die Vogelhochzeit, ist im Lied, aber auch in anderen Formen der Volksüberlieferung ein beliebtes, vorwiegend scherzhaft behandeltes Thema. Eine weithin über Asien, in Ländern des Mittelmeerraums, Finnland und Estland verbreitete, darüber hinaus in Brasilien und Südafrika belegte Redensart, die Teil einer umfassenderen Tradition und u. a. Anlaß eines kindlichen Rituals ist1, gibt der Phantasievorstellung Ausdruck, daß bei Regen, der von Sonnenschein begleitet ist, die J Füchse (Schakale, Bären, Wölfe; zahlreiche weitere Säugetiere, Vögel und Insekten) Hochzeit machen2. Die Dominanz des Fuchses bzw. der Füchsin erklärte M. J Kuusi u. a. mit der Ambivalenz und den erotischen Konnotationen des weiblichen Tiers in der ostasiat. Tradition (J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe)3. In diesem Zusammenhang zog er auch Parallelen zwischen KHM 38, AaTh/ATU 65: J Freier der Frau Füchsin und entsprechenden Fuchsüberlieferungen in China, Korea und Japan (cf. auch AaTh/ATU 36: J Fuchs vergewaltigt die Bärin)4. Während in der redensartlichen Überlieferung eheliche Verbindungen zwischen unterschiedlichen Tier- bzw. Vogelarten eher eine Ausnahme bilden, stehen im internat. Liedund Erzählgut solche ,Mischehen‘ im Vordergrund, z. B. zwischen Eule und Katze (Mot. B 282.4.2; engl.), Rabe und Gänsen (Eskimo)5, Jaguar und Kröte (südamerik. Toba und Mocovı´)6. Lieder über die Hochzeitsfeiern der Tiere (AaTh 223 [recte 224]/ATU 224: Bird [Beetle] Wedding) finden sich in vielen europ. Ländern. Im dt. Sprachgebiet sind die in zahlreichen älteren Hss. überlieferte und bereits 1470 nachgewiesene Vogelhochzeit und die seit 1807 belegte Käfer- oder Insektenhochzeit am bekanntesten7.
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Tierhochzeit
Im Lied von der Vogelhochzeit kommen zahlreiche Vogelarten vor, die beim Fest bestimmte Funktionen übernehmen (Amsel als Bräutigam, Drossel als Braut, Star als Pfarrer, Grünspecht als Brautführer etc.8); andere fallen durch schlechtes Benehmen auf („Der Rothbart, der Rothbart, der fraß auf eine ganz klobige Art“9). Das Lied wurde gern bei Hochzeiten gesungen, wobei anscheinend anzügliche Strophen improvisiert wurden; sexuelle Zweideutigkeiten enthalten schon die älteren Hss.10 Ein 1711 veröff. Vogelhochzeitslied der Wenden folgt einem anderen Muster. Auf die Frage: ,wer soll die Braut (Bräutigam etc.) sein‘, lehnen die Vorgeschlagenen jeweils ab, weil die Eule sich als Braut zu häßlich, der Zaunkönig als Bräutigam zu klein findet etc.11 Wie im ältesten dt. Vogelhochzeitslied12 erscheinen hier auch Säugetiere (Wolf, Hase, Fuchs) unter den Akteuren. Bei den Lausitzer Sorben wurde durch das Lied von der Elster als Braut13 möglicherweise der Brauch der Vogelhochzeit am 25. Jan. (Bekehrung Pauli), eine Beschenkung der Kinder ,durch die Vögel‘, wachgehalten14, doch trennt die Forschung Brauch und Liedinhalt voneinander15. Aus literar. Quellen (J Shakespeares Sommernachtstraum und J Chaucers Parlement of Foules) erschlossen frz. Ethnologinnen den Tag der Vogelhochzeit (England: 14. Febr. [Valentinstag]; De´partement Creuse, Luxemburg: 19. März [Josephstag])16 als Brauchtermin, an dem junge Mädchen und Burschen provisorische Verbindungen ,nach Art der Vögel‘ eingegangen seien17. Das Lied von der Käferhochzeit beschreibt im ersten Teil, wie die Fliege in der Badestube für die Hochzeit mit dem Käfer vorbereitet wird, und endet z. T. mit dem Tod der Braut oder beider Partner: Die Fliege wird beim Tanz zertreten (ertrinkt im Bad), den Käfer frißt ein Hahn18. In einem weiteren dt. T.slied reitet ein Hahn auf Brautwerbung aus und begegnet allerhand Tieren; es folgen Bemerkungen zur Vorbereitung und Durchführung der Hochzeit19. Auf den Brit. Inseln und in den USA weit verbreitet ist das Lied Frog Went a-Courting. Schon um 1550 erwähnt20 und 1611 erstmals in Thomas Ravenscrofts Melismata veröffentlicht21, hat es Eingang in die moderne Popmusik gefunden (Interpreten u. a. Bob Dylan,
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Woody Guthrie, Pete Seeger, Burl Ives). Erzählt wird, wie der Frosch zur Maus reitet und um ihre Hand bittet; dann schließen Beratungen über das Hochzeitsessen und eine ähnliche Beschreibung des Fests wie in der dt. Vogelhochzeit an. Auch hier nimmt das Brautpaar z. T. ein schlechtes Ende22. Den T.sliedern steht das Kettenmärchen AaTh/ATU 2019*: cf. J Laus und Floh nahe, das vor allem auf der Iber. Halbinsel verbreitet ist: Hähnchen und Hühnchen wollen ihre Tochter verheiraten (Laus und Floh, der Schmetterling, Vögel möchten heiraten); auf die Fragen, wer Bräutigam, Brautführer, Brautjungfer, Musikanten etc. sein sollen und wer Essen und Getränke beschafft, erklären nach und nach verschiedene Tiere ihre Bereitschaft, zum Fest beizutragen23. Als SUS 2019* klassifizierte russ. Liedvarianten von der Heirat der Mücke, in denen Laus und Floh das Dampfbad einheizen24, sind wohl eher der Käferhochzeit zuzuordnen. Ein abruptes schlechtes Ende der T. findet sich immer wieder: So bringt in den frz. Liedvarianten von AaTh/ATU 2019* das Erscheinen der Katze Gefahr für die Mäuse (Ratten) in der Hochzeitsgesellschaft25; in der bulg. Erzählung von der Hochzeit zwischen Spatz und Rebhuhn bzw. im entsprechenden Lied wird die Braut (der Gevatter) das Opfer von Raubvögeln26. Zum Umkreis der T. gehört auch das bes. auf der Iber. Halbinsel überaus beliebte Kettenmärchen AaTh/ATU 2023: Little Ant Marries, in dessen erstem Teil die Ameise (Küchenschabe etc.) sich einen Mann sucht; dies gilt vor allem für jene Var.n, in denen es um die Hochzeit selbst geht und in denen z. B. der Bräutigam (Kater) nach der Heirat die Braut (Maus) frißt27, der Bräutigam (Grille, Maus) bei den Hochzeitsvorbereitungen stirbt28, in der Hochzeitsnacht gefressen wird29 oder ein Gast nach dem anderen der Braut (Grille) nachts Verletzungen zufügt30. Anspielungen auf die Vogelhochzeit und die Sonnenregen-Tradition erscheinen im Kindermärchen von der Häsichenbraut (KHM 66): Als Hochzeitsgäste werden die Hasen, als Pfarrer die Krähe, als Küster der Fuchs genannt; „und der Altar war unterm Regenbogen“. Auffallend ist beim Komplex der T. die gleichzeitige Existenz in der erotischen Liedund Erzähltradition der Erwachsenen und in
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Tierkönig
der Kinderfolklore ⫺ das Nebeneinander von Spott und Frivolität einerseits, naiver Kindlichkeit andererseits. Insofern ist die (im Kontext seiner Auffassung vom Wesen des Märchens zu sehende) Verteidigung J. J Grimms von KHM 38 als ,rein und unschuldig‘31 sowohl unzutreffend als auch zutreffend. 1 Kuusi, M.: Regen bei Sonnenschein. Zur Weltgeschichte einer Redensart (FFC 171). Hels. 1957, 376. ⫺ 2 ibid., 25⫺35, 37 sq., 43⫺45, 282⫺284. ⫺ 3 ibid., 332⫺364. ⫺ 4 ibid., 359. ⫺ 5 EM 4, 461. ⫺ 6 Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of the South American Indians. General Index. L. A. 1992, s. v. B 670. ⫺ 7 Erk/Böhme 1, num. 163, 164 (Erstbeleg der Käferhochzeit cf. num. 164 a, b); Röhrich, L./Brednich, R. W.: Dt. Volkslieder 2. Düsseldorf 1967, num. 73 (Erstbeleg der Vogelhochzeit cf. num. 73 a); ZfdA 3 (1843) 37⫺39. ⫺ 8 Erk/Böhme 1, num. 163 a. ⫺ 9 ibid., num. 163 f. ⫺ 10 Kunstmann [, H.]: Vogelhochzeit. In: HDA 8 (1936⫺37) 1679⫺1681; Erk/ Böhme 1, num. 163 a, 163 f. ⫺ 11 Herder, J. G.: „Stimmen der Völker in Liedern“. ed. H. Rölleke. Stg. 1975, 55 sq. (1,1, num. 24). ⫺ 12 Röhrich/Brednich (wie not. 7) num. 73 a (Hund, Katze, Wolf). ⫺ 13 Haupt, L./Schmaler, J. E.: Volkslieder der Wenden in der Ober- und Nieder-Lausitz 1. Grimma 1841, num. 273; Needon, R.: Die Lausitzer Vogelhochzeit. In: Mitteldt. Bll. für Vk. 6 (1931) 24⫺28, hier 25. ⫺ 14 Nawka, B.: Über Sinn und Ursprung der Lausitzer Vogelhochzeit. In: Leˇtopis C 6/ 7 (1963/64) 43⫺54, hier 46, 54. ⫺ 15 ibid., 46⫺53. ⫺ 16 Weitere Termine cf. ibid., 52. ⫺ 17 Jolas, T.: Une Se´quence printanie`re. „Le Songe d’une nuit d’e´te´“. In: Ethnologie franc¸aise 21 (1991) 379⫺385, bes. 384 (basierend auf nachgelassenen Arbeiten von Y. Verdier); cf. ferner Pinton, S.: Passage par la Creuse. ibid., 366⫺368, hier 367 sq. ⫺ 18 Erk/Böhme 1, num. 164 b⫺d. ⫺ 19 ibid., num. 165. ⫺ 20 Wedderburn, R.: The Complaynt of Scotland (c. 1550). ed. A. M. Stewart. Edinburgh 1979, 51. ⫺ 21 Ravenscroft, T.: Pammelia. Deutromelia. Melismata. ed. M. Leach. Phil. 1961, 140 sq. ⫺ 22 Leather, E. M.: The Folk-Lore of Herefordshire. Hereford/L. 1912, 209 sq.; JAFL 35 (1922) 392⫺399; Payne, L. W.: Some Texas Versions of „The Frog’s Courting“. In: Publ.s of the Texas Folk-Lore Soc. 5 (1926) 5⫺48; Belden, H. M.: Ballads and Songs Collected by the Missouri Folk-Lore Soc. Columbia 1940, 494⫺499; The Frank C. Brown Collection of North Carolina Folklore 3. ed. H. M. Belden/A. P. Hudson. Durham, N. C. 1952, num. 120; cf. den im Internet veröff. Roud Folk Song Index, num. 16. ⫺ 23 Cardigos; Oriol/Pujol; Llano Roza de Ampudia, A. de: Cuentos asturianos. Madrid 1925, num. 182; RTP 1 (1886) 3 sq.; RTP 5 (1890) 15⫺19 (frz.). ⫺ 24 SUS. ⫺ 25 RTP 1 (1886) 3 sq.; RTP 5 (1890) 15⫺19. ⫺ 26 BFP 224. ⫺ 27 Oriol/Pujol. ⫺ 28 Basset, R.: Nouveaux Contes berbe`res. P. 1897, num. 88; Noy, D.: Contes populaires raconte´s par des Juifs de Tunisie.
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Jerusalem 1968, num. 38. ⫺ 29 Llano Roza de Ampudia (wie not. 23) num. 180; Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 2. Madrid 1988, num. 473⫺478, 480, 481. ⫺ 30 Jason, H.: Märchen aus Israel. MdW 1976, num. 75. ⫺ 31 Ginschel, G.: Der junge Jacob Grimm. 1805⫺ 1819. Stg. 21989, 249⫺253.
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Tierkönig. Die Vorstellung von einem T. resultiert aus der Übertragung hierarchischer Gesellschaftsstrukturen und meist männlich geprägter Herrschaftsverhältnisse vom Menschen auf die Natur. Der T. begegnet in der Fabel, im Tierepos und mitunter auch im Märchen meist als König des gesamten Tierreichs, aber auch einzelner Tiergruppen oder -arten. Er ist vom J Herrn der Tiere zu unterscheiden, einem dämonischen Wesen aus dem Umkreis der weltweit verbreiteten J Wildgeistersagen, das Hirte und Hüter des Wildes und entsprechend Teil der in Jägerkulturen beheimateten Erzählüberlieferung ist (J Jägerzeitliche Vorstellungen, Kap. 2). Als König aller Tiere wird meist der J Löwe vorgestellt, mitunter ist dies aber auch der Bär1. Unter Mot. B 240⫺B 248 sind weitere T.e aufgeführt, so auch T.e einzelner Tierarten wie Rentier, Ratte, Ameise, Biene, Hase, Schildkröte, Gazelle, Büffel, Fuchs, Hund, Wolf, Kamel, Tiger, Elefant und Krokodil. In antiken ebenso wie in neuzeitlichen Tierfabeln ist, von Ausnahmen abgesehen, der Löwe aufgrund seiner Stärke, majestätischen Gestalt und gewaltigen Stimme der T. (Mot. B 240.4). Oft hat sich in der Vergangenheit die Kritik an feudalen Herrschaftsstrukturen (J Feudalismus) der Tierfabel bedient und dabei stellvertretend auch die Position des Löwen in der Tierwelt in Frage gestellt: Sein auf ständiger Gewaltbereitschaft basierendes Königtum galt als hart und ungerecht. Ausdruck dieser Herrschaftskritik ist AaTh/ATU 51: J Löwenanteil. Als unbarmherzig erscheint der Löwe auch in AaTh/ATU 50: Der kranke J Löwe und in AaTh/ATU 51 A: J Fuchs hat Schnupfen. AaTh/ATU 75: J Hilfe des Schwachen zeigt, daß selbst der anscheinend Übermächtige verwundbar ist, wenn er sich in den von Menschen aufgestellten Netzen verfängt und zu seiner Befreiung der Maus bedarf 2.
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Tiermärchen
In zahlreichen Tiererzählungen ist der J Adler der König der J Vögel (Mot. B 242.1.1). Wie die Herrschaft des Löwen ist auch die des Adlers nicht frei von Ambivalenzen: Der J Rabe, der verspätet zur Königswahl kommt, hat in einer Fabel alles mögliche daran auszusetzen3. In AaTh/ATU 221: cf. J Königswahl der Tiere wird der Adler vom J Zaunkönig überlistet, der mit einem Trick höher fliegt als dieser. Daß mitunter der eingesetzte T. seinen Aufgaben nicht gewachsen ist, demonstrieren zwei äsopische Fabeln: Der J Affe wird zum T. gemacht, weil er gut tanzen kann. Der neidische Fuchs lockt ihn in eine Falle und verspottet ihn: „Du willst mit so wenig Verstand König der Tiere sein?“4 In einer anderen Fabel macht J Zeus den Fuchs zum T. Der Fuchs kann jedoch nicht widerstehen, einen Käfer, der um seine Sänfte fliegt, zu fangen. Darauf setzt Zeus den Fuchs in seinen früheren Stand zurück (Mot. J 1908, U 120)5. In Var.n zu AaTh/ATU 57: J Rabe und Käse nutzt der Fuchs die Eitelkeit des Raben aus, indem er behauptet, er würde den Raben zum König der Vögel machen, wenn er nur eine schöne Stimme habe; als der Rabe anfängt zu krächzen, läßt er den Käse fallen, auf den es der Fuchs abgesehen hat. In der seit der Spätantike bekannten Fabel AaTh/ATU 277: J Frösche bitten um einen König ist es nicht der T., der sein Amt nicht auszuüben versteht, sondern die Tiere erweisen sich als unzufriedene Untertanen, deren Hochmut bestraft wird: Sie erhalten den J Storch (Kranich) als Herrn, der sie seither gnadenlos verfolgt. Auch andere Fabeln mit dieser Thematik münden in eine Ätiologie, z. B. AaTh/ ATU 250 A: J Flunder6. Im Märchen finden sich T.e vor allem in Erzählungen von J dankbaren Tieren (AaTh/ ATU 554). Vogel- oder Fischkönig helfen dem Helden bei der J Suche nach Personen oder Gegenständen, beim Lüften von Geheimnissen oder statten ihn mit Zaubergaben aus, mit denen er seine Helfer im Notfall herbeirufen kann (AaTh/ATU: J Tierschwäger; J Pars pro toto). In AaTh 401/ATU 400: J Prinzessin als Hirschkuh erhält der Held auf der Suche nach der verlorenen Braut Hilfe vom König der Vögel. In Var.n von AaTh/ATU 670: cf. J Tiersprachenkundiger Mensch belohnt der
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Schlangenkönig den Helden für seine Hilfe mit der Fähigkeit, die Sprache der Tiere zu verstehen. Die Tochter des J Schlangenkönigs fungiert in AaTh/ATU 560: J Zauberring als Helferin. In heutiger Zeit haben die populären Medien dazu beigetragen, dass sich die Vorstellung vom König der Tiere auf den Löwen konzentriert. 1 Grimm, Mythologie 2, 556. ⫺ 2 Dicke/Grubmüller, num. 391. ⫺ 3 Dicke/Grubmüller, num. 349; Uther, H.-J.: Auch Vögel brauchen einen Herrn. Von T.en und denkwürdigen Parlamentswahlen. In: Heindrichs, H.-A./Lox, H. (edd.): Als es noch Könige gab. Forschungsber.e aus der Welt der Märchen. Kreuzlingen/Mü. 2001, 252⫺269, hier 257⫺261. ⫺ 4 Dicke/Grubmüller, num. 18. ⫺ 5 Babrius and Phaedrus/Perry, 442, num. 107; Schwarzbaum, Fox Fables, 147 (not. 15). ⫺ 6 Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./ N. Y. 2008, num. 172.
Wellington
Brigitte Bönisch-Brednich
Tiermärchen. Eine exakte Definition von T. kennen weder die Erzählforschung noch die Lit.wissenschaft. Aus gattungsgeschichtlicher wie -theoretischer Sicht wird die Einordnung des T.s erschwert, weil Definitionsversuche oft von der grundsätzlichen Frage nach Wesen und Status des J Märchens überlagert werden. Als T. sind Erzählungen anzusehen, in denen ⫺ nahezu ausschließlich ⫺ anthropomorphisierte Tiere interagieren (J Anthropomorphisierung, J Theriomorphisierung)1. Terminologische und inhaltliche Nähe besteht zu Tiersage (cf. J Ätiologie), Tierfabel (J Fabel), J Tierepos und J Tierschwank2. Insofern sind unter T. weniger Märchen im eigentlichen Sinne zu verstehen, vielmehr handelt es sich um einen Oberbegriff, der Tiererzählungen in einem weiten Sinne meint. Im internat. Typensystem sind T. unter AaTh/ATU 1⫺299: Animal Tales zusammengefaßt; z. T. wurden auch regionale, oft osteurop., Typenverzeichnisse speziell für T. erstellt3, und auch die weiterführende Forschung ist in Osteuropa produktiv gewesen4. In der Erzählforschung ist der Begriff vielfach diskutiert worden. Gelegentlich hat man im T. eine ursprüngliche, ,naive‘ Erzählung
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Tiermärchen
über ein auf Verwandtschaft und Verständigung beruhendes Miteinander von Mensch und Tier, von vermuteter ungebrochener Natur- und Tiernähe5 und unschuldiger Naturverbundenheit gesehen ,in jenen Zeiten, als noch die Tiere sprechen konnten‘6, in einer paradiesischen Vorzeit7, einem dem Wesen des T.s als affin gedachten frühen zivilisatorischen Stadium. Entsprechend ihrem weitgefaßten Märchenbegriff verwendeten die Brüder J Grimm die Bezeichnung ,Thiermärchen‘, ohne sie weiter zu differenzieren8. Allerdings wurde das T. oft nicht als eine spezielle Untergattung des Märchens gesehen, sondern als etwas vom ,eigentlichen‘ Märchen, das oft mit dem J Zaubermärchen gleichgesetzt wurde, Abzugrenzendes9. Typologien wie diejenige des internat. Typensystems mögen eine solche Auffassung unterstützt haben, denn A. J Aarne unterschied die T. von eigentlichen Märchen (Zaubermärchen, legenden- und novellenartige Märchen, Märchen vom dummen Teufel [Riesen])10, dies allerdings weniger aus strukturellen als vielmehr aus pragmatischen Gründen. Die Ablehnung des Märchenstatus für das oft humoristische T.11 war häufig so strikt, daß T. nicht selten unreflektiert mit Tierschwänken gleichgesetzt wurden12 (sog. T.sammlungen sind meist zu einem großen Teil Slgen von Tierschwänken13). Der Tierschwank stellt nicht nur den zentralen Bereich des T.s dar, ihm fehlen auch die für das Märchen konstitutiven Jenseitsbezüge; statt dessen weist er sich, dem Wesen des Schwanks entsprechend, durch anschaulich geschilderte Lebensumstände, Realitätsverhaftung und Charaktertypen aus14. Die Bedeutung des T.s wird gelegentlich heruntergespielt, wenn z. B. I. J Levin davon spricht, daß T. bei den Tadschiken als ,literarisierte‘ Texte galten und mithin nicht unmittelbar zum volkstümlichen Erzählen gehörten15. Die Definitionsnot zeigt sich auch dort, wo man bei der Bestimmung des T.s Zuflucht zu umfassenderen Bezeichnungen wie Tiergeschichte in der Volksüberlieferung, Tiervolkserzählung oder Tiererzählung sucht, die sich allerdings ebensowenig als eigene Gattungen konstituieren lassen16. Landläufig gelten T. zumeist, ohne daß dies von empirischen lesesoziol. Forschungen bestätigt werden könnte, als J Kindermärchen.
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Reichlich und vorgeblich kindgerecht illustriert, oft an die Grenze zum Bilderbuch gerückt, unterstreichen entsprechende Slgen Affektives wie Traulichkeit, Behaglichkeit und Harmonie, sind von der Reduzierung einer als schwierig geltenden politischen und sozialen Realität geprägt und können als Vermittler von Werten und Einstellungen (Gemeinschaftssinn, Respekt vor Tieren, Rechte der Tiere) angesehen werden17. Die zahlreichen Beispiele von Erzählungen mit Tierprotagonisten in anderen Genres verdeutlichen, daß jeweils unterschiedliche Kriterien für die Konstituierung der Gattungen zugrunde gelegt (J Gattungsprobleme) bzw. für die betr. Erzählungen als dominant angesehen wurden: Wundersame Beziehungen zwischen Tier und Mensch (J Dankbare [hilfreiche] Tiere; J Tierverwandlung; J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe; AaTh/ATU 552: J Tierschwäger, J Tiergeburt) weisen die jeweiligen Märchen nicht als T., sondern eindeutig als Zaubermärchen aus. Ebenso nicht dem T. zugehörig, sondern dem Mythos, wie er sich vornehmlich in den Tiererzählungen mythisch geprägter sog. Naturvölkermärchen darstellt, sind der J Herr der Tiere und der J Trickster als Tierheros mit kosmogonischen und zivilisationsprägenden Funktionen. In Ketten-, Häufungs- oder Formelmärchen werden die Prinzipien der Wiederholung und Reihung häufig mittels einer spielerischen Handlungskette von Tierprotagonisten umgesetzt (AaTh/ATU 2022: cf. J Tod des Hühnchens). Auch innerhalb der als T. bezeichneten Gattungen bestehen zahlreiche Überschneidungen und Übergänge18. Dies gilt bes. für den Tierschwank, in dem sich eine ins Drastische gesteigerte Komik findet: Oft wird hier das Ende durch den mit J Klugheit und J List erzielten Sieg des Kleinen und Schwächeren besiegelt (J Stark und schwach). Eine starke thematische Affinität weist der Tierschwank zur Tierfabel auf, einer meist sehr kurzen, unausgeschmückten Erzählung, die in der Regel aus der pointiert zugeschnittenen, endlastigen Handlung eine allg.gültige Moral gewinnt. Indem sie eine sittliche Wahrheit einkleiden19, haben Tierfabeln eine belehrende Funktion20. Die für das Tierepos charakteristische satirische Prägung ist auch manchen T. nicht fremd, z. B. wenn in ihnen die Parteilichkeit von Gerichten21 oder
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Tierprozeß
die Käuflichkeit von Beamten sowie Luxus und Hypokrisie der höheren Geistlichkeit angeprangert werden22. Dagegen ist es das primäre Ziel der Tiersage, charakteristische Eigenschaften von Tieren zu erklären23. Gelegentlich hat man sie an den Anfang eines Erzählens vom Tier gestellt und so die Ätiologie als Ursprung des T.s gesehen24. 1 BP 5, 248. ⫺ 2 Knapp, F. P.: Das lat. Tierepos. Darmstadt 1979, 102 ⫺114. ⫺ 3 Medne, A.: Latviesˇu dzı¯vnieku pasakas (Lett. T. ). Riga 1940 (cf. Levin, I.: Lett. T. In: Fabula 3 [1960] 182⫺185); Bødker, Indian Animal Tales; Virsaladze; Rapallo, C.: Fiabe di animali in Sardegna. Indice dei tipi. In: Bollettino del repertorio e dell’atlante demologico sardo 11 (1983) 85⫺94; Kippar. ⫺ 4 Kostjuchin, E. A.: Tipy i formy zˇivotnogo e˙posa (Typen und Formen des Tierepos). M. 1987; Kruk, I. I.: Vostocˇnoslavjanskie skazki o zˇivotnych (Ostslav. T. ). Minsk 1989. ⫺ 5 BP 5, 248. ⫺ 6 Röhrich, L.: Mensch und Tier im Märchen [1953]. In: Karlinger, F. (ed.): Wege der Märchenforschung. Darmstadt 1973, 220⫺253, hier 229. ⫺ 7 Wöller, H.: Die hilfreichen Tiere. In: Esterl, A./ Solms, W. (edd.): Tiere und Tiergestaltige im Märchen. Regensburg 1991, 146⫺161, hier 152. ⫺ 8 Solms, W.: Die Gattung Grimms T. ibid., 195⫺ 215. ⫺ 9 Panzer, F.: Märchen. In: Meier, J. (ed.): Dt. Vk. B./Lpz. 1926, 219⫺262; cf. Solms (wie not. 8) 195. ⫺ 10 Aarne, A.: Verz. der Märchentypen (FFC 3). Hels. 1910, 65. ⫺ 11 BP 5, 249. ⫺ 12 Aarne, A.: Die Tiere auf Wanderschaft. Eine Märchenstudie (FFC 11). Hamina 1913. ⫺ 13 z. B. Haltrich, J.: Siebenbürg. T. B./Lpz. [1929]. ⫺ 14 Berendsohn, W. A.: Grundformen volkstümlicher Erzählerkunst in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Hbg 1921, 96⫺99. ⫺ 15 Levin, I.: T. im Tadschikischen. In: Kontakte und Grenzen. Festschr. G. Heilfurth. Göttingen 1969, 93⫺113, hier 95. ⫺ 16 Harkort, F.: Tiervolkserzählungen. In: Fabula 9 (1967) 87⫺99; id.: Tiergeschichten in der Volksüberlieferung. In: Schwab, U. (ed.): Das Tier in der Dichtung. Heidelberg 1970, 12⫺54, 244⫺258. ⫺ 17 Zipes, J.: Creative Storytelling. N. Y./ L. 1995, 95⫺117. ⫺ 18 Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./ N. Y. 2008, 115. ⫺ 19 Hahn 1, XXXII. ⫺ 20 Bausinger, H.: Die moralischen Tiere. Anmerkungen zu Märchen und Fabel. In: Esterl/Solms (wie not. 7) 162⫺175, hier 165. ⫺ 21 Tschitscherow, W.: Russ. Volksdichtung. B. 1968, 147. ⫺ 22 Heissig, W.: Geschichte der mongol. Lit. 2. Wiesbaden 1972, 615⫺638, hier bes. 624⫺626. ⫺ 23 Kaiser, R./Balzamo, E.: Warum der Schnee weiß ist. Märchenhafte Welterklärungen. Ffm. 2005, 142⫺211, 236⫺255, 278⫺286. ⫺ 24 Krappe, A. H.: The Science of Folklore. L. 1930 (Nachdr. 1962), 60⫺69, hier 60.
Berlin
Werner Bies
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Tierprozeß, förmliches Strafverfahren eines weltlichen Gerichts bzw. eines Offizialats gegen Tiere, die einen Schaden verursacht haben (J Tierstrafen)1. Der T. richtete sich zunächst gegen Haustiere, aber auch gegen wilde Tiere, derer man habhaft werden konnte. Meist war es die Tötung eines Menschen, die zu einem T. führte. Aber auch schwere Körper- oder Sachschäden, etwa unerlaubtes Abweiden oder Grenzverletzungen durch Tiere, wurden so geahndet. Die Ursprünge dieses förmlichen T.es sind umstritten2. Nach O. Brunner3 und K. von Amira4 ist der Grund hierfür in der Vergeltung (J Rache) zu sehen, welche die Angehörigen des Opfers verlangten. Näher liegt die Annahme, daß der T. sich aus dem Tötungsrecht entwickelt hat, das den Bauern gegen streunendes und schädigendes Vieh, bes. im Wiederholungsfalle, zustand. Davon berichten viele ländliche Rechtsquellen (Weistümer, Taidinge) des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, für Niederösterreich etwa das Bergtaiding von Hettmannsdorf (ca 1588)5 für Vieh und Schweine, von Wolfpassing (ca 1630)6 für Tauben oder das Banntaiding von Stockerau (ca 1590)7 für Gänse. Schon der Sachsenspiegel (Landrecht 2,40,5; ca 1225) bestimmte, daß Schweine und Gänse mit Hunden zu Tode gehetzt, erschlagen oder aufgehängt werden durften, wenn sie Korn oder Saatgut fraßen. Doch ist diese Passage nicht in allen Hss. überliefert. Ähnliches galt für Ziegen, die bei der Schädigung von Bäumen ergriffen wurden8. Daneben kommen der Einfluß des A. T.s, abergläubische Vorstellungen und ein sich wandelndes Verhältnis zum Tier seit dem 12. Jh. in Betracht9. Förmliche T.e scheint es zuerst in Frankreich gegeben zu haben10. Die frühesten Belege datieren von Ende des 13./Anfang des 14. Jh.s. Beispielhaft ist ein Fall, der aus Mortaing berichtet wird: 1394 wurde dort ein Schwein, das ein Kind getötet hatte, durch Richter und Beisitzer zum Tode durch den Strang verurteilt. Die Vollstreckung erfolgte durch den Scharfrichter11. Von Frankreich aus verbreitete sich die Praxis von T.en in die Nachbarländer sowie auch nach Schweden und Österreich. Ein Mäuseprozeß fand im Jahre 1519 im tirol. Glurns statt12. Der Höhepunkt der T.e liegt im 15. Jh. Noch im 18. Jh. sind T.e belegt, verein-
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Tierprozeß
zelt auch im 19. Jh. 1864 soll im kroat. Slavonien ein Schwein zum Tode verurteilt worden sein, weil es einem einjährigen Mädchen die Ohren abgebissen hatte13. Parallel zu den förmlichen T.en gab es offenbar die Möglichkeit, den für schuldig befundenen Tieren mit Hilfe der Beschwörungspraktiken der ma. Kirche beizukommen. Massenhaft auftretende Schädlinge wie Mäuse, Ratten, Raupen, Engerlinge, Insekten, Schnecken, Schlangen (Würmer), Kröten, Heuschrecken, aber auch wilde Tauben, Störche, Sperlinge, Mücken und Aale versuchte man mit Mitteln des geistlichen Prozesses zu vertreiben (J Bann)14 oder unschädlich zu machen. Zunächst sollten die Schädlinge mit Hilfe liturgischer Mittel (Besprengung mit Weihwasser oder hl. Öl) oder schlicht durch Ermahnung der Tiere vertrieben werden, wovon zahlreiche Legenden berichten15. Gelegentlich richteten sich solche Methoden aber auch gegen einzelne Tiere. So habe der hl. Gallus den Bären aus seinem Gebiet vertrieben16. J Paulus Eremita soll einem hungrigen Löwen Nahrung unter der Bedingung gereicht haben, künftig weder Mensch noch Tier zu zerreißen17. Schließlich gab es auch die Möglichkeit der Malediktion und Exkommunikation, die in den kirchenrechtlichen Verfahren ausgesprochen wurden; die Vollstreckung des J Urteils wurde jedoch jenseitigen Mächten überlassen. So habe der hl. J Bernhard von Clairvaux lästige Fliegen mit den Worten ,excommunico eas‘ beschworen18. Allerdings war kirchenrechtlich umstritten, ob derartige Mittel gegen vernunftlose Wesen angewandt werden durften. Man stützte sich auf Thomas von Aquin, der sie für zulässig erachtete, weil sich der J Teufel dieser Kreaturen zum Schaden der Menschen bediene19. 1668 erschien in Lyon das von G. Bailly verfaßte Lehrbuch Traite´ des monitoires avec un plaidoyer contre les insects mit Anweisungen, wie solche Verfahren zu handhaben seien20. Von eigentlichen T.en mit förmlichem Gerichtsverfahren wissen Märchen und Sagen kaum etwas, ebensowenig von einem Strafvollzug durch Richter und Schergen (J Schinden, Schinder). In der großen Sprichwortsammlung von J. W. J Zincgref und L. Weidner (1655) ist zu lesen, eine Sau habe ein in der Wiege liegendes Kind gefressen, worauf das Gericht ein ordentliches Halsgerichtsverfahren
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durchgeführt und die Sau zum Tod am Galgen verurteilt habe21. In einer Sage wird eine Kröte durch J Karl d. Gr. als höchstem weltlichen Richter für ihren Diebstahl zum Tod durch Verbrennen verurteilt (AaTh/ATU 207 C: J Glocke der Gerechtigkeit). Verbunden mit der Stadt Cochem an der Mosel heißt es, daß eine Ziege, die in einen Weinberg eingedrungen war und Trauben gefressen hatte, vom Hohen Rat zur Strafe des Kelterns verurteilt worden sei: Sie wurde in eine Weinpresse gesteckt, bis das Blut herausfloß22. In Franken wurde erzählt, daß ein Esel zum Tod durch den Strang verurteilt worden sei, weil er im 30jährigen Krieg durch sein Geschrei das Versteck der Einwohner von Riegelstein verraten habe23. Bes. Bedeutung kommt dem Motiv des T.es im Bereich des J Tierepos zu. Es dient dazu, menschliche Torheiten und Laster mit Hilfe der Tiersozietät bloßzustellen (J Rechtsfälle). Schon die älteste bekannte Fabel des klassischen Altertums, J Hesiods Erzählung von Habicht und Nachtigall, thematisiert das Verhältnis von Macht und Recht24. Im J Roman de Renart und anderen Tierepen klagen Tiere andere Artgenossen an und sprechen über sie ein Urteil. In einem Predigtexempel erzählt A. J Strobl den Prozeß gegen den Fuchs in moralisierender Weise: Anders als im Tierepos J Reineke Fuchs kann der Hühnerdieb hier seiner gerechten Strafe nicht entgehen (AaTh/ ATU 53: The Fox at Court)25. In russ. Fassungen zu AaTh/ATU 220 A: cf. J Parlament der Vögel wird die Krähe auf Antrag des Uhus vom Adler schuldig gesprochen und ins Gefängnis gebracht, weil sie Gänse und Schwäne bedrängt und die Eier gestohlen hatte26. Tiere werden zu Trägern menschlicher Eigenschaften, die sich bes. im Prozeß zeigen. Jedoch ist das einzelne Tier nicht auf bestimmte Eigenschaften festgelegt. Weil er die Harmonien der Nachtigall nicht versteht und sich für den Kuckuck entscheidet, gibt sich der Esel, der zur Entscheidung des J Rangstreits, wer von den Vögeln am schönsten singe, als J Schiedsrichter berufen wurde, der Lächerlichkeit preis. Moral: Ein unfähiger Richter ist schlimmer als die schlimmste Pest27. In der äsopischen Fabel vom lügnerischen Hund und dem Schaf (Phädrus 1,17) wird das Schaf durch falsche Zeugen und Mißbrauch des Eides zu Unrecht verurteilt28; vergleich-
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Tierschwäger
bare Fabeln von richtenden Tieren und ihren ungerechten Urteilen über schwächere finden sich häufiger29. Bes. die frz. Karikatur des 19. Jh.s geißelt die Mißstände des Justizwesens ihrer Zeit, indem sie Tiere zu handelnden Personen macht. Da werden Raben zu Richtern, Anwälten und Geschworenen, die Ameise zum forensischen Gutachter und Enten zu Gerichtsberichterstattern30. 1
Zusammenfassend Praag, A. van: Het strafproces tegen dieren. In: Thermis 93 (1932) 345⫺375; Vartier, J.: Les Proce`s d’animaux du moyen aˆge a` nos jours. P. 1970; Fischer, M.: Tierstrafen und T.e. Zur sozialen Konstruktion von Rechtssubjekten. Münster 2005; Dinzelbacher, P.: Das fremde MA. Gottesurteil und T. Essen 2006, bes. 103⫺156; Kaufmann, E.: Tierstrafen. In: Hwb zur dt. Rechtsgeschichte 5. B. 1991, 237⫺241. ⫺ 2 Mengis, C.: T., Tierstrafen. In: HDA 8 (1936⫺37) 928⫺938. ⫺ 3 Brunner, H.: Dt. Rechtsgeschichte 1⫺2. B. 1887/92, hier t. 1, 556. ⫺ 4 Amira, K. von: Thierstrafen und Thierprocesse. In: Mittlgen des Inst.s für österr. Geschichtsforschung 12 (1891) 545⫺601, hier 587. ⫺ 5 Niederösterr. Weistümer 1⫺2. ed. G. Winter. Wien 1886/96, hier 1, 187. ⫺ 6 ibid. 2, 21. ⫺ 7 ibid. 2, 449; Grimm, Rechtsalterthümer 1, 189; 2, 134. ⫺ 8 Gierke, O. von: Der Humor im dt. Recht. B. 21886, 62. ⫺ 9 Dinzelbacher (wie not. 1) 139; cf. auch Gijswijts-Hopstra, M.: Mens, dier en demon. Parallelen tussen dieren- en heksenprocessen? In: Grootes, E./den Haan, J. (edd.): Geschiedenis, godsdienst, letterkunde. Roden 1989, 55⫺62. ⫺ 10 cf. zusammenfassend Che`ne, C.: Juger les Vers. Exorcismes et proce`s d’animaux dans le dioce`se de Lausanne (XV e⫺XVIe s. ). Lausanne 1995. ⫺ 11 Berkenhoff, H. A.: Tierstrafe, Tierbannung und rechtsrituelle Tiertötung im MA. Lpz. 1937, 15. ⫺ 12 Zani, K. F.: Der große T. von Glurns vom Jahre 1520. In: Der Schlern 22 (1948) 203 sq. ⫺ 13 von Amira (wie not. 4) 573. ⫺ 14 Bregenzer, I.: ThierEthik. Darstellung der sittlichen und rechtlichen Beziehungen zwischen Mensch und Thier. Bamberg 1894, 69. ⫺ 15 Dinzelbacher (wie not. 1) 116⫺124. ⫺ 16 Franz, A.: Die kirchlichen Benediktionen des MA.s 2. Fbg 1909, 145; Fehr, H.: Das Recht in den Sagen der Schweiz. Frauenfeld 1955, 115. ⫺ 17 Franz (wie not. 16) 141. ⫺ 18 ibid., 144 sq. ⫺ 19 Dinzelbacher (wie not. 1) 137. ⫺ 20 cf. Cohen, E.: Law, Folklore and Animal Lore. In: Past and Present 110 (1986) 6⫺37. ⫺ 21 EM-Archiv: Zincgref/Weidner 4 (1655) 280; cf. Moser-Rath, Schwank, 66 sq. ⫺ 22 Ester, K. d’: Rheinsagen. Stg. u. a. 1925, 306 sq. ⫺ 23 Büttner, H.: Sagen, Legenden und Geschichten aus der Fränk. Schweiz. Erlangen 1988, 342 sq. ⫺ 24 Dicke/Grubmüller, num. 239; Schmidt, J.-U.: Hesiods Ainos von Habicht und Nachtigall. In: Wort und Dienst (1983) 55⫺76. ⫺ 25 Moser-Rath, Predigtmärlein, 217⫺219. ⫺
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Afanas’ev, num. 74. ⫺ 27 Märchen aus dem Nachlaß der Brüder Grimm. ed. H. Rölleke. Bonn 31983, num. 24. ⫺ 28 Dicke/Grubmüller, num. 305. ⫺ 29 ibid., num. 611. ⫺ 30 Pleister, W./Schild, W. (edd.): Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europ. Kunst. Köln 1988, 186. 26
Korntal
Herbert Schempf
Tierschwäger (AaTh/ATU 552), Zaubermärchen, in dem die J Schwestern des Protagonisten Tiere oder übernatürliche Wesen heiraten (J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe). Diese stehen dem Helden im weiteren Handlungsverlauf als J Helfer bei. AaTh 552 A: Three Animals as Brothers in Law entspricht ATU 552 (1). Die früheste belegte Fassung des Erzähltyps findet sich in J Basiles Pentamerone (4,3): Drei in Tiere (Falke, Hirsch, Delphin) verwandelte Prinzen verwüsten mit Hilfe der anderen Vögel, Vierfüßler und Säugetiere (cf. J Herr der Tiere) das Land und erzwingen so die Ehe mit drei Königstöchtern. Ihr später geborener J Bruder macht sich auf die J Suche nach seinen Schwestern, findet sie und bekommt von jedem Tierschwager etwas für seine Art Charakteristisches (Feder, Haar, Schuppe [J Pars pro toto]) geschenkt. Der Held kommt zu einem Mädchen, das von einem Drachen gefangengehalten wird. Mittels der Feder, des Haars und der Schuppe ruft der Held die T. herbei. Sie töten den Drachen und befreien das Mädchen. Die T. werden wieder zu Menschen.
Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s wurde AaTh 552 A/ATU 552 (1) vor allem in Osteuropa, Griechenland und der Türkei aufgezeichnet, darüber hinaus in Skandinavien, West-, Mittel- und Südeuropa sowie in arab. Ländern und in Nord- und Südamerika. Das Märchen ist meist mit anderen Erzähltypen kombiniert und liegt nur selten als selbständige Erzählung vor. Für die Verheiratung der Schwestern mit den Tieren werden verschiedene Gründe genannt: In einer von Osteuropa bis nach Asien verbreiteten Redaktion befiehlt der sterbende Vater seinem Sohn (Söhne), seine Töchter dem jeweils ersten Freier zu geben (cf. Mot. T 62)1. In Westeuropa ist dagegen eine Redaktion verbreitet, in der ein verarmter Mann auf der J Jagd in die Reiche der Tiere gerät und von diesen gezwungen wird, seine Töchter an sie zu verheiraten; als Gegengabe erhält er Reich-
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Tierschwäger
tümer (Mot. S 221.1)2. Gelegentlich werden die Töchter von den übernatürlichen Wesen entführt3. Diese sind mitunter J Personifikationen von Sonne, Mond4 oder wilden Wetterkräften5; manchmal zeigen sich die Freier zunächst in Menschengestalt, z. B. als Arme oder Behinderte6. Bes. im östl. Mittelmeerraum sind die Ehemänner oft übernatürliche Wesen oder Geister7. In einem Teil der Var.n zieht der Held aus, um die verlorenen Schwestern wiederzufinden, in anderen sucht er eine schöne Prinzessin, in die er z. B. durch J Verwünschung verliebt gemacht worden ist (J Fernliebe)8, und trifft unterwegs zufällig auf seine Schwestern. Gelegentlich ist die zu rettende Frau die Schwester seiner Schwäger9. Wenn der Bruder seine Schwestern besucht, wird er oft von ihnen vor ihren menschenfressenden Ehepartnern versteckt (J Menschenfleisch riechen)10. In Var.n, in denen ältere Brüder vorkommen, die den T.n ihre Schwestern verweigert haben, erklären die T., sie wollten die älteren Brüder töten, falls sie ihnen begegnen, dem Jüngsten aber erweisen sie Gastfreundschaft11. Mit dem Geschenk der T. kann der Protagonist diese herbeirufen12 oder sich selbst in ein Tier verwandeln (J Tierverwandlung)13. Mitunter erfährt er von den T.n auch, wo sich die gesuchte Prinzessin befindet14. AaTh 552 A/ATU 552 (1) ist häufig mit AaTh/ATU 302: J Herz des Unholds im Ei kombiniert15. Gewöhnlich verfolgen und töten die T. die Tiere, in denen sich die Seele des dämonischen Widersachers befindet (J External soul)16. Diese Ausprägung bildet auch die Grundlage der Erzählung Die Bücher der Chronika der drei Schwestern (1782) von Johann Karl August J Musäus: Weil ein Mann in den Herrschaftsbereich von drei Tieren (Bär, Adler, Delphin) eindringt, müssen seine drei Töchter die Tiere heiraten, die sich allerdings bei der Abholung ihrer Bräute in Menschengestalt präsentieren. Der spätgeborene Bruder, Reinald das Wunderkind, will die T. erlösen. Mit ihrer Hilfe tötet er einen furchterregenden Stier. Eine Ente fliegt aus dessen Bauch, in ihr befindet sich ein Ei und darin der Schlüssel zu dem Ort, an dem die Prinzessin im Zauberschlaf ruht. Reinald erlöst sie, und mit ihr auch die T., die ihre Brüder sind.
Diese Version wurde durch Volksbücher popularisiert; viele aus mündl. Überlieferung aufgezeichnete Var.n gehen auf Musäus zurück17.
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Auch die erste Fassung in den J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm (KHM 82 [1812]) hängt von Musäus ab. Die spätere Version (KHM 197 [seit 61850]) geht auf F. von J Arnim zurück18. In ihr werden die Brüder (nicht Schwäger) des Helden in Tiere verwandelt: Bei einem J Streit um Zaubergegenstände (AaTh/ ATU 518) erlangt der Protagonist einen Hut, mit dessen Hilfe er zu der verwunschenen Königstochter kommt, die ein Zauberer in seiner Gewalt hat. In ineinander verschachtelten Tieren befindet sich zuletzt eine Kristallkugel, durch deren Besitz der Protagonist die Macht des Zauberers bricht.
Die rationalisierte Vorstellung, daß die T. verzauberte Menschen sind, ist relativ selten und durch literar. Quellen vermittelt. Die mit AaTh/ATU 302 verbundenen T.-Erzählungen sind häufig mit weiteren Erzähltypen, so mit AaTh/ATU 304: Der gelernte J Jäger19, kombiniert oder mit weiteren abenteuerlichen Episoden versehen; z. B. können der Held (und seine Brüder) von Ungeheuern angegriffen werden20. Mitunter wird die gerettete Frau nach der Hochzeit entführt, und der Held muß sie befreien21. Kommt er dabei ums Leben, wird er von seinen T.n wiederbelebt (J Wiederbelebung)22. In Finnland und Estland ist diese Form manchmal mit AaTh/ATU 580: J Beliebt bei den Frauen verbunden23. Parallelen zu AaTh 552 A/ATU 552 (1) weist der vor allem in Osteuropa belegte Erzähltyp ATU 302 C*: The Magic Horse auf 24: Auf Wunsch des Vaters erlaubt der jüngste Sohn seinen drei Schwestern, die erstbesten Freier zu heiraten. Diese erweisen sich als Herren über Tierreiche. Der Prinz heiratet ebenfalls. Nach der Hochzeit betritt er ein verbotenes J Zimmer und findet dort einen ausgetrockneten alten Mann, dem er Wasser gibt. Hierdurch erlangt der Mann, ein Unhold, seine Lebenskraft wieder und entführt die Frau des Prinzen. Der Prinz sucht (mit Hilfe der Anweisungen seiner T.) nach ihr, wird aber von dem Bösewicht getötet. Die durch ein J Lebenszeichen von seinem Tod informierten T. rufen den Helden wieder ins Leben zurück. Mittels eines Zauberpferds gelingt ihm die Befreiung seiner Frau25.
Eng mit den T.-Erzählungen verwandt ist AaTh 552 B: The Animal Sons-in-law and their Magic Food. Dieser Erzähltyp entspricht ATU 552 (2). Im Gegensatz zu den recht verbreiteten T.-Erzählungen ist AaTh 552 B/ATU 552
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Tierschwäger
(2) vergleichsweise selten belegt. Die Erzählung handelt meist von übernatürlichen Schwiegersöhnen; im Mittelpunkt steht eine mißlungene J Imitation: Ein Mann, dessen drei (sieben) Töchter mit Tieren (kosmische Wesen, Bergleute, Trolle) verheiratet sind, besucht diese und wird bewirtet. Als er zu Hause deren ungewöhnliche Art der Essenszubereitung nachahmen will, mißlingt ihm (und seiner Frau) dies, und er kommt zu Tode (blamiert sich).
Der Erzähltyp ist aus mündl. Überlieferung vor allem in Skandinavien26, im Baltikum und in Rußland aufgezeichnet worden, Einzelbelege liegen aus Westeuropa, Süd- und Ostasien vor. Mitunter wird die ungewöhnliche Ehe damit begründet, daß die Eltern der Schwestern die Hilfe der übernatürlichen Ehegatten gefordert hatten27. In einer frz. Var. überzeugt sich die Mutter lediglich davon, wie es ihren Töchtern geht28. In einigen Fällen führt die Nachahmung dazu, daß Töchter und Eltern wieder zusammenleben können29. 1
cf. Chauvin 5, 234⫺236, num. 134; El-Shamy, Types 552 C; Dawkins, R. M.: Modern Greek Folktales.Ox. 1953, num. 23; Boratav, P. N.: Zaman ˇ istov, K.: zaman ic¸inde. Istanbul 1958, num. 17; C Perstenek-dvenadcat’ stavesˇkov. Petrozavodsk 1958, 62⫺70 (russ. aus Karelien); Muhawi, I./Kanaana, S.: Speak, Bird, Speak Again. Berk./L. A./L. 1989, num. 17 (palästinens.); Tuczay, C.: Der Unhold ohne Seele. Wien 1982, 63, 65 (zu A). ⫺ 2 Campbell, M.: Tales from the Cloud Walking Country. Bloom. 1958, 85⫺89; Grundtvig, S.: Danske Folkeæventyr. Kop. 1878, num. 3; Polı´vka 2, 14⫺22. ⫺ 3 Chudjakov, I. A.: Velikorusskie skazki. ed. V. G. Bazanov/ O. B. Alekseeva. M./Len. 1964, num. 48; Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 72. ⫺ 4 Michel, R.: Slowak. Märchen. Wien 1944, 152⫺169; Dozon, A.: Contes albanais. P. 1881, num. 15; Valjavec, M. K.: Narodne pripovjesti u Varazˇdinu i okolici. Zagreb 21890, num. 1. ⫺ 5 Lombardi Satriani, R.: Racconti popolari calabresi 1. Neapel 1953, num. 23; Chudjakov (wie not. 3); Meier, E.: Dt. Volksmärchen. Stg. 1852, num. 6. ⫺ 6 Mode, H.: Zigeunermärchen aus aller Welt 1⫺4. Wiesbaden 1983⫺85, hier t. 3, num. 148 (aus dem Kosovo); HoogasianVilla, S.: 100 Armenian Tales and Their Folkloristic Relevance. Detroit 1966, num. 1; Keller, W./Rüdiger, L.: Ital. Volksmärchen. MdW 1959, num. 37. ⫺ 7 Megas, G.: Griech. Volksmärchen. MdW 1982, num. 31; Campbell, C. G.: From Town and Tribe. L. 1952, 73⫺80; Lidzbarski, M.: Die neu-aram. Hss. der Kgl. Bibl. zu Berlin 2. Weimar 1896, 45⫺56; cf. El-Shamy, Types 552 C. ⫺ 8 Keller/Rüdiger (wie not. 6); Gonzenbach, num. 29; Calvino, I.: Italian
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Folktales. N. Y. 1980, num. 133. ⫺ 9 Michel (wie not. 4); Stephani, C.: Märchen der Rumäniendeutschen. MdW 1991, num. 17. ⫺ 10 Karlinger, F.: Rumän. Märchen außerhalb Rumäniens. Kassel 1982, num. 4; Boratav (wie not. 1); Mode (wie not. 6); Lidzbarski (wie not. 7). ⫺ 11 Hahn, num. 25 (griech.); Kralina, N.: Sto skazok udmurtskogo naroda. Izˇevsk 1961, 154⫺157; Lombardi Satriani (wie not. 5); Mode (wie not. 6); Karadzˇic´, V.: Srpske narodne pripovetke. Belgrad 41937, 155⫺171; Ku´nos, I.: Türk. Volksmärchen aus Stambul. Leiden 1905, 125⫺139. ⫺ 12 Ranke 2, 211⫺216; Viidalepp (wie not. 3); Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 21979, 104⫺107; Zbornik za narodni zˇivot i obicˇaje juzˇnih slavena 18,1 (1913) 145⫺147. ⫺ 13 Eberhard/Boratav, num. 218; Boratav (wie not. 1); Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y Nuevo Me´jico 1. Stanford [1957], num. 204. ⫺ 14 Wiepert, P.: Volkserzählungen von der Insel Fehmarn. Neumünster 1964, num. 36; Megas (wie not. 7); Ku´nos (wie not. 11); Dawkins (wie not. 1) 122. ⫺ 15 Tuczay (wie not. 1) 39⫺48 (Var.ntabelle, num. 15, 45). ⫺ 16 Ambainis (wie not. 12); Espinosa 3, 33⫺43 (zu num. 141⫺142, Var. 1); Delarue/Tene`ze; Meyer, G. F.: Plattdt. Volksmärchen und Schwänke. Neumünster 1925, 12⫺15; Wiepert (wie not. 14); Muhawi/Kanaana (wie not. 1); Mode (wie not. 6) t. 2, num. 118 (aus Polen); Brendle, T. R./Troxell, W. S.: Pennsylvania German Folk Tales. Norristown, Pa 1944, 11⫺14; Campbell (wie not. 2); Rael (wie not. 13) num. 203; Cascudo, L. da Caˆmara: Contos tradicionais do Brasil. Bahia 21955, 143⫺147; Frobenius, L.: Volksmärchen der Kabylen 2. Jena 1922, num. 10. ⫺ 17 BP 3, 426; Pröhle, H.: Kinder- und Volksmärchen. Lpz. 1853, num. 1; Uffer, L.: Die Märchen des Barba Plasch. Zürich 1955, 112⫺129 (rätorom.); Viidalepp (wie not. 3) num. 71. ⫺ 18 Arnim, F. von: Hundert neue Mährchen im Gebirge gesammelt 1. Charlottenburg 1844, num. 14; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 469 sq. ⫺ 19 Dawkins (wie not. 1) 122 sq.; Eberhard/Boratav, num. 213; Karadzˇic´ (wie not. 11); Dozon (wie not. 4). ⫺ 20 Köhler/Bolte 1, 551; Eberhard/Boratav, num. 213 (IV.1.); Hoogasian-Villa (wie not. 6); Ku´nos (wie not. 11); Dawkins, R. M.: Modern Greek in Asia Minor. Cambr. 1916, 272⫺274, 354⫺357. ⫺ 21 id.: Forty-Five Stories from the Dodekanese. Cambr. 1950, 169⫺172; Eberhard/Boratav, num. 213; Muhawi/Kanaana (wie not. 1); Polı´vka 2, 15⫺ 27; Berze Nagy 552 (mit G1). ⫺ 22 Dawkins (wie not. 1); Macler, F.: Contes, le´gendes et e´pope´es populaires d’Arme´nie 1. P. 1928, 69⫺80; Karadzˇic´ (wie not. 11). ⫺ 23 Paunonen, H.: Das Verhältnis der Märchentypen AT 552 A und 580 im Lichte der finn. Var.n. In: SF 13 (1967) 71⫺105; cf. Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 115. ⫺ 24 Hora´lek, K.: Prˇ´ıspeˇvek k typologii srbsky´ch poha´dek (Beitr. zur Typologie serb. Märchen). In: Annali dell’Istituto universitario orientale. Sezione slave 8 (1965) 45⫺76; Polı´vka 2, num. 5; Tuczay (wie not. 1) 69 sq.,
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Tierschwank
183⫺193; Scherf 1, 731⫺736; 2, 853⫺856, 1240⫺ 1243; Afanas’ev 3, num. 159; Viidalepp (wie not. 3); Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki vjatskoj gubernii. Petrograd 1915, num. 86; Berze Nagy 552 (mit G2); cf. MNK 552 A. ⫺ 25 Konkka, U. S.: Karel’skie narodnye skazki. Petrozavodsk 1959, 27⫺35; Chudjakov (wie not. 3) num. 22, 48; Keleti szemle 20 (1927) 58⫺71 (osset.). ⫺ 26 Liungman, Volksmärchen, num. 552; Christensen, N.: Folkeeventyr fra Kaer herred. ed. L. Bødker. Kop. 1963⫺67, num. 18; Kristensen, E. T.: Æventyr fra Jylland 3. Kop. 1895, num. 62; Bødker, L.: European Folk Tales. Kop. 1963, 41⫺43 (norw.). ⫺ 27 Kerbelyte˙, B.: Litau. Volksmärchen. B. 1978, num. 66; Afanas’ev 1, num. 92; Nikiforov, A. I.: Severnorusskie skazki. ed. V. Ja. Propp. M./Len. 1961, num. 37; cf. Delarue/Tene`ze; Zelenin (wie not. 24) num. 19. ⫺ 28 Delarue/Tene`ze. ⫺ 29 Range, J. D.: Litau. Volksmärchen. MdW 1981, num. 44; Voskobojnikov, M. G./Menovsˇcˇikov, G. A.: Skazki narodov severa. M./Len. 1959, 27 sq. (sam.).
Los Angeles
Christine Goldberg
Tierschwank, humoristische Erzählgattung, die nach allg. Auffassung im europ. MA. entstanden ist. Als Mischform zwischen J Tiermärchen und J Fabel hat sie zu unterschiedlichen Erklärungsversuchen geführt. Außerhalb des dt. Sprachraums ist der Begriff T. weitestgehend unbekannt, dort werden die allg. Bezeichnungen animal tales, cuentos (populares) de animales, fiabe d’animali, contes d’animaux oder skazki o zˇivotnych verwendet. H. J Schwarzbaum spricht von „humour in fables“ oder von „animal tale“ als „satirical vehicle of fables“1. Im internat. Typenkatalog sind T.e weitestgehend den Animal Tales (AaTh/ATU 1⫺299) zugeordnet. Im Zentrum der Handlung von T.en steht die Auseinandersetzung zwischen einem (sprechenden) starken und einem schwachen Tier (J Stark und schwach), die das schwächere Tier durch J Klugheit und J List für sich entscheiden kann. Menschlichen Handlungsträgern kommt eine untergeordnete Rolle zu. Die Tiere agieren in komischen Situationen (J Komik), schädigen sich selbst unbeabsichtigt (J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung) und lassen sich durch andere Tiere zu für sie nachteiligen Handlungen verleiten: Sie verlieren z. B. ihre Beute (AaTh/ATU 9: Der unreelle J Partner), indem das gefangene Tier erreicht, daß es losgelassen wird und so flüchten kann
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(z. B. AaTh/ATU 5: J Biß in die Wurzel; AaTh/ ATU 6, 122 C, 227*: J Überreden zum Sprechen, Singen etc.); Tiere fressen ihre eigenen J Eingeweide (AaTh/ATU 21) oder stürzen als Folge einer unbedachten Rettungsaktion in einen Brunnen (AaTh/ATU 30⫺33, 156 C*: cf. J Rettung aus dem Brunnen). T.e zeigen eine starke thematische Affinität zur knappen Fabel, eine Tendenz zu moralischer Ausdeutung (J Moral) ist aber selten vorhanden. Im Gegensatz zur Fabel besteht eine Neigung zur J Zyklenbildung (cf. J Konglomerat, Konglomeratmärchen), ohne daß der einzelne T. innerhalb der Kette an eine feste Reihenfolge gebunden ist. Zu Beginn der wiss. Auseinandersetzung um Erzählgenres (J Gattungsprobleme), die an der Wende vom 19. zum 20. Jh. einsetzte, waren T.e nur am Rande Gegenstand eingehender Erörterungen; die Diskussionen blieben außerdem weitgehend auf den dt.sprachigen Raum beschränkt2. Bezeichnend für die angestrebte Unterteilung ist die Ansicht L. F. Webers. Ohne den Terminus T. direkt zu verwenden, plädierte er allg. für eine strikte Trennung von Schwank und Märchen und wies Tiermärchen und Tierfabel bzw. J Tierepos dem J Schwankmärchen als bes. Unterart zu3. Den Begriff T. selbst scheint zuerst O. J Dähnhardt verwendet zu haben. Im 4. Band der Natursagen (1912) bezeichnete er einen kleinen Kreis der nord. Fuchsmärchen als T.e4, unterschied sie von sog. Tiersagen (Begriff von J. J Grimm)5, die vom Leben und von Aktionen fast ausschließlich nichtdomestizierter Tiere handeln6, und hob als Kriterium die Steigerung ins Unwahrscheinliche und Komische bis zur Drastik hervor7. Dähnhardts Differenzierungsversuch blieb jedoch in der Forschung unbeachtet. In der weiteren und sehr kontrovers verlaufenden Diskussion interessierte bei T.en vor allem, inwieweit diese als Ausprägungen von Tiererzählungen überhaupt eine eigene Gattung bilden bzw. welche Kriterien eine Abgrenzung zu anderen Gattungen oder Untergattungen erlauben. Ausgehend von in der ma. Tierepik vorkommenden Formen ging es um die Strukturen und Funktionen von Tiererzählungen, die Handlungsträger und die Frage nach der Herkunft und dem mutmaßlichen Alter.
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Tierschwank
C. Voretzsch betonte den Unterhaltungswert von Tiergeschichten im ma. Tierepos8 und stellte als Charakteristikum die Neigung zur Zyklenbildung heraus. Der T. sei „in der regel ein in verse umgesetztes [literar.] tiermärchen, behandelt aber gelegentlich auch begebnisse zwischen mensch und tier ohne märchenhafte zutaten“9. A. Graf hingegen sah den T. als eine neue Form an, die sich erst im MA. ausgebildet habe. Grundlage des ma. Tierepos und bes. des J Roman de Renart seien neben J Äsopika und europ. Volksmärchen „die in mönchskreisen ausgebildeten tierschwänke“, die im allg. „unter klösterliche gesichtspunkte gebrachte antike fabeln“ seien und keineswegs einer früheren Entstehungszeit zugerechnet werden dürften10. W. A. J Berendsohn vertrat die Auffassung, T.e seien z. T. aus Tiersagen entstanden, bei denen die Erklärung für eine bestimmte Eigenschaft oder das Aussehen des Tiers nicht ernst, sondern scherzhaft gemeint war. Er unterschied aufgrund des Handlungsverlaufs ein-, zwei-, drei- und mehrteilige T.e11. Als Merkmale stellte er die große Wirklichkeitstreue bei der Darstellung der Lebensumstände der Tiere heraus, aber auch das Charakteristikum der J Anthropomorphisierung. Die Protagonisten im T. seien „künstlich stilisierte Charaktertypen“, wie der Gebrauch des Artikels oder die Verwendung des Namens einer Tiergattung als Eigenname (z. B. ,Hühnchen‘ und ,Hähnchen‘ in KHM 80, AaTh/ATU 2021, 2022: J Tod des Hühnchens)12 signalisiere. Die genannten Zuordnungskriterien bestimmen auch die seit ca den 1960er Jahren bes. von Romanisten, Germanisten, Volkskundlern und Pädagogen geführte Diskussion um den T. in der europ. Volksüberlieferung und um Abgrenzungsprobleme zu anderen Erzählgattungen wie etwa dem Tierbuch für Kinder und Jugendliche13 mit seinen heterogenen Erzählungen. Aus heutiger Sicht sind die Ursprünge von T.en, die möglicherweise als Parodien der höfischen Lit. aufzufassen sind14, vielfach in den ma. Tierepen zu suchen. Die Ausdifferenzierung des T.s wird als allmählicher und variierender Prozeß angesehen, eine kontinuierliche Entwicklung antiker Fabeln zu den T.en des MA.s bestritten15. Umgekehrt könne es bei einer Neubearbeitung von Fabeln durchaus wie-
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der zu einer Annäherung kommen, etwa innerhalb verschiedener Bearb.en des J Reineke Fuchs16. Als grundlegend lassen sich folgende typol. Wesenszüge für den T. erkennen17: T.e sind unterhaltsam wie Tiermärchen, rücken aber wegen ihrer belehrenden Züge auch an die Fabel heran. Im Unterschied hierzu sind die Akteure in ihren Rollen variabler; illustrative Ausschmückung überwiegt18. Für die Zuordnung entscheidend ist die Proportion belehrender und unterhaltsamer Züge und das Stilmittel der Komik, die nicht um ihrer selbst willen erzeugt wird, sondern als J Kontrast zur Darstellung19. Die groteske J Übertreibung von J Schädigungen, obwohl sie ein gängiges schwanktypisches Merkmal ist, läßt manche Forscher allerdings an der Einordnung einer Tiererzählung als T. zweifeln20. Die bei indigenen Völkern primär vorherrschenden Tiergeschichten lassen sich zwar als eine Mischung aus sagen- und mythenhaften Geschichten charakterisieren, aber sie haben oft schwankähnliche Strukturen, die mit der Figur des J Tricksters verbunden sind. Häufig handelt es sich um Auseinandersetzungen zweier oder mehrerer Tiere unterschiedlicher Stärke. Charakteristisch ist der J Wettlauf der Tiere (AaTh/ATU 275, 275 A, 1072, 1074) und die Überlistung eines großen Tiers durch ein kleines21. Je nach Vorkommen haben diese Völker ihre Lieblingstiere (Schakal, Spinne, Fuchs, Hase), die keineswegs nur auf die aus Fabeln bekannten ,klassischen‘ Charakteristika festgelegt werden. Dies ist ein Indiz für die Tierfiguren eigene J Ambivalenz und für die allmähliche Loslösung traditioneller Eigenschaften, die zumeist durch Beschreibungen aus der Antike vorgegeben sind, aber bei außereurop. Tiererzählungen davon abweichen können22. S. Schmidt unterscheidet Tiermärchen von T.en und hat folgende Kriterien für die T.e der südafrik. Nama und Damara herausgearbeitet23: einfache Handlungsstruktur, Reihung mehrerer T.e zu einem Konglomerat, Dialogisierung, einprägsamer Höhepunkt, dramatischer Vortragsstil, Steigerung von Unmöglichkeiten ins Extreme (J Absurdität), Kontrast Schlauheit/Dummheit, Täuschung und/oder Vernichtung des Gegners (dabei reicht die Spannweite vom befreienden J Lachen über das Ungeschick des Kontrahenten bis zum Mitleid über dessen grausiges Ende). Dem
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Tierprotagonisten gehört, obwohl er nicht unbedingt ein Vorbild ist, wegen seiner Schlauheit die Sympathie der Zuhörer. Die Tiere und ihre Aktionen sind abgehoben von der realen Welt, sie verfügen über feststehende Eigenschaften und Rollen, können jedoch auch gegen das artentypische Verhalten verstoßen. Die Tiere agieren als Tiere und zugleich als Menschen, sie sind im Grenzgebiet zwischen Menschen- und Tierwelt angesiedelt. Die Bezeichnung T. als eigenständiges Erzählgenre hat sich trotz gelegentlicher Kritik an einer solchen ,Zwittergattung‘24 durchgesetzt. Andere Termini (launige Tiermärchen25, schwankhaftes Tiermäre [für ma. Tiererzählungen mit komischem Kontrast]26, Scherzfabel bzw. Scherzfabulat27 oder Schwankfabel28) fanden keine Akzeptanz. Dies trifft auch für den von F. J Harkort vorgeschlagenen Sammelbegriff Tiervolkserzählung zu, den der Verf. selbst kritisch hinterfragte, indem er feststellte, daß solche Geschichten in Wahrheit verkappte ,aitiologische Volkserzählungen‘ seien, in denen der Mensch versuche, die Fragen nach dem Woher und Wohin, dem Wie und Warum zu erklären29. Schwarzbaum, Fox Fables, 625, 646 (Reg.). ⫺ 2 Ranke, K.: Kategorienprobleme der Volksprosa. In: Fabula 9 (1967) 4⫺12; Ben-Amos, D. (ed.): Folklore Genres. Austin/L. 1976; Bausinger, H.: Die moralischen Tiere. In: Universitas 45,3 (1990) 241⫺251; Honko, L.: Folkloristic Theories of Genre. In: SF 33 (1989) 13⫺28; Jason, H.: Reflections about Genre in Oral Literature. In: Artes Populares 16⫺17 (1995) 389⫺400; cf. Pöge-Alder, K.: Märchenforschung. Theorien, Methoden, Interpretationen. Tübingen 2007, 45⫺51. ⫺ 3 Weber, L. F.: Märchen und Schwank. Eine stilkritische Studie zur Volksdichtung. Kiel 1904, 76⫺79, hier 76. ⫺ 4 cf. Dh. 4, 235. ⫺ 5 Grimm, J.: Reinhart Fuchs. Göttingen 1834, III⫺XIX. ⫺ 6 Meyers großes Konversations-Lex. 19. Lpz. u. a. 1908, 546; Bødker, L.: Folk Literature (Germanic). Kop. 1965, 297 sq.; Knapp, F. P.: Das lat. Tierepos. Darmstadt 1979, 102⫺114. ⫺ 7 Dh. 4, 235. ⫺ 8 Voretzsch, C.: Jacob Grimms Dt. Thiersage und die moderne Forschung. In: Preuß. Jbb. 80 (1895) 416⫺ 484, hier 443. ⫺ 9 Baesecke, G. (ed.): Das mhd. Gedicht vom Fuchs Reinhart. Halle 1925, V⫺XXVIII, hier V (Einl. von C. Voretzsch). ⫺ 10 Graf, A.: Die Grundlagen des Reineke Fuchs (FFC 38). Hels. 1920, 5 sq., 129. ⫺ 11 Berendsohn, W.: Grundformen volkstümlicher Erzählerkunst in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Hbg 1922, 96⫺100. ⫺ 12 ibid., 97. ⫺ 13 Haas, G.: Tierbuch. In: LKJ 3 (1972) 538⫺541; 1
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Schikorsky, I.: Über Jh.e aktuell. Definition, formale Gestaltung, Darstellungsformen, Funktionen und Geschichte des Tierbuchs ⫺ Überlegungen zu einer Gattung. In: JuLit 31,1 (2005) 3⫺11. ⫺ 14 Lehmann, P.: Die Parodie im MA. Stg. 1913 (21963), 23 sq.; Düwel, K.: Tierepik. In: RDL (32003) 639⫺641, hier 639. ⫺ 15 z. B. Jauss, H. R.: Unters.en zur ma. Tierdichtung. Tübingen 1959, 15 sq., 56, 68 sq. ⫺ 16 ibid. ⫺ 17 Zusammenfassend cf. Knapp (wie not. 6). ⫺ 18 id.: Tierepos. In: Lex. des MA.s 8. Mü. 1997, 765 sq., hier 765. ⫺ 19 Grubmüller, K.: Dt. T.e im 13. Jh. Ansätze zur Typenbildung in der Tradition des ,Reinhart Fuchs‘. In: Werk ⫺ Typ ⫺ Situation. ed. I. Glier u. a. Stg. 1969, 99⫺117, bes. 107 sq.; id.: Meister Esopus. Zürich/Mü. 1977, 42, 87, 415; cf. auch Straßner, E.: Schwank. Stg. 21971, 16. ⫺ 20 Harkort, F.: Tiergeschichten in der Volksüberlieferung. In: Das Tier in der Dichtung. ed. U. Schwab. Heidelberg 1970, 12⫺54, hier 31⫺35; Solms, W.: Die Moral von Grimms Märchen. Darmstadt 1999, 109⫺113. ⫺ 21 Lüthi, M.: Es war einmal. Vom Wesen des Volksmärchens. Göttingen 1962, 66⫺69; id.: Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie. Düsseldorf 1975, 83, 118, 145. ⫺ 22 Uther, H.-J.: Auch Vögel brauchen einen Herrn. Von Tierkönigen und denkwürdigen Parlamentswahlen. In: Heindrichs, H.-A./Lox, H. (edd.): Als es noch Könige gab. Forschungsber.e aus der Welt der Märchen. Kreuzlingen/Mü. 2001, 252⫺269. ⫺ 23 Schmidt, S.: Tiergeschichten in Afrika. Erzählungen der Damara und Nama. Köln 1996, 170⫺177. ⫺ 24 z. B. Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 61; Thompson, S.: The Folktale. N. Y. 1946, 22. ⫺ 25 Wossidlo, R.: Aus dem Lande Fritz Reuters. Humor in Sprache und Volkstum Mecklenburgs. Lpz. 1910, 154. ⫺ 26 Grubmüller 1969 (wie not. 19) 107 sq. ⫺ 27 von Sydow, 66 sq., 76, 87. ⫺ 28 Beyer, J.: Schwank und Moral. Heidelberg 1969, 34⫺50. ⫺ 29 Harkort (wie not. 20) 35; cf. id.: Volkserzählungstypen und -motive und Vorstellungsberichte. In: Fabula 8 (1966) 208⫺223; id.: Tiervolkserzählungen. ibid. 9 (1967) 87⫺99; cf. auch ´ hO ´ gain, D.: Animal Tale. In: Haase, D. (ed.): The O Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales. Westport, Conn./L. 2007, 42 sq.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Tiersprachenkundiger Mensch (AaTh/ATU 670, 670 A, 671, 673). Der menschliche Wunsch, die Sprache der Tiere zu verstehen, hat im Volksglauben ebenso wie in zahlreichen Sagen und Märchen seinen Niederschlag gefunden1. Z. T. wird zwischen Sprachen verschiedener Tiere (Vögel, Schlangen, Säugetiere) unterschieden, oft bleibt eine solche Differenzierung jedoch aus. In der altgriech. Sage verstand Melampos die J Vogelsprache, nach-
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dem dankbare J Schlangen ihm die Ohren ausgeleckt hatten2. Die Kenntnis der Vogeloder Tiersprache (T.) wird u. a. auch dem griech. Seher Teiresias3, König J Salomo (Koran 27,16⫺19)4 und J Sigurd zugeschrieben. Die Fähigkeit, T.n zu verstehen, bildet den Kern einer Gruppe von Zaubermärchen. Am weitesten verbreitet ist AaTh/ATU 670: The Man Who Understands Animal Languages: Eine dankbare Schlange (Fisch, alter Mann, J Christus etc.) verleiht einem Mann die Kenntnis der T. Er darf dies aber niemandem mitteilen, da er sonst sterben muß. Der Mann belauscht ein Gespräch von Tieren und lacht (J Lachen). Seine neugierige Frau (J Neugier) fragt nach dem Grund und gibt nicht nach, auch als der Mann ihr erklärt, er müsse sterben, wenn er es ihr sage. Da hört der Mann, wie ein J Hahn spottet: Während er seine Hennen streng regiere, könne der Mann mit einer einzigen Frau nicht fertig werden. Der Mann widersteht darauf dem Drängen seiner Frau und verprügelt sie, so daß sie keine Fragen mehr stellt.
A. J Aarne unterscheidet zwei Grundformen des Märchens5: In der östl. Form bestraft (verletzt) der Held eine untreue weibliche Schlange (ihren Liebhaber), und ihr Mann (oft der J Schlangenkönig) belohnt den Helden mit der Kenntnis der T., als er davon erfährt. Es folgt das Lachen auslösende Gespräch der Tiere. Zuletzt hört der Held, wie ein Bock sich weigert, für die Ziege Blumen von einem gefährlichen Ort zu holen. Er sei nicht so dumm wie der Mann, der sein Leben geben wolle, statt sich gegen seine Frau durchzusetzen.
Nach Aarne hat sich diese Form von Indien aus nach Osten verbreitet. Im Nahen Osten habe sich auf der Grundlage der ind. Fassung eine andere Form entwickelt und in Europa und Afrika verbreitet: Der Held rettet eine Schlange vor dem Feuer und erhält daraufhin die Fähigkeit, die Sprache der Tiere zu verstehen. Dadurch wird er reich (Vögel oder Baum weisen auf einen vergrabenen Schatz hin). Nach seiner Heirat hört der Mann ein Gespräch von Esel und Ochse (Stute und Füllen, Sperling und Jungen etc.; AaTh/ATU 207 A: cf. J Aufstand der Arbeitstiere). Die Worte des Hahns ermutigen den Mann, sich seiner Frau zu widersetzen.
Die ältesten Belege des Märchens finden sich in Indien (J Ja¯taka, Harivam ø s´a, J Ra¯ma¯yanø a etc.), das daher als Ursprungsland angesehen wurde6. Darüber hinaus erscheint die Erzählung im pers. Tøutøi-na¯me (J Papageienbuch) und in J Tausendundeine Nacht7. Mit
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der hinduist. und buddhist. Lit. ist das Märchen von Indien aus weiter nach Osten gelangt. Es ist Bestandteil des chin. J Tripitøaka (3. Jh.) und des mongol. Epos Kasna Chan8. Es kommt in thailänd., laot. und javan. J Pan˜catantra-Fassungen sowie in der altjavan. Verserzählung vom König Aridharma vor9. Eine bildliche Darstellung findet sich auf einem javan. Tempelrelief des 13./14. Jh.s10. Mit anderen Erzählungen des pers. Papageienbuchs wurde das Märchen 1371 ins Malaiische übertragen11. Europ. Belege finden sich in den J Gesta Romanorum12 und in den Novellensammlungen von Giovanni J Sercambi (14. Jh.)13, Girolamo J Morlini (1520)14 und Giovan Francesco J Straparola (1553)15. Aufgrund der wichtigen Rolle der Schlange und des Konflikts zwischen Mann und Frau wurden mehrfach Parallelen zur bibl. Sündenfall-Geschichte (J Adam und Eva) gezogen16. Die Erzählung dient mitunter als Rechtfertigung dafür, daß Männer ihre Frauen schlagen dürfen17. In jüd. Var.n spielt ein Fisch, nicht die Schlange, die Rolle des Verleihers der T.nkenntnis18. Aufzeichnungen von AaTh/ATU 670 aus mündlicher Überlieferung des 18./19. Jh.s liegen aus Westeuropa, Skandinavien, Südost-, Mittel- und Osteuropa, dem Baltikum, dem Kaukasus, dem Nahen Osten, Zentralasien, Süd-, Südost- und Ostasien, Sibirien, weiten Teilen Afrikas sowie den USA, Mexiko, Mittel- und Südamerika vor19. Einige im ir. Typenkatalog genannte Var.n haben bis auf das geheimnisvolle Lachen, das jedoch anders erklärt wird, wenig mit dem internat. Erzähltyp gemein20. Im Nahen Osten und im Kaukasus, in Zentralasien, Sibirien, Indien, Südostasien, Afrika, Amerika und auch in vereinzelten europ. Var.n endet die Erzählung gelegentlich mit dem Tod des Mannes: Er erklärt den Grund für sein Lachen und stirbt21. Dieses Ende ist am häufigsten in Afrika aufgezeichnet worden. Manche afrik. Fassungen schließen mit einem didaktischen oder moralisierenden Sprichwort, das zu große Neugier oder Hartnäckigkeit kommentiert. Das tragische Ende könnte auch als Ausdruck einer afrik. Gesellschaftsordnung gesehen werden, in der Frauen größere wirtschaftliche Unabhängigkeit genießen22. In uigur. und kurd. Var.n kommt eine (von Aarne als Zusatz bezeichnete) Episode vor, in der die
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Katze und der Hund des Mannes seinen Tod prophezeien23. Diese Episode tritt in Asien auch als unabhängige Erzählung auf 24. In manchen kasach. und mongol. Var.n erfährt der Held von Vögeln, daß bald eine Flut kommen werde. Als er seine Landsleute vor der Naturkatastrophe warnt und damit seine Fähigkeit preisgibt, wird er zu Stein (J Versteinerung)25. Anscheinend nur in Südasien wurde mit AaTh/ATU 670 A: The Woman Who Understands Animal Languages ein Märchen von einer tiersprachenkundigen Frau aufgezeichnet. Eine junge Braut hört nachts, wie ein Schakal von einer Leiche mit einem wertvollen Ring berichtet. Wer die Leiche aus dem Fluß hole, könne den Ring behalten. Während die Frau den Ring holt, wird sie von ihrem Mann (Schwiegervater) beobachtet, der sie irrtümlicherweise für einen Dämon (Menschenfresserin, gefährliche Zauberin) hält. Später hört sie Vögeln zu, die von einem vergrabenen Schatz erzählen. Das Märchen endet glücklich, da die Frau Gelegenheit hat, ihre seltsam erscheinenden Taten und Kenntnisse zu erklären. In manchen Var.n kommt es jedoch nicht dazu, und sie wird von ihrem Mann umgebracht. Diese Var.n gehören häufig zu einem Erzählzyklus. In der Rahmenerzählung versucht eine Königin, ihren Mann gegen ihre Stiefsöhne aufzubringen; diese tragen dem Vater der Reihe nach Erzählungen vor, um ihn von einer übereilten Tat abzubringen26.
In AaTh/ATU 671: The Three Languages erlernt der Held die Sprache verschiedener Tiere: Er wird in eine Schule (zu einem Lehrer) geschickt, wo er in drei Jahren die Sprachen der Hunde, Vögel und Frösche lernt. Vom Vater verstoßen, zieht er in die Welt. Durch seine Kenntnisse gelingt es ihm, einen Schatz zu finden (rechtzeitig vor Räubern zu warnen) und eine kranke Prinzessin zu heilen. Am Ende prophezeien Vögel, daß er zum Papst gewählt werde, was sich erfüllt.
Dieses Märchen ist von einem starken J Vater-Sohn-Konflikt und von der ungewöhnlichen Tatsache gekennzeichnet, daß der Held meist nicht heiratet. AaTh/ATU 671 ist eng mit AaTh/ATU 517, 725: J Prophezeiung künftiger Hoheit verwandt. Alle drei Erzähltypen dürften von einer literar. Fassung abgeleitet sein, die innerhalb der Tradition der J Sieben weisen Meister und in der Scala coeli des J Johannes Gobi Junior erscheint27. AaTh/ATU 671 ist in den kathol. Ländern West-, Süd- und Mitteleuropas aufgezeichnet worden, aber auch in Skandinavien, Osteu-
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ropa, Kanada, den USA und Mittelamerika28. Auch etliche ostasiat. Märchen sind mit AaTh/ ATU 671 in Verbindung gebracht worden (der Held erlangt die Kenntnis der T. und damit Reichtum, eine Prinzessin etc.), enthalten jedoch Episoden, die dem AaTh/ATU-Schema nicht entsprechen; ihre Beziehung zu den internat. Typen AaTh/ATU 671, 670 und 673 muß noch geklärt werden29. AaTh/ATU 673: The White Serpent’s Flesh begegnet in folgender Grundform: Trotz vorheriger Warnung (Verbots, aus Versehen) kostet der Held vom Fleisch einer weißen Schlange und versteht die T. (Sprache der Heilkräuter, Bäume, Gräser). Mit ihrer Hilfe kann er einen verlorenen Ring wiederfinden, von dem behauptet worden war, er habe ihn gestohlen, woraufhin er belohnt wird (die Prinzessin heiratet)30.
In Sagen endet die Geschichte tragisch. Vögel oder andere Tiere warnen vor dem Verschwinden eines Schlosses, das in der Erde oder im Wasser versinken werde. Der Diener, der vom verbotenen Fleisch gegessen hat und seinen Herrn warnt, wird bestraft, verliert die Fähigkeit, T.n zu verstehen, oder wird getötet31. AaTh/ATU 673 wurde vor allem in Mittel- und Osteuropa aufgezeichnet, daneben in Schottland, Irland, Skandinavien und im Baltikum, vereinzelt auch außerhalb Europas. Die Vielfalt der Var.n erschwert es, ihre gegenseitigen Beziehungen zu klären. Es entsteht der Eindruck, daß zu AaTh/ATU 673 Erzählungen gestellt wurden, die sich unabhängig voneinander aus dem Volksglauben entwickelt haben. V. Ja. J Propp hat das Motiv des T.nerwerbs als J Initiationsritus beschrieben32. Die Märchen von tiersprachenkundigen Menschen sind im Sinne der Psychoanalyse von G. J Ro´heim (T.nkenntnis als Kenntnis der Sexualität) und im Sinne des Strukturalismus von G. K. Beynen (Rolle und Eigenart des Menschen und des Mannes finden in den Gegensätzen Mensch/Tier und Mann/Frau Ausdruck) gedeutet worden33. 1 Riegler, R.: T. In: HDA 8 (1936⫺37) 939⫺943; Frazer, J. G.: The Language of Animals. In: The Archaeological Review 1 (1888) 81⫺91, 161⫺181; Rusic´, B.: The Mute Language in the Tradition and Oral Literature of the South Slavs. In: JAFL 69 (1956) 299⫺309. ⫺ 2 Hansen, W.: Ariadne’s Thread. Ithaca 2002, 462⫺469. ⫺ 3 Pauly/Wissowa 29 (1931)
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392⫺405; 9 (1903) 129⫺132. ⫺ 4 Ginzberg 4, 138⫺ 142; 6, 288 sq. ⫺ 5 Aarne, A.: Der t.nkundige Mann und seine neugierige Frau (FFC 15). Hamina 1914. ⫺ 6 Benfey, T.: Ein Märchen von der Thiersprache. In: Orient und Occident 2 (1864) 133⫺171; Wesselski, Theorie, 83; Cowell, E. B.: The Ja¯taka or Stories of the Buddha’s Former Births 3. Cambr. 1897, num. 386; Artola, G.: Ten Tales from the ,Tantropa¯khya¯na‘. In: The Adyar Library Bulletin 29 (1965) 30⫺73; Venkatasubbiah, A.: A Tamil Version of the ,Pan˜catantra‘. ibid., 74⫺143; cf. aber Klinger, W.: Do wpływo´w staroz˙ytnos´ci na folklor. 3: Jeszcze jedno podanie o we˛z˙ach („Mowa zwierza˛t“) (Zu den Einflüssen der Antike auf die Folklore. 3: Eine weitere Sage zu den Schlangen [“Die Sprache der Tiere”]). In: Lud 15 (1909) 188⫺199 (vermutet griech. Ursprung). ⫺ 7 Hatami, M.: Unters.en zum pers. Papageienbuch des Nah˚ sˇabı¯. Fbg 1977, num. 71; Marzolph/van Leeuwen, num. 2, 3; Chraı¨bi, A.: Texts of the ,Arabian Nights‘ and Ideological Variations. In: Middle Eastern Literatures 7 (2004) 149⫺ 157. ⫺ 8 Chavannes 1, num. 112; Laufer, B.: Fünf ind. Fabeln aus dem Mongol. von Hans Conon von der Gabelentz. In: ZDMG 52 (1898) 283⫺288; id.: Die Geschichte von Kasna Chan. ed. H. Walravens. Wiesbaden 2004, 139⫺141. ⫺ 9 Lorgeou, E´.: Les Entretiens de Nang Tantrai. P. 1924, 131⫺136; Venkatasubbiah, A.: The ,Pan˜catantra‘ Version of Laos. In: The Adyar Library Bulletin 33 (1969) 195⫺283; Hooykaas, C.: Tantri Ka¯mandaka. Een Oudjavaansche Pan˜tjatantra-bewerking. Bandung 1931, 192⫺ 201; Mardiwarsito, L.: Tantri Ka¯mandaka: naskah dan terjemahan dengan Glosarium. Ende 1983, 105⫺114; Drewes, G. W. J.: The Romance of King An˙lin˙ Darma in Javanese Literature. Den Haag 1975. ⫺ 10 Krom, N. J.: Inleiding tot de Hindoe-Javaansche kunst 2. s’-Gravenhage 1923, 53 sq.; Klokke, M.: The Tantri Reliefs on Ancient Javanese Candi. (Diss. Leiden 1990) Leiden 1993, 218⫺222; cf. auch Grünwedel, A.: Buddhist. Studien. B. 1897, 23⫺26. ⫺ 11 Bezemer, T. J.: Javaansche en Maleische fabelen en legenden. Amst. [1903], num. 16; Brandes, J.: Iets over het Papegaai-boek, zooals het bij de Maleiers voorkomt. In: Tijdschrift voor Ind. Taal-, Land- en Volkenkunde 41 (1899) 431⫺497; Winstedt, R. O.: Hikayat Bayan Budiman. Kuala Lumpur 1966, num. 7; cf. Voorhoeve, P.: Overzicht van de volksverhalen der Bataks. [Leiden] 1927, 2. ⫺ 12 Grässe, J. G. T.: Gesta Romanorum 2. Lpz. 1905, num. 13. ⫺ 13 Sercambi, G.: Il novelliere 2. ed. L. Rossi. Rom 1974, num. 121. ⫺ 14 Morlini, G.: Novelle e favole. ed. G. Villani. Rom 1983, num. 71. ⫺ 15 Straparola, G. F.: Le piacevoli notti 2. ed. D. Pirovano. Rom 2000, num. 12,3. ⫺ 16 Beynen, G. K.: Animal Language in the Garden of Eden. Folktale Elements in Genesis. In: Signifying Animals. Human Meaning in the Natural World. ed. R. Willis. L. 1990, 43⫺ 54; Löfstedt, T.: Eden and the Animal Languages. A Comparison between the Paradise Narrative and AT 670. In: Studies in Folk Culture 2. ed. A. Leete.
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Tartu 2004, 11⫺35. ⫺ 17 Durham, M. E.: High Albania. L. 1909, 187⫺189. ⫺ 18 Noy, D.: The Jewish Versions of the Animal Languages Tale (AT 670). In: Studies in Aggadah and Folk-Literature. ed. J. Heinemann/D. Noy. Jerusalem 1971, 171⫺208; Schwarzbaum, Fox Fables, 541⫺550. ⫺ 19 Aarne, A.: Zum Märchen von der T. In: ZfVk. 19 (1909) 298⫺303 (finn.); Sabitov; Laufer, B./Katona, L.: Zum Märchen von der T. In: Keleti szemle 2 (1901) 45⫺54 (chakass., uigur.); Barannikova, E. V./Bardakhanova, S. S./Gungarov, V. Sˇ.: Burjatskie volsˇebnye skazki. Nowosibirsk 1993, num. 20; S´a¯kya, K./ Griffith, L.: Tales of Kathmandu. Brisbane 1980, 139⫺142; Haring, L./Auleear, D.: Overhearing Human and Animal Languages. In: Marvels & Tales 16 (2002) 100⫺111 (Mauritius); Landes, A.: Contes et le´gendes annamites. Saigon 1886, num. 66; de Vries 2, num. 186 (Gayo); Voorhoeve (wie not. 11) 105 sq. (Batak). ⫺ 20 Chesnutt, M.: The Three Laughs. A Celtic-Norse Tale in Oral Tradition and Medieval Literature. In: Islanders and Water-Dwellers. ed. P. ´ Catha´in/D. O ´ hO ´ ga´in. Dublin 1999, Lysaght/S. O 37⫺49. ⫺ 21 Gaster, M.: Sze´kely Tales. In: FL 4 (1893) 339⫺ 344 (ung.); Mode, H.: Zigeunermärchen aus aller Welt 2. Wiesbaden 1984, num. 74 (aus Ungarn); Bıˆrlea, O.: Antologie de proza˘ populara˘ epica˘. Buk. 1966, 440; Lavrov, P./Polı´vka, J.: Lidove´ povı´dky jihomakedonske´. Z rukopisu˚ S. Verkovicˇovy´ch. Prag 1932, num. 62; Daskalova, L./Dobreva, D./Koceva, J./Miceva, E.: Narodna proza ot Blagoevgradski okra˘g. Sofia 1985, num. 32; Dzˇimbinov, B.: Kalmyckie skazki. M. 1962, num. 13; Achundov, A.: Azerbajdzˇanskie skazki. Baku 31959, 37⫺44; Kabirov, M.: Ujgurskie skazki. Alma-Ata 1963, 224⫺227; Radloff, W.: Proben der Volkslitteratur der nördl. türk. Stämme. 6: Der Dialect der Tarantschi. SPb. 1886, 250⫺252; Laufer/Katona (wie not. 19) num. 2, 3 (chakass.); Lo˝rincz; Barannikova, E. V.: Burjatskie narodnye skazki. Ulan-Ude 1976, num. 41 (Mann verliert T.nkenntnis); Bompas, C./Bodding, O.: Folklore of the Santal Parganas. L. 1909, num. 157 (Mann verliert T.nkenntnis); Lindell, K./Swahn, J./ Tayanin, D.: A Kammu Story-Listener’s Tales. Lund 1977, num. 14, 16; Hochegger, H.: L’Interdit de raconter! Le pe´ril de connaıˆtre le langage animal. Variantes congolaises de 1905 a` 1997. Mödling 2002; Schmidt, S.: Aschenputtel und Eulenspiegel in Afrika. Entlehntes Erzählgut der Nama und Damara in Namibia. Köln 1991, num. 11; JAFL 21 (1908) 35 sq. (kaliforn. Luisen˜o); Forty-Seventh Annual Report of the Bureau of American Ethnology (1929⫺30) 407⫺409 (Pueblo-Indianer). ⫺ 22 Maalu Bungi, L. L.: Observations sur le the`me langage des animaux dans les contes zaı¨rois. In: Annales Aequatoria 1 (1980) 635⫺661; Paulme, D.: La Me`re de´vorante. Essai sur la morphologie des contes africains. P. 1976, 46 sq., 61⫺69. ⫺ 23 Kabirov (wie not. 21); Laufer/Katona (wie not. 19) num. 2; Dzˇalil, O., D. und Z.: Kurdskie skazki, legendy i predanija. M. 1989, num. 23. ⫺ 24 Amonov, R.: Tadzˇikskie skazki.
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Tierstrafen
M. 1961, 49; JAFL 62 (1949) 285 sq., num. 36 (philippin.). ⫺ 25 Reichl, K.: Märchen aus Sinkiang. ˇ erkasova, M.: Skazki naroMdW 1986, num. 33; C dov Kitaja. M. 1961, 121⫺123; Minford, J.: Favourite Folktales of China. Peking 1983, 74⫺80. ⫺ 26 cf. auch Upadhyaya, H.: Indic Background of ,The Book of Sindibad‘. In: Asian Folklore Studies 27,1 (1968) 101⫺129. ⫺ 27 Polo de Beaulieu, M. A.: La Scala coeli de Jean Gobi. P. 1991, num. 520 (15); EM 10, 1417⫺1419; Roth, D.: ,Historia septem sapientum‘. Überlieferung und textgeschichtliche Edition 1⫺2. Tübingen 2004, hier t. 1, 427⫺475, t. 2, 528⫺540, 637⫺657; Berlioz, J./Bremond, C./VelayVallantin, C.: Formes me´die´vales du conte merveilleux. P. 1989, 107⫺112; BP 1, 322⫺325. ⫺ 28 Dekker/van der Kooi/Meder, 357⫺360 (Verf. betont europ. Ursprung); Mudrak, E.: Die Berufung durch überirdische Mächte in sagtümlicher Überlieferung. In: Fabula 2 (1959) 122⫺138 (vermutet iran. Einfluß). ⫺ 29 Schuh, D.: Märchen, Sagen und Schwänke vom Dach der Welt 1. St. Augustin 1982, num. 13 (tibet.); Taube, E.: Tuwin. Volksmärchen. B. 1978, num. 30; Lo˝rincz, num. 303, 304; Eberhard, Typen, num. 8; Ting, num. 670, 671, 673; Graham, D.: Songs and Stories of the Ch’uan Miao. Wash. 1954, num. 142; Choi, num. 268, 471; Seki, num. 147, 167, 171; Ikeda, num. 671. ⫺ 30 BP 1, 131⫺134; HDA 7, 1149⫺1155; De´gh, L.: Folktales of Hungary. L. 1965, num. 57; Gazizov, R.: Tatarskoe narodnoe tvorcˇestvo 1. Kasan 1999, num. 50; cf. Lebedev, V. V.: Arabskie narodnye skazki. M. 1990, num. 12 ´ (⫹ AaTh/ATU 325, AaTh/ATU 613; aus Irak); cf. O ´ ga´in, D.: Fionn mac Cumhaill. Images of the hO Gaelic Hero. Dublin 1988, 55⫺60. ⫺ 31 Grimm DS 132; De´gh (wie not. 30) num. 61; Tumilevicˇ, F. V.: Russkie narodnye skazki kazakov-nekrasovcev. Rostov 1958, num. 35; cf. Beck, B. u. a.: Folktales of India. Chic. 1987, num. 18. ⫺ 32 Propp, V. Ja.: Istoricˇeskie korni volsˇebnoj skazki (Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens). Len. 1946, 210⫺212; cf. auch Fabre, D.: La Voie des oiseaux. Sur quelques re´cits d’apprentissage. In: L’Homme 26,3 (1986) 7⫺40. ⫺ 33 Ro´heim, G.: The Language of Birds [1953]. In: Fire in the Dragon. Psychoanalytic Essays on Folklore. ed. A. Dundes. Princeton 1992, 171⫺180; Beynen, G. K.: The Slavic Animal Language Tales. In: Internat. Congress of Slavists. American Contributions 2. ed. V. Terras. Columbus, Ohio 1978, 42⫺47; id.: The Bulgarian Animal Language Tales. In: Bulgaria Past and Present. ed. D. Kosev. Sofia 1982, 167⫺174; id. (wie not. 16).
Berkeley
Andreas Johns
Tierstrafen reflektieren in der Volkserzählung die in vielen Kulturen zu beobachtende Erscheinung, daß ein schadenstiftendes Tier wie ein Mensch bestraft werden kann (J Strafe,
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J Tierprozeß)1. Voraussetzung ist eine gewisse Personifizierung des Tieres, die sich seit dem späten MA. herauszubilden beginnt2. Damit scheiden die sog. rechtsrituellen Tiertötungen aus der Betrachtung aus. Bei ihnen werden Tiere zusammen mit Menschen exekutiert, ohne daß das Tier ein Schuldvorwurf trifft, so etwa bei der schon im röm. Recht belegten Strafe des Säckens (Ertränkens) zusammen mit bestimmten Tieren wie J Hahn, J Hund, J Schlange und J Affe, später J Katze (Quintilian, Institutiones 4,18,6)3. Grenzfälle sind die Tötung des Tieres zusammen mit dem Täter bei der J Sodomie, weil das Tier gelegentlich als Mittäter angesehen wurde4. Die Tötung von Haustieren, die in einem Haus zugegen waren, in welchem eine Notzucht begangen wurde (Sachsenspiegel, Landrecht 3,1,1), wurde damit begründet, daß die Tiere dem Opfer nicht beigestanden oder keine Hilfe herbeigeholt hätten5. In beiden Fällen steht jedoch der Gedanke der Wüstung im Vordergrund: Nichts sollte mehr an die Tat erinnern6. Schon das A. T. erwähnt T. (Ex. 21,28⫺31): Ein Rind, das einen Menschen getötet hat, soll man steinigen, das Fleisch aber nicht essen. Die jüd. Überlieferung hat diese Anweisungen auf den Hahn ausgedehnt7. Auch Platon rät, ein Tier, das einen Menschen getötet hat, wegen Mordes zu verfolgen8. Polybios (2. Jh. a. Chr. n.) will die Kreuzigung von Löwen, die sich zu nahe an menschliche Siedlungen herangewagt hatten, erlebt haben9. Im röm. Recht konnten Tiere für schädigendes Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden. Der Eigentümer haftete nur, wenn er sich dem Zugriff des Geschädigten auf das Tier widersetzte oder wenn er ein wildes Tier hielt10. Nach J Plutarch wurden Rinder und Schweine, die von den Opfergaben gefressen hatten, als Genugtuung für die beleidigte Gottheit getötet11. Im europ. MA. galten bestimmte Tiere als Inkarnation dunkler und bedrohlicher Mächte, die es zu vernichten galt. So habe sich ein den hl. Gallus angreifender J Bär als der J Teufel erwiesen12. Viele Sagen berichten von Katzen13 oder Hunden14, manchmal selbst von Gänsen15, die sich als J Hexen oder als Gefährten des Teufels entpuppen. Gelegentlich finden sich Bildzeugnisse, bei denen allerdings nicht er-
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Tierstrafen
sichtlich ist, ob es sich um T. oder um Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung handelt16. In der frühen Neuzeit gab einerseits die Angst vor der Unberechenbarkeit des Tieres den Ausschlag. Andererseits steht die Wiedergutmachung des Schadens im Vordergrund: Der Geschädigte durfte zum Ausgleich für den erlittenen Schaden das Tier pfänden, d. h. es so lange festhalten, bis der Schaden durch den Tierhalter wiedergutgemacht war, oder es im Zuge der Selbsthilfe verwerten, d. h. behalten, schlachten oder verkaufen17. Dieselben Befugnisse standen den Angehörigen zu, wenn ein Mensch durch ein Tier zu Tode kam. Da die T. auf allg. J Rechtsvorstellungen basieren, finden sich in Erzählungen selten spezifisch tierbezogene Strafen wie Einsperren, Scheren oder das Verstümmeln von Schwanz und/ oder Ohren, sondern alle ansonsten bei Menschen angewandten Strafarten18: Tiere werden gehängt19, enthauptet20, verbrannt21, gekreuzigt22, gesteinigt23, erschossen24, lebendig begraben25, erwürgt26 oder nach Sibirien verbannt27. Seltener sind Strafen an Pferden und auch an J Wölfen, derer man habhaft werden konnte. In Basel soll 1474 ein Hahn verbrannt worden sein, weil er angeblich ein Ei gelegt hatte28. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um echte T., vielmehr um einen Ausfluß des Hexenglaubens, weil man der Ansicht war, daß aus dem Ei ein J Basilisk schlüpfen werde. In Leeds soll 1860 ein Kampfhahn zum Tode verurteilt worden sein, weil er ein Kind getötet hatte29. Von den eigentlichen T. zu trennen ist die Bestrafung von Tieren im traditionellen Erzählgut aufgrund von spezifischen oder ihnen zugeschriebenen Verhaltensweisen. Bes. Zaubermärchen und Tiermärchen bedienen sich solcher Motive. So führt die Falschheit der Ziege zu ihrer Vertreibung (AaTh/ATU 212: Die boshafte J Ziege), oder ein Hund mit blutverschmiertem Maul wird bestraft, weil man glaubt, er habe ein Kind gefressen (AaTh/ ATU 178 A: J Hundes Unschuld). In Schwänken erscheinen T. als absurde Aktionen, weniger im Zusammenhang mit Tierprozessen, sondern häufiger als Ergebnis von Beratungen über angebliches Fehlverhalten von Tieren. Unterschiedlich zusammengesetzte Narrengruppen wie Bauern, Gemeindebürger, der
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Gemeinderat, die Gemeindeversammlung oder der Hohe Rat strafen das Tier wegen eines Delikts ab: Der Krebs wird im Meer ,ertränkt‘ (AaTh/ATU 1310: Der ertränkte J Krebs), der Maulwurf ,begraben‘ (AaTh/ATU 1310 B: Burying the Mole as Punishment), der Vogel von der Klippe gestürzt (AaTh/ATU 1310 C: Throwing the Bird from a Cliff as Punishment). In AaTh/ATU 207: cf. J Aufstand der Arbeitstiere wird ein Hahn als Anführer einer Rebellion bestraft. Auch der Orient kennt T. Ein Richter will das von einem Sodomiten beschlafene Schaf hinrichten lassen30. Durch Entzug des Futters straft ein Dummer ein Pferd für sein Fehlverhalten (AaTh 1682: J Pferd fasten lehren)31. Der J Hodscha Nasreddin will ein Kamel, das ihn abgeworfen und getreten hatte, schlachten lassen32. Ein gleichartiges Phänomen stellt die Bestrafung von Gegenständen dar, die Schäden verursacht haben (z. B. herabstürzende Äste oder Glocken)33. Eine griech. Sage berichtet davon, daß J Kyros aus Zorn darüber, daß sein Lieblingspferd im Fluß ertrunken war, den Fluß dadurch bestrafte, daß er ihn in 360 Kanäle zerteilte34. Im antiken Athen tagte ein bes. Gericht gegen Tiere und leblose Gegenstände, die einen Todesfall verursacht hatten35. Die Glocke des Dominikanerkonvents San Marco in Florenz wurde vom Henker ausgepeitscht, weil sie die Bürger zum Aufruhr unter Savonarola aufgerufen hatte36. 1 Bregenzer, I.: Thier-Ethik. Darstellung der sittlichen und rechtlichen Beziehungen zwischen Mensch und Thier. Bamberg 1894, 143⫺157; Berkenhoff, H. A.: T., Tierbannung und rechtsrituelle Tiertötung im MA. Lpz./Straßburg/Zürich 1937, 75⫺83; Kaufmann, E.: T. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 5. B. 1991, 237⫺241; Fischer, M.: T. und Tierprozesse. Zur sozialen Konstruktion von Rechtssubjekten. Münster 2005; Dinzelbacher, P.: Das fremde MA. Gottesurteil und Tierprozeß. Essen 2006, bes. 103⫺ 156. ⫺ 2 ibid., 139. ⫺ 3 Bukowska Gorgoni, C.: Die Strafe des Säckens. Wahrheit und Legende. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Vk. 2 (1979) 145⫺162. ⫺ 4 Dinzelbacher (wie not. 1) 126. ⫺ 5 Schild, W.: Alte Gerichtsbarkeit. Mü. 1980, 66. ⫺ 6 His, R.: Das Strafrecht des dt. MA.s 1⫺2. Weimar 1920, hier t. 1, 425; cf. Bechstein, L.: Dt. Sagen. Lpz. 1853, 459. ⫺ 7 Amira, K. von: Thierstrafen und Thierprocesse. In: Mittlgen des Inst.s für österr. Geschichtsforschung 12 (1891) 545⫺601, hier 574. ⫺ 8 Platon, Leges 9,873c. ⫺ 9 cf. Plinius, Natu-
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Tierverwandlung
ralis historia 8,18. ⫺ 10 Steppan, M.: Das Tier im Recht. Opfer und Täter. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Vk. 19 (2001) 149⫺173; Mommsen, T.: Röm. Strafrecht. B. 1899, 834. ⫺ 11 Plutarch, De sollertia animalium 2; cf. von Amira (wie not. 7) 576. ⫺ 12 Fehr, H.: Das Recht in den Sagen der Schweiz. Frauenfeld 1955, 115. ⫺ 13 Zingerle, I. V.: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. Innsbruck 1852, 251 sq.; cf. Burmeister, K. H.: Die Katze im Recht. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Vk. 24 (2007) 237⫺260. ⫺ 14 Fehr (wie not. 12) 116. ⫺ 15 Petzoldt, L.: Schwäb. Volkssagen. Stg. 1990, 23. ⫺ 16 Heinemann, F.: Der Richter und die Rechtsgelehrten. (Lpz. 1900) Nachdr. Düsseldorf/Köln 1969, Abb. 122. ⫺ 17 Erler, A.: Schüttung. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 4. B. 1990, 1524 sq.; Grass, N.: Beitr.e zur Rechtsgeschichte der Almwirtschaft. Innsbruck 1948, 62⫺ 81. ⫺ 18 Mengis, C.: Tierprozeß, -strafen. In: HDA 8 (1936⫺37) 929; von Amira (wie not. 7) 552 sq. ⫺ 19 Berkenhoff (wie not. 1) 15, 27, 33; zum Rechtssprichwort „Gänse haben kein Recht“ cf. Gierke, O. von: Der Humor im dt. Recht. B. 1886, 61 sq.; Schmidt-Wiegand, R. (ed.): Dt. Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Mü. 1996, 117. ⫺ 20 Berkenhoff (wie not. 1) 29. ⫺ 21 Bes. bei Sodomie, cf. Steppan (wie not. 10) 165; His (wie not. 6) 2, 167; Dinzelbacher, P. (ed.): Mensch und Tier in der Geschichte Europas. Stg. 2000, 211. ⫺ 22 Plinius, Naturalis historia 8,18. ⫺ 23 von Amira (wie not. 7) 552, 572. ⫺ 24 cf. Berkenhoff (wie not. 1) 31. ⫺ 25 ibid., 35; von Amira (wie not. 7) 552. ⫺ 26 Berkenhoff (wie not. 1) 24. ⫺ 27 von Amira (wie not. 7) 573. ⫺ 28 ibid., 558; Sammer, M.: Der Basilisk. Zur Natur- und Bedeutungsgeschichte eines Fabeltieres im Abendland. Mü. 1998, 125⫺130; cf. Zs. für westfäl. Vk. 1 (1904) 68. ⫺ 29 Berkenhoff (wie not. 1) 41. ⫺ 30 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 495. ⫺ 31 ibid., num. 973. ⫺ 32 Hodscha Nasreddin 1, num. 11; ibid. 2, num. 356. ⫺ 33 Schild (wie not. 5) 66; zur Vorstellung vom Baum als Person cf. Mannhardt, W.: Wald- und Feldkulte. B. 21904, 9 sq. ⫺ 34 z. B. Kobolt, W.: Die Groß- und Kleine Welt […]. Augsburg 1738, 276; literar. verarbeitet von M. Figueras (Kamtschatka. Mü./Wien 2006, 103). ⫺ 35 Aristoteles, Athe¯naio¯n politeia, Kap. 57. ⫺ 36 Dinzelbacher (wie not. 1) 104 sq.
Korntal
Herbert Schempf
Tierverwandlung. Die Vorstellung, daß Menschen, Götter und Dämonen die Gestalt von Tieren annehmen können, ist in zahlreichen Kulturen verbreitet (J Verwandlung, cf. J Theriomorphisierung). Sie erscheint in Mythen, Sagen und Märchen aller Kontinente, in der antiken, ma. und neueren Lit. sowie in ande-
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ren Medien1. Dabei kann T. aktiv von einer Figur an sich selbst (Selbstverwandlung) oder an einer anderen vorgenommen bzw. passiv erduldet werden (Fremdverwandlung)2. Fremdverwandlung stellt oft eine J Strafe dar. Am weitesten verbreitet ist T. in Mythen. Sie ist eine Fähigkeit von Göttern und Gestalten mit teilweise göttlicher Natur (J Maui). Diese können die Gestalt verschiedener Tiere annehmen: So kann in der iran. Mythologie der Gott Angra Mainyu zur Eidechse oder Schlange3, der Kriegsgott Verethranga zum Stier, Pferd, wilden Eber etc. werden4. Die griech.-röm. Mythologie, deren Überlieferungen in J Ovids Metamorphosen zusammengeführt sind, enthält eine Fülle von T.en, mit denen die Götter erotische Absichten verfolgen. Der Göttervater Jupiter (J Zeus) etwa nimmt zur Entführung Europas die Gestalt eines weißen Stiers und zu ihrer Vergewaltigung die eines Adlers an (2,833⫺875)5. Die Götter besitzen daneben die Fähigkeit, Menschen in Tiere zu verwandeln, wozu sie meist durch Emotionen veranlaßt werden: So verwandelt Juno ihre Nebenbuhlerin Kallisto aus Eifersucht in eine Bärin (2,401⫺496); die um ihren toten Gatten klagende Alkyone wird von den Göttern aus Mitleid in einen Eisvogel verwandelt (11,410⫺580)6, Aktäon von der Göttin Diana in einen Hirsch, weil er sie nackt im Bad gesehen hatte (3,138⫺252), Lykaon, der Zeus Menschenfleisch vorgesetzt hatte, in einen Wolf (1,163⫺252). Im ind. J Maha¯bha¯rata verwandeln sich die Götter in Tiere, um die Menschen zu erproben. In der altnord. Mythologie sind Odin7 und J Loki in der Lage, tierische Gestalt anzunehmen. In kelt. Mythen begegnen vielfach Selbstund Fremdverwandlungen, so bei der ir. Göttin Morigan, die in Gestalt von drei Krähen erscheint, oder dem wegen seiner Bosheit in ein Wildschwein verwandelten König Twrch Trwyth (cf. J Mabinogion)8. In Mythen der Azteken wird die gesamte Menschheit in einer Vorzeit in Tiere verwandelt9. Bei den Inuit und den afrik. Buschleuten existiert die Vorstellung von der Austauschbarkeit von Menschen- und Tiergestalt (J Jägerzeitliche Vorstellungen, cf. J Anthropomorphisierung)10. Die Fähigkeit zur T. ist auch mit dem J Schamanismus verbunden (cf.
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Tierverwandlung
auch J Magisches Weltbild)11: Im Zustand der Trance kann sich der Geist des Schamanen in Tiergestalt frei bewegen12. In zahlreichen Sagen ist der Glaube an die Fähigkeit von J Hexen und J Zauberern, sich selbst und andere in Tiere verwandeln zu können, seit der Antike zumindest bis ins 19. Jh. belegt13. In Europa war der Glaube an Werwölfe verbreitet; vergleichbare Phänomene sind auch aus anderen Teilen der Welt belegt (J Wolfsmenschen)14. Darüber hinaus erscheinen in europ. Sagen Jenseitige wie der J Kobold15 sowie der J Teufel16 den Menschen in Tiergestalt. Fremdverwandlung hingegen ist eine Strafe für das Übertreten moralischer Normen bzw. für Tabubruch17. In europ. Sagen können schwere Sünden wie Geiz, Überheblichkeit oder Wollust T. bewirken18. Z. B. kann eine unerlaubte Liebschaft ⫺ vor allem für die Frau ⫺ zum Tod oder zur Verwandlung in ein Tier führen19; dieses Motiv ist häufig auch in J Tausendundeine Nacht belegt20. Daneben werden in Sagen J Wiedergänger in Tiergestalt erwähnt21. In Legenden verursacht nicht selten J Christus oder Gott selbst die T. So verwandelt Christus einen Bäcker in eine Schildkröte, weil er ihm die Brosamen verwehrte (cf. AaTh/ ATU 751 A: J Bäuerin als Specht)22. Mitunter macht Gott Menschen zu Tieren, um sie von ihrem Leiden zu befreien23. Die T. ist ein bevorzugtes Thema des Zaubermärchens und betrifft vor allem die Protagonisten, ihre Verwandten (Eltern, Geschwister, künftige Ehepartner) und z. T. auch ihre Gegenspieler (AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler) oder Helfer (AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue, AaTh/ ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter). Selbstverwandlung ist im Märchen weniger häufig anzutreffen als Fremdverwandlung. Man findet sie vor allem in AaTh/ATU 316: J Nixe im Teich, AaTh/ATU 325, AaTh/ATU 665: J Mann, der wie ein Vogel flog und wie ein Fisch schwamm, AaTh/ATU 667: J Pflegesohn des Waldgeistes und im Kontext der J Magischen Flucht (AaTh/ATU 313 sqq.). Den Helden dieser Märchen wird die Fähigkeit zur T. als Lohn für ihre Freundlichkeit Tieren gegenüber verliehen (J Dankbare [hilfreiche] Tiere), oder sie ist die J Gabe eines übernatürlichen Wesens, bei dem die Protagonisten eine Zeit-
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lang gedient haben. Gewöhnlich ermöglicht dies ihnen, auferlegte Proben zu bestehen und die Königstochter zu heiraten (cf. AaTh/ATU 665, AaTh/ATU 667, AaTh/ATU 316) oder begründet ihre Überlegenheit über ihre Gegenspieler (AaTh/ATU 325, AaTh/ATU 313). Während diese Helden die T. und die Rückverwandlung aus eigener Kraft bewältigen, benötigen die meisten passiv in Tiere verwandelten Menschen gewöhnlich eine andere Person zu ihrer J Erlösung. So finden sich zahlreiche Tiergatten (J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe), die nur durch ihren (künftigen) Ehepartner wieder zum Menschen werden können (AaTh/ATU 425 sqq.: J Amor und Psyche, AaTh/ATU 432: J Prinz als Vogel, AaTh/ATU 440: J Froschkönig, AaTh 428/ATU 425 B: J Prinz als Wolf ). Sie sind teilweise aufgrund eines unvorsichtigen Kinderwunschs an die Tiergestalt gebunden (J Schwangerschaft; AaTh/ ATU 433 B: cf. J König Lindwurm, AaTh/ ATU 441: J Hans mein Igel). Bei einer Sonderform der T. können in Tiere verwandelte Protagonisten ihre J Tierhaut abstreifen und wieder anlegen, sich ihrer aber nur mit Hilfe einer Person des anderen Geschlechts endgültig entledigen. Dasselbe gilt für die Mädchen in AaTh/ATU 400, AaTh/ATU 401, AaTh/ ATU 402, AaTh/ATU 403, AaTh/ATU 405, AaTh/ATU 408, AaTh/ATU 409 und AaTh/ ATU 409 A. Dies scheint den Kern der Märchen um eine Tierehe zu bilden: „E[rlösung]sreif sein heißt im Märchen: im heiratsfähigen Alter sein.“24 Eine Fremdverwandlung liegt auch in AaTh/ATU 567: Das wunderbare J Vogelherz vor. Hier verwandelt der Held die Prinzessin in eine Eselin, weil sie ihm seine Zaubergegenstände gestohlen hat (cf. auch J Eselmensch). T. begegnet ferner im Zusammenhang mit innerfamiliären Beziehungen. Zur T. führt eigene Schuld oder der Tabubruch eines nahen Verwandten (AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen, AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder). In griech. und bulg. Fassungen von AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella wird die Mutter, weil sie den Faden beim Spinnen reißen läßt, in eine Kuh verwandelt und von den Schwestern der Protagonistin getötet und gegessen25. In AaTh/ATU 720: J Totenvogel dagegen wird der Ermordete zuerst verzehrt und dann in einen Vogel verwan-
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Tiger
delt. In dieser T., die weder der Selbst- noch der Fremdverwandlung zuzurechnen ist, hat man einen im ganzen idg. Raum verbreiteten Glauben an das Weiterleben der Seele in Tierform gesehen (cf. auch J Seelenwanderung)26. Nach L. J Röhrich spiegelt die T. im Märchen verschiedene Schichten der Verwandlungsvorstellung wider27: Die Selbstverwandlung entspricht einem archaischeren Stadium des menschlichen Denkens; prätotemistischen Vorstellungen zufolge glaubten die Menschen, daß sich Tiere in Menschen und Menschen in Tiere verwandeln konnten (J Totemismus). Die Fremdverwandlung betrachtet Röhrich als späteres Motiv, das auf das Übernatürliche hinweist28. In psychol. Interpretationen ist das Thema T. mit der Wahrnehmung der Sexualität verbunden29, für die Schule C. G. J Jungs mit dem Prozeß der Individuation30. T. wird auch symbolisch interpretiert. So deutet G. Calame-Griaule die Metamorphose der Heldin in eine Eselin in einer Erzählung aus Niger als Ausdruck einer gefährlichen weiblichen Hypersexualität, die durch die Heirat und die ihr vorausgehende Zerstörung der Tierhaut in soziale Bahnen gelenkt werde31. A. Angelopoulou sieht die Tierhaut als Metapher für die ursprüngliche Haut an, in der der Mensch geboren wird und deren Zerstörung die Lösung von Mutter und Kindheit bedeute32. N. Belmont stellt die T. in AaTh/ATU 451 in Zusammenhang mit Inzestphantasien33; die Verwandlung des getöteten Jungen in AaTh/ATU 720 sieht sie als Bild für den Eintritt in die Sexualität, da der Vogel Symbol für das männliche Geschlecht sei34.
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Austin (1993) 2003, 33⫺36. ⫺ 10 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 89; Roume´gue`re-Eberhardt, J.: Mythes et croyances de l’Afrique australe. In: Akoun, A. (ed.): Mythes et croyances du monde 1⫺ 5. P. 1991, hier t. 3, 127 sq. ⫺ 11 Salzmann, M.: Les Religions sibe´riennes. ibid. 4, 54⫺56. ⫺ 12 Lecouteux, C.: Fe´es, sorcie`res et loupˆ ge. P. 1992, 51. ⫺ 13 cf. auch garous au Moyen A ibid., 122 sq.; Brunner Ungricht (wie not. 1) bes. 119, 224 sq.; Wesselski, A.: Probleme der Sagenbildung. In: SAVk. 35 (1936) 131⫺188, hier 131⫺ 153. ⫺ 14 Lecouteux (wie not. 12); cf. CalameGriaule, G.: L’Homme-hye`ne dans la tradition soudanaise. In: ead.: Des Cauris au marche´. P. 1987, 23⫺ 59. ⫺ 15 Brunner Ungricht (wie not. 1) 100 sq. ⫺ 16 ibid., 35. ⫺ 17 Jacquin, P.: Les Eskimaux. In: Akoun (wie not. 10) t. 3, 224. ⫺ 18 Brunner Ungricht (wie not. 1); cf. Brednich, R. W.: Der Edelmann als Hund. In: Fabula 26 (1985) 29⫺57. ⫺ 19 EM 8, 1053. ⫺ 20 Marzolph/van Leeuwen 2, Reg. s. v. Transformation of humans into animals. ⫺ 21 Brunner Ungricht (wie not. 1) 241 sq. ⫺ 22 Politis, N.: Paradosis. 1: Le´gende. Athen 1994, num. 338; cf. Brunner Ungricht (wie not. 1) 252; BP 3, 8 sq. ⫺ 23 Politis (wie not. 22) num. 342, 359. ⫺ 24 EM 4, 205. ⫺ 25 Angelopoulou/Kaplanoglou/Katrinaki; BFP; cf. Katrinaki, E.: Le Cannibalisme dans le conte merveilleux grec (FFC 295). Hels. 2008, 49⫺ 54. ⫺ 26 Brunner Ungricht (wie not. 1) 150⫺152. ⫺ 27 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 88⫺91. ⫺ 28 ibid., 91 sq. ⫺ 29 cf. Brunner Ungricht (wie not. 1) 304. ⫺ 30 cf. ibid., 305. ⫺ 31 Calame-Griaule, G.: Peau d’aˆnesse. In: ead. (wie not. 14) 253⫺270. ⫺ 32 Ange´lopoulou, A.: Fiance´e exotique, fiance´e animale? In: Cahiers de litte´rature orale (2006) 117⫺138; ead.: Le Conte d’Eros et Psyche´ dans la litte´rature orale. In: Topique 75 (2001) 155⫺169. ⫺ 33 Belmont, N.: Poe´tique du conte. P. 1999, 102⫺109. ⫺ 34 ead.: Conte et enfance. A propos du Conte ,Mon pe`re m’a tue´, ma me`re m’a mange´’. In: Cahiers de litte´rature orale 33 (1993) 75⫺98.
Athen
Manouela Katrinaki
1
cf. Karlinger, F.: Einführung in die rom. Volkslit. Mü. 1969, 154⫺157; Daemmrich, H. S. und I.: Metamorphose. In: iid.: Themen und Motive in der Lit. Tübingen 1987, 223⫺225; Ehrenfeuchter, M.: Aspekte des zeitgenössischen Zauberglaubens in Dichtungen des 16. Jh.s. Ffm./B./Bern 1996, 102 sq.; Brunner Ungricht, G.: Die Mensch-Tier-Verwandlung. Eine Motivgeschichte unter bes. Berücksichtigung des dt. Märchens in der ersten Hälfte des 19. Jh.s. Bern u. a. 1998. ⫺ 2 ibid. ⫺ 3 Curtis, V. S.: Mythes perses. P. 1994, 21. ⫺ 4 ibid., 23. ⫺ 5 Graves, R.: Les Mythes grecs 1. P. 1967, 211. ⫺ 6 ibid., 179. ⫺ 7 Hermann, P.: Nord. Mythologie. Lpz. 1903 (B. 1992), 171 sq.; Haussig, H. W. (ed.): Wb. der Mythologie 2. Stg. 1973, 53, 76. ⫺ 8 Green, M. J.: Mythes celtiques. P. 1995, 123. ⫺ 9 Taube, K.: Aztec and Maya Myths.
Tiger. Der natürliche Lebensraum des T.s liegt in Asien, bes. in Indien, im östl. China, in Südostasien, Sumatra und Nordostsibirien. T. leben in tiefen Wäldern und kreuzen selten den Weg der Menschen. Von den alten Mythen bis hin zu den Slogans der Werbung („Pack‘ den T. in den Tank!“)1 ist der T. als faszinierende Erzählfigur wie als Symbol präsent2. Seine Schönheit und Kraft, sein Mut und seine Klugheit werden in Erzählungen, Sprichwörtern, Metaphern und idiomatischen Wendungen ebenso gerühmt wie dämonisiert. Außer
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Tiger
mit seinen natürlichen Eigenschaften spielen die Geschichten dabei hauptsächlich mit symbolischen, imaginierten oder erwünschten Eigenschaften. Regionaltypisch ist der T. mit vergleichbaren Raubtieren, bes. J Löwe und Jaguar, austauschbar. Erzählungen über T. finden sich bereits in ind. klassischen Texten, so etwa die mit oriental. Var.n von AaTh/ATU 1640: J Tapferes Schneiderlein verwandte Erzählung von dem Betrunkenen, der unwissentlich auf einem T. reitet (AaTh/ATU 177: J Dieb und T.), im J Pan˜catantra (5,11). T. wurden als Begleiter der Götter verehrt. Der Vergleich eines Menschen mit einem T. drückt Ehrfurcht aus, etwa in der Wendung ,ein T. von einem Mann‘. Ind. Var.n von AaTh/ATU 105: J Listensack des Fuchses begründen, warum der T. als größter und stärkster Vertreter der Familie der Katzen nicht auf Bäume klettert: Die J Katze als Tante des T.s lehrt ihn alle ihre Künste, nur nicht, wie man auf einen Baum klettert. Unter den zahlreichen Geschichten, die im Osten Indiens über den Bengal- oder Königstiger erzählt werden, ist ein Märchen bes. eindrucksvoll, das speziell von und für Frauen erzählt wird und in dem ein T.paar als Helfer agiert3: Einem kinderlosen König und seiner Frau wird Nachwuchs versprochen, wenn sie zwei bestimmte Mangofrüchte essen (J Empfängnis: Wunderbare E. ). Die Früchte werden vertauscht, was dazu führt, daß das Kind ⫺ ein Sohn ⫺ innerhalb von zwölf Tagen sterben muß (cf. AaTh/ATU 934: cf. J Todesprophezeiungen). Malanchama¯la¯, die zwölfjährige Tochter eines niederen Polizeibeamten, besteht darauf, den Prinzen zu heiraten. Sie zieht mit dem Toten in ihren Armen durch die Wälder, wo sie einem T.paar begegnet. Die T. geben ihr Milch für den Prinzen und helfen ihr im Verlauf der Handlung dabei, daß der Prinz ins Leben zurückkehren und sie ihren eigenen Platz in der Gesellschaft wiederfinden kann.
In bengal. Erzählungen wird gelegentlich die Beziehung des T.s zu anderen Tieren thematisiert: Der T. wird als zwar tapfer, aber töricht und neugierig dargestellt, so daß er von kleineren Tieren, etwa dem J Schakal, hereingelegt werden kann4. In einer bengal. Erzählung stirbt eine T.in, und der T. heiratet ein menschliches Mädchen, das für die verwaisten T.kinder und den Haushalt sorgen soll (J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe)5.
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Erzählungen aus Nordostindien ⫺ der Heimat vieler verschiedener Stammesvölker ⫺ behandeln häufig das Thema des Mädchens, das sich gegen den Willen seiner Familie, bes. seines Bruders, mit einem T. verheiraten will6: Der T. besucht die junge Frau. Oft verläßt sie ihre Familie und lebt mit dem T. zusammen. Sie gibt ihm Bier und Reis, er bringt ihr Fleisch, das sie kocht. Sie sind zusammen glücklich und lieben sich. Schließlich kommt der Bruder zu ihnen oder beobachtet sie heimlich und tötet dann entweder den T. oder die Schwester oder beide. Wenn die junge Frau am Leben bleibt, begeht sie entweder Selbstmord oder ist dem Bruder für immer entfremdet.
In der Himalaja-Region sind realistische Erzählungen über T. verbreitet. Einige davon hat J. Corbett in seinen Schriften nacherzählt7. Corbetts Berichte über seine eigenen T.jagden dokumentieren gleichzeitig Erzählungen und Vorstellungen der lokalen Bevölkerung: T. töten keine Menschen, außer wenn sie alt oder verwundet sind; wenn T. bestimmte Tempel besuchen, werden sie entweder für Inkarnationen der Götter oder deren fromme Verehrer gehalten und nicht gejagt. Analog zu den europ. Erzählungen über Werwölfe (J Wolfsmenschen) gibt es in Indien Geschichten über Wertiger8. Auch in China werden T. in der klassischen Lit. wie in der populären Überlieferung behandelt9. In der traditionellen chin. Medizin besitzen die Körperteile des T.s einen großen Wert10. Eine in weiten Teilen Ostasiens verbreitete T.geschichte ist weitläufig mit AaTh/ATU 123: J Wolf und Geißlein sowie AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen verwandt11: Als eine Frau ihre Großmutter besucht, schärft sie ihren Kindern ein, vor ihrer Rückkehr niemandem zu öffnen. Auf dem Heimweg wird sie von einem T. aufgefressen, der ihre Kleidung anzieht und zu ihrem Haus geht. Die älteren Kinder schöpfen Verdacht, klettern auf einen Baum und sagen, sie könnten von dort aus etwas außerordentlich Interessantes sehen. Sie bieten dem T. an, ihn in einem Korb hochzuziehen. Er folgt ihrer Einladung, wird oben von ihnen fallengelassen und so getötet.
In mongol. Volkserzählungen und Heldendichtungen gehört das Fangen eines T.s zu den schwierigen J Aufgaben, die dem Protagonisten gestellt werden und durch die er seinen Status als Held erweist12. Im Ursprungsmythos der korean. Könige spielt der T. ebenfalls eine Rolle13:
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Tille, Va´clav
Zu Beginn der Zeit kam der göttliche Prinz nach Korea, um dort zu herrschen. Damals lebten T. und Bär in einer Höhle. Als sie sahen, wie gut es den Menschen ging, wollten sie auch Menschen werden. Der göttliche Prinz gab ihnen zwanzig Knoblauchzwiebeln und ein Bündel Beifuß und sagte, sie sollten hundert Tage in ihrer Höhle bleiben. Der T. konnte es nicht ertragen und lief fort. Der Bär bestand die Prüfung, wurde in eine Frau verwandelt und gebar als Königin den späteren ,Sandelholzkönig‘ DanGun.
Eine bei den nordostsibir. Jakuten aufgezeichnete ätiologische Erzählung erklärt die charakteristische Fellzeichnung des T.s als Verbrennungsmale eines Stricks, mit dem ein Mensch den T. gefesselt hatte (cf. AaTh/ATU 38: cf. J Einklemmen unholder Wesen)14. In türk. Volkserzählungen erscheinen T. als Wächter von Palästen der Reichen; Schurken werden ihnen zum Fraß vorgeworfen15. In Europa war der T. bereits früh bekannt. Die Griechen lernten ihn über J Alexander d. Gr. kennen16. Im 4. Jh. a. Chr. n. schenkte der syr. König Seleukos I. der Stadt Athen einen T.17 Seit dem 1. Jh. a. Chr. n. kamen T. auch nach Rom, wo sie als Kuriosität in Käfigen in Amphitheatern zur Schau gestellt wurden. Das Bild, das sich die Europäer vom T. machten, ist geprägt von der Bewunderung für seine Schnelligkeit und Wildheit. Ein Exemplum des J Jacques de Vitry (Sermones vulgares, num. 7) setzt dem allerdings eine gewisse Einfalt entgegen: Jäger, die T.jungen rauben, stellen auf dem Weg der sie verfolgenden T.in einen Spiegel auf; das genügt, um diese aufzuhalten und die Jäger entkommen zu lassen18. Zu Beginn des 21. Jh.s ist die Existenz des T.s stark bedroht. Wenn der aktuelle Trend sich fortsetzt, könnten Geschichten über T. zum Nachruf ihrer Existenz auf Erden werden19. 1 Röhrich, Redensarten 3, 1623. ⫺ 2 Rowland, B.: Animals with Human Faces. A Guide to Animal Symbolism. Knoxville 1973, 149⫺152; Mot. und ATU, Reg. s. v. T.; Schenda, R.: Das ABC der Tiere. Mü. 1995, 368. ⫺ 3 cf. Mode, H./Ray, A.: Bengal. Märchen. Lpz. 1967, 38⫺79. ⫺ 4 ibid., 111⫺113. ⫺ 5 ibid., 389⫺391. ⫺ 6 Elwin, V.: Myths of the NorthEast Frontier of India. Shillong 1958. ⫺ 7 Corbett, J.: The Temple T. and More Man-eaters of Kumaon. Delhi 1998. ⫺ 8 Pinnow, H.-J.: „Der Wertiger“ und andere Geschichten in Kharia. In: Indo-Iranian J. 9 (1965) 32⫺68; Bose, S. u. a.: The Weretiger. Tales of the Supernatural. Neu Delhi 2002. ⫺ 9 Børdahl, V.:
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The Man-Hunting T. From „Wu Song Fights the T.“ in Chinese Traditions. In: Asian Folklore Studies 66 (2007) 141⫺163; Ting, Reg. s. v. T.; Naumann, N.: Der T. in chin. Märchen, Sagen und frühen religiösen Vorstellungen. In: Fabula 38 (1997) 112⫺121. ⫺ 10 cf. Eberhard, W.: Erzählungen aus Südost-China. B. 1966, num. 4, 22, 23, 64. ⫺ 11 Ting 333 C; Ikeda 333 A; Choi, num. 100; Eberhard, W.: The Story of Grandaunt T. [1970]. In: Little Red Riding Hood. A Casebook. ed. A. Dundes. Madison 1989, 21⫺63. ⫺ 12 Heissig, W.: Mongol. Märchen. MdW 1975, 258 (Reg. s. v. T.); id.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 1⫺2. Wiesbaden 1988, Reg. s. v. T. ⫺ 13 Zo˘ng In-So˘b: Folk Tales from Korea. L. 1952, num. 1; cf. ferner Choi, Reg. s. v. T. ⫺ 14 E˙rgis, num. 33. ⫺ 15 cf. Eberhard/ Boratav, Reg. s. v. T. ⫺ 16 Richter, W.: T. In: Kl. Pauly 5 (1979) 825 sq. ⫺ 17 Keller, O.: Thiere des klassischen Altertums in culturgeschichtlicher Beziehung. Innsbruck 1887, 137 sq., 148 sq., 151; id.: Die antike Tierwelt. Lpz. 1909, 61 sq.; Schöffel, C.: Martial, Buch 8. (Diss. Erlangen/Nürnberg 2001) Stg. 2002, 249⫺252. ⫺ 18 Tubach, num. 4865. ⫺ 19 cf. Wessing, R.: The Last T. in East Java. Symbolic Continuity in Ecological Changes. In: Asian Folklore Studies 54,2 (1995) 191⫺218.
Neu Delhi
Sadhana Naithani
Tille, Va´clav (in literar. Werken Pseud. Va´cˇ ´ıha), * Ta´bor (Südböhmen) 16. 2. 1867, lav R † Prag 26. 6. 1937, tschech. Folklorist, Lit.-, Theater-, Filmtheoretiker und -kritiker1. T. studierte 1885⫺89 Bohemistik, Slavistik (bei dem Junggrammatiker J. Gebauer), Romanistik an der Karls-Univ. in Prag, 1886 in Innsbruck und wurde 1889 mit einer Diss. über die soziol. Theorien H. Spencers promoviert. 1889⫺ 1908 war er Bibliothekar an der Univ.sbibliothek Prag. 1903 habilitierte er an der KarlsUniv., war 1903⫺08 Dozent, 1908⫺11 außerordentlicher, seit 1912 ordentlicher Professor für vergleichende Lit.wissenschaft und -geschichte, bes. für frz. und dt. Lit. T. erhielt Auszeichnungen der Acade´mie franc¸aise und anderer ausländischer Institutionen. Er zählte zu den Mitbegründern des tschech. PENClubs und war Mitglied der Tschech. Akad. der Wiss.en und Künste und der Kgl. Ges. für Wiss.en Prag. T.s Bedeutung für die Erzählforschung liegt in der Anwendung der vergleichenden Lit.wissenschaft (mit Betonung des ästhetischen und soziol. Aspekts; J Komparatistik). Er verfügte über eine stupende Materialkenntnis, die über
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die Grenzen einzelner Sprachen und Kulturen Mittel- und Westeuropas hinausging. Dies verband er mit gesellschaftspolitischen Bezügen zu den Bereichen Lit.geschichte und Volkskultur (bes. der Märchenforschung). Auf dem Gebeit der Lit.geschichte und -theorie (bes. der frz. und dt.), arbeitete T. z. B. über das J Roland-Epos2 und über Maurice Maeterlinck3. T. untersuchte literar. Zeugnisse phil. und soziol. (auch mit Hinweis auf die Volksprosa). Aus seinem Interesse für Märchen ging die bis in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg als musterhaft geltende Monogr. über Bozˇena J Neˇmcova´ hervor4. Zusammen mit J. J Polı´vka begründete T. die tschech. komparatistische Märchenforschung. Noch als Student verfaßte er eine erste Studie über den J unscheinbaren J Helden5. Für eine Seminararbeit zeichnete er 1888 auf Anregung Gebauers in Ostmähren (sog. Mähr. Walachei) Märchen auf. Diese Arbeit enthält ⫺ für die damalige Zeit ungewöhnlich ⫺ Angaben über die Rolle des J Erzählers in der Erzählsituation (J Performanz) und über die individuelle Gestaltung des Stoffs. Dabei entdeckte er Parallelen zu internat. überlieferten Stoffen. Die u. d. T. Povı´dky, jezˇ sebral na Moravske´m Valasˇsku dr. V. T. ([Märchen, die Dr. V. T. in der mähr. Walachei gesammelt hat]. Prag 1902) veröffentlichte Ausg. wurde in der tschech. Erzählforschung grundlegend für die Edition von Volkserzählungen. T. formulierte Ansichten, die zu seiner Zeit sehr modern waren: Die Aufzeichnungen sollten erzählgetreu erfolgen und von komparatistisch und typol. angelegten Kommentaren begleitet sein. T.s Kommentare beziehen die Ergebnisse der slav. wie auch der frz. und dt. Erzählforschung ein. Nach T. sind die stilistischen Eigenschaften des Erzählten immer vom Erzähler, von der Situation und den Erwartungen der Zuhörer bestimmt. Stilistische Unterschiede ergäben sich auch aus der Spezifik der einzelnen Märchengattungen. Darüber hinaus ließen sich die Erzählstile verbindende Elemente wie Einfachheit in der Denkweise, syntaktische Besonderheiten oder bestimmte Kompositionsschemata feststellen. Als stilbildendes Merkmal betont T. die individuelle Ausdrucksweise der Erzähler, die Formelhaftigkeit und die Wiederholung von Motiven in bestimmten Situationen. T. wandte sich gegen mythol. orien-
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tierte Interpretationen (J Mythol. Schule) und plädierte für die Anwendung literaturhist. Methoden6. Von der Märchenforschung forderte er für die Unters. von Stoffen und Motiven, sie müsse feststellen, was zum internat. Erzählgut gehöre und was als nationales Erzählgut zu betrachten sei, um auf diese Weise das jeweils Besondere herausstellen zu können. Dieses Konzept realisierte T. in seinen Ausg.n der Märchensammlungen von K. J. J Erben7, Neˇmcova´8 und M. Miksˇ´ıcˇek9 sowie in einer kritischen Auswertung der tschech. Märchen aus der 1. Hälfte des 19. Jh.10. Von grundlegender Bedeutung für die tschech. und internat. Märchenforschung ist T.s Soupis cˇesky´ch poha´dek ([Verz. der tschech. Märchen] 1⫺2,1⫺2. Prag 1929/34/37). Dieser Typenkatalog basiert auf einer bereits 1911 fertiggestellten Fassung, die aus finanziellen Gründen zunächst nicht veröffentlicht werden konnte, enthält demgegenüber aber eine neue Analyse der Texte auf breiterer Qu.nbasis. Das Werk bietet unter alphabetisch geordneten Stichwörtern (z. B. andeˇl [Engel], had [Schlange], kra´ska a zvı´rˇe ⫽ La Belle et la beˆte) eine thematisch gegliederte Systematik der tschech. Märchenstoffe sowie eine mit Var.n und Vergleichsmaterial reich ausgestattete Analyse der wichtigsten Slgen. T.s Verz. ist bis heute ein Standardwerk der tschech. Erzählforschung. Es wurde bei der 2. Revision des AaTh-Typenkatalogs (1961) berücksichtigt und, auf der Basis von Ergänzungen und Korrekturen durch J. J Jech, erneut im ATU (2004). Acht Kapitel der ursprünglichen Fassung des Verz.es von 1911 erschienen auf Wunsch K. J Krohns in T.s dt. Übers. in den FFC11. T. beschäftigte sich auch mit den seit dem frühen MA. bis ins 18. Jh. in Chroniken und anderen älteren schriftl. Qu.n dokumentierten tschech. Sagen12. Ihn interessierten bes. thematische und motivliche Verbindungen mit schon im Altertum verbreiteten Erzählstoffen (z. B. über den Mädchenkrieg von Vlasta gegen Prˇemysl, Sˇa´rka gegen Ctirad13, den vom Pflug auf den Thron berufenen Fürsten14; cf. J Libussa) sowie Vergleiche ma. Qu.n mit den im 19. Jh. veröff. Sagensammlungen15. ˇ ´ıha veröffentUnter dem Pseud. Va´clav R lichte T. in bis heute mehrfach aufgelegten Slgen eigene Kunstmärchen, die im Hinblick auf das Stoff- und Motivrepertoire, bes. je-
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Tillhagen, Carl-Herman
doch den Stil als gelungene Paraphrasen authentischer Volkserzählungen gewertet werden. Unter Kunstmärchen verstand T. literar. Schöpfungen, die nicht eine ,bloße Wiedergabe der Volkskunst‘ seien16. 1 Polı´vka, J./Hora´k, J.: Prof. Dr. V. T. In: Na´rodopisny´ veˇstnı´k cˇeskoslovansky´ 12 (1917) 81⫺87 (Würdigung mit Bibliogr.); Sbornı´k pracı´, veˇnovany´ch profesoru dru. Va´clavu Tillovi k sˇedesa´ty´m narozenina´m 1867⫺1927 [Festschr. V. T.]. Prag 1927; Fischer, O.: V. T. Prag 1938 (mit Bibliogr.); Hora´lek, K.: J. Polı´vka und V. T. In: Beitr.e zur Geschichte der Slawistik. ed. H. H. Bielfeldt/K. Hora´lek. B. 1964, 58⫺80. ⫺ 2 T., V.: Roncesvalles. Prag 1912. ⫺ 3 id.: Maurice Maeterlinck. Prag 1910. ⫺ 4 id.: Knı´zˇka o Bozˇeneˇ Neˇmcove´ (Büchlein über Bozˇena Neˇmcova´). Prag 1919 (u. ö.). ⫺ 5 id.: Litera´rnı´ studie. 1: Skupina lidovy´ch povı´dek o nezna´me´m rekovi, jenzˇ v za´vodech zı´skal princeznu za chot’ (Literar. Studien. 1: Die Gruppe der Volksmärchen über den unbekannten Ritter, der die Prinzessin im Wettkampf zur Frau gewinnt). Prag 1892. ⫺ 6 id.: Ry´brcoul (Rübezahl). ˇ L (1898) 173⫺180, 257⫺264, 347⫺352, 439⫺ In: C ˇ eske´ poha´dky (Tschech. 443. ⫺ 7 Erben, K. J.: C Märchen). ed. V. T. Prag 1905; id.: Vybrane´ ba´je a poveˇsti na´rodnı´. 1: Za´padnı´ slovanske´; 2: Vy´chodnı´ slovanske´ (Ausgewählte Mythen und Volkssagen. 1: Westslav.; 2: Ostslav.). ed. V. T. Prag 1905/07. ⫺ 8 Neˇmcova´, B.: Na´rodnı´ ba´chorky a poveˇsti (Volksmärchen und -sagen) 1⫺4. ed. V. T. Prag 1903; T., ˇ eske´ poha´dky B. Neˇmcove´ (Tschech. Märchen V.: C von Bozˇena Neˇmcova´). ed. V. T. Prag 1908 (T.s Vorw. erschien bereits 1905 in der Zs. „Lumı´r“). ⫺ 9 Miksˇ´ıcˇek, M.: Poha´dky (Märchen). Prag 1912. ⫺ 10 ˇ eske´ poha´dky do roku 1848 (Tschech. T., V.: C Märchen bis zum Jahr 1848). Prag 1909. ⫺ 11 id.: Verz. der böhm. Märchen (FFC 34). Porvoo 1921. ⫺ 12 Ha´jek z Libocˇan, V.: Poveˇsti o pocˇa´tcı´ch cˇeske´ho na´rodu a cˇesky´ch pohansky´ch knı´zˇatech (Sagen über die Anfänge des tschech. Volks und tschech. heidnische Fürsten). ed. J. Kocˇ´ı. Prag 1917 (Anmerkungen V. T.). ⫺ 13 Karbusicky´, V.: Anfänge der hist. Überlieferung in Böhmen. Köln/Wien 1980, 57 sq. ⫺ 14 T., V.: Lidove´ povı´dky o panovnı´kovi, povolane´m od zˇelezne´ho stolu (Volkserzählungen vom Herrscher, der vom eisernen Tisch berufen ˇ L 1 (1892) 118⫺125, 233⫺237, 462⫺ wurde). In: C 468; 15 (1906) 1⫺3; id.: Prˇemysl Ora´cˇ (Prˇemysl der ˇ asopis pro deˇjiny venkova 15 (1928) Pflüger). In: C 81⫺111. ⫺ 15 z. B. id. (wie not. 5); id. (wie not. 10); id.: Prˇesne´ za´pisy (Präzise Aufzeichnungen). ibid. 22 (1929) 217⫺242; id.: Ukradeny´ ruba´sˇ (Das gestohlene Totenhemd). ibid. 23 (1930) 24⫺33; id.: Loupezˇ v myslivneˇ (Der Raub im Jägerhaus). ibid. 24 (1931) 1 sq.; id.: Magicky´ u´teˇk (Die magische Flucht). ibid., 2⫺7; id.: Poha´dky polsky´ch cika´nu˚ (Märchen poln. Zigeuner). ibid., 202⫺211. ⫺ 16 T., V.: O lidovy´ch
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poha´dka´ch (Über Volksmärchen). ed. J. Bodla´kova´. Prag 1966.
Brno
Marta Sˇramkova´
Tillhagen, Carl-Herman, * Sundsvall 17. 12. 1906, † Stockholm 14. 5. 2002, schwed. Erzählforscher1. T. studierte 1932⫺36 in Uppsala, danach bis ca 1943 in Stockholm Lit.geschichte, Geschichte und klassische Philologie (ohne Abschluß). Er hörte u. a. bei C. W. von J Sydow, dessen funktionalistische Betrachtungsweise und Methode ihn beeinflußten. 1939⫺72 war er am Archiv des Nordiska Museet in Stockholm tätig, zunächst als Assistent, seit 1961 als dessen Leiter. 1960 wurde T. in Oslo mit einer Diss. zur schwed. Volksmedizin promoviert; das daraus entstandene Hb. erlebte mehrere Auflagen (Folklig läkekonst. Stockholm 1958, 21962, 31977)2. 1966 hatte er Gastprofessuren an der Indiana Univ. in Bloomington und der Univ. of California in Berkeley inne. T. war Mitglied und zeitweise europ. Vizepräsident der Internat. Soc. for Folk Narrative Research. 1976 wurde ihm eine Festschrift gewidmet3. Bereits während seines Studiums sammelte T. Material für das Landsma˚ls- och folkminnesarkivet in Uppsala. Im 2. Weltkrieg exzerpierten Kriegsflüchtlinge unter seiner Anleitung Material aus schwed. Heimatbüchern und -zeitschriften, gedruckten und ungedruckten Slgen. T.s eigene Aufzeichnungen sind sehr umfangreich, bes. wichtig sind seine Slgen von zeitgenössischer urbaner Folklore in Stockholm. Er führte Feldforschungen bei Roma in Schweden durch, veröffentlichte über 30 Artikel im J. of the Gypsy Lore Soc. (1947⫺59) sowie populäre Streitschriften, war als Sachverständiger für ,Zigeunerfragen‘ für die schwed. Behörden tätig4 und spielte eine maßgebliche Rolle bei der Ansiedlung der Roma in Schweden in den 1960er Jahren. Internat. Bekanntheit erlangte T. mit seiner Publ. der Erzählungen des Rom-Märchenerzählers Johan Dimitri Taikon (Stockholm 1946)5 ⫺ seinem wichtigsten Beitrag zur Märchenforschung. Darüber hinaus legte T. weitere Unters.en über das Erzählen und Erzähler vor, in denen er sich von hist. und typol. arbeitenden Schulen und Forschern distanzierte6. Er war
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Timoneda, Juan (Joan)
darüber hinaus in den 1960er Jahren einer der führenden Vertreter auf dem Gebiet der Systematisierung von Sagen7. Thematische Schwerpunkte in seinen Publ.en zu Sagen und Volksglauben waren u. a. Kinder8, Jagd9, Vögel10, Eisen11 und der menschliche Körper12. T. war auf dem gesamten Feld der Vk. tätig. Zusammen mit N. Dencker dokumentierte er schwed. Spiele und Reime (Svenska folklekar och danser 1⫺2. Stockholm 1949/50). Ebenso wie sein Hb. zur schwed. Volksmedizin wurde sein Buch zur volkstümlichen Wahrsagerei (Folklig spa˚domskonst. Stockholm 1961 [41991]) auch über wiss. Kreise hinaus rezipiert13. In seiner letzten wiss. Publ. Va˚ra folkminnen. En „dagbok“ över ett folks liv (Stockholm 1999) legte T. seine Auffassungen zur Bedeutung und Ideengeschichte von Volksüberlieferung und Folkloristik dar und hob die Rolle von Sagen und Volksglauben hervor. 1
T., C.-H.: Släkt, barndom, studier. Stockholm 2000 (Autobiogr.); cf. auch Klintberg, B. af: C.-H. T. In: Svenska landsma˚l och svenskt folkliv 126 (2003) 117⫺128. ⫺ 2 T., C.-H.: Material and Research Methods within Folk Medicine [1962/63]. In: id. (ed.): Papers on Folk Medicine. Stockholm 1964, 194⫺204. ⫺ 3 Nordisk folktro. Festschr. C.-H. T. Stockholm 1976 (mit Bibliogr.). ⫺ 4 T., C.-H.: Zigenarnas levnadsförha˚llanden 1955. In: Statens offentliga utredningar 43 (1956) 83⫺145; cf. id.: Zigeunerforschung in Skandinavien. In: SAVk. 59 (1963) 2⫺ 5; id.: Zigenarna i Sverige. Stockholm 1965. ⫺ 5 id.: Taikon berättar. Zigenarsagor upptecknade. Stockholm 1946; id.: Taikon erzählt. Zigeunermärchen und -geschichten. Zürich 1948 (21973); id.: The Gypsies’ Fiddle and Other Gypsy Stories. N. Y. 1956. ⫺ 6 id.: Traditionsbäraren. In: Nordisk seminar i folkedigtning 1. ed. L. Bødker. Kop. 1962, 36⫺51; cf. id.: Ein schwed. Märchen- und Sagenerzähler und sein Repertoire. In: Rhein. Jb. für Vk. 10 (1959) 9⫺22. ⫺ 7 id.: Das skand. Sagenmaterial und dessen Katalogisierung. In: Vk. 22 (1962) 149⫺170; id.: Der internat. Sagenkatalog. In: Tagung der „Internat. Soc. for Folk-Narrative Research“ in Antwerpen. Antw. 1963, 37⫺40; id.: Was ist eine Sage? Eine Definition und ein Vorschlag für ein europ. Sagensystem [1964]. In: Petzoldt, L. (ed.): Vergleichende Sagenforschung. Darmstadt 1969, 307⫺318; id.: Aktuelle Probleme innerhalb der Sagenforschung. In: Festschr. K. R. V. ˚ bo 1966, 115⫺133. ⫺ 8 id.: Barnet i folkWikman. A tron. Tillblivelse, födelse och fostran. Stockholm 1983. ⫺ 9 id.: Jaktskrock. Stockholm 1985; id.: Allmogejakt i Sverige. Stockholm 1987. ⫺ 10 id.: Fa˚glarna i folktron. Stockholm 1978. ⫺ 11 id.: Järnet och människorna. Stockholm 1981. ⫺ 12 id.: Va˚r kropp i folktron. Stockholm 1989. ⫺
668
13
id.: Volkstümliche Wahrsagekunst in Schweden während des vorigen Jh.s. In: Acta Ethnographica 19 (1970) 369⫺388.
Lund
Jan-Öjvind Swahn
Timoneda, Juan (Joan), * Valencia ca 1518, † ebenda zwischen 30. 7. und 1. 10. 1583, span.katalan. Schriftsteller. T. war zunächst als Gerber und Buchbinder, später als Drucker und Buchhändler tätig. Er verlegte Flugblätter, Gedichtbände und Theaterstücke, u. a. von Lope de Rueda, und verfaßte selbst (teils in span., teils in katalan. Sprache) Gedichte, Bühnenstücke und Prosaerzählungen; darüber hinaus trat er als Schauspieler hervor1. T.s Stücke behandeln religiöse und profane Themen. Einige enthalten Elemente populärer Erzählungen: El paso de un soldado y un moro y un ermitan˜o ist die Bühnenfassung einer J Zechprellergeschichte (Mot. K 455.5), die seit dem frühen MA. belegt ist2. Der Auto del Nacimiento, ein Weihnachtsspiel, enthält in der Einl. den frühesten span. Nachweis für AaTh/ ATU 1362 A*: J Dreimonatskind (Schwangerschaft von viereinhalb Monaten)3. In der Komödie Cornelia (1559), einer Adaptation von J Ariosts Negromante, kommt eine dumme J Wette vor, deren Gewinner den Kopf verliert4. El paso de dos ciegos y un mozo enthält eine Fassung von AaTh/ATU 1577: Die getäuschten J Blinden. T. übersetzte außerdem zwei Stücke von J Plautus (Anfitrio´n [1559], J Amphitryon; Los Menemnos [1559]). In T.s Romanzensammlung Rosa gentil (1573) erscheint eine in Irland lokalisierte Var. von AaTh/ATU 762: J Mehrlingsgeburten mit 370 Kindern5. T.s Ruhm als Autor begründeten drei Slgen kurzer Erzählungen: El sobremesa y Alivio de caminantes, Buen aviso y Portacuentos und El patran˜ uelo6. Einige Erzählungen der beiden ersteren Werke sind klassischen Ursprungs und T. wohl über die Apophthegmata des J Erasmus zur Kenntnis gekommen, andere stammen aus der ital. Novellistik und sind T. vor allem über Lodovico J Domenichi, Gian Francesco J Poggio Bracciolini oder Ludovico J Guicciardini bekannt geworden, andere wieder stehen in Zusammenhang mit der mündl. Überlieferung7. Von El sobremesa y Alivio de caminantes sind acht Ausg.n erhalten, mit z. T. unter-
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Timoneda, Juan (Joan)
schiedlicher Anzahl von Erzählungen. Die Erstausgabe Zaragoza 1563 besteht aus zwei Teilen und enthält 140 Erzählungen (1. Teil: 68; 2. Teil: 72). Der 1. Teil der Ausg. Valencia 1569 weist 25 neue Erzählungen auf. In der u. d. T. Alivio de caminantes erschienenen weitverbreiteten Ausg. Medina del Campo 1563 wurden 42 Erzählungen getilgt und zwölf von Joan Aragone´s (möglicherweise Pseud.) hinzugefügt. Von dieser Ausg. hängen alle weiteren direkt oder indirekt ab8. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Aus w. ) 9: 1, num. 1 ⫽ AaTh/ATU 1365 A: cf. Die widerspenstige J Ehefrau10. ⫺ 1,15 ⫽ Hirt: Mein Pfiff ist gut genug für die Böcke, die mich hören11. ⫺ 1,17 ⫽ AaTh/ ATU 1475: Marriage Forbidden Outside the Parish. ⫺ 1,21 ⫽ Angepumpter sagt, er schlafe12. ⫺ 1,27 ⫽ AaTh/ATU 921 B*: Die seltsamen J Berufe der drei Söhne. ⫺ 1,48 ⫽ Doppelter Betrug: Frau rät reuigem Händler, das beim Verkauf unterschlagene Gewicht der Wolle zuzuschlagen, die zum Spinnen gegeben wird13. ⫺ 1,49 ⫽ AaTh/ATU 785 A: J Einbeiniges Geflügel. ⫺ 1,51 ⫽ AaTh/ATU 860: Nuts of „Ay ay ay!“14 ⫺ 1,54 ⫽ Gewinn aus gepanschtem Wein fällt in Lagune: Wasser zu Wasser15. ⫺ 1,58 ⫽ AaTh/ATU 1741: J Priesters Gäste16. ⫺ 1,70 ⫽ Rechtsfall: Zwei prozessieren darum, für wen der Kuckuck singt. Es gewinnt der Richter17. ⫺ 1,72 ⫽ AaTh/ATU 1804 B: cf. J Scheinbuße18. ⫺ 1,75 ⫽ J Schatz des Blinden19. ⫺ 1,77 ⫽ ATU 1594: The Donkey is Not at Home 20. ⫺ 1,84 ⫽ AaTh/ATU 1689 B: J Rezept gerettet.
In den 2. Teil der Ausg. Evora 1575 wurden weitere Erzählungen eingefügt: 2,58 ⫽ AaTh/ATU 1804 B. ⫺ 2,166 ⫽ AaTh/ATU 1250: J Brunnenkette 21. ⫺ 2,167 ⫽ Schuhe schonen durch Barfußlaufen: Dörfler stößt sich schwer und freut sich über ersparte Kosten22. Erzählungen von Joan Aragone´s: 2,3 ⫽ AaTh/ ATU 1610: J Teilung von Geschenken und Schlägen23. ⫺ 2,5 ⫽ AaTh/ATU 1689 A: J Raparius24.
Buen aviso y Portacuentos (Valencia 1564, 1569, 31570) enthält zwei Bücher: Buen aviso mit 71 Erzählungen, die jeweils mit drei oder vier zusammenfassenden oder kommentierenden Versen enden, und Portacuentos mit 103 Erzählungen.
2
E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Aus w. ): Buch 1, num. 5 ⫽ Mot. J 1261.7: Judgment Day a long way off 25. ⫺ 1,9 ⫽ AaTh/ATU 1792: Der geizige J Pfarrer und sein Schwein26. ⫺ 1,26 ⫽ AaTh/ATU 982: Die vorgetäuschte J Erbschaft27. ⫺ 1,28 ⫽ AaTh/ ATU 1370: cf. Die faule J Frau wird kuriert28. ⫺ 1,42 ⫽ AaTh 1429*: Remedy for Quarrelsomeness29. ⫺ 1,43 ⫽ AaTh/ATU 1408 B: Fault-Finding
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Husband Nonplussed30. ⫺ 1,49 ⫽ AaTh/ATU 1620: J Kaisers neue Kleider31. ⫺ 1,67 ⫽ AaTh 920 C: J Schuß auf den toten König32. 2,3 ⫽ AaTh/ATU 1567 C: Den großen J Fisch befragen33. ⫺ 2,4 ⫽ AaTh 980 C/ATU 980: cf. Der undankbare J Sohn34. ⫺ 2,18 ⫽ Abgabenpflichtige Bauern beklagen Wassermangel; Lehnsherr beim Anblick eines Ertrunkenen: Nie einen des Wassers so überdrüssigen Dörfler gesehen35. ⫺ 2,19 ⫽ Frau rettet Ehemann aus den Klauen der Katze (Rotunda R 152.3*). ⫺ 2,25 ⫽ Rätsel: Was ist der beste Schatten/ Anblick/Klang?36 ⫺ 2,38 ⫽ Rache der Kameraden: Ei mit Küken bleibt dem Koch in der Kehle stekken37. ⫺ 2,49 ⫽ AaTh 1681*/ATU 1430: cf. J Luftschlösser38. ⫺ 2,52 ⫽ AaTh 1365 C: cf. Ehefrau: Die widerspenstige E.39 ⫺ 2,53 ⫽ AaTh/ATU 1862 C: Die einfältige J Diagnose40. ⫺ 2,60 ⫽ AaTh/ATU 1453: Key in Flax Reveals Laziness (J Brautproben)41. ⫺ 2,70 ⫽ AaTh/ATU 1641: J Doktor Allwissend 42 ⫺ 2,74 ⫽ AaTh 980 B/ATU 980: cf. Sohn: Der undankbare S.43 ⫺ 2,76 ⫽ Bettler hat sich bei der Berechnung seiner Lebenszeit getäuscht: Geld verbraucht, Leben übriggeblieben44. ⫺ 2,88 ⫽ AaTh 1588*: The Unseen. ⫺ 2,100 ⫽ AaTh/ATU 1620*: The Conversation of Two Handicapped Persons (cf. J Buckel, Buckliger).
Das Patran˜ uelo (1567, 21576, 31578, 41580) besteht aus 22 patran˜as (Flunkereien), Erzählungen mittleren Umfangs. Sie enthalten typisch novellistische Liebesintrigen, die auf ital. Qu.n zurückgehen und zahlreiche Parallelen in schriftl. und mündl. Tradition besitzen45. M. Chevalier zufolge stammen nur wenige von ihnen aus mündl. Überlieferung46. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Aus w. ): num. 1 ⫽ Vertauschung der Kinder (Mot. K 1923.1) und vermeintlicher Inzest zwischen Bruder und Schwester (Mot. T 415.3). ⫺ 2 ⫽ AaTh/ATU 887: J Griseldis. ⫺ 3 ⫽ AaTh/ATU 1537: Die mehrmals getötete J Leiche. ⫺ 4 ⫽ J Bocca della verita` ⫹ AaTh/ATU 1418: J Isoldes Gottesurteil. ⫺ 5 ⫽ AaTh/ATU 933: J Gregorius. ⫺ 6 ⫽ AaTh/ATU 1534: Die Urteile des J Schemjaka. ⫺ 7 ⫽ Verleumdete Frau (Mot. K 2112) verkleidet sich als Pilger (Mot. K 1817.2.2). ⫺ 8 ⫽ Mann tröstet sich über Untreue seiner Frau (Mot. J 882.1). ⫺ 9 ⫽ Trennung und Wiederfinden des durch Zufall zustandegekommenen Paars (cf. ATU 861 A: cf. J Rendezvous verschlafen). ⫺ 10 ⫽ AaTh/ATU 1417: Die abgeschnittene J Nase. ⫺ 11 ⫽ J Apollonius von Tyrus. ⫺ 12 ⫽ cf. AaTh/ATU 1577: Blinde: Die getäuschten B.n. ⫺ 13 ⫽ Verwechslung der Kinder. ⫺ 14 ⫽ AaTh/ATU 922: J Kaiser und Abt. ⫺ 15 ⫽ AaTh/ATU 882: cf. J Cymbeline. ⫺ 16 ⫽ J Kyros. ⫺ 17 ⫽ AaTh/ATU 910 K: J Gang zum Eisenhammer (Kalkofen). ⫺ 18 ⫽ AaTh/ATU 1642 A: The Borrowed Coat (cf. AaTh/ATU 1642: Der gute J Handel). ⫺ 19 ⫽ Komplott eines Eifersüchtigen: Treubruch der Prinzessin fingiert, Zweikampf des Liebhabers mit seinem Bruder (Mot. K
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Ting, Nai-tung
2112 ⫹ R 161). ⫺ 20 ⫽ Verliebte Stiefmutter (cf. Der keusche J Joseph) ⫹ Giftmord vereitelt. ⫺ 21 ⫽ AaTh/ATU 712: J Crescentia. ⫺ 22 ⫽ J Freundschaftssage. 1
T., J.: Obras 1⫺3. Madrid 1947/48/48; Reynolds, J. J.: J. T. Boston 1975; Fradejas Lebrero, J. (ed.): Novela corta del siglo XVI. t. 1. Barcelona 1985, 19⫺22; Herna´ndez Valca´rcel, M. C.: El cuento espan˜ol en los Siglos de Oro 1. Murcia 2002, 55⫺ 120; Pedrosa, J. M.: El cuento popular en los Siglos de Oro. Madrid 2004, 178⫺186. ⫺ 2 Pauli/Bolte, num. 646; Carballo Picazo, A.: Datos para la historia de un cuento. In: Revista bibliogr. documental 1 (1947) 425⫺466; Chevalier, M.: Folklore y literatura. El cuento oral en el Siglo de Oro. Barcelona 1978, 85 sq. ⫺ 3 Fradejas Lebrero (wie not. 1) 38⫺ 41; Feijo´o, B.: Cuentos populares cubanos 1⫺2. Las Villas 1960/62, hier t. 2, 110. ⫺ 4 T. (wie not. 1) t. 2, 330⫺381; Chevalier, M.: Cuentos folklo´ricos en la Espan˜a del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 115; Sua´rez Lo´pez, J.: Cuentos del Siglo de Oro en la tradicio´n oral de Asturias. Gijo´n 1998, num. 56; Feijo´o (wie not. 3) t. 1, 127 sq. ⫺ 5 Chevalier (wie not. 4) num. 44. ⫺ 6 T., J./Aragone´s, J.: Buen aviso y Portacuentos. El sobremesa y Alivio de caminantes. Cuentos. ed. M. P. Cuartero/M. Chevalier. Madrid 1990; T., J.: El patran˜uelo. ed. J. Romera Castillo. Madrid 1979; id.: El patran˜uelo. ed. M. P. Cuartero Sancho. Madrid 1990. ⫺ 7 Cuartero Sancho, M. P.: Fuentes cla´sicas de la literatura paremiolo´gica espan˜ola del siglo XVI. Zaragoza 1981; McGrady, D.: Notes on the Golden Age Cuentecillo (with Special Reference to T. and Santa Cruz). In: J. of Hispanic Philology 1 (1976⫺77) 121⫺145; Childers; Childers, J. W./Reynolds, J. J.: A Guide to the MotifIndex of T.’s Prose Fiction. In: Kentucky Romance Quart. 25 (1978) 399⫺412. ⫺ 8 Chevalier, M.: El Sobremesa y Alivio de caminantes (De unas ediciones antiguas a las ediciones modernas). In: Revista de dialectologı´a y tradiciones populares 33 (1977) 43⫺ 54. ⫺ 9 T./Aragone´s (wie not. 6). ⫺ 10 Chevalier (wie not. 4) num. 127; id.: Tipos co´micos y folklore (Siglos XVI⫺XVII). Madrid 1982, 61; Sua´rez Lo´pez (wie not. 4) num. 66; Reynolds (wie not. 1) 26 sq.; Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y Nuevo Me´jico. Stanford [ca 1940], num. 78. ⫺ 11 Chevalier (wie not. 4) num. 202; id. 1982 (wie not. 10) 136. ⫺ 12 id. (wie not. 4) num. 203. ⫺ 13 ibid., num. 241. ⫺ 14 Sua´rez Lo´pez (wie not. 4) num. 38.2. ⫺ 15 Chevalier (wie not. 4) num. 249; id.: Cuento folklo´rico, cuentecillo tradicional y literatura del Siglo de Oro. In: Gordon, A. M./Rugg, E. (edd.): Actas del sexto congreso internacional de hispanistas. Toronto 1980, 5⫺11, hier 5; id. 1982 (wie not. 10) 113. ⫺ 16 id. (wie not. 4) num. 226; Agu´ndez Garcı´a, J. L.: Cuentos populares sevillanos (en la tradicio´n oral y en la literatura) 2. Sevilla 1999, num. 241; Blanco, D.: O local e o universal na transmisio´n folclo´rica. O convite das perdices. In: Asedios o conto. ed. C. Becerra et al. Vigo 1999, 97⫺107; Gal-
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´ .: Un cuento bereber y el fabliau me´s de Fuentes, A france´s Le dit des perdriz. In: Romania Arabica 2 (2000) 27⫺40; Estepa, L./Pedrosa, J. M.: Mitos y cuentos del exilio de Ruanda. Oiartzun 2001, num. 40. ⫺ 17 Chevalier (wie not. 4) num. 244. ⫺ 18 Gon´ .: Con la ilusio´n basta. In: id.: Hisza´lez Palencia, A toria y leyendas. Madrid 1942, 145⫺160; Granja, F.: Cuentos a´rabes en el Sobremesa de T. In: Al-Andalus 34 (1969) 382⫺388. ⫺ 19 Chevalier (wie not. 4) num. 199. ⫺ 20 ibid., num. 204. ⫺ 21 ibid., num. 94; id.: De los cuentos asturianos del siglo XX al folclore del Siglo de Oro. In: Anuario de letras 15 (1977) 299⫺319. ⫺ 22 Tubach, num. 4351; Chevalier (wie not. 4) num. 224. ⫺ 23 ibid., num. 186. ⫺ 24 ibid., num. 219. ⫺ 25 McGrady, D.: More on T.’s „tan largo me lo fia´is“ Story and „El burlador de Sevilla“. In: Revista de estudios hispa´nicos 4 (1970) 107⫺112. ⫺ 26 Chevalier (wie not. 4) num. 227. ⫺ 27 ibid., num. 79. ⫺ 28 ibid., num. 133. ⫺ 29 ibid., num. 147. ⫺ 30 ibid., num. 138. ⫺ 31 Canavaggio, J.: Sobre dos avatares de un motivo tradicional. El cuento de la pintura ma´gica. In: id./ Darbord, B. (edd.): Edad Media y Renacimiento. Continuidades y rupturas. Caen 1991, 23⫺34. ⫺ 32 Chevalier (wie not. 4) num. 63. ⫺ 33 ibid., num. 181. ⫺ 34 ibid., num. 78. ⫺ 35 ibid., num. 247. ⫺ 36 ibid., num. 162; Lacarra, M. J.: El pan comido. El suen˜o maravilloso (ATU 1626) y otros cuentos afines. In: Beltra´n Llavador, R./Haro Corte´s, M./Agu´ndez Garcı´a, J. L. (edd.): El cuento folclo´rico en la literatura y en la tradicio´n oral. Valencia 2006, 217⫺246, hier 228. ⫺ 37 Chevalier (wie not. 4) num. 248. ⫺ 38 ibid., num. 216; Fradejas Lebrero, J.: Algunas versiones ma´s sobre la fa´bula de La lechera. In: Cuadernos para la investigacio´n de la literatura hispa´nica 1 (1978) 21⫺30. ⫺ 39 Chevalier (wie not. 4) num. 129; id. 1982 (wie not. 10) 62; Sua´rez Lo´pez (wie not. 4) num. 67.4. ⫺ 40 Chevalier (wie not. 4) num. 245. ⫺ 41 ibid., num. 155; Sua´rez Lo´pez (wie not. 4) num. 80.3. ⫺ 42 Chevalier (wie not. 4) num. 208; Corte´s Va´zquez, L.: Cuentos populares salmantinos. Salamanca 1979, 225. ⫺ 43 Chevalier (wie not. 4) num. 77. ⫺ 44 ibid., num. 112; Sua´rez Lo´pez (wie not. 4) num. 55. ⫺ 45 T. 1990 (wie not. 6). ⫺ 46 Chevalier, M.: Cuento tradicional, cultura, literatura (siglos XVI⫺XIX). Salamanca 1999, 122; id.: La emergencia de la novela breve. In: Festschr. A. Vilanova 1. Barcelona 1989, 157⫺165.
Zaragoza
Marı´a Jesu´s Lacarra Ducay
Ting, Nai-tung (Ding Naitong), * Hangtschou 22. 4. 1915, † Macomb, Ill. 22. 4. 1989, chin.-amerik. Lit.wissenschaftler und Erzählforscher1. Als Sohn einer wohlhabenden chin. Industriellenfamilie schloß T. 1936 an der Qinghua-Univ. in Peking sein Anglistik-Stu-
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Ting, Nai-tung
dium ab. 1938 erwarb er an der Harvard-Univ. in Cambr., Mass., den Master of Arts, 1941 wurde er dort im Fach Engl. Philologie promoviert. Danach kehrte T. nach China zurück, wo er zunächst an der privaten Christian Univ. in Hangtschou, seit 1943 an der Nationalen Zentraluniversität in Tschungking und seit 1952 an der Chinese Univ. of Hong Kong lehrte. 1957 emigrierte T. in die Vereinigten Staaten. Dort lehrte er zunächst am Pan American College in Edinburgh, Tex., und an der Wisconsin State Univ. in Madison, seit 1966 an der Western Illinois Univ. in Macomb, an der er bis zu seiner Emeritierung 1985 wirkte. Zur Erzählforschung kam T. durch seine Unters. der Ballade Lamia von John Keats (1795⫺1821) und ihre Bezüge zu der chin. Legende von der Weißen Schlange2. Durch die gemeinsam mit seiner Frau erstellte maßgebliche Bibliogr. chin. Volksliteratur prägte T. die Wahrnehmung der chin. Erzählforschung und Volksliteratur im Ausland nachhaltig3. Frühe Studien T.s befassen sich mit einzelnen Erzähltypen4. In seiner Monogr. zu AaTh/ ATU 510 A⫺B: J Cinderella5 untersuchte T. die Var.n des Erzähltyps in China, Vietnam und Kambodscha, wobei ihm vor allem dessen nahezu gänzliches Fehlen in der han-chin. Überlieferung auffiel. Darüber hinaus beschäftigte er sich u. a. mit chin. Sprichwörtern6 sowie der Geschichte der Erzählforschung in J China (Kap. 4)7. Nach W. J Eberhards chin. Typologie8 legte T. mit seinem Type Index of Chinese Folktales in the Oral Tradition and Major Works of Non-religious Classical Literature ([FFC 223]. Hels. 1978) den ersten am internat. Erzähltypensystem orientierten Katalog chin. Volksliteratur vor. In engl. Sprache veröffentlicht, fiel seine Publ. nach dem Ende der Kulturrevolution 1976 mit der Rehabilitierung der Erzählforschung in China zusammen. Der Typenkatalog verzeichnet anhand von in China bis 1960, in Taiwan bis in die 1970er Jahre gesammelten und publizierten Texten insgesamt 843 Erzähltypen. Durch zwei Übers.en ins Chinesische9 trug er u. a. zur Etablierung morphol. und hist.-geogr. Methoden der Erzählforschung in China bei. T.s Werk wurde internat. viel beachtet, geriet allerdings nicht nur von chin. Seite immer wieder in die Kritik10. Diese machte sich zu-
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nächst an der unkritischen Übertragung des für die ide. Überlieferung konzipierten AaThTypensystems auf China fest. Sie richtete sich sodann gegen die Art der Ausw. von Texten für die Klassifizierung von Erzähltypen; ,religiöse‘ Texte schließt T. etwa aus. Umstritten blieb auch seine unscharfe Unterscheidung von Erzählgattungen. Eine hist.-ethnische, lokalkulturelle oder gar soziale Differenzierung von Erzähltypen und ihrer Verbreitung erfolgt nicht. Vorgeworfen wurde ihm zudem mangelnde Textkritik, so die fehlende Unterscheidung zwischen klassischer Lit., anonymer Populärliteratur und Texten, die aus gezielten Sammelaktivitäten von Volkskundlern seit den 1920er Jahren zusammengetragen worden waren. Die neue, sich in zahlreiche Schulen ausdifferenzierende wiss. Volksliteraturbewegung seit Beginn der 1980er Jahre förderte T., indem er Mittel und Fachliteratur stiftete, in China unterrichtete, Übers.en unterstützte und Sammler besuchte. Gleichzeitig wurde sein Typenkatalog mit einer ungeahnten Quantität an neu gesammelten und publizierten Texten konfrontiert. Wenngleich T. in der Volksrepublik China zu den großen Persönlichkeiten der Volksliteraturforschung des 20. Jh.s zählt, löst man sich auf der Suche nach einer spezifisch chin. Klassifizierung seit einigen Jahren von seinem Vorbild11. 1 Liang-Lee, Yeajen: N.-t. T. (1915⫺1989). In: Fabula 31 (1990) 123⫺125; Heisig, J. W.: A Rejoinder to Prof. T. In: Asian Folklore Studies 41,1 (1982) 143; Liu Shouhua: Yi wei Mei ji huaren xuezhe de Zhongguo minjian wenxue qingjie. Zhuiyi Ding Naitong jiaoshou (Volkslit.motive eines amerik. auslandschin. Wissenschaftlers. Erinnerungen an Professor N.-t. T). In: Minjian wenhua luntan (2004) H. 3, 97⫺101. ⫺ 2 T., N.-t.: The Holy Man and the SnakeWoman. A Study of a Lamia Story in Asian and European Literature. In: Fabula 8 (1966) 145⫺ 191. ⫺ 3 id./Hsu Ting, Lee-Hsia: Chinese Folk Narratives. A Bibliographical Guide. San Francisco 1975; Rez. M. Eder in Asian Folklore Studies 36,2 (1977) 176 sq. ⫺ 4 T., N.-t.: AT Type 301 in China and Some Countries Adjacent to China. A Study of a Regional Group and Its Significance in World Tradition. In: Fabula 11 (1970) 55⫺125; id.: More Chinese Versions of AT 301. ibid. 12 (1971) 65⫺76; id.: Years of Experience in a Moment. A Study of a Tale Type in Asian and European Literature. ibid. 22 (1981) 183⫺213; id.: A Comparative Study of Three Chinese and North-American Indian Folktale Types.
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Tischgebet ⫺ Tischleindeckdich
In: Asian Folklore Studies 44 (1985) 39⫺50. ⫺ 5 id.: The Cinderella Cycle in China and Indo-China (FFC 213). Hels. 1974. ⫺ 6 id.: Chinese Weather Proverbs. In: Proverbium 18 (1972) 649⫺655. ⫺ 7 cf. id.: „Folk Literature Run by the Folk“. A New Development in the People’s Republic of China. In: Asian Folklore Studies 46 (1987) 257⫺271. ⫺ 8 Eberhard. ⫺ 9 Ding Naitong: Zhongguo minjian gushi leixing suoyin (Index der Typen der Volkserzählung Chinas). Übers. Meng Huiying/Dong Xiaoping/Li Yang. Peking 1983 (es fehlen weitgehend die bibliogr. Nachweise der klassifizierten Texte); Übers. Zheng Jiasheng. Peking 1986. ⫺ 10 Rez. W. Eberhard in Zs. für Kultur und Geschichte Ost- und Südostasiens 127⫺128 (1980) 137⫺140; Rez. J. W. Heisig in Asian Folklore Studies 40,1 (1981) 114⫺116; Rez. Wang Jingxian in J. of Asian Studies 40,2 (1981) 367 sq. ⫺ 11 Lin Xufu: Zhongguo minjian gushi leixing suoyin yanjiu de piping yu fanxiang (Criticism and Reflection on the Studies of Indexes of the Types of China’s Folklore). In: Sixiang zhanxian 3 (2003) 88⫺93.
Berlin
Mareile Flitsch
Tischgebet (AaTh/ATU 1841), kurzer pointierter Schwank, in dem am Beispiel des T.s die Diskrepanz zwischen der herkömmlichen und der tatsächlichen Praxis thematisiert wird: Ein Geistlicher fragt einen Jungen (Kinder), wie das J Gebet lautet, das der Vater (Mutter) zu Hause vor dem Essen spricht. Der Befragte antwortet nicht, wie erwartet, mit dem vorgeschriebenen T., sondern mit einer oft derben Aufforderung zuzugreifen.
Dieser Schwank ist offensichtlich erst im 19. Jh. entstanden und vor allem im protestant. Nordeuropa verbreitet; Ausläufer finden sich in Nordamerika1. Der Fragende ist meist ein Geistlicher, der die Frage während des Katechismusunterrichts (cf. J Katechismusschwänke) stellt, öfter auch ein Schulinspektor (Lehrer), der die Schüler einer Klasse prüft2. Der Dialog umfaßt gewöhnlich nur Frage und Antwort, wird jedoch hin und wieder auch erweitert, z. B. wenn der Lehrer zuerst fragt, was zu Hause gebetet wird, wenn man zu Tisch geht (,Wir haben keinen Tisch‘), dann, wovon gegessen wird (,Von Mutters Schoß‘), und schließlich, was die Mutter sagt (,Bekleckere dich nicht, du Donnerstein‘)3. Es gibt auch ähnliche Schwänke, die derartige J Mißverständnisse in einem weiteren Kontext sehen, vor allem dann, wenn die Frage zu allg. gestellt wird und der Fragesteller eine derbe Antwort erhält (J Grobheit). Wenn der Pfarrer
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z. B. fragt, was morgens zuallererst zu tun ist (er meint: beten), rufen die Schulkinder: ,Das Nachtgeschirr benutzen‘4. Aufgrund der Kürze ist AaTh/ATU 1841 im Handlungsverlauf relativ stabil und weist Variabilität nur bei den Antworten der Kinder auf. Darüber hinaus gibt es viele andere Schwänke über T.e, die allerdings bislang wenig Beachtung gefunden haben. Sie scheinen ebenfalls erst in neuerer Zeit entstanden zu sein und weisen keinen geogr. Schwerpunkt auf. Oft haben sie einen parodistischen Charakter5; sie bewegen sich damit im Raum der sehr beliebten Predigt-, Gebet- und Liturgieparodien6. JAFL 47 (1934) 315. ⫺ 2 Hodne. ⫺ 3 Fischer, H. W.: Lachende Heimat. B. 1933, 279 (mecklenburg.); cf. auch Raudsep, num. 80. ⫺ 4 Loorits 1841*; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 2. Grenoble 1971, num. 256. ⫺ 5 z. B. Raudsep, num. 78⫺87. ⫺ 6 cf. Monteiro, G.: Parodies of Scripture, Prayer and Hymn. In: JAFL 77 (1964) 45⫺52; Vuyst, J. de: Wilde vespers en wilde gebeden in Vlaams Belgie¨. In: Neerlands volksleven 15 (1965) 284⫺306; Gerber, L.: Gebeden, wildgebeden, paarden-paternosters. In: Vk. 84 (1983) 228⫺254; Siuts, H.: Predigt- und Litaneiparodien im dt.-ndl.-fläm. Grenzraum. In: Kulturen ⫺ Sprachen ⫺ Übergänge. Festschr. H. L. Cox. Köln/Weimar/Wien 2000, 315⫺ 324.
1
Groningen
Jurjen van der Kooi
Tischleindeckdich (AaTh/ATU 563), schwankhaftes Zaubermärchen, in dem Erwerb, zeitweiliger Verlust und Wiedererlangung von J Zaubergaben die Handlungsstruktur bestimmen1: Ein armer Mann (Junge, Taugenichts) bekommt in der Fremde (Himmel, Hölle) von einem übernatürlichen (dämonischen) Wesen (Tier) als Geschenk (Arbeitslohn, Wiedergutmachung für ihm zugefügten Schaden) ein Speise spendendes Tischtuch (Tisch, Mühle). Er übernachtet in einem J Wirtshaus (bei Bekannten, Verwandten, einer Hexe) und demonstriert dort die Wirkung seines magischen Tischtuchs. Der diebische Wirt tauscht es heimlich gegen ein normales Tischtuch aus. Zu Hause zeigt sich, daß der Gegenstand keine Wirkung hat. In der Annahme, er sei von dem Geber des Gegenstands betrogen worden, kehrt der Mann zu diesem zurück und bekommt jetzt einen Gold (Geld) spendenden Esel (Pferd, Schaf, Huhn), der ihm im selben Wirtshaus auf die gleiche Weise entwendet wird. Der Be-
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Tischleindeckdich
trogene begibt sich zum dritten Mal zu seinem Wohltäter und erhält jetzt einen magischen Knüppel (Peitsche, Tasche mit übernatürlichen Wesen). Diesen läßt er den Wirt verprügeln (J Schlag, schlagen), bis der ihm Tischtuch und Esel zurückgibt. Oft sind die Protagonisten drei Brüder, die nacheinander bei dem übernatürlichen Wesen in die Lehre gehen oder diesem dienen. Als Lohn erhalten die beiden ältesten Brüder nacheinander die Speise und Geld spendenden Zaubergaben, die ihnen im Wirtshaus abgenommen werden; der J Jüngste erlangt mit dem Prügelinstrument die Gaben seiner Brüder zurück. Die Gegenstände und das Tier müssen meist mittels einer Zauberformel aktiviert werden, z. B. ,Tischlein, deck dich‘, ,Bricklebrit‘ und ,Knüppel, aus dem Sack‘.
Die früheste Fassung von AaTh/ATU 563 findet sich im 17. Jh. in J Basiles Pentamerone (1,1)2. Doch scheint das Märchen vom T. älter zu sein. Darauf deuten Parallelen zu AaTh/ ATU 564: J Provianttasche hin, dessen frühester Beleg aus dem J Tripitø aka stammt. AaTh/ATU 563 war im 19. und 20. Jh. in der mündl. Überlieferung weltweit verbreitet. Das Märchen wurde vielfach bearbeitet und bildlich dargestellt (Kinder- und Schulbücher, Bilderbogen, Postkarten etc.) und auch in anderen Medien wie Film, Märchen- und Puppenspiel aufgegriffen3. Die Redaktion mit den drei Brüdern ist bes. in der europ. Überlieferung verbreitet4, erreichte aber auch Japan5, Nord- und Südamerika6 und Südafrika7. Zu ihrer Verbreitung haben sicherlich die Versionen der Brüder J Grimm (KHM 36) und Ludwig J Bechsteins8 beigetragen. Die für die Handlung von AaTh/ATU 563 unentbehrlichen J Requisiten werden geogr. sowie kulturell bedingt oft variiert. Außereurop. Var.n haben öfter Tiere als Handlungsträger9; so ist der Protagonist in einer kapverd. Var. ein Wolf10, in Afrika und Westindien häufig der Trickster J Anansi11. In außereurop. Texten wird die Anzahl der Zaubergaben mitunter variiert (zwei oder vier). AaTh/ATU 563 weist motivliche Analogien zu zahlreichen anderen Zaubermärchen, die unter AaTh/ATU 560⫺649: Magic Objects klassifiziert sind, auf. Mancher als AaTh/ATU 563 typisierte Text enthält eine nur schwer zu entwirrende Kombination von Episoden. Feste großräumige Verbindungen mit anderen Erzähltypen gibt es kaum. Nur mit AaTh/
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ATU 569: J Ranzen, Hütlein und Hörnlein wird AaTh/ATU 563 oft kombiniert12. Die Eingangsepisode von AaTh/ATU 563 unterliegt der größten Varianz. In zahlreichen europ. Erzählungen ist AaTh/ATU 563 mit AaTh/ATU 564 verknüpft, wodurch sich die Eingangsepisoden von AaTh/ATU 563 und AaTh/ATU 564 zuweilen angleichen und ihre Differenzierung mitunter erschwert wird13. Die wichtigsten Unterschiede zwischen den beiden Märchen bestehen darin, daß in AaTh/ATU 563 die beiden ersten Gaben der Eigentümer unbemerkt ausgetauscht werden, während der Besitzer in AaTh/ATU 564 sie verkauft oder zumindest wissentlich verliert. Wird AaTh/ATU 563 mit AaTh/ATU 564 kombiniert, ist die Eingangsepisode meist ähnlich gestaltet wie in der durch die Rivalität zwischen einem Armen und seinem neidischen reichen Bruder gekennzeichneten Redaktion von AaTh/ATU 564: Der Reiche schickt den Armen, der ihn um Fleisch bittet, damit zum J Teufel. Der Arme nimmt dies J wörtlich und bekommt vom Teufel Zaubergaben, die er in der für AaTh/ATU 563 typischen Weise, d. h. durch Vertauschung in einem Wirtshaus, verliert und zurückgewinnt. Sein Bruder erfährt vom Reichtum des Armen (z. B. weil der ihn um ein J Scheffelmaß bittet, damit er sein Geld messen kann), geht ebenfalls mit Fleisch zum Teufel, wird jedoch verprügelt oder in der Hölle festgehalten14.
Mitunter agiert hier der Teufel, bes. in Mitteleuropa, auch als Ratgeber, der dem Armen den Weg weist und ihm rät, scheinbar wertlose Geschenke zu verlangen (ihn lehrt, wie diese zu benutzen sind)15. Diese Episode findet sich auch in anderen Redaktionen von AaTh/ATU 563, in denen der Teufel als Schenker auftritt16. In einer nordeurop. und in einer nordamerik. Var. dienen die Gaben als Entschädigung des Frosts (Winter) für eine von ihm vernichtete Ernte17. In Europa, bes. in Frankreich, beliebt und bis in die Türkei verbreitet sind Fassungen, in denen der Wind (seine Mutter) das Mehl des Helden zerstreut hat und zur Rechenschaft gezogen wird18. Beschränkt auf Mitteleuropa, mit Ausläufern nach Süden und Osten, sind zwei Fassungen, in denen ein verzweifelter armer Mann auszieht, um Gott zu verprügeln (töten)19 oder sich umzubringen20; ein alter Mann (Gott) schenkt ihm ein T. Aus Westeuropa, bes. dem rom. Sprachgebiet, Südeuropa, vom Balkan und aus der Türkei ist
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Tischleindeckdich
eine Redaktion überliefert, in der ein Armer eine Bohne (Kohl) sät, die bis in den Himmel wächst (J Bohnenranke); er (seine Frau) klettert hinauf und erhält von Gott (J Petrus, J Christus) die Zaubergaben21. Diese Fassung breitete sich auch in frz.sprachigen Gebieten der USA und in Mittelamerika aus22. Mitunter wird der Alte auch von den zwölf Monaten (Sonne und Mond) beschenkt23. Recht selten ist die erstmals bei den Brüdern Grimm vorliegende Verknüpfung mit AaTh/ATU 212: Die boshafte J Ziege: Der Vater glaubt den Verleumdungen der Ziege und jagt seine Söhne aus dem Haus. Diese Kombination liegt sonst nur in einigen dt., fläm. und westind. Var.n vor24. Eine Redaktion, in der ein Junge einen Vogelkönig (J Tierkönig) fängt (bedroht), der sein Getreide geplündert hat, ist in Osteuropa und im Kaukasus, in West- und Mittelasien bis nach Indien weit verbreitet. Der Vogelkönig lädt den Jungen in sein Haus (Schloß in den Bergen) ein und verspricht ihm Geschenke25. Manchmal gibt er dem Jungen Federn, die ihm den Weg zeigen26. Manchmal tun dies auch Hirten. Sie warnen den Jungen auch vor dem Hund des Vogelkönigs und/oder raten ihm, anstelle von Reichtümern einen scheinbar wertlosen Gegenstand zu verlangen27.
Typisch für den islam. Bereich ist eine Redaktion, in der ein Holzfäller von einem Baum (-geist) magische Gegenstände erhält, damit er die Bäume verschont (Nord- und Ostafrika bis Südostasien)28. In einer anderen wird ein Mann, dem eine Erbse (Stück Brot) in einen Brunnen (Fluß) gefallen ist, vom Quellgeist mit Zaubergaben entschädigt (Türkei, Nordafrika)29. (Sieben) Geister beschenken einen Mann, weil sie ihn mißverstehen: Er fragt sich laut, welchen von seinen Kuchen er essen solle; sie meinen, er überlege, wen von ihnen er fressen solle (Südostasien)30. In einer ind. Redaktion, die auch im südl. Afrika aufgezeichnet wurde, verschenkt ein Schakal eine magische Kuh und sorgt, nachdem sie gestohlen wurde, dafür, daß der Protagonist sie zurückbekommt31. Versuche einer psychol. Deutung des Märchens überzeugen meist nicht, weil sie entweder nur eine bestimmte, manchmal atypische Version oder nur eine Episode oder ein Motiv, z. B. das des Knüppels (Phallussymbol), zum Ausgangspunkt nehmen32.
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T. ist ein Märchen mit universeller Anziehungskraft. Der berechtigte Wunsch armer und machtloser Menschen nach materieller und sozialer Sicherheit ist hier zu konkreten, mit viel Humor geschilderten Szenen von einer immerwährenden Fülle an J Speisen und Getränken, von unermeßlichen Reichtümern und einer physisch unantastbaren Position verdichtet. Zugleich kann jedermann moralische Befriedigung finden, da Dummheit und frevelhafte Handlungen durch ausgleichende J Gerechtigkeit bestraft werden (J Wunschdichtung). 1 Aarne, A.: Die Zaubergaben. In: JSFO 27 (1911⫺ 12) 1⫺96; Krohn, K.: Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung. Hels. 1931, 48⫺53; Meyer, M. de: Vlaamsche sprookjesthema’s in het licht der Romaansche en Germaansche kultuurstroomingen. Löwen 1942, 112⫺120; Calame-Griaule, G./ Görög-Karady, V.: La Calebasse et le fouet. Le the`me des „objets magiques“ en Afrique occidentale. In: Cahiers d’e´tudes africaines 12 (1972) 12⫺75; Chyet, M. L.: „Ac¸ıl Sofram, Ac¸ıl!“ (T.). A Comparative Study of Middle-Eastern Versions of AaTh 563. In: Fabula 28 (1987) 90⫺105. ⫺ 2 Uther, H.-J.: Märchen vor Grimm. MdW 1990, num. 20; cf. auch Karlinger, F.: Ital. Volksmärchen. MdW 1973, num. 25; Scherf 1, 229⫺233. ⫺ 3 Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./ N. Y. 2008, num. 36. ⫺ 4 Baring-Gould, S.: App. In: Henderson, W.: Notes on the Folk-Lore of the Northern Counties of England and the Borders. L. 1866, 299⫺344, hier 329 sq.; Monnier, H.: Contes populaires en Italie. P. 1880, 114 sq.; Cornelissen, P. J./Vervliet, J. B.: Vlaamsche volksvertelsels en wondersprookjes. Lier 1900, num. 5; Bünker, J. R.: Schwänke, Sagen und Märchen in heanz. Mundart. Lpz. 1906, num. 55; Uffer, L.: Die Märchen des Barba Plasch. Zürich 1955, 57⫺64; Cammann, A.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien. Göttingen 1967, num. 30; Tinneveld, A.: Vertellers uit de Liemers. Wassenaar 1976, num. 207; Gasˇparı´kova´ 1, num. 217; Barüske, H.: Dän. Volksmärchen. Ffm./Lpz. 1993, num. 37. ⫺ 5 Ikeda. ⫺ 6 JAFL 29 (1916) 145⫺148 (frz.); Carvalho-Neto, P. de: Cuentos folklo´ricos del Ecuador. Quito 1966, num. 33. ⫺ 7 Coetzee. ⫺ 8 Bechstein, L.: Märchenbuch. ed. H.J. Uther. MdW 1997, num. 38. ⫺ 9 Halpert, H./Widdowson, J. D. A.: Folktales of Newfoundland 1. N. Y./L. 1996, 352⫺361. ⫺ 10 Parsons, E. C.: Folk-Lore from the Cape Verde Islands 1. Cambr./ N. Y. 1923, num. 35. ⫺ 11 Beckwith, M. W.: Jamaica Anansi Stories. N. Y. 1924, num. 32; Finnegan, R.: Limba Stories and Story-Telling. Ox. 1966, 299⫺301. ⫺ 12 Gonzenbach, num. 52; Ludwig Salvator, Erzherzog: Märchen aus Mallorca. Würzburg/Lpz. 1896, 86⫺95; Berze Nagy (Var. 1); Benzel, U.: Sudetendt. Volkserzählungen.
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Titius, Caspar
Marburg 1962, num. 170; Laude-Cirtautas, I.: Märchen der Usbeken. MdW 1984, num. 10; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 21984, 198⫺201; Gasˇparı´kova´ 2, num. 582. ⫺ 13 Aarne (wie not. 1). ⫺ 14 Satke, A.: Hlucˇ´ınsky´ poha´dka´rˇ Josef Smolka. Ostrava 1958, num. 24; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Leer 1994, num. 14 (oldenburg.); Scherf 2, 1202⫺1204, hier 1203. ⫺ 15 Vernaleken, T.: Kinder- und Hausmärchen in den Alpenländern. Wien/Lpz. 1892, num. 11; Javorskij, P.: Pamjatniki galicko-russkoj slovesnosti. Kiew 1915, num. 20; Polı´vka 3, 433 sq.; Ranke (Var. 8); Bosˇkovic´-Stulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975, num. 3. ⫺ 16 Henßen, G.: Ungardt. Volksüberlieferungen. Marburg 1959, num. 32; Keller, W.: Am Kaminfeuer der Tessiner. Bern 31963, 178⫺180; Nedo, P.: Die gläserne Linde. Bautzen 1972, 16⫺21 (poln.); Gasˇparı´kova´, V.: Slowak. Volksmärchen. MdW 2000, num. 14. ⫺ 17 Ara¯js/Medne; Janssen, H.: Märchen und Sagen des estn. Volkes 1. Dorpat 1881, num. 7; Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. Petrograd 1915, num. 25; Chase, R.: The Jack Tales. Boston 1943, num. 5; Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, num. 41 (ostpreuß.). ⫺ 18 Delarue/Tene`ze (I B 1⫺4); Comparetti, D.: Novelline popolari italiane 1. Rom 1875, num. 7; Vernaleken (wie not. 15) num. 44; Kallas, O.: Achtzig Märchen der Ljutziner Esten. Dorpat 1900, num. 27; Wichmann, Y.: Syrjän. Volksdichtung. Hels. 1916, num. 3; Yates, D. E.: A Book of Gypsy Folk-Tales. L. 1948, num. 9 (aus Polen); Eberhard/ Boratav, num. 176; Jarmuchametov, C. C.: Tatarskie narodnye skazki. Kasan 1957, 171 sq.; Be´aloideas 35⫺36 (1967/68) 126⫺134; Haralampieff, K. [recte Frolec, K.]: Bulg. Volksmärchen. MdW 1971, num. 20; Gasˇparı´kova´ 2, num. 582; Krauss, F. S.: Volkserzählungen der Südslaven. ed. R. L. Burr/W. Puchner. Wien/Köln/Weimar 2002, num. 45 (slov.). ⫺ 19 Berze Nagy (Var. 7⫺9, 17); Kralina, M.: Sto skazok udmurtskogo naroda. Izˇevsk 1961, num. 61; Bıˆrlea, O.: Antologie de proza˘ populara˘ epica˘ 2. Buk. 1966, 345⫺353; Mode, H.: Zigeunermärchen aus aller Welt 2. Lpz. 1984, num. 107 (aus Ungarn). ⫺ 20 Zenker-Starzacher, E.: Es war einmal … Dt. Märchen aus dem Schildgebirge und dem Buchenwald. Wien 1956, 132⫺143; Berze Nagy (Var. 16); Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 3. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 1990, 156⫺158; Pitre`, G.: Märchen aus Sizilien. ed. R. Schenda/D. Senn. MdW 1991, num. 19. ⫺ 21 Kretschmer, P.: Neugriech. Märchen. MdW 1917, num. 13; Polain, E.: Il e´tait une Fois … P. 1942, num. 37 (wallon.); Amades, num. 86; Eberhard/Boratav, num. 176; Delarue/Tene`ze (I B 7⫺8); Hüllen, G.: Märchen der europ. Völker 6. Münster 1965, 237⫺241 (kroat.); Lox, H.: Fläm. Märchen. MdW 1999, num. 12. ⫺ 22 Andrade, M. J.: Folk-Lore from the Dominican Republic. N. Y. 1930, num. 142; Carrie`re, J. M.: Tales from the French Folk-Lore of Missouri. Evanston/Chic. 1937, num. 40; Meier, H.: Span. und port. Märchen. MdW 1940, num. 67 (chi-
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len.); Robe, S. L.: Mexican Tales and Legends from Los Altos. Berk./L. A./L. 1970, num. 80. ⫺ 23 Ilg, B.: Maltes. Märchen und Schwänke 1. Lpz. 1906, num. 61; Hallgarten, P.: Rhodos. Die Märchen und Schwänke der Insel. Ffm. 1929, 160⫺163; Megas, G. A.: Griech. Volksmärchen. MdW 1965, num. 22; Laographia 16 (1967) 405⫺408; Gasˇparı´kova´ 1, num. 291. ⫺ 24 Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen. MdW 1914, 243⫺247; JAFL 43 (1930) 307⫺309 (Bahamas); Witteryk, A. J.: Oude Westvlaamsche volksvertelsels. Brügge/Brüssel 1946, 206⫺211. ⫺ 25 Lo˝rincz; Marzolph; Beke, Ö.: Tscheremiss. Märchen, Sagen und Erzählungen. Hels. 1938, num. 52; Afanas’ev 2, num. 183; Sokolova, V. S.: Bartangskie teksty i slovar’. M./Len. 1960, num. 7; Sˇakryl, K. S.: Abchazskie narodnye skazki. M. 1975, num. 40; Taube, E.: Tuwin. Volksmärchen. B. 1978, num. 43. ⫺ 26 Lajpanov, C.: Karacˇaevskie i balkarskie narodnye skazki. Frunse 1957, 29⫺32; Vatagin, M.: Mednovolosaja devusˇka. Kalmyckie narodnye skazki. M. 1964, num. 15. ⫺ 27 Elwin, V.: Folk-Tales of Mahakoshal. L. 1944, 124⫺126; Dolidze, N. I.: Gruzinskije narodnye skazki. Tiflis 1956, 145⫺148; Volkova, M.: Karakalpakskie narodnye skazki. Nukus 1959, num. 8; Amonov, R./Ulug-sade, K.: Die Sandelholztruhe. Tadschik. Volksmärchen. B. 1960, 36⫺39; Jason, H.: Märchen aus Israel. MdW 1967, num. 61 (aus Irak); Stebleva, I.: Prodannyi son. Turkmenskie narodnye skazki. M. 1969, num. 29; Laude-Cirtautas (wie not. 12). ⫺ 28 Haring; Stumme, H.: Märchen der Schluh von Ta´zerwa˘lt. Lpz. 1895, num. 2; Fansler, D. S.: Filipino Popular Tales. Lancaster/N. Y. 1924, 231; Laoust, E.: Contes berbe`res du Maroc 1. P. 1949, num. 109; Rassool, S. H. A.: Contes et re´cits du Pakistan. P. 1964, 134⫺143; Jahn, S. al-Azharia: Arab. Volksmärchen. B. 1970, 525 sq.; cf. auch Laport, num. *563 A; Robe (wie not. 22) num. 79. ⫺ 29 Eberhard/Boratav, num. 176; Noy, D.: Soixante et onze Contes populaires par des Juifs du Maroc. Jerusalem 1965, num. 3; Muhawi, I./ Kanaana, S.: Speak, Bird, Speak Again. Palestinian Arab Folktales. Berk. 1989, num. 36. ⫺ 30 Parker, H.: Village Folktales of Ceylon 2. L. 1914, num. 97; Mayeda, N./Brown, W. N.: Tawi Tales. Folk Tales from Jammu. New Haven 1974, num. 40; Unbescheid, G.: Märchen aus Nepal. MdW 1987, num. 22. ⫺ 31 Bodding, P. O.: Santal Folk Tales 1. Oslo 1925, num. 4⫺6. ⫺ 32 Chyet (wie not. 1).
Groningen
Jurjen van der Kooi
Titius, Caspar, * Löbejün (bei Halle [Saale]) vor 15681, † Hettstedt (bei Eisleben) 1646 oder 16482, dt. protestant. Pfarrer und Autor homiletischer Hbb. Nach sechsjährigem Studium an den Univ.en Leipzig und Wittenberg (Magister Philosophiae 1595) wurde T. 1598 Diakon
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Tobias
in Könnern an der Saale und 1618 Pfarrer in Hettstedt, wo er bis zu seinem Tod als Prediger und Seelsorger wirkte. T. ist einer der bedeutendsten Exempelkompilatoren des 17. Jh.s. In Hettstedt entstanden seine beiden erfolgreichsten Kompilationswerke. Seine 834 Seiten umfassende Exempelsammlung Loci Theologiae Historici, oder Theol. Exempelbuch (Wittenberg 1633) erweiterte er für die 2. Aufl. (Wittenberg 1657) auf mehr als den doppelten Umfang3; die 3. Aufl. (Ffm./Lpz. 1684) brachte der protestant. Prediger und Exempelsammler D. J Schneider mit einer Manuductio ad Titii locos in Evangeliis et Epistolis dominicalibus recte adhibendos versehen unverändert heraus. Erst posthum erschien T.’ Gleichnissammlung Loci Theologiae Allegorici, oder Gleichnis-Kästlein (Wittenberg 1663; unveränderter Nachdr. Lpz./ Ffm. 1685)4. Wie Schneider haben sich auch die beiden neben T. erfolgreichsten Exempelkompilatoren des 17. Jh.s, J. J Mollerus und J. J Stieffler, ganz in die Tradition der Exempel- und Gleichnissammlung von T. gestellt; Schneider hat sein Exempelwerk als T. Continuatus (Wittenberg 1669, 21680) bezeichnet. Der Vorbildcharakter der Slgen des T. im 17. Jh. erklärt sich daraus, daß das alte Anordnungssystem nach J Tugenden und Lastern aufgegeben wurde; an seine Stelle trat das System der J Loci communes, das Philipp J Melanchthon in die neu ausgerichtete Dogmatik der Reformatoren eingeführt und das Johannes J Manlius für seine Locorum communium collectanea (Basel 1563) genutzt hatte. Damit stellt sich T. bewußt in die rational ausgerichtete Lehrtradition der protestant. Orthodoxie, was den anhaltenden Erfolg seiner beiden Kompilationswerke sicherte. Über seine Quellen und die Intentionen gibt T. im Vorw. zur 2. Aufl. der Loci Theologici Historici (1657) ausführlich Auskunft5. Die besten Exempel und Gleichnisse enthalten nach seiner Auffassung das A. T. und das N. T., also die Propheten und Evangelisten, aber auch die Kirchenväter hätten in ihren Schr. exempelwürdige ,dicta probantia‘ tradiert. Neben der umfangreichen christl. Lit. lieferten auch die profanhist. Schr. seit der Antike wertvolle Beispiele, aus denen die Menschen Lehren ziehen könnten. So hat T. stärker als seine
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Vorgänger Exempel aus den Predigten der Reformatoren und seiner Amtskollegen sowie aus der unterhaltsamen Historienliteratur seiner Zeit gezogen. Die als Zeugnis der Zeit interessante Exempelsammlung des T. hat einen hohen Stellenwert für die Vk. und ist vor allem für die Erzählforschung ergiebig (J Deutschland, Kap. 1.7.3)6. Die zahlreichen Nachahmer belegen den vorbildhaften Charakter von T.’ Kompilationen. 1 Das Geburtsjahr ist aus der Vorrede zur 2. Aufl. der „Loci Theologici Historici“ (datiert 11. 11. 1638) erschlossen, in der T. sein Alter mit über 70 Jahren angegeben hat, cf. Brückner, 610 sq.; Rehermann, 230. ⫺ 2 cf. Zedler, J. H.: Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wiss.en und Künste 4. Lpz./ Halle 1745 (Nachdr. Graz 1961), 456 sq.; Jöcher, C. G.: Allg. Gelehrten-Lex. 4. Lpz. 1750 (Nachdr. Hildesheim 1961), 1224; Brückner, 610⫺613; Rehermann, 230⫺233. ⫺ 3 Brückner, 637 sq.; Rehermann, 231 sq. ⫺ 4 Brückner, 638; Rehermann, 232 sq. ⫺ 5 Brückner, 611⫺613; Rehermann, 46⫺55. ⫺ 6 Rehermann, 130⫺175 (Erzählstoffe), 257⫺277 (Texte).
Arnsberg
Ernst Heinrich Rehermann
Tobias. Das antike jüd. Buch Tobit (griech.) bzw. T. (so die Vulgata) ist ein apokryphes Buch des A. T.s1. Die didaktisch-erbauliche Erzählung mit romanhaften Zügen handelt von zwei jüd. Familien in der Diaspora, die, von Unglück geschlagen, dank göttlichen Eingreifens eine heilvolle Wendung ihres Geschicks erfahren2. Tobit 1,1⫺3,17 erzählt, wie der gesetzestreue Tobit (Vulgata: T.) aus dem Stamm Naphtali ins Exil nach Ninive geführt wird, seinen Reichtum verliert und erblindet, nachdem er gegen kgl. Verbot einen jüd. Hingerichteten ehrenvoll bestattet hat. Mit Schauplatzwechsel wird von der in Medien lebenden Sara, Tochter eines Verwandten Tobits, berichtet, deren bisher sieben Ehemänner jeweils in der J Hochzeitsnacht von dem Dämon J Asmodeus getötet wurden. Sara wie auch Tobit klagen Gott ihr Leid. Im 2. Teil (4,1⫺12,22) sendet Tobit seinen Sohn T. nach Rhages (heute Rei bei Teheran), um dort bei einem Verwandten hinterlegtes Geld zu holen, und gibt ihm einen Reisebegleiter mit, hinter dem sich der Erzengel Raphael verbirgt. Dank Raphaels Rat kann T. aus Fischgalle ein J Heilmittel für die Augen seines Vaters gewinnen sowie Räucherwerk, mit dessen Hilfe er schließlich auch den Dämon vertreiben und Sara heiraten kann. Nach glücklicher
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Tobias
Heimkehr und Heilung des Tobit gibt sich Raphael als Erzengel zu erkennen.
Die romanhafte Erzählung ist mit Gebeten, weisheitlichen Sprüchen, Hymnen (13), einem Testament (14,3⫺11) und anderen Einlagen literar. ausgestaltet. Das Buch Tobit bzw. T. ist in mehreren stark divergierenden Fassungen überliefert. In Qumran sind kleine Fragmente von vier aram. und einer hebr. Hs. aus dem 1. vorchristl. Jh. gefunden worden (4Q196⫺200). Von den griech. Fassungen ist eine längere, schlichter erzählte und wohl ältere im Codex Sinaiticus (4. Jh.) und einer Minuskel von 1021 p. Chr. n. und davon abhängig in der Vetus Latina3 erhalten. Eine gestraffte, sprachlich anspruchsvollere griech. Version ist im Codex Vaticanus und in zahlreichen weiteren Hss. überliefert. Sie war im MA. die griech. Normalform des Buches und liegt auch der Vulgata-Fassung des J Hieronymus zugrunde, der den Text freier auffaßt (nach Hieronymus entstand sie an nur einem Tag)4. Beide griech. Fassungen haben sich gegenseitig beeinflußt und Mischformen erzeugt5. Ursprünglich aram.6 oder hebr.7 ist das Buch um 200 a. Chr. n. oder etwas früher wohl in Westsyrien8 entstanden, kaum in Palästina oder Ägypten und sicher nicht ⫺ wie immer wieder vermutet ⫺ in der ostsyr.-irak. und iran. Diaspora, in der die Handlung spielt. Tobit wurde auch später von Juden gelesen, obwohl es nicht Teil des jüd. Kanons ist. Die ma. hebr. und aram. Fassungen sind romanhafte Bearb.en der griech. oder lat. Versionen. Daneben existieren seit dem MA. Übers.en in europ. Volkssprachen. Das Buch Tobit wurde seit dem Beginn volkskundlicher Forschung mit populärem Erzählgut verglichen9, auch in bibelwiss. Studien10. Enge Verbindungen bestehen zu AaTh 505⫺508/ATU 505, 507: J Dankbarer Toter11. Tobit weist auch das für die ganze Typengruppe konstituierende Do-ut-des-Prinzip und die märchenhafte Gestaltung der jeweiligen Helfergestalt ohne gespenstische Züge12 bzw. als verborgene Epiphanie (cf. J Erdenwanderung der Götter) auf, ebenso die mythol. gesteigerte Gefährlichkeit der Defloration (AaTh 507 C/ATU 507: J Giftmädchen). Nach allg. Ansicht steht eher der dankbare Tote im Zentrum des Geschehens, nicht die Braut des Unholds, wie z. B. S. J Liljeblad annahm13. Ge-
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gen eine folkloristische Ableitung des Stoffes wird damit argumentiert, die europ. Fassungen des Erzähltyps könnten von Tobit abhängig sein14 oder seien zu spät bezeugt. Aber das zentrale Motiv des dankbaren Toten (Mot. E 341.1) ist durchaus antik15. Tobit verwandelt die Figur des J Achikar (AaTh/ATU 922 A) aus einem assyr.16 in einen jüd. Weisen (anders im etwa gleichzeitigen Buch Judith). Es ist auch nicht einfach allg. die Fürsorge Tobits für die Verstorbenen, sondern die für einen bestimmten Erdrosselten, die das Geschehen in Gang bringt, ein märchenhafter Zug (2,3⫺ 7). An Beispielen finden sich außerdem u. a. Motive volkstümlich-exorzistischer Medizin17. Nach E. Yassif ist Tobit das erste hebr. Zaubermärchen18. Bereits H. J Gunkel dachte an Vermittlung des zugrundeliegenden Märchens aus dem Iran19. Darauf deuten fast zwingend zahlreiche iran. Motive20. Der Dämon Asmodeus ist der iran. Ae¯sˇma dae¯va21. Rhages war ein Zentrum des Zoroastrismus22. Die Bemühung um unbestattete Leichen ist zwar gemeinantik23, war aber bei den medischen Magiern bes. auffällig (Tertullian, De anima 57,1⫺ 2). Kaum integrierter Rest der Vorlage ist der mehrfach erwähnte Hund, der die chthonische Präsenz des Totengeistes wittert, sich darum dem Wanderer anschließt, und ⫺ ein jüd. undenkbares Motiv ⫺ dessen Präsenz dann bei der Heilung des Vaters betont wird (11,4; 11,7 nach der wohl ältesten Fassung). Der Blick eines Hundes vertreibt im Zoroastrismus dämonische Einflüsse bei Krankheiten und Leichen24, während der Hund im Judentum als unrein gilt. Die zugrundeliegende Erzählung von T.’ Wanderung wurde vom Autor mit Hilfe deuteronomistischer, weisheitlicher und prophetischer Theologie zu einer jüd. Lehrnovelle im Stil der Patriarchengeschichten der Genesis ausgebaut (Nähe bes. zu Gen. 24) und um eschatologische Motive bereichert (neues Jerusalem)25. Die so entstandene jüd. Novelle diente dann der Identitätsfindung der Juden in der Diaspora26, u. a. durch Betonung der endogamen Heiratsbräuche27 und des Wallfahrtswesens. Ironisch-humoristische Elemente ⫺ vielfach beobachtet ⫺ tragen zur erzählerischen Souveränität und Frische des Buches bei28.
Das Buch Tobit entfaltete bei Juden29 und Christen30 in literar., musikalischen und künstlerischen Gestaltungen eine reiche Wirkung. Der jüd. Historiker J Josephus Flavius kennt den Stoff nicht, aber Midrasch Tanchuma (Ha’azinu 8) bietet eine ähnliche und wohl abhängige (textlich allerdings erst ma.) Erzählung31,
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Tobias
auf die bald längere Bearb.en folgen. Im Christentum zuerst von Cyprianus im 3. Jh. zitiert, beeinflußt Tobit asketische Ehevorstellungen (T.nächte, T.segen32), nicht zuletzt die sprichwörtliche Idee, Ehen würden ,im Himmel geschlossen‘. Auch die christl. Schutzengelvorstellung (J Schutzgeister) ist durch Tobit geprägt33, wie überhaupt (bes. bei Origenes) Angelologie und Dämonologie. Die Fischszene findet sich bereits auf einem Fresko der röm. Katakombe der Flavia Domitilla. Im MA. wirkte vor allem der allegorisierend-typol. Kommentar des Beda Venerabilis, der Gedanken Augustins vertieft34. Aus dem Hund wurde im Englischen Toby Dog, eine feste Figur des Puppentheaters35. Das gegen Asmodeus eingesetzte Räuchermittel wurde in Texten wie Testamentum Salomonis (Kap. 5) und später in der Volksmedizin rezipiert36. Im 16. Jh. war das Buch Tobit beliebter Stoff volkstümlicher Theaterstücke37 und im 18. Jh. z. B. für Oratorien (Händel, Haydn). 1
Textausg.n: Hanhart, R.: Tobit. Göttingen 1983; Fitzmyer, J. A.: Tobit. In: Broshi, M. (ed.): Parabiblical Texts 2. Ox. 1995, 1⫺76 (aram. und hebr. Fragmente aus Qumran); Beyer, K.: Die aram. Texte vom Toten Meer. Göttingen 1984, 298⫺300; Ergänzungsband 1⫺2. Göttingen 1994/2004, hier t. 1, 134⫺147, t. 2, 172⫺186; Sabatier, P.: Bibliorum sacrorum Latinae versiones antiquae, seu Vetus Italica 1. (P. 1743) Nachdr. Turnhout 1991, 706⫺743; Gasquet, A. u. a. (edd.): Biblia sacra iuxta Latinam vulgatam versionem. 8: Libri Ezrae, Tobiae, Iudith. Rom 1950, 169⫺209 (Vulgata-Fassung); Lebram, J. C. H.: Tobit. Leiden 1972; Wagner, C. (ed.): Polyglotte Tobit-Synopse. Göttingen 2003 (für G III nicht verläßlich); Weeks, S. (ed.): The Book of Tobit. Texts from the Principal Ancient and Medieval Traditions […]. B./N. Y. 2004. ⫺ 2 Kommentare: Fitzmyer, J. A.: Tobit. B./N. Y. 2003 (grundlegend); Schüngel-Straumann, H.: Tobit. Fbg 2000; Moore, C. A.: Tobit. N. Y. u. a. 1996; Ego, B.: Buch Tobit. Gütersloh 1999; Simpson, D. C.: Tobit. In: Charles, R. H. (ed.): Apocrypha and Pseudepigrapha of the Old Testament in English 1. Ox. 1913, 174⫺241; Studien: Deselaers, P.: Das Buch Tobit. Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1982; Rabenau, M.: Studien zum Buch Tobit. B./N. Y. 1994; Ego, B.: Tobit. In: TRE 33 (2002) 573⫺579. ⫺ 3 Auwers, J.-M.: La Tradition vieille latine du livre de Tobie. In: Xeravits, G./Zsengelle´r, J. (edd.): The Book of Tobit. Text, Tradition, Theology. Leiden/Boston 2005, 1⫺21. ⫺ 4 cf. Skemp, V. T. M.: The Vulgate of Tobit Compared with Other Ancient Witnesses. Atlanta 2000; Adkin, N.: Tobit and Jerome. In: Helmantica 139⫺ 141 (1995) 109⫺114. ⫺ 5 Hanhart, R.: Text und
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Textgeschichte des Buches Tobit. Göttingen 1984; Hallermayer, M.: Text und Überlieferung des Buches Tobit. B./N. Y. 2008; Nicklas, T./Wagner, C.: Thesen zur Textgeschichte des Tobitbuches. In: J. for the Study of Judaism 34 (2003) 141⫺159. ⫺ 6 Fitzmyer (wie not. 2) 18⫺28. ⫺ 7 Beyer (wie not. 1) t. 2, 173. ⫺ 8 Schüngel-Straumann (wie not. 2) 41 (denkt an Antiochien). ⫺ 9 cf. schon Simrock, K.: Der gute Gerhard und die dankbaren Todten. Bonn 1856. ⫺ 10 Plath, M.: Zum Buch Tobit. In: Theol. Studien und Kritiken 74 (1901) 377⫺414; Gunkel, H.: Das Märchen im A. T. (Ffm. 21921) Neuausg. Ffm. 1987, 85 sq., 98⫺101. ⫺ 11 Liljeblad, S.: Die T.geschichte und andere Märchen mit toten Helfern. Diss. Lund 1927; Gerould, G. H.: The Grateful Dead. The History of a Folk Story. (L. 1908) Nachdr. Urbana 2000; Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, 110⫺112. ⫺ 12 EM 3, 309. ⫺ 13 Liljeblad (wie not. 11). ⫺ 14 Zu eindeutig vom Buch „Tobit“ abhängigen mündl. Fassungen ibid., 242 sq.; EM 3, 313⫺ 319. ⫺ 15 Cicero, De divinatione 1,56; Valerius Maximus 1,7, externae 3; Libanius, Narrationes 13; Anthologia Palatina 7,77 (Simonides von Keos). ⫺ 16 Kottsieper, I.: Die Geschichte und die Sprüche des weisen Achiqar. In: Burkard, G./Kottsieper, I./Shirun-Grumach, I. (edd.): Weisheitstexte 2. Gütersloh 1991, 320⫺347. ⫺ 17 cf. Kollmann, B.: Göttliche Offenbarung magisch-pharmakologischer Heilkunst im Buch Tobit. In: Zs. für die alttestamentliche Wiss. 106 (1994) 289⫺299; Frenschkowski, M.: Offenbarung und Epiphanie 2. Tübingen 1997, 41. ⫺ 18 Yassif, E.: The Hebrew Folktale. Bloom./Indianapolis 1999, 65. ⫺ 19 Gunkel (wie not. 10). ⫺ 20 Frenschkowski (wie not. 17) 38⫺45, 80 sq.; Boyce, M.: A History of Zoroastrianism 1⫺3. Leiden/Köln 1975⫺ 91, hier t. 3, 414 sq.; Moulton, J. H.: Early Zoroastrianism. L. 1913 (Nachdr. Amst. 1972), 327, 332⫺ 340. ⫺ 21 Windischmann, F.: Zoroastr. Studien. B. 1863, 138⫺147. ⫺ 22 Frenschkowski (wie not. 17) 43 sq. ⫺ 23 cf. Johnston, S. I.: Restless Dead. Encounters between the Living and the Dead in Ancient Greece. Berk. 1999, 127⫺160. ⫺ 24 Boyce (wie not. 20) t. 1, 303, 314, 330, cf. 163. ⫺ 25 Soll, W. M.: Misfortune and Exile in Tobit. The Juncture of a Fairy Tale Source and Deuteronomic Theology. In: Catholic Biblical Quart. 51 (1989) 209⫺231. ⫺ 26 Ego, B.: Heimat in der Fremde. Zur Konstituierung einer jüd. Identität im Buche Tobit. In: Lichtenberger, H./Oegema, G. S. (edd.): Jüd. Schr. in ihrem antik-jüd. und urchristl. Kontext. Gütersloh 2002, 280⫺293. ⫺ 27 Jansen, H. L.: Die Hochzeitsriten im Tobitbuche. In: Temenos 1 (1965) 142⫺149; Nicklas, T.: Marriage in the Book of Tobit. A Synoptic Approach. In: Xeravits/Zsengelle´r (wie not. 3) 139⫺154. ⫺ 28 cf. Wills, L. M.: The Jewish Novel in the Ancient World. Ithaca/L. 1995, 68⫺92. ⫺ 29 Zum jüd. Nachleben cf. Yassif (wie not. 18) 102⫺106; Schwarzbaum, H.: The Hero Predestined to Die on His Wedding Day (AT 934 B) [1974]. In: id.: Jewish Folklore
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Tochter, Töchter
between East and West. ed. E. Yassif. Beer-Sheva 1989, 143⫺172; cf. auch die Textsammlung Weeks (wie not. 1). ⫺ 30 Gamberoni, J.: Die Auslegung des Buches T. in der griech.-lat. Kirche der Antike und der Christenheit des Westens bis um 1600. Mü. 1969; Weskott, H.: Die Darstellung der T.geschichte in der bildenden Kunst Westeuropas. Diss. München 1974; id.: T. In: LCI 4 (1972) 320⫺326; Bayer, B.: Tobit, Book of. In the Arts. In: Enc. Judaica 20. Detroit u. a. 22007, 13 sq. ⫺ 31 cf. Yassif (wie not. 18) 103 sq. ⫺ 32 Schönbach, A.: Zum T.segen. In: ZfdA 12 (1880) 182⫺191. ⫺ 33 Schnupp, B.: Schutzengel. Genealogie und Theologie einer religiösen Vorstellung vom Tobitbuch bis heute. Tübingen 2004. ⫺ 34 Connolly, S. (ed.): Beda. On Tobit and on The Canticle of Habakkuk. Dublin 1997. ⫺ 35 cf. Speaight, G.: The History of the English Puppet Theatre. L. 21990, 197 u. ö. ⫺ 36 cf. Busch, P.: Das Testament Salomos. Die älteste christl. Dämonologie. B./N. Y. 2006, 42, 117⫺129. ⫺ 37 Wick, A.: T. in der dramatischen Lit. Deutschlands. Diss. Heidelberg 1899.
Hofheim
Marco Frenschkowski
Tochter, Töchter. Die Tochter (T.) als Erzählfigur wird in (oft konfliktbeladener) J Interaktion mit ihren Eltern gezeigt (cf. J Familie). Kommen in einer Erzählung mehrere Töchter vor, so ist jede durch ihr Verhältnis zu einer J Schwester oder Schwestern definiert1. Hier werden daher nur Erzählungen behandelt, in denen es um die Beziehung der T. zu ihren Eltern geht. Im Märchen wird die spezielle Beziehung zu J Vater oder J Mutter durch unterschiedliche Arten, die T. zu bezeichnen, ersichtlich. Verläßt die T. das Elternhaus erst bei ihrer Heirat (J Hochzeit), so trägt die T. keinen J Namen, sondern wird lediglich als ,T. des Bauern‘ oder ,T. des Königs‘ bezeichnet, wobei letzteres sowohl eine Beziehung zum Volk, für das sie an der Spitze der Hierarchie steht, als auch zu J König und Königin, denen sie als T. untergeordnet ist, impliziert. Laut W. F. H. Nicolaisen dienen solche Bezeichnungen dazu, ihren angestammten Platz in der Gesellschaftsordnung anzuzeigen und zu sichern2. Später wird sie das Haus ihrer Herkunftsfamilie verlassen; sie wird heiraten und daher in der Gesellschaft anders definiert werden und von der T. zur Ehefrau avancieren; ihre Identität wird von der offiziellen Bindung an einen Mann bestimmt. Dagegen erhält die T. in Märchen, in
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denen der Vater seiner Vaterrolle nicht gerecht wird und/oder sie das Elternhaus vor der Hochzeit verläßt, einen Namen, der oft herabˆ ne setzend ist, z. B. Aschenputtel oder Peau d’A (AaTh/ATU 510 A⫺B: J Cinderella). Dieser macht den Verlust ihrer früheren Identität für alle Welt erkennbar3; sie ist nicht mehr durch ihren Vater definiert und fällt in den Stand der leiblichen T. zurück, ist nur noch T. ihrer Mutter. Im folgenden wird daher zwischen zwei Hauptkategorien unterschieden: (1) die Vatertochter, die ihre vaterbezogene Identität bis zur Heirat behält, und (2) die Muttertochter, die ihre vaterbezogene Identität vor der Heirat verliert. In der ersten Kategorie stehen eine T. im heiratsfähigen Alter und ihr Vater im Mittelpunkt4. Diese Beziehung gestaltet sich je nach Schichtzugehörigkeit unterschiedlich: Allg. ist das Verhältnis zwischen dem Bauern und seiner T. relativ unkompliziert5, das des Königs und seiner T. dagegen von einem ungleichen Machtverhältnis geprägt. Der König verfügt gewöhnlich über seine T. wie über einen Besitz: Er vergibt die T. als Preis (Mot. T 68.1)6. In den J Drachentöter-Märchen verspricht der König seine T. demjenigen, der sie vor dem Ungeheuer rettet, zum Lohn. In anderen Märchen tauscht er seine T. gegen ein lebensrettendes Heilmittel (AaTh/ATU 305: J Drachenblut als Heilmittel) oder will sie als Lohn für die Beschaffung eines vergessenen Gegenstands (AaTh/ATU 665: J Mann, der wie ein Vogel flog und wie ein Fisch schwamm), ja selbst als Preis für ein gewonnenes Billardspiel vergeben (ital. Var. von AaTh/ATU 313: cf. J Magische Flucht)7. Diese Episoden sind wohl Reminiszenzen daran, daß der Heirat oft ein Abkommen zwischen Vater und Schwiegersohn zugrunde lag, in dem es u. a. um den Erwerb von Gütern ging8. Doch auch wenn Märchen so anfangen, entwickelt sich die Prinzessin oft zu einer unabhängigen Persönlichkeit, und der Widerstand, den sie dem König leistet, wird zentral für die Handlung. Der Generationenkonflikt zwischen dem König und seiner T. erscheint z. B. im Erzähltyp AaTh/ATU 300: The Dragon-Slayer, der damit beginnt, daß eine T. in Gefahr ist, z. B. weil ein Drache sie entführt hat (J Entführung). A. J Dundes faßte solche Unglückssituationen, die oft dem Versagen eines Eltern-
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Tochter, Töchter
teils zugeschrieben werden, als Projektionen der J Gefühle der T. für ihren Vater auf 9. Sie drücken die Spannung zwischen Vater und T. aus. Märchen vom Typ AaTh/ATU 300 gestalten dieses Thema jedoch nicht weiter aus und stellen als erstes die Begegnung der Königstochter mit dem Helden in den Mittelpunkt, bei der sie eine Liebesbindung zu ihrem Retter entwickelt. Die J Liebe findet oft in einer Hilfeleistung Ausdruck (AaTh/ATU 303 A: J Brüder suchen Schwestern), die auch darauf schließen lassen könnte, daß die T. in der Abgeschiedenheit (einer Form der J Reifung) Wissen erworben, z. B. erfahren hat, wie der Unhold getötet werden kann (AaTh/ATU 302: J Herz des Unholds im Ei)10. In komplexeren Erzähltypen wie AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen verschenkt die Prinzessin nach der Tötung des Ogers ein Unterpfand als Zeichen ihrer Gefühle, dessen sie sich später bedient, um die Identität des Helden zu enthüllen und den Betrüger, der ihre Rettung fälschlich für sich beansprucht, zu entlarven. Sie wartet den richtigen Moment ab und wendet sich mit der Aufdeckung der Wahrheit öffentlich gegen die Entscheidung ihres Vaters, der sie bereits dem J Usurpator versprochen hat. Manchmal dauert es Jahre, bis es dazu kommt. So bittet in AaTh/ATU 301 D*: The Princess’ Ring die Prinzessin nach ihrer Rettung den Geliebten darum, ihr einen vergessenen Ring zu holen. Diese Suche erscheint als Versuch der Prinzessin, einen Weg zu finden, dem Vater ihre Liebe zu einem Retter zu offenbaren, der aus dem Bauernstand kommt, während der Usurpator oft ein Edelmann ist. Mit diesem Akt der Enthüllung beweist sie, daß sie kein Besitzstück ist, sondern eine unabhängige Person11. Selbst gegen den Willen ihres Vaters erzwingt die Prinzessin die Heirat mit dem Mann ihrer Wahl (z. B. AaTh/ ATU 665; AaTh/ATU 314: J Goldener) und hilft dem Erwählten, das Königreich zu erringen (AaTh/ATU 725: cf. J Prophezeiung künftiger Hoheit). Der König akzeptiert ihre Entscheidung in den meisten Fällen, aber es kommt auch vor, daß er in seiner Ablehnung so weit geht, sie wie in AaTh/ATU 870: J Prinzessin in der Erdhöhle für die Treue zu ihrem Geliebten in ein unterirdisches Gefängnis zu werfen. Der Konflikt zwischen Vater und T. wird manchmal am Ende wieder aufgegriffen,
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wenn die verstoßene Prinzessin nach vielen Jahren zurückkehrt, um den alten Urteilsspruch ihres Vaters als verlogen zu entlarven (z. B. AaTh/ATU 570 A: J Prinzessin und die magische Fischhaut; cf. auch AaTh/ATU 883 C: The Boys with Extraordinary Names). Die Geschichte kann damit enden, daß die T. dem Vater vergibt. Vergeben kann nur, wer auch Ansehen besitzt, und so ist die vergebende T. dem Vater nicht länger unterworfen. Der Konflikt zwischen Königstochter und König ist daher nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen Vater und T., sondern auch mit herrscherlicher Gewalt in einem weiteren Sinne. In einer Reihe von Märchen dreht sich der Konflikt zwischen Vater und T. darum, daß die junge Frau nicht heiraten will und sich unnahbar gibt. Der König verspricht sie demjenigen, dem es gelingt, sie zu verführen (AaTh/ ATU 854: Der goldene J Bock), sie zum J Lachen zu bringen (AaTh/ATU 559: J Mistkäfer, AaTh 621/ATU 857: J Lausfell erraten), oder er zwingt sie zu einer Ehe, in der sie gezähmt werden soll (AaTh/ATU 900: J König Drosselbart). Die T., so ist zu vermuten, versucht, den Augenblick der Begegnung mit dem anderen Geschlecht und den Abschied von der Sicherheit des Elternhauses hinauszuzögern. Manchmal stellt sie den J Freiern scheinbar unlösbare J Aufgaben wie in AaTh/ATU 851: cf. Rätselprinzessin12, oder sie schenkt ihre Zuneigung einem Verzauberten, der in Tiergestalt erscheint (J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe), was eine Projektion des vom Mädchen empfundenen Ekels darstellen kann13. Märchen mit verzauberten Geliebten bleiben ohne katastrophale Folgen; die Tiergestalt symbolisiert das Bedürfnis, den Eintritt in die Sexualität hinauszuschieben, sowie die Unreife der T. Wenn der Liebhaber nachts menschliche Gestalt annimmt, überwindet die Prinzessin während der mit ihm verbrachten Nächte die Angst vor der Begegnung, aber sie ist nach Meinung B. J Holbeks aus Furcht vor der Reaktion ihres Vaters noch nicht in der Lage, den Prinzen zu erlösen14. In anderen Märchen, so in der nordital. Erzählung vom Krebsprinzen, nimmt die T. schnell komplizierte Aufgaben zur J Erlösung des Geliebten auf sich und zählt auf die bedingungslose Unterstützung ihres Vaters, ohne ihre Absichten zu enthüllen:
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Er muß sie in Begleitung ihrer acht Edelfräulein zu den Klippen des Meeres ziehen lassen, auf denen sie Geige spielen soll15. Die Zeit der geheimen Zusammenkünfte entspricht der Wartezeit der Prinzessin in AaTh/ ATU 300, bevor sie enthüllt, wer den Drachen getötet hat. Die Heiratsverweigerung kann als eine Machtdemonstration aufgefaßt werden, die sich gegen den König richtet und deren tiefere Botschaft lautet: Indem ich nicht heirate, werde ich dich daran hindern, Erben zu bekommen16. Der Kampf um die Ablösung vom Vater und das Eingehen und die Bestätigung einer neuen Bindung, die dabei helfen kann, stehen im Mittelpunkt der Märchen, in denen die Protagonistin eine Vatertochter ist17. In den Märchen der zweiten Kategorie18 wird anfangs von Verstoßung, Erniedrigung oder Gefangenschaft (cf. J Isolation), die in Märchen von Vatertöchtern kaum erwähnt ist, erzählt. Die junge Frau ist von Anbeginn Gegenstand böser Komplotte oder feindlicher Gefühle, über die offen gesprochen wird, anders als zu Beginn des Drachentötertyps AaTh/ATU 300, in dem der Held nicht immer eine Erklärung für die Gefahr, in der die Prinzessin schwebt, bekommt. In AaTh/ATU 310: J Jungfrau im Turm gerät die T. durch ein unwissentliches Versprechen vor ihrer Geburt (J Kind dem Teufel verkauft oder versprochen) in die Gewalt einer Hexe, kehrt aber nicht ins Elternhaus zurück und entwickelt sich losgelöst von ihrem familiären Hintergrund zur Frau. Dasselbe geschieht mit J Schneewittchen (AaTh/ATU 709) oder Aschenputtel (AaTh/ATU 510 A), die in die Hände von J Stiefmüttern fallen, welche sie um ihre Schönheit beneiden und befürchten, von ihnen verdrängt zu werden, und mit anderen Heldinnen, die das Elternhaus aus verschiedenen Gründen verlassen müssen, z. B. wenn das J Mädchen ohne Hände (AaTh/ATU 706) oder Allerleirauh (AaTh/ATU 510 B) Gegenstand der inzestuösen Wünsche des Vaters (J Inzest) sind. In diesen Märchen erlebt die Heldin einen zeitweisen Fall, bis sie durch ihre Heirat wieder einen ihr gebührenden Rang einnimmt. In dieser Zwischenphase trägt sie oft Lumpen oder auch eine J Tierhaut und wird mit Namen wie Rapunzel, Aschenputtel, Catskin ˆ ne genannt, die etwas Naturhafoder Peau d’A tes vermitteln, wodurch sie vorübergehend de-
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finiert wird. Diese Namen bemessen laut Nicolaisen die Tiefe ihres Falls19, symbolisieren aber auch einen Moment der J Initiation, einer Lehrzeit zu ihren eigenen Bedingungen. Sie taucht wieder in einen Naturzustand ein und baut sich durch ein Übergangserlebnis selbst wieder auf, um als Frau erneut in die Kultur einzutreten20. Die Initiation vollzieht sich gewöhnlich durch Hausarbeit. In dieser Zeit hilft ihr der Gedanke an ihre tote Mutter (cf. AaTh/ATU 510 A: Cinderella), die der in der Tradition S. J Freuds stehende Psychologe B. Bettelheim als verinnerlichtes Bild einer präödipalen Zuneigung betrachtet21, während die Stiefmutter die Projektion negativer Gefühle auf die Mutter darstelle. Manchmal steht dem Mädchen auch eine lebende ⫺ gewöhnlich eine positive weibliche ⫺ J Helferfigur bei, aber letztlich nimmt sie ihr Schicksal selbst in die Hand. Die tote Mutter hilft, aber sie setzt auch ein Ziel und schafft ein Verlangen danach, sie zu reproduzieren. Der Moment, in dem Allerleirauh feststellt, daß der Ring der toten Mutter ihr wie angegossen paßt, ist tragisch und gefahrbringend, da der Vater sie von nun an als Kopie ihrer Mutter betrachtet. Es geht darum, eine Mutter zu werden, nicht ,die‘ Mutter: gleich, aber nicht dieselbe. Die Lehrzeit bei einer Person, der gegenüber weder Gefühle noch Verpflichtungen bestehen, symbolisiert die Übergangszeit zwischen Jugend und Erwachsensein, in der die Unabhängigkeit große Bedeutung erlangt, weil sie ein Hauptkriterium des Erwachsenseins ist22. Die feindliche Umgebung, in der die T. ihre Initiation erlebt, erlaubt ihr, ihre eigene Weiblichkeit und ihre Art, Frau und Mutter zu sein, ohne Konfrontation mit der wirklichen Mutter zu akzeptieren. Es ist wohl nicht zufällig, daß die einzigen Geschichten, die von der Initiation einer T. durch die Mutter erzählen, Schwänke sind, die von wahren Katastrophen berichten, z. B. AaTh/ATU 1486*: The Daughter Talks Too Loud: Eine Mutter rät ihrer ledigen T., sich vor den Freiern den Mund halb zuzuhalten; die T. befolgt den Rat, schreit dann aber um so lauter (cf. AaTh/ATU 1451⫺1461, 1463: J Brautproben). Mit solchen Schwänken kontrastiert das J Schweigen vieler Töchter, die durch Leiden und durch Warten auf den richtigen Augenblick, in dem sie sprechen und ihre Identität enthüllen dürfen, einen Ehe-
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Tochter: Die säugende T. ⫺ Tod
mann bekommen (z. B. AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf ). C. J Le´vi-Strauss zufolge ist die Erfindung des Kochens die entscheidende kulturstiftende Maßnahme23. Entsprechend läßt die Volkserzählung den Augenblick, in dem die Heldin die Befähigung zur Haushaltsführung und damit die angemessene soziale Kompetenz erwirbt, mit dem Augenblick zusammenfallen, in dem die T. bereit für die Ehe ist. So ist es in einer nordital. Version von AaTh/ATU 510 A der jungen Frau verboten zu kochen; erst als sie das Verbot übertritt, zeigt sie, daß sie unter den wachsamen Augen ihrer künftigen Schwiegermutter alle Weiblichkeits- und Häuslichkeitsprüfungen bestanden hat24. Ähnlich legt Allerleirauh (AaTh/ATU 510 B), als sie bereit dafür ist, sich zu ihren Begegnungen mit dem Prinzen zu bekennen, dessen Geschenke in das Essen, das sie für ihn kocht.
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131⫺168; Liebs, E.: „Spieglein, Spieglein an der Wand“. Mutter-Mythen, Märchen-Mütter, TöchterMärchen. In: Mütter ⫺ Töchter ⫺ Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Lit. ed. H. Kraft/E. Liebs. Stg./ Weimar 1993, 115⫺147; Krawczyk, U./Früh, S.: Märchen von Müttern und Töchtern. Ffm. 1996; Uther, H.-J.: Die schönsten Märchen von Müttern und Töchtern. Mü. 1999. ⫺ 19 Nicolaisen (wie not. 2) 66; zu schichtspezifischen Fragen cf. auch Panttaja, E.: Going up in the World. Class in Cinderella. In: WF 52 (1993) 85⫺104. ⫺ 20 Girardot, N. J.: Initiation and Meaning in the Tale of Snow White and the Seven Dwarfs. In: JAFL 90 (1977) 274⫺300; cf. auch Lüthi, M.: Es war einmal … Vom Wesen des Volksmärchens. Göttingen 51977, 42⫺53. ⫺ 21 Bettelheim, B.: The Uses of Enchantment. L. 1976, hier 67. ⫺ 22 Bell, R. R./Buerkle, J. V.: The Daughter’s Role during the „Launching Stage“. In: Marriage and Family Living 24,4 (1962) 384⫺388, hier 384. ⫺ 23 Le´vi-Strauss, C.: The Raw and the Cooked. Introduction to a Science of Mythology. L. 1969. ⫺ 24 Perco, D.: Female Initiation in Northern Italian Versions of „Cinderella“. In: WF 52 (1993) 73⫺84, hier 78 sq.
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Zur Darstellung der Figuren des europ. Märchens mit Hilfe der Triade Alter, Geschlecht und gesellschaftlicher Status cf. Köngäs Maranda, E./Maranda, P.: Structural Models in Folklore and Transformational Essays. Den Haag/P. 1971; Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1987, 347 sq., 417⫺434 u. ö. ⫺ 2 Nicolaisen, W. F. H.: Why Tell Stories about Innocent Persecuted Heroines? In: WF 52 (1993) 61⫺71, hier 66. ⫺ 3 ibid. ⫺ 4 cf. Beispiele bei Greinacher, R.: Märchen von Vätern und T. n. Ffm. 1990. ⫺ 5 Holbek (wie not. 1) 421. ⫺ 6 cf. ATU, Reg. s. v. Daughter as prize. ⫺ 7 Imbriani, V.: La novellaja fiorentina. Livorno 1877, 411⫺415. ⫺ 8 Le´vi-Strauss, C.: The Elementary Structures of Kinship. Boston 1969, 115 sq. ⫺ 9 Dundes, A.: Projection in Folklore. A Plea for Psychoanalytic Semiotics. In: Modern Language Notes 91 (1976) 1500⫺1533, hier 1521. ⫺ 10 Scherf, W.: Psychol. Funktion und innerer Aufbau des Zaubermärchens. In: Wehse, R. (ed.): Märchenerzähler ⫺ Erzählgemeinschaft. Kassel 1983, 162⫺164. ⫺ 11 Lundell, T.: Folktale Heroines and the Type and Motif Indexes. In: FL 94 (1983) 240⫺246; Stone, K.: Things Walt Disney never Told Us. In: JAFL 88 (1975) 42⫺50. ⫺ 12 Dorst, D: Neck-Riddle as a Dialogue of Genres. Applying Bakhtin’s Genre Theory. In: JAFL 96 (1983) 413⫺433. ⫺ 13 z. B. Riklin, F.: Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen. Wien/ Lpz. 1908, 40⫺60. ⫺ 14 Holbek (wie not. 1) 424⫺ 426. ⫺ 15 Bernoni, G.: Fiabe popolari veneziane 3. Venedig 1893, 10. ⫺ 16 cf. auch Görög-Karady, V./ Seydou, C.: La Fille difficile. Un conte-type africain. P. 2001. ⫺ 17 cf. Scherf, 367, 662, 701. ⫺ 18 cf. Blanchy, S.: Me`res et filles dans les contes de Mayotte (Comores). In: Görög-Karady, V./Baumgardt, U. (edd.): L’Enfant dans les contes africains. P. 1988,
Edinburgh
Licia Masoni
Tochter: Die säugende T. J Säugen
Tod 1. Allgemeines ⫺ 2. T. als soziales und religiöses Phänomen ⫺ 3. T.esarten und ihre Bewertung ⫺ 4. Personifikationen des T.es und T.essymbolik ⫺ 5. T. im Erzählgut ⫺ 5.1. Der Ursprung des T.es und seine Notwendigkeit ⫺ 5.2. T. als Übergang in ein anderes Dasein ⫺ 5.3. T. und Teufel ⫺ 5.4. Der unsterbliche Märchenheld ⫺ 5.5. Äquivalente des T.es ⫺ 5.6. Der überlistete T. ⫺ 5.7. Vermeintlicher T. ⫺ 5.8. T. von Gegenspielern und Nebenfiguren ⫺ 5.9. Funktionale Aspekte
1 . All ge me in es. T. bezeichnet im biologischen Sinne den Zustand nach dem J Sterben, bei dem die zum Leben notwendigen organischen Funktionen ausgefallen sind. Als sichere T.eszeichen gelten Totenstarre und Totenflekken. Dem natürlichen T. durch J Altern und J Krankheit steht der unnatürliche durch Unfall, J Krieg, J Mord, J Hinrichtung und J Selbstmord gegenüber. Die Grenzen zwischen Leben und T. sind fließend, wie Zwischen- und Ausnahmezustände wie J Schlaf, Trance, Ohnmacht und J Scheintod belegen (cf. J Vision, Visionsliteratur).
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Tod
2 . T. a ls so zi al es un d r el ig iö se s P hä n om en. Obwohl der Mensch ein Bewußtsein seiner Sterblichkeit besitzt, kann er paradoxerweise nur anhand des Schicksals seiner Mitmenschen etwas über den eigenen T. erfahren. Aus der Kontingenz alles Seienden kann er den T. als Teil der Ordnung, in welcher er selbst steht, hinnehmen, mit J Angst1, Gleichgültigkeit oder ekstatischer Hingebung auf ihn reagieren oder ihn ablehnen2. Die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit ist zugleich ein Erkenntnisprozeß der eigenen Individualität3. Die Endlichkeit des Lebens wird ritualisiert oder tabuiert4. Während der T. nichtmenschlicher Lebewesen stets direkt ausgedrückt wird (Tiere verenden, werden geschlachtet oder gefressen; Pflanzen sterben ab, gehen ein etc.), wird das menschliche Sterben im allg. Sprachgebrauch, in Redensarten und T.esanzeigen mit Euphemismen umschrieben (verlassen, hinscheiden, heimgehen, im Herrn entschlafen, die letzte Reise antreten, fallen etc.).5 Als Pendant zur Aufnahme eines Individuums in die menschliche Gemeinschaft ist seine Herauslösung anzusehen (J Begräbnis; J Friedhof). Jede Gesellschaft hat Totenriten6. Die Totenklage (J Klagen) ermöglicht Erinnerung an und J Trauer um den J Toten. Bereits die Bestattungen der Neandertaler gegen Ende des Altpaläolithikums bezeugen die Auseinandersetzung mit dem T. und damit erstmals eine das rein materielle Dasein überschreitende Tätigkeit (J Jägerzeitliche Vorstellungen). Manche Kulturen versuchen durch Sekundärbestattung (cf. J Knochen, Knochenhaufen, Knochentürme), Einbalsamierung, die u. a. bereits im Alten Ägypten praktiziert wurde, oder Kühlung des Leichnams auf den biologischen Prozeß von Verfall und Verwesung Einfluß zu nehmen. Bes. das ZA. der Aufklärung war angesichts der verbreiteten Unsicherheit über verläßliche T.eskennzeichen darum bemüht, eine angemessene Frist zwischen T. und Begräbnis durchzusetzen, um die Gefahr einzudämmen, Lebendige zu begraben7. Volkstümliche Glaubensvorstellungen ließen Brauchhandlungen entstehen, die unmittelbar nach dem Eintritt des T.es vorgenommen werden müssen8. Es bestehen verschiedene Konzepte eines körperlichen, seelischen oder geisterhaften Wei-
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terlebens (J Seele; J Geist, Geister; J Gespenst; J Wiedergänger), von J Wiedergeburt, Auferstehung, J Wiederbelebung, J Unsterblichkeit und J Seelenwanderung. Nach ihnen soll eine den T. überdauernde stofflich oder spirituell gedachte Substanz nach der Auflösung des Körpers eine Weile am J Grab verbleiben, in ein J Jenseits fahren (J Himmel; J Paradies; J Unterwelt; J Hölle; J Fegefeuer etc.)9, in eine neue Lebensform oder in ein Ahnenkollektiv eingehen. Vom Weiterleben nach dem T. wird ein Ausgleich für unbefriedigende irdische Verhältnisse erwartet. Unmittelbar an die Seelenvorstellungen sind die Toten- und Begräbnisrituale der entsprechenden Kultur geknüpft (z. B. behausende Bestattungsformen: Mausoleen, Nekropolen; Ahnenkulte, Opfer, Fürbitten). Diesen liegt der Wunschglaube zugrunde, man könne dem Verstorbenen die Weiterexistenz im Jenseits in ähnlicher Form wie im Diesseits ermöglichen. Zur Sicherung der Reinkarnation eines Toten wurde den oft als Sitz von Lebenskraft und Seele gedachten Körperteilen (J Blut; J Herz; J Haare; Knochen; J Totenkopf) bes. Bedeutung beigemessen. Im Brauch und im Erzählgut begegnen diese Vorstellungen wieder (AaTh/ATU 720: J Totenvogel). Nach christl. Verständnis bildet der T. einen wichtigen heilsgeschichtlichen Einschnitt: Danach ist es dem Menschen nicht mehr möglich, etwas für sein Seelenheil zu tun; er ist ganz auf die Hilfe der Hinterbliebenen angewiesen. Der einzelne muß sich auf seinen eigenen T. einstellen, um sein andersartiges Weiterleben schon zu Lebzeiten derart zu optimieren, daß er J Strafen für diesseitige Schuld bzw. Verfehlungen (J Frevel, Frevler; J Schuld und Sühne) vermeidet. Nur dann kann der Mensch ohne Furcht und gefaßt in den T. gehen und ⫺ wie sog. Jenseits- oder Totenbücher10 belegen ⫺ vor dem Herrscher und Richter der Toten Rechenschaft über sein Tun ablegen11. Christl. Höllenerzählungen warnen vor den Folgen eines sündhaften Lebenswandels (J Seelenwaage; J Sünde; J Tugenden und Laster). Das Individualgericht sofort nach dem T. geht dem bibl. J Jüngsten Gericht voraus. Sieht eine Kultur den T. als endgültig an, macht die Immanenz des T.es im Leben das Leben selbst zur Herausforderung. Der einzelne kann auf sein Weiterleben im Gedächtnis der Nachwelt
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Einfluß nehmen; der T. wird durch die Intensität der Erinnerung kompensiert (Grabinschriften, Gedenktermine, Gedenkstätten; J Vergessen und Erinnern). Im christl. Abendland führte der Wandel von Vorstellungen, Befürchtungen und Werten vom ,zahmen T.‘, den der einzelne als Teil der Ordnung, in welcher er steht, hinnimmt, zu Angst und Ablehnung des T.es als Folge der Individualisierung der europ. Gesellschaft, bes. ihrer Eliten seit dem Hoch- und Spätmittelalter12. Seit Mitte des 20. Jh.s ist der direkte Umgang mit dem T. seltener geworden, da er meist nicht mehr im Kreise der Familie eintritt, sondern sich als technisches Geschehen in Krankenhäusern ereignet und die J Leiche von Bestattungsinstituten übernommen wird13. Vertreter von Berufsgruppen, die mit dem T. zu tun hatten, lebten in sozialer Isolation (J Henker, Scharfrichter; J Schinder14). Ähnlich werden heute Bestattungsunternehmer und Krematoriumsangestellte tabuiert15. 3 . T.e sa rt en un d i hr e B ew er tu ng. Der T. übt gleichmachende Gerechtigkeit aus, eine Eigenschaft, die seit dem MA. im gesamten europ. Raum in Totentänzen16 und in allegorischen Auslegungen des Schachspiels17 bildlichen und dichterischen Ausdruck fand. Demgegenüber spiegelt die Art und Weise, wie man stirbt und bestattet wird, zu allen Zeiten menschliche Hoffnungen, Befürchtungen sowie Kasten- und Klassenunterschiede wider. Es gibt in jeder Gesellschaft den idealen, ,schönen‘ T., wie etwa den schmerzlosen oder raschen T. in hohem Alter und im Vollbesitz aller Kräfte; seit der Antike war es aber auch ein Ideal, als junger Held im Kampf zu fallen und damit unsterblichen Ruhm zu erlangen18. Überhaupt sind Biogr.n von J Helden und J Heiligen durch einen außergewöhnlichen T. ihrer Protagonisten gekennzeichnet. Im frühen Christentum galt der J Märtyrertod als ideale Nachfolge J Christi; heutigen islamistischen Selbstmordattentätern wird der direkte Eingang ins Paradies versprochen19. Als grausame Strafen wurden in Europa bis weit ins 18. Jh. eine Vielzahl verschiedener Hinrichtungsarten praktiziert, z. B. durch Verhungernlassen, J Ertränken, Rädern, Vierteilen, Verbrennen, Lebendigbegraben oder J Einmauern20. Manche von ihnen galten als eh-
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renvoll wie J Enthauptung und Erschießung, andere als bes. schmählich, so der T. am J Galgen. 4 . P er so ni fi ka ti on en de s T.e s u nd T.e ss ym bo li k. In der griech. Mythologie wurde der T. als göttlicher Zwillingsbruder des Schlafs (Hypnos) dargestellt (cf. J Personifikation); beide geflügelt, sind sie höchst ungleiche Söhne der J Nacht (Nyx). Ist der Schlaf ,still und milde‘, so hat der T. (Thanatos) ,ein eisernes Herz‘ und ist selbst den Göttern verhaßt (Hesiod, Theogonie, 756⫺766)21. Aus der antiken Figur des Eros hat sich die liebreiche Gestalt des jünglinghaften T.esgenius mit der nach unten gesenkten Fackel entwickelt (cf. auch J Kerze)22. In der christl. Ikonographie wurde der T. zunächst als Allegorie der Verwesung dargestellt (cf. die ma. Legende Von den drei toten und den drei lebenden Königen)23, etwa seit Ende des 15. Jh.s erscheint er dann als J Skelett. Seine Attribute entstammen dem Jagd(Netz, Seil, Pfeile), sehr oft dem Ackerbauwesen (Sichel, Sense, Axt) oder verweisen auf die Tätigkeit des Totengräbers (Leichentuch, Schaufel; J Sarg)24. Mit der Schnittervorstellung war ein eindrucksvolles Bild für die Unerbittlichkeit, Schnelligkeit und Allgewalt des T.es gewonnen. Das Beieinander eines blühenden Mädchenkörpers und einer der Verwesung anheimgefallenen (männlichen) Gestalt gemahnt an die Vergänglichkeit jugendlicher Schönheit und die unausweichliche Sterblichkeit. Das Stundenglas, mit dem Kronos, später auch der T. oft ausgestattet ist, versinnbildlicht die alles vernichtende J Zeit25. Viele Begriffspaare in der materiellen und in der geistigen Kultur stehen in Korrelation mit dem Gegensatzpaar Leben und T. Nach der kosmischen Polaritätslogik (J Kontrast) korrespondiert der T. mit Nacht und Mond, Sonnenuntergang, dem Welken von Pflanzen, Ebbe, Winter, Kälte und Dunkelheit. Die T.esfarben Weiß und Schwarz stehen mit Vorstellungen von Totenblässe und Verwesung in Verbindung26. Die Welt des T.es ist die Welt der Stille (Friedhofsruhe). Tiere (bes. Rabe, Eule, Kröte), Pflanzen (Rose) und Gegenstände werden aufgrund ihres Aussehens, ihrer Eigenschaften (z. B. Nachttier, chthonisches Wesen, Leichenfresser) oder
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anderer, nicht immer rational nachvollziehbarer Konnotationen und Glaubensvorstellungen dem Bereich des T.es zugeordnet oder sogar als seine Verkörperungen bezeichnet (cf. auch J Sphinx). Häufig ist aber eine Ambivalenz der Sinnbilder festzustellen, die Urgegensätze vereinigt: So ist der Mond seit frühester Zeit auch mit Geburt, Wieder(auf)erstehung, Erneuerung und Unerschöpflichkeit verknüpft. Einerseits können Äußerungen von Lebenskraft und -lust die Macht des T.es brechen (Kuß, Lachen, Tanz, Musik), andererseits sind diese oft auch mit makabren Vorstellungen verbunden, und der T. kann als Liebhaber und Bräutigam27 (cf. Eros-Thanatos; AaTh/ATU 365: J Lenore) oder als Tänzer und Musiker auftreten. Der sexuelle Höhepunkt wird mitunter als T.eserfahrung (,la petite mort‘) bezeichnet, das Thema des T.es im Liebesrausch wird immer wieder variiert (Liebestod; cf. auch Lustmord; AaTh/ATU 311, 312: J Mädchenmörder)28. Auch Entjungferung ist mit dem T. konnotiert. 5 . T. i m E rz äh lg ut. Der menschliche T. ist wie jedes andere Schlüsselereignis (J Geburt, Geburtslegenden; J Initiation; J Hochzeit) von individuellen und kollektiven Phantasien umgeben. In Sagen wird häufig die Allgegenwart und Unüberwindlichkeit des T.es thematisiert. Der T. tritt entsprechend der Bildtradition als Skelett, Schnitter, Spielmann etc. auf, aber auch als große weiße Gestalt oder als kleines Männchen, das immer größer wird29. Für die populäre Vorstellungswelt und die gesamte mündl. Überlieferung ist wichtig, daß der T. aufgrund seines grammatikalischen Geschlechts in den germ. Sprachen als Mann (cf. Sensenmann; cf. AaTh 882 B*/ATU 760 A: J Klapperhannes) erscheint, in rom. und slav. Sprachen als Frau, Tödin30 und u. a. in jüd.31 und islam. Erzählungen (Koran 32,11) als T.esengel. Es lassen sich ⫺ auch in der Sage ⫺ eine ganze Reihe von sexuell-erotischen Erzählvorgängen aufzeigen, die mit der T.esmotivik kombiniert sind, so das Motiv vom T. durch einen J Kuß (Kap. 2. 3.)32. In der Sage endet die erotische Verlockung, die von einem Jenseitigen ausgeht, für Menschen oft tödlich (J Lorelei; J Wassergeister).
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5 . 1 . D er Us pr un g d es T. es un d s ei n e Not we nd ig ke it. Viele Kulturen kennen Ätiologien33 über den Ursprung des T.es (cf. z. B. Gen. 2,7⫺17). Als eine Schlange J Gilgamesch ein J Lebenskraut, das Unsterblichkeit verleiht, entwendet, ist ihr ewiges Leben gegeben, dem Menschen aber das Schicksal des T.es auferlegt. In südafrik. Var.n von ATU 934 H (2): The Origin of Death wird den Tierboten (J Götterbote) die entscheidende Rolle bei der Begründung menschlicher Sterblichkeit zugewiesen: Statt der Nachricht von ihrer Wiederauferstehung bringen sie den Menschen die von der Endgültigkeit des T.es34, oder das langsame Tier mit der Ankündigung eines günstigen Jenseitsschicksals wird vom schnelleren mit der schlechten Botschaft überholt35. Daß der T. von Gott gewollt sei, lehrt die christl. Legende vom mitleidigen T.esengel (cf. AaTh/ATU 759: J Engel und Eremit)36. Die Notwendigkeit des T.es wird in mythischen Erzählungen zahlreicher Völker auf die begrenzte Kapazität der Erde zurückgeführt37. Var.n von AaTh 330, 330 A⫺D/ATU 330: J Schmied und Teufel vermitteln Bilder apokalyptischen Schreckens und sittlicher Entartung als Folge der Ausschaltung des T.es38. Oft schlagen Lebenwollen und Nichtsterbenmüssen in quälendes Lebenmüssen und Nichtsterbenkönnen um, denn Krankheit, Altersschwäche, J Einsamkeit, Langeweile und ewige Wiederkehr des Gleichen machen das Leben für die Unsterblichen zu einer unerträglichen Last, weshalb sie den T. oft als Erlöser herbeibitten39. Gemäß einem alten Sinnspruch ist der T. sicher, die Stunde jedoch ungewiß: Volkstümliche Glaubensvorstellungen setzen sich deshalb mit Vorzeichen und Zeitpunkt des T.es auseinander40 (ATU 934 H [4]: J T.eszeit wissen; AaTh 934⫺934 E/ATU 934, 934 C, D, G, K: J T.esprophezeiungen; AaTh/ATU 332: J Gevatter T. ). In AaTh/ATU 335: J Boten des T.es will der T. dem Menschen durch Krankheit und Alter das schrittweise Näherkommen seines Endes vermitteln. 5 .2 . T. a ls Üb erga ng in ei n a nd er es D as ei n. In Kulturen wie der christl., die die Endgültigkeit des T.es verneinen, können die Lebenden über das Grab hinaus Beziehungen mit den Toten pflegen (cf. AaTh/ATU 470: J Freunde in Leben und T.). An diese Vorstellung
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knüpft der menschliche Wunsch an, schon zu Lebzeiten etwas über das unbekannte Schicksal nach dem T. zu erfahren. Gemäß solchen Vorstellungen wirken die Toten in J Träumen (cf. AaTh/ATU 769: J Tränenkrüglein) oder in der Alltagswelt der Lebenden weiter, in die sie oft gewaltsam einbrechen (cf. AaTh/ATU 365). Dieser Glaubenskomplex wurde u. a. in sagenhaften Erlebnis- und Ereignisberichten41 narrativ ausgestaltet. Dabei repräsentieren weitverbreitete Erzählmotive und Figuren (J Dämon; Geist, Gespenst; Arme Seelen; J Lebender Leichnam; Wiedergänger; J Vampir; cf. AaTh/ATU 505⫺508: J Dankbarer Toter) verschiedene kulturhist. Schichten des Totenglaubens. 5 .3 . T. u nd Te uf el. Die Wesensgleichheit von T. und J Teufel begegnet z. B. im Erzählkomplex AaTh 330, 330 A⫺D/ATU 330, in dem die beiden Widersachergestalten austauschbar sind42. In AaTh/ATU 761: J Reicher Mann als des Teufels Roß wird auf die Vorstellung der apokalyptischen Reiter zurückgegriffen, die T., Sünde und Unterwelt versinnbildlicht43. Jeder plötzliche T., bes. der J Pesttod, wurde im späten MA. mit dem Teufel assoziiert, denn er raffte den Menschen dahin, bevor die Vorbereitung auf T. und Individualgericht angefangen hatte, verweigerte somit auch die tröstliche Gewißheit, die in jedem Memento mori mitschwang, daß nämlich noch Zeit für J Buße und Umkehr sei. Diese Thematik hat sich in der christl. Exempelliteratur niedergeschlagen. Ein assoziativer Zusammenhang zwischen T. und Teufel besteht in den ma. Totentanzdarstellungen, z. B. in der Mischgestalt des ,schwarzen Mannes‘ oder in ,teuflischen‘ J Musikinstrumenten wie Flöte und Trommel. 5 .4 . D er un st er bl ic he Mä rc he nh el d. Bes. im Märchen ist ein optimistisches Weltbild wirksam, das für den Helden den T. ausklammert (J Optimismus). Das glückliche Ende impliziert neben Heirat und Reichtum auch ein langes Leben (J Wunschdichtung). Dies wird auf die fehlende Individualität der Figuren im Märchen zurückgeführt44: Wo Individuen nicht unterschieden sind, verschlingt die Unsterblichkeit der Gattung Mensch die Sterblichkeit des Individuums. Das Leben des
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Märchenhelden ist demnach ein unpersönliches, ewiges Gut, das den Unsterblichkeitswunsch der Menschheit widerspiegelt; Thematisierungen des T.es widersprechen grundsätzlich den metaphysischen Interessen des Zaubermärchens. Prototypische Märchenhelden ohne T.esbewußtsein finden sich in Schwankmärchen wie AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen. In manchen Var.n erfährt der Held jedoch mit dem Erleben des eigenen T.es dessen Schrekken45. Die Protagonisten des Märchens sind sehr häufig von einem ⫺ z. T. grausamen ⫺ T. bedroht46: etwa durch J Aussetzung und Verhungernlassen (J Hunger), Verbrennen, Ersticken, Lebendigbegrabenwerden, J Kannibalismus (J Menschenfleisch riechen), Vergiftung (J Gift) oder Ertränken. Sie geraten aber nur scheinbar in eine ausweglose Situation; der J Tötungsversuch wird von Helfern mittels einer List, eines guten Rates oder eines mirakulösen Eingriffs vereitelt. Wenn sie dem ihnen zugedachten T. doch nicht entgehen, dann werden sie durch magische Heilmittel (J Lebenskraut; J Lebenswasser) wiedererweckt. T.esdrohungen können auf reale Notsituationen verweisen, häufiger aber fungieren sie als erzähltechnisches Element, das Handlung in Gang setzt oder Spannung aufbaut (J Dynamik). Der grausame T. im Märchen entspricht einerseits oft dem märchentypischen Hang zu J Extremen, wenn kleine Delikte wie Übertretung eines Verbots (AaTh/ATU 311) oder nicht bestandene J Freierprobe mit dem T. bestraft werden, andererseits aber auch früherer Rechtspraxis: So wird in AaTh/ATU 927: J Halslöserätsel an hist. Rechtsvorstellungen angeknüpft. 5 .5 . Äqu iv al en te de s T.e s. Obwohl der Held den realen T. nicht (endgültig) erleidet, gibt es im Märchen zahlreiche Metaphern, die einen todesähnlichen Zustand suggerieren. Der T. gehorcht hier einem Stirb- und Werdeprinzip: Wo eine Seinsweise aufhört, fängt eine neue mit reduzierter Lebenskraft an47. In diesen Zusammenhang gehören Aspekte von J Verwandlung, J Verwünschung und J Verkleidung. Die Tatsache, daß in Tiere Verwandelte (J Tierverwandlung) sehr häufig in der Gestalt eines weißen oder schwarzen J Vogels (Schwan, Ente, Taube, Rabe) auftau-
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chen (AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder; AaTh 403 B/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut; AaTh/ATU 720), ist wohl eine Reminiszenz an die animistische Vorstellung vom Seelenvogel. Starrheit und Kälte toter Körper mögen zur T.esvorstellung der J Versteinerung geführt haben. Leben und T. der Protagonisten kann mit Leben und T. eines Tiers, einer Pflanze, eines Objekts oder eines Lichts schicksalhaft verknüpft sein (J Lebenszeichen). Stirbt das Tier, welkt die Blume, erlöscht das Licht, so erfolgt der T. des an das Sympathiewesen gebundenen Menschen (J Erkennungszeichen, Kap. 9). Externe Lebenszeichen können Krankheit oder T. des Helden signalisieren. Ihre Zerstörung kann aber auch den T. des Besitzers bewirken (J External soul). Die Rückkehr ins menschliche Dasein erfolgt oft mittels eines Entzauberungsvorgangs (J Erlösung), der einer grausamen (Selbst-)Vernichtungsprozedur gleicht: etwa durch Erschießen (AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter), Köpfen (AaTh 403 A/ATU 403; AaTh/ATU 708: J Wunderkind ), J Schinden und Verbrennen der abgelegten J Tierhaut. Die Erlösung kann auch die Schädigung unschuldiger Kinder erfordern, da deren Blut wundersame Heilwirkung zugeschrieben wird (J Kinderblut). Die bereits seit der Antike tradierte Identifizierung des T.es mit dem Schlaf nimmt dem T. seinen Stachel. Denn analog zum Schlaf, der nur ein vorübergehender Zustand ist, soll es eine Auferstehung aus dem T. geben. Im Märchen wird der T. als Schlaf aufgefaßt, wenn das Grab als Bett bezeichnet wird: Vom toten Kind in AaTh/ATU 769 heißt es tröstend, daß es in seinem unterirdischen Bettchen schlafe. In einigen Var.n von AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes umschreibt der versteinerte Held die Rückverwandlung in seine menschliche Gestalt als Erwachen aus einem Schlaf 48. Überhaupt ist die formelhafte Wendung: ,Oh, wie lange habe ich geschlafen‘, die ein wieder zum Leben Erweckter spricht, weltweit verbreitet (Mot. E 175)49. J Schneewittchen (AaTh/ ATU 709) liegt im Sarg wie im Schlaf. In AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit ist die Absolutheit des T.es zu einem 100jährigen J Zauberschlaf abgemildert. Da der Märchenheld wesenhaft ein Wandernder50 zwischen zwei Welten ist, unter-
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nimmt er häufig Reisen ins Jenseits, aus dem er unversehrt oder höchstens mit einem J kleinen Verlust zurückkehrt. Erzählungen von J Jenseitswanderungen liegt der Wunsch nach Unsterblichkeit zugrunde. Schon das J Verschwinden im Wald, wo wilde Tiere, Räuber und Menschenfresser leben, wird von der Außenwelt als Äquivalent zum T. empfunden. 5 .6 . D er üb er li st et e T. In mythischen und märchenhaften Erzählungen ergibt der Protagonist sich dem T. nicht widerstandslos, sondern versucht, ihn durch List auszuschalten und die eigene Lebenszeit oder die anderer zu verlängern (Mot. K 551⫺K 579.8). Da das Leben des griech. Sagenhelden J Meleager (AaTh/ATU 1187) zu Ende geht, sobald ein bestimmtes Holzscheit niedergebrannt sei, verbirgt es seine Mutter an einem sicheren Ort. Der angekündigte T. des Admetos (AaTh/ ATU 899: J Alkestis) wird durch die Opferbereitschaft seiner Braut verhindert. Die Trickstergestalt J Sisyphus dagegen hält Thanatos, den personifizierten T., für eine Weile gefangen. Auch hinsichtlich ihrer Überlistung wird die Austauschbarkeit von T. und Teufel augenfällig. Wie im Erzählkomplex AaTh 330, 330 A⫺D/ATU 33051 wird der T. mittels eines sprachlichen Tricks betrogen: Eine alte Frau handelt in AaTh/ATU 1188: J Komm morgen! mit dem T. (Teufel) einen Tag Aufschub aus und kann die Frist aufgrund der Formulierung weiter verlängern. Schließlich versteckt sie sich in einem Honigfaß und dann in einem Federbett. Ihre Erscheinung verschreckt den T. (AaTh/ATU 1091, 1092: J Frau als unbekanntes Tier; cf. AaTh/ATU 1383, 1681: J Teeren und federn). Andere T.geweihte beten ein gewährtes letztes Vaterunser nicht zu Ende (AaTh/ATU 1199: J Gebet ohne Ende), bitten den T., ihnen ein neues Lebenslicht anzuzünden oder das eigene vor dem Auslöschen zu bewahren. Zweimal gelingt es dem Wunderarzt in AaTh/ATU 332, einen T.geweihten zu retten: Der T. wird um seine Beute gebracht, indem der Arzt das Bett umdreht; doch ein drittes Mal läßt sich der T. nicht übertölpeln. In AaTh/ATU 332 C*: Immortality Won through Betrayal of Death hindert der schlaue Himmelspförtner den T. daran, zu Gott vorzudringen, wodurch dieser keine Aufträge mehr erhält. Mitunter befiehlt
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der Himmelspförtner dem T., an Bäumen zu nagen, Baumstümpfe auszureißen und Wälder zu säubern statt sich Menschen vorzunehmen52. Auch eine den T. vertretende weltliche Macht wird ausgetrickst: Der zum T.e Verurteilte bedingt sich von der rechtsprechenden Instanz aus, die J T.esart selbst zu wählen (Mot. P 511), findet dann aber keinen passenden Baum für den Strick (AaTh/ATU 1587: J Baum zum Hängen gesucht) oder wählt den T. aus Altersschwäche (ATU 927 B [1]: Condemned Man Chooses How He Will Die). Das Motiv des überlisteten T.es bewegt sich zwischen schwankhafter Entdämonisierung und Anerkennung seiner Macht. Die Hoffnung, der T. könne dem Leben Tribut zollen oder der Mensch mit ihm paktieren, erweist sich als Illusion; die Erzählungen enden oft mit dem Sieg des T.es, so in AaTh/ATU 470 B: J Land der Unsterblichkeit, in AaTh/ATU 332 oder in jüd. und arab. Erzählungen, in denen ein Mann versucht, den T.esengel zu hintergehen53. 5 .7 . Ver me in tl ic he r T. Um andere zu täuschen (J Täuschung), geben Personen oder Tiere vor, tot zu sein (J Tot: Sich totstellen), oder inszenieren ihren scheinbaren T. (J Romeo und Julia; AaTh/ATU 1556: Die doppelte J Pension). Es ist aber auch möglich, daß eine Person einer anderen einredet, sie sei tot (AaTh/ATU 1406: J Wette der Frauen, wer den Mann am besten narrt). Mitunter unterliegt der Protagonist einer Selbsttäuschung hinsichtlich des eigenen T.es (AaTh/ATU 1313, 1313 A⫺C: J Mann glaubt sich tot). 5 .8 . T. v on Ge ge ns pi el er n u nd Ne b en fi gu re n. Am Schicksal anderer führt das Märchen die Ambivalenz des Lebens vor. Der T. der Mutter im Kindbett ist ein häufiges Thema (cf. AaTh/ATU 510 A: J Cinderella; AaTh/ATU 709). Weil die Eltern oft am Anfang einer Erzählung sterben, muß der Held als Waisen- oder Stiefkind ganz auf sich selbst gestellt und von allen Bindungen befreit seine Abenteuer bestehen. Sterben die Eltern am Schluß der Erzählung, machen sie dem jungen Paar den Weg zur Herrschaft frei54. In jedem zwei- oder dreiteiligen Glücksmärchen steckt ein J Spiegelmärchen, das die
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Abenteuer älterer Geschwister oder anderer Versager beschreibt, die tragisch, oft sogar mit deren T. enden. Auch die Gegenspieler der Helden erleiden ein drastisch-qualvolles Ende. Die Ausschaltung der Schädiger wird häufig durch die T.esstrafe erreicht, die diese mitunter in totaler Verblendung über sich selbst verhängen (J Urteil)55. Die leichtgläubigen, dummen oder eitlen Gegenspieler werden nicht selten zu fataler und närrischer J Imitation eines vorgetäuschten Tuns (J Scheinverletzungen) verleitet, die zu ihrem Untergang führt. 5 .9 . Fun kt io na le As pe kt e. Vor allem die ältere Märchenforschung, namentlich die anthropol. Schule mit Vertretern wie H. Siuts oder H. J Naumann, hat die Märchen in Beziehung zu Totenglauben und -riten der ,primitiven‘ Völker gesetzt56. Nach V. Ja. J Propp57 sollen Initiation und T.esvorstellungen gleichermaßen die Wurzeln des Zaubermärchens sein, war doch der Weg des Initianden ein Weg durch den T. hindurch ins neue Leben. Danach wären nicht nur einzelne Märchenmotive wie Jenseitsreise oder Begegnung mit dem T. aus diesem Kontext heraus zu verstehen; auch die Struktur des Zaubermärchens insgesamt (Aufbruch, Reise, Gefahrenbewältigung durch Helfer, Rückkehr) hätte ihren hist. Ursprung in dem Komplex von Leben und T. und seiner Repräsentation im Initiationsritus. Vor allem die Figur der J Baba Jaga ist in diesem Zusammenhang als T.esdämonin gedeutet worden58. Die Sage gibt dem T.esphänomen viel Gewicht. Sagen, Schwänke und Witze (J Schwarzer Humor) thematisieren nicht nur Sanktionen von Verstößen gegen die Totenehrung; sie entstehen auch als Abwehr- oder Verarbeitungsmechanismen in einem sozialpsychol. zu erklärenden Klima von Unwissenheit und Furcht in bezug auf Sterben und T. In der eher pessimistischen Sage stehen u. a. das Leiden an der Einsamkeit beim Sterben, die sich in der Angst vor dem T. äußert, und die Gefahren, denen die Sterbenden ausgesetzt sind, im Vordergrund. Das große Tabuthema der Moderne, der T., wird vom schwarzen Humor unverblümt profaniert. Auch J Horror- und J Schauergeschichten bedienen sich des Themas.
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1 Wittkowski, J.: Psychologie des T.es. Darmstadt 1990, bes. 76⫺100. ⫺ 2 Stefenelli, N. (ed.): Körper ohne Leben. Begegnung und Umgang mit Toten. Wien 1998. ⫺ 3 Macho, T. H.: T.esmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung. Ffm. 1987, bes. 80⫺ 137. ⫺ 4 Haas, A. M.: T.esbilder im MA. Fakten und Hinweise in der dt. Lit. Darmstadt 1989, bes. 3 sq.; Scherer, G.: Das Problem des T.es in der Philosophie. Darmstadt 21988. ⫺ 5 Röhrich, Redensarten 3, 1764⫺1769, bes. 1766 sq.; Neaman, J. S./Silver, C. G.: Kind Words. A Thesaurus of Euphemisms. N. Y. 1983, 143⫺161; Baum, S.: Plötzlich und unerwartet. T.esanzeigen. Düsseldorf 1980. ⫺ 6 Ranke, K.: Idg. Totenverehrung. 1: Der 30. und 40. Tag im Totenkult der Germanen (FFC 140). Hels. 1951; cf. Kok, H. L.: Thanatos. De geschiedenis van de laatste eer. Heeswijk/Dinther 2005. ⫺ 7 cf. Köhler-Zülch, I.: Erzählungen über den Scheintod. Faktizität und Fiktionalität in medizinischen Fallberichten. In: Folklore als Tatsachenbericht. ed. J. Beyer/R. Hiiemäe. Tartu 2001, 107⫺126. ⫺ 8 Geiger, P.: T. In: HDA 8 (1936⫺37) 970⫺985, hier 979⫺983; Verdier, Y.: Fac¸ons de dire, fac¸ons de faire. [P.] 1979, 101⫺107; Hartinger, W.: Religion und Brauch. Darmstadt 1992, 174⫺189; Sorlin, E´.: Cris de vie, cris de mort (FFC 248). Hels. 1991, 131⫺163, 169⫺175. ⫺ 9 Jung, E. F.: Der Weg ins Jenseits. Mythen vom Leben nach dem T. e. Düsseldorf/Wien 1983. ⫺ 10 Condrau, G.: Der Mensch und sein T. Zürich 1984, bes. 163⫺171; Spencer, A. J.: Death in Ancient Egypt. Harmondsworth/N. Y. 1982; Hornung, E.: Die Nachtfahrt zur Sonne. Eine altägypt. Beschreibung des Jenseits. Zürich/Mü. 1991; Evans-Wentz, W. Y.: Das tibetan. Totenbuch. Olten 151981; Back, D. M.: Eine buddhist. Jenseitsreise. Das sog. Totenbuch der Tibeter aus philol. Sicht. Wiesbaden 1979. ⫺ 11 Lauf, D.-I.: Im Zeichen des großen Übergangs. Archetypische Symbolik des T.es in Mythos und Religion. In: Stephenson, G. (ed.): Leben und T. in den Religionen. Darmstadt 31994, 81⫺100; Schwartländer, J. (ed.): Der Mensch und sein T. Göttingen 1976; Herzog, M. (ed.): Sterben, T. und Jenseitsglaube. Stg. 2001; Weis, G.: Zur Anthropologie des T.es. Konzeptionen außereurop. (Stammes-)Gesellschaften zu Totenkult und Jenseitsglauben. In: Sich, D. (ed.): Sterben und T. Braunschweig u. a. 1986, 217⫺226; Jansen, H. H. (ed.): Der T. in Dichtung, Philosophie und Kunst. Darmstadt 21989. ⫺ 12 Arie`s, P.: Studien zur Geschichte des T.es im Abendland. Mü. 1981; id.: Geschichte des T.es. Mü./ Wien 112005; id.: Bilder zur Geschichte des T.es. Mü./Wien 1984; Daxelmüller, C. (ed.): T. und Gesellschaft. Regensburg 1996; Ohler, N.: Sterben und T. im MA. Düsseldorf 2003. ⫺ 13 Fischer, N.: Geschichte des T.es in der Neuzeit. Erfurt 2001; Körtner, U. H. J.: Der unbewältigte T. Theol. und ethische Überlegungen zum Lebensende in der heutigen Gesellschaft. Passau 1997; Joachim-Meyer, S.: Sinnbilder von Leben und T. Die Verdrängung des T.es in der modernen Gesellschaft. Marburg 2004. ⫺ 14 Schubert, E.: Räuber, Henker, arme Sünder. Ver-
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brechen und Strafe im MA. Darmstadt 2007, bes. 64⫺88. ⫺ 15 Baum, S.: Der verborgene T. Auskünfte über ein Tabu. Ffm. 1976. ⫺ 16 Rosenfeld, H.: Der ma. Totentanz. Köln/Graz 31974; Kaiser, G.: Der tanzende T. Ffm. 1983; Giloy-Hirtz, P.: Ma. Totentanz-Dichtung. In: Jansen (wie not. 11) 123⫺143; Kasten, F. W. (ed.): Totentanz. Kontinuität und Wandel eines Bildthemas vom MA. bis heute. [Mannheim 1988]; Hülsen-Esch, A. von/Westermann-Angerhausen, H.: Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute 1. Köln 2006, bes. 85⫺177; Grijp, L. P./Tamboer, A./Hoek, E. (edd.): De dodendans in de kunsten. Utrecht 1989. ⫺ 17 Rupprich, A.: Die dt. Lit. vom späten MA. bis zum Barock 4,1. Mü. 1970, 301⫺310; Schwob, A.: Schachzabelbücher. In: Verflex. 8 (21992) 589⫺ 592. ⫺ 18 Graf, F.: „Allen Lebewesen gemeinsam“. Geburt und T. in der Antike. In: Fischer, E. P. (ed.): Geburt und T. Mannheim 1999, 205⫺236, bes. 214⫺ 216. ⫺ 19 Khosrokhavar, F.: L’Islamisme et la mort. Le martyre re´volutionnaire en Iran. P. 1995; id.: Les nouveaux Martyrs d’Allah. P. 2002; Seidensticker, T.: Martyrdom in Islam. In: Awra¯q 19 (1998) 63⫺77; Centlivres, P./Centlivres-Dumont, M.: Les Martyrs afghans par le texte et l’image (1978⫺1992). In: Saints et he´ros du Moyen-Orient contemporain. ed. C. Mayeur-Jaouen. P. 2002, 319⫺333; Bozarslan, H.: La Figure du martyr chez les Kurdes. ibid. 335⫺ 347. ⫺ 20 Schubert (wie not. 14) 88⫺120; Leder, K. B.: Die T.esstrafe. Ursprung, Geschichte, Opfer. Mü. 1986. ⫺ 21 Graf (wie not. 18) 208 sq. ⫺ 22 Boehlke, H.-K.: Der Zwillingsbruder des Schlafs. Der verdrängte und angenommene T. In: Jansen (wie not. 11) 337⫺361, hier 343⫺345. ⫺ 23 Rotzler, W.: Die Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten. Winterthur 1961. ⫺ 24 Rosenfeld, H.: T. In: LCI 4 (1972) 327⫺332. ⫺ 25 ibid. ⫺ 26 Röhrich, Redensarten 1712 (weiß); ibid., 1436 (schwarz). ⫺ 27 Lox, H.: Der T. als Liebhaber und Bräutigam in der narrativen und visuellen Ikonographie. In: ead./Früh, S./Schultze, W. (edd.): Mann und Frau im Märchen. Kreuzlingen/Mü. 2002, 264⫺292. ⫺ 28 Praz, M.: Liebe, T. und Teufel. Die schwarze Romantik. Mü. 21981, 151; Macho (wie not. 3) 270⫺284. ⫺ 29 Müller/Röhrich A 1⫺3. ⫺ 30 Krauss, F. S.: Der T. in Sitte, Brauch und Glauben der Südslawen. In: ZfVk. 1 (1891) 148⫺163; Kretzenbacher, L.: Germ. Mythen in der epischen Volksdichtung der Slowenen. Graz 1941, 26; Hanika, J.: Die Tödin. Eine Sagengestalt der Kremnitz-Dt.probener Sprachinsel. In: Bayer. Jb. für Vk. (1954) 171⫺ 184, hier 171⫺175; Kilia´nova´, G.: Märchenrezeption in der Slowakei. In: Bendix, R./Marzolph, U. (edd.): Hören, Lesen, Sehen, Spüren. Märchenrezeption im europ. Vergleich. Baltmannsweiler 2008. ⫺ 31 Kushelevsky, R.: Moses and the Angel of Death. N. Y. u. a. 1995. ⫺ 32 Shenhar, A.: Concerning the Nature of the Motif „Death by a Kiss“. In: Fabula 19 (1978) 62⫺73. ⫺ 33 Dähnhardt, O.: Sagen vom Ursprung des T.es. In: Xenia Nicolaitana. Festschr. zur Feier des vierhundertjährigen Bestehens der Nikolai-
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Tod der Alten
schule in Leipzig. Lpz. 1912, 42⫺58. ⫺ 34 Schmidt, num. 196⫺198. ⫺ 35 Baumann, H.: Schöpfung und Urzeit des Menschen im Mythus der afrik. Völker. B. 1936, 268⫺279. ⫺ 36 Kretzenbacher, L.: Die Legende vom mitleidigen T.esengel. In: Beitr.e zur Südosteuropa-Forschung (1966) 194⫺210. ⫺ 37 Schwarzbaum, H.: The Overcrowded Earth. In: Numen 4 (1957) 59⫺74. ⫺ 38 Vernaleken, T.: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Wien 1859, 92 sq.; ˇ ajkanovic´, V.: Sprske narodne pripovetke. Belgrad C 1927, 109. ⫺ 39 Soupault, R.: Frz. Märchen. MdW 1963, num. 11; Sklarek, E.: Ung. Volksmärchen 1. Lpz. 1901, num. 44; Gaa´l, K./Neweklowsky, G.: Erzählgut der Kroaten im südl. Burgenland. Wien 1983, num. 22; Velder, C.: Märchen aus Thailand. MdW 1968, num. 58. ⫺ 40 Geiger, P.: T.esvorzeichen. In: HDA 8 (1936⫺37) 993⫺1009; id.: sterben. ibid., 436⫺450; Boehm, M.: Sterbender. ibid., 450⫺457; Rudolph, E.: Wenn der Spiegel zerbricht und die Uhr nicht mehr tickt. Volkskundliche Motive aus dem Grenzbereich. Sterben, T., „Zwischenreich“. In: Sich (wie not. 11) 85⫺94; Haiding, K.: Zur T.esbotschaft in steir. Volkssagen. In: Bll. für Heimatkunde 50 (1976) 187⫺191; Polı´vka, J.: Lebenszeichen und Vorzeichen des T.es in Volksdichtung, Brauch und Aberglauben. In: Veˇstnı´k 12 (1881) 26⫺52, 128⫺ 141, 209⫺230. ⫺ 41 Müller/Röhrich. ⫺ 42 Lox, H.: Der personifizierte T. in den Volksmärchen unter bes. Berücksichtigung des Erzählkomplexes ,Schmied und Teufel‘ (AaTh 330). In: Kammerhofer, U. (ed.): T. und Wandel im Märchen. Salzburg 1990, 85⫺106. ⫺ 43 Pitra, J. B. (ed.): Spicilegium Solesmense 2. P. 1855, 92. ⫺ 44 Simmel, G.: Zur Metaphysik des T.es. In: Logos 1,1 (1910) 57⫺70. ⫺ 45 Wolf, J. W.: Dt. Märchen und Sagen. Lpz. 1845, num. 10. ⫺ 46 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 123⫺158; Beier, B.: Der nicht natürliche T. und andere rechtsmedizinische Sachverhalte in den dt. Märchen unter bes. Berücksichtigung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. (Diss. B. 1996) B. 1998. ⫺ 47 Röhrich, L.: Der T. in Sage und Märchen. In: Stephenson (wie not. 11) 165⫺183; id.: „Und wenn sie nicht gestorben sind …“ Geburt und T. in Märchen und Sage. In: Fischer (wie not. 18) 149⫺204; id.: Die T.esauffassung in den Gattungen der Volksdichtung. In: Heindrichs, U. und H.-A./Kammerhofer, U. (edd.): T. und Wandel im Märchen. Regensburg 1991, 57⫺ 78; Rölleke, H.: Der T. in den Märchen der Brüder Grimm. ibid., 79⫺89; Lox, H.: Die T.esgestaltung in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. In: Studia Germanica Gandensia 7 (1986) 7⫺79; Wülfing, I.: Alter und T. in den Grimmschen Märchen und im Kinder- und Jugendbuch. Herzogenrath 1986; Berg, M. van den: De dood en de doden in het Vlaamse sprookje. In: Vk. 91 (1990) 166⫺ 188. ⫺ 48 BP 1, 45. ⫺ 49 Köhler-Zülch, I.: Aspekte der Wiederbelebung in Volkserzählungen. In: Hahn, S. (ed.): „Und der T. wird nicht mehr sein …“ Darmstadt 1997, 19⫺29, hier 19. ⫺ 50 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Tübingen 81985, 29. ⫺
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Perkonig, J. F.: Das Zauberbründl. Das Volk in den Alpen erzählt. Graz/Wien 51949, 200⫺203; Haiding, K.: Österreichs Sagenschatz. Wien 1965, num. 262; Mailly, A.: Niederösterr. Sagen. Lpz. 1926, num. 149; Erde´sz, S./Jenssen, C.: Begegnung der Völker im Märchen. 4: Ungarn-Deutschland. Münster 1971, 139 sq. (dt.). ⫺ 52 Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, num. 69; Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 81; Kerbelyte˙, B.: Litau. Volksmärchen. B. 1978, num. 26. ⫺ 53 Hanauer, J. E.: Folk-Lore of the Holy Land. L. 1907, 176⫺ 181; Noy, D.: Jefet Schwili erzählt. B. 1963, num. 112; El-Shamy, H.: Folktales of Egypt. Chic./L. 1980, num. 17; cf. auch Schwarzbaum, Reg. s. v. Angel of Death; Kushelevsky, R.: Moses and the Angel of Death. N. Y. u. a. 1995. ⫺ 54 Röhrich 1991 (wie not. 46) 68. ⫺ 55 Erler, A.: Sich selbst das Urteil sprechen. In: Oberdt. Zs. für Vk. 17 (1943) 143⫺155; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 149; ShojaeiKawan, C.: Rechtsverwirklichung und Rechtsverdrehung in europ. Volksmärchen. In: Lox, H./Lutkat, S./Kluge, D. (edd.): Dunkle Mächte im Märchen und was sie bannt/Recht und Gerechtigkeit im Märchen. Krummwisch 2007, 168⫺199. ⫺ 56 Lüthi, Märchen, 65⫺67. ⫺ 57 Propp, V.: Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens. Mü./Wien 1987. ⫺ 58 ibid., 81⫺83.
Mariakerke
Harlinda Lox
Tod der Alten (AaTh/ATU 1354), Schwank über das nicht ernstgemeinte Angebot einer Person, anstelle des Protagonisten sterben zu wollen: Eine Frau beteuert, daß sie anstelle ihres todkranken Ehemanns (Tochter, Sohn, Enkel etc.) sterben wolle. Um ihre Aufrichtigkeit zu prüfen, läßt der Mann in der Nacht einen gerupften Hahn (Truthahn, Gans etc.) als angeblichen Todesboten in die Schlafkammer bringen, manchmal auch einen verkleideten Nachbarn kommen, worauf die Frau in Todesangst auf das Bett (Versteck) ihres Gatten zeigt.
Der Schwank wurde in weiten Teilen Europas aus mündl. Überlieferung aufgezeichnet1: in Finnland, Dänemark, Irland, Südeuropa, der Schweiz, Deutschland, Südost- und Osteuropa; er begegnet auch in der älteren jüd. Überlieferung. Vereinzelt ist er ferner in Asien (pers., türk.)2, Afrika (Ägypten, Südafrika) und Amerika (USA) belegt3. Nach A. J Wesselski hat der Schwank wahrscheinlich arab. Ursprung und findet sich erstø adı¯qat al-hø aqı¯qa (Garten der Wahrmals in H heit) des pers. Mystikers Sana¯Åı¯ (gest. 1131)4.
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Tod der Alten
Dort will sich eine alte Frau für ihre kranke Tochter opfern und hält eine in die Küche eingedrungene Kuh für den Todesengel. Seit seiner Anführung in der J Kalila und Dimna-Bearb. Anva¯r-e Soheili (Die Lichter des Soheili) des H ø osein ebn ¤Ali Va¯¤ezø Ka¯sˇefi (15. Jh.; Kap. 8) ist der Schwank Teil der oriental. Überlieferung in den späteren pers. und türk. Fassungen von Kalila und Dimna5 und wurde auch häufig illustriert6. Am Beginn der europ. Tradition stehen Giovanni J Sercambi (ca 1375, num. 10) und Laurentius J Abstemius (Hecatomythion 1494; 1, num. 60); über Lodovico J Guicciardinis Hore di ricreatione (1568, num. 5 [c]) gelangte der Schwank in die frz. und engl. Lit. In Spanien liegt er in einer Sprichwortsammlung von Gonzalo Correas (1627), in Baltasar Gracia´ns El critico´n (1657) und in einer Komödie von Juan de Matos Fragoso (17. Jh.) vor7. Die dt. literar. Rezeption setzte im 16. Jh. mit Burkart J Waldis, Hans Wilhelm J Kirchhof und Martin J Montanus ein8 und reichte bis ins 18. Jh. zu Christian Fürchtegott J Gellert9. Die negative Zeichnung der Frau in europ. Fassungen von AaTh/ATU 1354 steht ganz in der misogynen Tradition der Eheschwänke, was in einer Prügelszene, die gelegentlich am Schluß der Erzählung steht10, und in sprichwortartigen Epimythia, wie z. B. bei Kirchhof, Montanus oder Waldis, zum Ausdruck kommt11. Bis auf das gleichbleibende Kernmotiv der entlarvten Heuchelei (Mot. K 2065) erscheinen sowohl die literar. als auch die mündl. Belege von AaTh/ATU 1354 vielfach variiert und ausgeschmückt: So können anstelle des Ehepaars andere Protagonisten auftreten, z. B. Mutter und Sohn12, Großmutter und Enkel13 oder Schwiegermutter und -sohn14. Die Rolle des Todesboten kann von anderen Tieren übernommen werden, so von einer Gans15, einer Eule16 oder einer Katze mit Blechdosen an den Pfoten17. Um sein Äußeres noch furchtbarer erscheinen zu lassen, wird dem gerupften Hahn manchmal eine brennende Kerze auf den Kopf gestellt18, oder er wird mit Teer bestrichen19. Eine kroat. Var. kommt ohne die Treueprobe aus: Der kranke J Hodscha Nasreddin bittet seine um ihn weinende Frau, sich prachtvoll zu kleiden und zu schmücken. Als sie seine Bitte aufgrund der traurigen Umstände nicht erfüllen will, erklärt er ihr, der
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Todesengel würde sie schön gekleidet an seiner Statt mitnehmen; daraufhin hört die Frau auf zu weinen20. In der span. Var. von Gracia´n ruft der Mann den T. für seine Frau ⫺ wohl, um sie loszuwerden21. Gelegentlich erscheint der personifizierte T. auch tatsächlich22. Mitunter wollen die Protagonisten aus einem beschwerlichen Leben erlöst werden; angesichts des T.es schrecken sie jedoch vor ihrer Entscheidung zurück23. In diesem Punkt berührt sich der Erzähltyp mit AaTh/ATU 845: Der J Alte und der T. In einer nordamerik. Var. dieses Erzähltyps (Baughman J 2017.0.1.1) verweist der Alte den vermeintlichen T. zudem an seine Frau24. Parallelen zu AaTh/ATU 1354 weist auch AaTh/ATU 899: J Alkestis auf. Hier fordert der T. das Leben eines jungen Mannes, falls sich nicht ein anderer für ihn opfere. Angesichts der furchtbaren Gestalt des T.es nehmen seine Eltern erschrocken Abstand, erst durch die Opferbereitschaft der Braut des jungen Mannes läßt sich der T. von der Forderung abbringen. 1 Texte (Ausw.): Kristensen, E. T.: Danske Skjæmtesagn. Aarhus 1900, num. 42; Be´aloideas 8,1 (1938) num. 16; Espinosa, A. M.: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 2. Madrid 1988, num. 294; Revista de etnografia 5 (1965) 209⫺213 (span.); Meier, H./ Woll, D.: Port. Märchen. MdW 1975, 219 sq., 270 sq.; Wossidlo, R.: Aus dem Lande Fritz Reuters. Lpz. 1910, 96 sq.; Rink, J.: Tattedi. Danzig 1924, 11 sq.; Dietz, J.: Lachende Heimat. Schwänke und Schnurren aus dem Bonner Land. Bonn 1951, num. 36; Narodna umjetnost 11⫺12 (1975) 67, 129 (kroat.); Kabasˇnikau˘, K. P.: Kazki i legendy rodnaga kraju. Minsk 1960, num. 77. ⫺ 2 Christensen, A.: Pers. Märchen. Düsseldorf 1958, num. 32; Giese, F.: Türk. Märchen. MdW 1925, num. 61. ⫺ 3 Parsons, E. C.: Folk-Lore of the Sea Islands, South Carolina. Cambr., Mass. 1923, num. 46; Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y Nuevo Me´jico 1. Stanford [1957], num. 68. ⫺ 4 Wesselski, A.: Das Geschenk der Lebensjahre. In: Archiv orienta´lnı´ 10 (1938) 79⫺114, hier 109 sq.; Kuka, M. N.: Wit, Humour and Fancy of Persia. Bombay 21937, 125 sq. ⫺ 5 Christensen (wie not. 2); Hertel, J.: Ind. Märchen. MdW 1953, num. 86; Giese (wie not. 2); Chauvin 2, 124, num. 119. ⫺ 6 cf. Grube, E. J.: Prolegomena for a Corpus Publ. of Illustrated „Kalı¯lah wa Dimnah“ Mss. In: Islamic Art 4 (1990⫺91) 301⫺493, hier 446 (C. 29). ⫺ 7 Chevalier, M.: Cuentos folklo´ricos en la Espan˜a del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 119. ⫺ 8 Waldis, B.: Esopus 1. ed. Heinrich Kurz. Leipzig 1862, Buch 2, num. 86; Montanus/Bolte, num. 41; Kirchhof, Wendunmuth 1, num. 350; Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 112; EM-Archiv:
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Tod des Guten und des Bösen ⫺ Tod des Hühnchens
Joco-Seria (1631) num. 28; Fröliche Cur (1701) 60 sq.; Conlin, Narrn-Welt 1 (1706) 270; ibid. 3 (1708) 291 sq.; Wolgemuth, Haupt-Pillen 2 (1669) num. 92; Hilarius Salustius, Weeg-Gefärth (1717) 165 sq. ⫺ 9 Gellert, C. F.: Fabeln und Erzählungen. ed. S. Scheibe. Tübingen 1966, 122 sq. ⫺ 10 Kirchhof, Wendunmuth 1, num. 350. ⫺ 11 cf. EM-Archiv: Conlin, Narrn-Welt 3 (1708) 291 sq. (Ausnahme: junger Mann heuchelt, statt alter Frau sterben zu wollen). ⫺ 12 Rausmaa, SK 6, num. 10; Lorenzo Ve´lez, A.: Cuentos anticlericales de tradicio´n oral. Valladolid 1997, 86 sq. ⫺ 13 Karadzˇic´, V. S.: Srpske narodne pripovetke. Belgrad 41937, num. 67; Vrcˇevic´, V.: Srpske narodne pripovijetke [1]⫺2. Belgrad 1868/Dubrovnik 1882, t. 1, num. 154; t. 2, 99. ⫺ 14 Stroescu, num. 4777. ⫺ 15 Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 229; Krzyz˙anowski; SUS; Kabasˇnikau˘ (wie not. 1). ⫺ 16 Stroescu, num. 4777; BFP. ⫺ 17 Gasˇparı´kova´, num. 245. ⫺ 18 EM-Archiv: Conlin, Narrn-Welt 1 (1706) 270; ibid. 3 (1708) 291 sq.; Fröliche Cur (1701) 60 sq. ⫺ 19 Rausmaa, SK 6, num. 10. ⫺ 20 Hodscha Nasreddin 2, num. 448; El-Shamy, Folk Traditions, K 2065.2§. ⫺ 21 Chevalier (wie not. 7). ⫺ 22 z. B. Waldis (wie not. 8); EM-Archiv: Joco-Seria (1631) num. 28; Hilarius Salustius, Weeg-Gefärth (1717) 165 sq.; Gellert (wie not. 9). ⫺ 23 z. B. Narodna umjetnost (wie not. 1); Karadzˇic´ (wie not. 13); Kabasˇnikau˘ und Rink (wie not. 1); Neumann, S.: Plattdt. Schwänke. Rostock 1968, num. 274; Wossidlo (wie not. 1). ⫺ 24 z. B. Parsons und Rael (wie not. 3).
Graz
Bernd Steinbauer
Tod des Guten und des Bösen J Teufel und Engel kämpfen um die Seele
Tod des Hühnchens (AaTh/ATU 2021, 2022), Ketten- bzw. Häufungsmärchen, in denen es in scherzhaft überzeichnender Form um T. und Sterben eines Tiers geht. AaTh/ATU 2021: The Rooster and the Hen hat folgende Normalform: Hühnchen und Hähnchen (J Hahn, Huhn) scharren nach Nüssen und wollen sich daran satt essen. Diese Idylle wird jedoch zerstört, als das Huhn die Beute für sich behalten will. Dem gierigen Huhn (Katze [anderes Tier], junge Frau) bleibt ein Nußkern (Kirschkern, Bohne, Erbse, Hirsekorn) im Hals stecken. Als es daran zu ersticken droht, läuft der Hahn zu einem Brunnen (Hölle), um Wasser (Feuer) zu holen, der aber verlangt als Gegengabe rote Seide von einer Braut. Diese wiederum schickt den Hahn nach einem Kranz, der in einem Baum hängengeblieben ist etc. Weiter bittet der Hahn mehrere Tiere
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(Schwein, Kuh), Menschen (Müller, Bäcker, Schuster) und Gegenstände (Fluß, Baum) um Hilfe. Erst als ein Glied in der Kette das Verlangte ohne Gegengabe hergibt, gelingt es dem Hahn, an das benötigte Wasser zu kommen. Inzwischen ist das Huhn jedoch gestorben.
AaTh/ATU 2021 ist in den meisten regionalen Typenkatalogen mit nur spärlichen Belegreihen vertreten. Die Nachweise aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s stammen hauptsächlich aus Europa. Vereinzelt ist AaTh/ATU 2021 auch im vorderasiat. Raum, in Indien und in Südafrika aufgezeichnet worden. Der finn. Erzählforscher M. J Haavio hat in seiner der geogr.-hist. Methode verpflichteten Diss. über Kettenmärchen1 u. a. anhand der vorkommenden rituellen Handlungen und Gegenstände über eine zeitlich weiter zurückliegende Herkunft dieser Erzählungen spekuliert und Indien als Ursprungsland angenommen. A. J Wesselski2 dagegen bestritt ein hohes Alter und betrachtete das Märchen als eine Erfindung von Clemens J Brentano. Tatsächlich stellt dessen im Anh. zum 3. Band von Des Knaben Wunderhorn (1808) abgedruckte Versund Prosafassung Erschreckliche Geschichte vom Hühnchen und Hähnchen3 die Hauptvorlage für den als KHM 80: Von dem T.e des Hühnchens veröff. Text dar, der ⫺ bis auf den von W. J Grimm mit Motiven aus der Fabel Von einer Bonen des Burkart J Waldis (Esopus [1548] 3, 97) neugestalteten Schlußteil ⫺ viele wörtliche Übereinstimmungen aufweist. L. J Bechstein hat das Kettenmärchen 1845 ebenfalls in seine Slg aufgenommen und führte zum Schluß einen Fuchs ein, der die Tiere samt Leichenwagen verschlingt und daran zugrunde geht4. Obwohl AaTh/ATU 2021 in der weitverbreiteten Kleinen Ausg. der KHM (1825 u. ö.; num. 49) vertreten ist, hat der Erzähltyp kaum nachgewirkt. Der Schlußteil von AaTh/ATU 2021 kann variieren. Der Hahn begräbt die Henne allein und stirbt aus Trauer. Manche Fassungen haben auch die von Brentano eingeführte Ätiologie des Wetterhahns als Ende beibehalten5. Öfter gelingt dem Hahn aber auch die Rettungsaktion, und er findet sich glücklich wiedervereint mit seiner Partnerin. Häufig fehlt die einleitende Kette der Bittgesuche, wenn geschildert wird, daß der Hahn seine Frau aus Neid getötet hat und sie auf einem
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Tod des Hühnchens
mit Mäusen bespannten Wagen zu Grabe fahren will. Durch Kombination mit einzelnen Zügen aus dem Zyklus der J Tiere auf Wanderschaft (cf. AaTh/ATU 210) ergibt sich dann eine Fortsetzung: Die Wandergesellschaft kehrt in einer eingefügten Zwischenszene für die Nacht in ein Räuberhaus ein, wo sie ihre Schlafstätte gegen die heimkehrenden Räuber sichert und das Huhn erst begraben wird, nachdem sich die Tiere dort häuslich eingerichtet haben6. Unterwegs steigen alle Tiere, die dem Hahn zufällig begegnen (u. a. Bär, Wolf, Fuchs), oft auch Gegenstände (Ei, Nähund Stecknadel), ein und nehmen an dem Leichenzug des Huhns teil. Als sich schließlich ein Floh (Fliege, Maus) dazusetzt, bricht der Wagen beim Überqueren eines Sumpfes unter dem Gewicht ein. Alle mitfahrenden Tiere bis auf den Hahn kommen um. In einigen Var.n aus der mündl. Überlieferung gelingt allerdings die Rettungsaktion mit dem Wasser7, oder die Henne erhält durch das Zusammenbrechen des Leichenwagens einen Stoß, so daß ihr die Nuß aus dem Hals fährt. In AaTh/ATU 2021 B: The Rooster Strikes Out the Hen’s Eye with a Nut löst nicht der T. des Tieres, sondern dessen zufällige Verletzung die Handlung aus: Ein Hahn bringt dem Huhn mit einer Haselnuß eine Augenverletzung bei. Sie gehen vor Gericht. Der Hahn hat das Huhn geschlagen, weil die Zweige des Haselnußstrauchs ihm seine Hosen zerrissen haben. Der Strauch wendet sich dann gegen die Ziege, weil diese ihm alles Laub abgefressen habe. Die Ziege weist den Hirten als Schuldigen aus, weil er ihr nicht genug zu fressen gegeben habe; der Hirte wirft seiner Herrin vor, ihm nicht genug zu essen gegeben zu haben, weil die Hündin den Sauerteig gefressen habe etc.
Für AaTh/ATU 2021 B liegt der Überlieferungsschwerpunkt in Osteuropa, es sind aber auch türk. und iran. Fassungen bekannt. Aufgrund gemeinsamer Motive und Strukturelemente (Frage-/Antwort-Spiel zwischen Menschen, Gegenständen, Pflanzen und Tieren) ist AaTh/ATU 2021 B nur schwer von AaTh/ ATU 2032, 2033: J Heilung des Hähnchens zu unterscheiden. Eine weite internat. Verbreitung läßt sich für die Erzähltypen AaTh/ATU 2022: The Death of the Little Hen und AaTh/ATU 2022 B: The Broken Egg feststellen. Sie unterscheiden sich bes. in der Eingangssequenz:
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In AaTh/ATU 2022 leben zwei kleine Tiere (Laus und Floh [andere Insekten], Mäuse, Ratten, Hahn und Huhn; Mutter und Kind) in einem gemeinsamen Haushalt. Als eines (das Kind) beim Suppekochen (Breikochen, Bierbrauen) in die heiße Flüssigkeit fällt und ertrinkt (verbrennt), fängt das andere (die Mutter) zu klagen und zu weinen an und zerschlägt als Zeichen seiner großen Trauer den Topf. In AaTh/ATU 2022 B zerbricht ein unscheinbares Tier (Maus) das goldene Ei einer alten Frau. Über diesen Verlust betrübt, stimmt sie eine Trauerklage an.
Danach werden beide Erzählungen im wesentlichen ähnlich fortgesetzt: Nach und nach bekunden verschiedene Gegenstände (Stuhl, Zaun, Fenster, Tür, Besen, Wagen, Misthaufen, Baum, Brunnen), Tiere (Vogel, Hirsch) und auch Menschen (Küchenmagd, Hausfrau, Hausherr, Königin, König, Pope) auf verschiedene Weise ihr Beileid. So fällt der Zaun um, zerbricht das Fenster, knarrt die Tür, kehrt der Besen, rennt der Wagen, raucht der Misthaufen etc. Durch ein unerwartetes Ereignis findet die Totenoder Trauerklage ein abruptes Ende. So zeigt etwa der Fluß seine Trauer, indem er über die Ufer tritt, und führt den Untergang aller herbei. Die Kette kann auch durch ein verheerendes Feuer oder ein alles verschlingendes Raubtier beendet werden.
AaTh/ATU 2022 ist in ganz Europa bekannt, findet sich im vorderasiat. Raum und ist vereinzelt im mexikan., kapverd. und im ind. sowie im franko-, anglo- und hispanoamerik. Erzählgut belegt8. Für den Trauerzug von Tieren unter Anführung des Hahns gibt es ein frühes literar. Zeugnis in der ersten Branche ([1179] 398⫺473) des J Roman de Renart. Bei dem gemeinsamen Haushalt kann es sich auch um eine Ehe zwischen Tieren handeln, z. B. Schmetterling und Maus (span.)9 oder Ratte und Fliege (ind.)10. Manchmal ergeben sich Kombinationen mit AaTh/ATU 85: J Maus, Vogel und Bratwurst11. Das gemeinsame Brauen von Bier in Eierschalen in der Eingangssequenz von KHM 30, AaTh/ATU 2019*: J Laus und Floh stammt aus dem Überlieferungskontext der in ganz Europa verbreiteten J Wechselbalgsage12. Eine eigene Entwicklung zeigen frz. Fassungen, in denen die Beileidsbezeugungen mit grotesken Wortschöpfungen geschildert werden, etwa: Der Tisch ,enttischt‘ sich, das Bett ,entbettet‘ sich, und die Tür ,enttürt‘ sich13. In einigen Var.n stimmen Königin und König in die Totenklage ein: Die Königin legt ihren schwarzen Schleier
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Tod des Hühnchens
an, der König zerschmettert seine Pfeife (Krone) und zieht auch seine Hose aus14. AaTh/ATU 2022 B ist vor allem in Ost- und Südeuropa aufgezeichnet worden. Es fällt auf, daß die Beileidsbezeugungen hier zu einer Selbstschädigung führen oder den T. aller Beteiligten bewirken. Das letzte Glied in der Kette stößt sich eine Sense in die Brust15, erschießt sich16 oder zündet ein Feuer an, das alles vernichtet17. Auch geistliche Amtsträger (z. B. Küster, Pope) lassen sich von dem verrückten Trauerzug mitreißen: Der Pope steckt seine Kirche an oder zerreißt die heiligen Bücher18. Oft setzt der letzte Handlungsträger den absurden Vorgängen ein Ende, indem er den letzten Trauernden verprügelt19 oder die Leute auf ihr törichtes Verhalten aufmerksam macht20. Die tadschik. Überlieferung kennt AaTh/ATU 2022 B als Trickstergeschichte21: Um den Zaren aus dem Weg zu räumen, bringen zwei Gauner ihn mittels der Trauerkette dazu, sich selbst zu töten. Var.n, die in der Eingangssequenz um eine Brautwerbungskette erweitert wurden, sind als eigenständiger Erzähltyp AaTh/ATU 2023: Little Ant Marries klassifiziert worden. Die Geschichte ist sehr weitläufig verbreitet, bes. auf der Iber. Halbinsel und in Lateinamerika. Auch in der jüd. Überlieferung und in Erzähltexten des islam.-arab. Raums ist der Erzähltyp aufgezeichnet worden: Mehrere Tiere machen der Ameise einen Heiratsantrag, indem sie furchteinflößende Laute ausstoßen. Wegen deren leiser Stimme wählt sie die Maus (Küchenschabe), die dann auf die bekannte Weise den T. findet.
Gemeinsam sind hier allen Erzähltypen über den bevorstehenden oder tatsächlichen T. höchst unterschiedlich motivierte, manchmal bis ins Groteske überzeichnete, kettenartig verknüpfte Ereignisse mit oft katastrophalen Folgen, die in keinem Verhältnis zu dem eher geringen Anlaß stehen. An diesen Ereignissen sind Tiere und Menschen, leblose Gegenstände sowie Naturphänomene beteiligt, die märchencharakteristisch nicht nur über die Gabe der Sprache verfügen, sondern auch aus einer Art von J Allverbundenheit heraus Gefühle nachvollziehen und entsprechend handeln können (J Gegenstände handeln und sprechen). Die variable und scheinbar endlos ausdehnbare Reihe endet meistens abrupt und sehr
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wirkungsvoll: Ein Ereignis führt in drastischer Steigerung entweder den Untergang aller herbei, oder ein Handlungsträger bringt mit manchmal patriarchalischer Autorität die Dinge wieder ins Lot. Die auf ein kindliches Zuhörer- oder Leserpublikum abgestimmten Erzähltypen weisen aufgrund ihrer kurzen, dialogreichen und oft auch reimenden Struktur, mit ausgesprochener Freude an Sprachspielereien, der Wiederholung von narrativen Elementen als Gedächtnisübung, der Zufälligkeit der Reihung von Ereignissen als bewußte Absurditäten und der Verwendung von Diminutiva bei den agierenden Tieren und Gegenständen starke Bezüge zur J Kinderfolklore auf 22. 1 Haavio, M.: Kettenmärchenstudien1⫺2 (FFC 88, 99). Hels. 1929/32. ⫺ 2 Wesselski, A.: Das Märlein vom T.e des Hühnchens und andere Kettenmärchen. In: HessBllfVk. 32 (1933) 1⫺51. ⫺ 3 BP 2, 146⫺149; Uther, H.-J.: Märchen vor Grimm. MdW 1990, 181⫺183; cf. id.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 184 sq. ⫺ 4 Bechstein, L.: Märchenbuch. ed. H.-J. Uther. MDW 1997, 148⫺150. ⫺ 5 cf. u. a. Fox, N.: Volksmärchen aus der Westmark. Saarlautern 81943, 102 sq. ⫺ 6 Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 15; Brendle, T. R./Troxell, W. S.: Pennsylvania German Folktales. Norristown, Pa 1944, 36⫺38; Birlinger, A.: Nimm mich mit! Fbg 1871, 232⫺234; Haltrich, J.: Zur Vk. der Siebenbürger Sachsen. ed. J. Wolff. Wien 1885, num. 14. ⫺ 7 Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 25; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 1961, num. 4; Poortinga, Y.: It fleanend skip. Baarn/Ljouwert 1977, num. 65 (fries.); Spiegel, K.: Märchen aus Bayern. Würzburg 1914, num. 14; Liungman, W.: Weißbär am See. Kassel 1965, 158 sq. (schwed.). ⫺ 8 z. B. Cosquin, num. 18; Frobenius, L.: Volksmärchen der Kabylen 1. Jena 1923, num. 47; JAFL 44 (1931) num. 151 (frankokanad.); Dardy, L.: Anthologie populaire de l’Albret 2. Agen 1891, num. 54; Millien, A./ Delarue, P.: Contes du Nivernais et du Morvan. P. 1953, num. 28; Carrie`re, J. M.: Tales from the French Folk-Lore of Missouri. Evanston/Chic. 1937, num. 72. ⫺ 9 Espinosa 1, num. 274. ⫺ 10 Beck, B. E. F./Claus, P. J./Goswami, P./Handoo, J.: Folktales of India. Chic./L. 1987, num. 99. ⫺ 11 cf. Amades, num. 239⫺241; Anderson, W.: Novelline popolari sammarinesi 3. Tartu 1933, num. 70; Benzel, U.: Sudetendt. Volkserzählungen. Marburg 1962, num. 145. ⫺ 12 Wildhaber, R.: Der Altersvers des Wechselbalges und die übrigen Altersverse (FFC 235). Hels. 1985, bes. 15 sq. ⫺ 13 cf. Dardy (wie not. 8); Blade´, J.-F.: Contes populaires de la Gascogne 3. P. 1886, num. 6 (1). ⫺ 14 cf. Camaj, M./Schier-Oberdorffer, U.: Alban. Märchen. MdW 1974, num. 77 (Pfeife); Crane, T. F.: Italian Popular Tales. Boston/
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Tod durch Schrecken
N. Y. 1885, 375⫺376 (Krone); Espinosa 1, num. 274 (Hose). ⫺ 15 Hüllen, G.: Märchen der europ. Völker 7. Münster 1968, 109⫺112 (ung.). ⫺ 16 Kerbelyte˙, B.: Litau. Volksmärchen. B. 1978, num. 138. ⫺ 17 Sirova´tka, O.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1980, num. 43. ⫺ 18 Kabasˇnikau, K. P.: Kazki i legendy rodnaga kraju. Minsk 1960, num. 47 (Kirche); Ramanau˘, E. R.: Belaruskija narodnyja kazki. Minsk 1962, num. 13 (Kirche); Afanas’ev 1, num. 71 (Bücher). ⫺ 19 Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. B. 31966, num. 64. ⫺ 20 Scheu, H./Kurschat, A.: Pasakos apie pauksˇcˇius. Heidelberg 1913, num. 34. ⫺ 21 ˇ Sakryl, K. S.: Abchazskie narodnye skazki. M. 1975, num. 53. ⫺ 22 cf. EM 3, 1410 sq.; cf. Uther 2008 (wie not. 2) 80.
Mariakerke
Harlinda Lox
Tod durch Schrecken (AaTh/ATU 1676 B), Warnsage aus dem Bereich der Totensagen1; sie wird mit dem Anspruch erzählt, daß sie sich so tatsächlich ereignet habe. Ein Mann (Soldat, Mädchen) behauptet, vor nichts Angst zu haben, und will sich zum Beweis einer J Mutprobe unterziehen. Er soll in der Nacht auf den J Friedhof gehen und einen Stock (Messer, Spindel, Seitengewehr etc.) auf ein bestimmtes J Grab stekken (Kreuz oder Blume vom Grab holen, Nagel einschlagen, Grabwache halten, Leiche ausgraben). Bei der Ausführung des Vorhabens klemmt er, ohne es zu merken, ein Kleidungsstück ein und stirbt vor Schreck (J Furcht, Furchtlosigkeit), da er denkt, er werde von dem Toten (Teufel, Vampir) festgehalten (kommt mit dem Schrecken davon).
Diese Sage, die vielfach bei abendlichen Zusammenkünften junger Leute in Wirtshaus und Spinnstube2 erzählt wurde, weist eine dichte gesamteurop. Verbreitung auf und hat ihren Weg auch nach Nord- und Mittelamerika, Nord- und Südafrika sowie nach Japan gefunden3. Die Mehrzahl der Aufzeichnungen aus mündl. Überlieferung stammt aus dem 20. Jh. Das früheste Zeugnis ist das 1845 in fries. Mundart verfaßte Gedicht De Bezemsteel von Maarten Douwes Teenstrat. Die im fries. Oostermeer lokalisierte Erzählung ist dort bis Ende des 20. Jh.s lebendig geblieben4. Die älteste Aufzeichnung aus mündl. Überlieferung stammt aus Kroatien und führt in das Jahr 1867 zurück5. Für die Annahme, daß es sich um einen jüngeren, in Europa entstandenen Sagentyp handelt, spricht auch die geringe
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Variationsbreite der europ. und der in Übersee aufgezeichneten Var.n. Signifikante Abweichungen von der Normalform sind selten. In einer schweiz. Version wird berichtet, daß eine junge Witwe sich kurz nach dem T. ihres Mannes mit allen Männern eingelassen habe und daher in den Verdacht geriet, ihren Mann nicht geliebt zu haben. Zum Beweis des Gegenteils entzündet sie auf dem Grab ihres Mannes eine Kerze, fühlt sich am Rock gezogen und stirbt6. Hier handelt es sich also nicht um eine freiwillige Mutprobe, sondern um einen von der Dorfgemeinschaft erzwungenen Liebesbeweis7. In einer Aufzeichnung aus Hildesheim besteht die Mutprobe eines Mädchens darin, auf dem Kirchturm dreimal die Glocke anzuschlagen. Auf dem Rückweg erblickt es einen großen schwarzen Hund, wirft die Tür hinter sich zu und schlägt sich die Ferse des linken Fußes ab (J Fersenklemmen)8. Eine Seitenform der Erzählung, die in zwei Belegen aus Mecklenburg vorliegt, handelt von einem Prahlhans, der nachts auf dem Friedhof die Toten herbeirufen (einen Knochen stehlen) will. Ein Lebender (Betrunkener) antwortet, und der Ruhestörer erschreckt sich zu T.e (wird wahnsinnig) (cf. AaTh/ATU 1676 C: Voices from the Graveyard )9. Wer sich der Mutprobe auf dem Friedhof unterzieht, stirbt nicht durch Eingreifen der Toten, sondern wird Opfer der eigenen Furcht vor Gespenstern. Überheblichkeit wird bestraft und die Unantastbarkeit des Friedhofs bestätigt. Auch dies belegt die Zugehörigkeit der Erzählung zu einer jüngeren, durch J Rationalisierung gekennzeichneten Sagenschicht, in der die ältere Vorstellung von gefährlichen Toten ad absurdum geführt wird. Die Erzählung vom festgenagelten Kleiderzipfel als geglaubte Sage lebt bis zur Gegenwart in Europa und Nordamerika weiter10. Müller/Röhrich O 5. ⫺ 2 Henkhaus, U.: Das Treibhaus der Unsittlichkeit. Lieder, Bilder und Geschichte(n) aus der hess. Spinnstube. Marburg 1991, 72⫺ 90, 94 sq., 111⫺122. ⫺ 3 Ergänzend zu ATU: Smolej, V.: Nesrecˇna nocˇna pot zaradi stave. Slovenske variante k AT 1676 B (Tragischer Nachtgang infolge einer Wette. Slov. Var.n zu AT 1676 B). In: Traditiones 5⫺6 (1976⫺77) 329⫺333; Brednich, R. W.: Hutterische Volkserzählungen. In: Deutschkanad. Jb. 6 (1981) 199⫺224, hier 217, num. 6; Pelen, J.-N.: Le 1
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Todesart wählen
Conte populaire en Ce´vennes. P. 1994, num. 191. ⫺ 4 Kooi, J. van der: Volksverhalen uit Friesland. Utrecht/Antw. 1979, 89⫺92. ⫺ 5 Stojanovic´, M.: Pucˇke pripoviedke i pjesme. Zagreb 1867, num. 42. ⫺ 6 Waibel, M.: Die Sage vom festgenagelten Kleiderzipfel. In: Wir Walser 34,1 (1996) 43⫺59; BrunoldBigler, U.: Hungerschlaf und Schlangensuppe. Hist. Alltag in alpinen Sagen. Bern u. a. 1997, num. 64. ⫺ 7 ibid.,173. ⫺ 8 Seifart, K.: Sagen, Märchen, Schwänke und Gebräuche aus Stadt und Stift Hildesheim. Hildesheim 21889, num. 103. ⫺ 9 Müller/ Röhrich O 6. ⫺ 10 Brunvand, J. H.: Courses! Broiled Again! The Hottest Urban Legends Going. N. Y./L. 1989, 79⫺81; id.: Enc. of Urban Legends. St. Barbara u. a. 2001, 177 sq.; Burrison, J. A.: Storytellers. Folktales and Legends from the South. Athens/L. 1989, 215 sq., 249; Brednich, R. W.: Die Spinne in der Yucca-Palme. Mü. 1990, num. 97; Fischer, H.: Der Rattenhund. Sagen der Gegenwart. Köln/Bonn 1991, num. 4; cf. auch Schneider, I.: Traditionelle Erzählstoffe und Erzählmotive in Contemporary Legends. In: Homo narrans. Festschr. S. Neumann. Münster u. a. 1999, 167, 170 (finn., ital.).
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Todesart wählen (Mot. P 511). Die Idee, daß zum Tode Verurteilte vor die Wahl gestellt werden, wie sie sterben wollen (cf. J Hinrichtung; J Gnade, letzte), ist in internat. J Rechtsvorstellungen nur vereinzelt anzutreffen. Einer Reihe griech. Belege zufolge wurden Delinquenten in der Antike zur Selbsttötung (J Selbstmord) verurteilt, wobei ihnen die Wahl der T. überlassen blieb1. Dieses Verfahren begegnet auch im ,liberum mortis arbitrium‘ der röm. Kaiserzeit2. Am bekanntesten ist der Fall J Senecas, der noch in der ma. Lit. große Aufmerksamkeit gefunden hat3. Dem hist. zuverlässigen Bericht des J Tacitus (Annales 15, 60) zufolge mußte sich Seneca auf Befehl des Kaisers Nero wegen angeblicher Beteiligung an einer Verschwörung auf selbstgewählte Weise das Leben nehmen: Er verblutete mit geöffneten Adern in einer Wanne mit warmem Wasser (ATU 927 B [2]: Condemned Man Chooses How He Will Die)4. In spätma. lat. und volkssprachlichen Exempla5 dient die Geschichte von Senecas Selbstmord zur Warnung vor der Übertretung des fünften Gebots. In der Antike offenbar als eine Form der Strafmilderung angesehen, erwies sich das Verfahren, wo es ansonsten zum Tragen kam, als grausam, da die Wahl auf bes. barbarische T.en
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eingeschränkt wurde. So fand J. J Grimm im altfries. Recht eine Bestimmung, die besagt, daß ein der J Sodomie Überführter die Wahl zwischen Selbstentmannung, Lebendigbegrabenwerden und Feuertod hatte6. Nach der Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA (1976) durfte im Bundesstaat Utah der Delinquent unter verschiedenen Hinrichtungsarten wählen. Der erste Straftäter, den dies betraf, G. Gilmore, wählte den Tod durch Erschießen7. In der europ. Volksüberlieferung hat das Motiv von der Wahl der T. nur begrenzten Widerhall gefunden. Die Wahl wird dabei z. T. zur listigen Befreiung genutzt und die Hinrichtung letztlich nicht vollzogen. In einer Var. der um 1200 einsetzenden Erzähltradition von J Salomon und Markolf wird berichtet, daß der Schelm Markolf von einem heidnischen König zum Tode verurteilt wird und als T. das Erhängen wählt. Als letzte Gnade wird ihm das dreimalige Blasen eines J Horns gewährt (Mot. J 1181), mit dem er Hilfstruppen zu seiner Befreiung herbeiruft8. In ndl.-ndd. Versionen der Ballade Heer Halewijn (cf. AaTh/ATU 311, 312: J Mädchenmörder) bezaubert Halewijn durch seinen Gesang eine Königstochter. Beim Ausritt mit ihm sieht die Entführte ihre gehenkten Vorgängerinnen (J Galgen). Vor die Wahl gestellt, wie sie selbst sterben wolle (Strick, Wasser oder Schwert), entscheidet sie sich für die J Enthauptung als ehrenvollsten Tod, schlägt dann aber dem Mädchenmörder mit dem Schwert den Kopf ab9. Auch in AaTh/ATU 1587: J Baum zum Hängen gesucht spielt das Motiv der trickreichen Selbstrettung eine zentrale Rolle. Ein anderer Schwanktypus, zuerst von Johann Peter J Hebel in seinem Schatzkästlein (1811) überliefert, erzählt von einem Verbrecher aus Leidenschaft, dem die Wahl der T. gewährt wird. Er entscheidet sich für den Tod aus Altersschwäche (ATU 927 B [1])10. Auch von Kion, dem Hofnarren des J Alten Fritz, wird dies erzählt11. Vor allem aber ist das Motiv im Märchen beheimatet, in dem es am Schluß häufig zur Bestrafung der Gegenspieler kommt. Dabei wird dem Verbrecher sein Vergehen mit den Worten vorgelegt: ,Was verdient einer, der dies oder das getan hat?‘, worauf er in seiner Verblendung unwissentlich sein eigenes J Urteil
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Todesboten ⫺ Todesprophezeiungen
fällt (Mot. Q 581; J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung)12. M. J Lüthi hat aufgrund dieses Zugs das Märchen als Gattung aufgefaßt, die trotz mancher Züge aus dem realen Leben keine realistische, sondern eine symbolische sei und „den Glauben und die Hoffnung hat, daß das Böse an sich selber zugrunde gehe“13. Bemerkenswert erscheint, daß in der dt.sprachigen Märchenüberlieferung die Befragten vielfach den Tod in einem J Nagelfaß (Mot. Q 467.1) wählen, nach L. J Röhrich ein „Höhepunkt der Grausamkeit“ im Märchen14. In manchen Märchentexten malen die Schuldigen andere grausige T.en detailliert aus, so in einer Aufzeichnung von J. R. J Bünker aus Kärnten, in welcher der Übeltäter in Stücke geschnitten oder von alten langsam gehenden Pferden zerrissen werden soll15. In anderen Fällen heißt es lapidar, daß an dem Verbrecher die selbst bestimmte Strafe vollzogen wurde16. Gelegentlich taucht das Motiv von der Wahl der T. auch im politischen Witz auf. In Osteuropa kursierte in den 1970er Jahren der Ratschlag an zum Tode Verurteilte, sie sollten den elektrischen Stuhl wählen, weil in den sozialistischen Ländern der Strom oft ausfällt und für diesen Fall eine Begnadigung vorgesehen ist17. 1 Hirzel, R.: Der Selbstmord. (s. l. 1908) Nachdr. Darmstadt 1966, 33. ⫺ 2 ibid., 34. ⫺ 3 Stackelberg, J. von: Senecas Tod und andere Rezeptionsfolgen in den rom. Lit.en der frühen Neuzeit. Tübingen 1992, 4 sq. ⫺ 4 Abel, K.: Seneca. In: Lex. der Alten Welt 3. Mü./Zürich 1990, 2777⫺2779, hier 2777; Maurach, G.: Seneca. Leben und Werk. Darmstadt 1991, 45; von Stackelberg (wie not. 3) 3 sq. ⫺ 5 Tubach, num. 4225, 4226; Dömötör, num. 244 (1); Banks, M. M. (ed.): An Alphabet of Tales 1. L. 1904, num. 224; Schmitt, M.: Der große Seelentrost. (Diss. Münster 1958) Köln/Graz 1959, 179 sq., num. 13. ⫺ 6 Grimm, Rechtsalterthümer 2, 344. ⫺ 7 Mailer, N.: The Executioner’s Song. L. 1979. ⫺ 8 Wesselski, MMA, num. 8. ⫺ 9 DVldr 2, num. 41; Holz, F.: Die Mädchenräuberballade. Diss. Heidelberg 1929, 77. ⫺ 10 Hebel, J. P.: Schatzkästlein des rhein. Hausfreundes. ed. W. Theiß. Stg. 1981, 259 sq.; cf. Rusterholz, P.: Faktoren der Sinnkonstitution literar. Texte in semiotischer Sicht. Am Beispiel von Hebels Kalendergeschichte: „Die leichteste Todesstrafe“. In: Spinner, K. H. (ed.): Zeichen, Text, Sinn. Göttingen 1977, 78⫺124. ⫺ 11 Henßen, G.: Volk erzählt. Münsterländ. Sagen, Märchen und Schwänke. Münster 1935, num. 216. ⫺ 12 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 148; Shojaei Kawan, C.: Rechtsverwirklichung und Rechtsver-
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drehung im europ. Volksmärchen. In: Lox, H./Lutkat, S./Kluge, D. (edd.): Dunkle Mächte im Märchen und was sie bannt/Recht und Gerechtigkeit im Märchen. Krummwisch 2007, 168⫺199, hier 172⫺ 174, 198 sq. ⫺ 13 Lüthi, M.: So leben sie noch heute. Betrachtungen zum Volksmärchen. Göttingen 1969, 121. ⫺ 14 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 144. ⫺ 15 Zaunert, P.: Dt. Märchen aus dem Donauland. MdW 1958, 137. ⫺ 16 Haltrich, J.: Dt. Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. Mü. 61956, 82. ⫺ 17 Mündl. Ungarn 1972 (Slg R. W. Brednich, Göttingen).
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Todesboten J Boten des Todes Todesprophezeiungen (AaTh 934⫺934 E/ ATU 934, 934 C, D, G, K), Erzählungen, in denen die Unausweichlichkeit des J Schicksals bzw. des Todes thematisiert, seltener auch in Frage gestellt wird. Sie zählen zum umfangreichen Komplex der J Schicksalserzählungen. Die wichtigsten Erzähltypen mit T. hat R. W. J Brednich untersucht1. Sie sind einander in Aufbau und Motivbestand sehr ähnlich. Einem neugeborenen Kind wird vorausgesagt, daß es bei Erreichen eines bestimmten Lebensalters (bei der Hochzeit) eines unnatürlichen Todes durch Naturgewalten (Blitz, Sturm, fallender Baum), Unfall (Ertrinken, Unachtsamkeit), Tiere (Wolf, Pferd, Schlange) oder durch irdische Gerichtsbarkeit sterben werde. Als die Eltern dies erfahren, versuchen sie, das Kind zu schützen, indem sie es isolieren (Turm, Insel, unterirdisches Gewölbe) oder von dem todbringenden Gegenstand oder Tier fernhalten. Das Schicksal läßt sich jedoch meist nicht abwenden.
Es lassen sich zwei Strukturmodelle unterscheiden: Im ersten Fall tritt der Schicksalsspruch trotz aller Versuche, ihn zu vereiteln, ein. Hier wird die im Volksglauben verwurzelte Annahme von der Autorität der Schicksalskünder und der Unvermeidlichkeit des Schicksals thematisiert. Im zweiten Fall gelingt es dem J Schicksalskind oder seinen Helfern, den prophezeiten Tod abzuwenden; hierzu gehören vor allem Sagen, die eine christl. Umdeutung erfahren haben. Sie signalisieren die Kraft des christl. Glaubens und demonstrieren die Machtlosigkeit der Schicksalskünder sowie die Verwerflichkeit des Aberglaubens. T. sind bereits aus der Antike bekannt, so aus den Sagen von J Meleager (AaTh/ATU
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Todesprophezeiungen
1187; cf. J Nornagest) und von J Alkestis (AaTh/ATU 899)2. Als Schicksalskünder fungieren in älterer Überlieferung in der Regel Götter oder deren Beauftragte (J Schicksalsfrauen); sie sind in späteren populären Erzähltraditionen häufig durch entdämonisierte Gestalten ersetzt worden. In der Sage wurde sogar dem Reformator J Luther die Fähigkeit zugeschrieben, seinen Gegnern den Tod zu prophezeien3. AaTh/ATU 934: The Prince and the Storm ist die wohl verbreitetste Sage mit T. Hier wird einem neugeborenen Jungen geweissagt, er werde durch einen Blitz erschlagen. Der Erzähltyp ist im dt. Sprachraum weit verbreitet und seit dem 16. Jh. nachweisbar. In Osteuropa ist die Sage ebenfalls gut dokumentiert. Sie weist zwei Verbreitungszentren, im Norden (litau., lett., estn.) und im Süden (serb., kroat., slov.), auf. Aufzeichnungen aus dazwischenliegenden Gebieten deuten auf eine Verbindung zwischen den beiden Verbreitungszentren hin. Ein neuerer Beleg stammt aus Ecuador4. Für AaTh 934 A*/ATU 934: Youth to Drown at a Certain Age ist die meist exakt angegebene Todesstunde des Schicksalskindes spezifisch. Es ertrinkt häufig in einem als ungefährlich angesehenen Gefäß, Gewässer oder in einem Tropfen Wasser, den ein Vogel fallen läßt5. AaTh 934 A*/ATU 934 war ursprünglich wahrscheinlich im südslav. Gebiet beheimatet und ist in ganz Osteuropa verbreitet. Die Form mit dem tragischen Schluß dominiert. In einer von Bulgarien bis Finnland verbreiteten Gruppe von Sagen wird der Tod in einem Brunnen geweissagt: Der Brunnen wird verschlossen; das Kind stirbt dennoch zum angegebenen Zeitpunkt6. AaTh 934 A*/ATU 934 ist oft mit ATU 934 K: „The Time Has Come but Not the Man“ verbunden. In ATU 934 K ertönt eine Stimme aus einem Gewässer und ruft einen Mann herbei, der ertrinkt. Die beiden Erzählungen repräsentieren zwei verschiedene Glaubensvorstellungen, den germ. Volksglauben vom Wassergeist, dem ein Opfer zusteht, und den osteurop. von den Schicksalsfrauen. Aufgrund des gemeinsamen Motivs des Ertrinkens sind sie ⫺ obwohl ursprünglich selbständig ⫺ zu einer Sage verschmolzen worden. Auch wenn T. in ATU 934 K teilweise nicht artikuliert sind, läßt sich dieser in ganz Europa verbreitete
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Sagentyp mit R. J Wildhaber ebenfalls als Schicksalserzählung bezeichnen7. In anderen T. wird geweissagt, das Schicksalskind solle durch ein Tier umkommen, so in AaTh 934 B*/ATU 934: The Man Destined for the Jaws of a Wolf. Der Erzähltyp berührt sich mit AaTh 934 B/ATU 934: The Youth to Die on his Wedding Day8. Während sich der Protagonist in AaTh 934 B/ATU 934 meist retten kann (cf. AaTh/ATU 899), ist dies dem Schicksalskind in AaTh 934 B*/ATU 934 nicht möglich: Es findet den Tod durch den in einen Gegenstand oder einen Menschen verwandelten Wolf 9. In asiat. Überlieferung tritt der Tiger an die Stelle des Wolfs. In osteurop. Var.n teilt der Wolfshirt (J Herr der Tiere) den Wölfen ihre Beute zu, darunter auch den Zuhörer auf dem Baum10. Weniger verbreitet sind Prophezeiungen vom Tod durch Schlangenbiß (Mot. M 341. 2.21). Die Var.n divergieren stark: Das Schicksalskind wird isoliert, aber versehentlich bringt man ihm eine Schlange mit11; der Protagonist verletzt sich selbst tödlich, als er die Schlange sieht und sie erschlagen will12; die Schlange kann sich dem Schicksalskind in anderer Gestalt (Hölzchen) nähern13; das Schicksalskind zeigt sich von der Weissagung unbeeindruckt und wird verschont14. Schlangenbiß-Var.n sind in Südosteuropa verbreitet, ferner liegt eine Fassung in einer arab. Slg von Heiligenerzählungen des 14. Jh.s vor15. Mitunter sind die in den T. genannten Tiere nicht unmittelbar für den Tod des Protagonisten verantwortlich: Die Nestorchronik (1110⫺ 16) enthält die Sage von Oleg, dem prophezeit wird, er werde durch ein Pferd sterben. Zum Verhängnis wird ihm jedoch eine Schlange, die im Schädel des toten Pferds verborgen ist. Die Sage wurde auch in der altnord. Orvar OddSaga (13. Jh.) aufgegriffen und ist aus der engl. mündl. Überlieferung bekannt. A. J Taylor zufolge geht sie auf osteurop. Überlieferung zurück16. Daneben liegen auch Erzählungen vor, in denen der Protagonist durch einen in einer Tierstatue verborgenen Skorpion, die Statue oder das Bildnis des Tiers etc. zu Tode kommt (Mot. M 341.2.10)17. Sagen, die die prophezeite Todesstrafe durch Erhängen (Mot. M 341.1.3.1) thematisieren, sind aus der osteurop., der dt. und der span. Überlieferung aufgezeichnet worden. In eini-
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Todesprophezeiungen
gen Erzählungen entgeht das Schicksalskind dem prophezeiten Tod am Galgen, weil es lernt, im Namen Gottes zu handeln18. Mitunter erfüllt sich das vorausgesagte Unheil nur scheinbar, wenn die Urteilsvollstreckung fingiert wird19. Im Gegensatz hierzu wiegt sich der Protagonist in AaTh 934 A1/ATU 934: Three-fold Death in Sicherheit, weil er die Prophezeiung, er werde auf drei verschiedene Arten den Tod finden, für unsinnig hält. Sie geht jedoch in Erfüllung20. AaTh 934 A1/ATU 934 ist bereits in Adamnans Vita Columbae (spätes 7. Jh.) bezeugt. Die Erzählung ist in Europa weit verbreitet (cf. J Merlin), ein Beleg stammt auch aus Persien21. Zu den T. gehört ferner der vor allem im dt. Sprachgebiet, aber auch in Südosteuropa aufgezeichnete Erzähltyp AaTh/ATU 671 D*: To Die Next Day: Ein Bauer hört, wie seine Haustiere ihm in der Christ- (Neujahrs-, Oster-) Nacht prophezeien, daß er am nächsten Tag sterben werde. So geschieht es. Um T. im weiteren Sinne handelt es sich bei AaTh/ATU 934 D: Nothing Happens without God. In diesem in Europa vereinzelt nachgewiesenen Erzähltyp wird dem Protagonisten am Beispiel von Neugeborenen, die bereits ein Zeichen tragen, das ihr Schicksal erkennen läßt, die Unausweichlichkeit göttlicher Vorsehung demonstriert. Im Gegensatz hierzu erweist sich der Tod von Kindern in AaTh/ATU 934 C: Death Forestalls Evil Fates als Möglichkeit, dem vorherbestimmten Schicksal zu entgehen. Die Sage weist Parallelen zu der Erzählung vom Geistergottesdienst bei J Gregor von Tours (6. Jh.) auf. Sie ist in ganz Europa weit verbreitet und wurde in der jüd. und arab. Überlieferung aus Nordafrika und Vorderasien aufgezeichnet. Im Kontrast zu den bisher erwähnten T. steht AaTh 934 E*/ATU 934 G: The False Prophecy. Der Schicksalskünder (J Astrologe), der einem Fürsten den Tod am nächsten Tag, sich selbst aber ein langes Leben weissagt, wird von dem Fürsten getötet. Auf diese Weise stellt der Fürst die Prophezeiung als solche in Frage. Die frühesten Belege dieser Erzählung finden sich in der antiken Lit. bei Hekataios von Abdera (4. Jh. a. Chr. n.) und in der Streitschrift Contra Apionem des J Josephus
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Flavius, hier geht es allerdings um einen Vogel, dessen Verhalten prophetische Eigenschaften beigemessen werden22. Eine Fassung mit einem menschlichen Seher findet sich zuerst in der arab. Lit. des 10. Jh.s23. Die älteste bekannte europ. Fassung erscheint im 13. Jh. in den Sermones feriales et communes des J Jacques de Vitry24, aus dem 17. Jh. liegen Var.n in dt. Schwankbüchern vor25. AaTh 934 E*/ATU 934 G ist in der mündl. Überlieferung des 18./19. Jh.s aus dem Irak, Indien und Afghanistan aufgezeichnet worden, vereinzelte Belege stammen aus Europa. In der europ. Exempelliteratur kommt das Motiv der T. häufig vor, aber keiner der zahlreichen Texte26 hat in die mündl. Erzähltradition Eingang gefunden. In modernen Volkserzählungen finden sich Belege für Erzählungen mit T. nur noch selten27. 1 Brednich, R. W.: Volkserzählungen und Volksglaube von den Schicksalsfrauen (FFC 193). Hels. 1964, 78⫺148. ⫺ 2 cf. auch Marzolph/van Leeuwen 1, 340 sq., num. 18. ⫺ 3 Brückner, 303. ⫺ 4 CarvalhoNeto, P.: Cuentos folklo´ricos del Ecuador. Quito 1966, num. 51. ⫺ 5 Brednich (wie not. 1) 94⫺99; z. B. Jauhiainen A 711; Sˇmits, P.: Latviesˇu tautas teikas un pasakas 1⫺15. Riga 1962⫺70, hier t. 10, 470, num. 10; ibid., 13, 313 sq., num. 16; Laographia 13/ 14 (1950/52) 282 (griech.). ⫺ 6 Brednich (wie not. 1) 105⫺114; Sˇmits (wie not. 5) t. 10, 470, num. 11; ibid., 13, 312 sq., num. 12, 14, 15; Karasek-Langer, A./ Strzygowski, E.: Sagen der Deutschen in Galizien. Plauen 1932, num. 259; Hadzˇi-Vasiljevic´, J.: Juzˇna stara Srbija. Belgrad 1909, 340, num. 3; Radloff, W.: Proben der Volkslitteratur der türk. Stämme 10. SPb. 1904, num. 21 (gagaus.). ⫺ 7 Wildhaber, R.: „Die Stunde ist da, aber der Mensch nicht“. In: Rhein. Jb. für Vk. 9 (1958) 65⫺88, hier 88. ⫺ 8 cf. Schwarzbaum, H.: Jewish Folklore between East and West. ed. E. Yassif. Beer-Sheva 1989, 143⫺ 172. ⫺ 9 Brednich (wie not. 1) 84⫺87; z. B. Dawkins, R. M.: Forty-five Stories from the Dodekanese. Cambr. 1950, 286 sq. ⫺ 10 Brednich (wie not. 1) 90 sq.; Kerbelyte˙, B.: Litau. Märchen. B. 1978, num. 81; Karlinger, F./Mykytiuk, B.: Legendenmärchen aus Europa. Düsseldorf 1967, num. 65 (poln.); Vildomec, V.: Poln. Sagen. B. 1979, num. 256. ⫺ 11 Brednich (wie not. 1) 91 sq. ⫺ 12 ibid., 91; Cepenkov, M.: Makedonski narodni prikazni 2. Skopje 1959, num. 51. ⫺ 13 Brednich (wie not. 1) 92; Sˇmits (wie not. 5) t. 13, 313, num. 13; Henderson, W.: Notes on the Folk-lore of the Northern Counties of England and the Borders. L. 1866, num. 11. ⫺ 14 Brednich (wie not. 1) 92 sq.; Be´aloideas 21 (1951/ 52) num. 37, 88⫺90. ⫺ 15 Basset 2, 328, num. 77. ⫺ 16 Taylor, A.: The Death of Orvar Oddr. In: Modern
Todesstrafe ⫺ Todeszeit wissen
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Philology 19 (1921⫺22) 93⫺106. ⫺ 17 Pauli/Bolte, num. 827; Kirchhof, Wendunmuth 7, num. 186; Dömötör, num. 175, 259; Schwarzbaum (wie not. 8) 152 sq.; Brednich (wie not. 1) 83 sq. ⫺ 18 ibid., 120⫺ 124; Rochholz, E. L.: Schweizersagen aus dem Aargau 1. Aarau 1856, num. 78; Kuoni, J.: Sagen des Kantons St. Gallen. St. Gallen 1903, num. 314; Müller, J.: Sagen aus Uri 2. Basel 1929, num. 745; Makkensen, L.: Sagen der Deutschen im Wartheland. Posen 1943, num. 695. ⫺ 19 Brednich (wie not. 1) 124 sq.; Be´aloideas 21 (1951/52) num. 107, 236⫺238; Me´lusine 1 (1878) 324 sq. (frz.); Bara˛cz, X. S.: Bajki, fraszki, podania, przysłowia na Rusi. Tarnopol 1866, 160 sq. ⫺ 20 Brednich (wie not. 1) 138⫺145; Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 197; Jauhiainen A 721; Schell, O.: Berg. Sagen. Elberfeld 2 1922, num. 101. ⫺ 21 Marzolph (bachtiar.). ⫺ 22 Schwarzbaum, Fox Fables, 209, not. 18. ⫺ 23 Marzolph, Arabia ridens, num. 240. ⫺ 24 Tubach, num. 404. ⫺ 25 EM-Archiv: Melander, Jocorum atque seriorum liber 1 (1604) 63, num. 54; Joco-Seria (1631) 260⫺262; Zeitvertreiber (1685) 297. ⫺ 26 Tubach, num. 1475. ⫺ 27 Brednich, R. W.: Die Spinne in der Yucca-Palme. Mü. 1990, num. 103.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Todesstrafe J Strafe
Todeszeichen J Lebenszeichen
Todeszeit wissen (ATU 934 H [4]), religiösdidaktische Volkserzählung mit ätiologischem Charakter (Mot. A 1593): Es gab eine Zeit, in der die Menschen wußten, wann sie J sterben würden. Dies führte dazu, daß sie beim Herannahen ihres Todestages die täglichen Verrichtungen vernachlässigten und die Folgen für die Nachwelt nicht mehr bedachten. Gott (J Christus, hl. J Petrus, andere Heilige, Engel) beobachtet, wie ein Bauer einen Zaun (Rad) mit Brennesseln (Stroh, Schilf, Farnkraut) repariert. Zur Rede gestellt, rechtfertigt der Bauer sein Tun mit seinem bevorstehenden Tod. Aufgrund dessen beschließt Gott, den Menschen die Kenntnis ihrer T. zu nehmen.
Als erster hat R. J Köhler auf die Erzählung aufmerksam gemacht1; O. F. Babler hat weitere Zeugnisse, vorwiegend in Osteuropa, vorgefunden2. Die Verbreitung der mündl. überlieferten Erzählung ist auf europ. Länder sowie zeitlich auf das 19./20. Jh. beschränkt. Nachgewiesen wurde der Erzähltyp in Frank-
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reich3, Irland4, den balt. Ländern5 sowie im west- und südslav. Sprachgebiet6. Dt.sprachige Belege stammen u. a. aus Westpreußen7, Österreich8 und Böhmen9. Insgesamt sind die etwa 70 bekannten Var.n sehr homogen. Größere inhaltliche Abweichungen sind selten: So ist z. B. in einer ukr. Var. davon die Rede, daß ein Mann einen Wald anzündet, um einen Topf mit Wasser zu erwärmen. Gott nimmt ihm die Kenntnis seiner Todesstunde, und als er später wieder an dem Ort vorbeikommt, sieht er die positive Wirkung dieser Maßnahme: Der Mann sät Eicheln, damit seine Kinder und Enkel wieder einen Wald haben werden (cf. AaTh/ ATU 928: J Bäume für die nächste Generation)10. In zwei frz. Var.n aus dem Nivernais ist es der bibl. Methusalem, der im Wissen um seine Todesstunde kein neues Haus mehr bauen will11. Gott schickt ihm Regen und Wind, worauf der Greis unter einem Zuber Schutz sucht. Vereinfacht findet sich dieses Motiv auch in einem schwed. Text, in dem ein Mann lieber den Winter über friert, als sich und seinen Söhnen ein neues Haus zu bauen12. In einer russ. Fassung ist die Erzählung von der T. mit AaTh/ATU 822: J Christus als Ehestifter kombiniert13. Die Anführung eines vergleichbaren Texts in der ir. Columcille-Vita des Manus O’Donnell14 (1532; Kap. 122) läßt vermuten, daß der Ursprung des Erzähltyps bis ins MA. zurückreicht: Einmal kam ein Mann zu Columcille und fragte ihn, wie lange er noch zu leben habe. Columcille antwortete, eine solche Frage verbiete sich, denn es sei Gottes Wille, daß die Menschen ihre T. nicht kennen, denn sonst würden sie keine guten Werke tun und weder Weisheit noch Wissen erwerben.
Ein Zusammenhang dieser Stelle mit den sehr viel später aufgezeichneten volkstümlichen Var.n ist zu vermuten15. Eine direkte Verbindung zu der dem gleichen, jedoch positiv gewendeten Denkschema zugehörigen populären dt. Redewendung ,Wenn ich wüßte, daß ich morgen sterben müßte (daß morgen der Jüngste Tag wäre), würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen‘ besteht sicher nicht. Sie wird häufig J Luther zugeschrieben, ist aber nachweislich zum ersten Mal 1944 in einem Rundbrief der Hess. Landeskirche verwendet worden16.
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Toelken, John Barre
Köhler/Bolte 2, 100⫺102 (4 Var.n). ⫺ 2 Babler, O. F.: Seit wann die Menschen ihre Todesstunde nicht mehr vorauswissen. In: Sudetendt. Zs. für Vk. 7 (1934) 171⫺173 (7 Var.n). ⫺ 3 Delarue/Tene`ze 4,1, 290⫺292 ´ Su´illeabha´in, S.: A Handbook of (4 Var.n). ⫺ 4 O Irish Folklore. Dublin 1942, 635, num. 54; id.: Sce´alta Cra´ibhtheacha. Dublin 1952, num. 135; Szöve´rffy, J.: Ir. Erzählgut im Abendland. B. 1957, 122, not. 35 (30 Var.n im Archiv der Irish Folklore Commission, Dublin). ⫺ 5 Balys, num. 3062 (11 Var.n); Zˇivaja starina 5 (1895) 436 (lett.); Aarne, A.: Estn. Märchen- und Sagenvar.n. Hamina 1918, 142, num. 19 (15 Var.n); Loorits, num. 37 (1 Var.). ⫺ 6 Schulenburg, W. von: Wend. Volkssagen und Gebräuche aus dem Spreewald. Lpz. 1880, 59; Babler (wie not. 2) 172 sq. ⫺ 7 Preuß, T.: Tiersagen, Märchen und Legenden. Danzig 1912, 13 sq. ⫺ 8 Köhler/Bolte 2, 101. ⫺ 9 Babler (wie not. 2) 171. ⫺ 10 ibid., 172 sq. ⫺ 11 Delarue/Tene`ze 4,1, 291 sq. ⫺ 12 Rußwurm, C.: Sagen aus Hapsal, der Wiek, Oesel und Runö. Reval 1861, 154, num. 163. ⫺ 13 Dobrovol’skij, V. N.: Smolenskij e˙tnograficˇeskij sbornik 1. SPb. 1891, 319 sq., num. 13. ⫺ 14 O’Donnell, M.: Betha Colaim Chille. Life of Columcille. ed. A. O’Kelleher. Urbana, Ill. 1918. ⫺ 15 Szöve´rffy (wie not. 4) 122 sq.; cf. Cross A 1593. ⫺ 16 Bammel, E.: Das Wort vom Apfelbäumchen. In: id.: Kleine Schr. 1. Tüb. 1987, 140⫺147; cf. Schloemann, M.: Luthers Apfelbäumchen? Ein Kap. dt. Mentalitätsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 1994, 246⫺251. 1
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Toelken, John Barre, * Enfield (Mass.) 15. 6. 1935, nordamerik. Folklorist und Mediävist. T. studierte 1953⫺57 Englisch und Deutsch an der Utah State Univ. in Logan und erwarb 1959 den Magister an der Washington State Univ. in Pullman; 1964 wurde er an der Univ. of Oregon in Eugene mit der Diss. Some Poetic Functions of Folklore in the English and Scottish Popular Ballads promoviert. Am Department of English in Logan lehrte er 1964⫺66, in Eugene 1966⫺85 und erneut in Logan seit 1985. Als Präsident der American Folklore Soc. (1977⫺78), Leiter des American Folklife Center (1989) und Herausgeber der Zss. Northwest Folklore (1963⫺66), Journal of American Folklore (1973⫺76) und Western Folklore (2002⫺ 04) übte T. großen Einfluß auf die nordamerik. Folkloristik aus. Zwei Erlebnisse gaben Anstöße für T.s spätere wiss. Tätigkeit: Das Quabbin-Tal, in dem T. seine Kindheit verbrachte, wurde geflutet, die Bewohner verloren ihre Heimat. Diese Er-
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fahrung festigte bei T. den Sinn für die Aufgabe des Bewahrens. Während der Studienzeit in Utah schloß er sich Uransuchern an, kam ⫺ zunächst unfreiwillig durch eine schwere Erkrankung ⫺ in engsten Kontakt mit der indigenen Bevölkerung und lernte deren Weltsicht und Traditionen kennen. Diese Phase eröffnete ihm nicht nur sein zentrales Forschungsgebiet, sondern prägte auch die wiss. und wissenschaftsethischen Prinzipien, die er in seiner Lehrtätigkeit vermittelte, aber auch in Vorträgen und Diskussionen in die weitere Öffentlichkeit trug. In seinen Publ.en arbeitete T. den performativen Charakter (J Performanz) und den J Kontext der populären Überlieferung heraus1 und zeigte deren Zusammenhang nicht nur mit Glaubensvorstellungen und Bräuchen, sondern auch mit der materiellen Kultur. In intensiver Feldforschung gewann er Zugang zu den inneren Gesetzlichkeiten einer fremden Kultur, die er nicht als Relikt verstand, sondern als Lebensform. T. publizierte außer originären Forschungsarbeiten2 auch ein wichtiges Lehrbuch zur Dynamik von Erzählvorgängen3. T. arrangierte die Übernahme von W. D. J Hands umfangreicher Collection of Superstition and Popular Belief durch die Fife Folklore Archives der Utah State University (Logan), denen er auch eigene Slgen übergab. T. verstand es, Lieder und Erzählungen lebendig zu vermitteln, aber er ließ keinen Zweifel daran, daß die Überlieferungen Eigentum ihrer ursprünglichen Träger sind und dort ihre Dynamik entfalten. Er weigerte sich, Arkana in den wiss. Diskurs einzuführen, gab vielmehr einen Teil seiner Aufnahmen an seine Navajo-Freunde und -gewährsleute zurück4. 1 T., B.: Zum Begriff der Performanz im dynamischen Kontext der Volksüberlieferung. In: ZfVk. 77 (1981) 37⫺50. ⫺ 2 z. B. id.: Ballads and Folksongs. In: Oring, E. (ed.): Folk Groups and Folklore Genres. Logan 1986, 147⫺174; id.: Morning Dew and Roses. Nuance, Metaphor, and Meaning in Folksongs. Urbana 1995; id.: The Icebergs of Folktale. Misconception, Misuse, Abuse. In: Birch, C. L./Heckler, M. A. (edd.): Who Says? Essays on Pivotal Issues in Contemporary Storytelling. Little Rock 1996, 35⫺63; Evers, L./T., B. (edd.): Native American Oral Traditions. Collaboration and Interpretation. Logan 2001; T., B.: The Anguish of Snails. Native American Folklore in the West. Logan 2003. ⫺ 3 id.: The Dynamics of Folklore. Boston 1979 (Logan 21996). ⫺
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Toldo, Pietro
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cf. id.: The Yellowman Tapes, 1996⫺1997. In: JAFL 111 (1998) 381⫺391.
Tübingen
Hermann Bausinger
Toldo, Pietro, * Bologna 21. 12. 1860, † ebenda 14. 2. 19261, ital. Erzählforscher. Nach Abbruch seines Schulbesuchs heuerte T. im Alter von 17 Jahren in Genua als Matrose an und gelangte bei seinen Fahrten u. a. nach Japan, Afrika, Südamerika und Indien. Als Kapitän kehrte er nach Italien zurück, studierte ab 1883 moderne Sprachen und Lit. an der Accademia scientifico-letteraria in Mailand und vervollständigte seine philol. Ausbildung in Frankreich und Deutschland, vermutlich ohne akademischen Abschluß. Er unterrichtete längere Zeit Französisch an ital. Schulen und anderen Institutionen, bis er 1896 nach Turin versetzt wurde. Dort begann er seine Mitarbeit am Giornale storico della letteratura italiana. 1900 zum Privatdozenten ernannt, hielt er Vorlesungen in frz. Lit. an der Univ. Turin und ab 1913 an der Univ. Bologna, an der er 1918 den Lehrstuhl für frz. Sprache und Lit. erhielt, den ersten einer ital. Univ. Seine Bibl. hat er der Univ. Bologna hinterlassen. Bei seinen hist.-vergleichenden Forschungen galt T.s Interesse vor allem der Suche nach Quellen und Verbindungen, Ursprüngen und Einflüssen. Ein Schwerpunkt lag auf den Wechselbeziehungen zwischen der ital. und der frz. bzw. dt. Lit. Das seit 1861 geeinte Italien suchte nach Bestätigung. In diesem Zusammenhang steht auch T.s ⫺ z. T. als exzessiv wahrgenommenes2 ⫺ Bedürfnis, die nationale Vorrangstellung zu beweisen. Der von ihm abgedeckte Forschungszeitraum ist sehr breit und erstreckt sich von J Marie de France bis hin zu George Sand und Alfred de Musset3. Zu T.s zentralen Interessen gehörten Legenden, Erzählungen und Novellen, mit denen er sich bes. intensiv in den Jahren 1895⫺1907 befaßte4. Wie viele seiner Zeitgenossen war T. ein Anhänger der Theorie eines oriental. (arab., ind., türk. etc.) Ursprungs von Erzählungen. G. J Paris, einen Vertreter der J Ind. Theorie, hat T. zeitlebens als sein Vorbild betrachtet. Demgegenüber wandte er sich mehrfach gegen die Ansichten J. J Be´diers, der in Forschungen zu Ursprungsfragen wenig Sinn sah und
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sich offen gegen die ,orientalistische Theorie‘ ausgesprochen hatte5. T. hatte eine bes. Vorliebe für die komischen Gattungen6. In einem seiner ersten Werke, einer der frz. Novelle des 15./16. Jh.s gewidmeten Studie, bestritt er jegliche Kontinuität zwischen den seiner Ansicht nach von wandernden Klerikern und Spielleuten verfaßten ma. Fabliaux und der frz. Novellistik7. Ihren Stellenwert verdankten die frz. ,fabliers‘ dem Vorbild der ital. Lit., bes. J Boccaccios Decamerone. In diesem Zusammenhang verwies er auf Abhängigkeiten der J Marguerite de Navarre8 und der ,deviseurs‘ wie Bonaventure J Des Pe´riers oder J Nicolas de Troyes von Boccaccio, J Poggio, J Masuccio Salernitano oder Baldassare Castiglione. In seiner Studie zum komischen Theater im ma. Frankreich untersuchte T. die Zusammenhänge zwischen der Novelle und den Farcen des 15./16. Jh.s, die er als in Aktion umgesetzte Fabliaux ansah9. Als Argument führte er die Kontinuität der Figuren und Themen an. Gelegentlich sei es zwar möglich, daß die literar. Fassung eines Themas etwa im Decamerone als direkte Inspiration einer Farce gedient habe, doch sei die mündl. Überlieferung letztlich der Ursprung aller narrativen Formen10. Auch zur Legendenforschung hat T. wichtige Arbeiten vorgelegt, so u. a. eine Übersicht zentraler Legendenmotive der ma. Lit.en11 und eine Studie zum J Alphabetum narrationum12. Die idealistische Ästhetik, die seit Beginn des 20. Jh.s das ital. Kulturschaffen beherrschte, sah die komparatistische Schule, der T. stets die Treue hielt, als überholt an. Dies erklärt das Vergessen, dem sein wiss. Werk weitgehend anheimgefallen ist. 1 Be´darida, H.: P. T., l’uomo e l’opera. In: Il Marzocco 31,9 (28.2.1926) 3; id.: La Mort du professeur T. In: Nouvelles litte´raires ( 27. Feb. 1926) 6; Neri, F.: Necrologia del Prof. T. In: Giornale storico della letteratura italiana 57 (1926) 238 sq. ⫺ 2 cf. Cirri, S.: Bibliogr. critica degli scritti di P. T. dal XVI al XVII secolo. Diss. (masch.) Bologna 1962, 5; Raugei, A. M.: Alle origini degli studi universitari di letteratura francese. In: Gli studi francesi in Italia tra le due guerre. Atti del XIV convegno della Soc. universitaria per gli studi di lingue e letteratura francese, Urbino 15⫺17 maggio 1986. Urbino 1987, 29⫺38, hier 35. ⫺ 3 Bignami, A.: Bibliogr. critica degli scritti di P. T. dalle origini al XV secolo. Diss. (masch.) Bologna 1962; Cirri (wie not. 2); Simili, M.: Bibliogr.
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Tolkien, John Ronald Reuel
critica degli scritti di P. T. dal XVIII al XIX secolo. Diss. (masch.) Bologna 1962; Pellandra, C.: P. T. et l’institution de la premie`re chaire de langue et de litte´rature franc¸aises dans l’univ. italienne. In: Documents pour l’histoire du franc¸ais langue e´trange`re ou seconde 15 (Sept. 1995) 116⫺128; ead.: Libri dimenticati. Un testo scolastico di P. T. In: Festschr. L. Petroni. Bologna 1996, 273⫺283; T., P.: L’arte e la personalita` di Alfredo de Musset. In: Memorie della Real Accademia delle Scienze di Bologna, classe di scienze morali 1 (1916) 73⫺179. ⫺ 4 id.: Figaro et ses origines. Mailand 1893; id.: Due leggende tragiche ed alcuni riscontri col teatro dello Schiller. In: Zs. für rom. Philologie 22 (1898) 331⫺359; id.: L’avventura del sarto (Note di novellistica). In: Bollettino di filologia moderna per lo studio delle lingue viventi 8 (Mai 1903) 121⫺123; id.: Pel „fableau“ di Constant du Hamel. In: Romania 32 (1903) 552⫺ 564; id.: La conversione di Abraam giudeo. In: Giornale storico della letteratura italiana 42,2 (1903) 355⫺359; id.: La leggenda dell’Amore che trasforma. In: Zs. für rom. Philologie 27 (1903) 278⫺ 297; id.: Aus alten Novellen und Legenden. In: ZfVk. 13 (1903) 412⫺426; 14 (1904) 47⫺61; 15 (1905) 60⫺ 74, 129⫺137, 365⫺373; 16 (1906) 24⫺35; id.: Yonec. In: Rom. Forschungen 16 (1904) 609⫺629; id.: Les Morts qui mangent. In: Bulletin italien 5 (1905) 291⫺297; id.: L’„Apologie pour He´rodote“ von Henri Estienne. In: Zs. für frz. Sprache und Litteratur 31 (1907) 167⫺238; id.: Nella baracca dei burattini. In: Giornale storico della letteratura italiana 51,1 (1908) 2⫺93; id.: Le Moine bride´. A propos d’un conte de Piron. In: Revue de litte´rature compare´e (1922) 54⫺59. ⫺ 5 id.: Rileggendo le „Mille e una notte“. In: Festschr. A. Graf. Bergamo 1903, 491⫺ 505, hier 493. ⫺ 6 id.: E´tudes sur la poe´sie burlesque franc¸aise de la Renaissance. In: Zs. für rom. Philologie 25 (1901) 71⫺93, 215⫺229, 257⫺277, 385⫺410, 513⫺532; id.: L’Œuvre de Molie`re et sa fortune en Italie. Turin 1910. ⫺ 7 id.: Contributo allo studio della novella francese del XV e XVI secolo, considerata specialmente nelle sue attinenze con la letteratura italiana. Rom 1895, XI sq. ⫺ 8 id.: Rileggendo il Novelliere della Regina di Navarra. In: Rivista d’Italia 26,7 (1923) 380⫺405. ⫺ 9 id.: E´tudes sur le ˆ ge et sur le roˆle the´aˆtre comique franc¸ais du Moyen A de la nouvelle dans les farces et dans les come´dies. Turin 1902. ⫺ 10 ibid., 4. ⫺ 11 id.: Das Leben und die Wunder der Heiligen im MA. In: Zs. für vergleichende Litteratur-Geschichte N. F. 14 (1900) 267⫺288; id.: Das Leben und die Wunder der Heiligen im MA. In: Studien zur vergleichenden Litteratur-Geschichte 1,3 (1901) 320⫺353; 2 (1902) 87⫺103; 3 (1903) 304⫺353; 4 (1904) 49⫺ 85; 5 (1905) 337⫺353; 6 (1906) 289⫺333. ⫺ 12 id.: Dall’ „Alphabetum narrationis“. In: ArchfNSprLit. 117 (1906) 68⫺85, 287⫺303; 118 (1907) 69⫺81, 329⫺351; 119 (1907) 86⫺100; 120 (1908) 1⫺21.
Bologna
Carla Pellandra
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Tolkien, John Ronald Reuel, * Bloemfontein (Oranje-Freistaat; heute Republik Südafrika) 3. 1. 1892, † Bournemouth 2. 9. 1973, engl. Philologe und Schriftsteller. T. kam nach dem Tod seines Vaters als Vierjähriger mit seiner Mutter nach England. 1911⫺16 studierte er zunächst klassische, dann germ. Philologie an der Univ. Oxford. Nach einem kurzen Fronteinsatz im 1. Weltkrieg in Frankreich fand er 1918⫺20 am Oxford English Dict. seine erste Anstellung. 1920⫺24 lehrte er als Professor für engl. Philologie an der Univ. Leeds und 1925⫺59 an der Univ. Oxford. Zu seinen akademischen Publ.en zählen u. a. Werke über Geoffrey J Chaucer1 und J Beowulf 2. Bekannt wurde T. jedoch vor allem als Autor von Abenteuer- und Fantasy-Lit. Von Anfang an waren T.s philol. und literaturwiss. Studien von einem ausgeprägten Interesse an Volksdichtung und Mythologie begleitet3. Den zu seiner Zeit einflußreichen Konzepten in der Erzählforschung, z. B. von F. M. J Müller und A. J Lang, stand T. kritisch gegenüber, da sie nach seiner Meinung die literar. Wirkung der Texte weitgehend unbeachtet ließen4. T. betonte die Rolle der Phantasie sowohl des Erzählers als auch seiner Zuhörer und Leser und erklärte, Fairy-Geschichten hätten die Funktion, eine Tür in eine andere Zeit zu öffnen, die es ermögliche, außerhalb der eigenen, vielleicht der Zeit überhaupt zu stehen.5 T.s Beschäftigung mit populären Erzählüberlieferungen fand ihren Niederschlag in seinem ersten Roman The Hobbit, or, There and Back Again (L. 1937), der als Jugendbuch konzipiert war. Die Hobbits haben ihre Vorbilder in der niederen Mythologie, in J Kobolden und J Zwergen. Sie repräsentieren eine Welt friedfertiger und arbeitsamer Kleinbürger, aus deren Begrenztheit der Protagonist Bilbo Baggins (dt. Beutlin) ausbricht. Seine Abenteuer lehnen sich stark an die Strukturen und Handlungselemente des Märchens an6: Bilbo will mit einer Gruppe von Zwergen unter der Führung des J Zauberers Gandalf den J Schatz der Zwerge wiedergewinnen, der von einem J Drachen geraubt worden war. Als kleinster Mann kämpft er erfolgreich gegen Trolle, Kobolde und andere Ungeheuer, erringt im Rätselwettkampf 7 mit Gollum einen unsichtbarmachenden J Ring (cf. J Tarnkappe) und kehrt als Held nach Hause zurück.
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Dieser Roman war gewissermaßen das Vorspiel zu T.s 1937⫺49 verfaßter Romantrilogie The Lord of the Rings (L. 1954/54/55), mit der T. zu einem der Pioniere der Fantasy-Lit. wurde. Laut H. Carpenter war T. von dem Wunsch beseelt, eine Mythologie für England zu schaffen8. In The Lord of the Rings schuf T. mit Middle-earth (altnord. miÎgarÎ) eine imaginierte Vergangenheit, in der die Menschheit in Harmonie mit anderen Wesen, T.s Phantasiegestalten, lebt (J Topographie, fiktive). Die märchenhaften Züge des Hobbit treten gegenüber den Einflüssen der kelt. und insbesondere der altnord. Mythologie und Heldensage (J Edda)9 zurück: Z. B. stammen die Namen der Zwerge aus der eddischen Vo˛lospa´, der weise Zauberer Gandalf kann als Reinkarnation von Odin angesehen werden10, und die im Mittelpunkt des Geschehens stehende Ringsage erinnert an die Sage vom Ring der J Nibelungen. Den Hobbits stehen Helfer zur Seite. Neben Menschen, Zwergen und dem Zauberer Gandalf sind dies vor allem die Elben (J Elf, Elfen), elbenähnliche Wesen und mythische Tiere. Ihre Gegenspieler sind Dämonen und mythische Tiere (z. B. eine riesige Spinne), der Vorbesitzer des Rings Gollum, vor allem aber sein Schöpfer Sauron und der mit ihm verbündete Zauberer Saruman, die ein riesiges Heer zusammenstellen. Sie rekrutieren Menschen und böse Kreaturen, die das Tageslicht scheuen (Orks), J Trolle, Fabeltiere wie Drachen und Wolfswesen und erschaffen Kampforks (J Homunkulus). Saurons Macht erstreckt sich zudem auf die Nazgul, die Ringgeister, ehemalige Menschenkönige, die aufgrund ihrer Machtgier zu Untoten (J Wiedergänger) wurden. Die Handlung der Romantrilogie läßt sich ähnlich wie die des Hobbit als eine abenteuerliche Reise beschreiben: Der Hobbit Frodo Baggins erhält von seinem Onkel Bilbo einen Ring, den Gandalf als den Ring der Macht identifiziert. Dieser war von Sauron geschaffen worden und kann seinem Träger grenzenlose Macht über alle Wesen in Mittelerde verschaffen; er gehorcht jedoch nur seinem Schöpfer Sauron. Der Ring war im Kampf gegen Sauron erbeutet worden, ging verloren und gelangte dann durch Zufall in Bilbos Besitz. Frodo nimmt die Aufgabe auf sich, den Ring nach Mordor zu bringen, wo allein er zerstört werden kann. Seine Gefährten (Hobbits, Menschen, Elben und Zwerge) begleiten ihn zunächst und ver-
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suchen dann, den Armeen Saurons und Sarumans mit Unterstützung eines Totenheeres und der Naturgewalten standzuhalten, während Frodo seine Aufgabe erfüllt. Nach zahlreichen erfolgreich überstandenen Kämpfen und Gefahren erreichen Frodo und der Hobbit Samwise Gamgee Mordor. Mit Hilfe von Gollum, der wie Frodo unter dem Einfluß des Rings steht, erreichen sie den Ort, wo der Ring zerstört wird. Saurons Macht ist gebrochen, Saruman wird vertrieben, das untergegangene Königreich Gondor wiedererrichtet.
In der Trilogie kommen T.s Distanz zu einer technisierten Gegenwart ebenso wie sein Wunsch nach Rückkehr zu einer vergangenen heilen Welt zum Ausdruck. Hierin liegt auch einer der Gründe, weshalb die Romane vor allem jugendliche Leser begeistern. The Lord of the Rings wurde vielfach aufgelegt, in zahlreiche Sprachen übersetzt und erlangte seit den frühen 1960er Jahren den Rang eines internat. Kultbuchs11. Für die neuen medialen Genres der Rollen-12 und Computerspiele13 war das Werk von großer Bedeutung. Unter der Regie von Peter Jackson wurde die Trilogie 2000⫺03 in Neuseeland verfilmt, wodurch sowohl die Forschung inspiriert14 als auch eine neuerliche T.-Begeisterung hervorgerufen wurde, die auch dem Tourismus in Neuseeland zu einem starken Auftrieb verhalf15. Erst nach T.s Tod edierte und veröffentlichte T.s Sohn, Christopher T., das Silmarillion (L./Boston 1977), das die The Lord of the Rings zugrundeliegende Mythologie entwickelt und die Entstehung und Geschichte von Mittelerde erzählt. 1 T., J. R. R.: Chaucer as Philologist. The Reeve’s Tale. L. 1934, 1⫺70. ⫺ 2 id.: Beowulf. The Monster and the Critics. In: id.: Proc. of the British Adacemy 22. L. 1936 (Nachdr. 1983), 245⫺295. ⫺ 3 id.: On Fairy-Stories [1947]. In: id. (ed.): The T. Reader. N. Y. 1966, 1⫺84. ⫺ 4 ibid., 21, 36⫺46. ⫺ 5 ibid., 32. ⫺ 6 Zipes, J.: Breaking the Magic Spell. Radical Theories of Folk and Fairy Tales. Lexington 22002, 168. ⫺ 7 Verch, M.: Zur Wiederaufnahme der Gattung des Rätsels in J. R. R. T.s „The Hobbit“. In: GRM 24 (1974) 360⫺365. ⫺ 8 Carpenter, H.: J. R. R. T. A Biogr. L. 1977, 89. ⫺ 9 Bryce, L.: The Influence of Scandinavian Mythology on the Works of J. R. R. T. In: Edda 83 (1983) 113⫺119; Chance, J. (ed.): T. and the Invention of Myth. A Reader. Lexington 2004; Simek, R.: Mittelerde. T. und die germ. Mythologie. Mü. 2005, 22; Fornet-Ponse, T. (ed.): Entstehung und Hintergründe einer Mythologie. Die History of Middle-earth. Düsseldorf 2007; cf. Day, D.: The World of T. Mythological Sources of „The
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Lord of the Rings“. L. 2003. ⫺ 10 Burns, M.: Perilous Realms. Celtic and Norse in T.’s Middle-earth. Toronto u. a. 2003, 93⫺127. ⫺ 11 Kloet, J. de/Kuipers, G.: Spirituality and Fan Culture around the „Lord of the Rings“ Trilogy. In: Fabula 48 (2007) 300⫺319. ⫺ 12 Fine, G. A.: Shared Fantasy. Role-playing Games as Social Worlds. Chic. 22002, 124. ⫺ 13 Aupers, S.: „Better than the Real World“. On the Reality and Meaning of Online Computer Games. In: Fabula 48 (2007) 250⫺269. ⫺ 14 Scull, C./Hammond, W. G. (edd.): The J. R. R. T. Companion & Guide. L. 2006; Drout, M. D. C. (ed.): J. R. R. T. Enc. Scholarship and Critical Assessment. N. Y. 2007. ⫺ 15 Thompson, K.: The Frodo Franchise. The Lord of the Rings and Modern Hollywood. Berk. 2007; Margolis, H./Cubitt, S./ Jutel, T./King, B. (edd.): Studying the Event Film. The Lord of the Rings. Manchester 2008.
Wellington
Brigitte Bönisch-Brednich
Tolstoj, Aleksej Nikolaevicˇ Graf, * Nikolaevsk (heute Pugacˇev, Gouvernement Saratov) 29. 12. 1882 (10. 1. 1883), † Moskau 23. 2. 1945, russ. Schriftsteller, Dramatiker und Publizist. T. studierte 1901⫺07 an der Technischen Hochschule St. Petersburg Mathematik (ohne Abschluß). Seit 1907 publizierte er eigene lyrische und erzählerische Werke. Während des 1. Weltkriegs war er als Kriegsberichterstatter für die Ztg Russkie vedomosti (Russ. Nachrichten) tätig. Im Verlauf der Oktoberrevolution emigrierte er im September 1918 über Odessa nach Paris (1919) und später nach Berlin (1921). 1923 kehrte er in die Sowjetunion zurück. 1939 wurde T. Mitglied der Akad. der Wiss.en der UdSSR. Er wurde mehrfach mit dem Stalinpreis ausgezeichnet (1941, 1943, 1946)1. T.s Archiv befindet sich im A. M. Gor’kij-Institut für Weltliteratur der Russ. Akad. der Wiss.en in Moskau. In der Emigration entstand der erste Teil von T.s Romantrilogie Chozˇdenie po mukam ([Leidensweg]. P. 1920/M. 1927/40⫺41). Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion verfaßte T. zunächst phantastische Lit. Sein hist. Roman Petr Pervyj ([Peter d. Gr.] M. 1929⫺45) blieb unvollendet. Zu einem Klassiker der sowjet. Kinderliteratur wurde T.s Märchen Zolotoj kljucˇik, ili Prikljucˇenija Buratino ([Das goldene Schlüsselchen oder die Abenteuer des Buratino]. Len. 1936)2, das nach Motiven von Carlo Collodis J Pinocchio entstand. Seit den 1930er Jahren waren T.s Werke z. T. deutlich
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von den ideologischen Vorgaben des bolschewistischen Regimes geprägt (cf. J Marxismus): 1937 schrieb er die Erzählung Chleb (Brot), in der er die Rolle Stalins und K. J. Woroschilows bei der Verteidigung der Stadt Zarizyn (heute Wolgograd) vor der Weißen Armee verherrlichte. Während des 2. Weltkriegs entstand das Drama Ivan Grosnyj ([Ivan der Schreckliche]. Uraufführung 1946), dessen propagandistisches Pathos die zeitgenössische Kritik begeisterte. T.s Interesse an Volkserzählungen belegen bereits Texte des vorrevolutionären Gedichtbands Sorocˇ’i skazki ([Die Märchen der Elster]. SPb. 1910). Darin berief sich der Autor auf A. N. J Afanas’evs Poe˙ticˇeskie vozzrenija slavjan na prirodu ([Poetische Ansichten der Slaven über die Natur]. M. 1866⫺69) und auf S. V. Maksimovs ethnogr. Darlegungen Necˇistaja, nevedomaja i krestnaja sila ([Der heidnische, geheimnisvolle und der heilige Geist]. SPb. 1903). Begeistert von der ,atmosphärischen‘ Theorie Afanas’evs, nach der Märchen und Bylinen den Mythos vom Kampf des Donnergotts (J Donner) mit seinem Gegner und poetische Vorstellungen vom Kampf des Frühlings gegen den Winter widerspiegeln, schuf T. ähnliche Bilder in Kunstmärchen wie Ivan Carevicˇ i Alaja-Alica (Der Zarensohn Ivan und Alaja-Alica), in dem nach der Befreiung der Frühlingsprinzessin Alaja-Alica aus der Gefangenschaft des Winters dessen Schloß einstürzt und als Wolke in den Himmel steigt. Aus den Arbeiten Afanas’evs und den Büchern Maksimovs entlehnte T. die Gestalten von Geistern wie Kikimora, Igosˇa oder Kladovik. Auch in Gedichten der Slg Za sinimi rekami ([Hinter blauen Flüssen]. M. 1911) griff T. auf slav. Bräuche und mythol. Figuren zurück3. Erst Ende der 1930er Jahre, als er in der Sowjetunion bereits ein anerkannter Autor war, beschäftigte sich T. wieder mit der Volksliteratur. 1938 wurde er aufgrund seines politischen Einflusses in die Planung des Svod russkogo fol’klora (Slg russ. Volksüberlieferung) einbezogen, der auf 18 Bände angelegt war und eine umfassende Dokumentation der mündl. Überlieferung enthalten sollte. Als Mitglied der Akad. der Wiss.en nahm T. seit 1939 an der Ausarbeitung des Projekts teil, aus dem die Idee zu einem Svod fol’klora narodov SSSR (Slg der Volksüberlieferung der Völker
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der UdSSR) hervorging4. Mit dem Beginn des Kriegs in der Sowjetunion 1941 mußte die Arbeit an dem Projekt jedoch eingestellt werden. Parallel zu seiner Arbeit am Svod plante T. fünf Slgen mit ausgewählten russ. Märchen für Kinder. In den 1940er Jahren publizierte er mit Russkie skazki ([Russ. Märchen]. M./ Len. 1940; 51 Tiermärchen) und den um sechs Zaubermärchen erweiterten Russkie narodnye skazki ([Russ. Volksmärchen]. M./Len. 1944) die beiden ersten Bände. T. verfaßte seine Texte auf der Grundlage der Märchensammlungen von Afanas’ev, N. E. J Oncˇukov, D. K. J Zelenin, A. M. J Smirnov u. a. und ergänzte mitunter Details und Formulierungen aus anderen Fassungen5. Die Arbeit an diesem Projekt blieb unvollendet. Im Archiv des Autors befinden sich fünf weitere literar. bearb. Märchen. T.s Märchen wurden mehrfach aufgelegt und sind inzwischen Klassiker der russ. Kinderliteratur. 1949 wurde ein Teil von ihnen ins Deutsche übersetzt6. Krestinskij, Ju. A.: A. N. T. Zˇizn’ i tvorcˇestvo (Kratkij ocˇerk) (A. N. T. Leben und Werk [Ein kurzer Abriß]). M. 1960; Vorob’eva, N. N. u. a. (edd.): A. N. T. Novye materialy i issledovanija (A. N. T. Neue Materialien und Forschungen). M. 1995. ⫺ 2 Verfilmung: UdSSR 1939 (Regie Aleksandr Lukicˇ Ptusˇko); UdSSR 1975 (Regie Leonid Necˇaev). ⫺ 3 Samodelova, E. A.: O fol’klornych proobrazach v sbornikach A. N. Tolstogo „Za sinimi rekami“ i „Sorocˇ’i skazki“ (Über Prototypen der Volksüberlieferung in A. N. T.s Slgen „Hinter blauen Flüssen“ und „Die Märchen der Elster“). In: Filologicˇeskie nauki 4 (1995) 45⫺55; id.: Mifologicˇeskie personazˇi v sbornikach A. N. Tolstogo „Sorocˇ’i skazki“ i „Za sinimi rekami“ (Mythol. Figuren in den Slgen A. N. T.s „Die Märchen der Elster“ und „Hinter blauen Flüssen“). In: Vorob’eva u. a. (wie not. 1) 24⫺53. ⫺ 4 Krestinskij, Ju. A.: Nezaversˇennye zamysly A. N. Tolstogo-akademika (Unvollendete Projekte des Akademiemitglieds A. N. T.). In: Voprosy literatury 1 (1974) 313⫺317; Gorelov, A. A.: A. N. T. i Svod russkogo fol’klora (A. N. T. und die Slg russ. Volksüberlieferung). In: id. (ed.): Iz istorii sovetskoj fol’kloristiki. Len. 1981, 3⫺6. ⫺ 5 Necˇaev, A./Rybakova, N.: A. N. T. i russkaja narodnaja skazka (A. N. T. und das russ. Volksmärchen). In: T., A. N.: Polnoe sobranie socˇinenij 12. ed. A. S. Mjasnikov. M. 1948, 329⫺341; Necˇaev, A. N.: Russkie narodnye skazki v sovetskich izdanijach dlja detej (Russ. Volksmärchen in sowjet. Ausg.n für Kinder). In: Kon, L. F. (ed.): O detskoj literature. M./Len. 1950, 360⫺416; id.: Russkie narodnye skazki v pereskazach A. N. Tolstogo (Russ. Volksmärchen in den Nacherzählungen von A. N. T. ). In: T., A. N.: So1
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branie socˇinenij 8. ed. A. V. Alpatov/J. A. Krestinskij. M. 1960, 520⫺560; Anikin, V. P.: A. N. T. i russkaja skazka (A. N. T. und das russ. Märchen). In: Alpatov, A. V. (ed.): Tvorcˇestvo A. N. Tolstogo. M. 1957, 155⫺182; cf. Han, Yeakyung: Studien zu den Märchen von A. N. T. Diss. (masch.) Münster 1989. ⫺ 6 T., A. N.: Russ. Volksmärchen. B. 1949; id.: Märchen aus Rußland. Ffm. 1975 (Rez. I. Köhler-Zülch in Fabula 21 [1980] 347⫺349).
St. Petersburg
Tatjana G. Ivanova
Tolstoj, Lev Nikolaevicˇ Graf, * Jasnaja Poljana (Gouvernement Tula) 28. 8. (9. 9.) 1828, † Astapovo (Gouvernement Tambov) 7. (20.) 11. 1910, russ. Schriftsteller. T. studierte 1844⫺47 in Kasan Orientalistik und Recht (ohne Abschluß). Seit 1847 lebte er mit Unterbrechungen auf seinem Gut in Jasnaja Poljana. 1851⫺56 diente er im Kaukasus in der Armee und nahm 1854⫺55 am Krimkrieg teil. Seit 1852 veröffentlichte er eigene literar. Werke. 1857 und 1860⫺61 unternahm er Reisen ins europ. Ausland. Seit Ende der 1850er Jahre setzte sich T. für eine (zumindest elementare) Bildung der Bauern ein: Er gründete auf seinem Gut eine Schule, förderte die Einrichtung weiterer Schulen in umliegenden Dörfern und verfaßte Lehrbücher für Kinder. Ende der 1870er Jahre wurde T. zum christl. Moralisten, der Kunst primär nach ethischen Kriterien beurteilte, und wandte sich von der russ. Oberschicht und der orthodoxen Kirche ab. Er idealisierte das bäuerliche Leben und verzichtete auf aristokratischen Luxus. T.s Archiv befindet sich im Tolstoj-Museum in Moskau. T.s bekannteste literar. Werke sind die beiden umfangreichen Romane Vojna i mir ([Krieg und Frieden] 1⫺4. M. 1868/68/69/69) und Anna Karenina (M. 1878). Seine Ende der 1870er Jahre entstandenen sozialpolitischen und religionsphil. Essays wurden größtenteils verboten. Weitere bedeutende Werke sind Smert’ Ivana Il’icˇa ([Der Tod des Ivan Il’icˇ]. M. 1886), Krejcerova sonata ([Die Kreutzersonate]. M. 1891) und Voskresenie ([Auferstehung]. M. 1899). T. interessierte sich bereits früh für Volkserzählungen1. Seine Tagebücher enthalten u. a. Sprichwörter und Auslegungen von Legenden. Gelegentlich griff T. auch in seinen literar.
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Werken auf populäre Erzählungen zurück. 1862 gründete er die pädagogische Zs. Jasnaja Poljana, die eine Kinderliteraturbeilage mit eigenen Beitr.en und Bearb.en literar. Werke und von Texten aus der Volksüberlieferung enthielt. T. gab ferner Lehrbücher für Kinder heraus: Azbuka ([Fibel]. SPb. 1872) besteht aus der eigentlichen Fibel und vier Lesebüchern. Diese sind in Novaja azbuka ([Neue Fibel]. M. 1875) in deutlich erw. Form ebenfalls enthalten. Novaja Azbuka wurde vielfach aufgelegt. Azbuka und Novaja Azbuka enthalten Bearb.en populärer Vorlagen, dazu zählen Erzählungen, die auf Sprichwörter zurückgehen, und 46 Adaptationen von äsopischen Fabeln und Fabeln J La Fontaines. Mehr als 20 der Märchen und Fabeln haben ihren Ursprung in frz. Ausg.n buddhist. und oriental. Erzählguts2. Zu den Qu.n gehören aber auch dt. (KHM 26, AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen; KHM 187, AaTh/ATU 275, 1074: cf. J Wettlauf der Tiere), engl. (Robert Southeys The Story of the Three Bears; cf. AaTh/ATU 709: J Schneewittchen, Kap. 4)3, frz. (J Perraults Fassung von AaTh/ATU 700: J Däumling) und russ. Märchen (AaTh/ATU 7004, AaTh/ ATU 1533: Die sinnreiche J Teilung des Huhns5, AaTh/ATU 155: J Undank ist der Welt Lohn6), ein Narrengedicht (Duren’ [Der Dumme])7, Sagen (Sudoma, Petr I i muzˇik [Peter I. und der Bauer]8, Volga i Vazuza [Wolga und Vazuza]9), eine ukr. Anekdote (AaTh/ ATU 1628: cf. Der gelehrte J Bauernsohn)10 etc. In den 1880er Jahren griff T. auf Volkserzählungen als Vorlagen für seine Werke zurück, um seine ethischen Vorstellungen zu verdeutlichen11: Während im Volksmärchen die Zaubertrommel eine riesige Armee für den Zaren hervorbringt, zerbricht der Protagonist in T.s Märchen Rabotnik Emel’jan i pustoj baraban ([Der Knecht Emel’jan und die leere Trommel]. M. 1892; AaTh 465 A/ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt) am Ende die Trommel, und alle Soldaten sind entlassen12. In Skazka ob Ivane-durake i ego dvuch brat’jach ([Märchen vom dummen Ivan und seinen zwei Brüdern]. M. 1887) verurteilt T. Militarismus und Gewinnsucht13. Für T.s Slg Narodnye rasskazy ([Volkserzählungen]. M. 1881) dienten bes. christl. Legenden und Sagen, vor allem A. N. J Afanas’evs
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Narodnye russkie legendy ([Russ. Volkslegenden]. M. 1859), als Quellen, so die Legende vom Ursprung des Schnapsbrennens (cf. AaTh/ATU 810 A: J Buße des Teufels14) für die Erzählung Kak cˇertenok krajusˇku vykupal (Wie das Teufelchen den Brotkanten kaufte). Die Erzählung Krestnik (Der Patensohn; AaTh/ATU 800: J Schneider im Himmel15, AaTh/ATU 756 C: Die zwei J Erzsünder16) handelt davon, daß Böses nicht durch Böses ausgerottet werden kann. Diese Erzählung T.s beeinflußte mündl. Var.n17. T. stand in Verbindung zu den Olonecker Erzählern Vasilij Sˇcˇegolenok und Ivan Rjabinin. Einige Sujets übernahm T. von Sˇcˇegolenok. So dienten dessen Legenden als Vorlage für Dva starika (Die beiden Alten), Tri starca (Die drei Greise) und Cˇem ljudi zˇivy (Wovon lebt der Mensch?). In der letzten Erzählung stellte T. im Gegensatz zur Legende weltanschauliche Fragen in den Mittelpunkt der Handlung18. T.s Bearb. dieser Legende ging selbst wieder in die mündl. Überlieferung ein und wurde etwa aus dem Repertoire der bekannten Erzählerin Anna Barysˇnikova (Kuprijanicha) aufgezeichnet19. Auf Sˇcˇegolenoks Legenden geht auch die unveröff. Erzählung Razrusˇenie ada i vosstanovlenie ego (Die Zerstörung der Hölle und ihr Wiederaufbau) zurück. Die Erzählungen in Krug cˇtenija. Izbrannye, sobrannye i raspolozˇennye na kazˇdyj den’ L’vom Tolstym mysli mnogich pisatelej ob istine, zˇizni i povedenii ([Der Lesekreis. Von L. T. für jeden Tag ausgewählte und gesammelte Gedanken vieler Schriftsteller über Wahrheit, Leben und Verhalten]. M. 1906) beruhen gleichfalls auf Motiven aus Sˇcˇegolenoks Bylinen20. 1 Zajdensˇnur, E˙. E.: Rabota L. N. Tolstogo nad russkimi bylinami (L. N. T.s Arbeit zu russ. Bylinen). ed. A. M. Astachova. M./Len. 1960, 329⫺366. ⫺ 2 Julien, S.: Les Avadaˆnas, contes et apologues indiens 1. P. 1859; Pe´tis de la Croix, F.: Les Mille et un jours, contes persans. P. 1839; cf. T., L. N.: Novaja Azbuka i Russkie knigi dlja cˇtenija (1874⫺1875) (Die Neue Fibel und die Russ. Lesebücher [1874⫺1875]). In: Polnoe sobranie socˇinenij 21. ed. V. S. Spiridonova/ V. S. Misˇina. M. 1957, 607⫺686. ⫺ 3 [Southey, R.:] The Doctor, &c. 4. L. 1837, 318⫺326; Scherf, 1129; Briggs, K. M.: The Three Bears. In: Laographia 22 (1965) 53⫺57. ⫺ 4 Chudjakov, I. A.: Velikorusskie skazki. M. 21861, num. 55. ⫺ 5 Afanas’ev, num. 499. ⫺ 6 Afanas’ev, num. 27. ⫺ 7 Danilov, K.: Drevnie rossijskie stichotvorenija. M. 1818, 390⫺412. ⫺ 8 Perev-
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Tom der Reimer
lesskij, P.: Prakticˇeskaja russkaja grammatika 1. SPb. 51864, 52 sq., 1 sq. ⫺ 9 Afanas’ev, num. 94. ⫺ 10 Afanas’ev, num. 476; cf. ferner Zajdensˇnur, E˙. E.: Proizvedenija narodnogo tvorcˇestva v pedagogike L. N. Tolstogo (Die Werke der Volksdichtung in L. N. T.s Pädagogik). In: Jasnopoljanskij sbornik. ed. S. M. Brejtburg. Tula 1955, 137⫺153; Kolesnickaja, I. M.: Narodnoe poe˙ticˇeskoe tvorcˇestvo v pedagogicˇeskich socˇinenijach L. N. Tolstogo (Poetische Volksdichtung in den pädagogischen Werken L. N. T.s). In: Fol’klor narodov RSFSR 6 (1979) 27⫺34. ⫺ 11 Bazanov, V. G.: Ot fol’klora k narodnoj knige (Von der Volksüberlieferung zum Volksbuch). Len. 1973; Melkich, Z. S.: T. i fol’klor (narodnye rasskazy 70⫺80ch godov) (T. und die Volksüberlieferung [Volkserzählungen der 70⫺80er Jahre]). In: Voprosy literatury 4 (1960) 3⫺20; Afanas’ev, E˙. S.: Narodnaja legenda i narodnye rasskazy L. N. Tolstogo (Volkslegende und Volkserzählungen bei L. N. T. ). In: Slavjanskie literatury i fol’klor. ed. A. A. Gorelov. Len. 1978, 61⫺72. ⫺ 12 Zajdensˇnur, E˙. E.: Russkaja narodnaja skazka „Rabotnik Emel’jan i pustoj baraban“ v obrabotke L. N. Tolstogo (Das russ. Volksmärchen „Der Knecht Emel’jan und die leere Trommel“ in der Bearb. von L. N. T. ). In: T.-chudozˇnik. Sbornik statej. ed. D. D. Blagoj. M. 1961, 220⫺236; Skiba, Ju. G.: Iz nabljudenij nad jazykom skazki L. N. Tolstogo „Rabotnik Emel’jan“ (Aus Beobachtungen zur Sprache von L. N. T.s Märchen „Der Knecht Emel’jan“). In: L. T. Jubilejnyj sbornik ˇ ernovicy 1961, 135⫺ (1910⫺1960). ed. N. N. Fatov. C 144. ⫺ 13 Zajdensˇnur, E˙. E.: Skazka Tolstogo ob Ivane-durake i traktat „Tak cˇto zˇe nam delat’?“ (T.s Märchen vom dummen Ivan und der Traktat „Was sollen wir tun?“). In: T., L. N.: Stat’i i materialy 5 (1963) 119⫺132; Ol’chovskij, E.: Kak carskaja cenzura zapretila v pervyj raz skazku L. N. Tolstogo ob Ivane-durake (Wie die zaristische Zensur erstmals L. N. T.s Märchen vom dummen Ivan verbot). In: Russkaja literatura 8,4 (1965) 162 sq. ⫺ 14 Afanas’ev, num. 29 (not.). ⫺ 15 Afanas’ev, A. N.: Narodnye russkie legendy. ed. I. P. Kocˇergina. Kasan 1914, num. 30. ⫺ 16 ibid., num. 28 a, b. ⫺ 17 Verchratskij, I.: Pro hovor halyckych lemkiv (Über die Mundart der galiz. Lemken). Lemberg 1902, 174⫺179; cf. Kadlubovskij, A.: Galicko-russkij variant skazanija o krestnike (Eine galiz.-russ. Var. der Sage über das Patenkind). In: Festschr. V. P. Buzeskul. Char’kov 1914, 682⫺692. ⫺ 18 Zajdensˇnur, E˙. E.: T. i russkoe narodnoe tvorcˇestvo (T. und die russ. Volksdichtung). In: L. N. T. i russkaja literaturno-obsˇcˇestvennaja mysl’. ed. G. Ja. Galagan. Len. 1979, 34⫺65; Sumcov, N. S.: Literaturnaja rodnja rasskaza gr. ˇ em ljudi zˇivy“ (Die literar. VerL. N. Tolstogo „C wandtschaft der Erzählung des Grafen L. N. T. „Wovon lebt der Mensch?“). Char’kov 1896. ⫺ 19 z. B. Barysˇnikova, A. K.: Skazki Kuprijanichi (Die Märchen der Kuprijanicha). ed. I. P. Plotnikov. Woronesch 1937, 68⫺71. ⫺ 20 Zajdensˇnur, E˙. E.: Oblicˇitel’nyj aspekt fol’klorisma L. N. Tolstogo (Der
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Aspekt der Entlarvung in L. N. T.s Bearb. der Volksüberlieferung). In: Social’nyj protest v narodnoj poe˙zii. ed. A. A. Gorelov. Len. 1975, 217⫺228.
St. Petersburg
Tat’jana G. Ivanova
Tom der Reimer, sagenumwobener schott. Dichter, der durch das Erlebnis der Feenliebe (J Fee, Feenland, Kap. 6) zum Seher wird1. Die Gestalt geht zurück auf den Dichter, Spielmann und Propheten Thomas Rymour of Erceldoune (heute Earlston), der im 13. Jh. im schott. Grenzland lebte und mit dem viele Lokalsagen verbunden sind2. Die Geschichte von T. dem R. liegt in dem Versroman Thomas of Erceldoune (14. Jh.) sowie in Balladen und Prosaerzählungen vor. Sie bildet den frühesten Nachweis für den J Elfen- und J Fairy-Glauben in Schottland und Nordengland3. In der Ballade verläuft die Geschichte wie folgt: Als T. der R. unter einem Baum am Flußufer liegt, begegnet ihm die schöne Elfenkönigin (Feenkönigin), die er zunächst für die Jungfrau Maria hält. Er bricht das J Tabu, das den Umgang mit Wesen aus dem Jenseits verbietet, und folgt ihr ins Feenland. Der J Weg dorthin liegt zwischen dem dornigen Pfad zum Himmel und der breiten Straße zur Hölle. Drei (40) Tage muß T. durch Wasser (Blut) waten. Bei ihrer Ankunft macht ihn die Elfenkönigin darauf aufmerksam, daß er weder sprechen noch die Speisen der Fairys essen dürfe, sonst könne er nicht zu den Sterblichen zurückkehren. Nach wenigen Tagen bringt sie ihn zurück zu den Menschen. Es stellt sich heraus, daß er sieben Jahre fortgewesen ist (cf. AaTh/ATU 471 A: J Mönch und Vöglein).
Über das weitere Leben T.s wird Unterschiedliches berichtet: Nach dem ma. Versroman soll er ein berühmter Seher (True Thomas) geworden sein. Nach unterschiedlichen Sagen soll T. ins Land der Elfen unter den Hügeln von Eildon zurückgekehrt sein. Der Versroman ist in fünf Hss. des 15. und 16. Jh.s überliefert; sie stammen aus Nordengland, weisen aber prägnante schott. Merkmale auf 4. J Chaucers Parodie Tale of Sir Thopas läßt darauf schließen, daß der Versroman im MA. auch in Südengland bekannt war. Im Versroman schenkt die Feenkönigin T. zum Abschied die Sehergabe (Mot. F 371). Ein beträchtlicher Teil des Werks besteht demgemäß aus den Prophezeiungen des ,True Thomas‘, die in den verschiedenen Fassungen variieren: Die meisten beziehen sich auf die Geschichte
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Tom der Reimer
Schottlands, in den späteren Fassungen reichen sie bis zum Jakobitischen Aufstand von 1745. Als Seher soll T. in Schottland bis weit ins 19. Jh. verehrt worden sein5; Chapbooks mit Prophezeiungen von Thomas und J Merlin wurden noch zu Beginn des 19. Jh.s nachgedruckt und waren in schott. Bauernhäusern weit verbreitet6. Die Ballade ist der Forschung erst durch Walter J Scotts Minstrelsy of the Scottish Border (gesammelt Ende 18. Jh.) bekannt geworden7. Sie wurde 17mal von traditionellen schott. Sängern und nur dreimal außerhalb von Schottland aufgezeichnet8. Viele Züge, wie z. B. der, daß T. die Feenkönigin für die Jungfrau Maria hält, weisen jedoch darauf hin, daß die Balladentradition vorreformatorisch ist. In neuerer Zeit vertraten Lit.wissenschaftler die Ansicht, daß die Ballade älter als der Versroman sei, und führen als Beleg den für die Gattung des Versromans ungewöhnlichen Gebrauch der balladentypischen vierzeiligen Reimstrophen an9. Motivlich entspricht die Geschichte von T. dem R. ⫺ u. a. aufgrund der Berührungs-, Eßund Sprechverbote ⫺ anderen Berichten von Jenseitsreisen10. Die J Entführung Sterblicher ins Feenland (Mot. F 302.3.1) gehört dabei in Schottland und Nordengland zu den geläufigsten Fairy-Überlieferungen. Der Grenzbereich aus Blut oder Wasser (Mot. F 141.1.1), durch den T. waten muß, bevor er die jenseitige Welt erreicht, ist als Geburtsmetapher gedeutet worden11. Scott führt eine Überlieferung an, nach der T. ins Feenreich zurückkehrte; das Zeichen dazu sollen ein Hirsch und eine Hirschkuh (Mot. F 234.1.4) gegeben haben, die langsam die Dorfstraße von Eildon hinunterzogen12. Über eine enge Verwandtschaft mit der dt. J Tannhäusersage13 hinaus weist die Erzählung allg. Parallelen zu denen von Ogier le Danois (J Holger Danske) und Morgan le Fay auf, bis hin zu dem Detail, daß der Held die Feenkönigin als die Jungfrau Maria ansieht14. Sie besitzt ferner Gemeinsamkeiten mit bret. und frz. Lais, so dem Lanval der J Marie de France, und mit skand. Balladen: z. B. den Besuch in der jenseitigen Welt und die berittene Dame, die sich einen Menschen als Liebhaber nimmt15.
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Die Erzählung ist durch ein ausgeprägt erotisches Element gekennzeichnet. Die Begegnung mit der Königin findet statt, als T. unter einem Baum (oft der Eingang zum J Jenseits) schläft, und J Musik spielt eine wichtige Rolle (Horn der Königin, T. als Spielmann). Im Versroman verwandelt sich die Feenkönigin, nachdem T. das Berührungstabu gebrochen hat, vorübergehend in eine Gestalt von abstoßender Häßlichkeit (cf. Mot. F 304.2)16. Inhaltlich wird der Kontrast von Macht und Ausgeliefertsein evoziert. Bei T.s Begegnung mit der Feenkönigin sitzt diese auf einem prächtig aufgezäumten Pferd; sie agiert als Verführerin (weniger ausgeprägt im Versroman) und verlangt, daß T. ihr sieben Jahre dient. Später läuft er (im Versroman) Gefahr, Teil des Tributs zu werden, den der J Teufel in bestimmten Abständen fordert (Mot. F 257). Der Mantel aus glattem Stoff und die grünen Samtschuhe, die ihm die Königin (in der Ballade) zum Abschied gibt, sind das Geschenk eines Herrn an einen Gefolgsmann, ein Zeichen der Abhängigkeit und der untergeordneten Stellung. Die Ballade wurde u. a. von Theodor Fontane (stark gekürzt und romantisierend) ins Deutsche übertragen (1859) und von Carl Loewe in einem seiner bekanntesten Werke (Opus 135 [1860]) vertont. Dem Schäfer James Hogg, der viele Lieder für Scotts Minstrelsy lieferte, diente sie als Vorlage für sein bekanntestes Gedicht, Kilmeny (1813). John Keats benutzte Form und Metrum der Ballade in La Belle Dame sans merci (1819), und die Spannung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit in der Person der Feenkönigin bildete die Grundlage seines Gedichts Lamia (1820). In neuerer Zeit wurde die Geschichte T.s des R.s von FantasyAutoren wie Nigel Tranter (True Thomas, 1981), Ellen Kushner (Thomas the Rhymer, 1990) und Diana Wynne Jones (Fire and Hemlock, 1985) wiederbelebt. 1 Child 1, num. 37; Saalbach, A.: Entstehungsgeschichte der schott. Volksballade Thomas Rymer. Halle 1913; Flasdieck, H. M.: T. der R. Von kelt. Feen und politischen Propheten. Breslau 1934. ⫺ 2 Lyle, E.: Thomas of Erceldoune. The Prophet and the Prophesied. In: FL 79 (1968) 111⫺121. ⫺ 3 Henderson, L./Cowan, E. J.: Scottish Fairy Belief. East Linton 2001, 8. ⫺ 4 Nixon, I. (ed.).: Thomas of Erceldoune 1⫺2. Kop. 1980/83. ⫺ 5 Chambers, R.:
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Tom Tit Tot ⫺ Tomkowiak, Ingrid
Popular Rhymes of Scotland. Edinburgh 1870, 221⫺ 224. ⫺ 6 Child 1, 317. ⫺ 7 Child 1, num. 37; Scott, W.: Minstrelsy of the Scottish Border 3. Edinburgh 5 1812, 168⫺230. ⫺ 8 cf. den im Internet veröff. Roud Folk Song Index, num. 219. ⫺ 9 Lyle, E.: The Relationship between Thomas the Rhymer and Thomas of Erceldoune. In: Leeds Studies in English N. S. 4 (1970) 23⫺30; Boklund-Lagopoulou, K.: „I Have a Yong Suster.“ Popular Song and the Middle English Lyric. Dublin 2002, 145 sq. ⫺ 10 Buchan, D.: The Ballad and the Folk. L. 1972, 94; DBF B 1, 175. ⫺ 11 Hodgart, M. J. C.: The Ballads. L. 1950, 167. ⫺ 12 Scott (wie not. 7) 173. ⫺ 13 Löhmann, O.: Die Entstehung der Tannhäusersage. In: Fabula 3 (1960) 224⫺253, bes. 239 sq. ⫺ 14 Child 2, 319. ⫺ 15 Lyle, E.: Fairies and Folk. Approaches to the Ballad Tradition. Trier 2007, 55, 68. ⫺ 16 cf. Albrecht, W.: The Loathly Lady in ,Thomas of Erceldoune‘. Albuquerque 1954.
Vaasa
Gerald Porter
Tom Tit Tot J Name des Unholds
Tomkowiak, Ingrid, *Helmstedt 19. 6. 1956, dt. Lit.- und Kulturwissenschaftlerin. T. studierte 1976⫺82 Germanistik und Anglistik an den Univ.en Freiburg, Stirling und Göttingen und schloß das Studium 1982 mit dem 1. Staatsexamen für das Lehramt an Realschulen ab; 1981⫺86 studierte sie zusätzlich Vk. an der Univ. Göttingen und wurde 1987 in Hamburg mit der Diss. Curiöse Bauer-Historien. Zur Tradierung einer Fiktion (Würzburg 1987) promoviert. 1983⫺87 war sie als wiss. Hilfskraft bei der EM, 1987⫺93 als wiss. Mitarbeiterin am Seminar für Vk. der Univ. Göttingen beschäftigt, 1994⫺97 war sie Stipendiatin der Dt. Forschungsgemeinschaft. Seit 1997 ist sie an der Univ. Zürich beschäftigt, habilitierte sich dort 2001 und wurde 2008 zur Titularprofessorin für Europ. Volksliteratur ernannt; seit 2003 ist sie wiss. Leiterin der Abt. Europ. Volksliteratur (seit 2006 Populäre Lit.en und Medien) am Volkskundlichen Seminar (seit 2006 Inst. für populäre Kulturen). 1989⫺2000 war T. Mitarbeiterin der Internat. Volkskundlichen Bibliogr. 1998⫺2000 war sie Vorsitzende der 1998 zusammen mit S. Wienker-Piepho neubegründeten Kommission für Erzählforschung in der Dt. Ges. für Vk. T.s von E. J Moser-Rath und A. J Lehmann betreute Diss. beschäftigt sich anhand
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von U. Dorffgasts Schwanksammlung Curiöse Bauer-Historien (1709) mit der Herkunft des Bauernbildes als eines wirkmächtigen Vorstellungsmusters; mit dem Thema hat sich T. auch später aus erzählforscherischer wie aus volkskundlicher Perspektive weiter auseinandergesetzt1. Ihr Hb. Lesebuchgeschichten (B./N. Y. 1993), das Erzählstoffe in dt. Schullesebüchern der Jahre 1770⫺1920 erschließt, zeigt anhand einer detaillierten Quellenarbeit, daß dem Schullesebuch im dt. Sprachraum für die Tradierung populärer Erzählstoffe eine zentrale Bedeutung zukommt2. Der zusammen mit R. J Schenda erstellte Katalog Istorie bellissime (Wiesbaden 1993) verzeichnet R. J Köhlers Slg ital. Volksdrucke des 19. Jh.s. Zusammen mit U. J Marzolph hat T. Moser-Raths Kl. Schr. zur populären Lit. des Barock (Göttingen 1994) sowie die für den interkulturellen Unterricht konzipierte kommentierte Textauswahl Grimms Märchen Internat. (Paderborn 1996) herausgegeben. Eingehend hat sich T. mit der Kompilationspraxis in den Sagensammlungen W.-E. J Peuckerts befaßt3. Zahlreiche ihrer Arbeiten lassen den (nicht nur erzählerischen) Umgang mit benachteiligten, randständigen oder diskriminierten Personen als ein bes. Anliegen erkennen4. Allg. praktiziert T. ein weites Verständnis von Erzählforschung, das über die Texte hinaus insbesondere deren hist. und sozialen Kontext in Betracht zieht. Das Spektrum der behandelten Themen umfaßt neben EM-Artikeln etwa das Welt- und Menschenbild esoterischer Lit.5, Bestsellerforschung6, z. B. zu Johanna Spyris Heidi-Romanen7 oder den Fantasy-Romanen um Harry Potter von Joanne K. Rowling8, Walt J Disneys Märchenfilme9, die Popularisierung der schweiz. Reklamefigur Globi10, die Rolle der religiösen Sozialisation und ihre Widerspiegelung im autobiogr. Erzählen11 oder Science Fiction12. T. publizierte u. a. die Beiträge einer Tagung zur Bestandsaufnahme der volkskundlichen Erzählforschung13. Die Vorträge des von ihr zu Schendas 70. Geburtstag veranstalteten Symposiums widmen sich dem Thema der populären Enz.en14. Ein mit B. Frizzoni herausgegebener Kongreßband behandelt Aspekte der J Unterhaltung15. 1 T., I.: „Wie weit sich der Bauren Verstand erstrecke“. Ansichten protestant. Autoren aus der Zeit vor der Volksaufklärung. In: Jb. für Vk. N. F. 10
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Tonbandaufnahme ⫺ Tonträger
(1987) 95⫺108; ead.: Das Gute zur Nachfolge, das Böse zur Warnung. Christian Friedrich Hilschers „Sonderbare Bauer-Exempel“ (1725) und ihre erzieherische Funktion. ibid. 11 (1988) 219⫺229; ead.: Geplagte Priester, verwilderte Gemeinden. Aspekte der Popularität von Bauernpredigten. In: Le Livre religieux et ses pratiques/Der Umgang mit dem religiösen Buch. ed. H. E. Bödeker/G. Chaix/P. Veit. Göttingen 1991, 194⫺220; ead.: Urlaub auf dem Bauernhof. In: Der industrialisierte Mensch. ed. M. Dauskardt/H. Gerndt. Münster 1993, 223⫺232. ⫺ 2 cf. ead.: Äsopische Fabeln im dt. Schullesebuch des ausgehenden 18. Jh.s. In: Fabula 31 (1990) 24⫺32; ead.: Geschichten zum Ab- und Zurichten. Verhaltensnormierung in Lesebüchern des 19. Jh.s. In: Jb. für Vk. (1999) 105⫺121. ⫺ 3 T., I./Ude-Koeller, S.: Auf den Spuren Will-Erich Peuckerts. Zur Arbeitsweise eines Sagenforschers. In: Medien popularer Kultur. Festschr. R. W. Brednich. Ffm./N. Y. 1995, 131⫺144; cf. auch T., I.: „In der Heimat wurzeln und im Vaterlande aufgehen“. Sagen im Dienste politischer Erziehung. In: Vk. in Niedersachsen 14,2 (1997) 81⫺94. ⫺ 4 ead.: „Hat er sie geschändet, so soll er sie auch behalten“. Stationen einer Fallgeschichte. In: Fabula 32 (1991) 240⫺257; ead.: Bei Folter und Hinrichtung. Bekehrungsversuche an jüd. Delinquenten. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschr. R. Schenda. Bern u. a. 1995, 695⫺708. ⫺ 5 ead./Sedlaczek, D.: „Denkmann und Fühlfrau“. Zur Mythologisierung des Weiblichen in Esoterik und New Age. In: Männlich, Weiblich. Zur Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Kultur. ed. C. Köhle-Hezinger/M. Scharfe/R.-W. Brednich. Münster u. a. 1999, 325⫺335; T., I.: Krankheiten, Kriege, Katastrophen … Sonnenfinsternisse im Spiegel populärer Lit. In: Bayer. Bll. für Vk. N. F. 2,2 (2000) 27⫺35; ead.: Sanfte Alternativen? Zum Welt- und Menschenbild in esoterisch ausgerichteten Gesundheitsratgebern. In: Hahnemann, A./Oels, D. (edd.): Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jh. Ffm. 2008, 109⫺120. ⫺ 6 ead.: Schwerpunkte und Perspektiven der Bestsellerforschung. In: SAVk. 99 (2003) 49⫺64. ⫺ 7 ead.: Die Schweizer „Heidi“Filme der 50er Jahre. In: Johanna Spyri und ihr Werk. Zürich 2004, 205⫺222. ⫺ 8 ead.: Vom Weltbürger zum Global Player. „Harry Potter“ als kulturübergreifendes Phänomen. In: Fabula 44 (2003) 79⫺97. ⫺ 9 ead.: Disneys Märchenfilme. In: Hören, Lesen, Sehen, Spüren. Märchenrezeption im europ. Vergleich. ed. R. Bendix/U. Marzolph. Baltmannsweiler 2008, 209⫺233. ⫺ 10 ead./Bellwald, W.: Globi. Eine Reklamefigur wird zum Mythos. In: Globi und seine Zeit. Zürich 2003, 8⫺69. ⫺ 11 T., l.: „Ja, der Glaube oder die Religion hat schon sehr geprägt.“ Autobiogr. Erzählen zur religiösen Sozialisation in den 1940er bis 1960er Jahren. In: Leben ⫺ Erzählen. Festschr. A. Lehmann. B./Hbg 2005, 307⫺337. ⫺ 12 ead.: Einführung. In: Atlantis steigt auf ! P. A. Müller ⫺ Science Fiction aus Murnau. Ausstellungskatalog Murnau 2008, 9⫺19; ead.: Wissensvermittlung durch Unterhaltungsliteratur.
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Science Fiction im 19. und frühen 20. Jh. ibid., 36⫺ 48. ⫺ 13 SAVk. 97,1 (2001) (Sonderheft „Volkskundliche Erzählforschung“). ⫺ 14 T., I. (ed.): Populäre Enz.en. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens. Zürich 2002. ⫺ 15 Frizzoni, B./T., I. (edd.): Unterhaltung. Konzepte ⫺ Formen ⫺ Wirkungen. Zürich 2006.
Göttingen
Ulrich Marzolph
Tonbandaufnahme J Tonträger
Tonträger als technische Medien zur Speicherung von Musik oder Sprache sind für die volkskundliche Erzählforschung aus zwei Gründen wichtig. Erstens sind sie zentrale methodische Hilfsmittel im Forschungsprozeß, zweitens sind die von ihnen vermittelten populären Erzählstoffe Untersuchungsgegenstand der Erzählforschung. Am Beginn der breiteren Nutzung von T.n steht der 1877 von T. A. Edison patentierte Phonograph, bei dem das akustische Signal mittels einer vibrierenden Nadel auf Wachswalzen festgehalten wurde1. Dieser war zunächst als Diktiergerät konzipiert worden, avancierte aber bereits in den 1880er Jahren zum bürgerlichen J Unterhaltungsmedium (J Medien, audiovisuelle). Die Bedeutung der Erfindung, welche die originalgetreue Dokumentation akustischer Daten versprach2, wurde bald für die J Feldforschung erkannt. Die ältesten erhaltenen ethnogr. Aufnahmen sind Sprachaufnahmen der Passamaquoddy-Indianer (1890) von J. Walter3. Als einer der Pioniere auf diesem Gebiet in Deutschland arbeitete J. J Künzig seit den 1920er Jahren mit dem Edisonographen4. Er setzte seine erfolgreiche Arbeit auch nach dem 2. Weltkrieg fort. 1933⫺35 zeichneten M. J Parry und A. B. J Lord südslav. Epen auf. Zu den Erzählforschern, die sich aufgrund ihrer Feldforschungsaktivität intensiv mit Fragen des Einsatzes der Tonaufnahmetechnik beschäftigt haben, zählen A. J Cammann5 sowie K. J Haiding6. Der Einsatz von T.n in der Feldforschung ist durch die Entwicklung des Mediums hin zu leichter bedienbaren und preiswerten Geräten ebenso bestimmt wie dadurch, daß neue Technik einen Prozeß des ,Kultürlich‘-Werdens durchlaufen muß7. So stammt das Patent
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Tonträger
für das Tonband von 1929, die ersten Geräte für den Heimgebrauch wurden jedoch erst in den 1950er Jahren hergestellt8. Schwierigkeiten, die mit Transport und Aufnahmequalität zusammenhingen9, sind ebenso wie Anleitungen für den erfolgreichen Einsatz neuer Aufnahmetechnik von der Forschung mitunter selbst thematisiert worden10. Seit den 1970er Jahren gehört die Sicherung erhobener Gesprächsdaten auf T.n, die zuerst in der qualitativen Sozialforschung praktiziert wurde, zum Forschungsstandard. Gegenüber älteren Erhebungstechniken bedeutete dies eine methodische Herausforderung11. Umstritten ist, inwieweit die elektroakustische Aufzeichnung den Gesamtcharakter des Gesprächs beeinflußt. Während beispielsweise A. J Lehmann betont hat, daß die Präsenz von Aufnahmegeräten im Interview aufgrund der Vertrautheit mit dem Medium schnell vergessen werde12, hat K. Brake eingewandt, daß die Aufzeichnung stets im Bewußtsein der Befragten bleibe und somit zu einem analytisch zu berücksichtigenden Interaktionspartner werde13. Die Frage nach der „gesprächsbildenden Relevanz der Tonaufnahme“ wurde in der Reflexion über Erhebungssituationen erstaunlicherweise selten gestellt14. Im Forschungsverlauf wird in erster Linie mit verschriftlichten Tondokumenten gearbeitet. Dabei wird der Prozeß der Verschriftlichung sowohl hinsichtlich der Phänomene, die den Text determinieren, reflektiert (Kontext, situative und soziokulturelle Bedingungen, gesprochene Sprache, Intonation, Gestik) als auch hinsichtlich des durch ihn hervorgerufenen Informationsverlustes15. Verschriftlichte Texte werden auch dem wiss. Publikum präsentiert; die Mitveröffentlichung der akustischen Dokumente und so die Gewährleistung einer Überprüfbarkeit von Auswertung und Interpretation und die Vermittlung sinnlich-akustischer Eindrücke etabliert sich zunehmend16, wie Beispiele für Bestrebungen, die Tonaufnahmen in der Publ. mit zu berücksichtigen, belegen17. Bes. im Bereich der Balladen- und Liedüberlieferung existiert ein erhebliches Repertoire an veröffentlichten Tondokumenten. Den Umgang mit T. problematisierte etwa J. B. J Toelken. Er hatte Aufnahmen bei den Navajo gemacht, sah diese jedoch als Besitz ihrer ursprünglichen Erzählge-
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meinschaft und gab sie teilweise zurück, anstatt sie weiterhin für wiss. Zwecke zu nutzen. Tonaufnahmen werden weltweit in eigens dafür eingerichteten Institutionen zusammengetragen, so in der Library of Congress in Washington, D. C., in der M. P. Collection of Oral Literature an der Harvard-Univ., im Department of Irish Folklore des Univ. College Dublin oder im iran. Volkskundearchiv (Markaz-e farhang-e mardom) in Teheran18. Im dt.sprachigen Bereich zählen hierzu das Phonogrammarchiv des Ethnol. Museums Berlin, das Phonogrammarchiv der Österr. Akad. der Wiss.en in Wien, das Dt. Volksliedarchiv und das Johannes-Künzig-Inst. für ostdt. Vk. in Freiburg (Breisgau) sowie das Cammann-Archiv am Inst. für Heimatforschung in Rotenburg (Wümme). Tonbänder und andere analoge T. wurden inzwischen nahezu vollständig durch digitale Speichermedien abgelöst. Seit die Möglichkeit zur digitalen Speicherung von Ton- und Bildaufnahmen besteht, sind digitale T. in schnellem Wechsel aufeinander gefolgt. Ihre Kapazität übersteigt die analoger T. deutlich; zugleich sind sie kostengünstiger, so daß unproblematisch mehr aufgezeichnet und wiederum einer Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden kann. Tonarchive stehen zunehmend vor dem Problem der adäquaten Sicherung ihres Materials, da die Haltbarkeit von T.n begrenzt und schwierig einzuschätzen ist. Aktuelle Projekte zur digitalen Erfassung, Erschließung und Langzeitarchivierung der Bestände von Tonarchiven reagieren auf diesen Umstand19. Eine erhebliche Bedeutung kommt T.n daneben für die mediale Adaptation und Verbreitung von populären Erzählstoffen zu, bes. in Produktionen für Kinder: Parallel zu den ersten J Rundfunksendungen für Kinder entstanden in Deutschland bereits in den späten 1920er Jahren die ersten Schallplatten für Kinder20. Aufgrund der technisch bedingten begrenzten Spieldauer der Schellackplatten handelte es sich um kurze Adaptationen populärer Märchen wie AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen, AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella und AaTh/ ATU 130: cf. J Tiere auf Wanderschaft, die vom Kinderrundfunk übernommen worden waren21.
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Tonträger
Auch in der Nachkriegszeit, als sich die Popularisierung und Verbreitung von T.n verstärkt fortsetzte und neue preiswerte Medienformate wie die Vinyl-Langspielplatte (1948) und die Audiokassette (1963) auf den Markt kamen, blieben Märchen die vorherrschenden Stoffe auf T.n für Kinder. Sie deckten ein Spektrum ab, das von Nacherzählungen, die mit einem Sprecher arbeiteten, bis hin zu inszenierten Hörspielen reichte. Zunächst wurde eher ein bildungsbürgerliches (Eltern-)Publikum angesprochen, mit den preiswerteren T.n wurden seit den 1970er Jahren Kinder aller Altersgruppen zur Zielgruppe der Unterhaltungsindustrie22. Daß Märchenschallplatten der 1960/70er Jahre inzwischen zum Bestandteil einer nostalgischen Sammlerleidenschaft geworden sind, belegen Internetseiten, auf denen sich Interessenten austauschen23. Bis in die 1970er Jahre blieben Märchen die dominanten Inhalte von T.n für Kinder, inzwischen wurden sie weitgehend durch Hörbücher mit Abenteuer-, Fantasy- und TV-gebundenen Inhalten abgelöst (J Television)24. Die Erzählforschung beschäftigt sich auch mit der Analyse von Medienadaptationen, bes. durch Audiomedien25. Medienprodukte werden häufig mehr oder minder explizit einer Grundsatzkritik unterworfen. Sie zielt einerseits auf eine Verfälschung der Originale, die kommerziellen Interessen geschuldet sei, und andererseits auf die Unmöglichkeit einer adäquaten medialen Umsetzung26. Studien, die nach einer Einbettung von T.n in den Alltag von Kindern fragen und so eine medienskeptische Vorverurteilung vermeiden, sind selten. So zeigte etwa eine Studie von Bielefelder Medienpädagogen, daß Märchenkassetten vor allem von jüngeren Kindern gehört werden, insgesamt aber hinter anderen für Kinder produzierten Genres zurückstehen und eher von Erwachsenen für Kinder gekauft werden27. Angesichts der Bedeutung von T.n für die Kinderkultur ist jedenfalls davon auszugehen, daß Märchenkenntnisse zu einem beträchtlichen Teil über Kassette, Schallplatte und digitale Audiomedien vermittelt wurden und werden. 1 Burow, H. W.: Mediengeschichte der Musik. In: Schanze, H. (ed.): Hb. der Mediengeschichte. Stg. 2001, 347⫺372, hier 359. ⫺ 2 Brednich, R. W.: Feld-
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forschung und Authentizität. In: Löffler, K. (ed.): Dazwischen. Zur Spezifik der Empirien in der Vk. Wien 2001, 83⫺92. ⫺ 3 Brady, E.: A Spiral Way. How the Phonograph Changed Ethnography. Wash. 1999, 54 sq. ⫺ 4 Werner-Künzig, W.: Johannes Künzig zum 80. Geburtstag. In: Jb. für ostdt. Vk. 20 (1977) 325⫺345, hier 330. ⫺ 5 Cammann, A.: Probleme und Methoden der Feldforschung mit Beispielen aus der Bestandsaufnahme ostdt. Vk. in der Gegenwart. In: Jb. für ostdt. Vk. 15 (1972) 378⫺407, hier 399 (Plädoyer für eine in den Hintergrund tretende Aufnahmetechnik). ⫺ 6 Kammerhofer-Aggermann, U.: Karl Haiding ⫺ vor 100 Jahren geboren. Ein Leben in dunkler Zeit. In: Märchenspiegel 17 (2006) 40⫺45. ⫺ 7 Hengartner, T.: Zur ,Kultürlichkeit‘ von Technik. Ansätze kulturwiss. Technikforschung. In: Technikforschung. Zwischen Reflexion und Dokumentation. Bern 2004, 39⫺57. ⫺ 8 Büchele, C.: Geschichte der T. Von der Erfindung der Schallplatte zu den digitalen Medien. Tutzing 1999, ´ Danachair, 19 (Begleitheft zur Ausstellung). ⫺ 9 O C.: Sound Recording of Folk Narrative in Ireland in the Late Nineteen Forties. In: Fabula 22 (1981) 312⫺ 315. ⫺ 10 Polunin, I.: Stereophonic Magnetic Tape Recorders and the Collection of Ethnographic Field Data. In: Current Anthropology 6 (1965) 227⫺230; Ives, E.: The Tape-Recorded Interview. A Manual for Field Workers in Folklore and Oral History. Knoxville 1980. ⫺ 11 Röhrich, L.: Volkspoesie ohne Volk. Wie ,mündlich‘ sind sog. ,Volkserzählungen‘? In: id./Lindig, E. (edd.): Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1989, 49⫺65, hier 50, 55. ⫺ 12 Lehmann, A.: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiogr. Unters.en. Ffm./N. Y. 1983, 54. ⫺ 13 Brake, K.: Lebenserinnerungen rußlanddt. Einwanderer. B./ Hbg 1998, 48. ⫺ 14 Oldörp, C.: „Läuft das Ding schon?“ Zur heuristischen Frage nach der gesprächsbildenden ,Kraft‘ der Tonaufnahmetechnik im qualitativen Interview. In: Hengartner, T. (ed.): Der Sitz der Technik im Leben. Zürich (im Druck). ⫺ 15 Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Köln 1978, 12⫺ 27; Mills, A. M.: Oral Narrative in Afghanistan 1. Diss. (masch.) Cambr., Mass. 1978, 31⫺33. ⫺ 16 cf. aber Bendix, R.: Stimme. Eine Spurensuche. In: Leben ⫺ Erzählen. Beitr.e zur Erzähl- und Biogr.forschung. Festschr. A. Lehmann. B./Hbg 2005, 71⫺ 95, hier 79. ⫺ 17 cf. Künzig, J. u. a. (edd.): Lied- und Erzählgut der Resi Klemm aus Alma´skamara´s im ung. Banat. Authentische Tonaufnahmen 1952⫺ 1961. t. 1⫺4. Fbg 1980; Stilo, D. L.: Vafsi Folk Tales. Wiesbaden 2004; Galley, M.: Le Figuier magique et autres contes alge´riens dits par Aouda. P. 2003; Janning, J. (ed.): Von der Wirklichkeit der Volksmärchen. Baltmannsweiler 2005; Reichl, K.: Edige. A Karakalpak Oral Epic as Performed by Jumabay Bazarov (FFC 293). Hels. 2007. ⫺ 18 cf. Marzolph, U.: Seyyid Abolqa¯sem Engˇavi Sˇira¯zi (1921⫺1993) und das iran. Volkskundearchiv. In: Fabula 35 (1994) 118⫺124. ⫺ 19 cf. Lehmann, A.: Das Archiv für alltägliches Erzählen am Inst. für Vk. der Univ.
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Topf
Hamburg. In: Schmitt, C. (ed.): Volkskundliche Großprojekte. Münster u. a. 2005, 115⫺125, hier 123. ⫺ 20 Büchele (wie not. 8) 11. ⫺ 21 Heidtmann, H.: Kindermedien. Stg. 1992, 63. ⫺ 22 id.: Lit. für kleine ,Kopfhörer‘. Kindertonträger: Produktionsentwicklung und Marktentwicklung. In: Raecke, R. (ed.): Kinder- und Jugendlit. in Deutschland. Mü. 1999, 254⫺261. ⫺ 23 cf. Herlyn, G./Overdick, T. (ed.): KassettenGeschichten. Von Menschen und ihren Mixtapes. Münster 2003. ⫺ 24 Jensen, K./ Rogge, J.-U.: Der Medienmarkt für Kinder in der Bundesrepublik. Tübingen 1980, 157. ⫺ 25 Schmitt, C.: Populäre Medien in der volkskundlichen Erzählforschung. Verpasste Grenzgänge am Beispiel der Erforschung fernsehmedialer Narrationen. In: SAVk. 97 (2001) 67⫺78, hier 72; id. (ed.): Erzählkulturen im Medienwandel. Münster u. a. (im Druck). ⫺ 26 SimsalaGrimm ⫺ Klimbim? Leipzig 2000; Drascek, D.: „SimsalaGrimm“. Zur Adaption und Modernisierung der Märchenwelt. In: SAVk. 97 (2001) 79⫺89. ⫺ 27 Treutmann, K. P./Volkmer, I.: Die Toncassette im kindlichen Medienalltag. Rekonstruktionsversuche parzellierter Lebensräume durch Medien. In: Wandlungen der Kindheit. Opladen 1993, 115⫺162, hier 134.
Hamburg
Gerrit Herlyn
Topf, in verschiedensten Größen und aus unterschiedlichem Material hergestelltes Gefäß, das vor allem zur Zubereitung von Speisen, zur Vorratshaltung und zur Aufbewahrung von Gegenständen dient. Eine exakte Abgrenzung zum J Kessel ist aufgrund des z. T. synonymen Gebrauchs in den Texten unmöglich, und auch andere Behältnisse sind oft mit dem T. austauschbar. In Erzählungen können T.e u. a. als Ausdruck von Wunschvorstellungen Bedeutung für die Handlung erlangen oder selbst zu Handlungsträgern werden (cf. J Gegenstände handeln und sprechen). Weit verbreitet sind Geschichten über vergrabene Schatztöpfe1 oder T.e, deren wertloser Inhalt sich in Gold oder Geld verwandelt (z. B. AaTh 834 A/ATU 834: cf. J Schatz des armen Bruders). Dt. Sagen erzählen u. a. über die Verwendung von T.en bei der Hexerei, etwa um ein Gewitter zusammenzubrauen2 oder einen Nachbarn mit Hilfe von Schadenzauber zu töten3; auch bei der Einweihung in die Hexenkunst4 und beim Liebeszauber5 spielt der T. eine Rolle. Ein weiteres beliebtes Sagenthema ist das Ausborgen von T.en und anderem Geschirr bei übernatürlichen Wesen (häufig Zwergen) ⫺ wobei die menschlichen Entlei-
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her bei der Rückgabe einen Speiserest im T. lassen müssen ⫺, das umgekehrt auch von den Jenseitigen praktiziert wird6. In Norwegen gängig sind Sagen vom Gespräch der Trolle, in dem der eine den anderen um einen T. bittet, um einen Ruhestörer bzw. Feiertagsfrevler zu kochen7. Wunschphantasien armer Leute spiegeln sich in Märchen von nahrungsspendenden Zaubertöpfen wider (AaTh/ATU 565: J Wundermühle; AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich; AaTh/ATU 564: J Provianttasche). Auf solche Vorstellungen greift in der Storia di Campriano (Strophe 13⫺14, 19⫺33), einem um 1500 entstandenen ital. Volksbuch, und in verwandten schwankhaften Erzählungen (AaTh/ ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit; AaTh/ ATU 1535: J Unibos8; AaTh/ATU 1260: cf. J Mahl der Einfältigen; AaTh/ATU 1542: J Peik) ein Betrüger zurück, um allzu Gutgläubigen einen angeblich selbstkochenden T. anzudrehen; auch Olaus Magnus berichtet in der Historia de gentibus septentrionalibus (1555; Buch 13, Kap. 35), daß einige Jüten auf scheinbar ohne Feuer kochende T.e hereinfielen. In der Funktion eines Helfers agiert das Gefäß in AaTh/ATU 591: Der stehlende J T.; Haushaltsgeräte wie die Kalebasse warnen in westafrik. Märchen das wählerische Mädchen vor der Heirat mit einem Fremden oder raten ihm zu9. Schwänke dagegen machen sich über den Glauben an die Realität solcher Anthropomorphisierungen lustig: Während ein Trickster vom suggerierten ,Tod‘ des T.es profitieren kann (AaTh/ATU 1592 B: J T. hat ein Kind ), versuchen närrische Leute vergebens, einen T. zum Laufen zu bringen (AaTh/ATU 1291 A: cf. J Ausschicken von Gegenständen oder Tieren), oder glauben, ein T. könne sich beklagen (AaTh/ATU 1264*: The Boiling of the Porridge Pot). Dem mit Speisen gefüllten T. steht als Negativbild und Quelle von Frustrationen der Nachttopf gegenüber. In frz. Var.n von AaTh/ ATU 313: cf. J Magische Flucht verbringt ein junger Mann die Nacht statt mit den erwarteten Liebesfreuden damit, den sich unaufhörlich magisch füllenden Nachttopf zu leeren10; in einer litau. Erzählung bekommt ein Prinz beim Einsteigen ins Zimmer seiner Liebsten von deren neuem Liebhaber das Nachtgeschirr ins Gesicht gekippt11; im engl. Versschwank
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Topf hat ein Kind
The Tale of the Basyn (13./14. Jh.) und damit verwandten Texten (AaTh 571 A/ATU 571 B: cf. J Liebhaber bloßgestellt) bleibt ein ehebrecherisches Paar am Nachttopf kleben12. Als Aufwertung der Erotik interpretiert wurde im Gegensatz dazu der frz. Brauch, dem Brautpaar in der Hochzeitsnacht ein Gericht im Nachttopf zu servieren13. In einem westafrik. Erzähltyp symbolisiert die nur durch den Ehemann mögliche Ablösung des festgeklebten Honigtopfs vom Mund des naschhaften Mädchens, daß dieses endlich dazu gebracht wird, das eheliche Zusammenleben zu akzeptieren14. Immer wieder ist in Erzählungen auch von der Zerbrechlichkeit irdener T.e die Rede15: J König Drosselbart (AaTh/ATU 900) und J Twardowski zerstören die Töpferstände ihrer Frauen, um sie zu demütigen; Poltergeister und Teufel werfen mit T.en und anderem Geschirr16; der zerbrochene T. kann den Tod einer Erzählfigur anzeigen (Mot. E 761.5.1; J Erkennungszeichen, Kap. 9)17, sein Zerschlagen symbolisiert das Ende einer Beziehung18 oder drückt Trauer aus (AaTh/ATU 2022: cf. J Tod des Hühnchens); die Tränen der Kinder lassen den T., in dem ihre Mutter gekocht wird, bersten19. Mit Hilfe bodenloser oder durchlöcherter Gefäße gelingt es in AaTh/ ATU 1130: J Grabhügel, den Teufel zu betrügen. 1 z. B. Gottschalck, F.: Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen. Halle 1814, 300⫺303; Colshorn, C. und T.: Märchen und Sagen. Hannover 1854, num. 78; Schöppner, A.: Sagenbuch der Bayer. Lande 2. Mü. 1874, num. 824; zu Sagenbelegen cf. hier und im folgenden Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003, s. v. Pott, T., T. e. ⫺ 2 Temme, J. D. H.: Die Volkssagen der Altmark. B. 1839, 92, num. 3. ⫺ 3 Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz 3. Augsburg 1859, 253; cf. Brückner, 489, num. 582 (b). ⫺ 4 z. B. Kuhn, A./Schwartz, W.: Norddt. Sagen, Märchen und Gebräuche. Lpz. 1848, num. 217.1; Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 2. Wien 1880, 9; Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1. ed. K. Willoh. Oldenburg 21909, 369 sq.; Busch, W.: Ut oˆler Welt. Mü. 1910, 134, num. 44. ⫺ 5 Strackerjan (wie not. 4) t. 2, 281 sq.; Bartsch (wie not. 4) 36, num. 17. ⫺ 6 z. B. Lyncker, K.: Dt. Sagen und Sitten in hess. Gauen. Kassel 1854, num. 94; Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. ed. O. Mensing. Schleswig 1921, num. 447, 452; Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staats 2. Glogau 1871, num. 39. ⫺ 7 Christiansen, Migratory
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Legends, num. 5000. ⫺ 8 Müller, J.: Das Märchen vom Unibos. Jena [1934], 54⫺58. ⫺ 9 Steinbrich, S.: Imagination und Realität in westafrik. Erzählungen. Köln 1997, 244, 248 sq.; Görög-Karady, V./Seydou, C. (edd.): La Fille difficile. Un conte-type africain. P. 2001, 435 sq. ⫺ 10 Massignon, G.: Contes de l’Ouest. P. 1953, num. 1; Delarue/Tene`ze 313 (Var. 82). ⫺ 11 Leskien, A./Brugman, K.: Litau. Volkslieder und Märchen. Straßburg 1882, num. 18. ⫺ 12 Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977, 91 sq.; Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen 2. MdW 1923, 17⫺ 19; Delarue/Tene`ze 571 B (Var. 1, 2, 5, 7). ⫺ 13 Verdier, Y.: Fac¸ons de dire, fac¸ons de faire. [P.] 1979, 288⫺332, bes. 329⫺332. ⫺ 14 Calame-Griaule, G.: Des Cauris au marche´. P. 1987, 277⫺280; Steinbrich (wie not. 9) 233⫺236. ⫺ 15 cf. z. B. auch Schott, R.: Kinder- und Hausmärchen der Bulsa in Nordghana (Westafrika). Bonn 2003, num. 32. ⫺ 16 z. B. Grimm DS 72, 122; Grässe (wie not. 6) t. 1, num. 466. ⫺ 17 Schmidt, num. 209.6. ⫺ 18 Steinbrich (wie not. 9) 249. ⫺ 19 Schmidt, num. 940.2.
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Topf hat ein Kind (AaTh/ATU 1592 B), schwankhafte Erzählung mit belehrender Tendenz: Ein J Trickster leiht sich von einem (geizigen) Nachbarn (J Geiz, Geizhals) einen T. (Kessel, anderes Gefäß). Nach einiger Zeit gibt er ihn zusammen mit einem kleinen T. zurück. Zur Begründung führt er an, der T. sei schwanger gewesen und habe inzwischen das Töpfchen geboren. Als er den T. später wieder ausleiht, wartet der Besitzer vergeblich auf die Rückgabe. Auf Nachfrage teilt der Trickster mit, der T. sei im Kindbett verstorben. Als der Besitzer nicht daran glauben will, daß ein T. sterben könne, führt der Trickster ihn dadurch J ad absurdum, daß er an die J Schwangerschaft geglaubt habe: so müsse er jetzt auch den Tod des T.s als glaubhaft hinnehmen.
Die frühesten Belege für den Erzähltyp finden sich in drei Werken von Autoren der arab. schöngeistigen Lit., die im ersten Drittel des 11. Jh.s verstorben sind1. Protagonist ist hier Asˇ¤ab, ein hist. belegter Sänger, Dichter und professioneller Unterhalter im Medina des frühen 8. Jh.s, der in der arab. Lit. zum Prototyp des Gierigen entwickelt wurde2; seine Gegenspielerin ist ein von Asˇ¤ab zur Ausbildung angenommenes Mädchen; als Leihobjekt fungiert eine Münze (dı¯na¯r), die einmal (mehrere Male) eine kleinere Münze (dirham) ,gebiert‘, bevor sie schließlich ,stirbt‘. In dieser Form findet sich die Erzählung über diverse Werke
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Topf: Der stehlende T.
der arab. hist., biogr. und sprachwiss. Lit.3 bis in die Gegenwart ausschließlich zur Figur des Asˇ¤ab4. Seine weitergehende Verbreitung verdankt der Erzähltyp der Tatsache, daß er bereits in der vormodernen osman. hs. Überlieferung mit der Kristallisationsgestalt des J Hodscha Nasreddin verbunden wurde; dabei wurden gleichzeitig die Münzen als Leihobjekt durch die universell gebräuchlichen, meist bauchigen Gefäße ersetzt5. Spätestens seit den Druckausgaben des 19. Jh.s ist der Erzähltyp dann stereotyper Bestandteil der Geschichten um Nasredˇ uhø a, Molla¯ Nasøroddin, Efendi etc.) und din (G hat sich mit diesen im gesamten hist. Einflußbereich der islam. Kulturen verbreitet6. Dies gilt über die Länder Nordafrikas (einschließlich Maltas) und des Vorderen Orients hinaus sowohl für Südosteuropa und den Balkan (ung., rumän., serb., kroat., bulg., mazedon., alban., griech.) als auch für von islamisierten Völkern besiedelte Gebiete in West- und Ostafrika7, Indien (Himalaja, Kaschmir)8, Indonesien9 und China (uigur.)10; z. T. fand dabei eine Übertragung auf regionaltypische Protagonisten statt, so etwa in Rumänien auf einen Rumänen und einen Zigeuner11 oder in Ostafrika auf den Trickster J Abu¯ Nuwa¯s12. Auch in der jüd. Überlieferung des Orients ist die Geschichte vertreten13. Durch J. C. Mardrus gelangte sie Anfang des 20. Jh.s sogar in eine Ausg. von J Tausendundeine Nacht14. Außerhalb des islam. beeinflußten Raums ist AaTh/ATU 1592 B sehr selten nachgewiesen, so etwa in der ndl. Kalenderliteratur (1845, 1939)15 oder Ende des 20. Jh.s im Vortrag eines professionellen Geschichtenerzählers in den Niederlanden (ca 1998)16. Bes. Erwähnung verdient die 1936 veröff. deutschtümelnde Var. aus dem östl. Belgien, in der ein ,Auvermann‘ (Erdmännchen; J Hausgeister) an einem geizigen Bauer ein Exempel statuiert17. AaTh/ATU 1592 B steht meist für sich und ist nur selten mit anderen Schwänken wie AaTh/ATU 1642 A: cf. Der gute J Handel18 oder AaTh/ATU 1535: J Unibos19 verbunden. Der Erzähltyp prangert mit entwaffnender Logik Gier und Geiz an. Darüber hinaus ist er ein Paradebeispiel für den Sachverhalt der narrativen Adaptation, durch die eine im Orig.
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nur vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund verständliche Erzählung weltweite Popularität erreichen konnte20. Marzolph, Arabia ridens 2, num. 502. ⫺ 2 Rosenthal, F.: Humor in Early Islam. Leiden 1956. ⫺ 3 Marzolph (wie not. 1); Rosenthal (wie not. 2) num. 146. ⫺ 4 Qumaihø a, M.: Nawa¯dir Asˇ¤ab (Die Geschichten von Asˇ¤ab). Beirut 1999, 53. ⫺ 5 Kut, T.: Nasreddin Hoca hikaˆyeleri yazmalarının kolları üzerine bir deneme [Konkordanz der in den verschiedenen Nasreddin Hodscha-Mss. enthaltenen Geschichten]. In: IV. Milletlerarası Türk Halk Kültürü kongresi bildirileri. 2: Halk Edebiyatı. Ankara 1992, 147⫺200, num. 46; Marzolph, U.: Nasreddin Hodscha. Mü. 1996, num. 338. ⫺ 6 Hodscha Nasreddin 1, num. 35. ⫺ 7 Hacquard, A./Dupuis-Yakouba, A.: Manuel de la langue son˜gay parle´e de Tombouctou a` Say dans le boucle du Niger. P. 1897, num. 8; Büttner, C. G.: Anthologie aus der Suaheli-Litteratur 2. B. 1894, 88 sq.; Ingrams, W. H.: Abu Nuwas in Life and Legend. Port Louis 1933, 55 sq. ⫺ 8 Thompson/Balys J 1531.3; Jason, Indic Oral Tales. ⫺ 9 de Vries 273, not. 1. ⫺ 10 Ting. ⫺ 11 Stroescu, num. 4772 A, num. 5524 (Beleg 1). ⫺ 12 Büttner und Ingrams (wie not. 7). ⫺ 13 Schwarzbaum, 104, num. 18; Haboucha; Jason, Iraq; Soroudi. ⫺ 14 Mardrus, J. C.: Le Livre des Mille Nuits et une nuit 15. P. 1904, 98; cf. Chauvin 9, 82; Marzolph, U.: Juhø a¯ in the „Arabian Nights“. In: J. of Arabic Literature 36,3 (2005) 311⫺322, hier 313 sq. ⫺ 15 Archiv van der Kooi, Groningen. ⫺ 16 Meertens Instituut, Amsterdam, Verhalenbank, LOMBO680. ⫺ 17 Bodens, W.: Vom Rhein zur Maas. Bonn 1936, num. 10. ⫺ 18 Kentron Erevnis tis Ellinikis Laographias, Athen, Ms. 1192, p. 52. ⫺ 19 El-Shamy, Types (Beleg 12, 13). ⫺ 20 Marzolph, Arabia ridens 1, 77⫺79, bes. 78 sq. 1
Göttingen
Ulrich Marzolph
Topf: Der stehlende T. (AaTh/ATU 591), Zaubermärchen, in dessen Mittelpunkt ein Gegenstand (gewöhnlich ein Kochtopf) steht, der einem armen Mann (Frau) gehört und diesem zu Essen und Wohlstand verhilft oder andere Wünsche erfüllt. Der Erzähltyp ist am besten für Skandinavien und den Nahen Osten belegt; in anderen Teilen Europas ist er eher spärlich dokumentiert. In Skandinavien verläuft die Handlung wie folgt1: Ein armer Mann (Junge, seltener Frau) erwirbt durch Verkauf oder Tausch einer Kuh einen T. mit wunderbaren Eigenschaften. Der T. geht (gewöhnlich mehrmals) ins Haus eines reichen Nachbarn (König), wird dort mit Essen (wertvollen Gegenstän-
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Topf: Der stehlende T.
den, Geld) gefüllt und bringt dieses dem Armen. Mitunter wird der T. von dem Reichen als Nachttopf benutzt. Dann bringt der T. den Reichen zu dem Armen. Der Reiche gibt dem Armen Geld, oder der T. trägt den Reichen in die Hölle.
In dieser komplexen Form ist der Erzähltyp relativ stabil. Er könnte im 18. Jh. in Dänemark aus traditionellen Motiven zusammengestellt worden sein2. Manchmal bekommt der Arme den Zaubertopf dafür, daß er einem alten Mann hilft3. Einige Var.n enden damit, daß der Held die Tochter des reichen Mannes heiratet4. Die Hauptfigur kann auch eine Frau sein5. Oft führt der T. mehrmals eine stilisierte komische Unterhaltung mit seinem Besitzer: „,Jetzt tripple-trapple ich!‘ ⫺ ,Wo trippeltrappelst du denn hin?‘ fragte die Frau. ,Ich tripple-trapple hinauf zum Herrn!‘ sagte der Topf und trippel-trappelte davon.“6 Kombinationen mit anderen Erzähltypen sind ungewöhnlich7. In Var.n des Nahen Ostens dient vielfach Sexuelles als Quelle derben Humors: Hier ist die Besitzerin des T.s eine Frau, die sich sehnlich ein Kind wünscht (J Unfruchtbarkeit). Schließlich gebiert sie einen T.8 Nachbarn füllen ihn mit Essen und Schmuck, und der T. trägt alles zu seiner Besitzerin. Zum Schluß bringt er einen Ehemann9, einen menschlichen Penis10 oder Exkremente mit11.
Das zentrale Motiv von AaTh/ATU 591 ist in Japan aus dem Jahr 1050 in einer Legende über den buddhist. Heiligen Myoren (10. Jh.) belegt, dessen Bettelnapf auf der Suche nach Eßbarem fortfliegt und voller Almosen zurückkehrt. Als aber ein reicher Mann versäumt, Almosen zu geben, transportiert der Napf dessen ganzen Reisspeicher ab. Eine Illustration dieser Legende findet sich auf einer Bildrolle aus der 1. Hälfte des 12. Jh.s12. In einer modernen jap. Var. aus dem Erzählkomplex AaTh/ATU 1525 sqq.: J Meisterdieb erwirbt ein Mann (als Lohn oder zum Dank für die Instandsetzung eines Schreins) eine angeschlagene Holzschüssel oder eine kleine Puppe, die für ihn Wertgegenstände oder Essen stiehlt13. Es besteht eine oberflächliche Ähnlichkeit zwischen dem J Diebstahl von Essen aus einem reichen Haushalt und frühneuzeitlichen Hexenvorstellungen14. Das Motiv des wunderbaren T.s (J Zaubergaben), der Essen beschafft, zählt zum Erzählkomplex der handelnden J Gegenstände und erscheint auch in
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Erzähltypen wie AaTh/ATU 564: J Provianttasche, AaTh/ATU 565: J Wundermühle und AaTh/ATU 569: J Ranzen, Hütlein und Hörnlein. In diesen Erzähltypen produziert der T. das Essen auf Befehl seines Besitzers jedoch selbst; er ist im wesentlichen nur Objekt. In AaTh/ATU 591 dagegen ist der T. eine Persönlichkeit mit komischen Zügen: Er spricht und geht und handelt aus eigenem Antrieb. Wie in anderen Geschichten auch, in denen ein sympathischer Armer einem geizigen (oder in anderer Weise zu tadelnden) Reichen gegenübersteht, geht es hier um wirtschaftliche und gesellschaftliche Gegensätze (J Arm und reich, J Sozialkritik)15. 1 Schier, K.: Schwed. Volksmärchen. MdW 1974, num. 37; Grundtvig, S.: Gamle danske Minder i Folkemunde 3. Kop. 1861, num. 43; Kristensen, E. T.: Æventyr fra Jylland 1. Kop. 1881, num. 26; ibid. 4 (1897) num. 61; Skattegraveren 7 (1887) num. 785; Sahlgren, J./Liljeblad, S.: Svenska Sagor och Sägner 2. Stockholm 1838, num. 30; Madsen, J.: Folkeminder fra Hanved Sogn. Kop. 1870, 70 sq.; Qvigstad, J.: Lappiske eventyr og sagn 2. Oslo 1928, num. 43; Bartens, H.-H.: Märchen aus Lappland. MdW 2003, num. 42; Christensen, N.: Folkeeventyr fra Kær Herred. ed. L. Bødker. Kop. 1963⫺67, num. 105; Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 134. ⫺ 2 Liungman, Volksmärchen. ⫺ 3 Liungman, W.: Weißbär am See. Kassel 1965, 122⫺124 (schwed.); Kristensen, E. T.: Bindestuens Saga. Kop. 1897, num. 29. ⫺ 4 Bondeson, A.: Svenska Folksagor fran Skilda Landskap. Stockholm 1882, num. 29; Säve, P. A./Gustavson, H.: Gotländska sagor 1. Uppsala 1952, 241⫺243; Hackman, O.: Finlands Svenska Folkdiktning I A 1. Hels. 1917, num. 138. ⫺ 5 Vk. 14 (1901⫺02) 114 sq.; Joos, A.: Vertelsels van het Vlaamsche Volk. Brügge 1889, num. 88. ⫺ 6 Stroebe, K.: Nord. Volksmärchen 1. MdW 1915, num. 11 (dän.). ⫺ 7 Barüske, H.: Eskimo-Märchen. MdW 1969, num. 15 (komplizierter Schöpfungsmythos); Holbek, B.: Dän. Volksmärchen. B. 1900, num. 16 (⫹ AaTh/ATU 545 A ⫹ AaTh/ATU 500); Zaunert, P.: Dt. Märchen seit Grimm. MdW 1964, num. 31 (⫹ AaTh/ATU 564). ⫺ 8 El-Shamy, Types; Eberhard/ Boratav, num. 173; El-Shamy, H. M.: Tales Arab Women Tell. Bloom. 1999, num. 6; Muhawi, I./Kanaana, S.: Speak, Bird, Speak Again. Berk. 1989, num. 1; Schmidt, H./Kahle, P.: Volkserzählungen aus Palästina 1. Göttingen 1918, num. 32; cf. Elbaz, A. E.: Folktales of the Canadian Sephardim. Toronto u. a. 1982, num. 35. ⫺ 9 Boratav, P. N.: Türk. Volksmärchen. B. 1967, num. 19; Konkka, U. S.: Karel’skie narodnye skazki. M./Len. 1963, num. 46. ⫺ 10 El-Shamy 1999 und Schmidt/Kahle (wie not. 8). ⫺
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Töpfe: Irdene und eherne T.
11 Muhawi/Kanaana (wie not. 8); Hambruch, P.: Malai. Märchen. MdW 1922, num. 52. ⫺ 12 Armbruster, G.: Das Shihisan Engi Emaki. Hbg 1969, 1⫺9, 134⫺ 140 (Abb.en 1⫺4, 16⫺19); Ikeda 1525. ⫺ 13 Ikeda 1525 (3⫺4). ⫺ 14 Liungman (wie not. 3) 183; cf. HDA 6 (1934⫺35) 298⫺308. ⫺ 15 Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1998, 618 (not. 119); Schier (wie not. 1) 282; Scherf 2, 1133⫺ 1135.
Los Angeles
Christine Goldberg
Töpfe: Irdene und eherne T. (ATU 296), Fabel, die zum ältesten Bestand der J Äsopika gehört und am Beispiel des Schicksals eines Gefäßes aus Ton und eines anderen aus Metall vermittelt, daß der Umgang mit seinesgleichen allem anderen vorzuziehen ist. Ein Schwacher solle sich niemals mit einem Stärkeren verbinden (J Stark und schwach); nur ein Gleichrangiger oder Gleichwertiger könne wahre J Treue und J Freundschaft zeigen. Ein Topf aus Ton und ein Krug aus Bronze stehen in einem Haus am Flußufer nebeneinander auf einem Regal. An einem stürmischen Tag steigt das Wasser über die Ufer und reißt einen Großteil der Möbel aus dem Haus mit, darunter die beiden Krüge. Die Strömung führt sie zusammen und trägt sie zum Meer. Der Bronzekrug bietet dem zerbrechlichen Tonkrug seinen Schutz an: nur er könne ihn vor gefährlichen Situationen bewahren. Der Tonkrug bedankt sich für das Angebot, lehnt jedoch ab: er sei in Gefahr, wenn die Wellen über ihm zusammenschlügen, würde aber auch zerbrechen, wenn der Bronzekrug gegen ihn stieße. Mit diesen Worten entfernt er sich auf die andere Seite des Schilfs.
Die Fabel erlangte durch die J Babriosparaphrasen (num. 193)1 und durch J Avian (num. 11)2 weite Verbreitung und ist auch als Spruch (z. B. tschech.: Der Tontopf streitet umsonst mit dem Metalltopf 3) und Sprichwort4 bekannt. Ältere jüd. Quellen wie der Midrasch Esther Rabba (1. Teil Anfang 6. Jh.) überliefern das agad. Sprichwort: ,Stößt ein metallener Topf gegen einen Tontopf, zerschlägt er ihn; stößt ein Tontopf gegen einen metallenen Topf, zerbricht er auch in diesem Fall‘ (3,6). An anderer Stelle heißt es: ,Fällt ein Fels auf einen Topf, weh dem Topf! Oder fällt ein Topf auf einen Fels, weh dem Topf! In jedem Fall ist’s um den Topf geschehen‘ (7,10)5. Ein ähnliches Gleichnis enthält der apokryphe Li-
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ber ecclesiasticus Jesus Sirach (13,2 [2. Jh. a. Chr. n.])6. Eine inhaltlich verwandte Fabel in den Mischle Schu’alim (Fuchsfabeln; num. 33) von Rabbi J Berechja ha-Nakdan (um 1300) entstand zwar auf der Grundlage des agad. Sprichworts, exemplifiziert aber Standesunterschiede zwischen J Arm und Reich: So sehr sich die Armen bemühten, die Reichen einzuholen, sie schafften es nicht, würden an ihrer Seite nur zerbrechen7. Die Zerbrechlichkeit des Tontopfs ist auch konstitutiver Bestandteil einer weiteren Fabel Avians (num. 41). Demonstriert wird, daß man sich von den Herrschenden und sozial Höherstehenden fernhalten solle. Eine verwandte Botschaft vermittelt die Fabel von den Tontöpfen im ind. J Pan˜catantra: Dort zerbrechen zwei ungebrannte T., als sie zusammenstoßen8. Ebenso wie im Gleichnis aus dem Midrasch Esther Rabba (7,10) wird in einer weiteren Geschichte des Pan˜catantra der Vergleich zwischen dem Starken und dem Schwachen am Beispiel des Schicksals des Tontopfs dargestellt, der von einem Stein zerschlagen wird9. Bedeutende Exempel- und Fabelkompilatoren des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit haben den Stoff vom irdenen und ehernen Topf vielfältig aufgegriffen und für eine weite Verbreitung der äsopischen Fabel gesorgt, wobei bes. die Version von Heinrich J Steinhöwel (Esopus, num. 123) nachwirkte10; ATU 296 findet sich u. a. in volkssprachigen dt.11, span.12, katalan.13, frz.14 und dän.15 Slgen. In Frankreich ist der Stoff in den Contes et discours d’Eutrapel (1585, Kap. 2) des Noe¨l J Du Fail vertreten. In Portugal kannte man ihn in der Übers. von Manuel Mendes da Vidigueira (Fabulas de Esopo, 1607)16. Neue Verwendungsbereiche ergaben sich durch die Aufnahme der Fabel in Schulbücher und Kalender. Wichtig für die Rezeption wurde dabei J La Fontaines Bearb. (Fables 5,2), die u. a. I. A. J Krylov als Vorlage für seine Versfassung nahm (7,13); wie La Fontaine warnt Krylov vor dem freundschaftlichen Umgang des Armen mit dem Reichen, ende doch der gemeinsame Weg oft schlecht für den Armen. Der slov. Bischof A. M. Slomsˇek stellte in seiner Fassung (1847)17 die Entwicklungsstadien zum Tontopf heraus und verglich sie mit denen des Menschen:
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Topographie, fiktive
Der Topf könne jede Form annehmen, solange der Ton noch frisch sei; die ungebrannte Form könne sich aber auch auflösen, wenn sie im Regen stehe. Vom Töpfer in den Ofen geschoben, werde der Topf hart und stark, jedoch zerbrechlich (cf. auch AaTh/ATU 298 C*: J Baum und Rohr). Der Mensch gleiche dem Tontopf, da man ihn in der Jugend zu einem guten oder schlechten Menschen formen könne. Schwierigkeiten ,erhärteten‘ ihn, nur so könne er Versuchungen standhalten.
Eine vergleichbare Moral enthält auch ein drittes Gleichnis aus dem Pan˜catantra: Eine schlechte Freundschaft zerbreche schnell wie ein Tontopf und lasse sich nur mit Mühe wiederherstellen. Die goldenen T. dagegen seien die richtigen, sie genäsen schnell, zerbrächen nur selten18. Eine ähnliche Botschaft beinhaltet auch das Buch der Beispiele der Alten Weisen des Anton von J Pforr: „was gute ist, das ist langwerig gleich einem guldin geschirre. Das weret lenger dan ein leichtfertigs glas, vnd wenn das glas zubricht, so ist es nit wider zu brengen, aber das gulden geschirre, so das bresthafftig, so wirt es doch leichtfertig wider gemacht, als es vor was.“19 Anspielungen auf die Fabel sind gelegentlich in der Lit. zu finden, u. a. im Don Quijote (1, Kap. 6; 2, Kap. 10; 1605/15) des J Cervantes oder im 1. Kap. des Romans I promessi sposi (1825⫺27) von Alessandro Manzoni. 1 Babrius/Perry, num. 378; Irmscher, J.: Antike Fabeln. B./Weimar 1978, 336. ⫺ 2 ibid., 412 sq. ⫺ 3 Flajsˇˇ eska´ prˇ´ıslovı´ (Tschech. Sprichwörter) 1,1. hans, V.: C Prag 1911, 350; Dvorˇa´k, num. 3866*. ⫺ 4 z. B. Wander 4, 1267, num. 18; 1268, num. 48, 49; 1271, num. 112, 123; 1272, num. 128, 144; 1273, num. 162. ⫺ 5 cf. Schwarzbaum, Fox Fables, 200⫺204, hier 201. ⫺ 6 cf. auch Dalmatin, J.: Jezus Sirah. Ljubljana 1575, 52. ⫺ 7 Schwarzbaum, Fox Fables, 200⫺204. ⫺ 8 Benfey 2, 215, num. 13. ⫺ 9 ibid., 215, num. 14. ⫺ 10 Babrius/Perry, num. 378; Dvorˇa´k, num. 3866*; Dicke/Grubmüller, num. 559. ⫺ 11 ibid. ⫺ 12 Keller/Johnson J 425.1; Goldberg J 425.1. ⫺ 13 Neugaard J 425.1. ⫺ 14 Cifarelli, num. 418. ⫺ 15 Pedersen, C.: Æsops levned og fabler 2. ed. B. Holbek. Kop. 1962, num. 162. ⫺ 16 Martinez J 425.1. ⫺ 17 Slomsˇek, A. M.: Zbrani spisi. 2: Basni, prilike in povesti (G. W. 2: Fabeln, Gleichnisse und Erzählungen). Klagenfurt 1878, 31 sq. ⫺ 18 The Panchatantra. Übers. A. W. Ryder. Bombay 1964, 193. ⫺ 19 Pforr, A. von: Das Buch der Beispiele der Alten Weisen 1. ed. F. Geissler. B. 1964, 71.
Ljubljana
Monika Kropej
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Topographie, fiktive 1. Allgemeines ⫺ 2. Referentialisierte fiktive T.n ⫺ 3. Intentionale fiktive T.n
1 . All ge me in es. Der Terminus T. (von griech. topos: Ort, Stelle und graphein: schreiben), ursprünglich als Ortsbeschreibung geogr. bzw. kartographisch konnotiert1, wird vermehrt seit Ende des 20. Jh.s parallel zur Erforschung von J Raumvorstellungen für unterschiedliche kulturelle Phänomene verwendet2. Als fiktive T. ist allg. die T. literar. Texte zu bezeichnen, auch wenn sie an realen und konkret benannten Orten spielen. Fiktive T.n sind das dem Autor Wesentliche erfassende Beschreibungen von Orten, die in Bezug zum Handeln der Figuren stehen, funktional eingesetzt werden und Bedeutungen in Orte und Landschaften projizieren. Die Wahrnehmung der J Fiktionalität einer T. ist hist. und kulturell bedingt variabel und u. a. vom jeweiligen geogr. Kenntnisstand und literar. Bewußtsein der Rezipienten abhängig3 (zur T. der Welt von J Göttern und J Toten cf. J Jenseits, J Jenseitsvisionen, J Jenseitswanderungen, J Himmel, J Paradies, J Fegefeuer, J Hölle, J Unterwelt). 2 . Ref er en ti al is ie rt e f ik ti ve T. n. Beispiele für die vermutete J Faktizität fiktiver T.n sind Vorstellungen von irdischen Paradiesen, in denen sich die Hoffnung auf ein glückliches Leben konkretisiert (J Wunschdichtung, Goldenes J ZA.). Sie sind in einer zwar schwer erreichbaren, aber als real aufgefaßten schönen Ferne lokalisiert4. E. J Bloch bezeichnete sie als geogr. J Utopie, worunter er auch die Suche nach dem jeweiligen Wunschraum faßte5. In religiöse Kontexte eingebundene Wunschorte der Sorglosigkeit, Langlebigkeit oder J Unsterblichkeit liegen im Diesseits, doch stets jenseits der bekannten Welt, also jenseits jeweiliger Erfahrung und Verifizierbarkeit. In taoist. Überlieferungen sind dies J Inseln im östl. Meer oder ein im Norden liegendes Land beim Berg Hu-ling, in buddhist. das Reich Uttarakuru nördl. des Weltberges Meru6 und das Land Shambala in Tibet (im Westen populär als Shangri-La)7. Antiken europ. Traditionen zufolge liegen paradiesische Gefilde jenseits oder an der Peripherie (J Ende der Welt) einer von einem Ozean umgebenen
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Topographie, fiktive
scheibenförmig gedachten Welt8, z. B. J Hesiods Inseln der Seligen (als glücklicher Aufenthaltsort verstorbener Heroen noch mit einem gewissen Jenseitscharakter behaftet) sowie das dem Menelaos versprochene Elysium (Odyssee 4,62⫺69) im westl. Ozean jenseits der Säulen des Herakles (Straße von Gibraltar) oder das Land der in ewiger Glückseligkeit lebenden Hyperboreer im äußersten Norden9. Hingegen liegt jüd.-christl. Überlieferungen zufolge das irdische Paradies, der J Garten Eden, im Osten und wird durch die Flüsse Pischon, Gihon, Tigris und Euphrat geogr. bestimmt (Gen. 2,8⫺15). Die im A. T. knappen Angaben zur Beschaffenheit Edens wurden erweitert, seine Lage weiter nach Osten in das Wunderland Indien verschoben10 und durch J Alexanders d. Gr. Iter ad paradisum11, Berichte über den J Priester Johannes und J Reiseberichte (Marco J Polo, Jean de J Mandeville) tradiert12. Innovativ ist die Darstellung des christl. irdischen Paradieses als Insel sowie seine Lage im westl. Atlantik in J Brandans Seefahrt. Seine T. (Helligkeit, mildes Klima, Quellen, immerreife Früchte und blühende Blumen, Edelsteine) entspricht anderen christl. Beschreibungen des irdischen Paradieses, in die Bilder antiker Darstellungen mit den Topoi des Gartens und des locus amoenus eingegangen waren. Die durch literale Exegesen der Bibel autorisierte Vorstellung prägte für Jh.e das von der Theologie bestimmte geogr. Denken des christl. Abendlands inklusive der Darstellung des irdischen Paradieses auf Karten13. Das konkret aufgefaßte irdische Paradies wurde im Zuge der geogr. Entdeckungen überwiegend zum Symbol und zur Metapher, z. B. in europ. Wunschlandschaften wie der Südsee bis hin zur idealisierten Darstellung von Auswanderer- und Ferienparadiesen (J Exotik, Exotismus)14. Als authentisch ausgegebene fiktive T.n Nordamerikas oder des Inneren von Australien erschienen in der Reiseliteratur und auf geogr. Karten bis in das 18. Jh.15. Jüngere Vorstellungen von einem realen irdischen Paradies im Osten, dem fiktiven Land Belovod’e, sind seit ca 1800 u. a. in russ. sozialutopischen Volkslegenden greifbar. Sie waren im 19. Jh. mit der konkreten Suche nach diesem Land jenseits des südl. Altaigebirges bis hin zu Inseln des Pazifik verbunden16 und gingen von den Beguny, einer Sekte der Altgläubigen, aus17.
Im Unterschied zu den mit einem statischen Zustand der Ursprünglichkeit konnotierten Paradiesvorstellungen sind menschliche Hoffart und J Hybris in meist urbanem Umfeld signifikativ für Erzählungen über untergegangene Orte (J Versinken). Teils handelt es sich um die Annahme einer Realität fiktiver Orte, teils um fiktionale Überhöhung ehemals einfacher Orte zu unermeßlich reichen Städten. Eine bis heute andauernde Rezeption verzeichnet die von Platon imaginierte Insel Atlantis18. Platon
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lokalisiert sie jenseits der Säulen des Herakles im Atlantik, stellt sie einem idealisierten Ur-Athen als aggressive imperiale Macht gegenüber und läßt J Zeus beschließen, sie wegen ihrer Verderbtheit zu zerstören. Der Atlantis-Mythos verselbständigte sich und wandelte sich von einer negativen in eine positive Utopie. Im jüd., christl. und islam. Bereich sind J Sodom und Gomorrha zum Topos für sündige untergegangene Städte geworden. In Chroniken und Sagensammlungen erscheinen Untergangssagen z. B. über Vineta in der Ostsee, Rungholt in der Nordsee oder über unter Schnee und Eis verschwundene Orte in den Alpen19.
3 . I nt en ti on al e f ik ti ve T. n. In Vormärchen, Eingangs- und Schlußformeln weisen imaginäre Örtlichkeiten oftmals auf die Fiktionalität von Zaubermärchen hin. Die T. der fiktiven Inseln J Bujan und Kidan in ostslav. (bes. russ.) Vormärchen oder der ,siebenundsiebzigsten Gegend hinter einem roten Meer‘ in slovak. setzt sich aus Motiven des J Schlaraffenlands (AaTh/ATU 1930), der J Verkehrten Welt und anderer Lügenmärchen zusammen20. Eingangsformeln signalisieren neben der Unbestimmtheit der zeitlichen Kategorie (,Es war einmal‘) auch die der räumlichen: ,In irgendeinem Zarenreich‘21 oder ,Wo war’s, wo war’s nicht‘. An letzteres schließt sich oft „eine weitere Bezeichnung des Ortes an, die durch Angabe einer unendlich großen Entfernung (siebenmal sieben Länder weit usw.) oder eines unendlich kleinen Raumes (Mauerspalte) die Handlung ins Irreale rückt“22. Von der Rückkehr des Erzählers aus der Märchenwelt in die Wirklichkeit berichten viele Schlußformeln, in westslav. Märchen z. B. fällt der Erzähler durch einen papiernen Boden von der erzählten in die reale Welt23.
Das durch Ortswechsel strukturierte Märchen weist seltener reale J Lokalisierungen auf. Werden J Namen existierender Orte genannt, so stellen sie eher Topoi als Konkretisierungen dar24, sie können bewußte Fiktionalisierungen sein, um die J Glaubwürdigkeit zu betonen oder im Gegenteil die Fiktionalität des Erzählten zu unterstreichen25. Fiktive Orte haben meist sprechende Namen: in europ. Märchen z. B. vor allem der J Glasberg oder auch die von der Zauberformel in AaTh/ATU 676: cf. J Ali Baba und die vierzig Räuber abgeleitete Bezeichnung Simeliberg (KHM 142), in span. Märchen ,Schloß ohne Wiederkehr‘26, in ir. Feenmärchen ,Land der Frauen‘27, in J Tausendundeine Nacht J Messingstadt oder J Magnetberg. Prinzipiell spielen Märchen in einem Irgendwo, ihre Welt ist kartographisch nicht erfaßbar28. Die Schauplätze der Hand-
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Topographie, fiktive
lung entspringen oft weniger der J Phantasie, sondern bieten ein Spiegelbild der Realität bzw. des Vorstellungshorizonts der Erzähler (J Realitätsbezüge). Topographische Details werden nur in ihrer Funktion für die Handlung angeführt, so daß die Abstraktion das Geschehen an vielen konkreten Orten denkbar erscheinen läßt. Der episodisch linear strukturierte J Weg des Protagonisten ist durch strategische Verwendung generisch bedeutsamer topographischer Züge gekennzeichnet29: J Schloß, Garten, J Wald, J Berg oder J Meer sind Räume30, deren symbolische Bedeutung den Märchenrezipienten vertraut ist und die ihnen eine kognitiv-symbolische Karte liefern31. Schon J Lukians Parodien auf zeitgenössische Reise- und Abenteuerliteratur (Ale¯the¯s historia, Ikaromenippos) berichten über ferne fiktive Inseln, aber auch extraterrestrische Bereiche (J Luftreisen), die Entsprechungen in Schlaraffenland-Überlieferungen32 und den durch J Jägerlatein und J Seemannsgarn bestimmten J Münchhausiaden (AaTh/ATU 1889, 1889 A⫺P) finden. Bes. in den späteren, in der Tradition imaginärer Reiseberichte stehenden Seeabenteuern des Lügenbarons J Münchhausen werden fiktive Welten beschrieben, die neben Anspielungen auf Gullivers Königreich Brobdingnag (Jonathan J Swift), Eldorado und Tahiti direkte Entlehnungen aus Lukian enthalten (z. B. Schilderung des Mondes und der von einem Milchmeer umgebenen Käseinsel)33. Die Vorstellungen vom Schlaraffenland, einem profanisierten irdischen Paradies, stellte D. Richter in den Kontext der Utopie, der imaginären Geographie und der Lügengeschichte. Häufig als Reisebericht eines Ich-Erzählers wird die T. einer gewaltigen Eßlandschaft gegeben ⫺ oft illustriert, zuweilen sogar kartographiert34. Nicht existente Länder sind Gegenstand von Erzählungen über die Verkehrte Welt35. Merkmale der Verkehrten Welt prägen auch den Mikrokosmos von Narrenländern und -orten in Schwankzyklen. Diese spielen an fiktiven Plätzen (J Lalebuch, J Schildbürger), viel häufiger aber an realen Orten, die zu Zielscheiben kollektiven Spotts, zu fiktiven Zentren von Narren wurden (J Ortsneckerei, J Abderiten)36. Hingegen gilt das dt. Krähwinkel, der Inbegriff von Kleinstädterei, als ein
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rein fiktiver Ort37. Imaginäre Siedlungen, die toponymisch wie topographisch den regionalen Gegebenheiten angepaßt wurden, verwendeten Volksschriftsteller des nordndl. und -westdt. Raums bes. in Schwankmärchen38. In der zeitgenössischen Lit. werden einerseits imaginäre Schauplätze der Weltliteratur (von J Homer bis zur Gegenwartsliteratur einschließlich von Fantasy-Lit.) als reale touristische Ziele beschrieben und mit Illustrationen und Landkarten sowie Hinweisen über Zufahrtswege, Attraktionen etc. versehen39. Andererseits sind erfundene Länder, die zwar bestimmten Regionen (Osteuropa, Südostasien, Mittelamerika) zuzuordnen, doch geogr. nicht zu identifizieren sind, Gegenstand parodistischer, professionell aufgemachter Reiseführer, die sich auf J Stereotypen und negative Klischees über die betr. Regionen gründen40. Während in der Science Fiction-Lit. die pseudowiss. fiktive T. außerirdischer Bereiche den Anspruch auf Plausibilität erhebt, unterliegen die fiktiven Welten der Fantasy-Lit., die vielfach auf Märchen-, Sagen- und Mythenmotiven basiert, eigenen magischen Gesetzen und einer internen Logik41. Im Unterschied zu Märchen verfügen sie über eine detaillierte T., die von einigen Autoren wie John R. R. J Tolkien, durch Landkarten veranschaulicht wird42. Manche Fantasy-Erzählungen spielen ausschließlich in einem separaten Universum, so Tolkiens The Lord of the Rings (1954/54/55), andere, wie Joanne K. Rowlings Harry PotterRomane (1997⫺2007), in fiktiven und realen Welten. Die Popularität von Science Fiction und Fantasy wird durch Adaptationen für Filme und Computerspiele erheblich potenziert. In letzteren gestalten Online-Nutzer virtuelle Welten. Das Online-Rollenspiel Habitat (1985, seit 1995 als WorldsAway) knüpft u. a. mit dem Inselmotiv an alte Vorstellungen von irdischen Paradiesen und geogr. Utopien an43. 1 cf. Schweinfurth, D.: Ekphrasis topo¯n und ekphrasis tropo¯n. Aspekte der topographischen Ekphraseis in der griech. Prosa der Kaiserzeit und Spätantike. Magisterarbeit Heidelberg 2005, 25⫺31 (zum Diskurs von T. als Beschreibung realer und von Topothesie als der fiktiver Orte). ⫺ 2 Halbwachs, M.: La T. le´gendaire des E´vangiles en Terre sainte. P. (1941) 2 1971; Weigel, S.: T.n der Geschlechter. Reinbek 1990; ead.: Zum ,topographical turn‘. Kartographie, T. und Raumkonzepte in den Kulturwiss.en. In: Kul-
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Topographie, fiktive
turPoetik 2 (2002) 151⫺165; Jagow, B. von (ed.): T. der Erinnerung. Würzburg 2000; Schmalenbach, R.: T. des Grauens. Zur Gestaltung literar. Räume in unheimlich-phantastischen Erzählungen. Essen 2003; Schnyder, M.: T. des Schweigens. Unters.en zum dt. höfischen Roman um 1200. Göttingen 2003; Döring, J./Thielmann, T. (edd.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwiss.en. Bielefeld 2008. ⫺ 3 cf. Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): Burgen, Länder, Orte. Konstanz 2008 (mythische MA.-Orte). ⫺ 4 Börner, K. H.: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur Ikonographie der geogr. Utopie. Ffm. 1984, 7. ⫺ 5 Bloch, E.: Das Prinzip Hoffnung 2. Ffm. 1959, 873⫺929 (Eldorado und Eden). ⫺ 6 Yetts, W. P.: The Chinese Isles of the Blest. In: FL 30 (1919) 35⫺62; Bauer, W.: China und die Hoffnung auf Glück. Paradiese, Utopien, Idealvorstellungen. Mü. 1971, 141 sq., 144⫺147, 232⫺ 239, 248⫺253; cf. auch Somadeva: Der Ozean der Erzählungsströme 2. ed. J. Mehlig. Lpz./Weimar 1991, 229⫺235. ⫺ 7 Bernbaum, E.: Der Weg nach Shambhala. Hbg 1982; Bishop, P.: The Myth of Shangri-La. L. 1989; Dudko, D. M.: Mifologicˇeskaja e˙tnogeografija vostocˇnoj Evropy (Mythol. Ethnogeographie Osteuropas). In: E˙tnograficˇeskoe obozrenie (1999) H. 6, 33⫺41, hier 36. ⫺ 8 Börner (wie not. 4) 17⫺61; Lanczkowski, G.: Die Inseln der Seligen und verwandte Vorstellungen. Ffm. 1986; Dudko (wie not. 7) 35 sq. ⫺ 9 Daebritz, R.: Hyperboreer. In: Pauly/Wissowa 9 (1916) 258⫺279. ⫺ 10 Grimm, R. R.: Paradisus coelestis ⫺ Paradisus terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abendland bis um 1200. Mü. 1977; Garzaniti, M.: Das Bild der Welt und die Suche nach dem irdischen Paradies in der Rus’. In: Vavra, E. (ed.): Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im MA. B. 2005, 357⫺371; Scafi, A.: Mapping Paradise. A History of Heaven on Earth. L. 2006. ⫺ 11 Ross, D. J. A.: Alexander Historiatus. A Guide to Medieval Illustrated Alexander Literature. Ffm. 1988, 35 sq. u. ö.; Garzaniti (wie not. 10) 363 sq. ⫺ 12 Bremer, E.: Spätma. Reiselit. ⫺ ein Genre? Überlieferungssymbiosen und Gattungstypologie. In: Reisen und Reiselit. im MA. und in der Frühen Neuzeit. ed. X. von Ertzdorff/D. Neukirch (unter Mitarbeit von R. Schulz). Amst./Atlanta 1992, 329⫺355, hier 338⫺345. ⫺ 13 Neukirch, D.: Das Bild der Welt auf Karten des MA.s und der Frühen Neuzeit. ibid., 191⫺225; Tardiola, G.: Atlante fantastico del medioevo. Rom 1990; Garzaniti (wie not. 10) 362; Englisch, B.: Imago mundi. Der virtuelle und der reale Raum in den ma. Weltkarten. In: Imaginäre Räume. ed. E. Vavra. Wien 2007, 41⫺65, bes. 57 sq. ⫺ 14 Ritz, H.: Die Sehnsucht nach der Südsee. Göttingen 21983; Loacker, N.: Die Symbolik des utopischen Orts. In: Michel, P. (ed.): Symbolik von Ort und Raum. Bern u. a. 1997, 377⫺417, bes. 378⫺380, 406⫺409; Ganz-Blättler, U./Scherer, B.: Paradiesische und andere Orte in serieller Fernsehfiktion. ibid., 241⫺267. ⫺ 15 Adams, P. G.: Travelers and
776
Travel Liars. 1660⫺1800. Berk./L. A. 1962, 44⫺ ˇ istov, K. V.: Der gute Zar und das ferne 63. ⫺ 16 C Land. Russ. sozial-utopische Volkslegenden des 17.⫺19. Jh.s. ed. D. Burkhart. Münster u. a. 1998, 202⫺246, cf. auch 251⫺260 (,Ignats Stadt‘ der Nekrasov-Kosaken). ⫺ 17 ibid., 215⫺217; Pleyer, V.: Das russ. Altgläubigentum. Mü. 1961, 39, cf. 92⫺ 95, 168⫺170, 186⫺188 (zu ihrer Rettung versunkene Stadt Kitezˇ als irdisches Himmelreich). ⫺ 18 Nesselrath, H.-G.: Platon und die Erfindung von Atlantis. Mü./Lpz. 2002; Vidal-Naquet, P.: Atlantis. Geschichte eines Traums. Mü. 2006; cf. Film: Atlantis. USA 2001 (Regie Gary Trousdale/Kirk Wise); Computerspiel: Atlantis. Lucas Arts 1992. ⫺ 19 De Camp, L. S.: Versunkene Kontinente. Von Atlantis, Lemuria und anderen untergegangenen Zivilisationen. Mü. 31977; Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003, s. v. Vineta, Julim, Rungholt; Rieken, B.: „Nordsee ist Mordsee“. Münster u. a. 2005, 169⫺208; Petzoldt, L.: Dt. Volkssagen. Mü. 2 1978, num. 282. ⫺ 20 Afanas’ev, num. 134, 139, 295; Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. B. 1964, num. 31, cf. p. 610; Gasˇparı´kova´, V.: Anfangs- und Schlußformeln in den slowak. Volkserzählungen. In: Miscellanea. Festschr. K. C. Peeters. Antw. 1975, 241⫺252, hier 245. ⫺ 21 Pomeranzewa (wie not. 20) num. 33. ⫺ 22 Ortutay, G.: Ung. Volksmärchen. B. 61980, 71 (not.) ⫺ 23 Gasˇparı´kova´ (wie not. 20) 248, 250; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 21984, num. 11. ⫺ 24 Marzolph, U.: Ortsangaben in der pers. Volkslit. In: Erzählter Raum in Lit.en der islam. Welt/Narrated Space in the Literature of the Islamic World. ed. R. HaagHiguchi/C. Szyska. Wiesbaden 2001, 31⫺42, hier 33⫺36. ⫺ 25 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 207; Köhler-Zülch, I./Shojaei Kawan, C.: Schneewittchen hat viele Schwestern. Gütersloh 21991, 8 sq. ⫺ 26 cf. Camarena/Chevalier und Oriol/Pujol 313 C, 707. ⫺ 27 Hetmann, F.: Die Reise in die Anderswelt. Feengeschichten und Feenglaube in Irland. Köln 21983. ⫺ 28 Nicolaisen, W. F. H.: Once upon a Place, or where Is the World of the Folktale? In: Lehmann, A./Kuntz, A. (edd.): Sichtweisen der Vk. B./Hbg 1988, 359⫺366, hier 364 u. ö.; id.: The Past as Place. Names, Stories, and the Remembered Self. In: FL 102 (1991) 3⫺15; cf. jedoch Labrie, V.: Going through Hard Times. A Topological Exploration of a Folktale Corpus from Quebec and Acadie. In: Fabula 40 (1999) 50⫺73 (Kartierung von Märchenverläufen mittels Piktogrammen). ⫺ 29 Nicolaisen, W. F. H.: Time and Place. In: Haase, D. (ed.): The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales 1⫺3. Westport, Conn./L. 2008, hier t. 3, 973⫺976, bes. 975. ⫺ 30 Uther, H.-J.: Von Königsschlössern und Kristallpalästen. In: Der Vater in Märchen, Mythos und Moderne. ed. H. Lox/S. Lutkat/W. Schmidt. Krummwisch 2008, 113⫺134; Volkmann, H.: Der Märchengarten als Landschaftsutopie. In: Sprachmagie und Wortzauber. Traumhaus und Wolkenschloß. ed. I. Jakobson/H. Lox/S. Lutkat. Krumm-
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Topos
wisch 2004, 186⫺200; Lehmann, A.: Von Menschen und Bäumen. Reinbek 1999, 172⫺179. ⫺ 31 Horn, K.: Symbolische Räume im Märchen. In: Michel (wie not. 14) 335⫺351, hier 336; Haase, D.: Children, War, and the Imaginative Space of Fairy Tales. In: The Lion and the Unicorn 24 (2000) 360⫺377. ⫺ 32 Hansen, W.: Ariadne’s Thread. Ithaca/L. 2002, 378⫺392. ⫺ 33 Bürger, G. A.: Sämtliche Werke. ed. G. und H. Häntzschel. Mü. 1987, 573⫺577, 581⫺583. ⫺ 34 Richter, D.: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Phantasie. Köln 1984, bes. 26⫺30. ⫺ 35 Hansen (wie not. 32) 439⫺445. ⫺ 36 z. B. Weiss, R.: Schildbürgerorte. In: SAVk. 43 (1946) 250⫺258; cf. Galley, S.: Heilige, schöne und schreckliche Orte. Zur spirituellen T. der chassid. Legenden. In: Jacobsen u. a. (wie not. 30) 236⫺258. ⫺ 37 Böttcher, K. u. a.: Geflügelte Worte. Lpz. 51988, Reg. s. v. Krähwinkel, Krähwinkelei. ⫺ 38 Kooi, J. van der: Zwischen Jinsenbuorren und Kraihwarden. Bemerkungen zur imaginären T. im westfries.-ndd. Raum. In: Vk. im Spannungsfeld zwischen Univ. und Museum. Festschr. H. Siuts. Münster u. a. 1997, 215⫺227. ⫺ 39 Manguel, A./Guadalupi, G.: The Dict. of Imaginary Places. L./Toronto/N. Y. 1981 (bearb. und erw. dt. Ausg.: Von Atlantis bis Utopia. Ein Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltlit. ed. S. Thiessen. Mü. 1981). ⫺ 40 Cilauro, S./Gleisner, T./Sitch, R.: Molvanıˆa. A Land Untouched by Modern Dentistry. South Yarra 2003; iid.: Phaic ta˘n. Sunstroke on a Shoestring. Prahran 2004; iid.: San Sombre`ro. A Land of Carnivals, Cocktails and Coups. L. 2006; cf. auch Rezzori, G. von: Maghrebin. Geschichten. Hbg 1953 (Reinbek 412001; über ein fiktives südosteurop. Land). ⫺ 41 Becker, S./Hallenberger, G.: Konjunkturen des Phantastischen. In: Zs. für Lit.wiss. und Linguistik 23 (1993) 141⫺155; Pringle, D. (ed.): The Ultimate Enc. of Fantasy. L. 2006; Zamaron, A.: Re´cits et fictions des mondes disparus. „L’arche´ologie-fiction“. Aix-en-Provence 2007; Nikolajeva, M.: Fantasy. In: Haase (wie not. 29) t. 1, 329⫺334. ⫺ 42 Honegger, T.: In einer Höhle in der Erde, da lebte ein Hobbit. Zur Symbolik von Ort und Raum in J. R. R. Tolkiens Werk. In: Michel (wie not. 14) 305⫺ 334. ⫺ 43 Wagner, K.: Datenräume, Informationslandschaften, Wissensstädte. Fbg/B. 2006, 275⫺291; Aupers, S.: „Better than the real world“. On the Reality and Meaning of Online Computer Games. In: Fabula 48 (2007) 250⫺269.
Göttingen
Ines Köhler-Zülch
Topos. Der Begriff des literar. T. (griech.: Ort) geht auf E. R. Curtius zurück1. Es gibt in der Lit.wissenschaft wohl kaum ein zweites Beispiel für einen terminologischen Fehlgriff, der sich als so fruchtbar erwiesen hat. Trotz der recht bald einsetzenden Kritik2 ist der Be-
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griff allg. rezipiert worden und kann noch heute als fest etabliert gelten. Curtius verstand unter T. ⫺ bei ihm nie genau definiert ⫺ ein charakteristisches Textelement, das von Autoren der griech. oder lat. Antike eingeführt, nicht nur dort häufig bezeugt und damit traditionsbildend war, sondern durch das ,lat. MA.‘ an die ,europ. Lit.‘ der Neuzeit weitergegeben worden ist. Nach Curtius’ Auffassung ist der soziol. Ort dieser kulturellen Vermittlung der ma. Schulbetrieb mit seinem Unterricht in Grammatik und Rhetorik, die beide die Beschäftigung mit literar. Texten einschließen. Curtius kam es darauf an, durch den Nachweis der Tradierung literar. Topoi (J Thema, J Stoff) von der Antike über das MA. bis in die Moderne den Zusammenhalt und recht eigentlich die Einheit der literar. Kultur Europas zu veranschaulichen. Zweifellos ist der Typus der von Curtius begründeten literar. Traditionsforschung, auch wenn sie nur die Tradition bestimmter Textelemente in den Blick nimmt, gerade durch seinen neuen Begriff gefördert worden. Natürlich wußte man schon vor Curtius, und zwar in allen Epochen der Lit. und der Beschäftigung mit Lit., daß Autoren J Motive ⫺ als solche lassen sich alle von Curtius untersuchten Topoi bezeichnen ⫺ entlehnen, sogar daß diese gattungsbestimmend und traditionsstiftend sein können. Sein bleibendes Verdienst liegt nicht nur darin, daß er auf sehr charakteristische Motive aufmerksam gemacht und ihnen prägnante Namen gegeben hat (z. B. ,affektierte Bescheidenheit‘, ,Unsagbarkeitstopos‘, ,Überbietungstopos‘), sondern daß er deren Tradierung über das MA. bis in die Neuzeit auch gegen entsprechende Originalitätsbehauptungen der sie verwendenden Autoren nachgewiesen hat. Hätte Curtius ⫺ seltsamerweise ist dieses Argument noch nie zu seiner Rechtfertigung ins Feld geführt worden ⫺ das griech. Wort topos einfach deshalb gewählt, weil es wie das lat. locus auch ,Stelle im Buch‘ bedeuten kann (cf. Lk. 4,17), so wäre gegen die von ihm vorgeschlagene semantische Spezialisierung nichts einzuwenden gewesen. Curtius begründete jedoch seine Wortwahl damit, daß topos ein zentraler Begriff der antiken Rhetorik sei, dem die neue spezialisierte Bedeutung bereits zukomme oder doch wenigstens nahestehe. In der terminologischen Beru-
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Topos
fung auf die Rhetorik der Antike liegt Curtius’ Irrtum. Die rhetorischen Schriften der Antike erörtern den Begriff topos bzw. locus im Zusammenhang der Darstellung der inventio (Stoffsammlung), zumal derjenigen für die Gerichtsrede3. Er ist bei allen Unstimmigkeiten innerhalb der Gesamtüberlieferung nie inhaltlich, sondern stets formal, nämlich hinsichtlich seiner heuristischen Funktion, definiert. Bei Aristoteles4 erscheint das Wort als Oberbegriff von Enthymem (syllogismusähnliche Feststellung; Rhetorik, 1396b, 1403a); er unterscheidet 28 Arten, mit deren Hilfe man für die Rede Argumente gewinnen kann (Beispiele: der T. vom Schluß aus dem Gegenteil, vom Schluß aus dem Grad, von der Beachtung der Zeit etc.). Es gibt nach Aristoteles jedoch auch Topoi, die mit Enthymemen nichts zu tun haben, nämlich diejenigen der Erregung von Affekten und der Charakterdarstellung. Koinos, als Attribut von topos, meint bei ihm die allg. Verwendungsmöglichkeit, im Gegensatz zur bes., die auf ein Individuum oder einen bestimmten Gegenstand beschränkt ist. Die lat. Traktate vom Auctor ad Herennium (ca 85 a. Chr. n.) bis Boethius (gest. 524) bieten reicheres Material als die erhaltenen griech. und sind für das MA. und die frühe Neuzeit die maßgebenden Bezugstexte. Überall behält locus als Terminus technicus der Inventio-Lehre die Grundbedeutung eines Oberbegriffs, aus dem sich bestimmte Gruppen von Argumenten ableiten lassen; nie bedeutet das Wort das ausformulierte Argument selbst. Bei Cicero heißt es: „[…] licet definire locum esse argumenti sedem“ (Topica 2,8; in De oratore, 2,40,142 wählt Cicero statt ,sedes‘ die Metapher ,domicilia‘). Quintilian unterscheidet zwei locus-Begriffe: „Locos appello non, ut vulgo nunc intelliguntur, in luxuriam et adulterium et similia, sed sedes argumentorum, in quibus latent, ex quibus sunt petenda“ (Institutio oratoria, 5,10,20). Jene nennt er an anderer Stelle (Institutio oratoria, 2,4,22) ,communes loci‘ (J Loci communes), weil sie nicht gegen bestimmte Personen verwendbar sind, aber immer noch nicht die Argumente selbst, sondern Klassen von Argumenten meinen. Dasselbe gilt für eine andere Art von communes loci allg. Charakters (z. B. über Beweislage oder Zeugen); sie stehen in Opposition zu den ,loci proprii‘, die sich auf die Be-
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handlung ,bestimmter‘ Fälle beziehen (Institutio oratoria, 5,13,57). Die Opposition loci communes/loci proprii wird von den röm. Autoren nicht immer identisch begründet; auch bei der Klassifizierung der erstgenannten Art sind Unterschiede festzustellen. Für die Folgezeit wichtiger ist jedoch, daß die verschiedenen Beispielreihen selbst bei unterschiedlicher Klassifizierung den Charakter von allg., jeweils aber eindeutigen Themen zuzuordnenden Erwägungen oder Sentenzen behalten. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zu dem, was vom 16. bis zum 18. Jh. als ,Gemeinplatz‘ in noch nicht pejorativer Bedeutung verstanden wurde. Im MA. werden die verschiedenen Regeln zur Auffindung von Argumenten oder Vorgehensweisen nicht mehr nur auf die (Gerichts-) Rede bezogen, sondern generell auf die Abfassung von Texten, zumal von Dichtungen. Sie werden deshalb in den artes poeticae abgehandelt. Ein weiterer Unterschied zu den antiken Rhetoriken besteht darin, daß bei der Beschreibung solcher Regeln die Termini locus communis oder auch locus eher selten Verwendung finden. Das ändert sich erst in der Epoche des Humanismus, in der trotz grundsätzlichen Festhaltens an der Tradition des rhetorischen Regelwerks die beiden Termini synonym gebraucht werden, mit leichtem Überwiegen der wohl als klarer erscheinenden Junktur locus communis. Interessanter ist, daß nun ⫺ eine Übung, die auch schon für die Antike nachweisbar ist und während des MA.s bes. in den Predigtlehrbüchern Anwendung fand ⫺ solche ,Argumente‘, die in den lat. Rhetoriken unter den jeweiligen loci als Beispiele genannt waren, für den Unterricht und auch zum Zweck der Abfassung von öffentlichen Reden ⫺ zunächst auf Latein ⫺ in eigenen nach bestimmten Gesichtspunkten geordneten Sammlungen veröffentlicht werden. Diese Sammlungen betreffen jetzt nicht mehr nur die Rhetorik und Poetik, sondern umfassen alle Wissensbereiche. So empfiehlt J Erasmus z. B. dem angehenden Theologen sogar die persönliche Anlage solcher Sammlungen; in seiner Schrift Ratio seu Methodus compendio perveniendi ad veram theologiam (1516) heißt es nach der Darlegung all dessen, was der Schüler wissen muß, dieser solle für den eigenen Gebrauch ,loci theologici‘ zusammenstellen (über den Glauben, das
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Toppgewicht
Fasten, die Nächstenliebe etc.) und alles, damit es leichter benutzt werden kann, gleichsam in ,Nestern‘ ordnen5. In den Volkssprachen erscheinen solche nach Themen geordnete Sammlungen nicht vor dem Ende des 16. Jh.s. Die volkssprachlichen Übers.en von locus communis, innerhalb und außerhalb dieser Sammlungen, lauten ,lieu commun‘ (Erstbeleg 1521)6, ,commonplace‘ (Erstbeleg 1549)7, ,gemeenplaats‘ (16. Jh.), ,luogo comune‘ (wohl erst 17. Jh.), während sich ,Gemeinplatz‘, zunächst mit ,Gemeinort‘, ,Gemeinsatz‘ und ,Gemeinspruch‘ konkurrierend, erst vom Ende des 18. Jh.s an durchsetzt. Wichtig ist hierbei, daß locus communis und seine volkssprachlichen Entsprechungen erst im Verlaufe des 18. Jh.s eine abwertende Bedeutung (Klischee und ähnlich) gewinnen. Abgesehen von der Kritik an Curtius’ T.begriff ist auch die Praxis seiner T.forschung kritisiert worden. Es wurde beanstandet, daß sie die hist. viel interessantere Diskontinuität in der Tradition bestimmter Topoi unter den Tisch fallen lasse8, oder auch, daß dem ma. Schulbetrieb in gewissen Fällen die von Curtius behauptete Bedeutung für ihre Formulierung und Tradierung abgesprochen werden müsse9. Auf der anderen Seite hat man versucht, den T.begriff zu retten, indem man ihn für grundsätzliche Vorstellungen und Denkformen zu reservieren vorschlug10. Gegen den inzwischen verbreiteten Usus braucht man keine Bedenken zu haben; ihm entsprechend wäre unter T. nichts anderes zu verstehen als ein Motiv, das für die literar. Tradition (nicht unbedingt von der Antike an und nicht unbedingt bis in die Moderne) bezeichnend ist11. 1 Curtius, E. R.: Europ. Lit. und lat. MA. Bern 1948 u. ö. ⫺ 2 cf. bes. Mertner, E.: T. und Commonplace [1956]. In: Jehn, P. (ed.): T.forschung. Ffm. 1972, 20⫺68. ⫺ 3 ibid.; Lausberg, H.: Loci. In: Hb. der literar. Rhetorik. Stg. 31990, bes. 201⫺220; Primavesi, O./Kann, C./Goldmann, S.: Topik, T. In: Hist. Wb. der Philosophie 10. Basel 1998, 1263⫺1288. ⫺ 4 Sprute, J.: T. und Enthymem in der aristotelischen Rhetorik. In: Hermes 103 (1975) 68⫺90; Rapp, C.: Der Begriff des T. In: Flashar, H. (ed.): Aristoteles. Werke in dt. Übers. 4,1⫺2: Rhetorik, übers. und erläutert von C. Rapp. Darmstadt 2002, hier 4,2, 270⫺ 300. ⫺ 5 Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schr. 3. ed. G. B. Winkler. Darmstadt 1967, 452. ⫺ 6 Le Fe`vre, P.: Grand et vray Art de pleine rhetorique. Rouen 1521; cf. Butters, G.: La The´orie des topiques
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comme mode`le de production de texte. In: Wunderli, P. (ed.): Du Mot au texte. Tübingen 1982, 263⫺ 275. ⫺ 7 Mertner (wie not. 2) 43⫺47. ⫺ 8 Jehn (wie not. 2); Baeumer, M. L. (ed.): T.forschung. Darmstadt 1973. ⫺ 9 Thoss, D.: Studien zum Locus amoenus im MA. Wien/Stg. 1972; hierzu Rez. U. Mölk in Zs. für rom. Philologie 91 (1975) 423⫺426. ⫺ 10 Veit, W.: Studien zur Geschichte des T. der Goldenen Zeit von der Antike bis zum 18. Jh. Köln 1961; id.: Zur T.forschung. In: Jehn (wie not. 2) 74⫺89. ⫺ 11 cf. Mölk, U.: Motiv, Stoff, Thema. In: Ricklefs, U. (ed.): Das Fischer-Lex. Lit. 2. Ffm. 1996, 1320⫺ 1337, hier 1333.
Göttingen
Ulrich Mölk
Toppgewicht, ein von A. J Olrik aufgestelltes J episches Gesetz. Danach wird vor allem in mythischen Kontexten beim Auftreten einer Reihe von Personen der Ranghöchste zuerst genannt. Das T. hat im Gegensatz zum dominanten J Achtergewicht keine strukturelle Bedeutung. Ende des 19. Jh.s begann Olrik, sich mit dem J Stil mündl. Überlieferungen zu befassen und deren strukturelle Gesetzmäßigkeiten zu formulieren1. In diesem Zusammenhang griff er auf die 1907 von G. Schütte geprägten Begriffe T., Mitte- und Achtergewicht, d. h. Anfangs-, Mitte- und Schlußbetonung, zurück2. Olrik maß dem T. nur geringe Bedeutung zu, weil das Hauptgewicht von Erzählungen nach dem Gesetz des Achtergewichts auf dem Schluß liege3: so sei in zahlreichen Märchen der J Jüngste von meist drei J Brüdern der Erfolgreiche bzw. bei einer unlösbar scheinenden J Aufgabe führe erst der letzte Versuch (J Letzter, Letztes, Zuletzt) zum Erfolg. Ein T. widerspreche der J Dynamik des Erzählens. Eine Ausnahme bildet AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen, da in diesem Erzähltyp der Erfolg der Guten (J Gut und böse) in der ersten Hälfte des Märchens den späteren Mißerfolg der Schlechten in der zweiten Hälfte überlagert (cf. J Imitation: fatale und närrische I. ). Gelegentlich wurde die Auffassung geäußert, daß auch Märchen wie z. B. AaTh 313 C/ATU 313: cf. J Magische Flucht, in denen sich Braut und Bräutigam einander schon am Anfang finden und die Schwierigkeiten erst später beginnen, mit T. konstruiert sind4. In Märchen dieses Erzähltyps wird zwar der vorhersehbare glückli-
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Topsy-Turvy-Land ⫺ Torquemada, Antonio de
che Ausgang hinausgezögert (J Retardierende Momente), die grundsätzliche Ordnung der J Dreigliedrigkeit in Verbindung mit dem Achtergewicht ist jedoch nicht gestört. 1
Olrik, A.: Episke love i folkedigtningen. In: DSt. (1908) 69⫺89; dt. Übers.: Epische Gesetze der Volksdichtung. In: ZfdA 51 (1909) 1⫺12; engl. Übers.: Epic Laws of Folk Narrative. In: Dundes, A. (ed.): The Study of Folklore. Englewood Cliffs, N. J. 1965, 127⫺141 (mit Einl. des Herausgebers). ⫺ 2 Schütte, G.: Oldsagn om Godtjod. Kop. 1907, 94⫺117. ⫺ 3 cf. z. B. Dundes (wie not. 1) 127 sq.; Holbek, B.: Interpretation of Fairytales (FFC 239). Hels. 1987, 326. ⫺ 4 cf. EM 2, 725; EM 8, 1367; Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf/Köln 1975, 119.
Göttingen
Rita Boemke
Topsy-Turvy-Land J Topographie, fiktive, J Verkehrte Welt Torquemada, Antonio de, * Astorga (Leo´n) 1507, † Benavente (Zamora) 1569, span. Schriftsteller. Das wenige, was man über den Autor weiß, geht aus seinen eigenen Schriften hervor. T. erwarb sich in Salamanca eine klassische humanistische Bildung, vermutlich ohne akademischen Abschluß. Nach Reisen in Spanien, Italien (1528⫺30) und Sardinien ließ er sich in Benavente nieder, wo er als Sekretär in die Dienste des Conde de Benavente, Don Antonio Alfonso de Pimentel, trat, dessen reiche Bibl. er nutzen konnte. Da T.s Söhne 1570 um das Privileg der Flores curiosas baten1, ist zu vermuten, daß er keine religiösen Weihen hatte, sondern verheiratet war. T. verfaßte den Ritterroman La historia del caballero don Olivante de Laura (1564), drei Dialoge, das Manual de escribientes (1552?), die Coloquios satı´ricos (1553) und den Jardı´n de flores curiosas (1570). Die beiden letzteren Werke enthalten Material aus der populären Überlieferung2. In den Coloquios satı´ricos kombinierte T. Elemente aus dem Werk des J Erasmus von Rotterdam und der Bukolik und bearbeitete einige Novellen aus J Boccaccios Decamerone zusammen mit witzigen Geschichten aus mündl. Überlieferung3: Coloquio 1,234⫺235 ⫽ Ein Diener beschwert sich bei seinem König über die ungerechte Entlohnung.
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Der König erklärt, dies liege an seinem mangelnden Glück. Um ihn zu erproben, läßt er ihn zwischen zwei geschlossenen Kästchen wählen, von dem eines mit Geld, das andere mit Sand gefüllt ist. Der Diener wählt das zweite. Schließlich schenkt ihm der König den Inhalt des ersten (J Blei, Kap. 2; cf. AaTh/ATU 841: Die beiden J Bettler)4. ⫺ 1,236 ⫽ König Philipp von Mazedonien schenkt seinem Diener Nicanor große Reichtümer, damit dieser nicht schlecht von ihm spreche (cf. Mot. J 155: Wisdom [knowledge] from women)5. ⫺ 3,315⫺320 ⫽ Ein König, der sich auf der Jagd verirrt hat, verbringt die Nacht im Haus eines Köhlers, der ihn nicht erkennt. Später empfängt ihn der König in seinem Palast und belohnt ihn großzügig6. ⫺ 6,479⫺480 ⫽ AaTh/ATU 992: J Herzmäre7.
Der Jardı´n de flores curiosas steht der Kuriositätenliteratur nahe8. Hier unterhalten sich drei Gesprächspartner in sechs Abhdlgen über Themen wie Gespenster, Visionen, Hexerei, Fabelwesen, die Länder des Nordens etc. Wenn er nicht aus schriftl. Werken schöpft (J Plinius d. Ä., Solinus, Jean de J Mandeville, Olaus Magnus etc.), stützt sich T. auf die Volksüberlieferung Nordwestspaniens. Die Erzählungen werden als wahre Begebenheiten präsentiert: 1,113 ⫽ Prinzessin (oder Fürstin) Margarita gebiert 366 Kinder (AaTh/ATU 762: J Mehrlingsgeburten)9. ⫺ 1,182⫺185 ⫽ Auf einsamer Insel ausgesetzte Frau hat sexuelle Beziehungen zu einem Affen und bekommt zwei Kinder (Camarena/Chevalier 714; Cardigos 714; Mot. B 601.7)10. ⫺ 2,234 ⫽ Dörfer, die Gott und den Teufel verehren (AaTh/ATU 778*: J Kerzen für den Heiligen und den Teufel)11. ⫺ 3,257⫺259 ⫽ Von der Mutter verfluchter Sohn wird vom Teufel entführt, kehrt nach einigen Stunden zurück und berichtet seinen Eltern das Erlebte (Tubach, num. 275). ⫺ 3,267⫺271 ⫽ Span. Studenten mieten sich in einem Spukhaus ein. Eines Nachts erscheint einem von ihnen das Gespenst, führt ihn in den Garten und verschwindet. Am nächsten Morgen finden sie an diesem Ort ein Grab und überführen es in eine Kirche12. ⫺ 3,272⫺275 ⫽ Ein Herr, der ein Stelldichein mit einer Nonne hat, nimmt in der Kirche an seinem eigenen Begräbnis teil. Er flieht entsetzt, aber zwei schwarze Hunde verfolgen und töten ihn (cf. AaTh/ATU 470 A: J Don Juan)13. ⫺ 3,292 sq. ⫽ Einem armen Mann begegnen auf der Jagd die Geister seines Vaters und seines Großvaters, die ihn bitten, einem Kloster Geld zurückzugeben (Camarena/Chevalier 760 E)14. ⫺ 3,318 sq. ⫽ Der Teufel bringt eine Hexe durch die Lüfte nach Hause, läßt sie aber beim Klang einer Kirchenglocke in ein Dornenfeld fallen15.
Der Jardı´n war ausgesprochen erfolgreich: In weniger als fünfzig Jahren wurde er in Spa-
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Toschi, Paolo
nien siebenmal aufgelegt (1570⫺1621) und ins Französische (1579), Italienische (1590), Englische (1600) und Deutsche übersetzt. Die erste dt. Übers. u. d. T. Hist. Blumengarten (Straßburg 1626) basiert auf der ital., die zweite u. d. T. Hexaemeron oder Sechs Tageszeiten (Kassel 1652) auf der frz. Übertragung. 1 Elsdon, J. H.: On the Life and Work of the Spanish Humanist A. de T. Berk. 1937, 127⫺186; id.: The Library of the Counts of Benavente. Annapolis 1955. ⫺ 2 T., A.: Obra completa. ed. L. Rodrı´guez Cacho/M. I. Muguruza Roca. Madrid 2003; Crow, G. D.: A. de T., Spanish Dialogue Writer of the Sixteenth Century. In: Hispania 38 (1955) 265⫺271; Caro Baroja, J.: Jardı´n de flores raras. Barcelona 1993, 127⫺143; Malpartida Tirado, R.: Aprendices, esce´pticos y curiosos en el Renacimiento espan˜ol. Los dia´logos de A. de T. Ma´laga 2004. ⫺ 3 T., A.: Coloquios. In: id. (wie not. 2) 215⫺494; Romero Tobar, L.: El arte del dia´logo en los Coloquios satı´ricos de T. In: Edad de oro 3 (1984) 241⫺256, hier 252⫺ 254; id.: A. de T., el humanista vulgar de los Coloquios satı´ricos. In: Estudios sobre el Siglo de Oro. Festschr. F. Yndurain. Madrid 1984, 395⫺409. ⫺ 4 cf. Decamerone (10,1); Pauli/Bolte, num. 836; Tubach, num. 3957, 878, 967; Haan, F.: Barlaam and Josaphat in Spain 2. In: Modern Language Notes 10,3 (1895) 138⫺146; Bourland, C. C.: Boccaccio and the Decameron in Castilian and Catalan Literature. In: Revue hispanique 12 (1905) 1⫺232. ⫺ 5 cf. Libro de los e(n)xemplos, num. 302. ⫺ 6 Bataillon, M.: Varia leccio´n de cla´sicos espan˜oles. Madrid 1964, 329⫺372. ⫺ 7 cf. Williams, J. D.: Notes on the Legend of the Eaten Heart in Spain. In: Hispanic Review 26 (1958) 91⫺98. ⫺ 8 T., A.: Jardı´n de flores curiosas. ed. G. Allegra. Madrid 1982. ⫺ 9 Chevalier, M.: Cuentos folklo´ricos de la Espan˜a del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 44; Delpech, F.: „Como puerca en cenegal.“ Remarques sur quelques naissances insolites dans les le´gendes ge´ne´alogiques ibe´riques. In: La condicio´n de la mujer en la Edad media. ed. Y.-R. Fonquerne. Madrid 1986, 343⫺370, hier 368. ⫺ 10 Larrea Palacı´n, A.: Cuentos gaditanos. Madrid 1959, num. 22, 142; Fradejas Lebrero, J.: Media docena de cuentos de Lope de Vega. In: Anales de literatura espan˜ola 5 (1986/87) 121⫺144; Dodds, G. T.: Monkey-Spouse sees Children Murdered, Escapes to Freedom! A Worldwide Gathering and Comparative Analysis of Camarena-Chevalier Type 714, II⫺IV Tales. In: Estudos de literatura oral 11⫺12 (2005/06) 73⫺96. ⫺ 11 Chevalier (wie not. 9) num. 49; Sua´rez Lo´pez, J.: Cuentos del Siglo de Oro en la tradicio´n oral de Asturias. Gijo´n 1998, num. 36.3. ⫺ 12 Garcı´a Jurado, F.: La modernidad de la literatura latina. La carta de Plinio el Joven sobre los fantasmas (Plin. 7,27,5⫺ 1) releida como relato go´tico. In: Exemplaria 6 (1992) 55⫺80. ⫺ 13 MacMillan Garcı´a, B.: Cristo´bal Lozano and the Legend of Lisardo. In: Modern Phi-
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lology 47 (1950) 152⫺163; Redondo, A.: Prosa dida´ctica y pliego suelto poe´tico hacia 1570. A. de T. y Cristo´bal Bravo frente a un ,caso‘ incorporado a la posterior leyenda de don Juan Tenorio. In: Estudios de filologı´a y reto´rica. Festschr. L. Lo´pez Grigera. Bilbao 2000, 427⫺448; cf. Ranke, K.: Die Sage vom Toten, der seinem eigenen Begräbnis zuschaut [1954]. In: id.: Die Welt der Einfachen Formen. B./N. Y. 1978, 134⫺162. ⫺ 14 Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 2. Madrid 1988, num. 197. ⫺ 15 Fradejas Lebrero (wie not. 10) 133 sq.
Zaragoza
Marı´a Jesu´s Lacarra Ducay
Toschi, Paolo, * Lugo di Romagna 8. 5. 1893, † Rom 11. 8. 1974, ital. Volkskundler und Philologe. T. studierte in Florenz bei einem prominenten Vertreter der vergleichenden Epenforschung, dem Romanisten P. Rajna, und bei G. Mazzoni, einem Kulturhistoriker und Philologen, mit Schwerpunkt Volksliteratur, sowie bei dem Dialektologen und Linguisten E. G. Parodi. 1919 wurde T. bei Rajna mit der Diss. La poesia popolare religiosa in Italia promoviert1, die er bis in die 1930er Jahre mehrfach überarbeitete2. 1933⫺63 lehrte er Vk. an der Univ. Rom. Seit 1936 war er Direktor des Museo di Etnografia Italiana (Rom); eine von T. begonnene Umstrukturierung und Erweiterung führte 1956 zur Einrichtung des Museo Nazionale delle Arti e Tradizioni Popolari. 1930⫺74 war er Herausgeber der Zs. Lares (Nachfolgeorgan des 1912 begründeten Bullettino della Societa` di Etnografia Italiana), die er nach der durch den 1. Weltkrieg bedingten Unterbrechung neu gestaltete, sowie der dazugehörigen Reihe Bibl. di Lares3. Im Zentrum der Forschungen T.s standen wichtige Bereiche der traditionellen regionalen, nationalen und übernationalen Kultur: (bes. religiöse) Lit., Volksschauspiel, Volkskunst, Glaubensvorstellungen und Bräuche. T.s Arbeiten zur religiösen Volksdichtung4 regten B. J Croce zu seinen Definitionen von Volkspoesie und Kunstpoesie an5. Anhand inhaltlicher und stilistisch-formaler Analysen philol.-komparatistischer Prägung (Weiterentwicklung von Parodis philol. Methode) nahm T. Zuordnungen zu den hist., geogr. und gesellschaftlichen Systemen vor. Objekte, Gattungen und Texte untersuchte er in Zusammenhang mit populären Lebenswel-
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Tot, Tote
ten, ihrer Spezifik und ihren Funktionen (ländlich/städtisch, arbeitsbezogen/festlich, mythisch und magisch, religiös und liturgisch etc.)6. In diesem Interpretationsrahmen sind auch die Unters.en zu den Ursprüngen des ital. Theaters angesiedelt, die T. in vorchristl. Ritualen und Zeremonien ausmacht. Er stellt einen Bezug zum Jahreslauf her und sieht Analogien zu den existentiellen Phasen und Rhythmen im Lebenslauf der Menschen und der Gemeinschaften7. Damit steht er im Gegensatz zu den von A. J D’Ancona (1835⫺1914), E. Monaci (1844⫺1918) und V. De Bartholomaeis (1867⫺ 1953) vertretenen Positionen hinsichtlich der liturgischen Ursprünge des Volksschauspiels8. Ausgehend von analogen Erklärungs- und Auslegungsweisen konzentrieren sich T.s Überlegungen zu Fragen der Produktion von Volkskunst auf die Beziehung zwischen ästhetischer Kreativität und Traditionsgebundenheit9. Von bes. Wert sind in diesem Zusammenhang T.s Studien zum Exvoto10. Der Erzählüberlieferung hat T. zwei wichtige Arbeiten gewidmet. Zusammen mit A. Fabi veröffentlichte er eine umfangreiche, nach AaTh klassifizierte Slg kurzer humoristischer Volkserzählungen aus der Romagna mit einer Einl. zur Typik der volkstümlichen Erzähltradition dieser Landschaft unter Berücksichtigung entsprechender Unters.en11. In seiner Studie zur Legende des hl. J Georg12 befaßt sich T. im Rahmen der Beziehungen zwischen offiziellem (ursprünglich oriental. und später vom Kult des hl. J Michael verdrängten) und populärem Kult des Heiligen mit dem bes. in Mittel- und Süditalien und auf den ital. Inseln verbreiteten Erzähllied über den hl. Georg. T. bietet eine umfassende Dokumentation unveröff. Texte; er erschließt Bezüge zu heidnischen Frühlingsfeiern mit kriegerischem Hintergrund (Umritte, rituelle Kämpfe, Waffentänze); er zeigt den Einfluß legendarischen Erzählguts, erörtert Zusammenhänge mit Episoden und Figuren der griech. (J Herakles, J Perseus, J Theseus) und oriental. Mythologie (Horus) und unterstreicht die Sinnbildlichkeit in bezug auf den Kampf zwischen Gut und Böse, die der christl. Hagiographie zugrunde liegt. 1
Druckfassung: T., P.: La poesia religiosa del popolo italiano. Florenz 1922. ⫺ 2 id.: La poesia popolare religiosa. Florenz 1935. ⫺ 3 Gennaioli, D.: Profili di
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nostri collaboratori: P. T. In: L’alta valle del Tevere 2,1 (1934) 26; Bronzini, G. B.: Profilo di P. T. In: Grana, G. (ed.): Storia della letteratura italiana. I critici. Mailand 1969, 2791⫺2806; Tucci, G.: T., P. In: Grande dizionario enciclopedico 18. Turin 1972, 562 sq.; Bronzini, G. B.: Omaggio a P. T. In: Lares 40,2⫺4 (1974) 131⫺135; id.: Commemorazione di P. T. ibid. 42,1 (1976) 146 sq.; id.: Spiritualismo di P. T. in unita` di arte, religione e scienza. ibid. 42,2 (1976) 253⫺265; id.: P. T. filologo e demologo, antropologo malgre´ lui. ibid. 64,1 (1998) 153⫺162. ⫺ 4 T., P.: La poesia religiosa del popolo italiano. Florenz 1922; cf. auch id. (wie not. 2); id.: Die religiöse Volkspoesie in Italien. In: ZfVk. 48 (1939) 38⫺48. ⫺ 5 Croce, B.: Estetica. Bari 1902; id.: Poesia popolare e poesia d’arte. Bari 1933 (erw. Fassung eines 1929 veröff. Beitr.s in der Zs. La Critica). ⫺ 6 T., P.: Saggi di letteratura popolare. Mailand 1943; id.: Guida allo studio delle tradizioni popolari. Rom 1945; id.: Il folklore. Rom 1951; id.: Rappresaglia di studi di letteratura popolare. Florenz 1957; id.: Tradizioni popolari italiane. Turin 1958; id.: Invito al folklore italiano. Rom 1963; id.: Lei ci crede? Appunti sulle superstizioni. Turin 1968. ⫺ 7 id.: L’antico dramma sacro italiano. Citta` di Castello 1926; id.: Le origini del teatro italiano. Turin 1955 (t. 1⫺2. Turin 21999 [mit Einl. von G. B. Bronzini]); id.: L’antico teatro religioso italiano. Matera 1966. ⫺ 8 Bronzini, G. B.: Drammaturgia biblica medievale. Dalle „Origini del teatro italiano“ di D’Ancona a „Le Origini“ di T. ibid. 66,4 (2000) 639⫺671. ⫺ 9 T., P.: Poesia e vita di popolo. [Mailand 1946]; id.: „Fabri“ del folklore. Ritratti e ricordi di maestri. Rom 1958; id.: Arte popolare italiana. Rom 1960; id.: Saggi sull’arte popolare. Rom 1960; id.: Stampe popolari italiane dal XV secolo al XX secolo. Mailand 1964; id.: Il folklore. Tradizioni, vita e arti popolari. Mailand 1967. ⫺ 10 id.: Bibliogr. degli ex voto italiani. Florenz 1970; id.: Le tavolette votive della Madonna dell’Arco. Cava dei Tirreni 1971. ⫺ 11 id.: Buonsangue romagnolo. Racconti di animali, scherzi, aneddoti, facezie. Bologna 1960; cf. auch id.: Romagna tradizionale. Usi e costumi, credenze e pregiudizi. Bologna 1963. ⫺ 12 id.: La leggenda di San Giorgio nei canti popolari italiani. Florenz 1964; cf. auch id.: Fenomenologia del canto popolare. Rom 1947.
Bari
Vera Di Natale
Tot, Tote 1. Allgemeines ⫺ 2. Märchen ⫺ 3. Sage ⫺ 4. Schwank
1 . All ge me in es. Während das Adjektiv tot den Zustand eines Lebewesens beschreibt, dessen Lebensfunktionen beendet sind, bezeichnet das Substantiv Toter (T.r) den im Zustand
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des J Todes befindlichen Menschen, den Verstorbenen1. Internat. weit verbreitet ist die Vorstellung, daß der als J Leiche zurückbleibende Körper des T.n nur ein Teil von dessen vorheriger Existenz ist, da sein geistiger Bestandteil erhalten bleibe (J Seele). Der T. tritt in Volkserzählungen als Kontrahent der Lebenden auf, die wissen wollen, wohin der T. geht, und das Bedürfnis haben, ihn mit dem Leben in Verbindung zu wissen2. Diese dualistische Auffassung äußert sich vor dem Hintergrund der jeweiligen religiösen Deutungsmuster in Texten aus unterschiedlichen Kulturen3. 2 . M är ch en. Allein in den J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm erscheinen mehr als 300 tote Menschen, die zumeist keine bes. Gestalt besitzen4. Märchenfiguren verfahren mit den T.n ohne Angst (J Allverbundenheit); sie begegnen ihnen in derselben Dimension (J Eindimensionalität). Beispielhaft dafür steht das Schwankmärchen AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen: Der Protagonist spielt mit einem T.n Kegel und nimmt ihn zu sich ins Bett, um ihn zu wärmen. Völlig unbefangen gehen die Helden mit den T.n um, die sie im Leben zu halten wünschen. Sie bemühen sich sogar um deren J Wiederbelebung. Mit Hilfe eines Zufalls wird J Schneewittchen (AaTh/ATU 709), die in einem Zustand zwischen Tod, J Scheintod und J Zauberschlaf ist, wiederbelebt. In anderen Märchen ist ein tätiger Eingriff notwendig. Die J Schlafende Schönheit (AaTh/ATU 410) wird durch den Kuß des Prinzen aus dem todähnlichen Schlaf erlöst. Die Wiederbelebung der von einem dämonischen Wesen getöteten Mädchen in AaTh/ ATU 311: cf. J Mädchenmörder geschieht dadurch, daß die Schwester die zerhackten Körperteile zusammenlegt. In AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue geschieht die Verlebendigung, indem dem T.n der Kopf wieder aufgesetzt wird. Das grausige Märchen AaTh/ATU 720: J T.nvogel läßt den von der Mutter getöteten Sohn aus den J Knochen lebendig werden. Notwendig sind für die Wiederbelebung oft magische Hilfsmittel. In AaTh/ATU 567: Die zwei J Brüder wirkt die Lebenswurzel (J Lebenskraut). In AaTh/ ATU 612: Die drei J Schlangenblätter vermögen die Heilmittel sogar zwei T. ins Leben zurückzubringen. In AaTh/ATU 516: Der treue
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J Johannes wird nicht nur der Protagonist selbst durch das Blut der beiden Königskinder wiederbelebt, sondern auch diese erlangen das Leben zurück. In AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen kehrt die tote Mutter nachts zurück und stillt ihr Kind (J Säugen), bis der König sie ins Leben zurückholt. Allg. zeigen sich die Märchenfiguren von der Existenz der T.n wenig betroffen5. Sie suchen wie selbstverständlich den Kontakt zu den T.n und wünschen sie an das Leben zu binden. 3 . S ag e. In Sagen spiegeln sich die Auffassungen von dem, was mit den Verstorbenen nach dem Ableben geschieht. Gerade die T.nsagen drücken darum auf unterschiedliche Weise die enge Beziehung des Menschen zum übernatürlichen, von J Angst und schlimmer Erwartung besetzten Bereich aus (J Numinoses). Berichtet wird von der Begegnung des T.n mit dem Diesseits und dem Erzähler, vom Verhalten des T.n und des Lebenden und den Folgen eines solchen Zusammentreffens für beide. Die T.nsagen bilden die wohl umfangreichste und vielfältigste Gruppe von Volkserzählungen6. Dabei tragen die Vorstellungen von den T.n zunächst J archaische Züge. Diese betreffen einerseits ihr Auftreten in anthropomorpher, körperlich gedachter Gestalt (J Anthropomorphisierung), andererseits ihre spiritualisierte Form als J Geist und J Gespenst (J Spuk, J Wiedergänger). Als normaler Zustand gilt der permanente Aufenthalt an Orten im J Jenseits (J Fegefeuer, J Himmel, J Hölle). Die Ruhelosigkeit der T.n ist indessen eine Folge eines von der J Norm abweichenden Verhaltens in der Gemeinschaft der Lebenden, ein J Frevel, die Verletzung der Moral und des Rechtsempfindens oder ein unnatürlicher, plötzlicher Tod durch J Mord oder Unfall. Bereits in sagenhaften Erzählungen des MA.s und der frühen Neuzeit, wie sie in Exempel-, Predigt- und Chronikliteratur aufscheinen, sind leibhaftig wiederkehrende T. allgegenwärtig7. In Überlieferungen des 19./20. Jh.s erscheinen sie als weiße Frau (Jungfrau)8, in weißem Gewand9, als schwarze Frau10. Oft treten sie in standesgemäßer Berufskleidung auf als Bauer11, Hirte12, Feldmesser13, Förster14, Küster15 oder Pfarrer16 oder in Gestalt eines Tieres als Hund17, Kalb18, Ente19 oder Taube20
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(J Theriomorphisierung) und nehmen am Alltag der Lebenden teil. In der Nähe des Meeres erscheinen T. als Möwen21. Unmittelbar als T.r erkennbar ist das spukende J Skelett (AaTh/ ATU 882 B*: J Klapperhannes). Im luxemburg.-moselländ. Raum glaubte man, daß sich in kleinen, nach Flur und Wald benannten Spukgestalten Menschen verbergen, die am Spukort zu Tode kamen und dorthin verbannt wurden22. Die Seelen ungetaufter Kinder gehen als Licht um23. In körperlosen Geistern und sichtbaren Jenseitigen werden gleichfalls häufig T. gesehen. Die Sage kennt auch das Fortleben der Herrscher- oder Heldengestalt im Berg, die zu einer bestimmten Zeit in die Gegenwart zurückkehrt (J Entrückung, Kap. 7)24. Sowohl anthropomorphe als auch theriomorphe T. suchen immer wieder die Auseinandersetzung mit den Lebenden. Sie nähern sich in feindlicher Absicht und sind böse und gefährlich25. Ihre Bindung an das Diesseits geben sie nicht auf. Der tote Bauer etwa bleibt auf seinem Grund und Boden26. Ein T.r spricht aus dem J Sarg und macht auf sich aufmerksam27. Von einem Lebenden angesprochen, antwortet eine Stimme aus dem J Grab28. T. melden sich durch Klopfen oder Kratzen29. Sie werfen das Grab auf und verlassen es zum T.ntanz30. Ein gefährlicher T.r ist der bes. in Mitteleuropa faßbare Nachzehrer, der Lebende ins Grab nachzieht31. Häufig werden Hinterbliebene nachgeholt32. Wenn ein Verstorbener über Sonntag im Hause liegt, dann holt er Verwandte nach33. Ebenso zieht eine jüngst Verstorbene ein Mädchen nach, das um Mitternacht ihr Grab aufsucht34. In diesen Zusammenhang gehört die Erzählung vom toten Bräutigam, der seine Braut zu sich ins Grab holt (AaTh/ATU 365: J Lenore). Ähnlich gefährlich ist der J Vampir, der aus dem Grab steigt und Menschen das Blut aussaugt35. Die T.n wehren sich gegen die Störung ihrer Ruhe auf aggressive Art und Weise36. Sie beklagen sich, weil jemand über ihr Grab hinweggeht oder darüber reitet37. Mutwillige Ruhestörer, die an das Grab kommen, werden zu Tode erschreckt38. Wer Musik und Lärm macht, Schmutz hinterläßt und Tierkadaver auf dem J Friedhof begräbt, Frevler wie Selbstmörder (J Selbstmord) und Teufelsbündner (J Teufelspakt) bestattet, ruft die Abwehr
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der T.n hervor39. Bes. gefährlich ist es, einen T.n im Grab anzureden: Wer das tut, verschwindet auf immer40. Werden die T.n aus ihrer Ruhe in den Gräbern zum J Tanz hervorgelockt, endet die Begegnung für die Lebenden meist tödlich41. Die Unterbrechung der T.nruhe geht für den Störenfried schlecht aus42. Weit verbreitet ist die Erzählung vom T.n als Gast, der einer Einladung zwar folgt, den Einladenden und Ruhestörer aber mit ins Grab nimmt (AaTh/ATU 470 A: J Don Juan). Ähnlich verhält es sich mit dem J Mann vom Galgen (AaTh/ATU 366), der sich für die Ruhestörung und den Diebstahl seiner Körperteile rächt. Immer dann, wenn ein Lebender T. absichtlich oder unabsichtlich beobachtet, drohen ihm Gefahren. Die in ganz Europa bekannte Sage ATU 779 F*: J Geistermesse handelt von einem Menschen, der am Gottesdienst der T.n teilnimmt. Heftige Rache üben die T.n auch, wenn sie ihres Eigentums beraubt werden. Vor allem der entehrende Raub von Leichenteilen wird bestraft (AaTh/ATU 366). Aber auch den Diebstahl von Gegenständen nehmen die T.n nicht hin. Eine Zipfelkappe oder T.nhaube, die einer T.n im Rahmen einer Mutprobe abgezogen werden soll, wird zurückgefordert43. Eine Frau, die um Mitternacht auf dem Friedhof einer weißen Gestalt das Leichentuch wegnimmt, fällt tot um44. Ein T.r verlangt seinen Ärmel zurück45. Eine T. will ihr ehrliches T.nhemd statt des aus unterschlagenem Leinen hergestellten46. Das Grab ist als Wohnung des T.n sein wahres Eigentum. Darum gilt der Diebstahl des Grabsteins als eine schlimme Tat47. Auch wer Grabschmuck stiehlt, hat die Rache des T.n zu fürchten48. Gegen J Spott jeglicher Art setzen sich die T.n zur Wehr. Sie dulden weder Beschimpfung noch Beleidigung und verfolgen denjenigen, der sich beim Tanz über sie lustig macht. Dem Spötter setzen sie mit Schlägen nach und töten ihn sogar49. Als Musikanten den T.n auf dem Friedhof zum Tanz aufspielen, werden sie von Knochen und T.nköpfen angegriffen und verletzt50. Allg. legen es die gefährlichen T.n darauf an, Menschen und Tiere zu belästigen. Als Gespenster verfolgen und erschrecken sie Wanderer51, hocken auf 52, verprügeln sie53, reißen ihnen einen Finger ab54 oder töten Mensch55 und
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Vieh56. Vielfach verteilen die T.n Strafen bei Nachtarbeit, weil die Nacht ihnen gehört, so etwa wenn die übereifrige Spinnerin kein Ende kennt57. Die Gefährlichkeit der T.n beruht auf ihren bes. Kräften. Die Vorstellung von den lebenden Leichen (J Lebender Leichnam) und ruhelosen T.n wird ⫺ wenn auch quellenmäßig nicht belegbar ⫺ mit germ.-ma. Auffassungen in Verbindung gebracht58. Dagegen finden nach christl. Überzeugung die wiederkehrenden T.n nach ihrer J Erlösung die ewige Ruhe bei Gott59. Aus den Ursachen für die Ruhelosigkeit der T.n ergeben sich ihre ambivalenten Züge und ihr Verhalten im Diesseits. Zumeist haben sie sich in irgendeiner Weise schuldig gemacht. Es ist aber eine Grundforderung der J Gerechtigkeit, daß Sühne und Wiedergutmachung geleistet werden (J Schuld und Sühne)60. Als schlimmste J Sünde gilt der Mord. Der unentdeckte Mörder muß zur Strafe als Kettenmann, Kopfloser, schwarzer Mann oder in menschlicher Gestalt umgehen61. Er steigt in seiner menschlichen Gestalt aus dem Grab und spukt62. Der böse Förster, der einen Reisenden umgebracht hat, findet keine Ruhe63. Der Kindsmord (J Kindsmörderin) wiegt bes. schwer. Täter kehren immer wieder an den Ort des Verbrechens zurück64. Ermordete machen durch ihre Ruhelosigkeit auf das ihnen zugefügte Unrecht aufmerksam65. Die ermordete Tochter geht um, um den Frevel des Vaters anzuzeigen66. Der Vatermörder (J Elternmörder) erscheint als schwarzer Hund67. Auch Personen mit richterlichen Befugnissen, die bewußt Fehlurteile fällen, müssen umgehen. Der Richter fährt nachts unter heftigem Geräusch in einem gespenstischen Wagen zum Gerichtshaus68. Der ungerechte Amtmann verläßt sein Grab69. Ein frevelhafter Schöffe erscheint als Schaf oder Jagdhund70. Der Gerichtsherr wird vom zu Unrecht Gehenkten verfolgt, bis er stirbt71. Unschuldig Hingerichtete melden sich im Diesseits als Taube, Hahn oder Ziegenbock72. Überhaupt wird von den T.nsagen die ungerechte Behandlung durch die Obrigkeit hervorgehoben. Wenn der Gutsherr die Bauern und armen Leute wegen unerlaubten Holzsammelns bedrückt hat, ist ihm keine Ruhe vergönnt, und er zeigt sich als glühender Mann oder in Bärengestalt73. Die hartherzige Herrin muß ohne Unterlaß spinnen74.
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Zahlreiche Vergehen im Umgang der Menschen miteinander bleiben nicht ungesühnt. Verstöße gegen sittliche Normen ziehen Strafen nach sich. Wer unrechtes Gut erworben, gestohlen, betrogen oder eine ungerechte Erbteilung vollzogen hat, bleibt an das Diesseits gebunden und tritt als Gespenst, weiße Gestalt, Feuermann oder Hund auf oder lenkt durch Geräusche die Aufmerksamkeit auf sich75. Grenz- oder Marksteinversetzer, die sich widerrechtlich Land aneignen, machen sich gerade in einer bäuerlichen Gesellschaft eines schweren Verstoßes schuldig. Sie müssen die J Grenze auf und ab laufen, in ihrer ehemaligen Gestalt oder als Feuermann, gelegentlich mit dem glühenden Grenzstein auf der Schulter76. Oft ist der Name des Grenzverletzers bekannt. Nur ein Lebender kann ihn erlösen, der auf seine Frage ,Wo soll ich ihn hinsetzen?‘ antwortet: ,Wo du ihn hergenommen hast.‘77 Bes. schwere Schuld hat der Selbstmörder auf sich geladen. Er erscheint immer wieder an dem Ort, wo er Hand an sich gelegt hat, und erschreckt die Leute oder begleitet sie als Hund oder Feuermann. Nur ein Geistlicher kann ihn bannen und damit die Belästigung beenden78. Die Strafe wird dadurch erschwert, daß das Gespenst Blechschuhe tragen muß79. Manchmal erscheint es nur noch als Kinderschreck80. Die Vorstellung von der Weiterexistenz der T.nseelen in einem jenseitigen Schattenreich hat sich in der griech.-röm. Antike entwickelt und bis in die Gegenwart erhalten. Nach der Jenseitstopographie der kathol. Kirche ist dem Himmel als dem ewigen Aufenthaltsort der Erlösten und Seligen ein endlicher Bereich der Buße, Pein und Reinigung vorgelagert81. Mit der Pein im Fegefeuer und mit Ruhelosigkeit werden die Armen Seelen bestraft, die ihre Vergehen nicht gebeichtet oder gesühnt haben82. Indem sie um Gebet und Messen für ihre Erlösung83 bitten, weisen sie die Lebenden auf ihr Versagen hin und bitten ihrerseits um Erlösungshilfe. Am Allerseelentag (2. Nov.) erhalten die Armen Seelen Urlaub aus dem Fegefeuer84. Die erlösungsbedürftigen Wesen begegnen den Lebenden in anthropomorpher Gestalt als Pfarrer85, Mönch und Nonne86, Wanderer, Knabe, alter Mann87, Schloßfrau88 oder Feuermann89 oder in Tiergestalt als Kröte, Fisch, Schlange, Vogel, Taube, Fuchs, Hase,
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Tot, Tote
Schmetterling, Pferd, Kuh oder Schwein90. Ebenso melden sie sich als weiße oder schwarze Seelengeister91. Wandelnde Lichterscheinungen, die Irrlichter, die Wanderer ängstigen, galten als ungetaufte Kinder, die nicht zur Seligkeit gelangen können92. Die Armen Seelen suchen die Begegnung mit den Lebenden auf dem Friedhof, in Feld und Flur, in den Häusern und im Herdruß93. Sie bedürfen der Hilfe, um der Läuterung im Fegefeuer zu entgehen. Darum ist das Verhalten der Lebenden so wichtig für das Schicksal der T.n94. Deren Unterlassungen im Diesseits sind unterschiedlicher Art. Sie bitten, ihre Schulden zu bezahlen95. Ein unerfülltes Gelübde muß eingelöst werden, eine Wallfahrt, eine nichtgelesene Messe gehalten werden. Überhaupt muß ausgeführt werden, was im Leben gelobt wurde96. Der Priester, der eine Messe nicht gelesen hat, bittet um Hilfe und geht als J Schatten um97. Die T.n und Armen Seelen bedanken sich für die Erlösungshilfe der Diesseitigen (cf. auch AaTh 505⫺508/ATU 505⫺507: J Dankbarer T.r). Sie beschützen ihre Helfer, warnen und begleiten sie98, zeigen Todesfälle an, weisen auf eine künftige Feuersbrunst hin und verschaffen ein Heilmittel gegen die Pest99. Sie helfen auf vielfältige Weise, in der Haus- und Almwirtschaft, als Fährleute, sie leuchten den Reisenden und schützen vor Dieben und Räubern100. In alpenländ. Sagen (Wallis) wird durch Substantivierung des Adjektivs tot mit dem bestimmten oder unbestimmten Artikel der Begriff das T. bzw. ein T.s gebildet. Gemeint ist damit die Arme Seele101. Das T. erscheint den Menschen, fordert sie zum Handeln auf (Schatzgraben, Schwingen), macht Vorhersagungen, spricht Warnungen aus, droht und ruft auf den Friedhof102. Die tote Mutter hat eine bes. enge Beziehung zu ihrem zurückgelassenen Kind (cf. auch AaTh/ATU 769: J Tränenkrügklein). Die leibliche Mutter erscheint und rächt sich an der Stiefmutter, die ihre Kinder züchtigt103. Sie kehrt zurück und kümmert sich um ihr Kind104. Die Wöchnerin gibt ihre Fürsorge nicht auf und pflegt und säugt das Kind105. Auch wahre Freundschaft kann die T.n mit den Lebenden verbinden. Bereits im MA. ist die Erzählung von der Verabredung der beiden Freunde bekannt, wonach der zuerst Gestor-
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bene berichten soll, wie es im Himmel zugeht (cf. J Botschaften ins Jenseits); dieser hält sein Versprechen und verkündet die Botschaft aus dem Jenseits oder folgt der Einladung zur Hochzeit und nimmt den Freund mit in die andere Welt (AaTh/ATU 470: J Freunde in Leben und Tod )106. Wenn jemand bei einem Streit seinen Widersacher mit einem Fluch in das Tal Josaphat oder vor das Gericht Gottes am J Jüngsten Tag lädt (J Vorladung vor Gottes Gericht), müssen beide nach ihrem Tod den Streit als Wiedergänger fortführen107. Wie nahe sich in der Vorstellung der Menschen Diesseits und Jenseits, Lebende und T. sind, zeigt sich in der im dt. Sprachraum verbreiteten Sage vom T.n, der seinem eigenen Begräbnis zuschaut108: Der T. erscheint den Leidtragenden vor oder nach seiner Bestattung am Fenster seines Hauses oder des Stalles in menschlicher Gestalt109; er nimmt an der Trauerhandlung Anteil. Die T.nwache (J Grabwache) gilt als eine Gemeinschaftsaufgabe (cf. auch J Klagen, J Trauer). Vielfach wurde sie von jungen Männern gehalten, und oft endete sie in makabrem Treiben. Die Geschichten vom Auswechseln der Leiche und vom Totschlagen eines Lebenden, der um Mitternacht bloß Schrecken hervorrufen will, warnen vor solchen Handlungen110. Im rezenten Erzählgut haben T.nsagen nicht mehr die frühere Bedeutung. Unter den modernen Sagen finden sich nur gelegentlich Erzählungen von Wiedergängern. Internat. am weitesten verbreitet ist die moderne Wiedergängersage vom verschwundenen Anhalter (Mot. E 332.3.3.1)111. Ein T.ngeist wird gerufen und erscheint112. Jemand, der einsam gestorben ist, macht sich durch ein Geräusch bemerkbar. Eine tote Frau tritt als Gespenst auf und gibt ihrem Mann den richtigen Tip beim Lottospiel113. Entscheidend für das gegenwärtige Erzählen ist die Einfügung derartiger Geschichten in die aktuellen Lebensumstände. 4 . S ch wa nk. Zahlreiche Erzählungen haben ein makaber-komisches Geschehen bei der Begegnung und beim Umgang mit T.n zum Gegenstand114. Einer der populärsten Schwänke aus diesem Bereich ist AaTh/ATU 1537: Die mehrmals getötete J Leiche115. Die früher alltägliche Situation der T.nwache behandelt
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Tot, Tote
AaTh/ATU 1711*: Tot: Was t. ist, soll t. bleiben; hier wird ein sich Totstellender erschlagen116. Ein Fehlschluß kennzeichnet die weitverbreitete Geschichte vom Narren, der sich für tot hält (AaTh/ATU 1313: cf. J Mann glaubt sich tot). In AaTh/ATU 1313* wird der Kranke für tot erklärt; als er sich lebendig zeigt, bestimmt die Frau: „Der Doktor hat recht.“117 In der modernen Sage sind auch die Geschichten von der geschmuggelten Leiche der Großmutter, die gestohlen wird118, und diejenige vom ,unbeabsichtigten Kannibalismus‘ (ATU 1339 G: The Relative in the Urn) weitverbreitet. Eine makabre Komik beherrscht die Erzählung von der ,tödlichen Ladung‘: Ein Obdachloser legt sich in einen Sarg auf einem Lastwagen; als er den Deckel hebt, erschrickt der Fahrer derart, daß er tot zusammenbricht119. Eine ähnliche Wirkung hat die Geschichte von dem T.n, der aus dem Sarg genommen und zur Vortäuschung eines Wiedergängers benutzt wird120. DWb. 21, 588⫺593. ⫺ 2 Röhrich, L.: Die Todesauffassung in den Gattungen der Volksdichtung. In: Heindrichs, U. und H.-A./Kammerhofer, U. (edd.): Tod und Wandel im Märchen. Regensburg 1991, 57⫺78, hier 57. ⫺ 3 Geiger, P.: T. (der): In: HDA 8 (1936⫺37) 1019⫺1034; cf. allg. Uther, H.-J.: Europ. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004; id.: Märchen der Welt. CD-ROM B. 2006. ⫺ 4 Wülfing, I.: Alter und Tod in den Grimmschen Märchen und im Kinder- und Jugendbuch. Herzogenrath 1986, 115⫺ 129. ⫺ 5 cf. Horn, K.: Bilder des Todes in der Dichtung, Märchen und in der Märchendichtung. In: Kammerhofer, U. (ed.): Tod und Wandel im Märchen. Salzburg 1990, 45⫺58, hier 45; Röhrich, L.: „und weil sie nicht gestorben sind …“ Köln/Weimar/ Wien 2002, 93. ⫺ 6 cf. allg. Müller/Röhrich; Röhrich, L.: Das Verhalten zum Tod und zu den T.n in der Volksdichtung. In: Boehlke, H.-K. (ed.): Vom Kirchhof zum Friedhof. Kassel 1984, 89⫺107, hier 89. ⫺ 7 Lecouteux, C.: Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im MA. Köln/Wien 1987, 283; Oexle, O. G.: Die Gegenwart der T. n. In: Death in the Middle Ages. ed. H. Braet/W. Verbeke. Löwen 1983, 19⫺77, hier 64. ⫺ 8 Schell, O.: Berg. Sagen. Elberfeld 2 1922, num. 949; Henßen, G.: Neue Sagen aus Berg und Mark. Elberfeld 1927, 142. ⫺ 9 Guntern, J.: Volkserzählungen aus dem Oberwallis. Basel/Bonn 1979, num. 1178, 1210; Gerstner-Hirzel, E.: Aus der Volksüberlieferung von Bosco Gurin. Basel/Bonn 1979, num. 173. ⫺ 10 Guntern (wie not. 9) num. 1177. ⫺ 11 Bodens, W.: Sage, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1937, num. 429⫺443. ⫺ 12 Reiser, K.: Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus 1
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1. Kempten 1894, num. 441. ⫺ 13 Jahn, U.: Volkssagen aus Pommern und Rügen. ed. S. Neumann/K.E. Tietz. Bremen/Rostock 1999, num. 530. ⫺ 14 Vildomec, V.: Poln. Sagen. B. 1979, num. 136. ⫺ 15 Fischer, H.: Sagen des Westerwaldes. Montabaur 1983, num. 247. ⫺ 16 Karlinger, F./Wolf, R.: Nordital. Sagen. B. 1978, num. 37. ⫺ 17 Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1966, num. 25. ⫺ 18 Vildomec (wie not. 14) num. 135. ⫺ 19 Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. ed. O. Mensing. Schleswig 1921, num. 206. ⫺ 20 Baader, B.: Volkssagen aus dem Lande Baden. (Karlsruhe 1859) Nachdr. Hildesheim 1978, num. 13. ⫺ 21 Agricola, C.: Engl. und walis. Sagen. B. 1976, num. 84. ⫺ 22 Zender, M.: Kobold, T.ngeist und Wilder Jäger. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 415⫺427, hier 420. ⫺ 23 Bodens (wie not. 11) num. 562; Top, S.: Op verhaal komen. Limburgs sagenboek. Löwen 2004, num. 77. ⫺ 24 Schell (wie not. 8) num. 982; Sagenhafter Untersberg. Die Untersbergsage in Entwicklung und Rezeption. Salzburg 1991/92. ⫺ 25 Gattlen, A.: Die T.nsagen des alemann. Wallis. (Diss. Freiburg [Schweiz]) Naters-Brig 1948, 31; cf. Dorndorf, M.: Brauchtum und Glauben um den Tod am Niederrhein. Diss. (masch.) Köln 1954. ⫺ 26 Bodens (wie not. 11) num. 433. ⫺ 27 Kuhn, A./Schwartz, W.: Norddt. Sagen, Märchen und Gebräuche. Lpz. 1848, num. 302. ⫺ 28 Meiche, A.: Sagenbuch der Sächs. Schweiz und ihrer Randgebiete. (Dresden 21929) Nachdr. B. 1991, num. 3. ⫺ 29 Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Köln/Bonn 1978, num. 704, 734. ⫺ 30 Agricola (wie not. 21) num. 68; Böck, E.: Sagen aus Niederbayern. Regensburg 1977, num. 400; Röhrich, L.: Tanz und Tod in der Volkslit. In: Link, F. (ed.): Tanz und Tod in Kunst und Lit. B. 1993, 599⫺ 634, hier 620. ⫺ 31 Neu, P.: Der „Nachzehrer“. Ein Beitr. zu T.nbrauchtum und T.nkult in der Eifel im 17. Jh. In: Rhein.-westfäl. Zs. für Vk. 30⫺31 (1985/86) 225⫺ 227; Scharfe, M.: Über Religion. Glaube und Zweifel in der Volkskultur. Köln/Weimar/Wien 2004, hier 58; Grober-Glück, G.: Muster räumlichen Verhaltens bei Vorstellungen des Volksglaubens. Dominanz von Vorstellungen am Beispiel des Nachzehrerglaubens. In: Ethnologia Europaea 8,2 (1975) 227⫺231, 228 (Karte). ⫺ 32 Kuhn, A.: Märk. Sagen und Märchen. B. 1843 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1973) num. 30; Grober-Glück, G.: Der Verstorbene als Nachzehrer. In: Atlas der dt. Vk. Erläuterungen 2. ed. M. Zender. Marburg 1966⫺82, 427⫺456 (Karten N. F. 73⫺76 a, b). ⫺ 33 Fischer (wie not. 29) num. 759; Jahn (wie not. 13) num. 514. ⫺ 34 Fischer (wie not. 29) num. 761. ⫺ 35 Haupt, K.: Sagenbuch der Lausitz 1. Lpz. 1862 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1977) num. 69; Cammann, A.: Turmberg-Geschichten. Marburg 1980, 198. ⫺ 36 Kühnau, R.: Schles. Sagen 1. Lpz. 1910, num. 11. ⫺ 37 Schöppner, A.: Sagenbuch der Bayer. Lande 1. Mü. 1852, num. 69. ⫺ 38 Senti, A.: Sagen aus dem Sarganserland. Basel 31983, num.
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Tot, Tote
248; Gerstner-Hirzel (wie not. 9) num. 168. ⫺ 39 Müller/Röhrich L 20⫺24. ⫺ 40 De´traz, C./Grand, P.: Ces Histoires qui meurent. Contes et le´gendes du Valais. Lausanne 1982, 138. ⫺ 41 Schell (wie not. 8) num. 673. ⫺ 42 Karasek, A./ Strzygowski, E.: Sagen der Deutschen in Wolhynien und Polesien. Posen 1938, num. 375. ⫺ 43 Birlinger, A.: Volksthümliches aus Schwaben 1. Fbg 1861, num. 404; Staudt, G./Peuckert, W.-E.: Nordfrz. Sagen. B. 1968, num. 250. ⫺ 44 Cammann, A./Karasek, A.: Volkserzählungen der Karpatendeutschen in der Slowakei 1. Marburg 1981, 405. ⫺ 45 Dittmaier, H.: Sagen, Schwänke und Märchen von der unteren Sieg. Bonn 1950, num. 296. ⫺ 46 Peuckert, W.-E.: Dt. Sagen 2. B. 1962, num. 201. ⫺ 47 Böck, E.: Sagen aus der Oberpfalz. Regensburg 1986, num. 21. ⫺ 48 Brückner, 227. ⫺ 49 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1978) num. 286⫺288; Kühnau (wie not. 36) num. 18, 146, 565; Peuckert, W.-E.: Ostalpensagen. B. 1963, num. 324; Vildomec (wie not. 14) num. 127. ⫺ 50 Zender (wie not. 17) num. 832 sq. ⫺ 51 Schell (wie not. 8) num. 75, 77, 285, 367, 712, 880, 1074; Guntern (wie not. 9) num. 1204, 1205; Dietz, J.: Aus der Sagenwelt des Bonner Landes. Bonn 1965, num. 347, 362, 365, 386; Fischer (wie not. 29) num. 920⫺927. ⫺ 52 Bartsch (wie not. 49) num. 222 sq.; Haupt (wie not. 35) num. 159; Schell (wie not. 8) num. 87, 154, 425. ⫺ 53 Dietz (wie not. 51) num. 356, 377, 728. ⫺ 54 Schell (wie not. 8) num. 114. ⫺ 55 ibid., num. 159, 226, 728; Guntern (wie not. 9) num. 1171 sq. ⫺ 56 Bodens (wie not. 11) num. 579, 580. ⫺ 57 Guntern (wie not. 9) num. 1175 sq., 1209. ⫺ 58 cf. Schreuer, H.: Das Recht der T. n. Eine germanistische Unters. In: Zs. für vergleichende Rechtswiss. 33 (1916) 333⫺342, hier 336; ibid. 34 (1916) 1⫺209. ⫺ 59 Scharfe (wie not. 31) 56. ⫺ 60 Müller/Röhrich H 1⫺39. ⫺ 61 Schell (wie not. 8) num. 12, 121, 337, 385; Zender (wie not. 17) num. 742, 825. ⫺ 62 Wolfersdorf, P.: Westfäl. Sagen. Kassel 1987, num. 33. ⫺ 63 Vildomec (wie not. 14) num. 136. ⫺ 64 Schell (wie not. 8) num. 12, 312, 392; Fischer (wie not. 29) num. 1004. ⫺ 65 Staudt/Peuckert (wie not. 43) num. 232 sq. ⫺ 66 Fischer (wie not. 15) num. 101. ⫺ 67 Top (wie not. 23) num. 60. ⫺ 68 Schell (wie not. 8) num. 471. ⫺ 69 ibid., num. 1048. ⫺ 70 ibid., num. 364. ⫺ 71 Zender (wie not. 17) num. 173. ⫺ 72 Schell (wie not. 8) num. 138, 420, 794. ⫺ 73 ibid., num. 548, 848; Dittmaier (wie not. 45) num. 297. ⫺ 74 Schell (wie not. 8) num. 562. ⫺ 75 ibid., num. 108, 344, 404, 462 a, 598, 1127; Bodens (wie not. 11) num. 490. ⫺ 76 Kühnau (wie not. 36) num. 196; Henßen (wie not. 8) 127, 129; Bodens (wie not. 11) num. 444⫺ 453; Dittmaier (wie not. 45) num. 298 sq.; Peuckert (wie not. 46) num. 236⫺239; Fischer (wie not. 29) num. 735⫺751. ⫺ 77 Zender (wie not. 17) num. 792. ⫺ 78 Bodens (wie not. 11) num. 499, 505; Zender (wie not. 17) num. 724⫺736; Fischer, H.: Der Rattenhund. Sagen der Gegenwart. Köln/Bonn 1991,
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num. 2. ⫺ 79 Schell (wie not. 8) num. 158, 850. ⫺ 80 Fischer (wie not. 29) num. 494. ⫺ 81 Le Goff, J.: Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im MA. Mü. 1990. ⫺ 82 Karlinger, F./Übleis, I.: Südfrz. Sagen. B. 1974, num. 40; Staudt/Peuckert (wie not. 43) num. 241. ⫺ 83 Tubach, num. 3213 b, 3388; Guntern (wie not. 9) num. 1210; Zender (wie not. 17) num. 768⫺772. ⫺ 84 Ranke, K.: Allerheiligen und Allerseelen in der Sagenüberlieferung. In: Rhein. Jb. für Vk. 9 (1958) 28⫺53, hier 39. ⫺ 85 Meyer, C.: Der Aberglaube des MA.s. Basel 1884, 352. ⫺ 86 Wucke, C. L.: Sagen der mittleren Werra. Eisenach 1891, 222, 395. ⫺ 87 Schönwerth, F. von: Aus der Oberpfalz 1. Augsburg 1854, 299, 302, 492. ⫺ 88 Panzer, F.: Bayer. Sagen und Bräuche 2. Mü. 1855 (Nachdr. Göttingen 1956) num. 330 d. ⫺ 89 Bodens (wie not. 11) num. 572⫺576. ⫺ 90 Gattlen (wie not. 25) 34; Sailer, J.: Die Armen Seelen in der Volkssage. Diss. (masch.) Mü. 1956, 239⫺241. ⫺ 91 Schell (wie not. 8) num. 367; Staudt/Peuckert (wie not. 43) num. 235; Fischer (wie not. 15) num. 155. ⫺ 92 Bodens (wie not. 11) num. 562⫺571; Dittmaier (wie not. 45) num. 316⫺323; Fischer (wie not. 29) num. 928⫺940; Zender, M.: Verbreitung von Sagenmotiven und Vorstellungen des Volksglaubens im Rheinland. In: id.: Gestalt und Wandel. Bonn 1977, 401⫺413, hier 411. ⫺ 93 Fischer (wie not. 29) num. 755, 756. ⫺ 94 Jezler, P.: Jenseitsmodelle und Jenseitsvorsorge. In: id. (ed.): Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im MA. Zürich 1994, 13⫺26, hier 24. ⫺ 95 Guntern (wie not. 9) num. 1220, 1222, 1225⫺ 1227. ⫺ 96 Bodens (wie not. 11) num. 522; Dittmaier (wie not. 45) num. 293; Fischer (wie not. 29) num. 733; Rölleke, H.: Westfäl. Sagen. Düsseldorf/Köln 1981, 102; Top (wie not. 23) num. 63, 64, 98. ⫺ 97 Tubach, num. 3215; Karlinger, F./Übleis (wie not. 82) num. 40; Top (wie not. 23) num. 65. ⫺ 98 Dittmaier (wie not. 45) num. 292; Guntern (wie not. 9) num. 1192⫺1195; Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 178, 206; Müller, J.: Sagen aus Uri 3. Basel 1945 (Nachdr. 1969) num. 1032, 1034. ⫺ 99 Guntern (wie not. 9) num. 558, 798; Fischer (wie not. 29) num. 835⫺846; Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 1⫺4. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 21989/389/90/ 92, hier t. 1, 634. ⫺ 100 Hain, M.: Arme Seelen und helfende T. In: Rhein. Jb. für Vk. 9 (1958) 54⫺64. ⫺ 101 Guntern (wie not. 9) num. 1169. ⫺ 102 ibid., num. 95, 100, 106, 558, 798, 1169; Gerstner-Hirzel (wie not. 9) num. 150. ⫺ 103 Jahn (wie not. 13) num. 517. ⫺ 104 Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Stg. 1948, num. 235 I; Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem oberpfälz.-böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num. 57; Guntern (wie not. 9) num. 1212, 1214. ⫺ 105 Zaunert, P.: Rheinland Sagen 2. Jena 1924, 208; Jahn (wie not. 13) num. 516; Müller (wie not. 98) num. 1120 sq.; Agricola, C.: Schott. Sagen. B. 1967, num. 68⫺70; Zender (wie not. 17) num. 723. ⫺ 106 Meisen, K.: Die späten volkstümlichen Var.n der Erzählung von dem in den Himmel entrückten Bräutigam. In: Rhein. Jb.
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Tot: Sich t. glauben ⫺ Tot: Was t. ist, soll t. bleiben
für Vk. 7 (1956) 173⫺228, hier 177; Petzoldt, L.: Friends in Life and Death. ibid. 19 (1968) 101⫺ 161. ⫺ 107 Peuckert, W.-E.: Westalpensagen. B. 1965, num. 248; Müller (wie not. 98) num. 1375 sq.; Guntern (wie not. 9) num. 1190. ⫺ 108 Ranke, K.: Die Sage vom T.n, der seinem eigenen Begräbnis zuschaut. In: Rhein. Jb. für Vk. 5 (1954) 152⫺183. ⫺ 109 Guntern (wie not. 9) num. 359. ⫺ 110 Zaunert, P.: Hess.-nassau. Sagen. Jena 1925, 316; Bodens (wie not. 11) num. 702; Dietz (wie not. 51) num. 534⫺ 538; Fischer (wie not. 29) num. 763 sq.; Kaufmann, O.: Oberberg. Volkserzählungen. In: Rhein.-westfäl. Zs. für Vk. 14 (1967) 203, num. 37; Büchli (wie not. 99) t. 2, 472; t. 3, 550. ⫺ 111 Brunvand, J. H.: Enc. of Urban Legends. Santa Barbara/Denver/Ox. 2001, 463⫺465. ⫺ 112 Brednich, R. W.: Die Spinne in der Yuccapalme. Mü. 1990, num. 107. ⫺ 113 Fischer (wie not. 78) num. 16, 20. ⫺ 114 Röhrich, L.: Die Moral des Unmoralischen. Zwischen Schwank und Exempel. In: Rhein. Jb. für Vk. 26 (1985/86) 209⫺219, hier 210. ⫺ 115 cf. auch Brednich (wie not. 112) num. 113; Fischer (wie not. 78) num. 19. ⫺ 116 Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1954, num. 64; Bodens (wie not. 11) num. 1171, 1172; Fischer (wie not. 29) num. 763, 764; Berger, K.: Erzählungen und Erzählstoffe in Pommern 1840⫺1938. Münster u. a. 2001, 89. ⫺ 117 Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus Eifel und Ardennen. Bonn 1984, num. 289. ⫺ 118 Brednich (wie not. 112) num. 29 a⫺b; Fischer (wie not. 78) num. 51. ⫺ 119 Portnoy, E.: Broodje Aap. De folklore van post-industrie¨le samenleving. Amst. 91987, num. 17; Fischer (wie not. 78) num. 18. ⫺ 120 id. (wie not. 29) num. 765, 766.
Hennef
Helmut Fischer
Tot: Sich t. glauben J Mann glaubt sich tot
Tot: Was t. ist, soll t. bleiben (AaTh/ATU 1676, 1711*), Sammelbezeichnung für schwankhafte Erzählungen über makabre Streiche, die demjenigen schaden, der sie ausführt (Mot. K 1682). Der suggestive Titel geht auf einen Ausruf des Protagonisten in AaTh/ATU 1711*: The Brave Shoemaker zurück: Ein Mann (oft Schuster) fürchtet sich vor nichts. Seine Freunde wollen ihm einen Streich spielen: Einer von ihnen stellt sich t. (J Tot: Sich t.stellen), der Furchtlose soll die Totenwache halten. Als sich die ,Leiche‘ bewegt, läßt er sich nicht erschrecken, ruft: ,Was t. ist, soll t. bleiben!‘ und versetzt dem Scherzbold einen solchen Hieb, daß dieser stirbt.
Möglicherweise geht AaTh/ATU 1711* auf literar. Texte des 14.⫺17. Jh.s zurück (u. a. von
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John J Bromyard, Johannes J Pauli, Hans J Sachs), in denen sich ein Mann aus J Geiz t.stellt1: Ein Hausherr berechnet, daß seine Vorräte für einen Tag weniger als für ein ganzes Jahr ausreichen. Um Essen für diesen einen Tages zu sparen, stellt er sich t. Als sein Gesinde trotzdem etwas zu essen haben will, bewegt sich der vermeintlich Tote, worauf ihn ein Knecht erschlägt und sagt, er habe den Teufel aus der Leiche vertrieben.
AaTh/ATU 1711* ist aus mündl. Überlieferung erstmals Mitte des 19. Jh.s belegt2. Die Erzählung wurde in Nord- und Westeuropa3 sowie in Teilen Mittel-4 und Südeuropas aufgezeichnet. Einzelbelege stammen aus Nord-5 und Südamerika6. Abweichungen betreffen gewöhnlich die Motivation der Person, die sich t.stellt7. Manchmal riskiert sie einen Blick, um zu sehen, was vor sich geht, und der Schuster ruft: ,Ein Toter darf nicht gucken!‘, bevor er zuschlägt8. Oder der Schwindel wird offenbar, als der vermeintlich Tote spricht9. In seltenen Fällen erscheint AaTh/ATU 1711* als Teil von AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen10. Daß ein Mann eine Leiche spielt (US-amerik. Qu.n zufolge ein beliebter Jux, der ,span. Begräbnis‘ heißt11), oder daß bei einer Totenwache eine echte Leiche bewegt wird, soll auch tatsächlich vorgekommen sein12. In AaTh/ATU 1676: The Pretended Ghost wird J Spuk (Mot. K 1833) fingiert. Der Erzähltyp liegt in zwei Ausprägungen vor. Die erste handelt von einer J Mutprobe (Mot. H 1435) bzw. J Wette: Ein Mann soll einen Totenkopf aus dem Beinhaus oder vom Friedhof holen. Ein anderer, der sich als Geist (Toter) ausgibt, sagt etwas wie: „Laß meinen Schädel in Frieden, auf daß dich nicht Leid befalle!“13 Oft wirft der Mutige den Schädel in die Richtung, aus der die Stimme kommt, und tötet versehentlich den, der ihn hereinlegen wollte.
AaTh/ATU 1676, 1711* sind meist realistische Versionen von J Horrorgeschichten, andere Var.n erscheinen in Form traditioneller Sagen mit übernatürlichen Inhalten14. Den Übergang von der Warnsage zu rationalisierenden Formen bildet die Fassung von Karoline J Stahl: Hier scheint es sich um einen echten Geist zu handeln; als dieser jedoch erschossen wird, erfährt der Leser, daß es sich um einen Betrüger gehandelt hatte15. Ge-
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wöhnlich beginnt die Erzählung jedoch mit der Erklärung des Streichs. Diese Ausprägung von AaTh/ATU 1676 wurde vor allem aus Nord-16, Nordwest-17, Mittel-18 und Westeuropa aufgezeichnet; einzelne Belege stammen aus Südosteuropa19. Anstatt als Gespenst20 kann der Possenspieler sich auch mit einer J Tierhaut (oft Kuhhaut, deren Hörner eine Teufelserscheinung suggerieren) verkleiden21. Bei der zweiten Ausprägung lassen sich zwei Redaktionen unterscheiden: Ein Scherzbold erscheint als weißer Geist verkleidet auf einem J Friedhof. Die Person, die erschreckt werden soll, fürchtet sich jedoch nicht ⫺ auch nicht, als eine zweite Erscheinung auftaucht ⫺, sondern erzählt dem weißen Geist von dem anderen, schwarzen Geist (Teufel, anderer Verkleideter), der hinter ihm stehe (ihn verfolge). Der Verkleidete läuft entsetzt davon.
Diese Form des Erzähltyps ist in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien am bekanntesten22. Die andere Redaktion, AaTh 1676 A: Big ’Fraid and Little ’Fraid, die ATU 1676 zugeordnet wurde, stammt hauptsächlich von Afro-Amerikanern und geht auf die 1850er oder 1870er Jahre zurück: Ein Mann verkleidet sich als Geist, um jemanden in der Nähe des Friedhofs zu erschrecken. Ein Affe imitiert ihn. Der Mann, dem Angst gemacht werden soll, ist unbeeindruckt; er sieht die zwei Gestalten und ruft: ,Run, big ’fraid, or little ’fraid will catch you!‘ Damit jagt er dem, der ihm den Streich spielen will, großen Schrecken ein.
In vielen Fassungen dieser Redaktion folgt eine zweite Episode, in der der Affe seinen Herrn beim Rasieren nachahmt und sich die Kehle durchschneidet (cf. J Imitation: Fatale und närrische I.)23. Pauli/Bolte, num. 176. ⫺ 2 Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 154 (1869); Pelen, J.-N.: Le Conte populaire en Ce´vennes. Erw. Ausg. P. 1994, 752 (1866). ⫺ 3 DBF B 2, 239 sq.; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 2. Grenoble 1971, num. 161; Delarue (Var. 13, 27); Ranke, K.: European Anecdotes and Jests. Kop. 1972, num. 56 (dt. aus Luxemburg). ⫺ 4 Bröring, J.: Das Saterland 2. Oldenburg 1901, 304; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Leer 1994, num. 135 (aus dem Oldenburg.); Grüner, G.: Waldeck. Volkserzählungen. Marburg 1964, num. 586; Cammann, A.: Turmberg-Geschichten. Marburg 1980, 249 sq. ⫺ 5 Robe. ⫺ 6 Brendle, T. R./Troxell, E. S.: Pennsylvania German Folk Tales […]. Norristown 1
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1944, 212. ⫺ 7 Dawkins, R. M.: More Greek Folktales. Ox. 1955, num. 13 (Neugier); DBF B 2, 239 sq.; Grüner (wie not. 4) (Frau testet Treue ihres Ehemanns). ⫺ 8 Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 216; Hackman, O.: Katalog der Märchen der finnländ. Schweden (FFC 6). Lpz. 1911, 35; Grüner und Cammann (wie not. 4); Pelen (wie not. 2) num. 76; Jauhiainen, num. C 171; Bll. für Pommersche Vk. 5 (1897) 175. ⫺ 9 Joisten und Ranke (wie not. 3); Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populaires de Castilla y Leo´n 2. Madrid 1988, num. 387, cf. num. 388; cf. Laport *1711; Ara¯js/Medne 1676. ⫺ 10 Calvino, I.: Fiabe italiane. Turin 1956, num. 80; Delarue (Var. 13, 27); Lemieux, G.: Les Vieux m’ont conte´ 3. Montre´al 1974, num. 8, 28, cf. 15. ⫺ 11 Crockett, D.: A Narrative of the Life of David Crockett. Phil. 1834, 98 sq.; Randolph, V.: The Talking Turtle and Other Ozark Folk Tales. N. Y. 1957, 32⫺34. ⫺ 12 Narva´ez, P.: „Tricks and Fun“. Subversive Pleasures at Newfoundland Wakes. In: WF 53 (1994) 263⫺293; Harlow, I.: Creating Situations. Practical Jokes and the Revival of the Dead in Irish Tradition. In: JAFL 110 (1997) 140⫺168. ⫺ 13 Krauss, F. S.: Tausend Sagen und Märchen der Südslaven 1. Lpz. [1914], num. 90. ⫺ 14 Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, 223, num. 146. ⫺ 15 Stahl, K.: Fabeln, Märchen und Erzählungen für Kinder. Nürnberg 21821, 229⫺232. ⫺ 16 Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 204. ⫺ 17 Vk. 19 (1907/08) 63, num. 107; Joos, A.: Vertelsels van het Vlaamsche volk 2. Gent 1890, num. 45; Sinninghe 942* A. ⫺ 18 Ranke (wie not. 3) num. 86; Bodens, W.: Sage, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1937, num. 706, 710, 712, 713; Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem oberpfälz.-böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num. 59. ⫺ 19 Krauss (wie not. 13). ⫺ 20 Bodens (wie not. 18); van der Kooi 1676 F*; cf. Ikeda 1676; Ting 1676 A. ⫺ 21 Bodens (wie not. 18) num. 701, 708, 709; Die Nachbarn 3 (1962) 72; Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1966, num. 1111 (Bärenhaut); van der Kooi 1676 F*, 11, 19. ⫺ 22 Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1. Oldenburg 21909, 280; Smith, G. P.: The European Origin of an Illinois Tale. In: SFQ 6 (1942) 89⫺94; Sinninghe 942* C, cf. 942* D; DBF B 1, 23 sq., 38, 541, 594 sq.; DBF B 2, 276; van der Kooi 1676 E*, 1676 G*; Minton, J.: „Big ’Fraid and Little ’Fraid“. An Afro-American Folktale (FFC 253). Hels. 1993, 67⫺73. ⫺ 23 Baughman 1675 A; Dorson, R. M.: Negro Folktales in Michigan. Cambr., Mass. 1956, 187 sq.; van der Kooi/ Schuster (wie not. 2) num. 149; Minton (wie not. 22).
Los Angeles
Christine Goldberg
Tot: Sich totstellen, weltweit verbreitetes Motiv, das sich in vielerlei Erzählgattungen manifestiert. Regionale Variationen lassen sich
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kaum feststellen; aufgrund verhältnismäßig einfacher Strukturen kann oft Polygenese angenommen werden. Die Protagonisten bedienen sich der List des Sichtotstellens häufig mit dem Ziel der J Täuschung eines Kontrahenten und dadurch der Gewinnung eines Vorteils. Dementsprechend wird sie oft von J Trickstern eingesetzt. Zahlreiche Beispiele für das Sichtotstellen weisen Tiererzählungen auf. Das Motiv ist sehr alt und in europ. und außereurop. Fabeln, Tierepen und Tierschwänken vertreten: Im J Hitopades´a entkommt ein Reh, indem es sich totstellt, im J Papageienbuch gelingt dies Vogeljungen (Mot. K 522)1, im Katha¯saritsa¯gara des J Somadeva lenkt eine Gazelle, die den eigenen Tod markiert, den Jäger von der befreundeten gefangenen Schildkröte ab2, und im J Roman de Renart (9. Branche) ist eine Kombination von AaTh/ATU 47 A, 47 C: J Fuchs (Bär) am Pferdeschwanz und AaTh/ATU 154: J Fuchs und Glieder belegt: Der Esel Timer stellt sich tot. Renart und seine Frau Hermeline binden sich an ihm fest, um ihn in ihren Bau zu ziehen. Statt dessen schleppt jedoch der Esel Hermeline zu einem mit Renart verfeindeten Bauern. Als der Bauer dem Esel versehentlich einen Schenkel abschlägt, zieht Hermeline diesen triumphierend als Beute nach Hause.
Tierprotagonisten bedienen sich der List am häufigsten, um einem größeren oder stärkeren Gegner zu entkommen3. In AaTh/ATU 3: cf. J Scheinverletzungen gibt der J Fuchs vor, daß sein Gehirn ausgelaufen sei, und schreckt so den Bären ab. Ein Ätiologie erklärt, warum sich das Opossum totstellt (Mot. A 2466.1). In Begegnungen mit Menschen sind sich totstellende Tiere überlegen, so der gefangene Papagei oder in Exempeln die gefangene Forelle (Mot. K 522.4). Tiere stellen sich aber auch tot, um andere Tiere zu bestehlen oder zu erbeuten, wie in AaTh/ATU 33: cf. J Rettung aus dem Brunnen oder AaTh/ATU 102: J Hund als Schuhmacher. In einer afroamerik. Erzählung gehen Fuchs und Hase (J Brer Rabbit) fischen, der Hase stellt sich tot und stiehlt die vom Fuchs geangelte Beute4. Eine Khoisan-Erzählung berichtet davon, daß der Schakal beim Beerensammeln die Hyäne um die Früchte bringt5. In AaTh/ATU 56⫺56 C: J Fuchs und Vogeljunge erbeutet der Trickster durch Sichtotstellen Jung-
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vögel; in AaTh/ATU 47 A stellt sich das Pferd erfolgreich tot und kann den Fuchs an seinem Schweif fortschleifen. Alten Tieren gelingt es auf diese Weise, Beute zu machen: Der alte Kater fängt Mäuse6; der Hase rät einem Löwen, der zum Jagen zu alt ist, sich in einem Kral totzustellen, und führt ihm reiche Beute zu7. In einigen Fällen wird auch ein angeblich totes Tier von seinem Herrn verkauft, kehrt dann aber zu ihm zurück (Mot. K 366.1.3.1). Sichtotstellen wird dazu benutzt, die Treue und Redlichkeit anderer Tiere zu prüfen. So stellt in dem Tierschwank AaTh/ATU 65: J Freier der Frau Füchsin der Fuchs die J Treue seiner Frau auf die Probe. Um zu hören, was sie über ihn zu sagen haben, täuscht der Hahn seine Hennen (Mot. H 1556.1.1). In einigen Fassungen zu AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater ist dem Kater ein schöner Sarg versprochen worden; als er sich totstellt, wird er jedoch in den meisten Fällen auf den Misthaufen geworfen. Steht bei der gelungenen List die Würdigung eines pfiffigen Einfalls im Vordergrund, wird die mißlungene als Täuschung gewertet. Das Sichtotstellen mißlingt, wenn sich das scheinbar tote Tier verrät: Die von Mäusen durchschaute Katze begegnet bereits in der äsop. Fabel (Mot. K 2061.9). Ein Krokodil stellt sich tot, um einen Affen zu erbeuten, wird aber von diesem veranlaßt zu sprechen (AaTh/ATU 66 A: J Hallo, Haus!). Auch in AaTh/ATU 66 B: Sham-dead (Hidden) Animal Betrays Self verraten sich Tiere durch Sprechen oder Bewegung8. Der Tiger verrät sich, weil er sein Glied nicht stillzuhalten vermag (Mot. K 607.3.1). In zweigliedrigen Erzählungen wird das erfolgreiche Sichtotstellen eines Tiers zuweilen von einem anderen nachgeahmt, mißlingt dann aber und führt zu J Selbstschädigung (J Imitation: Fatale und närrische I.), wie etwa in Var.n von AaTh/ATU 1: J Fischdiebstahl. Erzählungen mit menschlichen Protagonisten verlaufen oft ähnlich schwankhaft wie Tiererzählungen. Auch die Motivationen der Figuren sind vergleichbar. So stellen sich auch Menschen tot, um einer Gefahr zu entkommen, wie der Mann in AaTh/ATU 179: Was der J Bär dem sich Totstellenden ins Ohr flüstert. Konon (1. Jh. a. Chr. n.) erzählt von einem in einer Schatzhöhle gefangenen Hirten, dem Apollo im Traum erscheint und dem er
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rät, sich zu verletzen und totzustellen, woraufhin ihn ein Geier ans Tageslicht trägt9. Die J Räuber in der Totenkammer (AaTh/ATU 1654) werden ebenfalls von einem vermeintlich Toten erschreckt. Eine Frau kann, indem sie sich totstellt, einem Anschlag auf ihr Leben entgehen (Mot. K 522.3). Ein vorgetäuschtes Begräbnis (Mot. K 522.5) oder eine vorgetäuschte Hinrichtung (Mot. K 522.8) benutzt der Protagonist, um zu verschwinden (cf. Mot. K 1864). Bes. von sog. Naturvölkern sind mythol. Erzählungen belegt, in denen sich ein Protagonist gegenüber einem übernatürlichen Wesen totstellt (Mot. K 1866): Die südafrik. Nama erzählen von einem im Haus der Frau Dunkelheit gefangenen Mann, der sich totstellt10. In einer lett. Erzählung narrt eine Frau auf diese Weise sogar den Tod11. In AaTh/ ATU 1139: The Ogre Carries the Sham-Dead Man läßt der Unhold den scheinbar Toten liegen, weil er schon so streng rieche. Um finanzielle Vorteile geht es z. B. dem Mietpreller, der seinen Pesttod vortäuscht12, oder dem Schuldner, der seine Schulden nicht zahlen mag (Mot. K 246). Geldknappe Matrosen verkaufen einem Pathologen eine vermeintliche Leiche: Auf dem Seziertisch bedroht der ,Tote‘ dann den Arzt, der ihn für den Teufel hält und samt seiner Frau flieht13. Geld kann auch kassiert werden, um einen scheinbar Toten zu beerdigen (AaTh/ATU: Die doppelte J Pension). Diebe und Räuber stellen sich tot: Der J Meisterdieb (AaTh/ ATU 1525 sqq.) lenkt seine Wächter auf diese Weise ab (cf. Mot. K 341.2). Auch Nahrung kann man sich mit dem Trick ergaunern (Mot. K 1867⫺K 1867.2). Das Sichtotstellen kann auch angewandt werden, um ins Reich der Toten zu gelangen (Mot. K 1866): Aus dem Tschad wird von einer Frau erzählt, die wegen einer Hungersnot ins Reich der Toten mitgenommen werden will, um dort Nahrung zu suchen14. Menschen stellen sich jedoch auch tot, um andere umbringen (Mot. K 911.2, K 911.4) oder ihre Feinde schädigen zu können (AaTh/ ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit)15: Der Protagonist inszeniert die Wiederbelebung seiner Frau (cf. auch Mot. K 1865), nachdem er sie zuerst scheinbar erstochen hatte. Nachdem zwei Studenten einen Sichtotstellenden mit Schlägen ,wiederbelebt‘ haben,
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verkauft dieser ihnen den magischen Prügel. Als die beiden damit eine wirkliche Leiche zum Leben erwecken wollen, werden sie wegen Leichenschändung bestraft16. Auch in Erzählungen mit menschlichen Protagonisten kann der scheinbare Tod inszeniert werden, um Freundschaft (Mot. H 1558.5) oder Liebe auf die Probe zu stellen (Mot. H 1556.1, H 314.1), so in einer chin. Var. von AaTh/ATU 920 C: J Schuß auf den toten König17. In einer mhd. Novelle prüft der Mann so die Zuneigung seiner Frau, die sich nach seinem Tod zunächst zum Essen niederläßt und erst, als die Nachbarn herbeikommen, ein Klagegeheul anstimmt18. Die rasch getröstete J Witwe (AaTh/ATU 1350) läßt sich noch in Gegenwart der vermeintlichen Leiche zu einer neuen Heirat überreden. Das Sichtotstellen von Menschen soll aber auch heimliche Treffen Verliebter (Mot. K 1862) in einem Grab (Mot. K 1538) oder im Exil (Mot. N 343.3) sowie das Zusammenleben mit einer Mätresse (Mot. K 1538.2) ermöglichen. Es kann zu ehelicher Bindung führen, z. B. durch die tiefe Trauer der Umworbenen (Mot. K 1352), den vorgetäuschten Freitod durch J Gift, wenn sich die Frau mit dem ,Vergifteten‘ trauen läßt, um ihn zu beerben19, oder wenn die Eltern den scheinbar zu Tode geprügelten Liebsten ihrer Tochter schuldbewußt mit dem Mädchen verheiraten wollen, wenn er noch lebte20. Sichtotstellen verhindert aber auch unwillkommene Eheschließung (Mot. K 522.0.1). Salomon läßt seine der Untreue bezichtigte sich totstellende Frau beerdigen; aus dem Grab wird sie von ihrem Geliebten befreit (J Salomon und Markolf ). Eine andere Frau wird während des Ehebruchs von ihrem Mann überrascht, stellt sich tot und erwacht wieder zum Leben, als ihr Mann sagt, er habe nichts gesehen (K 1549.2). Menschen stellen sich tot, um sich tragen zu lassen (Mot. K 1861), in Erfahrung zu bringen, wie tote Soldaten wiederbelebt werden (Mot. K 1863), um die Truppe zu verlassen, eine Burg einzunehmen (Mot. K 2362) oder durch vorgetäuschte Wiederbelebung eine unechte Reliquie als echte ausgeben zu können (Mot. K 1865). Der von einer wütenden Mutter attackierte Trickster läßt sie glauben, sie habe ihn umgebracht (Mot. K 522.7). Ein
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Mann will seine Frau lediglich ärgern, indem er sich totstellt (Mot. J 2511.1.1). Wenn sich totstellende Menschen entlarvt werden, so geschieht das meist durch Kitzeln (Mot. H 248.3, J 1149.7), Schlagen mit einer Peitsche (Mot. J 2311.12) oder Begießen mit flüssigem Blei (Mot. H 248.1). In den J Ja¯takas finden sich Berichte, wie ein Sichtotstellender dazu gebracht wird zu gestikulieren (Mot. K 607.3, cf. K 607.3.2)21; oder es wird ein leerer Sarg gefunden (Mot. K 522.6). In Var.n von AaTh/ATU 1351: J Schweigewette stellen sich die Protagonisten tot, werden jedoch aus Geiz wieder ,lebendig‘. In AaTh/ATU 958 C*: Robber in Shroud findet der Räuber, der sich unter einem Leichentuch totstellen will, dort einen Kollegen mit derselben Absicht vor. Wie in Tiererzählungen begegnet auch bei menschlichen Protagonisten die mißlungene Nachahmung (Mot. J 2411.1.1). Nicht selten stirbt der sich totstellende Trickster tatsächlich. Derartige Erzählungen weisen mitunter deutlich moralisierende Töne auf (Mot. Q 591.1). In einem Exempel wird von zwei Bettlern berichtet, deren einer sich totstellt, um die Kosten für die Beerdigung zu ergaunern, dann jedoch tot ist22. Mehr Glück hat ein Mann, der den hl. J Jacobus täuschen soll. Als er stirbt, wird er von dem Heiligen wieder zum Leben erweckt23. In einigen Var.n von AaTh/ ATU 1676: Was J tot ist, soll t. bleiben stellt sich ein Mann tot, weil er annimmt, daß das Personal dann weniger essen würde. Als dies nicht eintritt und der Mann ,lebendig‘ wird, erschlägt ihn der Knecht (Mot. J 2188)24; auch eine Frau, die ihren Mann ausspionieren will, wird getötet (Mot. N 384.12). In einem brit. Flugblattschwank aus dem 19. Jh. entdecken Leichenträger den Schwindel eines Mannes, der wegen seiner Sterbeversicherung totgemeldet wurde; daraufhin erhält der Betrüger zwölf Monate Haft25. 1 Hatami, M.: Unters.en zum pers. Papageienbuch des Nah˚ sˇabı¯. (Diss. Mainz) Fbg 1977, num. 7. ⫺ 2 Somadeva: Der Ozean der Erzählungsströme 1. ed. J. Mehlig. Lpz./Weimar 1991, 986 sq. ⫺ 3 Schmidt, num. 520, 1865. ⫺ 4 Parsons, E. C.: The Provenience of Certain Negro Folktales. In: FL 28 (1917) 408⫺ ˇ istov, K. V.: Per414. ⫺ 5 Schmidt, num. 442. ⫺ 6 C stenek-dvenadcat’ stavesˇkov. Izbrannye russkie skazki Karelii. Petrozavodsk 1958, 197 sq. ⫺ 7 Schmidt, num. 493 A. ⫺ 8 ibid., num. 505. ⫺ 9 Scherf, 277. ⫺ 10 Schmidt, num. 343. ⫺
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Ara¯js/Medne *332*. ⫺ 12 Wickram/Bolte, num. 23. ⫺ 13 Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, num. 447. ⫺ 14 Jungraithmayr, H.: Märchen aus dem Tschad. MdW 1981, num. 10. ⫺ 15 cf. Cammann, A.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien. Göttingen 1967, num. 141 (aus der Ukraine). ⫺ 16 id.: Märchenwelt des Preußenlandes. B. 31992, 276⫺278. ⫺ 17 Ting 920 C1. ⫺ 18 Rosenfeld, H.-F.: Mhd. Novellenstudien. Lpz. 1927 (Nachdr. N. Y. 1967), 148, num. 2; Pauli/Bolte, num. 144. ⫺ 19 Wehse (wie not. 13) num. 170. ⫺ 20 ibid., num. 172. ⫺ 21 Bødker, Indian Animal Tales, num. 516. ⫺ 22 Rehermann, E. H.: Das Predigtexempel bei protestant. Theologen des 16. und 17. Jh.s. Göttingen 1977, 348 sq., num. 8. ⫺ 23 Hebenstreit-Wilfert, H.: Wunder und Legende. Studien zu Leben und Werk von Laurentius Surius (1522⫺1578) […]. Diss. Tübingen 1975, 153, num. 6. 4. ⫺ 24 Pauli/Bolte, num. 176; Schmidt, num. 322 B, cf. 322 A. ⫺ 25 Wehse (wie not. 13) num. 398. 11
München
Rainer Wehse
Totemismus. Der in der Völkerkunde bzw. Religionswissenschaft geprägte Begriff T. bezieht sich auf gemeinschaftliche (seltener individuelle) Praktiken und Empfindungen in Zusammenhang mit einem als Totem bezeichneten Emblem, häufig einer Tier- oder Pflanzenart1. Während der Begriff heute auch im allg. Sprachgebrauch erscheint, gehen Ethnologen inzwischen äußerst vorsichtig mit dem damit verbundenen theoretischen Konzept um, größtenteils als Reaktion auf Verwirrungen und diskursive Exzesse in den Debatten sozial- und kulturwiss. Evolutionstheoretiker im 19. und frühen 20. Jh. Das Wort Totem stammt von den OdjibwaVölkern im Gebiet der Großen Seen, bei denen es Klan oder Familie bedeutet. Allg. geläufig ist der Begriff in Zusammenhang mit den geschnitzten Pfählen (sog. Totempfählen), die bei den indigenen Völkern der Nordwestküste Nordamerikas Sippengenealogien symbolisieren. In der Gesellschaftstheorie des 19. Jh.s wurde die Totemidee allerdings losgelöst von lokalen kulturellen Bedingungen betrachtet und stand bald im Mittelpunkt ausschweifender soziokultureller Theoriebildungen, die sich großenteils um ein angebliches universelles totemistisches Stadium der menschlichen Entwicklung drehten. Die Popularität dieser Idee ist darauf zurückzuführen, daß in ihr die gro-
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Totemismus
ßen Fragen der Kulturevolution aufeinandertreffen, die im 19. Jh. ein vieldiskutiertes Thema waren (J Anthropol. Theorie). Sie lassen sich in drei Gruppen unterteilen. Zunächst bot der T. einen Anlaß für Spekulationen über Sexualität, Fruchtbarkeit, Ursprung und Entwicklung der J Ehe sowie anderer damit in Zusammenhang stehender sozialer Institutionen. Vor allem glaubte man, der T. habe beim Übergang von der Darwinschen ,promiskuitiven Horde‘ ⫺ einem postulierten frühen Stadium, in dem die Menschen ungeregelt sexuelle Verbindungen eingegangen seien ⫺ zu einem Stadium, in dem J Inzest verboten und die Paarung bzw. Ehe exogam war, eine Rolle gespielt. Bes. einflußreich war J. McLennans Versuch der Rekonstruktion der Geschichte der Ehe seit ihren Anfängen in der Promiskuität und im J Brautraub, mit dem der T. in den Mittelpunkt der wiss. Debatte rückte2. Man glaubte, der T. habe eine entscheidende Rolle bei der Erklärung von Sippen- und Abstammungsidentitäten in Zusammenhang mit der Regel der Exogamie gespielt3; er habe auch das Wissen um die (in der Zeit allg. Promiskuität unbekannten) väterlichen Abstammungslinien (cf. J Patriarchat) symbolisiert, was entscheidend für die Entwicklung der Idee des Privatbesitzes und von Regeln der Besitzübertragung gewesen sei. T. war bes. faszinierend für Wissenschaftler auf der Suche nach den Schritten der kulturellen Evolution, die von Instinkt und Animalität zu Kultur und Gesetz führten4. Die Vorstellung solcher Übergänge mußte angesichts der Herausforderung, welche die von Darwins Evolutionslehre ⫺ bes. der Transmutationslehre ⫺ postulierte Trennung der Arten bildete, unvermeidlich große Resonanz finden. Der T. erlangte eine zentrale Rolle für religiöse Evolutionstheorien, bes. in Zusammenhang mit zwei verwandten Problemkreisen: der Idee mystischen Denkens sowie dem Wesen kollektiver Gefühle, die durch Riten generiert werden (J Kollektivität, Kollektivbewußtsein; J Ritualistische Theorie). Da der T. die Unterschiede zwischen getrennten Wesenheiten ⫺ Menschen und Tieren/Pflanzen ⫺ zu vermischen oder aufzuheben scheint (J Animismus), deutete er für einige Theoretiker auf eine Form des Denkens hin, die eine Alternative bzw. Antithese zur logischen Vernunft
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darstellen. Die in den Schriften von L. J Le´vy-Bruhl zusammengefaßte Vorstellung, daß der T. aus einer ,mystischen‘ Verbindung zwischen Menschen und bes. verehrten Tieren herrühre oder sie impliziere, ist in T.debatten weit verbreitet. Obwohl Le´vy-Bruhl zum Schluß Zweifel an diesem Gedanken zum Ausdruck brachte, vertrat er in der längsten Zeit seines Wirkens die Idee einer prälogischen Mentalität der J Partizipation ⫺ eines Überfließens von Identität und eine Empathie zwischen den Arten ⫺ als Alternative zu einer Logik der Klassifizierung, die auf dem Prinzip von Gegensätzlichkeit beruht5. Die Wirkmächtigkeit des Totems als optisches und rituelles Emblem, das zur Herstellung von moralischem und politischem Zusammenhalt zwischen Sippen, Stämmen und anderen sozialen Gruppierungen diente, beeindruckte andere Denker tief. W. R. Smith postulierte ein rituell aufgeladenes totemistisches Mahl als Quelle des sozialen Zusammenhalts in der altsemit. Religion6. Teilweise inspiriert davon stellte E´. Durkheim den T. ⫺ speziell die totemistischen Institutionen der austral. Aborigines ⫺ als Träger der nicht reduzierbaren Wesensmerkmale von Religion dar. Die wichtigste dieser Eigenschaften ist ein intensiver Zustand der moralischen Solidarität und eines Kollektivbewußtseins, welcher durch Rituale erzeugt wird, die um ein von einem sozialen Kollektiv anerkanntes totemistisches Symbol veranstaltet werden7. Nach Durkheim wohnt allen Klassifizierungen ein gewisser Mystizismus inne, da man sich bei der Klassifizierung notwendigerweise über die Individualität der Einzelelemente hinwegsetzt und sie zum Zweck der Kategorienbildung vermischt. Der T. ist sowohl mystisch (da er Einzelpersönlichkeiten in einem Sozialgefühl aufgehen läßt, in dem sich Individuen zu Sippen verbinden) als auch logisch (da solche Sippen ein umfassendes hierarchisches System aus gegensätzlichen Identitäten bilden). Mit dem Postulat, daß sich das wiss. aus dem religiösen Denken entwikkelt habe, indem es jenes lediglich verfeinerte, gelangte Durkheim zu der Auffassung, der T. sei nicht nur der Prototyp aller Religion, sondern auch aller Wiss. Der T. spielte schließlich eine fundamentale Rolle bei der Formulierung früher Ideen der J Psychoanalyse. S. J Freud zufolge besitzen
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Totemismus
die für Neurotiker symptomatischen irrationalen Verhaltensweisen, Vorstellungen und mentalen Zustände (einschließlich von J Tabus, J Fetischismus, Ambivalenz und Phobien) Parallelen in dem von Ethnographen beschriebenen Verhalten dem Totem gegenüber (wobei auch Freud den austral. T. als exemplarisch heranzog)8. Mit Hilfe einer Korrelationsmethode, wie sie in der unilinearen Theorie der kulturellen Evolution gebräuchlich ist, interpretierte Freud die moderne Neurose als Regression in die Kindheit oder zu den vermeintlich unentwickelten Kulturstufen ,primitiver‘ Völker. Ausgehend von der Annahme, das Verhalten der ,Wilden‘ dem Totem gegenüber entspreche dem in seinen klinischen Schriften postulierten Verhalten der Söhne zu ihren Vätern, identifizierte Freud das Totem mit dem Vater und entwarf ein spekulatives Szenario in Form eines Ursprungsmythos um die Rolle des T. in der menschlichen Frühgeschichte. Unter Rückgriff auf das Thema der Exogamie und indem er die Ideen Darwins mit denen von Smith verband, stellt Freud eine Urszene dar, in der eine Gruppe von Söhnen den Vater tötet, um sich Zugang zu den Frauen zu verschaffen, die sich unter der Kontrolle des Vaters befinden. Später führen sie aus Reue das Gesetz der Exogamie ein und begründen in Erinnerung an den Vater, der so im Tod noch größere Macht über sie gewinnt, Tabus, die das Totem umgeben. Die kulturelle Ordnung ist demnach aus totemistischer Schuld entstanden. Kritik an diesen Anschauungen Freuds, speziell seiner Urszene, äußerten B. J Malinowski und A. Kroeber. Ihre Arbeiten bilden einen entscheidenden Übergang von phantasievollen Spekulationen zu deren Überprüfung im Feld und/oder einem Bezug auf die Details aus dem wachsenden ethnogr. Material9. Das Konzept des T. war auch mit anderen wiss. Anliegen der Evolutionstheoretiker verknüpft, bes. mit sozialer Klassifizierung, Ritualen und religiösem Denken. Vorstellungen, nach denen die Menschen von Tierarten abstammen oder in bes. Weise mit ihnen verbunden sind (cf. J Theoriomorphisierung), finden sich häufig in Ursprungsmythen; entsprechend begegnen immer wieder Bezugnahmen auf die Mythologien der Welt in den Werken der unterschiedlichen wiss. Richtungen. Europ. Märchen enthalten zwar zahlreiche anthropomor-
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phisierte Tierfiguren und tiergestaltige Personen (J Anthropomorphisierung; J Tierverwandlung; J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe; AaTh/ATU 552: J Tierschwäger), doch stehen diese außerhalb der komplizierten sozialklassifikatorischen und rituellen Kontexte, welche die Vertreter des Sozialevolutionismus faszinierten; in Zusammenhang mit dem Märchen bleibt die T.idee daher weitgehend auf Vermutungen möglicher totemistischer J Survivals aus früheren Epochen beschränkt (cf. auch J Herr der Tiere, J Jägerzeitliche Vorstellungen)10. Dem Konzept des T. wurde ein schwerer Schlag durch die amerik. Anthropologie, bes. durch F. J Boas und seinen Schüler A. Goldenweiser, versetzt11. In ihrer Kritik des Sozialevolutionismus und ihren Argumenten für einen ,hist. Partikularismus‘ wiesen sie darauf hin, daß die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der unter dem Konzept T. versammelten Institutionen, Ideen und Praktiken den Begriff nichtssagend gemacht hätten. Darüber hinaus gehe aus hist. Quellen hervor, daß Elemente totemistischer Praktiken in den einzelnen Gesellschaften aufgrund vielfältiger geschichtlicher Prozesse adaptiert worden seien ⫺ eine Erkenntnis, die den von den Anhängern des Kulturevolutionismus postulierten einheitlichen Prozeß in Frage stellt. Eine wichtige Gegenkritik kam von C. J Le´vi-Strauss12. Indem er sich von den evolutionistischen Implikationen freimachte, die das Konzept belasteten, und Anregungen aus F. de Saussures strukturellem Ansatz schöpfte, frischte Le´vi-Strauss die Idee des T. zu einer auf Analogien beruhenden Klassifizierung zwischen parallelen Differenzsystemen auf: Er übertrug die Oppositionen zwischen den Mitgliedern innerhalb natürlicher Arten symbolisch auf die menschliche Gesellschaft. Trotz des anhaltenden populären Gebrauchs des Begriffs hat der T. als wiss. Konzept nie wieder denselben Stellenwert wie um die Wende vom 19. zum 20. Jh. erreicht. 1 Thiel, J. F.: Totem, T. In: TRE 23 (2002) 683⫺ 686. ⫺ 2 McLennan, J.: Primitive Marriage. Edinburgh 1865; id.: The Worship of Animals and Plants. In: Fortnightly Review 6 (1869) 407⫺427, 562⫺582; 7 (1870) 194⫺216. ⫺ 3 cf. Frazer, J.: Totemism and Exogamy. L. 1910; Lang, A.: The Secret of the Totem. L. 1905. ⫺ 4 cf. Jones, R.: The Secret of the
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Totenhemdchen ⫺ Totenkopf
Totem. N. Y. 2005. ⫺ 5 Le´vy-Bruhl, L.: Les Fonctions mentales dans les socie´te´s infe´rieures. P. 1910; id.: Les Carnets de Le´vy-Bruhl. P. 1949. ⫺ 6 Smith, W. R.: Lectures on the Religion of the Semites. L. 1889. ⫺ 7 Durkheim, E´.: Les Formes e´le´mentaires de la vie religieuse. P. 1912. ⫺ 8 Freud, S.: Totem und Tabu. Wien 1913. ⫺ 9 Malinowski, B.: Sex and Repression in Savage Society. L. 1927; Kroeber, A.: Totem and Taboo. An Ethnologic Psychoanalysis. In: American Anthropologist 22 (1920) 48⫺55; id.: Totem and Taboo in Retrospect. In: American J. of Sociology 45 (1939) 446⫺451. ⫺ 10 cf. Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, bes. 83⫺85, 89 sq.; Dorson, R.: The British Folklorists. Chic. 1968, 225⫺227. ⫺ 11 Boas, F.: The Limitations of the Comparative Method of Anthropology. In: Science 4 (1896) 901⫺ 908; Goldenweiser, A.: Totemism. An Analytical Study. In: JAFL 23 (1910) 179⫺293. ⫺ 12 Le´viStrauss, C.: Le Tote´misme aujourd’hui. P. 1962.
Bloomington
Gregory Schrempp
Totenhemdchen J Tränenkrüglein
Totenkopf. Der menschliche Schädel bleibt, wie das übrige Skelett, von Verwesung bewahrt und ist somit Relikt vergangener Menschen. Da der J Kopf als Sitz des Verstandes und der J Seele gilt, werden dem Schädel als Repräsentanten des J Toten (J Pars pro toto) magische und spirituelle Kräfte zugesprochen1. Der T. (z. T. mit darunter gekreuzten Oberschenkelknochen) symbolisiert J Tod bzw. lebensbedrohliche Gefahr, so etwa stereotyp bei Piratendarstellungen, als Emblem militärischer Kampfeinheiten2 oder zur Kennzeichnung giftiger Stoffe. Die Hunderttausende säuberlich aufgeschichteter bzw. in Szene gesetzter T.e in den Pariser Katakomben3 belegen eindrucksvoll den Vorrang des T.s gegenüber anderen Bestandteilen des menschlichen Skeletts4. Die Aufhäufung der T.e von Besiegten (J Knochen, Knochenhaufen, Knochentürme) als Machtdemonstration ist bis ins 19. Jh. für den Balkan und den Vorderen Orient belegt5. Eine große Rolle spielen T.e im Totenkult der mexikan. Kultur, in der etwa Nachbildungen von T.en in buntem Zuckerwerk eine als selbstverständlich wahrgenommene Verbindung der Lebenden zu den Toten ausdrücken6. In ⫺ nicht nur christl. ⫺ religiösen Kontexten stehen T.e für Kontemplation, Vanitas und
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Memento Mori7. Sowohl in Texten als auch in bildlichen Darstellungen, bes. von Heiligen, begegnet der T. als Verkörperung der Endlichkeit alles Irdischen8; in Exempla erscheint er in Verbindung mit J Kerzen als Attribut eines Einsiedlers oder Asketen9; ein Mönch schenkt einer Dame anstelle eines J Spiegels einen T., in dem sie sich selbst erkennen soll10. Ähnliche Ermahnungsgedanken finden sich in Erzählungen aus dem islam. Kulturkreis11: Ein Weiser Narr verweist mit Hilfe eines T.s darauf, daß auch der König allen Menschen gleich ist12. Allg. versinnbildlicht der T. die Auseinandersetzung mit dem Tod: Ein Topf voller T.e in siedendem Wasser steht in einer serb. Var. von AaTh/ATU 471: J Brücke zur anderen Welt für die ewige Pein in einer jenseitigen Welt13. Leontius lädt einen T. zum Essen ein, damit dieser ihm beweise, daß es ein Leben nach dem Tod gibt (cf. AaTh 470 A: J Don Juan). Als Element von Heil- oder J Schadenzauber spielt der T. eine Rolle in populären Glaubensvorstellungen. So wird er im Rahmen eines J Sympathiezaubers als Mittel gegen Zahnschmerzen empfohlen14. Das Moos von einem T., vorzugsweise eines im Krieg Gefallenen (Ermordeten, Gehenkten, Geräderten), sollte Läuse abhalten15, vor Kugeln, Degen und Messern schützen16 und war wichtiger Bestandteil eines Schießzaubers17. Gewehrkugeln, die durch die Augenhöhlen eines T.s gegossen wurden, sollten bes. treffsicher sein18. T.e galten auch als nützlich, um Lotteriezahlen zu erfahren19. Totengräber konnten unter dem Verdacht stehen, etwa durch einen über dem Ofen aufgehängten T., die Verbreitung der Pest zu begünstigen20. Jean J Bodin spricht sich gegen die offenbar verbreitete Praxis aus, T.e als Medium der Nekromantie zu nutzen, da aus ihnen der Teufel spreche21. Im Zusammenhang mit Heilzauber werden T.e als Trinkgefäße verwandt22. In dieser Funktion werden T.e auch im Rahmen von Bestrafungen oder Demütigungen erwähnt: Der Langobardenkönig Alboin zwingt seine Frau, aus der Hirnschale ihres Vaters zu trinken (cf. AaTh/ATU: J Herzmäre)23. In AaTh/ATU 992 A: J Buße der Ehebrecherin muß die Frau zur Strafe den Kopf ihres Ge-
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Totenkopf
liebten an einer Kette um den Hals tragen oder aus ihm speisen. In zahlreichen Sagen, die vorrangig für den dt. Raum erschlossen sind24, kündigt der T. ein bevorstehendes Unglück an: Den baldigen Tod prophezeit ein umherrollender T.25 ebenso wie die Begegnung mit einem als Arzt gekleideten Mann, dessen Stock einen T.griff hat26, oder das Überreichen eines T.s im Traum27. Ein T. erscheint am Himmel, als die Pest zu wüten beginnt28. Auf den Flügeln des Totenvogels, dessen Ruf den Tod eines Menschen verkündet, soll ein T. zu sehen sein29. Manchmal erscheint der T. als Attribut des personifizierten Todes30. In Schauererzählungen31 wird das Verspotten eines T.s mit Spuk gerächt (Mot. E 235.5)32, zu Unrecht vom Friedhof oder aus dem Beinhaus entnommene T.e werden von den Toten zurückgefordert (AaTh 882 B*/ATU 760 A: J Klapperhannes)33 oder beginnen von selbst zu tanzen34. ATU 1676 D: „That’s My Head!“ behandelt eine Mutprobe, in der ein Mann aufgrund einer Wette einen T. aus dem Beinhaus oder vom Friedhof stiehlt35. Ein J Mord oder eine ungerechte J Hinrichtung kann Jahre später durch das Heranoder Hin- und Herrollen des Schädels des Opfers aufgedeckt werden36. Manchmal beginnt der T. bei Berührung durch den Mörder zu bluten (cf. auch J Gottesurteil)37. Daneben drückt die Bewegung des T.s Ruhelosigkeit aus, etwa weil der Tote Selbstmord begangen hat, ohne Beichte gestorben oder nicht in geweihter Erde begraben ist38. In Märchen und schwankhaften Erzählungen dienen T.e der Erzeugung einer bedrohlichen Stimmung, etwa wenn ganze Räume, Stockwerke, Wagen oder Seen voller T.e geschildert werden (cf. AaTh/ATU 334: J Haushalt der Hexe, AaTh/ATU 311: cf. J Mädchenmörder; J Köpfe auf Pfählen)39. Der mongol. J Mangus trägt eine Kette aus T.en40, auf dem Zaun der J Baba Jaga sind T.e aufgespießt41. In AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen schaffen die T.e eher eine gruselige Atmosphäre, wenn der furchtlose Protagonist T.e auf der Drehbank bearbeitet und mit ihnen kegelt. Ähnlich wirken umherrollende T.e42, Geistererscheinungen mit T.en in ihren Händen43 und von innen mit Kerzen erleuchtete T.e44.
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Auch in außereurop. Erzählungen spielen T.e gelegentlich eine Rolle. Ein zu Knochenmehl zermahlener T. in einer aus dem J Papageienbuch stammenden Erzählung bewirkt die magische Schwängerung einer Jungfrau45. In einer weitverbreiteten afrik. Erzählung erscheint ein sprechender T., der seinen Finder ins Unglück stürzt, weil er sich im entscheidenden Moment zu sprechen weigert und damit die Behauptung des Finders als Lüge darstellt46. In Erzählungen der Indianer Nordund Südamerikas tritt ein T. als menschenfressendes Monster auf, das selbst seine eigene Familie nicht verschont (Mot. R 261.1)47. 1 Geiger, P.: Totenschädel. In: HDA 8 (1936⫺37) 1092⫺1095, hier 1092; Jüttemann, G./Sonntag, M./ Wulf, C. (edd.): Die Seele. Göttingen 2005, 111; Scheerer, E.: Seele. In: Ritter, J./Gründer, K. (edd.): Hist. Wb. der Philosophie 9. Basel 1995, 1⫺89, hier 3, 6, 28, 30. ⫺ 2 Diehl, P.: Macht, Mythos, Utopie. B. 2005, 191. ⫺ 3 Liehr, G./Fay¨, O.: Der Untergrund von Paris. B. 2000, bes. 68⫺88. ⫺ 4 cf. allg. Zoepfl, F.: Beinhaus. In: Reallex. zur dt. Kunstgeschichte 2. Stg. 1948, 203⫺214. ⫺ 5 Stahl, P.-H.: Tumulus et pyramides de corps. In: Anthrophos 81 (1986) 583⫺ 603. ⫺ 6 Krause, H.-O. (ed.): Lebende Tote. Totenkult in Mexiko. Ausstellungskatalog Ffm. 1986, 14. ⫺ 7 Hofmann, L.: Exempelkatalog zu Martin Pruggers Beispielkatechismus von 1724. Würzburg 1987, num. 459; cf. auch Flahault, F.: La Parole du mort. In: Petitat, A. (ed.): Contes. L’universel et le singulier. Lausanne 2002, 111⫺119, hier 117. ⫺ 8 Ginal, J. N./ Heim, F. J./Stadler, J. E. (edd.): Vollständiges Hll.Lex. 1⫺5. Augsburg 1858/61/69/75/82, hier t. 2, 796 sq.; t. 3, 43, 288, 512 sq.; t. 4, 26⫺30, 206⫺208; t. 5, 29, 133⫺136, 616⫺624. ⫺ 9 Hofmann (wie not. 7) num. 536; cf. Wolf, J. W.: Dt. Hausmärchen. Göttingen 1851, 198⫺216; Bergh, K. van den: T. In: LCI 4 (1972) 343. ⫺ 10 Hofmann (wie not. 7) num. 714. ⫺ 11 Ritter, H.: The Ocean of the Soul. Man, the World and God in the Stories of Farı¯d al-Dı¯n ‘Atøtøa¯r. Leiden/Boston 2003, 103. ⫺ 12 ibid., 114. ⫺ 13 Karadzˇic´, V. S.: Volksmärchen der Serben. B. 1854, num. 17. ⫺ 14 Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1⫺2. ed. K. Willoh. Oldenburg 21909, hier t. 2, num. 462; Birlinger, A./Buck, M. R.: Volksthümliches aus Schwaben 1. Fbg 1861, num. 703.11 a, e; Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 1⫺3. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 21989/389/90, hier t. 3, 115. ⫺ 15 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1⫺2. Wien 1879/80, hier t. 2, num. 2108. ⫺ 16 Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1943, 692. ⫺ 17 Bartsch (wie not. 15) t. 2, num. 1634. ⫺ 18 Suter, P./Strübin, E.: Baselbieter Sagen. Liestal 21981, num. 225. ⫺ 19 Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz 1⫺3. Augsburg 1857/58/59,
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Totenmesse ⫺ Totenprozession
hier t. 3, 152. ⫺ 20 Grässe, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Dresden 21874, num. 569. ⫺ 21 Bodin, J.: De Magorum Daemonomania. Straßburg 1591, 178. ⫺ 22 Bütner, W.: Epitome historiarum. s. l. 1576, fol. 63r. ⫺ 23 Sainz de Robles, F. C.: Cuentos viejos de la vieja Espan˜a. Madrid 1957, 437⫺440; Schneider, A.: Exempelkatalog zu den „Iudicia Divina“ des Jesuiten Georg Stengel von 1651. Würzburg 1982, num 485; Grimm DS 400. ⫺ 24 Zahlreiche Belege bei Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003; id.: Europ. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004. ⫺ 25 Müller, J.: Sagen aus Uri 1⫺2. ed. H. Bächtold-Stäubli/t. 3. ed. R. Wildhaber. Basel 1926/29/45, hier t. 1, num. 93 d. ⫺ 26 Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Göttingen 1855, num. 228. ⫺ 27 Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staates 2. Glogau 1871, num. 275. ⫺ 28 Birlinger/Buck (wie not. 14) num. 373. ⫺ 29 Schönwerth (wie not. 19) t. 1, num. 4. 2. ⫺ 30 Schullerus, P.: Rumän. Volksmärchen aus dem mittleren Harbachtal. ed. R. W. Brednich/I. Talos¸. Buk. 1977, num. 21. ⫺ 31 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Ffm. 1970, 389⫺ 391. ⫺ 32 Kuhn, A./Schwartz, W.: Norddt. Sagen, Märchen und Gebräuche […]. Lpz. 1848, num. 260; Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1937, num. 833; Müller (wie not. 25) t. 2, num. 751; Karlinger, F./Freitas, G. de: Brasilian. Märchen. MdW 1972, num. 83. ⫺ 33 Bartsch (wie not. 15) t. 1, num. 646; Büchli (wie not. 14) t. 1, 349; Grässe (wie not. 20) num. 62.2; Jegerlehner, J.: Was die Sennen erzählen. Bern 1907, 124⫺127; Schönwerth (wie not. 19) t. 3, 151 sq.; Strackerjan (wie not. 14) t. 2, 199 sq. ⫺ 34 Büchli (wie not. 14) t. 3, 285. ⫺ 35 Stahl, K.: Fabeln, Märchen und Erzählungen für Kinder. Nürnberg 21821, 29⫺33; Zender (wie not. 32) num. 1807. ⫺ 36 Grässe (wie not. 20) num. 62; Becker, R. Z.: Noth- und Hülfsbüchlein für Bürger und Bauersleute 4. Gratz 1793, 257⫺260. ⫺ 37 Büchli (wie not. 14) t. 1, 577; t. 2, 351, 538; Müller (wie not. 25) t. 1, num. 99; t. 3, num. 1380, 1381; Wys, G.: Stimme des Blutes. In: Schweizer Vk. 7 (1917) 12. ⫺ 38 Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. ed. K. M. Schiller. Meersburg/Lpz. 1930, num. 188; Müller (wie not. 25) t. 2, num. 754. ⫺ 39 Birlinger/ Buck (wie not. 14) num. 593; Bechstein (wie not. 38) num. 797; Schöppner, A.: Sagenbuch der Bayer. Lande 1. Mü. 1852, num. 286; Baader, B.: Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden 1. (Karlsruhe 1851) Nachdr. Hildesheim/ N. Y. 21978, num. 405; Sklarek, E.: Ung. Volksmärchen. Lpz. 1901, num. 10; Schönwerth (wie not. 19) t. 1, 369 sq. ⫺ 40 Heissig, W.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 2. Wiesbaden 1988, 486. ⫺ 41 Kreutzwald, F. R.: Ehstn. Märchen. Halle 1869, 358. ⫺ 42 Büsching, J. G.: Volkssagen, Märchen und Legenden 7. Lpz. 1812, num. 72; Woycicki, K. W.: Volkssagen und Märchen aus Polen. ed. K. Rotter. Breslau 1920, 36⫺41. ⫺ 43 Schönwerth (wie not. 19) t. 2, 403⫺407. ⫺ 44 Gonzenbach, num. 57. ⫺ 45 No-
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wak, num. 261; Marzolph *875D1. ⫺ 46 Schmidt 2, num. 2270; Bascom, W.: African Folktales in America. 1: The Talking Skull Refuses to Talk. In: Research in African Literatures 8 (1977) 266⫺291; Flahault (wie not. 7) 111⫺119. ⫺ 47 Koch-Grünberg, T.: Indianermärchen aus Südamerika. MdW 1920, num. 68; Krickeberg, W.: Indianermärchen aus Nordamerika. MdW 1924, num. 20 b, 42; Karlinger/de Freitas (wie not. 32) num. 36.
Göttingen
Juliane Krause
Totenmesse J Geistermesse
Totenprozession. Bes. im Alpenraum sind bis in heutige Zeit Vorstellungen über einen Umzug (Gratzug, Senegouga, Saboat [J Sabbat] etc.) der J Toten bzw. der büßenden J Seelen der Verstorbenen weitverbreitet. Die Toten befinden sich im Vollzug der Reinigung und kehren temporär vom Jenseits (J Fegefeuer) ins Diesseits zurück. Der T. begegnen Lebende zu bestimmten Zeiten (J Mitternacht, J Nacht) und an gewissen Orten (J Friedhof, J Kirche) mit unterschiedlichen Folgen1. Ursprünglich wurde zwischen der T. als der Wanderung der büßenden armen Seelen, die auf J Erlösung hoffen, und dem Gratzug der bösen Geister, denen nicht mehr zu helfen ist, unterschieden. In jüngerer Zeit werden beide Begriffe synonym gebraucht2. Erzählungen über T.en sind seit dem MA. bekannt (J Christl. Erzählstoffe, Kap. 9); eine Verknüpfung mit Sagen von Meßfeiern der Toten (J Geistermesse) liegt nahe. Schwierig erscheint die Abgrenzung zur J Wilden Jagd3: Während bei den Sagenkomplexen einerseits dieselben Vorstellungen zugrunde zu liegen scheinen4, wird andererseits bei der T. eine Verbindung mit den dämonischen Toten ausgeschlossen5. In einigen dt. Sagen außerhalb des Alpengebiets wird in einem Leichenzug der Körper eines Toten von geisterhaften Begleitern geführt6. Der Aspekt der J Buße und der Erlösungsbedürftigkeit entfällt. Die T. folgt dem Vorbild kirchlicher Umzüge. Die Teilnehmer ziehen in geordneter Reihe mit Kreuz, Fackeln, Rauchfaß, Fahnen und Musik7. Sie werden als verstorbene Personen ⫺ Geistliche, Mönche, Kinder, Erwachsene, Männer und Frauen ⫺ identifiziert8. Weiße
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Totenprozession
Kleidung weist darauf hin, daß sie die Erlösung erreicht haben9. Schwarzgekleidete Gestalten müssen noch ihre J Schuld abbüßen10. Andere arme Seelen zeigen ihre Unerlöstheit durch ihr trauriges Aussehen an11. Die Lebenden nehmen die T. auf unterschiedliche Weise wahr. Jemand sieht zufällig den Zug12. Oft besitzen Kinder, bes. Fronfastenkinder, eine bes. Sehergabe (J Geistersichtig)13. Wer die T. erblickt, weiß, daß jemand aus dem Dorf, aus Verwandtschaft oder Bekanntschaft stirbt14. Die Vorankündigung trifft ebenso den Totensichtigen15. Gelegentlich werden der Ort und der Vorgang der Beobachtung beschrieben, wie in der weitverbreiteten mitteleurop. Sage vom Mann (Mesner, Pfarrer), der als J Wiedergänger aus dem Fenster hinausschaut, die T. wahrnimmt und am Schluß einen Lebenden (als seinen Vertreter) bestimmt, der noch einige Zeit nach dem Sterbefall die Funktion des pater familias innehat16. Andere Sagen erzählen von einem Zuschauer, der an der Spitze oder am Ende des Zuges einen Mann mit ungleichfarbigen Strümpfen oder einen, der nur ein Bein in der Hose hat, wahrnimmt. Der Beobachter erkennt sich spiegelbildlich beim eigenen Ankleidevorgang und stirbt bald darauf17. Die T. ist oft J unsichtbar und macht durch Geräusche auf sich aufmerksam, etwa Lärm wie von Pferden und Wagen18. Zumeist zieht das Nachtvolk mit Musik singend, spielend, trommelnd, lachend, weinend und laut den Rosenkranz oder das Ave Maria betend vorbei19. Es empfiehlt sich nicht, sich an das Fenster locken zu lassen. Diese J Neugier bringt den Tod, oft auch schon das bloße Hören20. Ebenso verweist ein kalter und warmer Windhauch von weitem auf den Gratzug21. Eine unmittelbare Begegnung mit der T. kann bei falschem Verhalten zu einer J Schädigung unterschiedlichen Ausmaßes führen: So muß jemand, der in den Gratzug gerät, bis zum Morgenläuten mitwandern22; andere werden von nahen Verwandten aus dem Zug gerissen und gerettet23. Allg. versetzen die wandernden Toten die Lebenden in Angst24, schlagen den Beobachter25 von unsichtbarer Hand und fügen ihm (auch körperliche) Schäden (Blindheit, Lahmheit26), Krankheit27 oder zeitweilige Körperstarre28 zu. Unnachsichtig fordern sie das Wegerecht, die Lebenden müssen
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ihnen ausweichen oder sich hinlegen29. Wer ihnen im Weg steht, muß sterben30. Die T. strebt stets einem bestimmten Ziel zu. Der Friedhof oder die Kirche werden angegangen oder umzogen31, meistens auf demselben Weg32. Die T. bewegt sich durch das Dorf, am Haus vorbei oder sogar durch das Haus hindurch33. Außerhalb des Siedlungsbereichs folgt sie den Kirch- und Prozessionswegen34. Der Gratzug bewegt sich über den Gletscher, kommt über den Grat herunter, steigt aus Gräben und Schluchten hervor35. Die Toten bevorzugen für ihre Wanderung bestimmte Termine wie den Barbaratag, die Thomasnacht oder die Quatembernächte36. Ebenso sind sie an Allerseelen und Allerheiligen, am Hilaritag und in den Rauhnächten unterwegs37. Die bevorzugte Tageszeit ist die Mitternacht38. Selten wird die T. am Tag wahrgenommen39. Heutige rationalisierende Erklärungen (J Rationalisierung) führen Wahrnehmungen, die früher mit T.en in Verbindung gebracht worden sind, auf Erdstrahlen, Radio- und Fernsehwellen, magnetische Wellen, auf Wind, Traum und Einbildung zurück40. 1 BP 3, 472 (not. 1); Ranke, K.: Allerheiligen und Allerseelen in der Sagenüberlieferung [1958]. In: id.: Die Welt der Einfachen Formen. B./N. Y. 1978, 163⫺186, hier 180; Zenklusen, E.: Von Gratzügen und T.en. In: Walliser Jb. 18 (1949) 50⫺57, hier 51; Geiger, P.: Der Totenzug. In: SAVk. 47 (1951) 71⫺ 76, hier 71 (Verbreitungskarte); Guntern, J.: Volkserzählungen aus dem Oberwallis. Basel 1979, num. 504; Atlas der Schweizer. Vk. Kommentar Teil 2,2. Basel 1979, num. 753⫺767; Lincke, W.: Nachtvolk. In: HDA 6 (1934⫺35) 805⫺809, hier 806; Büchli, A.: Wilde Jagd und Nachtvolk. In: Schweizer. Vk. 37 (1947) 65⫺69, hier 66; Beitl, K.: Die Sagen vom Nachtvolk. In: Laographia 22 (1965) 14⫺21. ⫺ 2 Gattlen, A.: Die Totensagen des alemann. Wallis. (Diss. Freiburg [Schweiz]) Naters-Brig 1948, 61; Guntern (wie not. 1) num. 505. ⫺ 3 Karlinger, F./ Übleis, I.: Südfrz. Sagen. B. 1974, num. 37. ⫺ 4 HDA 6, 805; Büchli (wie not. 1) 66. ⫺ 5 Ranke (wie not. 1). ⫺ 6 Schell, O.: Berg. Sagen. Elberfeld 21922, num. 91, 147, 879, 1178; Hundhausen, E.: Das Amt Windeck im Spiegel der Sage. Waldbröl 1972, 108; Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Köln/Bonn, num. 668; Wolfersdorf, P.: Westfäl. Sagen. Kassel 1987, num. 67. ⫺ 7 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, num. 289; Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, num. 102; Heyl, J. A.: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol. Brixen 1897,
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Totenvogel
num. 33. ⫺ 8 Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, num. 319; Assion, P.: Weiße, Schwarze, Feurige. Karlsruhe 1972, num. 12 (fränk.); Müller, J.: Sagen aus Uri 1⫺2. ed. H. Bächtold-Stäubli. Basel 1926/ 29, hier t. 1, num. 84. ⫺ 9 Jegerlehner (wie not. 7); Zaunert, P.: Hess.-nassau. Sagen. Jena 1928, 331; Graber, G.: Sagen und Märchen aus Kärnten. Graz 1944, 37 sq.; Gerstner-Hirzel, E.: Aus der Volksüberlieferung von Bosco Gurin. Basel 1979, num. 173; Guntern (wie not. 1) num. 1248. ⫺ 10 Senti, A.: Sagen aus dem Sarganserland [1]⫺2. Basel 1974/98, hier t. 2, 45 sq. ⫺ 11 Assion (wie not. 8) num. 15. ⫺ 12 Peuckert, W.-E.: Dt. Sagen 1⫺2. B. 1961/62, hier t. 2, num. 88; Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 1⫺4. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 21989/389/90/ 92, hier t. 1, 70; Fischer (wie not. 6) num. 668. ⫺ 13 Senti (wie not. 10) t. 1, 437, num. 23; Büchli (wie not. 12) t. 3, 847 sq. ⫺ 14 Schell (wie not. 6) num. 227; Peuckert (wie not. 12); Fischer (wie not. 6). ⫺ 15 Zaunert (wie not. 9); Graber (wie not. 9); Büchli (wie not. 12) t. 1, 87. ⫺ 16 Ranke, K.: Die Sage vom Toten, der seinem eigenen Begräbnis zuschaut [1954]. In: id. (wie not. 1) 135⫺162. ⫺ 17 Peuckert, W.-E.: Westalpensagen. B. 1965, num. 343; Müller (wie not. 8) t. 1, num. 84; t. 2, num. 631; Büchli (wie not. 12) t. 3, 378. ⫺ 18 Bartsch (wie not. 7); Joisten, C.: Eˆtres fantastiques du Dauphine´. ed. N. Abry/A. Joisten. Grenoble 2006, 27, 103. ⫺ 19 ibid., 113 sq.; Zaunert (wie not. 9); Senti (wie not. 10) t. 1, 109, num. 138; Büchli (wie not. 12) t. 3, 916; Guntern (wie not. 1) num. 1244, 1248. ⫺ 20 Senti (wie not. 10) t. 1, 109, num. 137; t. 2, 388, num. 35; 417, num. 87. ⫺ 21 Guntern (wie not. 1) num. 1248, 1267, 1287. ⫺ 22 Büchli (wie not. 12) t. 1, 67; Guntern (wie not. 1) num. 1459, 1484. ⫺ 23 ibid., num. 1483; cf. Joisten (wie not. 18) 345. ⫺ 24 ibid., 459; Guntern (wie not. 1) num. 1341, 1343, 1353. ⫺ 25 Heyl (wie not. 7). ⫺ 26 Guntern (wie not. 1) num. 1376, 1435, 1437, 1439. ⫺ 27 Schell (wie not. 6) num. 1178; Guntern (wie not. 1) num. 1243, 1246⫺1248, 1253, 1256, 1282, 1287, 1293, 1294, 1352, 1377, 1435, 1437, 1441, 1489. ⫺ 28 Senti (wie not. 10) t. 1, 439, num. 10. ⫺ 29 Schell, O.: Neue berg. Sagen. Elberfeld 1905, 97; id. (wie not. 6) num. 879, 1178; Peuckert (wie not. 12) t. 1, num. 128; Guntern (wie not. 1) num. 1248, 1373⫺1375, 1379, 1383; Wolfersdorf (wie not. 6). ⫺ 30 Guntern (wie not. 1) num. 1267. ⫺ 31 Wolf (wie not. 8); Schell (wie not. 6) num. 1152; Büchli (wie not. 12) t. 3, 725, 858, 950, 963, 958; Senti (wie not. 10) t. 1, 109, num. 139; 296, num. 205; Böck, E.: Sagen aus Niederbayern. Regensburg 1977, num. 337; Bartsch (wie not. 7); Graber (wie not. 9) 37; Karlinger/Übleis (wie not. 3) num. 37; Guntern (wie not. 1) num. 1248, 1250. ⫺ 32 ibid., num. 1264, 1266; Joisten (wie not. 18) 27. ⫺ 33 Guntern (wie not. 1) num. 1262, 1308, 1342, 1355; Senti (wie not. 10) t. 1, 108, num. 136; 109, num. 138. ⫺ 34 ibid., 238, num. 165; Guntern (wie not. 1) num. 1262, 1263. ⫺ 35 ibid., num. 1259, 1288, 1348, 1350,
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1351. ⫺ 36 ibid., num. 1247, 1356, 1377, 1478; Heyl (wie not. 7) num. 33; Fischer, H.: Sagen des Westerwaldes. Montabaur 1983, num. 408. ⫺ 37 Jegerlehner (wie not. 7); Graber (wie not. 9) num. 246; Peuckert, W.-E.: Ostalpensagen. B. 1963, num. 102; Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1966, num. 752; Guntern (wie not. 1) num. 1356, 1427, 1429, 1477. ⫺ 38 Bartsch (wie not. 7); Zaunert (wie not. 9); Graber (wie not. 9); Senti (wie not. 10) t. 1, 439, num. 10; Büchli (wie not. 12) t. 3, 916. ⫺ 39 Guntern (wie not. 1) num. 1284. ⫺ 40 ibid., num. 1342.
Hennef
Helmut Fischer
Totenvogel (AaTh/ATU 720), dreigliedriges Zaubermärchen über die Ermordung (J Mord) eines J Kindes durch seine J Mutter bzw. J Stiefmutter und die daraus entstehenden Folgen. Der Mittelteil der Erzählung wird von positiven Gefühlen wie Liebe, Verbundenheit, Hilfsbereitschaft und Treue zwischen den (Stief-)Geschwistern getragen. Abschließend erfolgen die wunderbare Enthüllung der Wahrheit durch das Lied eines J Vogels (cf. AaTh/ ATU 780: J Singender Knochen) und die Bestrafung der Mörderin. Die Grundform von AaTh/ATU 720 verläuft wie folgt: Eine böse Stiefmutter (Mutter) tötet aus Haß (während einer Hungersnot, wegen eines geringen Versehens des Kindes oder zur Vertuschung ihrer eigenen Gefräßigkeit) ihren kleinen Stiefsohn (Sohn). Oft schickt sie ihn zusammen mit seiner J Schwester (Stiefschwester) zum Holzsammeln in den Wald; unter dem Vorwand, den als Belohnung versprochenen Apfel (Stück Brot) aus einer Truhe zu holen, köpft sie den Knaben mit dem Deckel der Truhe. Der ermordete Junge wird zerstückelt, gekocht und der Familie als Speise vorgesetzt (dem im Wald [auf dem Feld] arbeitenden Vater von der Schwester als Mittagessen gebracht). Während der Vater unwissentlich von dem Fleisch ißt, erkennt die Schwester den Frevel und meidet das Mahl. Sie sammelt die J Knochen des Bruders in ein Tuch und bestattet sie unter einem Baum (Wacholderbusch; Dachtraufe, Hühnertrog). Aus dem J Grab (Baum) steigt ein Vogel (Nachtigall, Kuckuck) auf. Er fliegt zu (drei) verschiedenen Handwerkern (Goldschmied, Schuster, Schneider, Müller; auch Kaufmann), denen er das Geschehen nacheinander in einem Heischelied enthüllt. Für den Vater und die Schwester erhält er Geschenke (goldene Uhr, Hut, Schuhe, Kleid), die er ihnen später zuwirft. Für die Stiefmutter beschafft er sich einen Mühlstein, der sie erschlägt. Manchmal wirft die geängstigte Frau mit einem Stein nach dem Vogel;
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Totenvogel
der Stein fällt auf sie selbst zurück und tötet sie (cf. J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung). Danach fliegt der Vogel fort. Selten erhält er seine menschliche Gestalt wieder und wird mit seiner Familie (ohne Stiefmutter) glücklich wiedervereint.
M. Belgrader hat in seiner Monogr. über 400 Var.n nachgewiesen1. Die Aufzeichnungen aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s belegen ein weites Verbreitungsgebiet, das sich von Europa über den vorderasiat. Raum und die Mongolei bis nach China und Indonesien erstreckt. Außerdem liegen Var.n aus Nord- und Südafrika, den USA, Australien, Mexiko und von den Westind. Inseln vor. Der Erzähltyp ist vor allem in der Romania (einschließlich der frankokanad. Überlieferung) belegt; in Frankreich und auch in den Niederlanden zählt er zu den am häufigsten dokumentierten Märchen. Die J Verse, die der Vogel singt, zeigen in ganz Westeuropa große Übereinstimmung und wirken als stabilisierender Faktor der mündl. Überlieferung. Gelegentlich ist das Schicksalslied mit Melodien aufgezeichnet worden2. In groben Zügen begegnet AaTh/ATU 720 in Deutschland bereits in einem mit dem hl. J Johannes von Nepomuk verbundenen Lied (ca 1750)3, das von einer Kindsmörderin handelt, welche die Entdeckung ihrer Missetat befürchtet. In J Goethes und in J Brentanos Briefen und Erinnerungen wie auch in J Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart (1815) finden sich bruchstückhaft Anspielungen auf das Märchen vom Machandelboom (KHM 47), was auf eine gewisse Vertrautheit mit dem Erzählstoff im ausgehenden 18./frühen 19. Jh. schließen läßt4. Goethe verwandte das Lied zuerst in der Schlußszene des Urfaust (J Faust) für Gretchens Gesang im Kerker. Die erste Textfassung des Märchens von Philipp Otto J Runge in pommerscher Mundart (1806) wurde von Achim von J Arnim veröffentlicht; ein früher Abdruck findet sich auch in J. G. G. J Büschings Volks-Sagen, Märchen und Legenden (Lpz. 1812). Der von den Brüdern J Grimm als KHM 47 (1812) publizierte Text ist allerdings eine Fassung, bei der der Verleger G. Reimer eigenmächtig sprachlich eingegriffen hat. Entscheidend für die Wirkungsgeschichte war die Aufnahme des Märchens in die Kleine Ausg. der KHM (num. 23) von 1825. L. J Bechsteins Fassung (1853) ist eine wörtliche Übertragung des ndd. Texts aus der KHMAusg. von 1840 ins Hochdeutsche.
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Wenngleich einige poetisch ausschmückende Szenen (etwa die einfühlsame Beschreibung der Schwangerschaft der Mutter bezogen auf den Wandel der Jahreszeiten) die schaffende Hand des Dichters verraten, entsprach die Rungesche Fassung nach Ansicht der Brüder Grimm dem Idealtyp eines Märchens5. Die literar. Prägung erklärt möglicherweise, weshalb sich etwa in Schweden keine eigenständige mündl. Überlieferung entwickelt hat: dort begegnet das Märchen nur in einem Billigdruck (nach Grimm) mit einem halben Dutzend Aufl.n zwischen 1824 und 18516. Die sehr reichhaltige frz. Überlieferung dagegen scheint nicht von Runge beeinflußt zu sein7. Frühe Bildbelege datieren aus der Mitte des 19. Jh.s: In Anlehnung an KHM 47 schuf Moritz von Schwind einen der bedeutendsten Münchner Bilderbogen (1855/56, num. 179)8. Einzelzüge des Märchens sind z. T. sehr alt. Der griech. mythol. Held Thyestes verspeiste unwissentlich die eigenen Söhne, die ihm aus Rache für ein von ihm begangenes Vergehen von seinem Bruder Atreus vorgesetzt wurde9; J Tantalus bereitete den Göttern seinen Sohn J Pelops als Mahl zu, um ihre Allwissenheit zu prüfen. Auch in der altnord. AtlaqviÎa (J Edda) ist die kannibalische Tat bezeugt. Das Sammeln der Knochen kommt in den Mythen von Osiris und J Orpheus vor10, die wunderbare J Wiederbelebung in der Pelops-Sage. W. Burkert führt die J Verwandlung des von der Mutter geschlachteten und gekochten Kindes in einen Vogel auf den antiken Mythos von Tereus und Prokne (J Ae¨don) zurück, der über J Vergils Bucolica (6. Ekloge) im Abendland vor allem auf indirektem Wege bis 1800 in den Lateinschulen weitergegeben wurde11. Das Lied des Vogels verweist nach Burkert auf jahreszeitliche Heische- und Maskenumzüge, bei denen gelegentlich (wie schon in altgriech. Texten bezeugt) Vögel (Schwalben) herumgetragen wurden. Mit seiner These setzt sich Burkert deutlich von den spekulativen Altersbestimmungen einiger Erzählforscher (u. a. K. J Ranke, F. von der J Leyen)12 und Kulturhistoriker (A. Nitschke)13 ab, welche die Entstehungszeit der Erzählung in die germ. Völkerwanderungszeit bzw. sogar ins Jungpaläolithikum verlegt hatten. Archaisch erscheinen Motive wie das Aufsammeln der Knochen, ihre Aufbewahrung an einem bestimmten
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Baum (cf. den im Volksglauben als J Lebensbaum gedeuteten und mit magischen Kräften versehenen Wacholderbaum) und die Wiederbelebung aus den Knochen als Sitz der unsterblich gedachten Seelensubstanz; auch der Glaubenskomplex des Seelenvogels (J Seele) spielt möglicherweise eine Rolle. KHM 47 ist eines der Märchen, das die Vorstellung von der J Bosheit der Stiefmutter nachhaltig geprägt hat14. Var.n aus mündl. Überlieferung weisen gelegentlich Besonderheiten auf. In jüngeren Aufzeichnungen hat sich auffallend häufig das wohl ursprünglichere Motiv der grausamen Mutter, die ihr Kind schlachtet, erhalten15. Vor allem in der rom., gelegentlich auch in der slav. Überlieferung begegnet der religiöse Zug, daß die Schwester die Knochen nicht aus eigener Initiative sammelt, sondern auf Geheiß der Jungfrau Maria (einer anderen heiligmäßigen Person), die ihr auf dem Weg zu ihrem Vater begegnet ist16. Sowohl in der osteurop.17 als auch in der türk.18 Überlieferung endet AaTh/ATU 720 als ätiologische Sage zum Ursprung des J Kuckucks; das Schicksalslied evoziert auch musikalisch den Kuckucksruf19. Zahlreiche Var.n sind regelrechte Horrormärchen voll grausiger Details: Das Zuschlagen des Truhendeckels wird oft lautmalerisch nachvollzogen; es wird im einzelnen beschrieben, wie die Mutter den Knaben köpft, schlachtet und zubereitet, wie der Vater das Fleisch genüßlich verspeist oder wie Schwester oder Vater Gliedmaßen (Finger, Fuß) des ermordeten Kindes im Kochtopf erkennen20. In oriental. Var.n werden die Eltern am Schluß gemeinsam bestraft: Der Vogel legt ihnen Nägel (Nadeln, Gift) in den Mund, während er die Schwester mit Süßigkeiten belohnt21. KHM 47 ist in verschiedener Weise ⫺ meist spekulativ ⫺ gedeutet worden22. N. Belmont betrachtet das Märchen als Initiationserzählung für Acht- bis Zwölfjährige23. Für W. J Scherf ist es ein echtes Kindermärchen, da es zwar einen Ablösungs- und ersten Selbstfindungskonflikt ausspielt, aber nicht mit der zweiten Ablösung und Partnerfindung, sondern mit der Rückkehr ins Elternhaus endet24. 1
Belgrader, M.: Das Märchen von dem Machandelboom. Ffm./Bern/Cirencester 1980; Rez. H.-J. Uther in Fabula 23 (1982) 306⫺308. ⫺ 2 Scherf 2, 1156;
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z. B. Parsons, E. C.: Folk-Lore of the Sea Islands, South Carolina. Cambr., Mass./N. Y. 1923, num. 133; Bruford, A./MacDonald, D. A.: Scottish Traditional Tales. Edinburgh 1994, num. 5; Chambers, R.: Popular Rhymes of Scotland. L./Edinburgh 1870, 49⫺51; Henßen, G.: Ungardt. Volksüberlieferungen. Marburg 1959, num.87. ⫺ 3 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 260⫺262; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B. u. a. 2008, 110⫺114. ⫺ 4 BP 1, 412⫺423; Wesselski, A.: Goethe und der Volksmund. In: HessBllfVk. 36 (1937) 32⫺83, hier 47⫺ 52. ⫺ 5 cf. Steig, R. (ed.): Clemens Brentano und die Brüder Grimm. Stuttgart/B. 1914, 279. ⫺ 6 cf. Liungman, Volksmärchen, 208. ⫺ 7 Delarue/Tene`ze (64 Var.n). ⫺ 8 cf. Eichler, U.: Münchener Bilderbogen. Mü. 1974, 96 sq., num. 179, 231. ⫺ 9 Kl. Pauly 5 (1979) 805; Holzapfel, O.: Lex. der abendländ. Mythologie. Fbg 1993, 414. ⫺ 10 BP 1, 422. ⫺ 11 Burkert, W.: Vom Nachtigallenmythos zum Machandelboom. In: Siegmund, W. (ed.): Antiker Mythos in unseren Märchen. Kassel 1984, 113⫺125, 106 sq. ⫺ 12 Ranke 3, 76 sq. ⫺ 13 Nitschke, A.: Soziale Ordnungen im Spiegel der Märchen 1. Stg.-Bad Cannstatt 1976, 38 sq. ⫺ 14 Tatar, M.: Von Blaubärten und Rotkäppchen. Grimms grimmige Märchen. Salzburg/Wien 1990, 193⫺216. ⫺ 15 Tene`ze, M.-L./ Delarue, G.: Nannette Le´vesque, conteuse et chanteuse du pays des sources de la Loire. P. 2000, 112⫺ 117; Oberfeld, C.: Volksmärchen aus Hessen 1. Marburg 1962, num. 46; Rey-Henningsen, M.: The Tales of the Ploughwoman (FFC 259). Hels. 1996, num. 14; Vildomec, V.: Poln. Sagen. B. 1979, num. 125; Saucier, C. L.: Folk Tales from French Louisiana. N. Y. 1962, num. 16; Thomas, G.: Les deux Traditions. Montreal 1983, 219 sq.; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 1. Grenoble 1971, num. 59.1. ⫺ 16 Uffer, L./Wildhaber, R.: Schweizer Volksmärchen. MdW 1971, num. 62; Künzig, J./Werner, W.: Ungarndt. Märchenerzähler. Fbg 1971, 31⫺35; Polain, E.: Il e´tait une fois ... Contes populaires, entendus en franc¸ais a` Lie`ge. P. 1942, num. 6; Se´billot, P.: Contes populaires de la Haute-Bretagne. P. 1881, num. 60; Soupault, R.: Frz. Märchen 2. MdW 1989, num. 16; Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, num. 132; JAFL 39 (1926) 422⫺ 425 (frankokanad.); Arnaudin, F.: Contes populaires de la Grande-Lande 1. ed. A. Dupin/J. Boisgontier. Bordeaux 1966, num. 62. ⫺ 17 Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 135; Baer, A.: Der gläserne Berg. Estn. Märchen. B 21970, 49⫺53; Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 99. ⫺ 18 Eberhard/Boratav, num. 241 (III). ⫺ 19 cf. Belgrader (wie not. 1) 189⫺191, 247, 254, 256⫺261, 324. ⫺ 20 Praesent, W.: Bergwinkel-Geschichten. Schlüchtern 1954, 71 sq.; Jb. Für ostdt. Vk. 18 (1975) 138 sq. (dt. aus der Ukraine); Jegerlehner (wie not. 16); Chambers (wie not. 2); Aitken, H./MichaelisJena, R.: Schott. Volksmärchen. MdW 1965, num. 44; DBF A 1, 414, 378 sq., 476; Bergsträsser, G.: Neuaram. Märchen. Lpz. 1915, num. 31; Lorimer,
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Toter als Gast ⫺ Tötungsversuche
D. L. R. und E. O.: Persian Tales. L. 1919, num. 14; Reichl, K.: Märchen aus Sinkiang. MdW 1986, num. 39 (kirgis.). ⫺ 21 Dirr, A.: Kaukas. Märchen. MdW 1920, num. 16 (ud.); El-Shamy, H. M.: Tales Arab Women Tell. Bloom./Indianapolis 1999, num. 37; Schmidt, H./ Kahle, W.: Volkserzählungen aus Palästina. Göttingen 1918, 187⫺191; Marzolph 720 (III a⫺c). ⫺ 22 cf. Meyer, R.: Die Weisheit der dt. Volksmärchen. Stg. 6 1969, 69⫺81; Clarus, I.: Vom Baum des Lebens und dem Kessel der Verwandlung. Das Märchen von dem Machandelboom (Grimm Nr. 47). In: Analytische Psychologie 14 (1983) 245 sq. ⫺ 23 Belmont, N.: Conte et enfance. In: Calame-Griaule, G. (ed.): Le Temps de l’enfance. P. 1993, 73⫺97. ⫺ 24 Scherf 2, 1320.
Mariakerke
Harlinda Lox
Toter als Gast J Don Juan, J Freunde in Leben und Tod
Tote(r) Geliebte(r) kehrt zurück J Lenore, J Wiedergänger
Tottanzen J Strafe
Tötung der Greise J Altentötung Tötungsversuche. Versuchter J Mord und versuchte Tötung sind ihrer Intention nach den vollendeten Straftaten gegen das Leben äquivalent; entsprechend bleibt in der Gesetzgebung auch der Versuch des Verbrechens strafbar, doch kann die Bestrafung gemildert werden1. Im Märchen, zu dessen Hauptgegenständen die J Verfolgung und J Schädigung Unschuldiger und mithin auch Mordanschläge zählen, bemessen sich die J Strafen tendenziell an der Absicht, nicht am Erfolg der Tat; wie der Mord werden T. daher überwiegend mit dem J Tod geahndet, oft auf bes. grausame Weise (J Grausamkeit)2. Gewöhnlich bleibt es im Märchen wegen des vorprogrammierten glücklichen Endes beim Versuch der Tötung der Protagonisten; im Extremfall allerdings können diese aber auch umgebracht und später wiederbelebt werden (J Wiederbelebung). Zu den häufigsten Motivationen für Mordanschläge gehören J Haß, J
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Neid, J Eifersucht, Mißgunst, Standesdünkel, J Rache und verletzte Ehre. Dabei ist zwischen direkten und indirekten T.n zu unterscheiden. (1) Direkte Anschläge gelten vor allem vier Personengruppen: jungen Frauen und Mädchen (J Frau, Kap. 3. 1.2), J Kindern, dem jüngsten J Bruder, künftigen Schwiegersöhnen. In AaTh/ATU 709: J Schneewittchen gilt dem Opfer eine Kette von T.n: Den meist drei Mordanschlägen im 2. Teil des Märchens geht zu Beginn gewöhnlich ein nicht befolgter Tötungsbefehl (cf. z. B. J Tierherz als Ersatz) oder ein indirekter Tötungsversuch voraus, wobei der letzte, anscheinend gelungene Anschlag (cf. J Scheintod) je nach Ausgestaltung der Fassung oder nach Verständnis der Rezipienten auch als Mord interpretiert werden kann. T. werden oft im allerletzten Augenblick vereitelt (J Rettung), so in J Basiles und J Perraults Fassungen von AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit. In Märchen von unschuldig verfolgten Frauen sind die Gegner überwiegend weiblich (Stiefmütter, Mütter, Schwiegermütter, Schwestern), doch sprechen auch Väter, meist im Zorn, Tötungsbefehle aus, die ⫺ ähnlich wie in AaTh/ATU 709 ⫺ ein Dritter ausführen soll (AaTh/ATU 883 A: Das unschuldig verleumdete J Mädchen; AaTh/ ATU 923: J Lieb wie das Salz). Junge Frauen können in dramatische Situationen geraten, wenn sie mit einem Massenmörder verheiratet werden (AaTh/ATU 311, 312: J Mädchenmörder; AaTh/ATU 955: J Räuberbräutigam); aber selbst Lebenspartner, die nicht der Welt des Verbrechens angehören, können mörderische Absichten hegen. Der Protagonist von AaTh/ATU 930 A: Die vorbestimmte J Frau versucht, eine ihm nicht genehme künftige Gattin mit Hilfe eines Mordes aus dem Weg zu räumen; der Ehemann (Bruder) in Var.n von AaTh/ATU 882, 892: J Cymbeline ist so sehr von seiner verleumdeten Frau (Schwester) enttäuscht, daß er sie ohne Prüfung des angeblich Vorgefallenen zu töten befiehlt, sogar ihr Blut trinken will3. Selbst das gewöhnlich als heiter bezeichnete Novellenmärchen AaTh/ATU 879: J Basilikummädchen endet oft mit einer düsteren Note: Aus Rache für die ihm gespielten Streiche und erbost über ihren Mangel an Reue will der frischgebackene Ehemann seine Frau erste-
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chen; nur durch ihre vorausschauende List, ihm eine Zuckerpuppe unterzuschieben, kann sie sich retten. Als Ausdruck eines patriarchalischen Weltbilds haben solche T. für die Ehemänner (ebenso wie für die Väter) im Märchen keinerlei Konsequenzen; weibliche Aggressoren dagegen werden meist streng bestraft. Neugeborene können T.n ausgesetzt sein, um den Eintritt von Prophezeiungen zu verhindern, u. a. in AaTh/ATU 930 A. Gegen einen schon älteren Knaben erteilt in AaTh/ ATU 920: J Sohn des Königs und S. des Schmieds die eigene Mutter einen Tötungsbefehl, um sich für eine Beschimpfung zu rächen. Kinder sind jedoch keineswegs immer wehrlose Opfer: So vereitelt in AaTh/ATU 327 B: J Däumling und Menschenfresser der gewitzte J Jüngste die Tötung der Geschwistergruppe mit Hilfe von J Bettplatztausch oder Vertauschung der J Kopfbedeckungen. Mit denselben Tricks wie der Däumling im Märchen entrinnen schlaue Protagonisten auch im Schwank den T.n übernatürlicher Gegner (AaTh/ATU 1115: J Mordversuch mit dem Beil; AaTh/ATU 1119⫺1121: J Teufel tötet Frau und Kinder). Die für viele Märchen bezeichnende Rivalität zwischen Brüdern findet ihre schärfste Zuspitzung im versuchten Mord. In AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter und AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens stürzen die beiden Älteren den Jüngsten in einen Brunnen (Steinbruch, Fluß, Löwengrube); ähnlich lassen in AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen die Brüder oder Gefährten den Helden in der Unterwelt zurück, nachdem die Prinzessinnen gerettet worden sind. Schwiegerväter (J Schwiegereltern) versuchen auf vielerlei Weise, unerwünschte Bewerber um die Hand ihrer Töchter loszuwerden. Zu den verbreitetsten Märchen gehört die Geschichte vom reichen Kaufmann (König), der ein armes Kind, das einer Prophezeiung gemäß sein Schwiegersohn werden soll, beseitigen will; dem vergeblichen Versuch, das Neugeborene zu vernichten, folgt in einem späteren Stadium die Ausstattung mit einem Brief, der das Todesurteil für den Überbringer enthält (AaTh/ATU 930: J Uriasbrief ). Seltener wollen im Märchen Väter ihre Söhne umbringen, etwa aus Zorn über ungebührliches Verhalten (AaTh/ATU 671: cf. J Tiersprachenkundiger Mensch) oder um Erbteilung
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zu vermeiden (KHM 9, AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder). (2) Indirekte T. richten sich hauptsächlich gegen junge männliche Helden und gegen Kinder. Väter stellen unerwünschten Bewerbern um ihre Töchter unlösbar erscheinende J Aufgaben (J Freier, Freierproben), in der Hoffnung, daß sie dabei den Tod finden (z. B. AaTh/ATU 461: Drei J Haare vom Bart des Teufels; AaTh/ ATU 1640: J Tapferes Schneiderlein). Aber auch tückische Höflinge (AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue; AaTh/ ATU 328: J Corvetto), ein in die Ehefrau des Protagonisten verliebter Herrscher (AaTh/ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt), eine infame Mutter oder Schwester (AaTh/ATU 590: Die treulose J Mutter; AaTh/ ATU 315: Die treulose J Schwester) schicken den Helden auf Abenteuer aus, die ihm den Tod bringen sollen. J Aussetzung stellt innerhalb derselben Erzähltypen häufig die Alternative zu direkten T.n an Neugeborenen dar. Auf tödliche Folgen spekuliert auch eine Frau, wenn sie ihre Stieftochter mitten im Winter in einem Kleid aus Papier in den verschneiten Wald schickt (KHM 13, AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen ⫹ AaTh 403 B/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut). In anderen Fällen wollen sich der Vater bzw. die Eltern aus Not ihrer Kinder entledigen und lassen sie im Wald allein (AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel)4. Darüber hinaus wird Aussetzung auch an Erwachsenen praktiziert, z. B. an schwangeren Frauen (AaTh/ATU 675: Der faule J Junge) oder Wöchnerinnen5. Ähnliche Bedrohungs- und Errettungsmuster wie das Märchen weisen Lebensbeschreibungen der Herrscher und Religionsstifter in Mythen, Epen, religiösen Schriften und anderen literar. Zeugnissen auf. J David entrinnt Sauls erstem Mordanschlag durch Geistesgegenwart, dem zweiten durch Rat seiner klugen Frau (1. Sam. 19,9⫺17); das Jesuskind entgeht dem bethlehemit. Kindermord (Mt. 2,13⫺18) durch die Flucht nach Ägypten, um die sich ihrerseits zahlreiche Rettungslegenden ranken (J Kindheitslegenden Jesu; ATU 750 E: Flight to Egypt [1], [2], [6])6, darunter die auch mit David, J Salomo und J Mohammed verbun-
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dene Erzählung vom J Spinngewebe vor der Höhle (AaTh/ATU 967). Als Säuglinge ausgesetzt werden u. a. J Zeus, J Moses und J Kyros. In dem Erzähltyp AaTh/ATU 910 K: J Gang zum Eisenhammer (Kalkofen), in dem eine Botschaft (Brief, Erkennungszeichen) das Stichwort zur Tötung geben soll, erscheinen u. a. J Buddha, J Johannes Baptista, Mohammed, J Maimonides, J Bellerophon und J Hamlet als intendierte Opfer. Wie Schneewittchen soll König Pippins Braut J Berta in der altfrz. Sage von Dienern im Wald getötet werden; zur Vortäuschung der Tat dient das Herz eines Wildschweins. Geschichtliche Überlieferungen erzählen u. a. von Mordanschlägen auf Ludwig XIII. und Elisabeth I. mit Hilfe von Bildzauber7; das Andenken an den Pulveranschlag einer Gruppe von Katholiken auf König Jakob I. und seine Familie (1605) wird in England bis heute am 5. Nov. (Guy Fawkes Day) mit nächtlichen Feuerbräuchen begangen. Eine andere Funktion haben T. in der christl. Heiligenlegende: Daß J Märtyrer sowohl mehrfache Torturen (J Qualen) als auch Hinrichtungen überleben, beweist ihre Heiligkeit und Auserwähltheit. So muß Christine 18 verschiedene J Foltern und T. über sich ergehen lassen: Sie wird u. a. mit einem Stein am Hals ins Meer, später ins Feuer geworfen sowie Giftschlangen ausgesetzt (cf. z. B. ferner J Erasmus, Hl.; J Georg, Hl.; J Margarete, Hl.)8. Für Bekennerheilige stellen T. Prüfungen dar, aus denen sie unversehrt hervorgehen; Märtyrerheilige hingegen erleiden zur Bestätigung ihrer Standhaftigkeit im Glauben letztlich den Tod9, an ihnen zeigt sich jedoch, wie alle menschlichen T. scheitern müssen ⫺ über den Zeitpunkt des Todes entscheidet allein Gott10. Eine Rolle spielen T. schließlich auch im zeitgenössischen Erzählgut, vor allem in Horrorgeschichten: Ein entflohener Geisteskranker versucht, ein Liebespaar im Auto zu töten11; einer Frau droht Gefahr von einem Verbrecher, der sich heimlich oder verkleidet Zugang zu ihrem Wagen verschafft hat bzw. verschaffen will12; eine Babysitterin entgeht mit knapper Not dem Mörder, der im oberen Stockwerk schon die Kinder getötet hat13. Dagegen beschreiben Geschichten über versuchte Selbsttötungen Kettenreaktionen, die zur Ver-
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eitelung des Vorhabens führen und an J Münchhausiaden (AaTh/ATU 1889, 1889 A⫺ P) erinnern14. 1 Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar 1. ed. H. W. Laufhütte/R. Rissing-van Saan/K. Tiedemann. B. 122006, 1615⫺1636 (§ 23, Absatz 1 und 2), cf. 1649⫺1811 (§ 24); cf. auch The New Enc. Britannica. Macropædia 5. Chic. u. a. 151983, 278 sq. ⫺ 2 cf. Shojaei Kawan, C.: Rechtsverwirklichung und Rechtsverdrehung im europ. Volksmärchen. In: Dunkle Mächte im Märchen und wie man sie bannt/ Recht und Gerechtigkeit im Märchen. ed. H. Lox/S. Lutkat/D. Kluge. Krummwisch 2007, 168⫺199, hier 169⫺176, 193⫺199. ⫺ 3 Gonzenbach, num. 7. ⫺ 4 Ein in diesem Zusammenhang angeführtes germ. Aussetzungsrecht an älteren Kindern ist nicht nachweisbar, cf. Laeverenz, J.: Märchen und Recht. Ffm. u. a. 2000, 80 sq.; cf. auch ibid., 148 sq. ⫺ 5 Hahn 1, num. 2 (griech.). ⫺ 6 Dh. 2, 40⫺43, 46 sq., 56⫺65. ⫺ 7 HDA 6 (1934⫺35) 927. ⫺ 8 Boureau, A.: La Le´gende dore´e. Le syste`me narratif de Jacques de Voragine († 1298). P. 1984, 116⫺126. ⫺ 9 cf. Erickson, J.: Some Remarks on Functional Structure in the ,Saint’s Life‘. In: Fabula 23 (1982) 276⫺280. ⫺ 10 Boureau (wie not. 8) 126. ⫺ 11 Brunvand, J. H.: Enc. of Urban Legends. Santa Barbara/Denver/Ox. 2001, 199⫺201; Brednich, R. W.: Die Spinne in der Yucca-Palme. Mü. 1990, num. 8. ⫺ 12 Brunvand (wie not. 11) 229 sq., 184⫺186; Brednich (wie not. 11) num. 4⫺7. ⫺ 13 Brunvand (wie not. 11) 28 sq.; Brednich, R. W.: Das Huhn mit dem Gipsbein. Mü. 1993, num. 69. ⫺ 14 Brunvand (wie not. 11) 141.
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Tradition 1. Begriffsgeschichte ⫺ 2. Prozesse der Tradierung ⫺ 3. T. als zeitliches Konzept ⫺ 4. T. als Kulturerbe
1 . B eg ri ff sg es ch ic ht e. Sowohl das Wort T. (aus lat. traditio: Überlieferung) als auch die dahinterstehende Idee sind mehrdeutig. Der ursprünglichen Wortbedeutung angelagert sind Vorstellungen von Anvertrauen, Verrat, Erzählen und mündl. Unterweisung. Im röm. Besitzrecht bezieht sich traditio auf eine (auch symbolische) Form der Eigentumsübertragung (Justinian, Institutiones 2,1,44). Verträge wurden im lat. MA. durch öffentliche traditio erfüllt1. Das Wort war auch mit der Übergabe von Amtsgewalt verbunden, so im frühchristl. Bildmotiv der traditio legis (J
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Tradition
Christus tritt als Gesetzgeber an die Stelle des Kaisers)2. Mehr noch als durch das Gesetz ist das Konzept der T. durch Religion geprägt. Die Buchreligionen teilen die Vorstellung, die Schrift werde ergänzt von der T., einer parallelen mündl. Überlieferung, die Kontext, Interpretation und Ausschmückung zu den hl. Schriften bietet. Im Judentum unterscheidet die rabbinische T. zwischen schriftl. und mündl. Thora (J Talmud)3; im Islam gilt das mündl. überlieferte normative Verhalten (arab. sunna) des Propheten J Mohammed als wichtigste Rechtsquelle nach dem Koran4; nach Kirchenvätern wie Tertullian und Irenaeus ist die apostolische Unterweisung abgeleitet von Predigten Jesu Christi5. Die Wertschätzung der T. führte zur schriftl. Fixierung umfangreicher Korpora von ursprünglich mündl. Erzähltem wie auch zur Sorge um dessen J Authentizität. Die Kritiker der Aufklärung konstruierten ein Verständnis von T. als negatives Spiegelbild eines neuen Ideals transparenter, gereinigter und stabilisierter Sprache, das nicht der Prüfung durch Autoritäten unterliegt, sondern vielmehr der durch die Vernunft6. Demgegenüber erschließt für die Denker der J Romantik die (säkularisierte) T. den kollektiven Volksgeist (J Kollektivität, Kollektivbewußtsein). Nach J Herder leitet sich T. vom Volk als Ganzem her, wenngleich ihr in der Moderne nur die niederen Schichten treu geblieben seien. Das Volk ist in diesem antiaufklärerischen Diskurs durch seine T.sverhaftung charakterisiert. Herder und seine Anhänger behandeln T. als dynamischen Vorgang individueller J Adaptation und in weiterem Sinn als den Lebenslauf eines Organismus, der J Nation7. Auf diesen Überlegungen beruht die bis heute andauernde Debatte über T. einerseits als Werkzeug der Unterdrückung und andererseits als Kraft der Selbsterschaffung. In neuerer Zeit ist das Konzept im Gefolge der einflußreichen Publ. zur ,Erfindung der T.‘ von E. Hobsbawm und T. Ranger8 bes. in Ethnologie, Vk. und Folkloristik intensiv diskutiert worden9. Überblicksdarstellungen liegen zu Recht10, Theologie11, Soziologie12 und Philosophie sowie Sozialtheorie13 vor. 2 . P ro ze ss e d er Tr ad ie ru ng. Im späten 19. Jh. wurde das Modell der Überlieferung als Erbe von einem Modell der Wanderung ab-
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gelöst, nach dem sich Überlieferungen in Wellen von ihrem Ursprungsort aus verbreiten (J Geogr.-hist. Methode, J Wandertheorie). C. W. von J Sydow betonte demgegenüber die Anpassung der T. an die lokalen Gegebenheiten, die zu ihrer J Stabilität und Widerstandsfähigkeit gegen Einflüsse von außen beitrage (J Ökotyp)14. Von Sydows Anregung, die bes. Bedeutung sozialer J Rollen, Milieus (J Soziales Milieu), Wege und Gelegenheiten bei der J Verbreitung von Erzählungen zu beachten, wurde in zahlreichen Arbeiten späterer Forscher aufgegriffen15. In den 1960er und 1970er Jahren zeigte die Hinwendung zu einer kontextorientierten Forschung (J Kontext), daß rituelle Anlässe die Beibehaltung archaischer Elemente begünstigen können, während eher spielerischere Gelegenheiten zur freien Gestaltung ermutigten (J Erzählen, Erzähler)16. Vertreter der J Oral History-Forschung verstehen Erzählungen über die Vergangenheit als einen in der Gegenwart stattfindenden Gemeinschaftsprozeß17. Amerik. Erzählforscher sehen Einzelperformanzen als oft mit einem Wettbewerb verbundenen Austausch zwischen den Teilnehmern (J Interaktion, J Performanz), wobei sie die individuelle J Kreativität betonen18. Andere Forscher, die sich mit professionellen Überlieferungsträgern beschäftigen, erforschen die Dynamik des Lernprozesses19. R. J Jakobson und die Prager Strukturalisten (J Strukturalismus) stellten Parallelismen und eine spezielle Beziehung von langue und parole als Kriterien für mündl. Überlieferung heraus20. Ausgehend von der homerischen Frage (J Homer) untersuchten Epenforscher die Logik der Mündlichkeit. Nach der J Formeltheorie von M. J Parry und A. B. J Lord ist T. eine ,Multiform‘, die eher in wechselnden Umsetzungen existiere, als daß sie Verfallserscheinungen einer einzigen J Urform darstelle21. Die frz. Afrikanistik22 und die amerik. Ethnopoetikdebatte23, die den Schwerpunkt auf die innere Struktur mündl. Texte legte, stellten weitere Modelle bereit. Nach dem 2. Weltkrieg dienten bes. Sage und Gerücht als Objekte zur Unters. von sozialen Netzen und gesellschaftlicher Dynamik bei der mündl. Überlieferung24. Im Gefolge von F. C. Bartletts Pionierarbeit25 suchte W. J Anderson sein Gesetz der J Selbstberichtigung experimentell zu bestätigen, demzufolge
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die normative Version eines Texts stabilisiert wird, wenn jeder Hörer eine Synthese der von verschiedenen Quellen gehörten Var.n herstellt (J Experimentelle Erzählforschung)26. L. J De´gh und A. Va´szonyi formulierten alternativ dazu die J Conduit-Theorie: T. verlaufe in Bahnen, die von Menschen mit ähnlicher Persönlichkeitsstruktur gebildet werden und tendenziell die J Normalform einer Erzählung bewahren. Aufgrund der sichtbaren Präsenz der literar. Überlieferung widmet die Märchenforschung der Interdependenz zwischen mündl. und schriftl. Übermittlung bes. Aufmerksamkeit (J Lit. und Volkserzählung, J Schriftlichkeit)27. Anhand der modernen literar. und filmischen Überlieferung von Märchen wurde gezeigt, wie traditionelles Material durch individuelle Autorschaft, neue J Medien und sich verändernde gesellschaftliche Kontexte umgestaltet wird28. Die heutige Beliebtheit bestimmter Zaubermärchen ist demnach einer Vielzahl von Verbreitungswegen zu verdanken, die vom J Film über Tourismus und J Werbung bis hin zur modernen Erzählerbewegung und literar. Bearb.en reichen29. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die erzählerische Form ein Kriterium für die erfolgreiche Tradierung von Inhalten bildet. Balladen etwa entledigten sich ihres erzählerischen Inhalts in dem Maße, in dem das betr. hist. Ereignis an Relevanz verlor, und behielten nur noch den emotionalen lyrischen Kern30. Die moderne Sage werde typischerweise eher im Gespräch durch mehrere Personen konstruiert oder auch als ,ostension‘ in Realität umgesetzt, als daß sie wohlgeformt erzählt werde31. Und während in England im 19. Jh. Erzählungen in der Kinderliteratur domestiziert wurden und in dieser Form normativen Charakter erwarben, erhielt sich ihr subversives Potential in der populären Christmas pantomime32. Die bekanntesten Zaubermärchen sind so in einem beständigen Reduktionsprozeß zum Hintergrund eines intertextuellen Universums der J Vermittlung durch Werbung, Prominentenjournalismus und andere kulturelle Bezüge geworden33. 3 . T. a ls ze it li ch es Ko nz ep t. T. wird beim Aufstieg der Moderne als zwangsläufig im Niedergang begriffen gedacht. Die Kenn-
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zeichnung isolierter T.en als Relikte oder Survivals (J Reliktgebiete, J Survivaltheorie) signalisiert den Abstand der Gegenwart von einer verlorenen Lebenswelt. Weder T.en noch ihren Trägern wird Gleichzeitigkeit mit dem modernen Subjekt zugestanden34. Als Reaktion auf diese Degenerationsprämisse35 wurden T.en sowohl gesammelt, um sie vor dem Aussterben zu bewahren, als auch gleichzeitig von vermuteten Verfälschungen ,gereinigt‘ oder in ihrer angeblich ,authentischen‘ Form wiederhergestellt36. Die Bildungsbürgerschicht brachte die Hauptakteure in diesem Transformationsprozeß hervor und bildete gleichzeitig das Lesepublikum37. Die Erzählforschung hat sich seit Mitte des 19. Jh.s oft mit einer eher konservativen Politik verbündet. Die semantischen Assoziationen von T. mit Respekt und Pflicht38 warben für ,Traditionalismus‘ als defensive Haltung in Religion und Politik, die vom Volk Unterwerfung forderte. Nationale T. wurde ebenso als fromm und patriotisch definiert (J Patriotismus)39 wie als Schutz gegen (demographische oder kulturelle) Überfremdung40. Faschistische Bewegungen bestärkten das ,Volk‘ ⫺ d. h. die arbeitenden Schichten ⫺ in der Treue zu seinen T.en (J Nationalsozialismus)41. Aber auch sozialistische Regimes nutzten T. als Werkzeug zur Instrumentalisierung der Massen (J Marxismus; J Rußland, Kap. 2.3)42. Die moderne Erzählerbewegung bezieht ihre Kraft aus dem allg. empfundenen Bedürfnis nach einer Wiederbelebung traditioneller Werte43. Ihr Traditionalismus, der sich oft lokalpatriotisch und ideologiefrei gibt, nimmt jedoch in der Praxis eine politische Färbung an44. Als Reaktion auf die empfundene ,Enttraditionalisierung‘45 führen manche Regierungen ,oral literature‘ in den Lehrplan ein46, fördern eine Wiederbelebung von T.47, rekonstruieren Epen als Grundlage nationaler Einheit (J Rekonstruktion)48 oder bemühen sich erneut um die Säuberung der T.en von als fremd aufgefaßten Einflüssen49. Unter dem Einfluß der Sozialwissenschaften suchten sich Erzählforscher nach 1968 zeitgenössische Bereiche als Forschungsfeld50, etwa Einwandererüberlieferungen oder städtische Überlieferungen51. In diesem Sinn betont ein Namenswechsel des Forschungsgegenstandes ⫺ etwa von ,mündl. Überlieferung‘ (J Orale T.)
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zu ,verbaler Kunst‘ ⫺ auch eine Neuorientierung52. D. Ben-Amos‘ Neudefinition der Volksüberlieferung als künstlerische J Kommunikation in kleinen Gruppen verwirft ausdrücklich die Kriterien der T. wie auch der mündl. Übermittlung53. In bewußter Abgrenzung zu den Arbeitsgebieten der traditionellen Erzählforschung beschäftigten sich amerik. Erzählforscher u. a. mit der transgressiven Straßenkultur junger afrik.-amerik. Männer54 und lenkten damit den Blick auf kulturelle Phänomene, die nicht rein, sondern kreolisiert55, nicht normativ, sondern karnevalesk56, und nicht von Unterwerfung, sondern von Widerstand geprägt sind57. Dt. Volkskundler und Erzählforscher wandten sich demgegenüber einer (oft ironischen) Aufarbeitung der Fachgeschichte zu. Sie hinterfragten in diesem Rahmen für selbstverständlich gehaltene Konzepte von Kontinuität und T. (J Folklorismus)58. H. J Bausinger und K. Köstlin wiesen darauf hin, daß der holistische konzeptionelle Überbau der T. eine Kompensation für den anscheinenden Fragment- und Restcharakter des empirischen Bezugsobjekts bilde59. Allg. läßt sich hier feststellen, daß die hist. vorhandenen kommerziellen oder politischen Beeinflussungen des Fachgegenstands als integrale Bestandteile der T. des Fachs begriffen wurden. Bereits 1975 hatte D. Hymes darauf hingewiesen, daß ,Traditionalisierung‘ ein grundlegender kultureller Prozeß sei und daß alle Kulturen als normativ eingeschätzte Aspekte der Vergangenheit pflegten60. Zudem interpretierten menschliche Gemeinschaften die Vergangenheit ständig für Zwecke der Gegenwart neu und setzten ihre Kultur für sich selbst und andere in Szene61. Diese konstruktivistische Position der Forschung steht im Gegensatz zu den Bedürfnissen des ,einfachen Volks‘, dessen Überlieferung nicht in schriftl. Form abgesichert ist62: Die hist. Erzählungen indigener Gemeinschaften bilden z. B. oft eine der wenigen juristisch relevanten Grundlagen für Rückforderungen von Land und anderen Ressourcen63, ebenso wie die lebensgeschichtlichen Erzählungen von Vertriebenen oder Flüchtlingen oft den einzigen Beweis für Verfolgungen darstellten64. Ebenso wie das Traditionelle modern ist, ist auch das Moderne traditionell. Rituale besit-
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zen für den Nationalstaat und die globale Gemeinschaft dieselbe zentrale Bedeutung wie für traditionelle Gemeinschaften65, und auch der Mythos wird als Werkzeug der Modernität erkannt66. So stützen sich ihrem Wesen nach moderne Institutionen der Wiss., Politik und Justiz auch auf Herkommen und Präzedenzfälle67. Von individuellen Autoren verfaßte literar. Texte sind ähnlich wie mündl. Erzählungen von Vorläufern, Gattungshorizonten, Intertexten und traditionellen diskursiven Mitteln abhängig68. 4 . T. a ls Ku lt ur er be. T.en werden meist mit einer bestimmten sozialen Gruppe oder Örtlichkeit bzw. Region identifiziert, wobei ihre Reichweite als begrenzt verstanden wird. Als in der J Aufklärung moderne Denker der Rationalität gebildeter europ. Männer einen privilegierten Platz einzuräumen begannen, wurde die T. soziologisiert und primär als Eigentum von Frauen, Kindern (J Ammenmärchen), der Landbevölkerung und ethnischer Minderheiten begriffen69. Im 20. Jh. belegen Feldforschungen geschlechtsspezifische Charakteristika von Überlieferungen. So erzählen Frauen andere Geschichten als Männer (J Frauenmärchen, J Männermärchen)70. Derartig getrennt existierende T.en können oft ganz andere Bewertungen der jeweiligen Rollen enthalten, die von einem ansonsten als normativ verstandenen Diskurs abweichen71. Traditionelle, nicht unmittelbar verständliche Ausdrucksformen könnten demnach für Frauen, Sklaven und andere Subalterne einen Code dargestellt haben, der es nicht nur erlaubte, Unzufriedenheit auszudrücken, sondern auch, die Herrschaft und die Herrschenden ohne Furcht vor Bestrafung in Frage zu stellen72. Dabei eröffnete die ,Stimme des Volks‘ kommerzielle wie politische Möglichkeiten. Schon im 18. Jh. kannten in Europa Kolporteure den Wert traditioneller Performanz als Marketinginstrument (J Kolportageliteratur). Auch Kulturunternehmer verstanden es, Formen traditioneller Dichtung mit Zeichen des Archaischen und Ursprünglichen zu versehen, um am Markt Anklang zu finden (J Bearbeitung)73. Die Pflege des sog. Kulturerbes stellt paradoxerweise oft eine tote T. der Lebenswelt wieder her (oder führt im Extremfall sogar zu Erstarrung oder Verschwinden einer lebendigen
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T.), um ihr ein zweites Leben im Druck (J Buchmärchen), im J Museum oder auf der Bühne (J Märchenspiel, J Oper) zu verschaffen. Dort dient die T. nicht länger den althergebrachten gesellschaftlichen Zwecken, sondern ist eigenständiges Objekt der Verehrung, ein Denkmal kultureller Identität; ihre vor Verfall oder Entstellung ,geschützte‘ Form ist gewissermaßen eingefroren74. Schwierig bleibt die Frage der nationalen Zugehörigkeit von Phänomenen der T. Selbst Akademiker können über Fragen des Ursprungs einer multinationalen Erzählfigur wie J Hodscha Nasreddin handgreiflich werden75, und ein Wettbewerb über Besitzansprüche setzt ein, sobald T. eine ökonomische oder politische Bedeutung bekommt. Nachdem etwa die Handexemplare der 1. und 2. Aufl. der J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm 2005 in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO aufgenommen worden waren, enstand eine heftige Auseinandersetzung zwischen der Stadt Kassel und der Brüder Grimm-Ges. bzw. dem Brüder Grimm-Museum um das Besitzrecht76. Die World Intellectual Property Organization, die zwischen solchen Initiativen vermitteln soll, kämpft damit, wie der Besitzanspruch an T.en zu definieren ist und wie immaterielle Phänomene zu Objekten fixiert werden können, deren Reproduktion kontrollierbar ist. Wie im antiken Rom ist traditio erneut eine Frage des Eigentums geworden. 1 Green, R. F.: A Crisis of Truth. Literature and Law in Ricardian England. Phil. 1999, 41⫺52. ⫺ 2 Grabar, O.: Christian Iconography. Princeton 1968, 42. ⫺ 3 Jaffee, M.: Oral Torah. In: Jones, L. (ed.): Enc. of Religion 10. Detroit 22005, 6838⫺ 6842. ⫺ 4 Saeed, A.: QurÅa¯n. T. of Scholarship and Interpretation. ibid. 11, 7561⫺7570. ⫺ 5 Rösel, M. u. a.: T. In: TRE 33 (2002) 689⫺732, hier bes. 709. ⫺ 6 Bauman, R./Briggs, C. L.: Voices of Modernity. Language Ideologies and the Politics of Inequality. Cambr. 2003. ⫺ 7 Herder, J. G.: Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten. In: Abhdlgen der Baier. Akad. über Gegenstände der schönen Wiss.en 1,2 (1781) 28⫺138. ⫺ 8 Hobsbawm, E./Ranger, T. (edd.): The Invention of T. Cambr. 1983. ⫺ 9 Honko, L./Laaksonen, P. (edd.): Trends in Nordic T. Research. Hels. 1983; Ben-Amos, D.: The Seven Strands of T. In: JFI 21 (1984) 97⫺132; Hofer, T.: The Perception of T. in European Ethnology. ibid., 133⫺147; Bendix, R.: In Search of Authenticity. On the Formation of Folklore Studies. Madison 1997;
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Tradition
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Tragica ⫺ Tragik
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Columbus, Ohio
Dorothy Noyes
Tragica J Mordgeschichten
Tragik. Seit der Antike ist T. ein phil.-ästhetischer Begriff mit wechselnder Bedeutung1; sein Zusammenhang mit der griech. Tragödie ist unabweisbar. Der bei Aristoteles deutlich als Gegenbegriff zu J Komik aufgefaßte Terminus bezeichnet zunächst den Wirkungsaspekt der Tragödie: Die Erweckung von Jammer (eleos) und Schauder (phobos), später unter christl. Einfluß als Mitleid (J Barmherzigkeit) und J Furcht verstanden. Die christl. Wendung gegen das Schauspiel und bes. gegen die Tragödie (Augustinus, Confessiones 3,2,2; De civitate Dei 4,26) führte dazu, daß im Hochmittelalter mit T. meist nur die Stilebene einer Dichtung (hoher Stil) bezeichnet wurde. Daneben diente der Begriff der Handlungscharakterisierung; nach J Dante (Epistolae 13,29) ist die Tragödie am Beginn schön und am Ende schrecklich, bei der Komödie verhalte es sich umgekehrt2. Im aktuellen Sprachgebrauch bezeichnet T. „ein schweres, schicksalhaftes, von Trauer und Mitempfinden begleitetes Leid“3. Erst mit dem 18. Jh. ⫺ nach Vorläufern in der frz. Klassik (Jean Racine, Pierre Corneille) ⫺ wird T. ein schärferes Bedeutungsspektrum als ,schlechter Ausgang‘ (eines Schauspiels) zugewiesen. Mit J Lessing fiel die seit dem 17. Jh. etablierte ,Ständeklausel‘, so daß
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Tragik
T. auch für Stoffe in bürgerlicher Szenerie Verwendung fand4. In der literaturwiss. Theoriebildung konnte sich T. nie ganz von der Tragödie lösen5, auch Versuche, T. als phil. Paradigma zu etablieren, vermochten sich nicht durchzusetzen6. Dies ist vermutlich auch ein Grund, warum der T. als Phänomen erzählender Texte bei weitem nicht die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet wurde wie der Komik. Im MA. wurden zwar röm. Tragödien gelesen, eigene Dramen aber nicht geschaffen; dafür bieten die Kurzerzählungen des hohen und späten MA.s in reichem Maße neben komischen auch tragische Stoffe (z. B. AaTh/ATU 992: J Herzmäre, AaTh/ATU 947: cf. J Glück und Unglück, J Pyramus und Thisbe); im Bereich der längeren Erzählungen demonstriert J Tristan und Isolde das tragische Potential der leidenschaftlichen Liebe. Zwar kennt schon das MA. nach antiken Vorläufern tragisch endende Novellen, auch den durch die Launen des Schicksals (J Fortuna) bedingten Sturz des J Herrschers7, zum Programm wird das schreckliche Ende des Protagonisten aber erst mit der frühneuzeitlichen Tragica-Lit.8 Es ist in der Regel durch schwerste Verletzungen moralischer oder religiöser Gebote gerechtfertigt (cf. auch einige von J Shakespeares Tragödien wie Macbeth oder Julius Caesar). Ein vor allem in der frühen Neuzeit virulenter Überlieferungsstrang tragischer Novellen nimmt seinen Ausgang bei J Boccaccio, in dessen Decamerone am vierten Tag neun unglücklich endende Liebesgeschichten erzählt werden. Die noch kaum erforschte Entwicklung der tragischen (Liebes-)Novelle zur tragischen (Kurz-)Erzählung allg. Inhalts führt über Matteo J Bandello, Pierre J Boaistuau zu Franc¸ois de J Belleforest, dessen Histoires tragiques (1559⫺82) in sieben Bänden 130 Geschichten versammeln. Nicht alle bieten einen tragischen Ausgang, jedoch sind sie zumindest in Teilen ihrer Handlung geeignet, Furcht und Mitleid auszulösen. Die Slg Belleforests hatte erhebliche Nachwirkungen u. a. im elisabethan. England. Im dt. Sprachraum ist sie durch G. P. J Harsdörffers recht freie Umsetzung Der grosse Schau Platz Jämmerlicher Mordgeschichten (1652) verbreitet worden9. Zum Ende des Barockzeitalters liefert Misander (d. i. J. S. Adami [1638⫺1713]) mit seinem Theatrum Tragicum oder eröffnete Schaubühne (Dresden
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1699) noch ein weiteres Kompendium tragischer Erzählstoffe. Diese und ähnliche Qu.n gleichen Inhalts benutzten u. a. Autoren der J Kompilationsliteratur (z. B. J. J. Bräuner), auf die wiederum Herausgeber von Sagensammlungen wie die Brüder J Grimm zurückgriffen10. Aus dem Bedeutungsspektrum wird ersichtlich, daß eine Affinität bestimmter Volkserzählungen zur T. besteht. Hier sind in erster Linie Sagen mit unglücklichem Ausgang zu nennen (J Pessimismus). Die enge Verbindung von Sage und T.11 wird bes. deutlich im Bereich der J Katastrophenmotive: Das Fehlverhalten einzelner Menschen (J Frevel, Frevler) führt zur Auslöschung ganzer Gemeinschaften. Weitere Genres sind Schreckmärchen (z. B. AaTh/ ATU 1343: J Hängen spielen), Balladen (z. B. AaTh/ATU 365: J Lenore) und Horrorgeschichten (z. B. AaTh/ATU 939 A: J Mordeltern, AaTh/ATU 2040: J Häufung des Schrekkens). Dem Märchen mit seinem sprichwörtlichen Happy-End ist im weiteren Sinne des Begriffs die T. eher fremd. Es gibt allerdings auch Ausnahmen12. Als Beispiel kann KHM 105 (1), AaTh/ATU 285: J Kind und Schlange gelten. Das vermeintlich dem Kindeswohl dienende Eingreifen der Mutter führt schließlich zum Tod des Kindes, mit dem der Text schließt: „und bald hernach lag das Kind auf der Bahre“. Der Tierschwank AaTh 275/ATU 275 C: cf. J Wettlauf der Tiere z. B. beschreibt den Tod des Hasen als durchaus tragisch; dennoch bietet die Erzählung ein Happy-End aus der Perspektive des Igels. Sog. Naturvölkermärchen aus weniger schriftgeprägten Gesellschaften (Sibirien, indigene Völker Südamerikas, Afrika, Südsee) sind ebenfalls nicht so sehr auf ein Happy-End festgelegt und können als Desaster enden13. Legenden haben immer einen glücklichen Ausgang und stehen so der T. fern, wenngleich einzelne Handlungselemente zahlreicher Texte (etwa in den meisten Passiones der J Märtyrer) durchaus insoweit Aspekte der T. besitzen, als kurzzeitig Mitleid und Furcht erregt werden ⫺ selbstverständlich mit dem Ziel, die Standhaftigkeit des Heiligen herauszustreichen. In der Moderne trugen vor allem Bänkelsang, Flugblätter, Mordgeschichten, Moralische Geschichten oder Schauergeschichten und -romane zur Verbreitung tragischer Stoffe und
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Traktatliteratur
Motive bei. Diese Genres sind charakterisiert durch das Vorherrschen von tragischen Liebesgeschichten, von Berichten über spektakuläre Verbrechen und Gerichtsprozesse, Freveltaten gegen die Religion, Unglücksfälle und Naturkatastrophen. Bes. im Medium des Films, nach wie vor aber auch in mündl. umlaufenden Erzählungen, die sich gattungsmäßig auf der Grenze zwischen Sage und Märchen befinden, sind diese Stoffe und Motive lebendig geblieben. Das Stoff- und Motivreservoir des europ. Erzählguts ist im Hinblick auf seine tragischen Dimensionen nur unzureichend erschlossen. Da Typen- und Motivkataloge primär an Sachen bzw. Themen interessiert sind, finden sich zwar in Registern Stichwörter wie Selbstmord oder Unglück, abstrakte Begriffe wie T. oder Katastrophe als Ordnungskriterien bleiben aber weitgehend unberücksichtigt (cf. Mot. T 80⫺ T 89: Tragic love). Dies trifft auch für themenorientierte Kataloge zu Heldensagen und Epen zu, obwohl gerade hier vorwiegend das tragische Register bedient wird. Während das altengl. Epos J Beowulf und die altfrz. Chanson de J Roland trotz des Todes des Protagonisten am Schluß jeweils versöhnliche Töne anschlagen (ehrenvolles Begräbnis bzw. Bestrafung des Missetäters), entläßt das mhd. J Nibelungenlied den Rezipienten ratlos aus einer Welt, in der (fast) alle handelnden Figuren umgekommen sind. Für die weitergehende Erforschung der T. bes. im Bereich der Volkserzählungen, aber auch für epische Texte überhaupt, wäre ein stärker wirkungsästhetisch ausgerichtetes Verständnis des Begriffs, ganz analog zu dem der Komik, wünschenswert: Unter T. ist dann die Potenz einer Erzählung zu verstehen, Jammer und Schaudern (bzw. Furcht und Mitleid) zu erregen. Damit träte auch die Fixierung der Forschung auf den schlechten Ausgang als alleiniges Kennzeichen der T. etwas in den Hintergrund, und eine differenziertere Erfassung des Phänomens wäre möglich. 1 Galle, R.: Tragisch/T. In: Barck, K./Wolfzettel, F. (edd.): Ästhetische Grundbegriffe 6. Stg. 2005, 117⫺ 171 (mit Bibliogr.). ⫺ 2 ibid., 129. ⫺ 3 Duden. Das große Wb. der dt. Sprache 10. Mannheim 1999, 3940 sq. ⫺ 4 Galle (wie not. 1) 151⫺171. ⫺ 5 cf. Düsing, W.: Tragisch. In: RDL 3 (32003) 666⫺669. ⫺ 6 Galle (wie not. 1) 168⫺171. ⫺ 7 Im dt.sprachigen
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Raum cf. etwa die Bearb.en des Alexanderstoffs: Haug, W. (ed.): O Fortuna. In: Fortuna. ed. W. Haug/B. Wachinger. Tübingen 1995, 1⫺22, bes. 10. ⫺ 8 Poli, S.: Histoire(s) tragique(s). Anthologie/ typologie d’un genre litte´raire. Fasano 1991; Schenda, R.: Jämmerliche Mordgeschichte. Harsdörffer, Huber, Zeiller und frz. Tragica des 16. und 17. Jh.s. In: Volkskultur, Geschichte, Region. Festschr. W. Brückner. Würzburg 1990, 530⫺551. ⫺ 9 Zeller, R.: Harsdörffers Mordgeschichten in der Tradition der Histoires tragiques. In: Harsdörffer-Studien. ed. H.J. Jakob. Ffm. 2006, 177⫺184. ⫺ 10 Uther, H.-J.: Johann Jacob Bräuners ,Curiositäten‘ als Vorlage der ,Dt. Sagen‘ der Brüder Grimm [1]. In: Festschr. Brückner (wie not. 8) 552⫺571; id.: […] 2. In: Narodna umjetnost 30 (1993) 103⫺132. ⫺ 11 cf. Ranke, K.: Betrachtungen zum Wesen und zur Funktion des Märchens [1958]. In: id.: Die Welt der einfachen Formen. B./N. Y. 1978, 1⫺31, hier 23. ⫺ 12 EM 9, 1284; cf. Röhrich, L.: Märchen mit schlechtem Ausgang. In: HessBllfVk. 49⫺50 (1958) 236⫺ 248; KHM/Uther 3, 275, s. v. Ausgang, schlechter. ⫺ 13 Röhrich (wie not. 12) 245.
Münster
Hanno Rüther
Traktatliteratur. Der Terminus Traktat (T.; von lat. tractatio: Behandlung) dient zur Bezeichnung einer in Großauflage gedruckten, meist kostenlos an eine breite Leserschaft abgegebenen, gedanklich und sprachlich anspruchslosen Kleinschrift zur religiösen Belehrung und J Erbauung. Im aktuellen allg. Sprachgebrauch findet diese Inhaltsbestimmung allerdings nur eine schwache Stütze. So ordnet etwa das Duden-Großwörterbuch obige Definition einzig der als abwertend markierten Diminutivform ,Traktätchen‘ zu; ,T.‘ steht hingegen für jeden Text argumentierenden, ja wiss. Charakters1. In theol. Nachschlagewerken erscheint der Gebrauch des Begriffs auf ältere Werke protestant. Observanz beschränkt; kathol. Lexika und neuere Enz.n beider Konfessionen meiden ihn. In der Lit.wissenschaft, die für die formale Seite der Sache (Beschreibung der Textsorte, Darstellungskonventionen, Produktions- und Rezeptionsaspekte) komplementär zuständig wäre, ist das Wort heute ebenfalls vorrangig unter abweichender Bedeutung im Umlauf 2. Bei seinen Forschungen zu Massenlesestoffen hat sich R. J Schenda, als er das Phänomen in einem knappen Artikel beschrieb (ohne allerdings je das Wort zu verwenden), auf ein
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Traktatliteratur
Korpus kathol. Schriften der 1960er Jahre bezogen3. Im ,T.e‘ betitelten Kap. seiner Monogr. Volk ohne Buch werden auch die Verhältnisse des 19. Jh.s berührt4. Daneben stößt man dort auf Termini wie Andachts-, Devotional-, Inspirational- oder Erbauungsliteratur. Abgesehen von dieser letzten Bezeichnung5 liegen somit keine schärfer umreißbaren und gängigen Termini vor. Geht man vom Konzept einer massenhaft aufgelegten Kleinschrift aus, so ergeben sich aus der Perspektive des Mediums und des Publikums zwei Bedingungen: einerseits die Möglichkeit der Großproduktion dank Setzmaschine, Schnellpresse und industrieller Papierherstellung sowie andererseits die Lesefähigkeit einer Mehrheit der Bevölkerung dank Einführung der Volksschule (J Lesen, J Lesebuch). Beide Voraussetzungen traten in Europa im Laufe des 19. Jh.s ein. Erst dann läßt sich also ein T.wesen erwarten6. Allg. präsentiert sich der gedruckte T. als kleinformatiges, wenig umfangreiches Heftchen oder als Einzelblatt; die Lektüre kann somit spontan erfolgen und soll anders als beim Buch ,auf einen Sitz‘ in kurzer Zeit zu bewältigen sein7. Die Knappheit ist bes. für ,Fernstehende, Gottlose, Gottsucher‘ angemessen8. Aufmachung (Titelgestaltung, Einsatz von Farben, Illustrationen, hervorhebender Fettdruck) sowie Stil tragen das ihre dazu bei, das Interesse der Leser zu wecken, zu lenken und zu halten9; Anleihen bei Ausdrucksformen der Warenwerbung finden zumindest gelegentlich programmatisch-bewußt statt10, ebenso die aus der Konkurrenz zu Kolportage-Schauerromanen (J Schauergeschichte, Schauerroman) erwachsenden Kontrafakturverfahren bei Darstellung und Inhalten11. Auch lassen sich aus der Tradition wohlbekannte narrative Muster belegen: Mirakelberichte, Abenteuergeschichten, Exempla12. Die Inhalte seines kathol. Korpus der 1960er Jahre ordnete Schenda hauptsächlich vier Problemkreisen zu: (1) Sexualität, Liebe, Ehe, Kinder; (2) Verhältnis von Mensch und Kirche, Sakramentenlehre; (3) moderne Umwelt; (4) Verhältnis von Mensch und Gott, letzte Dinge, Heiligenverehrung, Engel und Teufel13. Die Anfänge des T.s liegen in der 2. Hälfte des 18. Jh.s14. 1756 wurde in Edinburgh und Glasgow die Tract Soc. und 1799 nach dem
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schott. Modell in London die Religious Tract Soc. gegründet. Ziel dieser Ges.en war die Verbreitung religiöser Schriften mit nichts als der ,reinen Wahrheit‘ in allg. faßlicher Sprache; die Leser waren als erlösungs- und bekehrungsbedürftige Sünder anzusprechen; Sektarismus sollte zugunsten einer Betonung der gemeinsamen protestant. Glaubenssätze vermieden werden15. Der weltanschauliche Gegner war zunächst der Rationalismus. Das brit. Kolonialreich bildete dann im 19. Jh. den Rahmen für eine globale Ausweitung der Aktivitäten, welche die Verbreitung der Bibel einschlossen16. Seit 1811 kam es im protestant. dt.sprachigen Raum, teilweise unter direkter Mitwirkung von Mitgliedern der Tract Soc.17, zur Gründung einer Vielzahl von Ablegern: Christl. Verein im Nördl. Deutschland (1811), Basler T.gesellschaft (1812)18, Wuppertaler T.gesellschaft (1814), Hauptverein für christl. Erbauungsschriften in den preuß. Staaten (1814), Evangel. Ges. Stuttgart (1832), Calwer Verlagsverein (1833), Agentur des Rauhen Hauses in Hamburg (1842); weitere Gründungen sind bis in die 1880er Jahre hinein zu verzeichnen19. Sie verbinden sich mit dem epochenspezifischen Bestreben, die Verkündigung des Evangeliums als eine Aufgabe der ,inneren Mission‘ zu intensivieren20. Weltanschaulicher Gegner war in der 2. Hälfte des 19. Jh.s „das falsche Prophetentum der Sozialdemokratie“21. Vergleichbare Ziele unter erneut gewandelten Bedingungen verfolgte die von G. Hilbert 1921 gegründete (und 1935 gewaltsam geschlossene) Apologetische Centrale in Berlin. Nach dem 2. Weltkrieg übernahmen landeskirchliche Ämter für Volksmission die Schriftenproduktion und -verbreitung. Während in Frankreich bereits im 19. Jh. die Soc. Franc¸aise des Tracts wirkte, scheint der T. im kathol. Bereich des dt. Sprachraums erst erheblich später als Instrument der Seelsorge adaptiert worden zu sein, so von der 1926 begründeten Schriftenmission des Johannesbundes aus Leutesdorf 22. Der seit 1844 wirkende Borromäusverein war dagegen stärker auf das Buch ausgerichtet. Eine der Ursachen für diese Verspätung23 mag darin liegen, daß der Katholizismus im protestant. T. vielfach Gegenstand konfessioneller Angriffe war; denkbar ist auch, daß eine hist. begründete Di-
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Traktatliteratur
stanz des Katholizismus gegenüber der individuellen erbaulichen Lektüre ebenso eine Rolle gespielt haben könnte24 wie die stärkere Bindung der Gläubigen an den sonntäglichen Meßbesuch (samt der damit gegebenen Möglichkeit der Pastoral über die J Predigt). Heute herrscht zwischen den zwei großen christl. Konfessionen bei der Schriftenverbreitung oft friedliches Nebeneinander; die Schweiz. T.mission gibt sich überkonfessionell. Stichwortauswahl und -gestaltung in den aktuellsten theol. Enz.n vermitteln den Eindruck, daß weniger die Praxis der Schriftenmission als ihre Erforschung an Bedeutung eingebüßt hat25. Kaum erschlossen ist das T.wesen der Freikirchen und Sekten. Aus protestant. Sicht stellt die Flugschriftenliteratur (J Flugblatt, Flugschrift) der J Reformationszeit die Frühform des T.wesens dar; so wird aus dem Flugblatt mit J Luthers 95 Thesen der erste T.26 Indessen dürfte ein solcher Gründungsmythos einer mediengeschichtlichen Prüfung kaum standhalten; allenfalls ließen sich im Rahmen einer Geschichte der Erbauungsliteratur begrenzte Kontinuitäten herausheben. Einen Sonderfall stellt der engl. Traktarianismus in der Mitte des 19. Jh.s dar: Zwar bediente sich diese Bewegung, welche die anglikan. Staatskirche dem Katholizismus annähern wollte, auch der Publikationsform des T.s (daher ihr Name); doch handelt es sich wegen der Begrenzung des Leserkreises auf die Geistlichkeit keinesfalls um die hier behandelte massenmediale Form. Die Distribution solcher Schriften erfordert mit Blick auf ihre Massenhaftigkeit und ihre bes. Funktionen Kanäle, die der übliche Buchhandel meist nicht bereitstellen kann. Im protestant. Bereich spielte deshalb die Kolportage eine bedeutende Rolle (J Kolportageliteratur)27. Daneben war die Verbreitung vielfach ehrenamtlich und wurde als Form des Laienapostolats aufgefaßt28; die damit gegebene religiöse Überhöhung findet ihren Ausdruck in mirakulösen Fallgeschichten, die der Motivation und Anleitung der Kolporteure dienten29. Für den kathol. Raum scheint dagegen die Verbreitung durch Schriftenstände in den traditionell tagsüber offenen Kirchen spezifisch zu sein30. Hier dürfte auch das eine Wahl ermöglichende breite Angebot an Titeln und Themen eine förderliche Rolle spielen31; indes-
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sen trifft man in der Forschung auch auf das gegenläufige ,Digest-Argument’: Kleinschriften bieten Lesern mit wenig Zeit ohne ,Qual der Wahl‘ das von kompetenten Fachleuten ausgewählte Beste. Im situationsbedingten Fehlen einer Auswahlmöglichkeit unter dem T.angebot kann schließlich der fromme Laienapostel den Sinn höherer Fügung erblicken32. Bedeutsam scheint in diesem Kontext das Wiederfinden von irgendwohin gesteckten und vergessenen T.en durch Dritte33. In der Gegenwart werden für die Distribution vermehrt die elektronischen Medien E-Mail und Internet eingesetzt. Unerforscht und kaum dokumentiert sind so zentrale Fragen wie die Formen der Finanzierung34, Programmplanung, Person und Status der Autoren35 oder Kontrolle der Inhalte. Der Aussagewert der genannten Auflagenzahlen ist relativ. Ähnliches gilt für Zahlen über Einnahmen und Ausgaben der T.gesellschaften; sie haben werbende und erbauliche Funktion36. Die Qu.nlage stellt für die Forschung ein erhebliches Problem dar. Die Massenhaftigkeit des T.s steht in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Lebensdauer und zu seiner bibliogr. Faßbarkeit. Zudem hat die nicht-theol. Forschung den T. erst spät als Gegenstand entdeckt. So fällt es schwer, für die hier angemessenen seriellen Unters.en das nötige Material aus älterer Zeit zu beschaffen37. Aktuelle interkonfessionelle Listen von Kleinschriften bietet das Internet. 1 DWb. 11,1,1, 1011⫺1021; Duden. Das große Wb. der dt. Sprache 9. Mannheim 1999, 3943; Dt. Fremdwb. 5. B. 1981, 366⫺369. ⫺ 2 Schmidt-Homnisa, H.-W.: T. In: RDL 3 (32003) 674⫺676; anders noch Kruse, J.-A.: T. In: RDL 4 (21984) 544. ⫺ 3 Schenda, R.: Massenlesestoffe im kirchlichen Schr.stand. In: Populus revisus. ed. H. Bausinger. Tübingen 1966, 157⫺166. ⫺ 4 id.: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770⫺ 1910. Ffm. 1970, 315⫺321. ⫺ 5 cf. Wulf, H.: Erbauungslit. In: TRE 10 (1982) 28⫺83. ⫺ 6 cf. Berg: Tractatges.en. In: Herzog, J. J. (ed.): Realenc. für protestant. Theologie und Kirche 16. Gotha 1861, 270⫺ 280; Rahlenbeck, H.: Tractatges.en. In: Hauck, A. (ed.): Realenc. für protestant. Theologie und Kirche 20. Lpz. 31908, 53⫺55. ⫺ 7 TRE 10, 81 (Autor rechnet mit Lesezeiten von 2 bis 30 Minuten). ⫺ 8 Wasserzug-Traeder, G.: T.e verteilen! Eine Aufgabe für Dich! Beatenberg [ca 1960]. ⫺ 9 TRE 10, 81; Schenda
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Trancoso, Gonc¸alo Fernandes
(wie not. 3) 160 sq. ⫺ 10 ibid., 160 („Reklame für Gott“). ⫺ 11 Rahlenbeck (wie not. 6) 55. ⫺ 12 Schenda (wie not. 3) 162 sq. ⫺ 13 ibid., 159 sq.; cf. id. (wie not. 4) 319 sq. (Befunde aus Material des 19. Jh.s); Schwenger, H.: Das Weltbild des kathol. Vulgärschrifttums. Mü. [ca 1966]. ⫺ 14 Rivers, I.: The First Evangelical Tract Soc. In: The Historical J. 50 (2007) 1⫺2. ⫺ 15 Berg (wie not. 6) 274; Stähelin, E.: Das T.wesen. Geschichte und Bedeutung desselben und Pflicht der Mitarbeit. Basel 1868, 19 sq. ⫺ 16 Berg (wie not. 6) 275 sq. ⫺ 17 ibid., 277 sq.; Rahlenbeck (wie not. 6) 54 sq.; cf. Schenda (wie not. 4) 316 sq. (zu einer späteren Missionierungsinitiative im kathol. Bayern). ⫺ 18 Stähelin (wie not. 15) 3, 21. ⫺ 19 Rahlenbeck (wie not. 6) 54 sq. ⫺ 20 cf. Kaiser, J.-C.: Innere Mission. In: RGG (42001) 151⫺154. ⫺ 21 Rahlenbeck (wie not. 6) 55. ⫺ 22 Schultheis, J.: Johannesbund. In: LThK 5 (31996) 981; Jacobi, R.: Kathol. Schr.mission für Deutschland. ibid., 1360. ⫺ 23 cf. Muth, L.: Gott braucht Leser. Zu einer Meinungsumfrage über das religiöse Buch. In: Stimmen der Zeit 181 (1968) 373⫺386 (kritisch über das Verhältnis des Katholizismus zum Buch). ⫺ 24 cf. Schleier, A./Angermair, R.: Erbauung. In: LThK 3 (21959) 959⫺962; Schenda (wie not. 4) 316 (not. 237). ⫺ 25 cf. etwa Mybes, F.: Schr.verbreitung. In: RGG 5 (31961) 1539 sq.; Grundmann, C. H.: Kolportage. In: RGG 4 (42001) 1505; Schultheis, P.: Johannesbund. In: LThK 5 (21960) 1100 sq.; id. (wie not. 22). ⫺ 26 Stähelin (wie not. 15) 5 sq.; Rahlenbeck (wie not. 6) 53 (sieht die 95 Thesen „wie durch der Engel Botendienst in kurzer Zeit fast die ganze Christenheit durchlaufend“). ⫺ 27 Schenda (wie not. 4) 315 (not. 233). ⫺ 28 Wasserzug-Traeder (wie not. 8); cf. ferner den Untertitel von Stähelin (wie not. 15). ⫺ 29 ibid., 26⫺36. ⫺ 30 Schenda (wie not. 3) 157 sq. ⫺ 31 ibid., 159 sq. ⫺ 32 Stähelin (wie not. 15) 35. ⫺ 33 Wasserzug-Traeder (wie not. 8). ⫺ 34 cf. TRE 10, 81 (zur Spendenpraxis); Stähelin (wie not. 15) 3 (zu Finanzierungsnöten). ⫺ 35 cf. Berg (wie not. 6) 277. ⫺ 36 ibid., 273⫺278; Stähelin (wie not. 15) 3. ⫺ 37 Bibliogr. Hilfsmittel: Höpfner, H.: Praktischer Wegweiser durch die christl. Volkslit. Bonn 21873 (evangel.); Die zweite Kanzel. Mitteilungsbl. der Kathol. Schr.mission für Deutschland (1954⫺69) (später: Informationsbl. der Kathol. Schr.mission für Deutschland [1970⫺74]); Verz. wertvoller Kleinschr. der Kathol. Schr.mission für Deutschland 1964⫺67; Schenda (wie not. 4) 318 (not. 245; für das Frankreich des 19. Jh.s).
Muri
Andre´ Schnyder
Trancoso, Gonc¸alo Fernandes, * ca 1515⫺20 (?), † Lissabon wohl vor 1585, Verfasser der drei Teile der Contos & Histo´rias de Proveito & Exemplo (2. Hälfte 16. Jh.). Über den Autor
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ist wenig bekannt, die meisten Hypothesen zu seiner Biogr. beruhen auf textuellen oder paratextuellen Elementen seines Werks. Danach lebte T. zumindest zur Zeit der Abfassung in Lissabon. Im Pestjahr 1569 verlor er seine Frau, zwei Kinder und einen Enkel. Hinsichtlich seines Berufs bestehen unterschiedliche Vermutungen: Man hielt T. für einen Lehrer und für einen Kalligraphen; ein juristischer Hintergrund wurde ihm wegen der vielen Rechtsfälle in seiner Slg und darin erkennbarer juristischer Kenntnisse zugeschrieben; man hat auch vermutet, daß er Kleriker war. Nach anderen Auffassungen besaß T. keine humanistische Ausbildung1. Die Contos waren seit ihrem Erscheinen bis zum Ende des 18. Jh.s eine der meistgelesenen port. Erzählsammlungen. Ihr 1. und 2. Teil wurden vor 1569 geschrieben, mit der Abfassung des 3. Teils hatte T. 1569 begonnen. Der 1. Teil wurde um 1570 separat veröffentlicht, der 2. erst 1575; der 3. Teil wurde wahrscheinlich erstmals 1595 publiziert. Spätere Editionen enthalten alle drei Teile2. Die ältesten erhaltenen Ausgaben der ersten beiden Teile stammen aus den Jahren 1575/763. T. bezeichnet in seiner Vorrede den Inhalt seines Buchs als „co˜tos de aventuras, historias de proveito & exemplo, co˜ alg~us ditos de pessoas prudentes & graves“. Er greift auf die literar. Tradition des Exempels zurück, wodurch sich der Erfolg des Werks zu seiner Zeit und in späteren Epochen zumindest teilweise erklären läßt. T.s Texte sind geprägt von einer strengen Moralvorstellung und religiöser Orthodoxie. Intertextuelle Beziehungen liegen zu den Slgen ital. Erzähler, z. B. Giovanni J Boccaccio, Matteo J Bandello, Giovan Francesco J Straparola und Franco J Sacchetti, vor; vermutlich kannte T. auch die span. Novellensammlung des Juan J Timoneda. Einige von T.s Erzählungen weisen Übereinstimmungen mit der mündl. port. Überlieferung auf. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Aus w. ) 4: 1, num. 2 ⫽ AaTh/ATU 1454*: The Greedy Fiance´e (cf. J Brautproben). ⫺ 1,3 ⫽ AaTh/ATU 883 B: Der bestrafte J Verführer. ⫺ 1,9 ⫽ AaTh/ATU 1331: J Neidischer und Habsüchtiger. ⫺ 1,10 ⫽ AaTh/ATU 1430: cf. J Luftschlösser. ⫺ 1,13 ⫽ AaTh/ATU 910 B: cf. Die klugen J Ratschläge. ⫺ 1,15 ⫽ AaTh/ATU 1534: Die Urteile des J Schemjaka. ⫺ 1,17 ⫽ AaTh/ ATU 922: J Kaiser und Abt. ⫺ 1,18 ⫽ AaTh/ATU 910 K: J Gang zum Eisenhammer (Kalkofen). ⫺ 2,1
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Tränen
⫽ AaTh/ATU 891 A: J Kristallpalast. ⫺ 2,2 ⫽ AaTh 506/ATU 505: J Dankbarer Toter. ⫺ 2,7 ⫽ AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne. ⫺ 2,8 ⫽ AaTh/ATU 926 C: cf. J Salomonische Urteile. ⫺ 3,1 ⫽ AaTh/ATU 873: J König entdeckt seinen unbekannten Sohn. ⫺ 3,4 ⫽ AaTh/ATU 516 C: J Amicus und Amelius. ⫺ 3,5 ⫽ AaTh/ATU 887: J Griseldis.
Gemäß der Praxis des MA.s und der Renaissance war der Autor noch Kompilator, der eine Reihe von Elementen einer von der Tradition vorgegebenen Einheit unterwirft. Die Ausg.n der Contos tragen jedoch auch den Stempel T.s: Die Präsenz einer spezifischen narrativen Instanz unterscheidet seine Texte von anderen ihm nahestehenden Qu.n, weshalb seine Autorschaft nie angezweifelt wurde. 1 Saravia, A. J./Lopes, O.: Histo´ria da literatura portuguesa. Porto 101978, 565 sq.; Palma-Ferreira, J.: Prefa´cio. In: T., G. F.: Contos e Histo´rias de Proveito e Exemplo. ed. id. Lissabon 1974, XI⫺ LXXXV (ungekürzter Text nach der Ausg. Lissabon 1624); id.: Obscuros e marginados. Estudos de cultura portuguesa. Lissabon 1980, 29⫺83. ⫺ 2 T., G. F.: Primeira, Segunda, e Terceira Parte dos Contos e Histo´rias de Proveito & Exemplo. Dirigidos a Rainha Nossa Senhora. Lissabon 1595; id.: Contos e Histo´rias de Proveito e Exemplo. ed. C. Nobre. Leiria 2003. ⫺ 3 id.: Introduc¸a˜o. In: T., G. F.: Contos & Histo´rias de Proveito & Exemplo (Faks. der Ausg. 1575). Lissabon 1982, VII⫺XII; id.: Contos & Histo´rias de Proveito & Exemplo. Parte primeira. Lissabon 1575; id.: Segunda Parte dos Contos, & histo´rias de proveito & exemplo. Dirigido a´ Rainha nossa senhora. Lissabon 1575/76 [?]. ⫺ 4 id. 1974 (wie not. 1) (Klassifizierung nach Cardigos).
S. Pedro de Moel
Cristina M. A. Nobre
Tränen, eine salzige, vom J Auge abgesonderte Körperflüssigkeit, begleiten das Weinen, manchmal das J Lachen und zeigen mithin starke J Gefühle wie J Trauer, Schmerz, Rührung, Scham, J Zorn, aber auch Freude an; eine Schutzfunktion für das Auge haben T. u. a. bei Rauch und übergroßer Kälte. Die Erblindung durch ständiges Weinen war eine der Antike durchaus vertraute Vorstellung. In diesen zwar naturgegebenen, aber doch auch kulturell bedingten Funktionen1 sind T. in Symbolik2, Ikonographie und J Affektschilderung in Lit., Lied und Film (von der Heldendichtung bis zur Trivialliteratur und Popmusik) präsent. Sie begegnen in Redensarten (,Jeman-
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dem keine T. nachweinen‘)3 und im oft nüchternen, skeptischen und illusionslosen Sprichwort (,T. bringen niemand aus dem Grabe zurück‘; ,T. über fremden Kummer trocknen leicht‘)4. In Mythos und Natursage dienen T. der kosmogonischen Deutung von Naturerscheinungen und der Erklärung markanter Tier- und Pflanzeneigenschaften. So fallen im griech. Mythos die T. der trauernden Eos als J Tau auf die Erde5. Auch Quellen, Flüsse und Seen glaubt man in Mythen durch T. entstanden (Mot. A 911, A 920.1.5, A 941.2)6, die Bienen im ägypt. Mythos aus den T. des Schöpfergottes Re7, Pflanzen (meist Blumen) in der bes. in Osteuropa verbreiteten ätiologischen Sage aus den T. Marias8. Ein Fisch hat rote Augen, weil er bei der Passion J Christi blutige T. geweint hat, und wird daher Rotauge genannt9. In Märchen werden flüchtige T. geadelt, wenn sie zu dauerhaften und kostbaren Perlen werden (Mot. D 1454.4.2), auch im Sinne einer Duldsamkeitsideologie verstanden als Symbol für die Bereitschaft von Heldinnen, sich auf die formende Kraft des Leidens einzulassen10. Vergossen werden Perlentränen hier meist von Unschuldigen und Opfern: von der Tochter, die der habsüchtige Vater zum Weinen bringt, um den wundersam erzeugten Schmuck zu verkaufen (AaTh 836 A*: Tears of Pearl), vor allem aber von Mädchen und Frauen, denen diese Fähigkeit als Gabe oder zum Dank gewährt wird und die in einigen Märchen hierdurch das Interesse von Freiern erwecken (AaTh 533*/ATU 404: The Blinded Bride, AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut)11. Seltener als Perlenweinen sind goldene T., wie sie z. B. Freya, die germ. Göttin der Liebe und der Fruchtbarkeit, auf der Suche nach ihrem Gatten weint12. Auch die aus T. erfolgte magische Geburt hat in griech. Fassungen zu AaTh 301 B/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen) adelnde Funktion13. T. können, etwa in KHM 12, AaTh/ATU 310: J Jungfrau im Turm, Blindheit heilen oder fungieren als Abwehrzauber gegen den Teufel (KHM 31, AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände). T. beleben, ihnen entsprießen Pflanzen, und sie bringen das von Aschenputtel (KHM 21, AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella) auf dem Grab ihrer Mutter begossene Reis zum Wachsen. Sie erwecken den Versteinerten
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Tränen
(J Versteinerung) zu neuem Leben (AaTh/ ATU 516: Der treue J Johannes)14. Auch beim Anblick der Schönheit fließen sie (Motiv des ,Schönheitsschocks‘)15. Wegen des Fehlens innerseelischer Vorgänge im Märchen zeigen T. dort, wo es um Trauer und Leid der Figuren geht, oft deren Gefühle an16. Häufig rufen sie, hier von kommunikativem und durchaus praktischem Wert17, Helfer auf den Plan, wenn die hilflosen Helden oder Heldinnen sich in einer ausweglosen Situation befinden, etwa eine scheinbar unlösbare J Aufgabe bewältigen müssen18. Die T., die aus den Augen der Prinzessin in das Gesicht des J Drachentöters (AaTh/ATU 300) oder eines anderen Helden fallen, wecken diesen (gerade noch rechtzeitig) zum Kampf mit dem Drachen oder einem anderen Ungeheuer19. T. helfen auch, wenn sie, teilweise mit J Reue verbunden, so lange von einer Frau vergossen werden, bis sie ein bestimmtes großes Maß erreichen, z. B. Krug, Kübel oder Schüssel füllen (AaTh/ATU 315: Die treulose J Schwester). Umgekehrt gilt es in der Trostgeschichte vom J Tränenkrüglein (AaTh/ATU 769), das Maß der T. und der Trauer kleinzuhalten, da zu viele durch die Mutter vergossene T. die Totenruhe ihres Kindes stören. In Heiligenlegenden und Exempla, die auf die reichen, ebenso leiderfahrenen wie trostspendenden T.bilder der Bibel zurückgreifen, begegnet vor allem das ,geistliche Weinen‘. Fromme T. werden aus Reue und J Buße20, Sehnsucht nach Gott oder Mitleid mit dem gekreuzigten Christus vergossen21: eine Fähigkeit, die als Gnade wahrgenommen und als T.gabe bezeichnet wird22. T. läutern und waschen J Sünden ab. Bes. Eindruck hinterlassen T., wenn sie als T.strom vergossen werden. Außergewöhnlich und wundersam erscheinen in der Legende die von Heiligen oder der Gottesmutter Maria geweinten T. aus Blut (J Blutwunder)23. Umgekehrt bewirkt nach populären Vorstellungen die Gottesferne der J Hexen, daß sie keine oder nur wenige T. weinen können24. Erstaunlich oft signalisieren T. in Sprichwort und Redensart als allg. Phänomen Unehrlichkeit (z. B. ,Die T. der Buhlerin sind immer bereit‘)25 und Heuchelei (Krokodilstränen). In Fabel und Tiermärchen warnt ein schlauer Vogel Artgenossen, welche die vor
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Kälte wässerigen Augen eines Fallenstellers für einen Ausdruck von Mitgefühl halten, dies sei eine J Täuschung (ATU 233 D: The Birds and the Fowler). In Märchen aus dem südl. Afrika werden T. mit Speichel vorgetäuscht26 oder umgekehrt geleugnet, indem Rauch als Ursache angeführt wird27. Unaufrichtige, irreführende und bewußt täuschende T. begegnen u. a. in der schwankhaften Erzählung von der weinenden J Hündin (AaTh/ATU 1515), deren T. eine listige Kupplerin einsetzt, um eine keusche Frau dem Verlangen eines Mannes gefügig zu machen28. 1 Esser, A.: Das Antlitz der Blindheit in der Antike. Leiden 21961, 24 sq.; Das weinende Saeculum. Colloquium […] Schloß Dyck vom 7.⫺9. Okt. 1981. Heidelberg 1983; Berkenbusch, G.: Zum Heulen. Kulturgeschichte unserer T. B. 1985; Lange, M. E.: Telling Tears in the English Renaissance. Leiden/ N. Y./Köln 1996; Lutz, T.: Crying. The Natural and Cultural History of Tears. N. Y. u. a. 1999. ⫺ 2 Lurker, M. (ed.): Wb. der Symbolik. Stg. 51991, 764 sq. ⫺ 3 Röhrich, Redensarten 3, 1634. ⫺ 4 Wander 4, 1163⫺1166, hier 1164 sq.; M[umprecht], V.: Weinen. In: Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi 12. B./N. Y. 2001, 446⫺452. ⫺ 5 Lurker, M.: Lex. der Götter und Dämonen. Stg. 21989, 128; cf. auch Dh. 2, 257; Schmidt 2, num. 98, 197 (E 4). ⫺ 6 Rose, H. J.: The River of Tears. In: The Classical Review 42 (1928) 171; Ovid, Metamorphosen 6,392⫺400. ⫺ 7 Lex. der Ägyptologie 1. Wiesbaden 1975, 788. ⫺ 8 Dh. 2, 255⫺257. ⫺ 9 Dh. 2, 226. ⫺ 10 Maennersdoerfer, M. C.: Schicksal und Wille in den Märchen der Brüder Grimm. Diss. Bonn 1964, 104. ⫺ 11 Ara¯js/Medne, num. *786*; Marzolph 403; cf. Eberhard/Boratav, num. 240; Hahn, num. 28 (griech.); Tegethoff, E.: Frz. Märchen 2. MdW 1923, num. 47; Roberts, W. E.: The Tale of the Kind and the Unkind Girls. B. 1958, 92; Scherf, 1321⫺1325. ⫺ 12 Grimm, Mythologie 1, 253; Polome´, E. C.: Freyja. In: Reallex. der Germ. Altertumskunde 9. B./N. Y. 2 1995, 584⫺587; cf. auch Eberhard/Boratav, num. 239 (IV); Scherf, 6 sq. ⫺ 13 EM 10, 1366. ⫺ 14 Hahn, num. 29 (griech.); HDM 2 (1934⫺40) 394. ⫺ 15 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Göttingen 2 1990, 19 sq., 34. ⫺ 16 id.: Das europ. Volksmärchen. Tübingen/Basel 101997, 14 sq. ⫺ 17 Bies, W.: Praktische T. Über das Weinen im Märchen. In: Märchenspiegel 18,4 (2007) 15⫺22. ⫺ 18 Lüthi (wie not. 15) 154, 159. ⫺ 19 Hahn, num. 64, 70; Eberhard/Boratav, num. 198 (III). ⫺ 20 cf. auch BP 3, 465. ⫺ 21 Tubach, num. 1117, 1239, 3579, 4105, 4421, 4713⫺ 4721; Weinand, H. G.: T. Unters.en über das Weinen in der dt. Sprache und Lit. des MA.s. Bonn 1958, 28⫺40, 143; Brückner, 238; Brednich, R. W./Kurrus, K.: Das Endinger „T.mirakel“ von 1615 im Lichte zeitgenössischer Dokumente. In: Alemann. Jb. 1971/ 72 (1973) 105⫺128; Moser, D.-R.: Die Tannhäuser-
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Tränenkrüglein
Legende. B./N. Y. 1977, 29, 60; id.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, Reg. s. v. T.; Herzog, U.: Geistliche Wohlredenheit. Die kathol. Barockpredigt. Mü. 1991, 207 sq. ⫺ 22 Dinzelbacher, P.: T.gabe. In: Lex. des MA.s 8. Mü./Zürich 1997, 935; Plattig, M.: T.gabe. In: LThK 10 (32001) 165. ⫺ 23 Toldo 2 (1902) 96; Vollmer, R.: Die Exempel im „Wunderspiegel“ des P. Benignus Kybler S. J. von 1678. Würzburg 1989, num. 744; Schleusener-Eichholz, G.: Das Auge im MA. 2. Mü. 1985, 723⫺759, hier 741 sq. ⫺ 24 Seligmann[, S.]: T. In: HDA 8 (1936⫺37) 1106 sq.; Dinzelbacher (wie not. 22). ⫺ 25 Wander 4, 1164. ⫺ 26 Schmidt 2, num. 470. ⫺ 27 ibid., num. 470, 522, 853 (11), 935. ⫺ 28 Wolff, E.: Unters.en über die Geschichte von der weinenden Hündin. Mü. 1911, 39⫺42.
Berlin
Werner Bies
Tränenkrüglein (AaTh/ATU 769), Exemplum über die J Trauer um einen verstorbenen engen Verwandten: Um dem J Toten nicht zu schaden, dürfe die Trauer nicht zu intensiv sein. Diese weltweit verbreitete Glaubensvorstellung ging in die verschiedensten Erzählungen ein, fand jedoch bes. Ausdruck im Erzähltyp AaTh/ATU 769, der sich auf der Grundlage des christl. Auferstehungsglaubens entwickelte1. Typbildend bes. für europ. Ausprägungen ist die einepisodische Erzählung vom toten J Kind und seiner obsessiv weinenden J Mutter2. Eine Mutter weint ohne Unterlaß um ihr verstorbenes Kind. In einer Vision sieht sie ihr Kind im Paradies (nachts an ihrem Bett). Es erklärt, daß ihre Tränen es daran hinderten, Ruhe zu finden. Sein naßgeweintes Gewand (mit Tränen gefüllter Krug, den es tragen muß) hindere es, Anschluß an die Prozession der jubelnden Paradiesbewohner zu bekommen (seine Ruhe in einem trockenen Grab zu finden). Die Mutter hört auf zu weinen und wendet sich Gott und den Armen zu (erträgt ihr Leid stumm). Das Kind ist nun glückselig im Himmel (beruhigt im Grab).
Var.n dieses Erzähltyps sind in den ältesten Fassungen für den christl. Nahen Osten und nachfolgend für West-, Süd- und Osteuropa belegt und bis nach Südafrika gelangt3. Der älteste Beleg (9. Jh.) stammt von syr. Christen4. Die didaktische Aussage unter Bezug auf das N. T. (1. Thess. 4,13) ist, daß übermäßige individuelle Trauer nur durch Hinwendung zu Gott transzendiert werden kann: Indem die Frau sich Gott zuwendet, kann sie
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ihre Trauer aufgeben und gesteigerte Lebenskräfte entwickeln, die sie befähigen, durch Hinwendung zu den Armen einen neuen Lebenssinn zu gewinnen. Den frühesten Beleg für Europa bietet das Bonum universale de apibus (2,53,17; ca 1270) des J Thomas Cantipratanus5: In der Folgezeit wurde das Exemplum ins Französische (1372) und im Kontext der Laienbewegung der Devotio moderna 1451 in das Niederländische übersetzt6. Jean Gerson schrieb es 1403 in der Consolation sur la mort des amis nieder und verwendete es 1407 in Paris in einer Predigt7; der Straßburger Prediger Johann J Geiler von Kaysersberg bot eine Fassung in seinem Trostspiegel (1503) dar8. Antoine de J La Sale verfaßte 1457/58 einen Kondolenzbrief an Madame de Fresne, der sich des Exemplums bediente9. Das J Speculum exemplorum von 1481 (5, num. 119) bzw. das Magnum speculum exemplorum von 1603 (Defuncti, num. 10) mit ihren Nachdr.en bildeten für Jh.e die Referenzwerke, welche die Beispielerzählung für den Gebrauch auch der weniger gelehrten Prediger bis ins 18. Jh. hinein tradiert haben10. Flugschriften zeigen, daß das Exemplum seit dem 17. Jh. nicht ausschließlich von Predigern verwendet wurde, sondern auch von Laien, die es einerseits für Trauergottesdienste, andererseits aber auch für Veröff.en verschiedener Art benutzten, z. B. als Epicedium von G. Ritzsch (Threnen-Krüglein, 1627)11, als Zeitungslied (1687, nur hs. in einem Liederbuch von ca 1760⫺64)12 und als Lieddruck (Von einem armen Weib und einem kleinen Kind, 1705). In diesen Fassungen fand die Verschiebung vom Requisit des tränenschweren Gewandes auf die sekundäre, leichter verständliche Vorstellung des T.s statt, möglicherweise unter Einfluß von Ps. 56,9 („Gott, sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie.“). W. J Rauscher und C. von Burghausen brachten die Geschichte noch einmal als klassisches Exempel in traditioneller Form auf die Kanzel13. Im 19. Jh. begegnet AaTh/ATU 769 innerhalb von Märchen und Sagen. U. d. T. Das Todtenhemdchen nahmen die Brüder J Grimm eine Fassung in die J Kinder- und Hausmärchen auf (KHM 23 [1812]; KHM 109 [21819])14. Die Vorlage könnte der Münchner Arzt J. N. Ringseis (1785⫺1880) beigesteuert haben, der
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Transfiguration ⫺ Trauer
die Geschichte selbst als Trostgeschichte therapeutisch eingesetzt hat15; vielleicht war auch der Bruder F. P. J Grimm der Informant16. W. Grimm änderte die Erzählaussage nicht, arbeitete die Figur des toten Kindes jedoch stärker und anschaulicher heraus. In der Mutterdarstellung entsprach die Bearb. den gesellschaftlichen Erwartungen des 19. Jh.s. Mehr noch als KHM 109 fand das Exemplum in der Bearb. L. J Bechsteins (zuerst 1845)17 bis ins frühe 20. Jh. Verbreitung (auch in Lesebüchern18). Dies hängt wohl primär damit zusammen, daß er statt des Totenhemdchens das eingängigere Bild des T.s verwendete. Bechsteins Vorlage ist nicht bekannt, dürfte aber das gleichnamige Gedicht des Landschaftsmalers und religiös ausgerichteten Dichters Friedrich Christian Beck (1808⫺88) sein, dessen Text er in streckenweise wortgleicher Prosa adaptierte19. In den frühen 1840er Jahren griff J. W. J Wolf die lat. Exempelfassung des Thomas Cantipratanus wieder auf: 1843 publizierte er sie u. d. T. Moedertranen in fläm., 1845 u. d. T. Mutterthränen in dt. Sprache20. In jüngster Zeit findet sich die T.-Thematik in den Fassungen der Brüder Grimm und Bechsteins im Internet wieder und wird als Tröstungsgeschichte in Trauerforen verwendet21. 1
Meuli, K.: Das Weinen als Sitte. In: id.: Gesammelte Schr. 1. ed. T. Gelzer. Basel/Stg. 1975, 353⫺ 385; Hansen, W.: Ariadne’s Thread. Ithaca/L. 2002, 92⫺95. ⫺ 2 BP 2, 485⫺490; Meuli, K.: Vom T., von Predigerbrüdern und vom Trösten [1943]. In: id. (wie not. 1) 387⫺435. ⫺ 3 Coetzee. ⫺ 4 cf. Maennersdoerfer, M. C.: Das Exempel der obsessiven Trauer in seinen frühesten Textzeugnissen und Lebenszusammenhängen. In: Jb. für Europ. Ethnologie 1 (2006) 59⫺80, hier 60 sq.; ead.: Das Exempel der obsessiven Trauer und seine Transformationen. ibid. 2 (2007) 63⫺82; Hinweis auf eine auf 1512 datierte arab. Übers. bei Graf, G.: Geschichte der christl. arab. Lit. 1. Vatikanstadt 1944, 554. ⫺ 5 cf. Maennersdoerfer 2006 (wie not. 4) 64⫺71. ⫺ 6 StutvoetJoanknecht, C. M.: Der Byen Boeck. Amst. 1990, * 57⫺*58, *161. ⫺ 7 Gerson, J.: Œuvres comple`tes 7. P./Tournai/Rom/N. Y. 1966, xv, xxv, 316⫺326. ⫺ 8 Johannes Geiler von Kaysersberg: Sämtliche Werke 1. ed. G. Bauer. B. 1989, 201⫺235; Uther, H.-J.: Märchen vor Grimm. MdW 1990, num. 46. ⫺ 9 Neve, J. (ed.): Antoine de la Salle. Sa vie et ses ouvrages. (P. 1903) Nachdr. Genf 1975, 102⫺104. ⫺ 10 cf. Alsheimer, R.: Das Magnum Speculum Exem-
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plorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Ffm. 1971, 48. ⫺ 11 Ritzsch, G.: Threnen-Krüglein. Lpz. 1627. ⫺ 12 DVldr 5, 327⫺330. ⫺ 13 Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 70. ⫺ 14 BP 2, 486⫺490; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 245 sq. ⫺ 15 Maennersdoerfer 2007 (wie not. 4) 69⫺72. ⫺ 16 EM 6, 170 (not. 3). ⫺ 17 Bechstein, L.: Dt. Märchenbuch. Lpz. 1845, 109 sq. ⫺ 18 Tomkowiak, 257 sq. ⫺ 19 Maennersdoerfer 2007 (wie not. 4) 75⫺78. ⫺ 20 Wolf, J. W. (ed.): Moedertranen. In: Wodana 2 (1843) 152 sq.; id.: Dt. Märchen und Sagen. Lpz. 1845, num. 42. ⫺ 21 Maennersdoerfer, M.-C.: Das T. im Internet. In: Jb. für Europ. Ethnologie 3 (2008) 203⫺220.
Siegburg
Maria Christa Maennersdoerfer
Transfiguration J Verwandlung
Trauer 1. Allgemeines ⫺ 2. Brauchhandlungen und Verhaltensvorschriften ⫺ 3. T. in Volkserzählungen
1 . All ge me in es. T. bezeichnet ein J Gefühl, das nach einem als schmerzhaft empfundenen Verlust einer Person, eines Tieres oder Objektes eintritt und der Bewältigung dient. Auch der Verlust ideellen Besitzes wie Vaterland, Freiheit oder von Teilen der eigenen Biogr. (durch Arbeitslosigkeit, Trennung) kann T. auslösen1. In der Emotionspsychologie gilt T. als eines der sog. Basisgefühle, die als universelle Konstante bei allen Kulturen anzutreffen sind2. Die Kulturwissenschaften bezeichnen mit T. sowohl die Emotion als auch deren Ausdrucksformen. Wahrnehmbar sind vor allem Weinen (J Tränen) und J Klagen sowie entsprechende Mimik, Gestik und Körperhaltung. T. und in abgeschwächter Form Traurigkeit weisen in Bezug auf ihren Bedeutungszusammenhang und ebenso in semantischer Hinsicht eine starke Affinität zu Melancholie, schmerzlicher Verstimmung, Leid (J Tragik) und J Qualen auf. Bes. schmerzhaft und langwierig ist die Verarbeitung von plötzlichen Todesfällen durch Unfall, Tötung oder Suizid eines geliebten Menschen. In der Psychologie wird davon ausgegangen, daß T. in verschiedenen Phasen verläuft, deren Durchleben für die Verarbeitung des Verlustes signifikant ist3. T. kann dabei
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Trauer
von Symptomen wie Schlafstörungen und Appetitlosigkeit, Apathie sowie dem Wunsch nach Zurückgezogenheit begleitet sein. Der Ausdruck von T. in Worten, Gebärden, Zeichen und Symbolen unterliegt festen Regeln und Konventionen, die je nach Tradition oder gesellschaftlichem bzw. regionalen Bezug variieren. Die Vorstellungen über die angemessene Art und Weise sowie die Dauer der T.zeit sind im kulturellen Kontext verankert und differieren im hist. Verlauf. Während im frühen MA. in Westeuropa heftige, spontane Beweinungen und gebärdenreiche T.bekundungen erwartet wurden, gaben im hohen MA. kirchliche Riten das Verhalten vor4. Erst seit dem 19. Jh. verloren kirchliche Normen durch den Prozeß der Säkularisierung sowie die Bestattungsgesetzgebung an Einfluß. Das Verständnis von T. als Pflicht, die von der Gesellschaft oder einer Gruppe auferlegt war, wich der Bewertung von T. als innerer Regung und Zeichen persönlicher Sensibilität5. Bes. im Verlauf des 20. Jh.s lösten sich in vielen Regionen und Gesellschaften verbindliche Vorschriften und Verhaltenskodizes auf, so daß T. aus dem sozialen Umfeld ausgelagert und zur Privatangelegenheit wurde6. T.bräuche, die die öffentliche Ordnung störten oder mit (Selbst-)Zerstörung verbunden waren, führten schon in röm. Zeit zu Verboten durch den Staat, später auch durch die Kirchen7. Übergroße T. widerspricht dem christl. Auferstehungsglauben, wie auch die Erzählung vom J Tränenkrüglein (AaTh/ATU 769) zeigt8. 2 .B ra uc hh an dl un ge n u nd Ve rh al t en sv or sc hr if te n. T.- und Bestattungsbräuche bieten Halt und erleichtern den Umgang mit Trauernden; T.zeiten gewähren dem Schmerz Raum und begrenzen ihn zugleich. Zu den sozialen T.vorschriften zählen temporäre Geselligkeitsverbote und Enthaltsamkeitsregeln, die der psychischen Verfassung der Hinterbliebenen Rechnung tragen: Fastengebote, Isolation, Vermeidung von Vergnügungen, Feiern, Spielen und Musik9. Die Weltreligionen schreiben unterschiedliche Verhaltensregeln in Bezug auf Kleidung, Essen, Kommunikation und Gebete vor10. Der J Tod soll zumeist als Ausdruck göttlichen Willens angenommen, Trost durch die Vorstel-
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lungen von Auferstehung, Übergang, J Wiedergeburt oder J Seelenwanderung vermittelt werden. Die soziale Gemeinschaft von Familie und Nachbarn gibt Unterstützung in Form von Gesellschaft und der Versorgung mit Speisen. Die Beendigung der T.zeit, die von einigen Tagen bis zu einem Jahr, in einzelnen Fällen sogar darüber hinaus reichen kann, wird in einigen Kulturen als Reintegration ins Leben durch ein Fest oder eine Reinigungszeremonie begangen11. Gedenktage und Denkmäler sind Repräsentanten öffentlicher T., bes. im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen des 20. Jh.s12. In spontanen öffentlichen T.bekundungen manifestiert sich Mitgefühl von nationalem Ausmaß, wie Reaktionen auf den Tod von Personen mit (inter)nationaler Bedeutung zeigen (z. B. die Ermordung des schwed. Ministerpräsidenten Olof Palme oder der Unfalltod von Diana, Princess of Wales)13. Weitere öffentliche Beileidsbekundungen gelten vor allem verunglückten oder ermordeten Kindern. Hier zeigt sich auch der Einfluß der Medien14. Straßenkreuze an Verkehrwegen markieren Unfallorte und machen die Straßen zum öffentlichen T.raum15. Die Grenze von öffentlichem und privatem Bereich wird ebenfalls überschritten im Fall von T.foren im Internet sowie T.bekundungen auf virtuellen Friedhöfen, die den Wunsch nach T.orten und Unterstützung abbilden16. Diesem Bedürfnis entspricht ebenfalls das wachsende Angebot an Ratgeberliteratur. Äußerliche T.zeichen drücken Schmerz aus und markieren den Status; zudem machen sie die Trauernden (gegebenenfalls unter J Tabu stehend) kenntlich. Dazu zählen das Zerreißen der Kleidung, das Scheren oder Raufen der Haare (Mot. F 1041.21.6) sowie Schneide- und Kämmverbote (J Kamm, kämmen)17. Bei T.kleidung wurden und werden zumeist schwarz oder dunkle Farben bevorzugt18. Trauernde jüd. Konfession zeigen ihren Schmerz mit einem Riß in der Kleidung an (Mot. P 678.1). In der T.mutilation (Mot. F 1041.21.6.2) manifestiert sich ein extremer Ausdruck von T.: Die J Selbstverstümmelung, z. B. durch Abtrennen eines Fingergliedes, wird entweder als Buße bzw. Selbstbestrafung gewertet oder als Möglichkeit, den Schmerz zu kanalisieren19.
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Trauer
3 . T. i n Vol ks er zä hl un ge n. Gefühle geben einer Erzählung Zielgerichtetheit (J Emotionskomponente); sie sollen durch Prozesse wie J Identifikation, Sympathie, Empathie und Katharsis Empfindungen bei der Hörerschaft hervorrufen. Das wird sowohl über die Handlung selbst als auch über J Affekte gesteuert, z. B. traurige Gestimmtheit, d. h. Mitgefühl für die ungerechte Behandlung von Kindern durch ihre Eltern (AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel) oder für die Armut und Einsamkeit eines jugen Mädchens (AaTh/ATU 779 H*: J Sterntaler). Das hat dazu geführt, daß Märchen auch in der Psychotherapie sowie bei der T.begleitung eingesetzt werden20. Tränen zeigen vor allem in Märchen, wegen des Fehlens der Darstellung innerseelischer Vorgänge, T. und Leid der Figuren an. Eine bes. Form des Verlustes eines geliebten Menschen ist die T. aus Liebe. Liebende, die nicht zusammenkommen dürfen, sterben; aus ihren Gräbern wachsen Bäume, die sich miteinander verschlingen (AaTh/ATU 970: J Grabpflanzen). Um den verwünschten Partner wiederzufinden, begeben sich Held oder Heldin auf eine J Suchwanderung wie etwa in AaTh/ATU 310: J Jungfrau im Turm oder AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder. In AaTh/ ATU 434: Der gestohlene J Spiegel ist die Prinzessin traurig, weil ihr ein bes. Gegenstand (vom Tierbräutigam) gestohlen wurde oder weil ein geliebter Vogel ausbleibt. Kinder trauern um den Tod eines Elternteils (AaTh/ ATU 510 A: cf. J Cinderella). Angehörige trauern wegen der Verzauberung eines geliebten Menschen (AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen). Die T. kann sogar wie in AaTh/ATU 300: cf. J Drache, Drachenkampf, Drachentöter auf die Bewohner einer ganzen Stadt übergreifen, in der die Gebäude wegen der Opferung einer Jungfrau schwarz verhangen werden. Ehepaare sind bekümmert über ihre ungewollte Kinderlosigkeit (J Unfruchtbarkeit), eine verwünschte Figur, weil die Auflagen zu ihrer Erlösung nicht erfüllt worden sind (AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau). In einem weitverbreiteten Märchen hat ein König ein lachendes und ein weinendes Auge (AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter, AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens)21; er ist traurig, weil er eine
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heikle Aufgabe erfüllen (in den Krieg ziehen) muß22. Viele Märchen handeln davon, daß eine traurige Prinzessin von einem einfachen jungen Mann zum J Lachen gebracht werden muß. Dafür erhält er sie zur Frau. Ein verbreitetes Motiv in Märchen und Sage ist auch die T. um vermeintlich Tote (AaTh/ATU 709: J Schneewittchen). In Schwänken und Witzen bedeutet exzessiver Ausdruck von T. nicht unbedingt exzessiven Schmerz (Mot. J 261). Das bekannteste Beispiel geheuchelter T. ist AaTh/ATU 1510: J Witwe von Ephesus: Eine Frau scheint untröstlich in ihrer T. um den verstorbenen Ehemann, läßt sich aber mit einem Soldaten ein, dem die Bewachung der Leiche obliegt. Solche schwankhaften Geschichten spielen auch mit J Mißverständnissen und brechen die Erwartungshaltung auf. Statt Mitgefühl oder Ehrfurcht gegenüber den Verstorbenen und T. wird eine völlig unerwartete Reaktion gezeigt, die mit der Realität nichts mehr zu tun hat, z. B.: „Frau Meier, Ihr Mann ist von einer Dampfwalze überfahren worden.“ ⫺ „Ich bin gerade in der Badewanne. Schieben Sie ihn doch bitte unter der Tür durch.“23 Der schematisierte Charakter von T.bräuchen wird entlarvt, wenn die Verwandte von außerhalb beim T.besuch fragt: „Frau Bas’, wie ist denn dös hier Brauch, woant ma bi Euch schon im Haus oder erst am Friedhof ?“24 Auch Einfältigkeit führt zu unbedachtem, unangemessenem Verhalten im T.fall25 oder zu ungeschickter, doppeldeutiger Wortwahl, die das Bild der Verstorbenen ungewollt besudelt26. Wortwörtliches Verstehen von Äußerungen kann T.fälle persiflieren: Eine Frau beklagt den Tod ihres Mannes laut auf der Straße. Er sei an einen Ort gegangen, wo es dunkel ist und es nichts zu essen und zu trinken gibt. Ein Junge (Narr) nimmt diese Äußerungen wörtlich, läuft nach Hause und berichtet seinem Herrn aufgeregt, daß bald eine Leiche ins Haus gebracht werde (ATU 1346: The House without Food or Drink). Ein Dummkopf stellt sich tot, um herauszufinden, wie es um die T. seiner Verwandten bestellt wäre; er stirbt wirklich27. In einem bekannten Predigtschwank weint eine Frau während der Predigt nicht vor Ergriffenheit, sondern aus T. um ih-
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Traum
ren verstorbenen Esel (Ziege), an den sie der Pfarrer erinnert (AaTh/ATU 1834: J Pfarrer mit der feinen Stimme). 1 Freud, S.: T. und Melancholie [1917]. In: Mitscherlich, A. (ed.): Psychologie des Unbewußten. Ffm. 1975, 193⫺212, hier 197; Feldmann, K.: Tod und Gesellschaft. Sozialwiss. Thanatologie im Überblick. Wiesbaden 2004, 270. ⫺ 2 Ekman, P.: An Argument for Basic Emotions. In: Cognition and Emotion 6 (1992) 169⫺200. ⫺ 3 Kast, V.: T. n. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Stg. 1982. ⫺ 4 Arie`s, P.: Geschichte des Todes. Mü. 1980, 184⫺189; Meuli, K.: Entstehung und Sinn der T.sitten. In: SAVk. 43 (1946) 91⫺109, hier 93⫺96 (zum öffentlichen T.weinen noch in der Schweiz des 20. Jh.s). ⫺ 5 Winkel, H.: Soziale Grenzen und Möglichkeiten der Kommunizierung von T. In: Schützeichel, R. (ed.): Emotionen und Sozialtheorie. Ffm./N. Y. 2006, 286⫺304, hier 289. ⫺ 6 Stearns, P. N./Knapp, M.: Historical Perspectives on Grief. In: Harre´, R./Parrott, W. G. (edd.): The Emotions. Social, Cultural and Biological Dimensions. L. 1996, 132⫺150, hier 148. ⫺ 7 Lysaght, P.: Caoineadh os Cionn Coirp. The Lament for the Dead in Ireland. In: FL 108 (1997) 65⫺82, hier 67. ⫺ 8 cf. Stubbe, H.: Formen der T. Eine kulturanthropol. Unters. B. 1985, 187. ⫺ 9 cf. Geiger, P.: T. In: HDA 8 (1936⫺37) 1130⫺1140. ⫺ 10 Parkes, C. M./Laungani, P./Young, B. (edd.): Death and Bereavement across Cultures. L./N. Y. 1997. ⫺ 11 Stubbe (wie not. 8) 125; Ecker, G. (ed.): T. tragen ⫺ T. zeigen. Inszenierungen der Geschlechter. Mü. 1999. ⫺ 12 Loraux, N.: Die T. der Mütter. Ffm./ N. Y. 1992; Damousi, J.: The Labour of Loss. Mourning, Memory and Wartime Bereavement in Australia. Cambr. 1999; Acton, C.: Grief in Wartime. Private Pain, Public Discourse. Basingstoke/ Houndmills 2007. ⫺ 13 cf. Bennett, G./Rowbottom, A.: „Born a Lady, Died a Saint.“ The Deification of Diana in the Press and Popular Opinion in Britain. In: Fabula 39 (1998) 197⫺208; Thomas, J.: Diana’s Mourning. Cardiff 2002; Björk, G.: Olof Palme och medierna. Umea˚ 2006; Gustavsson, A.: Rituals Around Sudden Death in Recent Years. In: Folklore. Electronic J. of Folklore 38 (2008) 23⫺44. ⫺ 14 Eigenmann, D.: Wenn Medien trauern. In: Glarner, H.-U.: Last Minute. Baden 1999, 240⫺245. ⫺ 15 Everett, H.: Roadside Crosses in Contemporary Memorial Culture. Denton, Tex. 2002; Aka, C.: Unfallkreuze. T.orte am Straßenrand. Münster/N. Y./ Mü./B. 2007. ⫺ 16 Spieker, I./ Schwibbe, G.: Nur Vergessene sind wirklich tot. Zur kulturellen Bedeutung virtueller Friedhöfe. In: Herzog, M./Fischer, N. (edd.): Nekropolis. Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden. Stg. 2005, 229⫺242. ⫺ 17 Meuli (wie not. 4) 103. ⫺ 18 Stubbe (wie not. 8) 32⫺36; Geiger (wie not. 9). ⫺ 19 Stubbe (wie not. 8) 78; Meuli (wie not. 4) 106. ⫺ 20 Raile, J./Sommer, H.: Und wenn sie nicht gestorben sind … Märchen als Wegbegleiter für Abschied, Tod und T. Stg. 2007. ⫺
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Sorlin, E.: Le The`me de la tristesse dans les contes AaTh 514 et 550. In: Fabula 30 (1989) 279⫺294; ead.: La verte Jeunesse et la vieillesse me´lancolique dans des variantes roumano-hongroises de AaTh 551. In: Fabula 36 (1995) 79⫺97. ⫺ 22 z. B. Hahn, num. 101 (alban.); Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1867, num. 26. ⫺ 23 Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 147. ⫺ 24 Sartori, P.: Sitte und Brauch 1. Lpz. 1910, 10. ⫺ 25 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 670, 1001, 1229. ⫺ 26 ibid., num. 566. ⫺ 27 ibid., num. 1022.
Dresden
Ira Spieker
Traum. Der T. kann als geistige Aktivität1 oder als halluzinatorisches Erlebnis2 im J Schlaf definiert werden. T.e stehen bes. mit sog. REM-Schlafphasen in Zusammenhang, die etwa 20⫺30 % des Schlafs ausmachen. Im allg. werden nur die T.e erinnert, die mit der letzten REM-Phase verbunden sind3. Die Fähigkeit, sich an einen T. zu erinnern und ihn wiederzuerzählen, ist stark vom kulturellen Kontext des Träumers abhängig4. Als universelles Phänomen sind T.e vor allem Untersuchungsgegenstand von Philosophie, Religionswissenschaften, Kulturgeschichte, Ethnologie, Psychologie, Neurologie und Physiologie (J T.deutung, T.theorie). Die deutliche Mehrzahl von T.erzählungen (75⫺80 %) enthält negative, beunruhigende oder unangenehme Eindrücke, ihr stehen nur relativ wenige mit ausschließlich glücklichen Vorstellungen gegenüber5, und selbst in diesen spielen Ängste eine Rolle6. Manche Erzählungen können als T.e, die mit Schlafstörungen verbunden sind7, oder als Alpträume (cf. J Incubus und Succubus) identifiziert werden8. Nach dem plötzlichen Erwachen aus solchen T.en wird das Gefühl von Ersticken, Lähmung und Angst oft mit einem übernatürlichen meist weiblichen Wesen in Zusammenhang gebracht (cf. Mot. D 1812.5.1, Mot. F 471; Ephialtes9, Old Hag, Nachtmahr, Maren/Maran, Hagge, Schratteli, Alp etc.)10. T.e können als realen Begebenheiten gleichwertig angesehen und interpretiert werden. In vielen Kulturen existierten spezielle T.gottheiten, an die man sich um Hilfe, Leitung und Abbitte wenden konnte, so Ziqiqu oder sein Vater Mamu und der Sonnengott Schamasch bei den Akkadern, Zakar und der Mondgott Sin bei den Babyloniern11, der altägypt. Gott
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Traum
Bes, im alten Griechenland Hypnos und Morpheus. Bes. der T.bringer Morpheus ist in die europ. (literar.) Tradition eingegangen; in Überlieferungen des 19./20. Jh.s hat der J Sandmann diese Funktion übernommen. Seit der Antike wurden T.e als göttliche Botschaften angesehen. Im Gegensatz zu T.en ohne prognostischen Wert galten J Orakelträume und J Visionen (cf. J Jenseitsvisionen, J Jenseitswanderungen) als J Prophezeiungen. Sie konnten z. B. beim Aufenthalt an einem heiligen Ort empfangen werden12. Alpträume wurden als Strafe Gottes angesehen13. In der christl. Lit. des MA.s werden (nächtliche) Visionen oder Erlebnisse oft als Gottes Wille, göttliche Warnungen oder Botschaften an die Gläubigen aufgefaßt (J Weisung: Himmlische W. ). Visionserzählungen finden sich auch in isl. Sagas (Boberg F 1). In T.visionen spielt mitunter ein auditives Element, ,eine Stimme‘, eine Rolle. Charakteristisch ist, daß ,der Sprecher‘ am Kopf des Träumers steht (1. Sam. 3,10; Mot. V 510)14. T.e können Kenntnisse von Ereignissen an anderen (entfernten) Orten vermitteln: So erfährt J Odysseus von den Hochzeitsvorbereitungen für seine Frau (AaTh/ATU 974: J Heimkehr des Gatten; Mot. D 1813.1), ein Freund von der Ermordung des anderen (Cicero, De divinatione 1,57). Der Glaube an die Gleichzeitigkeit von Verbrechen und kündenden T.en liegt z. B. einer brit. Erzählung zugrunde15. Es existieren Berichte darüber, daß Seeleute und Fischer in T.en und Visionen mit ihren Familien eine Art telepathischen Kontakt hielten16. Auf ähnliche Weise konnte das Schicksal von Soldaten im Krieg oder von Abgesandten in den Kolonien lange vor Eintreffen eines Briefs bekannt werden17. Auch fromme Erzählungen berichten von Ereignissen und gleichzeitigen T.gesichten18. Rituale, die unverheiratete Frauen zu bes. Terminen (Johannisnacht, Epiphaniasnacht) vor dem Schlafengehen ausführten, sollten die Offenbarung des künftigen Ehemanns im T. bewirken (cf. AaTh/ATU 737: Who Will be Her Future Husband?)19. Die Vorstellung, daß der erste T. in einem neuen oder unbekannten Haus Erfüllung findet20, erscheint z. B. in der Jo´msvı´kinga saga21 und in populären Erzählungen (u. a. Madame de J Villeneuves Fassung von La Belle et la Beˆte [AaTh/ATU 425
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C: cf. J Amor und Psyche] und AaTh/ATU 671 E*: A Magic Boy)22. Mit der Erfindung der Lotterie im 16. Jh. wurde auch der T. von der gewinnbringenden Nummer Teil der Erzählüberlieferung23. In antiken Qu.n aus Mesopotamien, dem Nahen Osten und Griechenland werden T.e als Ausdruck menschlicher Gesundheit betrachtet. Platon zufolge waren die T.e einer gesunden Person gut und harmonisch (Politeia 10,1; cf. Cicero, De divinatione 1,60 sq.)24. Kranke und Kummergeplagte wie J Hiob litten unter Alpträumen (Hi. 7,13⫺15). In altnord. Qu.n wird eine Person, die keine T.e hat, für krank gehalten25. Der Schlaf eines Kranken im Tempel des Asklepios konnte einen T. bringen, aus dem eine geeignete Behandlung abgelesen werden konnte26. T.inkubationen sind aus alten wie zeitgenössischen Qu.n bekannt27. In vielen Kulturen finden sich Vorstellungen von Übergängen zwischen T. und Wachen28. T.e stehen in Zusammenhang mit dem Glauben an eine J Seele (Mot. E 721, E 730) und ihre Wanderungen (AaTh/ATU 1645 A: J Guntram; J External soul, cf. auch J Präanimismus). Altnord. T.erzählungen enthalten den Glauben an eine Seele in Tiergestalt (hamr) oder J Schutzgeister (fylgjen; Boberg E 720.1)29 sowie eine Reihe (symbolischer) J Seelentiere und -pflanzen (Mot. E 745). In Kulturen, in denen T.e dem religiösen Bereich zugeordnet wurden, war es möglich, ein schlechtes Omen durch Rituale und Gebete aufzuheben30. So bannte ein babylon. Ritual den bösen T. in einen Lehmklumpen, der durch Sympathiezauber in Wasser aufgelöst wurde31. In Erzählungen werden T.e als übernatürliche Phänomene behandelt, zur Dynamisierung der Handlung oder zur Erzielung literar. Effekte eingesetzt, z. B. in Form von Parabeln oder Travestien. In Volkserzählungen sind sie oft wenig detailliert dargestellt32. T.e sind mit dem J Schicksal verbunden und Teil der Persönlichkeit des einzelnen. Ähnlich wie bereits J Novalis betrachteten L. J Laistner und F. von der J Leyen T.e als Qu.n von Mythen, Sagen und Märchen33; H. J Bausinger sieht funktionale Parallelen zwischen T. und Phantasie, da sie Kompensationen für die Begrenztheit der Wirklichkeit seien34. In Zaubermärchen dominieren T.e, die wahr werden, oder es wird dem Protagonisten der
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Traum
Vorhersage entsprechend Hilfe zuteil. Der Held in AaTh/ATU 405: J Jorinde und Joringel erfährt im T. von einer Zauberblume, mit deren Hilfe er seine Geliebte zurückgewinnen kann. In AaTh/ATU 322*: cf. J Magnetberg findet der Protagonist mit Hilfe eines T.s nichtmagnetische Waffen. In Var.n von AaTh/ATU 305: J Drachenblut als Heilmittel erlangt der Held im T. Kenntnis von der verwundbaren Stelle des Drachen, in anderen davon, wie der König zu heilen sei. In Fassungen von AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes sieht der Held seine künftige Braut in einem T. (J Fernliebe); in anderen erfährt er, wie er den versteinerten Helfer wieder ins Leben zurückholen kann. Ein Mädchen erklärt in Var.n von AaTh/ATU 401 A*: The Soldiers in the Enchanted Castle den Soldaten im T. die Bedingungen der gestellten Erlösungsaufgabe. Fassungen von AaTh/ATU 425*: The Insulted Bridegroom Disenchanted enthalten einen T. von künftigem Reichtum. In einer engl. Var. von AaTh/ATU 312: cf. J Mädchenmörder erzählt die Braut von dem verborgenen Zimmer, als hätte sie es im T. gesehen35; der erfundene nächtliche T. wird hier als Parabel benutzt. AaTh/ATU 671 E* ist eines der wenigen Beispiele für eine T.deutungserzählung; in einer finn. Var. dieses Erzähltyps können T.e als persönlicher Besitz verkauft werden36. Das Motiv des T.verkaufs begegnet auch in dem brit. T. vom Tod des William Rufus37 und der mit AaTh/ATU 725: J Prophezeiung künftiger Hoheit verwandten Ballade Møens Morgendrømme38. In AaTh/ATU 725 erscheint ein bibl. Motiv (Gen. 37,7) in weltlichem Kontext; eine finn. Var. des Erzähltyps nutzt höhere Kräfte zur Übermittlung der göttlichen Botschaft39. Wohl im MA. entstanden und um 1840 in ca 70 Fassungen aus mündl. Überlieferung aufgezeichnet ist das norw. Visionsgedicht Draumkvædet (cf. AaTh/ ATU 681: J Relativität der Zeit)40. Hier träumt ein junger Knecht am Heiligabend von einer Jenseitsreise, in deren Verlauf er Fegefeuer, Hölle und Himmel sieht und zuletzt das Jüngste Gericht erlebt41. Legendenmärchen und Legenden bedienen sich des T.s oft zur Vermittlung einer didaktischen Botschaft oder zur Überleitung zur Moral der Erzählung (AaTh/ATU 801: J Meister Pfriem, AaTh/ATU 831: J Pfarrer als Teufel, AaTh/ATU 840: J Strafen im Jenseits). In
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AaTh/ATU 819*: The Devil’s Portrait zeigt ein Schutzengel einem Maler im T., wie er den Teufel malen kann; in AaTh/ATU 834: cf. J Schatz des armen Bruders mißlingt es dem reichen Bruder, Vorteil aus dem T. des armen, der sich als wahr erweisen wird, zu ziehen. In Sagen können T.e, in denen ein Schatz gefunden wird, wahr werden (AaTh/ATU 1645 A). Der J T. vom Schatz auf der Brücke (AaTh/ATU 1645) scheint zunächst unwahr zu sein, erst durch einen zweiten T. bewahrheitet er sich. Auch in Novellenmärchen werden T.e wahr, oder ein Abwesender erfährt, was zu Hause vorgeht (AaTh/ATU 974). Einige dieser T.geschichten stehen mit antiken Mythen oder Epen in Zusammenhang. Ein kinderloses Ehepaar macht sich aufgrund eines im T. erhaltenen Rats eine Puppe, die lebendig wird (AaTh/ ATU 898: J Sonnentochter). Ein reicher Mann erfährt, daß ein armer Junge seine Tochter heiraten werde, und versucht vergeblich, dies zu verhindern (AaTh/ATU 930 sqq.: J Uriasbrief ). AaTh/ATU 931: J Ödipus ist eine Schicksalsprophezeiung, welche die Form eines T.s haben kann. In Fassungen von AaTh/ATU 934: cf. J Todesprophezeiungen wird im T. Zeit und Art des Todes eines Neugeborenen vorhergesagt, wobei hier das auditive Element geläufig ist. Schwänke und Witze verspotten T.glauben, T.e und T.erzählungen auf verschiedene Weise. T.e werden als Ausrede benutzt: Entweder wird behauptet, man habe als wahr ausgegebene Abenteuer (AaTh/ATU 1364: J Blutsbruders Frau) oder kriminelle Handlungen nur geträumt (AaTh/ATU 1790: J Pfarrer und Küster stehlen eine Kuh), oder der T. wird als Legitimation für weitere Betrügereien benutzt (AaTh/ATU 1574: J Schneider mit der Lappenfahne, AaTh/ATU 1626: J T.brot). Unwahrscheinliche Ereignisse werden als T. ausgegeben (AaTh/ATU 1531: J Bauer wird König für einen Tag, cf. AaTh/ATU 1417: Die abgeschnittene J Nase). Wenn sich T. und Realität überlagern, kann der Träumer als Dummkopf entlarvt werden. In AaTh/ATU 1525 K* (cf. AaTh/ATU 1525 sqq.: J Meisterdieb, Kap. 9) erbittet ein Dieb den Rat seines schlafenden Opfers, und während das Opfer den Dieb im T. berät, wird es weiter beraubt. Mitunter erhofft sich der Träumer einen Ge-
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Traum
winn: In arab. Var.n von ATU 1543 A: The Greedy Dreamer will ein Dummer (J Hodscha Nasreddin) im T. die geringe Bezahlung für eine Ware nicht akzeptieren. Als er erwacht und bemerkt, daß er gar nichts bekommen hat, versucht er, wieder einzuschlafen, um wenigstens das schlechtere Geschäft abzuschließen. In Heinrich J Bebels Var. von AaTh/ ATU 1739: J Priester soll Kalb gebären meint der Protagonist, er habe das Kalb geboren, von dem er geträumt hatte. Mit Schlafstörungen verbundene T.e, sexuelle Handlungen im Schlaf und nächtliche Defäkation sind Thema von AaTh/ATU 1645 B: Der gesiegelte J Schatz sowie von ATU 1407 A*: Dream and Reality42, Sprechen im Schlaf von AaTh/ATU 1525 K*: Awarding the Stolen Property. In T.e gekleidet wird Kritik an Kirche (AaTh/ATU 1738: Alle J Priester in der Hölle) und sozialen Hierarchien geübt, so im Erzähltyp ATU 1572 M*: The Apprentice’s Dream, in dem der Lehrling seinem Herrn von einem T. berichtet: Sie seien beide in ein Faß gefallen, der Lehrling in ein Faß voll Mist, der Herr in ein Honigfaß. Als der Herr Befriedigung darüber äußert, fährt der Lehrling fort, daß sie sich danach gegenseitig hätten ablecken müssen. In AaTh/ATU 1860 A: Lawyers in Hell erzählt ein Mann einer Amtsperson, er habe geträumt, daß er in der Hölle daran gehindert worden sei, auf einem leeren Stuhl Platz zu nehmen; dieser sei für den Amtmann reserviert; oder er sei in den Himmel gekommen und habe sich nach seinen Rechten erkundigt, konnte aber keinen Advokaten finden. T.e werden auch für Erzählungen mit moralischen Intentionen genutzt, so in AaTh/ATU 1738 B*: The Clergyman’s Dream: Hier erzählt der Pfarrer, er sei im Himmel gewesen und der hl. J Petrus habe ihm ein Loch direkt über dem Dorf gewiesen, um sich Erleichterung zu verschaffen, da die Dorfbewohner nichts anderes verdienten. 1
Hobson, J. A.: Dreaming. An Introduction to the Science of Sleep. Ox./N. Y. 2002, 7. ⫺ 2 Christensen, A.: Drømme. Iagttagelser og undersøgelser. Kop. 1941, 37. ⫺ 3 Ursin, R.: Drømmer. In: Wildschiødtz, G. (ed.): Somnologi. En nordisk lærebog om søvnen og dens sygdomme. Kop. 1988, 87⫺88. ⫺ 4 cf. Daiber, H.: RuÅya¯. In: EI2 8 (1995) 645⫺649. ⫺ 5 Revonsuo, A.: The Self in Dreams. In: The Lost Self. Pathologies of the Brain and Identity. ed. T. E. Fein-
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berg/J. P. Keenan. N. Y. 2005, 206⫺219. ⫺ 6 cf. aber Briggs, K.: British Folktales and Legends. N. Y. 1977, 265 sq. ⫺ 7 Schenck, C. H. u. a.: Sleep and Sex. What Can Go Wrong? A Review of the Literature on Sleep Related Disorders and Abnormal Sexual Behaviors and Experiences. In: Sleep 30 (2007) 683⫺ 702. ⫺ 8 Partinen, M./Stenberg, D.: Parasomnier. In: Wildschiødtz (wie not. 3) 211⫺219. ⫺ 9 Graves, R.: The Greek Myths. N. Y. 1992, 131. ⫺ 10 Hufford, D. J.: The Terror That Comes in the Night. An Experience-Centered Study of Supernatural Assault Traditions. Phil. 1982; Raudvere, C.: Föreställningar om maran i nordisk folktro. Diss. Lund 1993. ⫺ 11 Jeremias, A.: Hb. der altoriental. Geisteskultur. Lpz. 1913, 242; Oppenheim, A. L.: The Interpretation of Dreams in the Ancient Near East. Phil. 1956, 298⫺305. ⫺ 12 cf. ibid., 187⫺191, 224; Clayton, P.: Chronicle of the Pharaohs. L. 1994, 113 sq.; Oberhelman, S. M.: The Interpretation of Prescriptive Dreams in Ancient Greek Medicine. In: J. of the History of Medicine and Allied Sciences 36,4 (1981) 416⫺424; Lang, M.: Cure and Cult in Ancient Corinth. A Guide to the Asklepion. Princeton, N. J. 1977; cf. Chadwick, N.: Dreams in Early European Literature. In: Celtic Studies. Festschr. A. Matheson. L. 1969, 33⫺50 (altnord., walis.). ⫺ 13 Hi. 11,6; Kaivola-Bregenhøj, A.: Drømme gennen tusinde a˚r. Kop. 1986, 172. ⫺ 14 Oppenheim (wie not. 11) 189 sq. ⫺ 15 Briggs (wie not. 6) 216 sq. ⫺ 16 Kaivola-Bregenhøj (wie not. 13) 145⫺148; Hansen, H. P.: Syner og varsler. Kop. 1957, 165. ⫺ 17 Kristensen, E. T.: Danske ˚ rhus 1893, 569; Kaivola-Bregenhøj (wie Sagn 2. A not. 13) 131 sq. ⫺ 18 Briggs (wie not. 6) 213 sq. (Vorzeichen num. 4⫺6). ⫺ 19 Moe, M.: Draumkvædet. Kop. 1957 (Weihnachten); Olrik, H.: Danske Helgeners Levned 1⫺2. Kop. (1893⫺94) 21968, 323⫺325; ´ . (ed.): Jo´msvı´kinga saga. Reykjavı´k Halldo´rsson, O 1969, 63⫺73; Kaivola-Bregenhøj (wie not. 13) 153⫺ 157. ⫺ 20 Grimm, Mythologie 2, 1099; Thiele, M.: Danske folkesagn 3. Kop. 1860, num. 195. ⫺ 21 Halldo´rsson (wie not. 19). ⫺ 22 Rausmaa, SK 1, num. 127; Briggs (wie not. 6) 242 sq. ⫺ 23 Freud, S./ Oppenheim, D. E.: Dreams in Folklore. ed. L. Pacella. N. Y. 1958, 31⫺33, dt. 64 sq.; cf. auch Kaivola-Bregenhøj (wie not. 13) 234⫺243; Andrew, R.: The Lucky Dream and Number Book. N. Y. 1978. ⫺ 24 Oppenheim (wie not. 11) 229 sq. ⫺ 25 Lid, N.: Draumar. In: Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder 3. ed. J. Brøndsted u. a. Kop. 1958, 301. ⫺ 26 Oberhelman (wie not. 12) 416⫺424; Lang (wie not. 12). ⫺ 27 cf. z. B. Covitz, J.: Visions of the Night. A Study of Jewish Dream Interpretation. Boston/L. 1990, 133⫺141. ⫺ 28 cf. O’Nell, C. W.: Dreams, Culture, and the Individual. San Francisco 1976; Tedlock, B. (ed.): Dreaming. Anthropological and Psychological Interpretations. Cambr. 1987; D’Andrade, R. G.: The Effects of Culture on Dreams. In: Lee, S. E. M./Mayes, A. R. (edd.): Dreams and Dreaming. Harmondsworth 1973, 198⫺218. ⫺ 29 Lid (wie not. 25) 299⫺302; cf. Heijnen, A.: Dream Sharing in Iceland. Diss. (masch.)
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Traum von künftiger Herrlichkeit ⫺ Traum vom Schatz auf der Brücke
Aarhus 2005. ⫺ 30 Oppenheim (wie not. 11) 295⫺ 307. ⫺ 31 ibid. ⫺ 32 Kaivola-Bregenhøj, A.: Dreams as Folklore. In: Fabula 34 (1993) 211⫺224, hier 216⫺220; Shanon, B./Eiferman, R.: Dream-Reporting Discourse. In: Text 4 (1984) 369⫺379. ⫺ 33 cf. auch Fromm, E.: The Forgotten Language. An Introduction to the Understanding of Dreams, Fairy Tales and Myths. N. Y. 1951. ⫺ 34 EM 10, 974. ⫺ 35 Briggs (wie not. 6) 102⫺105. ⫺ 36 Rausmaa, SK 1, num. 127 (T. des Königs); Kristensen, E. T.: Fra Mindebo. Jyske Folkeæventyr. Aarhus 1898, num. 17; Briggs (wie not. 6) 213 sq. ⫺ 37 ibid., 265 sq. (Vorzeichen num. 5). ⫺ 38 Rausmaa, SK 1, num. 127; Briggs (wie not. 6) 213 sq. (Vorzeichen num. 29); Kaivola-Bregenhøj (wie not. 13) 132⫺136. ⫺ 39 Rausmaa, SK 1, num. 140. ⫺ 40 Moe (wie not. 19). ⫺ 41 Espeland, V.: Oral Ballads as National Literature. The Reconstruction of Two Norwegian Ballads. In: Estudos de literatura oral 6 (2000) 19⫺31; cf. Yeats, W. B.: The Celtic Twilight. L. 1902, 77 sq. (ir.). ⫺ 42 cf. Freud/Oppenheim (wie not. 23) 31⫺33, 44⫺48, 52⫺55, 58⫺63 (dt. 75⫺78, 89⫺93, 97⫺99, 103⫺ 108).
Kerava
Annikki Kaivola-Bregenhøj Carsten Bregenhøj
Traum von künftiger Herrlichkeit J Prophezeiung künftiger Hoheit
Traum vom Schatz auf der Brücke (AaTh/ ATU 1645), Schatztraumsage (cf. auch AaTh/ ATU 834, 834 A: J Schatz des armen Bruders) mit dem konstitutiven Motiv des Doppeltraums. Die Sage, deren Geschichte und Verbreitung intensiv untersucht wurde1, hat folgendes Grundgerüst: Ein Mann träumt (mehrfach), daß er (an einem markanten Punkt) in einer anderen Stadt sein Glück machen werde. Er begibt sich dorthin, ist aber erfolglos. Von einem Einheimischen angesprochen, erzählt er den Grund seiner Reise. Der andere tadelt ihn wegen seiner Naivität und erzählt, er selbst habe (mehrfach) von einem J Schatz an einem bestimmten Ort geträumt, habe den T. aber stets als nicht glaubwürdig betrachtet; dabei schildert er bis in Einzelheiten den Heimatort (Haus, Garten) des Mannes. Ohne sich erkennen zu geben, kehrt der Mann nach Hause zurück, findet entsprechend der Schilderung den Schatz (oft unter einem Baum) und lebt fortan sorglos.
Unter Rückgriff auf z. T. erheblich ältere Einzelmotive2 findet sich die Erzählung zuerst in dem arab. schöngeistigen Werk al-Faragˇ ba¤d
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asˇ-sˇidda (Freude nach Leid) von al-Muhø assin at-Tanu¯h˚ ¯ı (gest. 994)3. Der Protagonist ist hier ein verarmter Mann (Mot. W 131.1) aus Bagdad, der aufgrund des T.s nach Kairo geht, um dort in den Staatsdienst zu treten; als er mittellos um seinen Lebensunterhalt betteln muß, wird er von einem Wächter aufgegriffen, der ihm seinen T. erzählt; der Schatz befindet sich unter einem Lotosstrauch im Garten des ¯ søim Mannes. Aus Tanu¯h˚ ¯ı schöpfen u. a. Ibn ¤A al-Andalusı¯ (gest. 1427)4 und die seit dem 19. Jh. häufig zusammen mit der populären Enz. des J Ibsˇ¯ıhı¯ gedr. schöngeistige Kompilation des Ibn H ø igˇgˇa al-H ø amawı¯ (gest. 1434)5. Von Tanu¯h˚ ¯ı unabhängig ist die Version eines arab. Pilgerhandbuchs des 14. Jh.s6, die die Erzählung als Begründung für den Wohlstand des als außergewöhnlich freigebig bekannten ¤Affa¯n ibn Sulaima¯n (gest. 935) anführt: ¤Affa¯n reist aus dem heimischen Kairo nach Bagdad, wo er zunächst bei einem Schneider arbeitet. Die Fassung des Historikers Ishø a¯qı¯ (gest. 1651)7 entspricht praktisch wörtlich dem seit dem 19. Jh. in den Druckausgaben von J Tausendundeine Nacht erscheinenden Text8; dort wird der mittellose Mann aus Bagdad in Kairo verhaftet, als die Polizei ihn zusammen mit Dieben in einer Moschee aufgreift. Im Persischen ist die Geschichte nach Ausweis einer den Dichtern Farroh˚ i (gest. 1037) oder Asgˇadi (gest. 1040) zugeschriebenen Anspielung bereits Anfang des 11. Jh.s9 mit einem Zahman genannten Haus (in Rei, heute Stadtteil von Teheran) verbunden und findet sich unter diesem Eintrag noch in modernen Lexika10; auch der älteste persische Text in der Mirabiliensammlung des Hamada¯ni (12. Jh.) nennt den Namen11. Die mit Zahman verbundenen pers. Fassungen stehen der von Tanu¯h˚ ¯ı nahe, nennen als Reiseziel jedoch Damaskus. Der pers. mystische Dichter J Rumi (gest. 1273) verdankt seine (J. J Grimm bekannte)12 Version (6,4206⫺4385) jedoch nicht Hamada¯ni13, sondern greift direkt auf die Fassung Tanu¯h˚ ¯ıs zurück, die auch in der pers. Übers. des H ø osein ibn As¤ad Dahesta¯ni (Mitte 13. Jh.) vorlag14. Eine gelegentlich in diesem Zusammenhang diskutierte Geschichte der türk. Slg Kırk Vazir (J Vierzig Wesire), einer erw. Bearb. der J Sieben weisen Meister aus dem 15. Jh., verzichtet auf das Motiv des Doppel-
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Traum vom Schatz auf der Brücke
traums und beraubt dadurch die Erzählung ihrer Logik15. Möglicherweise durch kulturelle Kontakte während der Kreuzzüge vermittelt, erscheint AaTh/ATU 1645 in Europa zuerst im niederrhein. Karlmeinet (Anfang 14. Jh.), einer Bearb. der Jugendgeschichte J Karls d. Gr.16; hier ist anstelle eines T.s singulär von der Mitteilung eines dreimal hintereinander nachts erscheinenden Zwergs die Rede, als Reiseziel wird ,die Brücke‘ in Paris genannt. Balduch, der Name des Herkunftsdorfs des Protagonisten, entspricht dabei der ma. europ. Bezeichnung von Bagdad und dient als zusätzlicher Beleg für die oriental. Herkunft der Geschichte. Die im Karlmeinet eingeführte Festlegung auf eine J Brücke als Treffpunkt setzt sich mit der Fassung der J Mensa philosophica (4,43 [287]; 14./15. Jh.)17 durch; hier wird als Stadt ⫺ wie später häufig in dt. Texten ⫺ Regensburg genannt. Die von Johannes Agricola (1529) nach mündl. Erzählung seines Vaters zitierte Var.18, die Eucharius J Eyring in Verse brachte19, nahmen die Brüder Grimm in ihre Dt. Sagen (Grimm DS 212) auf. Weitere frühe europ. Versionen sind z. B. für Spanien (Mitte 16. Jh.)20 oder die Niederlande (Anfang 17. Jh.)21 belegt. Spätestens seit dem 17. Jh. scheint der u. a. auch von T.-S. J Gueul(l)ette22 verarbeitete sowie als Predigtmärlein23 verbreitete Erzähltyp dann in ganz Europa bekannt zu sein. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 1645 mit jeweils regionaltypischen J Lokalisierungen24 im gesamten europ. Raum nachgewiesen; bemerkenswert ist einzig das Fehlen frz. Var.n; z. T. möglicherweise durch verstärkte Sammelaktivitäten bedingte Schwerpunkte der Überlieferung sind für Großbritannien und die Niederlande festzustellen25. Außerhalb dieses Raums liegen relativ wenige Var.n aus dem Vorderen Orient (türk.26, arab., jüd. aus Irak und Iran27) und aus Japan sowie von den Philippinen und aus Mexiko vor. Sowohl in der schriftl. Überlieferung als auch in den mündl. Var.n ist der Erzähltyp im wesentlichen stabil. Abweichend von der Grundform, nach der die naive Gläubigkeit desjenigen belohnt wird, der an die Wahrhaftigkeit des T.s glaubt, wird manchmal der zweite Träumer vom ersten aufgefordert, die Schatz-
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hebung gemeinsam mit ihm vorzunehmen28. In dän. und engl. Var.n dient die Geschichte gelegentlich als Gründungslegende einer Kirche29; in engl., dt. und tschech. Var.n weist ein Zettel bei dem zuerst gefundenen Schatz auf einen weiteren Schatz hin30. Literar. bearbeitet wurde die Geschichte u. a. von Jorge Luis Borges (1899⫺1986) und Nicolae Davidescu (1888⫺1954)31. AaTh/ATU 1645 ist im arab.-islam. Kontext vor dem Hintergrund der Praxis der J Traumdeutung zu verstehen (J Traumbücher), nach deren Grundannahme T.erscheinungen konkrete Verbindungen zur Realität besitzen (können)32. In der europ. Überlieferung findet diese Haltung ihre Entsprechung darin, daß „der Traum in der Volkserzählung Realitätscharakter“33 besitzt. Während der Versuch des anonymen Verf.s des Karlmeinet, die Geschichte als Zwergensage zu adaptieren, folgenlos geblieben ist, hat sich die Lokalisierung an einer Brücke in der europ. Überlieferung überaus erfolgreich durchgesetzt. Wenn auch möglicherweise die Bedeutung der Brücke als J Grenze und Verbindung zwischen verschiedenen Bereichen (hier: der Wahrnehmung) den Hintergrund bilden könnte, verweist J. J Bolte vorrangig auf die kulturhist. Rolle der Brücke „als Ort des regsten Menschenverkehrs“34. Mithin stellte die Lokalisierung des Geschehens erfolgreich einen unmittelbaren Bezug zum sozialen Kontext der Erzähler bzw. Zuhörer her, der zudem durch seine Nachvollziehbarkeit der Glaubwürdigkeit der Erzählung und damit ihrer weiten Verbreitung diente. 1
Grimm, J.: Kl.re Schr. 3. B. 1866, 414⫺428; Tille, V.: Der T. vom Schatz auf der Brücke. In: Zs. für Vk. […] 3 (1891) 132⫺136; Chauvin, V.: Le Reˆve du tre´sor sur le pont. In: RTP 13 (1898) 193⫺196; Bolte, J.: Zur Sage vom T. vom Schatze auf der Brücke. In: ZfVk. 19 (1909) 189⫺198; Röhrich, Er´ lom a hidon levo˝ zählungen, num. 4; Binder, E.: A kincsro˝l (Der T. vom Schatz auf der Brücke). In: Ethnographia 31 (1921) 41⫺45; Takehara, T.: Grimms Sage „T. vom Schatz auf der Brücke“. In: Doitsu bungaku (1991) 71⫺81 (dt. Resümee 82⫺ 84). ⫺ 2 cf. Bolte (wie not. 1) 296 sq.; Schwarzbaum, 75; Haarmann, U.: Der Schatz im Haupte des Götzen. In: Die islam. Welt zwischen MA. und Neuzeit. Festschr. H. R. Roemer. Beirut 1979, 198⫺229. ⫺ 3 at-Tanu¯h˚ ¯ı, Abu¯ ¤Alı¯ al-Muhø assin ibn ¤Alı¯: al-Faragˇ ba¤d asˇ-sˇidda 2. ed. ¤A. asˇ-Sˇa¯ligˇ¯ı. Beirut 1978, num.
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Traumbrot
212; Galtier, E.: Fragments d’une e´tude sur les Mille et une Nuits. In: Me´moires de l’Inst. franc¸ais du Caire 27 (1912) 135⫺194, hier 187⫺189; Scheiber, A.: T. vom Schatz auf der Brücke [1984]. In: id.: Essays on Jewish Folklore and Comparative Litera¯ søim al-Andature. Bud. 1985, 392⫺394. ⫺ 4 Ibn ¤A lusı¯, Abu¯ Bakr ibn Muhø ammad: H ø ada¯Åiq al-aza¯hir. ed. ¤A. ¤Abdarrahø man. Beirut 1981, 393 sq. ⫺ 5 Ibn ø igˇgˇa al-H ø amawı¯: Tamara¯t al-aura¯q [Lesefrüchte]. H ed. M. Qumaihø a. Beirut 1983, 310 sq. ⫺ 6 Muwaffaqaddı¯n ibn ¤Utma¯n: Mursˇid az-zuwa¯r ila¯ qubu¯r alabra¯r (Pilgerführer zu den Gräbern der Frommen). ed. M. F. Abu¯ Bakr. Kairo 1995, 656 sq.; cf. auch as-Sah˚ a¯wı¯, Nu¯raddı¯n ibn Ahø mad: Tuhø fat al-ahø bab wa-bug˙yat atø-tøulla¯b [Pilgerführer]. Kairo 31986, 122, 126. ⫺ 7 al-Ishø a¯qı¯, Muhø ammad ibn ¤Abdalmu¤tø¯ı: Latøa¯Åif ah˚ ba¯r al-uwal (Auserlesene Nachrichten von den Voraufgegangenen). Kairo 1310/1892, 77 (ed. M. R. Mahna¯. al-Mansøu¯ra 2000, 180 sq.); cf. Basset, R.: Le Reˆve du tre´sor sur le pont 2. In: RTP 14 (1899) 111 sq.; Marzolph, U.: Das „Kita¯b Latøa¯Åif ah˚ ba¯r al-uwal“ des -Ishø a¯qı¯ als Quelle der Kompilatoren von „1001 Nacht“. In: Festschr. W. Diem (im Druck). ⫺ 8 Chauvin 6, 94 sq., num. 258; Marzolph/ van Leeuwen 1, 353 sq., num. 99. ⫺ 9 cf. Dehh˚ oda¯, ¤A.-A.: Log˙at-na¯me [Enzyklopädisches Wb.] 20. Teheran 1350/1971, 577. ⫺ 10 ibid. ⫺ 11 Hamada¯ni, Muhø ammad ibn Mahø mu¯d: ¤Agˇa¯Åibˇ . Mudarris Sø a¯deqi. na¯me (Buch der Wunder). ed. G Teheran 1375/1996, 197. ⫺ 12 cf. Wagner, F./Siewerts, U.: Jacob Grimm und die ma. Fabel- und Märchenlit. im Briefwechsel mit Karl Goedeke. In: Brüder Grimm Gedenken 10 (1993) 1⫺37, hier 6. ⫺ 13 Foruza¯nfar, B.: MaÅa¯h˚ ez-e qesøasø va tamsila¯t-e Masnavi (Die Qu.n der Geschichten und Allegorien des Masnavi). Teheran 41370/1991, num. 260. ⫺ 14 Dahesta¯ni, H ø osein ibn As¤ad: Faragˇ ba¤d asˇ-sˇidda 1. ed. ¤E. H ø a¯kemi. Teheran 1363/1984, 503⫺506. ⫺ 15 Chauvin (wie not. 1) 194; Chauvin 8, 151, num. 152. ⫺ 16 Karl Meinet. ed. A. von Keller. Stg. 1858, 1⫺7; Röhrich, Erzählungen, num. 4 (1); Birkhan 3, 288. ⫺ 17 Tubach, num. 4966; Wesselski, A.: Mönchslatein. Lpz. 1909, num. 101. ⫺ 18 Agricola, J.: Sybenhundert und fünfftzig Teütscher Sprichwörter, verneüwert und gebessert. (Hagenau 1534) Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1970, num. 623. ⫺ 19 Eyring, E.: Proverbiorum copia 3. Eisleben 1604, 324; cf. Bolte (wie not. 1) 291. ⫺ 20 Pedrosa, J. M.: El cuento de „El tesoro son˜ado“ (AT 1645) y el complejo leyendı´stico de „El becerro de oro“. In: Estudos de literatura oral 4 (1998) 127⫺157, hier 127 sq. ⫺ 21 Bolte (wie not. 1) 292 sq.; Röhrich, Erzählungen, 436. ⫺ 22 Gueul(l)ette, T.-S.: Les Sultanes de Guzarate […]. Contes mogols [1732] (Le Cabinet des fe´es 22). Genf/P. 1786, 368, 454⫺459. ⫺ 23 Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 142. ⫺ 24 cf. bes. Bolte (wie not. 1) 293 sq. ⫺ 25 Röhrich, Erzählungen, 436. ⫺ 26 cf. Eberhard/Boratav, num. 133 (V). ⫺ 27 Ergänzend zu ATU: Soroudi. ⫺ 28 Bolte (wie not. 1) 295. ⫺ 29 ibid. ⫺ 30 ibid. ⫺
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Stead, E.: Deux E´crivains face au conte des deux reˆveurs (le reˆve du tre´sor). Jorge Luis Borges et Nicolae Davidescu dans le sillage des „Nuits“. In: Chraı¨bi, A./Ramı´rez, C. (edd.): L’Heritage des „Mille et une nuits“ et du re´cit orientale en Occident. Paris (im Druck). ⫺ 32 Fahd, T.: RuÅya¯. In: EI2 8 (1995) 645⫺647. ⫺ 33 Röhrich, Erzählungen, 453; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 186 sq. ⫺ 34 ibid., 296. 31
Göttingen
Ulrich Marzolph
Traumbrot (AaTh/ATU 1626), seit dem MA. bis in die Gegenwart weltweit verbreiteter Erzähltyp1 mit zahlreichen mündl. Var.n in Europa, Asien, Afrika und Amerika: Drei Reisende (Pilger; zwei Städter und ein Bauer) einigen sich darauf, daß derjenige, der den wundersamsten Traum habe, das letzte gemeinsame Stück Brot (Ei, Braten etc.) bekommen solle. Der erste behauptet, er habe vom Paradies geträumt; der zweite will in der Hölle gewesen sein. Der dritte erklärt, er habe geträumt, die beiden anderen seien gestorben, deshalb habe er das Brot bereits gegessen.
Ein vergleichbarer Streit um die Aufteilung einer Speise findet sich bereits in den J Ja¯takas (AaTh/ATU 80 A*: Who Gets the Booty?). Das konstitutive Motiv von AaTh/ATU 1626 sind demgegenüber die angeblichen Träume, wobei die Jenseitsreisen der ma. Texte in der mündl. Überlieferung oft zu Phantasiereisen in ferne Länder werden. Die älteste bekannte Fassung von AaTh/ATU 1626 erscheint ⫺ vermutlich nach arab. Vorlage ⫺ im 12. Jh. in der Disciplina clericalis (num. 19) des J Petrus Alfonsus2. Von dieser sind die zahlreichen schriftl. Belege des Erzähltyps in den ma. Exempelsammlungen (lat., frz., engl., span., katalan.) bis hin zu Heinrich J Steinhöwels Esopus (num. 146) abhängig3. Giambattista Giraldi Cinzio inspirierte der Stoff zu einer Novelle seiner Hecatommithi (Venedig 1565; 1,3), Lope de J Vega bearbeitete ihn in seiner hagiographischen Dichtung San Isidro labrador (Madrid 1599)4. In den oriental. Belegen repräsentieren die Personen gewöhnlich die drei Hauptreligionen, z. B. im arab. J Nuzhat al-udaba¯Å oder in der neueren arab. und sephard. Überlieferung; die Sieger sind hier der Muslim bzw. der Jude5. Auch die westl. Überlieferung konfrontiert Personenstereotypen miteinander. Das älteste Modell spiegelt noch die Auseinandersetzun-
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Traumbücher
gen der Stände (cf. J Ständeordnung) und stellt Repräsentanten der geistlichen und militärischen Macht einem Vertreter des dritten Stands, gewöhnlich einem Bauern oder einem Soldaten ohne militärischen Rang, gegenüber6. In anderen Fällen wird dieses trifunktionale Schema auf drei religiöse Orden angewandt7. Der ,Gewinner‘ der Auseinandersetzung ist dabei stereotyp der Vertreter des niedrigsten Standes bzw. der gesellschaftlich Unterlegene. Oft stehen sich jedoch zwei gesellschaftliche Gruppen gegenüber, die Vertreter von Stadt und Land (wie in der Disciplina clericalis) oder des Militärs und der Welt des Geistes (wie in den ma. Streitgesprächen) darstellen. Die Dreizahl der Personen wird gewöhnlich beibehalten, wobei einer der beiden Bereiche durch zwei Vertreter repräsentiert ist8. Der Sieger ist oft ein Trickster, in den islam. Ländern der J Hodscha Nasreddin, in Chile Pedro de Urdemalas, in Brasilien der hl. J Petrus oder in Spanien der Dichter Quevedo9. Die ungleichen Personen treffen sich dabei häufig auf einer Reise oder in einer Schenke, in der es kein Essen gibt. In einer Reihe vergleichbarer Erzählungen greifen die Angehörigen der gebildeten Stände zur Erlangung eines Vorteils anstelle von Träumen auf Spezialwissen (etwa Kenntnis des Lateinischen oder der Bibel) zurück, so in AaTh/ATU 1533 A: Hog’s Head Divided According to Scripture (cf. AaTh/ATU 1568*: Die umgedrehte J Schüssel). In zwei auf der Iber. Halbinsel weitverbreiteten Erzähltypen ist das Motiv des Betrugs durch einen Scharfsinnswettbewerb ersetzt, wobei wiederum der gesellschaftlich niedriger Stehende mit Ideen gewinnt, wie sie ähnlich in Wett- und Testerzählungen erscheinen. Im Erzähltyp Cardigos 1626* A: The Best Rhyme About a Dead Wolf finden Jäger (Wanderer, Studenten etc.) einen toten Wolf und machen aus, daß er demjenigen gehören soll, der die passendsten Verse dazu findet; die des Gewinners besagen, der schlimmste Tag im Leben des Tiers sei dessen Todestag gewesen. Im Erzähltyp Cardigos 1626* C: The Bet at the Inn tritt an die Stelle der Speise in mehr oder weniger verhüllter Form als Objekt der Begierde eine Frau; der älteste span. Beleg hierfür findet sich in Juan J Timonedas Portacuentos (num. 25)10.
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1 Baum, P. F.: The Three Dreams or „Dream Bread Story“. In: JAFL 30 (1917) 378⫺410; Taylor, A.: The Dream Bread Story Once More. In: JAFL 34 (1921) 327 sq.; Lacarra, M. J.: „El pan comido: el suen˜o ma´s maravilloso“ (ATU 1626) y otros cuentos afines. In: El cuento folclo´rico en la literatura y en la tradicio´n oral. ed. R. Beltra´n/M. Haro. Valencia 2006, 217⫺246. ⫺ 2 Schwarzbaum, H.: Internat. Folklore Motifs in Petrus Alphonsi’s Disciplina clericalis. In: Sefarad 22 (1962) 17⫺59, hier 37⫺46; Marsan, R. E.: Itine´raire espagnol du conte me´die´val (VIIIe⫺XV e sie`cles). P. 1974, 435⫺441, 520⫺523, 625 sq. ⫺ 3 cf. Lacarra (wie not. 1) 221 sq.; Chevalier, M.: Cuentos folklo´ricos espan˜oles del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 189; Berlioz, J./Polo de Beaulieu, M. A.: La Capture du re´cit. La Disciplina clericalis de Pierre Alphonse dans les recueils d’exempla (XIIIe⫺XIV e s. ). In: Crisol 4 (2000) 43⫺ 85, hier 38. ⫺ 4 Chevalier, M.: Cuentecillos tradicionales en la Espan˜a del Siglo de Oro. Madrid 1975, 389⫺393. ⫺ 5 Spies, O.: Arab. Stoffe in der Disciplina Clericalis. In: Rhein. Jb. für Vk. 21 (1973) 170⫺199, hier 186⫺191; Gil Grimau, R./Ibn Azzuz, M.: Que por la rosa roja corrio´ mi sangre. Estudio y antologı´a de la literatura oral en Marruecos. Madrid 1988, 163; Basset 1, 516 sq., num. 205; Marzolph, Arabia ridens 1, 70 (not. 80). ⫺ 6 Fontes, M. B.: Puputiriru. An Eastern Folktale from the Disciplina clericalis. In: id.: Folklore and Literature. N. Y. 2000, 9⫺26; Pedrosa, J. M.: El son mexicano de „El pampirulo“ y el to´pico literario de „Los tres estamentos“. In: La otra Nueva Espan˜a. La palabra marginada en la Colonia. ed. M. Masera. Barcelona 2002, 71⫺97. ⫺ 7 Barag, G. L.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1966, num. 77. ⫺ 8 Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 2. Madrid 1988, num. 356; Alvar, M./Llorente, A./Salvador, G.: Textos andaluces en transcripcio´n fone´tica. Madrid 1995, 264. ⫺ 9 Wesselski, Hodscha Nasreddin 2, num. 540; Pino Saavedra, Y.: Cuentos mapuches de Chile. Santiago de Chile 1997, num. 66⫺67; Cascudo, L. da Caˆmara: Trinta „esto´rias“ brasileiras. Lissabon 1955, 30⫺32; Criado, A. M.: Cuentos tradicionales de Pen˜afiel. In: Revista de folklore 281 (2004) 147⫺154, hier 148 sq. ⫺ 10 Chevalier (wie not. 3) num. 162; Agu´ndez Garcı´a, J. L.: Cuentos populares sevillanos 2. Sevilla 1999, 174⫺177; Criado, A. M.: La mejor respuesta, el mejor discurso, el mejor suen˜o. In: Revista de folklore 173 (1995) 166⫺168; Puerto, J. L.: Cuentos de tradicio´n oral en la Sierra de Francia. Salamanca 1995, 121 sq.
Zaragoza
Marı´a Jesu´s Lacarra Ducay
Traumbücher. Verschiedene Arten von Schriften sind dem J Traum oder der J Traumdeutung gewidmet: Bücher über Traumvisionen (J Vision, Visionsliteratur)1, Bücher mit er-
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Traumbücher
zählten Träumen2, Traumdeutungsbücher und Traumlexika sowie wiss. oder pseudowiss. Bücher über Traumdeutung, Traumphilosophie oder Traumtheorie3. Die Grenzen zwischen diesen Gattungen sind fließend. Im folgenden steht der Begriff T. für die Traumdeutungsbücher4, die bei weitem die größte und für die Erzählforschung wichtigste Gruppe bilden. Das früheste Traumbuch stammt aus Ägypten (ca 1200 v. u. Z.), hat aber wohl ältere Vorlagen. Die mit der mesopotam. Tradition5 in Verbindung stehende ägypt. verstärkte sich im antiken Griechenland, wo sich seit dem 4. Jh. v. u. Z. eine reiche Traumliteratur entwikkelte6; sie setzte sich über Byzanz7 und den arab. Raum8 in Europa im MA.9 und in der frühen Neuzeit10 bis in die Gegenwart11 fort. Die ersten vollständig erhaltenen T. sind die Oneirokritika (Traumdeutung) des Artemidoros von Daldis (96⫺180)12, die in fünf Büchern Wissen und Glauben jener Zeit über Traum und Traumdeutung zusammentragen. In ihrer Tradition stehen alle T. des MA.s, das arab. des Ibn Sı¯rı¯n (681⫺728)13 und das byzant. des Achmet14 ebenso wie die vielen Entlehnungen, Übers.en und Kompilationen der folgenden Jh.e, die seit 1500 dann durch zahllose Drucke in vielen Sprachen verbreitet wurden. Allen T.n gemeinsam ist ihr Zweck, das Bedürfnis der Menschen nach Sinngebung ihrer Träume und nach Zukunftsschau (cf. J Prophezeiungen) zu erfüllen. Dem entspricht ihr einfacher formaler Aufbau: Stets handelt es sich um ⫺ in Stichworten benannte ⫺ Traumbilder, denen jeweils ⫺ in meist assoziativer, analoger oder antithetischer Gleichsetzung ⫺ eine Deutung zugeordnet ist15, wie z. B. ,Von Rindern zu träumen bringt Unglück‘ oder ,Gehst du über Dachziegel, wirst du feindlichem Anschlag entrinnen‘16. Während die meisten frühen T. die Traumbilder in Sachgruppen anordnen und sich um eine gewisse Kontextualisierung bemühen, setzte sich mit dem aus dem Hebräischen stammenden, über griech. und lat. Übers.en vermittelten und bereits Ende des 15. Jh.s gedruckten Somniale Danielis17 die alphabetische Anordnung der Stichwörter durch. Wiewohl die Übers. derartiger Traumlexika durch die je andere Reihenfolge der Stichwörter Probleme bereitete, fanden erst diese T. wirklich Eingang in alle Volks-
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sprachen und in die Popularliteratur. Gründe hierfür waren wesentlich ihr übersichtlicher Aufbau als Nachschlagewerk sowie die Kürze und Prägnanz der Einträge, die vom jeweiligen Träumer, der Situation, dem konkreten Traum und der Bedeutungsvarianz gänzlich absahen und die T. vollends in die Nähe des Traumorakels, des Aberglaubens und der Wahrsagerei brachten. Wenngleich im A. T. und N. T. Träume als Offenbarung göttlichen Willens durchaus eine Rolle spielen18 und in der Predigtliteratur wie in geistlichen Erzählungen didaktisch verwendet wurden, wandte sich die Kirche gegen T. als heidnisches Relikt und Aberglauben19. Auch die Aufklärer lehnten T. wegen der Nähe zum Aberglauben ab20, so daß Zahl und Relevanz der T. im 18. Jh. stark zurückgingen. Nachdem im frühen 19. Jh. zunächst einerseits nur heiter-ironische T. zur Unterhaltung eines gehobenen Publikums erschienen und andererseits J. von J Görres in seinen Teutschen Volksbüchern (1803⫺08) ein ,altes Traumbuch‘ historisierend publiziert hatte21, steigerte sich seit ca 1840 die Zahl der Volks-T. zu einer wahren Flut. Der einheitliche Aufbau von Titel, Vorwort und Traumlexikon, das Kleinformat und die häufige Kombination mit Orakeln, Lottozahlen, Wahrsagerei und anderen mantischen Inhalten bewirkten, daß die T. nun breiteste Leserschichten erreichten und in West- und Mitteleuropa22 ebenso populär wurden wie im östl.23 und südöstl. Europa24 sowie darüber hinaus25. Aufgrund ihrer stereotypen, stabilen, auf klare Gegensätze (gut/böse, jung/alt, schön/häßlich) zielenden Traumdeutungen26, die in hohem Maße volkskulturelle Werte reflektieren und vermitteln, fanden die Inhalte dieser T. auch Eingang in die mündl. Überlieferung27 und damit in das Alltagswissen. Dabei standen die T. immer im Spannungsverhältnis von zeitloser Gültigkeit und zeitgeschichtlichem Bezug. Die Autoren und Kompilatoren versuchten stets, moderne Requisiten und Deutungen einzufügen, so daß die T. seit der Antike auch eine sozialgeschichtliche Quelle sind28. Die bis heute anhaltende Popularität von T.n zeigt sich in der großen Zahl von Ausgaben. Dabei kann zwischen leicht aktualisierten traditionellen T.n und solchen unterschieden werden, die versuchen, die moderne psycho-
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Traumdeutung, Traumtheorie
analytische Traumdeutung einzubeziehen, realiter aber eine hohe Traditionalität aufweisen29. Daneben gibt es wiss. fundierte T. ebenso wie solche, die der Esoterik verpflichtet sind. Im Internet finden sich heute alle Arten von T.n in beachtlicher Zahl. 1
z. B. Russell, J. S.: The English Dream Vision. Anatomy of a Form. Columbus, Ohio 1988. ⫺ 2 z. B. Canovas, F.: L’E´criture reˆve´e. P. 2000; Merola, N./ Verbaro, C. (edd.): Il sogno raccontato. Vibo Valentia 1995. ⫺ 3 cf. Freud, S.: Die Traumdeutung. Lpz. 1909; id.: Über den Traum. Mü. 1921; Gottschalk, H.: Reich der Träume. Kulturgeschichte, Erforschung, Deutung. Gütersloh 1963; Wagner-Simon, T./Benedetti, G. (edd.): Traum und Träumen. Traumanalysen in Wiss., Religion und Kunst. Göttingen 1984. ⫺ 4 cf. Fuchs, F.: Von der Zukunftsschau zum Seelenspiegel. Eine Studie zur Traumauffassung und Traumdeutung am Beispiel der dt.sprachigen T.Aachen 1987; Hahn, I.: Traumdeutung und gesellschaftliche Wirklichkeit. Artemidorus Daldianus als sozialgeschichtliche Qu. Konstanz 1992; Berriot, F. (ed.): Exposicions et significacions des songes et Les Songes Daniel. Genf 1989. ⫺ 5 ibid., 14⫺16; Fuchs (wie not. 4) 19 sq.; Oppenheim, L. A.: The Interpretation of Dreams in the Ancient Near East. With a Translation of an Assyrian Dream-book. Phil. 1956. ⫺ 6 Berriot (wie not. 4) 19⫺23; Fuchs (wie not. 4) 25⫺42. ⫺ 7 Brackertz, K.: Die VolksT. des byzant. MA.s. Mü. 1993; Mavroudi, M.: A Byzantine Book on Dream Interpretation. The „Oneirocriticon of Achmet“ and Its Arabic Sources. Leiden 2002; Berriot (wie not. 4) 31 sq. ⫺ 8 ibid., 23⫺27; Fuchs (wie not. 4) 52⫺63. ⫺ 9 Berriot (wie not. 4) 27⫺30; Fuchs (wie not. 4) 64⫺96; Fischer, S. R. (ed.): The Complete Medieval Dreambook. A Multilingual, Alphabetical Somnia Danielis Collation. Bern 1982. ⫺ 10 Fuchs (wie not. 4) 97⫺121. ⫺ 11 ibid., 122⫺249. ⫺ 12 Hahn (wie not. 4); Fuchs (wie not. 4) 34⫺37; Blum, C.: Studies in the Dream-Book of Artemidorus. Uppsala 1936; Krawczuk, A.: Sennik Artemidora (Das Traumbuch des Artemidor). W. 1990. ⫺ 13 Das Traumbuch des Achmet Ben Sirin. Übers. K. Brackertz. Mü. 1986; Fuchs (wie not. 4) 58⫺63. ⫺ 14 Mavroudi (wie not. 7); Fuchs (wie not. 4) 66⫺68. ⫺ 15 Niebrzegowska, S.: Polski sennik ludowy (Poln. Volks-Traumbuch). Lublin 1996, 295⫺297. ⫺ 16 Brackertz (wie not. 7) 9. ⫺ 17 Berriot (wie not. 4) 32⫺44; Fuchs (wie not. 4) 72⫺76; Fischer (wie not. 9); Epe, A.: Wissenslit. im ags. England. Mit bes. Berücksichtigung des Somniale Danielis. Münster 1995; Grub, J.: Das lat. Traumbuch im Codex Upsaliensis C664 (9. Jh.). Eine frühma. Fassung der lat. Somniale Danielis-Tradition. Ffm. 1984; Martin, L. T.: Somniale Danielis. An Ed. of Medieval Latin Dream Interpretation. Ffm. 1981. ⫺ 18 cf. Ehrlich, E. L.: Traum. In: RGG 6 (31962) 1001⫺1005; Fuchs (wie not. 4) 43⫺51. ⫺ 19 ibid., 84 sq., 97 sq. ⫺ 20 ibid., 106⫺121; Helebrant, T.: Auf-
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klärungsschr. gegen die Aberglaubenlit. im serb. und kroat. Sprachraum im 19. und 20. Jh. In: Roth, K. (ed.): Südosteurop. Popularlit. im 19. und 20. Jh. Mü. 1992, 173⫺185, bes. 174, 179. ⫺ 21 Görres, J. von: Die teutschen Volksbücher. (Heidelberg 1807) Nachdr. Hildesheim u. a. 1982, 39⫺ 41. ⫺ 22 cf. Fuchs (wie not. 4) 167⫺210; Golowin, S.: Das Traumdeutungsbuch des Fahrenden Volkes. Fbg 1983. ⫺ 23 cf. Niebrzegowska (wie not. 15); Bricina, O./Golovaha, I.: Prozovij fol’klor (Prosavolkslit.). Kiew 2004, 574; cf. Novejsˇij universal’nyj sonnik (Neuestes Universal-Traumbuch). M. 1998. ⫺ 24 Roth, K. und J.: Gattungen und Inhalte der bulg. Popularlit. In: Bulgarien. Internat. Beziehungen in Geschichte, Kultur und Kunst. ed. W. Gesemann. Neuried 1984, 163⫺182, hier 176 sq.; Helebrant (wie not. 20). ⫺ 25 cf. Weiss, H. B.: Oneirocritica Americana. In: Bulletin of the New York Public Library 48,6 (1944) 519⫺541. ⫺ 26 Niebrzegowska (wie not. 15) 296 sq. ⫺ 27 ibid., 295; Bricina/Golovaha (wie not. 23) 574. ⫺ 28 Hahn (wie not. 4). ⫺ 29 Fuchs (wie not. 4) 219⫺221.
München
Klaus Roth
Traumdeutung, Traumtheorie. Es gibt zwei Arten von Traumtheorien. Die erste betrifft die Beziehung des Traums (T.s) zu Gesellschaft und Kultur, die zweite die Bedeutung des T.s als Ausdrucksform. Beide sind nicht zwangsläufig voneinander getrennt, sie werden aber gewöhnlich unabhängig formuliert. In seinem Hauptwerk Primitive Culture (1871) stellte E. B. J Tylor die Hypothese auf, die Wurzeln der Religionsphilosophie seien im T. zu finden, genauer in der Betrachtung und der theoretischen Erörterung der T.erfahrung1. Da das Denken der ,Wilden‘ keinen Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Realität mache, sei das T.leben für sie nicht vom Leben im Wachzustand unterscheidbar2. T.e seien als Beweis für die Existenz eines vom Körper unabhängigen Selbst (J Seele) genommen worden, das diesen in J Schlaf, Trance oder Tod zeitweilig oder endgültig zu verlassen schien. Aus T.erscheinungen Verstorbener habe man gefolgert, daß neben der materiellen eine Welt von mit Willen und Kraft begabten Geistwesen existiere. Aus dieser ersten religiösen Philosophie im J Animismus hätten sich letztlich alle anderen religiösen Philosophien entwickelt. Indem man Naturphänomenen Leben und Willen zuschrieb, entstand die Mythologie3. Die Auffas-
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Traumdeutung, Traumtheorie
sung vom Ursprung der übernatürlichen Welt im T. war allerdings keineswegs neu: Sie findet sich u. a. bereits bei Lukrez (ca 97⫺55 a. Chr. n.) in De rerum natura (5,1165⫺1196). Anderen Wissenschaftler zufolge gestalten T.e die Inhalte von Erzählungen und Glaubensvorstellungen. L. J Laistner brachte dämonologische Motive europ. Mythen und Sagen mit der Erfahrung von Alptraum und Alpdruck in Verbindung: sie würden durch Dämonen, die ihren Opfern die Brust zusammenpressen, symbolisiert; der erste Hahnenschrei, der den Protagonisten aus der Macht des Dämons befreit, markiere zugleich das Ende des T.s (cf. auch F. J Ranke)4. D. Hufford brachte den Alpdruck ⫺ in enger Definition ⫺ mit Schlaflähmung und hypnagogischer Halluzination in Zusammenhang und erklärte bestimmte Vorstellungen und Erzählungen übernatürlichen Inhalts mit ungewöhnlichen Erlebnissen physischer Natur5. Ethnologen dokumentierten die kulturelle Wirkung von T.en. So waren J Visionen einzelner Kwakiutl ⫺ obwohl ihrerseits von bestehenden Erzähltraditionen determiniert ⫺ prägend für Mythen und Sagen des Stammes6. T.e und/oder Visionen bildeten die Quelle zahlreicher Rituale und religiöser Lehren. Die Unterweisungen spiritueller Führer wie des Seneca Handsome Lake (1735⫺1815), des Paviotso-Paiute Wovoka (ca 1856⫺1932) oder des Oglala-Lakota Black Elk (1863⫺ 1950) sind ebenso wie bei Propheten der Rastafari-Religion und des Cargo-Kults eng mit T.en verbunden7. Ebenso glaubte man, daß dichterische und musikalische Begabungen in T.en verliehen werden können8. Auch in der europ. Moderne wurde der T. als Quelle literar. und wiss. Inspiration betrachtet. Die T.deutung hat eine lange Geschichte. Allg. wurden T.e als Botschaften aus der spirituellen Welt betrachtet, als Warnungen, Ratschläge oder Prophezeiungen (J T.bücher). Sie fanden in der Heilkunst Anwendung, durch sie wurden Handlungen bestimmt. T.botschaften sind oft unklar und deutungsbedürftig (Gen. 41,25⫺32). Obwohl T.deutung in verschiedenen Kulturen einen unterschiedlichen Stellenwert hat, scheint es sich bei ihr um eine Universalie zu handeln9. Ethnologen haben eine beachtliche Zahl von T.berichten gesammelt sowie Erzählkontexte und J Interpreta-
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tionspraktiken beschrieben10. T.deutungen in traditionellen Gesellschaften weisen mitunter Parallelen zu zeitgenössischen psychoanalytischen T.theorien auf (Zusammenhänge mit den Lebensumständen des Träumers11, Interpretation im Sinne einer Wunscherfüllung12), oder sie stellen deren Umkehrung dar (erotische T.e auf praktische Fragen der Jagd bezogen13). In der T.theorie S. J Freuds (J Psychoanalyse, J Psychologie, J Tiefenpsychologie) ist der T. ein halluzinatorisch-szenisch realisiertes Konfliktprodukt aus Kulturbedingungen, verdrängten Wünschen (J Unbewußtes) und Schlafbedürfnis. Weil die latenten T.gedanken für das Bewußtsein unannehmbar seien, könnten sie nur in entstellter Form Ausdruck finden. Daher sei der T. gewöhnlich unverständlich. Die Entstellung ist ein Resultat der T.arbeit, für die Freud folgende Mechanismen herausstellte: Verdichtung (Komprimierung der T.gedanken), Verschiebung (Akzentverschiebung von einem zentralen Anliegen des T.gedankens auf etwas Nebensächliches), Rücksicht auf Darstellbarkeit (Umwandlung von T.gedanken in Bilder) und sekundäre Bearbeitung (Herstellung eines relativ widerspruchsfreien und verständlichen Ganzen)14. Zur Enthüllung der latenten T.gedanken muß bei der T.deutung die T.arbeit durchschaubar gemacht werden. Die Interpretation erfolgt mit Hilfe freier J Assoziation des Träumers und vor dem Hintergrund seiner individuellen Erfahrungen. Symbole ⫺ d. h. diejenigen T.bilder, die ohne Ansehen von Individuum und Kultur als fest und unwandelbar betrachtet werden und die nach populärem Verständnis als für Freuds Methode bezeichnend gelten ⫺ sind für die T.deutung von sekundärer Bedeutung. Wichtig ist jedoch die Erkenntnis, daß Vorstellungen und Darstellungen auch symbolisch sind, obwohl sie wegen ihres persönlichen und idiosynkratischen Charakters nicht als J Symbolik verstanden werden und zudem variabel sind. T.e entstehen nach Freud aus sog. Tagesresten: vor kurzem im Wachzustand gemachten Erlebnissen in Verbindung mit unbewußten infantilen Impulsen (J Inzest, Mord). Die Motivation für den T. bildet nach Freud ein unbewußter J Wunsch, und der T. ist die entstellte Erfüllung dieses Wunschs. Ausgehend von Freuds T.theorie entstanden bald verschiedene psychoanalytische Interpre-
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Traumdeutung, Traumtheorie
tationen von Mythen und Märchen: F. Riklins Wunscherfüllung und Symbolik in Märchen (1908), O. J Ranks Mythus von der Geburt des Helden (1909) und K. Abrahams T. und Mythus (1909). Diese Werke beeinflußten wiederum Freud, der in der Folge von Mythen als „Wunschphantasien ganzer Nationen, den Säkularträumen der jungen Menschheit“15 sprach und mehrere Aufsätze zu Mythen und Volkserzählungen verfaßte ⫺ z. B. Märchenstoffe in T.en (1913), Das Motiv der Kästchenwahl (1913) oder Zur Gewinnung des Feuers (1932). In T.e im Folklore (verfaßt 1911) analysierten Freud und D. E. Oppenheim Volkserzählungen mit T.berichten und zeigten Übereinstimmungen von psychoanalytischen Interpretationen mit populären Deutungen auf16. Freud und seine Schüler betrachteten die überindividuelle Bedeutung von Symbolen als menschheitsgeschichtliches Erbe, das unterschiedliche Kulturen verbindet. Bei ihrer Interpretation von Mythen und anderen Formen der Überlieferung spielten entsprechend und im Gegensatz zur T.deutung, die individuell und assoziativ vorgeht, Symbole die zentrale Rolle. Der schott. Ethnologe V. Turner (1920⫺ 83) kritisierte diese Methode, übernahm aber bei der Entwicklung seiner eigenen Kultursymbolik Freuds Hermeneutik der T.deutung dennoch zum größten Teil17. Bei der ethnol. Beschäftigung mit T.en galt das Interesse meist manifesten Inhalten18, und die zur Analyse von Mythen angewandten strukturalistischen Methoden wurden auch für die T.analyse empfohlen19. C. G. J Jung kritisierte die psychoanalytische T.theorie als Reduktion eines komplizierten ästhetischen und emotionalen Erlebnisses auf Aussagen über verdrängte Wünsche. Der analytischen Psychologie zufolge ist der T. in seiner ganzen Komplexität zu akzeptieren und als Mitteilung aus dem Unbewußten zu verstehen, die von großer intellektueller und emotionaler Kraft ist. Der T. bediene sich einer Symbolsprache, und Symbole seien ⫺ anders als Zeichen ⫺ nicht auf vollständig bekannte Referenzwerte reduzierbar, da das Symbol am Symbolisierten teilhabe. Der T. werde nicht durch einen Zensor entstellt, sondern sei Ausdruck eines primitiveren Teils der Psyche. Aus der Unfähigkeit des Bewußtseins, dessen Sprache zu verstehen, entstehe die Unverständlich-
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keit des T.s; Inzest etwa sei weniger ein Wunsch als ein Symbol20. Der T. habe kompensierende Wirkung und diene dem Ausgleich persönlicher Defizite. Die Bedeutung des T.s liege daher in seiner Funktion für die Psyche. Folglich halte der Traum für alle, die in der Lage sind, seine Bedeutung zu assimilieren, große Möglichkeiten bereit. In Jungs Psychologie umfaßt das Unbewußte individuelle und kollektive Komponenten. Dazu gehören Vergessenes oder Verdrängtes aus dem eigenen Leben ebenso wie aus der Entwicklung der Menschheit. J Archetypen (Kap. 1), d. h. die instinktive Bereitschaft, für das Bewußtsein zugängliche Bilder zu schaffen, seien Teil eines kollektiven Erbes. Archetypische Bilder erscheinen nach Jung sowohl in T.en als auch in Mythen und Volkserzählungen. Der Analytiker benötige breite Kenntnisse aus allen Bereichen der Kultur, um diese Bilder in T.en erkennen zu können21. Im Märchen könnten sie in äußerst direkter und prägnanter Form ihren Ausdruck finden22. Andere T.theorien (darunter solche, nach denen das T.leben und das Leben im Wachzustand völlig voneinander getrennt sind23) haben sich nicht in signifikanter Weise mit der Interpretation von Volksüberlieferungen befaßt. Analysen von Mythen und Volkserzählungen stammen weitgehend von klinisch praktizierenden Psychoanalytikern oder Vertretern der Jung-Schule. Auf diese T.theorien haben zwar nur wenige Erzählforscher, unter ihnen vor allem A. J Dundes, zurückgegriffen24, doch hat die T.deutung sowohl in offenkundiger als auch in subtiler Weise auf die Erzählforschung eingewirkt. 1 Tylor, E. B.: Primitive Culture 1⫺ 2. L. 21873, hier t. 2, 12⫺26. ⫺ 2 Clodd, E.: Myths and Dreams. L. 2 1891, 168⫺174. ⫺ 3 Tylor (wie not. 1) t. 1, 289; t. 2, 9, 20⫺26. ⫺ 4 Laistner, L.: Das Rätsel der Sphinx. B. 1889. ⫺ 5 Hufford, D. J.: The Terror that Comes in the Night. Phil. 1982. ⫺ 6 Boas, F.: The Growth of Indian Mythologies. In: JAFL 9 (1896) 1⫺11, hier 8; Eggan, D.: The Personal Use of Myth in Dreams. ibid. 68 (1955) 445⫺453. ⫺ 7 Kehoe, A. B.: The Ghost Dance. N. Y. 1989; Homiak, J.: The Mystic Revelation of Rasta Far-Eye. In: Dreaming. Anthropological and Psychological Perspectives. ed. B. Tedlock. Santa Fe 1992, 220⫺245; Burridge, K.: Mambu. L. 1960. ⫺ 8 z. B. Bas¸göz, I˙.: The Structure of Turkish Romances. In: Folklore Today. Festschr. R. M. Dorson. Bloom., Ind. 1976, 11⫺23. ⫺ 9 z. B. Toel-
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Trauung: Die scherzhafte T.
ken, B.: The Anguish of Snails. Logan, Utah 2003, 151; Du Bois, C.: The People of Alor. Minneapolis 1944, 44 sq. ⫺ 10 z. B. Eggan, D.: The Manifest Content of Dreams. In: American Anthropologist 54 (1952) 469⫺485; Lee, S. G.: Social Influences in Zulu Dreaming. In: The J. of Social Psychology 47 (1958) 265⫺283; Tedlock, B.: Quiche Maya Dream Interpretation. In: Ethos 9 (1981) 313⫺303. ⫺ 11 Osley, A. S.: Notes on Artemidorus’ Oneirocritica. In: The Classical J. 59 (1963) 65⫺70. ⫺ 12 Wallace, A. F. C.: Dreams and the Wishes of the Soul. A Type of Psychoanalytic Theory among the Seventeenth Century Iroquois. In: American Anthropologist 60 (1958) 234⫺248. ⫺ 13 Descola, P.: Head-Shrinkers versus Shrinks. In: Man N. S. 24 (1989) 439⫺450. ⫺ 14 The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud 1⫺24. ed. J. Strachey. L. 1953⫺74, t. 4 (1958) 277⫺338; t. 5 (1958) 339⫺ 404, 488⫺508. ⫺ 15 ibid., t. 9 (1959) 152. ⫺ 16 ibid., t. 12 (1958) 177⫺203. ⫺ 17 Oring, E.: Victor Turner, Sigmund Freud, and the Return of the Repressed. In: Ethos 21 (1993) 273⫺294. ⫺ 18 Eggan (wie not. 10). ⫺ 19 Kuper, A.: A Structural Approach to Dreams. In: Man N. S. 14 (1979) 645⫺662; cf. Descola (wie not. 13). ⫺ 20 Jung, C. G.: The Collected Works 8. ed. H. Read u. a. Princeton/L. 1969, 263 sq. ⫺ 21 ibid. 9,1 (1968) 4 sq. ⫺ 22 Franz, M.-L. von: The Interpretation of Fairy Tales. Dallas 1970, 1. ⫺ 23 Lowy, S.: Psychological and Biological Foundations of Dream Interpretation. L. 1942. ⫺ 24 Dundes, A.: Interpreting Folklore. Bloom. 1980; z. B. Carvalho-Neto, P.: The Concept of Folklore. Coral Gables, Fla 1971; Oring, E.: The Jokes of Sigmund Freud. A Study in Humor and Jewish Identity. Phil. 1984; Burns, T. A. und I. H.: Doing the Wash. An Expressive Culture and Personality Study of a Joke and Its Tellers. Hatboro, Pa 1976.
Los Angeles
Elliott Oring
Trauung: Die scherzhafte T. (AaTh/ATU 885), schwankhaftes Novellenmärchen, in dem ein junger Mann mit Hilfe eines erfinderischen Manövers das geliebte Mädchen heiraten kann (J Hochzeit). Die Grundform des Märchens verläuft folgendermaßen: Ein reicher Kaufmann (Wirt, Bauer, Müller) sperrt sich gegen die Beziehung seiner Tochter zu einem armen jungen Mann (Soldat, Hirt) und verspricht sie statt dessen einem Pfarrer (Theologiestudent). Der junge Mann verläßt den Ort für längere Zeit (geht zum Militär, fährt zur See) und kommt zu Reichtum. Am Tag der Hochzeit seiner Geliebten kehrt er unerkannt zurück. Im Beisein der Gäste fragt der junge Mann (sein Helfer) den Pfarrer, ob dieser in
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der Lage sei, auswendig und spontan eine T. zu vollziehen. Der nichtsahnende Geistliche will dies unter Beweis stellen: Der junge Mann stellt sich neben die Braut, und der Pfarrer traut sie. Dann gibt sich der junge Mann zu erkennen und fragt die Anwesenden, ob sie die geschlossene Ehe für gültig halten, was von diesen bejaht wird. Der Vater der Braut akzeptiert die Ehe.
In anderen Var.n, die AaTh/ATU 885 zugeordnet wurden, läßt sich das Mädchen von ihrem Auserwählten entführen (J Entführung). AaTh/ATU 885 ist aus lapp.1, finn.2, schwed.3, finn.-schwed.4, dän.5, isl.6, schott.7 sowie estn.8, litau.9 und liv.10, dt.11, ital.12, span.13, katalan.14, lateinamerik.15 und frankokanad.16 Aufzeichnungen des 19./20. Jh.s bekannt. Das Motiv der im Scherz geschlossenen T. erinnert an die isl. Saga von Gunnlaug Ormstunga (11. Jh.)17. Gelegentlich hat der junge Mann bei seinen Bemühungen um die Braut einen Helfer, z. B. den J Alten Fritz18. Manchmal wird der Geistliche aufgefordert, die T. ‘ohne Buch’19 oder ‘ohne Buch und außerhalb der Kirche’20 vorzunehmen. Das Mädchen erkennt den jungen Mann mitunter an einem Lied, das sie als Kinder gelernt haben21; bei Entführungen erfolgt die Verständigung des Liebespaars in verschlüsselter Form, etwa mittels eines Trinkspruchs22 oder mit doppeldeutigen Worten23. So sagt der junge Mann z. B.: ,Draußen dunkel und wolkig, aber drinnen heller Sonnenschein; mein Herr bittet um Antwort‘ (,Dunkel‘ und ,Wolkig‘ sind die Namen der vor der Tür wartenden Pferde); das Mädchen ist einverstanden und flieht mit ihm. In einer dän. Var. ist es der geizige reiche Vater der Braut selbst, ein Anwalt, der seinem Schreiber rät, sich von seiner Geliebten entführen zu lassen: es gebe kein Gesetz, das es einer Frau verbiete, ohne Erlaubnis ihres Vaters einen Mann zu nehmen24. Dem Erzähltyp manchmal vorangestellt ist das auch aus AaTh/ATU 611: J Geschenke der Zwerge bekannte Eingangsmotiv25: Zwei reiche Kaufleute (zwei schwangere Frauen) verabreden sich, ihre Kinder miteinander zu verheiraten, falls der eine einen Sohn und der andere eine Tochter bekommt. Als aber später der Vater des Jungen ins Unglück gerät, besinnt sich der Vater der Tochter, der inzwi-
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Travestie
schen noch reicher geworden ist, und beschließt, den Jungen beseitigen zu lassen. Nach verschiedenen Abenteuern kehrt der junge Mann zurück und heiratet seine Braut mit der List der angeblichen Scheintrauung26. In span. und lateinamerik. Var.n ist die Heldin mit einem eifersüchtigen Mann (Juwelier, Schneider, Witwer) verheiratet: Er schließt seine junge Frau im Haus ein, damit andere sie nicht sehen. Ein junger Mann sieht sie jedoch am Fenster und verliebt sich in sie. Es gelingt ihm, zu ihr vorzudringen. Sie akzeptiert seinen Heiratsantrag. Bevor sie flieht, hinterläßt sie zur Täuschung am Fenster ein Abbild ihrer selbst (Puppe, Bild). Der Liebhaber lädt den Ehemann als Trauzeugen zu seiner Hochzeit. Jener sieht von der Straße aus das Bild am Fenster und denkt, es sei seine Frau. Die Verliebten heiraten, und als der alte Ehemann zu Hause den Betrug erkennt27, begeht er Selbstmord28 oder stirbt bei der Verfolgung des Liebespaars29. Auch in diesen Var.n benutzt der Held Wortspiele zur Erreichung seines Ziels30. Auf außergewöhnliche Weise enden auch zwei finnlandschwed. Fassungen: In der einen stirbt der Brautvater aus Ärger, als er den Betrug bemerkt31. Die andere mündet in eine Gespenstersage: Die Braut fällt beim Anblick ihres Geliebten tot um, und seitdem erscheint ihr Geist an diesem Ort32. 1
Qvigstad, J. K.: Lappiske eventyr og sagn 4. Oslo/ Lpz. 1929, 499. ⫺ 2 Rausmaa, SK 2, num. 109. ⫺ 3 ˚ Aberg, G. A.: Nyländska folksagor. Hels. 1887; Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 1. Hels. 1917, num. 178 (9 Var.n); Schier, K.: Schwed. Volksmärchen. MdW 21974, num. 63. ⫺ 4 Hackman (wie not. 3). ⫺ 5 Kristensen, E. T.: Bindestuens Saga. Kop. 1897, num. 5, 14. ⫺ 6 Boberg. ⫺ 7 Campbell, J. F.: Popular Tales of the West Highlands 1. L. 2 1890, num. 17 b. ⫺ 8 Aarne, A.: Estn. Märchenund Sagenvar.n (FFC 25). Hamina 1918. ⫺ 9 Kerbelyte˙, LPTK. ⫺ 10 Loorits. ⫺ 11 Ranke; Grüner, G.: Waldeck. Volkserzählungen. Marburg 1964, num. 507; Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 206; Neumann, S.: Friedrich d. Gr. in der pommerschen Erzähltradition. Rostock 1998, 94⫺96. ⫺ 12 Cirese/Serafini. ⫺ 13 Camarena/ Chevalier; Gonza´lez Sanz 891 D; Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 2. Madrid 1988, num. 228; Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y Nuevo Me´jico 1. Stanford [1957], num. 26. ⫺ 14 Quintana, A.: Lo Molinar. Literatura popular catalana del Matarranya i Mequinensa 1.
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Calaceit 1995, num. 27. ⫺ 15 Robe; Pino Saavedra 2, num. 82; Carvalho-Neto, P.: Cuentos folklo´ricos del Ecuador 3. Quito 1976, num. 90; Lara Figueroa, C. A.: Cuentos populares de Guatemala. Guatemala 1982, num. 30; Jaramillo London˜o, A.: Cosecha de cuentos (del folklore de Antioquia). Medellı´n 1958, 119⫺131. ⫺ 16 Lemieux, G.: Les Vieux m’ont conte´ 1. Montre´al 21977, 81⫺102; ibid. 14 (1980) num. 26. ⫺ 17 Liungman, Volksmärchen, 232. ⫺ 18 z. B. Neumann (wie not. 11). ⫺ 19 Hackman (wie not. 3) num. 178 (4); Qvigstad (wie not. 1). ⫺ 20 Hackman (wie not. 3) num. 178 (3). ⫺ 21 ibid., num. 178 (2). ⫺ 22 Espinosa (wie not. 13). ⫺ 23 Hackman (wie not. 3) num. 178 (5). ⫺ 24 Kristensen (wie not. 5) num. 5. ⫺ 25 z. B. Hackman (wie not. 3) num. 178 (7, 8). ⫺ 26 Kristensen (wie not. 5) num. 14. ⫺ 27 Carvalho-Neto und Jaramillo London˜o (wie not. 15); Rael (wie not. 13); Wheeler, H. T.: Tales from Jalisco, Mexico. Phil. 1943, num. 26. ⫺ 28 Carvalho-Neto (wie not. 15). ⫺ 29 Jaramillo London˜o (wie not. 15). ⫺ 30 Rael (wie not. 13); Curiel Mercha´n, M.: Cuentos extremen˜os. Madrid 1944, 229⫺ 233; Quintana (wie not. 14). ⫺ 31 Hackman (wie not. 3) num. 178 (2). ⫺ 32 Liungman 1, num. 329; cf. auch El, Shamy, Types.
Tarragona
Carme Oriol
Travestie (lat. travestire: verkleiden). Die T. ist zum einen eine komisch-satirische Lit.gattung (J Komik, J Satire), bei der im Gegensatz zur J Parodie ein an sich ernster Inhalt aus seinen zeitlich-räumlichen Bindungen gelöst, in völlig neue Kontexte gestellt und durch eine unangemessene Form der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Zum andern ist T. ein komisierendes Verfahren, das auf einer gezielten Veränderung der Form, unter weitgehender Beibehaltung des Inhalts, basiert1. Darüber hinaus bezeichnet T. auf der Bühne die überzeichnende Darstellung einer Rolle durch eine Person des anderen Geschlechts. Häufig sind die Grenzen jedoch fließend, so daß eine klare Abgrenzung der T. von Parodie, Satire, Burleske und Humoreske nicht immer möglich ist. Ohnehin werden durch eine verbreitete Unkenntnis der Gattungsmerkmale die Begriffe oft synonym gebraucht. Die T. ist bisher in jeder Hinsicht völlig unzureichend erschlossen. Das gilt für die Lit.wissenschaft ebenso wie für die volkskundliche Erzählforschung. Für die Entwicklung der literar. Gattung von Bedeutung waren Giovanbattista Lallis Versdichtung L’Eneide travestita (Rom 1634) und Paul Scarrons Burleske Le Virgile travesti
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Travestie
(P. 1648⫺53), die zahlreiche Nachahmungen erfuhren. Im dt.sprachigen Raum ist primär Aloys Blumauers unvollendetes Versepos Abentheuer des frommen Helden Aeneas oder Virgils Aeneis travestiert (Wien/Prag 1782) zu nennen, das im Geist des aufgeklärten Josephinismus zahlreiche Spitzen gegen die Zeremonien der kathol. Kirche enthält2. Travestiert wird dort z. B. J Äneas’ Höllenfahrt: Er begegnet dem Garkoch Satanas und J Luther, Hus und Rousseau. Bei dieser Art von travestierter Mythologie3, die sich gegen die zeitgenössische Antikenbegeisterung wendet, werden die antiken Helden ironisch beleuchtet, ihre Taten komisch übertrieben oder scheinbar naiv auf eine niedere Ebene gestellt. Mythologisches ist bewußt mit Zeitgenössischem in anachronistischer Weise vermengt, wodurch ein komischer J Kontrast zur hohen Stillage des Vorbilds entsteht. In der populären Erzählkultur ist die T. ein in verschiedenen Erzählgattungen verwendetes Verfahren. Da der intendierte Haupteffekt der T. auf der Diskrepanz zur travestierten Vorlage beruht, kommen primär Erzählungen, einzelne Erzählsequenzen oder Aussprüche in Frage, die eine gewisse Bekanntheit besitzen. So basiert die komische Wirkung vieler J Witze darauf, daß ein bekannter Sachverhalt oder eine geläufige Redewendung in einen veränderten Zusammenhang gestellt wird4. Oft genügen kleine Ergänzungen, die den ursprünglichen Sinn ins Lächerliche ziehen, so wenn es z. B. in Ergänzung zu den berühmten Pilatusworten (Mt. 27,24) heißt: ,Ich wasche meine Hände in Unschuld und Schmierseife.‘ Ähnliches gilt für die Umstellung bekannter Verszeilen oder für scheinbar geringfügige oder zufällige Änderungen. Durch den Austausch nur eines Wortes verwandelt sich z. B. der Sinn einer sprichwörtlichen Redensart ins Komische: ,Lügen haben schöne Beine‘5. Das gleiche T.verfahren findet sich u. a. in komischen Sprüchen, Kinderreimen, (Spott-)Liedern und Schwänken6. Die T. macht ⫺ trotz möglicher Blasphemievorwürfe ⫺ auch vor religiösen Texten wie Bibelworten, Gebeten, Legenden oder Kirchenliedern nicht halt. In Fastnachtschwänken und -bräuchen haben T.en (häufiger allerdings Parodien) von Begräbniszeremonien (mit Weh-
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klagen, Litanei, Leichenpredigt und Nachruf) einen festen Platz7. Märchentravestien sind relativ häufig und betreffen primär bekannte Märchen, bes. der Brüder J Grimm8 wie KHM 1, AaTh/ATU 440: J Froschkönig9, KHM 15, AaTh/ATU 327 B: J Hänsel und Gretel10 oder KHM 26, AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen11. Dabei enthält schon J Wielands komisch-satirischer Roman Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva (Ulm 1764) Episoden, die als T. der Contes des fe´es aufgefaßt werden können, etwa die Geschichte des Prinzen Biribinker, in der sich Motive aus verschiedenen Feenmärchen in grotesker Art geradezu überbieten12. Nicht wie bei Wieland die Gattung, sondern konkrete Märchen stehen ansonsten im Mittelpunkt der T. In der Geschichte vom Froschkönig13 z. B. setzt die T. nach L. J Röhrich fast immer bei der Szene an, in der die Prinzessin einen Frosch findet und ⫺ entgegen der literar. Vorlage ⫺ küßt. Der komische Effekt besteht meist darin, daß die J Verwandlung des Froschs in einen hübschen Prinzen nicht in der erwarteten Weise funktioniert und trotz wiederholter Versuche scheitert: durch das entsetzte Zurückweichen des Froschs, weil seine Erlöserin keine hübsche Prinzessin ist, das Mißlingen der Verwandlung in einen Prinzen oder durch die Verwandlung der Prinzessin in einen Frosch14. Dies führt dazu, daß die in ihrer Erwartung enttäuschte Person den Verwandlungsprozeß am liebsten rückgängig machen möchte. Meist basiert die komische Wirkung also nicht allein auf einer subtilen Veränderung der formalen Gestaltung des travestierten Märchens, sondern auch auf dessen inhaltlicher Änderung, wodurch sich die Grenzen zur Parodie als fließend erweisen. Das gilt ebenso für mediale Transformationen des Froschkönig-Märchens in Karikatur, Cartoon, Comic und Film oder für dessen Verwendung im Bereich der J Werbung15. Zu den weltweit am häufigsten travestierten Märchen gehört AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen, von dem U. Erckenbrecht16 mehr als 700 Parodien, T.n und andere Umarbeitungen ausmachen konnte. Das Märchen wird modernisiert und in eine andere Zeit oder in ein spezifisches Milieu verlagert. So ist das moderne Rotkäppchen nur noch scheinbar naiv oder
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Trennen, Trennung
hilflos, denn es erkennt sofort die vom Wolf ausgehende Gefahr und weiß sich sehr wohl zu helfen, indem es ihn kurzerhand mit einem Revolver erschießt17. Aber auch der böse Wolf erscheint in einem ganz anderen Licht, wenn das Rotkäppchen dem überraschten Jäger heftige Vorwürfe macht, dieses seltene Tier erlegt zu haben: „das hätten Sie nicht machen sollen, mein Herr, von denen gibt es nur noch ein paar hundert.“18 Andere T.n basieren darauf, daß das Märchen in einem bestimmten politischen (im Nationalsozialismus, in der DDR) oder fachspezifischen Kontext (Rotkäppchen auf Mathematisch, Theologisch, Linguistisch) angesiedelt ist oder sich einer milieuspezifischen Sprache (Rotkäppchen auf Amtsdeutsch, im amerik. Militärjargon, auf Reklamedeutsch) bedient. Durch die T. erhalten die Märchen einen neuen Bedeutungsgehalt, eine veränderte symbolische oder kulturelle Wertigkeit und eine Moral, die sich deutlich von derjenigen ihrer literar. Vorlagen unterscheidet. Ein komischer Effekt läßt sich auch durch die Übertragung von Märchen in das sprachliche Milieu von Jugendlichen herbeiführen19. Auffällig ist, daß die meisten Märchentravestien aus dem 20. Jh. stammen. Offensichtlich wurden populäre Märchen mit ihren tradierten Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, bes. in jüngerer Zeit, als teilweise nicht mehr zeitgemäß empfunden und forderten zur T. heraus. Im Gegensatz zu den meist internat. bekannten Märchen gibt es kaum T.en von Sagen; eine Ausnahme bilden T.n zu ATU 570*: J Rattenfänger von Hameln20. Häufiger dagegen begegnen T.n populärer Kindergeschichten, z. B. von Heinrich Hoffmanns J Struwwelpeter 21. 1
cf. allg. Verweyen, T./Witting, G.: T. In: RDL 3 (32003) 682⫺684; Stauder, T.: Die literar. T. Terminologische Systematik und paradigmatische Analyse (Deutschland, England, Frankreich, Italien). Ffm. u. a. 1993. ⫺ 2 Eybl, F. M. (ed.): Aloys Blumauer und seine Zeit. Bochum 2007. ⫺ 3 cf. Becker, I.: Theodor Hosemann (1807⫺1875). Ansichten des Berliner Biedermeier. Diss. B. 1981, 199 sq. ⫺ 4 Röhrich, L.: Der Witz. Mü. 21980, 65⫺73, 309; Freud, S.: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Ffm. 1958 u. ö., 163 sq. ⫺ 5 ibid., 69. ⫺ 6 Neumann, S.: Der mecklenburg. Volksschwank. B. 1964, 56. ⫺ 7 z. B. Schleier, L.: Faust in Hamburg. Eine Phantas-
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magorie, ein Fastnachtschwank, eine T., eine Ironie. Hbg 1835; Leoprechting, K. von: Aus dem Lechrain. Mü. 1855, 162⫺165; cf. zudem Wuttke, D. (ed.): Fastnachtsspiele des 15. und 16. Jh.s. Stg. 21978; Moser, D.-R.: Fastnacht, Fasching, Karneval. Graz/ Wien/Köln 1986, 327⫺337; Mezger, W.: Das große Buch der schwäb.-alemann. Fasnet. Stg. 1999, 85⫺ 87. ⫺ 8 Mieder, W. (ed.): Grimms Märchen ⫺ modern. Prosa, Gedichte, Karikaturen. Stg. 1979 (21995). ⫺ 9 Röhrich, L.: Wage es, den Frosch zu küssen. Das Grimmsche Märchen Nummer Eins in seinen Wandlungen. Köln 1987. ⫺ 10 Mieder, W.: Hänsel und Gretel. Das Märchen in Kunst, Musik, Lit., Medien und Karikaturen. Wien 2007. ⫺ 11 Ritz, H. [i.e. U. Erckenbrecht]: Die Geschichte vom Rotkäppchen. Ursprünge, Analysen, Parodien eines Märchens. (Göttingen 1981) Kassel 142006; Zipes, J.: The Trials and Tribulations of Little Red Riding Hood. Versions of the Tale in Sociocultural Context. L. 1983. ⫺ 12 Nobis, H.: Phantasie und Moralität. Das Wunderbare in Wielands „Dschinnistan“ und der „Geschichte des Prinzen Biribinker“. Kronberg 1976. ⫺ 13 Röhrich (wie not. 9) bes. 62⫺67. ⫺ 14 z. B. Janosch [i.e. H. Eckert] erzählt Grimms Märchen. Weinheim/Basel 1972, 45⫺50; Fetscher, I.: Wer hat Dornröschen wachgeküßt? Das Märchen-Verwirrbuch. Ffm. 1980, 130⫺138; Riechling, M.: Ich dachte, es wäre der Froschkönig. Stg. 1984. ⫺ 15 Röhrich (wie not. 9) 60 sq. ⫺ 16 Ritz (wie not. 11). ⫺ 17 ibid., 58. ⫺ 18 id.: Bilder vom Rotkäppchen. Mü. 1986, 69. ⫺ 19 Claus, U./Kutschera, R.: Total Tote Hose. 12 bockstarke Märchen. Ffm. 1984. ⫺ 20 Mieder, W.: The Pied Piper. A Handbook. Westport, Conn./L. 2007. ⫺ 21 Jacobs, H.: Struwwelpeter-T.n. In: Schug, Albert (ed.): Die Bilderwelt im Kinderbuch. Köln 1988, 88 sq.
Regensburg
Daniel Drascek
Trennen, Trennung. Das Verb ,trennen‘ beschreibt den Vorgang der Teilung von etwas ursprünglich Verbundenen. Für den Bedeutungsgehalt ist in den frühen dt. Belegen aus dem 16. Jh. „die vorstellung der gewaltsamkeit dieses lösungsvorganges […] wesenhaft“1. Entsprechend deckt das breite Wortfeld vielfältige militärische, hist.-politische, juristische, religiös-konfessionelle und soziale Phänomene ab, aber auch Vorgänge der Arbeitswelt. Innerhalb von Erzählungen setzt Trennen einen Zustand der Gemeinsamkeit von Menschen (Mensch und Tier, Ding) an einem konkreten oder symbolischen Ort in Kollektiv, Gruppe, Familie, Ehe oder Partnerschaft voraus, der aus verschiedenen Gründen unterbro-
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Trennen, Trennung
chen oder beendet und/oder wiederhergestellt wird. Das häufige Erscheinen von Motiven der Trennung (T.) kann ein Indikator für gesellschaftliche Krisenphänomene wie Armut, Krieg und Vertreibung sein oder auf individuelle Notlagen hinweisen. Die T. steht aber oft auch symbolisch für die Lebensreise des Menschen. Sie ist daher ein Gestaltungsmittel in Erzählungen, dem eine Signalwirkung für Mobilität und Veränderungen zukommt. Zumeist sind T.smotive unmittelbar handlungsauslösend und stehen daher am Anfang einer Erzählung, die durch eine J Mangelsituation charakterisiert ist: Der Ausfahrt des J Helden in der J Artustradition entspricht im Zaubermärchen der Auszug des Protagonisten aus seinem Elternhaus (bei V. Ja. J Propp Funktion I)2; J Kinder und J Frauen (Kap. 3. 1.2) werden ihrem Schicksal überlassen (J Aussetzung) oder vertrieben. Motive der Separation können aber auch im Laufe der Geschichte eingesetzt werden, vor allem bei mehrsträngigen Konstruktionen, die z. B. vom unterschiedlichen Schicksal mehrerer Geschwister berichten. Als dramatisierendes oder J retardierendes Moment wirken Motive der T. spannungssteigernd (J Dynamik), um einen endgültigen Zustand der Verbindung vorzubereiten bzw. herauszuzögern. In diesem Falle kommt es in der Regel zu einer positiven Entwicklung und Zusammenführung der getrennten Person(en) auf einem neuen Niveau. Das Rendezvous der Getrennten löst etwa eine Befreiung aus einem Zustand der Verzauberung aus; T.en können aber auch Lebensphasen endgültig abschließen und Gemeinschaften beenden, wobei die Vernichtung bzw. der Tod einer unholden Gestalt als Befreiung oder Sieg verstanden wird. Kinder werden von ihren Eltern getrennt, bewähren sich gemeinsam gegenüber einem Ungeheuer und kehren wohlbehalten nach Hause zurück (z. B. AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel). Tragisch endet dagegen das dt. Volkslied Die Königskinder mit dem Tod eines der Liebenden, die ,zusammen nicht kommen‘ können, weil ein tiefes Wasser zwischen ihnen liegt. Zum ersten Mal taucht dieses Motiv in einer altgriech. Sage auf: J Ovid berichtet in seinen Heroides (num. 18, 19) von einem diesseits und jenseits des Hellespont lebenden Paar (AaTh/ATU 666*: J Hero und Leander)3.
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Ebenfalls seit der Antike bekannt ist das Modell des abenteuerlichen Familienromans: Die durch das J Schicksal auseinandergerissenen Mitglieder werden durch Reisen und Seefahrten hindurch oft nach vielen Jahren der T. auf märchenhafte Weise zusammenführt: so wird der Titelheld des Seefahrer- und Abenteuerromans J Apollonius von Tyrus wieder mit Ehefrau und Tochter verbunden4. Im Prosaroman J Pontus und Sidonia (Ende 14. Jh.) wird der durch Krieg aus seiner Heimat vertriebene Pontus nicht nur mit der erwählten Frau vereint, sondern findet auch seine alte Mutter wieder5. Zahlreiche Märchen variieren das Thema J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau (AaTh/ATU 400). Der männliche Partner trifft gerade rechtzeitig ein, um seine Frau vor der Verehelichung mit einem anderen Mann zu bewahren (AaTh/ATU 974: J Heimkehr des Gatten). T.en leiten oft Phasen der Bedrohung und Gefährdung (J Gefahr) ein, die bewältigt werden müssen. Dies gilt für die gewaltsame J Isolation von einer Herkunftsgruppe, etwa durch J Gefangenschaft in der Fremde. Im Zusammenhang mit den Kreuzzügen entstandene Erzählungen thematisieren oft das Heimweh der in die Ferne gezogenen Ritter, die von den Sarazenen unter unwürdigen Bedingungen in einem Lager festgehalten werden. Das J Rolandsepos zeigt die lebensgefährliche Situation des von seinem Heer getrennten Helden, der sich mit seinem J Horn aus Stolz erst bemerkbar macht und Hilfe herbeiholt, als bereits die meisten Franken gefallen sind. Auch später künden zahlreiche Auswanderererzählungen von Leiden und Nöten der aus ihrer vertrauten Welt in die Ferne gezogenen Menschen, denen die Integration in ihrer neuen Heimat schwerfällt6. Seit den Anfängen der antiken Mythen und im hellenistischen Roman ist das Handlungsschema T. und Wiederfinden (J Wiedererkennen) ein Grundmodell für epische Formen. In J Homers Gestaltung der Irrfahrten des J Odysseus bilden die Schwierigkeiten der Rückkehr des Kriegers nach einer langen T.sphase7 ein immer wieder gestaltetes Motiv. Durch die Jh.e neu rezipiert wurden klassische Erzählungen, in denen T.sphänomene in Zusammenhang mit kontroversen Ehrvorstellungen eine Rolle spielen und tödlich enden. Antigone
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Trennen, Trennung
bestattet im gleichnamigen Drama des Sophokles (5. Jh.) ihren gefallenen Bruder und führt damit die von dem Sieger Kreon verweigerte, nach den religiösen Gesetzen aber verpflichtende rituelle T. von dem Toten aus. Andere Erzählungen kreisen um eine Rechtfertigung des J Mordes im Sinne einer endgültigen T. zur Sühne von Unrecht oder innerer Ausweglosigkeit, so die von J Medea, welche aus Rache an ihrem Ehemann ihre Kinder umbringt8. Auf die Metamorphosen des J Apuleius9 geht das weitverbreitete Erzählthema der gestörten J Mahrtenehe zurück (cf. auch AaTh/ATU 425 sqq.: J Amor und Psyche): Die Verbindung einer irdischen Person mit einem Wesen aus einer anderen Welt ist mit einem J Tabu belastet. Als das J Verbot übertreten wird, kommt es zur T. Während Psyche den göttlichen Gatten durch zahlreiche Qualen hindurch zurückgewinnt und zu ihm in den Olymp entrückt wird, enden die seit dem MA. zahlreichen Gestaltungen des J Melusine-Stoffes mit der endgültigen Entfernung des übernatürlichen Wesens aus der menschlichen Gemeinschaft. Im Rahmen dieser Erzähltradition ist der Mahrtenteil die Frau, die zumeist als eine glückbringende und fruchtbare Fee gedacht wird10, welche die Gestalt eines Nymphenwesens aus dem Wasser oder einer Schlange annehmen kann11. Die endgültige T. eines Paares von einem paradiesischen Ort (J Paradies) ist der Urmythos verschiedener Kulturen. In der jüd.christl. und der islam. Überlieferung werden J Adam und Eva für die Übertretung eines göttlichen Gebots bestraft12. Die T. von Kindern von ihrem Elternhaus zum Zweck der Ausbildung begegnet oft als zeittypisches Phänomen in den europ. Exempelsammlungen des 12. Jh.s, so in Rittererzählungen aller Art. Die erfolgreiche Bewährung angesichts von Unbilden verschiedener Art (J Bewährungsproben) wird sowohl unterhaltend gestaltet als auch mit belehrend-didaktischen Kommentaren versehen. Die Rahmenerzählung der weitverbreiteten Slg J Sieben Weise Meister schildert z. B. die Erziehung eines Herrschersohns fern des elterlichen Hofs durch sieben Weise. Nach seiner Rückkehr als erwachsener Mann kommt es zu einem für ihn lebensbedrohlichen J Konflikt, der nach langen Verhandlungen über Lebensmodelle mit der Vernichtung der
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verleumderischen Stiefmutter und der Machtübernahme des Prinzen endet. Während in der ma. J SchwanenritterÜberlieferung und in AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder die noch ungeklärte adlige Herkunft der Kinder durch Verwandlung in Tiergestalt symbolisiert wird, erscheinen in anderen Zaubermärchen den vom Elternhaus getrennten Kindern magische Schreckgestalten wie etwa in AaTh/ATU 327 A: Hänsel und Gretel: Die beiden im Wald ausgesetzten bzw. verirrten Kinder überlisten eine böse Hexe und kehren glücklich in ihr Elternhaus zurück. Einen guten Ausgang nehmen auch die zahlreichen anderen Märchen, in denen eine J Mutter verleumdet (J Verleumdung) und ihr das Neugeborene unter dem Vorwand weggenommen wird, sie habe ein Tier geboren ( J Tiergeburt). Wenn die Mutter stirbt, kehrt die Tote zum Kind zurück, um es zu J säugen (z. B. AaTh/ ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut). Umgekehrt kann das gestorbene Kind zurückkehren, um die Mutter von ihrer übermäßigen Trauer abzubringen (AaTh/ATU 769: J Tränenkrüglein) oder die Eltern zu ermahnen, sofern diese die Verantwortung für den Tod des Kindes tragen: Als die Eltern das eine goldene Bein ihres toten Kindes an sich nehmen, beklagt es sich über den Verlust und erhält das Bein wieder (AaTh/ATU 366: J Mann vom Galgen). Schon im MA. existierte ein Motivkomplex von der unschuldig verfolgten J Frau (Kap. 3. 1.2): Aufgrund einer Intrige vertreibt ein adliger Ehemann seine Frau, die im Wald in jahrelanger J Einsamkeit oder mit einem Kind überlebt (z. B. J Genovefa, cf. auch AaTh/ ATU 712: J Crescentia). Durch Zufall wird das Paar wieder zusammengeführt, und es kommt zur Rehabilitierung der unschuldig verfolgten Frau und ihrer Reintegration am Hof. Gegenüber der dominierenden Deutung dieser Erzählung als eines Exempels für die Belohnung und den Triumph passiv-weiblicher Tugenden wie Gehorsam und Keuschheit wurde auf die aktive Überlebensleistung und den Protest der Frau hingewiesen und die T.sphase als ein bewußt durchlebter Leidensweg verstanden, der im Sinne des positiven asketischen Ideals der vita contemplativa zu einer höheren Stufe der Selbsterkenntnis und
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Treue und Untreue
Weisheit führt13. Das häufige Auftauchen des Motivs von einer ,richtigen‘ und einer ,falschen‘ Ehefrau (etwa in Bertha aus grans pie´s [13. Jh.] von J Adenet le Roi; cf. auch J Berta) reflektiert möglicherweise die in den frühma. Herrscherhäusern noch übliche, von der kathol. Kirche aber abgelehnte Polygamie. Im Falle der J Griseldis (AaTh/ATU 887) ⫺ etwa im Decamerone (10,10) des J Boccaccio ⫺ prüft der Ehemann seine Gattin, indem er vorgibt, ihre Kinder zu töten. Die stoische Hinnahme dieser mörderischen Torturen durch den Mann wurde zunächst als archaisches Frauenideal völliger Auslieferung der Frau an ihren Eheherrn gedeutet. Nach einer neueren Sichtweise handelt es sich um das erste literar. Beispiel für die Realisierung der antiken höchsten Tugend der Selbstbeherrschung angesichts der launischen J Fortuna durch eine Frau14. Die weitaus meisten Belege in Märchen gibt es über die T. von Liebenden (AaTh/ATU 407, 432, 575, 870, 884), Braut und Bräutigam (AaTh/ATU 313, 365, 400, 425, 881 A, 886) sowie Eheleuten (AaTh/ATU 674, 677, 705 A, 706, 879 A, 881, 882 A, 883 A, 888 A, 891, 897, 923 A, 974, 986). Erst nach langer J Suchwanderung eines der beiden Partner findet das Paar, das getrennt wurde, da der Mann ein bestimmtes J Versprechen nicht eingehalten (z. B. AaTh/ATU 400) oder die von ihm begehrte Schöne gegen ihren Willen vom Elternhaus weggelockt hatte (J Brautraub, J Entführung), wieder zueinander. Die Zusammengehörigkeit von Menschen in den Phasen der T. wird oft durch Erinnerungsstücke, bes. Körpermale oder Symbole (J Erkennungszeichen) erhalten, die auch vom Zustand des Fernen künden, so etwa in AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder. Die J Prüfungen durch T.en, denen Heranwachsende ausgesetzt sind, lassen sich als J Initiationsrituale auffassen, bei denen Jugendliche Proben der Isolation bestehen müssen, um sich durch diese Läuterung bzw. Angstbewältigung für eine höhere Altersklasse und Gruppenzugehörigkeit zu qualifizieren. Die T. fördert ihre J Reifung und Identitätsfindung15. Viele der europ. Erzählungen um T. und (Wieder-)Vereinigung wurden durch die frühneuzeitlichen, mit Abb.en versehenen Drucke popularisiert. So fanden sie ein neues breites
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Lesepublikum. Bis in das 19. Jh. hinein wurde es durch die sog. Volksbücher nach dem Geschmack der Zeit in eine imaginäre Mittelalterwelt und ihre vermeintlichen T.slogiken zurückversetzt. 1 DWb. 11, 7. ⫺ 2 Propp, V.: Morphologie des Märchens. ed. K. Eimermacher. Mü. 1972. ⫺ 3 Holzapfel, O.: Elslein-Strophe. In: Verflex. 2 (21980) 514 sq. ⫺ 4 Ertzdorff, X. von: Romane und Novellen des 15. und 16. Jh.s in Deutschland. Darmstadt 1989, 55⫺58. ⫺ 5 ibid., 72⫺75. ⫺ 6 Brenner, P. J.: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in dt. Reise- und Auswandererber.n des 19. Jh.s. Tübingen 1991; Sehmsdorf, H. K.: „I Went Through a Lot of Misery“. Ein Auswanderer erzählt. In: Fabula 33 (1992) 77⫺101. ⫺ 7 cf. etwa Schulte, R.: Die verkehrte Welt des Krieges. Studien zu Geschlecht, Religion und Tod. Ffm. 1998, 15⫺34. ⫺ 8 cf. etwa Stephan, I.: Medea. Multimediale Karriere einer mythol. Figur. Köln/Weimar/Wien 2006, 1⫺6. ⫺ 9 Fehling, D.: Amor und Psyche. Die Schöpfung des Apuleius und ihre Einwirkung auf das Märchen, eine Kritik der romantischen Märchentheorie. Mainz 1977. ⫺ 10 Harf-Lancner, L.: Le Monde des fe´es dans l’Occident me´die´val. P. 2003. ⫺ 11 Steinkämper, C.: Melusine ⫺ vom Schlangenweib zur „Beaute´ mit dem Fischschwanz“. Geschichte einer literar. Aneignung. Göttingen 2007, 245⫺258. ⫺ 12 Flasch, K.: Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos. Mü. 2004. ⫺ 13 Foehr-Janssens, Y.: La Veuve en majeste´. Deuil et savoir au fe´minin dans la litte´rature me´dievale. Genf 2000, 263 sq.; Lundt, B.: „Narrating Gender“. Das erzählte Geschlecht im späteren MA. In: Hasberg, W./Seidenfuß, M. (edd.): Zwischen Politik und Kultur. Neuried 2003, 199⫺ 248. ⫺ 14 Flasch, K.: Vernunft und Vergnügen. Liebesgeschichten aus dem Decameron. Mü. 2002, 249⫺254. ⫺ 15 Beth, K.: T.sriten. In: HDA 8 (1936⫺ 37) 1139⫺1145.
Flensburg
Bea Lundt
Treue und Untreue. T. ist eine Eigenschaft und Verhaltensweise sowie ein darin sichtbarer moralischer Wert, dessen Bedeutung gesellschaftlich festgelegt und Ausdruck der jeweiligen Zeit ist1. Sie manifestiert sich in Handlungen, die den J Charaktereigenschaften Verläßlichkeit2, Beständigkeit3, Pflichtbewußtsein, J Gehorsam und J Geduld zuzuordnen sind, und äußert sich in Beziehungen zu Menschen oder Tieren, zu Gott, einer Sache oder Institution (Staat, Verein, Unternehmen) oder zu sich selbst. Der T.begriff ist eng mit ethischen und religiösen Werten (J Tugenden und Laster)
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verbunden, U. folglich eine Gewissensfrage4. T. wird oft durch ein Versprechen oder (stärker) durch einen J Eid bekräftigt5, hat dann bisweilen rechtlichen Charakter (rechtlich festgesetzt in ,Treu und Glauben‘6) und gilt zu bestimmten Zeiten für gewisse soziale Beziehungsformen, die symbolisch und moralisch hoch besetzt sind, als verbindlicher Wert7, dessen Bruch durch U. (teils harte) J Strafen zur Folge hat8. T. bezeichnet in der ursprünglichen Wortbedeutung Vertrag, Bündnis und Waffenstillstand9. In Abhängigkeit vom zeitlichen und regionalen Kontext ist das Verhältnis zur Herrschaft ein zentraler Bezugspunkt der persönlichen oder formalen T.beziehungen und T. ein Bindeglied reziproker, auch hierarchischer Sozialbeziehungen10. Im europ. MA. erweiterte sich die Wortbedeutung zur allg. Tugend der T.11 Diese war einerseits Grundlage des ma. feudalistischen Systems (J Feudalismus), andererseits bildete triuwe überhöht einen Grundbegriff der ritterlich-höfischen Ethik, der bes. in der Minnedichtung behandelt wurde12 und mitunter auch die Bedeutung einer ständeübergreifenden und nahezu transzendenten, quasi-religiösen Eigenschaft (gewöhnlich des Mannes, mit der er versucht, die Frau zu gewinnen) erlangte13. Ab dem 16. Jh. wurde T. zur dt. Nationaltugend erhoben, bes. im 18./ 19. Jh. politisch aufgeladen und in zahlreichen Liedern, Gedichten und anderen Texten als solche stilisiert14. In der Interpretation der Moderne des 19./20. Jh.s wird demgegenüber ein angeblicher Verlust von Werten, speziell der T., als gesellschaftlicher Mangel konstatiert15. T. kann der Mensch auf unterschiedliche Art zeigen. Gegen Gott16 äußert sie sich in Formen der Anbetung (J Gebet)17 und im J Gelübde, oder sie wird in religiös-moralischen Erzählungen verlangt. So soll etwa J Abraham als Beweis der T. zu Gott seinen Sohn töten. Als Gegenfigur versucht der J Teufel die Menschen zu U. und unrechtem Lebenswandel (J Sünde) zu verführen. Vorwiegend ist T. in zwischenmenschlichen Beziehungen verankert und strukturiert diese nach dem Prinzip der Reziprozität18, bes. zwischen einander nahestehenden Personen (Eheleute, Familienmitglieder, Freunde etc.). Die oft von hierarchischen Beziehungen handeln-
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den T.erzählungen vermitteln (ungleiche) Verhaltenserwartungen an die Geschlechter sowie an die Stände bzw. Schichten und transportieren darin die moralischen Werte der patriarchalen Gesellschaft (J Patriarchat). Bereits in der Antike wird T. im Verhältnis zwischen J Herr und Knecht thematisiert19, wobei gemäß dem sozialen Rang bes. dem Untergebenen T. obliegt. Der T.begriff wird bereits in der Bibel (Spr. 25,19; 14,22; 14,5) als moralischer Wert erörtert20. Er ist Thema unterschiedlicher literar. Gattungen der Volksliteratur21, bes. von Märchen und Schwank, seltener auch von Sage oder Sprichwort22. Angezeigt wird T. oft durch Symbole (Pflanzen23, Farben24, Dinge25, Gesten26, Zeichen27). In zahlreichen Erzählungen wird die Aufrichtigkeit des treuen Untergebenen zu seinem Herrn nach bestandener Probe belohnt (AaTh/ATU 889: Der treue J Diener). In AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes bewahrt der (dienende) Helfer seine unverbrüchliche T., indem er (durch den Bruch eines Schweigegebots) sein eigenes Leben opfert. U. der Bediensteten dagegen wird hart bestraft28. Vor allem schwankhafte Erzählungen verengen das T.verhältnis zwischen Eheleuten bzw. Liebespaaren auf die Frage der Ausschließlichkeit aktiv gelebter Sexualität, wobei außereheliche geschlechtliche Beziehungen als Bruch des Eheversprechens (J Ehebruch) gewertet werden. Beim J Mann gilt T. als wesenhafte Eigenschaft und wird als gegeben vorausgesetzt, daher genießt der Mann auch größere soziale Freiheiten; selbst ⫺ oft durch physische Bedürfnisse begründete ⫺ gelegentliche ,Fehltritte‘ stellen seine grundsätzliche T. nicht in Frage und bleiben ohne weiterreichende Folgen. Bei der Frau hingegen werden Charaktereigenschaften und Verhalten stärker hinterfragt; sie wird oft als eher wankelmütige und triebgesteuerte Person dargestellt (J Frau, Kap. 3.2.5), die ihre Ziele durch U. und Hinterlist zu erreichen versucht (J Ehebruchschwänke und -witze). Daher wird in traditionellen Erzählungen vor allem die T. der Frau auf die Probe gestellt (AaTh/ATU 882: cf. J Cymbeline; AaTh/ATU 976: Die vornehmste J Handlung; AaTh/ATU 1420 A⫺F: J Pfand des Liebhabers), oder sie wird unschuldig des Ehebruchs bezichtigt (J Genovefa). In vielen Gesellschaften war oder ist die Sichtweise ver-
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breitet, daß U. der Frau eine gravierende J Normverletzung darstellt, die zum Ehrverlust des Mannes führt und harte Strafe nach sich ziehen muß. Entsprechend soll die Ehebrecherin in zahlreichen Erzählungen getötet werden, oder sie und ihr J Liebhaber werden öffentlich gedemütigt (AaTh/ATU 1730: cf. J Liebhaber bloßgestellt; AaTh/ATU 1536 B: Die drei J Buckligen). In Legende und Epos beweist demgegenüber selbst die unschuldig Verstoßene T. (J Mai und Beaflor), indem sie trotz widerfahrenen Leids zu ihrem Mann steht (AaTh/ATU 887: J Griseldis). Die Frau kann Charakterstärke zeigen, indem gerade sie ein hohes Maß an T., Geduld und Leidensfähigkeit beweist (AaTh/ATU 894: J Geduldstein). So bleibt sie ihrem Mann auch während seiner langen Abwesenheit unbeirrt treu (AaTh/ATU 974: J Heimkehr des Gatten) und verzeiht sogar ihrem Verleumder (J Hildegardis; AaTh/ ATU 712: J Crescentia). Auch im Geschwisterverhältnis spielen T. und U. eine wichtige Rolle (cf. J Bruder, Brüder; J Jüngste, Jüngster; AaTh/ATU 315: Die treulose J Schwester), z. B. wenn der Bruder sich weigert, seine Schwester umzubringen (AaTh/ATU 883 A: Das unschuldig verleumdete J Mädchen). Verbreitet ist dabei auch die gleichgeschlechtliche T. (oft bei Zwillingen) und gegenseitige Unterstützung bis zum Opfertod (AaTh/ATU 516). Auf T. gründet auch die Blutsbrüderschaft (AaTh/ATU 516 C: J Amicus und Amelius). Kinder haben gegenüber Autoritätspersonen, vor allem Vater und Mutter, T. durch Gehorsam zu erweisen und werden bei Unbotmäßigkeit bestraft (cf. AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen). Bei Eltern gegenüber ihren Kindern ist allerdings gelegentlich ein Mangel an T. im Sinne fehlender Verantwortlichkeit festzustellen, sei es durch unzuverlässige Aufsicht (ATU 570*: J Rattenfänger von Hameln), fehlendes moralisches Beispiel (AaTh/ATU 838: J Sohn am Galgen), Fehlverhalten unter dem Druck sozialer Umstände (AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel) oder grundsätzliche Schlechtigkeit (AaTh/ATU 590: Die treulose J Mutter). T. ist auch ein wesentliches Bindeglied zwischen Freunden (J Freundschaft und Feindschaft)29. Eine J Freundesprobe (AaTh/ATU 893) dient zum Finden des wahren Freundes,
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der seine T. auch in Krisenzeiten unter Beweis stellt. Die Wankelmütigkeit und latente U. falscher Freunde zeigt sich demgegenüber spätestens, wenn der Höherstehende seine soziale Position (etwa aufgrund von Verschwendung) verliert (AaTh/ATU 1592: J Mäuse fressen Eisen). In der Beziehung von Tieren zu Menschen spielt T. gleichfalls eine Rolle. Erzählbeispiele finden sich bes. in Märchen (AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue; AaTh/ATU 1352 A: J S´ukasaptati), Sage (J Löwentreue) und Legende (AaTh/ATU 178 A: J Hundes Unschuld). Einzelne Tiere verkörpern T. exemplarisch, so bes. J Hund, J Pferd und J Löwe; andere wiederum stehen stereotyp für Hinterlist, selbstsüchtigen Wankelmut und U., vor allem der J Fuchs. Das Thema T. wird in den verschiedenen Erzählgattungen unterschiedlich behandelt. Im Märchen ist T. eine erstrebenswerte Tugend (AaTh/ATU 976) neben anderen Eigenschaften wie J Dankbarkeit und Zuverlässigkeit, durch die (auch sozial unterlegene) Menschen moralisch überlegen erscheinen (J Erziehung [in der Erzählung]). Märchen führen bedingungslose T.30 von Mensch oder Tier vor Augen (AaTh/ATU 516, AaTh/ATU 889), die bis in den Tod hinein andauern kann (AaTh/ATU 516 C); ihre Protagonisten verhalten sich selbst dann tugendhaft, wenn sie unschuldig bestraft werden (AaTh/ATU 712, AaTh/ATU 881). In Schwank und Witz, die vor allem Probleme des Zusammenlebens behandeln, werden weniger Fälle von T. angesprochen, sondern bes. von U., womit speziell die Ehebruchthematik und Gefühle der J Eifersucht artikuliert und kommentiert werden31. Im Schwank sind die gesellschaftlichen Hierarchieverhältnisse oft aufgelöst oder sogar umgekehrt: Der Knecht (Magd) triumphiert über den Herrn (Herrin), und häufig wird der durch seine oftmals junge, überlegene Frau betrogene Ehemann zur Zielscheibe des Spotts (J Hahnrei, Hahnreiter). Ähnlich wie der hist. Schwank behandelt auch die moderne Sage außergewöhnliche Fälle von (sexueller) U., die vielfach mit spektakulärer J Rache enden32. Religiöse Erzählungen und Lieder33 stellen T. in Zusammenhang mit Frömmigkeit34. Auch im alltäglichen Erzählen (etwa in Rechtfertigungsgeschichten35 oder im Klatsch36), in Trivial- und Ratgeberliteratur37,
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in Feuilleton und populärwiss. Texten werden moralische Werte wie T. ausgehandelt. Da Erzählen der Gesellschaft u. a. dazu dient, sich über Normen zu verständigen38, spiegeln unterschiedliche hist. und soziale Kontextualisierungen39 auch deren Wandel. Inwieweit eine seit der Wende zum 21. Jh. weithin konstatierte Rückkehr zu traditionellen Werten, namentlich zu Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und T., mit einer Bedeutungszunahme von T.erzählungen korreliert40 oder aber im Gegenteil T. als moralischer Wert angesichts veränderter Sozialbeziehungen als Kategorie der Lebenswelt und des Erzählens an Relevanz verliert41, bleibt zu klären. 1
Hausmaninger, H.: Treu und Glauben. In: Staatslex. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft. Fbg 1962, 1039⫺1043, hier 1040; Trübners dt. Wb. 7. B. 1956, 113⫺115, hier 114; Gloyna, T.: T. In: Archiv für Begriffsgeschichte 41 (1999) 64⫺85; Buschmann, N./ Murr, K. B.: ,T.‘ als Forschungskonzept? In: iid. (edd.): T. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne. Göttingen 2008, 11⫺35; cf. auch Luhmann, N.: Vertrauen. Stg. 42000; Frevert, U. (ed.): Vertrauen. Göttingen 2003. ⫺ 2 Hausmaninger (wie not. 1); Heyne, M.: Dt. Wb. 3. Lpz. 2 1906, 1032⫺1034, hier 1032; Demmer, K.: T. In: LThK 10 (32001) 212 sq., hier 212; Andersen, S.: T. In: TRE 14 (2002) 57⫺62, hier 57; Gloyna, T.: T. In: Hist. Wb. der Philosophie 10. Basel 1998, 1473⫺ 1478, hier 1473. ⫺ 3 Adelung, J. C.: T. In: Grammatisch-kritisches Wb. der hochdt. Mundart 4. Lpz. 1801, 673 sq., hier 673; Demmer (wie not. 2) 213; Andersen (wie not. 2) 57. ⫺ 4 Kittsteiner, H. D.: Die Entstehung des modernen Gewissens. Ffm./Lpz. 1991. ⫺ 5 Siegel, E.-M.: High Fidelity. Konfigurationen der T. um 1900. Mü. 2004; Krems, E.-B.: Künstlerische Mobilisierungsstrategie oder erinnertes Ideal? Zur Konzeption des T.schwurs bei Füssli und David. In: Buschmann/Murr (wie not. 1) 295⫺ 326. ⫺ 6 Hausmaninger (wie not. 1) 1040⫺1043; Enders, S.: T. In: Reallex. der germ. Altertumskunde 31. B./N. Y. 2006, 165⫺170; Grube, A.: Treu und Glauben. In: RGG 8 (42005) 586 sq., hier 586; Gloyna (wie not. 2) 1475; Röhrich, Redensarten 3, 1638 sq.; Hermann, H.-G.: T.- und Loyalitätskonzepte im dt. Staatsrecht […]. In: Buschmann/Murr (wie not. 1) 153⫺189. ⫺ 7 cf. Luhmann, N.: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Ffm. 6 1992, bes. 183⫺196. ⫺ 8 HDA 8, 1491 sq. ⫺ 9 Grube (wie not. 6) 586; Heyne (wie not. 2) 1033; Kroeschell, K.: T. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 977 sq.; [Zedler, J. H.:] Grosses vollständiges Universal-Lexicon 45. Lpz./Halle 1745, 510. ⫺ 10 Roethe, G.: Dt. T. in Dichtung und Sage. Langensalza 1923, 5⫺38. ⫺ 11 Bartsch, K.: Die T. in dt. Sage und Poesie. In: id.: Gesammelte Vorträge und Aufsätze. Fbg/Tübingen
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1883, 158⫺184, hier 174 sq.; DWb. 22, 243⫺275, hier 247. ⫺ 12 Vollmer, V.: Die Begriffe der Triuwe und der Staete in der höfischen Minnedichtung. Tübingen 1914, 55 sq.; cf. auch Spieß, G.: Die Bedeutung des Wortes Triuwe in den mhd. Epen ,Parzival‘, ,Nibelungenlied‘ und ,Tristan‘. Heidelberg 1957. ⫺ 13 Ortmann, C./Ragotzky, H.: Zur Funktion exemplarischer triuwe-Beweise in Minne-Mären […]. In: Grubmüller, K./Johnson, L. P./Steinhoff, H.-H. (edd.): Kleinere Erzählformen im MA. Paderborn 1988, 89⫺109, hier 92, 104 sq.; Vollmer (wie not. 12) 9⫺ 11, 55. ⫺ 14 Heyne (wie not. 2) 287; Buschmann, N.: Die Erfindung der Dt. T. In: id./Murr (wie not. 1) 75⫺109; Frevert, U./Schreiterer, U.: T. ⫺ Ansichten des 19. Jh.s. In: Hettlage, M./Hoffmann, S.-L. (edd.): Der bürgerliche Wertehimmel. Göttingen 2000, 211⫺256. ⫺ 15 Roethe (wie not. 10) 5 sq. ⫺ 16 Demmer (wie not. 2) 334; Gloyna (wie not. 2) 1474; Grube (wie not. 6) 587; Roethe (wie not. 10) 11. ⫺ 17 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 441⫺446. ⫺ 18 Simmel, G.: Exkurs über T. und Dankbarkeit. In: Adloff, F./Mau, S. (edd.): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität. Ffm. 2005, 96; Luhmann, N.: Das Recht der Gesellschaft. Ffm. 1995; cf. Wiedenmann, R. E.: T. und Loyalität im Prozess gesellschaftlichen Wandels. In: Buschmann/Murr (wie not. 1) 36⫺71. ⫺ 19 Gloyna (wie not. 2) 1473. ⫺ 20 id. (wie not. 1) 70 sq. ⫺ 21 cf. allg. Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003; id.: Europ. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004; id.: Märchen der Welt. CDROM B. 2006; Roethe (wie not. 10). ⫺ 22 Bartsch (wie not. 11) 158, 174. ⫺ 23 ibid., 7. ⫺ 24 ibid., 173. ⫺ 25 ibid. ⫺ 26 ibid. ⫺ 27 Müller-Bergström, W.: U., T. In: HDA 8 (1936⫺37) 1487⫺1496. ⫺ 28 Brednich, R. W./Röhrich, L./Suppan, W. (edd.): Hb. des Volksliedes 1⫺2. Mü. 1973, num. 1802. ⫺ 29 Tenbruck, F. H.: Freundschaft. Ein Beitr. zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen. In: Kölner Zs. für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1994) 431⫺456; Classen, A.: Das Motiv des aufopfernden Freundes von der Antike über das MA. bis zur Neuzeit. In: Fabula 47 (2006) 17⫺32. ⫺ 30 Spieß, K.: Das dt. Volksmärchen. Lpz./B. 1917, 13. ⫺ 31 cf. Solms, W.: Die Moral der unmoralischen Schwänke. In: Kuhlmann, W./Röhrich, L. (edd.): Witz, Humor und Komik im Volksmärchen. Regensburg 1993, 112⫺124, hier 120. ⫺ 32 Schneider, I.: Contemporary Legends ⫺ Sagen der Gegenwart. Innsbruck (masch.) s. a., num. A 100⫺A 199. ⫺ 33 Moser (wie not. 17) 241⫺243. ⫺ 34 Brückner, 729 sq.; Moser (wie not. 17) 146, 243. ⫺ 35 Lehmann, A.: Rechtfertigungsgeschichten. Über eine Funktion des Erzählens eigener Erlebnisse im Alltag. In: Fabula 21 (1980) 56⫺69, hier 57, 59. ⫺ 36 Bergmann, J. R.: Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion. B. 1987, 166⫺169. ⫺ 37 Mahlmann, R.: Was verstehst Du unter Liebe? Ideale und Konflikte von der Frühromantik bis heute. Darmstadt 2003; Heimerdinger, T.: Alltagsanleitungen? Ratgeberlit. als Qu. für die volkskundliche Forschung. In: Rhein.-westfäl.
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Trick ⫺ Trickster
Zs. für Vk. 51 (2006) 57⫺71. ⫺ 38 Hartmann, M./ Offe, K. (edd.): Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts. Ffm. 2001. ⫺ 39 Kienitz, S.: Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914⫺1923. Paderborn 2008, 242⫺245 (Topos der untreuen Frau). ⫺ 40 Burkart, G.: T. in Paarbeziehungen. In: Soziale Welt 423 (1991) 489⫺509, hier 404; Daub, C.-H.: Intime Systeme. Eine soziol. Analyse der Paarbeziehungen. Basel 1996; Plies, K. u. a. (edd.): Zwischen Lust und Frust. Jugendsexualität in den 90er Jahren. Opladen 1999. ⫺ 41 cf. Mahlmann (wie not. 37).
Göttingen
Brigitta Schmidt-Lauber
Trick J List
Trickster 1. Allg. Merkmale ⫺ 2. Begriffs- und Forschungsgeschichte ⫺ 3. Geogr. Verbreitung ⫺ 3. 1. Indian. Erzählgut ⫺ 3. 2. Afrika ⫺ 3. 3. Afroamerik. Erzählgut ⫺ 3. 4. Asien ⫺ 3. 5. Europa ⫺ 4. Theorien und Interpretationen
1 . All g. Me rk ma le. Der Terminus T. bezeichnet die Figur des listigen J Betrügers, der allerdings auch Funktionen eines essentiellen Wohltäters ausüben kann (J Ambivalenz). Der T. ist ein Wesen der primordialen Urzeit (J Schöpfung), der hist. Vergangenheit wie auch der unmittelbaren Gegenwart. In der Regel männlich, selten weiblich1, gedacht, ist er überwiegend ein Tier, seltener von menschlicher Gestalt. Benannt wird der T. entweder mit einer regulären Tierbezeichnung oder mit einem spezifischen Eigennamen, auf dessen Bedeutung er selbstbewußt hinweist und unter dem er bereits einen notorischen Ruf hat. Als Einzelgänger ist der T. ein nur auf seinen eigenen Vorteil bedachter Wanderer und damit ein prototypischer Egoist und Soziopath. Der T. ist ein schlauer Betrüger, Verführer und Redekünstler, der seine Gegenspieler (z. B. Autoritätspersonen, Eigentümer wertvoller Dinge, Frauen jeden Alters) mit durchtriebenen Tricks überlistet und als gewissenloser Räuber, Mörder, Schänder und Zerstörer existentiell schädigt. Triebfedern seines Handelns sind sein unstillbarer Hunger (J Vielfraß) und seine aggressive, oft überzeichnete Sexualität (J Genitalien, J Obszönität). Eine bes. Affinität zeigt er zu Analem und Fäkalischem (J Exkre-
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mente, J Skatologie). T. sind oft dazu fähig, ihre Gestalt zu ändern (J Verwandlung), und manchmal können sie einzelne Körperteile von sich loslösen, die dann selbständig handeln. Allerdings behält der T. nicht immer die Oberhand: Tölpelhaft kann er sich auch ausmanövrieren und selbst schaden (J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung), so daß der Gegenspieler den Sieg davonträgt. Der T. kann in mythischen Erzählungen auch ein J Demiurg, J Kulturheros und altruistischer Heilbringer sein, der den Lebewesen bedeutenden Nutzen bringt. Die Be- oder Erschaffung der für die Menschheit lebenswichtigen Güter (z. B. Feuer, Wasser, Werkzeuge, Kulturpflanzen, Medizin) gelingt ihm dabei eher zufällig und nebenbei. Auch kann er ein Beschützer der Schwachen und ein Bestrafer der Mächtigen sein. In allem, was der T. tut, ist er ein Grenzgänger, ein Rebell und Gegner von Anstand, Sitten, J Normen, Gesetzen und J Tabus, ohne daß seine Taten innerhalb der Erzählungen bewertet werden. Der T. verändert den Status quo und befördert dadurch den Fortschritt. Durch seine eigentümlichen und bizarren Handlungen, durch seinen Wortwitz, die Körpergroteske und Ironie der Selbstschädigung verfügt der T. über ein erhebliches komisches Potential, wie er selbst nach seinen Taten in herausforderndes J Lachen ausbricht2. T.erzählungen werden primär in den Gattungen Mythos, (Novellen-)Märchen und Schwank tradiert, gelegentlich als Zyklen3. Dabei sind die Merkmale des T.s je nach den kulturell- und regionalspezifischen Gegebenheiten unterschiedlich ausgeprägt. Eine eher heuristische als eindeutig definierbare Trennlinie zieht die Forschung zwischen dem durchtriebenen T., dessen Handlungen sich auf das Betrügen, Überlisten und Schädigen beschränken, und dem mythischen T. oder Kulturheros-T., der im Sinne einer dualen Persönlichkeit (J Dualismus, Kap. 5.2) über das Profane hinaus auch kulturstiftend handelt4. 2 . B eg ri ff s- un d For sc hu ng sg es ch ic ht e. T. ist ein oft wenig spezifisch benutzter Sammelbegriff der Erzählforschung, unter dem eine Vielzahl unterschiedlicher Figuren subsumiert wird (J Schelmentypen). Im späten 19. Jh. zunächst in der freimaureri-
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schen und theosophischen Lit. feststellbar5, erscheint der Terminus 1885 in einer lexikographischen Glossierung6 des Amerikanisten D. G. Brinton, der bereits in seinem Werk The Myths of the New World (1868) erstmals verschiedene nordamerik. T.figuren systematisiert hatte, ohne den Begriff selbst zu erwähnen7. In erzählkundlich orientierten Arbeiten findet der Terminus ab ca 1896 Verwendung8. Im dt.sprachigen Raum wurde er 1924 durch W. J Krickeberg eingeführt, der für verschiedene Tierhelden in der Doppelrolle des ,Heilbringers und verschlagenen Ränkeschmieds‘ von einem ,T.‘Typus spricht9. 1916 erscheint der Begriff erstmals in der ozeanistischen, 1925 in der afrikanistischen Mythenforschung10. Seit Anfang der 1950er Jahre setzte er sich in der vergleichenden Erzählforschung durch. Hier ist der T. als ,clever hero‘ klassifiziert, wodurch der mythische T. auf den durchtriebenen T. ausgeweitet wurde11. Eine bes. Rolle in der Etablierung des T.begriffs kommt P. Radins Winnebago-Monogr. The T. (1956)12 zu, die gerade auch durch die beigefügten altphilol. und psychol. Kommentare von K. Kere´nyi und C. G. J Jung13 zu einem Standardwerk geworden ist. Der amerik. Ausg. vorangegangen war eine dt. Fassung, in der vom ,Schelm‘ gesprochen wird14. Da dieser Begriff als semantisch unzureichend angesehen wurde15, übernahm die dt.sprachige Ethnologie bald den engl. Begriff T.16 Die Forschung hat T.figuren mittlerweile weltweit lokalisiert. In S. J Thompsons MotifIndex erscheinen T.erzählungen bes. unter Mot. K: Deceptions, J: The Wise and the Foolish und A: Mythological Motifs17. Die letzte Revision des internat. Typenkatalogs spiegelt den zunehmenden Gebrauch des Begriffs T. in insgesamt 33 Typen wider, hauptsächlich J Ehebruchschwänken und listigen Übertölpelungen18. 3 . G eo gr. Ver br ei tu ng. Schwerpunkte der T.forschung sind das indian. und afroamerik. Nordamerika sowie das westl. und südl. Afrika. 3 .1 . I nd ia n. Er zä hl gu t. Das indian. Nordamerika ist der primäre Referenzraum für das Verständnis des T.s19. Die typischen T.tiere sind Kojote im Westen (J Coyote Stories)20, J Hase bzw. Kaninchen im Osten21, vereinzelt J Spinne22 sowie J Rabe im Nord-
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westen bis hin nach Ostsibirien (Indianer-, Eskimo- und paläoasiat. Völker einschließend)23. Zur Gruppe der anthropomorphen T.figuren24 gehört der Nanabozho der Algonkin sprechenden Gruppen25, der übernatürlich geboren wurde, als Kulturheros für die Menschen J Feuerraub begeht, die Menstruation bringt, gegen Unholde kämpft, die Erde nach einer J Sintflut neu erschafft und als gerissener T. die Menschen um Essen und Geschlechtsverkehr (z. T. inzestuös)26 betrügt; er ist die Zentralgestalt in Henry Wadsworth Longfellows Versepos The Song of Hiawatha (1855)27. Im T.zyklus der Winnebago wandelt sich der anthropomorphe Wakdjunkaga (der Trickreiche)28 vom asozialen und instinkthaften Wesen zu einer Persönlichkeit, die um ihre Körper- und Geschlechtsintegrität weiß und der Menschheit Nutzen bringt29. Die T.gestalten der mittel- und südamerik. Indianer sind erst ansatzweise untersucht30. 3 .2 . Afr ik a. In den Erzähltraditionen Afrikas ist der Typus des durchtriebenen T.s überall gegenwärtig31. C. Bremond32 und D. Paulme33 haben hierzu strukturalistisch angelegte Motivanalysen erstellt. Die geläufigen T.tiere sind: Hase in den Savannenzonen West-34, Ost-35 und Südafrikas36, J Schakal und Erdhörnchen37 im Zentralsudan, J Schildkröte, Zwergantilope38 und Spinne39 in den Regenwaldregionen. In den Großstädten Nigerias wurden moderne Sagen von den Betrügereien menschlicher T.gestalten aufgezeichnet, mit denen sich die Menschen für das urbane Überleben in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wappnen40. In westafrik. Überlieferungen sind mythische T., z. T. mit starken Bezügen zur Religion, verbreitet41, wie etwa der Spinnen-T. Ananse (J Anansi) bei den Akan-Ashanti Ghanas42, Legba bei den Fon43, Eshu-Elegba bei den Yoruba44 oder Ogo-Yorugu bei den Dogon45. Die Khoisanvölker des südl. Afrika haben gottähnliche T.figuren hervorgebracht46, deren Hauptfigurentyp die Fangheuschrecke (Mantis) ist47. Die afrik. T. weisen neben kulturspezifischen zahlreiche überregional verbreitete Motive auf (z. B. die Feuer- und Regenbeschaffung)48. Individuelle T. sind etwa der /Kaggen der mittlerweile ausgestorbenen /Xam
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in Südafrika49, der //Ga˜uwa der !Kung50 und der Haiseb bzw. Heitsi-Eibib der Nama/ Dama51. In der relativ jungen Missionierung der Khoisan-Gruppen wird J Christus vielfach als T. verstanden52, was auch für den indian. Kontext belegt ist53. 3 .3 . Afr oa me ri k. Er zä hl gu t. Über den Sklavenhandel des 16.⫺18. Jh.s gelangten afrik. T.erzählungen nach Amerika54. Kennzeichnend für diesen Transfer von Erzählgut ist eine Abschwächung des mythischen T.formats, da die afroamerik. Bevölkerung von der Religion ihrer Herkunftskulturen abgeschnitten wurde, dann aber neue religiöse Ideen kennenlernte und Synkretismen schuf55. Hinzu kommt eine individualistische Ethik des Überlebens, da die Sklaven von ihren Familien- und Sozialverbänden getrennt wurden und sich zunächst als Einzelpersonen gegen mächtige Herren zu behaupten hatten. In Gestalt des schwächeren, aber gewitzten Tieres wurde der T. zur Symbolfigur von Selbstbehauptung und subtilem Widerstand56. Nach Nordamerika und in die Karibik importierte T. sind J Brer Rabbit und Anansi57. Afroamerik. T.erzählgut bildet auch die Grundlage für den Trickfilmhelden Bugs Bunny58 und für die in der städtischen schwarzen Subkultur kursierenden Erzählungen um Betrüger und kriminelle Überlebenskünstler59. Von der T.thematik lebt wesentlich auch eine emanzipierte afroamerik. Minderheitenliteratur in den USA60. 3 .4 . Asi en. Der arab.-islam. Überlieferung sind T.figuren im engeren Sinn eher fremd, wenngleich Schelme wie J Abu¯ Nuwa¯s oder J Hodscha Nasreddin gelegentlich als T. bezeichnet worden sind. Auch die weiter östl. gelegenen Kulturbereiche kennen T.figuren, so etwa den ind. Krischna61, die mongol. und tibet. T.62, den thailänd. Sug63, den malai.-indones. Kantjil (J Zwerghirsch)64, den chin. Alten Hsü Wen-ch’ang65, den jap. Kitsune und Susa-no-o66, den polynes. J Maui oder den mikrones. Olofat67. 3 .5 . E ur op a. Durch Kere´nyi wurde der T.begriff auf antike Gottheiten und Helden wie Prometheus68, den J Götterboten Hermes oder J Herakles erweitert69; auch der germ. J Loki ist als T. bezeichnet worden. Ausgedehnt
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wurde der T.begriff auch auf Schelmengestalten des kelt. und ir. Raums70 sowie auf Einzelfiguren wie J Reineke Fuchs oder J Eulenspiegel. Im übertragenen Sinn ist der T.begriff zuletzt auf hist. Persönlichkeiten wie etwa Picasso, Lenin oder Sir Richard Burton angewandt worden71. 4 . The or ie n u nd In te rp re ta ti on en. Die T.forschung ist einerseits kulturspezifischdeskriptiv und andererseits regional-synthetisierend ausgerichtet. Unter den Theorien und Interpretationen, die allgemeinere Gültigkeit beanspruchen können72, hat der psychol. Ansatz nach Jung Bestand. Danach ist der T. ein J Schatten der Persönlichkeit, der eine frühere prärationale Ebene der Existenz repräsentiert, die versteckt oder unterdrückt noch in jedem Menschen vorhanden ist73. Der Strukturalist C. J Le´vi-Strauss versteht den T. als vermittelnde Kristallisationsfigur zur „Bewußtmachung bestimmter Gegensätze und zur Hinführung zu ihrer allmählichen Ausgleichung“, die in dieser Eigenschaft doppeldeutig sein muß74. In der ethnol. Forschung ist der T. als Symbol eine marginale, zwischen zwei Kategorien stehende Persönlichkeit, die sich einem Initianden gleich Regelverletzungen leisten darf, um mit dieser Antistruktur und in der Groteske für die Zuhörer Ordnung und Struktur zu implizieren. So sind T.erzählungen metasoziale Kommentare, die fundamentale Wahrheiten und Werte vermitteln75. 1 Christen, K. A.: Clowns and T. s. An Enc. of Tradition and Culture. Denver u. a. 1998, 108 sq., 147 sq.; Jurich, M.: Sheherazade’s Sisters. T. Heroines and Their Stories in World Literature. Westport/L. 1998; Mills, M. A.: The Gender of the Trick. Female T.s and Male Narrators. In: Asian Folklore Studies 60 (2001) 237⫺258. ⫺ 2 Abrahams, R. D.: T., the Outrageous Hero. In: Coffin, T. P. (ed.): Our Living Traditions. An Introduction to American Folklore. N. Y./ L. 1968, 170⫺178; Makarius, L.: Le Mythe du ,trickster‘. In: Revue de l’histoire des religions 175 (1969) 17⫺46; Carroll, M. P.: The T. as Selfish-Buffon and Culture Hero. In: Ethos 12 (1984) 105⫺131; Apte, M. L.: Humor and Laughter. Ithaca/L. 1985, 212⫺ 236; Koepping, K.-P.: Absurdity and Hidden Truth. Cunning Intelligence and Grotesque Body Images as Manifestations of the T. In: History of Religions 24 (1985) 191⫺214; Ballinger, F.: Living Sideways. Social Themes and Social Relationships in Native American T. Tales. In: American Indian Quart. 13 (1989) 15⫺30; Hynes, W. J.: Mapping the Character-
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istics of Mythic T. s. In: id./Doty, W. (edd.): Mythical T. Figures. Tuscaloosa 1993, 33⫺45; Minton, J.: T. In: Brown, M. E./Rosenberg, B. A. (edd.): Enc. of Folklore and Literature. Santa Barbara/Denver/Ox. 1998, 662⫺666; Palmer, G.: T. In: Clements, W. M. (ed.): The Greenwood Enc. of World Folklore and Folklife 1. Westport/L. 2006, 92⫺94. ⫺ 3 Wiget, A.: Cycle Construction and Character Development in Central Algonkian T. Tales. In: Oral Tradition 15,1 (2000) 39⫺73. ⫺ 4 Carroll (wie not. 2) 105; id.: Le´viStrauss, Freud, and the T. In: American Ethnologist 8 (1981) 301⫺313, hier 305; Hynes/Doty (wie not. 2); Stein, W.: Der Kulturheros-T. der Winnebago und seine Stellung zu vergleichbaren Gestalten […]. Bonn 1993, 9 sq., 330 sq.; cf. auch Bianchi, U.: Der demiurgische T. und die Religionsethnologie. In: Paideuma 7 (1959/61) 335⫺344; Ricketts, M. L.: The North American Indian T. In: History of Religions 5 (1966) 327⫺350, hier 327. ⫺ 5 z. B. Pike, A.: Morals and Dogma of the Ancient and Accepted Scottish Rite of Freemasonry. Charleston 1871, 66; Blavatsky, H. P.: Isis Unveiled. A Master Key to the Mysteries of Ancient and Modern Science and Theology 1. N. Y. 1877, 74, 358, 360, 612. ⫺ 6 Brinton, D. G.: The Hero-God of the Algonkins as a Cheat and Liar [1885]. In: id.: Essays of the Americanist. Phil. 1890, 130⫺134, hier 131. ⫺ 7 id.: The Myths of the New World. A Treatise on the Symbolism and Mythology of the Red Race of America. N. Y. 1868, 159⫺192. ⫺ 8 Mooney, J.: The GhostDance Religion and the Sioux Outbreak of 1890. In: Powell, J. W. (ed.): 14th Annual Report of the Bureau of American Ethnology 2. Wash. 1896, 653⫺ 1136, hier 658; Curtin, J.: Creation Myths of Primitive America. Boston 1898, 527; Kroeber, A. L.: Cheyenne Tales. In: JAFL 13 (1900) 161⫺190, hier 165; Swanton, J. R.: Mythology of the Indians of Louisiana and the Texas Coast. ibid. 20 (1907) 285⫺ 289, hier 287; Radin, P.: Winnebago Tales. ibid. 22 (1909) 288⫺313; Chamberlain, A. F.: Heroes and Hero-Gods (American). In: Hastings, J. (ed.): Enc. of Religion and Ethics 6. Edinburgh 1913, 637⫺642; Boas, F.: Mythology and Folktales of the North American Indians. In: JAFL 27 (1914) 374⫺410, hier 387 sq. ⫺ 9 Krickeberg, W.: Indianermärchen aus Nordamerika. MdW 1924, II sq. ⫺ 10 Dixon, R. B.: Oceanic. In: Gray, L. H. (ed.): The Mythology of All Races 9. Boston 1916, 186⫺205; Werner, A.: African. ibid. 7. Boston 1925, 119 sq., 213 sq. ⫺ 11 Klapp, O. E.: The Folk Hero. In: JAFL 62 (1949) 17⫺25, hier 20; id.: The Clever Hero. ibid. 67 (1954) 21⫺34, hier 25 sq.; StandDict., 1123⫺1125. ⫺ 12 Radin, P.: The T. A Study in American Indian Mythology. N. Y. 1956; Kommentare: Sullivan, L. E.: Multiple Levels of Religious Meaning in Culture. A New Look at Winnebago Sacred Texts. In: Canadian J. of Native Studies 2 (1982) 221⫺247; Weber, W. und I.: Auf den Spuren des göttlichen Schelms. Bauformen des nordamerik. Indianermärchens und des europ. Volksmärchens. Stg.-Bad Cannstatt 1983; Kohl, K.-H.: Zur Faszinationsgeschichte nordamerik. T.-
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mythen. In: id./Muszinski, H./Strecker, I. (edd.): Die Vielfalt der Kultur. B. 1990, 268⫺277; Stein (wie not. 4); Schüttpelz, E.: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Mü. 2005, 63⫺104. ⫺ 13 Kere´nyi, K.: The T. in Relation to Greek Mythology. In: Radin (wie not. 12) 171⫺191; Jung, C. G.: On the Psychology of the T. Figure. ibid., 193⫺211. ⫺ 14 Radin, P./Kere´nyi, K./Jung, C. G.: Der göttliche Schelm. Ein indian. Mythen-Zyklus. Zürich 1954; Kere´nyi, K.: Mythol. Epilegomena. ibid., 155⫺181; Jung, C. G.: Zur Psychologie der Schelmenfigur. ibid., 191⫺207. ⫺ 15 Bischof, N.: Das Kraftfeld der Mythen. Mü./Zürich 1998, 470; Matt, P. von: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. Mü. 2006, 279. ⫺ 16 Hirschberg, W.: Wb. der Völkerkunde. Stg. 1965, 455 sq.; Bianchi, U.: Prometheus, der titanische T. In: Paideuma 7 (1961) 414⫺437; Le´vi-Strauss, C.: Strukturale Anthropologie. Ffm. 1972, 247. ⫺ 17 Mot., Reg. s. v. T.; cf. auch Thompson, S.: The T. Cycle. In: id.: The Folktale. N. Y. 1946, 319⫺328; Clinton, E.: T. In: Garry, J./El-Shamy, H. (edd.): Archetypes and Motifs in Folklore and Literature. Armonk, N. Y./L. 2005, 472⫺480. ⫺ 18 ATU, Reg. s. v. T. ⫺ 19 Brinton (wie not. 7); Boas (wie not. 8) 374⫺410; Ricketts (wie not. 4); Carroll (wie not. 2) 107⫺110; Ballinger (wie not. 2) 15⫺30; Gill, S. D./Sullivan, I. F.: Dict. of Native American Mythology. Santa Barbara/Denver/Ox. 1992, 308⫺311, hier 308; Babcock-Abrahams, B./Cox, J.: The Native American T. In: Wiget, A. (ed.): Dict. of Native American Literature. N. Y./ L. 1994, 99⫺105; Pope, P.: Toward a Structural Analysis of North American T. Tales. In: SFQ 31 (1967) 274⫺286. ⫺ 20 Cooper, G. H.: Coyote in NavajoReligion and Cosmology. In: Canadian J. of Native Studies 7 (1987) 181⫺193; Bright, W.: A Coyote Reader. Berk./L. A./Ox. 1993; Salomonsson, M.: To Do It the Other Way around. Coyote and Reversibility in Navajo Culture. In: Acta Americana 5,2 (1997) 41⫺60; Christen (wie not. 1) 33 sq. ⫺ 21 Stein (wie not. 4) 14. ⫺ 22 Carroll (wie not. 2) 109; Kramer, F.: Die weise Spinne. Zur Verwandlung des T.s in der Tradition der Oglala. In: Assmann, A. (ed.): Weisheit. Archäologie der literar. Kommunikation 2. Mü. 1991, 465⫺474; Stein (wie not. 4) 13; Christen (wie not. 1) 83 sq. ⫺ 23 Bogoras, W.: The Folklore of Northeastern Asia, as Compared with that of Northwestern America. In: American Anthropologist 4 (1902) 577⫺683, hier 636⫺641, 669⫺ 680; Chowning, A.: Raven Myths in Northwestern North America and Northeastern Asia. In: Arctic Anthropology 1 (1961) 1⫺15; Goodchild, P.: Raven Tales. Traditional Stories of Native Peoples. Chic. 1991; Liapunova, R. G.: Raven in the Folklore and Mythology of the Aleuts. In: Soviet Anthropology and Archaeology 26 (1987) 3⫺20; Gurt, C. J.: Raven. The T. on the Northwest Coast. In: Acta Americana 5,2 (1997) 25⫺40; Meletinskij, E. M.: Das paläoasiat. mythol. Epos. Der Zyklus des Raben. B. 1997; Oosten, J./Laugrand, F.: The Bringer of Light. The Raven in Inuit Tradition. In: Polar Record 42 (2006) 187⫺204. ⫺ 24 Carroll (wie not. 2) 109; Chri-
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923
Trijntje Soldaats ⫺ Trinität
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Köln
Thomas Geider
Trijntje Soldaats J Soldaats, Trijntje Trinität (Dreieinigkeit, Dreifaltigkeit), Dreiheit der göttlichen Personen (Vater, Sohn und Hl. Geist) in der Einheit des göttlichen Wesens; als Grunddogma des christl. Glaubens auf den Konzilien von Nizäa (325) und Konstantinopel (381) festgelegt1. Triadische Struk-
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Trinität
turen des Kosmos, des menschlichen Geistes, der Geschichte oder der Gesellschaft (cf. J Drei, Dreizahl) deutet die T.stheologie als trinitarische Analogien (vestigia trinitatis)2. Die triadische Sicht des Absoluten gilt als religionsgeschichtlicher Archetypus3. Die T. ist den Christen von der J Taufe an gegenwärtig im J Kreuzzeichen mit der Segensformel ,Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl. Geistes‘, in Glaubensbekenntnis und Lobpreis, in Gebeten, Liedern und religiösen Bräuchen (Dreifaltigkeitsfest Trinitatis [1. Sonntag nach Pfingsten])4. Unter den bildlichen Darstellungen der T. fanden der Gnadenstuhl und die Marienkrönung weiteste Verbreitung5. Vor allem letztere zeigt, obwohl 1745 von Papst Benedikt XIV. mißbilligt, die triandrische Darstellung. Drei männliche Personen als T. kennt auch das Volksschauspiel6. In der Volkskunst findet sich bis ins 19. Jh. das Dreigesicht7. Die ,irdische‘ T. (Maria, J Joseph und Jesusknabe) verbindet sich im ,Hl. Wandel‘ mit der ,himmlischen‘ T., vorzugsweise wiederum in populären Darstellungen8. Von den zeichenhaften Bildern der T. ist am bekanntesten das allsehende J Auge Gottes, umrahmt von einem Dreieck. Die T. ist Thema lat. Hymnen und Sequenzen9. Die geistliche Dichtung des MA.s umkreist das Mysterium der T. in vielfältigen Bildern und Vergleichen, vor allem im Zusammenhang mit der Inkarnation und dem Marienlob10. Predigten und Visionen beschäftigen sich mit der T. Eine bedeutsame Rolle spielt die T. in den Liedern des Meistersingers Hans Folz (1435/40⫺1513). Zu den wenigen Dichtern des 19./20. Jh.s, die explizit das Thema aufgegriffen haben, gehören u. a. Annette von Droste-Hülshoff, Charles Pe´guy und Kurt Marti11. Der Kirchengesang kennt Dreifaltigkeitslieder, darunter Wallfahrtslieder12. „Mit bethen, singen, allezeit,/ lobt sie die heilige Dreyfaltigkeit“ heißt es in der geistlichen Ballade von der Kommandantentochter von Großwardein13. Sonst findet sich häufiger im geistlichen Lied in einer Schlußformel der Lobpreis der Dreifaltigkeit. In Predigtexempeln und anderen religiösen Genres steht der Versuch, das Geheimnis der T. zu entschlüsseln, und sein Scheitern im Vor-
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dergrund, vor allem in der zumeist mit dem hl. Augustinus verbundenen Geschichte vom Kind, welches das Meer mit einer Muschel ausschöpfen will (ATU 682: J Augustinus und das Knäblein). Visionen indes sehen Augustinus im Himmel, über die T. nachdenkend und disputierend14. Einer Nonne wird in einer Vision das Mysterium der T. offenbart; sie kann diese aber dann ihrem Beichtvater nicht beschreiben15. Ein Mönch erläutert seinem Novizen den Hl. Geist als dritte Person der T.16 In der J Thomas-Legende belehrt der Apostel die Menschen über Gott, „der eins ist in dem Wesen und dreifaltig in der Person“, und zeigt mit Beispielen, „wie drei eins wären“17. Einem Jüngling erscheinen nacheinander die drei göttlichen Personen, wobei ihn erst der Hl. Geist nach eingestandener Reue vor der Verdammnis errettet18. Auch ätiologische Sagen knüpfen an die Dreifaltigkeit an, z. B. für den Dreifaltigkeitsberg auf der Schwäb. Alb19 oder eine Dreifaltigkeitsquelle nahe Osnabrück20; dazu kommen Gründungssagen von Dreifaltigkeitswallfahrtsstätten wie Weihenlinden21. Erklärt wird auch, wie die Kornblume zum Namen Dreifaltigkeitsblümlein kam22. Das dreiblättrige Kleeblatt soll der hl. J Patrick gebraucht haben, um die T. zu erläutern23. Die hl. J Barbara ließ im Turm drei Fenster zu Ehren der Dreifaltigkeit anbringen24. Neun Schläge der Betglocke am Morgen, Mittag und Abend gelten der Dreifaltigkeit, jeder Person drei25. Einige Exempel berichten von der Hilfe der T. in Notfällen. So verlöscht der Brand in einem Kloster, als der Vorsteher die T. anruft26, oder eine Frau rettet mit Hilfe der T. ihren vergifteten Ehemann27. Zahlreich sind ähnliche Ber.e von Erhörungswundern, wie sie Mirakelbücher und Votivtafeln in Wallfahrtsstätten erzählen28. Es wird davor gewarnt, über die T. zu sinnieren und zu disputieren: Ein Professor der Theologie verfällt der Verdammnis, weil er sich auf dem Sterbebett mit dem J Teufel auf eine solche Disputation eingelassen hat29. Einem Studenten erscheint ein Geist mit langen grauen Haaren, als er über die T. nachgrübelt30. Der Teufel fordert einen verarmten jungen Mann auf, die T. zu verleugnen, um zu Reichtum zu kommen31; selbst vermag der
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Trinität
Teufel nicht, im Namen der T. zu lügen, im Gegensatz zu einem Mann, der falsch auf die Bibel schwört32. Die Verleugnung der T. führt zum J Teufelspakt und verhilft zu Zauberkraft33. Ein frevelhaft im Namen der Dreifaltigkeit getauftes Lämmlein wird zu einem gefräßigen Untier (cf. J Frevel, Frevler)34. Im Namen der T. (und durch Schlagen des Kreuzzeichens) finden Heilungen, Besprechungen und Beschwörungen statt35: Teufel, Dämonen und Gespenster weichen36. Es werden Wiedergänger erlöst37, Schätze gehoben38. Unter Anrufung der ,heiligsten Dreifaltigkeit‘, der ,drei höchsten Namen‘ etc. werden Krankheiten und Wunden geheilt, Zahnweh und Fieber vertrieben, Blutungen gestillt, Warzen beseitigt, Brände gelöscht etc.39 Auch kirchliche Benediktionen, wie sie das Rituale Romanum (1614) enthält, verwenden die T.ssegensformel40. Die Grenze zwischen approbierter Benediktion und abergläubischem oder gar zauberischem Gebrauch der T.sformel ist oft unscharf. Gelegentlich zeigt sich ein Bewußtsein des sündhaften Mißbrauchs, etwa in einem Ber. über gewinnsüchtige Schwindler oder bei einer Praktik gegen Zahnweh41. Die Schwierigkeit, das T.sdogma zu verstehen und zu vermitteln, drückt sich auch in Schwankerzählungen und Rätseln aus. Dabei wird die T. als Mehrzahl von Göttern mißverstanden (cf. ATU 1810 A*/ATU 1832 D*: „How Many Sacraments Are There?“). Zu Vater, Sohn und Hl. Geist wird noch das Amen hinzugerechnet (AaTh 1832 G*: Four Persons of Trinity)42. Für die Namen der drei göttlichen Personen werden Merkhilfen gegeben (AaTh/ATU 1833 D: The Names of the Persons of the Holy Trinity; J Katechismusschwänke). Ein anderer Schwank (AaTh/ATU 805: J Joseph und Maria drohen, den Himmel zu verlassen) stellt neben der Jungfrauengeburt auch das T.sdogma in Frage43. 1
Söding, T./Werbick, J./Felmy, C./Handel, M.: T. In: LThK 10 (32001) 239⫺256; Greshake, G.: Der dreieine Gott. Fbg/Basel/Wien 42001; Stinglhammer, H./Schwöbel, C.: T. In: TRE 34 (2002) 91⫺121; Oberdorfer, B. u. a.: T. In: RGG 8 (42005) 601⫺ 621. ⫺ 2 Schulz, M.: T.slehre. In: LThK 10 (32001) 259 sq.; Scholl, N.: Das Geheimnis der Drei. Darmstadt 2006. ⫺ 3 Seifert, J. L.: Sinndeutung des Mythos. Die T. in den Mythen der Völker. Wien/Mü. 1954; Jung, C. G.: Versuch einer tiefenpsychol. Deu-
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tung des T.sdogmas [1948]. In: id.: G. W. 11. Olten/ Fbg 1963, 169⫺295; Drewermann, E.: Religionsgeschichtliche und tiefenpsychol. Bemerkungen zur T.slehre. In: Breuning, W. (ed.): T. Fbg/Basel/Wien 1984, 115⫺142. ⫺ 4 Brückner, A.: T. VII: Frömmigkeitsgeschichtlich. In: LThK 10 (32001) 256 sq. ⫺ 5 cf. Braunfels, W.: Dreifaltigkeit. In: LCI 1 (1968) 525⫺537. ⫺ 6 Kretzenbacher, L.: Zur Dreifaltigkeitsdarstellung im steir. Paradeisspiel. In: ÖZfVk. 95 (1992) 149⫺168. ⫺ 7 id.: Steir. Dreifaltigkeitsbilder als ,Dreigesicht‘ und ihre Verwandten. In: Zs. des Hist. Vereins für Steiermark 83 (1992) 407⫺ 422. ⫺ 8 cf. LCI 2 (1968) 7. ⫺ 9 z. B. Mone, F. J.: Lat. Hymnen des MA.s 1. Fbg 1853, num. 4 (Sequentia de S. Trinitate). ⫺ 10 Kern, P.: T., Maria, Inkarnation. B. 1971. ⫺ 11 Greshake (wie not. 1) 556 sq.; Marti, K.: Die gesellige Gottheit. Stg. 1989, bes. 94 sq. ⫺ 12 z. B. Gotteslob. Kathol. Gebet- und Gesangbuch […]. Würzburg 1975, num. 864; Evangel. Kirchengesangbuch. Mü. 201984, num. 109⫺112; Seim, J.: Der Gott Israels und der dreieinige Gott. In: Kirche und Israel 10 (1995) 43⫺57, hier 51⫺56. ⫺ 13 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 449. ⫺ 14 Tubach, num. 414, 416. ⫺ 15 ibid., num. 4987. ⫺ 16 ibid., num. 4985. ⫺ 17 Legenda aurea/Benz, 43. ⫺ 18 Matuszak, J.: Das Speculum exemplorum als Qu. volkstümlicher Glaubensvorstellungen des SpätMA.s. Siegburg 1967, 59⫺61. ⫺ 19 Birlinger, A.: Sagen, Märchen, Volksaberglauben. Fbg 1861, num. 621; Rühle, O.: Dreieinigkeit. In: HDA 2 (1929⫺30) 430⫺436, hier 433. ⫺ 20 Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staates 2. Glogau 1871, num. 1027. ⫺ 21 Schöppner, A.: Sagenbuch der Bayer. Lande 1. Mü. 1852, num. 69. ⫺ 22 HDA 2, 433 sq. ⫺ 23 EM 10, 639. ⫺ 24 Baader, B.: Volkssagen aus dem Lande Baden. Karlsruhe 1851, num. 182. ⫺ 25 Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1. ed. K. Willoh. Oldenburg 21909, num. 272. ⫺ 26 Alsheimer, R.: Das Magnum Speculum Exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Ffm. 1971, 117 sq. ⫺ 27 ibid., 118. ⫺ 28 cf. Harmening, D.: Fränk. Mirakelbücher. In: Würzburger Diözesangeschichtsbll. 28 (1966) 25⫺ 240, hier 197⫺201 (111 Ber.e für Gößweinstein); Deneke, B.: Zeugnisse religiösen Volksglaubens. Würzburg 1965, num. 7 (Weihenlinden). ⫺ 29 Hofmann, L.: Exempelkatalog zu Martin Pruggers Beispielkatechismus von 1724. Würzburg 1987, num. 42. ⫺ 30 Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1966, num. 1832. ⫺ 31 Tubach, num. 4988. ⫺ 32 ibid., num. 1613. ⫺ 33 Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. Lpz. 1853, num. 610; Grässe, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen 1. Dresden 21874, num. 153. ⫺ 34 Bechstein (wie not. 32) num. 22. ⫺ 35 HDA 2, 434 sq. ⫺ 36 Zender (wie not. 29) num. 812, 894, 924, 1154, 1573; Suter, P./Strübin, E.: Baselbieter Sagen. Liestal 31990, num. 87 b, 481, 590. ⫺ 37 Zender (wie not. 29) num. 762. ⫺ 38 Gredt, N.: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Esch-Alzette 1833, num. 69;
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Trinken nach dem Handel ⫺ Trinkwette
Müller, J.: Sagen aus Uri 1. Basel 1926, num. 397. ⫺ 39 Zahlreiche Beispiele in älteren Slgen, cf. z. B. Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003; id.: Europ. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004. ⫺ 40 Bartsch, E.: Die Sachbeschwörungen der röm. Liturgie. Münster 1967, 2, 187; Franz, A.: Die kirchlichen Benediktionen im MA. 1⫺2. Fbg 1909; cf. auch Rösing, J.: Dreifaltigkeit und Orte der Kraft 1⫺2. Nördlingen 1988. ⫺ 41 Suter/Strübin (wie not. 35) num. 593, 776. ⫺ 42 cf. Moritz, K. P.: Werke 1. ed. H. Günther. Ffm. 1981, 418. ⫺ 43 Lammel, A./Nagy, I.: Die ung. Bauernbibel. B. 2001, 246 (Nachwort L. Röhrich).
Würzburg
Erich Wimmer
Trinken nach dem Handel (AaTh/ATU 1447), bes. in Europa verbreitete Erzählung über die Trunksucht (J Trunkenheit): Ein Säuferpaar gelobt, keinen Wein mehr zu trinken. Nur bei Abschluß eines Handels wolle man, wie gewohnt, auf Alkohol nicht verzichten. Weil ihnen die Abstinenz zu schwer fällt, verkauft der Mann seiner Frau seinen Esel, und sie trinken zum ,Leihkauf ‘ ein Glas. Am nächsten Tag kauft der Mann seinen Esel zurück, und seitdem verkaufen sie einander tagtäglich den Esel, um Wein trinken zu können.
Dieses erstmals im frühen 13. Jh. in den Sermones vulgares des J Jacques de Vitry1 auftauchende Exemplum fand auch Aufnahme in die neuzeitliche Schwankliteratur ⫺ u. a. bei Johannes J Pauli2 und Hans J Sachs (Das Eselverkaufen)3 ⫺ sowie im 19./20. Jh. in die mündl. Überlieferung4. In einer zweiten Version, bekannt seit der Scala coeli des J Johannes Gobi Junior5, denkt sich das Ehepaar den Trick erst aus, nachdem der Beichtvater ihnen aufgegeben hat, mit dem Trinken aufzuhören. Diese Fassung ist u. a. in der J Mensa philosophica6 und von Hans Wilhelm J Kirchhof 7 aufgegriffen worden. Eine neue Spielart ist im frühen 18. Jh. bei süddt. Predigern wie A. J Strobl (1701)8 und A. J. J Conlin (1710)9 zu verzeichnen: Ein Mann ist der Trunksucht seiner Frau überdrüssig und verklagt sie beim Richter. Dieser verurteilt sie dazu, nur beim Abschluß eines Handels zu trinken. Sie verkauft einer eingeweihten Freundin ihre Geiß etc. In einer jüngeren bulg. Var. verbietet der Bischof einem Popen zu trinken, wenn er keine Geschäfte macht. Mehrmals täglich verkauft er nun an
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seine Frau eine Stute und kauft sie wieder zurück10. Beliebter und auch weiter verbreitet wurde eine andere, seit dem 19. Jh. bekannte Redaktion (AaTh/ATU 1447 A*: Selling Wine to Each Other), in der der Kaufpreis immer mit derselben Münze bezahlt wird. Die Redaktion ist bis hin nach Ostasien und Nordamerika vertreten: Zwei Männer (seltener Mann und Frau) wollen eine Getränkehandlung eröffnen und kaufen (auf Kredit) eine Flasche (Faß) Schnaps (Wein). Da sie keine Kunden finden, kaufen sie sich selbst mit einer geringwertigen (ihrer letzten) Münze einander so lange ein Gläschen nach dem anderen ab, bis die Flasche (Faß) leer ist. Der (eventuelle) Kreditgeber muß sich mit der Münze zufriedengeben.
Manchmal sind die beiden Säufer zwei einander gegenüberwohnende Gastwirte11. In einer arab. Var. aus Palästina handelt es sich um drei Männer12. In der jüd. Überlieferung ist der Schwank sehr beliebt; gelegentlich wird er im jüd. Schildbürgerort Helm lokalisiert13. Jacques de Vitry/Crane, num. 277. ⫺ 2 Pauli/Bolte, num. 306. ⫺ 3 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 5. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1904, num. 761. ⫺ 4 Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 2. Jena 1895, num. 182; Kapfhammer, G.: Bayer. Schwänke. Düsseldorf/Köln 1974, 91. ⫺ 5 La Scala coeli de Jean Gobi. ed. M.-A. Polo de Beaulieu. P. 1991, num. 467. ⫺ 6 The Facetiae of the Mensa Philiosophica. ed. T. F. Dunn. St. Louis 1934, num. 45. ⫺ 7 Kirchhof, Wendunmuth 1, num. 379. ⫺ 8 Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 117. ⫺ 9 EMArchiv: Conlin, Narren-Welt 6 (1710) 390 sq. ⫺ 10 BFP. ⫺ 11 van der Kooi; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 65; Ausubel, N.: A Treasury of Jewish Folklore. N. Y. 301974, 11 sq.; Stroescu, num. 4316; Choi, num. 528.3. ⫺ 12 Campbell, C. G.: Tales from the Arab Tribes. L. 1949, 56. ⫺ 13 Schwarzbaum, 187 sq. 1
Groningen
Jurjen van der Kooi
Trinker J Trunkenheit
Trinkwette (AaTh/ATU 1088). Zur Gruppe der schwankhaften Geschichten über einen J Wettstreit mit dem Unhold gehört neben einem Trinkwettstreit (Mot. K 82) auch ein ⫺ häufigerer ⫺ Eßwettstreit (Mot. K 81), die
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Trinkwette
beide dem Erzähltyp AaTh/ATU 1088 zugeordnet sind. Der Eßwettstreit verläuft meist wie folgt: Ein Trickster behauptet, daß er mehr essen könne als der Oger (Teufel, Riese). Da er vorher einen Beutel unter seinen Kleidern versteckt hat, in dem er das meiste Essen verschwinden läßt, scheint es tatsächlich so, als ob er mehr essen könne als sein Gegenspieler. Oft schneidet der Trickster anschließend den Beutel mit einem Messer auf, angeblich um für weitere Nahrung Platz zu schaffen. Der Oger folgt dem Beispiel, schlitzt seinen Bauch auf und stirbt (J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung).
Gelegentlich kommen die Elemente Eßwettstreit und Bauchaufschneiden (cf. auch J Gastrotomie) gesondert vor. Außerdem kann das Bauchaufschneiden Teil einer weiteren List sein: Der Mann schneidet angeblich seine Gedärme heraus (ähnlich wie in AaTh/ATU 21: Die eigenen J Eingeweide fressen in Wirklichkeit die eines Lamms oder eines Ferkels), um schneller laufen zu können1. Der Eßwettstreit ist bereits im Repertoire der Groninger Erzählerin Trijntje J Soldaats (Ende 18. Jh.) belegt2. Eine weitere Verbreitung läßt sich erst im 19. Jh. feststellen3. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist der Schwank in Europa von Lappland bis Sizilien und von Irland bis Rußland verbreitet. Darüber hinaus findet er sich auch in der Türkei, im Iran, in Indien, China, Zentralafrika, in der Karibik und in Nord- und Südamerika. Gelegentlich wird das Abenteuer einer lokalen oder regionalen Tricksterfigur zugeschrieben, etwa J Eulenspiegel4; der Protagonist kann auch eine Figur von der Art des J Däumlings (AaTh/ATU 700) sein5. Der Trinkwettstreit, bei dem es darum geht, eine möglichst große Menge alkoholischer Getränke zu sich zu nehmen, kann prinzipiell nach demselben Muster verlaufen. Der Oger muß deshalb letztendlich aufgeben. In vielen Fällen wird allerdings eine andere List angewandt: Während man dem Oger (Teufel, Riese) Alkohol (Essig, Schwefelsäure) serviert, trinkt der Mann unbemerkt nur Wasser. Der Oger wird betrunken (ihm wird übel), und er erkennt den Mann als den größeren Trinker an.
Dabei sind verschiedene Variationen möglich. In einer von einem irak. Juden erzählten Geschichte mißt ein armer Jude sich in einem Trinkwettstreit mit dem König. Der Jude ge-
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winnt, da er eine Tablette eingenommen hat, die ihn nicht betrunken werden läßt6. Die Erzählung von der T. wurde nicht so häufig aufgezeichnet wie die vom Eßwettstreit; Var.en sind primär aus Europa belegt. Beide Ausprägungen von AaTh/ATU 1088 sind meist Episoden eines Kettenmärchens, zu dem sonst etwa AaTh/ATU 1060: Squeezing the [Supposed] Stone, AaTh/ATU 1061: Biting a Stone to Pieces oder AaTh/ATU 1062: Throwing a Stone gehören können. Diese Geschichten sind oft auch Teil von AaTh/ATU 1640: J Tapferes Schneiderlein7. Der Eßwettstreit ist häufig der letzte in einer Reihe von Wettbewerben, und meist bringt sich der Oger dabei selbst um8. In einer kanad. Var. ist der Riese gerade schlau genug, sich nicht selbst zu töten; statt dessen gibt er dem Mann fünf Dollar, weil dieser den Eßwettstreit gewonnen hat9. Eine T. findet man auch in neueren Witzen, übernatürliche Wesen spielen darin jedoch keine Rolle mehr. In ndl. Versionen messen sich drei Vertreter ethnischer Gruppen im Biertrinken: Sie müssen soviel wie möglich trinken, ohne zur Toilette zu gehen. Der Niederländer und der Marokkaner können es irgendwann nicht mehr aushalten, daher gewinnt der Türke. Dieser erklärt dann in Versform: ,Türkchen, Türkchen ist nicht dumm/ Türkchen, Türkchen Windel um.‘
Auffällig ist, daß dieser Witz in allen drei ethnischen Gruppen erzählt wird. Für ndl. oder marokkan. Erzähler kann der Türke ein hosennässender Betrüger sein, für türk. Erzähler fungiert er als listiger Gewinner10. 1 z. B. Bodens, W.: Sagen, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1937, num. 1068; Calvino, I.: Fiabe italiane. Turin 21959, 97; Kooi, J. van der: Volksverhalen uit Friesland. Utrecht/Antw. 1979, num. 45; Toschi, P./Fabi, A.: Buonsangue romagnolo. Bologna 1960, num. 86. ⫺ 2 Het boek van Trijntje Soldaats. ed. E. J. Huizenga-Onnekes. Groningen 1928, 9⫺13. ⫺ 3 Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, 312, 399. ⫺ 4 Hylten Cavallius, G. V./Stephens, G.: Schwed. Volkssagen und Märchen. Wien 1848, num.1. ⫺ 5 Randolph, V.: The Devil’s Pretty Daughter and Other Ozark Folk Tales. N. Y. 1955, 53⫺55. ⫺ 6 Fabula 11 (1970) 191 (num. 99). ⫺ 7 AaTh/ATU 1088 wird in den vorliegenden Texten kombiniert mit (Teilen von) AaTh/ATU 10***, 300⫺ 303, 314 A, 321, 326⫺328, 425 A, 505, 507, 513 A, 518, 570, 572*, 577, 650 A, 665, 700, 921, 1000, 1002⫺1007, 1010⫺1012, 1016, 1029⫺1031, 1035,
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Tripitøaka
1036, 1045, 1048⫺1052, 1060⫺1063, 1070, 1072, 1084, 1085, 1090, 1091, 1115, 1116, 1120⫺1122, 1132, 1133, 1135, 1137, 1149, 1150, 1159, 1240, 1313, 1358 C, 1525, 1539, 1561, 1563, 1624 B*, 1640, 1711*, 1875, 1960. ⫺ 8 van der Kooi/Schuster (wie not. 3). ⫺ 9 Dorson, R. M.: Bloodstoppers and Bearwalkers. Folk Traditions of the Upper Peninsula. Cambr. 1952, 95⫺99. ⫺ 10 Meder, T.: „There were a Turk, a Moroccan and a Dutchman …“ Narrative Repertoires in the Multi-ethnic Neighbourhood of Lombok in the Dutch City of Utrecht. In: Wienker-Piepho, S./Roth, K. (edd.): Erzählen zwischen den Kulturen. Münster u. a. 2004, 237⫺258, hier 251 sq.
Amsterdam
Theo Meder
Tripitøaka 1. Allgemeines ⫺ 2. Inhalt ⫺ 3. Motive ⫺ 4. Forschungsgeschichte
1 . All ge me in es. T. (Sanskrit [Pa¯li: Tipitøaka]: Dreikorb) ist eine Bezeichnung für den buddhist. Kanon (J Buddhist. Erzählgut)1, die auf seine Einteilung verweist. Ursprung und Sinn der Bezeichnung, die seit dem 2. Jh. v. u. Z. inschriftlich bezeugt ist, sind unklar2. Obwohl vermutlich jede buddhist. Schule ihr eigenes T. besaß3, liegt nur der Text des T. der in Ceylon und Südostasien lebendigen Schule der Therava¯da-Buddhisten vollständig in der Orig.sprache Pa¯li, einem altertümlichen Mittelindisch, vor. Die einstige sprachliche Vielfalt der T.-Überlieferung spiegelt sich in den erhaltenen Fragmenten von Orig.texten der Schulen der Sarva¯stiva¯din, Mu¯lasarva¯stiø ghikalova¯din (beide Sanskrit), der Maha¯sa¯m kottarava¯din (buddhist. Sanskrit), der Sa¯m ømatı¯ya (buddhist. Prakrit) und der Dharmaguptaka (Ga¯ndha¯rı¯) wider. Der Mu¯lasarva¯stiva¯da-Kanon liegt in dem seit dem 14. Jh. zusammengestellten Kanjur (bKa’-’gyur) in tibet. Übers. vor4, große Teile anderer T.s sind seit dem 2. Jh. ins Chinesische übersetzt5 und dort seit dem 6. Jh. zu einem Kanon vereint6. Die Texte der kanonischen Slgen der einzelnen Schulen sind zu verschiedenen Zeiten abgeschlossen worden, ohne daß sich dieser Prozeß zeitlich genauer fassen ließe. Allein die Therava¯da-Überlieferung, die sprachlich und großenteils auch inhaltlich als die älteste gelten darf, tradiert die Nachricht von einer Verschriftlichung ihres T. im 1. Jh. v. u. Z. auf
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Ceylon7. Demgegenüber kann das Mu¯lasarva¯stiva¯da-T. nicht vor dem Ende des 2. Jh. n. u. Z. abgeschlossen worden sein. Über die Verbreitung der einzelnen T.s in Indien ist wenig bekannt. Manches berichten chin. Pilger8, anderes läßt sich aus bildlichen Darstellungen9, Inschriften10 oder ⫺ außerhalb Indiens ⫺ durch Hss.funde11 erschließen. Die Dharmaguptakas z. B. hatten einen Schwerpunkt im Nordwesten, sind aber auch in Bihar ø matı¯yas ebenfalls nachgewiesen, wo die Sa¯m Spuren hinterlassen haben12. Am weitesten verbreitet scheint um die Mitte des 1. Jahrtausends der Mu¯lasarva¯stiva¯davinaya gewesen zu sein; Therava¯da-Texte waren nicht nur in Ceylon, sondern auch in Südindien im Umlauf 13. 2 . I nh al t. Die drei Teile eines T. behandeln (1) das buddhist. Ordensrecht im Vinayapitøaka (Korb der Ordensdisziplin), (2) die Lehrtexte im Su¯trapitøaka ([Pa¯li: Suttapitøaka] Korb der Lehrreden) und (3) die Klassifizierungen von Lehrbegriffen im Abhidharmapitøaka ([Pa¯li: Abhidhammapitøaka] Korb der auf die Lehre bezüglichen Dinge). Der 3. Teil, der in sieben große Texte zerfällt, enthält keinerlei Erzählgut. Der 1. Teil des T., das Vinayapitøaka14, besteht aus den drei Teilen Vinayavibhan˙ga (Erklärung des Vinaya) mit der Pra¯timoksøa(su¯tra) (Pa¯li: Pa¯timokkha) genannten Regelsammlung für Mönche und ihrem Kommentar15, Vinayavastva¯gama (Kanonischer Text [Überlieferung], der die Ordensdisziplin zum Gegenstand hat; Pa¯li: Khandhaka [Abschnitt]) sowie einem (nicht bei allen Schulen vertretenen) Anh. (Pa¯li: Pariva¯ra)16. Der 2. Teil, das Su¯trapitøaka, umfaßt fünf Teile: Dı¯rgha¯gama ([Pa¯li: Dı¯ghanika¯ya] Überlieferung [Pa¯li: Gruppe] der langen Texte) mit 34 Suttas (Lehrreden)17; Madhyama¯gama ([Pa¯li: Majjhimanika¯ya] Überlieferung/Gruppe der mittleren Texte) mit 152 Suttas18; Sam ø yukta¯gama ([Pa¯li: Sam ø yuttanika¯ya] Überlieferung/ Gruppe der verbundenen Texte) mit 2889 gezählten, 7762 von der Tradition geforderten Suttas19; Ekottara¯gama ([Pa¯li: An˙guttranika¯ya] Überlieferung/Gruppe der nach zunehmender Zahl geordneten Texte) mit neun Abschnitten mit 2344 gezählten, 9557 von der Tradition geforderten Suttas20; Ksøudraka¯gama ([Pa¯li: Khud-
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Tripitøaka
dakanika¯ya] Überlieferung/Gruppe der kleineren Texte). Der Khuddakanika¯ya besteht aus 15 Einzeltexten, darunter die Verse der J Ja¯taka-Slg21. Die Prosa mit den Erzählungen steht in einem Kommentar, der Ja¯takatthavanø nø ana¯, die auf der verlorenen Ja¯takatøtøhakatha¯ beruht; die von T. W. Rhys geäußerte Annahme einer Übers. dieses Texts aus dem Singhalesischen entbehrt jeder Grundlage22. In ähnlicher Weise werden auch die Verse des Dhammapada (Pa¯li: Worte der Lehre) von einem Kommentar begleitet, der reiches Erzählgut zur Erläuterung heranzieht23. In Vima¯navatthu und Petavatthu (Pa¯li: Kanonischer Text über die himmlischen Paläste bzw. die Gespenster) sind Verstexte enthalten, die eine gute oder schlechte Wiedergeburt begründen. Auch in ihren Kommentaren werden die knappen Angaben der Verse durch Erzählungen bereichert24. Von den übrigen Texten dieser Gruppe enthält auch das Uda¯na (Feierliche Aussprüche [des J Buddha]) gelegentlich Erzählgut25. Die Legenden der Buddhas, von Mönchen und Nonnen werden in Apada¯na (Großtat), Buddhavam ø sa (Genealogie der Buddhas) und Cariya¯pitøaka (Korb des Wandels [des Bodhisatva]) behandelt26. In die Lehrreden der ersten Gruppen des T. sind gelegentlich frühe Formen von Ja¯takas eingestreut27. Im Laufe der Entwicklung des T., an der das Therava¯da-T. keinen Anteil mehr hat, wurden immer mehr Erzählstoffe auch in den Kanon aufgenommen. Bes. das Maha¯vastu-Avada¯na28 der Maha¯sa¯m ø ghikalokottarava¯din wird als ursprünglicher VinayaText von erzählenden Abschnitten, die zahlreiche Ja¯takas enthalten, überwuchert. Die genaue Bedeutung von Avada¯na (Pali: Apada¯na), das meist als ,Großtat‘ übersetzt wird, ist ungeklärt. Von einem Ja¯taka unterscheidet sich ein Avada¯na dadurch, daß neben dem Buddha auch Heilige im Mittelpunkt der Legenden stehen können. Die von den Herausgebern im Anschluß an E. Burnouf (1801⫺52) Divya¯vada¯na genannte Slg ist ein Auszug von Avada¯nas aus dem nur teilweise im Sanskrit-Orig. erhaltenen Vinaya der Mu¯lasarva¯stiva¯din29. 3 . Mot iv e. Systematische Darstellungen der Erzählstoffe und -motive in der gewaltigen Textmasse des T. fehlen weitgehend. Eine
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Ausw. der Erzählstoffe der kanonischen buddhist. Lit. liefert die von E´. J Chavannes aus verschiedenen in Chinesisch überlieferten Teilen des T. zusammengestellte Übers., die z. T. für die Nachschlagewerke der vergleichenden Erzählforschung (Mot.; AaTh/ATU) ausgewertet ist (zu num. 237⫺334 cf. J Po-YuKing)30. E rz äh ls to ff e u nd -m ot iv e (Ausw.): Chavannes 1, num. 9, 66, 155 ⫽ Erwachsen bei Geburt: Neugeborenes Kind spricht (Mot. T 585.2). ⫺ 1, num. 23 ⫽ cf. AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne. ⫺ 1, num. 43, 78 ⫽ Lachen und Weinen zur gleichen Zeit (Mot. F 1041.11). ⫺ 1, num. 45 ⫽ cf. AaTh/ATU 910 K: J Gang zum Eisenhammer (Kalkofen). ⫺ 1, num. 50; 2, num. 334 ⫽ AaTh/ ATU 1310: Der ertränkte J Krebs. ⫺ 1, num. 86 ⫽ AaTh/ATU 1317: cf. Irrige J Identität. ⫺ 1, num. 94 ⫽ Magische Luftreise (Mot. D 2135). ⫺ 1, num. 106 ⫽ AaTh/ATU 757: J Jovinian. ⫺ 1, num. 107 ⫽ König sucht Reicheren (Mächtigeren) als sich selbst (Mot. H 1311.1). ⫺ 1, num. 108 ⫽ Liebespaar bereits vor der Geburt füreinander bestimmt (Mot. T 22.1). ⫺ 1, num. 109 ⫽ Zauberer trägt seine Geliebte in seinem Körper, sie ihrerseits ihren Geliebten (cf. AaTh/ATU 1426: J Frau im Schrein). ⫺ 1, num. 110 ⫽ cf. AaTh 655, 655 A/ATU 655: Die scharfsinnigen J Brüder. ⫺ 1, num. 113 ⫽ AaTh/ATU 871*: The Princess Who Goes to Seek Trouble. ⫺ 1, num. 115 ⫽ AaTh/ATU 763: J Schatzfinder morden einander. ⫺ 1, num. 116 ⫽ AaTh/ATU 1418: J Isoldes Gottesurteil. ⫺ 1, 117 ⫽ AaTh/ATU 976: Die vornehmste J Handlung. ⫺ 2, num. 188 ⫽ AaTh/ATU 706 B: Die keusche J Nonne. ⫺ 2, num. 338 ⫽ cf. AaTh/ATU 75: J Hilfe des Schwachen. ⫺ 2, num. 358 ⫽ AaTh/ATU 1335 A: cf. J Spiegelbild im Wasser ⫹ AaTh/ATU 1250: J Brunnenkette. ⫺ 3, num. 422 ⫽ AaTh/ATU 1653: J Räuber unter dem Baum. ⫺ 3, num. 453 ⫽ AaTh/ATU 1501: J Aristoteles und Phyllis. ⫺ 3, num. 492 ⫽ AaTh/ATU 861: J Rendezvous verschlafen.
Zu einem Teil des Mu¯lasarva¯stiva¯da-T. hat J. S. Panglung einen Überblick zusammengestellt31. Als Beispiel für die in einer ind. Sprache erhaltenen kanonischen Texte können die Erzählstoffe aus dem Maha¯vastu dienen32: E rz äh ls to ff e u nd -m ot iv e (Ausw.): 1, 6 ⫽ Höllenbesuch. ⫺ 1, 31 ⫽ Frau wird fälschlich des Ehebruchs beschuldigt. ⫺ 1, 47 ⫽ Himmelsreise eines Mönchs. ⫺ 1, 225 ⫽ Drei weise Vögel belehren einen König. ⫺ 1, 235 ⫽ Heiliger vertreibt Krankheitsdämonen aus der Stadt. ⫺ 1, 240 ⫽ Stier vertreibt Krankheitsdämonen. ⫺ 1, 257 ⫽ Gegenwart des Buddha führt zu allg. Wohlergehen. ⫺ 1, 258 ⫽ Verleumdung einer frommen Buddhistin durch Brahmanen. ⫺ 1, 262 ⫽ Heiliger selbst durch eine
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Tripitøaka
Armee unbezwingbar. ⫺ 1, 274 ⫽ Lob des immateriellen Reichtums. ⫺ 1, 285 ⫽ Entstehung der Welt (durch Entfaltung, angetrieben durch die wachsende Begierde der Wesen). ⫺ 1, 305 ⫽ König der Gazellen opfert sich; Tiere mit menschlicher Sprache (Bødker, Indian Animal Tales, num. 808). 2, 29 ⫽ Trauer um eigenen Tod, bevor Buddha Erleuchtung erlangt. ⫺ 2, 76 ⫽ Vorzeitiger Tod durch Rechtschaffenheit verhindert. ⫺ 2, 79 ⫽ Pfeil als Warnschuß und Nachricht aus weiter Ferne. ⫺ 2, 85 ⫽ Ehefrau durch handwerkliches Geschick gewonnen. ⫺ 2, 89 ⫽ Ausschöpfen des Meeres (cf. ATU 682: J Augustinus und das Knäblein). ⫺ 2, 91 ⫽ cf. AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau. ⫺ 2, 106 ⫽ Ring als Erkennungszeichen. ⫺ 2, 208 ⫽ Tod durch Wahrheitszauber überwunden. ⫺ 2, 222 ⫽ Gazelle bietet sich als Opfer für ihren Gatten an (Bødker, Indian Animal Tales, num. 810). ⫺ 2, 228 ⫽ Befreiung durch Enthaltsamkeit und Nahrungsaufnahme zur rechten Zeit (Bødker, Indian Animal Tales, num. 510). ⫺ 2, 231 ⫽ AaTh/ATU 122 G [2]: „Wash Me“ [“Soak Me”] before Eating. ⫺ 2, 232 ⫽ AaTh/ATU 91: J Affenherz als Heilmittel. ⫺ 2, 374 ⫽ Kind aus Zukkerrohr geboren. ⫺ 2, 380 ⫽ Häßlicher alter Mann und schöne junge Frau. ⫺ 2, 389 ⫽ Häßlicher, aber kluger Prinz gewinnt den Thron. ⫺ 2, 413 ⫽ Vergeblicher Versuch, Ehefrau durch handwerkliches Geschick zu gewinnen. ⫺ 2, 438; 3, 23 ⫽ Juwel verändert äußere Erscheinung. 3, 26 ⫽ Ehe in der nächsten Wiedergeburt fortgesetzt. ⫺ 3, 27 ⫽ AaTh/ATU 115: The Hungry Fox [hier: Schakal] Waits in Vain. ⫺ 3, 28 ⫽ Affen überlisten affenfressenden Dämon (Bødker, Indian Animal Tales, num. 696). ⫺ 3, 30 ⫽ Affe überlistet Schlange (Bødker, Indian Animal Tales, num. 702). ⫺ 3, 36 ⫽ Liebesvergnügen im Traum mit Geld im Spiegel bezahlt (AaTh/ATU 1804: cf. J Scheinbuße). ⫺ 3, 37 ⫽ Religiöses Verdienst gilt mehr als Kraft, Kunstfertigkeit, Schönheit und Weisheit. ⫺ 3, 42 ⫽ Festhalten an Freigebigkeit trotz angedrohter Höllenstrafe. ⫺ 3, 71 ⫽ Insel der menschenfressenden Sirenen. ⫺ 3, 76 ⫽ Zauberpferd rettet vor menschenfressenden Sirenen. ⫺ 3, 123 ⫽ Schwierige Befriedigung der Gelüste einer Schwangeren, Lohn der aufopfernden Hartnäckigkeit (Bødker, Indian Animal Tales, num. 805). ⫺ 3, 126 ⫽ Elefant als aufopfernder Sohn (Bødker, Indian Animal Tales, num. 812). ⫺ 3, 139 ⫽ Mensch von Gazelle geboren. ⫺ 3, 149 ⫽ Mensch von Einhorn geboren. ⫺ 3, 145 ⫽ Verführung des Unwissenden. ⫺ 3, 152 ⫽ Lotosblumen sprießen aus Fußabdrücken. ⫺ 3, 161 ⫽ Zwillinge ausgesetzt. ⫺ 3, 186 ⫽ Geringer Wunsch führt zu großem Gewinn. ⫺ 3, 203 ⫽ Erde in sieben Königreiche geteilt. ⫺ 3, 275 ⫽ Weiser Kaufmann, von Menschenfressern verfolgt, gewinnt Königreich. ⫺ 3, 291 ⫽ Zugochsen warnen Karawane vor Gefahren. ⫺ 3, 346 ⫽ Vertriebener König liefert sich seinem Gegner aus, um verarmtem Kaufmann zu helfen, gewinnt so sein Reich zurück. ⫺ 3, 402 ⫽ Wünsche erfüllender Baum.
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4 . For sc hu ng sg es ch ic ht e. Buddhist. Pa¯li-Hss. gelangten bereits im 17. Jh. aus Siam nach Europa und wurden in der Kgl. Bibl. in Paris verwahrt33. Am Beginn der sprachlichen Erschließung der Texte stand eine Grammatik des Pa¯li von Burnouf und C. Lassen34. Im Laufe des 19. Jh.s wurden buddhist. SanskritHss. aus Nepal und Pa¯li-Hss. aus Ceylon, später auch aus Birma, in Europa zugänglich. Durch die Gründung der Pali Text Soc. in England 1881 fand der Therava¯da-Kanon eine weite Verbreitung. Die Erforschung der Sanskrit-Texte gewann seit dem Beginn des 20. Jh.s durch Funde zahlreicher Fragmente in Zentralasien an Gewicht35. Bis heute werden verlorengeglaubte, nur in chin. und tibet. Übers. bekannte Texte im Orig. in Sanskrit oder Ga¯ndha¯rı¯, dem Mittelindisch des Nordwestens, in Afghanistan und Nordpakistan entdeckt36. 1
cf. Hinüber, O. von: Die neun An˙gas. Ein früher Versuch zur Einteilung buddhist. Texte. In: Wiener Zs. für die Kunde Südasiens 38 (1994) 121⫺135 (zu einem älteren, früh aufgegebenen Namen für eine erste Textslg). ⫺ 2 id.: A Handbook of Pa¯li Literature. B. 1996, 7 (§ 10 sq.). ⫺ 3 Lamotte, E.: History of Indian Buddhism. Löwen 1988, 149⫺171; Grönbold, G.: Der buddhist. Kanon. Eine Bibliogr. Wiesbaden 1984; Oberlies, T.: Ein bibliogr. Überblick über die kanonischen Texte der S´ra¯vakaya¯na-Schulen des Buddhismus. In: Wiener Zs. für die Kunde Südasiens 47 (2003) 37⫺84. ⫺ 4 Feer, L.: Analyse du Kandjour. Recueil des livres sacre´s du Tibet. In: Annales du Muse´e Guimet 2 (1881) 131⫺573; id.: Fragments extraits du Kandjour. P. 1883; Schiefner, F. A. von: Tibetan Tales. L. 1906; Eimer, H./Germano, D. (edd.): The Many Canons of Tibetan Buddhism. Leiden 2002. ⫺ 5 Chavannes, E.: Cinq cents Contes et apologues extraits du T. chinois 1⫺4. P. 1910/11/11/ 35; Taisho¯ shinshu¯ Daizo¯kyo¯ (Neue Kompilation des buddhist. Kanons während der Taisho¯-Ära [1912⫺ 25]) 1⫺100. Tokio 1924⫺35; Demie´ville, P./Durt, H./ Seidel, A.: Re´pertoire du canon bouddhique sinojaponais, e´dition de Taisho¯. P. 1978. ⫺ 6 Grönbold (wie not. 3) 13. ⫺ 7 von Hinüber (wie not. 2) 88 (§ 182). ⫺ 8 Hazra, K. L.: Buddhism in India as Described by Chinese Pilgrims. Delhi 1983. ⫺ 9 Zin, M.: The Mu¯kapan˙gu Story in the Madras Government Museum. In: Annali (Istituto Orientale, Napoli) 64 (2004) 175⫺180. ⫺ 10 Hinüber, O. von: The Pedestal Inscription of S´irika. In: Annual Report of the Internat. Research Institute for Advanced Buddhology 11 (2008) 31⫺35. ⫺ 11 Hartmann, J.-U./Wille, K.: Die nordturkestan. Sanskrit-Hss. der Slg Hoernle. In: id.: Sanskrit-Texte aus dem buddhist. Kanon 2. Göttingen 1992, 10⫺
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Tristan und Isolde
63. ⫺ 12 Hanisch, A.: Progress in Deciphering the So-called „Arrow-head“ Script. In: J. of Buddhist Studies 4 (2006) 109⫺161, hier 126 sq. ⫺ 13 cf. Hinüber, O. von: The Oldest Pa¯li Ms. Four Folios of the Vinaya-Pitøaka from the National Archives, Kathmandu. Wiesbaden 1991 (zu einem Hss.fragment aus dem 8./9. Jh. in Nepal). ⫺ 14 Horner, I. B.: The Book of the Discipline 1⫺6. Ox. 1938/40/42/L. 1951/63/ 66. ⫺ 15 Hinüber, O. von: Zur Schulzugehörigkeit von Werken der Hı¯naya¯na-Lit. 1. In: Abhdlgen der Akad. der Wiss.en in Göttingen, Philol.-hist. Klasse 3, 149 (1985) 57⫺75, hier 60⫺62. ⫺ 16 cf. von Hinüber (wie not. 2) 21, § 40 (Bedeutung unklar). ⫺ 17 Franke, R. O.: Dı¯ghanika¯ya. Das Buch der langen Texte des buddhist. Kanons. Göttingen 1913 (Teilübers.); Walshe, M.: The Long Discourses of the Buddha. Boston 1987. ⫺ 18 Horner, I. B.: The Middle Length Sayings 1⫺3. L. 1954/57/59. ⫺ 19 Geiger, W./ Nya¯nø aponø ika: Die Lehrreden aus der Gruppierten Slg 1⫺2. Wolfenbüttel 21990 (Teilübers.); Bodhi, B.: The Connected Discourses of the Buddha 1⫺3. Ox. 2000/00/02. ⫺ 20 Nyanatiloka: Die Lehrreden des Buddha aus der Angereihten Slg 1⫺5. Köln 31969. ⫺ 21 cf. Grey, L. A.: Concordance of Buddhist Birth Stories. Ox. 32000 (Parallelen zu einzelnen Ja¯takas). ⫺ 22 von Hinüber (wie not. 2) 57, not. 190. ⫺ 23 Burlingame, E. W.: Buddhist Legends 1⫺3. Cambr., Mass. 1921. ⫺ 24 Masefield, P.: Elucidation of the Intrinsic Meaning (Vima¯na Stories). Ox. 1989; id.: Elucidation of the Intrinsic Meaning (Peta Stories). Ox. 1980. ⫺ 25 id.: The Uda¯na. Ox. 1994. ⫺ 26 Horner, I. B.: The Minor Anthologies of the Pa¯li Canon. 3: Chronicle of the Buddhas, Basket of Conduct. L. 1975; zum Apada¯na liegt keine Übers. vor. ⫺ 27 Hinüber, O. von: Entstehung und Aufbau der Ja¯taka-Slg. Stg. 1998, 182⫺190. ⫺ 28 Jones, J. J.: The Maha¯vastu 1⫺3. L. 1949/52/56; Windisch, E.: Die Komposition des Maha¯vastu. Lpz. 1909; Yuyama, A.: A Bibliogr. of the Maha¯vastu-Avada¯na. In: Indo-Iranian J. 11 (1968/69) 11⫺23. ⫺ 29 Cowell, E. B./Neil, R. A. (edd.): The Divya¯vada¯na. A Collection of Early Buddhist Legends. Cambr. 1886; Rotman, A. (ed.): Divine Stories. Divya¯vada¯na 1. Somerville, Mass. 2008; Hiraoka, S.: The Relation between the Divya¯vada¯na and the Mu¯lasarva¯stiva¯daVinaya. In: J. of Indian Philosophy 26 (1998) 419⫺ 434; Clarke, S.: The Mu¯lasarva¯stiva¯din Vinaya. A Brief Reconnaissance Report. In: Early Buddhism and Abhidharma Thought. Festschr. H. Sakurabe. Kyoto 2002, 45⫺63; Przyluski, J.: Fables in the Vinaya-Pitøaka of the Sarva¯siva¯din School. In: Indian Historical Quart. 5 (1929) 1⫺5. ⫺ 30 Chavannes (wie not. 5) (Übersicht über die Qu.n in t. 4). ⫺ 31 Panglung, J. S.: Die Erzählstoffe des Mu¯lasarva¯stiva¯da-Vinaya analysiert aufgrund der tibet. Übers. Tokio 1981. ⫺ 32 Zitiert nach Band und Seite von Jones (wie not. 28). ⫺ 33 Jong, J. W. de: A Brief History of Buddhist Studies in Europe and America. Tokio 1997. ⫺ 34 Burnouf, E./Lassen, C.: Essay sur le Pali, ou langue sacre´e de la presqu’ıˆle au-dela` du Gange. P. 1826. ⫺ 35 Waldschmidt, E.: Sanskrithss.
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aus den Turfanfunden 1. Wiesbaden 1975, xi⫺ xxxii. ⫺ 36 Salomon, R.: Ancient Buddhist Scrolls from Gandha¯ra. The British Library Kharosøtøhı¯ Fragments. Seattle 1999.
Freiburg/Br.
Oskar von Hinüber
Tristan und Isolde. Die Erzählung von T. und I. gilt als die ma. Liebesgeschichte schlechthin1: T. lebt am Hof seines Onkels Marke, des Herrschers über Cornwall und England, als der ir. König von Marke einen entwürdigenden Zins verlangt. Im J Zweikampf tötet T. Morolt, den Onkel der ir. Prinzessin I., und stellt damit die Souveränität Markes unter Beweis. T. wird im Kampf jedoch so schwer verletzt, daß er nur von I. geheilt werden kann. Unerkannt gelangt er nach Irland und kehrt aus Feindesland geheilt zurück. Als zwei in Markes Halle kämpfende Schwalben ein Frauenhaar verlieren, begehrt Marke die Besitzerin des Haars zur Ehefrau (J Fernliebe). T. verspricht, sie zu suchen, und gerät erneut vor die Küste Irlands, das gerade von einem J Drachen heimgesucht wird. T. tötet das Untier und erhält vom ir. König zum Lohn I., die er Marke als Braut überbringt. Als T. und I. versehentlich einen zur Festigung der Ehe Markes bestimmten J Zaubertrank trinken (Mot. T 21), werden sie in inniger J Liebe miteinander verbunden. I. heiratet Marke, und in der J Hochzeitsnacht nimmt I.s Zofe den Platz der nicht mehr unberührten Braut ein (cf. J Stellvertreter). Aus Angst, verraten zu werden, will I. die Zofe töten lassen. Doch die mit dem Mord beauftragten Personen haben Mitleid und verschonen die Dienerin (Mot. K 512.2; cf. J Tierherz als Ersatz), die I. weiterhin hilfreich zur Seite steht. Eine Zeitlang gelingt es T. und I., ihre Beziehung mit List zu verbergen: Sie verwenden z. B. geschnitzte Späne (Mot. H 135), um dem Partner zu signalisieren, daß er im Baumgarten erwartet wird. T.s und I.s Widersacher bleiben jedoch dem Paar auf der Spur, indem sie Mehl ausstreuen (Mot. J 1146) und ein Stelldichein des Paars belauschen (Mot. K 1533). Als der J Ehebruch offenkundig wird, fliehen T. und I. in die Waldeinsamkeit (Mot. R 312.1), wo sie, als sie entdeckt werden, mit Hilfe einer Schwertlist (Mot. T 351; J Symbolum castitatis) ihre Unschuld vortäuschen. Letztlich muß sich T. von I. trennen und Markes Reich verlassen. Er heiratet I. Weißhand, die Tochter des Herrschers von Karahes/Karke, vollzieht jedoch die Ehe nicht. Als I. Weißhand beim Durchreiten einer Lache das Wasser, das ihr an die Schenkel spritzt, für kühner erklärt als ihren Ehemann (Mot. T 315.2.1), erfährt ihre Familie davon. Mehrere Male kehrt T. noch in Begleitung eines Freundes, der dabei einmal mit Hilfe eines Kissens in einen Zauberschlaf versetzt wird (Mot. D 1364.11), heimlich zu seiner Geliebten zurück. Bei einem
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Tristan und Isolde
Freundschaftsdienst wird T. so schwer verwundet, daß nur seine Geliebte ihn noch retten kann. Da bewirkt I. Weißhand mit einer Lüge (Motiv des schwarzen und weißen Segels; J Erkennungszeichen, Kap. 12), daß T. an seiner Geliebten zweifelt und stirbt. Als I. an T.s Krankenbett eintrifft und ihn leblos vorfindet, folgt sie ihm in den Tod. T. und I. werden nebeneinander begraben, über ihren Gräbern verschlingen sich die J Grabpflanzen2.
Orts- und Personennamen dieser Geschichte lassen kelt. Erzählsubstrat erkennen (J Diarmuid)3, auf dessen Grundlage um 1150 im anglonormann.-(süd)frz. Einflußraum, vermutlich im Umkreis Heinrichs II. von England und Eleonores von Aquitanien4, ein Roman entstand. Er kombiniert zahlreiche z. T. internat. verbreitete, aber auch markante originäre literar. Motive5. Viele der Motive sind auf ma. Bildzeugnissen dargestellt (J Tapisserien)6. Die Episoden des T.romans, dessen Makrostruktur als problematisierende Kombination einer Brautwerbung durch einen außergewöhnlichen Stellvertreter mit einem ,Heilbringermärchen‘ (T. wirkt durchgängig als Retterfigur) deutbar ist7, sind durch zahlreiche Doppelungen miteinander verbunden8. Ein in der Forschung postulierter Ur-T.roman (die sog. Estoire) ist bezeichnenderweise nicht erhalten9, war doch die Entstehung des T.romans nach Ausweis der ältesten Zeugnisse von mündl. Überlieferung mitgeprägt10. Für raumübergreifende Erzählerkontakte sprechen die zufälligen Parallelen zwischen weiten Teilen der I.-Weißhand-Handlung und dem arab. Qais und Lubna¯-Stoff 11. Wesentliche Züge der Frühstufe des T.romans sind in den Dichtungen des anglonormann. Autors Berol (Be´roul; 12. Jh.)12 und des Deutschen Eilhart von Oberg (1160⫺ca 1190)13 erhalten. Eilharts vollständig erhaltenem Tristrant kommt, da die meisten ma. T.romane nur fragmentarisch überliefert sind, hohe stoffgeschichtliche Bedeutung zu. Bes. Einfluß auf die Entwicklung der europ. T.dichtungen hatte die um 1160/76 entstandene Bearb. des anglonormann. Dichters Thomas14, der den Roman mit weiteren Motiven wie z. B. dem des voreilig gegebenen Versprechens (Mot. Q 115) oder dem der Minnegrotte (Mot. R 315.1; cf. auch AaTh/ATU 1418: J I.s Gottesurteil) anreicherte und den Sprachstil sowie die Figurenzeichnung modernisierte. Auf dieser Grundlage schuf u. a. ein Mönch
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namens Robert die norw. Tristrams saga ok I´sondar (1226) und ein anonymer mittelengl. Autor den strophischen Sir Tristrem (Ende 13. Jh.)15. Der bedeutendste Vertreter der Thomas-Gruppe war Gottfried von Straßburg, dem um 1210 die wohl anspruchsvollste und künstlerisch vollkommenste T.dichtung gelang16; unvollendet geblieben, wurde sie im 13. Jh. zweimal ⫺ um 1240 durch Ulrich von Türheim, nach 1270 durch Heinrich von Freiberg ⫺ vervollständigt17. Auf die vor Thomas liegende Frühstufe des T.romans greift auch der altfrz. Tristan en prose (um 1230) zurück, der die T.handlung in die J Artustradition einbettet. Von ihm ging eine nachhaltige Wirkung bis in die frühe Neuzeit aus, die von England (cf. Sir Thomas Malorys Le Morte Darthur, gedr. 1485) und der Iber. Halbinsel über Italien bis auf den Balkan reichte. In Mitteleuropa konnte sich der Prosa-T. jedoch weder gegen Gottfrieds Version noch gegen den im Spätmittelalter an Bedeutung gewinnenden Tristrant Eilharts durchsetzen, die beide auch in Böhmen einflußreich waren (alttschech. T. Ende des 14. Jh.s)18. Während die hs. tradierten Versromane Gottfrieds und Eilharts vom 16. Jh. an in Vergessenheit gerieten, lebte eine 1484 gedruckte Prosabearbeitung von Eilharts Tristrant als sog. Volksbuch fort. Bis ins 17. Jh. erfuhr es mindestens 14 Ausg.n und machte den T.stoff einem breiteren dt. Lesepublikum bekannt19. Es diente auch Hans J Sachs als Grundlage einiger Dichtungen (Meisterlieder, Tragödie)20. Die Abhängigkeit der Gottscheer Ballade Liebestod vom Schluß des T.epos von Eilhart oder Ulrich liegt nahe, da man davon ausgehen kann, daß es eine dt. mündl. überlieferte T.sage nie gegeben hat21. Nach der Druckveröffentlichung einer Hs. von Gottfrieds T. durch H. Myller (1785) begann eine neue Phase in der Rezeption des T.stoffs: Namhafte Autoren wie August Wilhelm Schlegel (1811), August von Platen (1825), Friedrich Rückert (1839) oder Karl Leberecht Immermann (1841) schufen nun neuzeitliche T.dichtungen. Um die Mitte des 19. Jh.s erschienen wiss. Editionen und neuhochdt. Übers.en. Seither hat vor allem Richard J Wagners Oper T. und I. (1859, Uraufführung 1865) das moderne Verständnis des T.mythos geprägt. In ihrer Nachfolge bildete
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Trivialliteratur
sich in Deutschland eine Flut von T.dramen heraus, von denen Ernst Hardts Tantris der Narr (1907) und Georg Kaisers König Hahnrei (1913) die bekanntesten sind22. Um die Wende zum 20. Jh. flossen neue stoffgeschichtliche Erkenntnisse in das Verständnis des T.stoffs ein, was sich zuerst in J. J Be´diers vielbeachteter Rekonstruktion Roman de T. et Iseut (1900), der als dem ,Ur-T.‘ nahestehend galt, niederschlug und zahlreiche T.dichtungen des 20. Jh.s beeinflußte. In neuerer Zeit sind z. B. Salvador Dalı´s ausführliche Beschäftigung mit dem T.stoff und John Updikes T.adaptation Brazil (1994) Belege dafür, daß die Faszinationskraft des ma. Stoffs mit dem ihm eingeschriebenen Konflikt von Liebe und Gesellschaft sowie dem Gedanken einer Beständigkeit der Liebe bis in den Tod weiterhin anhält. 1
Rossi, L. u. a.: T. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 1020⫺1024. ⫺ 2 Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde. ed. D. Buschinger. Berlin 2004. ⫺ 3 Padel, O. J.: The Cornish Background of the T. Stories. In: Cambridge Medieval Celtic Studies 1 (1981) 53⫺ 81; McCann, W. J.: The Celtic and Oriental Material Re-examined. In: T. and I. A Casebook. ed. J. T. Grimbert. N. Y./L. 1995, 3⫺35. ⫺ 4 Lejeune, R.: Roˆle litte´raire d’Alie´nor d’Aquitaine et de sa famille. In: Cultura Neolatina 14 (1954) 5⫺57. ⫺ 5 cf. Birkhan. ⫺ 6 Walworth, J.: T. in Medieval Art. In: Grimbert (wie not. 3) 255⫺299. ⫺ 7 Kuhn, H.: T., Nibelungenlied, Artusstruktur. Mü. 1973. ⫺ 8 Witte, A.: Der Aufbau der ältesten T.dichtungen. In: ZfdA 70 (1933) 161⫺195. ⫺ 9 Varvaro, A.: La teoria dell’archetipo tristiano. In: Romania 88 (1967) 13⫺58. ⫺ 10 cf. Henkel, N.: Die Geschichte von T. und I. im dt. MA. In: Hauptwerke der Lit. ed. H. Bungert. Regensburg 1990, 92 sq. ⫺ 11 Tekinay, A.: Materialien zum vergleichenden Studium von Erzählmotiven in der dt. Dichtung des MA.s und den Lit.en des Orients. Ffm. u. a. 1980; cf. Tomasek, T.: Gottfried von Straßburg. Stg. 2007, 276⫺278; cf. dagegen Hartmann, A.: Das pers. Epos „Wis und Ramin“. Ein Vorläufer des „T.“? In: T. und I. im SpätMA. ed. X. von Ertzdorff/R. Schulz. Amst. 1998, 103⫺139, bes. 137. ⫺ 12 Berol: T. und I. Übers. U. Mölk. Mü. 1962. ⫺ 13 Eilhart von Oberg (wie not. 2). ⫺ 14 Thomas: T. ed. G. Bonath. Mü. 1985. ⫺ 15 Die nord. und die engl. Version der T.sage 1⫺2. ed. E. Kölbing. Heilbronn 1878/82. ⫺ 16 Gottfried von Straßburg: T. und I. ed. F. Ranke. Zürich 15 1978. ⫺ 17 Ulrich von Türheim: T. ed. T. Kerth. Tübingen 1979; Heinrich von Freiberg 2. ed. A. Bernt. Halle 1906, 1⫺211. ⫺ 18 Stein, P. K.: T.studien. ed. I. Bennewitz. Stg./Lpz. 2001. ⫺ 19 Gotzkowsky, B.: ,Volksbücher‘. Prosaromane, Renaissan-
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cenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher 1⫺ 2. Baden-Baden 1991/94, t. 1, 362⫺371; t. 2, 97⫺ 99. ⫺ 20 cf. Stein, P. K.: T.studien. Stg./Lpz. 2001, 226⫺232. ⫺ 21 DVldr 1, num. 9; Brednich, R. W./Suppan, W.: Gottscheer Volkslieder 1. Mainz 1969, num. 74; Rosenfeld, H.: Heldenballade. In: Brednich, R. W./Röhrich, L./Suppan, W. (edd.): Hb. des Volkslieds 1. Mü. 1973, 57⫺87, hier 76 sq. ⫺ 22 Müller, U.: The Modern Reception of Gottfried’s T. and the Medieval Legend of T. and I. In: A Companion to Gottfried von Straßburg’s „T.“ ed. W. Hasty. Rochester 2003, 285⫺304.
Münster
Tomas Tomasek
Trivialliteratur 1. Begriff ⫺ 2. Hist. Entwicklung ⫺ 3. T. und Volkserzählung
1 . B eg ri ff. T. ist eine wiss. umstrittene Bezeichnung für populäre Erzählliteratur. Als trivial (lat. trivium: Straßengabelung, öffentliche Straße, schlechter Ort) wird seit dem 18. Jh. im Deutschen abwertend das bezeichnet, was allg. verbreitet ist, was jeder kann1. In die dt.sprachige Lit.wissenschaft fand die Bezeichnung mit M. Thalmanns Studie zum Trivialroman des 18. Jh.s Eingang2; gängig als abwertende Bezeichnung innerhalb der etablierten Kunstwissenschaften von Philologie bis Musik wurde der Begriff T. in den 1960er Jahren vor allem durch Projekte der Thyssen-Stiftung zur Entdeckung des 19. Jh.s. Entsprechende auf Erfolg bei einer breiten Leserschaft angelegte Erzählliteratur und Kritik daran gab es auch im engl., frz. und ital. Sprachraum; doch ein Begriff, der wie T. das Populäre als Nicht- und Antiliteratur ausgrenzt, setzte sich nur im Deutschen durch. Hier wurde eine der Kunstliteratur gegenübergestellte Klasse erzählender Schriften ohne oder von geringem ästhetischem Wert bereits mit der „Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur“3 durch Klassik und Romantik konstituiert. Während sog. Modeliteratur von Lohnschreibern im 18. Jh. noch als Bestandteil der nationalen Lit. behandelt wurde, radikalisierte sich die Kritik im 19. Jh.: Was als „weit verbreitet und leicht verständlich“ 4 nicht den Maßstäben anspruchsvoller Kunstliteratur genügte, verdiente keine ernsthafte Würdigung; es wurde als ,nicht ge-
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Trivialliteratur
schichtsfähig‘5 aus der ,eigentlichen‘ Lit. ausgegrenzt ⫺ die polizeilich und von einer breiten ,Schundkampf ‘-Bewegung verfolgte J ,Kolportage-‘ und ,Schundliteratur‘6 ebenso wie die national- und moralpädagogisch angelegte Volksliteratur7 (Gustav Nieritz, W. O. von Horn, Oskar Höcker etc.; J Volksbücher) und die beim bürgerlichen Publikum erfolgreiche Unterhaltungsliteratur (J Unterhaltung) von Erfolgsautorinnen wie Eugenie Marlitt, Luise Mühlbach oder Natalie von Eschstruth. Die Beschäftigung mit massenliterar. Genres seit den 1960er Jahren führte zur Kritik dieser Unterscheidungen: In der Gesellschaft existierten unterschiedliche Konzepte von Lit., und die Analyse dürfe nicht eines davon (das klassisch-romantische) zum Maßstab erheben. Die Konsequenz war Historisierung; T. bezeichne, so die von H. Kreuzer proponierte Sichtweise, den „Literaturkomplex, den die dominierenden Geschmacksträger einer Zeitgenossenschaft ästhetisch diskriminieren“8; die dabei verwendeten ,Trivialitätskriterien‘ seien als ,symptomatische Dokumente‘ der jeweiligen Positionen zu lesen9. Die empirische Lit.wissenschaft, die literar. Phänomene als Produkte sozialer Interaktion definiert, erklärte T. vollends zum illegitimen Konzept10. Seither stehen sich zwei Positionen gegenüber. Die philol.-werkbezogene hält an T. als spezifischem Textkorpus fest, weil anhand von Struktur und Stil bestimmter Genres eine ,objektiv nachprüfbare‘ Klassifikation von literar. Texten in Differenz zur Kunstliteratur möglich11 oder das Konzept zumindest pragmatisch-heuristisch nützlich sei12. Empirisch konzentriert man sich auf marktstrategisch standardisierte ,Schemaliteratur‘13, meist von anonymen Autoren nach strikten Vorgaben verfaßte Romanhefte, -reihen und Bestseller. Kulturanalytisch dagegen werden literar. Kriterien nicht als Instrument, sondern als Gegenstand der Unters. behandelt; T. gilt als Komplex sozialer Praktiken mit eigenen Funktionen und die Aneignung durch die Leser als konstitutiv. Sozialgeschichtlich und alltagsanalytisch werden die Schichtspezifik und die distinktive Instrumentalisierung der Klassifizierungen14 wie der sozioästhetischen Wertungen untersucht. R. J Schendas Sozialgeschichte der populären Lesestoffe15 ist hierfür exemplarisch.
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Die volkskundliche Erzählforschung steht zwischen beiden Polen. Bis in die 1950er Jahre galt hier die zeitgenössische kommerzielle Erzählliteratur weithin als Gegenpol wahrer Volksliteratur. Die wenigen einschlägigen Studien16 ordneten die moderne Kolportage- und Heftchenliteratur allerdings insgesamt den populären J Lesestoffen zu, neben religiösen J Erbauungsschriften, J Zauberbüchern, J Zeitungen, Zeitschriften und J Ratgebern (J Hausväterliteratur, J Moralische Geschichten). Es wurde darauf hingewiesen, daß T. vielfältig mit der kanonisierten Volksliteratur und dem ,volkstümlichen Geschmack‘17, mit J Moritat und Märchen, aber ebenso mit der abendländischen Hochliteratur und den Erfolgsrezepten der bürgerlichen Unterhaltungsliteratur verknüpft sei und ihren Weg „zum Gebildeten wie zum Ungebildeten“ finde18. Seit den 1960er Jahren wurden ideologiekritische Fragestellungen aufgegriffen19, doch hält sich die Vorstellung von T. als Korpus literar. unterkomplexer Belletristik; deren Sitz im Leben und im J Lesen (Materialität und Gebrauchsweisen, Rezeption in unterschiedlichen Milieus) bleibt gegenüber der philol. Analyse vernachlässigt. 2 . H is t. En tw ic kl un g. Bürgerliche T. entstand in Deutschland in der 2. Hälfte des 18. Jh.s20 mit der Herausbildung zunehmend marktvermittelter Lit.verhältnisse21 und der Ausbildung eines weiblichen literar. Publikums22. Leserschaft wie Selbstverständnis der Autoren und Verleger charakterisieren diese Lit. als bürgerlich; sie erreichte jedoch auch das Dienstpersonal sowie gebildete Groß- und Mittelbauern23. Der Unterhaltungslektüre dieser Schichten dienten im 19. Jh. Leihbibliotheken mit ausgeprägter Marktmacht24, neue Formate wie Zeitungsroman25 und Eisenbahnlektüre26, Familienblätter und Unterhaltungszeitschriften27, preiswerte Reihen mit Erzählungen28 und die stark anwachsende Jugendliteratur29. Auch Genres der Lyrik und Dramatik sowie die beliebten Almanache (J Kalender, Kalendergeschichte) und Taschenbücher werden z. T. der T. zugerechnet30. Das Lesepublikum erweiterte sich im 19. Jh. zunehmend auf kleinbürgerliche31, dann auf proletarische Schichten32, bes. auf Leserinnen. Sie erschlossen sich den Lieferungsroman33
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Trivialliteratur
und nach 1900 die modernen Romanheftserien (,Groschenhefte‘)34. Rigide verlegerische Vorgaben für die Autoren nach vermuteten Lesegewohnheiten35, die strikte Formierung von Genres36 (dauerhaft Abenteuer-, Detektiv-/ Kriminal-, Schauer-/Grusel-, Science Fiction-, Wildwest-, Liebesgeschichten sowie Pornographie37), die Strukturierung zur Leserbindung (Spannungsmoment am Fortsetzungsende, durchlaufende Heldenfiguren) und der Aufbau von Serien zum Markenprodukt machten Heftserien38 neben dem Leihbibliotheks-39, J Illustrierten-40, Liebes- und Frauenroman zum Inbegriff der T. im 20. Jh.41 T. wird (oft implizit) der Unterschicht zugeordnet42; sie bediene deren beschränktes literar. Verständnis, ihre Normen und Tugendkataloge, Entlastungsbedürfnisse und Tagträume43. Die meisten Erzähltexte diesseits der Kunstliteratur werden dagegen als Unterhaltungsliteratur bezeichnet und einem Ober- und Mittelschichtpublikum zugeordnet44. Obwohl Heftromane und Taschenhefte durchaus Jüngere und höher Gebildete ansprechen45, stagniert das Segment. Marktorientierte Unterhaltungs- und Bestsellerliteratur46 erreicht schichtübergreifend den größten Teil der Leserschaft; diese Verschiebung kann als Ausdruck gestiegener ästhetischer Ansprüche interpretiert werden47. 3 . T. u nd Vo lk se rz äh lu ng. Das als T. Gefaßte ist heterogen und in das selbst bereits komplexe und empirisch schwer greifbare Gefüge von J Lit. und Volkserzählung nicht problemlos einzupassen48. Ob und wie z. B. der Räuberroman (J Räuber, Räubergestalten), der in Deutschland mit Heinrich Zschokkes Abällino der große Bandit (1793) auf den Plan tritt, populäres Erzählgut nutzt, ist ungeklärt; H. Dainat49 führt ihn auf den aufklärerischen Wandel im öffentlichen Diskurs über Gewalttäter zurück, ohne die mit Hinrichtungen verbundenen Textsorten wie Moritaten, Exekutionsberichte, J Bilderbogen, Predigten etc. systematisch zu prüfen. Daß die im 19. Jh. verbreitete populäre Lit. zu regionalen Räubern und Rebellen sich von bürgerlichen Romanen hat anregen lassen, legt Schenda nahe50. Wie weit sich mündl. Erzähllinien dieser Stoffe herausbildeten und ob sie in Lieferungsromane und Groschenhefte eingingen, ist nicht unter-
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sucht. Belegt ist das Vorlesen solcher T. im Unterschichtmilieu51, ebenso die Aufnahme von J Ritter- und Räuberstoffen sowie Motiven aus Groschenheftserien in Kinderspiele und Aktivitäten Halbwüchsiger52. Die hist. und vergleichende Erzählforschung hat bes. drei Aspekte erörtert: Motive, Funktionsäquivalenzen und Mündlichkeit. So wurde am J Kriminalroman eine Fülle von Motiven der auch mündl. tradierten Erzählliteratur nachgewiesen; dies ließe sich auf weitere Genres ausdehnen, ist aber keineswegs ein spezifisches Merkmal zur Unterscheidung der T. von der Hochliteratur. Die Ressourcen, aus denen Autoren von T. schöpfen, unterscheiden sich nicht prinzipiell von denen anderer Schriftsteller (T.-Autoren sind auf diversen literar. Feldern aktiv); sie sind teilweise genrespezifisch, schließen jedoch Kanon wie Alltagsrede, Zeitungsmeldung und Wiss. ein53. Nach gängiger Forschungsmeinung lebt das Märchen in trivialen Erzählungen weiter54. Einen Katalog von Struktur- und Stilelementen hat D. Bayer am Beispiel des Liebesromans55 vorgelegt: z. B. Liebesgeschichte mit Hindernissen und glücklicher Vereinigung, Sieg des Guten über das Böse (J Gut und Böse), präzise Mechanik des Geschehens, ewige Jugend der Helden. Bayer deutet selbst ein Grundproblem solcher Strukturvergleiche an: Argumentiert wird stets mit ausgewählten Passagen ausgewählter Texte; es fehlen systematische und mit Nicht-T. vergleichende Analysen. Angesichts der vielen Belege für vermeintliche Charakteristika von T. in der Hochliteratur56 darf man zudem zweifeln, ob T. philol. eindeutig abzugrenzen ist. Anknüpfend an Bayer hat H. J Bausinger mehrfach vor der Annahme einer Funktionsäquivalenz von Märchen und T. gewarnt57. Wenngleich sie von Verlagen sowie in den Texten selbst reklamiert werde, treffe sie nur für ein schmales Segment zu. Die abstrakte Gestalt unterscheide Märchen aber grundsätzlich von der ,realistischen Problematisierung‘, auf der die Funktion populärer Erzählungen wesentlich beruhe58. Seit dem Kolportageroman59 ist es die zentrale Leistung der sog. T. ⫺ noch vor der entspannenden Ablenkung ⫺, Gegenwartserleben und subjektiv bewegende Themen, Probleme und Erfahrungen in Geschichten umzusetzen, die populäre Moral-
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Trivialliteratur
und Gerechtigkeitserwartungen an ein ,gelingendes Leben‘60 erfüllen61. Über das Vorlesen und Erzählen von Geschichten hinaus war und ist T. in ein Netz mündl. Kommunikation eingebunden, das noch kaum erforscht ist. Die direkte Ansprache und Lieferung durch den Kolporteur62 war im 19. Jh. grundlegend für die Erweiterung der Leserschaft; Tauschen, Leihen, Schenken spielen auch heute als Anlaß zum Austausch über das Gelesene eine Rolle63, mittlerweile ergänzt durch Internetforen. Rezipiert und interpretiert wird das Gelesene im Kontext vergleichbarer Geschichten, die neben den Medien weiterhin die alltägliche Kommunikation liefert ⫺ Kriminalfälle64, Liebes- und Beziehungsgeschichten. Schließlich ist hier auch an die gesellschaftliche Debatte über T. zu denken ⫺ früher unter dem Stichwort Schund, heute mit Bezug auf Mediengewalt und Jugendschutz65. Sie schließt Genres von Predigt bis Exempelgeschichte ein66 und beeinflußt über mündl. Vermittlung Lektüre und Rezeption. 1 Althof, H.-J.: T. In: Archiv für Begriffsgeschichte 22,1 (1978) 175⫺201, hier 177 sq.; Zöfgen, E.: Lat. ,trivialis‘ und verwandte Begriffe im Rom., Dt. und Engl. In: Motte-Haber, H. de la (ed.): Das Triviale in Lit., Musik und Bildender Kunst. Ffm. 1972, 21⫺ 41. ⫺ 2 Thalmann, M.: Der Trivialroman des 18. Jh.s und der romantische Roman. B. 1923. ⫺ 3 Bürger, C. und P./Schulte-Sasse, J.: Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Lit. Ffm. 1982. ⫺ 4 Nusser, P.: T. Stg. 1991, 3. ⫺ 5 Althof (wie not. 1) 183, 188. ⫺ 6 Schultze, E.: Die Schundlit. Halle (Saale) 1909; Brunner, K.: Unser Volk in Gefahr! Ein Kampfruf gegen die Schundlit. Pforzheim 1909. ⫺ 7 Müller-Salget, K.: Erzählungen für das Volk. Evangel. Pfarrer als Volksschriftsteller im Deutschland des 19. Jh.s. B. 1984; Knoche, M.: Volkslit. und Volksschriftenvereine im Vormärz. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 27 (1986) 1⫺130; Böning, H.: Volkserzählungen und Dorfgeschichten. In: Sautermeister, G./Schmid, U. (edd.): Hansers Sozialgeschichte der dt. Lit. vom 16. Jh. bis zur Gegenwart 5. Mü. 1998, 281⫺312; Füller, K. D.: Erfolgreiche Kinderbuchautoren des Biedermeier. Ffm. u. a. 2006. ⫺ 8 Kreuzer, H.: T. als Forschungsproblem. In: DVLG 41 (1967) 173⫺191, hier 185. ⫺ 9 ibid.; ähnlich SchulteSasse, J.: Die Kritik an der T. seit der Aufklärung. Mü. 1971. ⫺ 10 cf. Barsch, A.: ,Populäre Lit.‘ als Forschungsproblem einer empirischen Lit.wiss. In: Wirkendes Wort 41 (1991) 101⫺119. ⫺ 11 ˇ Skreb, Z.: T. In: id./Baur, U. (ed.): Erzählgattungen der T. Innsbruck 1984, 9⫺31, hier 10. ⫺ 12 cf. Nusser (wie not. 4); Nutz, W.: T. und Popularkultur. Opladen 1999; cf. Plaul, H.: Bibliogr. dt.sprachiger
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Veröff.en über Unterhaltungs- und T. vom letzten Drittel des 18. Jh.s bis zur Gegenwart. Mü. 1980. ⫺ 13 cf. Zimmermann, H. D.: Schema-Lit. Stg. u. a. 1979. ⫺ 14 Schenda, R.: Die Lesestoffe der Kleinen Leute. Mü. 1976, 78⫺104; Jäger, G.: Der Kampf gegen Schmutz und Schund. Die Reaktion der Gebildeten auf die Unterhaltungsindustrie. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 31 (1988) 163⫺191; Maase, K.: Die soziale Bewegung gegen Schundlit. im dt. Kaiserreich. In: Internat. Archiv für Sozialgeschichte der dt. Lit. 27 (2002) 45⫺123. ⫺ 15 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770⫺1910. Ffm. 1970. ⫺ 16 Leyen, F. von der: Volkslit. und Volksbildung. In: Dt. Rundschau 157 (1913) 104⫺130; Görner, O.: Der Volkslesestoff. In: Spamer, A. (ed.): Die dt. Vk. 1. Lpz. 1934, 388⫺399; Peuckert, W.-E.: Dt. Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel. B. 1938, 5⫺11, 207 sq.; id.: Volksbücher von heute. In: Zs. für dt. Philologie 83 (1962) 423⫺447; Schenda (wie not. 14). ⫺ 17 von der Leyen (wie not. 16) 114. ⫺ 18 Görner (wie not. 16) 391. ⫺ 19 Bausinger, H.: Wege zur Erforschung der trivialen Lit. In: Burger, H. O. (ed.): Studien zur T. Ffm. 1968, 1⫺33; Schenda, R.: Die Lesestoffe der Beherrschten sind die herrschende Lit. Bemerkungen zu Klassencharakter und sozialer Schichtung des literar. Kommunikationsfeldes. In: Bayer, D.: Der triviale Familienund Liebesroman im 20. Jh. Tübingen 21971, 187⫺ 211; Nagl, M.: Science Fiction in Deutschland. Unters.en zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenlit. Tübingen 1972; Geiger, K. F.: Kriegsromanhefte in der BRD. Tübingen 1974; Davids, J.-U.: Das Wildwest-Romanheft in der Bundesrepublik. Tübingen 21975; Frizzoni, B.: MordsFrauen. Detektivinnen und Täterinnen im ,Frauenkrimi‘ der 80er und 90er Jahre. In: SAVk. 95 (1999) 87⫺112; Scherreiks, S.: „Endlich der Richtige!“ Diskurse über Männlichkeit und ihre Spiegelung in Trivialromanen zwischen 1973 und 1996. Münster 2003; Tomkowiak, I.: Schwerpunkte und Perspektiven der Bestsellerforschung. In: SAVk. 99 (2003) 49⫺64; Fehlmann, M.: Frauengestalten in populären Artusromanen der Gegenwart. In: Fabula 46 (2005) 217⫺240. ⫺ 20 cf. Greiner, M.: Die Entstehung der modernen Unterhaltungslit. Reinbek 1964; Beaujean, M.: Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s. Bonn 1964; Plaul, H.: Ill. Geschichte der T. Lpz. 1983; Dainat, H.: Abaellino, Rinaldini und Konsorten. Zur Geschichte der Räuberromane in Deutschland. Tübingen 1996; Nusser, P.: Unterhaltungslit. In: Das Fischer-Lex. Lit. 3. Ffm. 1996, 1906⫺1930; Simanowski, R.: Die Verwaltung des Abenteuers. Massenkultur um 1800 am Beispiel Christian August Vulpius. Göttingen 1998; Arnoldde Simine, S.: Leichen im Keller. Zu Fragen des Gender in Angstinszenierungen der Schauer- und Kriminallit. (1790⫺1830). St. Ingbert 2000. ⫺ 21 cf. Engelsing, R.: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. In: Börsenblatt für den dt. Buchhandel 51 (1969) 1541⫺1569; Bürger u. a. (wie
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Trivialliteratur
not. 3); Geyer-Ryan, H.: Der andere Roman. Versuch über die verdrängte Ästhetik des Populären. Wilhelmshaven 1983; Schön, E.: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stg. 1987; Barsch (wie not. 10) 106⫺110; Schmidt, S. J.: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Lit. im 18. Jh. Ffm. 1989. ⫺ 22 Schön, E.: Publikum und Roman im 18. Jh. In: Jäger, H.-W. (ed.): ,Öffentlichkeit‘ im 18. Jh. Göttingen 1997, 295⫺326. ⫺ 23 Ziessow, K.-H.: Ländliche Lesekultur im 18. und 19. Jh. Cloppenburg 1988. ⫺ 24 Jäger, G.: Die dt. Leihbibl. im 19. Jh. In: Internat. Archiv für Sozialgeschichte der dt. Lit. 2 (1977) 96⫺ 133; Martino, A.: Die dt. Leihbibl. Geschichte einer literar. Institution (1756⫺1914). Wiesbaden 1990; Habitzel, K./Mühlberger, G.: Die Leihbibl.sforschung in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In: Internat. Archiv für Sozialgeschichte der dt. Lit. 22,2 (1997) 66⫺108. ⫺ 25 Hackmann, R.: Die Anfänge des Romans in der Ztg. Diss. B. 1938; Bachleitner, N.: Litte´rature industrielle. Ber. über Unters.en zum dt. und frz. Feuilletonroman im 19. Jh. In: Internat. Archiv für Sozialgeschichte der dt. Lit. 6 (1994) 159⫺223; id.: Kleine Geschichte des dt. Feuilletonromans. Tübingen 1999. ⫺ 26 Haug, C.: Reisen und Lesen im ZA. der Industrialisierung. Die Geschichte des Bahnhofs- und Verkehrsbuchhandels von seinen Anfängen um 1850 bis zum Ende der Weimarer Republik. Wiesbaden 2007. ⫺ 27 Radeck, H.: Zur Geschichte von Roman und Erzählung in der „Gartenlaube“ (1853 bis 1914). Diss. (masch.) Erlangen-Nürnberg 1967; Hügel, H.-O.: Unters.srichter, Diebsfänger, Detektive. Theorie und Geschichte der dt. Detektiverzählung im 19. Jh. Stg. 1978; id. (ed.): Die Leiche auf der Eisenbahn. Detektivgeschichten aus dt. Familienzss. Darmstadt/Neuwied 1981; Belgum, K.: Popularizing the Nation. Audience, Representation, and the Production of Identity in Die Gartenlaube 1853⫺1900. Lincoln, Nebr., 1998, 119⫺141; Graf, A./Pellatz, S.: Familienund Unterhaltungszss. In: Jäger, G. (ed.) Geschichte des dt. Buchhandels im 19. und 20. Jh. 2. Ffm. 2003, 409⫺522; Dingeldey, E.: Luftzug hinter Samtportieren. Versuch über E. Marlitt. Bielefeld 2007. ⫺ 28 Fullerton, R.: Toward a Commercial Popular Culture in Germany. The Development of Pamphlet Fiction, 1871⫺1914. In: J. of Social History 12 (1979) 489⫺511; Bloch, R. N.: Kürschners Bücherschatz (1897⫺1920). Eine Bibliogr. Gießen 1994; id.: Bibliogr. dt. Unterhaltungs- und Kriminallit.reihen (1892⫺1932). Gießen 1996; Schädel, M.: Ill. Bibliogr. der Kriminallit. 1796⫺1945 im dt. Sprachraum 1⫺2. Butjadingen 2006. ⫺ 29 Dettmar, U. u. a.: Kinder- und Jugendbuchverlag. In: Jäger (wie not. 27) 103⫺163. ⫺ 30 cf. Wilms, B.: Der Schwank. Dramaturgie und Theatereffekt. Dt. Trivialtheater 1880⫺1930. Diss. B. 1969; Klotz, V.: Bürgerliches Lachtheater. Komödie, Posse, Schwank, Operette. Mü. 1980; Mix, Y.-G. (ed.): Almanach- und Taschenbuchkultur des 18. und 19. Jh.s. Wiesbaden 1996. ⫺
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cf. exemplarisch Neuhaus, V.: Der zeitgeschichtliche Sensationsroman in Deutschland 1855⫺1878. ,Sir John Retcliffe‘ und seine Schule. B. 1980. ⫺ 32 cf. Plaul, H.: Über den Handel mit Lieferungsromanen im letzten Drittel des 19. Jh.s. In: Jb. für Vk. und Kulturgeschichte 19 (1976) 167⫺177. ⫺ 33 Fullerton, R. A.: Creating a Mass Book Market in Germany. The Story of the ,Colporteur Novel‘ 1870⫺ 1890. In: J. of Social History 10 (1976) 265⫺283; Kosch, G./Nagl, M.: Der Kolportageroman. Bibliogr. 1850 bis 1960. Stg./Weimar 1993; Graf, A.: Literarisierung und Kolportageroman. Überlegungen zu Publikum und Kommunikationsstrategie eines Massenmediums im 19. Jh. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschr. R. Schenda. Bern u. a. 1995, 277⫺291. ⫺ 34 Hügel, H.-O.: Romanheft. In: id. (ed.): Hb. populäre Kultur. Stg./Weimar 2003, 376⫺383; Galle, H. J.: Volksbücher und Heftromane 1⫺3. Lüneburg 2005/06/06; Wanjek, P.: Bibliogr. der dt. Heftromane 1900⫺1945. Wilfersdorf [1993]. ⫺ 35 cf. zusammenfassend Geiger, K. F.: Heftchen. In: Faulstich, W. (ed.): Kritische Stichwörter zur Medienwiss. Mü. 1979, 165⫺191, bes. 175⫺180. ⫺ 36 cf. Roberts, T. J.: An Aesthetics of Junk Fiction. Athens, Ga 1990; Gelder, K.: Popular Fiction. L. 2004. ⫺ 37 cf. Ertel, H.: Erotika und Pornographie. Mü. 1990, 60⫺70; Faulstich, W.: Die Kultur der Pornografie. Bardowick 1994. ⫺ 38 Epstein, H.: Der Detektivroman der Unterschicht 1. Ffm. 1930; Ziermann, K.: Romane vom Fließband. B. 1969; Ueding, G.: Tendenzen der modernen T. In: Hermand, J. (ed.): Lit. nach 1945. t. 2: Themen und Genres. Wiesbaden 1979, 69⫺98; Nusser, P.: Romane für die Unterschicht. Groschenhefte und ihre Leser. Stg. 5 1981; Faulstich, W.: Groschenromane, Heftchen, Comics und die Schmutz-und-Schund-Debatte. In: id. (ed.): Die Kultur der fünfziger Jahre. Mü. 2002, 199⫺215. ⫺ 39 Nutz, W.: Der Trivialroman, seine Formen und Hersteller. Köln/Opladen 1962; Weigand, J.: Träume auf dickem Papier. Das Leihbuch nach 1945 ⫺ ein Stück Buchgeschichte. Baden-Baden 1995. ⫺ 40 Hollstein, W.: Der dt. Illustriertenroman der Gegenwart. Mü. 1973; Jabs-Kriegsmann, M.: Zerrspiegel. Der dt. Illustriertenroman 1950⫺ 1977. Stg. 1981. ⫺ 41 Bayer (wie not. 19); Brodbeck, L.: Roman als Ware. Zur Analyse der Liebesromanhefte. Basel 1974; Ruloff-Haeny, F.: Liebe und Geld. Der moderne Trivialroman und seine Struktur. Zürich 1976; Linke, G.: Populärlit. als kulturelles Gedächtnis. Eine vergleichende Studie zu zeitgenössischen brit. und amerik. popular romances der Verlagsgruppe Harlequin Mills & Boon. Heidelberg 2003; methodisch maßstabsetzend Radway, J. A.: Reading the Romance. Women, Patriarchy, and Popular Literature. Chapel Hill 1984. ⫺ 42 Zimmermann (wie not. 13) 21. ⫺ 43 cf. Geiger (wie not. 35) 181 sq. ⫺ 44 Zimmermann (wie not. 13) 21⫺26. ⫺ 45 Nutz, W./Schlögell, V.: Die Heftroman-Leserinnen und Leser in Deutschland. In: Communications 16 (1991) 133⫺ 235; Nutz (wie not. 12) 93⫺214; Günther, C.: „Dann
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Trojanisches Pferd
hat der Alltag und die Realität wieder das Vorrecht …“. Heftromanleserinnen und -leser in den neuen Bundesländern. Halle 1999; id.: „Ich wollte das lesen, und alles andere war mir ziemlich egal.“ PerryRhodan-Leser in Ost und West. Halle 1999; Hackel, F.-H. (ed.): Die schwere Kunst der leichten Unterhaltung. Bergisch Gladbach 2004. ⫺ 46 Langenbucher, W. R.: Der aktuelle Unterhaltungsroman. Bonn 1964; Lauterbach, B.: Bestseller. Tübingen 1979; Zimmermann, B.: Das Bestseller-Phänomen im Lit.betrieb der Gegenwart. In: Hermand (wie not. 38) 99⫺123; Faulstich, W./Strobel, R.: Innovation und Schema. Medienästhetische Unters.en zu den Bestsellern „James Bond“, „Airport“, „Und Jimmy ging zum Regenbogen“, „Love story“ und „Der Pate“. Wiesbaden 1987; Vogt-Praclik, K.: Bestseller in der Weimarer Republik 1925⫺1930. Herzberg 1987; Tomkowiak (wie not. 19); Schneider, T.: Bestseller im Dritten Reich. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 52 (2004) 77⫺97. ⫺ 47 cf. Faulstich, W.: Bestseller ⫺ ein Phänomen des 20. Jh.s. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 21 (1996) 132⫺146. ⫺ 48 Bausinger, H.: Vk. Darmstadt 1971, 7. ⫺ 49 Dainat (wie not. 20). ⫺ 50 Schenda (wie not. 15) 397⫺401. ⫺ 51 Bromme, M. T. W.: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. (Jena 1905) Nachdr. Ffm. 1971, 117; Popp, A.: Jugend einer Arbeiterin. (Mü. 1909) Bonn 21991, 41. ⫺ 52 Maase, K.: Sphären des Wissens, Bühnen symbolischen Theaters, befreite Gebiete und die Unterwelt des Schundes. Die Massenkünste des wilhelmin. Kaiserreichs im Streit der Generationen. In: Lange, S. (ed.): Raumkonstruktionen in der Moderne. Bielefeld 2001, 207⫺226. ⫺ 53 cf. etwa Salmen, B. (ed.): Atlantis steigt auf. Paul Alfred Müller. Science Fiction aus Murnau. Murnau 2008; Galle, H. J./Bauer, M. R.: Sun Koh, der Erbe von Atlantis und andere dt. Supermänner. Paul Alfred Müller alias Lok Myler alias Freder van Holk. Leben und Werk. Zürich 2003; Braatz, T.: Robert Kraft. Farbig ill. Bibliogr. Lpz./Wien 2006; Klein, A.: Die Krise des Unterhaltungsromans im 19. Jh. Bonn 1969. ⫺ 54 Peuckert 1938 (wie not. 16) 10; Kölbl, A.: Fiktionen der Liebe. Europ. Volksmärchen und populäre Spielfilme im Vergleich. Mü. 2006. ⫺ 55 Bayer (wie not. 19) 144⫺151. ⫺ 56 cf. Killy, W.: Dt. Kitsch. Göttingen 21962, 49, 95, 106, 131, 156, 159. ⫺ 57 Bayer (wie not. 19) 150; Bausinger, H.: Zur Struktur der Reihenromane. In: Wirkendes Wort 6 (1956) 296⫺301; id.: (wie not. 48) 235⫺237, hier 235. ⫺ 58 ibid., 237. ⫺ 59 cf. Kosch/ Nagl (wie not. 33). ⫺ 60 Hügel, H.-O.: Nachrichten aus dem gelingenden Leben. In: Maase, K. (ed.): Die Schönheiten des Populären. Ffm. 2008, 77⫺96. ⫺ 61 wie not. 45; Barsch, A.: Young People Reading Popular/Commercial Fiction. In: Tötösy de Zepetnek, S./Sywenky, I. (edd.): The Systemic and Empirical Approach to Literature and Culture as Theory and Application. Edmonton 1997, 371⫺383. ⫺ 62 Storim, M.: Kolportage-, Reise- und Versandbuchhandel. In: Jäger (wie not. 27) 523⫺553. ⫺
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63
Nutz/Schlögell (wie not. 45) 153; Maase (wie not. 14) 106⫺109. ⫺ 64 cf. Kelchner, M./Lau, E.: Die Berliner Jugend und die Kriminallit. Lpz. 1928, bes. 5 sq., 76. ⫺ 65 wie not. 14; Kerlen, D.: Jugend und Medien in Deutschland. Weinheim/Basel 2005. ⫺ 66 cf. Maase, K.: Texte und Praxen. Populärlit.forschung als hist. Ethnografie. In: SAVk. 97 (2001) 43⫺51.
Tübingen
Kaspar Maase
Trojanisches Pferd (T.s P.; Mot. K 754.1), hölzernes J Pferd, in dem sich griech. Krieger verbargen, um sich mit dieser J Kriegslist Eingang in die befestigte Stadt Troja zu verschaffen. Nach den antiken Berichten1 verläuft die Erzählung wie folgt: Als die Griechen Troja nach zehn Jahren Belagerung immer noch nicht erobert haben, bauen sie auf Eingebung der Göttin Athene ein großes Pferd aus Holz, um in dessen hohlem Bauch Krieger in die Stadt zu schmuggeln. J Odysseus überredet die besten griech. Helden, sich in dem Pferd zu verstecken, während der Rest des Heeres die Belagerung zum Schein abbricht. Als die Trojaner das verlassene Lager der Griechen sehen, denken sie, der Krieg sei vorbei, rätseln jedoch, was es mit dem riesigen Holzpferd vor ihrer Stadt auf sich habe. Einige Trojaner drängen auf seine Zerstörung: Die Prophetin Kassandra warnt, das Pferd enthalte bewaffnete Männer, doch die Trojaner halten sie für geistesgestört und ignorieren ihre Warnungen. Der Priester Laokoon erklärt, daß von dem Pferd Gefahr ausgehe; nachdem aber zwei Seeschlangen ihn und seine beiden Söhne erwürgt haben, interpretieren Zeugen das Geschehen als göttliche Strafe dafür, daß Laokoon dem Pferd seine Lanze in die Flanke gestoßen hatte. Die meisten Trojaner halten das hölzerne Pferd für harmlos. Der Grieche Sinon, der sich als angeblicher Deserteur gefangennehmen ließ, erklärt ihnen, daß Troja nicht eingenommen werden könne, wenn sie das Pferd in die Stadt schafften; oder eine Inschrift auf dem Pferd weist es als Gabe für Athene aus, mit dem die Griechen um sichere Heimreise bitten. So lassen die Trojaner sich dazu verleiten, das Holzpferd in ihre Stadt zu ziehen; zu diesem Zweck reißen sie sogar einen Teil der Befestigungsmauer ab. Darauf feiern sie das Ende des Krieges. Nachts entzündet Sinon eine Fackel und gibt damit den auf der nahegelegenen Insel Tenedos wartenden Griechen das verabredete Zeichen. Die Männer kommen aus dem Pferd hervor, überwältigen gemeinsam mit ihren Kameraden die nahezu wehrlosen Trojaner, plündern und zerstören die Stadt. Menelaos erhält seine Frau J Helena zurück, deren Flucht mit dem Trojaner Paris den Feldzug der Griechen gegen Troja ausgelöst hatte.
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Trojanisches Pferd
Das hölzerne Pferd als Kriegslist in Zusammenhang mit dem legendären Trojan. Krieg muß in Griechenland im 8. Jh. a. Chr. n. bekannt gewesen sein, denn der Dichter der Odyssee (4,271⫺289; 8,492⫺520; 11,523⫺532; cf. auch Ilias 15,70 sq.2; J Homer) behandelte es als etwas seinem Publikum Vertrautes. Später wurde die Episode vielfach detailliert erzählt, zuerst in der Mikre¯ Ilias (Kleine Ilias) und der Iliou Persis (Zerstörung Ilions), zwei Epen des Trojan. Epenzyklus, die heute nur noch aus Zusammenfassungen bekannt sind3, danach von anderen griech. und röm. Autoren, bes. dem Lyriker Stesichoros4, von Prosamythographen wie Apollodoros (Epitome 5,14⫺19) oder J Hyginus (Fabulae 108) und von Ependichtern wie J Vergil (Aeneis 2,13⫺ 267; 6,515 sq.), Quintus von Smyrna (Posthomerica, 12 sq.) und Tryphiodoros (Halo¯sis Iliou [Die Einnahme Ilions]). Bildliche Darstellungen des hölzernen Pferds erschienen in Griechenland gegen Ende des 8. Jh.s a. Chr. n. und blieben in der Kunst der Antike bis zum 2. Jh. p. Chr. n. gängig5. Die auf lat. Prägung zurückgehende Wendung ,T.s P.‘ ist in vielen Sprachen eine Metapher zur Bezeichnung einer heimtückisch lauernden inneren Gefahr gebräuchlich6; auch die sprichwörtliche Wendung vom ,Danaergeschenk‘, das sich als unheilstiftend erweist, geht auf das T. P. zurück7. Ein frz. Emblem verwendet das T. P. als moralische Allegorie: Das große Pferd sehe von außen prächtig aus, trage jedoch in sich das Verderben Trojas; denn jene, die von außen schön anzusehen sind, seien oft innerlich verdorben8. In der Moderne gehört das T. P. zu den bekanntesten Bildern aus der klassischen Mythologie. Es erscheint häufig in bildender Kunst, Dichtung, Schauspiel, Film, Cartoon und anderen Äußerungen der gehobenen wie der populären Kultur9. In den USA heißt eine bekannte Kondommarke ,Trojans‘. Als Trojaner werden gleichfalls Computerprogramme bezeichnet, die sich unbemerkt auf Festplatten einnisten und externen Benutzern unbefugten Zugriff erlauben. Bereits antiken Autoren erschien es unwahrscheinlich, daß ein Trick wie der mit dem T.n P. in einem wirklichen Krieg Erfolg haben konnte. J Pausanias (1,23,8) war der Ansicht, daß das hölzerne Pferd als Werkzeug zum Ein-
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reißen der Mauern verstanden werden müsse; ähnlich erklärte Plinius (Naturalis historia 7, 202), daß ,Pferd‘ eigentlich ,Bock‘ bzw. ,Rammbock‘ bedeute ⫺ wobei Rammböcke erst lange nach der Epoche belegt sind, in welcher der hist. Trojan. Krieg vermutlich stattfand. Ähnliche Rationalisierungen werden bis heute gepflegt10. Eine andere Tradition erklärt die Geschichte vom T.n P. als konfuse Wiedergabe eines Rituals oder eines göttlichen Eingreifens, z. B. durch den manchmal in Gestalt eines Pferdes dargestellten Gott Poseidon, der Troja durch ein Erdbeben zerstört habe11. Die List, sich zur Eroberung einer Stadt und/oder einer Person in einem künstlich hergestellten Tier oder einem anderen Hohlkörper zu verbergen (Mot. K 754), findet sich auch in anderen frühen literar. Zeugnissen12. Ein ägypt. Papyrus von ca 1300 a. Chr. n. erzählt, wie der ägypt. General Thoth (oder Thuti) den Hafen Joppe (heute Jaffa) in Palästina belagerte. Nachdem er den Herrscher Joppes durch eine List gefangengenommen hatte, versteckte Thoth 200 Soldaten in Körben (Säcken) und ließ sie als angeblichen Tribut in die Stadt bringen; als die Einwohner von Joppe die Tore öffneten, eroberten die Ägypter die Stadt13. Eine Erzählung in dem Kommentar zum buddhist. Dhammapada (2,1) berichtet, wie König Canø dø a Pajjota einen Holzelefanten bauen ließ, in dem er 60 seiner Männer verbarg. Udayana, ein Elefantenliebhaber, besichtigte das an der Grenze stehende Tier und wurde gefangengenommen (Mot. K 754.2)14.
Die List, sich in einem Objekt (hier: künstliches Tier) zu verstecken, spielt auch in den internat. verbreiteten Volkserzählungen AaTh/ ATU 854: Der goldene J Bock15 und AaTh/ ATU 516: Der treue J Johannes16 eine Rolle. Daß eine derartige List nicht zwangsläufig gelingen muß, demonstriert AaTh/ATU 954: cf. J Ali Baba und die vierzig Räuber. Hier bemerkt eine kluge Sklavin, daß in den Ölkrügen des angeblichen Kaufmanns Räuber verborgen sind; sie gießt heißes Öl hinein und tötet so die Eindringlinge17. 1 cf. allg. Gantz, T.: Early Greek Myth. Baltimore/L. 1993, 641⫺657; Heubeck, A./West, S./Hainsworth, J. B.: A Commentary on Homer’s Odyssey 1. Ox. 1988, 379; Anderson, M. J.: The Fall of Troy in Early Greek Poetry and Art. Ox. 1997, 18⫺26; Burgess, J. S.: The Tradition of the Trojan War in Homer and the Epic Cycle. Baltimore/L. 2001; Austin, R. G.: Virgil and the Wooden Horse. In: J. of Roman Studies 49 (1959) 16⫺25. ⫺ 2 Franko, G. F.:
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Troja-Roman
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Bloomington
William Hansen
Troja-Roman. Die Ereignisse des Trojan. Kriegs werden der Chrestomathie (2. Jh./4. Jh. p. Chr. n.) des Proklos zufolge in sechs Gedichten erzählt1: in den Kypria (Zypriot. Geschichten) des Stasinos, der Ilias J Homers, der Aithiopis des Arktinos von Milet, der Mikra Ilias (Kleine Ilias) des Lesches von Mytilene, der Iliupersis (Zerstörung Trojas) des Arktinos und den Nostoi (Heimkehrerepen) des Agias von Troizen. Weitere Werke belegen die Beliebtheit des Trojazyklus, dessen unstreitiger Bezugspunkt Homer war, in der gesamten antiken griech.- und lat.sprachigen Welt2.
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Im Gegensatz dazu geht der ma. T. nicht auf Homer zurück3. Seine wichtigsten Qu.n waren ⫺ neben Einflüssen von J Vergil und J Ovid ⫺ die Acta diurna des Phrygiers Dares (auch als Historia de excidio Troiae bekannt) sowie die Ephemeris belli Troiani des Kreters Diktys. Dares behauptet, ein Überlebender des trojan. Heers zu sein. Seine Acta diurna werden im Prolog als lat. Übers. des röm. Historikers und Biographen Cornelius Nepos ausgegeben4; wahrscheinlicher aber ist, daß sie im 1. Jh. verfaßt wurden und zwischen 510 und 530 ihre endgültige Form erhielten. Im griech. Osten waren sie praktisch unbekannt, im lat. Westen dagegen entfalteten sie große Wirkung5: Nachdem J Jason und seiner Gefolgschaft (J Argonauten) auf dem Weg nach Kolchis in Phrygien von König Laomedon die Gastfreundschaft verweigert wurde, rächt sich Herkules (J Herakles) für diese Schmach, indem er Troja zerstört, König Laomedon tötet und seine Tochter Hesione entführt. Laomedons Sohn Priamus läßt Troja wiederaufbauen und entsendet Boten nach Griechenland, um Hesione zurückzuholen. Als dies mißlingt, bricht Priamus’ Sohn Alexander/Paris mit einem Heer zu den Griechen auf. Alexander entführt J Helena. Daraufhin ziehen die Griechen gegen Troja in den Krieg. Im Verlauf vieler Schlachten sind die Trojaner den Griechen zunächst häufiger überlegen. J Achilles tötet Priamus’ Söhne Hektor und Troilus, der nach Hektors Tod Trojas größter Kämpfer war. Achilles wird Polyxena, eine Tochter des Priamus, in die er sich verliebt hatte, versprochen, wodurch er in einen Tempel gelockt und dort heimtückisch ermordet werden kann. Ajax tötet Alexander und stirbt selbst an seinen Verletzungen. Nach schweren Verlusten auf trojan. Seite verraten Antenor und J Äneas Troja und lassen die Griechen nachts in die Stadt. Diese töten Priamus und seine Anhänger, plündern und zerstören Troja. Äneas muß seine Heimat verlassen.
Die Ephemeris belli Troiani des Diktys, der angeblich auf der Seite der Griechen gekämpft hatte, waren im 1. Jh. in griech. Sprache verfaßt und im 4. Jh. ins Lateinische übersetzt worden; sie liefen im Osten wie im Westen um6: Die Darstellung des Diktys beginnt mit einem Treffen griech. Fürsten auf Kreta. Es folgt die Entführung der Helena durch Paris. Die Griechen entsenden zunächst einen Unterhändler nach Troja, um eine friedliche Lösung herbeizuführen, werden aber von den barbarischen Trojanern in den Krieg getrieben. Die Kampfhandlungen sind wesentlich von der Figur des Achilles bestimmt. Er verliebt sich in Poly-
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xena und freit um sie. Ihre Zurückweisung begründet Achilles‘ unbarmherzigen Feldzug gegen die Trojaner: seinen Haß auf Hektor, dessen Ermordung, die Schändung seines Leichnams sowie die Hinrichtung der Knaben Troilus und Lykaon. Nach der hinterlistigen Ermordung Achilles’ führt der Verrat Trojas durch Antenor und Äneas zur Vernichtung der Stadt.
Dares hatte Homers Bericht als unzuverlässig bezeichnet. Daher sah man die beiden angeblichen Augenzeugen Dares und Diktys als die wichtigsten Autoritäten für den Trojan. Krieg an, und ihre Schilderungen verdrängten andere Berichte zunehmend7. Die früheste Erwähnung der Acta diurna findet sich in den J Etymologiae (1,42) des J Isidor von Sevilla. Das Chronicon Fredegarii (7. Jh.) enthält einige Passagen zum trojan. Ursprung der Franken8; eine Hss.gruppe, die wahrscheinlich einer Rezension des 8. Jh.s entstammt, bringt eine Zusammenfassung von Dares’ Werk. Im 12. Jh. wuchs das Interesse an Themen aus der trojan. Geschichte und damit auch an den Acta diurna. Es erschienen kurze, mehr oder weniger kunstvolle Prosa- und Verstexte9. Sie beeinflußten De Bello Trojano (1172⫺82) des Josephus Iscanus10 sowie den Troilus (1249) des Albert von Stade11. Es folgten Übers.en ins Französische, so für die erste Redaktion der Histoire ancienne jusqu’a` Ce´sar (ca 1290⫺ 1300)12. Die griech. Fassung der Schilderungen des Diktys wurde von Chronisten wie Johannes von Antiochien (ca 349⫺407), Johannes Malalas (ca 491⫺578), Georgios Kedrenos (11.⫺ 12. Jh.) und Konstantin Manasses (12. Jh.) sowie Lit.geschichtsschreibern wie Johannes Tzetzes (12. Jh.) benutzt. Die lat. Version war weniger populär und wurde auch nicht in die Volkssprachen übersetzt13. Der Roman de Troie (um 1170) des Benoıˆt de Sainte-More14, der einer der bekanntesten Versromane seiner Zeit war und in Prosabearbeitungen sowie Übers.en in mehrere Volkssprachen weitere Verbreitung fand15, geht von den Berichten des Dares und Diktys aus und erweitert sie; für Details zieht er u. a. Ovids Metamorphosen (12⫺14) heran, fügt aber auch neue Episoden hinzu, so die Erzählung der tragischen Liebe von Troilus und Briseida16. Am breitesten rezipiert wurde die Historia destructionis Troiae des Guido de Columnis (um 1287), der die 2. Prosafassung des Roman de
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Troie zu einem eigenständigen lat. Text mit moralisierenden Kommentaren umarbeitete und damit zu einem Standardwerk machte, das seinerseits u. a. ins Französische übersetzt wurde und das Interesse an dem Stoff weiter steigerte17. Die Troja-Lit. war europaweit verbreitet, wie die Tro´jummana saga (um 1200)18 und der Polemos te¯s Tro¯ados (14. Jh.)19 belegen20. Neben Benoıˆts Roman de Troie und Guidos Historia destructionis Troiae entstanden so bedeutende Werke wie John Lydgates Troy Book (1412⫺20)21, J Boccaccios Filostrato (1337⫺ 39), J Chaucers Troilus and Cryseide (1385⫺ 90)22 und J Shakespeares Troilus and Cressida (1602⫺03). Das Korpus ist jedoch erheblich umfangreicher, auch verarbeiteten zahlreiche Autoren einzelne Ereignisse oder Figuren weiter; daneben liegen Hss.illuminationen und Wandmalereien vor23. In Frankreich waren L’histoire de la destruction de Troye la grant (1450⫺52) von Jacques Milet24 und der Recueil des hystoires troyennes (1464) von Raoul Lefe`vre zentral25, dessen Übers. ins Englische (1468⫺71) durch William Caxton für die Tradierung des Stoffs in England bedeutend war. Für Italien zu erwähnen sind die Übers.en des Roman de Troie (Istorietta troiana; 13. Jh.)26 und die volkssprachlichen Übertragungen von Guidos Historia destructionis Troiae durch Filippo Ceffi (1324)27, Mazzeo Bellebuoni (1333) und einen neapolitan. Anonymus des 13. Jh.s28, für die Iber. Halbinsel die port. Cro´nica Troyana (1350)29, Leomartes Sumas de historia troyana (14. Jh.)30 sowie span. und katalan. Übers.en von Guidos Historia destructionis Troiae (14. Jh.)31. Im dt. Sprachgebiet findet sich der TrojaStoff in den Versepen Daz Liet von Troye des Herbort von Fritzlar (zwischen 1190 und 1217)32 und Der Trojanerkrieg des J Konrad von Würzburg (1281/87)33 sowie der anonymen Trojanerkriegs-Forts. (Ende 13. Jh.)34. Er inspirierte u. a. den Göttweiger Trojanerkrieg und den Basler Trojanerkrieg sowie die Chronikliteratur, bes. J Jansen Enikels Weltchronik35. Eine südslav. Fassung trägt den Titel Rumunac trojanski ([T.]. um 1300)36. Mitte des 14. Jh.s entstand die bulg. Trojanska pritcˇa (Troja-Geschichte), die im 15. Jh. nach Rußland gelangte. Ost- und südosteurop. Bearb.en gehen auf volkssprachliche Übers.en der
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Chroniken von Manasses und Malalas zurück, so die russ. Erzählung Pritcˇa o kralech (Geschichte von den Königen) und die rumän. Istoria Troiei (1620) des Mönchs Mihail Moxa37. Einzelne Ereignisse wurden in Chronographien aufgegriffen, aber auch selbständig tradiert38. In der 2. Hälfte des 15. Jh.s wurde Guidos lat. Historia destructionis Troiae ins Russische ⫺ und daraufhin in weitere osteurop. Sprachen ⫺ übersetzt und erlangte zunehmend Einfluß39. Das 16. Jh. brachte schließlich, trotz neuer Übers.en der Berichte von Dares und Dyktis, die Rückkehr zu Homer: Simon Schaidenreisser übersetzte die Odyssee (1537), Johann Baptista Rexius und Johannes Spreng übertrugen die Ilias (1584) ins Deutsche. Die Weiterschreibung des Troja-Stoffs wurde nach dem 16. Jh. zunehmend zurückgedrängt40, da man annahm, mit Homer einen exakten Beleg für die Ereignisse gefunden zu haben. Die ungeheure Popularität der T.e erklärt sich vor allem dadurch, daß man sich des Stoffs seit der Antike als Untermauerung des Gemeinschaftsbewußtseins, als Legitimation bestehender oder neuer Machtverhältnisse, als Beweis der Unvergänglichkeit des Reichs und als Abstammungsnachweis bedienen konnte41: In Griechenland wurde der Troja-Stoff als Gründungsmythos (J Gründungssage) rezipiert. In Rom verwendeten Dichter wie Naevius und Ennius, Historiker wie Fabius Pictor und Cato d. Ä., Staatsmänner wie Caesar und Polygraphen wie Varro den trojan. Ursprung der Stadt zur Erklärung ihrer zunehmenden Macht, während in Vergils Aeneis die Idee der Unvergänglichkeit des Reichs im Vordergrund steht42. Manasses verband die Geschichte Trojas mit derjenigen der Romaioi, um hervorzuheben, daß aus dem Krieg eine neue Ordnung hervorgegangen sei43. Konstantin Hermoniakos widmete den ital. Fürsten von Epiros eine Fassung der Troja-Geschichte, um ihre griech. Abstammung zu belegen44. J Geoffrey of Monmouth stellte sein Book of Troy in den Dienst der normann. Adligen und engl. Könige45. Die Übers.en von Guidos Historia destructionis Troiae sind dagegen dem Vergilschen imperialen Bestreben nicht verbunden46. N. Birns zufolge sollte der Troja-Mythos als wohl ebenfalls mystifizierenden hist. Verfahren anderer Zeiten vergleichbar betrachtet
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werden47. Dafür spricht etwa die Rezeption des Stoffs durch die neuen Nationen des ma. Europa (bes. die Franken48), welchen ihre trojan. Abstammung als kontinuitätsstiftendes Element innerhalb einer nicht lückenlos nachvollziehbaren Vergangenheit diente. Zugleich jedoch entfaltet der Stoff jenseits von Ideologisierung und Instrumentalisierung eine übernationale und überzeitliche Wirkung. 1 Severins, A.: Recherches sur la ,Chrestomathie‘ de Proclos. 4: La Vita Homeri et les sommaires du cycle. P. 1963. ⫺ 2 West, M. L.: Greek Epic Fragments. From the Seventh to the Fifth Centuries BC. Cambr., Mass. 2003; Burgess, J. S.: The Tradition of the Trojan War in Homer and the Epic Cycle. Baltimore 2001; Davies, M.: The Greek Epic Cycle. Bristol 1989; Diller, A.: Studies in Greek Ms. Tradition. Amst. 1983; Fantham, E.: Statius’ Achilles and His Trojan Model. In: The Classical Quart. N. S. 29 (1979) 457⫺462; Fassina, A.: Il ,Iudicium Paridis‘ di Mavortius. Una proposta di lettura. In: Lexis 23 (2005) 373⫺380; Homeyer, H.: Die spartan. Helena und der Trojan. Krieg. Wandlungen und Wanderungen eines Sagenkreises vom Altertum bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1977; Kullmann, W.: Die Qu.n der Ilias (Troischer Sagenkreis). Wiesbaden 1960. ⫺ 3 Zeitler, J. u. a.: Trojaroman. In: KNLL 19 (1992) 678⫺691. ⫺ 4 Meister, F.: De excidio Troiae historia (Acta diurna Daretis Phrygii). Lpz. 1873. ⫺ 5 Godi, M. (ed.): Una redazione poetica latina medievale della storia De excidio Troiae di Darete Frigio. Rom 1967. ⫺ 6 Eisenhut, W. (ed.): Ephemeridos belli Troiani. Lpz. 1958; Peristerakis, A.: Dı¯ktis ho krı¯s. Athen 1984; cf. Merkle, S.: Troiani belli verior textus. Die Trojaberichte des Diktys und Dares. In: Brunner, H. (ed.): Die dt. Trojalit. des MA.s und der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 1990, 491⫺522. ⫺ 7 Frazer, R. M.: The Chronicles of Dictys of Crete and Dares the Phrygian. Bloom. 1966; Griffin, N. E.: Dares and Dictys. An Introduction to the Study of Medieval Versions of the Story of Troy. Baltimore 1907; Schissel von Fleschenberg, O.: Dares-Studien. Halle 1908; Merkle, S.: Telling the True Story of the Trojan War. In: The Search for the Ancient Novel. ed. J. Tatum. Baltimore/L. 1994, 183⫺196. ⫺ 8 MGH Scriptorum rerum Merovingicarum. 2: Fredegarii et aliorum chronica. ed. B. Krusch. Hannover 1888, 1⫺214; Wallace-Hadrill, J. M. (ed.): The Fourth Book of the Chronicle of Fredegar. L. 1960. ⫺ 9 Stohlmann, J.: ,Deidamia Achilli‘. Eine Ovid-Imitation aus dem 11. Jh. In: Lit. und Sprache im europ. MA. Festschr. K. Langosch. Darmstadt 1973, 195⫺231; Hilbert, K. (ed.): Baldricus Burgulianus Carmina. Heidelberg 1979; Boutemy, A.: Trois Œuvres ine´dites de Godefroid de Reims. In: Revue du moyen aˆge latin 3 (1947) 335⫺ 366; id.: Le Poe`me ,Pergama flere uolo …‘ et ses imitateurs du XIIe sie`cle. In: Latomus 5 (1946) 233⫺
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Troja-Roman
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ed. M. dello Russo. Neapel 1868. ⫺ 28 De Blasi, N.: Il rifacimento napoletano trecentesco della Historia Destructionis Troiae. In: Medioevo romanzo 7,1 (1981) 48⫺99. ⫺ 29 Parker, K. M. (ed.): La versio´n de Alfonso XI del Roman de Troie. Normal, Ill. 1977. ⫺ 30 Rey, A. (ed.): Sumas de historia troyana. Madrid 1932. ⫺ 31 Conesa, J.: Les Histories troyanes de Guiu de Columpnes. ed. R. Miquel y Planas. Barcelona 1916; La Coro´nica troyana. ed. F. P. Norris. Chapel Hill 1970; Rey, A./Solalinde, A. G.: Ensayo de una bibliogr. de las leyendas troyanas en la literatura espan˜ola. Bloom. 1942. ⫺ 32 Masse, M.-S.: De la translation a` la re´e´criture. Le ,Liet von Troye‘ de Herbort von Fritzlar. In: Harf-Lancner u. a. (wie not. 16) 159⫺176. ⫺ 33 Lienert, E.: Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg ,Trojanerkrieg‘. Wiesbaden 1996. ⫺ 34 ibid. ⫺ 35 Knapp, G. P.: Hector und Achill. Die Rezeption des Trojastoffes im dt. MA. Bern 1974; Brunner (wie not. 6). ⫺ 36 Hadronovics, L.: Der südslaw. Trojaroman und seine ung. Vorlage. In: Studia Slavica Academiae Scientiarum Hungaricae 1 (1955) 49⫺135. ⫺ 37 Gaster, M.: Die rumän. Version der trojan. Sage. In: Byzant. Zs. 3 (1894) 528⫺552; Cartojan, N.: Legendele Troadei ˆın literatura veche romaˆneasca˘. Buk. 1925; Schroeder, K.-H.: Die Geschichte vom trojan. Krieg in der älteren rumän. Lit. Mü. 1976; Velculescu, C.: Ca˘rt¸i populare ˆın secolul al XVII-lea. In: Revista de istorie s¸i teorie literara˘ 29 (1980) 9⫺ 21; cf. Moraru, M./Velculescu, C.: Bibliogr. analitica˘ a ca˘rt¸ilor populare laice 2. Buk. 1978, 374⫺406. ⫺ 38 Cartojan (wie not. 37). ⫺ 39 Constantinescu, R./ Schroeder, K.-H.: Die rumän. Version der ,Historia Destructionis Troiae‘ des Guido delle Colonne. Tübingen 1977; cf. auch Urba´nkova´, E.: Kronika troja´nska´. Guidonis de Columna Historiae destructionis Troiae versio Bohemica. Prag 1968; Man´kowski, J.: Historia trojan´ska w literaturze i kulturze Polskiej wieku XVI. In: Meander 17 (1962) 137⫺147, 252⫺268, 351⫺377. ⫺ 40 Gotzkowsky, B.: ,Volksbücher‘. Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher 1. Baden-Baden 1991, 237⫺247. ⫺ 41 Scherer, M. R.: The Legends of Troy in Art and Lit. N. Y./L. 1963; Wolf, K.: Troja ⫺ Metamorphosen eines Mythos. Frz., engl. und ital. Überlieferungen des 12. Jh.s im Vergleich. B. 2009, 34⫺39. ⫺ 42 Tanner, M.: The Last Descendant of Aeneas. New Haven/L. 1993. ⫺ 43 Papathomopulos/Jeffreys (wie not. 13) 1. ⫺ 44 Legrand, E. (ed.): La Guerre de Troie par Constantinos Hermoniacos. P. 1890; Jeffreys, E. M.: Constantine Hermoniakos and Byzantine Education. In: Dodone 4 (1975) 81⫺109. ⫺ 45 Ingledew, F.: The Book of Troy and the Genealogical Construction of History. The Case of Geoffrey of Monmouth’s Historia regum Britanniae. In: Speculum 69 (1994) 665⫺704. ⫺ 46 Simpson, J.: The Other Book of Troy. Guido delle Colonne’s Historia Destructionis Troiae in Fourteenth- and FifteenthCentury England. In: Speculum 73 (1998) 397⫺
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Troll
423. ⫺ 47 Birns, N.: The Trojan Myth. Postmodern Reverberations. In: Exemplaria 5 (1993) 45⫺78; cf. Fochler, P.: Fiktion als Historie. Der Trojan. Krieg in der dt. Lit. des 16. Jh.s. Wiesbaden 1990. ⫺ 48 Klippel, M.: Die Darstellung der fränk. Trojanersage in Geschichtsschreibung und Dichtung vom MA. bis zur Renaissance in Frankreich. (Diss. Marburg 1935) Bielefeld 1936; Huppert, G.: The Trojan Franks and Their Critics. In: Studies in the Renaissance 12 (1965) 227⫺241; Linder, A.: Ex mala parentela bona sequi seu oriri non potest. The Trojan Ancestry of the Kings of France and the ,Opus Davidicum‘ of Johannes Angelus de Legonissa. In: Bibl. d’Humanisme et Renaissance 40 (1978) 497⫺512; Beaune, C.: The Birth of an Ideology. Myths and Symbols of Nation in Late-Medieval France. ed. F. L. Cheyette. Berk. 1991; Brückte, W.: Noblesse oblige. Trojasage und legitime Herrschaft in der frz. Staatstheorie des MA.s. In: Heck, K. u. a. (edd.): Genealogie als Denkform in MA. und Früher Neuzeit. Tübingen 2000, 39⫺65.
Paris
Ovidiu Olar
Troll, als J Riese oder J Dämon aufgefaßtes Jenseitswesen der skand. Überlieferung mit übernatürlichen oder zumindest außergewöhnlichen Eigenschaften. Seit der Standardisierung der Volksüberlieferung durch die Slgen des 19. Jh.s können T.e grob in zwei Gruppen unterteilt werden: die nördl. (isl., färö., norw.) und die südl. (schwed., dän.) T.e1. Norw. T.e sind Einzelgänger, sehr groß, dumm, z. T. Menschenfresser (J Kannibalismus) und immer gefährlich; sie leben in J Höhlen von J Bergen, in denen sie manchmal gewaltige J Schätze anhäufen2. Verwandte der T.e in der nord. Mythologie (cf. J Edda) sind die riesigen Joten, die von den Asen vertrieben wurden und daraufhin deren ständige Feinde geworden sind. Die T.e tragen dieselben körperlichen Häßlichkeitsmerkmale und erscheinen in denselben internat. Erzähltypen wie Riesen, J Oger und andere große, gefährliche, aber geistig beschränkte J Gegenspieler (AaTh/ATU 1000⫺1199: Tales of the Stupid Ogre [Giant, Devil]). Die einsam im J Wald lebenden T.e weisen Gemeinsamkeiten mit den europ. Wilden Männern (J Wildmenschen) auf 3, und die Tatsache, daß sie außerhalb der Gesellschaft stehen, erhielt einen christl. Anstrich, indem die Bedrohung durch den Wilden Mann/T. mit Erzählungen über den J Teufel und die Gefahren eines Lebens außerhalb der
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christl. Gemeinschaft in Zusammenhang gebracht wurde. Die südlicheren T.e dagegen sind kleiner und leben in Gruppen, die Ähnlichkeiten zur menschlichen Gesellschaft aufweisen. Im Erzählgut sind die T.gestalten allg. mit traditionellen Sagen über menschliche Beziehungen zu den Parallelwelten der Jenseitswesen verbunden4, z. B. der norw. huldrer (J Elf, Elfen), der J Fairies etc. T.innen oder T.frauen begegnen eher selten, z. B. als Mutter des J Starken Hans (AaTh/ATU 650 A)5. R. T. J Christiansen unterscheidet T.sagen von T.märchen aufgrund von Glaubenshaltungen. T.e und huldrer seien kein Bestandteil des Volksglaubens mehr, daher gebe es sie nur noch in einigen Sagen. Die T.e erschienen nach Christiansen nur noch in den zahlreichen Erzählungen über Felsbildungen, die angeblich die Überreste von Bergtrollen seien, welche durch Tageslicht versteinert wurden (J Versteinerung), oder in ätiologischen Erzählungen über riesige Felsblöcke, die als Wurfgeschosse gereizter T.e erklärt werden, welche den Klang der Kirchenglocken nicht ertragen konnten6. Weitere Versuche der gattungsmäßigen Zuordnung von T.erzählungen versagen: Dieselben Erzählungen werden als Märchen wie als Sagen ausgewiesen (z. B. Erzählungen über den beim Kirchenbau eingespannten und überlisteten T. als J Baumeister7). So kehrt der aus den Alvı´ssma´l (Lieder-Edda, vermutlich 12. Jh.) bezeugte Zug, daß Zwerge die aufgehende Sonne nicht ertragen und durch ihren Anblick petrifiziert werden, in skand. Fassungen des 19./ 20. Jh.s zu AaTh/ATU 545 A: J Katzenschloß und AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater wieder, in denen ein Tierhelfer oder eine Tierhelferin einen T. mit Fragen so lange hinhält, bis die Sonne aufgeht und er zerplatzt8. In anderen skand. Märchen übernehmen T.e die Rolle der jenseitigen Gegenspieler, etwa in AaTh/ATU 302: J Herz des Unholds im Ei9, AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder10, AaTh/ATU 306: Die zertanzten J Schuhe11, AaTh/ATU 311: cf. J Mädchenmörder12, AaTh/ATU 328*: Three Giants with One Eye13, AaTh/ATU 611: J Geschenke der Zwerge14, AaTh/ATU 667: J Pflegesohn des Waldgeistes15 oder AaTh/ATU 1161: cf. J Bärenführer16. In T.balladen entführen T.e Prinzessinnen nach T.ebotn17.
Versuche, norw. T.e ins Reich der Märchen zu verweisen, haben in vielfacher Hinsicht mit den hist. Bedingungen der Aufzeichnung und Standardisierung norw. Volksüberlieferungen durch P. C. J Asbjørnsen und J. J Moe und
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Troll
dem zugrundeliegenden nationalistischen Impetus (J Nation) zu tun. Ihre 1841⫺44 erstmals erschienenen, von den J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm inspirierten Norske folkeeventyr, die später oftmals mit den eindrucksvollen T.-Illustrationen von Theodor Kittelsen (1857⫺1914) erschienen, prägten nicht nur die kanonischen norw. T.märchen, sondern auch das Bild des norw. T. s. Dieses deckt sich mit Auffassungen des erwachenden norw. Nationalismus: Einerseits bezeichnet der T. die bes. Verbundenheit der Norweger mit Natur und Bergwelt sowie den norw. Individualismus; andererseits standen Geschichten, in denen es der unscheinbare Held (der norw. J Askelad) mit dem T. aufnimmt, für den (letztlich erfolgreichen) Kampf des (kleinen) norw. Volks gegen die Nachbarstaaten18. Zu den am häufigsten veröff. Erzählungen gehören daher Var.n von AaTh/ATU 1060, 1063 und 1088: cf. J Wettstreit mit dem Unhold. Obwohl es sich nicht um spezifisch norw., sondern internat. weitverbreitete Erzählungen handelt, fungierte dieses beschränkte Korpus, das häufig nachgedruckt wurde und Generationen von Schulkindern als Lektüre diente, in wirkungsvoller Weise als nationale Überlieferung, die frühere, nicht den Geboten des romantischen Nationalismus entsprechende Erzählungen verdrängte. Künstlerische Bearb.en von T.geschichten, die Teil der norw. Nationalkultur wurden, sind Henrik Ibsens dramatisches Gedicht Peer Gynt (1867) und das Musikstück In der Halle des Bergkönigs aus Edvard Griegs erster Peer Gynt-Suite (1876), die beide den romantisch-nationalistischen Zeitgeist ansprachen. Die Erzählsammlungen des 19. Jh.s wirkten im 20. Jh. weiter. In den ethnisch-politischen Auseinandersetzungen der Samen mit dem norw. Staat wurde der sam. Stal(l)o19, dessen Eigenschaften und Fähigkeiten sich teilweise mit dem T. decken, zum Symbol der unmenschlichen Gewalt des Staates, der vom kleinen, aber gewitzten jungen Samen ausgetrickst wird20. Die norw. Tourismusindustrie ihrerseits setzt die Gestalt des nunmehr entmachteten und komischen T.s mit Aspekten norw. Identität gleich. T.standbilder finden sich in den meisten Touristenorten; Andenkengeschäfte verkaufen T.postkarten, T.figuren (als Maskottchen, Puppen, Schmuck; dän. T.pup-
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pen aus Latex waren in den 1960er Jahren auch in den USA ein Verkaufsschlager) und Bilderbücher mit ausgelassenen T.familien (auch in Schweden). In der zeitgenössischen Fantasy-Lit. spielen T.e eine gewisse Rolle, vor allem in John R. R. J Tolkiens Lord of the Rings. Tolkiens T.e entsprechen größtenteils dem Typus des großen, ungeschliffenen, dummen T.s, der vom Licht der Sonne versteinert wird; nur die sog. Waldtrolle vertragen es. Joanne K. Rowlings T. in Harry Potter and the Sorcerer’s Stone (1998) ist Tolkiens T.en nachempfunden. Tolkiens Battle for Middle-Earth wurde zu einem Computerspiel (2004) gestaltet, dessen T.e aufgrund der kriegerischen Thematik aggressiven Charakter tragen. In Ursula K. LeGuins Adaptation einer klassischen J Wechselbalggeschichte holt ein Mädchen seinen entführten kleinen Bruder von Bergtrollen zurück21; eine norw. Fassung von AaTh/ATU 122 E: Wait for the Fat Goat bearbeitete Neil Gaiman22. Die finnlandschwed. Autorin Tove Jansson dagegen griff für ihre Mumintroll-Bücher (1945 sqq.) lediglich auf den Namen T. zurück. 1 Hartmann, E.: Die T.vorstellungen in Sagen und Märchen der skand. Völker. Stg./B. 1936; Swahn, J.-Ö./Lundwall, B.: T.n, deras liv, land och legender. Stockholm 1984; Amilien, V.: Le T. et autres cre´atures surnaturelles dans les contes popularies norve´giens. Diss. P. 1996; Asplund-Ingemark, C.: The ˚ bo 2004 (cf. Rez. J. Conrad in FaGenre of T. s. A bula 47 [2006] 133⫺136). ⫺ 2 cf. Christiansen, Migratory Legends, num. 8010, 8011; Kvideland, R.: Auch T.e sind Geschöpfe Gottes. In: Märchenspiegel 5,2 (1994) 11 sq. ⫺ 3 Bernheimer, R.: Wild Men in the Middle Ages. Cambr. 1952; Röhrich, L.: Europ. Wildgeistersagen. In: Rhein. Jb. für Vk. 10 (1959) 70⫺162. ⫺ 4 Christiansen, Migratory Legends, num. 5000⫺5020; Boucher, A.: Elves, T.s and Elemental Beings. Reykjavı´k 1977; Magin, U.: T.e, Yetis, Tatzelwürmer. Rätselhafte Erscheinungen in Mitteleuropa. Mü. 1993. ⫺ 5 z. B. Stroebe, K./Christiansen, R. T.: Norw. Volksmärchen. MdW 1967. num. 38. ⫺ 6 Christiansen, R. T.: Folktales of Norway. Chic./L. 1964, xxxiii sq. ⫺ 7 Fossenius, M.: Sägnerna om trollen Finn och Skalle som byggmästare. In: Folkkultur 3 (1943) 5⫺144; Puhvel, M.: The Legend of the Church-Building T. in Northern Europe. In: FL 72 (1961) 567⫺583. ⫺ 8 cf. EM 7, 1128 sq. ⫺ 9 Stroebe/ Christiansen (wie not. 5) num. 23. ⫺ 10 z. B. Hodne; Kohl-Larsen, L.: Das Haus der T. e. Märchen aus Lappland. Kassel 1982, num. 1. ⫺ 11 Holbek, B.: Dän. Volksmärchen. B. 1990, num. 33. ⫺ 12 Christiansen, R. T.: The Sisters and the T. In:
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Troll und Taufe
Studies in Folklore. Festschr. S. Thompson. Bloom. 1957, 24⫺39. ⫺ 13 Kvideland, R.: Glunten og Ridder Rev. Oslo 1977, num. 58. ⫺ 14 z. B. Hodne. ⫺ 15 EM 10, 947. ⫺ 16 Christiansen, R. T.: The Dead and the Living. Oslo 1946, 70⫺94. ⫺ 17 Liestøl, K.: Norske trollvisor og norrøne sogor. Oslo 1915. ⫺ 18 Hodne, Ø.: Jørgen Moe og folkeeventyrene. En studie i nasjonalromantisk folkloristikk. Bergen u. a. 1979; cf. auch Conrad, J.: Contested Terrain. Land, Language, and Lore in Contemporary Sami Politics. Diss. Berk. 1999; ead.: Tracking the Ogre. The Politics of Shape Shifting. In: Ural-altai. Jbb. 16 (2000) 56⫺75. ⫺ 19 cf. Qvigstad, 57⫺60; Bartens, H.-H.: Märchen aus Lappland. MdW 2003, num. 60, 61. ⫺ 20 Conrad (wie not. 18). ⫺ 21 LeGuin, U. K.: A Ride on the Red Mare’s Back. N. Y. 1992. ⫺ 22 Gaiman, N.: T. Bridge. In: id.: Smoke and Mirrors. N. Y./L. 2001, 57⫺68.
Berkeley
JoAnn Conrad
Troll und Taufe (AaTh/ATU 1165), unter den Erzählungen vom dummen J Unhold aufgeführter Schwank. Er ist skand. Ursprungs und hat eine Affinität zur Sage1. Die Überlieferung ist zu einem gewissen Grad durch weite Verbreitung in Druckform beeinflußt. Ein Bauer pflegt freundschaftlichen Umgang mit einem T., möchte ihn aber nicht zur J Taufe seines Kindes einladen (ihn als J Paten bitten), denn er kennt den Appetit des T. s. Um ihn nicht zu kränken, lädt er ihn ein, behauptet aber, daß sich unter den Gästen auch die Jungfrau Maria, der Donnergott J Thor etc. befinden werden. Der T. will lieber wegbleiben, aber das schönste Geschenk machen2.
Das übernatürliche Wesen, um dessen Einladung zur Taufe es geht, kann ein T.3, J Riese4, der J Teufel5 oder eine lokale dämonische Gestalt mit dem Namen ,Der alte Mann von Hoberg‘6 (Hoburg7, Højbjerg8, Häyberg bzw. Heiberg9, Hobjerg10, Hooperi bzw. Hooperikki11) sein. In den skand. Sprachen bedeutet Højbjerg etc. ,hoher Berg‘; es handelt sich um einen in Norwegen und Dänemark geläufigen Ortsnamen; die finn. Formen stellen keine Übers.en dar, sondern sind nach schwed. Wörtern konstruiert. Eine lokale gotländ. Sagentradition ist mit einem Felsgebilde (Hoburgsgubben) verbunden, das ,der alte Mann von Hoburg‘ genannt wird. Eine norw. Erzählung aus Agder erklärt, daß der T. das Neugeborene töten und den Besitz des Bauern zerstören werde, falls man ihn nicht einlädt12.
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AaTh zufolge bildet Skandinavien mit 160 schwed., 55 dän. und 17 norw. Belegen den Kern des Überlieferungsgebiets; 18 Var.n sind aus Litauen nachgewiesen. ATU führt darüber hinaus färö., finn., lett. und österr. Var.n an. W. J Liungmans Auffassung13, der Erzähltyp sei in Dänemark, Schweden und Norwegen beheimatet und stamme vielleicht schon aus dem MA., wurde von B. J Holbek14 präzisiert: Die Erzählung müsse aus Schweden kommen, da dort die meisten ihrer Motive heimisch seien; sie müsse aber noch nicht im MA. vorhanden gewesen sein. 1763 erschien die Geschichte in einem schwed. Volksbuch, das in etwa 60 Ausg.n nachgedruckt wurde. Übers.en erfolgten im gleichen Jahr ins Finnische15 und ins Dänische. Von den vier dän. Übers.en kam die letzte 1805 heraus16. Eine Bearb. für die Bühne wurde 1836 in Stockholm aufgeführt17. Der Erzählung liegt die Vorstellung zugrunde, daß Neugeborene durch das Böse und übernatürliche Kräfte bes. verwundbar sind, solange sie nicht den Schutz der Taufe erhalten haben18. Der Pate verpflichtete sich Gott gegenüber, über die christl. Erziehung des Patenkinds zu wachen, und versprach gleichzeitig den Eltern, im Falle ihres Todes für das Kind zu sorgen. Insofern ist die Bitte an ein potentiell bedrohliches übernatürliches Wesen, bei einer Taufe Pate zu stehen, aus mehreren Gründen paradox. In AaTh/ATU 1165 stehen religiöse und gesellschaftliche Aspekte einander gleichwertig gegenüber. Der Jenseitige, dem an guter Nachbarschaft und der Ehre, Pate bei der Familie eines geachteten Bauern zu werden, gelegen ist, kann nur durch eine Anzahl christl. bzw. vom Christentum adaptierter Gestalten, die dem Jenseitigen ein Greuel sind, vertrieben werden. Lett. und litau. Var.n betonen stärker die Auseinandersetzung zwischen dem übernatürlichen Wesen und dem Menschen: Der Teufel verspricht einem jungen Mann, ihm die Frau zu verschaffen, auf die er ein Auge geworfen hat. Aber er fordert dafür die erste Nacht mit der Braut (J Ius primae noctis). Als der Teufel zur Hochzeit der beiden kommt, erfährt er, daß Donner und Blitz auch eingeladen sind, und rennt fort19. 1 cf. Balys, J.: Griaustinis ir velnias Baltoskandijos krasˇtu˛ tautosakoje (Donner und Teufel in der Folklore der balt. und skand. Länder). Kaunas 1939,
Trubert ⫺ Trunkenheit
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137⫺161; Roberts, W. E.: Norwegian Folktale Studies. Oslo 1964, 65⫺68; Holbek, B.: On the Borderline between Legend and Tale. In: Arv (1991) 179⫺ 191. ⫺ 2 Hodne; Jauhiainen, num. N 1021; Liungman, Volksmärchen; Nyman; Rausmaa, SK 3, num. 69; Säve, P. A.: Gotländska sägner 1,1. ed. H. Gustav˚ . Nyman. Uppsala 1958, 50⫺56. ⫺ 3 Hodne. ⫺ son/A 4 Säve (wie not. 2); Jauhiainen, num. N 1021; Hodne. ⫺ 5 Ara¯js/Medne; Jauhiainen, num. N 1021; Rausmaa, SK 3, num. 69; Kerbelyte˙. ⫺ 6 Jauhiainen, num. N 1021; Säve (wie not. 2); Liungman, Volksmärchen; Holbek (wie not. 1); Hodne. ⫺ 7 Holbek (wie not. 1); Palmenfelt, U.: Gotländska folksägner. Hamra 1979, 101⫺104. ⫺ 8 Holbek (wie not. 1). ⫺ 9 Hodne. ⫺ 10 Liungman, Volksmärchen. ⫺ 11 Jauhiainen, num. N 1021. ⫺ 12 Bø, O.: Dyret i Hagjen. Eventyr fra˚ Agder. Oslo 1978, 116. ⫺ 13 Liungman, Volksmärchen. ⫺ 14 Holbek (wie not. 1) 181. ⫺ 15 Rausmaa, SK 3. ⫺ 16 cf. Holbek (wie not. 1) 180⫺182. ⫺ 17 ibid., 181; Palmenfelt (wie not. 7). ⫺ 18 Da˚p. In: Kulturhistoriskt lex. för nordisk medeltid 3. Malmö 1958, 413⫺418. ⫺ 19 Ara¯js/ Medne; Kerbelyte˙; cf. Balys (wie not. 1).
Visby
Ulf Palmenfelt
Trubert J Douin de Lavesne
Trunkenheit. Mit T. oder Rausch wird im allg. Sprachverständnis die körperliche und geistige Folge von übermäßigem Genuß bewußtseinsverändernder Substanzen bezeichnet. Meist ist damit das Trinken von Alkohol in Form von J Wein, J Bier oder Schnaps gemeint, im weiteren Sinn auch die Einnahme von Rausch- oder Nervengiften (J Narkotika), die dem Körper durch Verzehr, Inhalieren (J Tabak), Schnupfen oder Injektion zugeführt werden1. Der gemäßigte Konsum von Alkohol hat in der Regel anregenden Einfluß und ist gesellschaftlich und kulturell toleriert sowie durch Trink- und Tischsitten bzw. Verhaltensmaßregeln reguliert. Allerdings sind die Grenzen zwischen toleriertem und sanktioniertem Alkoholkonsum fließend. Übermäßiger Alkoholgenuß wird in Anbetracht seiner Folgen als J Normverstoß bzw. Laster (J Tugenden und Laster) gewertet. Die unmittelbare Folge besteht für den Betrunkenen vor allem in Kontrollverlust, der von einem verstärkten Redebedürfnis und Distanzlosigkeit über Orientierungslosigkeit und Übelkeit bis hin zu komatösen Zuständen reichen
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kann (cf. auch Mot. A 2851: The Four Characteristics of Wine). Dieser Kontrollverlust wird je nach Ausprägung oder Kontext situativ mit Tadel oder Spott wie auch strukturell mit Ausgrenzung, Autoritätsverlust oder Bestrafung bedacht. Positive Bewertungen von (auch übermäßigem) Trinken betonen demgegenüber etwa die darin zum Ausdruck kommende Lebensfreude2. Die volkskundliche Forschung zu alkoholischen Getränken hat sich bes. mit ihrem Genuß im Rahmen der jeweiligen sozialen und kulturellen Zusammenhänge beschäftigt3. Sozialgeschichtlich orientierte Arbeiten befassen sich vorrangig mit den negativen Folgen der Trunksucht in den sog. unteren Schichten vor allem im ZA. der Industrialisierung4. In Deutschland gilt die Trunksucht ⫺ mit einem letztlich auf J Tacitus zurückzuführenden Stereotyp ⫺ seit dem 16. Jh. als Nationallaster5. Dementsprechend engagierten sich Geistliche und politische Obrigkeiten gegen übermäßigen Alkoholkonsum. Meist unter Anführung abschreckender Beispiele versuchten sie in Predigten6 und Erlassen, auch mit Trinkverboten7, die Auswirkungen von T. für Gesundheit, Familie und Gesellschaft einzudämmen. Hierzu dienten auch bildliche Darstellungen in Kalendern, Flugschriften und Einblattdrucken, wie etwa zum Branntwein- oder Saufteufel (J Teufelliteratur)8. Als weitverbreitetes Phänomen ist T. in hist. wie zeitgenössischen erzählenden Texten häufig behandelt9. Erzählungen unterschiedlicher Gattungen thematisieren etwa realistisch anmutende Ereignisse wie unter Einfluß von Alkohol geschehende Unfälle und törichtes oder übermütiges Verhalten der Handlungsträger: Eine Amme verwechselt ein Fenster mit der Wiege, in die sie das Kind legen will10, Betrunkene ertrinken in Weihern11, brechen sich in Gruben den Hals12, fallen vom Pferd13 oder ins Feuer14 oder verursachen Unfälle mit ihrem Wagen15. Sie verspotten die Toten16, rufen den J Teufel an17, spielen anderen Menschen Streiche18, bringen sich durch Prahlerei in schwierige Situationen19 oder sprechen aus Übermut umhergehende Geister an20. In KHM 185: Der arme Junge im Grab, im wesentlichen eine Var. von AaTh/ATU 1313: cf. J Mann glaubt sich tot, stirbt der Junge, der sich vergiften wollte, nach übermäßigem Alkoholgenuß durch
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Unterkühlung. In einer Var. von AaTh/ATU 502: Der wilde J Mann aus dem Münsterland heißt es explizit, daß der Jäger ,dat Dier‘ mit einer ,Pulle met Fusel‘ betrunken macht und den wilden Mann dann fesselt21. In AaTh 513 C/ATU 513: J Sohn des Jägers macht der Protagonist eine Herde Elefanten trunken, um sie ihrer Stoßzähne zu berauben. Zahlreiche Erzählungen behandeln die Pflichtvergessenheit Betrunkener oder Trunksüchtiger: Ein Jäger geht ins J Wirtshaus statt auf die Jagd und wird deswegen entlassen22; ein Betrunkener versäumt, seine Brüder angemessen zu bewirten23. Stereotyp der Trunkenheit ergeben ist der (oft abgedankte oder kriegsversehrte) J Soldat. Eher zurückhaltend wird mit der in traditionellen Texten oft anzutreffenden Misogynie die Mißhandlung Dritter, häufig der Ehefrau, durch Betrunkene thematisiert24. Gelegentlich wird in populären Erzählungen T. nur vorgetäuscht. Auf diese Weise erringt ein Bauer ein glückbringendes Kleidungsstück von einem Zwerg25; ein Prinz und eine Prinzessin können als einzige nach einem Saufgelage den Räubern entkommen26; Geheimnisse werden erlauscht und gelüftet, weil dem scheinbar Betrunkenen keine Beachtung geschenkt wird27. Auch in Var.n von AaTh/ ATU 1525: J Meisterdieb ist dieses Motiv von Bedeutung28. Vor allem die humoristischen Gattungen bieten zahlreiche Erzählbeispiele zur T. (Mot. X 800⫺X 899): Texte brit. Erzähllieder haben häufig Eheprobleme, Beischlafdiebstahl oder durch Alkoholkonsum bedingte Situationskomik zum Thema29. Im Witz werden allg. die selbstverschuldete Hilflosigkeit des Trinkers und die lächerlichen Situationen, in die er gerät, zum Gegenstand von Schadenfreude, Spott und Verachtung. L. J Röhrich stellt Witze über T. auf die gleiche Ebene wie Lachen über körperliche und geistige Behinderungen30. Auch in Kulturen, in denen der Alkoholkonsum aufgrund religiöser Vorschriften verboten ist, finden sich Trinkerwitze, so u. a. in der ma. arab. Lit.: Ein Trinker hat noch nie einen Betrunkenen gesehen; beim Trinkgelage war er immer als erster betrunken31. Auf den Hinweis, ein Bote habe ihn gestern abend nicht angetroffen, erwidert der Säufer, zu dieser Tageszeit finde er sich normalerweise selbst nicht32.
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Vor allem Berufs- und Bevölkerungsgruppen, die als Hüter von Moral und Anstand gelten, werden in Erzählungen über (angebliche) T. verspottet ⫺ etwa Pfarrer, Lehrer und sonstige (auch politische) Amtsträger. Hinter dieser Art von Belustigung steckt auch ein Infragestellen und verstecktes Opponieren gegen Autoritäten. Ebenso werden die strengen Ansprüche an die Gläubigen und die Drohungen mit Hölle und Teufel unter Berufung auf das wenig vorbildhafte Verhalten einiger Geistlicher relativiert33. Oft aber gilt T. auch als Rechtfertigung für scheinbar unpassendes Benehmen oder Reden: Dem unverständlich Handelnden wird T. unterstellt34. Sehr häufig sind kurze schwankhafte Erzählungen, die in ebenso spöttischem wie tadelndem Ton die Erlebnisse Betrunkener auf ihrem nächtlichen Nachhauseweg beschreiben. Die Handlungsträger begegnen dem Teufel35 oder anderen dämonischen Wesen36, die sie herausfordern oder bedrohen. Derartige Erscheinungen können einerseits auf die verwirrten Sinne der Betrunkenen zurückgeführt werden, andererseits sind sie im christl. Kontext auch als Strafe für T. und die oft damit verbundene Unflätigkeit zu sehen. In einigen Fällen gelingt es den Betrunkenen, die Wesen zu vertreiben, etwa durch Beten37 oder das Aufsagen eines Evangeliums38. Häufiger allerdings erwachen sie am nächsten Morgen vor ihrer eigenen Haustür39 oder an einem anderen Ort40, ohne zu wissen, wie sie dorthin gelangt sind. Gelegentlich ist das Erlebnis des Betrunkenen so drastisch, daß er fortan dem Alkohol abschwört (AaTh 835*/ATU 1706 D, AaTh 835 A*/ATU 1706 E: J Säufer kuriert)41. Eine große Gruppe von Erzählungen vorwiegend aus dem dt. Sprachraum handelt davon, daß ein Widersacher betrunken gemacht wird: Feinde werden so überwältigt42, Diebe nutzen die Wirkung von Alkohol, um die Bewacher ihrer Beute auszuschalten43; ein berauschter Pope wird wie ein Räuber gekleidet und so verspottet44. Auch wird die durch Alkohol bewirkte Geschwätzigkeit ausgenutzt: In Var.n von AaTh/ATU 590: Die treulose J Mutter entlockt die Mutter ihrem Sohn das Geheimnis seiner übermenschlichen Stärke45; ein Pastor überführt eine Frau der Hexerei46; eine Prinzessin verrät die wahre Gestalt ihres Mannes (cf. AaTh/ATU 425 sqq.: J Amor und
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Psyche)47. Daneben existieren zahlreiche Erzählungen, in denen der alkoholisierte Handlungsträger um seinen Besitz betrogen wird48. Auch in Sprichwörtern wird T. oft behandelt. Die Bandbreite reicht von der generell negativen Besetzung der T. als ,Mutter aller Laster‘ bis zum sprichwörtlich ,närrischen‘ bzw. ,kindlichen‘ Verhalten des Betrunkenen49. 1
Allg. cf. Heggen, A.: Alkohol und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jh. Eine Studie zur dt. Sozialgeschichte. B. 1988; Eisenbach-Stangel, I.: Eine Gesellschaftsgeschichte des Alkohols. Produktion, Konsum und Kontrolle alkoholischer Rauschmittel und Genußgifte in Österreich 1918⫺1984. Ffm./N. Y. 1991; Völger, G./Welck, K. von: Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich 1⫺3. Reinbek 1982; Wilson, T. M. (ed.): Drinking Cultures. Alcohol and Identity. Ox./N. Y. 2005. ⫺ 2 Ritte, H.: Das Trinklied in Deutschland und Schweden. Vergleichende Typologie der Motive bis 1800. Mü. 1973; Bauer, M.: Der dt. Durst. Methyologische Skizzen aus der dt. Kulturgeschichte. Lpz. 1903; Rohner-Baumberger, U.: Trinksitten gestern und heute. In: SAVk. 73 (1977) 195⫺204; Pfautz, H. W.: The Image of Alcohol in Popular Fiction. 1900⫺1904 and 1946⫺1950. In: Quart. J. of Studies on Alcohol 23 (1962) 131⫺146; Blehr, O.: Social Drinking in the Faroe Islands. The Ritual Aspect of Token Presentations. In: Ethnos 39 (1974) 53⫺62. ⫺ 3 Bimmer, A. C.: Das Volkskundliche am Alkohol. In: HessBllfVk. 20 (1986) 10⫺36 (Sonderheft „Alkohol im Volksleben“); Spode, H.: Die Macht der T. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland. Opladen 1993; Dröge, F./ Krämer-Badoni, T.: Die Kneipe. Zur Soziologie einer Kulturform oder „Zwei Halbe auf mich“. Ffm. 1987. ⫺ 4 z. B. Hirschfelder, G.: Alkoholkonsum am Beginn des IndustrieZA.s (1700⫺1850). Köln u. a. 2004. ⫺ 5 Stanzel, F. K.: „Deutschland. Aber wo liegt es?“ In: id. (ed.): Europ. Völkerspiegel. Imagologisch-ethnogr. Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jh.s. Heidelberg 1999, 195⫺209, hier 203⫺ 207. ⫺ 6 Intorp, L.: Westfäl. Barockpredigten in volkskundlicher Sicht. Münster 1964, 96. ⫺ 7 Stolleis, M.: „Von dem grewlichen Laster der Trunckenheit“. Trinkverbote im 16. und 17. Jh. In: Völger/von Welck (wie not. 1) t. 1, 179⫺191. ⫺ 8 Moser-Rath, Schwank, 164; Dt. ill. Flugbll. des 16. und 17. Jh.s. ed. W. Harms u. a. Tübingen 1989, 527; Weber-Kellermann, I.: Der Branntweinteufel. Ein Bilderbogen aus Neuruppin. In: HessBllfVk. 20 (1986) 81 sq.; Brunold-Bigler, U.: Die religiösen Volkskalender der Schweiz im 19. Jh. Basel 1982, 143⫺147; Spamer, A.: „Kredit ist tot.“ Zur Geschichte eines volkstümlichen Scherzbildes. In: Volkskundliche Gaben. Festschr. J. Meier. B./Lpz. 1934, 223⫺243. ⫺ 9 Zahlreiche Belege cf. AaTh/ATU und Mot., s. v. Drunk, Drunkard, Drunken etc.; Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003; id.: Europ. Märchen
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und Sagen. CD-ROM. B. 2004, s. v. Betrunken, Trunkenheit etc. ⫺ 10 Grässe, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen 1. Dresden 21874, num. 68. ⫺ 11 Kuhn, A.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen 1. Lpz. 1859, 251; Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staats 1⫺2. Glogau 1868/71, hier t. 1, num. 172. ⫺ 12 ibid. 2, num. 142. ⫺ 13 Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, num. 212; Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Göttingen 1854, num. A 241. ⫺ 14 [Harsdörffer, G. P.:] Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte. Hbg 1656, num. 195 (10). ⫺ 15 Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1. ed. K. Willoh. Oldenburg 21909, num. 181 b. ⫺ 16 Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz 1⫺3. Augsburg 1857⫺59, hier t. 1, 204 sq. ⫺ 17 Grässe (wie not. 11) t. 2, num. 636. ⫺ 18 Pröhle, H.: Kinder- und Volksmärchen. Lpz. 1853, num. 25; Grässe (wie not. 11) t. 2, num. 634. ⫺ 19 Grundtvig, S.: Dän. Volksmärchen [1]⫺2. Lpz. 1878/79, hier t. 1, 148⫺171. ⫺ 20 Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, num. 428; Müllenhoff (wie not. 13) num. 298; Strackerjan (wie not. 15) num. 182 sq. ⫺ 21 BP 3, 94 sq. ⫺ 22 Gredt, N.: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette 1963, num. 418. ⫺ 23 Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen 2. MdW 1923, num. 39 b. ⫺ 24 Müllenhoff (wie not. 13); Schambach/Müller (wie not. 13) num. A 210.1; Haltrich, J.: Dt. Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. Wien 31882, num. 18, 19; Blümml, E. K.: Schnurren und Schwänke des frz. Bauernvolkes. Lpz. 1906, num. 35; Schullerus, P.: Rumän. Volksmärchen aus dem mittleren Harbachtal. ed. R. W. Brednich/I. Talos¸. Buk 1977, num. 68. ⫺ 25 Temme, J. D. H.: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. B. 1840, num. 222; Grässe (wie not. 11) t. 2, num. 456. ⫺ 26 Busch, W.: Ut oˆler Welt. ed. O. Nöldeke. Mü. 1910, num. 22. ⫺ 27 Schambach/Müller (wie not. 13) num. B 14; Eliasberg, A.: Sagen poln. Juden. Mü. 1916, num. 48. ⫺ 28 Meier, E.: Dt. Volksmärchen aus Schwaben. Stg. 1852, num. 55; Löwis of Menar, A. von: Russ. Volksmärchen. MdW 1927, num. 49. ⫺ 29 Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm. u. a. 1979, num. 77, 163, 166, 181, 212, 232, 250, 285, 287, 288, 357. ⫺ 30 Röhrich, L.: Der Witz. Mü. 1980, 174. ⫺ 31 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 911. ⫺ 32 ibid., num. 320. ⫺ 33 Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Stg. 1991, 186, 188 sq. ⫺ 34 Grimm DS 566; Müllenhoff (wie not. 13) num. 585; Blümml (wie not. 24) num. 52; Brusot, M.: Kelt. Volkserzählungen. Halle 1908, 11⫺15; Strackerjan (wie not. 15) num. 205 b; Eliasberg (wie not. 27) num. 40. ⫺ 35 Schönwerth (wie not. 16) t. 3, 43 sq.; Strackerjan (wie not. 15) num. 196 c. ⫺ 36 Colshorn, C. und T.: Märchen und Sagen. Hannover 1854, num. 70; Schambach/Müller (wie not. 13) num. A
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210.1. ⫺ 37 Wichmann, Y.: Syrjän. Volksdichtung. Hels. 1916, num. 51. ⫺ 38 Wolf (wie not. 20) num. 558. ⫺ 39 Colshorn (wie not. 36) num. 49. ⫺ 40 Schöppner, A.: Sagenbuch der Bayer. Lande 3. Mü. 1853, num. 1117; Grässe (wie not. 11) t. 2, num. 272. ⫺ 41 Schönwerth (wie not. 16) t. 3, 43 sq.; Schambach/ Müller (wie not. 13) num. A 210.1; Wolf (wie not. 20) num. 492. ⫺ 42 Müllenhoff (wie not. 13) num. 420; Kuhn, A./Schwartz, W.: Norddt. Sagen, Märchen und Gebräuche […]. Lpz. 1848, num. 49. ⫺ 43 Leskien, A./Brugman, K.: Litau. Volkslieder und Märchen. Straßburg 1882, num. 37; Wiedemann, A.: Altägypt. Sagen und Märchen 6. Lpz. 1906, 157⫺153; Strackerjan (wie not. 15) num. 176 a; Löwis of Menar (wie not. 28) num. 49; Schott, A. und A.: Rumän. Volkserzählungen aus dem Banat. ed. R. W. Brednich/I. Talos¸. Buk. 1975, num. 22; Schullerus (wie not. 23) num. 114. ⫺ 44 Blümml (wie not. 24) num. 52. ⫺ 45 Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen 1. Norden/Lpz. 1891, num. 36. ⫺ 46 Gredt (wie not. 22) num. 932. ⫺ 47 Löwis of Menar, A. von: Finn. und estn. Volksmärchen. Jena 1922, num. 39 (finn.). ⫺ 48 Grundtvig (wie not. 19) t. 2, 250⫺257; Sklarek, E.: Ung. Volksmärchen. Lpz. 1901, num. 39; Strackerjan (wie not. 15) num. 183 a; Woycicki, K. W.: Volkssagen und Märchen aus Polen. ed. K. Rotter. Breslau 1920, 62⫺64; Schullerus (wie not. 24) num. 75. ⫺ 49 Wander 4, 1349⫺1351; Röhrich 3, 1640⫺1644.
Marburg
Andreas Bimmer
Tschechen 1. Geschichte ⫺ 2. Qu.n und Forschung ⫺ 2. 1. Zur Entwicklung bis Ende des 15. Jh.s ⫺ 2. 2. 16.⫺18. Jh. ⫺ 2. 3. 19. Jh.⫺Mitte 20. Jh. ⫺ 2. 4. Seit 1945
1 . G es ch ic ht e. In hist. Sicht umfaßt Tschechien die Regionen Böhmen, Mähren sowie Tschech.-Schlesien. Das Tschechische gehört zu den westslav. Sprachen (J Polen, J Sorben, J Slovaken). Die zentrale Lage in Europa ermöglichte eine intensive Entfaltung kultureller Kontakte zu den westslav. und dt. Nachbarn. Die Einwanderung der Slaven begann um 550. Im 7. Jh. gründete der fränk. Kaufmann Samo ein Böhmen und Mähren umfassendes Reich. Von 830 an war das Land Teil des Großmähr. Reiches; nach seiner Zerstörung durch die Magyaren (907) wurde Mittelböhmen mit Prag zum Machtzentrum der Prˇemysliden, 1019 erfolgte die Angliederung Mäh-
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rens. Seit 1310 regierten die Luxemburger. 1526⫺1918 gehörte das Gebiet zum Habsburger Reich. Der Aufstand der mehrheitlich protestant. böhm. Stände, der zum Ausbruch des 30jährigen Kriegs führte und zum Sieg der Kathol. Liga über die Stände (1620 Schlacht am Weißen Berg bei Prag), hatte eine Rekatholisierungs- und Exilwelle zur Folge. Die tschech. Geschichtsschreibung betrachtet die Niederlage am Weißen Berg als das Ende des unabhängigen böhm. Staates und den Beginn der sog. Etappe der ,Finsternis‘ (tschech.: temno)1. 1918 kam es zur Gründung der Tschechoslovakei (erster Präsident T. G. Masaryk). 1938 mußte das Sudetenland an Deutschland abgetreten werden, kleinere Gebietsteile fielen an Polen und Ungarn. 1939 wurde der Reststaat von Deutschland als Protektorat Böhmen und Mähren okkupiert. 1945 wurde die Tschechoslovakei (ohne die Karpatenukraine) wiederhergestellt, aus der 1945/46 2,7 Millionen Deutsche ausgewiesen wurden. 1948⫺89 stellte die kommunistische Partei die Regierung, zaghafte Reformversuche 1968 (Prager Frühling) schlug die Sowjetunion mit Hilfe von Truppen des Warschauer Pakts gewaltsam nieder. Nach der sog. ,Samtenen Revolution‘ (1989) kam es zur Entstehung der Tschech. und Slovak. Föderativen Republik. 1993 ist das Gründungsjahr der Tschech. Republik. Tschechien besitzt 2007 rund 10,5 Millionen Einwohner. 2 . Q u. n u nd Fo rs ch un g 2 .1 . Z ur En tw ic kl un g b is En de de s 1 5. Jh .s. Einzelne Erzählstoffe und -motive, u. a. Märchen, Fabeln, Novellen und Schwänke, sind von den Anfängen der tschech. Lit. an in lat.- oder tschech.sprachigen Werken wie etwa der Chronikliteratur, der Übersetzungsliteratur, in Exempelsammlungen oder Wörterbüchern zu finden. Zu den ältesten tschech. Überlieferungen gehört die genealogische Sage über J Libussa, die Ahnherrin der Dynastie der Prˇemysliden, in der lat. verfaßten Chronica Bohemorum2 des Cosmas von Prag (um 1045⫺ 1125). Im Qu.nbereich unterscheidet Cosmas allg. Gehörtes (audita) und Augenzeugenberichte (visa) vom fabulösen Bericht der Alten (senum fabulosa relatio). Mehrere Erzählmotive weisen eine Überlieferung bis ins rezente Erzählgut auf, z. B. die nächtliche Beratung dreier Schwestern über das Schicksal von Neu-
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geborenen (J Schicksalsfrauen), von denen die J Jüngste zu Glück und Ansehen gelangt3. Bei Cosmas finden sich auch zwei äsopische Fabeln, die schon in der Legenda des Mönchs Kristia´n (Ende 10. Jh.)4 belegt sind: zum einen die Fabel AaTh/ATU 277: J Frösche bitten um einen König, die auch gereimt in Dalimilova kronika (Dalimils Chronik; Anfang 14. Jh.) begegnet5, zum andern eine Version von AaTh/ATU 231**: The Falcon and the Doves (cf. allg. J Königswahl der Tiere ). Beide sind außerdem in den lat. Texten des Bartolomeˇj von Chlumec, genannt J Klaret (gest. etwa 1370), zu finden. Klarets Werke enthalten neben Fabeln, Sprichwörtern und Rätseln viele Angaben zu Märchen und anderen Erzählungen. Sein Exemplarius z. B. umfaßt 200 numerierte Erzählungen, vor allem Fabeln, und basiert hauptsächlich auf J Avianus und dem sog. Anonymus Neveleti (cf. J Neveletus, I. N.), der bedeutendsten Fabelsammlung des MA.s. Der unbekannte Verf. des Admonter Quadragesimale, einer hs. Slg von Fastenpredigten (ca 1370), läßt Bohemismen in die eingestreuten Erzählungen einfließen, z. B. in die Geschichten vom Dummkopf (cf. AaTh/ATU 1696: J „Was hätte ich sagen [tun] sollen?“; AaTh/ ATU 1009: J Tür bewacht; AaTh 68 B/ATU 68 A: cf. J Kopf in der Kanne)6. Die letztgenannte Fabel ist außerdem in einer Versfassung aus Hradecky´ rukopis (Königgrätzer Hs.; 2. Hälfte 14. Jh.)7 bekannt. In den Werken des Toma´sˇ Sˇtı´tny´ (1333⫺ 1401/09) sind alttschech. Exempel, Märchen und andere Erzählungen in einem bis dahin nicht gekannten Umfang vertreten. Er stützte sich vielfach auf Klaret, übersetzte aber auch einige Stoffe aus dem lat. Erzählgut, darunter das Legendenmärchen Martha und Magdalena (J Maria Magdalena)8. Sˇtı´tny´ selbst beschreibt seine Methode als eine Kombination aus Kompilation und Übersetzung9. Sˇtı´tny´s Novellen, unter denen die älteste tschech. Bearb. der Lügengeschichte AaTh/ATU 1875: J Junge am Bären(Wolfs)schwanz zu finden ist, lassen einen starken Einfluß ital. Renaissanceliteratur erkennen. Weitere Exempla sind u. a. im Streitgespräch eines verratenen Liebhabers mit dem personifizierten Unglück (Tkadlecˇek [Weberlein]; nach 1407)10 zu finden. Als Vorlagen kommen bes. Predigttexte in Frage, ebenso Quellen der Antike, die Schriften der Kirchen-
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väter sowie das A. T. und das N. T. Literaturwiss. bedeutend ist die 35 Exempel umfassende Slg Olomoucke´ povı´dky (Olmützer Erzählungen; um 1400)11, da sie den Übergang von didaktisch-religiöser Dichtung zur Unterhaltungsliteratur markiert. Bisher nur z. T. veröffentlicht ist die wichtige Slg Historiae variae moralisatae (um 1400) mit 298 Exempeln12. AaTh/ATU 200: cf. J Privileg der Hunde, von Ctibor Tovacˇovsky´ z Cimburka (ca 1438⫺ 1494) in seine polemische Schrift Ha´da´nı´ Pravdy a Lzˇi (Streit der Wahrheit und der Lüge; 1467, Erstdruck 1539) eingefügt, stammt wahrscheinlich aus mündl. Überlieferung; die in ganz Europa verbreitete Fabel besitzt in Mähren eine selbständige Redaktion13. Seit Ende des 15. Jh.s läßt sich neben Stoffen heimischer Provenienz ein häufiges Vorkommen fast sämtlicher europ. Erzähltypen, -stoffe und -motive feststellen, wobei sich ökotypische Fassungen bzw. eigene typische Motivausprägungen entwickelten. Die erste tschech. Übers. der J Gesta Romanorum stammt bereits aus der Mitte des 15. Jh.s14, J Boccaccios Decamerone erschien 1459 auf Tschechisch. 2 .2 . 1 6. ⫺1 8. Jh. Das um 1518 erstmals erschienene und mehrfach aufgelegte Schwankbuch J Frantova pra´va (Die Satzungen des Franta) enthält auch Fabeln und Exempla, die vor allem auf J Poggio und Heinrich J Bebel zurückgehen dürften15. Einflußreich waren auch die Rozpra´vky Brˇezinovy (Brˇezinas Novellen; 1650)16; darin findet sich u. a. das Exemplum AaTh/ATU 980: Der undankbare J Sohn. Darüber hinaus erschienen Ausg.n von äsopischen Fabeln (acht Teilausgaben zwischen 1567 und 1696) und (um 1550) die Historie o Ensˇpiglovi (Die Geschichte über den Eulenspiegel), eine Übers. der 1520⫺30 von der Druckerei Krufter in Köln hergestellten Slg von J Eulenspiegel-Geschichten17. Vermutlich wegen antiklerikaler Tendenzen weniger Nachwirkung hatte das anonyme Schwankbuch Historie o Bratru Palecˇkovi (Geschichte des Bruders Palecˇek; zuletzt 1610), mit Geschichten über den Hofnarren des böhm. Königs Georg von Podiebrad (1420⫺71). Volksbücher sind zwar schon im 16. Jh. nachweisbar, doch setzte ein vermehrtes Erscheinen erst im 17. Jh. ein. Primär als Lektüre
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zu kurzweiliger Unterhaltung gedacht, zeigt sich rückwirkend ihre große Bedeutung für die Entwicklung der mündl. Überlieferung18. Ihre Beliebtheit bezeugen die Neuausgaben von äsopischen Fabeln und Eulenspiegel-Geschichten. Auf diesem Weg wurden Stoffe wie Sˇtilfrı´d a Bruncvı´k (AaTh/ATU 156 A: J Löwentreue), AaTh/ATU 887: J Griseldis und Sedm mudrcu˚ (J Sieben weise Meister) popularisiert und bis ins 19. Jh. verbreitet. Ein Vorläufer folkloristischer Sammeltätigkeit sind ferner die lat. Feriae Christiano-Bacchanales item Feria quarta Cinerum serio-poenitentialis (Ende 17. Jh.) des Schriftstellers Kristia´n Bohumı´r Hirschmentzel (1638⫺1703). Sie enthalten Liebes- und Diebsabenteuer, die Hirschmentzel aus mündl. Überlieferung im tschech. Schlesien gesammelt hat. Die Zahl der mit dem internat. Typenkatalog korrespondierenden Erzählungen ist auffallend hoch; so enthält die Slg z. B. AaTh/ATU 940: Das hochmütige J Mädchen, AaTh/ATU 1525 sqq.: J Meisterdieb, AaTh/ATU 1535: J Unibos, AaTh/ATU 1681: cf. J Teeren und federn. 2 .3 . 1 9. Jh .⫺ Mi tt e 2 0. Jh. In der Epoche der tschech. nationalen Wiedergeburt hatten die mundartlichen Volkserzählungen eine wichtige Funktion19. Ein erhöhtes Interesse entwickelte sich seit den 1830er Jahren im Rahmen der Entdeckung des Volkslieds und der Sage als ,authentisches‘ nationaltypisches Kulturgut. Erste Slgen veröffentlichten u. a. W. A. Gerle (1781⫺1846)20, K. S. Amerling (1807⫺ 84)21 und V. Krolmus (1787⫺1861)22. Einem qualitativ neuen Verhältnis zu Volkserzählungen begegnet man in den Ausg.n von J. B. Maly´ (1811⫺85)23 und M. Miksˇ´ıcˇek (1815⫺ 92)24, die sich darum bemühten, die Erzählweise des einfachen Volkes zu erhalten. Für die tschech. Märchen stilbildend und von großem Einfluß auf die tschech. Märchenforschung waren die Slgen der Schriftsteller Bozˇena J Neˇmcova´ und Karel Jaromı´r J Erben. Neˇmcova´ begründete ihr weitgehendes Eingreifen in die Struktur und Stilelemente der Märchen damit, daß Volksmärchen Teil der Volksüberlieferung seien25. Erben orientierte sich am Vorbild der Brüder J Grimm und schuf aufgrund mehrerer Fassungen (J Kontamination) jeweils eine ,wahrhaft nationale Redaktion‘26. Neˇmcova´s und Erbens Texte ge-
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hören zu den klassischen tschech. Märchen und werden bis in die Gegenwart (auch als Schullektüre) herausgegeben und verfilmt, von Neˇmcova´ z. B. Pysˇna´ princezna (Die hochmütige Prinzessin, 1952), Su´l nad zlato (Das Salz über das Gold, 1954), Pricezna se zlatou hveˇzdou na cˇele (Die Prinzessin mit dem Goldstern ˇ ert a Ka´cˇa (Kacˇa und auf der Stirn, 1959), C der Teufel, 1984; auch stoffliche Grundlage für ˇ esky´ eine Oper von Antonı´n Dvorˇa´k, 1899), C Honza (Der tschech. Honza, 2008); von Erben z. B. Obusˇku z pytle ven (Knüppel aus dem Sack, 1955), Zlatovla´ska (Die Jungfrau Goldhaar, 1973). Unter den regionalen Slgen ist B. M. Kuldas Ausg. Moravske´ na´rodnı´ poha´dky (1854; 123 Nummern) von Märchen und Sagen aus der ostmähr. Walachei methodisch beispielhaft27. Zwar sparte er moralisch oder religiös anstößige Elemente wie etwa Abergläubisches aus, vermochte aber in der schriftl. Wiedergabe eine bisher nicht anzutreffende Feinfühligkeit für J Authentizität zu entwickeln. Von der geplanten Reihe von Märchen und Sagen des mähr. Volkes erschien außer seiner eigenen Ausg. nur noch eine Slg von J. S. Mensˇ´ık28. Kuldas nachfolgende Ausg. sowie die Slgen von J. Pleska´cˇ, J. Orel, S. Soukop und V. Sˇve´da kamen erst mit großem zeitlichen Abstand heraus, betreut von O. J Sirova´tka und M. Sˇra´mkova´29. In der 2. Hälfte des 19. Jh.s wurden Forderungen nach möglichst originalgetreuen Aufzeichnungen explizit formuliert. Diese wurden nach Vorarbeiten des mähr. Mundartforschers und Volkskundlers F. Bartosˇ (1837⫺1906) von den Schülern des Prager Junggrammatikers J. Gebauer (1838⫺1907), u. a. den Dialektologen I. Hosˇek (1852⫺1919) und J. F. Hrusˇka (1865⫺ 1937) und dem Slavisten V. Vondra´k (1859⫺ 1925), realisiert. Gebauer führte auch die Komparatistik in die tschech. Märchenforschung ein und beeinflußte die vergleichenden und systematisierenden Märchenstudien J. J Polı´vkas. V. J Tille schließlich erstellte mit Soupis cˇesky´ch poha´dek ([Verz. tschech. Volksmärchen] t. 1⫺2,1⫺2. Prag 1929/34/37) den grundlegenden Typenkatalog tschech. Märchen. Die 1895 in Prag eröffnete Na´rodopisna´ vy´stava cˇeskoslovanska´ (Tschechoslav. volkskundliche Ausstellung) löste eine intensive Sammeltätigkeit aus, die in mehreren Regionalsammlun-
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gen Ausdruck fand, z. B. von A. Popelkova´, V. Popelka u. a. Bereits 1892 kam die erste ˇ esky´ lid Nummer der volkskundlichen Zs. C (Das tschech. Volk) heraus, in der viele Volkserzählungen abgedruckt wurden. Überragende Bedeutung hatten J. Sˇ. J Kubı´n und J. J Hora´k. Hora´k gewann durch die stilistisch behutsamen Bearb.en eigener Aufzeichnungen aus Mittelböhmen, die mehrfach aufgelegt wurden, einen breiten Leserkreis. Der Priester J. Sˇ. Baar (1869⫺1925) publizierte die von ihm im westböhm. Chodenland mundartlich exakt aufgezeichneten Märchen und Sagen30. Die Syntax der Texte paßte Baar konsequent den Regeln der Schriftsprache an. Das Erzählgut aus dem tschech. Schlesien und der mittelmähr. Hanna-Ebene enthalten die Slgen von F. Stavarˇ und J. Tvrdy´, beide herausgegeben von Polı´vka31. 2 .4 . S ei t 1 94 5. In der 2. Hälfte des 20. Jh.s erlebte die Erzählforschung einen intensiven Aufschwung. 1948 wurden das Slezsky´ studijnı´ u´stav (Schles. Forschungsinstitut) in Troppau ´ stav pro etnografii a folgegründet, 1954 das U kloristiku (Inst. für Ethnographie und Folkloristik) an der Tschechoslovak. Akad. der Wiss.en in Prag und Brünn sowie Forschungsstellen an den Univ.en eingerichtet. Neue Publ.smöglichkeiten ergaben sich durch die Gründung der Zss. Radostna´ zemeˇ ([Frohes Land] ˇ eskoslovenska´ etnografie ([Tsche1951) und C choslovak. Ethnographie] 1953) sowie neuer Reihen; hier ist bes. die von R. Luzˇ´ık betreute Reihe Lidove´ umeˇnı´ slovesne´ (Die Prosavolkskunst) zu nennen. Bis in die 1980er Jahre erschienen neben Neuausgaben älterer Slgen solche mit Ergebnissen neuerer Feldforschungen sowie Märchen anderer Völker. Die tschech. Märchenforschung zeichnet sich durch eine systematische, den ganzen tschech. Sprachraum einbeziehende Sammeltätigkeit aus, die (bes. in Ostmähren und Schlesien) zur Entdeckung von Regionen mit lebendiger Erzähltradition sowie mehrerer hervorragender Erzähler führte32: J. J Jech zeichnete die Geschichten von Filomena Hornychova´ im sog. tschech. Winkel (Region Glatz, heute Polen) auf33; A. J Satke die von Josef Smolka in Schlesien34; K. D. Kadłubiec interviewte Jo´zef Jez˙owicz im Teschener Schlesien35 und D. J Klı´mova´-Rychnova´ Andeˇla Sˇtipska´
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in der Region Hornˇa´cko36; Sˇra´mkova´ dokumentierte das Erzählgut von Marie Secˇkova´ und Alois Slova´k in Ostmähren37. Kaum bekannte Texte aus der Region Slova´cko trugen V. Frolec und D. Holy´ zusammen38. Fragen der Interpretation, Klassifikation und Terminologie wurden in regionalen Monogr.n39 wie auch zusammenfassend analysiert40. Bes. Aufmerksamkeit galt dem Verhältnis von J Lit. und Volkserzählung41, zu dem sich vor allem Sirova´tka42 und ⫺ aus hist. Perspektive ⫺ K. Dvorˇa´k43 äußerten. K. J Hora´lek erweiterte den Blick über das slav. Material hinaus um bis in die Antike und in den Orient reichende Aspekte. Überlieferungen und Ergebnisse der tschech. Märchenforschung im internat. Kontext stellten Jech44 und Sirova´tka45 vor. Jechs Nachwort zur 2. Aufl. seiner Ausg. tschech. Märchen (1984) kann man ⫺ zusammen mit seinen Kommentaren zur Ausg. von Kubı´n ⫺ als Einführung in die (bes. tschech.) Märchenforschung bezeichnen46. Ein neues Phänomen in der tschech. Märchentradition stellen Kunstmärchen dar. Wähˇ ´ıha (Pseud. Tilles) sich auf Märchenrend V. R adaptionen beschränkte, schufen die Schriftˇ apek (1890⫺1938), Jirˇ´ı Wolker steller Karel C (1900⫺24), Vile´m Za´vada (1905⫺82), Jaroslav Seifert (1901⫺86) u. a. neue Kunstmärchen auf der Grundlage populärer Erzählstoffe und Motive. Dieser Tendenz begegnet man zwar schon früher (z. B. 1913 bei D. Filip), aber erst Kubı´n gewann nach 1945 für dieses Genre einen größeren Leserkreis. Beliebte Autoren sind u. a. Jan Drda (1915⫺70), Marie Kuba´tova´ (geb. 1928) und Jan Werich (1905⫺80); ˇ tvrtek als der erfolgreichste gilt Va´clav C (1911⫺76), der 1970 eine neue Märchenfigur, den Räuber Rumcajs (Fürchtenix), und einen ˇ tvrteks Held Rumcajs-Zyklus geschaffen hat. C wird von den Medien und der Tourismusindustrie vermarktet. Seit den 1960er Jahren strahlt das Fernsehen jeden Abend vor den Nachrichten das für Kinder bestimmte Programm Vecˇernı´cˇek (Abendmännlein; cf. J Sandmann) aus und sorgt mit regelmäßigen Sendungen von Märchenfilmen für eine Verbreitung neuer Stoffe und eine Revitalisierung von Volksmärchen; in der Weihnachtszeit wird traditionell der Film Trˇi orˇ´ısˇky pro Popelku (Drei Nüsse für Aschenputtel; AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella)
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ausgestrahlt. Darüber hinaus gibt es mehr als 300 Serien, die für kleinere Kinder konzipiert sind, z. B. Maxipes Fı´k (Maxihund Fı´k) oder Bob a Bobek (bekannt unter Kaninchen im Hut). Internat. Bekanntheit erreichten die 1920/26 von Josef Skupa, dem Gründer des Marionettentheaters in Pilsen, geschaffenen Figuren Spejbl und Hurvı´nek. Überregionale Popularität erlangte auch die vom Schauspieler Otto Sˇima´nek dargestellte Figur des Zauberers Pan Tau (zwischen 1970 und 1979 wurden 34 Kurzfilme in drei Staffeln und drei Filme gedreht); aus politischen Gründen wurden einige davon nur im Westen veröffentlicht47. Im rezenten Erzählgut sowie im Erzählen ist im ganzen eine Umorientierung zu beobachten. Märchen werden überwiegend als nur für Kinder geeignetes Erzählgenre betrachtet und entsprechend adaptiert. Im Vordergrund des aktuellen Erzählguts stehen Sagen, Schwänke, Witze sowie Lebensgeschichten48. 1 Eberhard, W.: Geschichtliche Einführung. In: Bahlcke, J./Eberhard, W./Polı´vka, M. (edd.): Böhmen und Mähren. Stg. 1998, LXXXIX⫺XCI. ⫺ 2 Bretholz, B. (ed.): Die Chronik der Böhmen des Cosmas von Prag/Cosmae Pragensis Chronica Boemorum. B. 1923; cf. auch Karbusicky´, V.: Ba´je, my´ty, deˇjiny. Nejstarsˇ´ı cˇeske´ poveˇsti v kontextu evropske´ kultury (Sagen, Mythen, Geschichte. Die ältesten tschech. Sagen im Kontext der europ. Kulˇ eskoslovenska´ vlastiveˇda tur). Prag 1995. ⫺ 3 C (Tschechoslovak. Heimatkunde). 3: Lidova´ kultura (Volkskultur). Prag 1968, 257⫺284, 327. ⫺ 4 Ludvı´kovsky´, J. (ed.): Kristia´nova legenda (Kristians Legende). Prag 1978. ⫺ 5 Havra´nek, B./Danˇhelka, J. (edd.): Nejstarsˇ´ı cˇeska´ ry´movana´ kronika tak rˇecˇene´ho Dalimila (Die älteste tschech. Reimchronik des sog. Dalimil). Prag 1957. ⫺ 6 Vilikovsky´, J. (ed.): Pro´za z doby Karla IV. (Prosa aus der Zeit Karls IV.). Prag 1948, 142⫺152, 340. ⫺ 7 Hraba´k, J. (ed.): Starocˇeske´ satiry (Alttschech. Satiren). Prag 1947, 71⫺73. ⫺ 8 Dvorˇa´k, num. 21*, 3196. ⫺ 9 Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 21984, 415. ⫺ 10 Sˇimek, F. (ed.): Tkadlecˇek. Ha´dka milence s Nesˇteˇstı´m (Weberlein. Streit eines Liebhabers mit dem Unglück). Prag 1940; Dvorˇa´k, num. 3251*. ⫺ 11 Petru˚, E.: Olomoucke´ povı´dky (Olmützer Erzählungen). Prag 1957. ⫺ 12 Vilikovsky´ (wie not. 6). ⫺ 13 Jech (wie not. 9) 420. ⫺ 14 Starocˇeska´ Gesta Romanorum. ed. J. V. Nova´k. Prag 1895. ⫺ 15 cf. z. B. bei Tille, Soupis 2,2, 137. ⫺ 16 Grund, A. (ed.): Rozpra´vky Brˇezinovy (Brˇezinas Novellen). In: Kratochvilne´ rozpra´vky renesancˇnı´. Prag 1952, 95 sq. ⫺ 17 cf. Ottu˚v slovnı´k naucˇny´ (Ottos wiss. Wb.) 8. Prag ˇ eska´ za´bavna´ pro´za 16. 1897, 811. ⫺ 18 Kola´r, J.: C stoletı´ a tzv. knizˇky lidove´ho cˇtenı´ (Die tschech.
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Unterhaltungsprosa des 16. Jh.s und die sog. Volksbücher). Prag 1960. ⫺ 19 Langer, G.: Das Märchen in der tschech. Lit. von 1790 bis 1860. Studien zur Entwicklungsgeschichte des Märchens als literar. Gattung. Gießen 1979. ⫺ 20 Gerle, W. A.: Volksmährchen der Böhmen 1⫺2. Prag 1819. ⫺ 21 Amerling, K. S.: Kveˇtomluva cˇili poveˇsti na´rodnı´ o bylina´ch (Blumensprache oder Volkssagen von den Pflanzen). Prag 1833. ⫺ 22 Sumlork [i.e. Krolmus, V. S.]: Starocˇeske´ poveˇsti, zpeˇvy, hry, obycˇeje, slavnosti a na´peˇvy s ohledem na ba´jeslovı´ cˇesko-slovanske´ (Alttschech. Sagen, Gesänge, Spiele, Bräuche, Feste und Weisen mit Bezug auf die tschechoslav. Mythologie) 1⫺3. Prag 1845/47/51. ⫺ 23 Maly´, J. B.: Na´rodnı´ cˇeske´ poha´dky a poveˇsti (Tschech. Volksmärchen und -sagen). Prag 1838. ⫺ 24 Miksˇ´ıcˇek, M.: Sbı´rka poveˇstı´ moravsky´ch a slezsky´ch (Slg mähr. und schles. Sagen) 1⫺3. Olmütz 1843/44/45; id.: Na´rodnı´ ba´chorky moravske´ a slezske´ (Mähr. und schles. Volksmärchen). Prag 1888. ⫺ 25 Deˇjiny cˇeske´ literatury (Geschichte der tschech. Lit.) 2. ed. M. Pohorsky´. Prag 1961, 570. ⫺ 26 Jech (wie not. 9) 430. ⫺ 27 Kulda, B. M.: Moravske´ na´rodnı´ poha´dky a poveˇsti z okolı´ Rozˇnovske´ho (Mähr. Volksmärchen und -sagen aus der Umgebung von Rozˇnov). Brünn 1854 (Neuausg. id.: Poha´dky a poveˇsti z Rozˇnovska [Märchen und Sagen aus der Umgebung von Rozˇnov]. ed. O. Sirova´tka. Prag 1963). ⫺ 28 Mensˇ´ık, J. S.: Moravske´ na´rodnı´ poha´dky a poveˇsti z okolı´ Jemnicke´ho (Mähr. Volksmärchen und Sagen aus der Umgebung von Jemnice). Brünn 1856. ⫺ 29 Sirova´tka, O./Sˇra´mkova´, M.: Moravske´ na´rodnı´ poha´dky a poveˇsti (Mähr. Volksmärchen und Sagen). Prag 1983. ⫺ 30 Baar, J. Sˇ.: Chodske´ povı´dky a poha´dky (Chod. Erzählungen und Märchen). Prag 1922; Gesamtausg.: Luzˇ´ık, R.: Chodske´ pı´sneˇ a poha´dky (Chod. Lieder und Märchen). Prag 1976. ⫺ 31 Polı´vka, J.: Povı´dky lidu opavske´ho a hana´cke´ho (Erzählungen des Volkes aus der Umgebung um Troppau und Volkserzählungen der Hanna). Prag ˇ eska´ prozaicka´ folk1916. ⫺ 32 cf. Sˇra´mkova´, M.: C loristika v letech 1945⫺2000. Prˇehled, vy´voj, te´mata, bibliografie (Die tschech. Prosafolkloristik in den Jahren 1945⫺2000. Übersicht, Entwicklung, Themen, Bibliogr.). Prag 2008. ⫺ 33 Jech, J.: Lidova´ vypra´veˇnı´ z Kladska (Volkserzählungen aus der Glatz). Prag 1959. ⫺ 34 Satke, A.: Hlucˇ´ınsky´ poha´dka´rˇ Josef Smolka (Josef Smolka, ein Märchenerzähler aus Hlucˇ´ınsko). Ostrau 1958. ⫺ 35 Kadłubiec, K. D.: ˇ eske´ repuPolska´ na´rodnı´ mensˇina na Teˇsˇ´ınsku v C blice (Die poln. Minderheit aus Teschen in der Tschech. Republik) (1920⫺1995) 1. Ostrau 1997. ⫺ 36 Klimova´, D.: Katalog hornˇa´cky´ch lidovy´ch vypra´veˇnı´ (Katalog der Volkserzählungen aus Hornˇa´cko). In: Frolec, V./Holy´, D./Jerˇa´bek, R. (edd.): Hornˇa´cko. Zˇivot a kultura lidu na moravsko-slovenske´m pomezı´ v oblasti Bı´ly´ch Karpat. Brünn 1966, 549⫺584. ⫺ 37 Phonographisches Archiv des Etnologicky´ u´stav der Akad. der Wiss.en der Tschech. Republik, Zweigstelle Brünn, num. 16, 17 (Secˇkova´), num. 2 (Slova´k). ⫺ 38 Frolec, V./Holy´, D.: Lidove´
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poha´dky ze Slova´cka (Volksmärchen aus der Region Slova´cko). Prag 1967. ⫺ 39 Skalnı´kova´, O.: Kladensko. Zˇivot a kultura lidu v pru˚myslove´ oblasti (Der Raum Kladno. Leben und Kultur des Volkes in einem Industriegebiet). Prag 1959; Fojtı´k, K./Sirova´tka, O. (edd.): Rosicko-Oslavansko. Zˇivot a kultura lidu v kamenouhelne´m revı´ru (Der Raum Rosice-Oslavany. Volksleben und Volkskultur in einem Kohlenrevier). Prag 1961; Frolec u. a. (wie not. 36); Nekuda, V. (ed.): Okres Vsetı´n. Rozˇnovsko, Valasˇskomezirˇ´ıcˇsko, Vsetı´nsko (Vsetı´ner Land: Rozˇnov, Valasˇske´ Mezirˇ´ıcˇ´ı, Vsetı´n). Brünn 2002; Sˇtika, J. (ed.): Teˇsˇ´ınsko (Das Teschener Land) 4. Sˇenov/ ˇ eskoslovenska´ vlastiveˇda (wie Ostrau 2002. ⫺ 40 C not. 3) 257⫺269, 281⫺284 (zu den Volkserzählungen); Jech (wie not. 9). ⫺ 41 id.: Der gegenwärtige Weg des Märchens in der Tschechoslowakei. In: Uther, H.-J. (ed.): Märchen in unserer Zeit. Mü. 1990, 131⫺148. ⫺ 42 Sirova´tka, O.: Lidova´ slovesnost a soucˇasna´ cˇeska´ literatura (Volkslit. und die tschech. Lit. der Gegenwart). In: Pfeffer, V. (ed.): Tradice lidove´ slovesnosti v soucˇasne´ literaturˇe. Troppau 1987, 5⫺14. ⫺ 43 Dvorˇa´k, K.: Mezi folklo´rem a literaturou. Studie z cˇeske´ a neˇmecke´ folkloristiky (Zwischen Volkserzählung und Lit. Studien zur tschech. und dt. Folkloristik). Prag 1994; cf. auch id.: Nejstarsˇ´ı cˇeske´ poha´dky (Die ältesten tschech. Märchen). Prag 1976. ⫺ 44 Jech (wie ˇ eska´ lidova´ slovesnost a not. 9). ⫺ 45 Sirova´tka, O.: C jejı´ mezina´rodnı´ vztahy (Die tschech. Volksdichtung und ihre internat. Beziehungen). Prag 1967; id.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1969, 269⫺286. ⫺ 46 Jech (wie not. 9) 409⫺523; Kubı´n, J. Sˇ.: Kladske´ povı´dky (Erzählungen aus der Glatz). ed. J. Jech. Prag 1958; cf. auch Jechs Kommentare zu den tschech. Texten in Gasˇparı´kova´, V./Jech, J./Kapełus, H./Nedo, P.: Zvonı´cı´ lipka. Poha´dky za´padnı´ch Slovanu˚ (Die klingende Linde. Märchen der Westslaven). Prag 1972. ⫺ 47 Srubar, H.: Ambivalenzen des Populären. Pan Tau und Co. zwischen Ost und West. Konstanz 2008. ⫺ 48 Sˇra´mkova´ (wie not. 32) 231⫺ 253.
Brno
Marta Sˇra´mkova´
Tscheremissen. Die zur finn.-ugr. Sprachfamilie zählenden T. (Eigenbezeichnung Mari) leben in Mittelrußland nördl. und östl. des großen Wolgaknies. Knapp die Hälfte der ca 670 000 T. (Volkszählung 1989) lebt in der zur Russ. Föderation gehörenden Republik Marij E˙l, die anderen siedeln aufgrund einer Ende des 16. Jh.s einsetzenden Migrationsbewegung in einer von der Ostgrenze der Republik bis zum Ural reichenden Zone u. a. in Baschkortostan, in den Gebieten Kirov, Sverdlovsk und Perm sowie in Tatarstan und Udmurtien. Die
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alte, von der Belebtheit der Natur ausgehende animistische Religion der T. (J Schamanismus) hat sich bis heute vor allem in den östl. Gebieten erhalten; die westl. T., die sog. Bergtscheremissen, wurden seit dem 16. Jh. zum Christentum bekehrt. Die ältesten gedr. Proben der tscheremiss. Volksüberlieferung sind einige Märchen und Sagen, die 1862 in Rußland in einem Überblick über die Religion der T. von S. A. Nurminskij veröffentlicht wurden1. Danach erschienen einzelne Texte in russ. Übers. in verschiedenen Werken2. F. Vasil’ev veröffentlichte im Anh. seiner 1887 publizierten Grammatik 70 Lieder und ein Gebet in tscheremiss. Sprache mit russ. Übers.3 Eine große Anzahl von Gebeten in beiden Sprachen ist in einem Werk von G. Jakovlev über die Religion der T. aus demselben Jahr enthalten4. In Finnland wurde 1883 die Finn.-Ugr. Ges. gegründet, die u. a. eine großangelegte Slg von Sprachproben in den Siedlungsgebieten der finn.-ugr. Völker in Rußland organisierte. A. Genetz zeichnete 1887 in den östlichsten tscheremiss. Gebieten Märchen, Rätsel, Zaubersprüche, Gebete und Lieder auf. Außerdem brachte er das 1885⫺86 von V. Porkka gesammelte Material, das u. a. auch Sprichwörter enthielt, zum Druck5. G. J. Ramstedt dokumentierte 1898 bei den Bergtscheremissen Märchen, Zaubersprüche und Rätsel sowie Texte zu Brauch und Glaubensvorstellungen. Eine auch Lieder enthaltende umfangreiche Slg zeichnete H. Paasonen im Jahr 1900 bei den östlichsten T. auf 6. Y. Wichmann verbrachte 1905⫺06 fast ein Jahr in den tscheremiss. Gebieten und trug eine mehrere Dialekte repräsentierende umfangreiche Slg zusammen, die mit Ausnahme der Zaubersprüche alle Gattungen der mündl. Überlieferung umfaßt7. Wichmann leitete auch den tscheremiss. Volksschullehrer T. Evsev’ev (1887⫺1937) zum Sammeln von volkskundlichem Material und Folklore an. Evsev’ev, der später als Folklorist arbeitete und das Tscheremiss. Nationalmuseum in Josˇkar-Ola gründete, schickte mehr als 20 Jahre lang von ihm selbst gesammelte Texte an die Finn.-Ugr. Ges. Sie wurden erst über 50 Jahre später veröffentlicht8. Von in Ungarn bzw. Deutschland internierten Kriegsgefangenen des 1. Weltkriegs zeichneten u. a. Ö. J
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Beke9, R. Lach10 und E. Lewy11 umfangreiches Material auf. Anfang des 20. Jh.s erschien der auf Volksbildung ausgerichtete Marla kalendar‘ (Tscheremiss. Kalender), der auch Texte aus der populären Überlieferung enthielt. Während der sowjet. Epoche kamen im Gebiet der T. Folklore-Slgen sowohl in der Orig.sprache als auch vor allem in russ. Übers. heraus; einzelne Proben der Volksdichtung wurden zudem in unterschiedlichen Studien publiziert. U. a. gab ˇ etkarev in den 1940er und 1950er JahK. A. C ren zahlreiche Märchensammlungen heraus12. Aus jüngerer Zeit liegen zwei mehrbändige zweisprachige Reihen vor: Marijskij fol’klor13 und Svod marijskogo fol’klora14. Die tscheremiss. Märchen sind in ihrer Diktion recht lakonisch. Anstelle einer breiten Beschreibung der Protagonisten oder der Ereignisse treiben sie die Handlung konstatierend voran. Es gibt einige Tiermärchen, doch innerhalb der Überlieferung nehmen diese keinen zentralen Rang ein. Die Akteure der Tiermärchen sind meist wilde Tiere, am häufigsten begegnen der listige J Fuchs und der ängstliche J Hase. Oft vertreten sind etwa AaTh/ATU 123: J Wolf und Geißlein, AaTh/ATU 9: Der unreelle J Partner und AaTh/ATU 103 A: The Cat as She-Fox’s Husband. Zaubermärchen sind in der tscheremiss. Überlieferung weit verbreitet. Ihre Protagonisten sind fast ausschließlich männlich. Zaubergegenstände fehlen; im allg. besiegt der Held seine Gegner dank seiner Schlauheit oder wundersamen Kräfte oder mit Unterstützung eines Helfers. Wesen aus dem tscheremiss. Volksglauben erscheinen als böse Gegenspieler des Helden, z. B. der als Feuerball beschriebene wuwer oder die owda. Häufig sind u. a. AaTh/ATU 300: cf. J Drache, Drachenkampf, Drachentöter und AaTh/ATU 650 A: J Starker Hans. Der Protagonist von AaTh/ATU 650 A wird von seinen kinderlosen Eltern (J Unfruchtbarkeit) aus Teig geformt; er wächst im Handumdrehen heran und erlangt gigantische Kräfte. Als Helfer des Helden agieren in diesem wie in vielen anderen Zaubermärchen Figuren mit riesenhafter Statur. Verbreitet sind auch Märchen vom dummen Unhold (Oger, Teufel), z. B. AaTh/ATU 1074: cf. J Wettlauf der Tiere; hier hilft ein Hase dem Helden beim Wettlauf. In tscheremiss. Var.n von AaTh/
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ATU 1002: J Zornwette ist der Herr ein Geistlicher, die Erzählung erhält damit eine antiklerikale Tendenz. Die T. kennen eine Vielzahl von Schwankmärchen, die sich auch bei den Nachbarvölkern im Wolgagebiet finden. Der Spott richtet sich hier bes. gegen Pfarrer, Küster oder Kaufmann, die als dumm und habgierig geschildert und vom Helden, meist einem Knecht, hinters Licht geführt werden, so daß sie bloßgestellt werden oder sterben. Viele derartige Erzählungen enthalten sexuelle Motive. Unter den tscheremiss. Schwankmärchen finden sich u. a. Var.n von AaTh/ATU 1365 E: The Quarrelsome Couple, AaTh/ATU 1537: Die mehrmals getötete J Leiche und AaTh/ ATU 1875: J Junge am Bären(Wolfs)schwanz. Unter den (seltenen) Formelmärchen ist AaTh/ ATU 2031: J Stärkste Dinge am häufigsten. Die umfangreichste Gattung der tscheremiss. Volksüberlieferung sind die Volkslieder, die alle Stationen des Lebens begleiten15. Für eine möglicherweise früher existierende Tradition epischer Dichtung gibt es nur indirekte Indizien16. Auch Rätsel, Sprichwörter und Wahrsagesprüche sind bei den T. aufgezeichnet worden17. Die bei verschiedenen Opferfesten rezitierend vorgetragenen Gebete sind traditionsgemäß oft sehr lang18. Das nationale Erwachen nach dem Zerfall der Sowjetunion förderte neben der Weiterentwicklung der Muttersprache auch das Interesse an der eigenen Kultur und Geschichte. Vor diesem Hintergrund verfaßte der Schriftsteller Anatolij Spiridonov auf der Grundlage von Sagen und Märchen aus der populären Überlieferung in russ. Sprache die 9000 Verse umfassende epische Dichtung Jugorno (Der Weg des Zauberspruchs)19. 1 ˇ Cetkarev, K. A.: Iz istorii sobiranija i publikacii marijskogo fol’klora do 1917 goda (Aus der Geschichte der Slg und Veröff. tscheremiss. Folklore vor 1917). In: Trudy. Marijskij Naucˇno-Issledovatel’skij Inst. 1 (1939) 63⫺81; Nurminskij, S. A.: Ocˇerk religioznych verovanij cˇeremis (Überblick über die religiösen Vorstellungen der T. ). In: Pravoslavnyj sobesednik 3,12. Kasan 1862, 236⫺296. ⫺ 2 Moljarov, I. Ja: Besedy k cˇeremisam kuzneckogo prichoda (Predigten für die T. der Kusnezker Gemeinde). In: Izvestija po Kazanskoj Eparchii (1873) ˇ eremisy (Die T. ). Kasan 7⫺9; Smirnov, I. N.: C 1889. ⫺ 3 Vasil’ev, F.: Posobie k izucˇeniju cˇeremisskogo jazyka na lugovom narecˇii (Lehrbuch zum Studium des Tscheremiss. im Wiesendialekt). Kasan
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Tscherkessen ⫺ Tschuwaschen
1887. ⫺ 4 Jakovlev, G.: Religioznye obrjady cˇeremis (Die religiösen Bräuche der T. ). Kasan 1887. ⫺ 5 Genetz, A.: Ost-tscheremiss. Sprachstudien 1. Hels. 1889; Volmari Porkka’s tscheremiss. Texte mit Übers. ed. A. Genetz. Hels. 1895. ⫺ 6 Ramstedt, G. J.: Bergtscheremiss. Sprachstudien. Hels. 1902; Tscheremiss. Texte gesammelt von H. Paasonen. ed. P. Siro. Hels. 1939. ⫺ 7 Wichmann, Y.: Volksdichtung und Volksbräuche der T. Hels. 1931. ⫺ 8 Timofej Jevsevjevs Folklore-Slgen aus dem Tscheremiss. ed. A. Alhoniemi/S. Saarinen. 1: Märchen, Sagen und Volkserzählungen; 2: Vorzeichen, Traumdeutungen, Sprichwörter, Spottverse und Rätsel; 3: Gebete und Zaubersprüche; 4: Lieder. Hels. 1983/89/92/94; Evsev’ev, T. E.: Kalyk ojpogo (Die mündl. Überlieferung des Volkes). Josˇkar-Ola 1994. ⫺ 9 Beke, Ö.: A cseremiszek (marik) ne´pkölte´szete e´s szoka´sai (Volksdichtung und Volksbräuche der T.) 1. Bud. 1951; id.: Mari szövegek (Tscheremiss. Texte) 1, 3⫺ 4. Bud. 1957/61/61; t. 2. ed. J. Pusztay. Savariae 1995; id.: Tscheremiss. Märchen, Sagen und Erzählungen. Hels. 1938. ⫺ 10 Lach, R.: Gesänge russ. Kriegsgefangener. 1,3: Tscheremiss. Gesänge. Wien/ Lpz. 1929. ⫺ 11 Lewy, E.: Tscheremiss. Texte 1⫺2. Hannover 1925/26. ⫺ 12 z. B. Ibatov, S.: Poslovicy i pogovorki marijskogo naroda (Sprichwörter und Redensarten des tscheremiss. Volks). Josˇkar-Ola 1953; Marij kalykyn jomaksˇe, ojlymasˇyzˇe, tusˇtyzˇo, tosˇto mutsˇo, muryzˇo (Märchen, Erzählungen, Rätsel, Sprichwörter, Lieder des tscheremiss. Volks). ed. M. Vasil’ev. M. 1931; Marijskie narodnye pesni (Tscheremiss. Volkslieder). ed. S. Podelkov. M. 1955; Marijskie skazki ˇ etkarev. Len. (Tscheremiss. Märchen). ed. K. A. C 1941/Josˇkar-Ola 1948; Marijskie narodnye skazki ˇ etkarev. (Tscheremiss. Volksmärchen). ed. K. A. C Josˇkar-Ola 1955⫺56. ⫺ 13 Marijskij fol’klor. Mify, legendy, predanija (Die tscheremiss. Volksüberlieferung: Mythen, Legenden, Erzählungen). ed. V. Akcorin. Josˇkar-Ola 1991; Skazki lugovych mari (Märchen der Wiesentscheremissen). Josˇkar-Ola 1992; Pesni vostocˇnych mari (Lieder der östl. T. ). JosˇkarOla 1994; Skazki gornych mari (Märchen der Bergtscheremissen). Josˇkar-Ola 1995. ⫺ 14 Svod marijskogo fol’klora. Poslovicy i pogovorki (Slg der tscheremiss. Volksüberlieferung: Sprichwörter und Redensarten). ed. A. E. Kitikov. Josˇkar-Ola 2004; Pesni gornych mari (Lieder der Bergtscheremissen). Josˇkar-Ola 2005; Marijskie narodnye zagadki (Tscheremiss. Volksrätsel). Josˇkar-Ola 2006. ⫺ 15 Berdnikov, V. M./Tudorovskaja, E. A.: Poe˙tika marijskich narodnych pesen (Poetik der tscheremiss. Volkslieder). Josˇkar-Ola 1945; Ivanov, I. S.: Marij kalyk lirika (Tscheremiss. Volkslyrik). Josˇkar-Ola 1980; Saarinen, S.: Suomalais-ugrilainen folklore (Finn.-ugr. Folklore). Turku 1990, 14⫺35; Sebeok, T. A.: Structure and Texture. Selected Essays in Cheremis Verbal Art. Den Haag/P. 1974; Vika´r, L./Bereczki, G.: Cheˇ etkarev, K.: remis Folksongs. Bud. 1971. ⫺ 16 C Marijskie predanija o rodo-plemennych bogatyrjach (Tscheremiss. Erzählungen über die frühen Helden
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der Sippe). In: Trudy. Marijskij Naucˇno-Issledovatel’skij Inst. 4 (1951) 157; id.: Marijskie predanija ob Akparse (Tscheremiss. Geschichten über Akpars). In: Ucˇenye zapiski. Marijskij Naucˇno-Issledovatel’skij Inst. 7 (1955) 33⫺80; Sˇirjaeva, P. G.: Novye fol’klornye materialy o marijsko-russkich vzaimootnosˇenijach v period prisoedinenija Povolzˇ’ja k Rusi (Neue Folklorematerialien über die Wechselbeziehungen zwischen T. und Russen in der Zeit der Angliederung des Wolgagebiets an Rußland). In: Marijskaja literatura, iskusstvo i narodnoe tvorcˇestvo. Josˇkar-Ola 1966, 152⫺161; Vasin, K.: Princip istorizma marijskogo fol’klora (Das Prinzip des Historismus der tscheremiss. Folklore). In: Problemy izucˇenija finno-ugorskogo fol’klora. Saransk 1972, 83⫺90. ⫺ 17 Kitikov, A. E.: Marijskie narodnye zagadki (Tscheremiss. Volksrätsel). Josˇkar-Ola 1973; id.: Marij kalykmut muter (Wb. der tscheremiss. Sprichwörter). Josˇkar-Ola 1991; Saarinen (wie not. 15) 138⫺155; ead.: Marilaisen arvoituksen kielioppi (Grammatik des tscheremiss. Rätsels). Hels. 1991. ⫺ 18 Glukhova, N.: Structure and Style in Mari Charms. Szombathely 1997; Marij kumaltysˇ mut (Tscheremiss. Gebete). ed. N. S. Popov. JosˇkarOla 1991; Saarinen (wie not. 15) 127⫺137; ead.: Die Sprache der tscheremiss. Gebete. In: Ural-Altai. Jbb. N. F. 11 (1992) 44⫺61. ⫺ 19 Spiridonov, A.: Jugorno. Pesn’ja o vesˇcˇem puti (Der Weg des Zauberspruchs. Lied von der weisen Reise). Josˇkar-Ola 2002 (mit tscheremiss.Übers.).
Turku
Sirkka Saarinen
Tscherkessen J Adygeer
Tschuwaschen, Turkvolk von knapp zwei Millionen Sprechern mit kompaktem Siedlungsgebiet an der mittleren Wolga, das im Osten an das der ebenfalls turksprachigen J Tataren angrenzt. Die T. leben seit langem in engem Kontakt mit den nördl. von ihnen siedelnden finno-ugr. Mari, bes. den Bergmari (J Tscheremissen), während die Beziehungen zu den gleichfalls finno-ugr. J Mordwinen im Südosten wohl stets weniger intensiv waren. Zu den Udmurten (J Wotjaken), mit denen sie die Geschichte eng verbindet, besteht praktisch kein direkter Kontakt mehr1. Die sprachlichen Vorfahren der T. lösten sich als erste aus dem urtürk. Stammesverband in Asien. Ihr Auftreten in Europa wird Ende des 5. Jh.s von byzant. Quellen bezeugt2. Während ein Teil von ihnen mit den Ur-Ungarn nach Westen zog und letztlich als Donau-
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Tschuwaschen
bolgaren die Entstehung Bulgariens bewirkte, gründete ein anderer in der Nähe des jetzigen Siedlungsgebietes der T. im 8./9. Jh. als Wolgabolgaren ein bedeutendes Reich, das u. a. die Aufspaltung der Ur-Permier in die Komi (J Syrjänen) und Udmurten zur Folge hatte3. Die islam. geprägte Kultur der Wolgabulgaren kannte nach Ausweis von Epitaphen aus dem 13./14. Jh. Schriftgebrauch4. Zwischenzeitlich verloren gegangen, verbreitete er sich neuerlich erst nach der Einführung der phonematischen Schreibung durch den Pädagogen und Aufklärer I. J. Jakovlev (1848⫺1930)5. Heute bekennen sich die T. mehrheitlich zum Christentum, es sind aber noch viele vorchristl. Vorstellungen und Riten lebendig. Die komplexe Geschichte der T. schlägt sich auch in ihren Überlieferungen nieder. So finden sich neben ererbten türk. Sujets auch solche iran., kaukas., finno-ugr. und bes. russ. Herkunft. Die Sage von J Meleager (AaTh/ ATU 1187) könnten die T. von den Griechen übernommen haben6. Die ersten Sammler tschuwasch. Folklore waren in Rußland tätige Forscher wie A. A. Fuks7, V. A. Sboev8 und S. M. Michajlov9. Für die westl. Forschung waren die Reisen des Finnen H. Paasonen (1900)10 und des Ungarn G. Me´sza´ros (1906)11 von großer Bedeutung12. Eine 1908 in Simbirsk herausgegebene Slg von ,Märchen und Überlieferungen der T.‘ wurde jedoch nur zur Täuschung der Behörden so benannt. In Wirklichkeit enthielt sie u. a. die (eventuell durch das finn. J Kalevala angeregte) seit 1879 als Ms. zirkulierende mystischfolkloristische Dichtung Ars´uri (Der Walddämon) von Michail F. Fedorov13 und das später zum inoffiziellen Nationalgedicht der T. avancierte Narspi. Hierbei handelt es sich um die hinsichtlich Form, Genese und Popularität zwischen Folklore und Lit. stehende Dichtung des jugendlichen Autors Konstantin V. Ivanov (1890⫺1915), in der dieser unter Rückgriff auf Motive aus der Volksüberlieferung eine poetisch ausgereifte Schilderung der unglücklichen Liebe zwischen der schönen blonden Narspi und dem armen Setner vorlegte14. Die tschuwasch. Überlieferung unterscheidet terminologisch zwischen (asamla˘) xalap oder jumax ([Zauber-]Märchen, Erzählung), mif (russ. mif: Mythos), legenda (russ. legenda: Sage, Legende), myskara (Witz, Schwank; arab.
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mash˚ ara: Gegenstand des Spotts) etc.15 Die Diktion der narrativen Textformen ist meist einfach, wenngleich keinesfalls schmucklos oder ungelenk. Spezifische Formeln sind den tschuwasch. Märchen fremd, allerdings weisen sie häufig eine formale Kennzeichnung als fiktionale Texte in Gestalt der meist am Ende eines jeden Teilsatzes stehenden Verbalform ,tet‘ (er/ sie/es/man sagt) auf. Die Protagonisten populärer Erzählungen der T. sind oft Tiere, wobei ihre ,Erlebnisse‘ nicht nur der Unterhaltung dienen, sondern auch ätiologischen Charakter besitzen. Ein häufiges Motiv ist die Herstellung des einheimischen J Biers (sa˘ra), von dem die Helden zuweilen ganze Seen anlegen16. Unter den Zaubermärchen häufiger belegt ist AaTh/ATU 720: J Totenvogel17. Die Welt der kleinen Leute spiegelt sich in der Erzählung von Tuj-Tupala, in der ein armer Mann mit einer Kleinigkeit (z. B. Gebäck) zum Markt geht und mit einem Pferd zurückkehrt (cf. AaTh/ATU 1655: cf. Der vorteilhafte J Tausch)18, und im Märchen vom Steinmetz, der trotz harter Arbeit arm bleibt, weshalb ihm der König seine Minister zum ,Rupfen‘ vorbeischickt (AaTh/ATU 921 F*: J Gänserupfen)19. Das Märchen von der schönen Kuline (AaTh/ATU 901 B*: cf. Wie das Essen, so die J Arbeit) ist namengebend für den bisher einzigen Band mit Übers.en tschuwasch. Märchen ins Deutsche20. Alte religiöse Vorstellungen spiegeln sich in den Erzählungen von dem Wesen Ars´uri, das teils als stark behaarte Frau mit Riesenbrüsten, teils als vom Teufel (sˇujttan) besessene Leiche eines Selbstmörders imaginiert wird21. Andere furchteinflößende Wesen sind z. B. der Todesengel Esrel (arab. ¤Azra¯Åı¯l), die Mensch und Vieh verschlingende Schlange As´taxa (pers. ezˇdeha¯: Drache) oder der Zauberer Tuxatma˘sˇ22. Dem Menschen eher wohlgesonnen sind u. a. Pixampar (pers. peig˙ambar: Prophet), der Gott des Viehs und der Wölfe, und Pire˘sˇti (pers. feresˇte: Fee), der das Haus und den Schlaf hütende Engel23. Unter der Bezeichnung Axa˘r samana (Endzeit) faßt man Geschichten zu gefürchteten Naturkatastrophen wie der Sintflut oder Erdbeben zusammen24. Die sog. Ula˘p-Legenden über menschlich handelnde Riesen sind zwischen Zaubermärchen und Sage anzusiedeln25.
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Tubach, Frederic (Fritz) Christian
Epische Dichtungen scheinen bei den T. gänzlich zu fehlen26. Demgegenüber finden sich Sprichwörter (vattisen sa˘maxe˘sem: Worte der Alten)27 und Rätsel (sutmalli oder tupmalli jumaxsem)28 als sog. kleine Formen der Volksdichtung ebenso wie Lieder29 oft übereinstimmend bei den anderen, heute weit verstreut lebenden Turkvölkern. 1
Kappeler, A.: Rußlands erste Nationalitäten. Das Zarenreich und die Völker der mittleren Wolga vom 16. bis 19. Jh. Köln/Wien 1982. ⫺ 2 Zimonyi, I.: The Origins of the Volga Bulghars. Szeged 1990, 39; Moravcsik, G.: Byzantinoturcica 1. B. 1958, 108. ⫺ 3 Ro´na-Tas, A.: The Periodization and Sources of Chuvash Linguistic History. In: id. (ed.): Chuvash Studies. Wiesbaden 1982, 113⫺169, hier 154. ⫺ 4 Ro´na-Tas, A./Fodor, S.: Epigraphica Bulgarica. A volgai bolga´r-török feliratok (Die wolgabolgar.-türk. Inschriften). Szeged 1973; Tekin, T.: Volga Bulgar kitabeleri ve Volga Bulgarcası (Die wolgabulg. Grabinschriften und das Wolgabulgarische). Ankara 1988; Erdal, M.: Die Sprache der wolgabolgar. Inschriften. Wiesbaden 1993. ⫺ 5 Benzing, J.: Das Tschuwaschische. In: Philologiae Turcicae Fundamenta 1. ed. J. Deny u. a. Wiesbaden 1959, 695⫺ 751, hier 700; Aygi, G.: An Anthology of Chuvash Poetry. L. u. a. 1991, XXII. ⫺ 6 Anderson, W.: Die Meleagrossage bei den T. In: Philologus 73, N. F. 27 (1914⫺16) 159⫺161, hier 159 sq. ⫺ 7 Fuks, A. A.: Zapiski o cˇuvasˇach i cˇeremisach Kazanskoj gubernii (Aufzeichnungen über die T. und Tscheremissen des Gouvernements Kasan). Kasan 1840. ⫺ 8 Sboev, ˇ uvasˇi v bytovom, istoricˇeskom i religioznom V. A.: C otnosˇenijach (Alltag, Geschichte und Religion der ˇ uvasˇskie razT. ). M. 1851. ⫺ 9 Michajlov, S. M.: C govory i skazki (Tschuwasch. Gespräche und Erzählungen). Kasan 1853. ⫺ 10 Paasonen, H.: Gebräuche und Volksdichtung der Tschuwassen. ed. E. Karahka/M. Räsänen. Hels. 1949. ⫺ 11 Me´sza´ros, G.: Csuvas ne´pkölte´si gyu˝jteme´ny (Slg tschuwasch. Volksdichtung). 1: A csuvas o˝svalla´s emle´kei (Denkmäler des alten tschuwasch. Glaubens); 2: Közmonda´sok, tala´lo´s-monda´sok, dalok, mese´k (Sprichwörter, Rätsel, Lieder, Märchen). Bud. 1909/12 (Übers. von t. 2 u. d. T. Sbornik cˇuvasˇskogo ˇ eboksary 2000). ⫺ 12 cf. auch Sidorova, fol’klora. C E. S.: Zapisi i publikacii cˇuvasˇskich skazok v XIX⫺ nacˇale XX vv. (Aufzeichnungen und Publ.en tschuwasch. Märchen aus dem 19. Jh. bis zum Anfang des 20. Jh.s). In: Naucˇno-issledovatel’skij institut pri Soˇ uvasˇskoj ASSR. C ˇ uvasˇskij jazyk, vete ministrov C ˇ eboksary 1973, 246⫺276, literatura i fol’klor 2. C hier 246 sq. ⫺ 13 Benzing, J.: Die tschuwasch. Lit. In: Philologiae Turcicae Fundamenta 2. ed. L. Bazin u. a. Wiesbaden 1965, 841⫺861, hier 845; Aygi (wie not. 5) 97. ⫺ 14 Zahemszky, L.: Konstantin Ivanov’s Versification and Chuvash Folk Poetry. In: Ro´naTas (wie not. 3) 275⫺284, hier 276; Waibel, A. N.:
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Das Narspi. Wiesbaden (im Druck). ⫺ 15 Stan’jal, V. P. u. a.: Mifsem, legenda˘sem, xalapsem (Mythen, ˇ eboksary 2004, 7⫺16. ⫺ 16 NiLegenden, Sagen). C ˇ eboksary 1960, kol’skij, N. V.: Jumaxsem (Rätsel). C 102⫺105; Danilov, N. F.: Skazki i predanija cˇuvasˇ ˇ eboksary (Märchen und Überlieferungen der T. ). C 1963, 10 sq. ⫺ 17 Sidorova (wie not. 12) 248. ⫺ 18 Nikol’skij (wie not. 16) 49⫺60. ⫺ 19 Serow, I.: Die schöne Kuline. Tschuwasch. Volksmärchen. B. 2 1971, 70⫺72; Me´sza´ros (wie not. 11) t. 2, 466⫺471; ˇ uvasˇskie narodnye skazki (TschuE˙jzin, P. E.: C ˇ eboksary 1993. ⫺ 20 Serow wasch. Volksmärchen). C (wie not. 19). ⫺ 21 Me´sza´ros (wie not. 11) t. 1, 51 sq. ⫺ 22 Stan’jal (wie not. 15) 267⫺446. ⫺ 23 ibid., 66⫺84. ⫺ 24 ibid., 447⫺459. ⫺ 25 Jumart, G. F.: Xala˘x sa˘maxla˘xe˘ ˇ eboksary 2003, 51⫺77. ⫺ 26 Benzing (Folklore). C (wie not. 13) 843; Vika´r, L./Bereczki, G.: Chuvash Folksongs. Bud. 1979, 73. ⫺ 27 Bläsing, U.: Tschuwasch. Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten. Wiesbaden 1994; Romanov, N. R. (ed.): Vattisen ˇ uvasˇsa˘maxe˘sem, kalara˘sˇsem, sutmalli jumaxsem/C skie poslovicy, pogovorki i zagadki (Tschuwasch. ˇ eboksary Sprichwörter, Redensarten, Rätsel). C 2004. ⫺ 28 Patmar, I. A.: Tupmalli jumaxsem (Rätsel). Kanasˇ 1993. ⫺ 29 Vika´r/Bereczki (wie not. 26) 82⫺85; Benzing, J.: Lieder mit übereinstimmendem Inhalt bei verschiedenen Völkern des Wolga-UralGebietes. In Ural-Altai. Jbb. 25 (1953) 213⫺219.
Frankfurt am Main
Andreas Waibel
Tubach, Frederic (Fritz) Christian, * San Francisco, 9. 11. 1930, dt.-amerik. Germanist und Mediävist. T. lebte seit seinem 3. Lebensjahr im unterfränk. Kleinheubach. 1949 wanderte er in die USA aus. Er studierte seit 1951 am Department of French and German der Univ. of California in Berkeley und wurde 1957 von A. J Taylor mit der Diss. History of the Exemplum in Germany to 1500 promoviert. Bis 1994 lehrte T. in Berkeley Germanistik. Für die Erzählforschung von bes. Interesse sind T.s Forschungen zum ma. J Exemplum, einer Gattung, die moralisierende und didaktische bis hin zu unterhaltenden und komischen Erzählungen umfaßt1. Sein Hauptwerk, der Index Exemplorum. A Handbook for Medieval Religious Tales ([FFC 204]. Hels. 1969), ist das umfangreichste Verz. für diese Gattung. Es enthält eine Auflistung von 5400 Exempla, deren Spektrum von Erzähltypen bis zu Motiven bzw. Handlungselementen reicht. Das dargestellte Material basiert auf 37 gedr. bzw. als Regesten vorliegenden, z. T. anonym erschie-
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Tugenden und Laster
nenen J Exempelsammlungen, die zu den bedeutendsten ma. Quellen zählen, darunter solche von Arnold de Lie`ge (J Alphabetum narrationum), John J Bromyard, J Caesarius von Heisterbach, J E´tienne de Bourbon, J Gregor d. Gr., J Jacques de Vitry, J Odo of Cheriton, Johannes J Pauli, J Pelba´rt von Temesva´r, J Petrus Alfonsus sowie die Slgen J Barlaam und Josaphat, J Gesta Romanorum, J Legenda aurea, J Liber exemplorum, J Libro de los e(n)xemplos, J Mensa philosophica, Der große J Seelentrost, J Speculum laicorum, J Tabula exemplorum, J Vitae patrum. Von der Forschung wurde der Index zum einen als Pionierarbeit und Werk von großem Nutzen gepriesen, zum anderen aber auch wegen der Anordnungsprinzipien (alphabetisch, nach Handlungsträgern bzw. zentralem Gegenstand, Motiv) und der Ausw. der Qu.n (weitgehende Nichtbeachtung nur hs. vorliegender Qu.n) kritisiert2. Auf T.s Modell basieren der Katalog alttschech. Exempla von K. Dvorˇa´k3 und der Katalog ung. protestant. ´ . Dömötör4. Neuere ForPredigtexempel von A schungen über Exempelsammlungen korrigieren einige der von T. skizzierten Inhalte, revidieren das numerische System und erweitern die Systematik5. T.s Index wird weit über den Bereich der Exempelforschung hinaus wahrgenommen; einige Fabelkataloge und hist.komparatistische Arbeiten über Fabeln zitieren T.s Index als Standard-Vergleichsquelle6. Die mit internat. Erzähltypen übereinstimmenden Exempla-Einträge wurden in den ATU aufgenommen. In den 1960er und 1970er Jahren beschäftigte sich T. u. a. mit der dt. ma. Lit.7 und wandte strukturalistische Methoden sowohl auf Exempla als auch auf den Minnesang an8. Spätere Forschungen galten der politisch-hist. Entwicklung Deutschlands im 20. Jh.9 Zwei Bücher, die er in Zusammenarbeit mit seiner Frau verfaßte, handeln von Personen ihrer persönlichen Bekanntschaft: Das eine befaßt sich mit Michael Mann, einem Sohn von Thomas Mann, der als Germanist Kollege von T. in Berkeley war10. Die andere Veröff. enthält die Autobiographien T.s und seines Freundes B. Rosner, eines ung. Juden, deren Erfahrungen zur Zeit des Nationalsozialismus gegensätzlicher nicht hätte sein können11.
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1 T., F. C.: Exempla in Decline. In: Traditio 18 (1962) 407⫺417; id.: A Girl’s Vision of Heaven and Hell (V. 511,2). In: Laographia 22 (1965) 576⫺580. ⫺ 2 Schenda, R.: Stand und Aufgaben der Exempelforschung. In: Fabula 10 (1969) 69⫺85, bes. 76 sq., 80; Oppel, H.: Exemplum und Mirakel. In: Archiv für Kulturgeschichte 58 (1976) 96⫺110, bes. 98⫺100, 105; cf. Rez. J. G. Allee in JAFL 85 (1972) 276⫺278; Rez. F. L. Utley in Speculum 47 (1972) 557⫺561; Rez. M. de Meyer in Fabula 12 (1971) 289⫺292; eine Bewertung auch bei Hebenstreit-Wilfert, H.: Wunder und Legende. Studien zu Leben und Werk von Laurentius Surius (1522⫺1578) […]. (Diss. Tübingen 1972) Tübingen 1975, 117 sq. ⫺ 3 Dvorˇa´k, K.: Soupis starocˇesky´ch exempel/Index Exemplorum Paleo´ .: A mabohemicorum. Prag 1978. ⫺ 4 Dömötör, A gyar protesta´ns exemplumok katalo´gusa (Katalog ung. protestant. Exempel). Bud. 1992. ⫺ 5 z. B. Berlioz, J./Polo de Beaulieu, M. A. (edd.): Les Exempla me´die´vaux. Introduction a` la recherche, suivi des tables critiques de l’Index Exemplorum de F. C. T. P. 1998. ⫺ 6 z. B. Dicke/Grubmüller; Schwarzbaum, Fox Fables, Reg. s. v. T. ⫺ 7 Marchand, J. W./T., F. C.: Der keusche Joseph. Ein mhd. Gedicht aus dem 13.⫺14. Jh. Beitr. zur Erforschung der hebr.-dt. Lit. In: Zs. für dt. Philologie 81 (1962) 30⫺52; T., F. C.: In soˆ hoˆe swebender wunne (MF 125, 10) by Heinrich von Morungen. An Essay on Medieval Symbolic Structures. In: DVLG 43 (1969) 193⫺203; Penn, G./T., F. C.: The Constellation of Characters in the Tristan of Gottfried von Strassburg. In: Monatshefte für dt. Unterricht, dt. Sprache und Lit. 64 (1972) 325⫺333. ⫺ 8 T., F. C.: Strukturanalytische Probleme. Das ma. Exemplum. In: HessBllfVk. 59 (1968) 25⫺29; id.: Zum Problem der inneren Struktur im Minnesang. In: E´tudes germaniques 18 (1963) 155⫺166; id.: Struktur im Widerspruch. Studien zum Minnesang. Tübingen 1977. ⫺ 9 Hoffmeister, G./T., F. C.: Germany. 2000 Years. t. 3: From the Nazi Era to the Present. N. Y. 1986. ⫺ 10 T., F. C. und S. P. (edd.): Michael Mann. Fragmente eines Lebens. Lebensber. und Ausw. seiner Schr. Mü. 1983. ⫺ 11 Rosner, B./T., F. C. und S. P.: An Uncommon Friendship. From Opposite Sides of the Holocaust. Berk. u. a. 2001 (dt. Ausg. Mü. 2002).
Los Angeles
Christine Goldberg
Tugenden und Laster 1. Allgemeines ⫺ 2. Tugenden ⫺ 3. Laster ⫺ 4. Tugend- und Lasterkataloge ⫺ 5. Illustrationen und Personifikationen ⫺ 6. Vermittlungsinstanzen und Erzählüberlieferungen
1 . All ge me in es. Tugend (T.) und Laster (L.) sind zentrale Begriffe der J Ethik. Sie bezeichnen Haltungen, die von der Mehrheit der
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Tugenden und Laster
Gesellschaft als vorbildhaft bzw. als verwerflich eingestuft werden (J Norm und Normverletzung)1 und unterliegen je nach religiöser, nationaler und gesellschaftlicher Prägung unterschiedlichen Gewichtungen2. 2 . T.e n. Die T.lehren der griech. und ma. Philosophen sahen die T. im Zusammenhang mit dem Glück des Menschen. Tugendhaft ist demnach, wer Vernunft, Triebe und Emotionen im Gleichgewicht zu halten vermag. Vielfach aufgegriffen wurde die von Aristoteles (Nikomachische Ethik 2,6,1107a) formulierte Idee vom ,goldenen Mittelweg‘ der T. zwischen zwei Verhaltensextremen. Bereits Platon (Nomoi, Politeia) benannte mit prudentia (J Klugheit), iustitia (cf. J Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit), fortitudo (Stärke [cf. J Tapferkeit und Feigheit]) und temperantia (Maßhalten) die vier Kardinaltugenden (seit dem 4. Jh. als solche bezeichnet). J Paulus (1. Kor. 13,13) ergänzte sie um die drei göttlichen oder theol. T.en fides, spes und caritas (Glaube, Hoffnung, Liebe). Im Gegensatz zu den Zehn Geboten (J Dekalog) sind sie keine Handlungsvorschriften oder Gesetze, sondern erwartete Einstellungen, d. h. ethische Umgangsregeln. J Luthers Ablehnung jeglicher Werkgerechtigkeit in der Fokussierung seiner Theologie auf Schrift, Gnade und Glaube (sola scriptura, sola gratia, sola fides) führte keineswegs zu einer Verringerung moralischer T.leistungen, vielmehr sollten die T.en nun noch stärker als notwendiger Ausfluß des Glaubens verstanden werden. Es ging um die Ausbildung eines Bewußtseins zur Selbstkontrolle. Auch die Rechtslehre kennt das T.phänomen und versucht, normgerechtes Verhalten mit Hilfe von Gesetzen zu erzielen. Religiöse Gemeinschaften wie die Quäker, die Mennoniten, die Hugenotten oder die Hutterer verfügen über einen Kanon von vorbildhaften Verhaltensweisen. Als ,preuß. T.en‘ bezeichnet man einen aus protestant. Moral und dem calvinist. Geist der J Aufklärung entwickelten Kanon von Verhaltensweisen. Dazu zählen soziale und ökonomische Eigenschaften wie Beharrlichkeit, Gerechtigkeitssinn, Pflichtbewußtsein, Pünktlichkeit, J Treue, Unterordnung, Zurückhaltung sowie die Einhaltung sexueller Normen (cf. J Ehe) und die Achtung vor der Natur.
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Diese von staatswirtschaftlichem und soldatischem Interesse geprägten T.en wurden den Untertanen von Friedrich Wilhelm I. und dessen Sohn Friedrich d. Gr. (J Alter Fritz) vorgelebt. In dieser Zeit profilierte sich die Armee als „Erzieherin des Volkes […], die männlichen Bürgern zentrale und politische Werte vermittelte“3. Das Bürgertum kritisierte diesen eingeengten Wertekanon wegen seiner Wiss.s- und Kunstferne in den Debatten des Kulturkampfs im 19. Jh. als ,Kadavergehorsam‘. Die Studentenbewegung der 1968er Jahre verachtete die preuß. T.en angesichts ihrer Rolle im Nationalsozialismus als unmenschlich und diffamierte sie als kaum relevante Sekundärtugenden. In der Folge lösten sich tradierte Verbindlichkeiten zunehmend auf. Strafrecht und Verfassung traten an ihre Stelle. Angesichts wirtschaftlicher Krisen erleben Ordnung, J Fleiß und Sparsamkeit4 in den Wertedebatten zu Beginn des 21. Jh.s eine Renaissance5. 3 . L. Als Gegenbegriff zu T. umfaßt der Bereich der L. sittlich problematische oder verwerfliche Handlungen und Gewohnheiten6. Die Begriffe J Frevel und J Sünde werden z. T. synonym für L. verwandt; eine klare begriffliche Unterscheidung existiert nicht. Die frühjüd. Zwei-Wege-Lehre spricht davon, daß den Menschen die Wahl zwischen J Gut und Böse, T. oder L. offenstehe7. Sie orientiert sich an der Moralphilosophie der Stoa, die korrespondierend zu den vier Kardinaltugenden vier Kardinallaster benennt: stultitia (Torheit, Unbesonnenheit), iniustitia (Ungerechtigkeit), ignavia (Lässigkeit, Feigheit, Schwäche) und intemperantia (Zügellosigkeit) sowie die vier Hauptaffekte maestitia (J Trauer), timiditas (cf. J Furcht, Furchtlosigkeit), cupiditas (Begierde) und voluptas (Lust)8. Der Mönch Johannes Cassianus (ca 360⫺435) machte diese Acht-L.-Lehre der Westkirche zugänglich. J Gregor d. Gr. definierte ein Gefüge von sieben Sünden, welches späteren Beichtspiegeln als Grundlage diente: superbia (Hochmut, Stolz, Ruhmsucht; cf. J Hybris), invidia (Mißgunst, J Neid), ira (J Zorn, Unbeherrschtheit), acedia (Geistes- und Seelenträgheit), avaritia (J Geiz, Raffsucht, Geldgier), gula (Völlerei), luxuria (Wollust, Unzucht; cf. J Ehebruch). In ihnen lag nach ma. Ansicht die Wurzel aller
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anderen L.9 Lasterhaftes Verhalten betrifft nahezu sämtliche Bereiche der ma. Kultur. Die daraus erwachsene unüberschaubare Lit. ergibt ein lebendiges Bild der Sorgen und Wünsche des ma. Menschen10. 4 . T.- un d L .k at al og e. T.- und L.kataloge sind sowohl Lit.typus als auch Sammelund Anordnungsprinzip für Beispielgeschichten (J Exemplum, J Exempelsammlungen). Sie stellen ethisch-moralische Begriffe listenartig zusammen, entweder getrennt oder als Gegensatzpaare angeordnet. Erste Beispiele entstanden im Hellenismus und in der jüd. Weisheitsliteratur, das N. T. weist Doppelkataloge auf (z. B. Gal. 5,19⫺22; Röm. 1,29⫺32). T.und L.kataloge waren neben Dekalog, Glaubensbekenntnis, J Vaterunser u. a. verbindliche Teile des J Katechismus. Ferner stellen sie ein Klassifikationsschema zur Anordnung diffusen Beispielmaterials in der Kompilationsund Kuriositätenliteratur dar. Verschiedenen Berufen und Ständen werden in T.- und L.katalogen bes. Eigenschaften zugeschrieben11, so dem Mönch und der Nonne Armut (cf. J Arm und reich), J Gehorsam, J Demut und J Keuschheit, Pfarrern und Bischöfen die Sünden des Fleisches und der Habgier, Herrschern Beständigkeit und Tapferkeit, Frauen Widerspenstigkeit, Zanksucht und Verschlagenheit (J Frau, Kap. 3.2). Im Lobgesang auf Maria (nach 1293) werden die T.en der hl. Frauen als die ihnen von Gott angelegte Kleidung beschrieben. 5 . I ll us tr at io ne n u nd Pe rs on if ik at io n en. Bereits die röm. Antike kennt allegorische Darstellungen der T.en auf Münzen. In der Regel waren das weibliche Wesen: junge strahlende Mädchen in Siegerpose, herrschende würdevolle Frauen, die den Inhalt der jeweiligen T. bildlich wiedergeben. Die Vielfalt der kaiserlichen T.en im Röm. Reich wurde in sehr unterschiedlichen Zeichen wiedergegeben: Eine Opferschale konnte Glück, Ewigkeit, Eintracht oder Seligkeit kennzeichnen12, ein Zepter Weisheit, Eintracht, Glück oder Fruchtbarkeit, ein Zweig Gleichheit, Weisheit, Glück, ein Steuerruder Glück, Eintracht oder Treue. Weitere T.en wurden durch das Füllhorn, durch Ähren, einen Altar, eine Kugel, einen Schleier symbolisiert. Es gibt kein Attribut,
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das nur einer J Personifikation zukommt. Im MA. hat sich die Kirche „mit Bildern von den Kämpfen der Tugenden gegen die Laster mit scholastischen Schemata oder mit Darstellungen von Tugendpersonifikationen in Buchmalerei, Skulpturenschmuck, Fresken, liturgischem Gerät, Fußbodenmosaiken und Glasmalerei intensiv um die Moraldidaktik bemüht, wobei stets die Bedeutung der Tugenden zur Erlangung des Heils im Vordergrund stand“13. Die vier Kardinaltugenden und die drei paulinischen T.en wurden in Emblemata personifiziert, mit Symboltieren, im Kampf oder paarweise mit den L.n bzw. über diese triumphierend. Im 15. Jh. entwickelte man neue Allegorien und Attribute (z. B. die Kardinaltugend iustitia als Attribut für den Rechtsanwalt, temperantia für den Kaufmann, fortitudo für den Ritter und sapientia für den Kleriker), was sich durch bildliche Darstellungen auf Spielkarten belegen läßt14. Die sieben Bitten des Vaterunsers wurden den sieben Hauptsünden gegenübergestellt15. Letztere tauchen in allegorischen Personifikationen als bestrafte Sünder, als Tiere oder anthropomorphisiert auf Symboltieren reitend auf. Das Spätmittelalter weitete das Tiersystem durch Verbindung mit Körperteilen, Pflanzen und Dämonen aus16. Die Fürstenspiegel (J Speculum principum) des MA.s fungierten als Anleitung zur Erziehung des adligen Nachwuchses und illustrieren das christl. Herrscherideal. Seit dem ausgehenden 15. Jh. popularisierte das J Flugblatt T.en und L. Im Zuge reformatorischer Katechismusexegese mehrten sich im 16. Jh. bibl. orientierte Illustrationen. So brachte z. B. der luther. Schriftsteller Georg Philipp J Harsdörffer 1651 in einem Flugblatt eine Nachdichtung zu Friedrich Spees Güldenem T.-Buch (Köln 1647) heraus. Bildliche T.und L.-Darstellungen finden sich auch in Zeitungsliedern, die nach Bänkelsängerart vorgetragen und danach als Druck verkauft wurden. 6 . Ver mi tt lu ng si ns ta nz en un d E rz äh lü be rl ie fe ru ng en. Die eingängige Vermittlung von T.en und L.n bildete über die Jh.e hinweg eine zentrale Funktion des didaktischen Erzählguts. Das Exemplum diente schon in der Antike der Veranschaulichung tugend- bzw. lasterhaften Verhaltens. Ebenso alt
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Tugenden und Laster
sind die Klagen über den Verfall der T. sowie das Lob der vermeintlich tugendhafteren Landbevölkerung (J Paysan du Danube). Das Prediger-Hb. J Tabula exemplorum (vermutlich 1277) ermahnt zu guten Werken mit rund 400 Exempla, die auf die Bibel, antike weltliche Autoren, die Kirchenväter und ma. Autoren rekurrieren. In den Exempla verwischt sich der Unterschied zwischen L. (nach theol. Verständnis eine mögliche Ursache von Sünde) und Sünde. Oft erinnern solche Beispielgeschichten an die im Dekalog festgelegten religiösen Verhaltensvorschriften. Als vorbildhaft wurden demütige Gottes- und Heiligenverehrung, aufmerksames Hören der Messe, Gastfreundschaft und Großzügigkeit gepriesen, gewarnt wurde vor Meineid (J Eid, Meineid) und lästerlicher Behandlung sakraler Gegenstände (cf. z. B. Die Studentenpassion17), Sonnund Feiertagsfrevel, J Mord, Abtreibung, Unzucht und Ausschweifung, Geiz und J Wucher, Betrug und J Verleumdung. Den J Tanz stufte man als eine der ,Quellsünden‘ der Todund Kardinalsünden ein; Vorbehalte gegen das Tanzen sind noch bis ins 18./19. Jh. in populären Erzählungen greifbar. Die Texte der J Meistersinger des 15.⫺18. Jh.s behandelten Zeitklagen, Ständeschelte, Ehezucht und T.lehre. Das J Predigtmärlein veranschaulichte vom MA. bis in die Barockzeit hinein die von der Kanzel verkündeten Themen. Von den T.- und L.katalogen inspiriert ist auch die Struktur von J Boccaccios Decamerone: Es stellt mit der ersten und der letzten Novelle je ein L. und eine T. einander gegenüber. Im 16./ 17. Jh. dienten im dt.sprachigen Raum die Moralsatiren der J Narrenspiegel und die protestant. J Teufelliteratur als allegorische Gattungen, deren Funktion es war, vor Fehlverhalten und L.n zu warnen. Im ZA. der kirchlichem Dogmatismus skeptisch gegenüberstehenden Aufklärung trat die J moralische Geschichte auf den Plan18. Sie propagierte neue tugendhafte Eigenschaften und Tätigkeiten wie Aufgeschlossenheit gegenüber Neuerungen, Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Sparsamkeit, lebenslanges Lernen ⫺ Eigenschaften, die aus den Lesern tüchtige Mitglieder der auf die Industrialisierung zustrebenden Gesellschaft formen sollten19. Die moralischen Geschichten erschienen unter Titeln wie Kleine Geschichten und Erzählungen für Kin-
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der zur Bildung des sittlichen Gefühls20 oder T.-Spiegel oder die Folgen der guten und bösen Handlungen21 oder T. und L.22 Die von der T. neueröfnete EhrenPforte23 stellt eines der frühesten Kompendien moralischer Geschichten dar; es ist in Form eines Abecedariums (J Lesebuch) angeordnet, angefangen von den ,güldenen Aepffeln‘ bis zur ,rechtmäßigen Züchtigung‘. Bereits die sprechenden Namen in den Überschriften verweisen auf T.en und L. der Protagonisten: Eine schlechte Ehefrau heißt Uebelkraut (num. 23); die keusche Schäferstochter hört auf den Namen Casta (num. 3), der Frauenheld (num. 20) heißt Don Juan. Jeder Text wird durch eine Lehre abgerundet, die Orientierungshilfe und Ratschläge bietet. Exemplifiziert werden in der Ehren-Pforte folgende T.en: Mildtätigkeit (num. 14), Ausdauer (num. 19), Dankbarkeit (num. 22, 29), Ehrlichkeit (num. 2, 11, 29), Fleiß (num. 10, 29), Freundschaft (num. 4, 20), Gottvertrauen (num. 4, 17, 21), Keuschheit (num. 3, 17, 19, 21), Sparsamkeit (num. 27), Treue/ Bruderliebe (num. 16, 19, 27, 29), T.haftigkeit allg. (num. 3, 10, 12, 17), Verschwiegenheit (num. 13). L.: Amtsmißbrauch (num. 17), Faulheit (num. 6), Geiz (num. 15), Hartherzigkeit (num. 2), Mord (num. 21), Neid/Eifersucht (num. 15), Neugierde (num. 16, 26), Prahlsucht/Hochstapelei (num. 5), Streitsucht (num. 15, 23, 28), Trunksucht (num. 28), Vergnügungs- und Spielsucht (num. 11, 23, 27, 39), Vertrauensseligkeit (num. 5, 11, 20), Wollust (num. 26, 32).
Die Volksaufklärer distanzierten sich von den J Kuriositäten und J Sensationen berichtenden Beispielerzählungen des 16./17. Jh.s, die sie für unmoralisch hielten. Ihre moralischen Geschichten dagegen waren nachvollziehbar und also einprägsam; sie entsprachen mit ihren utilitaristischen Inhalten der neuen Auffassung von Ästhetik, wonach alles Vernünftige zugleich auch schön ist, und sind auch von der bis dahin vorherrschenden J Traktatliteratur abzugrenzen, „in der der moralische Unterricht die Gestalt direkter Belehrung annahm und in der Vermittlung von Geboten, Regeln, Anweisungen und Warnungen bestand, die zumeist auswendig zu lernen waren“24. Die Aufklärungspädagogik bezweifelte von Anfang an die Wirksamkeit solcher Unterweisung und setzte ihr die eingängigere Beispielmethode entgegen. J.-F. Marmontel übte mit den Contes moraux (t. 1⫺2. P. 1761 [ 21765]; dt. Übers. t. 1⫺ 5. Karlsruhe 1762⫺70) großen Einfluß auf die dt. Gattungstradition aus25. Zu den Nachahmern zählen Sophie von La Roche26 und Heinrich von Kleist27. Hier läßt sich ein hist.
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Tugenden und Laster
Wendepunkt festmachen. Bis dahin gehen hoch- und volksaufklärerisches Erzählen zusammen, danach aber trennen sich die Wege. Die einen behalten die alten Schemata noch etwa ein halbes Jh. bei; die anderen wenden sich unter dem Einfluß der Anthropologie und Psychologie der Hochaufklärung vom Exempelschema ab und ersetzen das moralischnormative Erzählinteresse durch ein psychol.analytisches. Nicht wie der Mensch idealiter handeln sollte, sondern wie er tatsächlich handelt, ist nun die Frage. Die moralische Erzählung wird zur psychol. Erzählung und bleibt es bis heute. Auch das Märchen war ⫺ vor allem seit der 1. Hälfte des 19. Jh.s ⫺ zu einem wichtigen Werkzeug der Erziehung geworden, indem seine Figuren Entscheidungen über richtiges Verhalten im Sinne bestehender gesellschaftlicher Regeln treffen. Verhaltensnormen bzw. -fehler werden im Märchen genauso thematisiert wie in den moralischen Geschichten28. Zur Popularisierung von T.vorstellungen trug auch bes. Johann Peter J Hebel mit seinen Kalendergeschichten (Schatzkästlein des Rhein. Hausfreundes, 1811 u. ö.) bei29. Er propagiert darin z. B. Gewaltlosigkeit (num. 12), Fleiß (num. 26), Mut (num. 217), Klugheit (num. 20, 103) oder Beharrlichkeit (num. 147). Zu den populären Erzählgattungen, welche für richtiges und falsches Verhalten sensibilisieren, zählen ferner Legenden, Fabeln, Mirakel und Exempel. D.-R. J Moser betrachtet sie den sog. ,Lehrstoffen‘ zugehörig30. Sie preisen z. B. die vom J Patriarchat gewünschten weiblichen Rollenmuster des Gehorsams und der Duldsamkeit. Moralische Geschichten verstehen sich wie die Heiligenviten des MA.s und der Barockzeit oder die erbaulichen Glaubenszeugnisse protestant. Promptuarien als ,Beispiele gelebten Lebens‘ und sind durch das Nachahmungspostulat gekennzeichnet31. Die vorbildhafte Tat wird in den moralischen Geschichten jedoch nicht mehr von einer weit über das Normalmaß hinausgehobenen frommen zentralen Gestalt vorgeführt, sondern von einer Person aus dem Alltag, mit der man sich leicht identifizieren kann. So wird die nachahmende Wiederholung in der Realität vorstellbar und ist gewissermaßen als Säkularisierungsprozeß auf dem Weg von der Heiligenlegende zur Lebensgeschichte sittlich vor-
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bildhafter Personen der bürgerlichen Gesellschaft zu sehen. Dahinter steht der alte rhetorische Dreischritt doctrina ⫺ exempla ⫺ imitatio im Gewand der Pädagogik des 18. Jh.s. Vermeintlich Übernatürliches wird im Kampf gegen den Aberglauben durch naturwiss. Erklärungen auf den Boden der Tatsachen geholt. 1 Stock, K.: T. In: RGG 8 (42005) 650⫺654; Porter, J.: T. In: TRE 34 (2002) 184⫺197; Forschner, M. u. a.: T., T.lehre. In: LThK 10 (32001) 293⫺ 302. ⫺ 2 Bastian, U.: Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm in der lit.pädagogischen Diskussion des 19. und 20. Jh.s. Ffm. 1981; Rödder, A. (ed.): Alte Werte ⫺ neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels. Göttingen 2008. ⫺ 3 Frevert, U.: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland. Mü. 2001, 46. ⫺ 4 cf. Münch, P.: Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der ,bürgerlichen T.en‘. Mü. 1984. ⫺ 5 cf. z. B. Schorlemmer, F. (ed.): Buch der Werte. Mü. 2003; Wickert, U.: Der Ehrliche ist der Dumme. Über den Verlust der Werte. Hbg 19 2005; Harth, M.: Werte und Wahrheit. Paderborn 2008. ⫺ 6 Stock, K.: L. In: RGG 5 (42002) 85⫺89, hier 85. ⫺ 7 Schöllgen, G.: Didache. Zwölf-ApostelLehre. Fbg 1991, 38 sq. ⫺ 8 Vorländer, K.: Geschichte der Philosophie 1. Lpz. 51919, 157. ⫺ 9 ibid., 86. ⫺ 10 Flüeler, C./Rohde, M. (edd.): L. im MA. Vices in the Middle Ages. B. 2008. ⫺ 11 cf. z. B. die Ständesatire Des Teufels Netz. ed. K. A. Barack. Nachdr. Amst. 1968. ⫺ 12 Molsdorf, W.: Christl. Symbolik der ma. Kunst. Lpz. 21926, 210⫺224; Maser, E. A. (ed.): Baroque and Rococo Pictorial Imagery. N. Y. 1971. ⫺ 13 Bautz, M.: Virtutes. Studien zu Funktion und Ikonographie der T.en im MA. und im 16. Jh. B. 1999, 166; Evans, M.: T.en und L. In: LCI 4 (1990) 380⫺390. ⫺ 14 cf. EM 7, 1055; Hens, H.: Verspielte T., spielbares L. Studien zur Ikonographie des Kartenspiels im 15. bis 16. Jh. Aachen 2001. ⫺ 15 MPL 175, 405⫺414 (Hugo von St.-Viktor, De quinque septenis). ⫺ 16 Bautz (wie not. 13). ⫺ 17 Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. Lpz. 1853, num. 609; cf. auch Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 104⫺116. ⫺ 18 Alzheimer-Haller, H.: Hb. zur narrativen Volksaufklärung. Moralische Geschichten 1780⫺1848. B./ N. Y. 2004, 302⫺304. ⫺ 19 ibid. ⫺ 20 Löhr, J. A. C.: Kleine Geschichten und Erzählungen für Kinder zur Bildung des sittlichen Gefühls. Zunächst zum Gebrauch beim häuslichen Unterricht. Lpz. 1799. ⫺ 21 Lange, E. W. H.: T.-Spiegel oder die Folgen der guten und bösen Handlungen in kleinen gemüthlichen Erzählungen für die Fassungskraft des ersten Kindesalters. Nürnberg/Lpz. 1826. ⫺ 22 T. und L. Ein Geschenk für Kinder, welche die erste lieben und das letztere hassen. Mainz [1845] (ein Invalide erzählt kleine Geschichten u. a. vom Brand Moskaus
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Tundalus’ Vision ⫺ Tunesien
1812, vom Brand Hamburgs 1842, von Wilhelm Tell etc.). ⫺ 23 Die von der T. neueröfnete Ehren-Pforte in welcher drey und dreysig anmuthige und lehrreiche Geschichte enthalten. Sowohl für die Jugend als auch für erwachsene Personen zu einem angenehmen Zeitvertreib abgefasset 1. Nürnberg [1765]. ⫺ 24 Ewers, H.-H.: Kinder- und Jugendlit. der Aufklärung. Stg. 1991, 22. ⫺ 25 Schlüter, G.: Kleist und Marmontel. Nochmals zu Kleist und Frankreich. In: Arcadia 24 (1989) 13⫺24, hier 18. ⫺ 26 [La Roche, S. von:] Moralische Erzählungen der Frau Verfasserin der Pomona 1⫺2. Speyer 1783/84. ⫺ 27 Conrady, K.-O.: Das Moralische in Kleists Erzählungen. In: Müller-Seidel, W. (ed.): Heinrich von Kleist. Darmstadt 1967, 707⫺735. ⫺ 28 cf. KHM/Uther 3, 242⫺ 249; Solms, W.: Die Moral von Grimms Märchen. Darmstadt 1999. ⫺ 29 Zuletzt Franz, K.: Kalendermoral und Deutschunterricht. Johann Peter Hebel als Klassiker der elementaren Schulbildung im 19. Jh. Tübingen 1995; Bee, G.: Aufklärung und narrative Form. Studien zu den Kalendertexten Johann Peter Hebels. Münster/N. Y./Mü./B. 1997. ⫺ 30 Moser, D.-R.: Märchenforschung. Würzburg/Mü. 1981, 59. ⫺ 31 cf. Brückner, 646⫺703.
Bamberg
Heidrun Alzheimer
Tundalus’ Vision J Vision, Visionsliteratur Tunesien. Die hist. Epoche T.s beginnt ca 1100 v. u. Z. mit der Kolonisierung des von Berberstämmen bewohnten Landes durch die Phönizier, deren kommerzieller und politischer Einfluß mit den Pun. Kriegen durch Rom beendet wurde. Ab 146 v. u. Z. (Zerstörung von Karthago) stand T. zunächst unter röm. Herrschaft, seit 439 n. u. Z. unter Herrschaft der Wandalen, seit 533 der Byzantiner. 665⫺698 wurde das Land von den Arabern erobert, die es unter wechselnden Dynastien regierten. Prägend war bes. die Invasionswelle der ursprünglich von der Arab. Halbinsel stammenden Banu¯ (Banı¯) Hila¯l seit 1051. Nach der Eroberung durch die Osmanen 1574 gewährte die Hohe Pforte T. erst 1871 Autonomie. 1881⫺1955 war T. frz. Protektorat; 1957 wurde die Republik ausgerufen. Ethnisch ist die Bevölkerung T.s weitgehend arab.; der Berberanteil beträgt heute deutlich weniger als 1 % der über neun Millionen Einwohner. Ca 99 % der Tunesier sind sunnit. Muslime; daneben existieren jüd. und christl. Minderheiten (ca 20000 Juden, ca 18000 Katholiken).
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Zahlreiche Slgen und Unters.en der tunes. Erzähltradition befassen sich mit den Überlieferungen über die Wanderungen der Banu¯ Hila¯l (J Arab.-islam. Erzählstoffe, Kap. 7)1. Diese Publ.en zeichnen sich durch eine breite Skala fachlicher und methodischer Ansätze aus und befassen sich mit einer oder mehreren kulturellen Gemeinschaften in T. Gewöhnlich haben die Sammler die Orig.vorlagen in tunes. Arabisch nicht aufbewahrt. Bemerkenswerte Ausnahmen bilden die Arbeiten von H. J Stumme aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jh.s2, von M. Marzu¯qı¯ aus der Mitte des 20. Jh.s3 sowie von M. Galley und ¤A. Ayoub vom Ende des 20. Jh.s4. Der Sprachwissenschaftler Stumme sammelte und analysierte unterschiedliche Formen der Volkspoesie, darunter Märchen, Lieder und Gedichte. Die Berbertexte zeichnete er laut P. Provotelle in Tunis von einem Informanten aus Matmata auf 5. Der tunes. Folklorist Marzu¯qı¯ legte Erzählsammlungen in tunes. Arabisch vor. Zeitbedingt und aufgrund der Präferenz des Hocharabischen vor den Dialekten wurden einige seiner bekannteren Publ.en in eine quasi hocharab. Form gebracht6. Sein posthum erschienenes Werk über die Banu¯ Hila¯l bringt Begebenheiten, Stämme und Schauplätze, die aus Performanzen des Epos erschließbar sind, mit hist. belegbaren Stämmen und Örtlichkeiten in Zusammenhang7. Galley und Ayoub veröffentlichten eine akribische Unters. von drei Erzählungen über die Banu¯ Hila¯l in T.8, wobei sie auch Kontextdaten liefern und metanarrative Kommentare geben. Darüber hinaus machen sie komparatistisch auf Verbindungen und Gemeinsamkeiten mit Volksromanen der anderen arab. Länder aufmerksam.
T. besitzt im Gegensatz zu anderen Regionen des Maghreb keine bedeutenden wiss. Slgen volkstümlicher Erzählungen9. Die vorliegenden Publ.en sagen wenig über Strukturen oder Kontexte aus10; viele der Slgen sind eher für ein allg. Publikum bestimmt11. Tunes. Unters.en des späten 20. und frühen 21. Jh.s analysieren Texte oft auf der Ebene der kollektiven Phantasie (J Kollektivität, Kollektivbeˇ uwailı¯ bietet mit seiner Anwußtsein): M. G thropologie der Volkserzählung eine psychosoziale Studie über Gerechtigkeit12, A. Bouhdiba beschäftigt sich mit Volkserzählungen für Kinder13, M. Hejaiej analysiert die Erzählungen älterer Frauen aus der oberen städtischen Mittelschicht14, und S. Webber hat Geschichten über persönliche Erlebnisse (Oral history) älterer Männer aus einer weniger urbanen
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Tunesien
Umgebung und von unterschiedlicher sozialer Herkunft untersucht15. Wichtige Daten zum sozialen Kontext der tunes. Erzählüberlieferung bietet auch die linguistische Studie von W. Marcais und A. Guiga, etwa Berichte über Erzählanlässe wie Hochzeiten, Sportveranstaltungen, Ernte, Kuskus-Zubereitung oder Richtfeste16. Zum Erzählgut der berber. Bevölkerung im heutigen T. liegen im Vergleich zu anderen Regionen des Maghreb nur wenige Studien vor17. Ein bes. Forschungsgebiet stellt die Lit. und Volksüberlieferung der jüd. Bevölkerung T.s dar18. Hist. gesehen war T. lange Zeit aufgrund der hier entstandenen Übers.en und Publ.en von Werken der hebr. Lit. eines der wichtigen Zentren des Judentums, und noch im 20. Jh. sind zahlreiche Erzählungen der jüd. Bevölkerung dokumentiert worden (J Jüd. Erzählgut, Kap. 5). Unters.en tunes. Volkserzählungen weisen oft auf die Vermischung von Medien oder Gattungen hin. So werden etwa Darstellungen von Helden der Erzählungen in der Volkskunst besprochen, es gibt Anspielungen auf Filme oder Stücke, denen Volkserzählungen zugrunde liegen, oder es werden mit den Erzählungen in Zusammenhang stehende Sprichwörter erwähnt. Die Vermischung von Medien und Gattungen ist u. a. charakteristisch für das Hila¯li-Epos, das z. T. mit Musikbegleitung aufgeführt wird, vielfach Poesie und Prosa verflicht und wie Volkserzählungen Rätsel und Sprichwörter einbaut19. Die Verbindung narrativer Formen mit populären Glaubensvorstellungen bespricht T. Tobi anhand von jüd. und islam. Erzählungen aus T., in denen Eulen für Schadenzauber und Siebe für ihre Bekämpfung stehen20. Zahlreiche kleinere Studien und Textsammlungen zur Erzählüberlieferung sind in lokalen Zss. wie La Kahe´na, Magˇallat al-funu¯ n wa-’ttaqa¯lı¯d asˇ-sˇa¤bı¯ya (Zs. für populäre Künste und Traditionen), Revue tunisienne, Revue de l’Inst. de Belles Lettres Arabes, H ø aya¯t atß-tßaqa¯fa (Das Leben der Kultur), Cahiers des arts et traditions populaires, La Revue indige`ne oder übergreifenden Zss. wie der Revue des traditions populaires (1886⫺1914) oder dem J. asiatique (1822 sqq.) zu finden. Der bibliogr. Überblick von A. Louis führt bis 1977 die mei-
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sten von ihnen an21. Tunes. Märchen sind im arab. Typenindex von H. El-Shamy ausgewertet22. 1 Bel, A.: La Djazya, chanson arabe pre´ce´de´e d’observations sur quelques le´gendes arabes et sur la geste des Beni-Hilal. In: J. asiatique 10 (1903) 311⫺ 366; Guiga, A.: La Geste hilalienne 1⫺2. Tunis 1968; Baker, A.: The Hilali Saga in the Tunisian South. Bloom. 1978; Saada, L.: La Geste hilalienne. Version de Bou Thadi (Tunisie). P. 1985. ⫺ 2 Stumme, H.: Tunis. Märchen und Gedichte. Eine Slg prosaischer und poetischer Stücke im arab. Dialecte der Stadt 1⫺2. Lpz. 1893; id.: Neue tunis. Slgen. In: Zs. für afrik. und ozean. Sprachen 2 (1896) 97⫺140; cf. Lidzbarski, M.: Einige Bemerkungen zu Stummes Tunis. Märchen. In: ZDMG 4 (1894) 666⫺670. ⫺ 3 al-Marzu¯qı¯, M.: Al-Adab asˇ-sˇa¤bı¯ fı¯ Tu¯nis (Die ˇ azya al-hila¯liya. Volkslit. in T. ). Tunis 1967; id.: Al-G Qisøsøa min at-tura¯tß asˇ-sˇa¤bı¯ (Die gˇazya der Banu¯ Hila¯l. Eine Erzählung aus der Volksüberlieferung). Tunis 1978; id.: ¤Ala¯ ha¯misˇ as-sı¯ra al-hila¯lı¯ya (Anmerkungen zum Hila¯li-Epos). Tunis 2002. ⫺ 4 Ayoub, ` Propos d’une A./Galley, M.: Images de Djazya. A peinture sous verre de Tunisie. P. 1977; Galley, M./ Ayoub, A.: Histoire des Beni Hilal et de ce qui leur advint dans leur marche vers l’ouest. Versions tunisiennes de la geste hilalienne. P. 1983; Ayoub, A.: The Hilali Epic. Material and Memory. In: Revue d’histoire maghribine 35⫺36 (1984) 189⫺217. ⫺ 5 Provotelle, P.: E´tude sur la Tamazir’t ou Ze´natia de Qalaaˆt es-Sened (Tunisie). P. 1911. ⫺ 6 Marzu¯qı¯ 1967 und 1978 (wie not. 3). ⫺ 7 id. 2002 (wie not. 3). ⫺ 8 Ayoub/Galley (wie not. 4). ⫺ 9 cf. Louis, A.: Le Conte populaire, en face des apports divers des mass-media, a-t-il encore, dans la Tunisie d’aujourd’hui, une fonction culturelle? In: SF 20 (1976) 241⫺251. ⫺ 10 Dundes, A./Bradai, T.: Tales of a Tunisian Trickster. In: SFQ 27 (1963) 300⫺315. ⫺ 11 Largeau, V.: Flore saharienne. Histoires et le´gendes traduites de l’arabe. P. 1879; Labonne, A.: L’E´pervier d’or. Contes et le´gendes de la re´gence de ` Tunis Tunis. Lyon 1920; Voligny, R. Bouquero de: A derrie`re les murs. Contes et le´gendes. Tunis 1923; Raunay, J.: Contes tunisiens. P. 1931; Mzali, H.: Contes de Tunisie. Tunis 1949; Paollilo, M.: Contes et le´gendes de Tunisie. P. 1953; Aslan, M.: Contes du vendredi (Contes tunisiens). Tunis 1954; al-¤Irwı¯, ¤A.: H ø ika¯ya¯t al-¤Irwı¯ (Die Geschichten von al-¤Irwı¯). Tunis 1978; Laroui, A.: Vieux Contes de Tunisie. Algier/Tunis 1978; Houri-Pasotti, M.: Contes de Ghazala. P. 1980; Ben Hammadi, S.: Dira¯sa¯t fı¯ ’l-asa¯tø¯ır wa-’l-mu¤taqada¯t al-g˙aibı¯ya (Unters.en zu Mythen und abergläubischen Vorstellungen). Tunis 1983; alBaqlu¯tı¯, an-N.: H ø ika¯ya¯t sˇa¤bı¯ya min Tu¯nis/Contes ˇ uwailı¯, populaires de la Tunisie. Sfax 1988. ⫺ 12 G M.: Antru¯bu¯lu¯gˇiyat al-hø ika¯ya. Dira¯sa antru¯bu¯lu¯gˇiya fi hø ika¯ya¯t sˇa¤bı˜ya Tu¯nisı¯ya (Die Anthropologie der Erzählung. Eine anthropol. Unters. tunes. Volkserzählungen). Tunis 2002. ⫺ 13 Bouhdiba, A.: L’Imagi-
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Tünger, Augustin
naire maghre´bin. E´tude de dix contes pour enfants. Tunis 1977. ⫺ 14 Hejaiej, M.: Behind Closed Doors. Women’s Oral Narratives in Tunis. New Brunswick, N. J. 1996. ⫺ 15 Webber, S.: Romancing the Real. Folklore and Ethnographic Representation in North Africa. Phil. 1991; cf. auch ead.: Women’s Folk Narrative and Social Change. In: Women and the Family in the Middle East. ed. E. Fernea. Austin 1985, 310⫺316; ead.: Connaissance narrative et l’histoire d’un reˆve. In: Revue de l’Inst. des Belles Lettres Arabes 187 (2000/01) 39⫺50. ⫺ 16 Marcais, W./Guiga, A.: Textes arabes de Takrouna 1. P. 1925. ⫺ 17 Stumme, H.: Märchen der Berber von Tamazratt in Südtunisien. Lpz. 1900; Provotelle (wie not. 5); Laoust, E.: Mots et choses berbe`res. P. 1920; cf. Webber, S.: Arabic and Berber Oral Traditions in North Africa. In: The Cambr. History of African and Caribbean Literature. Cambr. 2004, 49⫺70. ⫺ 18 Cazes, D.: Notes bibliographiques sur la litte´rature juive tunisienne. Tunis 1893; Euse`be, V.: La Litte´rature populaire des Israe´lites tunisiens. P. 1904⫺ 07; Vehel, J./Danon, V./Ryvel: La Hara conte … Folklore jude´o-tunisien. Tunis 1929; Noy, D.: Jewish Folktales from Tunis. Jerusalem 1966. ⫺ 19 Webber, S.: Tunisian Storytelling Today. In: Traditional Storytelling Today. ed. M. R. MacDonald. L./Chic. 1999, 356⫺364. ⫺ 20 Tobi, T.: Le Tamis et la chouette comme forces magiques contradictoires dans le folklore tunisien juif et musulman. In: Entre Orient et Occident. Juifs et Musulmans en Tunisie. ed. D. Cohen-Tannoudji. P. 2007, 159⫺169. ⫺ 21 Louis, A.: Bibliogr. ethno-sociologique de la Tunisie. Tunis 1977. ⫺ 22 El-Shamy, Types, 1218.
Columbus Ohio
Sabra Webber
Tünger, Augustin, *Endingen am Kaiserstuhl 1455, † Konstanz vor dem 5. 7. 1510, dt. Jurist, Verf. einer lat.-dt. Slg von Fazetien. Nach dem Artes-Studium in Erfurt (seit 1467, wohl ohne Abschluß) wurde T. zwischen 1474 und 1478 zum Prokurator am bischöflichen Gericht in Konstanz ernannt1. Seit 1496 war er auch Syndikus des Konstanzer Domkapitels, 1501 wurde er württemberg. Reichs- und Hofgerichtsprokurator2. Als alleiniges Werk T.s sind (in einer einzigen Hs.) seine Facetiae erhalten, die er 1486 dem Grafen Eberhard im Bart von Württemberg widmete3. Mit dieser Slg von 54 lat. Fazetien, denen er eine dt. Übers. (für den des Lateinischen nicht mächtigen Grafen) beigab, wollte T. Kontakt zum wichtigsten Förderer des dt. J Humanismus im Südwesten knüpfen. Eine im Widmungsbrief angekündigte Forts. blieb aus. Daß T. jede Fazetie mit einem
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Epimythion ergänzte, wurde als Verstoß gegen Gattungsvorgaben4, aber auch als Interpretation im Sinne humanistischer Moralphilosophie gewertet5. Die Titelgebung könnte auf J Poggios Liber facetiarum zurückgehen. T.s Facetiae sind das erste Werk in Deutschland, das sich programmatisch auf mündl. umlaufende Erzählungen beruft. Im ersten Widmungsbrief bezeichnet T. seine Facetiae als „cluoge geschichten […], so ich von miner kinthait erlernt und in gedechtnüß behalten hab“6. Entsprechend sind die meisten Geschichten in der Bodenseeregion, der Schweiz, im Elsaß und Breisgau angesiedelt. Gewährspersonen oder Protagonisten sind häufig Zeitgenossen aus T.s unmittelbarer Umgebung, mehrfach auch Personen der jüngeren regionalen Zeitgeschichte7. Das Themenspektrum umfaßt buhlerische und betrogene Priester, Wirtshaus- und Studentenabenteuer, komische Begebenheiten auf Reisen oder in der Messe, aber auch Anekdoten im Umkreis von Fehde und Krieg. Trotz zweier Motivparallelen zu Poggio8 ist direkte Abhängigkeit nicht erweisbar; auch sonst sind schriftl. Vorlagen nicht bekannt. Angesichts der unikalen Überlieferung ist eine größere Nachwirkung der Slg unwahrscheinlich. Heinrich J Bebels Facetiae jedoch weisen sechs Parallelen zu T. auf 9, einmal legt übereinstimmender Textbestand Abhängigkeit nahe10. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Ausw.): num. 2 ⫽ Angeblicher Krüppel kann bei schlechtem Wetter laufen. ⫺ 3 ⫽ Priester nackt ausgesperrt. ⫺ 5 ⫽ Schweizer Bauern wollen Leiche eines Konstanzer Offizials fleddern. ⫺ 6 ⫽ Ehemann verspielt Geld, für das er ein Schwein kaufen sollte. ⫺ 9 ⫽ Metzger glaubt, von Gehenktem verfolgt zu werden (Mot. J 2618). ⫺ 10 ⫽ Studenten trinken das Weinfaß ihres Lehrers leer. ⫺ 11 ⫽ Sich demütig verhaltender Mönch wird zum Abt gewählt und zeigt dann sein wahres Gesicht (Mot. J 703.1; Tubach, num. 15). ⫺ 13 ⫽ AaTh/ATU 1624 B*: J Speckdieb. ⫺ 15 ⫽ Jagdhunde sind so gut bei Stimme, daß sie Chorsänger sein könnten. ⫺ 16 ⫽ Mönch als vermeintlicher Söldnerführer verbrannt. ⫺ 17 ⫽ Pfarrer von Bauern bei Epidemie lebendig begraben. ⫺ 22 ⫽ Armer Bauer verzögert Schlachtung bis zur Fastenzeit. ⫺ 30 ⫽ AaTh/ATU 1379: Wife Deceives Husband with Substitute Bedmate. ⫺ 32 ⫽ Konstanzer Witzbold führt einen Bauern nackt vor (J Pfaffe vom Ka[h]lenberg). ⫺ 35 ⫽ Gefräßiger Bauer muß bittere Medizin trinken. ⫺ 39 ⫽ Geliebte eines Studenten verwechselt Parfüm mit Tinte. ⫺ 41 ⫽ Böse Ehefrau
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schlägt Knecht. ⫺ 42 ⫽ Advokat traut sich nicht, vor seiner Frau ins Bad zu gehen. ⫺ 44 ⫽ AaTh/ ATU 1739: J Priester soll Kalb gebären. ⫺ 45 ⫽ Vater zeigt Sohn einen Betrunkenen; der Sohn fragt, wo es den Wein gebe (Mot. J 1121.1)11. ⫺ 46 ⫽ Betrunkene ,waten‘ durch den Schatten des Straßburger Münsters. ⫺ 49 ⫽ In einer Streitsache vor Friedrich III. spricht der Ritter Tschechisch, weil der Opponent sich des Lateinischen bedient hat. ⫺ 51 ⫽ Priester wünscht am Neujahrstag Bauern zum Teufel. ⫺ 54 ⫽ Entlaufenes Schwein findet nach Hause. 1
Honemann, V.: T., A. In: Verflex. 9 (21995) 1146⫺ 1148; Mertens, D.: Eberhard im Bart und der Humanismus. In: Maurer, H.-M. (ed.): Eberhard und Mechthild. Stg. 1994, 35⫺81, bes. 65 sq.; Bärmann, M.: Zur Herkunft und zum literaturgeschichtlichen Umfeld A. T.s. In: Zs. des Breisgau-Geschichtsvereins „Schau-ins-Land“ 126 (2007) 89⫺99. ⫺ 2 Krebs, M.: Die Protokolle des Konstanzer Domkapitels. Lfg 5. Karlsruhe 1956, num. 3979. ⫺ 3 Keller, A. von (ed.): A. T.s Facetiae. Tübingen 1874; cf. Vollert, K.: Zur Geschichte der Facetienslgen des XV. und XVI. Jh.s. B. 1912, 26⫺33; Honemann, V.: Zu A. T. und seinen Fazetien. In: Festschr. W. Haug/B. Wachinger. Tübingen 1992, 681⫺693; Kipf, J. K.: Cluoge geschichten. Humanistische Fazetienslgen im dt. Sprachraum. (Diss. Erlangen 2005). Stg. 2010, 126⫺155. ⫺ 4 Barner, W.: Überlegungen zur Funktionsgeschichte der Fazetien. In: Haug, W./Wachinger, B. (edd.): Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jh.s. Tübingen 1993, 287⫺310, hier 299. ⫺ 5 Kipf (wie not. 3) 202⫺208. ⫺ 6 von Keller (wie not. 3) 4; ibid., 7 (lat.). ⫺ 7 cf. Kipf (wie not. 3) 192⫺199. ⫺ 8 Poggio, num. 73, 238 (cf. T., num. 45, 30). ⫺ 9 Bebel/Wesselski 1, num. 18, 29; ibid. 2, num. 18, 148; ibid. 3, num. 59, 98 (cf. T., num. 52, 28, 53, 44, 9, 11). ⫺ 10 ibid., 208⫺212; Bebel/Wesselski 2, num. 18. ⫺ 11 cf. Marzolph, Arabia ridens 2, num. 1189.
München
Johannes Klaus Kipf
Tungusen. Zusammen mit den J Mandschu bilden die T. die Mandschu-tungus. Sprachund Völkerfamilie, die vor allem in Ostsibirien, dem russ. Fernost-Gebiet und dem nördlichsten China lebt (cf. J Sibir. Erzählgut). Zum nordtungus. Zweig gehören die Ewenki (in Rußland ca 30 000), die auf einem riesigen Areal siedeln, das vom Nördl. Polarmeer bis zum Großen und Kleinen Hsingan-Gebirge Chinas und von Gebieten am Ob-Irtysch Westsibiriens bis Sachalin reicht. Die mit ihnen eng verwandten Ewen (oder Lamut; 17 200) leben in Nordostsibirien, auf der
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Tschuktschen-Halbinsel und Kamtschatka. In China gilt die ewenk. Untergruppe der Orotschon (4500; vorwiegend innermongol. Hulunbuir-Gebiet und nördl. Heilongjiang) neben den Ewenki (19 000; früher z. T. als Solon bezeichnet; innermongol. Gebiete Hulunbuir und Alt-Bargha sowie am Argun) als eigene Minorität. In der Mongolei gibt es burjatisierte Ewenki (sog. Hamnigan) im Flußtal des Onon (ca 4000). Wie die ebenfalls nordtungus. Negidal (400) am Amgun und Amur sind alle diese Völker traditionell nomadisierende Rentierhirten und Jäger, jedoch gebietsweise zur Pferdehaltung und allg. zum mongol. Kulturtyp übergegangen, z. T. auch zum Landbau (Ewenki Burjatiens; meist auch in China). Dagegen spielt bei den südtungus. seßhaften Nanai (früher: Gol’dy; 12 000), Hezhen (in China; 2000) und Ultscha (3200) am Unterlauf des Amur und seinen Nebenflüssen die Fischerei die Hauptrolle. Während die Orotschi (800) und Udeghe (1550) des pazif. Küstenvorlandes (Primor’e-Gebiet; eine kleine Gruppe Udeghe [chin. Qiakala] in China) Waldjäger, Fischer und Sammler ohne Rentierhaltung sind, ist bei den Orok auf Sachalin (500), wie bei den Nordtungusen, Rentierhaltung von Bedeutung. Das traditionelle Weltbild der T. ist geprägt von sehr alten J jägerzeitlichen Vorstellungen, dem Bärenkult (J Bär), Beseeltheit und Belebtheit aller Wesen (J Animismus) und geschwisterlicher Verbundenheit mit Tieren und Pflanzen, die in der Not helfen. Kennzeichnend für das Weltbild des J Schamanismus bei den T. sind der Weltenfluß oder, bes. bei den Südtungusen, der J Weltenbaum mit den drei Welten, ebenso wie Vorstellungen von mehreren Seelen, Seelenraub und Seelensuche. Die tungus. Kultur ist heute oft nur noch rudimentär erhalten und in vielfacher Weise bedroht (wirtschaftliche Ausbeutung des Landes, kulturelle Fremdeinflüsse). Bes. bei Ewenki und Ewen sind starke Bemühungen zur Bewahrung ihrer Überlieferungen und Sprachen zu beobachten. Die mündl. Überlieferungen der T. wurden zwar seit der 1. Hälfte des 18. Jh.s aufgezeichnet, umfangreiche Slgen erschienen jedoch erst im 20. Jh.1, in China im wesentlichen erst nach 1976 (Ende der Kulturrevolution)2. Übers.en und Unters.en in westeurop. Sprachen zur
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Volksliteratur der T. Rußlands3 wie Chinas4 liegen nur in geringer Zahl vor. Nach einheimischer Auffassung gibt es nur zwei Gruppen von erzählenden mündl. Überlieferungen. Die nimngaka¯n (ewenk.), ningma¯n (nanai.) etc. ⫺ die Wortwurzel steht auch für ,schamanisieren‘5 ⫺ umfassen Mythen, mythisch geprägte Heldenepen und Mythenmärchen; sie spielen in einer unbestimmten Frühzeit, vor dem hist. Gedächtnis. Ihr Vortrag ist z. T. ritualisiert. Die ulgur (ewenk.; bei burjat. Ewenki auch im Sinn von Epos gebraucht), te¯lungu (nanai.) etc. nehmen dagegen eher auf hist. Geschehen Bezug. Hierbei gibt es jedoch viele Überschneidungen, Abweichungen und regionale Eigenarten6. Die nimngaka¯n-Heldenepen werden feierlich deklamiert, die Monologe und Dialoge gesungen7. Vortragende sind oft Schamanen, denen ein Schutzgeist und damit eine Schutzfunktion zugeschrieben wird. Gesungen werden die Epen u. a. bei Kriegen und in anderen gefahrvollen Situationen8. Die Epensänger kennen Berufung und Initiation wie Schamanen, und der Epenvortrag hat viel mit der Schamanensitzung gemeinsam. Für die Epen ist der einsame Held kennzeichnend, der aus Neugier, aus Rache oder zur Brautsuche in die Welt zieht9. Die verborgene Seele des Feindes muß gefunden werden (cf. AaTh/ATU 302: J Herz des Unholds im Ei)10. Weibliche Figuren erscheinen oft in Vogelgestalt11. Sie besitzen nicht allein heilerische Fähigkeiten, sondern nehmen auch an Kämpfen teil; so erscheinen zuweilen kleine Armeen von Kori-Vogelweibchen im Epos der Hezhen12. Der mythische Hintergrund des Kampfs mit Unterweltswesen und der Heirat mit Töchtern von Himmelsgottheiten13 zeigt Entsprechungen zum Olongcho-Epos14 der J Jakuten, wie auch die Epen der anderen tungus. Völker, je nach Region, von den Überlieferungen der J Burjaten15, J Mongolen16 oder Daghuren17 beeinflußt sind. Die nimngaka¯n-Mythen werden deklamiert, nur selten gesungen. Sie sind oft mit Ritualen assoziiert, wie etwa der Mythos von der kosmischen Elchjagd, der den Ursprung von Tag und Nacht behandelt18, und der vom Ursprung der rituellen Bärentötung19. Die Südtungusen kennen den bes. im südl. China verbreiteten Mythos vom Abschuß der überflüssigen J Sonnen am Weltanfang (J Pfeil)20. Der
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südtungus. Mythos vom ersten Sterblichen läßt an mitteliran. Einfluß denken, wie auch die Mythen vom ersten Schamanen eine fremde Herkunft dieses Ideenkomplexes suggerieren21. Die nimngaka¯n-Mythenmärchen werden rezitiert, nur Anrufungen oder schamanische Aussprüche werden gesungen. Zu ihnen gehören die Tiermärchen, die nicht allegorisch oder als Fabeln zu verstehen sind, sondern in mythischer Zeit spielen, ,als die Tiere noch Menschen waren‘22; sie werden oft Kindern erzählt. Die sog. totemistischen Märchen (J Totemismus) führen den Ursprung von Sippen auf Tiere zurück (cf. J Schwanjungfrau). Gemeintungus. ist die Vorstellung von der Abkunft aus einer Bären-Mensch-Verbindung. Heldenmärchen sind oft gekürzte Prosaformen von Epen oder deren Vorform. Das Zaubermärchen im europ. Sinn ist nicht entwikkelt23. Die ulgur bzw. te¯lungu sind in schlichter Sprache gehalten24. Sie berichten von den Wanderungen und Kämpfen bei der Ausbreitung der T. wie auch aus dem Alltagsleben25. So vermitteln sie der jungen Generation etwa richtiges Jagdverhalten, nach dem keinesfalls mehr Tiere als unbedingt erforderlich erlegt werden dürfen (J Jagd, Jagen, Jäger)26. Daneben gibt es noch die siochor (südtungus.), womit Märchen fremder Völker (russ., Mandschu etc.) bezeichnet werden27, sowie seken (ewenk.) genannte Gegenwartserzählungen oder Berichte28. Wie das Singen hat das Erzählen bei den T. nicht nur unterhaltende und erzieherische Ziele, sondern ihm fällt auch die Aufgabe zu, auf die numinosen Kräfte einzuwirken. So muß der Gast abends ein Märchen erzählen, um die Gottheit des Herdfeuers, die das Haus schützt, freundlich zu stimmen (Nanai, Ultscha)29. An Festtagen wie dem Fest des Fischens nach dem Eisabgang im Frühling ist die Mitwirkung guter Erzähler und Epensänger unerläßlich, um den Herrn des Wassers als Besitzer der Fische zu erfreuen und zur Herausgabe seines Eigentums zu bewegen (J Herr der Tiere)30. Die Jäger sitzen vor der Jagd zum Erzählen von Märchen zusammen, nicht zuletzt, um den Herrn der Jagdtiere gefällig zu stimmen, und bitten ihn um Erfolg31. Wenn die zu Hause gebliebenen Frauen die ganze
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Tungusen
Nacht durch Erzählen von Märchen und Sagen mit Jagdthemen die Männer bei der Jagd unterstützen, kommt das eher Beschwörungen gleich32. Sprechen und Erzählen hat generell mit Umsicht zu geschehen, da es auch schädliche Folgen haben kann33. 1 Varlamova, G. I.: E˙picˇeskie i obrjadovye zˇanry e˙venkijskogo fol’klora (Epische und rituelle Gattungen der ewenk. Volksüberlieferung). Novosibirsk 2002, 352⫺374, hier 372, num. 425⫺428 (Negidal); Chasanova, M./Pevnov, A.: Mify i skazki negidal’cev (Mythen und Märchen der Negidal). Kyoto 2003; Novikova, K. A./Hesche, W.: Überblick über die Materialien zur lamut. Folklore. In: Beitr.e zur nordasiat. Kulturgeschichte. Wiesbaden 1978, 2751; Burykin, A. A.: Malye zˇanry e˙venskogo fol’klora (Kleine Gattungen der ewen. Volksüberlieferung). SPb. 2001, 8⫺33; Nanajskij fol’klor. Ningman, siochor, telungu (Die Volksüberlieferung der Nanai. Ningman, siochor, telungu). Novosibirsk 1996, 467 sq.; Istorija i kul’tura nanajcev (Geschichte und Kultur der Nanai). SPb. 2003, 306⫺318; Istorija i kul’tura ul’cˇej v XVII⫺XX vv. (Geschichte und Kultur der Ultscha vom 17. bis 20. Jh.). SPb. 1994, 171; Bereznickij, S. V.: Mifologija i verovanija orocˇej (Mythologie und Glaubensvorstellungen der Orotschen). SPb. 1999, 175⫺182; Fol’klor ude˙gejcev. Nimanku, telungu, eche (Die Volksüberlieferung der Udeghe. Nimangku, telungu, jeche). Novosibirsk 1998, 537⫺545; Petrova, T. I.: Jazyk orokov (ul’ta) (Die Sprache der Orok [ul’ta]). Len. 1967, 126⫺153; Ikegami, J.: Orok Texts. In: Memoirs of the Research Department of the Toyo Bunko 17 (1958) 85⫺95; id.: Some Specimens of the Folk-tales and Songs of the Oroks. In: Minzokugaku kenkyu¯ 27,4 (1963) 627⫺638; Pereverzeva, O. V.: Otkrovenija Michaila Duvana kak projavlenie archaicˇeskogo soznanija (Die Offenbarungen des Michail Duvan als Erscheinungsformen des archaischen Bewußtseins). In: Tradicionnaja kul’tura Vostoka Azii 2. Blagovesˇcˇensk 1999, 239⫺244; Varlamova, G. I.: Mirovozzrenie e˙venkov. Otrazˇenie v fol’klore (Die Weltsicht der Ewenki. Die Widerspiegelung in der Volksüberlieferung). Novosibirsk 2004; ead.: Skazanija vostocˇnych e˙venkov (Die Epen der östl. Ewenki). Jakutsk 2004. ⫺ 2 Xu, Changhan/Huang, Renyuan: Hezhezu wenxue (Die Lit. der Hezhen). Harbin 1991, 439⫺445; Xu, Changhan/Sui, Shujin/ Pang, Yutian: Elunchunzu wenxue (Die Lit. der Orotschon). Harbin 1993, 379⫺384; Huang, Renyuan/Huang, Dingtian/Bai, Shan/Yang, Zhijing: Ewenkezu wenxue (Die Lit. der Ewenki). Harbin 2000, 372⫺374; Poppe, N. N.: Materialy po solonskomu jazyku (Materialien zum Solon.-Ewenk.) Len. 1931; Meng, Huiying: Qiakalaren de gushi (Erzählungen der Udeghe). In: Heilongjiang minjian wenxue 19 (1986) 15⫺61; ead.: Saman yingxiong zhi ge. Yimakan yanjiu (Der Gesang des Schamanenhelden. Forschungen zu den yimakan-Epen). Peking 1998;
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Tünnes und Schäl ⫺ Tür
Ma, Mingchao/Guo, Chonglin: Typen und kulturelle Beziehungen der Epen der nordasiat. Völker in ihrer Endphase. In: Zentralasiat. Studien 24 (1994) 171⫺ 179; Heissig, W.: Zu zwei evenk.-daghur. Var.n des mandschu Erzählstoffes „Nisˇan sˇaman-I bithe“. In: Central Asiatic J. 41,2 (1997) 200⫺230; Heyne, F. G.: Neshun-Saman. Eine Schamanengeschichte der Mergen Oroqen. In: Kleine Beitr.e aus dem Staatlichen Museum für Völkerkunde Dresden 17 (1999) 38⫺48. ⫺ 5 Varlamova 2002 (wie not. 1) 24, 109; Lebedeva, E. P.: O fol’klore nanajcev (Über die Volksüberlieferung der Nanai). In: Avrorin, V. A. (ed.): Materialy po nanajskomu jazyku i fol’kloru. Len. 1986, 3⫺23, hier 14 sq.; Bäcker (wie not. 3) 13. ⫺ 6 Varlamova 2002 (wie not. 1) 111⫺117; Chasanova, M. M.: Problema zˇanrov v fol’klore tunguso-man’cˇzˇurskich narodnostej (Das Gattungsproblem in der Volksüberlieferung der Mandschu-tungus. Völker). In: Jazyki, kul’tura i budusˇcˇee narodov Arktiki. Tezisy dokladov mezˇdunarodnoj konferencii 17.⫺21.6.1993. Jakutsk 1993, 34 sq.; Sem, J. L.: Zˇanrovaja klassifikacija fol’klora nanajcev (Die Klassifizierung der Volksüberlieferung der Nanai nach Gattungen). In: Fol’klor i e˙tnografija narodov Severa. Len. 1986, 30⫺51; Novik, E. S.: K tipologii zˇanrov neskazocˇnoj prozy Sibiri i Dal’nego Vostoka (Zur Gattungstypologie der nicht-märchenhaften Prosa Sibiriens und des Fernen Ostens). In: Fol’klornoe nasledie narodov Sibiri i Dal’nego Vostoka. Gorno-Altajsk 1986, 36⫺47; cf. Bäcker, J.: Neuere russ. Forschungen zur Volkslit. nordasiat. Völker (1986⫺1994). In: Zentralasiat. Studien 27 (1997) 189⫺199. ⫺ 7 cf. Nanajskij fol’klor (wie not. 1) 32⫺ 64; E˙venkijskie geroicˇeskie skazanija (Ewenk. Heldenepen). Novosibirsk 1990, 83 sq., 89⫺124. ⫺ 8 Varlamova, Mirovozzrenie (wie not. 1) 71 sq.; Nanajskij fol’klor (wie not. 1) 17. ⫺ 9 Varlamova 2002 (wie not. 1) 82⫺98; Lebedeva, Zˇ. K.: E˙picˇeskie pamjatniki narodov Krajnego Severa (Epische Denkmäler der Völker des Hohen Nordens). Novosibirsk 1982, 27⫺64; Nanajskij fol’klor (wie not. 1) 18 sq. ⫺ 10 Lebedeva (wie not. 9) 47; Varlamova, Mirovozzrenie (wie not. 1) 64 sq.; Bäcker (wie not. 3) 15⫺24. ⫺ 11 Lebedeva (wie not. 9); Varlamova, Mirovozzrenie (wie not. 1) 32; Bäcker (wie not. 3) 15⫺24. ⫺ 12 Xu, Changhan/Huang, Renyuan: Hezhezu Yimakan „morigen ⫺ kuoli xing“ zuopin de qingjie moshi tanxi (Analysen der Sujetmuster in den Imkan-Epenwerken vom Typ „Mergen ⫺ Kori“ der Hezhen). In: Minzu wenxue yanjiu (1991) H. 3, 9⫺16. ⫺ 13 Varlamova, Mirovozzrenie (wie not. 1) 28 sq. ⫺ 14 Puchov, I. V.: Fol’klornye svjazi narodov Severa (e˙picˇeskie zˇanry e˙venkov i jakutov) (Beziehungen innerhalb der Volksüberlieferungen der Völker des Nordens [epische Gattungen der Ewenki und Jakuten]). In: Tipologija i vzaimosvjazi fol’klora narodov SSSR. Poe˙tika i stilistika. M. 1980, 264⫺281; cf. Varlamova 2002 (wie not. 1) 169⫺174 (nimmt kritisch eine gemeinsame alte vorjakut. und vortungus. Schicht an). ⫺ 15 Voskobojnikov, M. G.: Fol’klor e˙venkov Burjatii (Die Volksüberlieferung der
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Ewenki Burjatiens). Ulan-Ude 1955; id.: Fol’klor e˙venkov Pribajkal’ja (Die Volksüberlieferung der Ewenki am Baikalsee). Ulan-Ude 1967. ⫺ 16 Xu/ Huang (wie not. 2) 159⫺167; Xu/Sui/Pang (wie not. 2) 198; Bäcker (wie not. 3). ⫺ 17 cf. id. 1988 (wie not. 4) num. 24⫺28. ⫺ 18 Anisimov, A. F.: Religija e˙venkov (Die Religion der Ewenki). M./Len. 1958, 68⫺71; Varlamova 2002 (wie not. 1) 31⫺33. ⫺ 19 Vasilevicˇ, G. M.: O kul’te medvedja u e˙venkov (Über den Bärenkult bei den Ewenki). Sbornik Muzeja antropologii i e˙tnografii 27 (1971) 150⫺169; Doerfer 1983 (wie not. 3) num. 26. ⫺ 20 Huang, Renyuan: Tonggusi-Man yuzu zhu minzu de she ri shenhua bijiao (Vergleich der Mythen vom Abschuß der Sonnen bei den Mandschu-tungus.Völkern). In: Heilongjiang minzu congkan (1995) H. 4, 108⫺112. ⫺ 21 Bäcker, J.: Manichaeism, the Khitan and Nanai Mythology. In: Archeologija, e˙tnografija i antropologija Evrazii (im Druck). ⫺ 22 Varlamova 2002 (wie not. 1) 26, 42. ⫺ 23 ibid., 12, 17; Istorija i kul’tura e˙venov (Geschichte und Kultur der Ewen). SPb. 1997, 136; cf. not. 6. ⫺ 24 Lebedeva (wie not. 5) 12; Varlamova 2002 (wie not. 1) 111. ⫺ 25 Vasilevicˇ, G. M.: Otrazˇenie mezˇrodovych vojn v fol’klore e˙venkov (Die Widerspiegelung von Kriegen zwischen Sippen in der Volksüberlieferung der Ewenki). In: Voprosy jazyka i fol’klora narodnostej Severa. Jakutsk 1972, 143⫺160; Voskobojnikov, M. G.: Bytovaja skazka e˙venkov (Das Alltagsmärchen der Ewenki). In: Fol’klor narodov Severa SSSR. Len. 1980, 20⫺52. ⫺ 26 Nanajskij fol’klor (wie not. 1) 28. ⫺ 27 ibid., 26 sq. (bei Hezhen jedoch allg. für Märchen); cf. auch Voskobojnikov 1967 (wie not. 15) 12⫺14; id.: E˙venkijsko-russkie paralleli v volsˇebnoj skazke (Ewenk.-russ. Parallelen im Zaubermärchen). In: Voprosy fol’klora. Tomsk 1965, 38⫺61. ⫺ 28 Varlamova 2002 (wie not. 1) 119. ⫺ 29 Istorija i kul’tura ul’cˇej (wie not. 1) 77; Nanajskij fol’klor (wie not. 1) 17. ⫺ 30 ibid., 16 sq.; Xu/Huang (wie not. 2) 17 sq. ⫺ 31 Potanin, G. N.: Ocˇerki Severo-Zapadnoj Mongolii (Abhdlgen zur nordwestl. Mongolei) 4. SPb. 1883, 697. ⫺ 32 Lebedeva, E. P.: Archaicˇeskie sjuzˇety e˙venkijskoj skazki o zˇivotnych (Archaische Stoffe im ewenk. Tiermärchen). In: Jazyki i fol’klor narodov sibirskogo Severa. M./Len. 1966, 184⫺202, hier ˇ adaeva, A.: Drevnij svet (Die alte 196 sq. ⫺ 33 C Welt). Chabarovsk 1990, 136⫺138.
Gummersbach
Jörg Bäcker
Tünnes und Schäl J Witzfiguren
Tür, Verschluß einer dem Eingang und dem Durchgang dienenden Öffnung in Mauern und Wänden. Neben der Haustür, der als Eingang zum J Haus bes. Bedeutung (auch im Recht)
1021 zukommt1, finden sich vor allem T.en zwischen einzelnen Räumen. Oft gehört zur T.öffnung unten die waagerecht liegende Schwelle (T.schwelle). Im realen wie im übertragenen Sinne markieren T.en eine J Grenze zwischen einem Sicherheit gewährenden Innen- und einem potentiell angsterzeugenden Außenraum, oft zwischen Eigenem und Fremdem, Profanem und Heiligem. Das größere Tor2 markiert als Stadttor die Grenze zwischen J Stadt und Land und signalisiert machtvolle Bewehrung und Herrschaft. T.en, an denen alles Ein- und Ausgehen stattfindet, sind mit ihrer Metaphorik, die sich aus den gegensätzlichen Zuständen offen/geschlossen bzw. Zugehörigkeit/ Ausgeschlossensein speist, sowie mit der hierauf beruhenden Ambivalenz und ableitbaren Ironie in Redensarten3, Sprichwort4, Symbolik5 und Emblematik6 präsent. Mit T.en, bes. Schwellen7, sind vielfältige Vorstellungen verbunden: T.en werden von übernatürlichen Wesen bewohnt; sie sind Ort von Opfer- und Zauberhandlungen, von J Tabu, Abwehr oder Schutz sowie Zentrum von Übergangsriten8. Die T. trennt in der Erzählliteratur, oft im Märchen, in dem sie Träger dramaturgischer Funktionen ist9, das Vertraute, Alltägliche, ,Zivilisatorische‘ und Häusliche vom Fremden, Unerhörten und Wilden. Einlaß fordernd oder erbittend, klopfen Verwunschene, J Dämonen und böse menschliche Gegenspieler an die T.: der Tierbräutigam (AaTh/ATU 440: J Froschkönig), die neidische Stiefmutter (AaTh/ ATU 709: J Schneewittchen), der personifizierte J Tod (sprichwörtlich in der Ankündigung des Sterbens)10 oder der J Teufel, stolz die Zahl der ihm zugefallenen Seelen verkündend (KHM 101, AaTh/ATU 361: J Bärenhäuter). In der Sage steht jedes Pochen an die T. für einen Menschen, der sterben muß11. Im Märchen öffnet sich die T., hinter der sich das J Wasser des Lebens (KHM 97, AaTh/ATU 551), ein J Lebenskraut oder ein Wundervogel (KHM 57, AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter) befindet, auf magische Weise, z. B. durch dreimaliges Schlagen mit eiserner Rute, freilich nur für eine begrenzte Zeit (KHM 97): Dem im letzten Augenblick Hinauseilenden wird von der zuschlagenden T. ein Teil der Ferse genommen (J Fersenklemmen). Verschlossene T.en öffnen sich in Wundererzählungen und Prodigien
Tür
1022 meist (wie) von selbst, als Zeichen göttlicher Willensäußerung, etwa der Epiphanie12. Die Fähigkeit, durch eine geschlossene T. gehen zu können, gilt u. a. als Charakteristikum von J Zauberern, J Hexen, Teufeln oder J Dämonen13. In der Legende öffnen sich Gefängnistüren im Zuge eines Befreiungswunders (J Gefangenschaft) für den christl. Heiligen14; über einen Fluß oder das Meer versandte, über Bord gegangene Kirchentüren werden wundersam an ihr Ziel gebracht (J Schwemmwunder). Das J Verbot, eine bestimmte T. zu öffnen, gehört zu den charakteristischen J Gehorsamsproben in Märchen. Die verbotene T. bzw. das Dahinterliegende zählt zum größeren Komplex der verbotenen Räume15, wobei das verbotene J Zimmer aufgrund des wohl größten Versuchungspotentials ein eigenes Profil gewinnt: Dem Verbot kann der Held oder die Heldin trotz der Androhung des Todes nicht folgen, da dem von J Neugier Geplagten der Zutritt durch Aushändigung eines J Schlüssels auf unwiderstehliche Weise erleichtert wird (z. B. AaTh/ATU 311, 312: J Mädchenmörder). Gemäß der Bedeutung, die im Märchen dem J Letzten zukommt, ist die verbotene T. oft die letzte, z. B. die dreizehnte in KHM 3, AaTh/ATU 710: J Marienkind. Entsprechend einer für bildliches Denken typischen Verräumlichung abstrakter Vorstellungen markiert die T. in zahlreichen Mythen den Übergang vom Leben zum Tod16, den Eingang zu J Jenseits und J Unterwelt. Im ägypt. Mythos17 dienen die Jenseitstüren fast ausschließlich der Abwehr und Ausgrenzung, während die T. in der christl., seit der Bibel an T.motiven reichen, oft eschatologisch motivierten Überlieferung bei aller Ambivalenz (Mt. 25,1⫺13) auch heilsgeschichtliche Gewißheit verkörpert: J Christus als T., durch die die Geretteten gehen (Joh. 10,9). Im Veda und im Avesta werden Sonne, Mond und Sterne als offene Tore gedeutet, durch die das jenseitige Licht des J Himmels in die Menschenwelt hereinscheint18. Die Übertragung der Funktion von Jenseitstüren auch auf T.en im Märchen ist nur in seltenen Fällen plausibel (z. B. KHM 63, AaTh/ATU 402: J Maus als Braut) und bedeutet zumeist, das Märchen einseitigverfälschend als Darstellung einer chthonischen Seelenreise zu begreifen19.
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Tür bewacht
In Mythos, Religion, aber auch Märchen wachen Hüter20 vor der Jenseitstür (J Wache halten), damit nur Auserwählte Zugang erhalten. Dieses Amt übernimmt in christl. Überlieferungen21, oft in Schwänken, der hl. J Petrus, der den Schlüssel zur Himmelstür besitzt, am Himmelstor steht oder hinter der Himmelstür wacht. Oft wird er dabei übertölpelt, z. B. in AaTh/ATU 800: J Schneider im Himmel. Das Bewachen einer T. kann auch in anderen Erzählungen22 schwankhaft-komisch verlaufen, wenn wie in AaTh/ATU 1009: J T. bewacht die Anweisung, auf eine T. aufzupassen, wörtlich genommen wird (cf. auch AaTh/ ATU 1653: J Räuber unter dem Baum). U. a. spielen T.en auch in Trägheitsproben (AaTh/ ATU 1950: J Faulheitswettbewerb) eine Rolle, in AaTh/ATU 1361: J Flut vorgetäuscht und in AaTh/ATU 1337 C: Die lange J Nacht (cf. auch ATU 1293 C*: The Wrong Door): Ein Mann uriniert in der Nacht durch eine Tür nach draußen. Jemand im Haus fragt ihn, wie das Wetter sei. Er antwortet, der Himmel sei bedeckt und es seien keine Sterne zu sehen (er hatte statt der Haustür die Kellertür aufgemacht). 1
Grimm, Rechtsalterthümer 1, 240⫺243 und 2, 717 (Reg. s. v. thür); Weinreich, O.: T.öffnung im Wunder-, Prodigien- und Zauberglauben der Antike, des Judentums und Christentums [1929]. In: id.: Religionsgeschichtliche Studien. Darmstadt 1968, 38⫺ 298, hier 40 sq.; Carlen, L.: T. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 5. B. 1998, 389⫺391; Kaufmann, E.: Haustür. ibid. 2 (1978) 1 sq. ⫺ 2 Heissig, W.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 1⫺2. Wiesbaden 1988, hier t. 1, 141, 155, 209, 212; cf. auch t. 2, 928 sq. (Reg.). ⫺ 3 Röhrich, Redensarten, 1632 (s. v. Tor, Torschluß), 1649⫺1651 (s. v. T. ). ⫺ 4 Wander 4, 1190⫺1200; Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi 12. B./N. Y. 2001, 56⫺60. ⫺ 5 StandDict. 1, 321 sq.; Haight, E. H.: The Symbolism of the House Door in Classical Poetry. N. Y./Toronto 1950; Lurker, M. (ed.): Wb. der Symbolik. Stg. 51991, 773. ⫺ 6 Henkel, A./Schöne, A. (edd.): Emblemata. Stg. 1967, 1235⫺1237, 1334 sq. ⫺ 7 Weiser-Aall, L.: Schwelle. In: HDA 7 (1935⫺36) 1509⫺1543; Haid, O.: T. und T.schwelle. In: Reallex. der german. Altertumskunde 31. B./N. Y. 2006, 317⫺323. ⫺ 8 WeiserAall, L.: T. In: HDA 8 (1936⫺37) 1185⫺1209; Beitl, R.: Wb. der dt. Vk. (Stg. 31974) Nachdr. Stg. 1981, 839 sq. ⫺ 9 Eberhard/Boratav, Reg. s. v. T.; KHM/ Uther 3, Reg. s. v. Tor, T. ⫺ 10 Thesaurus (wie not. 4) 11, 342. ⫺ 11 Brückner, 491, cf. auch 437 sq. ⫺ 12 Weinreich (wie not. 1) 40 sq. ⫺ 13 Brückner, 282; Fischer, E.: Die
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Disquisitionum magicarum libri sex von Martin Delrio als gegenreformator. Exempel-Qu. Diss. Ffm. 1975, num. 14, 93; Tubach, num. 1751 (Abwehrzauber); cf. auch Tubach, num. 1748⫺1750. ⫺ 14 Toldo 8 (1908) 60⫺66; Günter, H.: Die christl. Legende des Abendlandes. Heidelberg 1910, 15, 20, 69, 135. ⫺ 15 Chang, C.-G.: Der Held im europ. und korean. Märchen. Basel 1981, 106⫺109. ⫺ 16 Białostocki, J.: The Door of Death. Survival of a Classical Motif in Sepulchral Art. In: Jb. der Hamburger Kunstslgen 18 (1973) 7⫺32. ⫺ 17 Brunner, H.: Die Rolle von T. und Tor im Alten Ägypten. In: Symbolon N. F. 6 (1982) 37⫺59. ⫺ 18 Hertel, J.: Die Himmelstore im Veda und im Awesta. Lpz. 1924, 8, 11, 61. ⫺ 19 Siuts, H.: Jenseitsmotive im dt. Volksmärchen. Lpz. 1911, 70⫺73, 250, 306. ⫺ 20 B[runner], H.: T. und Tor. In: Lex. der Ägyptologie 6. Wiesbaden 1986, 778⫺787; H[elck], W.: T.hüter. ibid., 787⫺789, hier 783 sq. ⫺ 21 Lurker, M.: Wb. bibl. Bilder und Symbole. Mü. 3 1987, 383⫺386; Kunst, H.-J.: Tor ⫺ T. In: LCI 4 (1972) 339 sq.; Reinle, A.: T. In: Lex. des MA.s 8. Mü./Zürich 1997, 1096 sq.; Deselaers, P.: Tor, T., Pforte. In: LThK 10 (32001) 109 sq. ⫺ 22 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 129, 337, 515, 544, 877, 1003, 1217.
Berlin
Werner Bies
Tür bewacht (AaTh/ATU 1009), schwankhafte Erzählung, die meist als Episode in längeren Konglomeraten vergleichbarer Geschichten auftritt: Eine Frau (Mann, Geistlicher; auch Teufel, Riese, Kobold) gibt ihrem Sohn (Knecht, Ehefrau, Dummling) den Auftrag, die T. (Gartentor) zu bewachen, als sie das Haus verläßt. Der Sohn nimmt den Auftrag J wörtlich (J Sprachmißverständnis), hebt die T. aus den Angeln und nimmt sie mit, als er fortgeht (ihr folgt); manchmal legt er sich zum Schlafen auf die ausgehängte T.
In der älteren schriftl. Überlieferung erscheint AaTh/ATU 1009 ausschließlich als Dummenschwank in selbständiger Form, so zuerst im J Po-Yu-King, einem Teil des buddhist. J Tripitøaka (5. Jh.)1: Ein Herr gibt seinem Sklaven die Aufgabe, die T., den Esel (und dessen Halfter) zu bewachen, während er fort ist. Der Sklave bindet die T. auf dem Rücken des Esels fest und geht damit zu einer Feier. Bei der Rückkehr des Herrn sind alle Wertgegenstände gestohlen.
Hiervon abhängig findet sich der Schwank in J Somadevas Katha¯saritsa¯gara (11. Jh.)2. ¯ bı¯ In der arab. Witzenzyklopädie von al-A ˇ uhø a¯, dem arab. Pen(gest. 1030) ist er mit G
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Tür bewacht
dant zu J Hodscha Nasreddin, verbunden3. Der älteste europ. Nachweis erscheint in dem engl. Schwankbuch The Sacke Full of News (16. Jh.) in einer etwas abgewandelten Form4: Eine Frau bittet ihren frz. Liebhaber, die T. ,nach sich zu ziehen‘ (pull the doore after him) und ihr in die Kirche zu folgen. Er hebt die T. aus den Angeln und zieht sie hinter sich her.
Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist der Schwank mit relativ gleichmäßiger Verteilung im ganzen zentral- und vorderasiat. Raum, vereinzelt auch bei den Jakuten im russ. Nordasien, aufgezeichnet worden, weiterhin in ganz Europa, seltener in Nord- und Ostafrika sowie sporadisch in Süd- und Nordamerika. Möglicherweise gehen die europ. Var.n auf arab. Vermittlung über Sizilien zurück5. In Europa tritt die Erzählung am häufigsten in Italien auf, wo stereotyp die Schelmenfigur des Giufa` angeführt wird. Die Konglomerate, in denen der Schwank dokumentiert ist, umfassen u. a. AaTh/ATU 592, 563, 650 A, 850, 901, 1000⫺1029, 1045, 1063, 1071, 1072, 1084, 1120, 1130, 1132, 1170, 1211, 1246*, 1285, 1286, 1291, 1291 B, 1381, 1381 B, 1381 C, 1383⫺1387, 1387*, 1408, 1535, 1540, 1541, 1642, 1643, 1681 B und 1691. Die vorliegenden Var.n lassen sich in zwei Gruppen einteilen, je nachdem, ob die J Dummheit des Protagonisten vorgetäuscht oder echt ist. Im oriental., nord- und osteurop. Raum ist AaTh/ATU 1009 vielfach als Schwankepisode im Rahmen von AaTh/ATU 1000, 1002: J Zornwette im Zusammenhang der Thematik von J Herr und Knecht verbreitet6. Hier nimmt der Knecht die Aufträge des Herrn absichtlich wörtlich. In einer tadschik. Var. bekommt er den Auftrag, die T. nicht von seinem Rücken zu trennen7. In einer usbek. Var. soll er das Tor so bewachen, daß niemand hereinkommt, woraufhin er das Tor zumauert8. Um echte Dummheit handelt es sich in der Eheschwank-Fassung. Dort ist es meist eine lebensuntüchtige Frau (cf. AaTh/ATU 1386, 1387: J Kluge Else, AaTh/ATU 1541: Für den langen J Winter), die wörtlich den Anweisungen ihres Mannes folgt. Häufig löst die Mitnahme der T. einen Wutausbruch des Ehemanns aus, der die Frau fortjagt oder verprügelt (worauf sie wegläuft)9. In einigen nordeurop. Var.n geht der Mann danach auf die Su-
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che nach einer noch dümmeren Frau (cf. AaTh/ATU 1384: cf. J Narrensuche)10. In oriental. Var.n wird AaTh/ATU 1009 fast immer mit AaTh/ATU 1381: cf. Die geschwätzige J Frau kombiniert11: Als die Frau vor Gericht gegen ihren Mann aussagen soll, nimmt sie die Haustür mit und verhält sich auch sonst närrisch, woraufhin sie als Zeugin nicht ernstgenommen wird12. Arab., türk. und südeurop. Var.n handeln von einer Mutter/Sohn-Konstellation: Als der Sohn die T. mit in die Kirche nimmt, schlägt die Mutter ihn vor Wut tot13. In der Anfangsszene von AaTh 1653 A/ATU 1653 [2]: cf. J Räuber unter dem Baum bittet der kluge Begleiter den Dummen, beim Weggehen die T. hinter sich zuzuziehen, dieser nimmt sie jedoch mit. Oft erinnert sich der Kluge unterwegs, daß die T. nicht zugeschlossen wurde, und schickt den Dummen zurück14. Meist bemerkt der Begleiter erst, daß der Dumme die T. mitgenommen hat, als dieser sich darüber beschwert, daß er wegen der großen Last erschöpft sei. Im weiteren Verlauf der Handlung erweist sich das absurde Handeln des Dummen als Glücksfall für seine Begleiter, denn die später vom Baum fallende Tür vertreibt die Räuber. In span.sprachigen Var.n aus Mittelamerika ist das Mitnehmen der T. durch ein sprachliches Mißverständnis motiviert: Der Dumme nimmt anstelle einer puerca (Schwein) eine puerta (T.) mit15. In einer frz. Var. ruft der Mann der Frau zu, sie solle die T. zuziehen (,Serre la porte!‘); die Frau mißversteht dies als ,Porte la porte!‘ und nimmt die T. mit16. Das zentrale Motiv von AaTh/ATU 1009 begegnet auch in einer neueren Erzählung, in welcher der Protagonist seinen Lotteriezettel an die T. klebt. Als er seinen Gewinn abholen möchte, bekommt er den Zettel nicht ab und ist gezwungen, die T. mitzunehmen17. Der senegales. Regisseur Djibril Diop Mambety hat diese komische Erzählung als Le Franc (1994) verfilmt. 1 Chavannes 2, num. 281. ⫺ 2 Tawney, C. H.: The Ocean of Story 5. ed. N. M. Penzer. (Delhi 21923) Nachdr. Delhi u. a. 1968, num. 128. ⫺ 3 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 877. ⫺ 4 Clouston, W. A.: The Book of the Noodles. L. 1888, 97 sq. ⫺ 5 ibid. ⫺ 6 Britaev, S./Kaloev, G.: Osetinskie narodnye skazki. M. 1959, 54⫺59; Hackman, O.: Svenska folksdikt-
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Turandot ⫺ Türke, Türkenbild
ning I A 2. Helsingfors 1920, 220, 225; Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1966, num. 73. ⫺ 7 Amonov, R.: Tadzˇikskie skazki. M. 1961, 456⫺ 459. ⫺ 8 Afzalov, M. I. u. a.: Uzbekskie narodnye skazki 2. M. 21963, 195⫺199. ⫺ 9 Haltrich, J.: Dt. Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. Mü. 61956, num. 62; Kapievoj, N.: Dagestanskie narodnye skazki. M./Len. 1951, 92⫺94. ⫺ 10 Hackman (wie not. 6) 93 sq. ⫺ 11 Kapievoj (wie not. 9). ⫺ 12 Eberhard/Boratav, num. 333. ⫺ 13 Ilg, B.: Maltes. Märchen und Schwänke 2. Lpz. 1906, num. 93. ⫺ 14 Uffer, L./ Wildhaber, R.: Schweizer Volksmärchen. MdW 1971, num. 38. ⫺ 15 Miller, E.: Mexican Folk Narrative from the Los Angeles Area. Austin u. a. 1973, num. 81, 82. ⫺ 16 Pourrat, H.: Contes et re´cits du Livradois. ed. B. Bricout. P. 1989, 201. ⫺ 17 LangReitstätter, M.: Lachendes Österreich. Salzburg 2 1948, 91.
Göttingen
Ina Schröder
Turandot J Rätselprinzessin
Türke, Türkenbild. Der Türke (T.) ist in der Volksüberlieferung Europas und der angrenzenden Gebiete neben dem J Juden und dem J Zigeuner die wichtigste Figur des J Fremden. Das über Jh.e präsente T.nbild hat seine Ursache in der Expansion des Islam seit dem 8. Jh., den J Kreuzzügen sowie dem Vordringen der Osmanen nach Europa im 14./15. Jh., bes. aber in der Einnahme Konstantinopels (1453)1, den T.nkriegen2 und den Belagerungen Wiens (1529, 1683)3. Im Gegensatz zu Juden und Zigeunern als den ,inneren Fremden‘ waren die T.n ⫺ ähnlich den Arabern (Sarazenen), Mongolen und Tataren ⫺ für Europa die angsterregenden barbarischen Fremden von außen (cf. J Gog und Magog)4. Das ethnische J Stereotyp des T.n ist jedoch ambivalent5. Als der oriental., ,ganz andere‘ Fremde war er für Europa einerseits tremendum, andererseits aber auch fascinosum. Die ihm zugeschriebenen negativen Eigenschaften waren Grausamkeit und ,mörderisches Wesen‘, Despotie, Unberechenbarkeit und Bedrohlichkeit. Aus christl. Sicht war der T. ⫺ da T., Osmane und Moslem gleichgesetzt wurden ⫺ als Ungläubiger (J Heiden) der Erzfeind aller Christen, ja der Antichrist, der die ganze Christenheit bedrohte, Christen versklavte und ihre Frauen raubte. Vor allem im
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16./17. Jh. war er daher Gegenstand intensiver kirchlicher Propaganda6. Seit dem ersten Auftauchen der T.n bzw. Osmanen in Europa und bes. in der Zeit der T.nkriege überwogen eindeutig von Turkophobie geprägte negative Bilder von T.ngefahr, T.nkampf und T.ngreuel7. Wenngleich die osman. Sultane vereinzelt den eigenen Feudalherren als ideale Herrscher gegenübergestellt wurden8, trat ein tieferer Wandel des T.nbildes erst nach der Niederlage der T.n bei Wien (1683) und der Befreiung Ungarns und Kroatiens ein. Zunehmend wurde nun das T.nbild des westl. Europa bestimmt durch die J Exotik und Erotik der Osmanen, wie sie etwa in den T.nopern des 18. und frühen 19. Jh.s romantisierend in Szene gesetzt wurden9. Das turkophile Europa begeisterte sich für osman. Kunststile10 ebenso wie für ,türk. Kaffee‘ und andere Nahrungs- und Genußmittel11. In der Zeit der südosteurop. Befreiungskriege des 19. Jh.s dominierte dann wieder das Bild des grausamen T.n, bis Ende des 19. Jh.s der ,kranke Mann am Bosporus‘ als Ausdruck des Niedergangs des Osman. Reichs eher Gegenstand des Mitleids und Spotts wurde. Unterschiede in den T.nbildern zeigen sich nicht nur im Verlauf der Geschichte. Je nach der hist. Erfahrung der Völker mit dem Osman. Reich bzw. den T.n weisen sie auch regionale Unterschiede auf. Ein ausgeprägtes und bis heute fast unverändert negatives T.nbild haben jene Völker Südosteuropas und des Nahen Ostens, die für Jh.e unter osman. Herrschaft standen. In ihrem kulturellen Gedächtnis haben ,türk. Joch‘12 bzw. ,Tourkokratia‘ tiefe Spuren hinterlassen, die das nationale Selbstverständnis und das Verhältnis zu den T.n nachhaltig prägen. Nach der Befreiung im 19. Jh. setzte in Südosteuropa ein Prozeß der ,Entosmanisierung‘ ein13. Der T. als Herrscher und ⫺ als Folge der Ansiedlung von T.n ⫺ als Nachbar14 war für die christl. Bevölkerung der äußere und der innere Feind zugleich. Trotz der langen friedlichen Koexistenz15 blieb der T. im Denken der Völker der kategorial Andere. Das negative T.nbild findet sich in Lit.16, Popularliteratur17, Presse18 und Schulbüchern19 sowie in fast allen Gattungen der mündl. Überlieferung. Zentrales Thema südslav. Heldenepen20 und hist.
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Türke, Türkenbild
Lieder bzw. Balladen21 ist der meist ins Mythische überhöhte22 Kampf gegen die T.n, in dem J Krali Marko, der realiter Vasall des Sultans war23, die Kristallisationsgestalt bildet. Die antitürk. Tendenz kommt in zahllosen Volksliedern24 zum Tragen, in denen z. B. die ,Knabenlese‘ (Aushebung christl. Jungen für die Janitscharen), die Klage der betroffenen Familien und der unwissentliche Inzest eines Janitscharen mit seiner Schwester25 häufige Motive sind; die Belagerung Wiens fand noch im kret. Volkslied Widerhall26. Antitürk. sind auch die hist. Lieder bulg. Jahrmarktsänger, die bis ins späte 20. Jh. öffentlich vorgetragen wurden27. Im bulg. Märchen wird der T. sowohl negativ28 als auch neutral gezeichnet, oder er wird überlistet29. Der im 19. Jh. kreierte bulg. Schwankheld Schlauer J Peter30 kann sogar dem türk. J Hodscha Nasreddin Paroli bieten. Die Auseinandersetzung mit den T.n und die Leiden unter ihrer Herrschaft sind ein zentrales Thema von hist. Sagen und Ortssagen31. Ätiologische Sagen erklären die Herkunft der T.n aus der Ehe einer Frau mit einem Hund (J Sodomie), aus der acht Söhne hervorgingen, wobei die Zahl acht (bulg. osa˘m) dem Osman. Reich seinen Namen gegeben habe32. T.n seien, so die zahlreichen südosteurop. Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten, grausam, wortbrüchig, widernatürlich, Vergewaltiger und Entführer christl. Mädchen und Frauen33. Bis heute ist der Ausdruck ,T.‘ üblich für einen faulen, eifersüchtigen und aushäusigen Ehemann, was wohl auch auf die Strategie der orthodoxen Kirche zurückgeht, Frauen von der Ehe mit T.n und damit von der Konversion abzuhalten34. Daß ein negatives T.nbild bis heute auf dem Balkan virulent ist, bestätigen neuere Unters.en35. In der arab. Welt hat das Bild des T.n seit dem MA. einen Wandel durchgemacht: Aus dem konventionellen Bild eines wilden, aber tapferen ,Barbaren‘ entwickelte sich das eines grausamen und despotischen Machtbesessenen, der aufgrund seines Wesens jeglicher Zivilisiertheit entbehrt36. Die Araber verdrängten ihre Beziehung zu den T.n und belegten sie mit einem Tabu ⫺ eine bis heute folgenreiche Entwicklung, die sich u. a. in der Lit.37 und in Schulbüchern38 niederschlägt. In der iran. Überlieferung ⫺ so auch der zeitgenössischen
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Kommunikation exil-iran. Jugendlicher ⫺ sind T.n beliebte Witzfiguren39. In den Nachbarregionen des Osman. Reichs, also im dt. und slav.40 Sprachraum sowie in Italien (bzw. Venedig)41, war das T.nbild bis ins 18. Jh. extrem negativ. Seine Vermittlung erfolgte durch nahezu alle Formen und Gattungen der Hoch- und Volkskultur. Die ersten und entscheidenden Nachrichten über die T.n erreichten die europ. Gesellschaften durch die seit dem 15. Jh. anschwellende Reiseliteratur42. Reisebeschreibungen von Gesandten, Soldaten, Pilgern, Kaufleuten und Handwerkern ebenso wie Erlebnisberichte von aus türk. Gefangenschaft Geflüchteten prägten schon früh die Vorstellung vom grausamen und tyrannischen T.n43. Sie wurde u. a. in bildlichen Darstellungen umgesetzt, bes. in der massenhaft verbreiteten Flugblattgraphik (,T.ndrucke‘) zu den Belagerungen Wiens44. Folgenreicher war die Überzeichnung des Bildes in der christl. Prodigien- und Prophezeiungsliteratur45 sowie in Predigtexempeln und T.npredigten46, ferner in spezifischen T.ngebeten47, geistlichen T.nliedern48 und anderen Formen christl. Propaganda; ihre Themen sind von T.n begangene Freveltaten wie etwa die Verletzung eines Kultbilds oder das Schmuggeln einer mit Pulver gefüllten Kerze in eine Kirche49, die Warnung vor T.nkriegen durch den hl. J Jacobus50, die Hilfe bei T.ngefahr durch die hl. J Katharina51 oder die Bekehrung und Taufe von T.n52, manchmal durch J Christus selbst53. Während das T.nbild in der weltlichen Lit.54 (einschließlich der Trivialliteratur55), in Drama56 und Oper57, bildender Kunst58 und Volkskunst59 sowie auf Spielkarten60 seit dem 18. Jh. exotisierend ist, hat es in der Popularliteratur61, in Kalendern62 sowie im Brauch63, u. a. im Volksschauspiel64 bzw. Fastnachtsspiel65, negative Züge. Angesichts der nachhaltigen Vermittlung ist die Dominanz des negativen T.nbildes in der mündl. Überlieferung nicht überraschend. T.n erscheinen als negative Figur in Volksliedern66, Sagen67 und Schwänken68, selten hingegen in Märchen, wo allenfalls Illustrationen den bösen T.n evozieren (cf. AaTh/ATU 311, 312: J Mädchenmörder)69. Präsent ist der T. in Sprichwort und sprichwörtlicher Redensart70 mit negativen („Wo der Türke den Fuß hinsetzt, wächst kein
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Gras“) wie auch positiven („Besser ein aufrichtiger Türke als ein falscher Christ“) Konnotationen71. Das Verb. ,türken‘ ⫺ ursprünglich wertneutral ,einen T.n bauen‘72 ⫺ besitzt heute den Sinn von ,fälschen, betrügen‘ und ist ebenso Teil der dt. Alltagssprache wie das Schimpfwort ,Kümmeltürke‘73. Obwohl Frankreich, England und Skandinavien vom Osman. Reich nie militärisch bedroht waren, war das T.nbild auch dort äußerst negativ. Seit der Mitte des 16. Jh.s nannte man in England jeden einen ,T.n‘, der als grausam, unkontrollierbar und unzivilisiert wahrgenommen wurde. Francis Bacon (1561⫺ 1626) beschrieb die T.n als „cruel, uncivilised, bloodthirsty savages“74. Dieses T.nbild75 verbesserte sich im 18. Jh. etwas, vor allem durch Reiseberichte76 und die Schriften von Lady Mary Montagu77, die längere Zeit in Istanbul gelebt hatte. Aber noch der brit. Premierminister W. Gladstone (1809⫺98) charakterisierte die T.n als „the one great anti-human specimen of humanity“78. In Frankreich, das zeitweilig mit dem Osman. Reich verbündet war, erschienen im 15.⫺17. Jh. zahllose Bücher über die türk. Bedrohung79, wiewohl es im 18. Jh. auch einen gewissen Exotismus gab80. In Skandinavien liefen im 19. Jh. Flugblätter um, die den T.n als hinterhältigen Schlächter junger Frauen darstellen81. Und auch in den rom. Volksliteraturen wird der T. als der ganz ,Andere‘ dargestellt82. Während sich das heutige T.nbild in Südosteuropa und im Nahen Osten kaum vom hist. unterscheidet, ist es im westl. Europa entscheidend durch die um 1960 einsetzende Arbeitsmigration geprägt. T.n (bzw. die als T.n wahrgenommenen Kurden türk. Nationalität) sind in mehreren europ. Ländern eine große oder die größte Migrantengruppe. In der rezenten Überlieferung erscheinen sie vor allem in ethnischen Witzen83. Als ,innere Fremde‘84 rükken die T.n damit in die Nähe anderer ,fremder‘ Minderheiten, so daß sie in Witzen den Juden gleichgesetzt werden85; teilweise handelt es sich dabei um ein soziales Stereotyp einer Gruppe, die soziale Ängste auslöst und als Sündenbock für gesellschaftliche Probleme herhalten muß86. Die z. T. ausgesprochen makabren und xenophoben T.nwitze sind seit etwa 1980 in großer Zahl mündl. verbreitet, heute leben sie vor allem im Internet fort.
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Auch in Lit.87 und Medien88 gibt es ein ausgeprägtes Bild des T.n als des Fremden, das aber zunehmend durch Komödie und Satire89 relativiert wird. 1 Jäschike, G.: Die Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 und ihre Bedeutung für die Gegenwart. In: Die Welt als Geschichte 13,4 (1953) 210⫺220. ⫺ 2 Schulze, W.: Reich und T.ngefahr im späten 16. Jh. Mü. 1978; Guthmüller, B./Kühlmann, W. (edd.): Europa und die T.n in der Renaissance. Tübingen 2000; C ¸ ırakman, A.: From Tyranny to Despotism. The Enlightenment’s Unenlightened Image of the Turks. In: Internat. J. of Middle East Studies 33,1 (2001) 49⫺68. ⫺ 3 Ackerl, I.: Von T.n belagert ⫺ von Christen entsetzt. Das belagerte Wien 1683. Wien 1983; Sturminger, W. (ed.): Die T.n vor Wien in Augenzeugenberichten. Mü. 1983; Vocelka, K.: Das T.nbild des christl. Abendlandes in der frühen Neuzeit. In: Züllner, E./Gutkas, K. (edd.): Österreich und die Osmanen. Wien 1988, 263⫺275. ⫺ 4 Kissling, H.-J.: T.nfurcht und T.nhoffnung im 15./16. Jh. In: Südostforschungen 23 (1964) 1⫺18; Delumeau, J.: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jh.s 2. Reinbek 1985. ⫺ 5 Kuran Burc¸og˘lu, N. (ed.): The Image of the Turk in Europe from the Declaration of the Republic in 1923 to the 1990s. Istanbul 2000; id.: Die Wandlungen des T.nbildes in Europa vom 11. Jh. bis zur heutigen Zeit. Zürich 2005; Soykut, M. (ed.): Historical Image of the Turk in Europe. Istanbul 2003; Spohn, M.: Alles getürkt. 500 Jahre (Vor)Urteile der Deutschen über die T. n. Oldenburg 1993. ⫺ 6 Brückner, 668 sq. ⫺ 7 Özyurt, S.: Die T.nlieder und das T.nbild in der dt. Volksüberlieferung vom 16. bis zum 20. Jh. Mü. 1972, 21⫺34. ⫺ 8 cf. EM 4, 894. ⫺ 9 Dorfey, B. (ed.): „Die T.n kommen!“ Exotik und Erotik. Koblenz 2006; Becker, H.: Die Couleur locale in der Oper des 19. Jh.s. Regensburg 1976; Spohn (wie not. 5) 52⫺63. ⫺ 10 Pape, M. E.: Die Turquerie in der bildenden Kunst des 18. Jh.s. Köln 1987. ⫺ 11 cf. Roth, K.: T.ntrank, Gulya´s, Joghurt, Döner. Stereotypen in der europ. Esskultur. In: Heuberger, V./Stangler, G. (edd.): Vom Schwarzwald bis zum Schwarzen Meer. Die Donau als Mittlerin europ. Esskultur. Ffm. 2001, 43⫺55. ⫺ 12 cf. Gradeva, R.: Turcite v ba˘lgarskata knizˇnina, XV⫺XVIII vek (Die T.n in der bulg. Lit., 15.⫺18. Jh.). In: Aretov, N./ ˇ ernokozˇev, N. (edd.): Balkanski identicˇnosti v ba˘lC garskata kultura ot modernata epocha 1⫺2. Sofia 2001, hier t. 1, 112⫺134, hier 120. ⫺ 13 Lory, B.: Le Sort de l’he´ritage ottoman en Bulgarie. Istanbul 1985; Roth, K.: Osman. Spuren im Alltagsleben Südosteuropas. In: Majer, H. G. (ed.): Die Staaten Südosteuropas und die Osmanen. Mü. 1989, 319⫺ 332. ⫺ 14 Aleksandrova, N.: Sa˘seda˘t kato ,drug‘ ili ,drugijat sa˘sed‘ na ba˘lgarite (Der Nachbar als der ,Fremde‘ oder der ,fremde Nachbar‘ der Bulgaren). ˇ ernokozˇev (wie not. 12) t. 2, 5⫺40. ⫺ In: Aretov/C 15 Mutafchieva, V.: The Turks’, the Jews’ and the
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Türke, Türkenbild
Gypsies’ Character. In: Zheljazkova, A. (ed.): Relations of Compatibility and Incompatibility between Christians and Muslims in Bulgaria. Sofia 1994, 5⫺ 48. ⫺ 16 Bibina, I.: The Image of the Turks in Bulgarian Literature and Painting. In: Kuran Burc¸og˘lu 2000 (wie not. 5) 335⫺393; Shashko, P.: Voices from the Mountain. The Image of the Ottoman-Turk in Bulgarian Literature. In: Balkanistica 2 (1975) 43⫺ 64; Butler, T.: The Image of the ,Turk‘ in Serbian and Croatian Literature. In: Folia Slavica 6,3 (1984) 413⫺421. ⫺ 17 Lachmann, R.: Antitürk. Traktat und serb. Volkstradition. In: Gesemann, W. u. a. (edd.): Serta Slavica. Mü. 1971, 427⫺434; Kostic´, S. K.: Der ,T.nkalender‘ und die Südslaven. In: Die Welt der Slaven 15 (1970) 87⫺92; Roth, K.: Das Bild des ,Anderen‘ in der bulg. Popularlit. In: Brezovszky, E. u. a. (edd.): Multikulturalität und Multiethnizität in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Ffm. 1999, 205⫺ 215; Jankovics, J.: The Image of the Turks in Hungarian Renaissance Literature. In: Guthmüller/ Kühlmann (wie not. 2) 267⫺273. ⫺ 18 Sakali, M.: The Image of the Turks/Muslims in the Ottoman Greek Press 1830⫺1860. In: Balkan Studies 38,1 (1997) 123⫺134; Rougheri, C.: Contemporary Greek Nationalism. The Image of the Turks in the Greek Press (1994⫺1998). In: Kuran Burc¸og˘lu 2000 (wie not. 5) 413⫺429; Yanovski, R.: The Image of the Turks in the Bulgarian Press. ibid., 309⫺334. ⫺ 19 Murgescu, M.-L.: The Turk in Romanian History Text Books (19th⫺20th Cent.). ibid., 273⫺285; Isov, M.: Naj-razlicˇnijat sa˘sed. Obraza˘t na osmancite (turcite) i Osmanskata imperija (Turcija) v ba˘lgarskite ucˇebnici po istorija prez vtorata polovina na XX vek (Der fremdeste Nachbar. Das Bild der Osmanen [T.n] und des Osman. Reiches [Türkei] in bulg. Geschichtsbüchern der 2. Hälfte des 20. Jh.s). Sofia 2005. ⫺ 20 cf. Lord, A. B.: The Effect of the Turkish Conquest on Balkan Epic Tradition. In: Birnbaum, H. u. a. (edd.): Aspects of the Balkans. Continuity and Change. Den Haag 1972, 298⫺318. ⫺ 21 Vakarelski, C. (ed.): Istoricˇeski pesni (Hist. Lieder). Sofia 1961; cf. Romanska, C.: Die Haiduken in der bulg. Volksdichtung. In: Die Volkskultur der südosteurop. Völker. ed. H. Gülich-Bielenberg. Mü. 1962, 34⫺41; cf. Morison, W. A.: The Revolt against the Turks. A Ballad of Kara George. In: Slavonic Review 6 (1928) 646⫺666, 7 (1928) 179⫺190; id.: The Revolt of the Serbs Against the Turks (1804⫺ 1813). Cambr. 1942. ⫺ 22 Mutafchieva (wie not. 15) 15 sq.; Skendi, S.: The Songs of the Klephts and the Hayduks ⫺ History or Oral Literature? In: Gesemann u. a. (wie not. 17) 666⫺673; Lauer, R.: Das Wüten der Mythen. In: id./Lehfeldt, W. (edd.): Das jugoslaw. Desaster. Wiesbaden 1995, 107⫺148. ⫺ 23 Mutafchieva (wie not. 15) 16; Gradeva, R.: Ba˘lgari i turci, XV⫺XVIII vek (Bulgaren und T.n, 15.⫺ 18. Jh.). In: Danova, N. (ed.): Predstavata za ,drugija‘ na Balkanite. Sofia 1995, 47⫺54, hier 49. ⫺ 24 Boscheva, R.: Das T.nbild in den bulg. Volksliedern. Magisterarbeit B. 2004. ⫺ 25 Fochi, A.: La Ballade de „L’e´pouse vendue“ dans le folklore sud-est
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europe´en. In: Revue des e´tudes sud-est europe´ennes 8 (1970) 669⫺714. ⫺ 26 Puchner, W.: Die Wiener T.nbelagerung von 1683 im kret. Volkslied und im rumän. Bildungsschrifttum. In: Jb. des Österr. Volksliedwerkes 29 (1980) 59⫺75. ⫺ 27 Roth, K.: Geschichtsunterricht auf der Straße. Zum Jahrmarktgesang in Bulgarien. In: Medien popularer Kultur. Festschr. R. W. Brednich. Ffm. 1995, 266⫺ 279. ⫺ 28 BFP 20 C, *756 K*,*760***, *828 A*, *830 C1, 911*, *1225**, *1349 M***, 1687, *1834**, *1847**, 2033, 2400. ⫺ 29 BFP *461 A*, *759 D*, *810 D*, 880, 910 A, 910 B, *921 C1*, *1331 A**, *1366 B*, *1506*, 1570*, *1628**, 1920 A. ⫺ 30 Roth, J.: Der verschriftlichte Schwankheld. In: Roth, K. (ed.): Südosteurop. Popularlit. im 19. und 20. Jh. Mü. 1993, 255⫺269. ⫺ 31 cf. Romanska, C./Ognjanova, E. (edd.): Narodni predanija i legendi (Volkssagen und Legenden). Sofia 1963; Romanska, C.: Sagen um Lokalitäten, die mit hist. Gestalten der bulg. Heldenlieder in Verbindung stehen. In: Fabula 9 (1967) 285⫺292; Köhler, A.: Sza´pa´ry Pe´ter monda´ja (Die Sage von Peter von Sza´pa´r). In: Ethnographia 41 (1930) H. 1, 85⫺96; H. ˇ uzˇdijat“ spored 2, 161⫺176. ⫺ 32 Georgieva, A.: „C ba˘lgarskite etiologicˇni legendi (Der „Fremde“ im Spiegel der bulg. ätiologischen Sagen). In: id.: Obrazi na drugostta v ba˘lgarskija folklor. Sofia 2003, 45⫺93, hier 48⫺55. ⫺ 33 Bakladzˇa˘, S.: Sa˘sed, sa˘sedstvo, otrazeni v poslovicite na ba˘lgarskija i turskija narod (Nachbar und Nachbarschaft und deren Widerspiegelung in den Sprichwörtern des bulg. und türk. Volks). In: Danova (wie not. 23) 303⫺306; Drosneva, E.: Ba˘lgarina˘t i ,drugite‘ v ba˘lgarskite pogovorki (Der Bulgare und die ,Anderen‘ in den bulg. Sprichwörtern). ibid., 288⫺302; Lozanova, G.: Kategorijata ,cˇuzˇd‘ ⫺ ,svoj‘ v narodnata kultura (Die Kategorie ,fremd‘ ⫺ ,eigen‘ in der Volkskultur). ibid., 268⫺272. ⫺ 34 Karamihova, M.: „Uzˇasnijat obraz“ na turcˇina kato bracˇen partnjor (Das „schreckliche Bild“ des T.n als Ehepartner). In: Danova (wie not. 23) 263⫺267. ⫺ 35 Roth, J.: „Wer sich bulg. T. nennt, muß wissen, daß er hier in Bulgarien ein Fremder ist.“ Das T.nbild bulg. Jugendlicher. In: Höpken, W. (ed.): Öl ins Feuer? Schulbücher, ethnische Stereotypen und Gewalt in Südosteuropa. Hannover 1996, 51⫺66; Hamourtziadou, L./Gökay, B.: Angels and Demons. Constructions and Representations of the Enemy Image in Greece and Turkey. In: Kuran Burc¸og˘lu 2000 (wie not. 5) 395⫺411. ⫺ 36 Haarmann, U.: Ideology and History, Identity and Alterity. The Arab Image of the Turk from the ¤Abbasids to Modern Egypt. In: Internat. J. of Middle East Studies 20 (1988) 175⫺196, hier 176. ⫺ 37 Berger, L.: There and Back Again. The Changing Image of the Turk in Ottoman Arab Literature. In: Authority, Privacy and Public Order in Islam. ed. B. Michalak-Pikulska. Löwen 2006, 121⫺132. ⫺ 38 Mahafzah, A.: The Image of the Turks in the History Books Prescribed for General Education in Jordan. In: Arab Historical Review for Ottoman Studies 7⫺ 8 (1993) 205⫺208. ⫺ 39 Marzolph, U.: Regionale
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Türke, Türkenbild
Stereotypen im Witz der Exil-Iraner. In: Hose, S. (ed.): Minderheiten und Mehrheiten in der Erzählkultur. Bautzen 2008, 196⫺205. ⫺ 40 Rataj, T.: ˇ eske´ zemeˇ ve stı´nu pu˚lmeˇsı´ce. Obraz Turka v raneˇ C novoveˇke´ literaturˇe z cˇesky´ch zemı´ (Die böhm. Länder im Schatten des Halbmonds. Das Bild des T.n in der frühneuzeitlichen Lit. aus den böhm. Ländern). Prag 2002; Sabatos, C.: Views of Turkey and „The Turk“ in 20th-century Czech and Slovak Literature. In: Kuran Burc¸og˘lu 2000 (wie not. 5) 261⫺270. ⫺ 41 Malecore, I. M.: La lotta contra i turchi nel Salento in due drammi popolari su la distruzione di Roca. Ravenna 1985; Soykut, M.: Image of the „Turk“ in Italy. A History of the „Other“ in Early Modern Europe, 1453⫺1683. B. 2001. ⫺ 42 Spohn (wie not. 5) 71⫺105; cf. Roth, K./Wolf, G.: Südslav. Volkskultur. Columbus, Ohio 1994, 465⫺507 (Bibliogr.). ⫺ 43 Enders, A.: Stereotyp und Vorurteil. Das T.nbild westeurop. Reisender des 16. Jh.s. In: Mittlgen des Dt. Germanisten-Verbandes 42 (1995) 37⫺44; Schiltberger, J.: Als Sklave im Osman. Reich und bei den Tataren 1394⫺1427. ed. U. Schlemmer. Stg. 1983; Georgievic´, B.: Türcken Büchlin. Ganz warhaftige unnd aber erbärmliche beschreibung/ von der pein/ marter/ schmerzen unnd tyranney/ so die Türcken/ den gefangenen Christen/ […] anlegen. Straßburg 1558; Wild, J.: Reysbeschreibung eines gefangenen Christen Anno 1604. Stg. 1964; Önen, Y.: Das Bild der Türkei in dt. Reisebeschreibungen des 16. Jh.s. In: Großklaus, G. (ed.): Geistesgeschichtliche Perspektiven. Bonn 1969, 129⫺147. ⫺ 44 Göllner, C.: Turcica. Die europ. T.ndrucke des 16. Jh.s 1⫺2. Baden-Baden 1968; Brednich, R. W.: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jh.s 1⫺2. Baden-Baden 1974, t. 1, 152, 165; t. 2, num. 251, 271⫺ 274, 284, 285; Hollenbeck, U.: Die T.npublizistik im 17. Jh. ⫺ Spiegel der Verhältnisse im Reich? In: Mittlgen des Inst.s für Österr. Geschichtsforschung 107 (1999) 111⫺130; Schillinger, J.: Franzosen und T.n in dt. Flugschriften des 17. Jh.s. In: Harms, W./ Messerli, A. (edd.): Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im ill. Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450⫺1700). Basel 2002, 169⫺187. ⫺ 45 cf. EM 10, 1232; Spohn (wie not. 5) 32⫺38. ⫺ 46 Knappe, E.: Die Geschichte der T.npredigt in Wien. Wien 1949; Pohlmann, C.: Das T.nmotiv in der Barockpredigt. In: Franziskanische Studien 38 (1956) 212⫺217; Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Stg. 1991, 111, 237, 318⫺320; Özyurt (wie not. 7) 34. ⫺ 47 Cosack, C. J.: Zur Lit. der T.ngebete im 16. und 17. Jh. In: id. (ed.): Zur Geschichte der evangel. ascetischen Lit. in Deutschland. Basel 1871, 163⫺ 243. ⫺ 48 Liliencron, R. von: Die hist. Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jh. 1⫺3. Lpz. 1867 (Nachdr. Hildesheim 1966); Özyurt (wie not. 7) 43⫺ 138; Buchmann, B. M.: T.nlieder. Zu den T.nkriegen und bes. zur zweiten Wiener T.nbelagerung. Wien 1983; Spohn (wie not. 5) 63⫺70. ⫺ 49 Schmidt, L.: Die Legende von der mit Pulver gefüllten Kerze. Zu einem T.nmotiv in den innerösterr. Wallfahrten. In:
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Bll. für Heimatkunde 24 (1950) 75⫺80. ⫺ 50 EM 7, 463. ⫺ 51 Kronfeld, E. M.: Der Krieg in Aberglauben und Volksglauben. Mü. 1915, 143. ⫺ 52 Heller, H.: T.ntaufen um 1700 ⫺ ein vergessenes Kap. der fränk. Bevölkerungsgeschichte. In: Glaubensflüchtlinge und Glaubensfremde in Franken. ed. H. Heller/ G. Schröttel. Würzburg 1987, 255⫺271. ⫺ 53 Schneider, A.: Exempelkatalog zu den „Iudicia divina“ des Jesuiten Georg Stengel von 1651. Würzburg 1982, LXVI, num. 249. ⫺ 54 Burhaneddin, K.: Die T.n in der dt. Lit. bis zum Barock […]. Kiel 1935; Önen, Y.: Das T.nbild im dt. Schrifttum des 16. Jh.s. Akten des 5. Internat. Germanisten-Kongresses 3. Bern/ Ffm. 1976, 57⫺66; Kleinlogel, C.: Exotik ⫺ Erotik. Zur Geschichte des T.nbildes in der dt. Lit. der frühen Neuzeit (1453⫺1800). Ffm. 1989. ⫺ 55 Kuran, N.: The Image of the Turk in Karl May’s Novel „Von Bagdad nach Stambul“. In: J. of Mediterranean Studies 5,2 (1995) 239⫺246; Udolph, L.: Araber, T.n und Karl May im Lande des Padischah. In: Minderheiten und Mehrheiten in der Erzählkultur. ed. S. Hose. Bautzen 2008, 179⫺195. ⫺ 56 Dontschewa, B.: Der T. im Spiegelbild der dt. Lit. und des Theaters im 18. Jh. Mü. 1944. ⫺ 57 wie not. 10. ⫺ 58 Reichel, F.: Die T.nmode in der sächs. Kunst. In: Beitr.e und Ber.e der staatl. Kunstslg. Dresden 1972⫺75. Dresden 1978, 143⫺155. ⫺ 59 Schmidt, L.: Werke der alten Volkskunst. Rosenheim 1979, 90⫺93; Kretzenbacher, L.: St. Georg mit dem Jüngling auf dem Streitroß. Zur antitürk. Volksdeutung eines ma. Bildmotivs. In: Münchner Zs. für Balkankunde 1 (1978) 181⫺196; Öztürk, A. O.: Zur Funktion des T.nmotivs in der dt. populären Volkskunst im 19. Jh. In: Kuran Burc¸og˘lu 2000 (wie not. 5) 232⫺245. ⫺ 60 Witzmann, R.: Spielkarten mit T.ndarstellungen. In: Die T.n vor Wien. ed. R. Witzmann. Wien 1983, 285⫺286. ⫺ 61 cf. Kraft, N.: Die T.nbüchlein des 17. Jh.s im Bestand der Stadtbibl. Nürnberg. Unveröff. Examensarbeit Nürnberg 1992; Pfister, R.: Das T.nbüchlein Biblianders. In: Theol. Zs. 9 (1953) 438⫺454. ⫺ 62 Geldner, F.: Der Heiliggrab-Kalender für 1478 (Kreuzfahrtlied), sein Drucker Heinrich Eggestein und der T.nkalender für 1455. In: Festschr. G. Turrini. Verona 1973, 242⫺259; Simon, E.: The „T.nkalender“ (1454). Cambr., Mass. 1988. ⫺ 63 Özyurt (wie not. 7) 27⫺31; Röhrich, Redensarten 3, 1651⫺ 1653, hier 1652. ⫺ 64 Özyurt (wie not. 7) 27⫺30; Kalkavan, Z.: Das kulturelle Bild türk. Migranten in der schulischen Lit.reflexion der Primarstufe […]. Diss. Dortmund 2007, 101. ⫺ 65 cf. EM 4, 894. ⫺ 66 Özyurt (wie not. 7) 84⫺112. ⫺ 67 cf. Fielhauer, E. und H. (edd.): Heimatkunde des Bezirks Scheibbs. Die Sagen des Bezirks Scheibbs. Scheibbs 1975, 296⫺308; Teply, K.: Die große türk. Geschichtssage im Lichte der Geschichte und der Vk. In: Südostforschungen 36 (1977) 78⫺108; id.: Türk. Sagen und Legenden um die Kaiserstadt Wien. Wien 1980; id.: Der Kopf des Abata Kör Hüseyin Pascha. Vom „umgehenden T.n“ und von anderem Zeughaus-
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Türkei
spuk. In: Jb. des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 34 (1978) 165⫺179. ⫺ 68 cf. EM 5, 337; MoserRath, Schwank, 408, num. 149. ⫺ 69 cf. Suhrbier, H. (ed.): Blaubarts Geheimnis. Köln 1984, 35⫺45. ⫺ 70 Wander 4, 1376⫺1379; Özyurt (wie not. 7) 98. ⫺ 71 Wander 4, 1376 sq. ⫺ 72 Röhrich, Redensarten 3, 1652. ⫺ 73 cf. Spohn (wie not. 5) 123 sq.; Metin, M.: Rassismus in der Sprache. Ffm. 1990. ⫺ 74 Wheatcroft, A.: The Ottomans. L. 1995, 231. ⫺ 75 Burton, J.: Anglo-Ottoman Relations and the Image of the Turk in „Tamburlaine“. In: J. of Medieval and Early Modern Studies 29,3 (1999) 125⫺156; Hawamdeh, M. F.: Marlovian Turkophobia. A Study of the Image and Role of Turks in „Tamburlaine the Great“. In: Damascus Univ. J. for the Arts and Human and Educational Sciences 14,2 (1998) 47⫺71; Artemel, S.: The Great Turk’s Particular Inclination to Red Herring. The Popular Image of the Turk during the Renaissance in England. In: J. of Mediterranean Studies 5,2 (1995) 188⫺208; Millington, P.: The Truro Cordwainer’s Play. A „New“ 18th-century Christmas Play. In: FL 114,1 (2003) 53⫺73. ⫺ 76 Schiffer, R. (ed.): Turkey Romanticized. Images of the Turks in Early 19th-century English Travel Literature. Bochum 1982; Knipp, C.: Types of Orientalism in 18th-century England. Berk. 1974. ⫺ 77 Montagu, Lady M.: Briefe aus dem Orient (1716⫺1718). Ffm. 1962; The Complete Letters of Lady Mary Wortley Montagu 1⫺3. ed. R. Halsband. Ox. 1965⫺ 67. ⫺ 78 Pearce, R.: Britain and the European Powers, 1865⫺1914. L. 1996, 20. ⫺ 79 Wheatcroft (wie not. 74) 239; cf. Rouillard, C. D.: The Turk in French History, Thought and Literature (1520⫺ 1660). P. 1938. ⫺ 80 Vovard, A.: Les Turqueries dans la litte´rature franc¸aise. P. 1959; Desmet-Gre´goire, H.: Le Divan magique. L’Orient turc en France au XVIIIe sie`cle. P. 1994. ⫺ 81 Skjelbred, A. H. B.: The Turks in Norway. In: Fabula 31 (1990) 64⫺69. ⫺ 82 Lindenbauer, P.: Der Fremde als „der Andere“. Eine Studie der diskursiven Konstruktion des Mauren und des T.n im Echo rom. Volkslit.en. Ffm. 2001. ⫺ 83 Fischer, H.: Bergheimer, Ostfriesen, T.n, Neger. Ethnisierung von Ort und Region, Volk und Rasse in gegenwärtigen Volkserzählungen. In: Fabula 37 (1996) 286⫺296; Albrecht, R.: „Was ist der Unterschied zwischen T.n und Juden?“ (Anti-)T.nwitze in der BRD 1982. In: ZfVk. 78 (1982) 220⫺229; Toelken, B.: „T.nrein“ and „T.n, Raus!“ Images of Fear and Aggression in German Gastarbeiterwitze. In: Bas¸göz, I./Furniss, N. (edd.): Turkish Workers in Europe. Bloom. 1985, 151⫺164; Nierenberg, J.: „Ich möchte das Geschwür loswerden.“ T.nhaß in Witzen in der BRD. In: Fabula 25 (1984) 229⫺240; Meder, T.: ,There were a Turk, a Moroccan and a Dutchman …‘ Narrative Repertoires in the Multi-ethnic Neighbourhood of Lombok in the Dutch City of Utrecht. In: WienkerPiepho, S./Roth, K. (edd.): Erzählen zwischen den Kulturen. Münster 2004, 237⫺258. ⫺ 84 De Ley, H.: Imagining the Muslims in Belgium. „Enemies from Within“ or „Muslim Fellow-citizens“? In: Kuran
Burc¸og˘lu 2000 (wie not. 5) 55⫺66; Güngör, B.: Die Angst der Deutschen vor den T.n und ihrem Beitritt zur EU. Kreuzlingen/Mü. 2004; Matter, M.: Dort waren wir die T.n ⫺ hier sind wir die „Deutschler“ (Almancilar). In: ZfVk. 83 (1987) 47⫺73; Straube, H.: Images of Turkish Migrant Workers […]. In: Kuran Burc¸og˘lu 2000 (wie not. 5) 143⫺156. ⫺ 85 Albrecht und Toelken (wie not. 83). ⫺ 86 Nierenberg und Toelken (wie not. 83). ⫺ 87 cf. Akbulut, N.: Das T.nbild in der dt. Lit. 1970⫺1990. B. 1993; Pazarkaya, Y.: Vom Komparsen zum Protagonisten. Das Bild des T.n in der zeitgenössischen dt. Lit. In: Kuran Burc¸og˘lu 2000 (wie not. 5) 189⫺203. ⫺ 88 Alkan, M. N.: Das Bild der Türkei in der dt. Presse (1960⫺ 1997). ibid., 157⫺188; Ülger, S. E.: Die Türkei in der dt. Presse. 1945⫺1984. Hückelhoven 1993. ⫺ 89 Yes¸ilada, K. E.: „Getürkt“ oder nur „anders“? T.nbild in der türk.-dt. Satire. ibid., 205⫺220; zu Ethno-Comedy-Shows wie „Stefan und Erkan“ cf. Erkan & Stefan Krass-Buch. Mü. 2001.
München
Klaus Roth
Türkei 1. Geschichte ⫺ 2. Ältere Quellen ⫺ 3. Moderne Erzählforschung
1 . G es ch ic ht e. Bereits seit dem 11. Jh. hatten mit den Seldschuken turkstämmige Völker die Herrschaft in Kleinasien übernommen. Die Zeit zwischen 1300 und 1600 gilt als ,klassische Epoche‘ des Osman. Reichs, dessen Hauptstadt das 1453 eroberte Konstantinopel (Istanbul) wurde. Zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung Ende des 16. Jh.s umfaßte das Osman. Reich neben Kleinasien weite Teile des Balkans und der Schwarzmeerküste, den Kaukasus und den Irak, die Levante, die östl. Küstenregionen der Arab. Halbinsel, Ägypten sowie weite Teile der südl. Mittelmeerküste bis nach Marokko. Die Expansion in Europa fand mit der erfolgreichen Verteidigung Wiens 1683 sowie der militärischen Niederlage gegen die Habsburger in der Schlacht bei Moha´cs 1687 ein Ende. Seit dem 18. Jh. führten Unruhen und militärische Niederlagen dazu, daß die Überlegenheit Europas akzeptiert wurde; dies führte auch zu einer weitgehenden Ausrichtung des gesellschaftlichen Lebens der Oberschicht nach westl. Vorbild. Als Folge des Balkankriegs (1912/13) und des 1. Weltkriegs wurde das Osman. Reich 1920 unter den Aliierten aufgeteilt. Nach der Abschaffung des Sultanats (1922) und dem Friedens-
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Türkei
vertrag (1923) wurde Mustafa Kemal Pascha ,Atatürk‘ (Vater der Türken) erster Staatspräsident der türk. Republik (1923) als eines säkularen und laizistischen Staates. Die Bevölkerung der T. (2007 ca 76 Millionen) besteht vorwiegend aus turkstämmigen und kurd. sowie arab., kaukas., slav. und alban. Gruppen meist islam. Glaubens. Zu den anerkannten Minderheiten gehören u. a. Griechen, Juden und Armenier. Die von Atatürk durchgeführte Abschaffung der in der osman. Epoche verwendeten arab. zugunsten der lat. Schrift (1928) begünstigte einerseits eine Modernisierung des Landes, bewirkte andererseits aber auch einen tiefgreifenden Verlust des unmittelbaren Zugangs zu den hist. Quellen. 2 . Ält er e Q ue ll en. Eines der wichtigsten Dokumente der türk. Sprache ist das oghus. Epos J Dede Korkut, in dessen zwölf voneinander unabhängigen Geschichten die Heldentaten der nomadisierenden Vorfahren der Türken besungen werden1. Das Epos enthält mit der Erzählung von der Tötung des Tepegöz durch Basat eine frühe Fassung der J Polyphem-Geschichte (AaTh/ATU 1137). Zahlreiche literar. Werke der osman. Epoche behandeln traditionelle Erzählstoffe, die zu einem erheblichen Anteil mit der arab.-islam. (J Arab.-islam. Erzählstoffe) bzw. der iran. Überlieferung (J Iran) in Verbindung stehen. Die frühesten Belege für Märchen auf dem Gebiet der heutigen T. finden sich in den ˇ ala¯loddin J pers.sprachigen Werken des G Rumi (1207⫺73), so auch der Erstbeleg (AaTh/ATU 1965: Die schadhaften J Gesellen) für die Gattung des türk. Vormärchens (Tekerleme; cf. J Eingangsformel[n]). Das Batøtøa¯lna¯me (Buch des Batøtøa¯l; 13. Jh.), eine türk. Version des arab. Volksromans D ß a¯t al-himma2, erzählt von den Kämpfen und Kriegen Sayyid ˙ a¯zı¯s (8. Jh.) gegen die Byzantiner3. Batøtøa¯l G Der Held wird allerdings in anachronistischer Weise als Zeitgenosse des abbasid. Kalifen J Ha¯ru¯n ar-Rasˇid aufgefaßt4. Das Da¯nisˇmendna¯me, verfaßt 1245 von Ibn ¤Ula¯, erzählt von den Heldentaten des Melik Da¯nisˇmend Ahø ˙ a¯zı¯ (gest. 1134), einem der Eroberer med G Anatoliens5. Zu den Werken mit religiöser Thematik gehört u. a. die auf der koran. Geschichte des keuschen J Joseph beruhende Dichtung Yu¯suf ve Zelı¯h˚ a des Sˇeyya¯d H ø amza¯6.
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Aus dem 14. Jh. stammen Erzählungen, welche die Tugenden und Wunder des Propheten J Mohammed, seines Schwiegersohns (und späteren Kalifen) ¤Alı¯ und deren Nachkommen preisen. Hierzu gehören auch die Werke des Kirdegˇi ¤Alı¯, die gelegentlich volkstümliche Motive enthalten7. Tøursun Faqı¯hø verfaßte die ø az˙ret-i Peyg˙amber’in panegyrischen Werke H ˇ ehil ile Güresø Tuttug˙udur (Wie der ProEbu¯ G ˇ ahl einen phet mit dem ungläubigen Abu¯ G ø anefı¯ Ringkampf ausführt)8, Muhø ammed H ˇ engi (Der Kampf des Muhø ammed ibn al-H G ø a˙ aza¯va¯t-i nafı¯ya) über einen Sohn ¤Alı¯s9, und G Resu¯lu’lla¯h (Die Eroberungsfeldzüge des Propheten)10. Zu den Werken, die entweder Übers.en aus dem Arabischen oder Persischen oder aber Überarbeitungen alter Stoffe sind, zählen die romantischen Dichtungen Leyla¯ ve Megˇnu¯ n11, H ˚ usrev ve S¸¯ırı¯n12, ¤Isˇq-na¯me (Buch der 13 ˚ ursˇid-na¯me15 Liebe) , Varqa ve Gülsˇa¯h14, H und Süheyl ve Nevbaha¯r16. Eine kurze Dich¯ sˇıqpasˇa (1272⫺1333) enthält eine tung des ¤A Var. von AaTh/ATU 1626: J Traumbrot17. Das Da¯sta¯n-i Ahø med H ø ara¯mı¯ (Die Geschichte des Räubers Ahø mad), dessen Entstehungsdatum und Verf. unbekannt sind, erinnert an AaTh/ATU 956 B: Das tapfere J Mädchen und die Räuber18. Das gleichfalls anonyme H ø ika¯yei Tamı¯m-i Da¯rı¯ (Die Erzählung von Tamı¯m adDa¯rı¯) ist eine Var. von AaTh/ATU 974: J Heimkehr des Gatten19. Die erste türk. Übers. von J Kalila und Dimna wurde von Qul Mes¤u¯d Anfang des 14. Jh.s nach der pers. Fassung des Nasørolla¯h ˇ elebi (1523⫺ Monsˇ¯ı angefertigt20. ¤Alı¯ Va¯si¤ C 72) legte eine Übers. des Anva¯r-i Soheilı¯ von H ø osein ibn Va¯¤ezø Ka¯sˇefi vor. Die beliebteste türk. Adaptation der Fabelsammlung ist das Suleiman dem Prächtigen (1520⫺66) gewidmete anonyme Huma¯yu¯ n-na¯me21. Das pers. Marzuba¯n-na¯me des Sa¤doddin Vara¯vini, eine Fabelsammlung im Stil von Kalila und Dimna, wurde von Sø adr ad-dı¯n Sˇeyh˚ og˙lu ins Türkische übersetzt22. Zahlreiche Hss. weisen das 1430 verfaßte ˇ a¯ma¯sb-na¯me des ¤Abdı¯ Mu¯sa¯ als vielgelesenes G Werk aus23. Der Dichter spricht im Text von sich als qisøsøah˚ a¯n (Geschichtenerzähler), was u. a. andeutet, daß das Werk bei Versammlungen von professionellen Erzählern (Medda¯hø ) ˇ a¯ma¯sb-na¯me ervorgetragen wurde24. Die im G zählte Geschichte der Schlangenkönigin steht
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AaTh/ATU 673: cf. J Tiersprachenkundiger ˚ ar-na¯me Mensch nahe25. Das satirische H (Eselsbuch) des S¸eyh˚ ¯ı weist in der Fabel vom Esel, der sich Hörner wünscht, Parallelen zu AaTh/ATU 207 A: cf. J Aufstand der Arbeitstiere auf 26. Das Sø altuq-na¯me ist ein Volksroman über den religiösen Führer Sarı Sø altuq ˚ ayr-i Ru¯mı¯ aus der (13. Jh.), der von Ebu¯ ’l-H mündl. Überlieferung aufgezeichnet wurde27. Das I˙skender-na¯me (J Alexander d. Gr.) wurde von Ahø medı¯ (gest. 1421) auf der Grundlage des Eskander-na¯me von J Nezø a¯mi und des Sˇa¯h-na¯me von J Firdausı¯ abgefaßt28. ø amzavı¯ verfaßte ein türk. Ahø medı¯s Bruder H JH ø amza-na¯me29; von diesem Werk, das von professionellen Geschichtenerzählern vorgetragen wurde, sind über 70 Hss. erhalten30. Der arab. ¤Antarroman wurde in der 2. Hälfte des 15. Jh.s von einem unbekannten Übersetzer ins Türkische übertragen31. Das als On Vezir H ø ika¯yeleri (Erzählungen von den zehn Wesiren) bekannte Prosawerk ist eine Ende des 14./Anfang des 15. Jh.s angefertigte Übers. des pers. Bah˚ tiya¯r-na¯me, einer Fassung der J Sieben weisen Meister32, auf die auch Qırq Vezir ø ika¯yeleri (Erzählungen von den J Vierzig H Wesiren) zurückgeht33. Bereits im 15. Jh. (möglicherweise früher) wurden die Erzählungen aus J Tausendundeine Nacht ins Türkische übersetzt34. ˇ elebi aus Die Erzählungen des von La¯mi¤ı¯ C Bursa (1472⫺1536) begonnenen und von seinem Sohn ¤Abdullah (gest. 1550) fertiggestellten LatøaÅif-na¯me (Buch der geistreichen Erzählungen)35 sind thematisch angeordnet36. Das Werk enthält u. a. Var.n von AaTh/ATU 1862 C: Die einfältige J Diagnose, AaTh/ATU 62: J Friedensfabel und AaTh/ATU 110: J Katze mit der Schelle. Das pers. Tøutø¯ı-na¯me (J Papageienbuch) wurde im 17. Jh. von Nev¤ı¯za¯de ¤Atøa¯yı¯ übersetzt37. Auch hier belegt die große Zahl der erhaltenen Hss. die Beliebtheit des Werks. Spätestens seit dem 19. Jh. war die türk. Märchensammlung J Billur Köschk weitverbreitet. Wenngleich die (ursprünglich aus dem Türkischen übersetzte) Erzählsammlung J Tausendundein Tag noch 1873 aus dem Französischen ins Türkische (rück-)übersetzt wurde38, wandten sich die türk. Schriftsteller im letzten Viertel des 19. Jh.s weitgehend von der oriental. Erzählüberlieferung ab und begannen, Ro-
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mane und Erzählungen nach westl. Muster zu verfassen. Dennoch ist in den Werken dieser Zeit der Einfluß der oriental. Erzählüberlieferung sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch hinsichtlich der Form und des Stils weiterhin spürbar, so etwa im Werk Ahø med Mithø ats (1844⫺1913), des ,Vaters der türk. Erzählkunst‘, das u. a. von der Vortragstechnik der professionellen Erzähler beeinflußt ist39. Der türk. Medda¯hø war ursprünglich ein gewerbsmäßiger Erzähler, der Volksromane wie das Batøtøa¯l-na¯me oder Heldengeschichten aus dem Sˇa¯h-na¯me des Firdausı¯ vortrug40. Seit dem 17. Jh. gewann die künstlerisch-darstellende Seite des Vortrags an Bedeutung; der Anteil übernatürlicher Elemente und Figuren der Erzählungen ⫺ wie z. B. Riesen und Feen ⫺ nahm ab, und die Helden unterschieden sich nicht mehr von realen Menschen. Die Erzählungen wurden jetzt in der Umgangssprache vorgetragen; in ihrem Streben nach realistischer Darstellung griffen die Istanbuler Erzähler auch zur Nachahmung von Stimmen, Geräuschen oder Dialekten. Die neuen Themen der Medda¯hø stammten aus Volksbüchern und mündl. überlieferten Märchen; sie erzählten auch Ereignisse aus dem Alltagsleben der großen Städte. 3 . Mod er ne Er zä hl fo rs ch un g. Wegbereiter der wiss. Erforschung der türk. mündl. Überlieferung war I. J Ku´nos, der Ende des 19. Jh.s dialektologische Forschungen im Osman. Reich durchführte und die erste große Slg türk. Volksmärchen publizierte. Ihm folgten Orientalisten wie E. J Littmann, G. Jacob, T. Menzel oder F. Giese41. Zu den türk. Nasreddin J Hodscha-Schwänken legte J.-A. J Decourdemanche eine umfangreiche frz. Slg aufgrund von Hss. vor42; A. J Wesselski ergänzte dieses Material in seiner komparatistisch annotierten Slg mit Texten aus zahlreichen anderen Quellen43. Mit dem Beginn des 20. Jh.s wurde der Volksüberlieferung in der T. im Rahmen des türk. Nationalismus zunehmend Bedeutung beigemessen44. Eine der ersten modernen Slgen türk. Märchen, der anonym erschienene Band Türk Masalları (Türk. Märchen), enthält 13 Texte45. Der Schriftsteller Ziya Gökalp (1876⫺1924) erkannte die Bedeutung der Volkskultur als Inspirationsquelle für die
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Schaffung einer nationalen Lit. und publizierte die von ihm in seiner Heimatstadt Diyarbakır gesammelten Märchen aus mündl. Überlieferung allerdings mit stilistischen Veränderungen46. Gökalp war der Ansicht, daß sich die neu zu schaffende moderne türk. Nationalliteratur sowohl an der traditionellen türk. Volksliteratur als auch an den Techniken der modernen westl. Lit. orientieren müsse47. Auf dieser Grundlage nahm das Interesse an der Volkskultur nach der Gründung der türk. Republik weiter zu. 1927 wurde in Ankara der Anadolu Halkbilgisi Derneg˘i (Verein für anatol. Vk.) gegründet, der ab 1928 nach seiner Umbenennung in Halkbilgisi Derg˘esi (Verein für Vk.) die Zs. Halkbilgisi Mecmuası (Zs. für Vk.) herausgab. In Istanbul wurde 1929 der Halkbilgisi Haberleri Derneg˘i (Verein für volkskundliche Nachrichten) gegründet, der nach 1932 eng mit den sog. Volkshäusern, einer kulturellen Einrichtung der Republikanischen Volkspartei, zusammenarbeitete. Der Verein gab 1929⫺42 die Zs. Halkbilgisi Haberleri (Volkskundliche Nachrichten) heraus, die 1949⫺79 als Türk Folklor Aras¸tırmaları. Halkbiligisi Dergisi (Unters.en zur türk. Folklore. Zs. für Vk.) fortgesetzt wurde und zahllose Erzählungen aus der mündl. Überlieferung enthält. In den Zss. der Niederlassungen der Volkshäuser in den Provinzen ⫺ bes. in der Zs. Ülkü (Ankara) ⫺ finden sich gleichfalls zahlreiche Volkserzählungen. In den 1930er Jahren wurden auch einige umfangreichere Slgen mit Volksmärchen veröffentlicht48. Die systematische Archivierung folkloristischen Materials ist in der T. weitgehend der Initiative von Privatpersonen überlassen. Am wichtigsten ist das von P. N. J Boratav49 mit Unterstützung seiner Assistenten und Studenten 1938⫺48 an der Univ. Ankara zusammengetragene Archiv, das neben ca 80000 Seiten an schriftl. Dokumenten über reiches audiovisuelles Material verfügt. Das gesamte von Boratav und seiner Frau auch nach 1948 gesammelte volkskundliche Material steht der Wiss. seit 1998 im Dokumentationszentrum der Türkiye Ekonomik ve Toplumsal Tarih Vakfı (Türk. Stiftung für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte) in Istanbul zur Verfügung. Der von W. J Eberhard und Boratav erstellte Katalog der türk. Volksmärchen (1953)
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basiert auf der Auswertung von mehr als 2500 Texten50, die weitaus meisten davon aus Boratavs Archiv. Der Katalog verzeichnet 378 Märchentypen, von denen jeder nach Inhalt, Motiven und Variationen analysiert ist. Statt die Typennummern von AaTh aufzugreifen, haben die Verf. die von ihnen analysierten türk. Märchentypen einfach durchnumeriert, was sich sowohl für die internat. Vergleichbarkeit des türk. Materials51 als auch für die Aufnahme später identifizierter türk. Erzähltypen als problematisch erwies. In seiner Klassifizierung des Tekerleme hat Boratav daher Platz für spätere Ergänzungen vorgesehen52. Eine türk. Übers. des Typenkatalogs unter Anpassung an das internat. System sowie Einarbeitung neuer Publ.en durch H. Birkalan-Gedik ist in Arbeit. Nach der Schließung des einzigen Lehrstuhls für Vk. an der Univ. Ankara aufgrund veränderter politischer Rahmenbedingungen wurden 1951 auch die Volkshäuser und die von ihnen herausgegebenen Zss. von der Regierung verboten. Volkskundliche Forschung blieb damit den individuellen Anstrengungen von Wissenschaftlern aus verschiedenen anderen Disziplinen (Geschichte, Theaterwissenschaften, Anthropologie) sowie Amateurforschern überlassen. Zu den Veröff.en dieser Zeit gehören zwei Publ.en von T. Alangu53 sowie die Diss. von M. Turgut, einem Schüler Boratavs54. Nach 1965 wurden an der neugegründeten Atatürk Univ. in Erzurum Assistenten für den Bereich Turkologie eingestellt, die aufgrund von Feldforschungen Diss.en zur türk. Erzählüberlieferung erstellten, so S. Sakaog˘lu55, B. Seyitog˘lu56 und U. Günay57. D. Yıldırım hat Witze über Angehörige des Derwischordens der Bektaschi untersucht58. Seit den 1980er Jahren ist Vk. als wiss. Disziplin an den meisten türk. Univ.en vertreten. Nach wie vor besitzen die Veröff.en von Boratav (und seinem Schüler I˙. Bas¸göz) einen zentralen Stellenwert59. An der Univ. Ankara hat der von L. J Röhrich promovierte H. Özdemir durch seine vergleichenden hist. Unters.en einen Beitr. zur türk. Erzählforschung geleistet60. Im Rahmen der Erzählerforschung haben sich mehrere Arbeiten mit dem Meistererzähler Behc¸et Mahir beschäftigt, bes. seinem Vortrag des J Körog˘lu-Epos61.
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Außerhalb der T. wurden nach 1955 zahlreiche (z. T. kommentierte) Slgen türk. Märchen in verschiedenen europ. Sprachen vorgelegt62. Bes. Erwähnung verdienen die zahlreichen Veröff.en von O. J Spies63, die in den 1950er Jahren im dt. Rundfunk vorgetragenen (z. T. auf den Slgen von Ku´nos beruhenden) türk. Märchen der Erzählerin Elsa Sophia von Kamphoevener64 und das von A. E. Uysal zusammen mit W. S. und B. K. Walker seit den 1960er Jahren erstellte Archive of Turkish Oral Narrative an der Texas Tech Univ. in Lubbock65. S. Pilicˇkova hat eine wichtige Publ. zur mündl. Überlieferung der türk. Bevölkerung in Mazedonien vorgelegt66. Die mündl. Überlieferungen nichttürk. Bevölkerungsgruppen in Anatolien weisen zahlreiche Gemeinsamkeiten mit denen der Türken auf 67. Die von E´. J Carnoy und J. Nicolaı¨des vorgelegte Unters. Traditions populaires de l’Asie Mineure (P. 1889) sowie R. M. J Dawkins‘ Modern Greek in Asia Minor (Cambr. 1916) enthalten u. a. bei den anatol. Griechen aufgezeichnete Erzählungen. G. J Dume´zil, der 1925⫺31 an der Univ. Istanbul lehrte, sammelte reichhaltiges Material aus der narrativen Überlieferung der aus dem Kaukasus stammenden Bevölkerungsgruppen (Lasen, Tscherkessen, Ubychen etc.)68. 1 Wagner, V.: Türk. Erinnerungsorte anhand von fünf ausgewählten Beispielen. Hbg 2008; Tezcan, S.: Dede Korkut Og˘uznameleri Üzerine Notlar (Anmerkungen zum oghus. Buch des Dede Korkut). Istanbul 2001. ⫺ 2 Steinbach, U.: D ß a¯t al-Himma. Kulturgeschichtliche Unters.en zu einem arab. Volksroman. Fbg 1972, 7; Ott, C.: Metamorphosen des Epos. Sı¯rat al-Mugˇa¯hidı¯n (Sı¯rat al-Amı¯ra D ß a¯t al-Himma) zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Leiden 2003. ⫺ 3 Dedes, Y.: Battalname 1⫺2. Cambr., Mass. 1996, 2. ⫺ 4 Özdemir, H.: Die altosman. Chroniken als Qu. zur türk. Vk. (Diss.) Fbg 1975, 226 sq. ⫺ 5 Melikoff, I.: La Geste de Melik Danis¸mend 1⫺2. P. 1960; Demir, N. (ed.): Daˆnis¸mend Gazi Destanı. Ankara 2006. ⫺ 6 S¸eyyad Hamza: Yusuf ve Zeliha. ed. D. Dilc¸in. Istanbul 1946; id.: Yusuf ve Zeliha. ed. A. A. Anikeeva. M. 1992. ⫺ 7 Kiredeci ¤Ali: Kesik Bas¸ Destanı (Das Epos des abgeschnittenen Kopfes). ed. M. Arguns¸ah. Ankara 2002; cf. Ocak, A. Y.: Türk Folklorunda Kesik Bas¸ (Der abgeschnittene Kopf [Totenschädel] in der türk. Folklore). Ankara 1989; C ¸ elebiog˘lu, A.: Eski Türk Edebiyatında Mesnevi (15. Yüzyıla kadar) (Das Mesnevi in der alten türk. Lit. [15. Jh.]). Istanbul 1999, 77 sq. ⫺ 8 ibid., 72⫺74. ⫺ 9 ibid., 74 sq. ⫺ 10 ibid., 75 sq. ⫺
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11 Levend, A. S.: Arap, Fars ve Türk Edebiyatlarında Leyla ve Mecnun Hikayesi (Die Geschichte von Leyla und Medschnun in der arab., pers. und türk. Lit.). Ankara 1959. ⫺ 12 Timurtas¸, F. K.: S¸eyhi ve Hüsrev ü S¸irin’i (Sˇeih˚ i und sein Werk Hüsrev ü Sˇirin). Istanbul 1980. ⫺ 13 Mehmed: Is¸k-name. ed. S. Yüksel. Ankara 1965. ⫺ 14 Yusuf-i Meddah: Varka ve Güls¸ah. ed. I˙. H. Ertaylan. Istanbul 1945; Smith, G. M.: Yusuf-i Meddah. Varqa ve Güls¸ah. A Fourteenth Century Anatolian Mesnevi. Leiden 1976. ⫺ 15 S¸eyhog˘lu Mustafa: Hurs¸id-name (Hurs¸id ü Ferahs¸ad). ed. H. Ayan. Erzurum 1979. ⫺ 16 Me¤su¯d bin Ahø med: Süheyl ü Nev-bahar. ed. C. Dilc¸in. Ankara 1991. ⫺ 17 Levend, A. S.: As¸ıkpas¸a’nın Bilinmeyen iki Mesnevisi Daha (Zwei unbekannte Mesnevis von ¯ s¸ıqpasˇa). In: Türk Dili Aras¸tırmaları Yıllıg˘ı 2 ¤A (1954) 265⫺276; cf. Boratav, P. N.: Az Gittik Uz Gittik (Wir gingen weit, wir gingen fern). Ankara 1969, 400. ⫺ 18 Onay, A. T.: Ahmed Harami Destanı (Die Geschichte des Räubers Ahmed). Istanbul 2 1946; Boratav, P. N.: Türk. Volksmärchen. B. 1967, 320. ⫺ 19 cf. C ¸ elebiog˘lu (wie not. 7) 103. ⫺ 20 Köprülü, M. F.: Türk Edebiyatı Tarihi (Türk. Lit.geschichte). Istanbul 1926, 349. ⫺ 21 cf. Kavruk, H.: Eski Türk Edebiyatında Mensur Hikayeler (Die Prosa-Erzählungen der alten türk. Lit.). Istanbul 1998, 22. ⫺ 22 Kleinmichel, S.: Das Marzuban-name. In: Altaistica 18,3 (1969) 519⫺534; Korkmaz, Z.: Marzuban-name. Ankara 1973. ⫺ 23 cf. C ¸ elebiog˘lu (wie not. 7) 240, not. 70 sq. ⫺ 24 cf. ibid., 253. ⫺ 25 Özdemir, H.: Geleneksel Kültürümüzde S¸ahmeran (Schahmeran in unserer traditionellen Kultur). In: V. Milletlerarası Türk Halk Kültürü Kongresi, Halk Edebiyatı Seksiyonu Bildirileri 2. Ankara 1997, 221⫺228, hier 224. ⫺ 26 Björkman, W.: Die altosman. Lit. In: Philologiae Turcicae Fundamenta 2. ed. L. Bazin/P. N. Boratav/J. Deny. Wiesbaden 1964, 403⫺426, hier 420 sq.; Timurtas¸, F. K.: S¸eyhıˆ’nin Harnaˆme’si (Das H ˚ ar-na¯me von Sˇeih˚ i). Istanbul 1970, 12. ⫺ 27 Yüce, K.: Saltukname. Tarihıˆ, Dinıˆ ve Efsanevıˆ Unsurlar. (Saltukname. Hist., religiöse und sagenhafte Elemente). Ankara 1988; cf. Özdemir (wie not. 4) 276 sq. ⫺ 28 Ünver, I˙.: Ahmedi, I˙skender-name. Ankara 1983; Kortantamer, T.: Leben und Weltbild des altosman. Dichters Ahø medı¯ unter bes. Berücksichtigung seines Diwans. Fbg 1973; Kavruk (wie not. 21) 129 sq. ⫺ 29 Babinger, F.: Osmanlı Tarih Yazarları ve Eserleri. Ankara (1982) 22000, 14 sq. (dt. Orig.: Die Geschichtsschreiber der Osmanen und ihre Werke. Lpz. 1927). ⫺ 30 Sezen, L.: Halk Edebiyatında Hamzanameler (Die [verschiedenen Werke namens] Hamza-na¯me in der türk. Volkslit.). Ankara 1991. ⫺ 31 Kavruk (wie not. 21) 51; Heller, B.: Die Bedeutung des arab. ¤Antar-Romans für die vergleichende Litteraturkunde. Lpz. 1931; id.: Der arab. ¤Antar-Roman. Hannover 1927. ⫺ 32 Köprülü, M. F.: Bahtiyarnama. In: I˙slam Ansiklopedisi 14. Istanbul 1979, 241 sq. ⫺ 33 Behrnauer, W. F. A.: Die Vierzig Vezire oder weisen Meister. Lpz. 1851; Gibb, E. J. W.: The History of the Forty Vezirs or the Story of the Forty
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Morns and Eves. L. 1886. ⫺ 34 Birkalan, H. A.: The Thousand and One Nights in Turkish. In: Fabula 45 (2004) 221⫺236. ⫺ 35 Björkman, W.: Die klass. osman. Lit. In: Bazin u. a. (wie not. 26) 427⫺464, hier 436 sq.; Boratav, P. N.: Autour de Nasreddin Hoca. In: Oriens 16 (1963) 194⫺223, hier 199, 210⫺221; Kavruk (wie not. 21) 153⫺155; Lami’i-zade Abdullah C ¸ elebi: Latifeler (Pointierte Geschichten). ed. Y. C ¸ alıs¸kan. Istanbul 1978. ⫺ 36 cf. u. a. Sakaog˘lu, S.: Bursalı Lamii’nin Letaifindeki Hayvan Masalları (Tiermärchen im Letøa¯’if-na¯me des La¯mi¤ı¯ aus Bursa). In: Türklük Bilgisi Aras¸tırmaları 2 (1973) 279⫺289. ⫺ 37 Kavruk (wie not. 21) 39⫺45; Rosen, G.: Das Papageienbuch 1⫺2. Lpz. 1858. ⫺ 38 Boratav (wie not. 18) 327 sq. ⫺ 39 ibid., 328. ⫺ 40 Nutku, Ö.: Meddahlık ve Meddah Hikayeleri (Der Beruf des Medda¯hø und Medda¯hø -Erzählungen). Ankara 1976, 169; Upleger, H.: Medda¯hø . In: Bazin u. a. (wie not. 26) 147⫺152; cf. Köprülü, F.: Edebiyat Aras¸tırmaları (Literar. Unters.en). Ankara 1966, 361⫺412; Boratav, P. N.: Türk Halk Edebiyatı (Türk. Volkslit.). Istanbul 1969, 67⫺74, 185 sq. ⫺ 41 cf. BP 1, 188 sq.; Spies, O.: Türk. Lit. In: Hb. der Orientalistik 5,1. Leiden u. a. 1982, 400⫺405; Boratav, P. N.: Die Volkslit. In: Bazin u. a. (wie not. 26) 38⫺44, 62⫺67; Littmann, E.: Ein türk. Märchen aus Nord-Syrien. In: Keleti szemle 2 (1901) 144⫺150; Jacob, G.: Türk. Volkslitteratur. B. 1901; Menzel, T.: Türk. Märchen 1⫺2. Hannover 1923/24; Giese, F.: Türk. Märchen. MdW 1925; Hodapp-Hammer, E.: Die dt.sprachige Erforschung des türk. Märchens 1. Bad Dürkheim 1990. ⫺ 42 Decourdemanche, J. A.: Sottisier de Nasr-Eddin-Hodja, bouffon de Tamerlan. Brüssel 1878. ⫺ 43 Wesselski, Hodscha Nasreddin; cf. auch Boratav, P. N.: Nasreddin Hoca. Ankara 1996; Marzolph, U.: Nasreddin Hodscha. Mü. 1996 (32006); Duman, M.: Nasreddin Hoca ve 1555 Fıkrası (Nasreddin Hodscha und 1555 Anekdoten). Istanbul 2008. ⫺ 44 cf. Öztürkmen, A.: Individuals and Institutions in the Early History of Turkish Folklore, 1840⫺1950. In: J. of Folklore Research 29,2 (1992) 177⫺192; ead.: The European Impact on the Early Turkish Folklore Studies. In: Placing Turkey in the Map of Europe. ed. H. Yılmaz. Istanbul 2005, 134⫺151; Gökalp, A.: Turks. V: Folklore. In: EI2 10 (2000) 734⫺736; cf. allg. Preston, W. D.: A Preliminary Bibliogr. of Turkish Folklore. In: JAFL 229 (1945) 245⫺251. ⫺ 45 D., K.: Türk Masalları (Die türk. Märchen). Istanbul 1911; Spies, O.: Türk. Volksmärchen. MdW 1967, 302; Sakaog˘lu, S.: Masal Aras¸tırmaları (Märchenforschung). Ankara 1999, 35 sq. ⫺ 46 Gökalp, Z.: Altın Is¸ık (Goldenes Licht). Istanbul 1923; cf. Ziya Gökalp Külliyatı. 1: S¸iirler ve Halkmasalları (Z. Gökalps G. W. 1: Gedichte und Volksmärchen). ed. F. A. Tansel. Ankara 1977, XIII. ⫺ 47 Akyüz, K.: Batı Tesirinde Türk S¸iir Antolojisi (Anthologie der unter westl. Einfluß stehenden Gedichte). Ankara 21952, 687. ⫺ 48 Bahtaver, H.: Türk Masalları (Türk. Märchen). Istanbul 1931; Dilc¸in, D.: C ¸ ankırı Masalları (Märchen aus C ¸ ankırı). (C ¸ ankırı 1932⫺33) Ankara 2002; Demirciog˘lu, Y. Z.:
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Yürükler ve Köylülerde Hikaˆyeler-Masallar (Geschichten und Märchen bei Nomaden und Bauern). Istanbul 1934; Azral, S. S.: Öz Türk Masalları (Märchen türk. Ursprungs). Mersin 1935; Tezel, N.: Kelog˘lan Masalları (Märchen über den Kahlkopf). Istanbul 1936; id.: Istanbul Masalları (Istanbuler Märchen). Istanbul 1938; cf. ferner id.: Contes populaires turcs. Istanbul 1953; id.: Talih Kus¸u (Der Glücksvogel). Ankara 1962; id.: Türk Masalları (Türk. Märchen) 1⫺2. Ankara 1985. ⫺ 49 Birkalan, H.: Pertev Naili Boratav (1907⫺1988). In: Fabula 45 (2004) 113⫺117; Öztürkmen, A.: Folklore on Trial. Pertev Naili Boratav and the Denationalization of Turkish Folklore. In: J. of Folklore Research 42,3 (2005) 185⫺216. ⫺ 50 Eberhard, W./Boratav, P. N.: Typen türk. Volksmärchen. Wiesbaden 1953. ⫺ 51 Jason, H./Schnitzler, O.: The Eberhard-Boratav Index of Turkish Folk Tales in the Light of the New Revision of Aarne-Thompson’s Types of the Folktale. In: Folklore Research Center Studies 1. ed. D. Noy/I. Ben-Ami. Jerusalem 1970, 43⫺71. ⫺ 52 Boratav, P. N.: Le Tekerleme. Contribution a` l’e´tude typologique et stylistique du conte populaire turc. P. 1963. ⫺ 53 Alangu, T.: Billur Kös¸k Masalları (Märchen des Kristallpalastes). Istanbul 1961; id.: Kelog˘lan Masalları (Märchen über den Kahlkopf). Istanbul 1967. ⫺ 54 Tug˘rul, M.: Mahmutgazi Köyünde Halk Edebiyatı (Die Volkslit. des Dorfes Mahmutgazi). Istanbul 1969; cf. Eberhard/Boratav (wie not. 50) 413⫺420. ⫺ 55 Sakaog˘lu, S.: Gümüs¸hane Masalları (Märchen aus Gümüs¸hane). Ankara 1973; id.: Anadolu-Türk Efsanelerinde Tas¸ Kesilme Motifi ve Efsanelerin Tip Katalog˘u (Das Motiv der Versteinerung in türk.-anatol. Sagen und Typenkatalog der Sagen). Ankara 1980; id.: Kıbrıs Masalları (Märchen aus Zypern). Ankara 1983; id./Ergun, M.: Türkmen Halk Masalları (Turkmen. Volksmärchen). Ankara 1991; id.: Gümüs¸hane ve Bayburt Masalları (Märchen aus Gümüs¸hane und Bayburt). Ankara 2002. ⫺ 56 Seyitog˘lu, B.: Erzurum Halk Masalları üzerinde Aras¸tırmalar (Unters.en über die Volksmärchen aus Erzurum). Ankara 1975. ⫺ 57 Günay, U.: Elazıg˘ Masalları I˙nceleme (Unters. über die Märchen aus Elazıg˘). Erzurum 1975. ⫺ 58 Yıldırım, D.: Türk Edebiyatında Bektas¸i Fıkraları (Bektaschi-Witze in der türk. Lit.). Ankara 1978. ⫺ 59 Boratav, P. N.: Folklor ve Edebiyat (Volksüberlieferung und Lit.) 1⫺2. Istanbul 1982/83; Bas¸göz, I˙.: Turkish Folklore and Oral Literature. ed. K. Silay. Bloom. 1998; id.: Hikaˆye. Turkish Folk Romance as Performance Art. Bloom. 2008; cf. allg. Alptekin, A. B.: Tas¸eli Masalları (Märchen aus Tas¸eli). Ankara 2002, 5⫺16 (bibliogr. Überblick). ⫺ 60 Özdemir (wie not. 4); id.: I˙ki Türkc¸e Analatı ve Uluslararası Varyantları (Zwei türk. Erzählungen und ihre internat. Var.n). In: Festschr. M. Canpolat. Ankara 2003, 171⫺176; id.: Türk. Erzählungen über Altentötung. In: Türkoloji Dergisi 10,1 (1992) 63⫺70; id.: Zwei Erzählungen im Ber. über die Eroberung Bilecik’s durch die Osmanen nach altosman. Historiographen. ibid. 12,1 (1997) 25⫺57. ⫺
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Turkmenen
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Behc¸et Mahir: Körog˘lu Destanı (Die Geschichte von Körog˘lu). ed. M. Kaplan/M. Akalın/M. Bali. Ankara 1973; Walker, W. S.: A Turkish Folktale. The Art of Behc¸et Mahir. N. Y. u. a. 1996; Sakaog˘lu, S.: Meddah Behc¸et Mahir’in Bütün Hikaˆyeleri (Das Repertoire des professionellen Erzählers Behc¸et Mahir) 1⫺2. Ankara 1997/99. ⫺ 62 Aganin, R./Al’kaeva, L./Kerimov, M.: Tureckie skazki (Türk. Märchen). M. 1960; Stebleva, F. V.: Tureckie skazki (Türk. Märchen). M. 1986; Pflegerl, B.: Es war einmal, es war keinmal. Türk. Märchen. Istanbul/Wien 1992. ⫺ 63 z. B. Spies, O.: Die Silberpappel mit den goldenen Früchten u. a. türk. Volksmärchen. Wiesbaden 1976. ⫺ 64 Kamphoevener, E. S. von: An den Nachtfeuern der Karawan-Serail. Märchen und Geschichten alttürk. Nomaden 1⫺2. Hbg 1956/57; ead.: Anatol. Hirtenerzählungen. Hbg 1960; cf. ead.: Das Lachen der Scheherazade. Das Hörwerk. ed. R. Galitz u. a. Ffm. 2008 (Buch mit 2 CD-ROM); Moericke-Heyd, H.: Die Märchenbaronin. Elsa Sophia von Kamphoevener. Zürich/Dortmund 1995. ⫺ 65 Walker, W. S.: A Bibliogr. of American Scholarship on Turkish Folklore and Ethnography. Ankara 1982; id./Uysal, A. E.: Tales Alive in Turkey. Cambr. 1966; iid.: More Tales Alive in Turkey. Lubbock, Tx. 1992; Uysal, A. E.: Traditional Folktales for Children. Ankara 1986; id.: Selections from Living Turkish Folktales. Ankara 1989; Walker, B. K.: The Art of the Turkish Tale 1⫺2. Lubbock, Tx. 1990/93; zur Kritik cf. Conrad, J.: The Political Face of Folklore. In: JAFL 111 (1998) 409⫺413. ⫺ 66 Pilicˇkova, S.: Osnovni tipovi anekdoti kaj turcite od Republika Makedonija (Hauptschwanktypen bei den Türken aus der Republik Mazedonien). Skopje 1991. ⫺ 67 Boratav (wie not. 17) 426 sq. ⫺ 68 Dume´zil, G.: Trois Re´cits oubykhs. In: Anthropos 54 (1959) 99⫺ 128; id.: E´tudes oubykhes. P. 1959; id.: Contes lazes. P. 1937; id.: Contes et le´gendes des Oubykhs. P. 1957.
Ankara
Hasan Özdemir
Turkmenen (Eigenbezeichnung Türkmenler), ursprünglich nomadisches, heute seßhaftes Turkvolk1. Neben den ca fünf Millionen T. im mittelasiat. Turkmenistan gibt es turkmen. Minderheiten in Rußland, im Kaukasus, im Iran und in Afghanistan; der linguistische Status von in der Türkei, im Irak, in Jordanien und in Syrien lebenden Gruppen ist nicht zufriedenstellend geklärt2. Auf dem von T. bewohnten Territorium sind durch zahlreiche Funde bereits aus dem 4./3. Jahrtausend v. u. Z. Städte belegt; die Geschichte des Gebiets verlief unter wechselnder Herrschaften und ist eng mit iran. und anderen benachbarten mittelasiat. Turkvölkern (u. a. J Usbeken, J Karakalpaken)
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verbunden. Nach der Eroberung durch islam. Araber in der 2. Hälfte des 10. Jh.s3 stand das Gebiet verschiedentlich unter mongol. bzw. pers. Einfluß, z. T. auch unter Herrschaft der Khanate von Buchara und Chiwa. In der 2. Hälfte des 19. Jh.s verstärkte sich die zaristische und später sowjet. Einflußnahme; nach 1917 wurde innerhalb der UdSSR die Turkmen. Sowjet. Sozialistische Republik gegründet, aus der 1991 die unabhängige Republik Turkmenistan hervorging. Nachdem das Turkmenische wie andere Turksprachen lange Zeit mit arab. Buchstaben geschrieben worden war, wurde nach der Oktoberrevolution zunächst eine Schrift auf der Grundlage des türk. Lateinalphabets verwendet, später eine auf kyrillischer Grundlage; neuerdings wird ein speziell entwickeltes turkmen. Lateinalphabet benutzt4. Eine zentrale Rolle kommt der mündl. überlieferten Volksdichtung zu. Diese wird auch heute noch mit Begleitung der zweisaitigen Dutar von den als baxsˇ¨ı oder asˇ¨ık (hier: Lehrer, Erzieher) bezeichneten Sängern oder von den als kissaxan (Rezitator) bezeichneten Volkserzählern tradiert5. Zu den erzählenden Gattungen der turkmen. Volksdichtung6 gehören destan (Epos) als Mischgenre aus (rhythmischer) Prosa und Lyrik, e˙rte˙kı¯ bzw. kyrk-y´alan (Märchen) und rovayat bzw. xekay´a (Legende, Sage, allg. Überlieferung); lyrische Formen sind läle (Lied junger Frauen), xüvdı¯ (Wiegenlied) und monjuga¯tdı¯ (eine Art Wahrsagen mit Gesang) sowie Lieder für bestimmte Gelegenheiten wie a¯g˙¯ı (Toten- bzw. Klagelied) oder y´armezan (Lied zu religiösen Festen). Zu den kleineren Formen zählen na¯kı¨l bzw. ata¯lar sözı¯ (Sprichwort, Redensart), yömak (Spottreim), sˇorta¯ söz (Aphorismus, Anekdote), ta¯pma¯cˇa¯ bzw. matal (Rätsel), ya¯nı¯ltma¯cˇ (Zungenbrecher), sanawacˇ (Abzählreim), dog˙a¯ (Zauberspruch), alkı¨sˇ (Segenswunsch) und sögüncˇ (Schmähreim)7. Allg. ist die Entwicklung der Epenund Märchensujets und ihrer Motivik durch die ursprüngliche nomadische Lebensweise und das hist. Schicksal der T. geprägt8. Die Sammlung und Veröffentlichung turkmen. Märchen begann in den 1930er Jahren mit den Feldforschungen der Russ. Akad. der Wiss.en. Die erste dokumentierte Slg (13 Märchen) erschien 1954 in russ. Übers.; die erste
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Turkmenen
Märchensammlung in turkmen. Sprache gab der turkmen. Schriftsteller Ata Kausˇutov 1940 heraus; 1954⫺90 erschienen größere Slgen turkmen. Märchen in turkmen. und russ. Sprache9. Zu den bedeutendsten und ältesten Zeugnissen der mündl. überlieferten Dichtung zählen die Heldenepen Qurkut-Ata (Buch des Korkut; J Dede Korkut Kitabi) mit zwölf Erzählzyklen und Göroglı¨ (J Körog˙lu) mit 44 Erzählzyklen10. Volksepen mit romantischen Stoffen11 sind die nach den Protagonisten benannten Epen Sˇa¯senem-Garı¯p, Gövxer-gı¯z Sˇ¯ıra¯lı¯-beg, ˙ arag˘a-Ba¯tı¨r, Nedg˘ep-ogla¯n, SeyAslı¨-Kerem, G pelmelek-Medhalgˇemal, Mäleke-Dilaram, Kası¨m-oglan12, Sˇa¯bexrem13, Zöxre-Tahı¨r14 und Xurlukga-Hemra. Versionen dieser Epen liegen sowohl in zahlreichen Mss. als auch in lithographischen Drucken des 19. Jh.s vor, die in Taschkent und an der Univ. Kasan herausgegeben wurden15. Als Autoren der Liebesepen Yusup-Zulejxa (cf. J Joseph: Der keusche J.) und Sa¯ja¯tlı¯-Hemra gelten die turkmen. Dichter Andalib (18. Jh.) und Sˇa¯hbändä (ca 1720⫺ 1800)16. Kompositorisch sind die meisten turkmen. Epen durch den Wechsel zwischen Prosa und Lyrik charakterisiert; Ereignisse werden in Prosa erzählt, Gefühle der Helden kommen in Reimform als Monolog bzw. Dialog zum Ausdruck17. In Heldenepen wie Göroglı¨ spielt das J Pferd als Kampfgefährte und wichtigster Helfer des Helden eine wichtige Rolle18. Die Handlungsträger der turkmen. Volksdichtung, bes. der Liebesepen, sind im allg. flächenhaft, Geburt und Kindheit verlaufen überwiegend stereotyp: Kinderlosigkeit des Schahs und seines Wesirs (J Unfruchtbarkeit), Flehen um Kinder, Schwur, die Kinder miteinander zu verheiraten, und Eidbruch durch einen der Väter. Nach zahlreichen Hindernissen und Konflikten setzen sich die Helden siegreich durch, heiraten meist die Prinzessin und werden selbst zum Herrscher ernannt. Als Helfer agieren oft fremde Herrscher oder übernatürliche Mächte. Die turkmen. Märchen weisen z. T. einen ähnlichen Handlungsverlauf wie die Epen auf, sind jedoch dichter erzählt und mit Zauberelementen sowie Belehrungen verbunden19. Sozialkritik wird in yomak und sˇorta¯ söz ausgedrückt20. Viele Märchen beginnen mit einer Einleitungsformel wie ,Bir bar eken, bir y´ok
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eken‘ (Es war wohl einmal, es war wohl keinmal), ,Gadı¨m zamanlarda‘ (wörtlich: In alten Zeiten). Einige Märchen besitzen eine J Rahmenerzählung, so etwa eine turkmen. Fassung des pers. J Papageienbuchs21. Die turkmen. Märchen lassen sich in drei Gattungen aufteilen: sog. Novellenmärchen über Sitten und Bräuche22, Zaubermärchen mit Träumen und übernatürlichen Wesen wie perı¯ (J Peri [Pari]) oder döv (J Dev)23 und Tiermärchen bzw. Fabeln24. Zu den humoristischen Gattungen zählen der Erzählzyklus über Alda¯rköse, einen listigen und hilfsbereiten J bartlosen Lügner, und feingeistige Erzählungen über hist. Persönlichkeiten wie den (tschaghatai.) Dichter Mı¯r-Alı¯ Sˇ¯ır Nava¯Åı¯ ø üseyin Bay(1441⫺1501) und den Sultan H Kara25. Nicht weniger populär sind Geschich˘ appaklar ten über Esenpolat, die Brüder G oder den Witzbold Ependı¯ (J Hodscha Nasreddin)26. Noch zu Beginn des 21. Jh.s ist kein turkmen. Fest ohne baxsˇ¨ı und Lieder aus den Volksepen vorstellbar. Beim Vortrag wetteifern die Sänger bzw. Rezitatoren miteinander27, sie improvisieren und lösen einander ab. Auch wenn dieser Vortragsstil früher männlichen Sängern vorbehalten war28, gab es nicht selten Frauen als sog. xelej-baxsˇ¨ı; heute treten sowohl Männer als auch Frauen als baxsˇ¨ı auf. Die Zuhörer der Vorführungen sind oft emotional stark beteiligt, sie identifizieren sich mit den Helden und ihrem Schicksal, dessen Wahrheitsgehalt sie nicht in Frage stellen29. Die gesellschaftlichen und politischen Wandlungen in Turkmenistan nach dem Zusammenbruch der UdSSR (1991) sind wohl der Hauptgrund dafür, daß Institutionen wie das Inst. für Turkmen. Sprache und Lit. an der Akad. der Wiss.en oder die Fakultät für Turkmen. Philologie an der Univ. in Aschchabad sich mit einer anderen, national motivierten Bewertung der turkmen. Geschichte, Lit. und Volksüberlieferung beschäftigen. In diesem Zusammenhang sind zahlreiche Werke über turkmen. Sprichwörter und Weisheiten, Märchen, Volksglauben, Epen etc. herausgegeben worden30. 1 Agadzˇanov, S. G./Orazov, A. (edd.): Issledovanija po e˙tnografii turkmen (Unters.en zur Ethnographie der T. ). Aschchabad 1965; Durdyjev, M.: Turkmeny Central’noj Azii (Die T. Zentralasiens). Aschchabad
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Turkmenen
1993;Vasil’eva, G. P.: Istorija e˙tnograficˇeskogo izucˇenija turkmenskogo naroda […] (Geschichte der ethnogr. Erforschung des turkmen. Volks […]). M. 2003. ⫺ 2 Turkmeny zarubezˇnogo vostoka. Ocˇerki o turkmenach Irana, Afganistana, Iraka, Sirii, Turzii i Kitaja (Die T. des ausländischen Ostens. Eine Studie über die T. in Iran, Afghanistan, im Irak, in Syrien, der Türkei und China). Aschchabad 1993. ⫺ 3 Benzing, J.: Die türkmen. Lit. In: Philologiae Turcicae Fundamenta 2. ed. L. Bazin u. a. Wiesbaden 1964, 721⫺741, hier 721; Bartold, B. B.: Ocˇerk istorii turkmenskogo naroda (Studie zur Geschichte des turkmen. Volkes). In: id.: Obsˇcˇie raboty po istorii Srednej Azii. Raboty po istorii Kavkaza i Vostocˇnoj Evropy 2,1. M. 1963, 548⫺569; Korogly, H. G.: Sˇasenem i Ga¯rı¨p, Ka¯sı¨m-ogla¯n i drugie turkmenskie narodnye povesti (Schasenem und Garyp, Kasym-oglan und andere turkmen. Volkserzählungen). M. 1991, 12⫺ 14. ⫺ 4 Sahatova, G.: Ein Wandel des Jh.s. Türksprachen der ehemaligen Sowjetunion und ihre Schr. In: Forschung aktuell 2,10 (Gießen 2006) 22⫺26. ⫺ 5 Hein, J.: Epik altai. Völker. In: Volksepen der ural. und altai. Völker. ed. W. Veenker. Wiesbaden 1968, 55⫺65, hier 55 sq.; Hazai, G.: Neuere Lit. über Volksepen der altai. Völker der Sowjetunion. ibid., 66⫺74; Zhirmunsky, V./Chadwick, N. K. (edd.): Oral Epics of Central Asia. Cambr. 1969, 316, 334, 336; Sˇasenem i Ga¯rı¨p, narodnyj destan (Schasenem und Garyp, ein Volksroman). Aschchabad 1945, 4⫺ 7; Zˇirmunskij, V.: Narodnyj geroicˇeskij e˙pos (Das volkstümliche Heldenepos). M./Len. 1962, 267; Mirbadaleva, A. C.: Xurlugka i Xemra. Sajat i Xemra. Turkmenskij romanicˇeskij e˙pos. (Churlugka und Chamra. Sayat und Chamra. Das turkmen. Liebesepos). M. 1971, 10 sq.; Korogly (wie not. 3) 7⫺10. ⫺ 6 Seyidov, A.: Türkmen halk döredig˙iligi (bibliografik görkezig˙i)/Turkmenskoe narodnoe tvorcˇestvo (bibliograficˇeskij ukazatel’) (Die turkmen. Volkskunst [Bibliogr.]). Aschchabad 1969. ⫺ 7 ibid., 5⫺20; Kekilov, A.: Turkmenskij jumor (Turkmen. Humor). Aschchabad 1962; Karriev, B.: Türkmen yumorı¯/ Turkmenskij jumor (Der turkmen. Humor). Aschchabad 1978, 5⫺13; Sˇasenem i Ga¯rı¨p (wie not. 5) 4 sq. ⫺ 8 Sakali, M. A.: Turkmenskij skazocˇnyj e˙pos (Das turkmen. Märchenepos). Aschchabad 1956, 8⫺ 16; Stebleva, I.: Prodannyj son. Turkmenskie narodnye skazki (Der verkaufte Traum. Turkmen. Volksmärchen). M. 1969, 5; Zˇirmunskij (wie not. 5) 207. ⫺ 9 Stebleva (wie not. 8) 5 sq. ⫺ 10 Benzing (wie not. 3) 722; Karryev, B. A.: E˙picˇeskije skazanija o Ker-ogly u turko-jazycˇnych narodov (Epische Sagen über Körogly bei turksprachigen Völkern). M. 1968, 100; Gör-Oglı¨. Türkmen gaxrı¨mancˇ¨ılı¨k eposı¨ (Gör-Ogly. Turkmen. Heldenepos). M. 1983; Bartold, B. B.: Korkud. In: id. (wie not. 3) t. 5, 236⫺238; id.: Tureckij e˙pos i Kavkaz (Das türk. Epos und der Kaukasus). ibid., 473⫺486; Zhirmunsky/Chadwick (wie not. 5) 284 sq., 303 sq., 307⫺317, 324; Schirmunski, V.: Vergleichende Epenforschung 1. B. 1961, 20⫺27; Karryev, B.: Turkmenskie poslovicy i pogovorki (Turkmen. Sprichwörter und Redewendungen).
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Aschchabad 1980, 4; Bajramov, N.: Rozˇdenie GörOgly (Die Geburt von Gör-Ogly). Aschchabad 1985, 5⫺7; Zˇirmunskij (wie not. 5) 213⫺218, 271 sq. ⫺ 11 ibid., 233 sq. ⫺ 12 Türkmen halk dessanları¨ (Turkmen. Volksepen). Aschchabad 1993. ⫺ 13 Korogly (wie not. 3) 10 sq.; Sˇasenem i Ga¯rı¨p (wie not. 5) 5 sq. ⫺ 14 Sakali (wie not. 8) 33⫺38, 40 sq.; Stebleva (wie not. 8) 12 sq., 17; Zhirmunsky/Chadwick (wie not. 5) 328, 330; Benzing (wie not. 3) 723; Mirbadaleva (wie not. 5) 9 sq.; Molla Nepes: Skazanie o Zochre i Tachire (Die Sage von Zohre und Tahir). M. 1960, 5⫺8. ⫺ 15 Zhirmunsky/Chadwick (wie not. 5) 316 sq.; Hatto, A. T.: Eine allg. Theorie der Heldenepik. Opladen 1991, 10; Zˇirmunskij (wie not. 5) 203. ⫺ 16 Mirbadaleva (wie not. 5) 9⫺11; Benzing (wie not. 3) 725; Korogly (wie not. 3) 7; Sa¯ja¯tlı¯Hemra. Aschchabad 1969. ⫺ 17 ibid., 5⫺20, 17; Zˇirmunskij (wie not. 5) 234⫺240. ⫺ 18 Schirmunski (wie not. 10) 25⫺27. ⫺ 19 Vierzig Lügen und andere türkmen. Volksmärchen. ed. O. Erberg. B. 1973; Xalmuhamedov, Sˇ.: Türkmen ertekilerinde durnukly cˇepercˇ¯ılı¯k däpler (Feste Kunsttraditionen in turkmen. Märchen). Aschchabad 1987; Reichl, K.: Türkmen. Märchen. Bochum 1982; Seyitmuradov, K./Chalmuchamedov, S. (edd.): Turkmenskij fol’klor na sovremennom e˙tape (Die turkmen. Folklore der Moderne) 1. Aschchabad 1976; Türkmen halk ertekileri (Turkmen. Volksmärchen) 1⫺3. Aschchabad 1979. ⫺ 20 Karriev (wie not. 7) 10 sq. ⫺ 21 Sakali (wie not. 8) 33⫺38, 40 sq.; Stebleva (wie not. 8) 17, 12 sq. ⫺ 22 Sakali (wie not. 8) 73⫺86; Veliev, B.: Türkmen folklorı¨nda durmusˇ¨ı ertekilerininˇ gelip cˇ¨ıkı¨sˇ¨ı (Über die Entstehung der Märchen über Sitten und Bräuche in der turkmen. Folklore). Aschchabad 1990. ⫺ 23 ibid., 50⫺71. ⫺ 24 Annanurova, S.: Turkmenskie skazki (Turkmen. Märchen). Aschchabad 1978, 3 sq.; Stebleva (wie not. 8) 5⫺7; Sakali (wie not. 8) 46⫺50. ⫺ 25 Karriev (wie not. 7) 10 sq.; Annanurova (wie not. 24) 4; Benzing (wie not. 3) 723. ⫺ 26 ibid.; Yomaklar ve degisˇmeler (Spottreime und Witze). Aschchabad 1964, 105⫺111, 113⫺ 141. ⫺ 27 Zˇirmunskij (wie not. 5) 253, 261 sq. ⫺ 28 Hatto (wie not. 15) 9 sq. ⫺ 29 ibid., 10 sq., 19. ⫺ 30 Altyyew, A./Geldiev, G.: Türkmen nakyllary we atalar sözi (Turkmen. Sprichwörter und Weisheiten). Ankara 2002; Durdyyewa, A.: Asly-Kerem. Türkmen halk dessany (Asly-Kerem. Turkmen. Volksepos). Aschchabad 2004; Masadowa, L.: Türkmen dessanlarynda gelin-gyzlarynˇ milli kes¸bi (Nationale Frauentypen in turkmen. Epen). Aschchabad 2001; Türkmen halk ertekileri. Jadyly ertekiler (Turkmen. Volksmärchen. Zaubermärchen). Aschchabad 2006; Türkmen halk ertekileri (Turkmen. Volksmärchen). Aschchabad 2007; Türkmen halk matallary (Turkmen. Volksrätsel). Aschchabad 2005; Türkmen halk nakyllary (Turkmen. Sprichwörter). Aschchabad 2005; Türkmen halk yrym-ynanc¸lary (Der turkmen. Volksglaube). Aschchabad 2005; Türkmen halk dessanlary 1 (Turkmen. Volksepen 1). Aschchabad 1993; Geldiyewa, S.: Türkmen s¸orta sözleri (Turkmen. Aphorismen/Anekdoten). Aschchabad 2004.
Gießen
Gülschen Sahatova
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Turm
Turm, Bauwerk, dessen Höhe seinen Durchmesser deutlich übersteigt. T.e können eine runde oder polygonale Grundfläche haben, freistehend oder Teil eines größeren Gebäudes sein. Aufgrund ihrer exponierten Lage und Höhe dienen sie zu Beobachtungs-, Verteidigungs- und Orientierungszwecken, wie Wachund Wehrtürme (z. B. die den Kern einer Burg bildenden Burgtürme oder Bergfriede), Leuchttürme und in jüngerer Zeit Funk- oder Kontrolltürme; Glockentürme und Minarette werden zum weithin hörbaren Ruf zum Gottesdienst oder Gebet genutzt. Wohn-, Vorrats-, Wasser- oder Pulvertürme sind Schutzbauten; T.e dienten aber auch vielfach als Kerker. T.e von Rathäusern und sakralen Gebäuden repräsentieren weltliche und geistliche Macht: In jüngster Zeit erreichen als T.e bezeichnete Hochhäuser eine enorme Höhe; das derzeit höchste Bauwerk ist mit 828 Metern der Burgˇ H ˚ alı¯fa (T. H ˚ alı¯fa) in Dubai. Aufgrund ihres Symbolcharakters wurden die über 400 Meter hohen Twin Towers des World Trade Center in New York am 11. 9. 2001 Ziel eines terroristischen Anschlags. Die Funktion von T.en unterliegt einem hist. Wandel. T.e können aufgrund ihrer städtebaulichen Eigenständigkeit den Status von Wahrzeichen annehmen, so im Falle des Eiffelturms oder des Schiefen Turms von Pisa. In jüngster Zeit erlangten sog. Hochhauskletterer und -springer mit ihren spektakulären Aktionen große mediale Aufmerksamkeit1. Der Leuchtturm von Alexandria war wohl der erste Leuchtturm und zugleich das wahrscheinlich höchste Bauwerk der Antike (J Weltwunder). Bereits aus der Bibel ist die Erzählung vom T.bau zu Babel bekannt (Gen. 11,1⫺9; J Sprachenwunder): Etwa 150 km südlich vom heutigen Bagdad gelegen, dürfte der T. um 1800 a. Chr. n. in der 1. Dynastie Babylons von König Nimrod errichtet worden sein. Er sollte bis in den Himmel reichen (Mot. C 771.1, F 772.1), doch verhinderte Gott seine Vollendung: Als Strafe für die Sünden der Menschen verwirrte er ihre einheitliche Sprache und zerstreute sie in alle Länder2. Reminiszenzen an die bibl. Erzählung finden sich auch im Koran3. T.e als markante Gebäude sind in den genannten Funktionen in zahlreichen Erzählungen präsent4 und begegnen in unterschiedlich-
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ster Ausprägung: mit und ohne Fenster, mit unterirdischen oder geheimen J Gängen oder als schwebende T.e im Himmel (Mot. F 163.7.1). Der Aufstieg über einen T. ist wie das Erklettern einer in den Himmel wachsenden Pflanze (J Bohnenranke; Baum: Der himmelhohe J B.) eine Möglichkeit, ins Jenseits zu gelangen5. Im Kontext von Freierproben steht die unlösbar erscheinende Aufgabe, einen T. aus Elfenbein zu errichten (cf. auch AaTh 513 C/ATU 531: J Sohn des Jägers)6. Der T. dient als kulturspezifisches Äquivalent zu J Höhle und unterirdischem Gemach häufig der Isolierung meist weiblicher Protagonisten (J Gefangenschaft; cf. J Initiation)7. Oft sind es die Eltern, die eine (junge) Frau in einen T. sperren. So wird versucht, J Danae davon abzuhalten, Nachkommen zu bekommen; die hl. J Barbara soll zur Ehe gezwungen werden. Die hl. Christina dagegen sollte den röm. Göttern dienen und wurde ⫺ wie die hl. Irene, die man wegen ihrer Schönheit einsperrte8 ⫺ im T. zum Christentum bekehrt9. Die Heldin in AaTh/ATU 310: J Jungfrau im T. wird ebenso vor potentiellen Bewerbern verborgen wie die Protagonistin einer griech. Var. zu AaTh/ATU 898: J Sonnentochter10 und die Hauptfigur in der Sage von J Floire et Blancheflor. J Crescentia (AaTh/ATU 712) kann sich den unerwünschten Liebesanträgen ihres Schwagers entziehen, indem sie ihn in einen T. sperrt11. Der Ehemann in AaTh/ATU 1419 E: J Inclusa, der seine Frau in einem T. festhält, um sie vom Ehebruch abzuhalten, wird überlistet: Seine Frau und ihr Liebhaber nutzen einen geheimen unterirdischen Gang zur Flucht. In Sagen werden Frauen in einen T. gesperrt, wenn sie sich Verführungsversuchen widersetzen12. Mitunter ist der Sprung aus dem T. mit selbstmörderischer Absicht belegt13. J Simon Magus soll von einem Kirchturm, von dem aus er über den Petersplatz fliegen wollte, in den Tod gestürzt sein. Als Versteck oder Zufluchtsort wird der T. in Schicksalserzählungen benutzt, um den Protagonisten vor dem prophezeiten Schicksal zu bewahren (AaTh 934, 934 A*/ATU 934: J Todesprophezeiungen). In KHM 50, AaTh/ ATU 410: J Schlafende Schönheit verbirgt die übernatürliche Gegenspielerin die Spindel, die den Zauberschlaf der Protagonistin auslösen
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Turnier
wird, in einem T. In einer anderen Var. des Erzähltyps wird die Heldin bereits schlafend in den T. gebracht14. In einer hess. Fassung zu AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder rettet sich die Königstochter von Mäusen verfolgt in einen T.15 Aber nicht immer bringt der T. die erhoffte Rettung, wie die Sage vom J Mäuseturm von Bingen und mit ihr verwandte Erzählungen belegen. Gelegentlich dienen T.e zum Verbergen von Schätzen16. Technische Details von T.en werden mitunter in Sagen thematisiert17. Stereotype Vorstellungen von T.en begegnen auch in der populären Erzählliteratur: In J. R. R. J Tolkiens Romantrilogie The Lord of the Rings (1954/54/55) bilden zwei T.e die Zentren der Macht Saurons und Sarumans. Sprichwörtlich ist der Elfenbeinturm als Refugium von Wissenschaftlern und Künstlern18. 1
Heinle, E./Leonhardt, F.: T. e. Stg. 21990; Binding, G.: T. In: Lex. des MA.s 8. Mü. 1997, 1111⫺1113; T. In: LCI 4 (1972) 394 sq.; Feltes, M.: Bauten, die die Welt (be)deuten. In: Der Vater in Märchen, Mythos und Moderne/Burg und Schloss, Tor und T. im Märchen. ed. H. Lox/S. Lutkat/W. Schmidt. Krummwisch 2008, 205⫺221. ⫺ 2 Mann, A.: Babylon. T. In: LCI 1 (1968) 236⫺238; cf. Minkowski, H.: Vermutungen über den T. zu Babel. Freren 1991, 16. ⫺ 3 Speyer, H.: Die bibl. Erzählungen im Qoran. (Gräfenhainichen 1931) Nachdr. Hildesheim 1988, 116⫺ 118. ⫺ 4 Uther, H.-J.: Von Königsschlössern und Kristallpalästen. In: Lox u. a. (wie not. 1) 113⫺134, hier 128 sq. ⫺ 5 Karlinger, F.: Vom Austausch der Jenseitsgestalten und Wandel der Funktionen in der Volksprosa. In: Gott im Märchen. ed. J. Janning u. a. Kassel 1982, 62⫺75, hier 72; cf. auch Zagami, G.: T.e, Treppen, Himmelsleitern ⫺ ital. Märchenheldinnen auf dem Weg nach oben. In: Sprachmagie und Wortzauber/Traumhaus und Wolkenschloss. ed. I. Jacobson/H. Lox/S. Lutkat. Krummwisch 2004, 201⫺222.⫺ 6 Scherf 1, 664. ⫺ 7 cf. z. B. Bäcker, J.: Zhaos Mergen und Zhanglıˆhuaˆ Katoˆ. In: Fabula 49 (2008) 288⫺324, hier 291. ⫺ 8 Stadler, J. E./Heim, F. J./Ginal, J. N. (edd.): Vollständiges Heiligen-Lex. 1⫺5. Augsburg 1858⫺82, hier t. 3, 53. ⫺ 9 ibid. t. 1, 606 sq. ⫺ 10 Gobrecht, B.: Verführung im T. In: Lox u. a. (wie not. 1) 135⫺154, hier 145⫺148. ⫺ 11 cf. auch Grimm DS 442 (Hildegard). ⫺ 12 Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch, num. 892; Aurbacher, L.: Ein Volksbüchlein. ed. J. Sarreiter. Lpz. [um 1878/ 79], num. 50; Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg 2. Wien 1880, num. 5; Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen l. Norden/Lpz. 1891, num. 37; Gredt, N.: Sagenschatz des Luxemburger Landes. Luxemburg 1883, num. 1122; Pröhle, H.: Rheinlands schönste Sagen und
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Geschichten. B. 1886, 143⫺170; Kühnau, R.: Oberschles. Sagen geschichtlicher Art. Breslau 1926, num. 407. ⫺ 13 Grimm 205; Bechstein (wie not. 12) num. 580; Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staats 2. Glogau 1871, num. 1222; Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. ed. O. Mensing. Schleswig 1921, 42 sq. ⫺ 14 Romania 13 (1884) 266⫺273. ⫺ 15 BP 1, 529 sq. ⫺ 16 Bechstein (wie not. 12) num. 75; KHM 33; Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen. MdW 1923, num. 37; Zingerle, I. und J.: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. Regensburg 1854, 243⫺251. ⫺ 17 Campion-Vincent, V./Renard, J.-B.: Le´gendes urbaines. Rumeurs d’aujourd’hui. P. 1992, 140⫺146 (Eiffelturm und Turm von Pisa). ⫺ 18 Bergmann, R.: Der elfenbeinerne T. in der dt. Lit. In: ZfdA 92 (1963) 292⫺320; Röhrich, Redensarten 1, 380.
Göttingen
Erika Becker
Turnier, nach festgelegten Regeln gestaltetes ma. Kampfspiel. Das T. simulierte in weitläufigem Gelände eine Schlacht zwischen zwei berittenen, Kriegswaffen führenden Kontingenten. Konstitutiv und namengebend war eine spezifische Kampfweise (lat. tornatio, altfrz. tournoi), bei der sich die Kämpfer nach erfolgter koordinierter Konfrontation umwandten und die gegnerischen Linien erneut attackierten. Oft als T. bezeichnet, jedoch zu unterscheiden sind die Tjost, ein J Zweikampf zu J Pferd mit scharfen oder entschärften Stoß-, Hieb- oder Schlagwaffen, und der Buhurt, ein Formationsreiten ohne Waffeneinsatz. Das T. entstand Mitte des 11. Jh.s im frz. Raum, als neue Angriffs- und Verteidigungstechniken ein intensives Training für Reiter und Pferde erforderten. Aus dem am tatsächlichen Gefecht orientierten Manöver-T. ging das regelgebändigte Kampfspiel hervor1. Aufgrund seiner kompetitiven, ostentativen, renommeebegründenden und soziablen Züge rückte das T. ins festliche Hofleben ein (J Höfisches Leben) und avancierte zu einer von der Aristokratie kultivierten Demonstration ihres Status2 und Wertekodexes3. Trotz kirchlicher Verbote4 verbreitete sich das T. seit dem 12. Jh. in weiten Teilen Europas. Da auf dem T.platz, den die Dichter zum Ort idealer ritterlicher Existenz und Bewährung stilisierten, Idealität und Realität von J Ritterschaft zur Deckung gebracht werden konnten, entwickelten die Aristokraten neben dem stets prakti-
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Turnier
zierten, weil militärisch notwendigen Gruppenturnier neue, ihrer Kampfspielbegeisterung und ihren soziokulturellen Interessen gleichermaßen entgegenkommende Var.n. Veranstaltungstypen wie Tafelrunden (13. Jh.) und Thementurniere (15. Jh.) integrierten eine Abfolge strikt reglementierter Einzelbegegnungen in eine am literar. Fundus inspirierte romaneskmärchenhaft getönte Fiktion. Ihre Plots evozierten klassische Abenteuersituationen und motivierten die Gefechte als Erfüllung ritterlicher Aufgaben: Befreiung von Friedensbrechern, Beistand für Frauen in Bedrängnis, Bewährungsproben im Minnedienst. Die Beteiligten traten in Kostümierungen und in Szenarien, die den fiktionalen Vorgaben entsprachen, gegeneinander an. In den durch die fiktive Rahmenhandlung zur aventure deklarierten Waffengängen konnten sich die Teilnehmer als perfekte Verkörperungen des ritterlichen Standesideals erweisen5. Die für Repräsentation und Legitimation unverzichtbare Zeichenhaftigkeit dieser Synthesen von Ritterkampf und Rollenspiel begründete die Vitalität der Thementurniere, deren Kampfpartien seit dem 16. Jh. durch ideologieträchtige Dramaturgie zu einem in Ablauf und Ausgang verabredeten ballettartigen Schaukampf abgewandelt wurden6. Dem seit dem 13. Jh. aufkommenden heraldischen Schrifttum ist zu entnehmen, daß in diese Thementurniere ⫺ vermittelt über die höfischen Romane (cf. u. a. J Amadis, J Artustradition, J Chre´tien de Troyes, J Reali di Francia)7 ⫺ aus der populären Überlieferung bekanntes Personal wie Zauberinnen, Feen, Riesen, Zwerge oder Wilde Männer und Frauen8 als Repräsentanten bedrohlicher Gegenwelten geholt wurde, um die Vorbildlichkeit der ritterlichen Kämpfer in Szene zu setzen. Indem die Arrangeure die realen T.e ins Wunderbare erhöhten, kehrten sie ein Verfahren der höfischen Epiker um, welche faktenstimmige Beschreibungen zeitgenössischer T.praktiken zur realistischen Einkleidung ihrer märchenhaft-wunderbaren Erzählungen nutzten9. Der Klerus kritisierte das T.treiben als verabscheuenswürdige, unsittliche Verkehrung der wahren Ritterpflichten in Predigten und Exempla, die theol. Argumentation in anschauliches Geschehen übersetzten; um Ritter von ihrem sündhaften Tun abzubringen, schil-
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derten sie, wie T.kämpfer nach himmlischer Unterstützung diese Aktivitäten aufgaben oder nach höllischen Spiegelstrafen ihre T.lust bereuten10. Dagegen gingen die ritterlichen Kampfspiele der höfischen Standesliteratur ⫺ selten und auf weitgehend ungeklärten Wegen ⫺ ins Märchen ein, wobei hier dem Sieger in meist dreitägigem T.kampf (Mot. R 222) stereotyp die Heirat mit der Königstochter als Prämie winkt11. In AaTh/ATU 314: J Goldener tritt ein Ritter inkognito nacheinander mit drei verschiedenfarbigen Rüstungen an; in AaTh/ATU 314 A: J Hirt und die drei Riesen (cf. auch AaTh/ATU 530: J Prinzessin auf dem Glasberg) gilt es, ein Reitturnier mit Geschicklichkeitsprüfungen zu gewinnen. In ATU 900 C*: Die halbe J Birne verhöhnt der am T. teilnehmende Ritter die Prinzessin mit Anspielungen auf die nächtlichen sexuellen Abenteuer, die er in Verkleidung mit ihr hatte; in AaTh/ATU 502: Der wilde J Mann und AaTh/ATU 505: cf. J Dankbarer Toter erhält der Held Pferd und Ausrüstung zum T. von einem magischen Helfer. 1 Fleckenstein, J. (ed.): Das ritterliche T. im MA. Beitr.e zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums. Göttingen 1985; Barber, R./Barker, J.: Die Geschichte des T. s. Darmstadt 2001. ⫺ 2 Neumeyer, M.: Vom Kriegshandwerk zum ritterlichen Theater. Das T. im ma. Frankreich. Bonn 1998, 59⫺143. ⫺ 3 Flori, J.: Chevaliers et chevalerie. P. 1998. ⫺ 4 Krüger, S.: Das kirchliche T.verbot im MA. In: Fleckenstein (wie not. 1) 401⫺ 421. ⫺ 5 cf. Neumeyer (wie not. 2) 343⫺474. ⫺ 6 Jacquot, J. (ed.): Les Feˆtes de la Renaissance 1⫺3. P. 1960⫺75; Anglo, S.: Chivalry in the Renaissance. Woodbridge 1990; Strong, R.: Feste der Renaissance 1450⫺1650. Kunst als Instrument der Macht. Fbg/ Würzburg 1991; Watanabe-O’Kelly, H.: Triumphall Shews. Tournaments at German Speaking Courts in the European Context 1560⫺1730. B. 1992. ⫺ 7 cf. Guerreau-Jalabert und Birkhan, Reg. s. v. Tournament. ⫺ 8 Neumeyer (wie not. 2) 421⫺423, 436⫺440, 449⫺455, 456⫺460. ⫺ 9 Mauritz, H.: Der Ritter im magischen Reich. Märchenelemente im frz. Abenteuerroman des 12. und 13. Jh.s. Bern 1974. ⫺ 10 cf. Neumeyer (wie not. 2) 145⫺280. ⫺ 11 cf. Weston, J.: The Three Days’ Tournament. A Study in Romance and Folklore. L. 1902; Winters, D.: The Three Days’ Combat. Diss. Chic. 1931; Delcourt-Ange´lique, J.: Le Motif du tournoi de trois jours avec changement de couleur destine´ a` pre´server l’incognito. In: An Arthurian Tapestry. Essays in Memory of L. Thorpe. ed. K. Varty. Glasgow 1981, 180⫺186; Picherit, J. L.: Le Motif du tournoi dont
Tøutøi-Na¯me ⫺ Tuwiner
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le prix est la main d’une riche et noble he´ritie`re. In: Romance Quart. 36 (1989) 141⫺152.
Eichstätt
Martina Neumeyer
Tøutøi-Na¯me J Papageienbuch
Tuwiner. Die T. (Tyva), auch als Urianchajer, Sojonen oder Sojoten bezeichnet, sind die turksprachige Bevölkerung der zu Rußland gehörigen Republik Tyva (Tuwa) in Südsibirien. Das Gebiet war seit Mitte des 6. Jh.s Teil dreier turkstämmiger Reiche und seit 1206 dem mongol. Großreich zugehörig. Mitte des 18. Jh.s fiel es an das chin. Kaiserreich. 1911 wurde es unabhängig, und 1921 wurde die Tuwin. Volksrepublik gegründet, die jedoch bald unter sowjet. Kontrolle geriet und 1944 Autonome Sozialistische Sowjetrepublik wurde. Seit 1992 besteht die Republik Tyva innerhalb der Russ. Föderation. Kleinere Gruppen von T.n leben im Altai (Westmongolei und chin. Provinz Xinjiang). Die Gesamtzahl der T. betrug 1989 ca 215 000. Die bis zum Beginn des 20. Jh.s nomadische Kultur der T. wurzelt in einem zentralasiat.skyth., vor allem aber alttürk. Substrat1. Wie andere türk. Völker Zentralasiens waren die T. mongol. Einflüssen ausgesetzt (J Altaier, J Chakassen, J Jakuten; J Mongolen). Aufzeichnungen lassen auf einst gemeinsame Traditionen unter den T.n des Altai schließen. Bis zur Einführung der heutigen Schriftsprache (1944) hatte die mündl. Überlieferung eine zentrale Bedeutung innerhalb der tuwin. Kultur. Das Wort tool bezeichnete noch in jüngster Zeit Märchen aller Art. Eine differenzierende Terminologie mit entlehnten wiss. Begriffen ist relativ jung und wurde zunächst in russ.sprachigen Ausg.n verwendet (tuwin.: erstmals 1983)2. Aus wiss. Perspektive werden heute mögelig (auch maadyrlyg) tool (Reckenmärchen), chuulgaazyn tool (Zaubermärchen)3, kara tool oder anaa tool (einfache oder gewöhnliche, d. h. Novellen- und Alltagsmärchen), dirig amytannar dugajynda tool (Tiermärchen) und distincˇek (kumulative) und basˇtak tool (Lügenmärchen, wörtlich: Scherzmärchen) unterschieden4.
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Das Reckenmärchen ist nach V. M. J Zˇirmunskij ein ,archaischer Typ des Epos‘5 mit einer, so E. M. J Meletinskij, ,märchenhaftmythol. Grundlage‘6. Wie auch die tuwin. Tradition zeigt, handelt es sich hierbei nicht um Reste von Heldenepen7. Das Reckenmärchen ist eine für die einstigen Nomadenvölker Zentralasiens und Sibiriens charakteristische Gruppe, die formal zum Heldenepos, inhaltlich zum Zaubermärchen tendiert. Grundlegende Themen sind die Unterwerfung feindlicher und dämonischer Gestalten und die Brautwerbung (meist um Aldyn dahgyna [Goldprinzessin], die Tochter der Herren des Himmels, des Mondes, der Sonne). Das Alter ego des Helden ist das J Pferd, dessen Name mit dem des Helden alliteriert (z. B. Par sˇookar a’ttyg Pavyldaj baatyr [Recke Pavyldaj mit dem Leopardenfleckigen Pferd]). Seinem häufig ungestümen Herrn an Verstand und Weitsicht meist überlegen, ist es ⫺ wie im Zaubermärchen ⫺ dessen unentbehrlicher Ratgeber und Retter. Der Held des Zaubermärchens ist ein einfacher junger Bursche, ein Waisenknabe (ösküs ool) oder Recke (baatyr maadyr), seltener ein Mädchen, das z. B. an Stelle des getöteten Bruders agiert und dessen Wiederbelebung bewirkt8. In Recken- wie in Zaubermärchen begegnen übernatürliche Helfer wie der Himmelsgott Kurbustu (altaituwin. Gurmustu), der Herr der Wasserwesen Luzut Chaan, der mythische Vogel Chan Chereti, der Weiße Alte Aldaj eezi Ak asˇgyjak (Herr des Altai), der gute Greis Ak Kandyzy (J Herr der Tiere), die Herrin des Waldes oder Erlik-(Lowuh-)Chaan (Herr des Totenreichs)9. Übernatürliche Gegenspieler sind der Mahgys (mongol. Mangas: Schwarzer [⫽ Böser], Borstiger, Gelber, Stinkender Mangas; J Mangus), ein Ungeheuer, das extreme atmosphärische und klimatische Bedrohungen verkörpert und Mensch und Vieh verschlingt, die verwandlungsfähige Albys (altaituwin. Jˇelbege), eine Verschlingerin mit langen Ohren und Brüsten oder einer Kupfernase (nur Tuwa), die sich ihren Opfern als Lunge auf dem Wasser treibend oder als gebrechliche Alte nähert, Sˇulbus (altaituwin. Sˇulmus), eine einäugige Dämonengestalt, die im Zaubermärchen als ˇ ylverführerisch schöne Frau erscheint, und C byga (Tuwa), ein Ungeheuer in Gestalt einer
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Tuwiner
alten Frau, das mit den bösen Mächten der Unterwelt verbunden ist. In schwankartigen Märchen werden dämonische oder mächtige Gegenspieler wie der Mahgys, ein Chaan, der Tiger oder der Wolf ausgetrickst. Zauber- und Reckenmärchen sind häufig mit alten Glaubensvorstellungen der T. verknüpft, z. B. zeigten sie eine obere, eine mittlere und eine untere Welt, kennen die Seele in Vogelgestalt (Flucht als Vogel/Fischlein; J Seelentier); die Seele dämonischer Gegenspieler ist in Gestalt kleiner Vögel in einem Kästchen in den Nüstern ihrer Pferde verborgen (cf. J External soul)10. Recken- wie Zaubermärchen sind häufig durch Alliteration, Parallelismus, Hyperbel, Wiederholung oder formelhafte Wendungen in Versform geprägt11. Reckenmärchen wurden oft gesungen, manchmal instrumental begleitet. Das Erzählen hatte eine magische Funktion und war daher bis in die 2. Hälfte des 20. Jh.s an Gebote und Verbote gebunden. Bei Unwettern oder Krankheiten von Mensch und Vieh, in Übergangssituationen (Neujahr, Hochzeit etc.) oder um Ortsschutzgeister zu erfreuen, wurden bes. Reckenmärchen erzählt. Offenbar sollten sie schützende und helfende Kräfte heraufbeschwören (Analogiezauber)12. Mit Rekkenmärchen ist der Glaube an die Herren der Märchen (toolduh eeleri) verbunden, die über den rechten Gebrauch der Gabe des Märchenerzählens wachen13. Alltagsmärchen aus Tuwa unterscheiden sich aufgrund ihrer ausgeprägt sozialkritischen Züge deutlich von Alltagsmärchen aus dem Altai, bei denen sich Sozialkritik eher in Liedern ausdrückt. Während der hochmütige Chaan in einigen Var.n des Märchens vom klugen Mädchen (AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter) von diesem beschämt wird14, ist es bei Altai-T.n gerade die Klugheit des Mädchens, die der Chaan zu finden hofft15. Das Märchen von Ötgek Jˇuman (cf. J Askeladden)16 bewahrt Reste des Brauchs der Altenaussetzung (cf. AaTh/ATU 981: J Altentötung)17. Märchen über geschickte Diebe und Gauner wie über deren erfolglose und bestrafte Nachahmer (J Imitation: Fatale und närrische I.) und über menschliche Untugenden haben eine soziale Tönung und oft schwankartigen Charakter.
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In häufig ätiologisch angelegten Tiermärchen agieren Vertreter heimischer Vieharten (oft Jungtiere, die selbst Wölfe in die Flucht jagen) sowie Wildtiere wie Hase (kluger Helfer; J Dankbare [hilfreiche] Tiere), Wolf (Räuber, im Zaubermärchen auch Helfer) und Fuchs (Trickster, im Zaubermärchen cf. AaTh/ ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater). Mit dem Buddhismus kamen Erzählstoffe aus Indien (J Buddhist. Erzählgut) in die einheimische Erzählüberlieferung. Die Märchen der geogr. relativ isolierten T. im Altai (im mongol. Cengel-sum) sind hiervon allerdings kaum betroffen. Tuwin. Erzählungen wurden seit 1861 gesammelt, zunächst von W. J Radloff und G. N. Potanin, seit Ende des 19. Jh.s von dem Chakassen N. F. Katanov; es folgten Publ.en von 13 Märchen in russ. Sprache (E. Jakovlev und F. Ja. Kon)18. Angesichts der langen Schriftlosigkeit sind selbst kurze Zusammenfassungen tuwin. Märchen in anderen Sprachen von folkloristischem und hist.-ethnogr. Interesse. 1938 erschien die erste Ausg. tuwin. Märchen, die von T.n aufgezeichnet wurden (vier Märchen). 1945 ging aus dem Gelehrten Komitee in Kysyl das Tuwin. Wiss. Forschungsinstitut für Geschichte, Sprache und Lit. hervor (heute Tuwin. Inst. für geisteswiss. Forschungen), dessen Mitarbeiter mit der systematischen Aufzeichnung des Erzählguts begannen und u. a. ein Archiv anlegten. Das Inst. publiziert Sammlungs- und Forschungsberichte in den Ucˇenye zapiski (Wiss. Schr.) und seit 1947 Märchensammlungen und Repertoires einzelner Erzähler (toolucˇular; z. B. von Mahnaj Namzyraevicˇ Oorzˇak, Baazahaj ˇ ancˇy-Chöö C ˇ anaazˇykoChaldaaevicˇ Tülüsˇ, C vicˇ Oorzˇak)19. Eine erste Arbeit über tuwin. Märchen erschien 195520. Das Anfang der 1970er Jahre unter Leitung von A. Kalzan begründete Archiv des Tuwin. Wiss. Forschungsinstituts in Kysyl umfaßte 1993 über 1100 Märchenvarianten (320 Zaubermärchen einschließlich der Reckenmärchen, 432 Novellenund Alltagsmärchen, 165 Tiermärchen u. a.; sie repräsentieren etwa 200 Erzähltypen)21. Mit M. Vatagins Tuvinskie narodnye skazki (Tuwin. Volksmärchen) wurde 1971 die Moskauer Akad.-Reihe Skazki i mify narodov Vostoka (Märchen und Mythen der Völker des Ostens) eröffnet; dort erschienen 1994 auch
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die Skazki i predanija altajskich tuvincev (Märchen und Überlieferungen der altai. T.) von E. Taube. Tuwin. Folkloristen wie O. Daryma, Kalzan, D. Kuular, S. Orus-ool (Bajsklan) und Z. Samdan haben sich um die Bewahrung tuwin. Märchen verdient gemacht. 1966/67, noch zu Zeiten lebendiger Tradition und großer Erzähler von Reckenmärchen (z. B. Jˇyryntaj oglu Bajynbyrääd, Mahnaj oglu Chojtüvek, Bajynbat oglu Sembi, Dorzˇu oglu Dagva und Sˇöödükej oglu Dagva), wie es sie heute nicht mehr gibt22, begann Taube in der Westmongolei mit der Tonbanddokumentation tuwin. Märchen23. 1987⫺95 zeichnete T. Mawkanuli Märchen der Altai-T. in China auf 24; später dort von M. Rind-Pawlowski aufgenommene Märchen haben nur noch rudimentären Charakter. Moderne Medien und marktwirtschaftliche Einflüsse beeinträchtigten nicht nur in Tuwa, sondern auch im mongol. Altai die traditionelle Kultur und das Märchenerzählen. 1 Donggak, A. S. und U. A.: Ästhetisch-stilistische Parallelen in der Poetik der altjenissej. Grabinschriften und des tuwin. Zaubermärchens. In: „Roter Altai, gib dein Echo!“ Festschr. E. Taube. Lpz. 2005 (mit Bibliogr. bis 2002), 85⫺93. ⫺ 2 Mohgusˇ, Ch. (Sazyg-Chunaevicˇ): Bora-sˇokar a’ttyg Boraldaj. Maadyrlyg tool (Boraldaj mit dem Pferd Graugefleckter. Reckenmärchen). Kysyl 1983; cf. Taube, E.: Gedanken zur tuwin. Terminologie der erzählenden Folk´ . u. a. (edd.): Turcological Letlore. In: Csato´, E´. A ters to B. Brendemoen. Oslo 2009, 341⫺350. ⫺ 3 Samdan, Z. B.: Die Genrespezifik des tuwin. Zaubermärchens. In: Festschr. Taube (wie not. 1) 435⫺ 448. ⫺ 4 ead.: Tuvinskie narodnye skazki (Tuwin. Volksmärchen). Nowosibirsk 1994 (28 Märchen tuwin./russ.). ⫺ 5 Surazakov, S. S.: Altajskij geroicˇeskij e˙pos (Das altai. Heldenepos). M. 1985. ⫺ 6 Orusool, S. M.: Existenzweise und Vortrag des tuwin. Epos. In: Festschr. Taube (wie not. 1) 401⫺410, hier 401. ⫺ 7 cf. Heissig, W.: Heldenmärchen versus Heldenepos? Opladen 1991. ⫺ 8 Taube, E.: Die Frau in der Volksdichtung der T. im Altai. In: Veit, V. (ed.): The Role of Women in the Altaic World. Wiesbaden 2007, 279⫺292. ⫺ 9 ead.: Das leopardenscheckige Pferd. B. 21978, 142 sq. ⫺ 10 ead.: Tuwin. Volksmärchen. B. 1978, 339⫺349. ⫺ 11 ead.: Die Verse in der erzählenden Volksdichtung der altai. T. In: Boeschoten, H./Stein, H. (edd.): Einheit und Vielfalt in der türk. Welt. Wiesbaden 2007, 298⫺309. ⫺ 12 cf. Popov, A. A.: Dolganskij fol’klor (Dolgan. Volksdichtung). M. 1937, 18⫺20; Kaziev, B. Sˇ.: V strane skazok (Im Land der Märchen). Alma-Ata 1983, 100. ⫺ 13 Taube (wie not. 10) num. 40; ead.: Skazki i predanija altajskich tuvincev (Mär-
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chen und Überlieferungen der altai. T. ). M. 1994, 186, 322; ead.: Warum erzählen Erzähler manchmal nicht? Vom Erzählen und seiner Beziehung zum Nu´ . (ed.): Historical and Linguisminosen. In: Berta, A tic Interaction between Inner-Asia and Europe. Szeged 1997, 351⫺363; Kaziev (wie not. 12) 125 (kasach.); Mal’sagov, A. O.: Skazki i legendy ingusˇej i cˇecˇencev (Märchen und Legenden der Inguschen und Tschetschenen). M. 1983, num. 36; SUS 516*. ⫺ 14 Kalzan, A./Kuular, D.: Tyva tooldar (Tuwin. Märchen). Kysyl 1957, 136; Izyneeva, M. A.: Tuvinskie narodnye skazki (Tuwin. Volksmärchen). Kysyl 2 1958, 29⫺35. ⫺ 15 Taube (wie not. 10) num. 50. ⫺ 16 ibid., num. 29; ead. 1994 (wie not. 13) num. 19. ⫺ 17 ead.: Altentötung in den Märchen zentralasiat. Völker. In: Heindrichs, U. und H.-A. (edd.): Alter und Weisheit im Märchen. Mü. u. a. 2000, 224⫺ 239. ⫺ 18 ead.: Zum Stand der Erforschung tuwin. Volksmärchen. In: Wunsch, C. (ed.): 25. Dt. Orientalistentag. Stg. 1994, 215⫺227. ⫺ 19 Cherlig-ool, O. D.: Mahnajnyh tooldary (Mahnajs Märchen). Kysyl ˇ .: Baazahajnyh 1971 (11 Texte); Daryma, O. K.-C tooldary (Baazahajs Märchen). Kysyl 1980 (11 Texte); Orus-ool, S. M.: Dalaj Bajbyh Chaan. Baazahajnyh maadyrlyg tooldary (Dalaj Bajbyh Chaan. Baazahajs Reckenmärchen). Kysyl 1994 (6 Texte); ˇ .: Demir-Sˇilgi a’ttyg Tevene-Möge. Daryma, O. K.-C Tyva tooldar (Tevene-Möge mit dem Rostroten Pferd. Tuwin. Märchen). Kysyl 1972 (15 Texte). ⫺ 20 Vcˇerasˇnjaja, I. A.: Tuvinskie narodnye skazki (Tuwin. Volksmärchen). In: Ucˇenye zapiski 3 (1955) 136⫺148; cf. Taube (wie not. 18). ⫺ 21 Samdan (wie not. 4) 11, 33, cf. auch ibid., 450⫺ 453; Orus-ool, S. M.: Tyva ulustuh maadyrlyg tooldary (Reckenmärchen des tuwin. Volkes). Nowosibirsk 1997, 571⫺578. ⫺ 22 cf. Zolbajar, G.: Aldyn dagsˇa (Die goldene Schale). Kysyl 1994, 93. ⫺ 23 Taube, E.: Über das Sammeln von Volksdichtung unter den T.n des Cengel-sum im Bajan-Ölgij-Aimak der Mongol. Volksrepublik. In: Abhdlgen und Ber.e des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden 37 (1979) 201⫺222. ⫺ 24 Mawkanuli, T.: Jungar Tuvan Texts. Bloom. 2005, 136⫺167 (4 Märchen).
Markkleeberg
Erika Taube
Twardowski. Der Schwarzkünstler (J Zauberer) T. ist eine der populärsten Figuren der poln. Erzähltradition und das Pendant zu J Faust. Die sagenhaften Erzählungen um seine Person enthalten folgende zentrale Elemente: Für Reichtum und Ruhm verschreibt sich T., ein Adliger und Arzt, dem J Teufel (J Teufelspakt), der seine Seele erhalten soll, wenn T. nach Rom komme. T. wird durch den Pakt zum Alchemisten und Schwarzkünstler und nutzt seine Fähigkeiten, um Menschen zu schaden. Mit Hilfe des Teufels löst er als Bettler verkleidet das Rätsel eines Fräuleins (J
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Freier, Freierproben) und erhält sie zur Frau. Als sie auf dem Markt Tonwaren verkaufen will, zerschlägt T. ⫺ nunmehr als reicher Mann gekleidet ⫺ diese (cf. AaTh/ATU 900: J König Drosselbart). Er beschwört den Geist der Königin Barbara Radziwiłł. Ewige Jugend (J Verjüngung) erlangt er mit Hilfe seines Dieners, der ihn zerstückelt und wiederbelebt (J Pelops, J Wiederbelebung). Den Diener verwandelt T. in eine Spinne, damit dieser sein Wissen nicht weitergeben kann. Er stellt dem Teufel immer schwierigere J Aufgaben: Der Teufel soll alles poln. Silber nach Olkusz bringen, einen Deich bauen, ein Jahr mit T.s Frau verbringen. Angesichts der letzten Aufgabe ergreift der Teufel die Flucht (cf. AaTh/ ATU 1164: J Belfagor). Er lockt T. in eine Schenke, die den Namen ,Rom‘ trägt. T. will sich retten und greift, damit der Teufel ihn verschont, nach einem Kind, doch der Teufel erinnert ihn an ihren Pakt; T. läßt von dem Kind ab, wird vom Teufel mitgenommen und beginnt zu beten. Daraufhin setzt ihn der Teufel auf dem Mond (vor dem Höllentor) aus. T.s in eine Spinne verwandelter Diener läßt sich von Zeit zu Zeit zur Erde hinab und überbringt T. Neuigkeiten von dort1.
In literar. Qu.n wird T. seit dem 16. Jh. namentlich erwähnt2. Die Herausbildung der T.Sage ist zum Ende des 16./Anfang des 17. Jh.s in der Krakauer Region anzusetzen. Nach O. J Kolbergs Einschätzung war sie beim Krakauer Bürgertum und Adel bekannt, nicht aber beim einfachen Volk ⫺ trotz der weiten Verbreitung ihrer Einzelelemente (z. B. AaTh/ ATU 900, Zauberei, Teufelspakt). Erst in der Romantik, u. a. durch Adam Mickiewiczs komische Ballade Pani Twardowska ([Frau T.] 1824), kam es zur Popularisierung der Figur in ganz Polen3, wovon auch ihre Präsenz in der poln. Lit. zeugt4. 1837 erschien die T.-Sage in W. K. Wo´jcickis poln.-weißruss. Slg von Volksmärchen5 und wurde seitdem in zahlreiche weitere Märchensammlungen aufgenommen. Die Kernelemente der T.-Sage wurden in manchen Var.n ergänzt. Ein alternativer Anfang, der auf das in Polen weitverbreitete Zaubermärchen vom J Räuber Madej (AaTh/ ATU 756 B) zurückgeht, findet sich relativ selten: Ein Krakauer Kaufmann droht im Moor zu ertrinken. Zum Dank für seine Rettung verspricht er dem Teufel etwas, was er zu Hause habe, wovon er aber noch nicht wisse, und überantwortet damit seinen neugeborenen Sohn dem Teufel (J Kind dem Teufel verkauft oder versprochen). T. wird später Geistlicher und wandert zur Hölle, wo er die Verschreibung zurückerlangt6.
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Elemente der T.-Sage gehen z. T. auf traditionelle Erzählstoffe zurück. So steht T.s Pakt mit dem Teufel in Analogie zur Faustsage, differiert allerdings hinsichtlich der Bedingung: An die Stelle des zeitlichen tritt ein räumlicher Faktor, der parallel zur Legende von Papst Silvester II. eine heilige Stadt betrifft7. Den Var.n, die das Motiv von der zerschlagenen Ware der Ehefrau enthalten, liegt ein älterer literar. Text über T.s Schüler, der eine Frau dazu bringt, ihre Tonwaren selbst zu zerschlagen (cf. J Eulenspiegel, 87. Historie), zugrunde8. Nach J. J Krzyz˙anowski zeigen die älteren Fassungen der T.-Sage T.s Ehefrau als gottesfürchtige, aber zänkische Person (cf. AaTh/ATU 1164)9. Unter den Aufgaben, die T. dem Teufel stellt, finden sich folgende: in Weihwasser baden, magische Tiere herstellen, Tiere verzaubern, Pulver aus getrocknetem Wasser herstellen, eine Mohnbrücke bauen, ohne Segel und Paddel flußaufwärts fahren, mittels eines Glases entfernte Dörfer in Brand setzen, ein Dach mit Judenbärten decken, eine Peitsche aus Sand drehen (AaTh/ATU 1174: J Seil aus Sand) oder Nägel in Mohnkörner hauen. Manche der Aufgaben stehen in Zusammenhang mit poln. Orts- und Entstehungssagen: Diese betreffen z. B. die Silberminen in Olkusz, einen See in Knyszyn (Augusto´w), die Falkenfelsen bei Pieskowa Skała, den Deich bei Tykocin, T.s Haus in Krakau, T.s Schule bei Krzemionki, die Bewaldung kahler Berge und das Versetzen von Steinen aus Krakau nach Wielun´. Die Beschwörung des Geistes der Königin Barbara Radziwiłł sowie die Identifizierung von Zauberbüchern und eines Zauberspiegels als aus T.s Besitz stammend gehören ebenfalls zu den Ortssagen. Diese Motive wurden Ende des 19. Jh.s als Beleg der Historizität T.s und seiner Herkunft aus dem poln. Adel herangezogen10. Das Motiv der Verjüngung T.s geht auf das Compendium historiae Joachimi Posselli (1871; verfaßt 1624 von Joachim Possel, einem Leibarzt König Sigismunds III. Wasa) zurück11. Nach Ansicht poln. Forscher basiert das Motiv des zu Maria betenden T. auf der bes. Ausprägung des Marienkults in Polen und/oder ist aufgrund der Namensgleichheit mit dem Dichter Kacper Twardowski (1592⫺ 1641) eingeführt worden, der von einer Begegnung mit dem Teufel berichtet hatte12. Das
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Motiv von T. als J Mann im Mond (cf. ATU 751 E *: Man in the Moon) knüpft an ätiologische Sagen von Mondflecken an13. Krzyz˙anowski 2, num. 8251. ⫺ 2 Swakowska, G.: T., der poln. Faust? In: Erzählen zwischen den Kulturen. ed. S. Wienker-Piepho/K. Roth. Münster u. a. 2004, 157⫺171, hier 157 sq. ⫺ 3 Kolberg, O.: Dzieła wszystkie (G. W. )5. Krakau 1871, 20 sq.; Kuchta, J.: Mistrz T. Krakowski czarnoksie˛z˙nik XVI wieku (Meister T. Der Krakauer Schwarzkünstler des 16. Jh.s). In: Sprawozdania z czynnos´ci i posiedzen´ Polskiej Akademji Umieje˛tnos´ci 34 (1929) H. 6, 23⫺ 27, hier 26; Swakowska (wie not. 2) 158. ⫺ 4 Kraszewski, J. I.: Mistrz T. (Meister T. ). W. 1955; Sieroszewski, W.: Pan Twardost T. (Herr Twardost T. ). Krakau 1958; Rydel, L.: Pan T. (Herr T. ). Krakau 1991; Niz˙yn´ski, M.: Kawaler ksie˛z˙ycowy (Der Mondkavalier). Bochnia 1991. ⫺ 5 Wo´jcicki, K. W.: Volkssagen und Märchen aus Polen. In: Uther, H.J.: Europ. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004, 18880⫺18990, hier 18940⫺18945. ⫺ 6 Kuchta, J.: Rodzime wa¸tki lokalne w podaniach o mistrzu Twardowskim (Regionale volkstümliche Inhalte in den Sagen vom Meister T. ). In: Lud 28 (1929) 123⫺ 144; Krzyz˙anowski, J.: Słownik folkloru polskiego (Wb. der poln. Folklore). W. 1965, 405. ⫺ 7 Anderson, W.: Zu Pan T. in Rom. In: Zs. für slav. Philologie 25 (1956) 309⫺311; Krzyz˙anowski (wie not. 6) 407. ⫺ 8 Go´rnicki, Ł.: Dworzanin polski (Ein poln. Höfling). Krakau 1858, 278; Wo´jcicki, K. W.: Czarnoksie˛z˙nik T. (Der Schwarzkünstler T. ). In: Kłosy 13 (1871) num. 333. ⫺ 9 Krzyz˙anowski (wie not. 6) 406. ⫺ 10 Swakowska (wie not. 2) 161⫺169. ⫺ 11 Kuchta (wie not. 6) 134 sq.; Wo´jcicki (wie not. 8). ⫺ 12 Kuchta, J.: Motyw Matki Boskiej. Ucieczki grzesznych w podaniach ludowych o czarnoksie˛z˙niku Twardowskim (Das Motiv der Mutter Gottes. Die Zuflucht der Sündigen in den Volkssagen über den Schwarzkünstler T. ). In: Lud 31 (1932) 100⫺109; Krzyz˙anowski (wie not. 6) 407. ⫺ 13 Kuchta, J.: Polskie podania ludowe o człowieku na ksie˛z˙ycu (Poln. Volkssagen vom Mann im Mond). In: Lud 25 (1926) 38⫺51. 1
Neu-Ulm
Grazyna Swakowska
Tylor, Edward Burnett, * London 2. 10. 1832, † Wellington (Somerset) 2. 1. 1917, brit. Anthropologe. T. stammte aus einer wohlhabenden Quäkerfamilie, deren Familienunternehmen er übernehmen sollte. Aufgrund einer Lungenerkrankung verließ er England 1855 und unternahm Reisen in Nordamerika, Mexiko und Kuba. T. wurde 1871 zum Fellow der Royal Soc. gewählt; 1875 verlieh ihm die Univ. Oxford den Doktor der Rechte ehrenhalber.
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1883 wurde er zum Kustos des Univ.smuseums in Oxford ernannt, 1884 zum außerordentlichen Professor für Anthropologie; 1888⫺92 war er der erste Gifford-Dozent für Natural Theology an der Univ. Aberdeen. Seit 1896 hatte er als Professor in Oxford den ersten Lehrstuhl für Anthropologie im engl.sprachigen Raum inne. T. war eines der ersten Mitglieder der Folklore Soc. (gegründet 1878) und bis zu seinem Tod einer ihrer Vizepräsidenten. 1912 wurde er zum Ritter geschlagen. Die Ergebnisse seiner Amerikareisen veröffentlichte T. in seinem ersten Buch Anahuac: or, Mexico and the Mexicans (L. 1861). Es folgte Researches into the Early History of Mankind (L. 1864). T.s Hauptwerk, das seinen Ruf als einer der bedeutendsten anthropol. Denker seiner Generation (J Anthropol. Theorie) begründete, ist Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Language, Art and Custom (1⫺2. L. 1871)1. Darüber hinaus veröffentlichte T. das populärwiss. Hb. Anthropology (L. 1881). In seinen kulturwiss. Anschauungen ist T. seiner Zeit verhaftet. Gestützt auf Erkenntnisse der Geologie, die damals die innovativste Wiss. war, versuchte er, die unterschiedlichen Arten menschlichen Sozialverhaltens zu verstehen und zu systematisieren, um so die Geschichte der Menschheit zu erhellen. Aus dem Uniformitarianismus, d. h. der Auffassung, der Planet habe sich in gleichförmigen Schritten und in gleichförmiger Weise nach vorhersehbaren Naturgesetzen gebildet, und der der Darwinschen Evolutionstheorie entlehnten Vorstellung einer unilinearen, über eine Reihe erkennbarer Stadien verlaufenden Aufwärtsentwicklung von niedrigeren zu höheren Formen entstand das Konzept der ,kulturellen Evolution‘, deren einflußreichster Vertreter in Großbritannien T. war2. T.s Theorien wurden von brit. Folkloristen enthusiastisch aufgenommen, da er in diesem Kontext auf Volksüberlieferungen zurückgriff. In Researches into the Early History of Mankind stützte sich T. für seine Unterscheidung zwischen Volksüberlieferung und J Mythologie stark auf traditionelles Material. Nach T. bestehen Volksüberlieferungen aus Vorstellungen des zeitgenössischen Volksglaubens und den Kindermärchen der zivilisierten Völker.
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Die Mythologie dagegen bewahre Ursprungserzählungen aller Völker, der primitiven wie der hochentwickelten. Während die Volksüberlieferung nur dem letzten Stadium der kulturellen Entwicklung angehöre und Relikte aus früheren Stadien enthalte, erscheine die Mythologie in allen Stadien, jedoch in unterschiedlichen Graden von Komplexität, je nach Fortschritt der Rasse3. Die Entdeckung der Geheimnisse der Mythen verdanke man modernen Forschungen über die alte Sprache, Dichtung und Volksüberlieferung ,unserer eigenen Rasse‘, von den Brüdern J Grimm und ihren J Kinder- und Hausmärchen bis zu M. J Müllers Edition des R ø gveda4. Zu Fragen von Volksüberlieferung und Mythos kehrte T. in Primitive Culture (Kap. 8⫺ 10) zurück. Seine Ausführungen in den ersten vier und dem elften Kap. hatten die größte Wirkung in der Folkloristik: In seinem Bemühen, die Formen der Religion bei den von ihm als ,niedrig‘ bezeichneten Rassen der Menschheit zu verstehen, führt er im elften Kap. das Konzept des J Animismus ein. Den Kern alles religiösen Fühlens bildet für ihn der Gedanke, daß der menschliche Körper (und darüber hinaus andere Wesenheiten der belebten und der unbelebten Natur) von einem substanzlosen menschlichen Bild belebt sei, der Ursache von Leben oder Denken des Einzelwesens, das in der Lage sei, den Körper hinter sich zu lassen, und das nach dessen Tod weiterlebe und den Menschen erscheinen könne5. T. behandelt Erscheinungen, Schlaf, Traum (J Traumdeutung, Traumtheorie), Trance und Visionen sowie Gespenster, Doppelgänger und Totenbräuche und wendet sich dann der Seele von Pflanzen und Dingen zu (cf. J Dingbedeutsamkeit, -beseelung) sowie der hist. Entwicklung der Lehre von den Seelen, „von der ätherartigen Seele der primitiven Biologie bis zu der immateriellen Seele der modernen Theologie“6. Die ersten vier Kapitel von Primitive Culture widmete T. der Kulturentwicklung und den J Survivals. Mit Hilfe naturwiss. Erkenntnisse sollte die hist. Forschung künftig in der Lage sein, eine wahrscheinliche Abfolge der menschlichen Kulturentwicklung vorherzusagen7. T.s evolutionärer Ansatz war mit der Annahme verbunden, daß die ,höheren‘ Formen, zu denen sich die menschliche Kultur
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entwickelte, den Bräuchen und Vorstellungen der viktorian. Gesellschaft entsprechen und die ,niedrigeren‘ den Riten und Mythen der ,Wilden‘. Beweise dafür, daß auch die engl. Kultur ,wilde‘ Stadien durchlaufen hatte, fand T. in der Volksüberlieferung und erklärte sie mit seiner Theorie der Survivals, d. h. mit kulturellen Äquivalenten zu Fossilien, mit deren Hilfe Geologen die Stadien der Erdgeschichte dokumentieren konnten8. Danach sei der Historiker durch Vergleich dieser Survivals mit den Mythen und Riten der zeitgenössischen ,Primitiven‘ in der Lage, die Stadien zu rekonstruieren (J Rekonstruktion), welche die zeitgenössische Kultur und Gesellschaft in ihrem Prozeß der Zivilisierung durchlaufen hatten9. In On a Method of Investigating the Development of Institutions Applied to Laws of Marriage and Descent, einem der bedeutendsten Vorträge in der Geschichte der Anthropologie, der bis in die 2. Hälfte des 20. Jh.s von großem Einfluß war, faßte T. seinen kulturevolutionistischen Ansatz zusammen10. Dieser enthielt alle Prinzipien der Evolutionstheorie: die psychische Einheit der Menschen, die einheitlichen Stadien der Entwicklung, die Lehre von den Survivals und die komparatistische Methode11. G. W. Stocking beschreibt T.s Haltung als von einem tolerant herablassenden Ethnozentrismus durchdrungen: Auch wenn die Bräuche der ,Wilden‘ lächerlich erschienen, so hatten sie doch im Lichte der Evolutionstheorie einen rationalen Hintergrund und konnten Gegenstand einer systematischen wiss. Unters. sein12. In dieser Form hatte die Theorie der kulturellen Evolution den größten Einfluß auf die frühen brit. Folkloristen, bes. G. L. J Gomme, A. J Lang, E. J Clodd, A. J Nutt und E. S. J Hartland13. Die Survivaltheorie und ihr Modus operandi, die komparatistische Methode, blieben in der brit. Folkloristik noch lange einflußreich, auch als der Kulturevolutionismus in der Anthropologie bereits überholt war. Ihre spätere Entwicklung, die Suche nach Ursprüngen, bildete bis in die 1950er Jahre einen verbreiteten Ansatz in der Folkloristik. 1 Dt.: T., E. B.: Die Anfänge der Cultur. Unters.en über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte 1⫺2. Lpz. 1873. ⫺ 2 Ben-
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Typenkataloge
nett, G.: Geologists and Folklorists. Cultural Evolution and „The Science of Folklore“. In: FL 105 (1994) 25⫺38. ⫺ 3 Dorson, R. M.: The British Folklorists. L. 1968, 187. ⫺ 4 T., E. B.: Researches into the Early History of Mankind and the Development of Civilization. L. 1865, 256. ⫺ 5 Stocking, G. W. Jr.: After T. British Social Anthropology 1888⫺1951. L. 1995, 42. ⫺ 6 T. (wie not. 1) t. 1, 411. ⫺ 7 id.: Primitive Culture 1. L. 1871, 5. ⫺ 8 ibid., 15. ⫺ 9 ibid., 6. ⫺ 10 T., E. B.: On a Method of Investigating the Development of Institutions Applied to Laws of Marriage and Descent. In: J. of the Anthropological Institute 18 (1889) 245⫺272. ⫺ 11 Stocking (wie not. 5) 10. ⫺ 12 ibid. ⫺ 13 Dorson (wie not. 3) 202⫺265.
Stockport
Gillian Bennett
Typenkataloge 1. Allgemeines ⫺ 2. Geschichte ⫺ 3. Dokumentation der Materialien ⫺ 4. Gattungsproblematik ⫺ 5. Forschungsstand
1 . All ge me in es. T. basieren unter der Annahme eines weitgefaßten Begriffs von Volkserzählung bzw. Märchen auf einem System numerisch angeordneter Erzähltypen, in dem sowohl inhaltliche und strukturelle Kriterien für die Aufnahme bestimmend sind als auch Aspekte der Verbreitung. T. dienen insbesondere einer hist.-komparatistischen Erzählforschung, aber auch anderen wiss. Disziplinen als Instrument, das ein rasches Auffinden internat. oder regional verbreiteter Erzähltypen (J Typus, J Ökotyp) und ihrer J Var.n einschließlich der relevanten Forschungsliteratur ermöglicht. T. und J Motivkataloge tragen mit der Dokumentation der Fülle vorhandener Erzählmaterialien zur Feststellung quellenmäßiger Abhängigkeiten sowie zur Klärung der Interdependenz zwischen mündl. und schriftl. Überlieferung (J Lit. und Volkserzählung) bei und erweisen sich als wertvolle Hilfsmittel für die Unters. der Rezeption einzelner Texte, aber auch ganzer Slgen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Kompatibilität von T.n, um die Materialmassen auch über ethnische und regionale Grenzen hinweg übergreifend analysieren zu können. Die zentralen Arbeiten hierzu stammen von der volkskundlichen Erzählforschung1. 2 . G es ch ic ht e. Bis weit in die 1960er Jahre waren Erzählforscher häufig von dem
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Gedanken bestimmt, mündl. Überlieferungen seien jahrhundertelang vom Volk tradiert worden (J Kontinuität) und stellten ein wichtiges Zeugnis für die Glaubensvorstellungen der Vorfahren dar; ihnen sei daher wegen ihrer Unverfälschtheit ein ebenso hoher Wert zuzumessen wie schriftl. Qu.n (J Orale Tradition). Diese Einschätzung besaß unter dem Eindruck der Nationenbildung (J Nation, J Patriotismus, J Romantik) im Europa des 19. Jh.s einen hohen Stellenwert und beeinflußte nachhaltig die Überlegungen zur Dokumentation mündl. Überlieferungen. Bes. seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s waren erste Versuche unternommen worden, die z. T. sehr umfangreichen Slgen mündl. aufgezeichneter und schriftl. vorhandener Texte zu klassifizieren, um sie für die Forschung und eine interessierte Öffentlichkeit zu erschließen2: etwa von J. G. von J Hahn3 für griech., I. C. Hintz4 für rumän., S. J Grundtvig5 für dän., S. J Baring-Gould6 für engl. oder M. P. J Arnaudov7 für bulg. Volkserzählungen. Die Klassifizierungen setzen vollständige Erzählungen mit einem Kern stabiler Motivverbindungen oder strukturell/thematisch ähnliche Texte als Erzähltypen voraus, die eine gewisse J Verbreitung innerhalb eines bestimmten Raums oder größerer geogr. Räume (J Diffusion) aufweisen. Dahinter steht das Bemühen, die Ergebnisse der Feldforschung zusammenzuführen und die aufgezeichneten Texte zur weiteren Unters. in einem archivalischen Ordnungssystem zu erfassen. Wichtige Anregungen im späten 19. Jh. und in den ersten Dezennien des 20. Jh.s kamen dabei von R. J Köhler, J. J Bolte, J. J Polı´vka, E. J Cosquin und V. J Tille. 3 . D ok um en ta ti on de r Mat er ia li en. Viele T. erscheinen in engl., dt. oder frz. Sprache; nicht selten werden sie in der traditionsreichen Reihe der J Folklore Fellows Communications veröffentlicht. Unter allen Ordnungssystemen (J Anordnungsprinzipien) setzte sich das 1910 in dt. Sprache veröff. System des Finnen A. J Aarne als allg. akzeptiertes internat. Modell durch. Aarne dokumentierte in einem numerischen System Tiermärchen (num. 1⫺ 299), eigentliche Märchen (num. 300⫺1199) und Schwänke (num. 1200⫺1999)8. Strukturell waren damit, außer Sagen, in seinem mehr
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oder weniger offenen System die wichtigsten Gattungen der Erzählüberlieferung erfaßt; unterschieden wurde darüber hinaus auch zwischen J Handlungsträgern und Handlungsvorgängen. Verdienste um die Weiterführung von Aarnes System erwarb sich der nordamerik. Folklorist S. J Thompson mit seinen beiden Bearb.en des internat. Verz.ses (1928, 2 1961)9. Er übersetzte den Katalog ins Englische, faßte die Beschreibungen einzelner Erzähltypen vollständiger und präziser, sorgte für die Einarbeitung inzwischen erschienener T., machte auf Archivmaterialien in einzelnen Ländern aufmerksam, ergänzte Lit. sowie gelegentlich (bes. 1961) frühe schriftl. Qu.n (z. B. J Chaucer, J Boccaccio, J Cent Nouvelles nouvelles, Johannes J Pauli). Außerdem gab er in der Ausg. von 1961 die Nummern des internat. Motivkatalogs (Mot.) an. Für den rev. Katalog von 1928 hatte Thompson einen Anhang erstellt, der aufgrund von Hinweisen aus damals vorliegenden T.n neue Erzähltypen unter der Rubrik ,Types not Included‘ zusammenfaßte; außerdem wurde Aarnes Ordnungsprinzip über die Typennummern 2000 hinaus geringfügig erweitert10. Erst Thompsons erneute Überarbeitung von 1961 (AaTh) führte zur Integration einer Vielzahl neuer Erzähltypen in das bestehende numerische System und zu einer ausgeweiteten Wahrnehmung der Verbreitungsgebiete. Nun waren vornehmlich „The Types of the FolkTale of Europe, West Asia, and the Lands Settled by These Peoples“11 erfaßt. Bei der Erweiterung über die Nummern 2000 hinaus stützte sich Thompson auf Vorschläge des nordamerik. Erzählforschers A. J Taylor12. Die ,Formula Tales‘ (AaTh 2000⫺2399) waren durch die Untergruppen ,Cumulative Tales‘, ,Catch Tales‘ (cf. J Kettenmärchen) und ,Other Formula Tales‘ (J Formelhaftigkeit, Formeltheorie) präzisiert worden. Darüber hinaus enthielt die neue Rubrik Unclassified Tales (AaTh 2400⫺2499) vier weitere, wenig heterogene Erzähltypen und ließ genügend Nummern zur Unterbringung weiterer Ergänzungen frei. Von dieser Möglichkeit machten aber nur einige Erzählforscher Gebrauch: Schon vor Erscheinen des internat. Katalogs von 1961 hatte R. T. J Christiansen (1958)13 z. B. die Nummern 3000⫺8025 für norw. Wandersagen vorgesehen; J. J Krzyz˙anowski (21962/63)14 er-
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weiterte sein poln. Verz. nach dem Vorbild Christiansens um die Nummern 2000⫺8256 und bezog Ätiologien, Sagen und Legenden ˙ . Mifsud-Chircop (1978)15 erfaßte malein; G tes. Ätiologien und Legenden unter den Nummern *3050⫺*9005. Die Nennung von Var.n geschieht in T.n nach unterschiedlichen Prinzipien: chronologisch oder nach ethnischen Kriterien, manchmal mit Hinweis auf häufige Kombinationen. Qu.n und Regionen sind vermerkt, auf weiterführende Lit. und regionale Besonderheiten wird hingewiesen. Bei der Präsentation der Textmaterialien in T.n sind jedoch erhebliche qualitative Unterschiede festzustellen. Ein Problem ist vor allem, daß typol. Zuordnungen bei knappen Inhaltsangaben erschwert werden16. Andere T. begnügen sich mit der bloßen Angabe von Archivnummern, eine Analyse der Erzählstrukturen fehlt. Manche T. haben die AaTh-Inhaltsbeschreibung weitestgehend in die jeweilige Sprache übernommen, regionale Charakteristika einzelner Var.n bleiben unberücksichtigt17. Die Kritik an T.n ist systemimmanent und läßt sich bes. daran festmachen, daß die Typologie des Erzählguts ein naturwiss. exaktes Schema vorspiegelt, das in der Wirklichkeit der narrativen Überlieferung nicht existiert18. Bei Versuchen, andere Ordnungsprinzipien zu entwickeln, stehen nicht nur inhaltliche Aspekte im Zentrum, sondern es wurden auch sprachwiss. und strukturelle Elemente wie Bauformen und ihre Funktionen innerhalb der Erzählungen beachtet. Aufgrund semantischstruktureller Elementarsujets ist für eine solche Dokumentation zwangsläufig ein anderes Ordnungssystem nötig, wie es etwa das von B. J Kerbelyte˙ für litau. Erzählgut entwickelte Schema (cf. auch J Morphologie des Erzählguts, J Strukturalismus) deutlich macht19 oder das von H. J Jason vorgeschlagene System sog. ethnopoetischer Genres20, das auf strukturalistischen und inhaltsanalytischen Elementen basiert und sowohl bisher unberücksichtigte als auch schwer klassifizierbare Volkserzählungen zu erfassen sucht. Gelegentlich finden T. auch bei der Erforschung neuer medialer Erscheinungen wie den Sagen der Gegenwart Anwendung21, oder enzyklopädisch ausgerichtete Werke bilden mit
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der Formulierung von Sagentypen Ansatzpunkte22. 4 . G at tu ng sp ro bl em at ik. Das seit Jahrzehnten gültige System des internat. Typenkatalogs AaTh/ATU liefert brauchbare Informationen zu hist. und rezenten Erzählstoffen bes. Europas, vor allem im Bereich von Fabeln, Tiermärchen, Legenden, Märchen, Schwänken und formelhaften Geschichten. Doch lassen sich nicht alle mündl. und schriftl. Gattungen, die weltweit verbreitet sind, integrieren, was mit der genremäßigen Struktur und der damit verbundenen thematischen Konzeption des internat. Typenkatalogs zusammenhängt. Die Geschichte der T. zeigt, daß Volkserzählungen außereurop. Regionen mit Hilfe des AaTh/ATU nur bedingt zu erfassen sind23. So läßt sich das für ide. Sprachfamilien entworfene AaTh-System auf Erzählungen aus Asien oder anderen Kontinenten nur teilweise übertragen und führt mitunter zu fragwürdigen typol. Zuordnungen24. Bereits Thompson hatte die Zuständigkeit des internat. Typenkatalogs AaTh eingeschränkt und betont: „It would be a mistake to think that it [the classification] could be extended to tales of such areas as central Africa, the North American Indians, or Oceania“25. Damit einher ging die Forderung nach eigenständigen T.n in Anlehnung an die jeweiligen Traditionen. Hinzu kommt das Problem der Einordnung von Erzählungen innerhalb des Systems, weil Var.n eines Erzähltyps öfter verschiedenen Genres angehören können (J Gattungsprobleme). So läßt sich die Erzählung über die Lebenszeit von Tieren mit ätiologischem Schluß und aufgrund der humoristischen Züge, der zu den Tiermärchen (AaTh/ATU 173: J Lebenszeiten des Menschen) gestellt wurde, infolge des damit verbundenen gleichnishaften Charakters aber auch bei den ,Religious Tales‘ (AaTh 828: Men and Animals Readjust Span of Life) einordnen. Erzählungen über bei der Hausarbeit nachlässige Frauen können innerhalb der ,Realistic Tales‘ aufgenommen werden, ebenso aber auch bei Schwänken über Ehepaare (AaTh/ATU 902*, 1370: Die faule J Frau wird kuriert). Über das vom AaTh- bzw. ATU-Verz. abgedeckte Gattungsspektrum hinaus existieren regionale T. vor allem für traditionelle Gattun-
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gen wie Märchen26, Sage27, Ballade oder Volkslied28; außerdem gibt es separate Schwankkataloge29. Für diese Genres sind auch ⫺ etwa unter Einbeziehung des internat. Motivkatalogs (Mot.)30 ⫺ andere Typologien realisiert worden. Bei solchen Katalogen handelt es sich zumeist um ein numerisches System, das entweder genreorientiert ist oder nach Themen bzw. Handlungsträgern unterscheidet. Diese Einteilung findet vor allem bei der Klassifikation nichteurop. Erzählguts Anwendung: L. Haring31 z. B. stellt unter Berufung auf V. Ja. J Propp32 und D. Paulme33 das madegass. Erzählgut in einer synthetischen Strukturanalyse vor und unterscheidet dabei sieben thematische Gruppen. Ohne das internat. Typensystem mit dessen Gliederungs- und Erfassungsprinzipien direkt zu übernehmen, kann er dennoch 65 internat. Erzähltypen innerhalb der von ihm gebildeten Gruppen integrieren. Für westafrik. Erzählungen entwickelte R. J Schott34 ein System der Mehrfachzuweisung typol. Elemente, weil sich nach seiner Auffassung die Texte nicht ohne weiteres bestimmten Themen oder Erzähltypen zuordnen ließen. Dieses Modell wird durch eine modifizierte Verwendung des von Haring entwickelten Modells von Strukturtypen unterstützt. Die thematische Erfassung des Erzählguts erfolgt durch die Angabe von Schlüsselwörtern, die nach dem Originaltext, der Übers. und der Inhaltsangabe ermittelt worden sind. Wenngleich diese Verfahren Subjektivität nicht ausschließen, auch Sprach- und Übers.sprobleme (Umgang mit Synonymen, Homonymen etc.) nicht immer genügend zu lösen vermögen und alphabetische Anordnungen keine hierarchischen Aufteilungen zulassen, wie Schott selbstkritisch einräumt35, ist dadurch eine breite Auffächerung inhaltlicher Elemente und vor allem der Textstrukturen möglich, was wiederum ein Vergleichen mit Texten derselben Ethnie sehr erleichtert. Für die Erfassung von Khoisan-Erzählungen des südl. Afrika orientierte sich S. Schmidt36 nicht am numerischen System des internat. Typenkatalogs, sorgte aber für eine Konkordanz sowie ein ausführliches Sachregister, so daß komparatistische Arbeiten möglich sind. Sie verwendete für die von ihr festgestellten 2371 Erzähltypen ein Mischsystem und unterschied zwischen inhaltlichen Merkmalen, Handlungs-
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trägern, Erzählgattungen und Herkunft: Ihre Kategorien sind z. B. Himmelskörper und Naturerscheinungen (1⫺99), anthropomorphe Trickster (200⫺399), Tiertrickster (400⫺599), Tiergeschichten (600⫺699), Märchen und Schwänke vorwiegend europ.-asiat. Herkunft (1000⫺1289), novellistische Erzählungen und Sagen (1300⫺2299) sowie Ortssagen (2300⫺ 2399). Für das mongol. Heldenepos entwarf W. Heissig37 ein handlungsorientiertes typol. Modell nach 14 Themengruppen, wobei er sich auf die Strukturmodelle von T. G. Bordzˇanova und S. A. Kicˇikov berief. Wenige Jahre später erprobte Heissig das von ihm entwikkelte Modell bei der Erfassung von 50 bis dato noch unübersetzten Heldenepen und schuf auf diese Weise einen umfangreichen Katalog der Erzählstoffe rezenter mongol. Heldenepen38. Individuell für bestimmte Erzählgattungen entwickelte T. finden bes. bei der Erfassung von Fabel39, Ballade40 und erzählerischen Kleinformen wie dem J Halslöserätsel (cf. AaTh/ATU 927)41 Verwendung. Für Exempla entwickelte F. C. J Tubach ein alphabetisches Gliederungsprinzip, wozu er 5400 Beispielerzählungen auswertete42. Der Hauptgedanke ist in einer Überschrift formuliert. K. Dvorˇa´k43 orientierte sich daran am Katalog tschech. Exempla, wies aber stärker als Tubach auf griech.-röm. Quellen hin und präzisierte Tu´ . Dömöbachs thematische Komponenten. A tör44 dagegen wählte für seine Analyse von rund 450 protestant. Exempla aus Ungarn eine alphabetische Anordnung nach Gruppen, die er anhand von Herkunftsbereichen, Erzählgattungen und Handlungsträgern aufschlüsselte und ergänzend internat. Erzähltypen, die Nummern des Tubach-Katalogs sowie des Mot. aufführte. Sagenkataloge erfassen z. B. dämonologische Erzählungen45 oder Sagen über den Tod46. Dabei orientierten sich die Katalogbearbeiter an den zu Beginn der 1960er Jahre entwickelten themenorientierten Modellen47. Zahlreiche regionale Slgen enthalten Kommentare zu einzelnen Erzählungen mit Angaben zur Verbreitung, zum Var.nbestand und zur typol. Analyse. Obwohl keine T. im strengen Sinn, handelt es sich doch um Dokumentationen repräsentativer Erzählbestände48. Zu denken ist hierbei u. a. an die Reihen Die Mär-
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chen der Weltliteratur (1912⫺2003), Skazki i mify narodov Vostoka (Märchen und Mythen der Völker des Ostens; 1964 sqq.), Folktales of the World (1963⫺80), Norsk Eventyrbibliotek (1967⫺81) oder an die nationalsprachige 29bändige Serie rezenten jap. Erzählguts Nihon mukashibanashi tsu¯kan (Überblick der jap. Volksmärchen), herausgegeben von K. Inada und T. J Ozawa (1977⫺90). 5 . For sc hu ng ss ta nd. Seit 1961 erschienene T. setzen eine Entwicklung fort, die sich bereits nach der Veröffentlichung der 2. Revision des AaTh-Katalogs abzeichnete49: Etwa die Hälfte der Verz.se legt ausschließlich das AaTh-System zugrunde. Bei T.n, die dem internat. System folgen, ist die Anzahl der Typennummern in der Regel beträchtlich erweitert, um regionale Charakteristika herauszustellen bzw. die Eigenständigkeit des Erzähltyps zu betonen50. Die T. führen bestehende Verz.se fort, liefern Ergänzungen, erschließen neue Gattungen oder beschränken sich auf mündl. Überlieferungen51. Manche Kataloge stellen eine Kombination zwischen Typen- und Motivkatalog dar52. Das anhaltende Interesse an der Dokumentation von populären Erzählungen ist auch auf intensive Feldforschungen zurückzuführen, wie sie z. B. in Belgien53, Frankreich54, Italien55 und Spanien56 betrieben worden sind. Zu konstatieren ist ferner, daß die Zahl von T.n außereurop. Erzählguts zugenommen hat. Manche der langfristigen Unternehmungen sind nach verschiedenen Anläufen zu einem Abschluß gelangt, wie z. B. das demographisch orientierte Verz. arab. Erzählguts57. Andere Dokumentationsvorhaben benötigen aufgrund aufwendiger detaillierter typol. Beschreibungen, manchmal auch aufgrund organisatorischer Schwierigkeiten, größere Zeiträume und unterscheiden sich heute z. T. in der Konzeption von den vor Jahren erschienenen Bänden, wie etwa die einzelnen Bände des ung. Typenkatalogs58 zeigen. Als Kataloge nach AaTh mit Modellcharakter können u. a. die mehrbändigen, z. T. noch im Erscheinen befindlichen frz.59, griech.60 und span.61 T. sowie der schleswig-holstein.62 Typenkatalog angesehen werden. Als Einzelkatalog mit einer Fülle von Informationen ist der fries. Typenkatalog63 hervorzuheben, ebenso das Verz.
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ma. und frühneuzeitlicher Fabeln64. Ein Hb. mit einer Anleitung zur Erstellung von Katalogen unterschiedlicher Zielsetzung ist Jason zu verdanken65. Eine grundlegende Weiterentwicklung des internat. Typenverzeichnisses (ATU) legte H.-J. J Uther 200466 vor. Er führte über 250 neue Erzähltypen ein, eliminierte zahlreiche Erzähltypen mit begrenzter geogr. Verbreitung (weniger als drei Regionen), nachdem sich im Beobachtungszeitraum der letzten Jahrzehnte herausgestellt hatte, daß eine breitere Nachwirkung nicht festzustellen war, und legte doppelt vorhandene oder thematisch/strukturell kaum differierende Erzähltypen zusammen, um die Zahl der von Thompson u. a. geschaffenen Subtypen und der Erzähltypen ohne Nachweise zu verringern. 1 cf. zuletzt Uther, H.-J.: Type- and Motif-Indexes 1980⫺1995. An Inventory. In: Asian Folklore Studies 55 (1996) 299⫺317; J. of Folklore Research 34,3 (1997) (Sonderheft zur Klassifikationsproblematik); Heissig, W./Schott, R. (edd.): Die heutige Bedeutung oraler Traditionen. Ihre Archivierung, Publ. und Index-Erschließung. Opladen/Wiesbaden 1998; Cahiers de litte´rature orale 57⫺58 (2005) (Sonderheft zur Klassifikationsproblematik). ⫺ 2 cf. Überblick EM 1, 565⫺576; Boggs, R. S.: Types and Classification of Folklore. In: StandDict. 2 (1950) 1138⫺1147; Harkort, F.: Zur Geschichte der Typenindices. In: Fabula 5 (1962) 94⫺98; Lüthi, Märchen, 16⫺24. ⫺ 3 Hahn 1, 74⫺96. ⫺ 4 Florea, V.: I. C. Hintz-Hint¸escu ⫺ Autor al celui dintaˆi catalog al povestilor populare romaˆnes¸ti (1878). In: Studii s¸i comunica˘ri de etnologie, N. S. 11 (1997) 125⫺141 (dt. Resümee p. 141 sq.). ⫺ 5 Lunding, H.: The System of Tales in the Folklore Collection of Copenhagen (FFC 2). Hels. 1910. ⫺ 6 Baring-Gould, S.: Household Stories. In: Henderson, W.: Notes on the Folklore of the Northern Counties of England and the Borders. L. 1866 (21879), 209⫺300. ⫺ 7 Arnaudov, M.: Ba˘lgarskite narodni prikazki, opit za klasifikacijata (Bulg. Volksmärchen, ein Versuch ihrer Klassifikation). In: SbNU 21 (1905) 1⫺110; cf. Köhler-Zülch, I.: Bulg. Märchen im balkan. Kontext und ihre Stellung in der internat. Erzählüberlieferung. In: Kulturelle Traditionen in Bulgarien. ed. R. Lauer/P. Schreiner. Göttingen 1989, 185⫺201, bes. 188⫺ 191. ⫺ 8 Aarne, A.: Verz. der Märchentypen (FFC 3). Hels. 1910. ⫺ 9 id.: The Types of the Folk-Tale. A Classification and Bibliogr. […] Translated and Enlarged by S. Thompson (FFC 74). Hels. 1928; cf. auch Rez.en zu AaTh: W. Anderson in ZfVk. 59 (1963) 89⫺98; H. Schwarzbaum in Fabula 6 (1964) 182⫺194; K. Hora´lek in Zs. für Slavistik 9,3 (1964) 439⫺449. ⫺ 10 Aarne 1928 (wie not. 9) 214⫺252. ⫺
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AaTh, 7. ⫺ 12 Taylor, A.: A Classification of Formula Tales. In: JAFL 46 (1933) 77⫺88; id.: Formelmärchen. In: HDM 2 (1934⫺40) 164⫺191. ⫺ 13 Christiansen, Migratory Legends. ⫺ 14 Krzyz˙anowski. ⫺ 15 Mifsud-Chircop. ⫺ 16 z. B. Cirese/Se´ Su´illeabha´in/Christiansen; Jason; Jason, rafini; O Types; Jason, Iraq; Jason, Indic Oral Tales; STF; Kecskeme´ti/Paunonen. ⫺ 17 z. B. Ara¯js/Medne (cf. Rez. V. Voigt in Fabula 19 [1978] 309⫺312); SUS. ⫺ 18 ATU, t. 1, 7 sq.; Holbek, B.: On the Classification of Folktales. In: Laographia 22 (1965) 158⫺161; Kerbelyte˙, B.: Two Classification Systems of Folk Tales. Possibilities and Problems. In: Professor August Robert Niemi and Comparative Folklore Investigations of the Balts and Baltic Finns. ed. S. Skrodenis. Vilnius 1996, 69⫺74; Goldberg, C.: Some Suggestions for Future Folktale Indexes. In: Heissig/ Schott (wie not. 1) 249⫺ 262. ⫺ 19 Kerbelyte˙, LPTK; Kerbelyte˙, B.: Structural-Semantic Principles of Formation of the Type of the Folk-Tale. In: Artes Populares 16⫺17 (1995) 436⫺440. ⫺ 20 Jason, H.: Ethnopoetry. Form, Content, Function. Bonn 1977. ⫺ 21 z. B. Schneider, I.: Contemporary Legends ⫺ Sagen der Gegenwart. Studien zur Motivgeschichte, gesellschaftlichen Relevanz und genretheoretischen Einordnung. Habilitationsschrift (masch.) Innsbruck 2001 (Katalog). ⫺ 22 z. B. Brunvand, J. H.: The Baby Train. N. Y./L. 1993; id.: Enc. of Urban Legends. Santa Barbara/Denver/Ox. 2001. ⫺ 23 Mode, H.: Types and Motifs of the Folk Tales of Bengal. In: FL 2,4 (1961) 1961, 201⫺205, hier 202 sq.; Beck, B. E. F.: The Three Twins. The Telling of a South Indian Folk Epic. Bloom. 1982, 18; Lindell, K.: Indexing Folk Literature of South American Indians. In: Asian Folklore Studies 54 (1995) 119⫺125; Haring, L.: The Malagasy Tale Index. In: Fabula 22 (1981) 96⫺99; EM 4, 511. ⫺ 24 z. B. Ikeda; Choi; Ting (cf. Rez. W. Eberhard in Nachrichten der Ges. für Natur- und Völkerkunde Ostasiens 127⫺128 [1980] 137⫺140). ⫺ 25 AaTh, 8. ⫺ 26 z. B. Eberhard, Typen; Eberhard/Boratav; Seki. ⫺ 27 cf. EM 11, 1032⫺1034; Voigt, V.: Versuch einer gattungsmäßigen Klassifikation der Sagen [1976]. In: id.: Europ. Linien. Studien zur Finnougristik, Folkloristik und Semiotik. Bud. 2005, 84⫺105. ⫺ 28 z. B. Siuts, H.: Die Ballade von der Rabenmutter und ähnliche Liedtypen in Europa. In: ZfVk. 58 (1962) 238⫺254; Jonsson, B. R./Solheim, S./Danielson, E.: The Types of the Scandinavian Medieval Ballad. Oslo/Bergen/ Tromsø 21978; Sˇra´mkova´, M./Sirova´tka, O.: Katalog cˇesky´ch lidovy´ch balad (Katalog der tschech. Volksballaden). Brünn 1990. ⫺ 29 z. B. Raudsep; Stroescu; Rausmaa; Moser-Rath, E.: Schwank, Witz, Anekdote. Entwurf zu einer Katalogisierung nach Typen und Motiven. Göttingen 1969 (Ms.). ⫺ 30 Zuletzt El-Shamy, Folk Traditions; cf. auch ElShamy, H.: Type Index for Tales of the Arab World. In: Fabula 29 (1988) 150⫺163; Birkhan. ⫺ 31 Haring. ⫺ 32 Propp, V. Ja.: Principy klassifikacii fol’klornych zˇanrov (Klassifikationsprinzipien von Genres der Volksüberlieferung). In: Sovetskaja e˙tno11
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Typisierung ⫺ Typus
grafija (1964) H. 4, 147⫺154; Propp, V.: Morphologie des Märchens. ed. K. Eimermacher. Ffm. 1975. ⫺ 33 Paulme, D.: Morphologie du conte africain. In. Cahiers d’e´tudes africaines 12 (1972) 131⫺163. ⫺ 34 cf. z. B. Schott, R.: Ber. über laufende Forschungen zur Motivanalyse afrik. Erzählungen im Seminar für Völkerkunde der Univ. Münster. In: Fabula 30 (1989) 83⫺95; id.: Report on a Project of Comparative Analysis of Motifs in African Tales. Oral Literature of the Bulsa in Northern Ghana. In: Voigt, V. (ed.): Folk Narrative and Cultural Identity […] 2. Bud. 1995, 698⫺713; id.: Some Problems with Tale-Type, Motif and Keyword Indices in Analysing Folktales of the Bulsa (Northern Ghana). In: Heissig/Schott (wie not. 1) 333⫺340. ⫺ 35 id.: Bulsa Sunsuelima. Folktales of the Bulsa in Northern Ghana. Münster/Hbg 1993, 13⫺16 (cf. Rez. H.-J. Uther in Fabula 35 [1994] 362⫺364). ⫺ 36 Schmidt (cf. Rez. H.-J. Uther in Fabula 32 [1991] 343 sq.). ⫺ 37 Heissig, W.: Gedanken zu einer strukturellen Motiv-Typologie des mongol. Epos. In: id. (ed.): Die mongol. Epen. Wiesbaden 1979, 9⫺28. ⫺ 38 cf. id.: Erzählstoffe mongol. Heldenepen 1⫺2. Wiesbaden 1988, hier t. 2, 847⫺855. ⫺ 39 Dicke/Grubmüller. ⫺ 40 Wie not. 28. ⫺ 41 Abrahams, R. D.: Between the Living and the Dead (FFC 225). Hels. 1980. ⫺ 42 Tubach; cf. auch Berlioz, J./Polo de Beaulieu, M. A. (edd.): Les Exempla me´die´vaux. Introduction a` la recherche, suivie des tables critiques de l’Index exemplorum de F. C. Tubach. Carcassonne 1992. ⫺ 43 Dvorˇa´k (cf. Rez. H.-J. Uther in Fabula 22 [1981] 327 sq.). ⫺ 44 Dömötör. ⫺ 45 Bihari, A.: Magyar hiedelemmonda katalo´gus/A Catalogue of Hungarian Folk Belief Legends. Bud. 1980 (cf. Rez. L. De´gh in Fabula 22 [1981] 323⫺325). ⫺ 46 Müller/Röhrich. ⫺ 47 cf. Uther, H.-J.: Überlegungen zur Klassifizierung alpenländ. Sagen. In: Studien zur Volkserzählung. ed. L. Petzoldt/S. de Rachewiltz. Ffm. u. a. 1987, 57⫺74. ⫺ 48 z. B. Pino Saavedra; Chertudi, S.: Cuentos folklo´ricos de la Argentina 1⫺2. Buenos Aires 1960/64 (cf. Rez. W. Anderson in Fabula 4 [1961] 276⫺278). ⫺ 49 Uther (wie not. 1). ⫺ 50 z. B. Megas; BFP. ⫺ 51 z. B. E˙rgis; STF; Gonza´lez Sanz; Oriol/Pujol; Cardigos; Dadunashvili, E.: Typologie des georg. Zaubermärchens. Baltmannsweiler 2007. ⫺ 52 z. B. Baughman; Hoffmann; Smith; Haboucha; Alptekin, A. B.: Hayvan Masalları tip ve motif katalog˘una dog˘ru (Zu einem Typen- und Motivkatalog von Tiermärchen). In: Festschr. S. Sakaog˘lu. Kayseri 1994, 56⫺97. ⫺ 53 cf. Tielemans, E./Top, S. (edd.): Echt verteld … echt verteld. Een volksverhaalonderzoek (Resultaten van een onderzoek, uitgevoerd door een groep studenten […]). Limbricht 1987; Top, S.: Op verhaal komen 1⫺6. Leuven 2004⫺08. ⫺ 54 z. B. Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 1⫺2. P. 1973/74; Joisten, C.: Eˆtres fantastiques du Dauphine´. Patrimoine narratif de l’Ise`re. ed. N. Abry/A. Joisten. Grenoble 2005. ⫺ 55 z. B. Appari, E.: Le fiabe siciliane, gli echi culturali e la Germania.
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Palermo 1992; Appi, E./Cesselli, A.: Racconti popolari friulani 13. Udine 1975; Aprile, R.: Die Schöne mit den sieben Schleiern. Sizilian. Zaubermärchen. Stg. 1997. ⫺ 56 z. B. Camarena Laucirica, J.: Cuentos traditionales recopilados en la Provincia de Ciudad Real. Ciudad Real 1984; id.: Cuentos tradicionales de Leo´n 1⫺2. Madrid 1991. ⫺ 57 El-Shamy, Types. ⫺ 58 MNK (cf. Uther, H.-J.: Der ung. Volksmärchenkatalog. In: Finn.-ugr. Forschungen 51 [1993] 203⫺207). ⫺ 59 Delarue; Delarue/Tene`ze. ⫺ 60 Megas; Angelopoulou/Brouskou; Angelopoulou/ Kaplanoglou/Katrinaki. ⫺ 61 Camarena/Chevalier (cf. Rez. C. Shojaei Kawan in Fabula 37 [1996] 314⫺317 und 40 [1996] 138⫺ 140). ⫺ 62 Ranke; Hubrich-Messow. ⫺ 63 van der Kooi. ⫺ 64 Dicke/Grubmüller. ⫺ 65 Jason, H.: Motif, Type and Genre. A Manual for Compilation of Indices and a Bibliogr. of Indices and Indexing (FFC 273). Hels. 2000 (cf. Rez.en J. van der Kooi in Fabula 43 [2002] 162⫺166 und L. Haring in FF Network 21 [2001] 20⫺22). ⫺ 66 ATU.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Typisierung J Anordnungsprinzipien, J Stereotypen, J Stereotypen, ethnische
Typus (griech. typos: das Prägende, Form, Gestalt), in wiss. Disziplinen wie Philosophie, Kunstgeschichte, Religions-, Lit.- und Geschichtswissenschaft, in Psychologie, Psychiatrie, Soziologie wie auch in den Naturwissenschaften verwendeter Terminus zur Charakterisierung von Figuren, Gegenständen, Ereignissen und Verhaltensweisen, die als vorbildhaft bzw. strukturbildend anzusehen sind. Der T. kann sowohl ein Konstrukt als auch ein empirisches Objekt sein, und ist, ähnlich wie System oder J Struktur, Bestandteil einer Typologie1. Abzugrenzen von T. ist das J Stereotyp, das als mentales Bild durch schematisierende Darstellung Allgemeingültigkeit beansprucht und dabei auf individuelle Besonderheiten (cf. J Individualisierung) verzichtet. In der Erzählforschung wird unter der Bezeichnung T. meist der Erzähltyp (E.) verstanden. Er dient zur Klassifizierung von J Texten aus schriftl. Überlieferungen und/oder aus mündl. Einzelaufzeichnungen2. Erste Ansätze zu einer Erfassung von E.en finden sich in Arbeiten europ. Forscher: G. von J Hahn z. B. suchte griech. Märchen im Vergleich mit germ. Märchen typol. in Formeln zu erfassen (cf. J
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Typus
Anordnungsprinzipien); M. P. J Arnaudov teilte Märchen im weitesten Sinne in vier Gruppen ein und bezeichnete die kleinste inhaltliche Einheit als ,tema‘3. Der Finne A. J Aarne schließlich entwickelte auf der Grundlage finn., dän. (S. J Grundtvig) und dt. (J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm) Märchen ein System von E.en4, das er mehrfach in J Typenkatalogen erprobte (J Geogr.-hist. Methode)5. Sein Ziel war es, die bis dato gedr. und in den großen nationalen Archiven aufbewahrten Materialien nach einem einheitlichen und allg.gültigen Ordnungssystem für vergleichende Forschungen zu erschließen6. In diesen Verz.sen sind E.en durch eine Typennummer, einen Titel, ein stark verknapptes Resümee des Inhalts und Quellenbelege nachgewiesen. Aarnes Verz. der Märchentypen (1910) ist der erste internat. Typenkatalog. Im Unterschied zu Aarne, der die Typenbeschreibung äußerst knapp hielt und an der Handlung (Figur) ausrichtete, war es bei der Überarbeitung und Erweiterung dieses Katalogs das Bestreben von S. J Thompson (AaTh) wie auch H.-J. J Uther (ATU), den E. durch ein ausführlicheres und allg.gültigeres Handlungsschema zu dokumentieren, das überdies Angaben zu J Motiven nach Thompsons J Motivkatalog (Mot.) enthält. Das von Aarne entwickelte Konzept des E.s basiert auf der Vorstellung, daß einzelne Erzählungen auf der Basis inhaltlich übereinstimmender und meist genetisch verwandter Volkserzählungen als Textgruppe (J Schema) ausgewiesen werden können7. Charakteristisch für einen E. ist die J Stabilität des erzählerischen Kerns: ein logisch geordnetes Gefüge, das oft aus zahlreichen kleineren Einheiten zusammengesetzt ist. Thompsons Definition des E.s kommt dieser Auffassung bes. nahe. Er beschrieb ihn als „a traditional tale that has an independent existence. It may be told as a complete narrative and does not depend for its meaning on any other tale. It may indeed happen to be told with another tale, but the fact that it may appear alone attests to its independence. It may consist of only one motif or of many“8. Der E. ist nicht als unwandelbare Größe oder totes Material der Vergangenheit zu verstehen, sondern im Gegenteil von großer J Dynamik und von seiner Fähigkeit zur Anpas-
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sung an andere thematische und mediale Komponenten (cf. J Adaptation) bestimmt. Das Konzept orientiert sich an Inhalten und enthält die J Normalform einer Erzählung, die nicht im Detail der erzählerischen Wirklichkeit entspricht. Fast immer liegen unterschiedliche Ausprägungen vor, was auch zur Einführung sog. Subtypen geführt hat9. Der E. ist zumeist durch typische Personenoder Situations- bzw. Ereigniskonstellationen geprägt. Die als typisch in die Analyse eingeflossenen Handlungsstränge sind oft direkt oder indirekt auf eine ,klassisch‘ gewordene Leitfassung zurückzuführen. Gegenüber verwandten Formen haben sich J Buchmärchen dabei als stilbildend herausgestellt, wie an den Märchen der Brüder Grimm oder J Perraults beobachtet werden kann. Trotz einer im großen und ganzen bestehenden Homogenität der Handlungsstränge besteht eine Tendenz, insbesondere Eingangs- und Schlußepisoden von Texten zu variieren (J Variabilität). Integriert in das Konzept der E.en sind außerdem einzelne Erzählungen, die thematische oder an Figuren/Gruppen orientierte ähnliche Sachverhalte betreffen, also nur bedingt als E.en im obigen Sinne anzusprechen sind, z. B. AaTh/ATU 1865: Jokes about Foreigners, ATU 1804**: Tales about Payment for Absolution oder AaTh/ATU 1920: cf. J Lügenwette. Derartige von Aarne angedachte und von Thompson und Uther ergänzte E.en finden sich im internat. Typenkatalog ATU mit der einschränkenden Bezeichnung ,Miscellaneous type‘ (i.e. Sammeltyp). Dies signalisiert, daß die dort verzeichneten Erzählungen weiterer Spezifizierungen bedürfen. Von Motiv, J Episode oder J Detail als kleiner Handlungseinheit und J Thema als zentraler, abstrakt gefaßter Idee des Textes setzt sich der E. erkennbar ab. Dabei kommt es allerdings zu Überschneidungen mit dem Phänomen Motiv, die vor allem in Kleinformen wie Witz oder Anekdote zu beobachten sind. Eine Reihe von E.en existiert auch weniger selbständig und begegnet meist nur innerhalb von J Kontaminationen oder Kombinationen mit einem oder mehreren E.en (cf. J Konglomerat, J Zyklus). Solche Verbindungen finden sich bes. in Tiermärchen, Zaubermärchen und Schwänken. Innerhalb der Schwankgruppe AaTh/ATU 1000⫺1199: Tales
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Typus
of the Stupid Ogre (Giant, Devil) betrifft dies z. B. die thematisch eng verbundenen Erzähltypen AaTh/ATU 1049, 1060⫺1063 B, 1070, 1083⫺1090, 1095, 1096: J Wettstreit mit dem Unhold oder AaTh/ATU 1000, 1102: J Zornwette. Als pragmatisches Hilfsmittel hat der E. in der geogr.-hist. Methode eine praktische Funktion und dient als ein Konstrukt zur Feststellung von Gemeinsamkeiten, nach J. J Honti die ideelle Einheit in der Vielzahl von J Varianten10. Der aus E.en bestehenden Typologie und ihrer Verwendung für die Ordnung von Gegenstands- und Figurenkomplexen liegt die Vorstellung eines J Archetyps zugrunde11, wonach aus der philol. Analyse einzelner Fassungen eine J Urform gewonnen werden kann; dagegen werden mit dem Begriff J Redaktion davon strukturell oder inhaltlich abweichende Fassungen erfaßt. In ihrer einfachen Gestalt stellt die heute oder in einer festlegbaren Zeit (z. B. 19. Jh.) gültige Form das Minimalgerüst eines E.s (cf. auch J Grundform) dar. M. J Lüthi vertrat darüber hinaus die Auffassung, daß es bei der Tradierung der Volkserzählung durch verschiedene Wechselwirkungen zwischen schriftl. und mündl. Überlieferung zur Konstituierung eines Texts komme, der sich im Laufe eines längeren Zeitraums durch stilistische Stabilität auszeichne, d. h. zu einer J Zielform gelange, die aufgrund von J Selbstberichtigungen (Begriff von W. J Anderson) entstanden sei12. Der von C. W. von J Sydow beschriebene J Ökotyp dagegen setzt einen E. schon voraus und bezieht sich auf eine bestimmte Version, die ausschließlich in einem regional oder ethnisch abgrenzbaren Gebiet vertreten ist. Das Unbehagen am Konzept des E.s mit der Konzentration auf Stoffe, Inhalte, Figuren und Gegenstände führte schon früh zur Kritik. Bes. wirkungsmächtig waren die Arbeiten V. Ja. J Propps zur J Morphologie des Märchens13. Andere Forscher wie u. a. D. Paulme14, L. Haring15 oder R. J Schott16 traten für eine synthetische und an der Morphologie ausgerichtete Strukturanalyse von Erzählungen ein: Danach bilden sich bestimmte E.en als Motivstränge heraus. Dieser Ansatz bestimmt vor allem auch semantischstrukturalistische Forschungen, die von variablen und konstanten Bauelementen der Texte
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ausgehen, die auf Grund sprachlicher und zeichenimmanenter Beziehungen analysiert werden können (J Semantische Analyse, J Strukturalismus)17. Eine naturwiss. Exaktheit in Anlehnung an biologische Differenzierungen, die den Verfechtern eines Ordnungssystems im Sinne von E.en vorgeschwebt hat (Aarne als „der Linne´ der Märchenforschung“)18, ist nicht zu erreichen. Die Definition des E.s als Einheit ist vielmehr wegen seiner Unbestimmtheit öfter kritisiert worden19. Er bietet aber aufgrund seiner Offenheit eine Basis für die Integration vieler funktional und formal unterschiedlicher Erzählungen aus verschiedenen Ethnien, Zeiten und Genres (cf. J Gattungsprobleme). Das eröffnet die Möglichkeit, einerseits zwischen Inhalten und Themen zu differenzieren, andererseits aber auch Form und Funktion als wesentliche gattungskonstituierende Elemente zu berücksichtigen, die im Verlauf ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte unterschiedliche Bedeutungen innehaben können. 1 Suntrup, R./Thome´, H./Jannidis, F.: Typologie. In: RDL 3 (32003) 707⫺713; Strenge, B. u. a.: Typos, Typologie. In: Hist. Wb. der Philosophie 10. Basel u. a. 1998, 1587⫺1607. ⫺ 2 Boggs, R. S.: Types and Classifications of Folklore. In: StandDict. 2 (1950) 1138⫺1147; Bødker, L.: Folk Literature (Germanic). Kop. 1965, 304; Greverus, I.-M.: Thema, T. und Motiv. Zur Determination in der Erzählforschung. In: Laographia 22 (1965) 130⫺139; Voigt, V.: Versuch einer gattungsmäßigen Klassifikation der Sagen [1976]. In: id.: Europ. Linien. Studien zur Finnougristik, Folkloristik und Semiotik. Bud. 2005, 84⫺105; Lüthi, Märchen (71979), 16⫺24; Courte`s, J.: Motif et type dans la tradition folklorique. Proble`mes de typologie. In: Litte´rature 45 (1982) 114⫺127; Georges, R. A.: The Universality of the Tale-Type as Concept and Construct. In: WF 41 (1983) 21⫺28; Uther, H.-J.: Einige Bemerkungen zum gegenwärtigen Stand der Klassifizierung von Volkserzählungen. In: Fabula 25 (1984) 308⫺321; Holbek, B.: Variation and Tale Type. In: D’un Conte … a` l’autre. La variabilite´ dans la litte´rature orale. ed. V. Görög-Karady (in Zusammenarbeit mit M. Chiche). P. 1990, 471⫺ 485; Mullen, P. B.: Tale-Type. In: Enc. of Folklore and Literature. ed. M. E. Brown/B. A. Rosenberg. Santa Barbara/Denver/Ox. 1998, 641⫺644; Holzapfel, O.: Lex. folkloristischer Begriffe und Theorien (Volksliedforschung). Bern u. a. 1996, 336 sq.; Jason, H.: Motif, Type and Genre (FFC 273). Hels. 2000, 24⫺29; ATU, t. 1, 7⫺14; Marzolph, U.: Folktale, „Tale Type“. In: Mills, M. A./Claus, P. J./Diamond, S. (edd.): South Asian Folklore. An Enc. N. Y./L. 2003, 220⫺222; Tene`ze, M.-L.: Les Contes merveil-
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Tyrannen
leux franc¸ais. Recherche de leurs organisations narratives. P. 2004; Shojaei Kawan, C.: La Classification des contes. In: Cahiers de litte´rature orale 57⫺ 58 (2005) 27⫺42; Uther, H.-J.: Tale Type. In: The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales 3. ed. D. Haase. Westport, Conn./L. 2007, 937⫺942. ⫺ 3 Köhler-Zülch, I.: Bulg. Märchen im balkan. Kontext und ihre Stellung in der internat. Erzählüberlieferung. In: Kulturelle Traditionen in Bulgarien. ed. R. Lauer/P. Schreiner. Göttingen 1989, 185⫺201, hier 188⫺191. ⫺ 4 Aarne, A.: Übersicht der mit dem Verz. der Märchentypen in den Slgen Grimms, Grundtvigs, Afanasjews, Gonzenbachs und Hahns übereinstimmenden Märchen (FFC 10). Hamina 1912; id.: Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung (FFC 13). Hamina 1913. ⫺ 5 id.: Verz. der Märchentypen (FFC 3). Hamina 1910; id.: Finn. Märchenvar.n (FFC 5, 33). Hamina 1911/20; id.: Var.nverz. der finn. Deutungen von Tierstimmen und anderen Naturlauten (FFC 9). Hamina 1912; id.: Verz. der finn. Ursprungssagen und ihrer Var.n (FFC 8). Hamina 1912; id.: Estn. Märchen- und Sagenvar.n (FFC 25). Hamina 1918. ⫺ 6 id. 1910 (wie not. 5) III⫺IX. ⫺ 7 Aufstellung der in der EM behandelten Typenmonogr.n cf. EM 4, 348⫺375. ⫺ 8 Thompson, S.: The Folktale. N. Y. 1946, 413⫺427, hier 416. ⫺ 9 Ben-Amos, D.: Do We Need Ideal Types (in Folklore)? Turku 1992. ⫺ 10 Honti, H.: Märchenmorphologie und Märchentypologie. In: Folk-liv 3 (1939) 307⫺318. ⫺ 11 Meletinskij, E.: O proizchozˇdenii literaturno-mifologicˇeskich sjuzˇetnych archetipov (Über den Ursprung literar. mythol. Archetypen). In: Mirovoe drevo 2 (1993) 9⫺62. ⫺ 12 Lüthi, M.: Urform und Zielform in Sage und Märchen. In: Fabula 9 (1967) 41⫺54. ⫺ 13 Propp, V. Ja.: Morfologija skazki (Morphologie des Märchens). Len. 1928; id.: Istoricˇeskie korni volsˇebnoj skazki (Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens). Len. 1946. ⫺ 14 Paulme, D.: Morphologie du conte africain. In: Cahiers d’e´tudes africaines 12 (1977) 131⫺163; ead.: Motif ou contetype? Comment s’e´labore un conte. In: Itine´rances en pays peul et ailleurs 2. Me´langes […] a` la me´moire de P. F. Lacroix. P. 1981, 97⫺113. ⫺ 15 Haring, 21. ⫺ 16 z. B. Schott, R.: Some Problems with Tale-Type, Motif and Keyword Indices in Analysing Folktales of the Bulsa (Northern Ghana). In: Heissig, W./ Schott, R. (edd.): Die heutige Bedeutung oraler Traditionen. Ihre Archivierung, Publikation and IndexErschließung. Opladen/Wiesbaden 1998, 333⫺ 340. ⫺ 17 Meletinsky, E.: L’Organisation se´mantique du re´cit mythologique et le proble`me de l’index se´miotique des motifs et des sujets. In: CalameGriaule, G./Görög-Karady, V./Chiche, M. (edd.): Le Conte, pourquoi? comment? ⫺ Folktales, Why and How? P. 1984, 21⫺33; Kerbelyte˙, B.: Sjuzˇetnyj tip volsˇebnoj skazki (E.en der Zaubermärchen). In: Fol’klor. Obraz i poe˙ticˇeskoe slovo v kontekste. ed. V. M. Gacak. M. 1984, 255⫺270; ead.: StructuralSemantic Principles of Formation of the Types of the Folk Tale. In: Estudos de literatura oral 1 (1995)
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125⫺130. ⫺ 18 Lüthi, Märchen, 16. ⫺ 19 ibid.; cf. u. a. Greverus, Holbek, Uther, Voigt (wie not. 2).
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Hans-Jörg Uther
Tyrannen. Der griech. Begriff tyrannos bezeichnet seit dem 7. Jh. a. Chr. n. einen Alleinherrscher (J Herrschaft, Herrscher). Dabei fungiert Tyrann (T.) nicht als Titel oder Selbstbezeichnung, sondern beinhaltet moralische Kritik und wird als Kampfbegriff der Aristokraten gegen die Selbstüberhebung eines einzelnen verwendet1. Seit der athen. Demokratie ist der Begriff negativ besetzt und wird in der politischen Theorie des Aristoteles als Entartung des Königtums aufgefaßt2. Ist der T. bei Aristoteles durch die Mißachtung des Gemeinwohls und die ausschließliche Förderung der eigenen Interessen charakterisiert, so steht in der röm. Tradition3 die J Grausamkeit des T.en im Mittelpunkt. In den ma. Fürstenspiegeln (J Speculum principum) wird sowohl der Gewaltherrscher als auch der durch illegitime Mittel an die Macht gekommene J Usurpator als T. qualifiziert. Beide zeichnen sich durch Mißachtung des Rechts aus. Diese Charakteristik des T.en als Rechtsbrecher wird in der frühen Neuzeit vorherrschend4. In Märchen gilt der J König zwar bisweilen als ungerecht, grausam oder verdorben, doch steigert sich diese partielle Kritik nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Königs als T. Erzählungen über T.en stammen fast ausschließlich aus der antiken und jüd.-christl. Überlieferung. Im 18. Jh. öffnet sich die europ. Lit. verstärkt den Erzählstoffen des Orients, in denen die Figur des Gewaltherrschers weit verbreitet war (J Scheherazade, J Tausendundeine Nacht). Bereits in der Antike standen zwei bedeutende literar. Ausprägungen von T.enerzählungen zur Verfügung: Dem T.en wird als Widerpart entweder ein weiser J Ratgeber bzw. J Prophet (Hieron und Simonides, Dionysios und Platon, Nero und J Seneca, Ahab und J Elias, Herodes und J Johannes Baptista) oder die ,weibliche Unschuld‘ (Kreon und Antigone, Tarquinius Superbus und J Lucretia, Holofernes und Judith) gegenübergestellt5. In der frühen Neuzeit wurden diese Exempla durch ma. und zeitgenössische Anekdoten an-
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Tyrannen
gereichert, wobei in der protestant. Lit. vor allem die J Päpste als die paradigmatischen T.en erscheinen6. In der literar. Behandlung des J Mords an einem T.en spielt die Verdoppelung und Konkurrenz der Motive eine wichtige Rolle7: Thukydides bestreitet das Ansehen der Athener T.enmörder Harmodios und Aristogeiton, da sie ihre Tat an den T.enbrüdern Hipparch und Hippias aus niederen Beweggründen (Eifersucht, Rache) begangen hätten. Eine solche doppelte Motivation war eine beliebte Streitfrage in den Tragödien Senecas und taucht erneut seit dem 17. Jh. in berühmten Dramen auf (Corneille, Cinna; J Schiller, Fiesko; Musset, Lorenzaccio). Ein anderes Problem des T.enmords begegnet verstärkt in der jüd.christl. Tradition: Einerseits steht der T. für einen Verstoß gegen die göttliche Ordnung (J Hybris) und wird durch seine Maßlosigkeit zum Spiegelbild J Luzifers8, andererseits wird er auch seit Augustinus (De civitate dei 5,19) als göttliche J Strafe für die Sünden der Menschen (cf. J Attila als flagellum dei) aufgefaßt, der man mit Duldung und Leidensfähigkeit begegnen müsse. Dieser Konflikt wird in der überaus beliebten Anekdote vom J Gebet für den T.en (ATU 910 M) thematisiert. Auch die äsopische Fabel vom verwundeten Fuchs, der den Igel auffordert, die satten Fliegen auf seinen Wunden sitzen zu lassen, damit keine hungrigeren kämen, wurde in diesem Sinn verstanden (ATU 910 L: J Fliegen sollen nicht vertrieben werden). Für die Grausamkeit des T.en steht in der Antike Phalaris von Agrigent. Er ließ seine Gegner in einem bronzenen Stier verbrennen, wobei aus den Öffnungen die Schmerzensschreie der Eingesperrten wie das Brüllen eines Stiers ertönten; zur Probe habe Phalaris den Schöpfer des Stiers als ersten auf diese Weise töten lassen9. In der christl. Tradition gilt Herodes durch den Kindermord10, den Inzest und die Tötung des J Johannes Baptista11 als grausamster Herrscher. Im Theater des MA.s war er als Prototyp des T.en allgegenwärtig12. Nero13 und andere für ihren Cäsarenwahn bekannte röm. Kaiser fungieren in den J Märtyrerlegenden als T.en. Neben der Erfindung möglichst grausamer Marterinstrumente repräsentieren zwei verbrecherische Verhaltensweisen die Abartigkeit des T.en: der Mord an
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seinen engsten Verwandten sowie die Vollstreckung der Todesstrafe aus Vergnügen an den J Qualen seiner Opfer14. Beliebt war die Versinnbildlichung des Sprichworts ,Des Tyrannen Gewalt wird nicht alt‘15. Kaiser Nero stirbt, nachdem er befohlen hatte, Rom anzuzünden und seiner Mutter den Bauch aufzuschlitzen, einen einsamen und in seiner Hilflosigkeit lächerlichen Tod16. Aus christl. Sicht muß die Strafe Gottes auf die Gewalttaten folgen17. J Shakespeare verbindet in Macbeth und Richard III. dieses Motiv mit der Vorstellung des sich notwendig steigernden Gewaltpotentials einer T.enherrschaft18. Der T. lebt in ständiger Angst vor seinen vielen Feinden19. Der Schlaf ist sein größter Feind und bedarf deshalb bes. Vorkehrungen. Die ständige Furcht demonstriert der T. Dionysios dem Damokles dadurch, daß er dem Höfling seinen Platz an einer Festtafel überläßt und ein an einem Haar hängendes Schwert über seinem Kopf anbringen läßt (ATU 981 A*: J Leben am seidenen Faden). Kennzeichen der T.enherrschaft ist auch die Ubiquität der Schmeichelei. In einer beliebten Erzählung treffen zwei Wanderer auf einen Affen, der für sich das Amt des Kaisers in Anspruch nimmt. Während der Affe den ehrlichen Wanderer zerfleischt, wird der Schmeichler von ihm verschont (AaTh/ATU 48*: Flatterer Rewarded, Honest One Punished). Die Gegenfolie dazu bietet eine verbreitete Erzählung über Augustus. Als dieser von einem Untertanen der Tyrannei bezichtigt wurde, sagte der Kaiser: ,Wäre ich einer, sagtest du es nicht‘20. Andererseits kann auch die Schmeichelei vergeblich sein: Als die Tauben versuchen, den Habicht durch Schmeichelei als ihren Beschützer zu gewinnen, werden sie von ihm gerissen (AaTh/ATU 231**: The Falcon and the Doves). Die Frage, ob sich T.en bessern können, wird nur in der christl. Bußkultur eindeutig positiv beantwortet (ambivalent ist die Geschichte von der J Bürgschaft, in der dem T.en ursprünglich die Aufnahme in die Gemeinschaft der Freunde verweigert wurde). Vorbilder dafür waren die bibl. Exempla von Ahab und Elias sowie J David und Nathan. J Jenseitsvisionen können den T.en ebenso zur Umkehr bewegen wie die Liebe zu einer Frau oder die Intervention eines Engels21.
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1 Lenschau, T.: Tyrannis. In: Pauly/Wisowa 7 A (1948) 1821⫺1842; Cobet, J.: Tyrannis. In: DNP 12,1 (2002) 948⫺950. ⫺ 2 Aristoteles, Politik 4,10; 5,10 sq. ⫺ 3 Cicero, De officiis 3,6,32; De re publica 2,48,67; Seneca, De elementia 1,11,4. ⫺ 4 Mandt, H.: Tyrannis, Despotie. In: Brunner, O./Conze, W./Koselleck, R.: Geschichtliche Grundbegriffe 6. Stg. 1990, 651⫺706; Miethke, J.: T.en, T.enmord. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1997, 1135⫺1138; Friedburg, R. von: Tyrannis. In: DNP 15,3 (2003) 685⫺694. ⫺ 5 Der Typus ,männliche Unschuld‘ ist dagegen eher selten, cf. z. B. Jordan, M. D.: The Invention of Sodomy in Christian Theology. Chic. 1997, 10⫺28; Pauli/Bolte 1, num. 681. ⫺ 6 Brückner, 135; Hondorff, A.: Promptuarium exemplorum. Ffm. 1574, 180r⫺194r; Meiger, S.: Nucleus historiarum 1. Hbg 1598, 270⫺275. ⫺ 7 Schlumbohm, D.: T.enmord aus Liebe. In: Romanistisches Jb. 18 (1967) 97⫺122. ⫺ 8 Tubach, num. 1223; zum Hochmut als Hauptlaster cf. EM 6, 904 und 8, 137. ⫺ 9 Tubach und Dvorˇa´k, num. 811; Ohly, E. F.: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Münster 1940, 113⫺119. ⫺ 10 Tubach, num. 2581; Dömötör, num. 31. ⫺ 11 Tubach, num. 2830. ⫺ 12 Manitius, M.: Geschichte der lat. Lit. des MA.s 3. Mü. 1901, 1044; Rupprich,
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H.: Die dt. Lit. vom späten MA. bis zum Barock. Mü. 1994, 259. ⫺ 13 Kern, M./Ebenbauer, A. (unter Mitwirkung von S. Krämer-Seifert) (edd.): Lex. der antiken Gestalten in den dt. Texten des MA.s. Darmstadt 2003, 420⫺424. ⫺ 14 Lauremberg, P.: Acerra philologica. Ffm./Lpz. 1717, num. 56, 82. ⫺ 15 Tubach, num. 3433; Meiger (wie not. 6) 293⫺298; cf. auch EM 2, 619 sq. ⫺ 16 Tubach, num. 3463; Rehermann, 461, num. 11, 469, num. 29; Legenda aurea/Benz, 429⫺436; Brückner, num. 583; Ohly (wie not. 9) 84⫺88. ⫺ 17 Rehermann, 339 sq., num. 16; Schneider, A.: Exempelkatalog zu den „Iudicia Divina“ des Jesuiten Georg Stengel von 1651. Würzburg 1982, num. 744. ⫺ 18 Frenzel, Motive, 658⫺ 676; Wolpers, T. (ed.): Der Sturz des Mächtigen. Zur Struktur, Funktion und Geschichte eines literar. Motivs. Göttingen 2000. ⫺ 19 Meiger (wie not. 6) 303⫺ 305. ⫺ 20 Pauli/Bolte, num. 733; Tubach, num. 5011. ⫺ 21 Tubach, num. 5164, 5012; Hofmann, L.: Exempelkatalog zu Martin Pruggers Beispielkatechismus von 1724. Würzburg 1987, num. 546.
Tübingen
Karl Ubl
U Übel: Das kleinere Ü. (AaTh/ATU 1689), Erzählung aus einer Gruppe von Schwänken, die dadurch definiert wird, daß ein J Narr dem J Schicksal (Gott) für eine soeben erlittene (oft ungerechtfertigte) Unbill dankt, da er dadurch einer (hypothetischen, befürchteten) größeren entkommt (Mot. J 2550⫺J 2599: Thankful fools; cf. AaTh/ATU 774 P: J Kürbis und Eichel). Für die meisten Fassungen der ca zwei Jahrtausende alten Erzählung1 ist das Überbringen eines Geschenks an den Herrscher konstitutiv. Die dem türk. Narren J Hodscha Nasreddin zugeschriebene jüngere Version2 darf als Leitfassung gelten: Nasreddin will dem Herrscher als Geschenk einen Korb mit reifen Quitten (roten Rüben) überbringen. Man rät ihm statt dessen dazu, Feigen zu überbringen. Da diese noch nicht reif sind, läßt der Herrscher sie ihm an den Kopf werfen. Der Narr dankt Gott dafür, daß er keine Quitten gebracht hat, denn damit hätte er ernsthaft verletzt werden können.
Die älteste bekannte Fassung des Erzähltyps findet sich in De vita Caesarum (3,60) des röm. Historikers Sueton (gest. ca 130⫺140 n. u. Z.) in der Biogr. des röm. Kaisers Tiberius (gest. 37 n. u. Z.); hier dankt ein Fischer den Sternen dafür, daß er statt des ihm um die Ohren geschlagenen Fischs nicht die gleichfalls gefangene Krabbe überbracht hat. Der Midrasch Wajikra Rabba (ca 7. Jh.) leitet seine Version mit AaTh/ATU 928: J Bäume für die nächste Generation ein: Der röm. Kaiser Hadrian bezweifelt, daß ein alter Mann noch in der Lage sein werde, die Früchte des von ihm selbst gepflanzten Baums zu ernten; als der Mann ihm später Feigen von dem Baum bringt, vergütet er sie ihm reichlich; ein Narr, der durch Überbringen eines Korbs mit Feigen gleichfalls reich werden will, wird jedoch mit den Früchten beworfen3. Die älteste Fassung in einer europ. Volkssprache ist im J Novellino (num. 74) enthalten; dort überbringt der
Dumme seinem Gutsherrn statt der (seltenen) Pfirsiche (überreich vorhandene) Feigen. In der Folgezeit ist der Schwank in ähnlicher Form in ital., span. und frz. Kompilationen des 16./17. Jh.s enthalten4. Bereits in der osman. hs. Überlieferung findet er sich im Repertoire des Hodscha Nasreddin5, auf das sich auch die einflußreiche Zitierung im Geschichtswerk des moldau. Gelehrten D. Cantemir (1673⫺1723) bezieht6. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 1689 vorwiegend aus einem zusammenhängenden Gebiet aufgezeichnet, das schwerpunktmäßig den islam. Vorderen Orient und Nordafrika sowie Südost- und Südeuropa umfaßt. Darüber hinaus sind vereinzelt ung.7, rumän.8, ukr.9 und frz.10 sowie brasilian.11 und mexikan.12 Var.n aufgezeichnet worden13. Manche von ihnen gestalten die Handlung allerdings z. T. recht frei bzw. sind eher entfernt mit AaTh/ATU 1689 verwandt: Als der Schultheiß beim Überbringen eines Korbs mit Pflaumen versehentlich stolpert und den Inhalt verschüttet, tun dies die Gemeinderäte ebenfalls; zur Strafe werden sie mit den Pflaumen beworfen ⫺ und danken Gott, daß sie keine Nüsse gebracht haben14. Der Narr, der Gott um einen Peso gebeten hatte, dankt dafür, daß er nur den (mit einem Stein geworfenen) halben Peso erhalten hat, denn ein ganzer hätte ihm den Kopf zerschmettert15. Die als AaTh/ATU 1689 klassifizierten nordamerik. und griech. Texte haben mit dem Erzähltyp wenig mehr gemeinsam, als daß es um Gegenstände unterschiedlicher Größe geht, die hier einer Person (zur Strafe) rektal eingeführt werden (sollen)16. Manche Var.n adaptieren das Geschehen, indem die überbrachten (Feld-)Früchte als Tribut an den Landes- oder Gutsherrn ausgewiesen werden17; manche sind zweigliedrig, wobei der zweite Teil wie in AaTh/ATU 1689 A: J Raparius eine fatale J Imitation durch eine
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Überempfindlichkeit ⫺ Überreden zum Sprechen, Singen etc.
andere Person bringt18. Wiederum andere bringen misogyne Untertöne in die Handlung ein, wobei der Narr teils meint, die Mißhandlung dem schlechten Rat seiner Frau zu verdanken19, teils stolz darauf ist, daß er ihren Rat nicht befolgt hat, denn sonst erginge es ihm noch schlechter20. Jenseits solcher individuellen Ausgestaltungen kann die Erzählung allg. als Untergrabung der herrscherlichen Autorität verstanden werden, denn durch seine scheinbar absurde Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber verdeutlicht der Narr dessen übergeordnete Macht, der sich letztlich auch der Herrscher unterwerfen muß. Erzählerisch dominiert allerdings meist die unverhohlene Schadenfreude an der körperlichen Züchtigung des Dummen. 1
Cascudo, L. da Caˆmara: Trinta „esto´rias“ brasileiras. [Lissabon] 1955, num. 45. ⫺ 2 Wesselski, Hodscha Nasreddin 1, num. 71; Marzolph, U.: Der Hodscha Nasreddin. Mü. 32006, num. 365. ⫺ 3 Clouston, W. A.: Popular Tales and Fictions. ed. C. Goldberg. Santa Barbara/Denver/Ox. 2002, 542⫺545; Wesselski, Arlotto 1, num. 68; Gaster, M.: The Exempla of the Rabbis 1. L./Lpz. 1924, num. 26; Hasan-Rokem, G.: Tales of the Neighborhood. Jewish Narrative Dialogues in Late Antiquity. Berk./L. A./ L. 2003, 86⫺137, bes. 86⫺116; cf. auch Hanauer, J. E.: Folk-Lore of the Holy Land. L. 1907, num. 4. ⫺ 4 cf. Wesselski, Hodscha Nasreddin 1, num. 71; Cascudo (wie not. 1); Chevalier, M.: Cuentos folklo´ricos en la Espan˜a del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 218. ⫺ 5 Köhler/Bolte 1, 494⫺496; Kut, G.: Nasreddin Hoca hikaˆyeleri yazmalarının kolları üzerine bir deneme [Konkordanz der in den verschiedenen Nasreddin Hodscha-Mss. enthaltenen Geschichten]. In: IV. Milletlerarası Türk Halk Kültürü Kongresi Bildirileri. 2: Halk Edebiyatı. Ankara 1992, 147⫺200, hier num. 182. ⫺ 6 Constantin, G. I.: De´me`tre Cantemir et Nasr ed-Din Khodja. In: Türk Kültürü Aras¸tırmalaı 15,1⫺2 (1976) 289⫺310, hier ´ .: König Ma´tya´s und die Ra´to´307 sq. ⫺ 7 Kova´cs, A ter. Lpz./Weimar 1988, 211 sq. ⫺ 8 Stroescu, num. 3835. ⫺ 9 Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 103. ⫺ 10 Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 2. Grenoble 1971, num. 185; Pelen, J.-N.: Le Conte populaire en Ce´vennes. P. 21994, num. 138. ⫺ 11 Cascudo (wie not. 1). ⫺ 12 Paredes, A.: Folktales of Mexico. Chic. 1970, num. 63. ⫺ 13 Nicht zutreffend Elbaz, A. E.: Folktales of the Canadian Sephardim. Toronto u. a. 1982, num. 37 (⫽ Mot. J 2235). ⫺ 14 Kova´cs (wie not. 7). ⫺ 15 Paredes (wie not. 12). ⫺ 16 Baughman; Legman, G.: Rationale of the Dirty Joke 2. N. Y. 1975, 825; Burrison, J. A.: Storytellers. Folktales and Legends from the South. Athens/L. 1989, 187; Orso, E. G.: Modern Greek Humor.
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Bloom./L. 1979, num. 152, 221. ⫺ 17 cf. Clouston (wie not. 3) 542; Chevalier (wie not. 4); Joisten und Pelen (wie not. 10). ⫺ 18 cf. Lintur (wie not. 9); Stephani, C.: Ostjüd. Märchen. MdW 1998, num. 2. ⫺ 19 cf. Gaster (wie not. 3); Vrcˇevic´, V.: Srpske narodne pripovijetke 2. Dubrovnik 1882, 26 sq., 194; Hanauer (wie not. 3). ⫺ 20 Walker, W. S./Uysal, A. E.: Tales Alive in Turkey. Cambr., Mass. 1966, num. 3.
Göttingen
Ulrich Marzolph
Überempfindlichkeit J Prinzessin auf der Erbse, J Sybariten Überlieferung J Tradition Überreden zum Sprechen, Singen etc. (AaTh/ ATU 6, 122 C, 227*). In einer Gruppe von Tierfabeln rettet sich der schwächere Protagonist vor dem Gefressenwerden, indem er den stärkeren, aber dümmeren Angreifer dazu provoziert, daß er die Beute losläßt oder ungewollt Helfer alarmiert. Das Motiv des Ü.s zum S. findet sich auch als Bestandteil anderer, im internat. Typenkatalog separat verzeichneter Erzähltypen, z. B. AaTh/ATU 57: J Rabe und Käse, AaTh/ATU 122 B*: The Squirrel Persuades the Fox to Pray before Eating oder AaTh/ATU 227: J Fuchs und Gänse. AaTh/ATU 6: Animal Captor Persuaded to Talk ist eine äsopische Fabel mit folgender Normalform: Ein Fuchs (Schakal, Wolf) fängt ein Huhn (Gans, Krähe, Eichhörnchen etc.). Das gefangene Tier überlistet seinen Gegner, indem es ihm eine Frage stellt oder ihn auf andere Weise zum Sprechen provoziert. Der Fuchs öffnet das Maul, um zu antworten, und läßt seine Beute frei.
Der Erzähltyp ist literar. erstmals bei dem angelsächs. Theologen und Gelehrten Alkuin (gest. 804) belegt1 und findet sich in der Folge u. a. in verschiedenen lat. J Romulus-Fassungen2. Die volkssprachliche Tradition beginnt mit J Marie de France (E´sope, num. 60), dem J Roman de Renart (Branche II, 23⫺468) und dem mhd. Reinhart Fuchs (11⫺176; J Reineke Fuchs). Var.n aus mündl. Überlieferung des 19. und 20. Jh.s wurden in fast ganz Europa, in weiten Teilen Asiens (vom Nahen Osten über den Iran, Tadschikistan, Indien bis hin nach Südostasien, China und Japan), in Mittel- und
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Überreden zum Sprechen, Singen etc.
Südamerika sowie in Afrika (bes. Nord- und Südafrika sowie Madagaskar) aufgezeichnet3. Entsprechend der langen Texttradition und weiten geogr. Verbreitung zeigt der Erzähltyp vielfältige Variationen sowohl bei den Protagonisten als auch bei der angewendeten List und der Rahmenhandlung: Als Kontrahenten treten neben den genannten Tieren z. B. auch Katze und Maus, Krokodil und Hase, Dachs und Wachtel oder Schlange und Frosch auf 4, je nach Rahmenhandlung kann ein weiterer Akteur ins Spiel kommen oder, wie in einigen Belegen aus Madagaskar, auch ein Mensch die Rolle des Opfers übernehmen5. Bei der Überredungstaktik dominieren zahlenmäßig die Belege, in denen der Angreifer aufgefordert wird, seinen Verfolgern triumphierende Worte zuzurufen6, vor dem Fressen zu beten bzw. Gott (Allah) zu preisen7 oder ein bestimmtes Wort (Namen) auszusprechen, bei dessen Artikulation das Maul weit geöffnet werden muß8. In zahlreichen Var.n aus Nordeuropa fragt das gefangene Tier, woher der Wind wehe9; in einigen span. und hispanoamerik. Belegen soll der Fuchs (Kojote) laut verkünden, daß er den Vogel gefressen habe, oder er soll andere Vögel bzw. seine Artgenossen herbeirufen10. In einer norddt. Var. bittet die Gans den Fuchs, mit ihr zu tanzen und dabei ,Hoppsa‘ zu rufen11. Eine Aufforderung zum Singen findet sich bereits bei Alkuin, aber auch in einer Erzählung aus Abchasien12; in einer kalmück. Var. überredet der Ziesel den Fuchs, vor dem Fressen bis acht zu zählen13. Ebenfalls AaTh/ATU 6 zuzurechnen sind diverse Var.n, in denen der Fänger nicht zum Sprechen, sondern zu einer anderen Handlung überredet wird: Der Fuchs soll z. B. die Augen schließen und das Maul öffnen, damit Vögel hineinfliegen können14; der Hund bringt das Krokodil zum Lachen, so daß sich der gefangene Mensch befreien kann15; Anansi rät dem Tiger, vor dem Fressen in die Hände zu klatschen, und rettet so den Affen16; die Krähe überredet den Fuchs, sie zwischen die Speichen eines Rades zu stecken17. Als selbständige Erzählung tritt AaTh/ATU 6 sehr selten auf 18; fast immer wird vorab erzählt, wie es dazu kam, daß das kleinere Tier gefangen wurde. Am häufigsten bilden AaTh/ ATU 61: J Fuchs und Hahn (der Angreifer fordert das Eichhörnchen auf, mit geschlossenen
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Augen von Ast zu Ast zu springen19; er überredet einen Vogel, den Kopf unter das Gefieder zu stecken20 oder mit geschlossenen Augen zu tanzen21) und AaTh/ATU 56 A: cf. J Fuchs und Vogeljunge den Rahmen; in der zuletzt genannten Kombination wird das hilfreiche Tier zur Beute des hungrigen Angreifers22. Vereinzelt sind auch AaTh/ATU 122 F: „Wait till I Am Fat Enough“ (cf. J Dick und fett)23, AaTh/ATU 223: The Bird and the Jackal 24, AaTh/ATU 20 C: cf. J Tiere fressen einander25, AaTh/ATU 37: J Fuchs als Kindermagd 26 und AaTh/ATU 155: J Undank ist der Welt Lohn27 als Einl. zu AaTh/ATU 6 belegt. Als Abschluß folgt in einer Var. aus Paraguay der Teil von AaTh/ATU 154: J Fuchs und Glieder, in dem der düpierte Angreifer, inzwischen selbst verfolgt, den vermeintlich bei der Flucht nicht hilfreichen Körperteil (Schwanz) bestraft, indem er ihn seinen Verfolgern überläßt28, oder, wie in zwei finn. Belegen, AaTh/ ATU 5: J Biß in die Wurzel: Hier behauptet das erbeutete Tier, der Angreifer habe statt seiner nur eine Wurzel im Maul, woraufhin dieser das Opfer losläßt29. Manchmal ist AaTh/ATU 6 in ein Konglomerat mehrerer Episoden und Erzähltypen eingebunden30. Nicht immer verläuft der Überrredungsversuch erfolgreich: In einem serb. Märchen lockt der Fuchs den Dachs in eine Falle, wird dann aber selbst zum Gefangenen, als der Dachs vorgibt, ihm etwas ins Ohr flüstern zu wollen (cf. AaTh 61 A: J Fuchs als Beichtvater). Der Dachs widersteht in der Folge den Versuchen des Fuchses, ihn zum Lachen zu bringen, und hält ihn fest, bis der Bauer kommt31. Eher AaTh/ATU 57 zuzuordnen sind Erzählungen, in denen einer der Protagonisten dem anderen durch Ü. die Beute abzujagen trachtet; die Affinität zu AaTh/ATU 6 zeigt sich aber darin, daß die gleichen Strategien angewendet werden, z. B. die Frage nach dem Wind oder die Aufforderung, ein bestimmtes Wort auszusprechen32. AaTh/ATU 122 C: The Sheep Persuades the Wolf to Sing ist ebenfalls eine äsopische Fabel, die in der Regel wie folgt verläuft: Ein Wolf will ein Schaf (Ziege) fressen; das bedrohte Tier bittet, vor seinem Tod noch einmal singen zu dürfen, bzw. möchte, daß der Wolf singt (Flöte spielt). Durch den Lärm (Heulen) werden die Hirten (Hunde) alarmiert, die den Wolf verjagen (verletzen, töten).
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Überreden zum Sprechen, Singen etc.
Der älteste Beleg findet sich im Romulus Monacensis (num. 36)33, in den Volkssprachen wird der Erzähltyp erstmals bei Marie de France (E´sope, num. 2) greifbar, seine Verbreitung erfolgte vor allem durch Heinrich J Steinhöwel (Esopus, num. 2)34. Aus mündl. Überlieferung ist der Erzähltyp in weiten Teilen Europas (ausgenommen Skandinavien), im Maghreb, in Asien (Iran, Tadschikistan, Indien, China), bei den Inuit Nordamerikas und in Puerto Rico nachgewiesen35. Nicht nur die Zahl der Belege, auch die Variationsbreite ist bei AaTh/ATU 122 C wesentlich geringer als bei AaTh/ATU 6: Anstelle der Ziege (Lamm) können Esel, Schwein, Rind oder Ente auftreten, in den Inuit-Märchen wird der Lemming (Eichhörnchen) von der Eule bedroht und rettet sich, indem er den Vogel zum Tanzen überredet36. Der Wolf wird gelegentlich wegen seiner schönen Stimme zum Singen aufgefordert oder weil die Ziege das Krachen ihrer Knochen nicht hören will37. In der Mehrzahl der literar. und mündl. Belege wollen die vom Wolf bedrohten Ziegen aber vor ihrem Tod noch eine Messe singen, oder sie überreden den Wolf, geistliche Gesänge anzustimmen. In dieser Ausprägung findet sich AaTh/ATU 122 C selten als selbständige Erzählung, sondern seit dem frühesten Beleg fast immer als Episode im Kettenmärchen AaTh/ ATU 122 A⫺B: J Wolf verliert seine Beute. In einem weißruss. Märchen wird der hungrige Wolf vom Zaren zu verschiedenen Tieren geschickt, u. a. zu jungen Gänsen, für die er musizieren soll38. Ähnliche Verbindungen mit anderen Typen und Motiven finden sich z. B. in einer georg. und einer tadschik. Var.39 In AaTh/ATU 227*: The Crow and the Crayfish ist das hungrige Tier ein Vogel: Eine Krähe (Rabe) fängt einen Krebs (Frosch). Dieser schmeichelt dem Vogel wegen seines Aussehens (seiner Verwandtschaft; stellt ihm Fragen), so daß der Fänger den Schnabel öffnet und seine Beute ins Wasser entkommen läßt.
Dieser Erzähltyp ist in Finnland, im Baltikum, in Rußland, Weißrußland und der Ukraine, Indien und Brasilien dokumentiert40. Der noch bei AaTh angeführte literar. Beleg im J Pan˜catantra (1,7) ist AaTh/ATU 231: J Kranich und Fische zuzuordnen; die bei ATU genannte turkmen. Var. ist eine Kombination aus AaTh/ATU 56 A und AaTh/ATU 641.
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Im Vergleich zu AaTh/ATU 6 und AaTh/ ATU 122 C zeigt AaTh/ATU 227* nicht nur die geringste Zahl an Belegen, sondern hat auch wenig eigene Konturen. Charakteristisch sind lediglich die Protagonisten sowie die abschließende Flucht des Beutetiers ins Wasser. Das zentrale Motiv des Ü.s zum S., hier durch Schmeichelei, spräche eher für eine Zuordnung der Belege zu AaTh/ATU 6 als für einen eigenständigen Erzähltyp. Das Problem einer stringenten Klassifikation stellt sich allerdings auch bei vielen anderen Belegen dieses Themenbereichs, in denen es durch Motivverwandtschaft und eine lange Texttradition häufig zu Kontaminationen verschiedener Erzähltypen gekommen ist. 1
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Übersetzung
Säve, P. A.: Gotländska sagor 2. ed. H. Gustavson. Uppsala 1955, num. 218; Ehrentreich, A.: Engl. Volksmärchen. MdW 1938, num. 62; Dirr, A.: Kaukas. Märchen. MdW 1920, num. 41 (tschetschen.); Neumann, S.: Mecklenburg. Volksmärchen. B. 1971, num. 10. ⫺ 8 z. B. Haring, num. 2. 3.6 A; JAFL 27 (1914) 143, num. 29, num. 29 (aus New Mexico); Stebleva, G.: Turkmenskie narodnye skazki. M. 1969, num. 14; Levin, I.: Märchen vom Dach der Welt. MdW 1986, num. 26 (tadschik.); Dracott, A. E.: Simla Village Tales. L. 1914, 81 sq.; Hting Aung und Karow (wie not. 4); Moulie´ras, A.: Le´gendes et contes merveilleux de la Grande Kabylie 1. Übers. C. Lacoste. P. 1965, num. 17. ⫺ 9 z. B. Kippar; Rausmaa, SK 5, num. 13⫺16, 39; Säve (wie not. 7) num. 222; Lagercrantz, E.: Lapp. Volksdichtung 2. Hels. 1958, num. 335, 337; ibid. t. 3 (1959) num. 6. ⫺ 10 Espinosa 1, num. 258, 259; Bulletin de dialectologie romane 4 (1912) 104 sq., num. 3; Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y de Nuevo Me´jico 2. Stanford, Calif. [1957], num. 369; Wheeler, H. T.: Tales from Jalisco, Mexico. Phil. 1943, num. 216. ⫺ 11 Wossidlo, R./Henßen, G.: Mecklenburger erzählen. Märchen, Schwänke und Schnurren. B. 1957, num. 24; cf. auch Waldis, B.: Esopus 2. ed. H. Kurz. Lpz. 1862, Buch 4, num. 87. ⫺ 12 Sˇakryl, K. S.: Abchazskie narodnye skazki. M. 1957, num. 6. ⫺ 13 Vatagin, M.: Mednovolosaja devusˇka. Kalmyckie narodnye skazki. M. 1964, num. 34. ⫺ 14 Karlinger, F.: Ital. Volksmärchen. MdW 1973, num. 15. ⫺ 15 Razafindramiandra (wie not. 5). ⫺ 16 StandDict. 1, 415 (aus Jamaika). ⫺ 17 Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 21979, num. 16. ⫺ 18 z. B. Espinosa 1, num. 259; Blade´ und Fox (wie not. 6). ⫺ 19 Dicke/Grubmüller, num. 179. ⫺ 20 Perbosc, A.: Contes de Gascogne. P. 1954, num. 27. ⫺ 21 Cuadernos (wie not. 6) 105 sq. ⫺ 22 z. B. STF, num. T 034; Ambainis (wie not. 17); Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, num. 5; Stebleva und Lacoste (wie not. 8); Rael (wie not. 10); cf. Espinosa 3, 402⫺410 (zur Entwicklung der Typenverbindung). ⫺ 23 Delarue/Tene`ze 3, num. 18; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 2. Grenoble 1971, num. 96.1. ⫺ 24 Levin (wie not. 8); Sˇakryl (wie not. 12). ⫺ 25 Karlinger (wie not. 14). ⫺ 26 Rausmaa, SK 5, num. 39. ⫺ 27 Hting Aung (wie not. 4). ⫺ 28 Cuadernos (wie not. 6) 105 sq. ⫺ 29 Rausmaa, SK 5, num. 13, 39. ⫺ 30 z. B. Kallas, O.: Achtzig Märchen der Ljutziner Esten. Dorpat 1900, num. 73 (AaTh/ATU 1 ⫹ 2 ⫹ 4 ⫹ 6 ⫹ 158); Karow (wie not. 4) (AaTh/ATU 6 ⫹ 8 ⫹ 30 ⫹ 49 A ⫹ 58 ⫹ 85); Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 1 (AaTh/ATU 1 ⫹ 2 ⫹ 3 ⫹ 4 ⫹ 6 ⫹ 9 ⫹ 15). ⫺ 31 Eschker, W.: Serb. Märchen. MdW 1992, num. 53. ⫺ 32 Berze Nagy, num. 44* (⫽ AaTh/ATU 6*); Rausmaa, SK 5, num. 15, 16; Perbosc, A.: Le Langage des beˆtes. Mimologismes populaires d’Occitanie et de Catalogne. Carcassonne 1988, 97, num. 6. ⫺ 33 Babrius and Phaedrus/Perry, num. 699. ⫺
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Dicke/Grubmüller, num. 598, 652. ⫺ 35 Delarue/ Tene`ze 3, num. 122; Espinosa 1, num. 204; Texte (Ausw.): Viidalepp (wie not. 7) num. 12; Cox-Leick, A. M. A./Cox, H. L.: Märchen der Niederlande. MdW 1977, num. 36; Fox, N.: Volksmärchen. Saarlautern 81943, 97⫺101, 144⫺146 (aus RheinlandPfalz, Saarland, Lothringen); Nedo, P.: Sorb. Volksmärchen. Bautzen 1956, num. 7; Sirova´tka, O.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1980, num. 39; Haltrich, J.: Zur Vk. der Siebenbürger Sachsen. ed. J. Wolff. Wien 1885, 45 sq., 503, num. 12 (II); Levin (wie not. 8), num. 30; JAFL 40 (1927) 380⫺382, num. 78, 79 (puertorican.); Barüske, H.: EskimoMärchen. MdW 1969, num. 51, 55. ⫺ 36 Megas/ Puchner (Schwein, Esel); Kurdovanidze (Rind); Ting (Ente); cf. Barüske (wie not. 35). ⫺ 37 Cox-Leick/ Cox (wie not. 35); Levin (wie not. 8) num. 30; alMudarris, S.: Kita¯b atø-tøarı¯q al-mustaqı¯m li ta¤lı¯m lug˙at al-¤a¯mma. Algier 1907, 84 sq.; Reinhardt, C.: Ein arab. Dialekt gesprochen in ¤Oma¯n und Zanzibar. Stg. 1894, 297 sq. (aus Oman). ⫺ 38 Kabasˇnikau˘, K. P.: Kazki i legendy rodnaga kraju. Minsk 1960, 38 sq. (aus Westweißrußland). ⫺ 39 Virsaladze (cf. AaTh/ATU 2021, AaTh/ATU 2032); STF, num. T 142 (⫹ AaTh/ATU 6 ⫹ AaTh/ATU 47 B). ⫺ 40 Texte (Ausw.): Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 39; Kerbelyte˙, B.: Litau. Volksmärchen. B. 1978, num. 14; Haralampieff, K. [recte Frolec, V.]: Bulg. Volksmärchen. MdW 1971, num. 9; Afanas’ev 1, num. 73. ⫺ 41 Stebleva (wie not. 8). 34
Graz
Bernd Steinbauer
Übersetzung 1. Allgemeines ⫺ 2. Ü.stheorie ⫺ 3. Gegenstand der Ü. ⫺ 4. Ü.ssprachen, Politik des Übersetzens ⫺ 5. Methoden der Ü. ⫺ 6. Mündl. und schriftl. Ü. ⫺ 7. Übersetzbarkeit von Erzählungen
1 . All ge me in es. Die Ü. von Texten aus mündl. bzw. traditioneller Überlieferung und von populären Lesestoffen stellt die Voraussetzung für einige große Theorien und Schulen der Erzählforschung dar. Die von Monogenese und folgender J Diffusion von Erzählgut ausgehenden Theorien und Methoden (J Ind. Theorie, J Wandertheorie, bes. J Geogr.-hist. Methode) sind ohne die Annahme ständiger Ü. nicht denkbar. Dennoch hat das Problem der Ü. in der Erzählforschung bislang sehr geringe Beachtung gefunden. Die grundlegende Bedeutung der Ü. für die J Vermittlung von Stoffen, für Kulturtransfer, Kulturkontakt, interkulturellen Austausch und Fremdverstehen
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wurde von Folkloristen und Kulturanthropologen1 erst in letzter Zeit, wohl unter dem Eindruck der Globalisierung, thematisiert2. 2 . Ü .s th eo ri e. Nach der klassischen Definition ist Ü. die Übertragung eines Texts aus einer Sprache in eine andere, wobei der Inhalt des Originals, seine formalen Aspekte und seine Funktionen möglichst bewahrt werden sollen3; der Folklorist W. M. Clements schreibt, daß Ü. in ihrem eigentlichen Sinn bedeute, eine Sprache zu benutzen, um Aussagen aus einer anderen Sprache zu reinterpretieren4. Theorien der literar. Ü. sind zahlreich5. In ihnen stand lange Zeit die textuelle Ü. oder Übertragung im Mittelpunkt und damit die Frage der Ü. als literar. J Interpretation (J Hermeneutik) bzw. als J Bearbeitung von Texten. Von dieser interlingualen Ü. unterschied R. J Jakobson bereits 1959 die intersemiotische und die interkulturelle Ü.6 Die intersemiotische Ü. in andere Genres und Kommunikationsmedien ist hier bes. in Hinsicht auf den Wechsel zwischen Mündlichkeit und J Schriftlichkeit (J Lit. und Volkserzählung) sowie zwischen freier und gebundener Sprache relevant7. Die Einsicht, daß Ü. mehr ist als eine sprachliche, sondern stets auch kulturelle Übertragung und damit Repräsentation von Fremdheit bzw. eine Form von interkultureller Kommunikation, setzte sich in der Forschung erst ab 1990 durch8, nicht zuletzt aus der Erfahrung, daß Texte aus sehr unterschiedlichen Kulturen (z. B. europ./amerik. ⫺ ostasiat.9) kaum adäquat übersetzbar sind. Bei Einbeziehung des soziokulturellen J Kontexts, der dem Text zugrundeliegenden Werte, J Normen, Vorstellungen, Weltbilder (J Weltanschauung, Weltbild) sowie der dargestellten Verhaltensweisen und materiellen Welten ist Ü. stets eine Übertragung ganzer Kulturen10 bzw. die Konstruktion eines neuen Codes11. Der Übersetzer schafft somit mehr als lediglich eine weitere Var. der Erzählung, sondern wirkt als Vermittler von Fremdheit und hilft bei der Aneignung kultureller Alterität. Für die ethnol. Wiss. wichtig ist zudem die Erkenntnis, daß jede ethnogr. Forschung, also auch Erzählforschung, letztlich kulturelle Ü. ist12.
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3 . G eg en st an d d er Ü. Ziel der sprachlichen Ü. ist die Überwindung von J Sprachbarrieren. Bei der Ü. steht zunächst die verbale Aussage mit ihren Denotationen im Vordergrund, doch sind gerade für die Volksüberlieferung als künstlerische J Kommunikation (verbal art) Aspekte wie Sprachstruktur, Syntax, Formeln, Redefiguren, Metaphern, Reim, Alliteration und Assonanz ebenso wie (beim mündl. Vortrag) para- und nonverbale Aspekte wie Rhythmus, Tonfall und Gestik überaus wichtig. Sehr viele dieser Aspekte sind, außer bei eng benachbarten Sprachen, nicht übertragbar, so daß der übersetzte Text oftmals eine andere künstlerische oder sogar inhaltliche Gestalt erhält. So haben z. B. in den ide. Sprachen alle Wesen ein grammatikalisches Geschlecht, das in Erzählungen oft formal und inhaltlich relevant ist: Der Tod ist in den rom. und slav. Sprachen weiblich, in den germ. männlich; aus diesem Unterschied hat sich in der slav.-dt. Kontaktzone die Figur der ,Tödin‘ herausgebildet13. Fuchs, Bär und Frosch sind in den slav. Sprachen zumeist weiblich, im Deutschen männlich, was z. B. bei der Ü. der KHM Adaptationen nötig machen kann. Generell kann die Ü. von Erzählungen den Übersetzer vor das Problem stellen, aufgrund der unterschiedlichen Konnotationen von Figuren sowie auch unterschiedlicher Wertvorstellungen und religiöser Normen die Logik der Erzählungen verändern zu müssen14. Bes. Probleme bereiten bei der Ü. zudem die Konnotationen, die auf kulturspezifische Zuschreibungen, Sinngebungen und Lebenswelten verweisen15: Der J Drache der ide. und nahöstl. Überlieferung ist eine negative, angsteinflößende Figur, die etwa in der pers. Lit. und Volkserzählung mit einer negativen menschlichen Figur zu einem Halbwesen verschmolzen wurde16, während er in Ostasien „etwas Wunderbares, ja etwas Göttliches ist“17. Ü.sprobleme bereiten auch Objekte und Handlungen, die in der Zielsprache bzw. -kultur unbekannt sind: So werden in südind. Ü.en der KHM die Musikinstrumente Trommel und Laute durch typisch ind. Instrumente ersetzt18, in südosteurop. Texten dt. Speisen und Hausrat durch balkan. (J Requisit, Kap. 3)19, und in dt. Ü.en bulg. Märchen fallen jene Differenzierungen und Konnotationen weg, die den Lesern unbekannt sind20.
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4 . Ü .s sp ra ch en , P ol it ik de s Ü be rs et z en s. Der Begriff der Sprache kann sehr weit gefaßt werden. Neben der Ü. in fremde Sprachen spielen für das Erzählen Dialekte und Jargons, Sondersprachen (Ganovensprache, Rotwelsch, Fachsprachen etc.) und Soziolekte, Hochsprache und Volkssprache eine Rolle. Große Bedeutung als Vermittlungssprache hatten über viele Jh.e Griechisch und später Latein als europ. Lingua franca, während in den Vielvölkerstaaten die jeweilige Verkehrssprache diese Funktion hatte. Erzählungen aus J Tausendundeiner Nacht wurden ebenso wie die J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm vor allem über frz. oder engl. Ü.en in zahllose weitere Sprachen vermittelt. Heute spielt weltweit das Englische diese vermittelnde Rolle. Dies verweist auf die Tatsache, daß die Richtung der Ü. sehr oft hierarchische Verhältnisse, Machtbeziehungen und hegemoniale Interessen21 wie auch deren Wandel sichtbar macht. Den ,großen‘ stehen die ,kleinen‘ Sprachen, den Kolonialsprachen die der indigenen Völker gegenüber. Die schriftl. Ü. von Erzählstoffen kann in zweifacher Weise hierarchische Verhältnisse ausdrücken: (1) Aus oralen Traditionen indigener Sprachen wurde in (große) europ. Sprachen übersetzt, zumeist in die Sprachen der Kolonialvölker oder der Reisenden und Forscher. So sind alle wichtigen Reihen von Märchen der Welt in den großen europ. Sprachen herausgegeben worden (Die Märchen der Weltliteratur, Folktales of the World, Skazki i mify narodov Vostoka etc.). (2) Dem steht die massenhafte Ü. europ. literar. oder literarisierter Märchen, bes. der KHM, in die Sprachen der kolonialisierten Völker und kleine Sprachen gegenüber, die nicht selten edukative und kulturhegemoniale Ziele verfolgt22. In vielen Ländern haben diese Ü.en zur Verdrängung autochthoner Erzähltraditionen (z. B. durch die KHM23) geführt. Ähnlich wie bei innersprachlichen Bearb.en können Ü.en ⫺ je nach Intention der Auftraggeber oder Übersetzer ⫺ die Vorlagen archaisieren, modernisieren oder anderweitig verändern24. Machtverhältnisse können auch bei Ü.en mit ideologisierender oder religiöser25 Tendenz zum Ausdruck kommen. 5 . Met ho de n d er Ü. Für die volkskundliche Erzählforschung von bes. Bedeutung ist
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die Unterscheidung zwischen verschiedenen Methoden der Ü., vor allem jene zwischen der adaptierenden (J Adaptation) bzw. akkulturierenden (J Akkulturation) oder ,domestizierenden‘ und der ,fremdlassenden‘ Ü.26 Die adaptierende Methode, von L. J Honko ,traditionsmorphologische Adaptation‘ genannt27, die eher eine Nachdichtung ist, stellt das Sujet in Kontexte, die dem Rezipienten vertraut sind, und erzeugt, bei weitgehender Eliminierung des Fremden, eine neue kulturelle Welt; die zweite Methode will demgegenüber die Fremdheit als solche belassen und vermitteln. Im Grad der Adaptation zeigen sich deutliche Unterschiede sowohl hinsichtlich der Art der Kommunikation als auch in der hist. Entwicklung. In der ,folkloristischen Kommunikation‘28, also in der mündl. Überlieferung und den ihr nahestehenden populären Lesestoffen, ist prinzipiell mit einem hohen Maß an Adaptation zu rechnen. Für die Ü. literarisierter Märchen wird je nach Zielpublikum die entsprechende Methode gewählt. In allen Gesellschaften zeigt sich in der Entwicklung der literar. Präferenzen, daß am Anfang stets stark domestizierende Ü.en vorherrschen, die Texte also z. B. ,serbisiert‘29, ,bulgarisiert‘30, ,eingedeutscht‘ oder ,indisiert‘31 werden. Mit wachsender Alphabetisierung und Bildung des Lesepublikums wächst auch dessen Fähigkeit und Bereitschaft, fremdlassende Ü.en und damit auch fremde Welten zu rezipieren. 6 . M ün dl . u nd sc hr if tl . Ü. Zu den Techniken des mündl. Übersetzens von Erzählungen liegen keine empirischen Unters.en vor, doch darf vermutet werden, daß es sich nur selten, am ehesten noch vor sprachlich gemischtem Publikum, um direktes simultanes oder konsekutives Dolmetschen handelt. Vielmehr wird die nacherzählende Wiedergabe von Gehörtem oder Gelesenem in einer anderen Sprache der häufigere Fall sein. Übersetzen ist dabei oft ein eher unreflektierter und auf das anwesende Publikum bezogener Akt. Bes. Bedeutung kommt in multiethnischen Gebieten und Grenzregionen (J Interethnische Beziehungen)32, aber auch in den heutigen multikulturellen Gesellschaften33 den zwei- oder mehrsprachigen J Erzählern34 oder Sängern35 zu, die die Sprache des Vortrags ih-
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rem jeweiligen Publikum anpassen, ihre Texte also in zwei oder mehr Sprachen verfügbar haben oder sie spontan übersetzen. In Südosteuropa sind dies oft Angehörige von Minderheiten36, wie z. B. Roma37 oder Juden38. Heute bes. häufig ist die Ü. von Erzählstoffen aus dem Internet39. Nicht zu vernachlässigen ist auch die Tatsache, daß Sammler und Forscher die von ihnen gehörten Erzählungen nicht selten in einer anderen Sprache, meist einer größeren, aufgezeichnet haben, so daß von vielen Märchenaufzeichnungen in kleinen ethnischen Gruppen nur die Ü.en erhalten sind40. Die Sammler fertigten damit gleichzeitig eine interlinguale, intersemiotische und meist auch interkulturelle Ü. an. Schriftl. Ü. ist stets diachron, also zeitlich und meist auch räumlich getrennt. Seit dem späten 15. Jh. gewannen gedr. Ü.en literar. und popularliterar. Texte immer größere Bedeutung. Dabei dominierte bis ins 18. Jh. der adaptierende und kompilative Umgang mit den Vorlagen; wesentlicher Teil davon war die Kettenübersetzung41, also die sekundäre, tertiäre etc. Ü. So wurden die Ostereier von Christoph von J Schmid über das Englische und Neugriechische ins Bulgarische und andere Balkansprachen übersetzt, die KHM über das Englische in zahlreiche ind. Sprachen42. Der Rückgriff auf den Text in der Orig.sprache wurde ⫺ zusammen mit der fremdlassenden Ü.smethode ⫺ bei Ü.en von Volksbüchern, literarisierten Volksmärchen und Kunstmärchen in Mittel- und Westeuropa erst im Verlauf des 19. Jh.s, in Südosteuropa seit Anfang des 20. Jh.s üblich. Dabei existierten in vielen Ländern fremdlassende Ü.en für ein gebildetes Lesepublikum neben adaptierenden Ü.en, die in billigen Heftchen (Chapbooks, Flugblätter, Kolportageliteratur) vertrieben wurden. Die Bedeutung der Ü. von Volkserzählungen, vor allem der Märchen, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Erst Ü.en begründeten den Weltruhm von Tausendundeine Nacht43 und der KHM44 oder machten Figuren wie den Baron von J Münchhausen45 und J Alice im Wunderland zu einem Teil der Weltliteratur. Im 19. Jh. war von Schmid durch Ü.en in 40 Sprachen einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit, auch die Romane von Karl J May wurden in zahllose Sprachen übersetzt. Märchen aus kleinen Sprachen er-
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langten erst durch Ü.en in große Sprachen internat. Bekanntheit. In vielen Fällen wurde die Ü. internat. bekannter und einflußreicher als das Orig., etwa im Fall von J Andersens Märchen46. Ähnliches gilt z. T. auch für Werke der Erzählforschung: Erst die Ü. der Morfologija skazki ([Morphologie des Märchens] 1928) ins Englische 1958 (21968) und in weitere Weltsprachen begründete den Ruhm V. Ja. J Propps, während wichtige Ergebnisse der Forschung ohne Ü. unbeachtet blieben, etwa der frühe Versuch M. J Arnaudovs, einen Typenkatalog zu erstellen47. Die Typenkataloge in den Weltsprachen, bes. die internat. Typenkataloge (AaTh, ATU), haben das Erzählgut zahlloser Völker allg. erschlossen. 7 . Ü be rs et zb ar ke it vo n E rz äh lu ng en. Zwischen den Gattungen der Volksüberlieferung bestehen erhebliche Unterschiede hinsichtlich ihrer sprachlichen und kulturellen Übersetzbarkeit und ihrer tatsächlichen Ü. Märchen und ähnliche Erzählungen sind am häufigsten übersetzt worden; traditionelle Sagen sind wegen ihrer häufigen hist. und lokalen Gebundenheit schwerer übersetzbar, wohingegen moderne Sagen wegen ihrer Themen leicht die Sprache wechseln und viele von ihnen weltweit kursieren (z. B. im Internet). Fabeln, Schwänke48 und Fazetien49 sind viel übersetzt worden; Witze zu allg.menschlichen Themen sind meist übersetzbar, während Sprachwitze und solche mit kulturspezifischen Themen und Pointen nahezu unübersetzbar sind50. Diese Differenzierung gilt auch für Sprichwörter51, obwohl sie z. T. auch Äquivalente in anderen Sprachen besitzen52. Bei Liedern und Balladen53 ist Ü. immer auch Nachdichtung, wobei literar. Ü.en nur selten volkstümlich werden; die dt. Ü. der engl. Ballade Our Goodman ist eine seltene Ausnahme (cf. auch J Tom der Reimer)54. Die Ü. und der Vorgang des Übersetzens werden in Erzählungen als Thema nur im Falle des Mißlingens (J Sprachmißverständnisse) oder der Unnötigkeit von Ü. aufgegriffen, so wenn Heilige durch göttliche Intervention die Fähigkeit erhalten, ihnen bisher unbekannte Sprachen zu verstehen und zu sprechen (J Sprachenwunder). Auch der Übersetzer und seine Leistung als Vermittler finden in Erzählungen wie auch in der Forschung kaum Er-
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wähnung; eine gewisse Beachtung fanden biund multilinguale Erzähler oder Übersetzer literarisierter Märchen oder von Kinderliteratur55. 1
cf. Schmalfuß, A.: Übersetzen. In: König, R./ Schmalfuß, A. (edd.): Kulturanthropologie. Düsseldorf 1972, 285⫺290. ⫺ 2 cf. Roth, K.: Crossing Boundaries. The Translation and Cultural Adaptation of Folk Narratives. In: Fabula 39 (1998) 243⫺ 255 (dt.: Grenzen überschreiten. Die Ü. und kulturelle Adaptation von Volkserzählungen. In: Die Kunst des Erzählens. Festschr. W. Scherf. Potsdam 2002, 187⫺203). ⫺ 3 Bell, R. T.: Translation and Translating. Theory and Practice. N. Y 1991, xv. ⫺ 4 Clements, W. M.: Translation. In: id. (ed.): The Greenwood Enc. of World Folklore and Folklife 1. Westport, Conn. u. a. 2006, 89⫺91, hier 89. ⫺ 5 cf. Steiner, G.: After Babel. Aspects of Language and Translation. N. Y. 1975; Frawley, W. (ed.): Prolegomenon to a Theory of Translation. In: id. (ed.): Translation. Literary, Linguistic, and Philosophical Perspectives. Newark, Del. 1983, 159⫺175; Weaver, W.: The Process of Translation. In: Biguenet, J./ Schulte, R. (edd.): The Craft of Translation. Chic. 1989, 117⫺124; Bell (wie not. 3); Sorvali, I.: Translation Studies in a New Perspective. Ffm. 1996; Poltermann, A.: Ü. In: Brunner, H./Moritz, R. (edd.): Lit.wiss. Lex. B. 1997, 354⫺356. ⫺ 6 Jakobson, R.: On Linguistic Aspects of Translation. In: Brown, R. A. (ed.): On Translation. Cambr. 1959, 232⫺239; cf. Clements (wie not. 4) 91. ⫺ 7 cf. Roth (wie not. 2) 245 sq. ⫺ 8 Kittel, H./Frank, A. P. (edd.): Interculturality and the Historical Study of Literary Translations. B./Mü. 1991; Lönker, F. (ed.): Die literar. Ü. als Medium der Fremderfahrung. B./Mü. 1992; Turk, H.: Ü. ohne Kommentar. Kulturelle Schlüsselbegriffe und kontroverser Kulturbegriff am Beispiel von Goytisolos „Reivindicacio´n del Conde don Julia´n“. ibid., 3⫺40; Maier, C.: Toward a Theoretical Practice for Intercultural Translation. In: Dingwaney, A./Maier, C. (edd.): Between Languages and Cultures. Translation and Cross-Cultural Texts. Pittsburgh 1994, 21⫺49; Bachmann-Medick, D.: Einl. In: ead. (ed.): Ü. als Repräsentation fremder Kulturen. B./Mü. 1997, 1⫺18; Hammerschmid, B./ Krapoth, H. (edd.): Ü. als kultureller Prozeß. Rezeption, Projektion und Konstruktion des Fremden. B./ Mü. 1997; Ars transferendi. Sprache, Ü., Interkulturalität. Festschr. N. Salnikow. Ffm./B. 1998; Müller-Vollmer, K./Irmscher, M. (edd.): Translating Literatures, Translating Cultures. B./Mü. 1998; Kopetzki, A.: Ü. In: RDL 3 (32003) 720⫺724; Bachmann-Medick, D.: Ü. als Medium interkultureller Kommunikation und Auseinandersetzung. In: Jaeger, F. u. a. (edd.): Hb. der Kulturwiss.en 2. Stg. 2004, 449⫺465. ⫺ 9 Seidensticker, E.: On Trying to Translate Japanese. In: Biguenet/Schulte (wie not. 5) 142⫺153; Ueda, M.: Probleme bei der Ü. von erzählender Lit. In: Festschr. Scherf (wie not. 2) 181⫺ 186. ⫺ 10 Clements (wie not. 4) 90. ⫺
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Roth (wie not. 2) 245. ⫺ 12 Berg, E.: Wo Ü.s-Bemühungen versagen. Zum Problem der kulturellen Ü. am Beispiel der Interaktion zwischen Gastgeber und Gast bei den Sherpa (Nepal). In: BachmannMedick 1997 (wie not. 8) 185⫺198; Röttger-Rössler, B.: Die Wortlosigkeit des Ethnologen. Zum Problem der Ü. zwischen den Kulturen am Beispiel indon. Gefühlstermini. ibid., 199⫺213; cf. Schmalfuß (wie not. 1); Honko, L.: Four Forms of Adaptation of Tradition. In: id./Voigt, V. (edd.): Adaptation, Change, and Decline in Oral Literature. Hels. 1981, 19⫺33; Dollerup, C. u. a.: The Ontological Status, the Formative Elements, the „Filters“ and Existences of Folktales. In: Fabula 25 (1984) 241⫺265; Roth, K.: Erzählen und Interkulturelle Kommunikation. In: id. (ed.): Mit der Differenz leben. Münster 1996, 63⫺78; id. (wie not. 2). ⫺ 13 cf. Karasek-Langer, A.: Die Tödin der Kremnitzer Gegend als „Hulderin“. In: Karpatenland 12 (1941/42) 180⫺186; Hanika, J.: Die Tödin. Eine Sagengestalt der KremnitzDeutschprobener Sprachinsel. In: Bayer. Jb. für Vk. (1954) 171⫺184. ⫺ 14 cf. Burkhart, D.: Aspekte des Weiblichen im bulg. Tier- und Zaubermärchen. In: Fabula 23 (1982) 207⫺220; Roth (wie not. 2) 250 sq. ⫺ 15 Derive, J.: Collecte et traduction des litte´ratures orales. Un exemple ne´gro-africain. Les contes ngbaka-ma’bo de R. C. A. P. 1975; Swann, B. (ed.): On the Translation of Native American Literatures. Wash. 1992; Clements, W. M.: Native American Verbal Art. Tucson 1996; Muhawi, I.: Between Translation and the Canon. The Arabic Folktale as Transcultural Signifier. In: Fabula 41 (2000) 105⫺ 118. ⫺ 16 Khaleghi-Motlagh, Dj.: Azˇdaha¯ 2. In: Enc. Iranica 3. ed. E. Yarshater. L. 1989, 199⫺202; Omidsalar, M.: Azˇdaha¯ 3. ibid., 203 sq. ⫺ 17 cf. Ueda (wie not. 9) 181 sq. ⫺ 18 Carlos, S.: Grimms’ Tales in the Indian Narrative Situation. In: Fabula 41 (2000) 52⫺75, hier 64. ⫺ 19 cf. Roth, K.: Bulg. Märchen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Röhrich, L./Lindig, E. (edd.): Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1989, 93⫺108; id./Roth, J.: Christoph von Schmids „Die Ostereier“ in Südosteuropa. Zum Problem der Ü. von popularen Lesestoffen. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschr. R. Schenda. Bern./B. 1995, 599⫺ 613. ⫺ 20 Dobreva, D.: Problemi pri prevoda na prozaicˇni folklorni proizvedenija (Probleme bei der Ü. von Prosafolklore). In: Ezik i poetika na ba˘lgarskija folklor (Sprache und Poetik der bulg. Folklore). Sofia 1980, 59⫺67; cf. allg. Tomkowiak, I./Marzolph, U.: Grimms Märchen internat. 1⫺2. Paderborn u. a. 1996. ⫺ 21 Moore, C. N./Lower, L. (edd.): Translation East and West. A Cross-Cultural Approach. Honolulu 1992; Venuti, L.: Translation as Cultural Politics. Regimes of Domestication in English. In: Textual Practice 7,2 (1993) 208⫺223; Dingwaney, A.: Introduction. Translating „Third World“ Cultures. In: id./ Maier (wie not. 8) 3⫺20; Said, E. W.: Embargoed Literature. ibid., 97⫺102; Simon, S.: Gender in Translation. Cultural Identity and the Politics of 11
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Übersetzung
Transmission. L./N. Y. 1996; Roth (wie not. 2) 247 sq. ⫺ 22 cf. Jedamski, D.: Die Institution Lit. und der Prozeß ihrer Kolonisation. Entstehung, Entwicklung und Arbeitsweise des Kantoor voor de Volkslectuur Balai Poestaka in Niederländisch-Indien zu Beginn dieses Jh.s. Münster u. a. 1992; Marzolph, U.: Interkulturelles Erzählen. Der Transfer von Erzählgut in iran. Grundschullesebüchern. In: Medien popularer Kultur. Festschr. R. W. Brednich. Ffm. 1995, 182⫺195; id.: Globale Nabelschau? Vergleichende Erzählforschung in der Periode interkultureller Globalisierung. In: SAVk. 97,1 (2001) 137⫺ 143. ⫺ 23 cf. z. B. Roth, K. und J.: Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm in Bulgarien. Zur Rezeption von Ü.slit. 1894⫺1947. In: Lauer, R./ Schreiner, P. (edd.): Kulturelle Traditionen in Bulgarien. Göttingen 1989, 217⫺233. ⫺ 24 cf. BachmannMedick, D.: Fremddarstellung und Lüge. Ü. als kulturelle Übertreibung am Beispiel von Münchhausens Lügengeschichten. In: ead. 1997 (wie not. 8) 42⫺ 68. ⫺ 25 cf. etwa Roth 1995 (wie not. 19) 608⫺610. ⫺ 26 Venuti (wie not. 21) 210; Roth (wie not. 2) 249⫺ 252. ⫺ 27 Honko (wie not. 12) 23⫺26. ⫺ 28 Assmann, A.: Schriftl. Folklore. Zur Entstehung und Funktion eines Überlieferungstyps. In: id./Assmann, J./ Hardmeier, C. (edd.): Schrift und Gedächtnis. Mü. 1983, 175⫺193. ⫺ 29 Mihajlovic´, V.: Posrbice od Orfelina do Vuka. Prilog proucˇavaniju nasˇih purizama XVIII i XIX veka (Die Serbisierung von Orfelin bis Vuk. Ein Beitr. zum Studium unserer Purismen im 18. und 19. Jh.) 1⫺2. Novi Sad 1982/84; Milincˇevic´, V.: Posrbe (Serbisierungen). In: Jugoslovenski knizˇevni leksikon. Novi Sad 1984, 656 sq. ⫺ 30 Mincˇev, S.: Iz istorijata na ba˘lgarskija roman (Aus der Geschichte des bulg. Romans). Sofia 1908; id.: Iz istorijata na ba˘lgarskija roman. Poba˘lgarjavane na cˇuzˇdi proizvedenija (Aus der Geschichte des bulg. Romans. Die Bulgarisierungen ausländischer Lit.). In: Sbornik za narodni umotvorenija, narodopis i knizˇnina 26 (1912) 3⫺88; Roth, K. und J.: Dt. Popularliteratur in bulg. Ü. Zum Problem der Bulgarisierung der Erzählungen Christoph von Schmids. In: Bulgarian Historical Review 14,2 (1986) 37⫺46. ⫺ 31 Carlos (wie not. 18). ⫺ 32 cf. Roth (wie not. 2) 246 sq. ⫺ 33 Meder, T.: „There was a Turk, a Moroccan, and a Dutchman“. Narrative Repertoires in the Multi-Ethnic Neighbourhood of Lombok in the Dutch City of Utrecht. In: Wienker-Piepho, S./Roth, K. (edd.): Erzählen zwischen den Kulturen. Münster 2004, 237⫺258 (zur Bedeutung der 2. Migrationsgeneration). ⫺ 34 Stephani, C.: Das Wort ist eine offene Hand. Aspekte der Mehrsprachigkeit im Alltag und in der Familie in Oberwischau/Ostmarmatien. In: Holzer, W./Pröll, U. (edd.): Mit Sprachen leben. Praxis der Mehrsprachigkeit. Klagenfurt 1994, 45⫺54; id.: Die Bevölkerungsgruppen der Bukowina und ihre Beziehungen zueinander, dargestellt anhand der Zipser Volkserzählung. In: Feleszko, K. u. a. (edd.): Bukowina. Blaski i cienie. „Europy w miniature“. W. 1995, 77; Stephani, C.: Ciobanul Mendel Friedmann s¸i croitorul Moses Pollak ⫺ doi povestitori
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populari din Vis¸eul de Sus. In: Colta, E. u. a. (edd.): Minoritarul imaginar ⫺ minoritarul real. Arad 2003, 407; id: Aaron cel curajos. Povestiri populare evreies¸ti din zona Carpat¸ilor. Vom mutigen Aaron. Jüd. Geschichten aus den Karpaten. Buk. 2008, 85⫺ 87. ⫺ 35 Kolsti, J. S.: The Bilingual Singer. A Study in Albanian and Serbocroatian Oral Epic Tradition. Cambr., Mass. 1968; cf. Roth (wie not. 2) 253. ⫺ 36 Stephani 1994 und 1995 (wie not. 34). ⫺ 37 MNK 10,1; EM 12, 736. ⫺ 38 Stephani 2003 und 2008 (wie not. 34). ⫺ 39 cf. Brednich, R. W.: www.worldwidewitz. com. Humor im Cyberspace. Fbg 2005, 20; Roth, K.: Erzählen im Internet. In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther B. 2009, 101⫺118, hier 108 sq. ⫺ 40 Finicky, M.: A vasorru´ indzsibaba. Ka´rpa´tukrajnai ne´pmesee´k (Der Indschibaba mit der eisernen ´. Nase. Volksmärchen der Karpatoukraine). ed. A Kova´cs. Bud. 1970. ⫺ 41 cf. Roth (wie not. 2) 252. ⫺ 42 Roth 1995 (wie not. 19). ⫺ 43 cf. Marzolph/van Leeuwen 2, 724⫺ 727. ⫺ 44 Michaelis-Jena, R.: Edgar und John Edward Taylor, die ersten engl. Übers. der Kinder- und Hausmärchen. In: Brüder Grimm Gedenken 2. ed. L. Denecke, Marburg 1975, 183⫺201; Zirnbauer, H.: Grimms Märchen mit engl. Augen. Eine Studie zur Entwicklung der Illustration von Grimms Märchen in engl. Ü. ibid., 203⫺242; Roth 1995 (wie not. 19); Dollerup, C.: Tales and Translation. The Grimm Tales from Pan-Germanic Narratives to Shared Internat. Fairytales. Amst./Phil. 1999; Horn, K.: Das ung. Schneewittchen. In: Fabula 49 (2008) 259⫺267. ⫺ 45 cf. Bachmann-Medick (wie not. 24). ⫺ 46 Albertsen, L. L.: Die Deutschen und ihr Märchendichter Andersen. In: Anderseniana 3,1 (1970⫺73) 71⫺87; Jones, W. G.: Andersen in English. A Feasibility Study 2. In: Andersen og Verden/Andersen and the World. ed. J. de Mylius. Odense 1993, 210⫺216; Pedersen, V. H.: A Wonderful Story of a True Soldier and a Real Princess. Problems in Connection with the Rendering of Hans Christian Andersen’s Vocabulary in English. ibid., 197⫺209; Kaliambou, M.: Hans Christian Andersens „Reise“ in Griechenland. Zur Rezeption seiner Märchen seit Ende des 19. Jh.s. In: Fabula 46 (2005) 78⫺88. ⫺ 47 KöhlerZülch, I.: Bulg. Märchen im balkan. Kontext und ihre Stellung in der internat. Erzählüberlieferung. In: Lauer/Schreiner (wie not. 23) 185⫺201, hier 188⫺ 191. ⫺ 48 cf. Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977. ⫺ 49 cf. Senn, D.: „Le piacevoli notti“ (1550/53) von Gian Francesco Straparola, ihre ital. Editionen und die span. Ü. „Honesto y agradable Entretenimento de Damas y Galanes“ (1569/81) von Francisco Truchado. In: Fabula 34 (1993) 45⫺65. ⫺ 50 Dimova, A: Vica˘t kato ezikov i kulturen fenomen. Nemsko-ba˘lgarski paraleli i kontrasti; prevodimost (Der Witz als sprachliches und kulturelles Phänomen. Dt.-bulg. Parallelen und Kontraste; Übersetzbarkeit). Veliko Ta˘rnovo 2006. ⫺ 51 cf. Paczolay, G.: European, Far-Eastern and Some Asian Proverbs. Veszpre´m 1994; id: European Prov-
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Übertreibung
erbs. Veszpre´m 1998. ⫺ 52 Taylor, A.: The Proverb. Cambr., Mass. 1931; id.: An Index to „The Proverb“ (FFC 73). Hels. 1934; Kuusi, M.: Regen bei Sonnenschein. Zur Weltgeschichte einer Redensart (FFC 171). Hels. 1957; id.: Towards an Internat. Typesystem of Proverbs (FFC 211). Hels. 1972; id.: Proverbia Septentrionalia. 900 Balto-Finnic Proverb Types with Russian, Baltic, German and Scandinavian Parallels (FFC 236). Hels. 1985; Mieder, W.: Der frühe Vogel und die goldene Morgenstunde. Zu einer dt. Sprichwortentlehnung aus dem Angloamerikanischen. In: Etymologie, Entlehnungen und Entwicklungen. Festschr. J. Koivulehto. Hels. 2004, 193⫺206. ⫺ 53 Syndergaard, L.: The English Translations of the Scandinavian Medieval Ballads. Turku 1995. ⫺ 54 cf. Roth (wie not. 48) 49 (num. E 16, D 21). ⫺ 55 O’Sullivan, E.: Der Übers. als Erzähler. Zur Stimme des Übers.s in der Kinderlit. In: Festschr. Scherf (wie not. 2) 167⫺180.
München
Klaus Roth
Übertreibung. Wesentliches Element der Ü. ist die Verwendung eines J Kontrasts als Gegenpol zum Maßhalten, dem Streben nach dem Mittleren, dem aristotelischen meson (Nikomachische Ethik, 2,5). Kontrastierung ist ein wichtiges Gestaltungsmittel in Lit. und Malerei, extreme Kontraste (J Extreme) bestimmen bes. das Weltbild populärer Erzählungen. Als stilistisches Element unterliegt Ü. einer gewissen Formelhaftigkeit. H. J Schwarzbaum sagt zu Recht, die Hyperbel sei das natürliche Idiom der Rhetorik und als solches sehr effizient1. Dementsprechend findet man diesen Kunstgriff auch in nahezu allen Gattungen der mündl. Erzählung2. Die Tendenz zur Ü. trägt nach M. J Lüthi neben Perfektion und Präzision zur J Prägnanz der Texte bei3. Als J Proportionsphantasie bezeichnete C. W. von J Sydow die Verschiebung bestimmter Eigenschaften von Geschehnissen, Personen oder Dingen ins Große (Ü.) oder Kleine (Untertreibung) durch phantastische Verzerrung der Größenverhältnisse4. Ü. kann in vielen Gattungen bis zur J Absurdität gesteigert sein. In der Sage spielt sie keine bedeutende Rolle. In der Legende ist das Absurde oder scheinbar Absurde oft Zeichen für das Göttliche. Eine durchgängige Tendenz zur Ü. wies K. Horn für das Märchen nach: „Das Kleine, das übertrieben Großes in sich schließt, das Kleine, welches große Wirkung entfaltet, begegnet […] im Märchen als Rau m,
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als Q ue ll e v on Za ub er kr af t o de r ü be rn at ür li ch e Mac ht und als Ze it“5. Kleine und J unscheinbare Figuren, Tiere oder Gegenstände erweisen sich für den Protagonisten vielfach als nützlich und hilfreich. Im Gegensatz zur Kleinheit oftmals wirkmächtiger Dinge steht beispielsweise die Fähigkeit von Tieren oder Menschen, ungeheure Mengen an Nahrungsmitteln zu vertilgen (AaTh/ATU 513 A: J Sechse kommen durch die Welt, J Vielfraß). Der J starke Hans (AaTh/ATU 650 A) verfügt ebenso wie ein Begleiter des Protagonisten in AaTh/ATU 513 A über außergewöhnliche J Stärke (cf. auch J Riese, Riesin). Die bei der Bewältigung von J Aufgaben zur Verfügung stehende J Zeit ist oftmals extrem kurz, so daß der Auftrag unlösbar erscheint: In einer Nacht soll ein Berg abgeholzt (AaTh/ ATU 313: cf. J Magische Flucht) oder eine riesige Menge Gold gesponnen werden (AaTh/ ATU 500: J Name des Unholds); mit dem Auslesen einer großen Menge Linsen wird die Protagonistin von AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella aufgehalten. Die magische Zeit berücksichtigt die normale Abfolge und Dauer von Geschehnissen und Handlungen nicht: Ein kurzer Jenseitsaufenthalt entspricht einer Zeit von Jahren, mitunter Jahrhunderten in der realen Welt des Protagonisten (AaTh/ATU 471 A: J Mönch und Vöglein, AaTh/ATU 766: J Siebenschläfer), eine lang erscheinende Zeit kann aber auch in einigen kurzen Momenten kondensiert sein (AaTh/ATU 681: J Relativität der Zeit)6. Am facettenreichsten in bezug auf Ü.en sind wohl Schwank und Witz. Generell überzeichnen sie Situationen7 bis hin zur Groteske (AaTh/ATU 1293: J Dauerpisser)8, die Gegensätzliches und Unvereinbares (z. B. AaTh/ ATU 1696: J „Was hätte ich sagen [tun] sollen?“, AaTh/ATU 1408: J Hausarbeit getauscht), bes. das Komische und das Grausige, in verblüffender Weise nebeneinanderstellt (AaTh/ATU 1537: Die mehrmals getötete J Leiche). Ü.en finden sich darüber hinaus in Dummenschwänken, im Zusammenhang mit J Mehrlingsgeburten (cf. AaTh/ATU 762) und in Kettenmärchen. Auch haarsträubende Ü.en werden mit (augenzwinkernden) Anspruch auf J Glaubwürdigkeit berichtet9. Eine bes. Stellung unter den Schwänken nehmen Lügenmärchen ein (J
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Überzähliger
Lüge, Lügengeschichte). Sie bedienen sich zur Erzielung von J Komik ausschließlich des Elements der Ü. (z. B. AaTh/AaTh 655 A: Die scharfsinnigen J Brüder, cf. J Scharfsinnsproben; AaTh/ATU 1889 H: cf. J Unterwasserwelt, AaTh/ATU 1930: J Schlaraffenland, AaTh/ATU 1950: J Faulheitswettbewerb, AaTh/ATU 1960⫺1960 Z: Die ungewöhnliche J Größe, AaTh/ATU 1890: Der gelungene J Schuß). Gekennzeichnet sind Lügengeschichten durch große hist. Tiefe (cf. J Lukian) und weltweite Verbreitung10. Den Forschungsschwerpunkt bilden nordamerik. Veröff.en; insgesamt ist das Thema jedoch eher ein Forschungsdesiderat11. Lügenmärchen existieren heute in zweierlei Form: als Geschichte, die jemand anderes erlebt hat und ⫺ wirkungsvoller ⫺ als Selbsterlebtes. Erzählungen aus den Zyklen AaTh/ATU 1920⫺1920 H: J Lügenwette und AaTh/ATU 1007, 1008, 1010⫺1017 u. a.: cf. J Wörtlich nehmen12 werden ebenfalls mit Anspruch auf Glaubwürdigkeit erzählt. Allerdings kann der Lügner innerhalb der Erzählung entlarvt werden wie in AaTh/ATU 1348: Der einfallsreiche J Junge und der Erzählung von der J Lügenbrücke: Hier relativiert der J Aufschneider das ursprünglich Erzählte immer mehr. Lügengeschichten (Mot. X 900⫺X 1899) sind vielfach mit J Kristallisationsgestalten (Münchhausen [J Münchhausiaden], J Paul Bunyan) verbunden. Bevorzugte Themen sind u. a. die unwahrscheinliche Größe von Tieren und Gegenständen, angebliche Naturerscheinungen, Reiseabenteuer, sportliche Leistungen und Geschicklichkeiten, außergewöhnliche Tapferkeit und glorifizierte Kriegserlebnisse (J Jägerlatein, J Seemannsgarn). In der Karikatur ist die Ü. das zentrale Mittel der Darstellung. In der Liedüberlieferung sind neben der Schwankballade Bänkelsang und Moritat mit übertreibender Schwarzweißmalerei zu nennen. Die Ü. scheint die groteske Art der Wirklichkeitsverzerrung ins logisch Gegensätzliche, wie sie im Motivkomplex der J Verkehrten Welt vorliegt, benachbart. Die Funktionen von Ü. sind vielfältig. Kernelement ist wohl die Erzeugung von J Lachen oder Heiterkeit über Abweichungen von der J Norm. Schwank und Witz sind hierfür zentral, weil sie zur Konstitution einer
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schlagkräftigen J Pointe möglichst konträre Personen und Geschehnisse zusammenbringen und diese dabei überzeichnen. Ü. findet sich auch als didaktisches Mittel zur moralischen Belehrung13. In Zeiten von politischen Repressionen wird sie verwendet, um unliebsame oder verbotene Überzeugungen getarnt zu verbreiten14. Invektive und tendenziöse Darstellungen durch Ü. dienen der Diskriminierung des Feindes15 oder, wie in der Karikatur, der Angstbewältigung angesichts gefährlicher Gegner. 1 Schwarzbaum, Fox Fables, 110. ⫺ 2 Dittberner, H. (ed.): Kunst ist Ü. Göttingen 2003; Garcı´a Düttmann, A.: Philosophie der Ü. Ffm. 2004. ⫺ 3 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Mü. 61978, 25⫺ 36. ⫺ 4 Sydow, C. W. von: Jättarna i mytologi och folktro. In: Folkminnen och foltankar 6 (1919) 52⫺ 96, bes. 76. ⫺ 5 Horn, K.: Das Große im Kleinen. Eine märchenspezifische Ü. In: Fabula 22 (1981) 250⫺271, hier 251. ⫺ 6 Beispiele nach Horn (wie not. 5). ⫺ 7 Moser-Rath, Schwank, 167; Bausinger, H.: Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. In: Fabula 9 (1967) 118⫺136. ⫺ 8 Wilpert, G. von: Groteske. In: id.: Sachwb. der Lit. Stg. 61979, 320. ⫺ 9 cf. BP 4, 20. ⫺ 10 Müller-Fraureuth, C.: Die dt. Lügengeschichte bis auf Münchhausen. Halle 1881 (Nachdr. Hildesheim 1965). ⫺ 11 cf. jedoch Wehse, R.: Seineb die Spitzbübin. Märchen und Geschichten vom Lügen. Ffm. 1987, bes. 7⫺22; id.: „… So heiß, daß die Eidechsen ins Feuer krochen, um den Schatten der Bratpfanne zu genießen …“ Lügenmärchen und ihr Umfeld. In: Witz, Humor und Komik im Volksmärchen. ed. W. Kuhlmann/L. Röhrich. Regensburg 1993, 139⫺146. ⫺ 12 Schwarzbaum, 31. ⫺ 13 ibid., 106. ⫺ 14 ibid., 122. ⫺ 15 Moser-Rath, Schwank, 161.
Reichertshausen
Rainer Wehse
Überzähliger. In unterschiedlichen Erzählungen gesellt sich zu einer zahlenmäßig genau benannten Gruppe von Personen ⫺ zunächst unbemerkt ⫺ eine weitere Person (selten mehrere) hinzu ⫺ in der Regel ein dämonisches Wesen (meist der J Teufel). Dabei gewinnt man oft erst durch Zählen Sicherheit über die Präsenz eines überzähligen Wesens oder über das Vorhandensein einer als unglücklich verstandenen Anzahl von Personen1. Häufig sind es zwölf Personen, die dreizehnte (seltener der Vierte, Sechste, Siebte, Achte, Zehnte) ist der Überzählige (Ü.e). Dreizehn ist eine in der christl. Kultur meist negativ konnotierte J
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Überzähliger
Zahl, die mit dem Tod Jesu (J Christus) in Verbindung gebracht wird, wobei sowohl Jesus als auch J Judas als ,Dreizehnter‘ gelten konnte2. Das Motiv des Ü.en ist bisher vor allem mit Blick auf Sagen im dt.sprachigen Raum untersucht worden3. Jedoch läßt sich das Motiv in den verschiedenen Erzählgattungen auch in anderen Teilen Europas (u. a. sam., fläm., schweiz., span., russ.) belegen4. Nach den mittlerweile überholten Erkenntnissen I. Kleines soll der Sagentypus des Ü.en auf die vorchristl. Kultur der Westgermanen und die damaligen burschenschaftlichen Geheimbünde zurückgehen; elementar sei der Maskenbrauch, „ein Stück altes Heidentum“, weshalb die Konzeption der Sage als christl. Lehrsage als widerlegt gelten könne5. Gegen diese auf unbelegten Kontinuitätsprämissen basierende Deutung wendet B. Deneke ein, daß die Einschränkung des Motivs des Ü.en auf die Sage in Kombination mit dem Maskenbrauch keineswegs zwingend sei6. Zudem konnte L. J Kretzenbacher das Wirksamwerden von Exempeln aus der christl. Erbauungsund Predigtliteratur für die Herausbildung von Erzählungen mit dem Motiv des Ü.en belegen7. Der Ü.e tritt vor allem in Warnsagen und Exempeln in Erscheinung, die vom frevelhaften Auftreten maskierter Brauchträger, ungezügelter Spielleidenschaft (J Spieler), ekstatischen J Tänzen oder vom Verstoß gegen die Gebote des J Dekalogs handeln. Häufig belegt sind Sagen, die davon erzählen, wie zwölf junge Burschen zur Fastnachtszeit verkleidet und maskiert in der Nacht umherziehen und irgendwann (mitunter beim Abzählen) erschreckt feststellen, daß sich ein Ü.er (mehrere) unter ihnen befindet, den sie als Teufel deuten8. Mitunter nämlich weist der Ü.e einen Bocks- oder Geißfuß und Hörner auf, nimmt Tiergestalt (Hund, Ziegenbock, Katze) an und läuft nicht auf dem Boden9. Oft bleibt es beim Schrecken über den Ü.en, dem Abbruch des Umherziehens und dem Verzicht auf weitere (Tanz-)Vergnügungen. Manchmal können die Brauchakteure zeitweise nicht mehr laufen, ziehen die Masken ab und beten, wodurch der Ü.e verschwindet10. Nicht nur im Rahmen von Erzählungen über fastnächtliche Aktivitäten, sondern auch bei anderen Bräuchen (Nikolaus-
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umzüge, Anklöpfeln, Sonnwendfeiern, Weihnachten, Perchtenläufe, Haberfeldtreiben, Wallfahrten etc.) nimmt der Ü.e eine vergleichbare Funktion ein11. Dabei scheint vor allem die Maskierung als Teufel das Erscheinen des Ü.en zu provozieren. So sehen sechs Krampusdarsteller eines steir. Nikolausumzugs den Schatten eines siebten Krampus12. Sechs verkleidete Knechte, die am Weihnachtsabend umherziehen, um Kinder zu ängstigen, stellen plötzlich fest, daß sie sieben sind, und jener, der sich als Teufel verkleidet hat, wird vom Ü.en so lange gejagt, bis er tot zu Boden sinkt13. Zu den neun Bürgersöhnen, die im Passionsspiel zu Guben (Lausitz) 1519 den Teufel spielen, gesellt sich als Zehnter der Teufel, der sie zur Raserei bringt und zum lebensgefährlichen Sprung über den Brunnen zu verführen sucht14. Häufig ist es der Tanz, bei dem der Ü.e in Gestalt des Teufels die Tänzer zu immer ekstatischeren Rhythmen antreibt (Mot. G 303.6.2.1). Bei einer Faschingsunterhaltung schleicht sich zu den drei maskierten Jünglingen der Teufel als Ü.er, verleitet sie zu immer wilderem Tanz und steckt einen Tänzer in Brand, so daß schließlich alle verbrennen15. Eine warnende Funktion besitzen auch jene Sagen, die von ausufernden (Kegel-, Karten-, Würfel-)Spielen berichten, bei denen der Ü.e (teilweise J unsichtbar) mitmischt16. Allerdings wissen sich die Akteure vielfach auch gegen die Gefahr des Ü.en durch Kreuzzeichen, Empfang der Sakramente oder geweihte Gegenstände zu schützen17.
In Legenden erscheinen mitunter positiv konnotierte Ü. e. So habe Papst J Gregor d. Gr. einen Bettler reich beschenkt, der daraufhin bei einem Gastmahl in Gestalt eines nur für den Papst sichtbaren Engels teilnahm18. Dem Gebet von sieben Männern aus Sievering, die den hl. J Sebastian um Hilfe gegen die Pest anriefen, schloß sich der Heilige als Achter an; daraufhin erlosch die Seuche im Ort19. Etwas vielschichtiger sind die Folgen in KHM 50, AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit: Da der König nur zwölf goldene Teller besitzt, lädt er die dreizehnte Fee (weise Frau) nicht zur Feier der Geburt seiner Tochter ein20. Als diese dennoch erscheint, verwünscht sie die Königstochter und sagt voraus, jene werde in ihrem fünfzehnten Lebensjahr nach einem Spindelstich tot umfallen. Die Verfluchung kann durch die zwölfte Fee abgemildert werden. In verschiedenen Alltagszusammenhängen wurde und wird versucht, die Zahl Dreizehn möglichst zu vermeiden21. Wenn z. B. die Zahl
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Udmurten ⫺ Uffer, Leza
der Tischgäste überraschend dreizehn ergab, konnte dies dahingehend interpretiert werden, daß den zuletzt eingetroffenen (überzähligen) Gast (mitunter auch der erste oder älteste) bald ein Unheil ereilen werde22. Um derartiges zu vermeiden, wurde er an einen anderen Tisch gesetzt oder jemand zusätzlich eingeladen23. 1 cf. Deneke, B.: Materialien aus dem Umkreis der Sage vom Ü.en. Versuch einer Sichtung. In: ZfVk. 57 (1961) 195⫺229, hier 228. ⫺ 2 Röhrich, Redensarten 1, 336 sq.; Hirschfelder, G.: Freitag der 13. ⫺ ein Unglückstag? In: ZfVk. 97 (2001) 29⫺48. ⫺ 3 Kleine, I.: Der Ü. e. Diss. (masch.) Göttingen 1954; ead.: Der Ü. e. Geschichte und Entwicklung der Sage. In: Zs. für dt. Philologie 74 (1955) 410⫺422; Kretzenbacher, L.: Freveltanz und „Ü.er“. Zum Balladen- und Sagentypus vom „überzähligen“ Tänzer. In: Carinthia 1,144 (1954) 843⫺866; Deneke (wie not. 1). ⫺ 4 z. B. Lagercrantz, E.: Lapp. Volksdichtung 5. Hels. 1961, num. 285; Kleine 1955 (wie not. 3) 421 sq. (u. a. fläm., schweiz.); Kretzenbacher (wie not. 3) (österr.); Chevalier, M.: Cuentos espan˜oles de los siglos XVI y XVII. Madrid 1982, 100; Derzˇavina, O. A.: Velikoe Zercalo i ego sud’ba na russkoj pocˇve (Der große Spiegel und sein Schicksal auf russ. Boden). M. 1965, 324⫺330. ⫺ 5 Kleine 1955 (wie not. 3) 418. ⫺ 6 Deneke (wie not. 1) 229. ⫺ 7 Kretzenbacher (wie not. 3). ⫺ 8 Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 1⫺3. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 21989/389/90, hier t. 1, 107, 183, 619; t. 2, 527 sq., 857; t. 3, 79. ⫺ 9 Deneke (wie not. 1) 220. ⫺ 10 Büchli (wie not. 8) t. 3, 228. ⫺ 11 Kretzenbacher (wie not. 3) 845, 861 sq.; Queri, G.: Bauernerotik und Bauernfehme in Oberbayern. Mü. 1911, 70. ⫺ 12 Kretzenbacher (wie not. 3) 859; cf. ferner Baader, B.: Neugesammelte Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden. Karlsruhe 1859, 3; Birlinger, A./Buck, M. R.: Sagen, Märchen und Aberglauben. Fbg 1861, 276 sq. ⫺ 13 Haas, A.: Rügensche Sagen und Märchen. Stettin 3 1903, num. 24. ⫺ 14 Kretzenbacher (wie not. 3) 860. ⫺ 15 Deneke (wie not. 1) 209 sq.; Kretzenbacher (wie not. 3) 848 sq.; Moser-Rath, Predigtmärlein, 181, 455 sq. ⫺ 16 Deneke (wie not. 1) 195; Lagercrantz (wie not. 4) 108⫺111. ⫺ 17 Kretzenbacher (wie not. 3) 862. ⫺ 18 Günter 1949, 238. ⫺ 19 Mailly, A.: Niederösterr. Sagenschatz. Lpz. 1926, num. 204; Schmidt, L.: Die burgenländ. Sebastianispiele […]. Eisenstadt 1951, 14. ⫺ 20 Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./ N. Y. 2008, 117⫺122, bes. 118 sq. ⫺ 21 Ruland, B.: Die Uhr schlägt 13. In: id.: Geheimnis bis zum Jüngsten Tag. Bayreuth 1968, 175⫺180. ⫺ 22 Röhrich, Redensarten 1, 336 sq.; Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staats 2. Glogau 1871, 791; Naubert, B.: Neue Volksmärchen der Deutschen 1. ed. M. Henn/P. Mayer/A. Runge. Göttingen 2001,
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159. ⫺ 23 cf. Manzoni, C.: Der vierzehnte Gast. Kuriose u. a. Geschichten. Mü. 41981, 35⫺40.
Regensburg
Daniel Drascek
Udmurten J Wotjaken
Uffer, Leza, * Tinizong 4. 9. 1912, † Abtwil 2. 8. 1982, schweiz. Märchensammler und -forscher. In schweizerdt. Umfeld aufgewachsen, engagierte sich U. schon als Student ⫺ er studierte seit 1931 an den Univ.en Zürich, Genf, Paris, Rom, Perugia und Florenz Romanistik ⫺ für die Erhaltung und Pflege der rätorom. Sprache. 1939 wurde er an der Univ. Zürich mit der Diss. Rätorom. Märchen und ihre Erzähler (Basel 1945) promoviert. 1942⫺ 78 war er als Hauptlehrer für Französisch und Italienisch an der Kantonsschule St. Gallen tätig. Ab 1945 übernahm er Lektorate für Rätorom. Sprache und Lit. an der damaligen Handelshochschule (heute Univ.) St. Gallen sowie an den Univ.en Zürich und Genf. U. setzte sich seit 1949 kontinuierlich in Radio- und seit 1965 in Fernsehsendungen für die Pflege des Rätoromanischen ein1. In seiner Diss. zog er die sprachliche J Authentizität der rätorom. Märchen von C. J Decurtins und G. J Bundi in Zweifel (cf. J Rätoromanen) und wollte daher der Forschung neugesammelte Märchen wortgetreu zur Verfügung stellen. Schwierige materielle Bedingungen und der Ausbruch des 2. Weltkriegs zwangen ihn dazu, seine Feldforschungen auf die Jahre 1937⫺39 und sein Unters.sgebiet auf einige wenige Talschaften, vorwiegend den Kreis Surmeir, die Heimat seiner Familie, sowie das Oberengadin und die Surselva zu beschränken. Die Erzählungen notierte er in eigener Kurzschrift und edierte sie im jeweiligen rätorom. Idiom sowie in dt. Übers.; eine phonetische Transkription erwies sich als nicht realisierbar. Um die Druckkosten möglichst niedrig zu halten, veröffentlichte er nur 24 Texte in voller Länge; von weiteren 88 Stükken, mehrheitlich Schwänken, verfaßte er kurze Inhaltsangaben. Beeinflußt von O. Brinkmann2 stellte U. die damals neue Frage nach der ,soziol. Funktion des Erzählens‘ (cf. J Biologie des Erzählguts)3
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UFO-Erzählungen
ins Zentrum. Er hob die individuelle J Kreativität der Erzählerpersönlichkeiten hervor und unterschied zwischen bewußten und passiven Traditionsträgern sowie solchen, die nur gelegentlich erzählten. Seine Materialien ordnete er indes nicht nach Gewährsleuten, sondern nach den Kategorien des internat. Typenkatalogs (AaTh). Zu seinen wichtigsten J Informanten zählten der Schuster Plasch Spinas aus Tinizong sowie der Zimmermann und Säger Flori Aloisi Zarn aus Domat (Ems), die als Handwerker in anderen Gegenden herumgekommen waren und deshalb viele Märchen und Schwänke kannten4. U. gelang es, Teilaspekte vergangener Erzählkultur zu rekonstruieren. Beeinflußt von W. J Wisser5 betrachtete U. freilich nur die Abendunterhaltungen der Männer in den Ställen oder auf den sog. Maiensässen für die Verbreitung von Zaubermärchen als bedeutsam und maß dem Märchenerzählen weiblicher Familienmitglieder im Haus keine Bedeutung zu. Suggestivfragen mögen dazu geführt haben, daß die befragten Frauen U. ausschließlich Legendenmärchen erzählten, die er als geschlechtsspezifische ,Nahrung‘ für die „religiös sehr empfindsame, einfache Seele der Bäuerin“ wertete6. 1945 entdeckte U. in Guarda den Erzähler und Dorfschreiner Jachen Filli, dem er mit Las Tarablas da Guarda. Die Märchen von Guarda (Basel 1970) eine Monogr. mit 18 zweisprachig edierten Märchen und Schwänken widmete. In der Rückschau betonte U. stärker, daß er die Märchen, Schwänke und Legendenmärchen in einer Ausnahmesituation erhoben hat: Erzählt wurde nicht in lebendigen Zusammenkünften, sondern dem Sammler. Seine Gewährsleute waren alte, das heißt vornehmlich isolierte Traditionsträger. Die Auflösung der Abendsitze mit traditionellem Märchen- und Sagenrepertoire schrieb er der Mobilmachung des 1. Weltkriegs zu. Bibliogr. (Ausw.): Die Märchen des Barba Plasch. Zürich 1955. ⫺ Märchen, Märchenerzähler und Märchensammler in Rom. Bünden. In: SAVk. 57 (1961) 129⫺147. ⫺ Vom Märchen der Rätoromanen. Versuch einer Charakterisierung des rätorom. Volksmärchens. In: Die Freundesgabe (1961) 18⫺ 25. ⫺ (mit R. Wildhaber): Schweizer Volksmärchen. MdW 1971. ⫺ Begegnung der Völker im Märchen. 5: Schweiz ⫺ Deutschland. Münster 1972. ⫺ Das Bild des Hirten in der volkstümlichen Lit. der Rätoromanen. In: Alpes Orientales 6 (1972) 115⫺120. ⫺
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Märchen aus der rätorom. und alemann. Schweiz. Münster 1972. ⫺ Rätorom. Märchen. MdW 1973. ⫺ Das Menschenbild im rätorom. Märchen. In: Vom Menschenbild im Märchen. ed. J. Janning/H. Gehrts/H. Ossowski. Kassel 1980, 106⫺116. ⫺ Von den letzten Erzählgemeinschaften in Mitteleuropa. In: Wehse, R. (ed.): Märchenerzähler ⫺ Erzählgemeinschaft. Kassel 1983, 21⫺29. 1 Cavigelli, P.: En memoria da prof. dr. L. U. 4 da settember 1912 ⫺ 2 d’uost 1982. In: Annalas da la Soc. Retorumantscha 96 (1983) 222⫺227; Camartin, I.: L. U. (1912⫺1982). In: Fabula 24 (1983) 284 sq.; Egloff, W.: L. U. In: Schweizer Vk. 72 (1982) 84. ⫺ 2 Brinkmann, O.: Das Erzählen in einer Dorfgemeinschaft. Münster 1933. ⫺ 3 U., L.: Rätorom. Märchen und ihre Erzähler. Basel 1945, 21. ⫺ 4 ibid., 15 sq. ⫺ 5 ibid., 17; cf. Köhler-Zülch, I.: Ostholsteins Erzählerinnen in der Slg Wisser. Ihre Texte ⫺ seine Ber.e. In: Fabula 32 (1991) 94⫺118, hier 98 (not. 29). ⫺ 6 Uffer (wie not. 1) 17 sq.; Köhler-Zülch (wie not. 5) 105.
Zizers
Ursula Brunold-Biegler
UFO-Erzählungen (U.), Berichte über Begegnungen mit nicht identifizierbaren Flugobjekten (unidentified flying objects) bzw. sog. fliegenden Untertassen (flying saucers)1. Derartige Erzählungen gewannen im Gefolge der angeblichen UFO-Sichtung des Piloten K. Arnolds in Idaho (Sommer 1947) zunehmend an Beachtung2. Ältere Berichte über unerklärliche Himmelsphänomene werden von modernen UFO-Gläubigen gerne als ,hist.‘ U. aufgefaßt3. Die Topik reicht zurück bis zu J Lukian von Somosata und seiner augenzwinkernden ,Science Fiction‘ in der Ale¯the¯s historia (Wahre Geschichte; 2. Jh.), die auf satirische Weise von wundersamen Himmelsreisen und regelrechten Sternenkriegsszenarien erzählt. Das moderne Diskursfeld zu UFOs und außerirdischen Interventionen ist im 20. Jh. durch die Veröffentlichungen des Schriftstellers Charles Hoy Fort (1874⫺1932) über diverse ,anomalistische‘ Befunde geprägt worden4. Seine Bücher über die unterdrückten Fakten (damned data)5 hatten seit den 1920er Jahren große Wirkung auf moderne Genres der Phantastik, bes. auf die Werke von Howard Philip Lovecraft (1890⫺1937) oder die sog. Präastronautik (z. B. Erich von Däniken). Fort nahm u. a. an, daß die Menschheit auf
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UFO-Erzählungen
irgendeine Weise außerirdisches ,Eigentum‘ sei oder zumindest immer wieder mit unheimlichen außerirdischen Kontakten konfrontiert werde. Die Bandbreite von U. bewegt sich von rein ,anomalistischen‘ Sensationsberichten über (angebliche) UFO-Sichtungen, ufologisch-technologische ,Erklärungen‘ des aus traditioneller Religion oder Volksglauben stammenden Personals (,Astronauten-Götter‘, ,Engel in Raumanzügen‘) oder dramatische Raumschiff-Entführungsgeschichten bis hin zu literar. oder filmisch vermittelter J Science Fiction und manifesten Var.n religiöser Esoterik. Die präastronautischen U.6 kommen ganz im aufklärerischen Pathos Forts daher. Mit ihrer Suche nach extraterrestrischer Intelligenz in der Vergangenheit sehen sie sich einem quasihist. bzw. alternativ-archäologischen Interesse verpflichtet, das die angeblich religiöse Vergangenheit der Menschheit technologisch erklären möchte: Die „Götter unseres Altertums waren fremde Astronauten ⫺ weiter nichts“7. Bes. erstaunliche und auch mit modernem Wissensstand nicht völlig erklärbare Errungenschaften vergangener Völker (exaktes Kalenderwissen, Pyramidenbau etc.), eigentümliche Götter- oder Personendarstellungen (Grabplatte von Palenque) oder die berühmten Nazca-Linien in Peru werden als Reminiszenzen außerirdischer Interventionen dargestellt, indem modernes Technologiewissen auf antikes Material zurückprojiziert wird. Die Präastronautik bildet ein eigenes Genre auf dem alternativen Sachbuchmarkt und erweist sich als eine Art ,Neomythologie‘: Durch die Astronautengötter erfährt das moderne technologische Weltbild des Raumfahrt- und Gentechnikzeitalters eine himmlische Wiederverzauberung und mythol. Letztbegründung in der entfernten Vergangenheit. U. von klonenden Astronautengöttern sind von neureligiösen Bewegungen rezipiert worden. Das berühmteste Beispiel ist die von Rael (i.e. Claude Vorilhon) gegründete ,Raelistische Religion‘, bei der millenaristische Hoffnungen auf einen neuen Äon (mit ,ewigem Leben‘ und ,wiss. Reinkarnation‘ durch Klonen) sowie Elemente der Kontaktler-Ufologie und Präastronautik verschmolzen wurden8. Die ersten ,UFO-Kontaktler‘ traten bereits zu Beginn der 1950er Jahre in den USA auf.
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Sie berichteten von ihren Begegnungen mit UFOs und deren Besatzung sowie z. T. von Mitflügen im UFO und spirituellen Belehrungen durch die Außerirdischen9. Die angeblich fremden Lehren der ufonischen ,Meister‘ in diesem esoterisch-alternativreligiösen Sektor der U. lassen sich bei näherem Hinsehen allerdings meist auf ältere Vorbilder ,irdischer‘ Esoterik und Theosophie zurückführen, die mit typischen Diskursen über ,versunkene Welten‘ (Atlantis, Lemuria, Mu; cf. J Topographie, fiktive) Hand in Hand gehen. Dennoch hält das Interesse an derlei esoterischen U. seit den 1950er Jahren kontinuierlich an (heute meist ergänzt durch sog. Channelings, d. h. Durchsagen der Raumgeschwister auf medialem Weg) und ist bei esoterischen Netzwerken, Gruppen und Endzeitpropheten sowie in deren Publ.en bzw. Internetseiten anzutreffen. Eine weitere Art von U. bilden die reinen Berichte über UFO-Sichtungen, die in ihrem Spektrum von leichtgläubiger UFO-Faszination bis zu radikal skeptischen Analysen reichen. Eine stattliche Zahl von entsprechenden Netzwerken und ,Forschungs‘-Gemeinschaften ist seit den 1950er Jahren um dieses Thema entstanden (ohne die religiös-esoterische Überhöhung des UFO-Glaubens)10. UFO-Entführungen bilden eine eigenständige Gattung von U., die manchmal auch mit Kornkreisen11 und Tierverstümmelungen in Zusammenhang stehen. Hier sind die Außerirdischen keine freundlichen Boten einer heilvollen Zukunft, sondern brutale Vertreter wiss. Experimente an Mensch und Tier (einschließlich Vergewaltigungen) ⫺ womöglich gar Vorboten einer drohenden Invasion, Eroberung und Ausbeutung der Erde12. Manche der Entführungsgeschichten scheinen auf tatsächliche psychische Traumata der Erzähler zu verweisen. Man hat vermutet, daß es sich bei solchen Entführungsberichten z. T. um ein modernes Pendant zu älteren Erzählungen von Kobolden, Gnomen und ähnlichem Personal des Volksglaubens handelt (cf. die sprichwörtlichen ,grünen Männchen‘)13. Alle diese Formen der U. haben mittlerweile in die literar. und filmische Phantastik14 sowie in entsprechende Computerspiele Eingang gefunden. Die ersten Forschungsbeiträge zu U. waren psychol. orientiert: Während C. G. J Jung15
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Uhland, Johann Ludwig
tiefenpsychol. mit der ihm eigenen latent esoterisch-religiösen Herangehensweise über die archetypischen Bilder (J Archetypus) in den UFO-Kontaktler-Berichten nachdachte, hat eine sozialpsychol. Forschergruppe um L. Festinger eine an der kognitiven Dissonanztheorie orientierte Studie mit einer (wenn auch umstrittenen) empirischen Unters. zur psychol. Dynamik von Endzeiterwartungen am Beispiel einer UFO-Endzeitgruppe vorgelegt16. Aufgrund ihrer randständigen, märchenhaften und mit Verschwörungstheorien behafteten und in der Öffentlichkeit daher vielfach nicht ernstgenommenen Thematik sind die U. lange Zeit wiss. nicht aufgearbeitet worden; sie werden bis heute bes. in para- und grenzwiss. Netzwerken und Publ.sforen aufgegriffen. Nachdem L. J De´gh bereits 1977 auf folkloristisch relevante Aspekte der UFO-Forschung aufmerksam gemacht hatte17, sind im letzten Jahrzehnt vermehrt Studien zum UFOGlauben erschienen18, in denen Leitmotive wie die Sehnsucht nach einer Integration von Wissenschaft/Technik und Religion/Spiritualität herausgearbeitet wurden: Die (teilweise religiösen) Gattungen der U. erscheinen hierbei als typische Ausprägungen eines zugleich postreligiösen wie postmodernen Weltbildes, in dem sich Phantastik, Technikfaszination und alternative Glaubensformen unterschiedlicher Herkunft miteinander verbinden. Hierfür ist die umstrittene Scientology-Kirche ein Beispiel19, denn ihr Gründer L. R. Hubbard hat den Herkunftsmythos für die irdischen Seelen sowohl als geheimen Initiationsmythos wie auch als Science Fiction-Roman verfaßt ⫺ ein paradigmatischer Fall der Oszillation zwischen spielerischer Phantastik und religiösesoterischem Ernst. 1 Clark, J. (ed.): The UFO Enc. 1⫺2. Detroit 21997; Grünschloß, A.: Die Götter werden landen … Religiöse Dimensionen des UFO-Glaubens. B. 2000; Peiniger, H.-W.: Das Rätsel. Unbekannte Flugobjekte. Rastatt 1998; Rothstein, M.: UFOer og rumvæserner. Myten om de flyvende tallerkener. Kop. 2000. ⫺ 2 Lagrange, P.: L’Affaire Kenneth Arnold. In: Communications 52 (1990) 283⫺309 (Sonderheft „Rumeurs et le´gendes contemporaines“); Partridge, C.: Understanding UFO Religions and Abduction Spiritualities. In: id. (ed.): UFO Religions. L. 2003, 3⫺ 42, hier 4⫺7. ⫺ 3 cf. z. B. Dopatka, U. (ed.): Die große Erich von Däniken-Enz. Das einzigartige Nachschlagewerk zur Prä-Astronautik. Düsseldorf
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1997. ⫺ 4 Magin, U.: Der Ritt auf dem Kometen. Über Charles Hoy Fort. Ffm. 1999. ⫺ 5 Fort, C. H.: The Book of the Damned. N. Y. 1919; id.: New Lands. N. Y. 1923; id.: Lo! A Collection of Marvels. L. 1931; id.: Wild Talents. N. Y. 1932. ⫺ 6 cf. Grünschloß, A.: ,Ancient Astronaut‘ Narrations. A Popular Discourse on Our Religious Past. In: Fabula 48 (2007) 205⫺228. ⫺ 7 Däniken, E. von: Erhielten unsere Vorfahren Besuch aus dem Weltall? In: Dokumentarbericht. 7. Internat. Weltkongreß der UFOForscher in Mainz 1967. Wiesbaden 1968, 94⫺97, hier 97. ⫺ 8 Palmer, S.: Aliens Adored. Rael’s UFO Religion. New Brunswick 2004. ⫺ 9 cf. Melton, J. G.: The Contactees. In: Lewis, J. (ed.): The Gods Have Landed. New Religions from Other Worlds. Albany 1995, 1⫺14; id./Eberhart, G. M.: The Flying Saucer Contactee Movement, 1950⫺1994. A Bibliogr., ibid., 251⫺332. ⫺ 10 cf. Grünschloß, A.: UFO Faith and Ufological Discourses in Germany. In: Partridge (wie not. 2) 179⫺193, hier 183⫺185. ⫺ 11 Meder, T.: Modern Exempla. Crop Circle Tales in the New Age Era. In: Fabula 48 (2007) 281⫺299; cf. auch id.: In graancirkelkringen. Amst. 2006. ⫺ 12 z. B. Mack, J. E.: Abduction. Human Encounters with Aliens. N. Y. 1994. ⫺ 13 Roberts, C.: Der Mensch als Teil des UFO-Phänomens. Sind Raumschiffe, kleine grüne Männchen, Entführungen und andere seltsame Begegnungen psychol. erklärbar? Lüdenscheid 1997. ⫺ 14 Lewis, J. (ed.): UFOs and Popular Culture. An Enc. of Contemporary Myth. Santa Barbara u. a. 2000. ⫺ 15 Jung, C. G.: Ein moderner Mythos. Von Dingen, die am Himmel gesehen werden. Zürich/Stg. 1958. ⫺ 16 Festinger, L.: When Prophecy Fails. Minneapolis 1956. ⫺ 17 De´gh, L.: UFO’s and How Folklorists Should Look at Them. In: Fabula 18 (1977) 242⫺248; neuere folkloristische Arbeiten: Pinvidie, T.: Un Cas d’apparition d’ovnis. In: Communications 52 (1990) 31⫺335; Me´heust, B.: Les Occidentaux du XXe sie`cle ont-ils cru a` leurs mythes? ibid., 337⫺356; Parente, P. A.: Experiencia y legitimidad en narrativas OVNI. Folklore cientı´fico y folklore popular en el valle de Calingasta. Diss. Buenos Aires 2006. ⫺ 18 cf. bes. Lewis, J. (ed.): Encyclopedic Sourcebook of UFO Religions. Amherst 2003; Partridge (wie not. 2). ⫺ 19 Grünschloß, A.: Scientology. In: Lewis (wie not. 14) 266⫺ 268.
Göttingen
Andreas Grünschloß
Uhland, Johann Ludwig, * Tübingen 26. 4. 1787, † ebenda 13. 11. 1862, dt. Dichter, Sagen-, Volkslied- und Mythenforscher1. U. studierte ab 1801 in Tübingen Jura (Advokatenexamen 1808; Promotion 1810). Auf einen Aufenthalt in Paris 1810/11 folgten Tätigkeiten als Advokat in Tübingen und Stuttgart. 1819⫺
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Uhland, Johann Ludwig
26 vertrat U. das Oberamt Tübingen in der württemberg. Ständeversammlung. Ende 1829 wurde er in Tübingen zum außerordentlichen Professor für dt. Sprache und Lit. berufen. Als die Regierung ihm 1833 den für die Wahrnehmung seines Stuttgarter Abgeordnetenmandats erforderlichen Urlaub verweigerte, reichte er sein Entlassungsgesuch ein und lebte fortan als Privatgelehrter. Bis 1838 blieb U. als Angehöriger der liberalen Opposition im Landtag; 1848 wurde er zum Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung gewählt und harrte bis zur gewaltsamen Auflösung des Stuttgarter Rumpfparlaments im Juni 1849 aus. Sein umfangreicher Nachlaß befindet sich im Dt. Lit.archiv in Marbach. U.s Ruhm im 19. Jh. beruhte auf seinen erstmals 1815 erschienenen Gedichten2, die bis 1884 insgesamt 64 Aufl.n erlebten. Zahlreiche Übers.en (und Vertonungen) belegen eine außerordentlich breite internat. Rezeption. U.s Stellung in der Geistesgeschichte wird zuallererst durch die Zugehörigkeit zur J Romantik bestimmt3. Bereits kurz nach seinem Studium hatte er Anschluß an einen Studentenzirkel gefunden, der von altdt. und ,volkstümlicher‘ Lit. fasziniert war; die engste Freundschaft verband ihn mit Justinus J Kerner. J MA.rezeption und Hochschätzung der Volkspoesie (J Naturpoesie, J Volksdichtung), unter der U. „die geistige Auffassung eines ganzen Volkslebens durch die Gesammtheit des Volkes“4 verstand, prägen sowohl sein literar. als auch sein wiss. Œuvre5. Der Leitbegriff des ,Volks‘ schlägt die Brücke zu den freiheitlichliberalen Positionen des Politikers U., der sich für das ,gute alte Recht‘ (des Volks) und die althergebrachte landständische Verfassung einsetzte. Seine Ideale thematisierte er auch in den Vaterländischen Gedichten (1816/17) und den Dramen Ernst, Herzog von Schwaben (1818; J Herzog Ernst) und Ludwig der Baier (1819). Traditionelle Erzählstoffe verwandte U. ebenso dichterisch wie er sie wiss. erforschte und ⫺ im Fall der Volkslieder ⫺ herausgab6. Seit etwa 1820 traten gelehrte Studien (Walther von der Vogelweide. Stg. 1822; Der Mythus von Thoˆr. Stg. 1836) an die Stelle der dichterischen Adaptation und der nacherzählenden Rekonstruktion. In seinen letzten Lebensjahren publizierte U. in der Zs. Germania Auf-
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sätze zur schwäb. Sagenkunde, zur Heldensage und zum Volkslied. Triviale Ritterromane (J Ritter), allen voran Leonhard Wächters (Pseud.: Veit Weber) Sagen der Vorzeit (B. 1787/88 u. ö.), waren die Lieblingslektüre des jugendlichen U. und haben mit ihrem auf wenige Klischees reduzierten Pseudo-MA. seine frühesten Gedichte nachhaltig beeinflußt7. Daneben prägten die Bardengesänge des J Ossian8 und die Gesta Danorum des J Saxo Grammaticus U.s Auffassung der ,Vorzeit‘. Eine wichtige Inspirationsquelle waren auch die J Volksbücher (von denen Kerner eine große Slg besaß) und die J Bibliothe`que bleue. Wie Kerner bearbeitete U. (im Dramenfragment Die Entführung [1809]) die Riesen-Geschichte, oder Kurzweilige und nützliche Historie vom König Eginhard aus Böhmen von Leopold Richter aus dem 18. Jh.9 Der Stoff des J Fortunatus (AaTh/ATU 566) inspirierte U. zu seinem (unvollendeten) Versepos Fortunat und seine Söhne (1815/16)10. Nicht näher befaßt hat er sich dagegen mit der Gattung Märchen. ,Sage‘ und Volkspoesie waren für U. weitgehend eins: „Die Sage der Völker ist […] wesentlich Volkspoesie; alle Volkspoesie aber ist ihrem Hauptbestande nach sagenhaft“11. Neben den Götter- und Heldensagen der nord. Überlieferung fesselten ihn die dt. und die frz. Heldensage. In Paris las und kopierte er tagsüber ebenso eifrig wie unsystematisch altfrz. Texte, abends setzte er die Lektüre in Poesie um12. Im November 1812 konzipierte er ein Mährchenbuch des Königs von Frankreich nach dem Muster von J Boccaccios Decamerone bzw. des Heptame´ron von J Marguerite de Navarre als Anthologie „fränkischer, normännischer, bretagnischer, provenzalischer, gascognischer u. a. Erzählungen und Romanzen“13. U.s in J Fouque´s Zs. Musen erschienener Essay Ueber das altfrz. Epos (1812)14 gilt als einer der Pioniertexte der dt. Romanistik15. Im Mittelpunkt stand der patriotische Gefühle erweckende Heldenliederzyklus um J Karl d. Gr.16 Altfrz. Stoffe lagen auch mehreren Balladen zugrunde; so hat U. z. B. den Stoff von AaTh/ATU 992: J Herzmäre in seiner Ballade Der Kastellan von Couci bearbeitet17. Daneben griff er für Balladen und Dramenfragmente auf Stoffe der span. (z. B. Lope de J Vega),
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ital. (z. B. J Dante), engl. und schott. sowie nicht zuletzt der altnord. Lit. zurück. Zeitlebens war das J Nibelungenlied die Lieblingsdichtung U.s18, der sich 1817 selbst an einem Nibelungendrama versuchte. Die späteren gelehrten Studien zur nord. Mythologie und zur dt. Heldensage19 haben aufgrund ihrer spekulativen komparatistischen Kombinationen heute nur noch wissenschaftsgeschichtlichen Wert. Stark haben auf U. die Mythentheorien der Brüder J Grimm (J Mythol. Schule), aber auch die von J. von J Görres, G. F. Creuzer und F. J. Mone gewirkt20. Die heimische Sagenüberlieferung bezog U. in eine großangelegte unvollendete Schwäb. Sagenkunde ein, an der er seit 1850 arbeitete und die in kühnem Bogen sueb.-alemann. Frühzeit mit ma.-frühneuzeitlichen Zeugnissen verbinden sollte21. Gespeist wurde das Projekt von schwäb.-württemberg. Patriotismus, der U. auch motivierte, die mit der heimatlichen Staufertradition zusammenhängenden Stoffe von Konradin und von den J Weibern von Weinsberg dramatisch zu behandeln. Bes. der schon in der Erstausgabe der Gedichte 1815 enthaltene kleine Zyklus Eberhard der Rauschebart sollte die ,vaterländische‘ (württemberg.) Geschichte poetisch umranken und trug zur Popularität der schwäb. Sagenballade bei, der sich zur gleichen Zeit vor allem U.s Freund G. J Schwab widmete. U. hatte keinen Sinn für Feldforschungen und war der Ansicht, mit dem Sammeln von Sagen komme man wohl zu spät22. Er stützte sich lieber auf schriftl. Quellen, etwa die J Zimmerische Chronik oder mhd. Texte wie J Friedrich von Schwaben. 1852 bewies jedoch die U. gewidmete Sammlung schwäb. Sagen von E. J Meier, wie reich die volkstümliche Überlieferung noch war23. Für seine Volksliedstudien, die er seit Ende der 1820er Jahre betrieb, sichtete U. auf seinen Bibl.sreisen gedr. und hs. Liedüberlieferungen vornehmlich des 16. Jh.s. Seine lang vorbereitete Ausg. Alte hoch- und niederdt. Volkslieder (1,1⫺2. Stg. 1844/45) ist die erste wiss. dt. Volksliedsammlung24. Bei seinen Versuchen, die ,echte‘ alte Fassung zu rekonstruieren, blieb der Wissenschaftler U. dem Poeten verpflichtet; strengen philol. Maßstäben kann die Ausg. daher nicht genügen. Bereits vor der U. prägenden Begegnung mit J Arnims und J
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Brentanos Slg Des Knaben Wunderhorn25 war U. durch J. G. J Herders Volksliedsammlung mit der Gattung vertraut. Durch ihre meisterhafte Imitation des ,Volkstons‘26 wurden etliche Lieder U.s selbst zu Volksliedern27. 1809 gelang ihm mit Der gute Kamerad das bis heute bekannteste Soldatenlied (J Soldat), das mit seiner Sinnstiftung des Soldatentods militaristisch und faschistisch vereinnahmt wurde28. Nach J Schiller war U. der populärste dt. Dichter im 19. Jh. und um 1870 so etwas wie ein bürgerlicher ,Nationalheld‘29. Er hat mit seiner Begeisterung für das ,Volk‘ viele andere mitgerissen ⫺ auch was volkskundliche Studien betraf (z. B. W. J Hertz oder A. J Schott). Kurz nach 1945 ermöglichte sein guter Name in Frankreich den Fortbestand des kompromittierten Tübinger Volkskundeinstituts als L.-U.-Inst.30 Für die Frage nach den Austauschprozessen zwischen hist. Erzählüberlieferung, poetischer Gestaltung, gelehrter Beschäftigung und lebendiger Volkskultur liefern U.s Werk und Wirken wichtige Aufschlüsse. So berichtet der Pfarrer von Holzmaden bei Kirchheim unter Teck 1900 über die örtliche Geisterwelt, das ,Muetes Heer‘ (J Wilde Jagd) ⫺ von U. wie damals üblich als Wotans-Heer gedeutet31 ⫺ singe wundervoll „Ich hatt’ einen Kameraden“, also U.s populäres Soldatenlied32. 1 Schneider, H.: U. Leben, Dichtung, Forschung. B. 1920; Scheffler, W. P. H.: L. U. In: Lebensbilder aus Schwaben und Franken 10. Stg. 1966, 270⫺303; Marbacher Magazin 42 (1987) (Sonderheft „L. U.“; mit Bibliogr. der Drucke 1806⫺62); L. U. Werk und Wirkung. Festschr. des U.-Gymnasiums. Tübingen 1987; Bausinger, H. (ed.): L. U. Dichter, Politiker, Gelehrter. Tübingen 1988; Fröschle, H.: U., (J.) L. In: Lit.lex. 11. ed. W. Killy. Gütersloh/Mü. 1991, 464⫺466; Doerksen, V. G.: L. U. and the Critics. Columbia, S. C. 1994; Singh, S.: U., L. In: Internat. Germanistenlex. 3. B./N. Y. 2003, 1918⫺1920. ⫺ 2 U., L.: Gedichte. Stg./Tübingen 1815. ⫺ 3 Fröschle, H.: L. U. und die Romantik. Köln/Wien 1973 (grundlegend). ⫺ 4 Holland, W. L./Keller, A. von/ Pfeiffer, F. (edd.): U.s Schr. zur Geschichte der Dichtung und Sage 1⫺8. Stg. 1865/66/66/69/70/68/68/73, hier t. 1, 134; cf. Fröschle (wie not. 3) 197⫺202. ⫺ 5 Ausg.n (Ausw.): Fröschle, H./Scheffler, W. (edd.): L. U. Werke 1⫺4. Mü. 1980/80/81/84; Holland u. a. (wie not. 4); Hartmann, J. (ed.): U.s Briefwechsel 1⫺ 4. B. 1911/12/14/16. ⫺ 6 Eichholtz, P.: Qu.nstudien zu U.s Balladen. B. 1879; Düntzer, H.: U.s Balladen
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Uiguren
und Romanzen. Lpz. 21890; id.: U.s Dramen und Dramenentwürfe. Lpz. 1892; Goedeke, K.: Grundriß zur Geschichte der dt. Dichtung 8. Dresden 2 1904, 242⫺246. ⫺ 7 Schneider, H.: U.s Gedichte und das dt. MA. B. 1920; Fröschle (wie not. 3) 165⫺ 169. ⫺ 8 Schmidt, W. G.: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. James Macphersons „Ossian“ und seine Rezeption in der dt.sprachigen Lit. 1⫺2. B. 2003, hier t. 2, 1068⫺1079. ⫺ 9 Varnhagen, H.: Longfellows „Tales of a Wayside Inn“ und ihre Qu.n. B. 1884, 113⫺118. ⫺ 10 Fröschle/Scheffler (wie not. 5) t. 1, 588 sq.; Fröschle (wie not. 3) 83⫺85; cf. Ransmeier, J. C.: U.’s „Fortunat“ and the „Histoire de Fortunatus et de ses Enfans“. In: Publ.s of the Modern Language Assoc. 25 (1910) 355⫺366. ⫺ 11 Holland u. a. (wie not. 4) t. 7, 4. ⫺ 12 Schenda, R.: Die drei Schlösser im Bette ersonnen. In: Bausinger (wie not. 1) 63⫺86, hier 77. ⫺ 13 Schmidt, E.: U.s „Märchenbuch des Königs von Frankreich“. In: Sb.e der Kgl. Preuß. Akad. der Wiss.en (1897) 955⫺999, hier 979. ⫺ 14 Holland u. a. (wie not. 4) t. 4, 327⫺ 406. ⫺ 15 Fränkel, L.: U. als Romanist. In: ArchfNSprLit. 80 (1888) 25⫺113. ⫺ 16 cf. EM 11, 378, 776. ⫺ 17 Bohnengel, J.: Dialektik und Affekte. L. U.s „Kastellan von Couci“ im kulturgeschichtlichen Kontext der europ. Herzmaere-Tradition. In: Zs. für Germanistik 15 (2005) 296⫺310. ⫺ 18 Fröschle (wie not. 3) 159. ⫺ 19 Schneider, H.: U. und die dt. Heldensage. B. 1918. ⫺ 20 Fröschle (wie not. 3) 295⫺313; Mornin, E.: L. U. and the Romantic Mythology. In: Germanic Review 62 (1987) 20⫺27. ⫺ 21 Moser, H.: U.s Schwäb. Sagenkunde und die germanistisch-volkskundliche Forschung der Romantik. Tübingen 1950; id.: L. U. In: Zur Geschichte von Vk. und Mundartforschung in Württemberg. Tübingen 1964, 66⫺79. ⫺ 22 Hartmann (wie not. 5) t. 1, 32; ibid. t. 3, 51, 450; Scheffler, W.: Unbekannte U.Briefe. In: Jb. der dt. Schillerges. 20 (1976) 3⫺37, hier 11 sq.; cf. Graf, K.: Schwabensagen. Zur Beschäftigung mit Sagen im 19. und 20. Jh. (im Internet). ⫺ 23 Meier, E.: Dt. Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben 1⫺3. Stg. 1852. ⫺ 24 Brednich, R. W.: Der Volksliedforscher L. U. In: Bausinger (wie not. 1) 183⫺200; Thoma, A.: U.s Volksliederslg. Stg. 1929; Heiske, W.: L. U.s Volksliederslg. Lpz. 1929. ⫺ 25 Rölleke, H.: Justinus Kerner, L. U. und „Des Knaben Wunderhorn“. In: Schirmer, K.-H./Sowinski, B. (edd.): Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Köln/Wien 1972, 278⫺289. ⫺ 26 Schneider (wie not. 1) 109. ⫺ 27 Fröschle/Scheffler (wie not. 5) t. 1, 561; Kiel, E.: Leben und Singen im 20. Jh. Die Funktionalität traditioneller Musik in einem Beispiel aus dem Oberharz. In: Lied und populäre Kultur 46 (2001) 117⫺140, hier 134 sq. ⫺ 28 Aschenberg, R.: Pegasus im Joch ⫺ Bruchstücke aus U.s Werk und der Geschichte seiner Wirkung. In: Marbacher Magazin 42 (1987) 121⫺143. ⫺ 29 Langewiesche, D.: Vom Scheitern bürgerlicher Nationalhelden. L. U. und Friedrich Ludwig Jahn. In: Hist. Zs. 278 (2004) 375⫺397. ⫺ 30 Korff, G.: Namenswechsel als Paradigmenwechsel? In: Weigel,
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S./Erdle, B. R. (edd.): Fünfzig Jahre danach. Zürich 1996, 403⫺434, hier 410; cf. auch Wieser, M.: La Fortune d’U. en France. P. 1972. ⫺ 31 Holland u. a. (wie not. 4) t. 7, 613 sq. ⫺ 32 Graf, K.: Sagen der Schwäb. Alb. Leinfelden-Echterdingen 2008, 210 sq.
Neuß
Klaus Graf
Uiguren. Die U. sind die zahlenmäßig bedeutendste Bevölkerungsgruppe (2009: ca 8 Millionen) des Uigur. Autonomen Gebiets Sinkiang (Xinjiang) im Nordwesten J Chinas, in dem neben U. und Han-Chinesen mehrere ethnisch verschiedene, meist von der islam. Tradition geprägte Gruppen leben, darunter J Kasachen, J Kirgisen, J Usbeken, J Tataren, J Tadschiken und Hui (J Dunganen); uigur. Minderheiten gibt es in Kasachstan und Usbekistan. Die U. sind sunnit. Muslime und sprechen eine mit arab. Schrift geschriebene Turksprache; sie leben hauptsächlich in Oasenstädten und -dörfern rund um die Taklamakanwüste im Süden des Gebiets. Aufzeichnungen aus der uigur. Überlieferung haben eine lange Tradition. Bereits der uigur. Gelehrte Mahø mu¯d Ka¯sˇgarı¯ (1010⫺94) hat in sein Wb. der Turksprachen zahlreiche Sagen, Mythen, Reimdichtungen und Sprichwörter aufgenommen1. Im 13. Jh. verfaßte Rabg˙u¯zı¯ eine einflußreiche Slg von Heiligenlegenden2. Sagen, Mythen und andere Geschichten finden sich auch in den Werken von Mirza¯ Muhøammad H ø aidar (1499⫺1551), Molla¯ Mu¯sa¯ Sairamı¯ (1836⫺1917) und einer Reihe anderer uigur. Historiker3. Ende des 19. Jh.s wurden das nach den Protagonisten benannte epischromantische Gedicht Hörliqa Hämra4 und das Epos Yüsüp Ähmät5 aufgezeichnet. Wegweisend für die Sammlung und Veröffentlichung der uigur. Volksüberlieferung waren vor allem die Arbeiten von F. W. J Radloff, N. N. Pantusov, V. Katanov, S. I. Malov und Ch. Valihanov6. G. Jarring veröffentlichte zahlreiche uigur. Volkserzählungen, Sprichwörter und Rätsel7. Seit den 1920er Jahren wurden ferner Sammel-, Publ.s- und Forschungsarbeiten zur uigur. Volksüberlieferung in den damaligen Sowjetrepubliken Kasachstan und Usbekistan durchgeführt8. Seit Mitte des 20. Jh.s wird die mündl. Überlieferung der U. intensiv erforscht. 1950 wurde die Ges. für
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Volksliteratur und Volkskunst Chinas gegründet, und man begann landesweit, mündl. tradierte populäre Erzählungen zu sammeln. Bis Mitte der 1960er Jahre, d. h. bis zum Beginn der Kulturrevolution, wurden zahlreiche mündl. überlieferte Werke zusammengetragen und veröffentlicht. 1984 initiierten das chin. Kulturministerium, das Arbeitskomitee der Nationalitäten und die Ges. für Lit. und Kunst gemeinsam ein ganz China umspannendes Projekt, dessen Ziel die Publ. umfassender Slgen der Volksüberlieferung der Regionen bzw. Ethnien war. Das Projekt wird unter der Führung der 1980 gegründeten Vereinigung für Volksliteratur und Künstler von Xinjiang durchgeführt. Bis heute wurden etwa 300 Slgen von Texten uigur. Volkserzählungen veröffentlicht; darüber hinaus erschienen zahlreiche kleinere Publ.en in Zeitschriften. 2005 kam eine umfassende Anthologie uigur. Volkserzählungen heraus9. Zu den Forschern, die sich derzeit mit Erzählforschung befassen, gehören u. a. A. Sadiq10, R. Dawut, Ä. Sulayman und Y. Issaq. Systematische Überblicke bieten bes. die Arbeiten von A. Rakhman11 und O. I. Tarim12. Die uigur. Volksüberlieferung13 weist in thematischer und stilistischer Hinsicht zahlreiche Übereinstimmungen mit den Überlieferungen der anderen Turkvölker auf. Ihre Hauptgattungen sind Mythos (äpsanä), Sage (riwayät), Märchen (chöchäk), epische Erzählung (dastan), humorvolle didaktische Erzählung (lätipä) und Witz (chaqchaq). Von den alten Mythen der U. sind nur wenige mündl. übermittelt oder in hist. Werken bis heute erhalten14. Neben spezifisch uigur. Figuren erscheinen in den Mythen auch von anderen Turkvölkern verehrte Götter wie die Fruchtbarkeitsgöttin Umay oder die Himmelsgöttin Esma Päri. Uigur. Sagen behandeln wichtige Ereignisse der uigur. Geschichte, Erlebnisse berühmter hist. Persönlichkeiten, die Liebesabenteuer junger Männer und Frauen, die Herkunft der Namen von Orten, an denen U. leben, die Eigenschaften von Tieren, den Ursprung von Handwerksberufen und lokalen Erzeugnissen sowie die Entstehung von Nationen und Stämmen. Sagen über hist. Persönlichkeiten betreffen etwa Bökü Tekin, Qarakha¯n, Batur Tängriqut, Sultan Arsla¯nkha¯n und weitere uigur. Herrscher. Andere erzählen von legendären Helden
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oder berühmten Persönlichkeiten wie Mahø mu¯d Ka¯sˇgarı¯, dem Gelehrten al-Fa¯ra¯bı¯ (ca 870⫺950), dem vor allem als Dichter bekannten ¤Alı¯ Shı¯r Nawa¯Åi (1441⫺1501) oder der Dichterin Amanisakhan (1526⫺60). Als riwayät werden auch die uigur. Versionen der klassischen Liebesgeschichten der islam. Welt bezeichnet, so die von Pärhat und Shirin (Farha¯d und Sˇirı¯n)15 oder Läyli und Mäjnun (Laila¯ und Magˇnu¯n16). Die uigur. Märchen spiegeln das Leben der Menschen, ihre Hoffnungen und Träume wider17. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Welten ⫺ der menschlichen Gesellschaft, der Welt der Geister und der Tierwelt ⫺ agieren in ihnen Könige und Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen, kluge Mädchen, gescheite Bräute, weise Alte, Stiefmütter, Waisenmädchen, böswillige Ratgeber, habgierige und geizige Reiche, Gelegenheitsarbeiter, tapfere junge Männer und Menschen aller gesellschaftlichen Schichten. Zu den Figuren der niederen Mythologie gehören die feenähnliche Gestalt der pärizat (J Peri [Pari]), das verwandlungsfähige Ungeheuer yalmawuz18, der diwä (J Dev), die als ,Teigheld‘ (khemir batur) bezeichnete komische Figur (cf. AaTh/ATU 700: J Däumling) und andere mit magischen oder spirituellen Kräften begabte Personen; unter den zauberkräftigen Tieren sind bes. das Huhn, das Edelsteine legt (cf. AaTh/ATU 567: Das wunderbare J Vogelherz), und der Esel, der Gold scheißt (cf. AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich), zu erwähnen. Zu den magischen Gegenständen gehören Zaubersteine, fliegende Teppiche, hölzerne Pferde, magische Knüppel, Zaubertischtücher und ein Zauberspiegel, durch den die ganze Welt zu sehen ist. Die Gattung dastan wird internat. oft als Epos bezeichnet. Die U. beziehen den Terminus epos jedoch nur auf die epische Heldendichtung, während der Begriff dastan ein breites Spektrum von Themen umfaßt. Der dastan ist die umfangreichste Gattung der uigur. Volksüberlieferung. Die langen und ereignisreichen Werke sind in Prosa verfaßt, wobei eingeschobene Passagen in Versform bei der Performanz oft gesungen werden. Der dastan wird von Spezialisten (dastanchi, mäddah) vorgetragen, die musikalisch geschult sind und sich auf Saiteninstrumenten wie dem rawap begleiten. In stofflicher Hinsicht ist der dastan
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überaus vielfältig. Zahlreiche Themen gehen auf arab., pers. oder ind. Quellen zurück. Erzählungen uigur. Ursprungs beziehen sich auf das heroische ZA. der U., die Bauernaufstände späterer Zeiten oder hist. Ereignisse; auch Liebesgeschichten gehören zu dieser Kategorie. Zu nennen sind u. a. das im 15. Jh. verfaßte Oghuznamä (Buch der Oghusen) sowie die nach ihren Protagonisten benannten epischen Erzählungen Gör Oghli (J Körog˙lu), Chashtani Ilik Beg, Dädä Qorqut (J Dede Korkut Kitabi), Alip Är Tonga und Chin Tömür Batur. Der dastan hatte starken Einfluß auf die uigur. Lit.; viele Schriftsteller und Dichter haben Themen und Bilder aus den bei der Bevölkerung weitverbreiteten Erzählungen geschöpft. In den humorvollen didaktischen bzw. satirischen Erzählungen drücken sich gewisse Vorlieben der U. deutlicher als in allen anderen Gattungen aus. Zahlreiche lätipä werden über Näsridin Äpändi (J Hodscha Nasreddin) erzählt19. In der mündl. Überlieferung weit verbreitet sind ferner lätipä über den Grindkopf (taz; J Kahlkopf)20 sowie über hist. Gestalten wie Säläy Chaqqan (1816⫺1905) und Molla Zäydin (1815⫺80). Die modernen Informationsmedien, die seit Ende des 20. Jh.s auch bei den U. verbreitet sind, stellen die Fortdauer der traditionellen Volksüberlieferung grundlegend in Frage. Seit alters haben die dastan-Rezitatoren Schüler ausgebildet und ihr Repertoire an Erzählungen an diese weitergegeben; da die Erzähler aussterben, wird die Erhaltung ihrer Werke zunehmend schwierig. 1 al-Ka¯sˇγarı¯, M.: Compendium of the Turkic Dialects 1⫺3. ed. R. Dankoff/J. Kelly. Cambr./Mass. 1982⫺85; Qäshqäri, M.: Türki Tillar Diwani (Wb. der Turksprachen) 1⫺2. ed. I˙. Tursun u. a. Urumtschi 2008; cf. Hazai, G.: al-Ka¯shgarı¯. In: EI2 4 (1978) 699⫺701. ⫺ 2 Al-Rabghu¯zı¯: The Story of the Prophets 1⫺2. ed. H. E. Boeschoten u. a. Leiden/ N. Y./Köln 1995; Damme, M. van: Rabghu¯zı¯. In: EI2 8 (1995) 350. ⫺ 3 Mirza Muhammad Haidar: Tarixi Rashidi (Das Geschichtswerk des Rasˇ¯ıd). Urumtschi 2007; Molla Musa Sairami: Tarixi Hämidi (Das Geschichtswerk des H ø amı¯d). Peking 1986. ⫺ 4 cf. Light, N.: Intimate Heritage. Creating Uyghur Muqam Song in Xinjiang. B. u. a. 2008, 272⫺274. ⫺ 5 Yüsüp Ähmät dastani (Die Geschichte von Yüsüp Ähmät). Urumtschi 1982. ⫺ 6 Tarim, O. I.: Xälq eghiz ädäbiyati häqqidä omumi bayan (Allg. Einführung in
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die mündl. Volkslit.). Urumtschi 1998. ⫺ 7 Jarring, G.: Materials to the Knowledge of Eastern Turki. Tales, Poetry, Proverbs, Riddles, Ethnological and Historical Texts from the Southern Parts of Eastern Turkestan 1⫺4. Lund 1946/48/51/51; id.: Jewels of Uyghur Folk Literature. Peking 1997. ⫺ 8 Tarim (wie not. 6). ⫺ 9 Abid, A./Äbäy, A./Imin, Ä./Mühämmatruzi, Y. (edd.): Uyghur xälq eghiz ädäbiyati qamusi (Hb. der mündl. uigur. Volkslit.) 1⫺12. Peking 2005. ⫺ 10 Sadiq, A./Letip, T./Zunun, S.: Uyghur xälq chöchäkliri (Uigur. Volkserzählungen). Urumtschi s. a. ⫺ 11 Rakhman, A.: Uyghur xälq eghiz ädäbiyati asasliri (Grundlagen der mündl. Volkslit.). Urumtschi 1982; id.: Yipäk Yurtidiki äpsanä-rivayätlär (Sagen und Mythen aus dem Heimatland der Seide). Urumtschi 1985; id.: Uyghur folklori häqqidä bayan (Einführung in die uigur. Volksüberlieferung). Urumtschi 1989; id.: Folklor vä yazma ädäbiyat (Volksüberlieferung und schriftl. Lit.). Kaschgar 1989. ⫺ 12 Tarim (wie not. 6); id.: Uyghur xälq eghiz ädäbiyatidiki zhanirlar (Die Genres der uigur. mündl. Volkslit.). Urumtschi 1999; id.: Uyghur sehrigärlik chöchäkliri häqqidä tätqiqat (Studien zu uigur. Zaubermärchen). Urumtschi 2006. ⫺ 13 Rakhman, A.: Uyghur folklori häqqidä bayan (Einführung in die uigur. Volksüberlieferung). Urumtschi 1989. ⫺ 14 Isma’il, O.: Xälq eghiz ädäbiyati häqqidä omumi bayan (Allg. Einführung in die mündl. Volkslit.). Urumtschi 1998, 163 sq.; cf. allg. Gabain, A. von: Die alttürk. Lit. In: Philologiae Turcicae Fundamenta 2. ed. P. N. Boratav. Wiesbaden 1965, 211⫺ 243. ⫺ 15 cf. Duda, H. W.: Ferhad und Schirin. Die literar. Geschichte eines pers. Sagenstoffes. Prag 1933. ⫺ 16 cf. Levend, A. S.: Arap, Fars ve Türk edebiyatlarında „Leylaˆ ve Mecnun“ hikayesi (Die Erzählung von Leila¯ und Magˇnu¯n in der arab., pers. und türk. Lit.). Ankara 1959. ⫺ 17 Kabirov, M. N.: Ujgurskie skazki (Uigur. Märchen). Alma Ata 1963; Alieva, M.: Uyghur chöchäkliri (Uigur. Märchen). Alma Ata 1986; Kabirow, M. N./Schachmatow, B. F.: Die Stadt der tauben Ohren u. a. ujgur. Volksmärchen. B. 1957; Reichl, K.: Märchen aus Sinkiang. Überlieferungen der Turkvölker Chinas. MdW 1986, num. 1⫺25. ⫺ 18 I˙nayet, A.: Türk Dünyası Efsane ve Masallarında Bir Dev Tipi: Yalmavuz/ Celmog˘uz (Ein Dämonentyp in Erzählungen und Märchen der türk. Welt: Yalmavuz/Celmog˘uz). Izmir 2007. ⫺ 19 The Effendi and the Pregnant Pot. Übers. P. Gigliesi/R. C. Friend. Peking 1982; Näsirdin Äpändining lätipiliri (Schwänke von Nasreddin Apandi). Alma Ata 1965; Ujgurskie jumoreski (Uigur. humoristische Erzählungen). ed. M. Hamraev u. a. Alma Ata 1969, 93⫺102. ⫺ 20 Belle´r-Hann, I.: Hair-raising Stories. The Trickster in Uyghur Oral Tradition. In: Asian Anthropology 3 (2004) 13⫺38.
Urumtschi
Rahilä Dawut Helimgül Abliz
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Ukraine
Ukraine 1. Allgemeines ⫺ 2. Frühe Qu.n ⫺ 3. Sammeltätigkeit ⫺ 4. Forschungsgeschichte
1 . All ge me in es. Im nördl. Teil der heutigen U. bestand im 9.⫺12. Jh. die Kiewer Rus, ein ma. Großreich ostslav. Fürstentümer, das als Vorläufer der heutigen Nationalstaaten U., J Rußland und J Weißrußland angesehen wird. Den südl. Teil der heutigen U. kontrollierten Steppenvölker, am Schwarzen Meer befanden sich griech. (3.⫺4. Jh.; z. B. Feodosija/ Theodosia/Kaffa) und genues. (13.⫺15. Jh.) Kolonien. Im westl. Teil (heute Galizien und Wolhynien) erstarkte im 12. Jh. das Fürstentum Halitsch-Wolhynien, das nach dem Mongoleneinfall und der Eroberung Kiews Mitte des 13. Jh.s eine beherrschende Rolle einnahm. Im 14.⫺16. Jh. fielen Teile der heutigen U. an das Großfürstentum Litauen und Polen. Die Bezeichnung U. wurde erstmals in der Ipat’ever Chronik (1189) verwendet1 und setzte sich seit dem 17. Jh. gegenüber anderen Bezeichnungen zunehmend durch2. Davor wurden die Ukrainer als Ruthenen oder Kleinrussen bezeichnet. Für die Konstituierung eines ukr. nationalen Selbstbewußtseins spielte das Kosakentum, das sich in der 2. Hälfte des 15. Jh. herausbildete, eine zentrale Rolle. Unter B. Chmel’nyckyj erhoben sich die ukr. Kosaken gegen die poln. Herrschaft; mit der Unterzeichnung des Vertrags von Perejaslaw (1654) verbündete sich die U. mit Rußland und wurde in der Folge Teil des russ. Reichs. Die westl. Gebiete standen unter der Herrschaft Österreich-Ungarns; die Krim gehörte zum Osman. Reich (seit 1783 zu Rußland, seit 1954 zur U. ). 1918 erlangte die U. erstmals staatliche Unabhängigkeit, 1921 wurde sie größtenteils Sozialistische Sowjetrepublik, ein kleinerer Teil verblieb innerhalb des poln. und anderer Staatsgebiete. Seit 1991 ist die U. ein unabhängiger Staat. Laut einer Volkszählung von 2001 leben hier 77,8 % Ukrainer, 17,3 % Russen sowie Weißrussen, Polen, Ungarn, Rumänen, Tataren, Juden, Bulgaren, Griechen und Angehörige weiterer Nationalitäten. Die Staatssprache ist Ukrainisch, das Russische ist jedoch sehr verbreitet, in den Ballungsgebieten zudem weitere Sprachen. Die Ukrainer sind vorwiegend orthodoxe Christen.
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2 . Frü he Qu .n. Qu.n der Erzählüberlieferung sind die Chroniken, die seit der Einführung der Schriftsprache im Zuge der Christianisierung der Kiewer Rus (988) entstanden. Auf Märchen und Legenden früherer Epochen lassen Darlegungen christl. Autoren schließen, die sich mit vorchristl. Glaubensvorstellungen auseinandersetzten3. Die sog. Nestorchronik oder Povest’ vremennych let ([Erzählung von den Anfangsjahren] ca 1113)4 enthält mythol. Vorstellungen sowie Motive und Themen aus mündl. Überlieferung, u. a. Erzählungen von der Gründung Kiews sowie weitere legendenhafte Erzählungen, die mit geogr. Gegebenheiten ukr. Orte verbunden sind. Die HalitschWolhyn. Chronik (13. Jh.) repräsentiert bes. durch die Legende vom Evsˇan-Kraut (ca 1201) die Prosatradition5. Die mündl. Überlieferung ist einerseits im Kievo-pecˇerski paterik ([Paterikon des Kiewer Höhlenklosters] 13. Jh.)6, andererseits in Heiligenviten präsent7. Mit dem Mongoleneinfall geriet die Entwicklung des kulturellen Lebens ins Stocken, doch entstanden noch einige Balladen und hist. Lieder8. Sebastian Fabian Klonowicz, der bedeutende poln. Dichter des 16. Jh.s, griff in seinem Poem Roxolania (1584) auf ukr. mündl. Überlieferungen zurück. Charakteristisch für die ukr. Erzähltradition sind die Heldenepen (dumy), die erstmals Ende des 16. Jh.s erwähnt werden9. Sie greifen mythol. Vorstellungen und hist. Begebenheiten wie den Kampf der Ukrainer für die nationale Befreiung auf. Die Prosatradition des 17.⫺18. Jh.s manifestiert sich in Werken der ukr. Lit.10 und in den Chroniken des Samovydec’ (i.e. vermutlich Roman Rakusˇka-Romanovskij), Hryhorij Hrabjankas und Samijlo Velycˇkos, in den Predigten Antonij Radyvylovs’kyjs11, den polemischen Schriften Ivan Vysˇens’kyjs12 und Petro Mohylas13 sowie in Schuldramen, kurzen possenhaften Schauspielen und Schwänken14, die Verbindungen zur volkstümlichen Erzähltradition aufweisen. Zahlreiche Stoffe der populären Überlieferung stammen aus der religiösen Lit.; von orthodoxen Priestern waren Predigtmärlein aus westeurop. Exempelsammlungen wie dem Magnum speculum exemplorum (J Speculum exemplorum) und den J Gesta Romanorum übernommen worden. Mündl. Überlieferungen aus dieser Zeit scheinen lediglich in Inhaltswiedergaben in literar. Werken auf.
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Im 16.⫺17. Jh. wurden Chroniken in Altukrainisch, einer Schriftsprache, die auf dem Altkirchenslavischen basierte, und in Dialekten verfaßt. Die Entstehung einer neuen ukr. Lit.sprache nahm mit Ivan Kotljarevs’kyjs E˙neida ([Äneis] 1798) ihren Anfang; bestimmend für ihre weitere Entwicklung war Taras Sˇevcˇenkos Gedichtband Kobzar’ (1840). 3 . S am me lt ät ig ke it. Mit der Romantik wurden seit Anfang des 19. Jh.s ukr. Märchen (bajka; kazka: mündl. tradiertes Märchen) systematisch gesammelt15. Zunächst erfolgten die Aufzeichnungen überwiegend als Nacherzählungen, die z. T. auch in Versform publiziert wurden16. Die erste textgetreue Veröff. ukr. Erzählungen aus mündl. Überlieferung stammt von M. Kostomarov (1843)17; zeitgleich stellte A. Dymins’kyj eine umfangreiche hs. Slg der ukr. Überlieferung Podoliens zusammen18. Aufzeichnungen ukr. Erzählungen wurden oft von Sammlern anderer Nationalität vorgenommen. Aufgrund der fehlenden Standardisierung der ukr. Rechtschreibung erfolgten sie in poln. Sprache oder unter Benutzung der kyrill. oder der lat. Schrift19. A. N. J Afanas’evs Slg russ. Volksmärchen enthält ca 50 ukr. Volkserzählungen und ist damit eine der ersten bedeutenden ukr. Slgen. I. Rudcˇenkos Narodnye juzˇnorusskie skazki 1⫺2 ([Südruss. Volksmärchen]. Kiew 1869/70) ist die erste selbständige Slg ukr. Märchen. Bereits zuvor hatte P. Kulisˇ in seiner Slg Zapiski o Juzˇnoj Rusi ([Aufzeichnungen über Südrußland]. SPb. 1856/57) auch Informationen über Erzähler geliefert. In der 2. Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jh.s wurden die Slgen von M. P. ˇ ubyns’kyj21, V. M. J Drahomanov20, P. P. J C J Hnatjuk22 und O. Rozdol’s’kyj23, regionale Aufzeichnungen24, Sammelbände zum Repertoire einzelner Erzähler25 sowie die Slgen von B. D. J Hrincˇenko26, Ja. Novyckyj, D. I. J Javornyc’kyj und P. Martynovycˇ27 veröffentlicht. Zahlreiche Publ.en zu Volkserzählungen erschienen in ukr. (Kievskaja starina, Etnohraˇ itje i slovo), poln. (Zbio´r wiaficˇnyj zbirnyk, Z domodci do antropologii krajowej, Materyały antropologiczno-archeologiczne i etnograficzne) ˇ ivaja starina, Gubernsund russ. Periodika (Z kie vedomosti). Eine Slg ukr. erotischer Erzählungen kam in der Reihe J Krypta´dia heraus28.
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Im 20. Jh. war die Sammeltätigkeit hauptsächlich regional29 oder lokal orientiert30. Die Publ.en befaßten sich mit dem Repertoire einzelner Erzähler31, der Erzähltradition der Ukrainer in der Ostslovakei32, in Slavonien und Kroatien33, in Rumänien34 oder in Kanada (Ja. Rudnyc’kyj)35, aber auch der Überlieferung allg.36 Die Arbeiten wurden vielfach in der Reihe Ukraı¨ns’ka narodna tvorcˇist’ (Ukr. Volksdichtung) veröffentlicht37. 4 . For sc hu ng sg es ch ic ht e. Seit den 1820er Jahren, mit den Arbeiten N. A. J Certelevs und I. Sreznevskyjs, rückte die ukr. Erzählüberlieferung stärker ins Zentrum wiss. Untersuchungen. Die Forscher beschäftigten sich mit Gattungsproblemen und Problemen der Abgrenzung von Märchen aus der mündl. Überlieferung sowie literar. Bearb.en. Unters.en aus dem 19. Jh. standen im Kontext der J mythol. (Kostomarov38, O. Kotljarevskyj) und der linguistischen Schule (O. Potebnja39), der J philol. Methode und der J Wandertheorie (Drahomanov, M. Sumcov)40. Z. T. befaßten sie sich mit einzelnen Erzähltypen (AaTh/ATU 461: Drei J Haare vom Bart des Teufels41, AaTh/ATU 1360 C: Der alte J Hildebrand 42, AaTh/ATU 1406: J Wette der Frauen, wer den Mann am besten narrt 43, AaTh/ATU 1200⫺1349: Numskull Stories oder AaTh/ATU 1675⫺1724: The Stupid Man44). Zu Fragen der Klassifizierung von Prosatexten, bes. von Märchen, arbeiteten vor allem Drahomanov und I. J. J Franko. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s beschrieb N. P. J Andreev45 die ukr. Erzähltypen nach dem System von A. J Aarne und legte damit die Grundlage für das vergleichende Typenverzeichnis der ostslav. Märchen (SUS). Den für die ostslav. Folkloristik am Beginn des 20. Jh.s charakteristischen formalistischen Ansatz vertrat R. Volkov46. Die neuere ukr. Erzählforschung hat sich vor allem mit Gattungsproblemen (I. Berezovs’kyj, I. Chlanta, V. Juzvenko)47 sowie der Poetik mündl. Überlieferung48 und bes. des Märchens (L. Dunajevs’ka, O. Bricyna)49, ferner mit regionalen Traditionen von Märchen50, der Persönlichkeit des Erzählers sowie der J Performanz51 beschäftigt. Mythologische Frühformen untersuchte V. Davydjuk52. Auch Genres
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Ukraine
wie die humoristische Erzählung wurden bearbeitet53. Zur Sammel- und Forschungsgeschichte ukr. Märchen liegen ältere54 und eine Reihe neuerer Arbeiten vor55. 1
The Galician-Volynian Chronicle. ed. G. A. Perfecky. Mü. 1973. ⫺ 2 cf. Description d’Ukraine, qui sont plusieurs provinces du Royaume de Pologne, contenue¨s depuis les confins de la Moscovie jusques aux limites de la Transilvanie. ed. G. Le Vasseur Beauplan. Rouen 1650. ⫺ 3 Savcˇenko, S. V.: Russkaja narodnaja skazka (istorija sobiranija i izucˇenija) (Das russ. Volksmärchen [Geschichte der Sammlung und Erforschung]). Kiew 1914, 36; Hrusˇevs’kyj, M.: Istorija ukraı¨ns’koı¨ literatury 1. Kiew 1993, 332. ⫺ 4 Mysˇanycˇ, O. V./Machnovec’, L. Je. (ed.): Litopys rus’kyj. Za Ipats’kym spyskom (Die russ. Chronik. Nach der Ipat’ev-Hs.). Kiew 1989; Trautmann, R. (ed.): Die altruss. Nestorchronik. Lpz. 1931; Müller, L. (ed.): Die Nestorchronik. Die altruss. Chronik […] rekonstruiert nach den Hss. Lavrent’evskaja, Radzivilovskaja, Akademicˇeskaja, Troickaja, Ipat’evskaja und Chlebnikovskaja […]. Mü. 2001. ⫺ 5 Perfecky (wie not. 1). ⫺ 6 Abramovicˇ, D.: Kijevo-Pecˇers’kyj pateryk (Das Paterikon des Kiewer Höhlenklosters). Kiew 1931 (Nachdr. 1991) (dt.: Das Paterikon des Kiever Höhlenklosters. ed. D. I. Tschizˇewskij. Mü. 1964); cf. auch Goetz, L. K.: Das Kiever Höhlenkloster als Kulturzentrum des vormongol. Rußlands. Passau 1904. ⫺ 7 cf. auch EM 11, 929⫺931. ⫺ 8 Ioanidi, A. L.: Legendy ta perekazy (Legenden und Erzählungen). Kiew 1985, 202 sq. ⫺ 9 Sarnicki, S.: Annales. Sive de origine et gestis Polonorum et Lituanorum libri octo. Krakau 1587. ⫺ 10 Krekoten’, V. I.: Bajky v ukraı¨ns’kij literaturi XVII⫺XVIII st. (Die Bajkas in der ukr. Lit. des 17. bis 18. Jh.s). Kiew 1963; Hrycaj, M. S.: Davnja ukraı¨ns’ka proza. Rol’ fol’kloru u formuvanni obraznoho myslennja ukraı¨ns’kych prozaı¨kiv XVI ⫺ pocˇatku XVIII st. (Die ältere ukr. Prosa. Die Rolle der Folklore bei der Entwicklung des bildhaften Denkens ukr. Prosaschriftsteller vom 16. bis zum Anfang des 18. Jh.s). Kiew 1975; Mysˇanycˇ, O. V.: Ukraı¨ns’ka literatura druhoı¨ polovyny XVIII st. i usna narodna tvorcˇist’ (Die ukr. Lit. in der 2. Hälfte des 18. Jh.s und die mündl. Volksdichtung). Kiew 1980. ⫺ 11 Krekoten’, V. I.: Opovidannja Antonija Radyvylovs’koho. Z istoriı¨ ukraı¨ns’koı¨ novelistyky XVII st. (Erzählungen von Antonij Radyvylovs’kyj. Aus der Geschichte der ukr. Novellistik des 17. Jh.s). Kiew 1983. ⫺ 12 Franko, I.: Vysˇens’kyj i jeho tvory (Vysˇens’kyj und seine Werke). Lemberg 1895. ⫺ 13 Mogila, P.: Sobstvennorucˇnye zapiski (Eigenhändige Aufzeichnungen). 1: Skazanija Petra Mogily o cˇudesnych i zamecˇatel’nych javlenijach v Cerkvi Pravoslavnoj (Juzˇno-Russkoj, Moldo-Vlachijskoj i Grecˇeskoj) (Erzählungen Petr Mogilas über wunderbare und bemerkenswerte Erscheinungen in der orthodo-
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xen Kirche [südruss., moldau-walach. und griech.]) 7. Kiew 1887, 49⫺132 (⫽ SUS 846 A*); cf. Ivannykova, L.: Lehendy ta perekazy kincja XVI ⫺ pocˇatku XVII st. v zapysach Petra Mohyly (Legenden und Erzählungen von Ende des 16. bis Anfang des 17. Jh.s in den Aufzeichnungen Petro Mohylas). In: Narodna tvorcˇist’ ta etnohrafija (2008) H. 1, 69⫺ 75. ⫺ 14 Hrycaj, M. S.: Ukraı¨ns’ka literatura XVI⫺ XVIII st. i fol’klor (Die ukr. Lit. des 16.⫺18. Jh.s und die Volksüberlieferung). Kiew 1969, 46⫺75. ⫺ 15 Bibliogr. cf. Andrijevs’kyj, O.: Bibliohrafija literatury z ukraı¨ns’koho fol’kloru (Bibliogr. der Lit. zur ukr. Folklore) 1. Kiew 1930; Klymasz, R. B.: A Bibliogr. of Ukrainian Folklore in Canada, 1902⫺64. Ottawa 1968; Moroz, M.: Bibliohrafija ukraı¨ns’koho narodnoznavstva (Bibliogr. der ukr. Vk.) 1⫺3. Lwiw 1999. ⫺ 16 Matyrynka, I. [i.e. O. Bodjans’kyj]: Nas’ky ukrains’ky kazky (Unsere ukr. Märchen). M. 1835. ⫺ 17 Beckij, I. (ed.): Molodyk. Ukrainskij literaturnyj sbornik (Der Junggeselle. Slg ukr. Lit.) 2. Charkow 1843, 129⫺137. ⫺ 18 Levcˇenko, M.: Kazky ta opovidannja z Podillja. V zapisach 1850⫺1860 rr. (Märchen und Erzählungen aus Podolien. In Aufzeichnungen der 1850⫺1860er Jahre) 1⫺2. Kiew 1928. ⫺ 19 Izopolski, E.: Badania podan´ ludu (Unters. der Volkssagen). In: Athenaeum (1843) H. 1, 19⫺30; (1843) H. 4, 65⫺76; (1843) H. 5, 39⫺75; Wo´jcicki, K.: Klechdy. Staroz˙ytne podania i powies´ci ludowe (Sagen. Alte Volkssagen und -erzählungen) 1⫺2. W. 21851. ⫺ 20 Dragomanov, M.: Malorusskie narodnye predanija i rasskazy (Kleinruss. Volkssagen und -erzählungen). Kiew 1876. ⫺ 21 ˇ Cubinskij, P. P.: Trudy e˙tnograficˇesko-statisticˇeskoj e˙kspedicii v Zapadno-Russkij kraj, snarjazˇennoj Russkim geograficˇeskim obsˇcˇestvom (Arbeiten der ethnogr.-statistischen Expedition in der westruss. Region im Auftrag der Russ. Geogr. Ges.) 2. SPb. 1878. ⫺ 22 Hnatjuk, V.: Halyc’ko-rus’ki anekdoty (Galiz.-russ. humoristische Erzählungen). Lemberg 1899; id.: Halyc’ko-rus’ki narodni lehendy (Galiz.russ. Volkslegenden) 1⫺2. Lemberg 1902; id.: Ukraı¨ns’ki narodni bajky (Zvirynyj epos) (Ukr. Volksmärchen [Tierepos]) 1⫺2. Lemberg 1916; id.: Narodni novely (Volkserzählungen). Lemberg 1917. ⫺ 23 Rozdol’s’kyj, O.: Halyc’ki narodni kazky (Galiz. Volksmärchen) 1⫺2. Lemberg 1895/99; id.: Halyc’ki narodni novely (Galiz. Volkserzählungen). Lemberg 1900. ⫺ 24 Grincˇenko, B. D.: E˙tnograficˇesˇ ernigovskoj i sosednich kie materialy, sobrannye v C s nej gubernijach. 1⫺2: Rasskazy, skazki, predanija, poslovicy, zagadki i pr. (Ethnogr. Materialien aus Tschernigow und den benachbarten Gouvernements. 1⫺2: Erzählungen, Märchen, Sagen, Sprichwörter, Rätsel u. a.). Tschernigow 1895/97; Gnedicˇ, P. A.: Materialy po narodnoj slovesnosti Poltavskoj gubernii. Romenskij uezd. 4: Skazki, legendy, rasskazy (Materialien zur Volksdichtung im Gouvernement Poltawa. Gebiet Romny. 4: Märchen, Legenden, Erzählungen). Poltawa 1915; Kolberg, O.: Pokucie. Obraz etnograficzny (Das Pokuttja-Gebiet. Ethnogr. Bild) 4. Krakau 1889; id.: Przemyskie. Zarys etno-
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Ukraine
graficzny (Der Przemys´ler Kreis. Ethnogr. Profil). Krakau 1891, 199⫺231; id.: Chełmskie. Obraz etnograficzny (Der Chełmer Kreis. Ethnogr. Bild). Krakau 1891; Javorskij, Ju. A.: Pamjatniki galicko-russkoj narodnoj slovesnosti (Denkmäler galiz.-russ. Volksdichtung). Kiew 1915; Kravcˇenko, V. G.: Trudy obcˇsˇestva issledovatelej Volyni 5 (Arbeiten der Ges. der Forscher Wolhyniens). Zˇitomir 1911; ibid. t. 12 (1914) (Wolhynien und benachbarte Gebiete); Myloradovycˇ, V. P.: Kazky i opovidannja, zapysani v Lubensˇcˇyni (Märchen und Erzählungen aus der Lubensˇcˇyna). Poltawa 1913. ⫺ 25 Lesevycˇ, V.: Opoviˇ mychala (Die Legenden R. F. C ˇ mydannja R. F. C chalos). Lemberg 1904. ⫺ 26 Grincˇenko, B. D.: Iz ust naroda. Malorusskie rasskazy, skazki i pr. (Aus dem Mund des Volkes. Kleinruss. Erzählungen, Märchen u. a.) Tschernigow 1900. ⫺ 27 Martynovycˇ, P.: Ukraı¨ns’ki zapysy (Ukr. Aufzeichnungen). Kiew 1906. ⫺ 28 Krypta´dia 5 (1898) 1⫺182; 8 (1902) 303⫺398. ⫺ 29 Ivasjuk, M. H.: Kazky Bukovyny (Märchen aus der Bukowina). Uschgorod 1973; Pusˇyk, S. H.: Kazky Pidhir’ja (Märchen aus Pidhir’je). Uschgorod 1976; Medvedyk, P.: Kazki Zachidnoho Podill’ja (Märchen aus Westpodolien). Ternopil 1994. ⫺ 30 Lintur, P. V./Turjanycja, Ju. D.: Kazky odnoho sela (Die Märchen eines Dorfes). Uschgorod 1979; Bricyna, O./Holovacha, I.: Prosovyj fol’klor sela ˇ ernihivsˇcˇyni (Die Prosaüberlieferung des Ploske na C Dorfes Ploske bei Tschernigow). Kiew 2004. ⫺ 31 Lintur, P. V.: Zakarpats’ki kazky Andrija Kalyna (Die transkarpat. Märchen von Andrij Kalyn). Uschgorod 1959; Halycja, M.: Kazky zelenych hir. Zakarpats’ki kazky (Die Märchen der grünen Berge. ˇ enTranskarpat. Märchen). ed. P. V. Lintur/I. M. C dej. Uschgorod 1965; Korolovycˇ, V.: Try zoloti slova. Zakarpats’ki kazky (Drei goldene Worte. Transkarpat. Märchen). ed. P. V. Lintur. Uschgorod 1968; Pusˇyk, S. H.: Zolota vezˇa. Ukraı¨ns’ki narodni kazky, lehendy, prytcˇi, perekazy, zahadky ta prypovidky (Der goldene Turm. Ukr. Volksmärchen, Legenden, Parabeln, Sagen, Rätsel und Sprichwörter). Uschgorod 1983; Sen’ko, I. M./Lintur, P. V.: Zacˇarovani kazkoju. Ukraı¨ns’ki narodni kazky (Durch das Märchen verzaubert. Ukr. Volksmärchen). ˇ arivna Uschgorod 1984; Sˇopljak-Kozak, M.: C torba. Ukraı¨ns’ki narodni kazky, prytcˇi, lehendy, perekazy, pisni ta prysliv’ja (Der Zauberbeutel. Ukr. Volksmärchen, Parabeln, Legenden, Lieder und Sprichwörter). ed. I. M. und V. M. Sen’ko. Uschgorod 1988; Chlanta, I. V.: Dobra nauka. Ukraı¨ns’ki narodni kazky, zapysani vid D. I. Juryka (Die gute Wiss. Ukr. Volksmärchen, aufgezeichnet von D. I. Juryk). Uschgorod 1995. ⫺ 32 Hyrjak, M.: Ukraı¨ns’ki narodni kazky Schidnoı¨ Slovacˇcˇyny (Ukr. Volksmärchen der Ostslovakei) 1⫺7. Presˇov 1965⫺79; Musˇynka, M.: Z hlybyny vikiv. Antolohija usnoı¨ narodnoı¨ tvorcˇosti ukraı¨nciv Schidnoı¨ Slovacˇcˇyny (Aus der Tiefe der Jh.e. Anthologie mündl. Volksdichtung der Ukrainer aus der Ostslovakei). Bratislava 1967; Sˇmajda, M.: Z narodnoj pa’mjati (Aus der Erinnerung des Volkes). Presˇov 1969. ⫺ 33 Mykytiuk, B.:
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Ukr. Märchen. MdW 1979, num. 10, 18, 24, 32, 35, 38, 44, 50, 57. ⫺ 34 Rebosˇapka, I.: Olens’kyj cvit. Zbirka ukraı¨ns’koı¨ opovidal’noı¨ tvorcˇosti z Rumuniı¨ (Die Oleanderblüte. Slg ukr. Erzählkunst aus Rumänien). Buk. 1978. ⫺ 35 Rudnyc’kyj, Ja.: Materialy do ukraı¨ns’ko-kanadijs’koj fol’klorystyky ta dijalektologii (Materialien zur ukr.-kanad. Folkloristik und Dialektologie). Winnipeg 1956. ⫺ 36 Suchobrus, H./ Juzvenko, V. (edd.): Ukraı¨ns’ki narodny kazky, lehendy, anekdoty (Ukr. Volksmärchen, Legenden, humoristische Erzählungen). Kiew 1957. ⫺ 37 Berezovs’kyj, I. P.: Pryncypy vydannja kazkovoho eposu v bahatotomnij seriı¨ ,Ukraı¨ns’ka narodna tvorcˇist’‘ (Die Prinzipien der Ausg. des Märchenepos in der mehrbändigen Reihe ,Ukr. Volksdichtung‘). In: IX Mizˇnarodnyj z’ı¨zd slavistiv. Istorija, kul’tura, fol’klor ta etnohrafija slov’jans’kych narodiv. Kiew 1983, 281⫺294; cf. z. B. id.: Kazky pro tvaryn (Tiermärchen). Kiew 1976. ⫺ 38 Kostomarov, N. I.: Slavjanskaja mifologija. Izvlecˇenie iz lekcij, cˇitannych v universitete Sv. Vladimira vo vtoroj polovine 1846 g. (Slav. Mythologie. Auszug aus Vorlesungen der 2. Hälfte des Jahres 1846 in der Hl. Vladimir-Univ.). Kiew 1847. ⫺ 39 Potebnja, A. A.: O mifologicˇeskom znacˇenii nekotorych obrjadov i poverij (Über die mythol. Bedeutung einiger Riten und Volksglauˇ tenja v Obsˇcˇestve istorii i bensvorstellungen). In: C drevnostej rossijskich pri Moskovskom universitete 3 (1865) 85⫺232, hier 85⫺310; id.: O Dole i srodnych s neju susˇcˇestvach (Über Dolja und mit ihr verwandte Wesen). In: Drevnosti 1,2. M. 1867, 153⫺ 196. ⫺ 40 Drahomanov, M.: Rozvidky pro ukraı¨ns’ku narodnju slovesnist’ ta pys’menstvo (Abhdlgen zur ukr. Volkslit. und zum ukr. Schrifttum) 1⫺4. Lemberg 1899⫺1907; Sumcov, N. F.: Skazki i legendy o Marke Bogatom (Märchen und Legenden über Markus den Reichen). M. 1894. ⫺ 41 ibid. ⫺ 42 id.: Pesni o goste Terentii i rodstvennye im skazki (Lieder über den Gast Terentij und verwandte Märchen). M. 1892. ⫺ 43 id.: Pesni i skazki o zˇivom mertvece (Lieder und Märchen vom lebenden Toten). In: Kievskaja starina 3 (1894) 440⫺458. ⫺ 44 Sumcov, N. F.: Razyskanija v oblasti anekdoticˇeskoj literatury. Anekdoty o glupcach (Unters.en auf dem Gebiet der anekdotischen Lit. Dummenschwänke). Charkow 1898. ⫺ 45 Andreev, N. P.: K charakteristike ukrainskogo skazocˇnogo materiala (Zur Charakteristik des ukr. Märchenmaterials). In: Sergeju Fedorovicˇu Ol’denburgu k pjatidesjatiletiju naucˇno-obsˇcˇestvennoj dejatel’nosti 1882⫺1932 [Festschr. S. F. Ol’denburg]. Len. 1934, 61⫺72; cf. auch Andrejev, N. P.: A Characterization of the Ukrainian Tale-Corpus. In: Fabula 1 (1958) 228⫺ 238. ⫺ 46 cf. Volkov, R. M.: Skazka. Razyskanija po sjuzˇetoslozˇeniju narodnoj skazki (Das Märchen. Abhdlg über die Typenzusammensetzung des Volksmärchens). Odessa 1924. ⫺ 47 Berezovs’kyj, I. P.: Ukra¨ıns’ki kazky i schidnoslov’jans’ka narodna opovidal’na tradycija (Ukr. Märchen und die ostslav. Volkserzähltradition). In: Narodna tvorcˇist’ ta etnohrafija (1974) H. 5, 36⫺43; Chlanta, I. V.: Pryn-
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Ulster-Zyklus
cypy klasyfikaciı¨ j naukovoho vydannja social’nopobutovych kazok (Prinzipien der Klassifizierung und wiss. Ausg. von Sozial- und Alltagsmärchen). In: Narodna tvorcˇist’ ta etnohrafija (1975) H. 5, 54⫺ 63; Juzvenko, V. A.: Fantastycˇni kazky v systemi zˇanriv fol’kloru (Phantastische Märchen im Gattungssystem der Volksüberlieferung). In: Slov’jans’ke literaturoznavstvo i fol’klorystyka 10 (1975) 76⫺82. ⫺ 48 Mysˇanycˇ, S. V.: Usni narodni opovidannja. Pytannja poetyky (Mündl. Volkserzählungen. Fragen der Poetik). Kiew 1986; Davydjuk, V. F.: Ukraı¨ns’ka mifolohicˇna lehenda (Die ukr. mythol. Legende). Lwiw 1992; Dunajevs’ka, L. F.: Ukraı¨ns’ka narodna proza (lehenda, kazka). Evoljucija epicˇnyh tradycij (Die ukr. Volksprosa [Legende, Märchen]. Evolution epischer Traditionen). Kiew 1997; Sokil, V: Ukraı¨ns’ki istoryko-heroı¨cˇny perekazy. Strukturno-semantycˇnyj ta poetycˇnyj aspekty (Ukr. hist.-heroische Erzählungen. Struktursemantische und poetische Aspekte). Lwiw 2003. ⫺ 49 Dunajevs’ka, L. F.: Ukraı¨ns’ka narodna kazka (Das ukr. Volksmärchen). Kiew 1987; Bricyna, O. Ju.: Ukra¨ıns’ka narodna social’no-pobytova kazka (specyfika ta funkcionuvannja) (Ukr. Sozial- und Alltagsvolksmärchen [Spezifik und Funktion]). Kiew 1989. ⫺ 50 Hyrjak, M.: Ukraı¨ns’ki narodni kazky Schidnoı¨ Slovacˇcˇyny (Ukr. Volksmärchen der Ostslovakei). Bratislava 1983. ⫺ 51 Holovacha-Chiks, I. Je.: Opovidacˇ ta dynamika usnoı¨ prozovoı¨ tradyciı¨ (Der Erzähler und die Dynamik der mündl. Prosatradition). Diss. Kiew 1997; Bricyna/Holovacha (wie not. 30); Bricyna, O. Ju: Ukraı¨ns’ka usna tradycijna proza. Pytannja tekstolohiı¨ ta vykonavstva (Die ukr. mündl. traditionelle Prosa. Fragen der Textologie und der Performanz). Kiew 2006. ⫺ 52 Davydjuk, V. F.: Pervisna mifologija v ukraı¨ns’komu fol’klori (Primitive Mythologie in der ukr. Volksüberlieferung). Luzk 1997. ⫺ 53 Kimakovycˇ, I. I.: Tradycijnyj anekdot u konteksti smichovych javysˇcˇ ukraı¨ns’koı¨ kul’tury (Die traditionelle humoristische Erzählung im Kontext komischer Phänomene der ukr. Kultur). Diss. Kiew 1996. ⫺ 54 Savcˇenko (wie not. 3) bes. 176⫺220; cf. auch Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1981, 691⫺743. ⫺ 55 Berezovs’kij, I. P.: Ukraı¨ns’ka radjans’ka fol’klorystyka (Die ukr.-sowjet. Folkloristik). Kiew 1968; Dmytrenko, M.: Ukraı¨ns’ka fol’klorystyka druhoı¨ polovyny XIX stolittja (Die ukr. Folkloristik der 2. Hälfte des 19. Jh.s). Kiew 2004; Bricyna (wie not. 51) 58⫺145.
Kiew
Oleksandra Bricyna
Ulster-Zyklus. Der U. ist neben dem mythol. Zyklus, den Geschichten über die Tuatha De´ Danann (das Volk der Göttin Danu), dem J Finnzyklus und dem Zyklus mit Sagen über die altir. Könige1 einer der vier Zweige der tra-
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ditionellen ir. Erzählüberlieferung (J Irland)2. Er umfaßt eine Reihe von Erzählungen, die die Verbindung des Namens Ulster mit dem mächtigen Stamm der Ulaid erklären, der in prähist. Zeit im Norden Irlands lebte. Sein Gebiet befand sich im Osten der hist. Provinz Ulster und im Norden der Provinz Leinster, das Zentrum der Macht in Emain Macha (heute Fort Navan bei Armagh). Der U. erzählt vom ständigen Konflikt zwischen den Ulaid und den Leuten aus dem westir. Connaught3. Seine zentralen Gestalten sind Krieger voll Tapferkeit, Unbeugsamkeit und Leidensfähigkeit. In dieser Welt der Helden spielt nicht in erster Linie Klugheit, sondern Willenskraft und Furchtlosigkeit die entscheidende Rolle4. Die zentrale Figur des U. ist der Held J Cu´ Chulainn. Einige der wichtigsten Sagen des Zyklus sind die folgenden: ´ ne´t Emire (Cu´ ChuIn Serglige con Culainn agus O lainns Krankenlager und Emers Eifersucht)5 will Cu´ Chulainn für seine Frau Emer zwei schöne Vögel fangen. Diese sind mit einer goldenen Kette verbunden und singen ein zauberisches Schlaflied. Cu´ Chulainn schläft ein und träumt von zwei Frauen, die ihn so heftig schlagen, daß er seine Stärke verliert und von einer Krankheit verzehrt wird. Danach liegt er fast ein Jahr lang darnieder, bis ihn ein Jenseitiger, Angus, auffordert, die schöne Fand zu besuchen, die sich nach ihm sehnt. Im folgenden rivalisieren Emer und Fand um Cu´ Chulainn, bis Fands Ehemann Mananna´n mac Lir zurückkehrt und seine Frau mitnimmt. Die Druiden löschen Cu´ Chulainns und Emers Erinnerung mit einem Vergessenheitstrunk aus. Sce´la Mucce meic Datho´ (Das Schwein des Mac Datho´)6 erzählt von der Rivalität zwischen dem Königspaar von Connaught, Ailill und Maeve, und Conchubhar von Ulster, in der beide Parteien Ailbe, den großen Hund von Mac Datho´, dem König von Leinster, erwerben wollen. Bei einem Fest, zu dem Mac Datho´ einlädt, entbrennt ein Wettstreit darum, wer das zum Mahl geschlachtete Schwein zerlegen soll. Das Motiv des Wettstreits der Krieger um den sog. Heldenbissen findet sich auch in Fled Bricrenn (Das Gastmahl des Bricriu)7. Hier lädt Bricriu (⫽ Giftzunge), ein ständiger Unruhestifter, die Edlen von Ulster zu einem Gastmahl ein und stachelt dann die Helden Cu´ Chulainn, Conall Cernach und Loegaire Bu´adach zur Konkurrenz um den Heldenbissen auf. Cu´ Chulainn wird schließlich zum Sieger erklärt. In Mesca Ulad (Die Trunkenheit der Ulster)8 entschließen sich die Krieger von Ulster, die eine Einladung zu zwei Festen erhalten haben, beide zu besuchen, verirren sich aber auf dem Weg zum zweiten
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Ulster-Zyklus
Fest, das in Munster bei ihren traditionellen Feinden stattfindet. Als sie schließlich dort ankommen, werden sie zunächst willkommen geheißen. Ihre Feinde halten allerdings eine Falle für sie bereit: ein eisernes Haus in hölzernen Wänden, unter dem Brennholz angezündet wird. Die Gäste können jedoch entkommen. Longes mac nUislenn (Das Exil der Söhne des Uisneach)9 wird als kelt. Quelle von J Tristan und Isolde betrachtet und stellt möglicherweise den wichtigsten Beitr. der Kelten zur Weltliteratur dar10. Vor der Geburt der Deirdre prophezeit der Druide Cathbad, daß sie Unheil über die Männer von Ulster bringen werde. Conchubhar, der König von Ulster, der Deirdre später heiraten möchte, läßt sie an einem abgeschiedenen Ort aufziehen. Sie verliebt sich (durch Fernliebe) jedoch in Noisi, einen der Söhne des Uisneach. Um dem Zorn des Königs von Ulster zu entgehen, suchen die Söhne des Uisneach nach langem Umherziehen in Irland und Schottland und nach vielen Kämpfen zuletzt auf einer Insel Zuflucht, werden aber von Bürgen dazu gebracht, nach Emain Macha zurückzukehren, wo sie abgeschlachtet werden. Deirdre lebt noch ein freudloses Jahr lang, doch als sich die Gelegenheit ergibt, begeht sie Selbstmord, indem sie ihren Kopf an einem Felsen zerschmettert. In der Haupterzählung Ta´in Bo´ Cuailgne (Der Raub der Rinder von Cooley)11 drehen sich die Rivalitäten im wesentlichen um zwei Stiere. Der eine (Finnbhennach) gehört Ailill, dem Mann der Königin Maeve von Connaught, der andere (Donn Cuailgne) wird in Ulster gehalten. Maeve, die unbedingt den Stier aus Ulster haben will, bietet in Connaught ein großes Heer auf, dem sich der Knabenkrieger Cu´ Chulainn allein entgegenstellt, denn die anderen Krieger in Ulster sind von einer Schlafkrankheit geschlagen.
Der U. ist in alt- und mittelir. Sprache abgefaßt. Die altir. Version des Ta´in Bo´ Cuailgne besteht vermutlich aus zwei unabhängig voneinander im frühen 9. bzw. 11. Jh. niedergeschriebenen Texten, die später zusammengefügt wurden12. Zu den wichtigsten Merkmalen des Ta´in Bo´ Cuailgne gehören seine topographischen Angaben13. Gleichzeitig spielen Ortsnamen und ihre oft phantasievollen Bedeutungen und Ursprünge eine bemerkenswerte Rolle14. Viele Begebenheiten in den Geschichten des U. enden mit der Namengebung für ein spezielles Naturmerkmal. So wird im Ta´in Bo´ Cuailgne eine Reihe von Ortsnamen mit der letzten Reise des tödlich verwundeten Stiers Donn Cuailgne in Zusammenhang gebracht. Allg. sind topographische Angaben ein markanter Zug der ir. Lit., bes. in ihrer Frühzeit und im MA.
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Das Leben der Helden der Geschichten wird gewöhnlich auf das 1. Jh. a. Chr. n. datiert. Der U. schildert eine Welt, die archaischer ist als die jeder anderen volkssprachlichen Lit. in Westeuropa und älter als die des J Nibelungenlieds. Das dargestellte Leben ist heidnisch, und die Geschichten sind in ihrer Form primitiver als die ma. isl. Sagas oder frz. Versromane15. Zur Archäologie der Geschichten liegen zahlreiche wiss. Beiträge vor16. Kontrovers diskutiert wird, inwieweit der U. hist. Ereignisse widerspiegelt. Es herrscht überwiegend Übereinstimmung darüber, daß die Erzählungen Reminiszenzen an den Krieg enthalten, der zum Fall des Königreichs der Ulaid und zur Zerstörung seines Machtzentrums in Emain Macha führte17. Während im 19. und frühen 20. Jh. viele Forscher glaubten, daß in den Gestalten des U. hist. Personen dargestellt seien18, betrachteten andere die Erzählungen des U. eher als Produkte der Phantasie19. Neuere Forscher halten eine hist. Grundlage der Erzählungen für nicht sehr wahrscheinlich20. Die Gestalten des U. sind bis heute ein bedeutender Teil der ir. Tradition. Davon zeugt etwa Oliver Sheppards Bronzestatue Der Tod des Cu´ Chulainn in Dublin, 1935 zur Erinnerung an den Osteraufstand (1916) und die ir. Unabhängigkeitsbestrebungen geschaffen21, die zu einer Ikone der ir. Freiheit wurde. In Nordirland bildet Cu´ Chulainn ein klassisches Beispiel für den Streit über Besitzansprüche an einem Symbol22: Während ir. Nationalisten ihn als kelt. Helden für sich beanspruchen, wird er in ulsterschott. Kontext einem mit den Cruthin identifizierten Stamm zugeordnet23. Allerdings hat Cu´ Chulainn als einziger Held des U. keine Nachkommen hinterlassen und kann damit nicht als Vorfahr einer zeitgenössischen Bevölkerungsgruppe geltend gemacht werden24. Der U. befruchtete jahrhundertelang die ir. Lit.25 und inspirierte zur Zeit der gäl. Wiedergeburt um die Wende zum 20. Jh. viele national gesinnte ir. Schriftsteller. Standish Hayes O’Grady veröffentlichte 1898 eine Kurzfassung26, Lady Augusta Gregory verarbeitete die Sagen in ihrem Cu´ Chulainn-Buch27, und William Butler J Yeats verwendete sie als Grundlage für eine Reihe von Bühnenstücken, so Deirdre (1907), The Only Jealousy of Emer (1919) und The Death of Cuchulain (1939).
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Umkehrung
1 Dillon, M.: Irish Sagas. Cork 1968, 10. ⫺ 2 Thurneysen, R.: Die ir. Helden- und Königssage bis zum 17. Jh. Halle 1921; Rees, A. D. und B. R.: Celtic Heritage. Ancient Tradition in Ireland and Wales. N. Y. 1961, 26; Baumgarten, R.: Cu´-Chulainn-Zyklus. In: KNLL 18 (1992) 442⫺444. ⫺ 3 Nic Craith, M.: Plural Identities, Singular Narratives. The Case of Northern Ireland. N. Y. 2002, 80. ⫺ 4 Rees (wie not. 2) 54. ⫺ 5 Thurneysen (wie not. 2) 413⫺425; Zelzer, M.: Serglige Con Culainn. In: KNLL 19 (1992) 478 sq.; Carey, J.: The Uses of Tradition in Serglige Con Culainn. In: Mallory, J. P./Stockman, G. (edd.): Ulidia. Proc. of the First Internat. Conference on the Ulster Cycle of Tales. Belfast 1994, 77⫺ 89. ⫺ 6 Thurneysen (wie not. 2) 494⫺500; Baumgarten, R.: Sce´la Mucce meic Da ho´. In: KNLL 19, 451 sq. ⫺ 7 Thurneysen (wie not. 2) 447⫺467. ⫺ 8 ibid., 473⫺484. ⫺ 9 ibid., 322⫺351; Baumgarten, R.: Longas mac n-Uislenn. In: KNLL 19, 48 sq. ⫺ 10 Dillon (wie not. 1) 12; cf. allg. McCann, W. J.: Tristan. The Celtic and Oriental Material Re-examined. In: Grimbert, J. T. (ed.): Tristan and Isolde. A Casebook. N. Y./L. 1995, 3⫺35. ⫺ 11 Thurneysen (wie not. 2) 96⫺244; Baumgarten, R.: Tain bo´ Cuailnge. In: KNLL 19, 620 sq.; Greene, D.: Ta´in Bo´ Cu´ailgne. In: Dillon (wie not. 1) 93⫺ 104; cf. EM 3 (1981) 179⫺184. ⫺ 12 cf. Mac Eoin, G.: The Interpolator H in Lebor na hUidre. In: Mallory/Stockman (wie not. 5) 39⫺54. ⫺ 13 Mac Mathu´na, L.: The Topographical Components of the Place-names in Ta´in Bo´ Cu´ailnge and Other Selected Early Irish Texts. In: Tristram, H. L. C. (ed.): Studien zur Ta´in Bo´ Cuailnge. Tübingen 1993, 100⫺ 113. ⫺ 14 Kinsella, T.: The Ta´in. Ox. 1969, xiii. ⫺ 15 Dillon, M.: Early Irish Literature. Dublin 1994, 2 sq. ⫺ 16 Mallory, J. P.: The World of Cu´ Chulainn. The Archaeology of Ta´in Bo´ Cuailnge. In: id. (ed.): Aspects of the Ta´in. Belfast 1992, 103⫺159; id.: Die Archäologie der Ta´in Bo´ Cuailnge. In: Tristram (wie ´ hUiginn, R.: The Backnot. 13) 192⫺230. ⫺ 17 O ground and Development of Ta´in Bo´ Cu´ailnge. In: Mallory 1992 (wie not. 16) 29⫺67, hier 33. ⫺ 18 O’Curry, E.: Lectures on the Ms. Materials of Ancient Irish History. Dublin 1861, 239. ⫺ 19 O’Rahilly, T. F.: Early Irish History and Mythology. Dublin 1946, 269⫺271. ⫺ 20 Toner, G.: The Ulster Cycle. Historiography or Fiction? In: Cambrian Medieval Celtic Studies 40 (2000) 1⫺20, hier 3. ⫺ 21 Turpin, J.: Official Sculpture in Postrevolutionary Ireland, North and South, in the 1920s and 1930s. In: Sculpture J. 13 (2005) 32⫺47. ⫺ 22 Nic Craith (wie not. 3) 96. ⫺ 23 Buckley, A.: „We’re Trying to Find Our Identity.“ Uses of History among Ulster Protestants. In: Tonkin, E./McDonald, M./Chapman, M. (edd.): History and Ethnicity. L./N. Y. ´ hUiginn, R.: Growth and 1989, 183⫺197. ⫺ 24 O Development in the Late Ulster Cycle. The Case of the Ta´in Bo´ Flidais. In: Nagy, J. F. (ed.): Memory and the Modern in Celtic Literatures. Dublin 2006, 143⫺161, hier 145. ⫺ 25 z. B. Faraday, W. L.: The Cattle-Raid of Cuailnge. L. 1904; Dunn, J.: The An-
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cient Irish Epic Tale Ta´in Bo´ Cu´ailnge. L. 1914; cf. ´ hUiginn, R.: The Ulster Cyferner Mallory, J. P./O cle. A Check List of Translations. In: Mallory/Stockman (wie not. 5) 291⫺303; Bruford, A.: Gaelic Folktales and Medieval Romances. A Study of the Early Modern Irish ,Romantic Tales‘ and Their Oral Derivatives. Dublin 1969, 93⫺105. ⫺ 26 O’Grady, S. H.: The Great Defeat of the Plain of Muirthemne before Cuchillin’s Death. In: Hull, E. (ed.): The Cuchullin Saga in Irish Literature. L. 1898, 237⫺249. ⫺ 27 Gregory, I. A.: Cuchulain of Muirthemne. The Story of the Men of the Red Branch of Ulster. L. 1902.
Derry
Ma´ire´ad Nic Craith
Umkehrung ist die Herstellung des Gegenteils des Bestehenden. U.en im Rahmen der Erzählforschung lassen sich im Zusammenhang mit J Jenseitsvorstellungen und J Bräuchen feststellen, betreffen die Kontaktaufnahme mit Jenseitswesen, etwa durch Rückwärtslesen (J Satanismus) oder das Anlegen von Kleidung verkehrt herum, und lassen sich in Verbindung mit der Vorstellung einer J Verkehrten Welt (AaTh/ATU 1935) betrachten1. Seit der Antike war die Vorstellung von den Antipoden geläufig: Menschen, die auf dem entgegengesetzten Teil der Erde wohnten und mit ihren Füßen den Füßen der Menschen diesseits zugewandt seien, hätten entgegengesetzte Tageszeiten und zumeist auch entgegengesetzte Jahreszeiten2. Die Vorstellung von den umgekehrten Verhältnissen im Jenseits hatte ihren Ursprung wahrscheinlich in der Annahme, die Erde sei eine Scheibe und das Totenreich befinde sich an deren Unterseite3. Verschiedene Völker wie die malai. Dajak oder die altai. Tataren stellen sich in ihren Mythen und Märchen das Jenseits als genaues Gegenteil des Diesseits vor4. So soll im Totenreich links mit rechts (J Richtungssymbolik) vertauscht sein und das Süße mit dem Bitteren5. Bes. in Märchen und humoristischen Gattungen kann sich U. inhaltlich wie strukturell auf die Aufhebung und Überwindung von J Normen beziehen und/oder führt über allg. menschliche Erfahrung hinaus. Eine solche Herausstellung des Gegenteils der realen bzw. fiktiven Verhältnisse wird durch die Neigung zu J Polaritäten bzw. J Übertreibungen be-
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Unbewußtes
günstigt. Die U. betrifft die Abwendung unausweichlicher Entwicklungen (cf. Mot. L: Reversal of Fortune): z. B. die Lösung scheinbar unlösbarer J Aufgaben und die Bewältigung bedrohlicher Situationen, die schlagfertige Antwort auf absurde Fragen (J Ad absurdum führen; AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter, AaTh/ATU 922: J Kaiser und Abt). Viele Märchen beginnen mit einer extremen J Mangelsituation für Held oder Heldin, doch sorgt die binäre Struktur von Märchen dafür, daß anfangs benachteiligte oder verfolgte Figuren am Ende obsiegen, während ihre Gegenspieler, die zunächst im Vorteil waren, das Nachsehen haben6. M. J Lüthi spricht allg. von einer J Ironie des Märchengeschehens, wenn etwa beim J Bettplatztausch der Schadenstifter das genaue Gegenteil seiner Absicht erreicht und sich selbst oder seine Kinder schädigt (J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung), wie z. B. der Menschenfresser in AaTh/ATU 327 B: J Däumling und Menschenfresser oder die Hexe in AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel. Beispiele für U.en in Nacherzählungen, Parodien, Travestien oder Karikaturen betreffen vor allem Texte, deren Bekanntheit vorausgesetzt werden kann. Wenn der Wolf in einem Cartoon zu KHM 26, AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen in Frauenkleidern auf der Couch eines Psychotherapeuten liegt und der Psychotherapeut das Tier fragt, wann es das erstemal die Neigung verspürt habe, Frauenkleider zu tragen, wird das gefährliche Raubtier zu einem hilfesuchenden Patienten7; oder eine Rotkäppchen-Parodie endet damit, daß die kranke Großmutter den Wolf auffrißt8. Andere U.en beziehen sich etwa auf den Schluß von KHM 1, AaTh/ATU 440: J Froschkönig. So zeigen Cartoons das Mißglücken der Rückverwandlung des Tiers: Statt eines schönen Prinzen erscheint ein König mit Froschbeinen, oder als Ergebnis eines Kusses steht zum Entsetzen der Königstochter Prinz Charles mit abstehenden Ohren vor ihr, worauf sie schreiend die Flucht ergreift9. 1 Weinkopf, E.: U. In: HDA 8 (1936⫺37) 1321⫺ 1328. ⫺ 2 cf. z. B. Kraft, H.: Die Geburt des Menschenbildes: die Kopffüßler. Köln 1999. ⫺ 3 HDA 8, 1322⫺1325. ⫺ 4 HDA 8, 1322. ⫺ 5 EM 1, 791. ⫺ 6 cf. Propp, 31⫺66; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./
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N. Y. 2008, Reg. s. v. U. ⫺ 7 ibid., 67. ⫺ 8 Mieder, W. (ed.): Grimmige Märchen. Ffm. 1986, 129⫺131 (Text von Joachim Ringelnatz). ⫺ 9 Röhrich, L.: Wandlungen des Märchens in den modernen Bildmedien Comics und Cartoons. In: Uther, H.-J. (ed.): Märchen in unserer Zeit. Mü. 1990, 11⫺26, hier 17, 21.
Erfurt
Nadine Erler
Unbewußtes, Begriff, der die Gesamtheit der nicht bewußten Anteile des Psychischen bezeichnet. Der Terminus geht auf C. G. Carus (1789⫺1869) zurück, der von „der Region des Unbewußtseins“ als „Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewußten Seelenlebens“ spricht1. Seit S. J Freud gilt er als zentrales Konzept der J Psychoanalyse bzw. J Tiefenpsychologie (J Psychologie), da Freud ihn mit Hilfe psychodynamischer Erklärungsmuster systematisierte und darüber hinaus erstmals den Weg für praktische Zugänge wies, wodurch er für Psychotherapie und J Psychiatrie relevant wurde2. Während Freud das individuelle Unbewußte (U.) ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt3 (cf. auch die Individualpsychologie A. Adlers4), unterscheidet C. G. J Jung zwischen dem persönlichen und dem kollektiven U.n (J Kollektivität, Kollektivbewußtsein); in letzterem werden aus Sicht der Jungschen Psychologie J Archetypen bzw. archetypische Bilder aufbewahrt5. Inwieweit dem Begriff des U.n heuristischer Wert zukommt, läßt sich nicht allg. beantworten, sondern hängt von der persönlichen und theoretischen Einstellung gegenüber der Tiefenpsychologie ab und auch davon, ob man über praktische Selbsterfahrung in bezug auf das U. in Form einer Psycho- bzw. Lehranalyse verfügt6. Die breitgefächerte Rezeption in angrenzenden Disziplinen zeugt indes von einem regen Interesse am U.n7. Zahlreiche Arbeiten beschäftigen sich mit dem U.n im Märchen8, obgleich es aufgrund seiner J Eindimensionalität und J Flächenhaftigkeit zunächst kaum etwas vom Innenleben seiner Protagonisten preisgibt. Es ersetzt nämlich „Inneres durch Äußeres, seelische Triebkräfte durch äußere Anstöße“9. Doch genau diese Eigenschaft ist es, welche zu mannigfachen (mitunter gewagten) J Interpretationen einlädt10.
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Unbewußtes
Bereits Freud hat sich, wenngleich sporadisch, mit dem Märchen befaßt. Für ihn zeigen sich in J Traum und Märchen vergleichbare Symbole als Ausdruck unbewußter Regungen11. So träumte eine Patientin, daß über eine steile Stiege ein sonderbares kleines Männlein mit weißen Haaren, roter Nase und Glatze in ein braunes Zimmer komme und vor ihr herumtanze, wobei sie die Gestalt zunächst auf ihren Schwiegervater und dann auf Rumpelstilzchen (KHM 55, AaTh/ATU 500: J Name des Unholds) bezieht. Für Freud steht das Zimmer für die Vagina und das Männlein für den Penis ihres Mannes, der nach mehrmonatiger Abwesenheit zurückgekehrt ist. Allerdings befürchtet die Patientin, erneut schwanger zu werden, weswegen er als (Schwieger-)Vater erscheint12.
Freud hat mit seiner Auffassung, das Märchen als Ausdruck unbewußter, zumeist sexueller Wünsche (J Erotik, Sexualität), aber auch Ängste zu sehen, eine Vielzahl von Nachfolgern inspiriert13. Dabei erfaßt U.s in der Überlieferung nicht nur bei Freud, sondern ebenso aus der Sicht neuerer Arbeiten sowohl individuelle als auch allg. Aspekte14. Auf diese zielt in einer spezifischen Form bes. die Märcheninterpretation Jungscher Prägung ab, die im Märchen archetypische Bilder als Ausdruck des kollektiven U.n sieht. Jung begründet dies mit psychischen Reaktionen, die hinsichtlich ihrer auslösenden Ursache unverhältnismäßig sind, etwa wenn ein Kind von seiner Mutter als Hexe träumt, obgleich in ihrem Verhalten kein rationaler Grund dafür gegeben ist15. Um unbewußte Minderwertigkeitsgefühle und ihre Kompensation durch das Streben nach sozialer Gleichwertigkeit, Geltung oder Macht geht es in der Individualpsychologie. Sie erklärt z. B. die Furcht des Mannes vor der Frau in patriarchalischen Kulturen16 oder die herausgehobene Stellung marginalisierter Personen im Märchen, vor allem des J Dummlings und des J Jüngsten17. In der dt.sprachigen Erzählforschung hat sich vor allem M. J Lüthi mit der Bedeutung des U.n im Märchen befaßt. So bringt er z. B. KHM 50, AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit mit Pubertät bzw. Adoleszenz als einer Zeit in Verbindung, in der „beide Geschlechter eine Zeitlang schüchtern und zurückhaltend oder stachlig […] werden; eine Dornenhecke scheint um den jungen Menschen zu wachsen […]. Aber im Schutz solcher Zurückgezogenheit reift er heran.“18 In dieser
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Perspektive wird der unbewußte Aspekt einer Erzählung explizit mit der Frage nach Sinn und Bedeutung verknüpft, so auch bei L. J Röhrich19. Das Interesse am unbewußten Gehalt der Sage einschließlich ihrer modernen Formen ist weitaus geringer als beim Märchen, obgleich sie mit ihrer Hinwendung zum Tragischen, Unheimlichen, Dämonischen, Außergewöhnlichen und Bizarren20 eine derartige Betrachtung nahelegt21. A. J Dundes untersuchte Sagen aus psychoanalytischer22, G. Isler aus jungianischer23, B. Rieken aus individualpsychol. bzw. tiefenpsychol. Perspektive24. Auch der Witz (weniger der Schwank25) wurde in Hinblick auf das U. durchleuchtet, beginnend mit Freuds berühmter Abhdlg Der Witz und seine Beziehung zum U.n (1905)26. Freud sieht im Witz eine unbewußte Tendenz zur Erleichterung bestehenden und zur Ersparung noch aufzubietenden psychischen Aufwands mit dem Ziel eines Lustgewinns27. Demgegenüber hat sich M. Grotjahn zufolge die J Aggression im Laufe der Jahrtausende vom „tätlichen Angriff in Witz verwandelt“28. 1 Carus, C. G.: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. (Pforzheim 21860) Nachdr. Darmstadt 2 1975, 1; cf. Gödde, G.: Traditionslinien des „U.n“. Schopenhauer, Nietzsche, Freud. Tübingen 1999, 47⫺55; Ellenberger, H. F.: Die Entdeckung des U. n. Zürich 21996, 292⫺294. ⫺ 2 Freud, S.: G. W. 10. ed. A. Freud u. a. Ffm. 71981, 264⫺303; ibid. 13 (1940) 237⫺289; cf. MacIntyre, A. C.: Das U. Eine Begriffsanalyse. Ffm. 1968, 34⫺69; Roudinesco, E´./ Plon, M.: Wb. der Psychoanalyse. Namen, Länder, Werke, Begriffe. Wien/N. Y. 2004, 1074⫺1080. ⫺ 3 Zaretsky, E.: Freuds Jh. Die Geschichte der Psychoanalyse. Wien 2006, 16⫺18, 29⫺64. ⫺ 4 Adler, A.: Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie. ed. K. H. Witte/A. Bruder-Bezzel/R. Kühn. Göttingen 1997, 67; id.: Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose. In: id: Persönlichkeit und neurotische Entwicklung. ed. A. Bruder-Bezzel. Göttingen 2007, 64⫺76. ⫺ 5 Jung, C. G.: G. W. 8. ed. L. Jung-Merker u. a. Solothurn/Düsseldorf 71995, 183⫺ 261; ibid. 9,1 (91996) 11⫺51, 53⫺66. ⫺ 6 EM 13, 536. ⫺ 7 cf. Lohmann, H.-M./Pfeiffer, J. (ed.): Freud-Hb. Stg. 2006, 277⫺429; Timm, E.: Zur Einführung. Kulturanalyse, Psychoanalyse, Sozialforschung. In: ÖZfVk. 110 (2007) 113⫺124. ⫺ 8 Laiblin, W. (ed.): Märchenforschung und Tiefenpsychologie. Darmstadt 51995; Schimmer, L.: Individualpsychol. Lit.interpretation. Alfred Adlers Individualpsychologie und ihr Beitr. zur Lit.wiss. Ffm. u. a. 2001, 66⫺
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Uncle Remus
69; Małyszek, T.: Sigmund Freuds und Carl Gustav Jungs Deutung der Märchenstoffe. In: Orbis linguarum 19 (2002) 149⫺159; Pöge-Alder, K.: Märchenforschung. Tübingen 2007, 210⫺220. ⫺ 9 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Tübingen 91992, 17. ⫺ 10 Kast, V.: Märchen als Therapie. Solothurn/Düsseldorf 41993, 11. ⫺ 11 Freud (wie not. 2) t. 2⫺3 (41968) 252. ⫺ 12 ibid. 10 (71981) 1⫺9. ⫺ 13 Bettelheim, B.: The Uses of Enchantment. L. 1976; Fromm, E.: Märchen, Mythen, Träume. Reinbek 1981; Leyen, F. von der: Traum und Märchen. In: Laiblin (wie not. 8) 1⫺12; Riklin, F.: Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen. ibid., 13⫺43. ⫺ 14 Dundes, A.: „To Love My Father All.“ A Psychoanalytic Study of the Folktale Source of King Lear. In: id. (ed.): Cinderella. Madison, Wisc. 21988, 229⫺244; id.: Interpreting Little Red Riding Hood Psychoanalytically. In: McGlathery, J. M. (ed.): The Brothers Grimm and Folktale. Urbana 1988, 16⫺51; Assoun, P.-L.: La Transmission et son envers inconscient. In: Ethnologie franc¸aise 30 (2000) 439⫺444; Boothe, B. (ed.): Wie kommt man ans Ziel seiner Wünsche? Modelle des Glücks in Märchentexten. Gießen 2002. ⫺ 15 Jung (wie not. 5) t. 10 (1974) 46 sq.; cf. ibid. 9,1 (91996) 231; Beit, H. von: Symbolik des Märchens 1⫺3. Bern/ Mü. 71986; Franz, M.-L. von: Bei der schwarzen Frau. In: Laiblin (wie not. 8) 299⫺344. ⫺ 16 cf. Brachfeld, O.: Die Furcht vor der Frau in Sage, Märchen und Lit. In: Internat. Zs. für Individualpsychologie 6 (1928) 442⫺456; Rieken, B.: Arachne und ihre Schwestern. Eine Motivgeschichte der Spinne von den „Naturvölkermärchen“ bis zu den „Urban Legends“. Münster u. a. 2003, 68⫺82, 98⫺ 102, 178⫺183, 268. ⫺ 17 cf. Furtmüller, C.: Selbsterfundene Märchen. In: Adler, A./Furtmüller, C. (edd.): Heilen und Bilden. Ein Buch der Erziehungskunst für Ärzte und Pädagogen. Mü. 31928, 305⫺ 328; Helgardt, H.: Das Märchen in der Sicht der Individualpsychologie. In: Beitr.e zur Individualpsychologie 1 (1978) 57⫺73; Overdiek, W.: Mit Märchen ermutigen ⫺ Janina. In: Zs. für Individualpsychologie 15 (1990) 223⫺236; Rieken, B.: Die Individualpsychologie Alfred Adlers und ihre Bedeutung für die Erzählforschung. In: Fabula 45 (2004) 1⫺ 32. ⫺ 18 Lüthi, M.: Es war einmal … Göttingen 8 1998, 14; cf. id.: So leben sie noch heute. Göttingen 3 1989, 127 sq.; id.: Psychologie des Märchens. In: Laiblin (wie not. 8) 421⫺428; Röhrich, L.: „und weil sie nicht gestorben sind …“ Köln u. a. 2002, 389⫺ 405; Scherf, W.: Die Herausforderung des Dämons. Form und Funktion grausiger Kindermärchen. Eine volkskundliche und tiefenpsychol. Darstellung der Struktur, Motivik und Rezeption von 27 untereinander verwandten Erzähltypen. (Diss. Mü. 1985) Mü. 1987. ⫺ 19 Röhrich (wie not. 18) 404 sq. ⫺ 20 Bausinger, H.: Strukturen des alltäglichen Erzählens. In: Fabula 1 (1958) 239⫺254, hier 248. ⫺ 21 cf. Lüthi, M.: Volksmärchen und Volkssage. Bern 3 1975, 22⫺48; Rieken, B.: Therapeutisches Interesse und ein Blick hinter die Kulissen. Zur Rezeption des
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Märchens in der Tiefenpsychologie. In: Bendix, R./ Marzolph, M. (edd.): Hören, Lesen, Sehen, Spüren. Märchenrezeption im europ. Vergleich. Baltmannsweiler 2008, 113⫺129, hier 113. ⫺ 22 Dundes, A.: On the Psychology of Legend. In: Hand, W. D. (ed.): American Folk Legend. Berk. 1971, 21⫺36; cf. Carroll, M. P.: „The Castrated Boy“. Another Contribution to the Psychoanalytic Study of Urban Legends. In: FL 98 (1987) 216⫺225; id.: Folklore and Psychoanalysis. Another Look at the „Boyfriend’s Death“. In: The Psychoanalytic Study of Society. Festschr. A. Dundes. Hilsdale, N. J./L. 1993, 67⫺80. ⫺ 23 Isler, G.: O deine schönen Haare. Volkssagen von der Liebe zur wilden Frau und die Problematik in der heutigen Ehe. In: Jungiana A 10 (2001) 47⫺83; id.: Der große Übergang. Synchronizistische Vorzeichen und Träume zum Tod in Sagenslgen. ibid. A 11 (2002) 129⫺156. ⫺ 24 Rieken, B.: Besuch aus dem Jenseits. Volksglaube im biogr. Kontext. In: Bios 12 (1999) 221⫺235; id.: Wie die Schwaben nach Szulok kamen. Erzählforschung in einem ungarndt. Dorf. Ffm./N. Y. 2000, 71⫺81, 110⫺116, 179⫺188; id. (wie not. 16) 167⫺223; id. (wie not. 17) 16⫺19. ⫺ 25 id. 2000 (wie not. 24) 17⫺57. ⫺ 26 cf. Oring, E.: The Jokes of Sigmund Freud. A Study in Humor and Jewish Identity. Northvale, N. J. 32007; id.: Engaging Humor. Urbana/Chic. 2003, 127. ⫺ 27 Freud (wie not. 2) t. 6 (61978) 143. ⫺ 28 Grotjahn, M.: Vom Sinn des Lachens. Psychoanalytische Betrachtungen über den Witz, das Komische und den Humor. Mü. 1974, 19.
Wien
Bernd Rieken
Uncle Remus, fiktionaler Erzähler einer Slg J afro-amerik. Volkserzählungen, die der Journalist Joel Chandler Harris (1846⫺1908)1 zusammengetragen und bearbeitet hat. Die Texte erschienen zunächst in Zss. und wurden u. d. T. U. R. His Songs and His Sayings. The Folk-Lore of the Old Plantation (Boston/N. Y. 1881) erstmals in Buchform veröffentlicht. Es folgten die Bände Nights with U. R. (Boston/ Cambr. 1883), U. R. and His Friends (Boston 1892), Told by U. R. New Stories of the Old Plantation (N. Y. 1905) und U. R., or, the Story of Mr. Fox and Brer Rabbit (L. 1906)2. Der im US-Bundesstaat Georgia aufgewachsene Harris war seit seiner Kindheit mit Plantagensklaven bekannt und mit ihren Erzählungen vertraut. Um dieses Erzählgut zu erhalten, interviewte er mehrere ehemalige Sklaven (Abschaffung der Sklaverei in den USA 1865) und schrieb ihre Erzählungen unter phonetischer Wiedergabe des Soziolekts seiner Informanten nieder3. Die Mundart der
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Uncle Remus
Sklaven (z. B. ,dat‘ statt ,that‘, ,dis‘ statt ,this‘ oder ,gwine‘ statt ,going‘4) geht auf südwestengl. Dialekte zurück, die die Afro-Amerikaner von brit. Kolonisten übernommen hatten5. Linguisten bestätigen die sprachliche Authentizität der U. R.-Erzählungen6. Harris bindet die Erzählungen in eine Rahmenhandlung ein: Der ehemalige Sklave U. R. lebt auf der Plantage von Miss Sally, seiner früheren Besitzerin, und erzählt ihrem kleinen Sohn seine Geschichten. U. R. ist ein von harter Arbeit gezeichneter alter Mann, gläubiger Christ, freundlich und Miss Sally treu ergeben.
Die von dem literar. ambitionierten, auf Publikumswirkung bedachten Harris als Stilmittel geschaffene Figur des U. R., die auch als Harris’ Sprachrohr dient, ist wahrscheinlich nach dem Gärtner der Kleinstadt Forsyth (Georgia) benannt und mehreren realen Vorbildern nachempfunden7. Das Vorbild für den kleinen Jungen war wahrscheinlich J. S. Turner, der Sohn eines mit Harris bekannten Plantagenbesitzers8, dessen Eltern nachgesagt wurde, daß sie ihre Sklaven gut behandelt hätten9. Obwohl U. R. gelegentlich in die Rolle eines Erziehers schlüpft ⫺ so erklärt er z. B., er wolle unartigen Kindern keine Geschichten erzählen ⫺, ist er doch immer schnell besänftigt und bestrebt, es dem Kind recht zu machen. Afro-Amerikaner werden in den U. R.-Erzählungen mit den heute als abwertend empfundenen, im 19. Jh. jedoch üblichen Begriffen ,Negro‘ und ,Darkey‘ bezeichnet; U. R. selbst nennt sich und andere Farbige ,niggers‘. Der Unterschied zwischen Afro-Amerikanern und Weißen wird in der Erzählung Why the Negro Is Black10 thematisiert: Nachdem dem Kind U. R.’ weiße Handflächen aufgefallen sind, erklärt ihm U. R., alle Menschen seien einmal schwarz gewesen, doch hätten die Vorfahren der heutigen Weißen bei einem Wettlauf als erste einen Brunnen erreicht, in dessen Wasser sie ihre schwarze Hautfarbe abwaschen konnten. Dagegen seien die Vorfahren der heutigen Afro-Amerikaner als letzte am Brunnen angekommen und hätten daher nur noch ihre Handflächen und Fußsohlen abwaschen können.
Die Aussage dieser Erzählung ist ambivalent ⫺ die Weißen erscheinen wegen ihrer Schnelligkeit als überlegen, doch wird auch die
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gemeinsame Abstammung von Schwarzen und Weißen betont. Die Forschung würdigt Harris’ Schilderung des Lebens auf einer Plantage als hist. zutreffend, kritisiert jedoch die Darstellung des Afro-Amerikaners in der Dienerrolle als klischeehaft (J Neger; J Stereotypen, ethnische)11. Tatsächlich hielt Harris die Weißen für eine den Schwarzen überlegene Rasse (J Rassismus); nach den Maßstäben des 19. Jh.s war seine Einstellung jedoch gemäßigt12. So lehnte er gewalttätige Übergriffe Weißer auf Schwarze (z. B. Selbstjustiz) ab und sprach sich für friedliche Konfliktlösungen aus13. Harris’ Leistung besteht in der sprachlichen Gestaltung und Popularisierung des afro-amerik. Erzählguts, das nordamerik. Autoren bis zum Erscheinen der U. R.-Erzählungen nahezu vollkommen ignoriert hatten14. Die meisten U. R.-Erzählungen handeln von Tieren. Hauptfigur ist der körperlich schwache, aber listige J Trickster J Brer Rabbit, als dessen Gegenspieler häufig Bär, Fuchs, Löwe und Wolf auftreten. Weltweit bekannt ist die Erzählung The Wonderful Tar Baby Story (AaTh/ATU 175: J Teerpuppe)15, in der das Kaninchen zunächst anscheinend unterliegt: Als eine vom Fuchs hergestellte Teerpuppe Brer Rabbit nicht begrüßt, schlägt er sie und bleibt an ihr kleben. Den Ausgang der Geschichte verrät U. R. erst in seiner übernächsten Erzählung How Mr. Rabbit Was too Sharp for Mr. Fox16: Der gefangene Brer Rabbit gibt sich unterwürfig, als der Fuchs ihn hängen, ertränken und häuten will, und bittet nur darum, nicht in den Dornbusch geworfen zu werden. Der Fuchs wirft ihn daraufhin wie erwartet ins Gestrüpp, und Brer Rabbit entkommt (AaTh/ATU 1310 A: Briar-patch as Punishment for Rabbit). Auch das Thema von Mr. Rabbit Grossly Deceives Mr. Fox17 ist weit verbreitet: Brer Rabbit täuscht eine Krankheit vor und überredet den tatsächlich kranken Fuchs dazu, ihn auf den Rücken zu nehmen und zu tragen (AaTh/ATU 72: cf. J Kranker trägt den Gesunden).
Der Ursprung der U. R.-Erzählungen ist umstritten. Harris selbst hielt Afrika für ihren alleinigen Entstehungsort, die Geschichten selbst für „das Abbild einer kindlichen, abergläubischen Mentalität“18. Obwohl F. E. Baer u. a. europ. und indian. Einflüsse nachweist, kommt sie zu dem Schluß, daß die meisten U. R.-Erzählungen aus afrik. Quellen stammten19. Ein Beispiel für afrik. Einfluß ist die Figur des schlauen Kaninchens, das im afro-
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Undank ist der Welt Lohn
amerik. Erzählgut das scheinbar unterlegene Tier repräsentiert, dem es immer wieder gelingt, sich aus der Affäre zu ziehen. Eine mögliche Erklärung für die frühe Popularität der U. R.-Erzählungen mit ihrer Hauptfigur Brer Rabbit könnte in der Parteinahme für die Kleinen und Machtlosen liegen, die letztendlich den Sieg über mächtigere Tiere davontragen (J Stark und schwach). In der Gegenwart hat die Beliebtheit der U. R.-Erzählungen mit dem Absinken in die Kinderüberlieferung viel von ihrem ursprünglichen sozialkritischen Akzent verloren. Aufgrund der veränderten Lebensbedingungen können sich Afro-Amerikaner selbst nicht mehr mit dem Plantagenbewohner U. R. identifizieren. 1 Brasch, W. M.: Brer Rabbit, U. R. and the “Cornfield Journalist”. The Tale of Joel Chandler Harris. Macon, Ga 2000, xxxiv (nach Harris’ eigenen Angaben 1848). ⫺ 2 Ensslen, K.: Joel Chandler Harris. In: KNLL 7 (1990) 318 sq.; Zolkover, A.: Joel Chandler Harris. In: Haase, D. (ed.): The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales. Westport/L. 2007, 441 sq. ⫺ 3 Baer, F. E.: Sources and Analogues of the U. R. Tales (FFC 228). Hels. 1980, 11⫺17. ⫺ 4 z. B. Harris, J. C.: The Complete Tales of U. R. Boston 1955, 21, 25. ⫺ 5 MacDougald, D.: The “U. R. Stories”. One of the Few American Classics of World Literature. In: Fabula 1 (1958) 159⫺161, hier 160. ⫺ 6 Brasch (wie not. 1) xxxiii. ⫺ 7ibid., 45; Baer (wie not. 3) 15. ⫺ 8 Brasch (wie not. 1) 10.⫺ 9 ibid., 7.⫺ 10Harris (wie not. 4) 109⫺111. ⫺ 11 cf. zusammenfassend Bickley, B. R.: Joel Chandler Harris. A Biography and Critical Study. Lincoln 2000. ⫺ 12 wie not. 2. ⫺ 13 Brasch (wie not. 1) XI. ⫺ 14 ibid., 41. ⫺ 15 Harris (wie not. 4) 6⫺8. ⫺ 16 ibid., 12⫺14. ⫺ 17 ibid., 17⫺29. ⫺ 18 EM 1, 156. ⫺ 19 Baer (wie not. 3) 169⫺176.
Erfurt
Nadine Erler
Undank ist der Welt Lohn (AaTh/ATU 155), Bezeichnung für zwei schriftl. und mündl. voneinander unabhängige und weltweit verbreitete Erzählungen1: eine kürzere äsopische Fabel und ein längeres Tiermärchen oriental. Ursprungs. Beiden Ausprägungen gemeinsam ist der Erzählkern mit dem Thema der Undankbarkeit eines Tiers gegen seinen Retter (cf. J Dankbarkeit und Undankbarkeit). In der äsopischen Fabel findet ein J Bauer im Winter eine fast erfrorene J Schlange. Nachdem er sie aus J Barmherzigkeit an seiner Brust gewärmt hat, tötet das Tier ihn durch Beißen.
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Die Fabel findet sich von der Antike bis zur Neuzeit in den meisten europ. Fabelsammlungen und wird seit dem MA. vielfach als Exemplum zum Thema U. zitiert2. Auf sie geht die Redensart ,eine Schlange am Busen nähren‘ zurück3. Die Fabel ist häufig mit der Moral verbunden, daß derjenige, der einem Bösen hilft, danach den Schaden hat (schon bei J Phädrus 4,20). Einzelne Bearb.en, vor allem in der Reformationszeit, heben allerdings auf das christl. Gebot zur Feindesliebe ab (Lk. 6,27)4. J La Fontaine (Fables 6,13) läßt den Helfer über das undankbare Tier triumphieren: Der Bauer schlägt die undankbare Schlange in drei Stücke. Bei J Lessing (Fabeln 2,3) dagegen erzählt ein Junge die Fabel seiner zahmen Schlange; diese erzählt ihrerseits die Geschichte empört aus der Perspektive der Schlange: der Bauer habe es nur auf ihre Haut abgesehen. Am Ende steht eine ethische Differenzierung: Undankbarkeit ist gerechtfertigt, wenn der Wohltäter eigennützig war. In einer ebenfalls weitverbreiteten Version dieser Fabel, die bereits im J Romulus (1,10) belegt ist, wärmt der Bauer die Schlange nicht an seiner Brust, sondern holt sie zu sich nach Hause (an den Ofen), und die aufgetaute Schlange verspritzt sodann ihr Gift im Haus. Das Motiv der im Haus gehaltenen Schlange (Mot. B 335.1) könnte oriental. Ursprungs sein5, sieht man eine andere, wahrscheinlich genetisch verwandte Fabel mit denselben Protagonisten, die sich bei J Johannes von Capua (um 1270) findet, als Bindeglied an: Ein Bauer verscheucht eine Schlange von seinem Hof, bereut es hernach, weil er meint, aus diesem Grund ins Unglück geraten zu sein, doch die Schlange will auch auf Bitten des Bauern nicht wieder zu ihm zurückkehren (AaTh 285 D/ ATU 285 A: cf. J Feindschaft zwischen Tieren und Mensch)6. Die äsopische Fabel vom Menschen und der Schlange scheint in der mündl. Überlieferung wenig verbreitet. Beispiele, die wahrscheinlich auf literar. Vorbilder zurückgehen7, sind in den Belegsammlungen zu AaTh/ATU 155 gelegentlich dokumentiert, etwa auch in der jüngeren afro-amerik. Erzähltradition8. Weitaus stärker verbreitet ist die zweite Gestaltung des Themas, die gleichfalls literar. Ursprungs ist. Inhaltlich läßt sie sich als mehrgliedrige Forts. und Erweiterung der äsopi-
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schen Fabel beschreiben: Bevor die befreite Schlange zubeißen kann, prangert der Mensch dies als Rechtsbruch an, erreicht so einen Aufschub und Zeit für eine Gegenlist, die mit Hilfe eines klugen Dritten gelingt. Hierfür muß der Ausgangszustand wiederherstellbar sein, weshalb meist nicht von einer fast erfrorenen Schlange, sondern von einem wilden Tier erzählt wird, das eingeklemmt oder eingeschlossen ist: Ein Mensch befreit ein wildes Tier (Schlange, Drache, Bär, anderes Raubtier u. a.), indem er den Stein vor einer Höhle wegrollt, in der das Tier gefangen war (es aus dem Feuer, aus einer Falle rettet). Als das Tier den Menschen fressen will (und mit dem Sprichwort argumentiert: U. ist der Welt Lohn), bestreitet der Mensch die Rechtmäßigkeit der beabsichtigten Handlung (die Geltung dieses Arguments). Beide brechen auf, um Fürsprecher zu finden. Zwei Tiere (alter Hund und altes Pferd, auch Kuh, Ochse, Esel, selten Bäume) bestätigen die Gültigkeit des Sprichworts, weil sie trotz ihrer Verdienste ebenfalls vom Menschen schlecht behandelt würden. Mit einer List lockt der J Fuchs das wilde Tier in den Ausgangszustand zurück (z. B. mit dem Vorwand, den Fall genau untersuchen zu müssen); oft tötet er es.
Erstmals belegt ist diese Erzählung in der Disciplina clericalis des J Petrus Alfonsus (num. 5). Allerdings fehlt dort die Suche nach Fürsprechern, und die gerettete Schlange ist nicht nur gefangen, sondern auch vor Kälte erstarrt, ein Motiv, das wohl auf die äsopische Fabel zurückzuführen ist. Das Schlußmotiv vom Fuchs als Schiedsrichter ist dagegen vermutlich oriental. Herkunft9. Die Disciplina clericalis (num. 23) enthält auch eine Var. von AaTh/ATU 154: J Fuchs und Glieder. Aus diesem Erzähltyp stammt wahrscheinlich folgende häufig angehängte Forts.10: Der Fuchs fordert für seine Hilfe Hühner als Lohn, die der Bauer ihm auch verspricht. Doch als der Fuchs am verabredeten Ort erscheint, tötet ihn der Bauer (seine Frau, seine Hunde). Die Version des Petrus Alfonsus fand vielfältige literar. Rezeption in den spätma. und frühneuzeitlichen Fabel- und Exempelsammlungen sowie Tierepen: u. a. in den J Gesta Romanorum (num. 174), bei Willem van Hildegaersberch (Vanden serpent; um 1390), Ulrich J Boner (Edelstein, num. 71), Heinrich J Steinhöwel (Esopus, num. 84), in verschiedenen Fassungen des J Reineke Fuchs (Reinaerts historie 2,4858⫺5045), Reynke de Vos (3,4,4579⫺ 4736), bei Joachim J Camerarius (Fabulae,
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num. 392), Burkart J Waldis (Esopus 4,99) und Erasmus J Alberus (Das buch von der Tugent und Weißheit, num. 48). Aus der mündl. Überlieferung liegen hauptsächlich Fassungen aus Europa, Indien und Afrika vor. Die wichtigsten Unterschiede sind im folgenden (in Ausw.) dargestellt. Daß die Schlange (von einem Pilger) aus einem brennenden Busch oder aus dem Feuer (das Kinder gelegt haben) gerettet wird, findet sich in griech., türk., kurd. und ind. Texten11. In einer weitverbreiteten Var., die auch für die in Ägypten entstandene Urform des ganzen Erzähltyps gehalten wurde12, ist das undankbare Tier ein Krokodil, das strandet, weil der Nil so wenig Wasser führt. Häufig ist das wilde Tier auch ein Löwe, der sich die Tatze eingeklemmt hat13, oder ein Wolf, der in ein Fangeisen geraten ist14. Selten ist die Rolle des Menschen durch ein Tier ersetzt, z. B. Affe15, Kamel16 oder Stachelschwein17. Zahlreiche Texte begründen durch Vorgeschichten die aufgrund ihrer unreflektierten Hilfsbereitschaft unklug wirkende Initialhandlung des Menschen: Zwar handelt der Bauer schon in den Fassungen von Camerarius, Johannes J Pauli (num. 745) und Alberus zunächst klug, indem er einen Stein vor eine Höhle rollt, in die eine Schlange gekrochen ist; als aber die Schlange jammert und den Befreier belohnen will, befreit der Bauer das Tier wieder. Daß das eingesperrte Tier für seine Freilassung Versprechungen macht, findet sich ebenso in Vorgeschichten vieler mündl. Fassungen18. Vor allem in asiat. Versionen besteht die Hilfe des Menschen auch darin, daß er das wilde Tier (Wolf, Leopard) vor seinen Verfolgern (Jägern, aufgebrachten Dorfbewohnern) versteckt (meist in einem Sack)19. Die Undankbarkeit des wilden Tieres wird manchmal mit seinem Hunger begründet20. Statt die Rechtmäßigkeit der beabsichtigten Handlung zu bestreiten, erreicht der Mensch auch öfter einen Aufschub dadurch, daß er andere unbedingt notwendige Handlungen anführt, z. B. möchte er noch sein Feld bestellen, damit seine Familie etwas zu essen hat21, oder er bittet darum, ein wenig weiter gehen zu dürfen22. Unterschiedliche Gestaltungen finden sich bes. im Handlungsabschnitt mit den angerufenen Fürsprechern: In den literar. Versionen
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sind es meist Hund und Pferd, die früher dem Menschen sehr nützlich waren und sich nun im Alter beklagen, daß die Menschen sie mißachten oder sogar töten wollen. Bei Var.n aus der mündl. Überlieferung dominieren die Fürsprecher Kuh und Baum; der Baum (vor allem türk., ind.)23 beklagt sich, daß die Menschen ihm die Äste abschlügen und als Brennholz benutzten, obwohl er ihnen doch Schatten und Obst spende24. Daneben finden sich Kuh und Hund25, eine Herde Schafe und eine Herde Ochsen26, eine Straße (dient den Menschen, und diese trampeln zum Dank auf ihrem Rükken herum) und ein Baum27, auch Ziege, Kamel, Fluß28 kommen vor. Pers. und ind. Versionen fügen auch das Wasser(becken) als Fürsprecher hinzu: Man trinkt daraus und wäscht sich darin (die Undankbarkeit besteht hier in der Verunreinigung)29. Nicht selten fehlen aber ⫺ wie bei Petrus Alfonsus ⫺ die Fürsprecher30. An die Stelle des Fuchses können Schakal31, Hase32, Affe33, Igel34, Schildkröte35, Biene36 oder Zwerghirsch37 auftreten, manchmal übernehmen seine Rolle auch König J Salomo38 oder ein Philosoph (Gesta Romanorum, num. 174). Als listiges Argument für die erneute Festsetzung des Tieres benutzt der Fuchs das auch in anderen Erzählzusammenhängen bekannte Motiv, das die Fähigkeit des Tieres, sich ganz klein zu machen, anzweifelt: er könne gar nicht glauben, daß die Schlange in die kleine Höhle oder in den Sack passe (z. B. AaTh/ATU 331: J Geist im Glas)39. Oft wird das wilde Tier am Ende vom Menschen getötet40, manchmal auch vom Helfer41. Bei der fakultativen Forts. mit dem U. des Menschen gegenüber dem Fuchs bietet der Mensch manchmal selbst als Lohn seine Hühner an42, oder der Fuchs will zunächst den Bauern fressen43. Gelegentlich heißt es, die Frau habe statt der versprochenen Hühner die Hündin in den Sack gesteckt, die dann dem Fuchs den Schwanz abbeißt44 oder ihn tötet45. Oder der Bauer hetzt seine Hunde auf den Fuchs, welcher auch zu dem Schluß kommt, daß U. der Welt Lohn ist46; in einer mecklenburg. Var. frißt er später alle Hühner des Bauern auf 47. Selten steht am Ende ein positives Verhältnis zwischen Mensch und Fuchs48. Versionen, in denen das wilde Tier durch einen (bösen) Geist ersetzt ist, sind AaTh/ATU 331 zuordnen.
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1 cf. bes. Goldberg, C.: The Ungrateful Serpent (AaTh 155). In: Fabula 37 (1996) 248⫺258; Espinosa 3, 420⫺431; Liungman, Volksmärchen; Dekker/van der Kooi/Meder, 266 sq.; Stohlmann, J.: Orient-Motive in der lat. Exempla-Lit. des 12. und 13. Jh.s. In: Miscellanea mediaevalia 17 (1985) 123⫺150, hier 137⫺142; Schwarzbaum, Fox Fables, 517, not. 15; Spies, O.: Arab. Stoffe in der Disciplina Clericalis. In: Rhein. Jb. für Vk. 21 (1973) 170⫺199, hier 177⫺ 180. ⫺ 2 Dicke/Grubmüller, num. 431. ⫺ 3 Röhrich, Redensarten 3, 1357 sq. ⫺ 4 Elschenbroich, A.: Die dt. und lat. Fabel in der Frühen Neuzeit 2. Tübingen 1990, 84 sq. ⫺ 5 Johann von Capua: Beispiele der alten Weisen. ed. F. Geißler. B. 1960, 178⫺181; cf. Stohlmann (wie not. 1) 138 sq. ⫺ 6 Dicke/Grubmüller, num. 410. ⫺ 7 cf. Tomkowiak. ⫺ 8 Dorson, R. M.: American Negro Folktales. Greenwich, Conn. 1967, num. 22; Goldberg (wie not. 1) 248⫺ 250. ⫺ 9 Stohlmann (wie not. 1) 138; cf. Marzolph/ van Leeuwen 1, 450, num. 47. ⫺ 10 cf. z. B. Waldis, Esopus 4,99; Alberus, Fabeln (1550), num. 48; Eschker, W.: Mazedon. Volksmärchen. MdW 1972, num. 4; Megas, G.: Begegnung der Völker im Märchen. 3: Griechenland ⫺ Deutschland. Münster 1968, num. 18. ⫺ 11 ibid.; Spies (wie not. 1) 178 sq.; Nebez, J.: Kurd. Märchen und Volkserzählungen. B. 1972, 73⫺76; Bodding, P. O.: Santal Folk Tales 1⫺3. Oslo 1925/ 27/29, hier t. 3, num. 93. ⫺ 12 Krohn, K.: Mann und Fuchs. Hels. 1891, 38⫺60; cf. Goldberg (wie not. 1) 253; Espinosa 3, 420⫺431; Liungman, Volksmärchen. ⫺ 13 Köhler/Bolte 1, 96; Goldberg (wie not. 1) 255. ⫺ 14 Wichmann, Y.: Wotjak. Sprachproben 2. Hels. 1901, num. 11. ⫺ 15 Virsaladze. ⫺ 16 Kippar. ⫺ 17 Schmidt, num. 590. ⫺ 18 z. B. Bosˇkovic´-Stulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975, num. 58; Tauscher, R.: Volksmärchen aus dem Jeyporeland. B. 1959, num. 1. ⫺ 19 Ting; Bodding (wie not. 11) t. 1, num. 2; Radloff, W.: Proben der Volkslitteraur der nördl. türk. Stämme 6. SPb. 1886, num. 7. ⫺ 20 Köhler/Bolte 1, 96. ⫺ 21 Peuckert, W.-E.: Hochwies. Sagen, Schwänke und Märchen. Göttingen 1959, num. 243. ⫺ 22 Wichmann (wie not. 14). ⫺ 23 Goldberg (wie not. 1) 256. ⫺ 24 Radloff (wie not. 19); Tauscher (wie not. 18). ⫺ 25 Haralampieff, K. [recte Frolec, V.]: Bulg. Volksmärchen. MdW 1971, num. 6. ⫺ 26 Megas, G. A.: Griech. Volksmärchen. MdW 1965, num. 5. ⫺ 27 Hambruch, P.: Malai. Märchen. MdW 1922, num. 16.4. ⫺ 28 Megas. ⫺ 29 Marzolph; Bodding (wie not. 11) t. 1, num. 2. ⫺ 30 Bosˇkovic´-Stulli (wie not. 18); Wossidlo, R./Henßen, G.: Mecklenburger erzählen. B. 1957, num. 18; Peuckert (wie not. 21). ⫺ 31 Schmidt, num. 590. ⫺ 32 Choi, num. 109; Hoffmann, H.: Märchen aus Tibet. MdW 1965, num. 16. ⫺ 33 Marzolph. ⫺ 34 Cardigos; Nowak, num. 43. ⫺ 35 Robe. ⫺ 36 Kippar. ⫺ 37 Hambruch (wie not. 27). ⫺ 38 cf. Noy. ⫺ 39 Spies, O.: Türk. Märchen. MdW 1984, 235 sq. ⫺ 40 Megas (wie not. 26); Hambruch (wie not. 27); Haralampieff (wie not. 25). ⫺
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Undankbarkeit ⫺ Undine
Nebez (wie not. 11). ⫺ 42 Eschker (wie not. 10). ⫺ Radloff (wie not. 19). ⫺ 44 Megas (wie not. 26). ⫺ 45 Eschker (wie not. 10). ⫺ 46 Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen. MdW 1927, 291. ⫺ 47 Wossidlo/ Henßen (wie not. 30). ⫺ 48 Tauscher (wie not. 18). 41 43
Kiel
Ludger Lieb
Undankbarkeit J Dankbarkeit und Undankbarkeit
Undine, durch J Paracelsus geprägte Bezeichnung (lat. unda: Welle) für eine Spezies weiblicher J Elementargeister, die mit den Nixen (J Wassergeister) im allg. und der J Melusine im bes. teils identisch, teils verwandt sind. Die U.-Erzählungen enthalten folgende Kernmotive: U. sucht nach einem menschlichen Partner und lebt mit ihm zusammen, wodurch (durch Geburt eines Kindes aus dieser Verbindung) dem Wassergeist eine unsterbliche J Seele zuteil wird. Sobald der Gatte (Geliebte) die J Treue oder ein bestimmtes Gelöbnis bricht, muß er sterben, während U. ihre Menschenseele verliert und in ihr angestammtes Element zurückkehrt.
Die reiche Stoff- und Motivgeschichte1 der Erzählungen über die gestörte J Mahrtenehe geht bis in die Antike zurück (cf. AaTh/ATU 425 sqq.: J Amor und Psyche). Im MA. setzt die Tradition mit der Versnovelle Partonopier und Meliur des J Konrad von Würzburg ein, von der ausgehend Eckenolts im Schwarzwald lokalisierte Verserzählung J Peter von Staufenberg die erste vollständige Ausprägung bietet. Der aus moderner Sicht tragische Ausgang der unglücklichen Liebesgeschichte wird in der Mediävistik als Ausnahme innerhalb der ma. Lit. gewertet: Tatsächlich interpretiert Eckenolt den Tod des Ritters als gerechte Strafe (Gottes) für den Treubruch und die Auslöschung der Seele der U., vor allem aber als Rettung seines eigenen Seelenheils, dessen er durch dauernde Verbindung mit dem dämonischen (teuflischen) Wesen verlustig gegangen wäre. An diese hochma. Wertung schließt noch J Luther mit seiner Verteufelung der Wasserdämonen (Succubi; J Incubus und Succubus) nahtlos an, während wenig später Paracelsus, vor allem in seinem Werk Liber de nymphis, die U.n und ihre Geschwister als gleichsam
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wertneutrale übersinnliche Wesen entdämonisiert; an ihnen versündigen sich ihre menschlichen Gatten, weil sie ihnen die soeben erst erworbene unsterbliche Seele und damit das Seelenheil rauben und dafür zu Recht bestraft werden2. In der Tradition des Paracelsus steht die J Zimmerische Chronik, in der die U.-Sage im Rahmen der Familiengeschichte der Grafen von Zimmern vorgestellt und diskutiert wird3. Eine Art Gegenbild wird in Geschichten von Wasserfrauen gezeichnet, welche Männer in ihr Wasserreich locken oder ziehen, wo diese entweder den Tod finden oder in Seligkeit leben (z. B. J Goethes Ballade Der Fischer [1779]; J Lorelei4). Letztlich auf Paracelsus geht die neuere Stoffgeschichte zurück, die überaus reich an künstlerischen Adaptationen ist. In volksläufiger Tradition begegnet der Stoff weniger5. Dabei nimmt eine vor 1800 nach mündl. Überlieferung im Badischen aufgezeichnete Var. der Staufenberg-Sage eine Schlüsselstellung ein6. Hier ist gegenüber den ma. Versionen eine Verbürgerlichung des Sagenpersonals zu konstatieren. Die einst mächtige und ihren Liebhaber mannigfach begabende Melusine ist zu einer schutzbedürftigen Jungfrau (mit Schlangenschwanz anstelle der Beine) mutiert und hat charakteristische Motive der ma. StaufenbergDichtung adaptiert, so den die Zimmerdecke durchstoßenden Fuß (Schwanz) als Todesankündigung. Ähnlich wie frühere Ausformungen der Sage zuweilen als Gründungsmythen von Dynastien dienten, scheint es sich bei der mündl. tradierten Sage auch um die Ätiologie des Wappens der Burg Staufenberg in der Ortenau zu handeln7. Verwandte Erzählungen in Slgen des 19. Jh.s gehen so gut wie ausschließlich auf ältere Dichtungen zurück, z. B. bei C. A. J Vulpius (1805)8, den Brüdern J Grimm9 oder J. H. Lehnert (1831)10. Bemerkenswert selten begegnen Wasserfrauen in den J Kinder- und Hausmärchen (cf. KHM 79, AaTh/ATU 313 A: cf. J Magische Flucht; KHM 181, AaTh/ATU 316: J Nixe im Teich), wo sie keine mit den U.-Erzählungen vergleichbare Rolle spielen. J. J Fischart greift in seiner versifizierten und ill. Kurzredaktion Ernewerte Beschreibung […] Vom Herren Petern von Stauffenberg (1588) auf die mhd. Dichtung Eckenolts zurück und ist in der Ausg. von 1598 die Qu.
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Undine
für Achim von J Arnims stark verkürzte und volkstümlich-romantisch eingefärbte Bearb. in sieben Romanzen: Ritter Peter von Stauffenberg und die Meerfeye (1805)11. Eine wichtige Zwischenstation in der Stofftradition ist die kurze, bislang wenig beachtete Sagenfassung in Johannes J Praetorius’ Blockes ⫽ Berges Verrichtung (1668): Eine Wasserfrau verlobt sich mit einem Ritter und bleibt so lange bei ihm, bis er sie als Teufelin beschimpft und eine andere heiratet. Am Hochzeitstag erscheint der Fuß der Betrogenen über dem Tisch; drei Tage später stirbt der Ritter.
Die Wunderhorn-Romanzen nach Fischart gaben die Anregung zur bekanntesten U.Dichtung: Friedrich Baron de la Motte J Fouque´s 1809 entstandene Erzählung U.12, die im Stil des Volksmärchens erzählt ist. Ihre Hauptquelle ist Paracelsus’ Liber de nymphis: Der Vater der Wassernixe U. vertauscht seine Tochter mit dem scheinbar ertrunkenen Kind eines Fischerpaars, bei dem sie auf einer Halbinsel wie ein Menschenkind einsam aufwächst und nur durch einige schalkhafte Wunderlichkeiten auffällt. Der irrende Ritter Huldbrand wird durch eine von U.s Vater herbeigeführte Flut auf der Halbinsel festgehalten, läßt sich mit U. trauen und nimmt sie danach mit auf seine Burg. U. erlangt durch diese Verbindung eine menschliche Seele, aus einem launenhaften Naturwesen wird eine liebevolle Gattin. Sie warnt ihren Mann allerdings vor bösen Worten gegen oder über sie. Bei einer Fahrt auf der Donau schilt er sie eine Hexe, U. verschwindet mit der Bitte, er solle ihr treu bleiben, weinend in der Flut. Der Ritter heiratet Bertalda, eine angebliche Prinzessin, tatsächlich aber die verschollene Tochter des Fischerpaars. Am Hochzeitstag steigt U. aus dem Schloßbrunnen, tritt ans Lager des Ritters und gibt ihm den Todeskuß: „Ich habe ihn totgeweint“, sagt sie und wird am Grab des Ritters ⫺ nach dem Muster der Metamorphosen des J Ovid ⫺ in eine Quelle verwandelt.
Fouque´s U. erregte europaweit große Aufmerksamkeit unter zeitgenössischen wie späteren Dichtern und Künstlern (Goethe, Walter J Scott, Heinrich J Heine und Richard J Wagner) und wurde ihrerseits Ausgangspunkt zahlloser literar. und musikalischer Bearb.en, Um- und Neuschöpfungen13. Zwei der berühmtesten Kunstmärchen, Hans Christian J Andersens Den lille Havfrue14 und Eduard J Mörikes Historie von der schönen Lau (1853), sind u. a. durch Fouque´s Dichtung angeregt, ebenso Theodor Fontanes Novellenentwurf Oceane von Parceval (um 1880), die Verserzäh-
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lung U. von Rudolf Pannwitz (um 1960; veröff. 1999)15 und Ingeborg Bachmanns Erzählung U. geht (1973)16. Zahlreiche Gedichte des 20. Jh.s (u. a. von Werner Bergengruen, Johannes Bobrowski, Peter Huchel, Eckart Kleßmann, Karl Krolow, Peter Rühmkorf) verweisen durch ihren Titel U. auf Fouque´. Jean Giraudoux schrieb das Drama Ondine (1939)17. Fouque´ verfaßte das Libretto zu E. T. A. J Hoffmanns Oper U. (1816), Albert Lortzing das Textbuch zu seiner ,Zauberoper‘ U. (1845). Musikalische U.-Adaptionen finden sich u. a. bei Fre´de´ric Chopin, Antonı´n Dvorˇa´k, Alfredo Catalani, Maurice Ravel, Wolfgang Fortner und Hans Werner Henze18. 1 Dinges, O.: Peter von Staufenberg. Diss. masch. Münster 1948; Röhrich, Erzählungen 1, 27⫺61, 243⫺ 253; Trüpel-Rüdel, H.: U. ⫺ eine motivgeschichtliche Unters. Diss. Bremen 1987; Ferlan, F.: Le The`me d’Ondine dans la litte´rature et l’ope´ra allemands au XIXe`me sie´cle. Bern/Ffm. 1987; Lundt, B.: Melusine und Merlin im MA. Mü. 1991, 141⫺ 186; Mertens, V.: Melusinen, U.n, Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Jh. In: Festschr. W. Haug/B. Wachinger 1. Tübingen 1992, 201⫺231; Wienker-Piepho, S.: Questing for Souls or Never Blame Supernatural Women. The StauffenbergPoem, Clerk Colvil, U., Melusine and Other Waternymphs. In: Arv 48 (1993) 91⫺104; Fassbind-Eigenheer, R.: U. oder Die nasse Grenze zwischen mir und mir. Ursprung und literar. Bearbeitungen eines Wasserfrauenmythos. Stg. 1994; Möhrig, W. (ed.): U. und ihre Schwestern. Tübingen 1999; FassbindEigenheer, R.: U. als literar. Grenzgängerin. In: Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): Verführer, Schurken, Magier. St. Gallen 2001, 949⫺968; Steinkämper, C.: Melusine ⫺ vom Schlangenweib zur „Beaute´ mit dem Fischschwanz“. (Diss. Göttingen 2005) Göttingen 2007; Brommer, E.-M.: Undine and her Antecedents. Stabilising and Unsettling Resonances 1. B. u. a. 2009. ⫺ 2 Matt, P. von: Liebesverrat. Mü. 1989, bes. 229⫺268. ⫺ 3 Röhrich, Erzählungen 1, 246. ⫺ 4 cf. Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. Lpz. 1853, num. 95 (Loreley als Rhein-,U.‘); Schmidt-Knaebel, S.: Kommentar zu Ludwig Bechsteins Dt. Sagenbuch 1. Aachen 2004, num. 95. ⫺ 5 Zievers, I.: U. Tradition and Interpretation of an Archetypical Figure in German Literature. New Brunswick 1974; Goldammer, K.: Paracelsus in der dt. Romantik. Wien 1980; Frenzel, Stoffe, 771⫺773. ⫺ 6 Anzeiger für die Kunde des dt. MA.s 3 (1834) 88⫺90; Röhrich, Erzählungen 1, 247 sq. ⫺ 7 ibid. ⫺ 8 Vulpius, C. A.: Bibl. des romantisch-Wunderbaren 2. Lpz. 1805, 219 sq. ⫺ 9 Grimm, J. und W.: Dt.Sagen. ed. H. Rölleke. Ffm. 1994, num. 522. ⫺ 10 Lehnert, J. H.: Wanderungen im Gebiet dt. Vorzeit. B. 1831, 69. ⫺
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Unfruchtbarkeit
11 cf. Arnim, A. von/Brentano, C.: Des Knaben Wunderhorn 1. ed. H. Rölleke. Stg. u. a. 1975, 392⫺402, 681⫺703 (Kommentar). ⫺ 12 Fouque´, F. Baron de la Motte: U. B. 1811; Pfeiffer, W.: Über Fouque´s U. (Diss. Heidelberg 1902) Heidelberg 1903; Floeck, O.: Die Elementargeister bei Fouque´ und anderen Dichtern der romantischen und der nachromantischen Zeit. Heidelberg 1909; HDM 2, 207⫺209; LeSage, L.: Die Einheit von Fouque´s U. An Unpublished Essay in German by J. Giraudoux. In: Romanic Review 42 (1951) 122⫺134; Lillyman, W. J.: Fouque´s ‘U.’ In: Studies in Romanticism 10 (1971) 94⫺104; Max, F. R.: Der ,Wald der Welt‘. Das Werk Fouque´s. Bonn 1980. ⫺ 13 Fouque´, F. de la Motte: Ausgewählte Werke. ed. W. Ziesemer 2. Halle 1841, 44; Green, D. B.: Keats and La Motte Fouque´s ‘U.’ In: Delaware Notes 27 (1954) 33⫺48; Schmidt, A.: Fouque´ und einige seiner Zeitgenossen. (Bargfeld 1958) Ffm. 21960. ⫺ 14 Klugsberger, T.: Verfahren im Text. Meerjungfrauen in literar. Versionen und mythischen Konstruktionen von H. C. Andersen, H. C. Artmann, K. Bayer, C. M. Wieland und O. Wilde. Stg. 1989. ⫺ 15 Pannwitz, R.: U. ed. G. Rovagnati. Nürnberg 1999. ⫺ 16 cf. Max, F. R. (ed.): U.nzauber. Stg. 1991. ⫺ 17 cf. Frenzel, Stoffe 772 sq. ⫺ 18 Schläder, J.: „U.“ auf dem Musiktheater. Bonn 1979; Ferlan (wie not. 1); Zwanzig, E.: Vertonte Märchen, Mythen, Sagen, Legenden. Erlangen 1989, s. v. U.
Wuppertal
Heinz Rölleke
Unfruchtbarkeit. Fruchtbarkeit garantiert die Fortpflanzung von Pflanzen, Tieren und Menschen und damit den Fortbestand der Art. U. bzw. Sterilität bezeichnet die Unfähigkeit, sich fortzupflanzen; im übertragenen Sinn steht unfruchtbar für nicht schöpferisch, nutzlos. Spricht man von menschlicher U., ist meist Kinderlosigkeit gemeint. Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation liegt U. vor, wenn auch nach zwei Jahren ungeschützten sexuellen Verkehrs keine J Schwangerschaft eingetreten ist1. Mit ihren tiefgreifenden sozialen Implikationen (Status, Erbfolge) war U. hist. ein zentrales Problem und stellt auch heute noch häufig eine schwere Lebenskrise für Paare dar2. Hist. wurde für die U. eines Paares vornehmlich die Frau verantwortlich gemacht3. U. galt oft als Schande und ist bis heute als Scheidungsgrund anerkannt4. Das islam. Recht eröffnet Männern ⫺ so auch bei kinderloser Ehe ⫺ die Möglichkeit, sich eine zweite Frau zu nehmen5. Außergewöhnliche Umstände seiner J Geburt zeichnen den J Helden aus. Von U. der
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Eltern bis ins hohe Alter berichten zahlreiche Heiligenlegenden, etwa im Zusammenhang mit der Geburt des hl. J Johannes Baptista oder der hl. J Anna6. Erst in hohem Alter gebar Sara J Abraham den Sohn Isaak. Auch im Märchen mit seinem Hang zu J Extremen währt U. lang, z. B. 10, 16, 20 oder 40 Jahre7. Als ein kinderloses Paar in einer mongol. Heldenerzählung Hilfe beim wahrsagenden Lama sucht, ist der Mann 85, die Frau 75 Jahre alt; sie bekommen noch drei Söhne8. Ob König, reicher Kaufmann oder armer Bauer, ob Frau eines Brahmanen, Bäuerin oder Waschfrau9: Angehörige aller sozialen Schichten empfinden ihre Kinderlosigkeit als J Mangelsituation, leiden darunter10 und wünschen sich sehnlichst ein Kind ⫺ „sei es auch nur ein Mädchen“11, ein Winzling (AaTh/ATU 327 B: J Däumling und Menschenfresser; AaTh/ATU 700: J Däumling)12 oder von tierischer Gestalt (AaTh/ATU 430: J Asinarius; AaTh/ATU 433 B: cf. J König Lindwurm; AaTh/ATU 441: J Hans mein Igel; J Tiergeburt). Aufgrund ihres überstarken J Wunsches können Kinderlose zu dem Versprechen verleitet werden, das Kind dem hilfreichen übernatürlichen Wesen bei Erreichen der geschlechtlichen Reife zu überlassen13: In pers. Märchen etwa holt es der wundertätige Derwisch14, in griech. wird die J Sonnentochter (AaTh/ATU 898) dem Helios, der Fischersohn der J Gorgo überlassen15. Kinderlose werden verspottet, wie der reiche Bauer in KHM 108, AaTh/ATU 441; sie fragen sich, wer sie im Alter ernähren oder an ihrem Sterbetag für sie beten wird16. Der Herrscher sorgt sich um die Fortführung der Dynastie17, ein Kaiser (König) droht seiner unfruchtbaren Frau gar mit dem Tod, sollte sie bei seiner Rückkehr noch kinderlos sein18. Weil er keine Kinder hat, ergraut der König in einem port. Märchen frühzeitig (cf. AaTh/ ATU 782: cf. J Midas)19. Die Ursache für U. wird meist schamhaft verschwiegen. Ein armes Ehepaar, obwohl seit vielen Jahren verheiratet, bekommt „aus irgendeinem Grund keine Kinder“20. Die Königin in KHM 76, AaTh/ATU 652: J Prinz, dessen Wünsche in Erfüllung gingen „hatte unser Herrgott verschlossen, daß sie keine Kinder gebar“. Hingegen klagt die Bäuerin bei J Basile (2,5; AaTh/ATU 425 A: cf. J Amor und
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Unfruchtbarkeit
Psyche) unmißverständlich über die J Impotenz ihres Mannes. Unfruchtbaren Paaren wird in märchentypischer Weise durch Ratschläge, J Wundermittel (cf. Wunderbare J Empfängnis) oder Ersatzhandlungen geholfen21: Nach dem Rat des Wahrsagers formt und brennt eine Kerafrau Tonkrüge und bekommt nach langer U. eine Tochter22. Ein Holzklotz, in der Wiege geschaukelt, wächst zum Sohn heran23. Unbedachter Verzehr der Mittel gegen U. kann allerdings zu ungleichen J Zwillingen (AaTh/ ATU 711: Die schöne und die häßliche J Schwester) oder gar zu einer Schwangerschaft des Mannes (AaTh/ATU 705 A: cf. Vom J Fisch geboren) führen. Hilfe versprechen auch Gelübde, etwa Brunnen mit Öl oder Wein zu stiften in Var.n von AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen24, Pilgerreisen25 oder Gebete26. In einem Exempel läßt ein kinderloses Ehepaar in Rom eine Messe zu Ehren der zwölf Apostel lesen und bekommt in den folgenden zwölf Jahren je ein Kind27. In schwankhaften Erzählungen gibt sich ein pfiffiger Betrüger im Haus unfruchtbarer Männer als Kindermacher aus28. Der gesellschaftlich wünschenswerten Fortpflanzung steht gelegentlich der individuelle Wunsch nach Empfängnisverhütung entgegen. Mittel zur Eindämmung oder Aufhebung der Fruchtbarkeit sind seit alters bekannt29. Magische Praktiken wie das Auf-die-Finger-Setzen oder das Zuklappen eines Schlosses während der Trauung sollten Schwangerschaft verhindern bzw. eine Ehe unfruchtbar machen30. In der Sage sind bes. J Hexen für U. bei Mensch und Tier verantwortlich31. Dieser Vorstellung entspricht in zahlreichen hist. Gesellschaften eine ausgeprägte Abneigung gegen unfruchtbare Frauen (cf. J Alte Jungfer) bis hin zur Diskriminierung. Moralische Erzählungen wie AaTh/ATU 755: J Sünde und Gnade lassen im übrigen keinen Zweifel daran, daß bewußt herbeigeführte U. als frevelhaft empfunden wurde: Der U.szauber der Frau wird damit gestraft, daß sie ihren J Schatten verliert32. Sagen behandeln auch U. in der Natur. Die Blümlisalp im Berner Oberland war einst blumenreich und fruchtbar, ist jetzt aber zur J Strafe der Gottlosen eisig und von Felstrümmern übersät33. Auch das Gift des J Teufels kann die Erde unfruchtbar machen und die
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Reben mittels einer Wurzelkrankheit verderben34. Hexentanzplätze bleiben unfruchtbar35, am Ort eines Verbrechens wächst kein Gras mehr36. Während U. im Märchen genretypisch behoben wird, ist sie in der Sage als Strafe oder Fluch im Prinzip dauerhaft. Allerdings kann sich selbst das ,verfluchte Wäldchen‘ nach Schlichtung der Streitigkeiten erneut voll schönster Feldfrüchte zeigen37; als der habsüchtige Bauer die Mauer um sein Gut niederreißt, bringen die vorher unfruchtbaren Obstbäume wieder Feigen und Kirschen hervor38. 1 Grosch, S.: Ungewollte Kinderlosigkeit. In: ead.: Basics Gynäkologie und Geburtshilfe. Mü. 2006, 36⫺39, hier 36; Henning, K./Strauß, B.: Psychol. und psychosomatische Aspekte der Kinderlosigkeit. In: Ungewollte Kinderlosigkeit. Psychol. Diagnostik, Beratung und Therapie. ed. B. Strauß. Göttingen u. a. 2000, 15⫺33, hier 15. ⫺ 2 ibid., 16; Schäfer, D.: U. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 1221 sq. ⫺ 3 ibid.; Kenel Schmid, U.: Der unerfüllte Kinderwunsch in Zeiten der Reproduktionstechnologie. Zürich 1997, 23. ⫺ 4 Mengis, C.: unfruchtbar. In: HDA 8 (1936⫺37) 1408⫺1415, hier 1408; Nave´ Levinson, P.: Die Frau im Judentum. In: Neues Lex. des Judentums. ed. J. Schoeps. Gütersloh/Mü. 1998, 266⫺269, hier 266. ⫺ 5 Nowak, num. 197. ⫺ 6 Karlinger, F.: Märchen griech. Inseln und Märchen aus Malta. MdW 1979, num. 32 (griech.). ⫺ 7 Afanas’ev, num. 136; Medicinische Anekdoten. Ffm./Lpz. 1767, num. 24; Aichele, W./Block, M.: Zigeunermärchen. MdW 1980, num. 23 (aus Rumänien); Karlinger (wie not. 6); Hammitzsch, H.: Jap. Volksmärchen. MdW 1981, num. 28. ⫺ 8 Heissig, W.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 1. Wiesbaden 1988, 133 sq. ⫺ 9 Nowak, num. 93; Pan˜catantram. Übers. R. Schmidt. Lpz. 1901, Buch 1, num. 23; Basile 2,5; Christensen, A.: Pers. Märchen. MdW 1992, num. 10; Schmidt, Sachregister s. v. Kinderlos. ⫺ 10 Gobrecht, B.: Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit im europ. Zaubermärchen. In: Fabula 33 (1992) 55⫺65, hier 58 sq.; cf. Stroebe, K./Christiansen, R.: Norw. Volksmärchen. MdW 1998, num. 32; Zaunert, P.: Dt. Märchen seit Grimm. MdW 1981, num. 21. ⫺ 11 Geißler, F.: Brautwerbung in der Weltlit. Halle 1955, 8⫺11; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 203; cf. Spies, O.: Zwei volkstümliche Liebesgeschichten aus dem Orient (FFC 127). Hels. 1939, 8 sq. ⫺ 12 Oriol, C.: The Catalan Versions of AaTh 700. A Metaphor of Childbirth. In: Fabula 38 (1997) 224⫺244; ead.: “Thumbling” (ATU 700), a Folktale from Early Childhood. In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B. 2009, 223⫺244. ⫺ 13 HDM 1, 470. ⫺ 14 Marzolph 303, *303*. ⫺ 15 Megas, G. A.: Griech. Volksmärchen. MdW 1998, num. 17, 25; Gobrecht, B.: Märchenreise nach Griechenland. Reinach 2007, 17⫺21, 55⫺57. ⫺ 16 Afanas’ev, num. 137; Preindls-
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berger-Mrazovic´, M.: Bosn. Volksmärchen. Innsbruck 1905, 1⫺13. ⫺ 17 Marzolph/van Leeuwen 2, 657. ⫺ 18 Aichele/Block (wie not. 7) num. 21, 23, 41; Schier, K.: Märchen aus Island. MdW 1998, num. 22. ⫺ 19 Re´gio, J.: Der Prinz mit den Eselsohren. B. 2004, 5; cf. Meier, H./Woll, D.: Port. Märchen. MdW 1975, num. 3. ⫺ 20 Spies, O.: Türk. Märchen. MdW 1991, num. 32. ⫺ 21 Rausmaa, P.-L./Schellbach-Kopra, I.: Finn. Volksmärchen. MdW 1998, num. 9; Schmidt (wie not. 9) Buch 3, num. 13; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 234; Geißler (wie not. 11) 10. ⫺ 22 Ebert, K.: Sprache und Tradition der Kera (Tschad) 1. B. 1975, 107 sq.; Spies (wie not. 20) num. 18. ⫺ 23 Lintur, P.: Ukr. Volksmärchen. B. 1981, num. 37; Rausmaa/ Schellbach-Kopra (wie not. 21) num. 26. ⫺ 24 cf. Gobrecht, B.: Auf den Spuren der Zitronenfee: eine Märchenreise. Der Erzähltyp „Die drei Orangen“ (ATU 408). In: Märchenspiegel 17,4 (2006) 14⫺ 30. ⫺ 25 Nowak, num. 93. ⫺ 26 Löwis of Menar, A. von: Russ. Volksmärchen. MdW 1980, num. 19; Doundoulaki-Oustamanolaki, E.: Märchen von Mund zu Mund, wie sie auf Kreta die Alten den Jungen erzählen. ed. M. Sterling. Athen 1996, 37⫺42; Taube, E.: Volksmärchen der Mongolen. Mü. 2004, num. 46; Bosˇkovic´-Stulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975, num. 10. ⫺ 27 Schneider, A.: Exempelkatalog zu den „Iudicia Divina“ des Jesuiten Georg Stengel von 1651. Würzburg 1982, num. 517. ⫺ 28 Hnatjuk, V.: Das Geschlechtleben des ukr. Bauernvolkes in Österreich-Ungarn 2. Lpz. 1912, num. 306, 307. ⫺ 29 Fleischer, E.: Die Frau ohne Schatten. Gynäkologische Inszenierungen zur U. Pfaffenweiler 1993, 53; HDA 8, 1409; Meraklis, M.: Studien zum griech. Märchen. Wien 1992, 85 sq. ⫺ 30 HDA 8, 1410; cf. Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003, s. v. unfruchtbar. ⫺ 31 Gobrecht, B.: Hexen im Märchen. In: Jb. der Brüder Grimm-Ges. 8 (1998) 41⫺57, hier 48 sq.; Fleischer (wie not. 29) 48. ⫺ 32 Klintberg, B. af: Moral Attitudes in Traditional Narratives about Childlessness and Childbirth. In: The Telling of Stories. ed. M. Nøjgaard u. a. Odense 1990, 35⫺46, bes. 40⫺ 41. ⫺ 33 Grimm DS 93. ⫺ 34 cf. Grimm DS 121. ⫺ 35 Grimm DS 118. ⫺ 36 HDA 8, 1408; Grimm DS 41. ⫺ 37 Baader, B.: Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden. Karlsruhe 1859, num. 377. ⫺ 38 Gonzenbach, num. 47.
Gebenstorf
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Ungarn
Barbara Gobrecht
Ungarn 1. Geschichte ⫺ 2. Quellen und Forschung ⫺ 2. 1. Die ,Urschichten‘ der ung. Märchen ⫺ 2. 2. MA. und frühe Neuzeit ⫺ 2. 3. 17./18. Jh. ⫺ 2. 4. Anfänge der Erzählforschung ⫺ 2. 5. 20. Jh. ⫺ 3. Vergleichende Erzählforschung ⫺ 4. Minderheiten ⫺ 5. Zusammenfassung
1 . G es ch ic ht e. Nach langer Wanderung eroberten die Vorfahren der heutigen Ungarn Ende des 9. Jh.s n. u. Z. das Karpatenbecken. Seit dem Jahr 1000 ist U. ein christl. Königreich. In der Zeit von König J Matthias Corvinus bildete sich eine osteurop. RenaissanceKultur heraus. Die osman. Eroberung (bes. nach 1526) zerschnitt das Land in drei Teile; erst Ende des 17. Jh.s wurde es unter Herrschaft der Habsburger wiedervereint. Nach zahlreichen Aufständen (der bekannteste davon 1848/49) wurde 1867 der ,Ausgleich‘ mit Österreich erreicht; die Kaiserlich-Kgl. Doppelmonarchie Österreich-Ungarn ging Ende des 1. Weltkriegs zugrunde. Im 2. Weltkrieg war das kleine ,Rumpfungarn‘ mit Deutschland alliert, danach gehörte es bis 1989 zum Ostblock. Neben ca 10 Millionen Menschen im Staat U. leben außerhalb der Staatsgrenzen heute etwa 4 Millionen Ungarn. Das Ungarische ist eine finno-ugr. (ural.) Sprache, die von den eng mit ihr verwandten Sprachen (cf. u. a. J Ostjaken, J Wogulen) seit Jahrtausenden räumlich getrennt ist. An der Geschichte des zwischen Ost und West liegenden Landes lassen sich exemplarisch die Etappen der ostmitteleurop. Kulturgeschichte und damit auch der vergleichenden Erzählforschung aufzeigen1. Das heutige Wort mese (Märchen) stammt aus einem finno-ugr. Verb für ,sagen/sprechen‘ und bedeutete bis zum 16. Jh. Rätsel; zum allg. Gattungsnamen für Märchen wurde es erst im 19. Jh.2 2 . Q ue ll en un d For sc hu ng 2 .1 . D ie ,U rs ch ic ht en ‘ d er un g. Mä rc he n. Ein Lieblingsthema der ung. Erzählforschung sind die sog. ,Urschichten‘ ung. Märchen. Forscher der J mythol. Schule im 19. Jh. (A. J Ipolyi), später u. a. S. J Solymossy3, V. Dio´szegi und L. Vargyas haben etwa über die vermuteten bzw. hypothetischen Ursprünge einzelner Motive (der himmelhohe J Baum, das sich auf einem Entenfuß drehende Schloß [J Haus auf Hühnerfüßen] etc.) oder stereotyper Eingangsformeln gearbeitet4. ´ . J Kova´cs behandelte mehr als 20 MärA chentypen als Beispiele von ,Heldenmärchen‘ der ung. ,Urdichtung‘ ⫺ ohne allerdings tatsächlich vergleichendes Beweismaterial vorzulegen5. Spuren von J Schamanismus in ung.
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Ungarn
Märchen sind oft erwähnt, jedoch meist eher kritisch bewertet worden6. 2 .2 . M A. un d f rü he Ne uz ei t. Für das MA. läßt sich ung. Erzählgut nur indirekt bestätigen; so kann etwa aus Ortsnamen wie Teufelsloch, Drachenkopf oder Bärenhöhle nicht direkt auf damaliges Erzählgut geschlossen werden7. Die im 15. bzw. 16. Jh. wirkenden Minoritenprediger J Pelba´rt von Temesva´r und Osvald von Lasko´ führen ⫺ fast ausnahmslos aus schriftl. Quellen ⫺ ca 400 narrative Texte in ihren Predigten an, und ihre Bücher beeinflußten lange Zeit die europ. kirchliche Erzähltradition. Seit dem 16. Jh. erscheinen Exempla in U. in ung. Sprache. Mit Beginn der frühen Neuzeit sind auch weitere Erzählgattungen nachgewiesen. König Matthias Corvinus etwa ließ zum Zweck der Propaganda von seinen (meist ital.) Humanisten ,scherzhafte Geschichten über den König‘ veröffentlichen; solche zunächst auf Lateinisch verfaßten Bücher erschienen seit der 2. Hälfte des 16. Jh.s auch auf Ungarisch8. Mit der Erfindung des Buchdrucks wurde ein breiteres Publikum angesprochen. Zudem betonten die nun erscheinenden Werke die didaktische und unterhaltende Funktion von Erzählungen. Auf der Grundlage von Johannes J Paulis Schimpf und Ernst u. a. dt.sprachigen Quellenwerken erschienen im 16. Jh. diverse Geschichtensammlungen, so von Ga´bor Pesti (1536) und Ga´spa´r Heltai (Kaspar Helth; 1566)9. Lutheraner wie Bischof Pe´ter Bornemisza (1578) übermittelten die dt. J Teufelliteratur10. Viele der für die internat. Erzählforschung wichtigen Werke und Stoffe wurden (meist in Versform) auch auf Ungarisch veröffentlicht, so der J Alexanderroman, J Apollonius von Tyrus, J Jovinian (AaTh/ATU 757), J Fortunatus (AaTh/ATU 566)11, J Salomon und Markolf, die J Gesta Romanorum oder das Volksbuch Die schöne J Magelone. Das 1582⫺89 aus dem Italienischen übersetzte A´rgirus-Gedicht (AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau) wirkt bis heute in der mündl. Überlieferung nach12. Es gibt auch Hinweise darauf, daß die Geschichten von J Eulenspiegel13 oder J Faust in U. bekannt waren14. 2 .3 . 1 7. /1 8. Jh. Die bislang nur wenig erforschten kathol. und protestant. Werke des
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17./18. Jh.s verwerteten Exempel, Fabeln und andere Texte der gemeineurop. Andachts- und Visionsliteratur15. Aus dem oriental. Erzählgut sind nur wenige direkte Übers.en bekannt, so etwa das Horologium Turcicum (1678⫺82) von D. Rosnyai auf der Grundlage einer türk. Fassung des J Pan˜catantra16. Frühe Übers.en westeurop. Märchen wurden etwa in Kalendern publiziert17, so 1763 eine Übers. von AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut; hier ist zum ersten Mal die Eingangsformel ,Es war …, es war nicht‘ nachweisbar18. Die Feenmärchen von J Perrault und Mme d’J Aulnoy erschienen (aus dem Deutschen übersetzt) in den für ein allg. Publikum bestimmten Ausg.n von J. Ko´nyi19. Die älteste, ungedr. ung. Märchensammlung (1789) ist ein literar. Produkt; sie enthält acht (möglicherweise aus dem Deutschen übersetzte) Märchen sowie Texte aus den von V. Weber herausgegebenen Sagen der Vorzeit (1⫺ 7. B. 1790)20. Die ersten großen gedr. Ausg.n von schwankhaftem Erzählgut durch Ko´nyi (1782) oder S. Andra´d (1789) enthalten sowohl ung. als auch der internat. Überlieferung entstammende Texte21. In den zunehmend verfügbaren preisgünstigen Publ.en finden sich mehr und mehr Erzählungen, darunter auch Übers.en aus dem Deutschen und Tschechischen22. 2 .4 . Anf än ge de r E rz äh lf or sc hu ng. In der Folge von J. J Grimms Circular wegen Aufsammlung der Volkspoesie (1815) erschienen auch in U. Aufrufe zum Sammeln von Volksdichtung. G. von J Gaal publizierte mit Mährchen der Magyaren (Wien 1822) die erste Slg ung. Volksmärchen. Die Angehörigen seines Wiener Kreises ⫺ u. a. J. Graf J Maila´th und A. Baron Mednya´nszky23 ⫺ haben die von ihnen herausgegebenen Sagen- und Märchentexte stark romantisch stilisiert; insgesamt veröffentlichten sie ca 400⫺500 Texte, entweder aus hist. Quellen oder nach skizzenhaften Aufzeichnungen aus der mündl. Überlieferung24. In den 1840er Jahren wurde eine landesweite Aktion zur Sammlung von Volksdichtung durchgeführt25, in deren Nachfolge J. J Erde´lyi Ne´pdalok e´s monda´k 1⫺3 ([Volkslieder und Sagen]. Pest 1846⫺48), die erste Anthologie von Volksdichtung in ung. Sprache, sowie Magyar ne´pmese´k ([Ung. Volksmärchen]. Pest
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Ungarn
1855), die erste Anthologie ung. Märchen, herausgab26. Auch die Schriftsteller der ,Reformzeit‘ (1825⫺1848) beschäftigten sich mit der Wesensbestimmung der Gattung Märchen, meist auf der Grundlage dt. Lit. Der Unitarierbischof J. J Kriza und der kathol. Pfarrer Ipolyi bauten Sammlernetze auf. Ipolyis Slg wendet sich an die ung. Mythologieforschung und enthält nur Kurzfassungen der Erzählungen27; Krizas Slg bringt vollständige Texte, die allerdings unter Mitwirkung des Lit.kritikers P. Gyulai stilistisch ,verfeinert‘ wurden. Der Stil dieser Märchen gilt dem ung. Publikum bis heute als ,echt ung.‘28 Sammler wie G. Kazinczy29 machen auch erstmals Angaben zu ihren Gewährsleuten. L.J Ka´lma´ny veröffentlichte in seinem Buch Hagyoma´nyok ([Überlieferungen]. Szeged [1914]) das Repertoire des südung. Erzählers Miha´ly Borbe´ly, eines Knechts. Oft wurden Märchen mit Hilfe von Schülern gesammelt, was eher Aussagen über das Publikum als über die Erzähler zuläßt. Viele der damaligen Slgen sind bislang nicht veröffentlicht. Die Sammler haben ihre Texte meist nach der Erinnerung und nach Stichworten ,rekonstruiert‘, so daß etwa Dialektformen in unterschiedlichem Maß bewahrt sind. Der ung. Nationaldichter Ja´nos Arany (1817⫺82) hat in diesem Zusammenhang einen einflußreichen Essay (1860) über Ziele und Grenzen der Stilisierung populären Erzählguts verfaßt30. Die erste Systematisierung ung. Volkserzählungen ist I. Henszlmann zu verdanken. Er hat alle bis 1846 publ. ung. Volkserzählungen in die drei Hauptgattungen jelke´pes mese (symbolisches Märchen), fabula (Fabel) und de´vajka (Schwank) aufgeteilt und mit anderen Texten aus U. verglichen31. Später haben P. Gyulai und L. J Arany die Gattungskategorien der europ. Erzählforschung (von Grimm bis T. J Benfey) in U. verbreitet. Seit 1860 wurden die J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm häufig in U. übersetzt und haben dort stark nachgewirkt32. 2 .5 . 2 0. Jh. Der Komparatist L. J Katona begründete die philol. Schule der ung. Erzählforschung. Als ung. Vertreter des Forscherbundes der Folklore Fellows hatte er bereits vor A. J Aarnes internat. Typenkatalog ähnliche Klassifierungen vorgeschlagen und später seinen Schüler J. J Berze Nagy mit
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der Einarbeitung der ung. Var.n beauftragt. Um die Jh.wende brachte E. Sklarek (später Ro´na-Sklarek) mit Hilfe von J. J Bolte und A. J Schullerus eine neue umfassende (dt.sprachige) Slg ung. Volksmärchen heraus33. Der Philologe Solymossy stellte als einer der ersten die Wanderung eines Märchens kartographisch dar34. Psychoanalytische Sichtweisen J Freudscher Prägung wurden durch G. J Ro´heim eingeführt. J. J Honti erstellte u. a. den ersten vollständigen Katalog ung. Märchen35. In seinen Arbeiten polemisierte er heftig gegen die ,ur-ung.‘ Richtung36. Der erfolgreichste ung. Folklorist des 20. Jh.s war G. J Ortutay, für den bes. der Märchenerzähler (und seine Lebensgeschichte) im Mittelpunkt stand37. Ortutays Einführungen in das ung. Volksmärchen haben grundlegenden Charakter38. Zu seinen Schülern gehö´ . Kova´cs, L. Pe´ter, I. Katona, später ren u. a. A ´ . Dömötör, I. Nagy, I. S. Erde´sz, I. Dobos, A Krı´za, V. J Voigt und vor allem L. J De´gh. De´gh entwickelte die Erzähleranalyse der ,Budapester Schule‘ konsequent weiter39. Die ´ . Koauch als Feldforscherin ausgewiesene A va´cs publizierte Sammlungen ung. Märchen40 und leitete die Arbeiten am Katalog ung. Märchentypen (MNK), dessen letzte Bände von K. Benedek betreut wurden41. Zur Volksüberlieferung der nicht in U. ansässigen ung. Bevölkerung erschienen die ersten Slgen nach 1945. In Rumänien hatte J. J Farago´ eine führende Position inne42. O. Nagy hat zu ung. Märchen aus Siebenbürgen gearbeitet43, G. Vöo˝ beschäftigte sich ebenfalls in Rumänien mit Schwänken, Anekdoten und anderen Kurzformen der ung. Volksdichtung44. In Jugoslawien hat O. Penavin ung. Volksmärchen gesammelt45. J. Raffai erstellte einen Katalog ung. Märchen in Serbien46. Bes. wertvoll sind die burgenländ. Slgen (österr., ung., kroat.) von K. Gaa´l47, dessen Aufzeichnungen im Phonogrammarchiv der Österr. Akad. der Wiss.en in Wien bzw. in Kopie im Komitatsmuseum im ung. Szombathely zur Verfügung stehen. Unter den neueren Forschungsmethoden haben J Strukturalismus oder feministische Interpretationsansätze die ung. Erzählforschung nur wenig beeinflußt; der J Marxismus ist praktisch folgenlos geblieben. Das Sammeln und Aufzeichnen populären Erzähl-
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Ungarn
guts wird nach wie vor, jetzt mit modernen technischen Methoden, fortgeführt, bes. in den Randgebieten. Wenngleich kein zentrales Erzählarchiv existiert, sind von den ca 100 000 vorhandenen Aufzeichnungen mindestens 40 000 Texte publiziert; davon ist mehr als die Hälfte im MNK nachgewiesen. Aus neuerer Zeit liegen wiss. Überblicksartikel zum ung. Erzählgut vor48. 3 . Vergl ei ch en de Er zä hl fo rs ch un g. Umfangreiches Material zur vergleichenden Erzählforschung enthalten u. a. die linguistischen Publ.en der Finnougristik49. Die ung. Orientalisten I. J Goldziher, B. J Heller und ihre Schüler haben Arbeiten zu arab. und hebr. Märchen vorgelegt. Das Budapester Rabbinerseminar (seit 1868) war auch eine Schule der vergleichenden Erzählforschung50, wie es u. a. in der vielseitigen Themen- und Motivforschung von S. J Scheiber zum Ausdruck kommt51. Auch R. Patai (1910⫺96), der Begründer des Palestine Institute of Folklore and Ethnology (Jerusalem), hat hier studiert. Altind. Märchen wurden u. a. durch J. Schmidt und J. Vekerdi aus den Orig.sprachen übersetzt und untersucht52. Seit kurzem liegt auch eine philol. einwandfreie vollständige Übers. von J Tausendundeine Nacht aus dem Arabischen vor53. 4 . Min de rh ei te n. Ungarndt. Märchen wurden bereits zwischen den Weltkriegen von I. Györgypa´l-Eckert, A. Loschdorfer, E. J Zenker-Starzacher und auch den Studenten der Wandervogel-Bewegung im Rahmen der Sprachinselforschung gesammelt54. Später haben A. J Cammann, G. J Henßen, A. J Karasek und bes. J. J Künzig derartiges Material zusammengetragen bzw. veröffentlicht, auch auf Schallplatten. Die Mehrzahl der bis in die jüngste Zeit gesammelten Texte ist allerdings nach wie vor unveröffentlicht55. Die erste ruthen. Märchensammlung wurde um 1870 von M. Fincicky vorgelegt; es ist jedoch nur die ung. Übers. erhalten56. Die wiss. Erforschung der Folklore der ung. Roma geht vor allem auf H. J Wlislocki (1885), dessen Arbeiten z. T. von zweifelhafter Authentizität sind, sowie auf A. Herrmann (1894) zurück57. Bes. wertvoll sind die Publ.en (teils mit Schallplatte) von K. Bari mit Roma-
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Märchen u. a. aus U., Rumänien und der Slovakei58. Einige der größten ung. Erzähler, wie ´ mi, gehörten zur Volksgruppe der Lajos J A Roma59. V. Görög-Kara´dy hat u. a. Material des Erzählers Ja´nos Berki veröffentlicht60. Die in den letzten Jahrzehnten sowohl in U. als auch in Siebenbürgen gesammelten Märchen wurden mehrheitlich von zweisprachigen Erzählern vorgetragen61. Slov. Märchen in U. wurden u. a. von A. Gyivicsa´n62, A. Krupa63 und Sˇ. Lami64 veröffentlicht. Tschech. Märchen in U. wurden von D. J Klı´mova´, Volksmärchen der kleinen rumän. Minderheit in Südost-U. u. a. von S. Domokos vorgelegt65. Auch von den Kroaten in U. liegt eine Erzählsammlung vor66. Die südslav. Volkserzählungen (bes. bei den Bunjewazen in der Batschka und in Südungarn) zeigen im Hinblick auf Ökotypen, Motive, Personen und formelhafte Sprache starke Wechselbeziehungen zur ung. Tradition. Von den im Israel Folktale Archive gesammelten Märchen der ung. Juden ist bislang wenig veröffentlicht67. 5 . Z us am me nf as su ng. Zur ung. Erzählforschung68 liegen zahlreiche grundlegende Veröffentlichungen vor, so Typenkataloge69, Anthologien70 und zusammenfassende Darstellungen71. Auch heute noch finden sich bei den moldau. Tschangos oder in kleineren ung. Siedlungen in Serbien gute Erzähler. In U. selbst gibt es ,Märchenlehranstalten‘, an denen die alte Überlieferung vermittelt wird72. Derartige Erscheinungen und Veranstaltungen sind z. T. vor dem Hintergrund eines modernen J Folklorismus entstanden73. 1 Voigt, V.: Mese (Märchen). In: id. (ed.): A magyar folklo´r (Die ung. Folklore). Bud. 1998, 221⫺280. ⫺ 2 id.: Ung. ,mese‘? In: Festschr. K. Re´dei. Wien/Bud. 1992, 445⫺450. ⫺ 3 Solymossy, S.: Verwandtschaft des ung. Volksmärchens mit dem oriental. In: Ung. Jb. 3 (1923) 115⫺134. ⫺ 4 cf. Voigt, V.: Hol volt, hol nem volt (Es war und es war nicht). In: id.: Meseszo´ (Märchenwort) 1. Bud. 2007, 371⫺376. ⫺ 5 Kova´cs, ´ .: A ho˝smese (Das Heldenmärchen). ibid. 90 (1979) A ´ .: Schamanistisches im 457⫺479. ⫺ 6 cf. Kova´cs, A ung. Volksmärchen. In: Gehrts, H. (ed.): Schamanentum und Zaubermärchen. Kassel 1986, 110⫺ 121. ⫺ 7 Ortutay, G.: Ung. Volksmärchen. B. 1957; cf. hierzu Voigt (wie not. 1) 257 sq. ⫺ 8 Voigt, V.: King Ma´tyas in Hungarian and European Folklore.
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In: Horva´th, I. u. a. (edd.): Ma´tya´s rex 1458⫺1490. Hungary at the Dawn of the Renaissance. Bud. 2009 (im Druck). ⫺ 9 cf. id.: A folklo´r e´s irodalom kapcsolata a magyar a´llatmese´kben (Kontakte der Folklore und Lit. in den ung. Tiermärchen). In: A Debreceni De´ri Mu´zeum e´vkönyve 1979 (1981) 281⫺ 329. ⫺ 10 Borzsa´k, I.: Az antikvita´s XVI. sza´zadi ke´pe. Bornemisza-tanulma´nyok (Das Antikenbild des 16. Jh.s. Bornemisza-Studien). Bud. 1960. ⫺ 11 La´za´r, B.: A Fortunatus-mese az irodalomban (Das Fortunatus-Märchen in der Lit.). In: Egyetemes Philologiai Közlöny (1890) Ergänzungsband 2, 335⫺504. ⫺ 12 Heinrich, G.: Az Argirus mese (Das Märchen von Argirus). Bud. 1921; Kardos, T.: Az ´ rgirus-sze´phisto´ria (Die schöne Historie von ArgiA ´ rgirus-ke´rde´shez (Zur rus). Bud. 1967; Nagy, P.: Az A Argirus-Frage). Bud. 1984. ⫺ 13 György, L.: Eulenspiegel magyar nyomai (Die ung. Spuren Eulenspiegels). Kolozsva´r 1932. ⫺ 14 Ortutay, G.: Die Faustsage in U. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 267⫺274. ⫺ 15 Dömötör, ´ .: A magyar protesta´ns exemplumok katalo´gusa A (Katalog der protestant. Exempel in U.). Bud. 1992; Tüske´s, G.: A XVII. sza´zadi elbesze´lo˝ egyha´zi irodalom euro´pai kapcsolatai (Na´dasi Ja´nos) (Die europ. Kontakte der erzählenden kirchlichen Lit. des 17. Jh.s [Ja´nos Na´dasi]). Bud. 1997; Szigeti, J.: Protesta´ns ne´pi la´toma´sok a XVIII. sza´zadbo´l (Protestant. Volksvisionen aus dem 18. Jh.) 1. Bud. 2006; cf. Voigt, V.: Tu´lvila´g-la´toma´sainkra utalo´ nyomok a 17. e´s 18. sza´zadbo´l (Spuren der Jenseitsvisionen aus dem 17./18. Jh.). In: Teremte´s. Szövegfolklorisztikai tanulma´nyok Nagy Ilona tisztelete´re (Schöpfung. Festschr. I. Nagy). Bud. 2006, 388⫺407. ⫺ 16 Rozsnyai, D.: Horologium Turcicum. ed. L. De´zsi. Bud. 1926. ⫺ 17 cf. Trostler, J.: Kegyesse´gre serkento˝, szı´veket vida´mito´, elme´t mulattato´ istoria´k e´s mese´s fabula´k (Frömmigkeitsanmutende, herzerfreuende, sinnvergnügende Erzählungen und märchenhafte Fabeln). Gyoma 1939. ⫺ 18 cf. Voigt (wie not. 2). ⫺ 19 György, L.: Ko´nyi e´s d’Aulnoy. Kolozsva´r 1911. ⫺ 20 Ha´rom va´ndorlo´ Kira´lyfirul valo´ Historia. A sa´rospataki ke´ziratos ne´pmesegyu˝jteme´ny 1789 (Eine Historie von drei wandernden Königssöhnen. Die hs. Volksmärchenslg 1789 aus Sa´rospatak). ed. K. Benedek. Bud. 2004. ⫺ 21 György, L.: Ko´nyi Ja´nos Demokritusa (Der Demokritus von Ja´nos Ko´nyi). Bud. 1931. ⫺ 22 Hopp, L./Küllo˝s, I./Voigt, V. (edd.): A megva´ltozott hagyoma´ny. Folklo´r, irodalom, mu˝velo˝de´s a XVIII. sza´zadban (Die Tradition im Wandel. Folklore, Lit. und Bildung im 18. Jh.). Bud. 1988. ⫺ 23 cf. bes. Mednianszky, A. Freiherr von: Erzählungen, Sagen und Legenden aus U.s Vorzeit. Pest 1829; Gleich, J. A.: Sagen der ung. Vorzeit. Ein Gegenstück zu den Sagen der Vorzeit von Veit Weber. Wien 1800. ⫺ 24 Voigt, V.: Reformkori monda´k (Sagen im ung. ReformZA.). In: Ne´prajzi tanulma´nyok 9. Acta Museologica 1⫺2. Koma´rom 1994, 73⫺98. ⫺ 25 cf. Ortutay, G.: Die Geschichte der ung. Volksdichtungsslgen. In: Ung. Jbb. 18 (1938) 175⫺201. ⫺ 26 Stier,
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G.: Ung. Sagen und Märchen. Aus der Erde´lyi’schen Slg. B. 1850; cf. auch id.: Ung. Volksmärchen. Nach der aus Georg Gaals Nachlaß herausgegebenen Urschrift übers. Pest 1857. ⫺ 27 Benedek, K. (ed.): A tengeri kisasszony. Ipolyi Arnold ke´ziratos folklo´rgyu˝jteme´nye ege´sz Magyarorsza´gro´l 1846⫺1858 (Die Meerjungfrau. Arnold Ipolyis Slg von Volkserzählungen aus ganz U. ). Bud. 2006. ⫺ 28 cf. Jones, W. H./Kropf, L. L.: The Folk-Tales of the Magyars. L. 1886. ⫺ 29 Domokos, M.: Kazinczy Ga´bor e´s a mese´k (Ga´bor Kazinczy und die Märchen). In: Ba´lint, P. (ed.): A meseszöve´s va´ltozatai (Formen des Märchenwebens). Debrecen (2003) 22007, 141⫺157; Gulya´s, J.: A 19. sza´zadi magyar meseanyag kutata´sa´nak eredme´nyei, proble´ma´i e´s leheto˝se´gei: ne´pmese e´s irodalmi mese (Ergebnisse, Probleme und Möglichkeiten der Erforschung der ung. Märchen im 19. Jh.: Volksmärchen und Kunstmärchen). ibid., 158⫺197. ⫺ 30 cf. Arany, J.: Eredeti ne´pmese´k ⫺ Bı´ra´lat (Orginale Märchen ⫺ Kritik). In: Dömötör, T./ Katona, I./Voigt, V. (edd.): Folklorisztikai tudoma´nytörte´net. Szöveggyu˝jteme´ny 1: 1840⫺1900. Bud. 1978, 322⫺339. ⫺ 31 Henszlmann, I.: A ne´pmese Magyarorsza´gon (Das Volksmärchen in U.) [1847]. ibid., 246⫺321. ⫺ 32 Ortutay, G.: Jacob Grimm und die ung. Folkloristik. In: DJbfVk. 9 (1963) 169⫺189; Voigt, V.: Aus Deutschland über Österreich nach U. In: Europ. Ethnologie und Folklore im internat. Kontext. Festschr. L. Petzoldt. Ffm. u. a. 1999, 309⫺320. ⫺ 33 Sklarek, E.: Ung. Volksmärchen. Lpz. 1901; Ro´na-Sklarek, E.: Ung. Volksmärchen. N. F. Lpz. 1909; cf. Sklarek, E.: Ung. Volksmärchen. In: ZfVk. 13 (1903) 70⫺75; Ro´na-Sklarek, E.: Ung. Volksmärchen. ibid. 17 (1907) 109⫺112; ibid. 19 (1909) 92⫺ 95; ead.: Einige Grimmsche Märchen im ung. Volksmunde. In: Gragger, R. (ed.): Philologiai dolgozatok a magyar-ne´met e´rintkeze´sekro˝l. Bud. 1912, 366⫺ 378. ⫺ 34 Solymossy, S.: Mese a ja´vorfa´ro´l (Das Märchen vom singenden Knochen). In: Ethnographia 31 (1920) 1⫺25. ⫺ 35 Honti, H.: Verz. der publizierten ung. Volksmärchen (FFC 81). Hels. 1928. ⫺ 36 cf. Dömötör, T.: Ja´nos Honti. Leben und Werk (FFC 221). Hels. 1978. ⫺ 37 cf. Ortutay, G.: Hungarian Folklore. Bud. 1972, bes. 205⫺322. ⫺ 38 id.: Ung. Volksmärchen. Bud. 1957; id.: Das Volksmärchen. In: Balassa, I./Ortutay, G. (edd.): Ung. Vk. Bud./Mü. 1979, 596⫺624, 800 sq. ⫺ 39 De´gh, L.: Narratives in Society (FFC 255). Hels. 1995, bes. 7⫺ 29; ead.: Legend and Belief. Dialectics of a Folklore Genre. Bloom./Indianapolis 2001. ⫺ 40 cf. Kova´cs, ´ .: Ung. Volksmärchen. Mü. 1966; ead.: Der grüne A Recke. Ung. Volksmärchen. Kassel 1986; ead.: König Ma´tya´s und die Ra´to´ter. Ung. Schildbürgerschwänke und Anekdoten. Lpz./Weimar 1988. ⫺ 41 cf. Voigt, V.: Az u´j magyar ne´pmesekatalo´gus ke´rde´sei (Probleme des neuen ung. Volksmärchenkatalogs). In: Ethnographia 104 (1993) 167⫺180. ⫺ 42 Farago´, J.: Kurcsi Minya havasi mesemondo´ (Minya Kurcsi, ein Märchenerzähler auf der Alm in Siebenbürgen). Buk. 1969. ⫺ 43 Nagy, O.: A ta´ltos
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törve´nye. Ne´pmese e´s eszte´tikum (Das Gesetz des Zauberpferdes. Volksmärchen und Ästhetik). Buk. 1978; ead.: Ho˝sök, csalo´ka´k, ördögök. Essze´ a ne´pmese´ro˝l (Helden, Schurken, Teufel. Essay über das Volksmärchen). Buk. 1974; ead.: Ta´ltos e´s Pegasus (Zauberpferd und Pegasus). Bud. 1993. ⫺ 44 z. B. Vöo˝, G.: Többet e´sszel, mint ero˝vel. Mese´k, tre´fa´k, anekdota´k a roma´niai magyar ne´pkölte´szetbo˝l (Eher mit Vernunft als mit Kraft! Märchen, Scherze, Anekdoten aus der ung. Volksdichtung in Rumänien). Buk. 1969; ead.: Tre´fa´s ne´pi elbesze´le´sek (Schwankhafte Volkserzählungen). Buk. 1981; ead.: Kilenc ke´ve ha´ny kalangya? Anekdota´k a sze´kelyekro˝l (Wie viele Mandeln entstehen aus neun Garben? Sze´kleranekdoten). Buk. 1982. ⫺ 45 Penavin, O.: Jugoszla´viai magyar diakron ne´pmesegyu˝jteme´ny (Diachrone Slg ´ jvider ung. Volksmärchen in Jugoslawien) 1⫺2. U de´k 1993/96. ⫺ 46 Raffai, J.: A vajdasa´gi magyar ne´pmesekatalo´gus. (Typenkatalog ung. Volksmärchen aus Serbien). Diss. Bud. 2006 (unveröff., mit Datenbank). ⫺ 47 Gaa´l, K.: Die Volksmärchen der Magyaren im südl. Burgenland. B. 1970; id.: Erzählgut der Kroaten aus Stinatz im südl. Burgenland. Wien 1983; id.: Kire marad a kisködmön? Adatok a burgenlandi be´resek elbesze´lo˝ kultu´ra´ja´hz (Wer erbt das Jankerl? Über die Kommunikationskultur der Gutshofknechte im Burgenland). Szombathely 1985 (zweisprachig); id.: Aranymada´r. A burgenlandi magyar faluk elbesze´lo˝kultu´ra´ja (Der goldene Vogel. Die Erzählkultur in den ung. Dörfern im Burgenland). Szombathely 1988. ⫺ 48 Bano´, I.: Ne´pmese (Volksmärchen). In: Magyar ne´prajz (Ung. Vk.). 5,1: Magyar ne´pkölte´szet (Ung. Volksdichtung). ed. L. Vargyas. Bud. 1988, 7⫺78; Erde´sz, S.: A mese e´s hiedelemvila´g kapcsolata (Das Märchen und die Glaubenswelt). ibid., 79⫺101; Nagy, I.: Eredetmagyara´zo´ monda (Ätiologische Sage). ibid., 102⫺132; Sa´ndor, I.: Anekdota (Anekdote). ibid., 167⫺212; Gulya´s, J. (ed.): Tanulma´nyok a 19. sza´zadi magyar szövegfolklo´rro´l (Studien zu ung. Folklore-Texten im 19. Jh.). Bud. 2008 (bes. zum Begriff mese: Märchen, 1772⫺ 1850). ⫺ 49 cf. u. a. Wlislocki, H. von: Tiermärchen der Wotjaken. In: Zs. für vergleichende Litteratur 6 (1893) 399⫺405; Katona, L.: Finn. Märchen. In: Ethnol. Mittlgen aus U. 1 (1887⫺88) 30⫺33, 167⫺ 171, 268⫺270; Honti, J.: A vogul mese´k a´ttekinte´se (Übersicht der wogul. Märchen). In: Ethnographia 42 (1931) 181⫺192. ⫺ 50 Voigt, V.: A Rabbike´pzo˝ e´s a mesekutata´s (Das Budapester Rabbinerseminar und die Märchenforschung). In: Schweitzer, J. (ed.): „A tanı´ta´s az e´let kapuja.“ Tanulma´nyok az Orsza´gos Rabbike´pzo˝ Inte´zet fenna´lla´sa´nak 120. e´vfordulo´ja alkalma´bo´l („Die Lehre ist des Lebens Pforte.“ Studien zum 120. Bestehen des Landesrabbinerseminars in U.). Bud. 1999, 55⫺67. ⫺ 51 Scheiber, S.: Folklo´r e´s ta´rgytörte´net (Folklore und Motivgeschichte) 1⫺3. ed. T. Raj. Bud. 1996; Kerte´sz, P.: A könyvek hı´dja. Emle´kfüze´r Scheiber Sa´ndorro´l (Brücke der Bücher. Erinnerungskranz um S. Scheiber). Bud. 2005. ⫺ 52 cf. Pancsatantra. Übers. J. Schmidt. Gyoma 1924 (Bud. 21959); Na´-
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ra´yana. Hasznos tanı´ta´sok a Hitopade´sa mese´ibo˝l [Übers. des Hitopades´a]). Übers. J. Vekerdi. Bud. 1959; Sukaszaptati. Übers. id. Bud. 1962; A mesefolyamok o´cea´nja (Ozean der Märchenströme) 1⫺2. Übers. id. Bud. 1982. ⫺ 53 Az Ezeregye´jszaka mese´i (Märchen der Tausendundeinen Nacht) 1⫺7. Übers. C. Prileszky/R. Simon. Bud. 1999⫺2000. ⫺ 54 cf. Tafferner, A.: Donauschwäb. Wiss. Mü. l974, bes. 140 sq.; Györgypa´l-Eckert, I.: Die dt. Volkserzählung in Hajo´s, einer schwäb. Sprachinsel in U. (Diss. B. 1940) Hbg 1941; Zenker-Starzacher, E.: Eine dt. Märchenerzählerin aus U. Mü. 1941 (erw. Aufl. u. d. T. „Es war einmal …“ Dt. Märchen aus dem Schildgebirge und dem Buchenwald. Wien 1956; neue Ausw. u. d. T. Märchen aus dem Schildgebirge. Dt. Erzählgut aus U. Klagenfurt 1986). ⫺ 55 cf. u. a. Cammann, A.: Erzählforschung-Feldforschung bei den U.deutschen. In: Beitr.e zur Vk. der U.deutschen 4 (1982) 7⫺116; Rieken, B.: Wie die Schwaben nach Szulok kamen. Erzählforschung in einem ungarndt. Dorf. Ffm. u. a. 2000; Herger, E.: Der Teufelsgipfel. Ungardt. Volksmärchen für Kinder. Bud. 1988. ⫺ 56 Fincicky, M.: A vasorru´ indzsibaba. Ka´rpa´tukrajnai ne´pmese´k (Der Indschibaba mit der eisernen Nase. Volksmärchen aus der Karpato-Ukraine). ed. ´ . Kova´cs. Bud. 1970. ⫺ 57 Vekerdi, J.: A maA gyarorsza´gi ciga´ny kutata´sok törte´nete (Geschichte der [ethnogr.] Zigeunerforschung in U.). Debrecen 1982; id.: A ciga´ny ne´pmese (Das Volksmärchen der Zigeuner). Bud. 1974; id.: Ciga´ny nyelvja´ra´si ne´pmese´k/Gypsy Dialect Tales from Hungary 1⫺2. Debrecen 1985. ⫺ 58 Bari, K.: Az erdo˝ anyja. Ciga´ny ne´pmese´k e´s hagyoma´nyok (Die Mutter des Waldes. Volksmärchen und Überlieferungen der Zigeuner). Bud. 1990; id.: Az üvegtemplom. Ciga´ny ne´pmese´k (Die Glaskirche. Volksmärchen der Zigeuner). Debrecen 1994 (zweisprachig); id.: A tizenke´t kira´lyfi. Ciga´ny ne´pmese´k (Zwölf Königssöhne. Volksmärchen der Zigeuner). Bud. 1996. ⫺ 59 Erde´sz, S./Futaky, R.: Zigeunermärchen aus U. Die Volkserzäh´ mi. MdW 1996; cf. auch Kova´cs, lungen des Lajos A ´ .: Ilona Tausendschön. Zigeunermärchen und A Schwänke aus U. Kassel 1980. ⫺ 60 cf. bes. GörögKara´dy, V.: E´va gyermekei e´s az egyenlo˝tlense´g eredete (Evas Kinder und der Ursprung der Ungleichheit). Bud. 2006. ⫺ 61 cf. MNK 10,1. ⫺ 62 Lami, I.: Vara´zshegeduˆ. Magyarorsza´gi szlova´k ne´pmese´k, monda´k, legenda´k (Die Zaubergeige. Slovak. Märchen, Sagen, Legenden aus U.). Miskolc 2002. ⫺ 63 Krupa, A.: Rozpra´vky nˇanˇicˇky Zˇofky ⫺ Zsofka ne´ni mese´i (Die Märchen der Amme Sophie). Be´ke´scsaba 1984 (zweisprachig). ⫺ 64 Gyivicsa´n, A.: A szlova´k mese´kro˝l (Über das slovak. Märchen) 1⫺2. Be´ke´scsaba 2003. ⫺ 65 Domokos, S.: Vasile Gurza˘u magyar e´s roma´n nyelvu˝ mese´i (Die ung.- bzw. rumän.sprachigen Märchen von Vasile Gurza˘u). Bud. 1968. ⫺ 66 Frankovic´, Í.: Zlatne niti. Usmene pripovijetke iz Podravine (Goldene Fäden. Mündl. Überlieferungen aus dem Drau-Gebiet). Bud. 1989. ⫺ 67 cf. Bribram, G.: Jewish Folk-Stories from Hungary. Haifa
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Ungeboren
1965. ⫺ 68 Ortutay (wie not. 25); Veze´nyi, P.: Die Geschichte der ung. Märchen- und Aberglaubensfor´ ./ schung im 20. Jh. Fbg 1960 (veraltet); Kova´cs, A Benedek, K.: Die Geschichte der ung. Volksmärchenslg. In: Röth, D./Kahn, W. (edd.): Märchen und Märchenforschung in Europa. Ffm. 1993, 279⫺288, 323⫺325; Voigt, V.: A Brief Account of […] Teaching Folklore and Ethnography […] at Hungarian Universities. In: Acta Ethnographica Hungarica 49 (2004) 181⫺210. ⫺ 69 Magyar ne´pmesekatalo´gus. ed. ´ . Kova´cs. 1: A magyar a´llatmese´k katalo´gusa. A ´ . Kova´cs/K. Benedek. Bud. AaTh 1⫺299. ed. A 2 1987; 2: A magyar tünde´rmese´k tı´pusai. AaTh 300⫺ ´ . Dömötör. Bud. 1988; 3: A magyar legen749. ed. A damese´k tı´pusai. AaTh 750⫺849. ed. L. Berna´t. Bud. 1982; 4: A magyar novellamese´k tı´pusai. AaTh 850⫺999. ed. K. Benedek. Bud. 1984; 5: A magyar ra´szedett ördög-mese´k tı´pusai. AaTh 1030⫺1199. ed. V. Süvegh. Bud. 1985; 5 A: A magyar Ja´nos szolgamese´k tı´pusai. AaTh 1000⫺1029, 1120, 1132. ed. ead. (unveröff.) Diplomarbeit Bud. 1974; 6: A ra´to´tia´da´k tı´pusmutato´ja. A magyar falucsu´folo´k tı´pu´ . Kova´cs/K. Benedek. sai. AaTh 1200⫺1349*. ed. A Bud. 1990; 7 A: A magyar ne´pmese´k tre´fakatalo´gusa. AaTh 1350⫺1429. ed. G. Vöo˝. Bud. 1986; 7 B: A magyarne´pmese´k trufa-e´s anekdotakatalo´gusa. AaTh 1430⫺1639*. ed. M. Vehmas/K. Benedek. Bud. 1988; 7 C: A magyar ne´pmese´k trufa-e´s anekdotakatalo´gusa. AaTh 1640⫺1874. ed. eaed. Bud. 1989; 8: A magyar hazugsa´gmese´k katalo´gusa. AaTh ´ . Kova´cs/K. Benedek. Bud. 1989; 1875⫺1999. ed. A 9: A magyar formulamese´k katalo´gusa. AaTh 2000⫺2399. ed. eaed. Bud. 1990; 10,1: Összefoglalo´ bibliogra´fia. Ciga´ny mesemondo´k repertora´rja´nak bibliogra´fia´ja (Zusammenfassende Bibliogr. Bibliogr. des Repertoires der Zigeunererzähler). ed. K. Benedek u. a. Bud. 2001. ⫺ 70 cf. u. a. Ortutay, G./ ´ .: Magyar ne´pmese´k (Ung. De´gh, L./Kova´cs, A Volksmärchen) 1⫺3. Bud. 1960; Voigt, V.: Magyar folklo´r szöveggyu˝jteme´ny (Ung. Folklore-Chrestomathie) 1. Bud. 2005; De´gh, L.: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. B. 1962; Petzoldt, L.: Märchen aus U. Ffm. 1995; De´gh, L.: Hungarian Folktales. The Art of Zsuzsanna Palko´. Jackson 1995. ⫺ 71 Voigt, V.: A magyar ne´pmese (Das ung. Volksmärchen). In: Ethnographia 100 (1989) 384⫺409; id.: Suggestions towards a Theory of Folklore. Bud. 1999; id.: Törte´neti folklorisztikai tanulma´nyok (Hist.-folkloristische Studien) 1⫺3. Bud. 2000/01/04; id.: Europ. Linien. Studien zur Finnougristik, Folkloristik und Semiotik. Bud. 2005; id.: Meseszo´ (Märchenwort). Bud. 2007⫺10. ⫺ 72 cf. Raffai, J.: A ma´ tmutato´ mesegyar mesemonda´s hagyoma´nya. U mondo´k, pedago´gusok e´s minden ne´pmesekedvelo˝ sza´ma´ra (Die Tradition des ung. Märchenerzählens. Wegweiser für Märchenerzähler, Erzieher und alle Liebhaber des Volksmärchens). Bud. 2004. ⫺ 73 cf. Ba´lint (wie not. 29).
Budapest
Vilmos Voigt
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Ungeboren, Bezeichnung für den vorgeburtlichen Zustand eines Lebewesens. Die Wahrnehmung von und der Umgang mit U.en ⫺ die Medizin spricht bis zur 8. Woche nach der Befruchtung vom Embryo, anschließend vom Fötus1 ⫺ ist weltweit durch spezifische religiöse, medizinische, rechtliche und kulturelle J Normen geprägt. Assoziiert mit J Schwangerschaft und J Geburt finden sich in den meisten Religionen, Glaubensvorstellungen und Schöpfungsmythen (cf. J Anthropogonie) sowie im Umfeld von Medizin und Philosophie Betrachtungen über Stadien des vorgeburtlichen Lebens und den ontologischen Status des u.en J Kindes. Zeugungs- und Beseelungstheorien (J Seele) der Antike machten geschlechtsspezifisch variierende Zeitangaben für die Embryonalentwicklung und gingen dabei in der Regel von einer Nachrangigkeit der Entwicklung des weiblichen U.en aus2. Eine Kulturgeschichte des menschlichen U.en liegt erst ansatzweise vor3. Bis weit ins 19. Jh. hinein waren die ersten Kindsbewegungen die einzigen sicheren und von der Schwangeren wahrnehmbaren Lebenszeichen des U.en4. Frühe bildliche Darstellungen des ,unsichtbaren‘ U.en finden sich z. B. in den embryologischen Studien Leonardos da Vinci (1510⫺13) und bei dem Anatomen S. T. Soemmering5. Weibliche Demonstrationsfigurinen aus Wachs, Elfenbein oder Holz, die einen Uterus mit Fötus zeigen, dienten der Ausbildung von J Hebammen und Geburtshelfern6. Heute gehört pränatale Geschlechtsbestimmung zur medizinischen Routine. Im Kontext der gesellschaftlichen Debatte um Schwangerschaftsabbruch und Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin wird der Status u.er Kinder kontrovers diskutiert7. Magische und abergläubische Denkweisen und Praktiken, in denen Körperteile oder Blut von U.en eine wesentliche Rolle spielen8, sind in Sagen und andere Volkserzählungen eingegangen (Mot. D 1003.3; J Pars pro toto). Weltweit belegt sind mythische Vorstellungen von Aufenthaltsorten oder Parallelwelten der u.en Kinder (Mot. A 678, Mot. F 115)9. Scherzfiktionen zufolge sollen sich u.e Kinder auf sog. Kinderbäumen oder in Kohlköpfen (England, Belgien, Frankreich) befinden oder vom J Storch gebracht werden10. U.e bzw.
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Ungehorsam ⫺ Unhold
ihre Seelen sollen sich im Wasser, vor allem in Brunnen, aufhalten11. Vor allem in Sagen und Rätselerzählungen erscheinen U.e als Opfer eines J Tabubruchs. So heißt es, daß U.e aus dem Körper der Mutter geschnitten und Teile davon gegessen werden (AaTh/ATU 850, 851, 851 A: J Rätselprinzessin; AaTh/ATU 927: J Halslöserätsel)12. U.e stehen aber auch unter bes. Schutz. Sie werden Glaubensvorstellungen zufolge nach ihrer Abtreibung zu Engeln ⫺ daher die Bezeichnung Engelmacherin13. Im Gegensatz zu dieser euphemistischen Darstellung steht die vor allem in europ. Sagen weitverbreitete Spukvorstellung vom Umherirren abgetriebener Kinder, die daher nur im Limbus verweilen oder ungetauft keine Ruhe finden (J Taufe; cf. J Kindsmörderin). U.e begegnen bes. in drei weitverbreiteten Erzählkomplexen. Der erste handelt von der Übereignung eines U.en an ein jenseitiges Wesen und thematisiert eine auch für das geborene Kind belegte J Opferrolle (J Kind dem Teufel verkauft oder versprochen). Im zweiten Erzählkomplex bekunden U.e ihren Willen verbal: Diese ungewöhnliche Fähigkeit bereitet auf die herausragende Besonderheit des künftigen J Helden vor (J Kind spricht [weint] im Mutterleib). Im dritten Erzählkomplex versucht eine Frau, die Geburt der ihr vorbestimmten Kinder mit Hilfe von Magie zu verhindern (AaTh/ATU 755: J Sünde und Gnade). Eher parodistisch und im Zusammenhang mit übertriebener elterlicher Sorge findet das Thema in Schwänken Verwendung, z. B. AaTh/ATU 1430 A: Foolish Plans for the Unborn Child oder AaTh/ATU 1450: J Kluge Else. 1 cf. Pschyrembel. Medizinisches Wb. Hbg 2571994, 393, 462. ⫺ 2 cf. z. B. Zacchia, P.: Die Beseelung des menschlichen Fötus. Buch IX, Kap. 1 der Quaestiones medico-legales. ed. B. Spitzer. Köln/Weimar/ Wien 2002. ⫺ 3 Duden, B./Schlumbohm, J./Veit, P. (edd.): Geschichte des U.en. Zur Erfahrungs- und Wiss.sgeschichte der Schwangerschaft, 17.⫺20. Jh. Göttingen 2002; Schlumbohm, J. (ed.): Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte. Mü. 1998. ⫺ 4 cf. Duden, B.: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Mü. 1991, 100⫺105; ead.: „Ein falsch Gewächs, ein unzeitig Wesen, gestocktes Blut“. Zur Geschichte von Wahrnehmung und Sichtweise der Leibesfrucht. In: Staupe, G./Vieth, L. (edd.): Unter anderen Umstän-
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den. Zur Geschichte der Abtreibung. Dresden 1993, 27⫺35. ⫺ 5 Soemmering, S. T.: Icones embryonum humanorum. Ffm. 1799. ⫺ 6 Herrlinger, R.: Geschichte der medizinischen Abb. 1: Von der Antike bis um 1600. Mü. 1967, 154⫺156; Zglinicki, F. von: Geburt. Eine Kulturgeschichte in Bildern. Braunschweig 1983, 23⫺50. ⫺ 7 Wiesemann, C.: Von der Verantwortung, ein Kind zu bekommen. Eine Ethik der Elternschaft. Mü. 2006; Seith, C.: Status und Schutz des extrakorporalen Embryos. Baden-Baden 2007. ⫺ 8 HDA 2 (1929⫺30) 229⫺234. ⫺ 9 cf. auch HDA 4 (1931⫺32) 1344⫺1356. ⫺ 10 EM 1, 1368. ⫺ 11 Röhrich, Redensarten 2, 847 sq.; zu Kinderbrunnen z. B. Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Göttingen 1854, num. 81. ⫺ 12 cf. z. B. Busch, W.: Ut oˆler Welt. Mü. 1910, 131 sq. ⫺ 13 Röhrich, Redensarten 1, 387.
Göttingen
Susanne Ude-Koeller
Ungehorsam J Gehorsam und Ungehorsam
Unglück J Fortuna, J Glück
Unglück zieht mit J Glück und Unglück
Unheil: Das gefangene U. J Glück und Unglück
Unheld(in) J Held, Heldin
Unhold. Der Begriff U. in hist. Quellensprache ist eine Substantivierung des Adjektivs ,u.‘, das synonym mit ,unheimlich‘ und ,ungeheuer‘ verwendet wird und das Antonym zu ,hold‘ bildet. ,Hold‘ stammt aus religiösem Kontext (ahd. hald: geneigt, holdo: Geist) und diente später zur Beschreibung des Verhältnisses von Lehnsherr und Gefolgsmann. U. bezeichnet mythol. oder dämonische Figuren, aber auch gewalttätige Menschen und kann als Schimpfwort gebraucht werden1. Als solches ist der Begriff U. von der Perspektive des Sprechers abhängig und wird daher auch auf positive Gestalten angewendet2. Ein U. kann sowohl eine männliche als auch eine weibliche Figur sein. Der nur im Deutschen existierende Begriff überschneidet sich mit dem des J Monstrums, Ungeheuers oder J Ogers. Im
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Unibos
heutigen Sprachgebrauch begegnet er nur noch selten. In Volkserzählungen ist die Bezeichnung U. ein Sammelbecken für meist mit übernatürlichen Kräften ausgestattete, schreckliche, oft bösartige (J Bosheit, böse) oder furchterregende J Gegenspieler bzw. Schädiger (J Schädigung) des Protagonisten, die eine direkte Gefahr für sein Leben oder seine Seele darstellen. Vereinzelt können als U. bezeichnete Figuren auch positive Züge haben (z. B. J Teufels Mutter, Teufels Großmutter). Sofern nähere Charakteristika fehlen, ist mit ,der U.‘ der J Teufel gemeint3; ansonsten begegnet die Bezeichnung fast nie allein, sondern tritt als Verweis auf einen näher definierten Antagonistentyp auf. Als U. wird daneben eine Vielfalt von Gestalten aus unterschiedlichsten Zusammenhängen bezeichnet: Menschen mit übernatürlichen Kräften oder bemerkenswerten Eigenschaften, J Hexen, J Zauberer, J Kannibalen (cf. J Menschenfleisch riechen), Mörder (J Mord), J Räuber oder bedrohlich erscheinende Angehörige anderer Ethnien (J Stereotypen, ethnische); Tiere, z. B. Affe, Bär, Fuchs, Schlange, Tiger und Wolf; mythol. Figuren, alle Arten von J Fabelwesen und übernatürliche Wesen wie J Geister und J Gespenster, aber auch personifizierte Naturgewalten (J Personifikation), Krankheiten (J Pest) oder der J Tod. Häufig sind U.e religiös konnotiert; außer dem christl., jüd. und islam. Teufel (Satan, Iblı¯s) betrifft dies etwa den hinduist. Ra¯ksøasa oder den islam. und jüd. Todesengel, aber auch heidnische Gottheiten. Im Falle des Erzähltyps AaTh/ATU 302: J Herz des U.s im Ei werden unter der dt. Bezeichnung U. Erscheinungen wie J Riese, J Dämon, J Drache und Teufel, mit J Kosˇcˇej Bessmertnyj aber auch eine konkrete Figur subsumiert4. Betrachtet man den U. als Inbegriff des Befremdlichen und Schrecklichen, kann seine Funktion z. B. im Kontext der Poetik J. J Grimms als Element einer ,Ästhetik des Schrecklichen‘ bestimmt werden. Das Schreckliche ist dort H. P. Zimmermann zufolge nicht nur Symbol menschlichen Scheiterns gemessen an den prinzipiell unermeßlichen Anlagen und Fähigkeiten des Menschen, sondern eine Eigenschaft des Poetischen selbst. Es versinn-
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bildlicht daher nicht nur die Zwänge, denen der Mensch unterworfen ist, sondern ist bereits Mittel der Reflexion darüber5. 1 DWb. 24 (1936) 1064⫺1069; Wb. der dt. Gegenwartssprache 5. ed. R. Klappenbach u. a. B. 1980, 3937 sq. ⫺ 2 Löhr, J. A. C.: Das Buch der Maehrchen für Kindheit und Jugend 2. Lpz. [1820], 61; cf. Büsching, J. G.: Volks-Sagen, Märchen und Legenden. Lpz. 1812, 278. ⫺ 3 Grässe, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen 2. Dresden 1874, num. 697; cf. allg. Krohn, K.: Der gefangene U. In: Finn.-ugr. Forschungen 7 (1907) 129⫺184; Leyen, F. von der: Der gefesselte U. Eine mythol. Studie. In: Festschr. J. von Kelle 1. Prag 1908, 7⫺35. ⫺ 4 cf. Tuczay, C.: Der U. ohne Seele. Eine motivgeschichtliche Unters. Wien 1982. ⫺ 5 Zimmermann, H.-P.: „Schreckgespenste von Wütrichen, Wölfen, Oggers u. dgl.“ Befremdliches und Schreckliches bei Johann Gottfried Herder und Jacob Grimm. In: Minderheiten und Mehrheiten in der Erzählkultur. ed. S. Hose. Bautzen 2008, 18⫺29.
München
Alexander Rasumny
Unibos (AaTh/ATU 1535), variationsreicher Episodenschwank, der erstmals im fläm.-frz. Grenzgebiet in dem lat. Schwankgedicht Versus de Unibove (2. Hälfte 11. Jh.) begegnet1. Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein zumeist Armer, der sozial Höherstehende z. T. mehrfach schädigt (J Betrüger)2. Es lassen sich folgende Handlungszüge unterscheiden: (1) Das einzige Haustier (Kuh, Pferd, Ochse, Esel, Kamel) eines armen Mannes (U. [lat.: Einochs], Bauer, Handwerker) wird (aus Bosheit) von einem reichen Mann getötet (geschlachtet). (2) Der Arme erhält nur die Tierhaut, will sie verkaufen und fährt zu einem Gerber (auf den Markt, in die Stadt). (2.1.) Er beobachtet, wie eine Frau einen Liebhaber bewirtet und die für diesen zubereiteten Speisen versteckt, als ihr Ehemann heimkommt. Der Ehemann bietet dem Armen Unterkunft. Der Gast gibt einen im Sack mit der Tierhaut befindlichen Vogel als ,Wahrsager‘ aus und behauptet dem Ehemann gegenüber, dieser verrate, wo Essen und Trinken versteckt seien, und beschwöre den Liebhaber (Teufel) hervor. Der Arme verkauft dem Ehemann den ,Wahrsager‘ für viel Geld (tauscht ihn gegen den Kasten, in dem der Liebhaber versteckt ist, und erpreßt von diesem Geld durch die Drohung, den Kasten ins Wasser zu werfen [AaTh/ATU 1358 B, C: cf. J Ehebruch belauscht]). (2.2) Der Arme klettert unterwegs auf einen Baum und läßt (manchmal absichtlich) die Tier-
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Unibos
haut auf darunter lagernde Räuber fallen. Diese fliehen in Panik und lassen ihre Beute zurück (AaTh 1653 D/ATU 1653: cf. J Räuber unter dem Baum). (2.3) Nach seiner Rückkehr täuscht der Protagonist den ihm mißgünstig Gesinnten (Dorfnachbarn) vor, daß er das viele Geld für seine Haut bekommen habe. Sie schlachten daraufhin ihre Kühe, erhalten jedoch nur wenig für die Felle (J Imitation: Fatale und närrische I. ). (3) Die Betrogenen rächen sich. (3.1) Sie brennen das Haus (Felder) des Armen nieder (reißen seinen Backofen ab, begehen andere Sachbeschädigungen). Er sammelt Asche (Lehm) davon in einen Sack und gibt vor, es sei Gold, das jedoch zu Asche werde, wenn einer hineinschaue. Einer tut dies trotz des Verbots, worauf der Betrüger eine Entschädigung für seinen ,Verlust‘ erhält. Anderen erklärt er, er habe die Asche für viel Geld verkauft. Sie brennen daraufhin ihre Häuser nieder, bekommen aber nichts. (3.2) Die Getäuschten töten die Mutter (Frau, Groß-, Schwiegermutter) des Betrügers. Jener setzt die Tote als Händlerin an den Wegesrand (Brunnen, Wirtshaus) und veranlaßt jemanden, ihr einen Stoß zu geben. Dieser, des Totschlags beschuldigt, erkauft sein Stillschweigen (cf. AaTh/ ATU 1537: Die mehrmals getötete J Leiche). Den Nachbarn (Bauern) erzählt der Listige, tote Mütter erzielten hohe Preise. Sie töten alle ihre Mütter, werden jedoch gefangengenommen. (4) Aus Rache wird der Betrüger in einen Sack (Faß) gesteckt und soll ertränkt werden. Seine Gegner lassen den Sack kurz unbeaufsichtigt, so daß der Gefangene einem Vorbeikommenden (Schäfer) vortäuschen kann, er solle gezwungen werden, eine Prinzessin zu heiraten. Der Vorbeikommende tauscht den Platz mit ihm (cf. AaTh/ATU 1737: J Pfarrer im Sack). Der ,Ertrunkene‘ kehrt mit der Herde des Hirten zurück. Seinen Gegnern spiegelt er vor, unter Wasser gebe es noch viele weitere Tiere. Sie springen ins Wasser (lassen sich von ihm in Säcke stecken und hineinwerfen) und ertrinken.
AaTh/ATU 1535 ist ungemein beliebt und fast weltweit verbreitet. Zwei zentrale Redaktionen sind zu unterscheiden: eine europ. mit den Episoden (1), (2), (2.1.), (2.3), (3.2) und (4) und eine ind. mit den Episoden (1), (2), (2.2), (2.3), (3.1) und (4). Darüber hinaus gibt es Überschneidungen zwischen beiden Redaktionen: So findet sich z. B. bereits bei Valentin J Schumann (1559) die Kombination von (3.1) mit (1), (2), (2.1)3. Neuere europ. und außereurop. (nicht-ind.) Überlieferungen enthalten oft Episode (3.1)4; Episode (2.2) ist auch außerhalb des ind. Subkontinents5, die Episode von der Tötung der Mutter (3.2) auch außereurop. nachgewiesen6. Darüber hinaus sind zahlreiche groß- und kleinräumig verbreitete Sonderformen bekannt; einzelne Episoden werden variiert und/
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oder erweitert. Der Arme, der sich in den meisten Var.n von einem Einfältigen zu einem rücksichtslosen Betrüger entwickelt, hat es meistens mit einem reichen Verwandten (Herr, Bauer, Amtsträger) zu tun, öfter ist er auch der J jüngste (ärmere) von zwei Brüdern (Nachbarn, Bauern). In diesen Var.n besitzt er nur ein Haustier, sein Bruder mehrere. Als er dessen Pferde zum Pflügen leiht und die Tiere als die eigenen bezeichnet, tötet der Ältere aus Zorn das Tier des jüngeren. Hier macht sich der Einfluß von J Andersens Lille Claus og Store Claus (1835) bemerkbar7. In manchen Fassungen ist der Protagonist einer von drei (auch zwei) Brüdern, die unter sich ein reiches Erbe aufteilen müssen. Die ältesten bekommen viele Tiere (die fettesten), der jüngste nur ein mageres Tier8. Bes. in der mündl. Überlieferung Asiens und Afrikas ist er der jüngste (kleinste) von sieben Brüdern oder hat sieben Neider9. Die Rolle des trickreichen Betrügers haben oft bekannte Schelmenfiguren übernommen, in West- und Mitteleuropa sowie Südafrika z. B. J Eulenspiegel10 und im islam. Bereich J Hodscha Nasreddin11, in Lateinamerika Pedro de Urdemalas12. In Südostasien, Afrika und in afro-amerik. Fassungen ist der Protagonist bei Episode (4) ein Tier wie die Spinne J Anansi13 oder eine Maus (Affe)14, die Antagonisten hingegen menschliche Verwandte. Nicht immer sind es jedoch Mißgünstige, die das Tier des Armen töten. Oft schlachtet er es selbst, oder es stirbt einfach. In einem überwiegend in Mitteleuropa verbreiteten Ökotyp tötet ein Bauer (Kibitz geheißen oder gescholten) seine Kuh versehentlich, als er den Ruf eines über dem Tier fliegenden Kiebitzes als eine Beschimpfung interpretiert und einen Stein nach dem Vogel wirft15. Ein anderer mitteleurop. Ökotyp beginnt damit, daß der Arme der Dorfherde eine hölzerne Kuh (Kalb) ,anvertraut‘. Als das Tier ,stirbt‘ (gestohlen, als Brennholz genutzt wird), bekommt er eine lebende Kuh als Wiedergutmachung, die er dann schlachtet16. Eine andere Eingangsepisode ist bes. für ung., bulg. und iran. Fassungen charakteristisch: Ein Armer (Schuster) schlachtet seine Kuh und lädt das ganze Dorf zum Schmaus ein, in der Hoffnung, daß andere seinem Beispiel folgen werden. Als diese
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Hoffnung sich nicht erfüllt, sinnt er auf Rache17. Der ,Wahrsager‘ im Sack ist oft ein Rabenoder Raubvogel, den der Arme gefangen hatte, als das Tier sich auf dem von ihm getragenen Fellumhang niederließ (Europa, Amerika, Südafrika)18. Diese Episode findet sich ca 1374 bereits bei Giovanni J Sercambi, wird dort jedoch mit AaTh/ATU 513 A: J Sechse kommen durch die Welt fortgeführt19. In mitteleurop. Fassungen setzen sich Bienen (Hornissen, Fliegen) auf der Haut fest. Der Betrüger wikkelt sie ein und verkauft diesen summenden Sack als Wahrsager (Orgel)20. Kelt. Ursprungs scheint das Motiv von der Haut zu sein, die bezahlt: Der Betrüger versteckt einige Münzen in der Haut, läßt diese im Wirtshaus bezahlen und veräußert sie für einen hohen Preis (cf. Mot. K 111)21. Bes. in West- und Südosteuropa hat sich eine Sonderform der Episode (2.2) entwickelt: Der Betrüger wirft sich die Tierhaut über und vertreibt so die Räuber (geldzählende Personen)22. Unterschiedliche Gestaltungen charakterisieren Episode (3.1). Statt das Haus abzubrennen oder abzureißen, können auch Fenster (Geschirr) zerstört (mitteleurop., südafrik.)23 oder Mist (Abfall) abgeladen werden. Damit füllt der Betrüger eine (manchmal mit Honig bedeckte) Tonne und kann den Dreck als Honig veräußern (Europa bis Iran, Westindien)24. In anderen Fassungen gibt er ohne vorherigen Anlaß selbst ein Faß mit Dreck als etwas Wertvolles aus25. Statt der Warnung, nicht in den Sack hineinzuschauen, kann sich der Listige anderer Tricks bedienen: Er vertauscht z. B. heimlich seinen Sack mit einem Sack voller Reichtümer (verleitet Diebe dazu26), macht einer Frau weis, falls sie furze oder ihr Kind auf den Sack pinkle, werde sein Gold zu Asche27, oder beschuldigt jemanden des Diebstahls seiner Habe28. Meistens ahnt der Betrüger, daß die Betrogenen versuchen werden, sich an ihm zu rächen. Deshalb tauscht er mit seiner Mutter den Schlafplatz (J Bettplatztausch)29 oder, seltener, die Kleidung (J Kleidertausch)30 oder den Arbeitsplatz31. Die Betrogenen erfahren von seinem Reichtum, als er sich ein J Scheffelmaß leiht (so bereits im Versus de Unibove)32, weil der neugierige Leihgeber das Maß mit Leim bestrichen hat33 oder weil der Betrü-
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ger selbst in Vorbereitung seines nächsten Betrugs absichtlich Geld dort hinterläßt34. In Episode (4) wird der Mann häufig in einen Sack oder ein Faß gesteckt, andere Behälter sind Nagelfaß35, Schäferkarren36, Käfig37 oder Sarg38. Nicht immer beabsichtigen die Betrogenen, ihren Schädiger zu ertränken, manchmal fesseln sie ihn nur an einen Baum39. Warum der Gefesselte oder im Sack Gefangene unbeaufsichtigt bleibt, wird selten erklärt: Die Nachbarn gehen zur Kirche (Moschee)40, ins Wirtshaus41, essen42, holen einen Stock, um den Sack ins Wasser zu stoßen43, oder ein Beil, um ein Loch ins Eis zu hauen44. Der Vorbeikommende ist zumeist ein Hirt (Fleischer), kann aber auch z. B. ein Herr mit einer Kutsche45 oder mit einem Pferdeschlitten46 sein; öfter gaukelt der Betrüger dem Vorbeikommenden vor, man wolle ihn zum Schulzen47, Bürgermeister48, König49, Kaiser50, Priester51, Bischof 52 oder Papst53 machen oder in den Himmel (Paradies) schicken54. In asiat. Var.n kann der Passant auch ein Kranker, Glatzkopf oder Behinderter sein, dem eingeredet wird, ein Aufenthalt im Sack lasse ihn gesunden55, führe zu Haarfülle56, beseitige seinen Buckel57, mache ihn wieder sehend oder gebe ihm sein verlorenes Auge zurück58. Ergattert der Betrüger Schafe, dann ,beweist‘ er seinen mißgünstigen Nachbarn mit dem Spiegelbild (Schatten) der Tiere im Wasser59 (seltener Schäfchenwolken60), daß es dort noch viele gebe. Handelt es sich um mehrere Menschen, springt öfter der Ranghöchste zuerst ins Wasser. Die anderen deuten die unartikulierten Laute (Handbewegungen) der Ertrinkenden als Ansporn und springen hinterher (cf. AaTh/ATU 1297*: Jumping into the River after Their Comrade)61. In einer austral. und einer nordamerik. Fassung dieser Episode tauscht ein Todeskandidat (in der Mittagspause des Henkers) seinen Platz mit einem Mann, dem er vortäuscht, er stehe für Geld da62. Vollformen des typischen Episodenschwanks sind relativ selten. Viele Var.n sind kaum abzugrenzen, und die Kombination einzelner Episoden entspricht oft nicht der oben geschilderten Reihenfolge. Teile von AaTh/ATU 1535 werden oft mit anderen Tricksterschwänken kontaminiert, einzelne Episoden durch andere Erzähltypen und Motivkonglomerate ersetzt. Bes. die Beziehungen zu AaTh/ATU 1539: J
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List und Leichtgläubigkeit sind so eng, daß beide Erzähltypen kaum voneinander zu trennen sind. Die Episoden vom Goldesel und von der Tötung und Wiedererweckung der Ehefrau mittels eines ,Zauberstabs‘, die schon im Versus de Unibove begegnen und typol. AaTh/ ATU 1539 zugewiesen wurden, sind aber durchaus auch in dieser Kontamination mit AaTh/ATU 1535 in Var.n aus mündl. Überlieferung bezeugt63. Andere miteinbezogene Komplexe sind vor allem AaTh/ATU 1260: J Mahl der Einfältigen, das Motiv vom selbstkochenden J Topf (cf. auch AaTh/ATU 1542: J Peik)64 und das J Ausschicken von Gegenständen oder Tieren, hier fast immer ein Tier (Hase; cf. AaTh/ATU 1291 D)65. AaTh/ATU 1535 wurde vor allem mündl. tradiert. Die literar. Überlieferung vor 1800 scheint recht dürftig66. Einzelne Motive und Episoden weisen jedoch seit dem späten MA. breitere literar. Bekanntheit auf, z. T. innerhalb von Fassungen von AaTh/ATU 1539, z. T. selbständig oder innerhalb anderer Episodenschwänke. Der Vollform nahekommende Fassungen finden sich in einigen älteren Volksbüchern: im schwed. Tijdh-Fördrijff (1641)67, im fläm. Vermakelijken Klugt-Verteller of opregten Guichel-boek (18. Jh.)68 und im dt. Rutschki oder die Bürger zu Quarkenquatsch (1794)69. Wie jeder Schwankheld steht ein Betrüger wie U. jenseits von J Gut und Böse. Die sozialkritische Tendenz, das Anprangern von Neid und Habgier der Reichen und Mächtigen, die Dummheit der Gegner bzw. Opfer des Protagonisten und die Schlauheit seiner Streiche machen den nur scheinbar Machtlosen zu einem das Phantasiebedürfnis befriedigenden Sympathieträger der Schwächeren, trotz der Überschreitung der Grenze zum Verbrechen. Gelegentlich haben Erzähler die kriminelle Rücksichtslosigkeit der Betrügereien abzuschwächen und kindgerecht zu gestalten versucht, so etwa, wenn es in Episode (3.2) über die bewußte Tötung der Großmutter abmildernd heißt, sie sei bereits tot gewesen, ihr Tod ein Unfall etc. 1 Welkenhuysen, A.: Het lied van boer Eenos. Löwen 1975; Langosch, K.: Waltharius, Ruodlieb, Märchenepen. Darmstadt 1956, 251⫺305; Vollmann, B. K.: U. In: Verflex. 10 (21999) 80⫺85; Peeters, K. C.: De
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oudste West-Europese sprookjestekst. U.-problemen. In: Vk. 71 (1970) 8⫺24. ⫺ 2 Köhler/Bolte 1, 230⫺255; BP 2, 1⫺18; Müller, J.: Das Märchen vom U. Jena 1934 (problematisch, cf. Rez. W. Anderson in HessBllfVk. 34 [1935] 156⫺162); Meyer, M. de: Vlaamsche sprookjesthema’s in het licht der Romaansche en Germaansche kultuurstroomingen. Löwen 1942, 133⫺163; Hubrich-Messow 6, 254⫺256; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 150⫺ 152. ⫺ 3 Schumann, V.: Nachtbüchlein. ed. J. Bolte. Tübingen 1893, num. 6. ⫺ 4 Sveinsson; Gasˇparı´kova´, num. 143; Jason; Robe; Meier, H./Karlinger, F.: Span. Märchen. MdW 1985, num. 13; Beke, Ö.: Tscheremiss. Märchen, Sagen und Erzählungen. Hels. 1938, num. 55; Munka´csi, B.: Volksbräuche und Volksdichtung der Wotjaken. ed. D. R. Fuchs. Hels. 1952, num. 83; Heissig, W.: Mongol. Märchen. MdW 1987, num. 41; Fansler, D. S.: Filipino Popular Tales. Lancaster/N. Y. 1921, num. 20 a; Müller, C. D. G.: Märchen aus Äthiopien. MdW 1992, num. 153; Grobbelaar, P. W.: Die volksvertelling as kulturuiting. Diss. (masch.) Stellenbosch 1981, 704 sq. ⫺ 5 Kerbelyte˙; Hodne; van der Kooi; Eberhard/Boratav, num. 351; Marzolph; de Vries 1, num. 119; Meier/Karlinger (wie not. 4); Soupault, R.: Frz. Märchen 2. MdW 1963, num. 35; Kooi, J. van der/ Meerburg, B. A. G.: Fries. Märchen. MdW 1990, num. 72; Fansler (wie not. 4) num. 20 b; Thompson, S.: Tales of the North American Indians. Cambr. 1929, num. 87; Barbeau, M.: Huron-Wyandot Traditional Narratives. Ottawa 1960, num. 29; Müller (wie not. 4). ⫺ 6 E˙rgis, num. 294; Seki, num. 254; de Vries, num. 278; Wichmann, Y.: Syrjän. Volksdichtung. Hels. 1916, num. 28; Bodding, P. O.: Santal Folk Tales 2. Oslo 1927, num. 48; Heissig und Fansler (wie not. 4); Thompson (wie not. 5); Roberts, L.: South from Hell-fer-Sartin. Kentucky Mountain Folk Tales. Lexington 1988, num. 31; Parsons, E. C.: Folk-Lore from the Cape Verde Islands 1. Cambr., Mass./N. Y. 1923, num. 18; Beckwith, M. W.: Jamaica Anansi Stories. Boston/N. Y. 1924, num. 135; Al-Shahi, A./Moore, F. C. T.: Wisdom from the Nile. Ox. 1978, num. 56 (Sudan); Grobbelaar (wie not. 4). ⫺ 7 Berze Nagy; Coetzee; van der Kooi; Roberts, W. E.: Norwegian Folktale Studies. Oslo 1964, 72; Meder, T./Hendriks, C.: Vertelcultuur in Nederland. Amst. 2005, 237⫺243; Mont, P. de/Cock, A. de: Dit zijn Vlaamsche vertelsels uit den volksmond opgeschreven. Gent/Deventer 1898, num. 23; NimtzWendlandt, W.: Erzählgut der Kur. Nehrung. Marburg 1961, num. 43; Oberfeld, C.: Volksmärchen aus Hessen. Marburg 1962, num. 68; Roberts, L. W.: Old Greasybeard. Tales from the Cumberland Gap. Detroit 1969, num. 40; Fauset, A. H.: Folklore from Nova Scotia. N. Y. 1931, num. 1; Andrade, M. J.: Folk-Lore from the Dominican Republic. N. Y. 1930, num. 15. ⫺ 8 Gasˇparı´kova´, num. 98; Nerucci, G.: Sessanta novelle popolari montalesi. Florenz 1891, num. 21; Kapełus´, H./Krzyz˙anowski, J.: Die Kuhhaut. Kassel 1987, num. 80 (poln.); Clouston,
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Unibos
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1200
182⫺190 (ostafrik.). ⫺ 16 MNK 1535*; Gasˇparı´kova´, num. 352, 473; KHM/Uther 2, num. 61; Bodens, W.: Sage, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1937, num. 1607; Kapfhammer, G.: Bayer. Schwänke. Düsseldorf/Köln 1974, 10⫺13. ⫺ 17 MNK 1535*; BFP; Marzolph. ⫺ 18 MNK; Eberhard/Boratav, num. 274; van der Kooi; Campbell, J. F.: Popular Tales of the West Highlands 2. Paisley 1890, num. 39 a; Tinneveld, A.: Vertellers uit de Liemers. Wassenaar 1976, num. 187; Meyer, G. F.: Plattdt. Volksmärchen und Schwänke. Neumünster 1925, num. 132; Bartsch (wie not. 15); Eschker, W.: Der Zigeuner im Paradies. Kassel 1986, num. 67 (serb.); Haralampieff, K. [recte Frolec, V.]: Bulg. Volksmärchen. MdW 1971, num. 42; Gardner, E. E.: Folklore from The Schoharie Hills. N. Y. 1937, num. 16; Karlinger, F./Freitas, G. de: Brasilian. Märchen. MdW 1972, num. 85; Grobbelaar (wie not. 4). ⫺ 19 Wesselski, MMA, num. 27. ⫺ 20 MNK; Gasˇparı´kova´, num. 98, 143, 352, 389; Wossidlo (wie not. 15); Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus Eifel und Ardennen. Bonn 1984, num. 30; Bünker (wie not. 10). ⫺ 21 Clouston (wie not. 8) 229⫺232 (ir.); Campbell (wie not. 18) num. 39 b; Bruford, A./MacDonald, D. A.: Scottish Traditional Tales. Edinburgh 1994, num. 22. ⫺ 22 BFP; van der Kooi; de Meyer, Conte 1653 D*; Robe; Cosquin, E.: Contes populaires de Lorraine 1. P. 1886, num. 10; Meder/Hendriks (wie not. 7) 515⫺518; Ble´court, W. de: Volksverhalen uit Noord Brabant. Utrecht/Antw. 1980, 103 sq.; Lox (wie not. 15); Specht, H.: Die gläserne Kutsche. Bentheimer Sagen, Erzählungen und Schwänke. Nordhorn 1967, 100 sq.; Merkelbach-Pinck, A.: Lothringer Volksmärchen. Kassel [1940], 178⫺181; Clouston (wie not. 8); Elwin, V.: Folk-Tales of Mahakoshal. L. 1944, 253⫺255. ⫺ 23 MNK; Gasˇparı´kova´, num. 143; Merkelbach-Pinck (wie not. 22); Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus Oberösterreich. B. 1969, num. 18; Grobbelaar (wie not. 4). ⫺ 24 MNK 1535*; Gasˇparı´kova´, num. 389; BFP; Cosquin (wie not. 22) 230 sq.; BP 2, 3; Haiding (wie not. 23) num. 18, 25; Bünker (wie not. 10); Nerucci (wie not. 8); Gaa´l, K.: Die Volksmärchen der Magyaren im südl. Burgenland. B. 1970, num. 68; Parsons (wie not. 13) 257⫺263, 446⫺448. ⫺ 25 Eberhard/Boratav, num. 351; Marzolph; Zender (wie not. 20). ⫺ 26 Gasˇparı´kova´, num. 143; Clouston (wie not. 8) 278⫺280 (ind.); Bodding (wie not. 6) 151⫺161, 162⫺173. ⫺ 27 Elwin (wie not. 22) 256⫺261; Mayeda, N./Brown, W. N.: Tawi Tales. Folk Tales from Jammu. New Haven 1974, num. 46. ⫺ 28 Grobbelaar (wie not. 4). ⫺ 29 Berze Nagy; van der Kooi; Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 103; Clouston (wie not. 8) 233⫺237 (norw.); Campbell (wie not. 18) num. 39 d; Huizenga-Onnekes, E. J.: Het boek van Trijntje Soldaats. Groningen [1928], 1⫺5; Lox und Müllenhoff (wie not. 15); Haltrich, J.: Dt. Märchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. B. 1856, num. 60; Roberts (wie not. 6);
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Universalie, Universalismus
Grobbelaar (wie not. 4). ⫺ 30 Range und Büsching (wie not. 15). ⫺ 31 Bødker, L.: Dän. Volksmärchen. MdW 1964, num. 23; BP 2, 3 sq.; Ranke (wie not. 15). ⫺ 32 Gasˇparı´kova´, num. 143; van der Kooi; Clouston (wie not. 8); Blümml, E. K.: Schnurren und Schwänke des frz. Bauernvolkes. Lpz. 1906, num. 51; de Mont/ de Cock (wie not. 7) num. 24; Müllenhoff (wie not. 15); Roberts (wie not. 7); Parsons (wie not. 6). ⫺ 33 Simonsuuri/Rausmaa (wie not. 29); Meder/Hendriks und Nimtz-Wendlandt (wie not. 7); Blackburn (wie not. 9); Fauset (wie not. 7). ⫺ 34 Range (wie not. 15); Köhler/Bolte 1, 242 (dän.); Meyer (wie not. 18) num. 45; Elwin (wie not. 22); Fansler (wie not. 4); Barbeau (wie not. 5). ⫺ 35 Jahn (wie not. 15). ⫺ 36 Busch (wie not. 15). ⫺ 37 van der Kooi/Schuster (wie not. 10) num. 74 k. ⫺ 38 Gulya, J.: Sibir. Märchen 1. MdW 1968, num. 14 (ostjak.). ⫺ 39 Nowak, num. 390; Ting; BP 2, 18; Parker (wie not. 9); Dorson (wie not. 13). ⫺ 40 E˙rgis, num. 289; Eberhard/Boratav, num. 351; Simonsuuri/Rausmaa (wie not. 29); Clouston (wie not. 8) 229⫺232 (ir.); Cosquin (wie not. 22) num. 20; Zingerle, I. V. und J.: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. Regensburg 1854, 5⫺9; Gonzenbach, num. 70; Roberts (wie not. 7). ⫺ 41 MNK; Henßen (wie not. 10); Bodens (wie not. 16); Gaa´l (wie not. 24). ⫺ 42 Jahn (wie not. 15); Crane, T. F.: Italian Popular Tales. L. 1885, num. 105; Pino Saavedra 3, num. 186. ⫺ 43 Eberhard/Boratav, num. 351; van der Kooi; Huizenga-Onnekes (wie not. 29); Nimtz-Wendlandt (wie not. 7); Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1966, num. 84; Grobbelaar (wie not. 4) 705. ⫺ 44 Grannas (wie not. 15); Beke und Munka´csi (wie not. 4). ⫺ 45 MNK; Haltrich (wie not. 29); Barag (wie not. 43); Munka´csi (wie not. 4). ⫺ 46 Beke (wie not. 4); Gulya (wie not. 38). ⫺ 47 Range (wie not. 15); KHM/Uther 2, num. 61. ⫺ 48 Stroescu, num. 3000; Tinneveld (wie not. 18); Lox (wie not. 15); Henßen, G.: Sagen, Märchen und Schwänke des Jülicher Landes. Bonn 1955, num. 459. ⫺ 49 van der Kooi; MNK; Gasˇparı´kova´, num. 352; Grobbelaar (wie not. 4) 705. ⫺ 50 Haiding (wie not. 23) num. 25. ⫺ 51 Cosquin (wie not. 22) num. 10, 20. ⫺ 52 Sveinsson; Dietz (wie not. 10). ⫺ 53 Roeck, F.: Volksverhalen uit Belg. Limburg. Utrecht/Antw. 1980, 50⫺54; van der Kooi/Schuster (wie not. 10) num. 74 k, 143; Henßen (wie not. 10). ⫺ 54 Hodne; Bødker (wie not. 31); Chase, R.: The Jack Tales. Cambr. 1971, num. 17; Fauset (wie not. 7). ⫺ 55 Munka´csi (wie not. 4) num. 83, 93. ⫺ 56 Ting; Heissig (wie not. 4) num. 42. ⫺ 57 Ting; de Vries 2, num. 128; Blackburn (wie not. 9). ⫺ 58 E˙rgis, num. 289; Ting; Seki, num. 255; Taube (wie not. 9); Zo˘ng In-so˘b: Folk Tales from Korea. L. 1952, num. 56. ⫺ 59 MNK; Eberhard/Boratav, num. 351; Range (wie not. 15); Cosquin (wie not. 22) num. 20; Bartsch (wie not. 15) t. 1, 488⫺ 491; Bodens (wie not. 16). ⫺ 60 KHM/Uther 2, num. 61; Müllenhoff (wie not. 15). ⫺
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Eberhard/Boratav, num. 351; Range und Grannas (wie not. 15); KHM/Uther 2, num. 61; HubrichMessow 1297*; Zender (wie not. 20); Gaa´l (wie not. 24); Lorimer, D. L. R. und E. O.: Persian Tales. L. 1919, num. 29; Heissig (wie not. 4). ⫺ 62 Wannan, B.: Bullockies, Beauts and Bandicoots. Melbourne 1981, 45 sq.; Burrison, J. A.: Storytellers. Folktales and Legends from the South. Athens 1989, 165 sq.; Randolph (wie not. 8) 189. ⫺ 63 E˙rgis, num. 289; Eberhard/Boratav, num. 351; Cosquin (wie not. 22) num. 10, 20; Meder/Hendriks (wie not. 7) 182⫺185; de Mont/de Cock (wie not. 7); Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen. MdW 1982, num. 10; Gonzenbach, num. 70; Eschker (wie not. 18); Karlinger, F.: Märchen griech. Inseln und Märchen aus Malta. MdW 1979, num. 21; Lorimer (wie not. 61); Bodding (wie not. 6) 162⫺173; Heissig (wie not. 4); Fansler (wie not. 4) num. 20 b; Pino Saavedra 3, num. 186; Parsons (wie not. 13) 48⫺50; Al-Shahi/Moore (wie not. 6) num. 55. ⫺ 64 Gasˇparı´kova´, num. 575; Cosquin (wie not. 22) num. 10; Meder/Hendriks (wie not. 7) 182⫺185; de Mont/de Cock (wie not. 7); Henßen (wie not. 48); Cammann, A.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien. Göttingen 1967, 141; Gonzenbach, num. 71; Crane (wie not. 42); Eschker (wie not. 18); Aiken (wie not. 12); Pino Saavedra 3, num. 186. ⫺ 65 Gasˇparı´kova´, num. 575; Eberhard/Boratav, num. 351; Gonzenbach, num. 71; Crane (wie not. 42); Eschker (wie not. 18); Haralampieff (wie not. 18) num. 58; Karlinger (wie not. 64); Lorimer (wie not. 63); Al-Shahi/Moore (wie not. 6). ⫺ 66 Schumann (wie not. 3); BP 2, 3 sq. ⫺ 67 Liungman, Volksmärchen, 305. ⫺ 68 Lox (wie not. 15). ⫺ 69 BP 2, 3 sq.
Groningen
Jurjen van der Kooi
Universalie, Universalismus. Als Universalien (U.n) bezeichnet man Wesenheiten, Tatbestände, Eigenschaften oder Beziehungen, die ubiquitäre Verbreitung bzw. Gültigkeit besitzen1. Der phil. Universalismus als religiöse Doktrin erklärt die Mannigfaltigkeit der als Ganzheit verstandenen Wirklichkeit aus allg. Prinzipien. Er wurde in der Moderne im Rahmen von Aufklärung, Marxismus und Kapitalismus säkularisiert und vorwiegend im Westen weiterentwickelt2. Der sog. europ. Universalismus legitimiert darüber hinaus die Macht im Zentrum des Ideensystems3. Die Frage, welche Phänomene als U.n betrachtet werden können, berührt grundlegende Probleme der Erzählforschung. Zunächst betrifft dies die Volksüberlieferung als solche.
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Universalie, Universalismus
Die Entdeckung der Volksüberlieferung als kulturelles Phänomen war Teil eines Prozesses, der mit der J Renaissance begann4. J Herder war der Auffassung, daß jede Kultur ihren eigenen universellen Entwurf der Welt hervorbringe, und widersprach damit der Ansicht, daß Volksüberlieferung (J Tradition) mit Unwissenheit gleichzusetzen sei5. Die Entwicklung dieses Kulturbegriffs ist nach N. Elias allerdings spezifisch deutsch: in ihm spiegle sich die späte nationale Einigung Deutschlands und das daraus folgende Bedürfnis nach Selbstvergewisserung (cf. J Nation, J Patriotismus); demgegenüber habe der universell angelegte frz. und engl. J Zivilisationsgedanke kulturelle Unterschiede assimiliert6. Schriftsteller der J Romantik sammelten, überarbeiteten und publizierten Erzählungen aus der mündl. Überlieferung und verarbeiteten diese partikularistischen Quellen zu modernen und universell angelegten Formen wie Roman oder Drama mit dem Ziel der Schaffung einer Nationalliteratur. Die im 19. Jh. entstehenden Nationalkulturen machten wiederum trotz ähnlicher Strukturen Andersartigkeit geltend, indem sie in einer Art von differenziertem Universalismus auf einen internat. Bestand an Gattungen und Symbolen zurückgriffen7. Auch die Tradierung der Volksüberlieferung durch unterschiedliche Überlieferungsträger läßt sich aus universaler Perspektive betrachten. Ursprünglich handelte es sich um eine (idealisierte) Sozialordnung, in der die Kulturen der Bauern (Volksüberlieferung) und des Adels (Hochkultur) eine Blütezeit hatten (cf. J Ständeordnung). Demgegenüber entwikkelte sich zur Zeit des zunehmenden Interesses an der Volksüberlieferung eine universell angelegte Industriegesellschaft mit neuen sozialen Schichten und einer hybriden populären Kultur8. Schließlich berührt auch die Entwicklung der Erzählforschung als Disziplin Fragen der Universalität. Die frühe Folkloristik in Mittelund Nordeuropa war stark von der Romantik beeinflußt, die eine paneurop. geistige und intellektuelle Bewegung war9. Die Brüder J Grimm hatten Vorbildcharakter für Sammler von Volkserzählungen auf dem gesamten Kontinent und korrespondierten mit vielen von ihnen. So war das Fach seit seiner Entstehung
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auf internat. Kooperation ausgerichtet (cf. auch J Komparatistik). Nach G. Vattimo endet die Moderne, wenn man nicht mehr von einer einheitlichen Geschichte sprechen kann, die einen übergeordneten, vereinheitlichenden Standpunkt voraussetzt10. Vor dem Hintergrund der Pluralisierung der Standpunkte des Westens ist dies nicht mehr haltbar. Im Kontext der sich seit den 1970er Jahren vollziehenden Demokratisierung des Kulturerbes, die sich z. T. auch aus einer Globalisierung der Kultur erklärt, erfährt die Volksüberlieferung auf zweierlei Art eine Umgestaltung. Erstens rührt aus der Krise der ethnol. Repräsentation, die sich durch die Problematisierung des Orientalismus, postkoloniale Kritik (J Kolonialismus) und durch das Ende des J Exotismus in einer globalisierten Welt andeutete11, die Neigung ethnogr. Museen, das Ästhetische und Partikulare auf Kosten des Ethnologischen und Universellen in den Vordergrund zu stellen, sowie die Tendenz volkskundlicher Museen, den Partikularismus der Volksüberlieferung in transnationaler Form neu zu imaginieren12. Zweitens wurde die Volksüberlieferung durch internat. Konventionen in einem Diskurs des Pluralismus und kultureller Vielfalt zum universellen Erbe gestaltet, bes. durch die Empfehlung der UNESCO zur Wahrung des kulturellen Erbes in Volkskunst und Brauch (1989), die Proklamation der Meisterwerke des mündl. und immateriellen Kulturerbes (seit 1997) und die Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes (2003). Hierdurch wird das Lokale als universelles Erbe registriert. Dieser Universalitätsbegriff ist nicht mehr abstrakt; er ist vielmehr konkret und deckt sich mit dem Globalen13. Gleichzeitig hängt die Effektivität der entsprechenden Dokumente nach wie vor von den Staaten ab, die sie unterzeichnen. Das akademische Fach Folkloristik entwikkelte sich zu einem guten Teil aus der Unters. mündl. Erzählungen, bes. des Märchens. Sowohl der internat. und wiss. Charakter der Folkloristik als auch der Einfluß der ide. Philologie (J Ind. Theorie, J Ide. Theorie) bildeten Gegengewichte zur lokalen Beschränktheit der Volkskulturen und zum nationalen oder regionalen Rahmen früher folkloristischer Forschungen. Bereits im 19. Jh. hatte A. J Bastian mit der Lehre von den J Elementarge-
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Unke
danken wichtige Denkanstöße geliefert, die später für die Erzählforschung fruchtbar gemacht werden konnten, etwa in der Diskussion um die Monogenese (J Wandertheorie) oder die J Polygenese (J Generatio aequivoca) von Erzählstoffen bzw. -motiven. In der Folgezeit können einerseits grundlegende Versuche, die Mechanismen der Volksüberlieferung zu verstehen ⫺ etwa A. J Olriks J Epische Gesetze, V. Ja. J Propps Morphologie des Zaubermärchens oder A. J Jolles’ J Einfache Formen ⫺, als Suche nach U.n in der Volksüberlieferung verstanden werden, allerdings mehr auf morphologischer und struktureller denn auf inhaltlicher Ebene (J Morphologie des Erzählguts, J Strukturalismus). Andererseits nutzt die J geogr.-hist. Methode ausgedehnte internat. Netzwerke zur Erstellung universeller Monogr.n von Erzähltypen, die wiederum mehr über die Inhalte als über deren Kontext oder Bedeutung aussagen. Teil dieses weltumspannenden Erschließungsprojekts sind auch die internat. Typen- bzw. Motivkataloge AaTh/ATU und Mot. Für K. J Ranke war der homo narrans die Verkörperung des J Erzählens als eines ubiquitären bzw. universellen Phänomens der conditio humana, gleichrangig mit fundamentalen Emotionen wie Liebe, Freude, Trauer oder Humor. Während diese Feststellung sowohl in mündl. als auch in literarisierten Kulturen Gültigkeit besitzt (J Anthropol. Theorie, J Ethnol. Theorie), ist sie hinsichtlich bestimmter Gattungen zu differenzieren. Die Sage spielt in einer durch hist. Prozesse bestimmten Welt, wie die Darstellung sozialer und kultureller Institutionen zeigt. In diesem Sinn besitzt sie eine gewisse gesellschaftliche und politische Tiefe, die dem Märchen fehlt; sie zeigt das Spezifische einer Kultur auf und veranschaulicht ihre Regeln. Dennoch ist sie im wesentlichen J ahistorisch (J Historisierung und Enthistorisierung). Ihre J Geschichtlichkeit wird verneint und eine fatalistische Sicht der Welt behauptet, in der die objektiven Bedingungen von Not aufgrund der magisch-religiösen Formen ihrer Erklärung nie wirklich in Frage gestellt werden (J Magisches Weltbild, J Pessimismus)14. In diesem Sinn ist der Blickwinkel der Sage alles andere als universell.
Demgegenüber sind die Figuren des Märchens von den sozialen Bindungen und komplexen Interdependenzen der wirklichen Welt isoliert (J Isolation), können gerade deshalb aber in Verbindung mit jeder anderen Gestalt treten (J Allverbundenheit)15. Entsprechend kann das Märchen jedes beliebige Element assimilieren oder sublimieren (J Assimilation, J Sublimierung) und spiegelt die universell gültigen wesentlichen Bestandteile der menschlichen Existenz wider (cf. J Weltanschauung, Weltbild)16. ´ Giolla´in, D.: Tradition, Modernity, and cf. allg. O Cultural Diversity. In: Dynamics of Tradition. Festschr. A.-L. Siikala. Hels. 2003, 35⫺47; Elias, N.: Über den Prozeß der Zivilisation. Basel 1939 u. ö. ⫺ 2 Calinescu, M.: Five Faces of Modernity. Modernism, Avant-garde, Decadence, Kitsch, Postmodernism. Durham, N. C. 21987, 274; Vattimo, G.: La societa` trasparente. Mailand 22000, 8⫺10, 13. ⫺ 3 Wallerstein, I.: European Universalism. N. Y. 2006. ⫺ 4 Chesnutt, M.: The Antiquarian and Romantic Beginnings of Folklore Studies. In: Greppa´ lason. Reykjavı´k 2009, 53⫺62, minni. Festschr. V. O bes. 53⫺56. ⫺ 5 Berlin, I.: Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas. L. 1976; Barnard, F. M.: Herder on Nationality, Humanity and History. Montreal/Kingston 2003; Dekens, O.: Herder. P. 2003. ⫺ 6 Elias, N.: The Civilizing Process. Ox./ Cambr., Mass. 1994, 4 sq., 7 sq., 13, 15 sq., 24⫺ 26. ⫺ 7 Löfgren, O.: The Cultural Grammar of Nation-Building. In: Anttonen, P. J./Kvideland, R. (edd.): Nordic Frontiers. Turku 1993, 217⫺238, hier 217 sq. ⫺ 8 Carvalho, J. J. de: O lugar da cultura tradicional na sociedade moderna. In: Semina´rio folclore e cultura popular. Se´rie Encontros e estudos 1 (1992) 23⫺38. ⫺ 9 Schenk, H. G.: The Mind of the European Romantics. Ox. u. a. 1979, xxi, 13 sq. ⫺ 10 Vattimo (wie not. 2). ⫺ 11 Bensa, A.: La Fin de l’exotisme. Toulouse 2006. ⫺ 12 Tietmeyer, E.: Das „Andere“ und das „Eigene“. Geschichte, Profil und Perspektiven des Museums Europ. Kulturen in Berlin. In: Grewe, C. (ed.): Die Schau des Fremden. Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wiss. Stg. 2006, 143⫺156; Segalen, M.: Vie d’un muse´e 1937⫺2005. P. 2005. ⫺ 13 Ortiz, R.: Mundializacio´n y cultura. Buenos Aires/ Madrid 1997, 274. ⫺ 14 Martino, E. de: Sud e magia. Mailand 101981, 72; Freire, P.: Cultural Action for Freedom. Harmondsworth 1972, 59 sq., 62 sq. ⫺ 15 cf. Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf/Köln 1975, Reg. s. v. Universal(ismus). ⫺ 16 Freire (wie not. 14) 76 sq. 1
Cork Unke J Kröte
´ Giolla´in Diarmuid O
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Unscheinbar
Unscheinbar. Die Bedeutung des ⫺ meistens nur vordergründig ⫺ U.en, Gebrechlichen, Fehlerhaften oder Schmutzigen in Volksmärchen wird verständlich, wenn man bedenkt, daß die Darstellung von J Schein und Sein eines seiner Hauptthemen bildet (cf. auch J Paradox). U. sind im Märchen oft der J Held und die Heldin, menschliche und tierische J Helfer und J Ratgeber sowie Gegenstände. Im Gegensatz zu ihrer Erscheinung erweisen sie alle sich aber als Repräsentanten eines höheren Seins oder Wertes. Die Bedeutung des U.en liegt in der Umkehrung von Kräfteverhältnissen, im sozialen Aufstieg oder in moralischer Überlegenheit: Die J Letzten werden zu den Ersten1. Die U.keit des Helden entspricht dabei derjenigen jüd.-christl. Vorbilder2, wie sie etwa in dem Bibelwort „du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen“ (Mt. 25,21), aber auch in bibl. Gestalten realisiert ist, die unter göttlichem Schutz stehen (J Moses, J David, J Daniel; cf. J Demut und Hochmut)3. Der u.e Held (Mot. L 100⫺L 199) repräsentiert im Märchen das Mangelwesen Mensch4, das aber in seiner J Allverbundenheit und/oder mit seiner Tapferkeit jegliche Schwierigkeit überwinden kann5. U.e Helden sind die zentralen Identifikationsfiguren in europ. Märchen6. Der u.e Held ist oft von niedrigem sozialem Rang (J Arm und reich) oder der J jüngste von drei Königssöhnen. Seine äußere Erscheinung wird oft durch minderwertige Kleidung7, Schmutz (AaTh/ATU 361: J Bärenhäuter) und den Platz in der Asche charakterisiert (J Askeladden; cf. AaTh/ATU 510 A⫺B: J Cinderella). Während es bes. alte Menschen sind, die dem Protagonisten die entscheidenden Ratschläge erteilen und ihm beistehen8, handelt es sich bei den u.en Helden häufig um das Jüngste von mehreren Geschwistern oder um J Findelkinder, J Waisen, uneheliche, ungeliebte oder mißhandelte Kinder, die gesellschaftlich bes. marginalisiert sind. Dieser sozialen Charakteristik des u.en Helden entspricht sein J Name, ein Allerweltsname (Hans, Jack, Ivan) oder eine Bezeichnung, die auf sein schäˆ ne) biges Aussehen (Allerleirauh, Peau d’A oder auf seinen geringen Besitz abhebt (Prinz Brennessel)9. Der U.e gehört oft bestimmten Berufsgruppen an: Er (oder sein Vater) ist Ziegen- oder Schweinehirt (J Hirt), J Bauer,
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Holzfäller oder J Schneider; weibliche u.e Protagonisten sind vielfach Mägde im eigenen oder fremden Haushalt (J Dienst beim Dämon). Zum Heldenbild des Märchens gehören daneben körperliche Mängel (cf. J Schön und häßlich): Der J Kahl- oder Grindkopf sowie der Mißgebildete (J Krüppel) repräsentieren den u.en Helden, das unansehnliche, lahme Pferd (z. B. Petr Pavlovicˇ J Ersˇovs buckliges Pferdchen)10 seinen vermeintlich wertlosen Begleiter. Neben solchen eher äußerlichen Eigenschaften des u.en Protagonisten können ihn aber auch Dummheit (J Dümmling, Dummling) und Faulheit (J Fleiß und Faulheit, Kap. 3.2) charakterisieren11. U.keit korreliert oft mit Kleinheit: Kleine Tiere leisten dem Helden wichtige Dienste, vielfach helfen ihm Bienen und Ameisen bei der Lösung scheinbar unlösbarer J Aufgaben (KHM 62, AaTh/ATU 554: cf. J Dankbare [hilfreiche] Tiere; cf. auch AaTh/ATU 313: J Magische Flucht). Kleine Gegenstände entfalten große Wirkung oder besitzen große Macht: Ein Groschen Lohn für jahrelange Arbeit verhilft dem Helden zu Wohlstand12; das armselige Erbe (cf. AaTh/ATU 1650: Die drei glücklichen J Brüder; AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater), die kleinliche Belohnung, die verachteten Geschenke der Unterirdischen entpuppen sich als wertvolle oder magische Gegenstände (ATU 476: Coal Turns into Gold; ATU 476**: Midwife in the Underworld; J Hebamme)13. J Zaubergaben und Zauberdinge sind überhaupt vielfach u. (z. B. Früchte oder Nüsse, die Kostbarkeiten enthalten; Geschenke dankbarer Tiere wie eine Schuppe oder Feder; cf. AaTh/ATU 552: J Tierschwäger)14. Die Bedeutung des u.en Helden reicht über das Märchen hinaus. Er begegnet auch in der populären Lit.: Im Kriminalroman etwa sind die Detektive oft u.e Helden, so Agatha Christies Miss Marple und Hercule Poirot oder Gilbert K. Chestertons Father Brown15. 1 Lüthi, M.: Volkslit. und Hochlit. Bern/Mü. 1970, 48⫺62; id.: Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie. Düsseldorf/Köln 1975; Meletinskij, E. M.: The „Low“ Hero of the Fairy Tale. In: Oinas, F./Soudakoff, S. (edd.): The Study of Russian Folklore. Den Haag/P. 1975, 235⫺257; Horn, K.: Das Große im Kleinen. In: Fabula 22 (1981) 250⫺
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Unschuld
271, hier 250 sq.; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 236; cf. Tucker, E.: Unpromising Hero. In: Enc. of Folklore and Lit. Santa Barbara/Denver/Ox. 1998, 675 sq. (bibl. Parallelen). ⫺ 2 EM 7, 802. ⫺ 3 Tucker (wie not. 1) 675. ⫺ 4 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Mü. 61978, 118 sq. ⫺ 5 cf. Horn, K.: Der aktive und der passive Märchenheld. Basel 1983, 10⫺22. ⫺ 6 Beit, H. von: Symbolik des Märchens 1. Bern 41977, 341, 353 und pass.; Bettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen. Stg. 1977, 99⫺106; Horn, K.: Märchen ⫺ Lit. für Kinder? In: Märchenkinder ⫺ Kindermärchen. ed. T. Bücksteeg/H. Dikkerhoff. Kreuzlingen/Mü. 1999, 103⫺110, hier 106. ⫺ 7 Horn, K.: Das Kleid als Ausdruck der Persönlichkeit. Ein Beitrag zum Identitätsproblem im Volksmärchen. In: Fabula 18 (1977) 75⫺104. ⫺ 8 Lüthi 1975 (wie not. 1) 44 sq.; Meletinskij (wie not. 1) 251. ⫺ 9 Kova´cs, A.: Ung. Volksmärchen. MdW 1966, num. 9. ⫺ 10 cf. Sorlin, E.: „Pe`re, pourquoi tu pleures d’un œil et ris de l’autre?“ In: Fabula 28 (1987) 245⫺268, hier 247 sq., 253 sq.; ead.: La verte Jeunesse et la vieillesse me´lancolique dans des variantes roumano-hongroises de AaTh 551. ibid. 36 (1995) 79⫺97, hier 90⫺92. ⫺ 11 HDM 2, 66⫺68. ⫺ 12 Horn (wie not. 5) 30. ⫺ 13 KHM 126; Schullerus, P.: Rumän. Volksmärchen aus dem mittleren Harbachtal. ed. R. W. Brednich/ I. Talosø. Buk. 1977, num. 40; Busch, W.: Sämtliche Werke 8. ed. O. Nöldeke. Mü. 1943, 98⫺104; Musäus, J. K. A.: Volksmärchen der Deutschen. ed. N. Miller. Mü. 1976, 284, 287 sq.; Kreutzwald, F. R.: Estn. Märchen. ed. A. Kaidja. Tallinn 1981, num. 11; Montanus/Bolte, 260⫺266; Wildhaber, R./Uffer, L.: Schweizer Volksmärchen. MdW 1971, num. 54; Christiansen, R. T.: Midwife of the Hidden People. In: Lochlann 6 (1974) 114 sq.; cf. Lüthi, M.: Die Gabe im Märchen und in der Sage. Diss. Bern 1943, 44, 48. ⫺ 14 Horn (wie not. 1) 252⫺256, 265 sq.; ead. (wie not. 5) 28⫺30. ⫺ 15 Shojaei Kawan, C.: Holmes, Marlowe, Bond & Co. Kleine Typologie der Krimihelden. In: Festschr. R. Schenda. Bern u. a. 1995, 667⫺684, hier 670 sq.
Basel
Katalin Horn
Unschuld bedeutet in einem allg., bes. in phil.-ethischem Sinn das Fehlen von J Schuld und somit die (unwissentliche) Integrität des Verhaltens; in übertragener Form bezeichnet U. den Zustand sexueller Unberührtheit (J Jungfrau, Jungfernschaft; J Keuschheit), in religiöser Bedeutung die Freiheit von J Sünde1. Der Begriff wird auch für die Ablehnung von Verantwortung (,seine Hände in U. waschen‘)2 verwendet. In allen Bedeutungen ist U. an ein moralisches, religiöses oder juristisches System von J Normen und J Rechtsvorstellungen ge-
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bunden, das in den entsprechenden Erzählungen implizit mitzudenken ist3. Die Frage nach der U. berührt vorrangig das Rechts- und J Gerechtigkeitsempfinden sowie die Orientierung an (teilweise konkurrierenden) kulturellen Normen. In populären Erzählungen ist die fälschliche Verurteilung von Unschuldigen ein häufiges Motiv (cf. J Urteil). Die U. der Protagonisten im Sinne ihrer sexuellen Unberührtheit wird gelegentlich durch bestimmte Kennzeichnungen hervorgehoben. Im Brauch kann sie etwa durch bestimmte Zeichen ⫺ z. B. Bänder4 oder Kränze5 ⫺ sichtbar gemacht werden, deren mißbräuchliche Verwendung sanktioniert wird. Farbsymbolisch ist der U. im christl. Raum die Farbe Weiß (bes. die weiße J Lilie) zugeordnet6. Die Vorstellung von U. als eines paradiesischen Zustandes (J Paradies) enthält auch kulturkritische Implikationen und verweist auf die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und der naiven Unbeschwertheit der Kindheit (J Naivität, Kap. 2). In diese Richtung geht auch die Bezeichnung der ,unschuldigen Hausmärchen‘ im Vorw. der J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm7. Andererseits kann U. als Last oder Mangel und damit als Ursache für Spott (,U. vom Lande‘)8 auftreten. U. steht dann für Unvertrautheit mit sozialen Normen und Verhaltensmustern und wird oft mit J Dummheit gleichgesetzt. Allerdings besitzen die ,Dorftölpel‘ auch eine aus ihrer unschuldigen Naivität erwachsende praktische Klugheit, die sie in die Nähe von J Trickstern rückt. Aus derartigen Spottgestalten vom Lande entwickelten sich u. a. die lustigen Gestalten im populären Theater wie Pulcinella, Arleccino oder Hanswurst (J Commedia dell’arte, J Puppentheater, J Schattenspiel, J Volksschauspiel). In christl. Erzählstoffen wird sexuelle U. hoch bewertet (cf. J Empfängnis: wunderbare E.; J Lamm Gottes) und ist Voraussetzung für erlösende Kraft (J Erlösung). Heilige, bes. Frauen, verweigern sich oft der Ehe, um ihre U. zu bewahren (J Keuschheit; AaTh/ATU 706 B: Die keusche J Nonne). Ohne J Taufe gestorbenen ,unschuldigen‘ Kindern (Gedenktag 28. 12.) wird auf dem Friedhof ein eigener Raum zugedacht9. In Mythen, Märchen und Legenden soll oft ein unschuldiger Mensch, häufig eine J Jung-
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Unschuld
frau, als J Opfer dargebracht werden (J Drache, Drachenkampf, Drachentöter); durch die Schuldlosigkeit des Opfers wird die Sündhaftigkeit des Ansinnens kontrastiv hervorgehoben. Unschuldige J Frömmigkeit kann als Wert über kirchliche Praktiken und Normen gestellt werden (AaTh/ATU 827: J Heiligkeit geht über Wasser; cf. auch AaTh/ATU 767: J Kruzifix gefüttert). Den Unschuldigen werden gegenüber dem Numinosen oder Übernatürlichen bes. Fähigkeiten zugesprochen: Sie können den Teufel10, Geister oder Hexen erkennen, der Teufel kann ihnen nichts anhaben; sie erhalten bes. oft göttlichen Schutz (J Schutzgeister) oder haben selbst schützende11 oder erlösende12 Kraft. Unschuldig Verleumdete (J Verleumdung) oder Verfolgte (J Frau, Kap. 3. 1.2), Angeklagte oder Verurteilte sind ein häufiges Motiv in populären Erzählungen. Um die U. zu bewahren, rettet sich die (meist weibliche) verfolgte Person durch einen unmöglich erscheinenden Sprung (J Jungfernsprung), verstümmelt sich selbst (J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung) oder wird (im Sinne einer Schutzwirkung) verwandelt (J Verwandlung). Oft erfährt die unschuldige Person Unterstützung durch Menschen (z. B. durch den Jäger, der den befohlenen Mord nicht begeht und damit das moralische Recht über die weltliche Loyalität stellt; J Tierherz als Ersatz), J dankbare (hilfreiche) Tiere oder höhere Mächte als J Helfer. U. wird oft durch eine bes. Tat oder ein Zeichen bewiesen. Die Falschaussage angeblicher J Zeugen kann handlungsmotivierend werden, indem die scheinbare Schuld den Protagonisten in die Ferne führt, letztlich sich aber ihre U. herausstellt (z. B. AaTh/ATU 712: J Crescentia; AaTh/ATU 882: cf. J Cymbeline; J Genovefa). Dabei kann der U.sbeweis vorher angekündigt werden13, z. B. durch Träume (AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes), oder ad hoc erfolgen (KHM 17, cf. AaTh/ATU 673: cf. J Tiersprachenkundiger Mensch)14, was zur sofortigen Rehabilitation führt (ATU 706 D: J Kümmernis). Diese kann durch das Wiederergrünen eines trockenen Steckens (AaTh/ ATU 756 A: Der selbstgerechte J Eremit; AaTh/ATU 756 B: J Räuber Madej) oder die Wiederbelebung gebratener Tiere (ATU 960 C: J Bratenwunder) angezeigt werden. Manch-
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mal muß der U.sbeweis als J Gottesurteil in Form unmöglich erscheinender J Aufgaben angetreten werden, kann erst im Nachhinein, verbunden mit einer längeren Zeit der Verwandlung, der Verbannung und des zeitweiligen sozialen Abstiegs erbracht werden15 oder erfolgt nach dem Tod16, was zur J Wiederbelebung oder zumindest nachträglichen Ehrung der Unschuldigen und zur Bestrafung des eigentlich Schuldigen17 führen kann. U. kann durch Aufzeigen des Schuldigen bewiesen werden (cf. J Totenkopf), auch durch den Teufel, der im Gegenzug die Seele des Schuldigen erhält (J Teufelspakt). Posthum deuten Blut (Mot. D 1318.5) oder trockene Blüten an der Grabpflanze (Mot. E 631.0.5.1) U. an. Blumen oder andere Pflanzen wachsen aus dem Grab/ Hinrichtungsplatz unschuldig Hingerichteter (J Grabpflanzen), es kommt zur J Unfruchtbarkeit des Bodens18 oder zum Niedergang der Schuldigen19. Auch kann der unschuldig Getötete als Geist wiederkehren (J Wiedergänger), um auf den Schuldigen hinzuweisen und auf Sühne bzw. Erlösung zu drängen. Selbst wenn die U. nur vorgetäuscht ist, führt ihre Anerkennung durch die Gemeinschaft meist zu Rehabilitierung, Ehrung oder sozialem Aufstieg (J Eideslist; AaTh/ATU 1418: J Isoldes Gottesurteil). Allerdings verweist insbesondere die Praxis des Gottesurteils auf die subjektiv empfundene Unfähigkeit weltlicher Autoritäten, Schuld und U. eindeutig feststellen zu können; mithin ist sie auch Ausdruck einer über das weltliche Recht hinausgehenden Rechtsauffassung und der Hoffnung auf eine überirdische Gerechtigkeit. Die Hilflosigkeit der Unschuldigen zeigt sich, wenn sie trotz plausibler Argumente durch die Mächtigen verurteilt oder vernichtet werden (AaTh/ATU 111 A: J Wolf und Lamm). Ein Vergehen an Unschuldigen wird als bes. Schuld betrachtet und rechtfertigt (z. T. göttliche) J Rache: Der Hinweis auf die U. der Opfer verstärkt die Schwere der Schuld, wie etwa in der Sage vom Untergang des grausamen Königs Watzmann20. Manchmal wird eine U.serklärung oder ein U.sbeweis nicht abgegeben, um anderen nicht zu schaden (cf. J Schweigen zur Erlösung anderer wie in AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder), wobei die Bereitschaft zur Selbstaufopferung ein übergeordnetes Nor-
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Unsichtbar
mensystem im Blick hat. Irritierend ist das schier übermenschliche Ertragen von Unrecht in AaTh/ATU 887: J Griseldis. U. ist stets gefährdet, durch J Verführung21, ein unabsichtliches Vergehen oder eine bewußte Entscheidung, auch in übertragenem Sinn (,die verlorene U. der Wissenschaft‘). Damit verbunden ist die utopische Sehnsucht nach Wiedererlangung der U., die aber auch durch J Reue oder Sühne nicht mehr erreicht werden kann. Paradox bzw. tragisch ist die Verbindung von Schuld und U. beim Problem der konkurrierenden Normen (J Parzival), die dem Protagonisten keine Möglichkeit gibt, die eigene U. zu bewahren, ohne andere Normen zu verletzen und dadurch schuldig zu werden. 1 Sitzler-Osing, D./Beld, A. van den/Genest, H.: Schuld. In: TRE 30 (1999) 572⫺591. ⫺ 2 Röhrich, Redensarten 3, 1662. ⫺ 3 cf. allg. Mot., Reg. s. v. Guilt, Guilty, Innocence, Innocent; Uther, H.-J. (ed.): Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003; id. (ed.): Europ. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004; id. (ed.): Märchen der Welt. CD-ROM B. 2006. ⫺ 4 HDA 7 (1935⫺36) 797. ⫺ 5 Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz 1⫺3. Augsburg 1857/58/59, hier t. 1, 86 sq. ⫺ 6 HDA 2 (1929⫺30) 1197, 1199. ⫺ 7 KHM 1 (1812) VI. ⫺ 8 Röhrich, Redensarten 3, 1662. ⫺ 9 Schönwerth (wie not. 5) t. 1, 204. ⫺ 10 Baader, B.: Neugesammelte Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden. Karlsruhe 1859, num. 53. ⫺ 11 Müller-Bergström, W.: U. In: HDA 8 (1936⫺37) 1443⫺1451, hier 1444. ⫺ 12 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, num. 362. ⫺ 13 ibid., num. 606. ⫺ 14 Baader, B.: Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden. Karlsruhe 1851, num. 80. ⫺ 15 Grimm DS 540. ⫺ 16 Grimm DS 98. ⫺ 17 Grimm DS 479. ⫺ 18 Bartsch (wie not. 12) num. 138. ⫺ 19 Baader (wie not. 14). ⫺ 20 cf. Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. Lpz. 1853, num. 1000. ⫺ 21 Lehnert, J. H.: Mährchenkranz für Kinder. B. [1829], num. 14; Schönwerth (wie not. 5) t. 3, 87 sq.
Regensburg
Helmut Groschwitz
Unsichtbar. Unsichtbarkeit (U.keit) im allg. bezeichnet Phänomene wie Strahlungen oder Substanzen, die dem menschlichen Auge nicht wahrnehmbar sind. Im transzendenten Sinn sind übernatürliche Dinge und die meisten geistigen Vorgänge u.; sie können jedoch einer Erkenntnis zugänglich sein. U.keit in Volkserzählungen bezieht sich zumeist auf Hand-
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lungsträger oder Gegenstände, die prinzipiell sichtbar sind, aber u. gemacht werden können, oder über die Fähigkeit verfügen, sich oder etwas anderes u. zu machen. Das Streben nach U.keit ist offenbar alt und war weit verbreitet. Es betraf damit verbundene Praktiken ebenso wie die Erlangung dazugehöriger Gegenstände. Schon in ägypt. Papyri finden sich zahlreiche Rezepte, die der Erlangung der U.keit dienen sollten1. In Mythen und Sagen ist oft von einem dichten Nebel die Rede, der etwa eine Stadt (Schloß) für eine bestimmte Zeit einhüllt, so daß Angreifer vergeblich danach suchen (cf. J Täuschung)2. In einer fläm. Var. von AaTh/ ATU 513 B: J Schiff zu Wasser und zu Lande verfügt ein wunderbarer Helfer über die Fähigkeit, Licht zu machen und Dunkelheit herbeizuführen, nimmt den Verfolgern durch plötzlich einbrechende Dunkelheit die Sicht und gebietet ihnen Einhalt3. In vielen Erzählgenres kann sich der Held einerseits durch J Verbergen, andererseits aber auch durch J Kleider-, J Gestalttausch oder J Geschlechtswechsel für seine Gegenspieler tarnen, also in gewissem Sinn scheinbar u. machen. So gelingt es dem Freier in bestimmten Var.n von AaTh/ATU 329: J Versteckwette, sich durch Verwandlungszauber dem durchdringenden magischen Blick der stolzen Königstochter zu entziehen. Weber und Maler bedienen sich in AaTh/ATU 1620: J Kaisers neue Kleider eines schlauen Betrugs: Sie behaupten, die (in Wirklichkeit nicht vorhandenen) Kleider (Gemälde) blieben für jeden u., der dumm oder untauglich für sein Amt bzw. von unehelicher Geburt ist. Daraufhin behauptet der Herrscher, etwas wahrzunehmen, was er eigentlich gar nicht sieht, und sein Gefolge bestätigt das ,Gesehene‘. Über die Fähigkeit, sich (und andere) u. machen zu können, verfügen der Weltschöpfer (Mot. A 11.1), Götter und Dämonen (Mot. G 302.4.2) und Jenseitswesen (Mot. G 210.0.1). Nahezu alle olympischen Götter können u. über die Erde wandeln, um sich in die Geschicke von Menschen einzumischen (J Erdenwanderung der Götter). Die verhüllende Funktion der Wolken findet sich schon in der griech. Überlieferung in J Homers Ilias (5., 11. und 15. Gesang); auf diese Weise können die Sterblichen Götter und übernatürliche
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Unsichtbar
Helden nicht wahrnehmen. Hades, der griech. Gott der Unterwelt und der Toten, trug den Beinamen ,der U.e‘ oder auch ,der Ungesehene‘. Hephaistos bindet das ehebrecherische Paar Aphrodite (J Venus) und Ares mit u.en Fesseln4. In der iran. Überlieferung verfügt die feenartige übernatürliche J Peri über die Fähigkeit, sich u. zu machen. Die Vorstellung von schmiedenden mythol. Wesen, die man z. T. nur hören, aber nicht sehen kann, war weit verbreitet5. Daneben sind in vielen Teilen der Welt oft Zwergwüchsige, Elfen, weiße Frauen, vielerlei Toten- und Hausgeister u. (J Geist, Geister; J Gespenst; J Spuk)6; sie können nur von einzelnen privilegierten Menschen wie etwa J Sonntagskindern wahrgenommen werden. Auch Hunde und Pferde gelten als J geistersichtig. Im Spukschloß wird Essen und Trinken von einer u.en Bedienung aufgetragen7. In einem finnlandschwed. Märchen ist der Held durch die Heirat mit einer Waldfrau u. geworden; er wird allerdings wieder sichtbar, wenn er an den Altar tritt und seinen Kopf unter den Mantel des Priesters steckt8. Nachdem zwei Freunde in AaTh/ATU 470: J Freunde in Leben und Tod verabredet haben, sich gegenseitig auf ihrer Hochzeit zu besuchen, kommt der eine seinem Versprechen nach, indem er, früh verstorben, als Toter u. an der Hochzeit seines Freundes teilnimmt. Unter dem Erzählkomplex vom Schutzengel (J Schutzgeister) finden sich vielfältige Geschichten, die davon erzählen, wie eine Person von einem u.en Wesen vor Gefahr oder Verletzungen geschützt oder von ihrem verbrecherischen Vorhaben abgebracht wird. Um unerkannt zu bleiben, können sich umgekehrt Verursacher von J Schadenzauber u. machen (cf. Mot. D 1980⫺D 1982.5, G 210.0.1, G 303.4.8.13). Dazu zählen der J Teufel9 und solche, die mit ihm im Bunde stehen, wie etwa J Hexen10 oder J Räuber11. Auch Schamanen sollen die übernatürliche Fähigkeit besitzen, sich u. zu machen12. Während die sichtbaren Jenseitigen durchweg als J stumm beschrieben werden, fällt es umgekehrt auf, daß die u.en Haus- und Spukgeister gerade durch vielfältige Geräusche, etwa wunderbare Musik13, durch den Schall ihrer Fußtritte oder Rascheln14 und Flüstern auf sich aufmerksam machen15. In AaTh/ATU 113 A: J Pan ist tot heißt es, daß ein u.er
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Übernatürlicher mit lauter Stimme darum bittet, die Nachricht vom Tode einer bestimmten Person an einem bestimmten Ort zu melden. Als der Auftrag ausgerichtet wird, hört man, wie die u.en Unterirdischen über den Todesfall trauern: Es wird ein Gewinsel vernommen, das sich der Tür nähert und dann verstummt16, oder ein Sausen und Brausen, ein Jammern und Wehklagen17. Der Wechsel vom Sichtbaren zum U.en findet oft mittels J Zaubergaben statt, z. B. mit einer J Tarnkappe (Hut, Mantel, magisches Hemd, Blume, Stein und bes. J Ring; cf. Mot. D 1361⫺D 1361.44). Während Jenseitswesen über solche Zaubergaben verfügen, müssen andere sie sich erst besorgen: Wer einen Zwergenhut ergreift oder ihn zufällig dem Träger vom Kopf schlägt, hat Gewalt über den sichtbar Gewordenen18. Nachdem der Märchenheld meistens auf listige Weise den u.machenden Zaubermantel in seinen Besitz gebracht hat (cf. AaTh/ATU 518: J Streit um Zaubergegenstände), verwendet er ihn, um unbemerkt schwierige Aufgaben zu vollbringen, etwa die Erlösung bzw. Gewinnung seiner zukünftigen Braut (z. B. AaTh/ATU 306: Die zertanzten J Schuhe; AaTh/ATU 519: cf. J Heldenjungfrau) oder die Rückgewinnung der verlorenen Ehefrau (AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau). In einem weiteren Sinne werden in Volkserzählungen19 u.e Gefühlsregungen und abstrakte Konzepte durch Materialisierung, konkrete Handlungen oder durch bildliche Vorstellungen nach außen sichtbar gemacht (J Abstraktheit, J Flächenhaftigkeit, J Symbolik). So sind in KHM 1, AaTh/ATU 440: J Froschkönig die zerspringenden drei eisernen Bande Ausdruck der Erleichterung, Befreiung und inneren Genugtuung. Schließlich sind u.machende Zaubergaben beliebte Requisiten in Science Fiction- und Fantasy-Romanen bzw. -Filmen. 1 Habiger-Tuczay, C.: Magie und Magier im MA. Mü. 1992, 44, 318; Zepf, M.: u. In: HDA 8 (1936⫺ 37) 1453⫺1465, hier 1454. ⫺ 2 z. B. Birlinger, A./ Buck, M. R.: Sagen, Märchen, Volksaberglauben. Fbg 1861, num. 598. ⫺ 3 Lox, H.: Fläm. Märchen. MdW 1999, num. 25. ⫺ 4 Ranke-Graves, R. V.: Griech. Mythologie. Reinbek 21984, 56⫺62. ⫺ 5 cf. Möhlig, W. J. G./Jungraitmayr, H. (edd.): Lex. der afrikanistischen Erzählforschung. Köln 1998, 194;
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Unsterblichkeit
Calame-Griaule, G.: Blanche-Neige au soleil. In: Itine´rances … en pays Peul et ailleurs 2. Festschr. J. F. Lacroix. P. 1981, 61⫺78, hier 71 (westafrik.); Tegnaeus, H.: Le He´ros civilisateur. Uppsala 1950, 16 (zu den Dogon in Mali); Zwernemann, J.: Erzählungen aus der westafrik. Savanne. Stg. 1985, 52 sq., 62 sq., 129 sq., 170; Morenz, S.: Ptah ⫺ Hephaistos, der Zwerg. In: Festschr. F. Zucker. B. 1954, 277⫺ 290, hier 282 (zu Ägypten); Rossignol, J.-P.: Les Me´taux dans l’Antiquite´. P. 1863, 99⫺131; Hemberg, B.: Die idai. Daktylen. In: Eranos 50 (1952) 41⫺ 59. ⫺ 6 HDA 8, 1453⫺1465; Grimm, Mythologie 1, 363⫺428; zahlreiche Beispiele cf. Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003; id.: Europ. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004; id.: Märchen der Welt. CD-ROM B. 2006. ⫺ 7 Bechstein, L.: Neues dt. Märchenbuch. ed. H.-J. Uther. MdW 1997, num. 15. ⫺ 8 Peuckert, W.-E.: Dt. Volksglaube des SpätMA.s. Stg. 1942, 78. ⫺ 9 Grässe, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen 1⫺2. Dresden 21874, hier t. 2, num. 890; id.: Sagenbuch des Preuß. Staates 2. Glogau 1871, num. 698; Birlinger/Buck (wie not. 2) num. 409.2. ⫺ 10 ibid., num. 493. ⫺ 11 HDA 3, 1807. ⫺ 12 EM 11, 1213. ⫺ 13 Gredt, N.: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette 1963, num. 461. ⫺ 14 Schambach, G./ Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Göttingen 1854, num. 97. ⫺ 15 Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. Lpz. 1853, num. 111; Grässe 1874 (wie not. 9) t. 1, num. 556; Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, num. 88. ⫺ 16 ibid., num. 71. ⫺ 17 ibid., num. 88. ⫺ 18 HDA 9, Nachtrag (1938⫺41) 1031. ⫺ 19 cf. ATU und Mot., Reg. s. v. Invisibility, Invisible, Invisibly.
Mariakerke
Harlinda Lox
Unsterblichkeit. Unter U. im engeren Sinn versteht man das Ausbleiben des biologischen J Todes, also das ewige Leben (J Ewigkeit). U. wird idealtypisch unterschieden von Formen des Weiterlebens in einem Totenreich (J Schatten; J Tot, Tote; J Unterwelt)1 und/ oder im Diesseits, d. h. etwa in Nachkommen, Werken, Stiftungen oder im Gedächtnis2. Im weiteren, eher unpräzisen Sinn bezeichnet U. die Fähigkeit, das (menschliche) Leben weit über das durchschnittliche Maß auszudehnen3. Vorstellungen von U. bestimmen weltweit das religiöse und phil. Denken, das rituelle Handeln und die Erzähltraditionen hist. und gegenwärtiger Kulturen4. Dabei lassen sich drei kulturelle Grundeinstellungen unterscheiden5: (1) U. ist ausschließlich göttlichen oder
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anderen übernatürlichen Wesen vorbehalten, die J Sterben und Tod nicht ausgesetzt sind6; (2) U. kann auch auserwählten Menschen zuteil werden; oder (3) U. wird als ein in jedem Menschen angelegtes Potential verstanden, das dieser verspielen oder wahrnehmen kann7. U.svorstellungen gemeinsam ist die Annahme, daß die J Seele prinzipiell unsterblich ist (cf. auch J Seelenwanderung, J Wiedergeburt8) bzw. daß der biologische Tod nicht endgültig ist, sondern den Übergang in eine andere Existenzform bedeutet9. Diese kann als Fortsetzung des irdischen Lebens, als Verbesserung (z. B. Gottähnlichkeit) wie auch als Verschlechterung, gedacht sein und ist häufig an bestimmte Orte gebunden (J Jenseits, J Fegefeuer, J Hölle, J Himmel, J Paradies)10. Im Christentum trat die Annahme von U. in ein komplexes Spannungsverhältnis mit dem Glauben an die leibliche Auferstehung nach einem J Jüngsten Gericht am Ende der Zeiten11. Von der Thematisierung der U. ist die Nicht-Thematisierung der Sterblichkeit zu unterscheiden, wie sie für die populären Erzählgattungen Märchen und Comic typisch ist, deren Figuren in einer immerwährenden Gegenwart leben und handeln12. Allerdings gilt dies primär für die Helden, denn Gegenspieler und Nebenfiguren können sehr wohl sterben, selbst wenn sie von der Anlage her unsterblich sind (cf. AaTh/ATU 302: J Herz des Unholds im Ei). Der typische Schluß des dt. Märchens mit der Formel ,Und wenn sie nicht gestorben sind, …‘ spielt dabei mit Gedanken, der menschlichen Grunderfahrung der Sterblichkeit in einer Märchenwelt zu entkommen. Die Vorstellung eines Urzustands der leiblichen U. ist bereits in mythischen Erzählungen weit verbreitet13, gleiches gilt für Erklärungen über die Entstehung des Todes (z. B. Gen. 2,17; ATU 934 H: The Origin of Death). Die menschliche Hoffnung nach U. ist neben dem Wunsch nach J Unverwundbarkeit oder J Verjüngung eine der großen J Utopien der Menschheit, und die ⫺ erfolgreichen oder erfolglosen ⫺ Versuche, sie zu erlangen, zählen zu den weltweit bekannten Erzählthemen (Mot. D 1850 sqq.). Auf der J Suche nach U. macht sich der Held von Mythen, Epen oder Märchen auf den Weg in ein fernes Land14, zu einer J Insel15 oder einem J Garten, oft am
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Unsterblichkeit
J Ende der Welt. Sein Ziel ist es, bestimmte Gegenstände, Mittel oder Kenntnisse16 zu erringen, die das ewige Leben verleihen: das J Lebenskraut, das J Lebenswasser, (goldene) J Äpfel (Mot. D 1346.6.2) oder andere Zauberfrüchte (J Frucht, Früchte)17 oder das Fleisch eines goldenen Vogels (cf. J Heilen, Heiler, Heilmittel)18. Auf seiner Suchwanderung muß der Held schier unlösbare Aufgaben bewältigen, wobei er häufig Hilfe durch Tiere ⫺ oft eine J Schlange19 als Symbol der U. ⫺ oder übernatürliche Wesen erfährt. Nicht immer ist U. die Folge aktiven Bemühens: In Legenden und Sagen kann sie durch göttliches Eingreifen zuteil werden, im Märchen durch magische J Verwandlung20. Dabei spielt das ethische Verhalten der Betreffenden eine wichtige Rolle, denn U. kann nicht nur als (göttliche) Belohnung21 oder als Gnade gewährt werden, z. B. indem der Mensch dem leiblichen Tod durch J Entrückung entkommt22, sondern ⫺ in Verbindung mit unendlicher Wiederholung oder ewigem Leiden ⫺ auch als Strafe (J Ahasver, J Sisyphus, J Tantalus). Hier stellt sich die Frage, ob ⫺ und unter welchen Bedingungen ⫺ ewiges Leben überhaupt wünschenswert sei. Eine Vielzahl narrativer Überlieferungen versucht, Antworten auf diese Frage zu finden. So gilt in mythischen Erzählungen der Versuch, U. zu erringen, als menschliche Anmaßung (J Hybris) und nimmt einen negativen Ausgang: Der Held kann die Aufgaben nicht lösen, erweist sich als unwürdig23 oder wird durch eine List um seinen Erfolg gebracht (J Gilgamesch, J Maui). Zwar gelingt es J Alexander d. Gr., das Wasser der U. zu erlangen, seine Tochter (Schwester, Dienerin) entwendet es jedoch und wird durch den Genuß selbst unsterblich; Alexander verflucht sie, und sie wird in einen Dämon verwandelt24. Auch das Vorhaben, einem anderen zur U. zu verhelfen, kann fehlschlagen: Thetis taucht ihren Sohn J Achilleus in den Styx, um alles Sterbliche an ihm zu beseitigen; dabei wird seine Ferse nicht benetzt und bleibt verwundbar (J Achillesferse)25. Nach anderer Überlieferung will sie seinen Körper nachts im Feuer unsterblich machen (Mot. D 1851.1); das Vorhaben mißlingt jedoch, weil sie dabei gestört wird (cf. Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 3,13,6).
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Im Märchen erweist sich die gewonnene U. letztlich als nicht so positiv wie erhofft (z. B. wenn sie nicht mit ewiger Jugend verbunden ist [Mot. D 1850.1]), geht durch Unvorsichtigkeit verloren oder wird sogar bewußt aufgegeben: Im Zaubermärchen AaTh/ATU 470 B: J Land der U. verläßt der Held das Reich der Unsterblichen, in dem er mit einem weiblichen Jenseitswesen gelebt hat, um seine irdische Heimat wiederzusehen; dort stirbt er26. In einem ital. Volksmärchen empfängt ein Jüngling von einer Schlange einen Zauberring und das Geheimnis der U., das so lange wirkt, wie er zu niemandem darüber spricht; als er seine Kinder und Enkel überlebt hat, wird der Mann der U. überdrüssig und vertraut das Geheimnis einem Urenkel an, der an seiner Stelle unsterblich wird27. Im Schwankmärchen AaTh/ ATU 330: cf. J Schmied und Teufel bannt der listige Held den Tod an einen magischen Gegenstand (Baum, Bank, Stuhl) und bewirkt so, daß niemand mehr sterben kann; obwohl er es damit in der Hand hätte, selbst unsterblich zu werden, begnügt er sich mit einer Verlängerung seiner Lebensfrist (cf. auch AaTh/ATU 1188: J Komm morgen!). Die Ambivalenz zwischen Fluch und Segen der U. spielt auch in der Science Fiction-, Fantasy- und Horrorliteratur eine wichtige Rolle28: Einerseits wird U. als das Ende von Innovation und Wandel dargestellt, als Ursache von Langeweile und Stagnation, andererseits scheint sie unbegrenzte Möglichkeiten zu eröffnen29. Die dabei entworfenen Szenarien des Einsatzes neuer biotechnischer Verfahren (Klonen, Gehirntransplantation)30 oder auch eines Übergangs vom biologischen Organismus in eine Synthese von Mensch und Maschine (Cyborg) bzw. eine virtuelle Existenz im Speicher eines Computers31 sind jedoch mit dem Verlust der (individuellen) Leiblichkeit verbunden und bedeuten letztlich die Aufgabe der conditio humana. So endet die Sehnsucht nach Gottgleichheit in der bloßen Simulation des Lebenden32. 1 cf. Macho, T.: Vom Skandal der Abwesenheit. In: Kamper, D./Wulf, C. (edd.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Ffm. 1994, 417⫺436. ⫺ 2 Assmann, J. u. a.: U. In: Hist. Wb. der Philosophie 11. Basel 2001, 275⫺294, hier 275; Steiner, B. P.: U. in dieser Welt. In: Metken, S. (ed.): Die letzte Reise. Sterben, Tod und Trauersitten in Oberbayern. Mü.
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Unterhaltung
1984, 350⫺352; Siegele, U.: Sterblichkeit und U. von Komponisten. In: Niewöhner, F./Schaeffler, R. (edd.): U. Wiesbaden 1999, 73⫺89; Holzhauer, H.: U. und Recht. ibid., 159⫺177; Douglas-Fairhurst, R.: Victorian Afterlives. The Shaping of Influence in Nineteenth-Century Literature. Ox. 2002; cf. ferner Krüger, O.: Virtualität und U. Die Visionen des Posthumanismus. Fbg 2004, bes. 94⫺99; Schwibbe, G./Spieker, I.: Virtuelle Friedhöfe. In: ZfVk. 95 (1999) 220⫺245, bes. 241. ⫺ 3 cf. Preuß, K. T.: Tod und U. im Glauben der Naturvölker. Tübingen 1930, ˚ .: The Immortality of the bes. 23⫺36; Hultcrantz, A Soul among North American Indians. In: Zs. für Ethnologie 121 (1996) 221⫺243; Wong, E.: Tales of the Taoist Immortals. Boston/L. 2001, 4. ⫺ 4 Heiler, F.: U.sglaube und Jenseitshoffnung in der Geschichte der Religionen. Mü./Basel 1950; Graß, H.: U. In: RGG 6 (31962) 1174⫺1178; StandDict. 1, 514 sq.; Frazer, J. G.: The Collected Works 10,1⫺3. Richmond 1994; Graham, L. R.: Performing Dreams. Discourses of Immortality among the Xavante of Central Brazil. Austin 1995; Berner, U./Heesch, M./Scherer, G.: U. In: TRE 34 (1992) 381⫺397; Brück, M. von: Ewiges Leben oder Wiedergeburt? Sterben, Tod und Jenseitshoffnung in europ. und asiat. Kulturen. Fbg u. a. 2007. ⫺ 5 Assmann u. a. (wie not. 2) 275. ⫺ 6 ibid.; RGG 6, 1177. ⫺ 7 cf. Assmann, J.: Ma’at. Gerechtigkeit und U. im Alten Ägypten. Mü. 1990, hier 92 sq.; id.: Erlösung durch Rechtfertigung. Altägypt. Todesvorstellungen. In: Barloewen, C. von (ed.): Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen. Ffm. 2000, 137⫺160; Riedweg, C.: Initiation ⫺ Tod ⫺ Unterwelt. In: Graf, F. u. a. (edd.): Ansichten griech. Rituale. Stg. 1998, 359⫺398; Elledge, C. D.: Life after Death in Early Judaism. Tübingen 2006. ⫺ 8 David-Neel, A.: Immortalite´ et re´incarnation. Doctrines et pratiques. Chine, Tibet, Inde. Monaco 1986; Formanek, S./LaFleur, W. R. (edd.): Practicing the Afterlife. Perspectives from Japan. Wien 2004. ⫺ 9 Beth, K.: U. In: HDA 8 (1936⫺37) 1465⫺1483. ⫺ 10 cf. Steinwede, D./Först, D. (edd.): Die Jenseitsmythen der Menschheit. Düsseldorf 2005; Krech, V.: Vom „paradiso terrestre“ über die „Himmelsreise der Seele“ zum „fundus animae“. Jenseitsvorstellungen als Thema der Religionswiss. im späten 19. und frühen 20. Jh. In: Hölscher, L.: Das Jenseits. Göttingen 2007, 152⫺ 177. ⫺ 11 cf. Assmann u. a. (wie not. 2) 276; RGG 6, 1177; Pieper, J.: Tod und U. Mü. 1968; Lang, B./McDannell, C.: Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens. Ffm. 1990; Ruhbach, G.: U. und Auferstehung ⫺ Überlegungen zu zwei Grundeinstellungen. In: Niewöhner/Schaeffler (wie not. 2) 33⫺43; Hermann, C.: U. der Seele durch Auferstehung. Studien zu den anthropol. Implikationen der Eschatologie. Göttingen 1997; Marshall, P.: Beliefs and the Dead in Reformation England. Ox. 2002. ⫺ 12 Brednich, R. W.: Die Comic Strips als Gegenstand der Erzählforschung. In: SF 20 (1976) 230⫺240, hier 234. ⫺ 13 Le´vi-Strauss, C.: Mythologica 1. Ffm. 1976,
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198 sq., 205; Kunt, E./Nyikes, M.: Tod ⫺ Gesellschaft ⫺ Kultur. In: Sich, D./Figge, H. H./Hinderling, P. (edd.): Sterben und Tod. Eine kulturvergleichende Analyse. Braunschweig u. a. 1986, 45⫺58, hier 47 sq. ⫺ 14 Richter, D.: Das Land, wo man nicht stirbt. Ffm. 1982. ⫺ 15 Müller-Lisowski; K.: Ir. Volksmärchen. MdW 1981, num. 2. ⫺ 16 cf. Wong (wie not. 3) num. 12, 40. ⫺ 17 cf. Beit, H. von: Symbolik des Märchens 1. Bern 41977, 273. ⫺ 18 Cowell, E. B.: The Ja¯taka, or Stories of the Buddha’s Former Births 1⫺6. L. (1895⫺1913) Nachdr. 1957, hier t. 2, num. 25; t. 4, num. 491. ⫺ 19 Delarue, P.: Le Serpent qui vole a` l’homme le secret de l’immortalite´. In: Nouvelle RTP 2 (1950) 262⫺275. ⫺ 20 cf. Wong (wie not. 3) num. 22, 40. ⫺ 21 ibid., num. 17; cf. Bin Gorion, M. J.: Die Sagen der Juden. Neuausg. B. 1935, 87 sq. ⫺ 22 cf. Schirmunski, V.: Vergleichende Epenforschung. B. 1961, 37 sq. ⫺ 23 cf. Dirr, A.: Kaukas. Märchen. MdW 1922, num. 6. ⫺ 24 Brednich, R. W.: Alexanders Zug nach dem Lebenswasser in der südosteurop. Volksüberlieferung. In: Narodno stvaralasˇtvo 4 (1965) 1179⫺1191; cf. Wilhelm, R.: Chin. Volksmärchen. MdW 1919, num. 19. ⫺ 25 cf. HDM 2 (1934⫺40) 115. ⫺ 26 cf. Dirr (wie not. 23). ⫺ 27 Karlinger, F.: Ital. Volksmärchen. MdW 1973, num. 30. ⫺ 28 Yoke, C. B./Hassler, D. M. (edd.): Death and the Serpent. Immortality in Science Fiction and Fantasy. Westport, Conn./L. 1985; Slusser, G. E.: Immortal Engines. Life Extension and Immortality in Science Fiction and Fantasy. Athens, Ga u. a. 1996. ⫺ 29 Zu Beispielen für beide Sichtweisen cf. Stableford, B.: Immortality. In: Clute, J./Nicholls, P.: (edd.): The Enc. of Science Fiction. N. Y. 1993, 615 sq.; id.: Immortality. In: Clute, J./Grant, J. (edd.): The Enc. of Fantasy. L. 1997, 497. ⫺ 30 Krüger (wie not. 2) 403. ⫺ 31 Tipler, F.: The Physics of Immortality. Modern Cosmology, God and the Resurrection of the Dead. N. Y. 1995; Schröter, J.: Biomorph. Anmerkungen zu einer neoliberalen Gentechnik-Utopie. In: Kunstforum Internat. 158 (2002) 84⫺95, hier 84 sq.; Krüger, O.: Die Vervollkommnung des Menschen. Tod und U. im Posthumanismus und Transhumanismus. In: Transit 22 (2007) 67⫺82. ⫺ 32 Baudrillard, J.: Überleben und U. In: Kamper/Wulf (wie not. 1) 335⫺356, hier 347⫺352.
Göttingen
Gudrun Schwibbe
Unterhaltung 1. Begriff ⫺ 2. Theorien und Konzepte ⫺ 3. U. und Erzählen
1 . B eg ri ff. Das Wort U. hat heute im Deutschen (ähnlich wie das lat. sustentare) eine Bedeutungsbreite, die von ,Unterhalt‘ und ,Instandhaltung‘ über ,Gespräch‘ bis zu
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Unterhaltung
,Zeitvertreib‘ reicht. Im Lauf der Sprachgeschichte ist die Grundbedeutung des Stützenden, Erhaltenden zurückgedrängt und der kommunikative Aspekt (U. als angenehme Art der Kommunikation) akzentuiert worden1. Seit dem 18. Jh. wurde U. zur Funktionsbezeichnung auf dem literar. Markt: Während anfänglich in Buch- und Zss.titeln der Plural gebraucht und damit die Nähe zur Konversation betont wurde, setzte sich im 19. Jh. der heute gebräuchliche Singular zur Genrebezeichnung auf dem Zss.markt durch. Die Massenmedien des 20. Jh.s übernahmen als Erben der Zss.kultur des 19. Jh.s den Begriff U. zur Bezeichnung bestimmter Programme und der dafür zuständigen Redaktionen2. Eine weitere Bedeutungsverschiebung hin zu abwertenden Zuschreibungen wie Seichtigkeit und Oberflächlichkeit3 ab 1800 ist in der Dichotomie von unterhaltender bzw. populärer und sog. ernsthafter Kunst bis heute wirksam, auch wenn deren Verhältnis zunehmend als Kontinuum verstanden wird4. Problematisch ist auch die vermeintliche Dichotomie von U. und Information bzw. Belehrung5; an deren Unhaltbarkeit erinnern nicht erst Neologismen wie Infotainment und Edutainment6, sondern bereits die auf J Horaz (Ars poetica, V. 333) zurückgehende wirkungsmächtige Formel ,prodesse et delectare‘. 2 . The or ie n u nd Ko nz ep te. U. läßt sich als „gesellschaftlich und historisch gerahmte Haltung und Kommunikationssituation“7 und als kommunikativer Prozeß (J Kommunikation) begreifen8. Es ist sinnvoll, diesen Prozeß als durch ästhetische Wahrnehmung bestimmt zu verstehen, und das Zusammenspiel von Rezipient und Rezipiat, Textqualität und Erwartungshaltung des Publikums, Medium und Produzent in die Unters. einzubeziehen9. Damit sind die zentralen Dimensionen benannt, denen sich U.sforschungen mit je unterschiedlicher Differenziertheit widmen. Die Vielschichtigkeit macht U. zu einem multidisziplinären Forschungsgegenstand. Wurde 1966 noch die ,schlicht monumentale Ignoranz‘ der Wiss.en zu diesem Themenbereich beklagt10, liegt heute eine beachtliche Anzahl von Forschungsarbeiten zur U. vor11. Diese lassen sich drei (sich überlappenden) Bereichen zuordnen:
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Kultur- und sozialwiss. orientierte Ansätze erforschen die gesellschaftliche Institutionalisierung von U. innerhalb wie außerhalb von Massenmedien (z. B. im Schausport)12 sowie die damit einhergehenden Wertediskurse. Die Etablierung der Massenkultur wird als Element der Demokratisierungsprozesse in der Moderne verstanden13. Vor dem Hintergrund des Konzepts der Kulturindustrie erfuhr U. in den 1970er und 1980er Jahren eine negative Beurteilung als Stabilisierungsfaktor für die herrschenden Verhältnisse14, wogegen die Cultural Studies das auch widerständige Potential der U. und die Kategorie des Vergnügens sowie den aktiven Rezipienten und die Praxen des Sich-Unterhaltens betonen15. Für letzteres sind die Grundlagen u. a. durch die Erschließung und Analyse der als wertlos taxierten und daher kaum archivierten populären Lesestoffe sowie von Quellen mündl. Erzählens geschaffen worden16. Lit.-, Film-, Fernseh- und Medienwissenschaft untersuchen Geschichte, Ästhetik, Funktion, Produktion, Distribution und Vermarktung von U.sangeboten17 und analysieren die Rolle von Stars18 oder Moderatoren19 sowie die Werke von Bestsellerautoren20. Während die frühe J Trivialliteraturforschung postuliert, U.sliteratur sei primär an der ästhetischen Struktur erkennbar und von der sog. Hochliteratur abgrenzbar, und entsprechende Merkmale zu klassifizieren versucht21, betonen jüngere Forschungen die hist. Bedingtheit ästhetischer Kategorien und die ,Schönheiten des Populären‘22. Analysen von U.sgenres zeichnen deren Genese, Ausdifferenzierung und Vermischung nach23. Grundlegende Gestaltungsprinzipien und Rezeptionsphänomene der U. werden in geisteswiss. Disziplinen sowie in der (Medien-)Psychologie erforscht24. Die Kommunikationswissenschaft und die Medienpsychologie definieren U. als Rezeptionsphänomen und sind an Aspekten der Motivation, Emotion und Wirkung interessiert25. Die Wünsche nach U. werden im Uses-and-Gratifications-Ansatz untersucht26; die Theorie des Mood Management erforscht die Regulierung des Stimmungs- und Erregungshaushaltes durch U.27; Identitätstheorien nehmen soziale Vergleiche28 und parasoziale Interaktionen mit Medienakteuren in den Blick29. Spieltheorien wiederum konzipieren U. als zweckfreie Beschäftigung, die ihren Sinn in sich selber trägt, oder ⫺ wie in evolutionspsychol. Perspektive ⫺ als Simulation elementarer Lebenssituationen. Demnach sollen U.sangebote „fitnessrelevante Themen, Lebensentwürfe, Strategien, Rollen, Konflikte sowie Verhaltensweisen spielerisch aufnehmen und variieren“30. U. dient somit langfristig der „Testung und dem Erwerb neuer Schemata und Kompetenzen“31. Die triadisch-dynamische Theorie von W. Früh, die bisher komplexeste U.stheorie, versucht, psychol., kommunikationswiss., soziol. und linguistische Partikulärtheorien der U. zu bündeln und die drei Größen Person, Medienangebot und situativer Kontext in Beziehung zu bringen32.
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Unterhaltung
3 . U . u nd Er zä hl en. Der Topos des stimulierenden, zeitvertreibenden oder gar lebensrettenden Erzählens (cf. J Tausendundeine Nacht), der für J Rahmenerzählungen charakteristisch ist, macht die enge Verknüpfung von Sich-Unterhalten und Erzählen deutlich. Diese zeigt sich auch in identischen funktionalen Zuschreibungen (z. B. Abwechslung, Entspannung, Stimulation, Spannung, Spaß, Freude)33, in der charakteristischen Verbindung von prodesse und delectare, z. B. beim Erzählen in den frz. Salons des 17./18. Jh.s (J Conte de[s] fe´es), beim Einstreuen unterhaltsamer Erzählungen in die Predigt (J Predigtexempel, Predigtmärlein; J Ostermärlein), beim Erzählen während der Arbeit (J Spinnstube) oder in ,unterhaltsamer Aufklärung‘ wie in R. Z. Beckers Noth- und Hülfsbüchlein34. Die Verknüpfung von U. und Erzählen wird auch sichtbar im Wertediskurs, z. B. in der Besetzung von U. bzw. Populärkultur und Erzählen mit Weiblichkeit, etwa in der Abwertung des mündl. (weiblichen) Erzählens als J Klatsch und Geschwätz ,von geringem Verstand‘ (J Ammenmärchen)35, dem die Geringschätzung von (primär von weiblichen Rezipienten wahrgenommenen) U.sgenres wie der Soap Opera oder dem Liebesroman entspricht36. Allg. unterscheiden sich nicht massenmedial vermittelte Formen der U. wie das unterhaltsame mündl. Erzählen wesentlich von massenmedialer U., und zwar bes. durch die Ökonomisierung, welche die U. im 20. Jh. geradezu definiert37. Der U. dienende öffentliche und private Orte und Gelegenheiten des mündl. J Erzählens hat R. J Schenda aus umfangreichem Quellenmaterial seit dem 16. Jh. erhoben38, darunter Totenwache, Wochenbett, Dorfbrunnen, Bauernstuben, Wirtshäuser und Reisen. Insbesondere Märkte als vitale Umschlagplätze für Erzählungen boten zugleich einen Übergang für Kommunikation aus dem literar. in den nichtalphabetisierten Bereich, verschafften hier doch Lesekundige Leseunkundigen Zugang zu populären J Lesestoffen, indem sie ihnen daraus vorlasen oder sie nacherzählten39. Dank der Aktivität von Druckern, Verlegern und Kolporteuren breiteten sich diese U.smedien spätestens seit dem 18. Jh. immer mehr auch in Kleinstädte und ländliche Gebiete aus (J Kolportageliteratur, J Zeit-
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vertreiber)40. Für die Herausbildung eines eigenständigen Bereichs der U. kommt vor allem reich ill. Familienzeitschriften wie der Gartenlaube eine zentrale Rolle zu, denn sie setzten ab Mitte des 19. Jh.s unterhaltendes Lesen als soziale Praxis im Bürgertum durch, schufen eine institutionalisierte Vorstellung von U. und realisierten sie im Medienverbund. Aufgrund des großen Erfolgs der Kolportagebzw. Lieferungsromane bildeten sich Ende der 1870er Kampagnen gegen die sog. Schmutzund Schundliteratur, die nach 1900 bes. gegen sog. Groschenhefte gerichtet waren41. Auch wenn diese Kampagnen ihr eigentliches Ziel, ein durchgängiges Verbot, nicht erreichten, hatten sie doch weitreichende Wirkung; nicht nur literar., auch auditive, audiovisuelle und multimediale U.sangebote blieben unter gesellschaftlicher Geschmackskontrolle42. Der zentrale Umschlagplatz des massenmedial vermittelten unterhaltenden Erzählens verschiebt sich im 20. Jh. von der U.sliteratur zu Radio (J Rundfunk)43, J Film und bes. Fernsehen (J Television)44. Die Bedeutung des Fernsehens als ,Erzählmaschine‘45 wird mit der Einführung des dualen (öffentlichrechtlichen bzw. privaten) Rundfunksystems (im dt. Sprachraum in den 1980er Jahren) und der damit einhergehenden zunehmenden ,Veröffentlichung des Privaten‘46 weiter akzentuiert. Eine Vielzahl neuer U.sgenres und -formate entsteht (z. B. Reality Soaps wie Big Brother 47, Doku Soaps, Casting Shows, Daily Talks, Gerichtsshows oder Telenovelas), in deren medial vermittelten alltäglichen, lebensgeschichtlichen und fiktionalen Erzählungen traditionelle Erzählformen, -stoffe und -motive aufgegriffen und verändert werden48. Kommunikations- und Austauschplattformen im Internet wie etwa YouTube, MySpace, Facebook oder Twitter führen zu neuen Formen unterhaltsamen Erzählens in Schrift und Bild. Damit werden Anfang des 21. Jh.s interaktive Onlinemedien zu produktiven Orten des Erzählens, über die Privatpersonen multimedial ein potentiell globales Massenpublikum erreichen, das auf diese Produktionen wiederum reagiert, sie kommentiert oder umgestaltet49. In den neuen Online-Erzählgemeinschaften läßt sich eine Vermischung von Produzenten- und Rezipientenrolle beobachten: producer und consumer/user verschmel-
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Unterhaltung
zen zum ,prosumer‘50/,produser‘51, writer und reader zum ,wreader‘52. Solche Formen von interaktiver, kooperativer und oft auch intermedialer Erzählproduktion lassen sich exemplarisch auf Portalen der Fan Fiction-Community beobachten53. I. Schneider hat schon früh auf die vielfältige und lebendige Erzählkultur im Internet aufmerksam gemacht54 und das Internet mit seiner auf Kommunikation und Interaktion ausgerichteten Struktur als die Erzählgelegenheit bezeichnet, die unserer Zeit am besten entspricht55. Für die Erzählforschung eröffnet sich mit dem Internet und seinen neuen multimedialen Erzählmöglichkeiten ein wichtiges Forschungsfeld, wovon mittlerweile mehrere Beiträge sowie das 2005 gegründete Komitee ,Folktales and the Internet‘ der Internat. Soc. for Folk Narrative Research zeugen56. 1 DWb. 24, 1594⫺1611. ⫺ 2 Hügel, H.-O.: U. In: id. (ed.): Hb. Populäre Kultur. Stg./Weimar 2003, 73⫺ 89, hier 74. ⫺ 3 Bausinger, H.: Ist der Ruf erst ruiniert … Zur Karriere der U. In: Bosshart, L./Hoffmann-Riem, W. (edd.): Medienlust und Mediennutz. U. als öffentliche Kommunikation. Mü. 1994, 15⫺ 27, hier 24. ⫺ 4 Sontag, S.: Notes on „Camp“ [1964]. In: ead.: Against Interpretation and Other Essays. N. Y. 2001, 275⫺292; Kreuzer, H.: Triviallit. als Forschungsproblem. Zur Kritik des dt. Trivialromans seit der Aufklärung. In: DVLG 41 (1967) 173⫺191; Fiedler, L. A.: Cross the Border, Close the Gap! [1969]. N. Y. 1972; Levine, L. W.: Highbrow and Lowbrow. The Emergence of Cultural Hierarchy in America. Cambr., Mass./L. 1990. ⫺ 5 Klaus, E.: Der Gegensatz von Information ist Desinformation, der Gegensatz von U. ist Langeweile. In: Rundfunk und Fernsehen 44,3 (1996) 402⫺217. ⫺ 6 Mangold, R.: Infotainment und Edutainment. In: id./Vorderer, P./ Bente, G. (edd.): Lehrbuch der Medienpsychologie. Göttingen u. a. 2004, 527⫺542. ⫺ 7 Hügel, H.-O: Genaue Lektüren. Zu Begriff, Theorie und Geschichte der U. In: Frizzoni, B./Tomkowiak, I. (edd.): U. Konzepte ⫺ Formen ⫺ Wirkungen. Zürich 2006, 31⫺48, hier 32; cf. auch Dyer, R.: Only Entertainment. L. 2002, 1. ⫺ 8 Dehm, U.: FernsehU. Zeitvertreib, Flucht oder Zwang? Eine sozialpsychol. Studie zum Fernseherleben. Mainz 1984, 80. ⫺ 9 Hügel, H.-O.: Ästhetische Zweideutigkeit der U. Eine Skizze ihrer Theorie. In: Montage, AV 2,1 (1993) 119⫺141; Göttlich, U./Porombka, S. (edd.): Die Zweideutigkeit der U. Zugangsweisen zur populären Kultur. Köln 2009. ⫺ 10 Mendelssohn, H.: Mass Entertainment. New Haven 1966, 170. ⫺ 11 Bosshart, L.: Theorien der Medien-U. Aus dem Nichts zur Fülle. In: Frizzoni/Tomkowiak (wie not. 7) 17⫺30, hier 17. ⫺ 12 Bertling, C.: Sportain-
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ment. Konzeption, Produktion und Verwertung von Sport als U.sangebot in den Medien. Köln 2009. ⫺ 13 Maase, K.: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850⫺1970. Ffm. 32001. ⫺ 14 Horkheimer, M./Adorno, T. W.: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug [1944]. In: id.: Dialektik der Aufklärung. Ffm. 1988, 128⫺176; cf. Waldmann, G.: Theorie und Didaktik der Triviallit. Mü. 1973; Neumann, G.: Der politische Gehalt von Groschenheften. Saarbrücken 1976. ⫺ 15 Fiske, J.: Reading the Popular. Boston 1989; id.: Moments of Television. Neither the Text nor the Audience. In: Seiter, E./Borchers, H./Kreutzner, G./Warth, E. (edd.): Remote Control. Television, Audiences, and Cultural Power. L./N. Y. 1991, 56⫺78; Ang, I.: Watching Dallas. Soap Opera and the Melodramatic Imagination. L. 1991; Brown, M. E.: Soap Opera and Women’s Talk. The Pleasure of Resistance. Thousand Oaks/L./Neu Delhi 1994; Maase, K.: Selbstfeier und Kompensation. Zum Studium der U. In: id./Warneken, B. J. (edd.): Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwiss. Köln 2003, 219⫺243, hier 232. ⫺ 16 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte populärer Lesestoffe 1770⫺1910. Ffm. (1970) 31988; id.: Von Mund zu Ohr. Bausteine zu einer Kulturgeschichte volkstümlichen Erzählens in Europa. Göttingen 1993. ⫺ 17 Eco, U.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Ffm. 1984; Foltin, H. F.: Die minderwertige Prosalit. In: DVLG 39 (1965) 288⫺323; Petzold, D./Späth, E. (edd.): U. Sozial- und lit.wiss. Beitr.e zu ihren Formen und Funktionen. Erlangen 1994; iid. (edd.): U.slit. der achtziger und neunziger Jahre. Erlangen 1998; Tomkowiak, I.: Vom Weltbürger zum Global Player. „Harry Potter“ als kulturübergreifendes Phänomen. In: Fabula 44 (2003) 79⫺95. ⫺ 18 Lowry, S./Korte, H.: Der Filmstar. Stg. 2000; Faulstich, W.: Sternchen, Star, Superstar, Megastar, Gigastar. Vorüberlegungen zu einer Theorie des Stars als Herzstück populärer Weltkultur. In: id.: Medienkulturen. Mü. 2000, 201⫺212. ⫺ 19 Abt, V./Mustazza, L.: Coming after Oprah. Cultural Fallout in the Age of the TV Talk Show. Bowling Green 1997. ⫺ 20Jehmlich, R.: Unterhaltsam und weiblich. Die Romane Jane Austens. In: Petzold/Späth 1994 (wie not. 17) 69⫺84. ⫺ 21 Bayer, D.: Der triviale Familien- und Liebesroman im 20. Jh. Tübingen 1963. ⫺ 22 Maase, K. (ed.): Die Schönheiten des Populären. Ffm./N. Y. 2008. ⫺ 23 Lücke, S.: Real Life Soaps. Ein neues Genre des Reality TV. Münster/Hbg/L. 2002; Klaus, E.: Grenzenlose Erfolge? Entwicklung und Merkmale des Reality-TV. In: Frizzoni/Tomkowiak (wie not. 7) 83⫺ 106. ⫺ 24 Junkerjürgen, R.: Spannung ⫺ Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne. Ffm. u. a. 2002; Vorderer, P./Wulff, H. J./Friedrichsen, M. (edd.): Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analyses, and Empirical Explorations. Mahwah, N. J. 1996. ⫺ 25 Vorderer, P.: U. In: Mangold u. a. (wie not. 6) 543⫺564, hier 544. ⫺ 26 Rosengren,
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Unterhaltung der Tiere
K. E./Wenner, L. A./Palmgreen, P. (edd.): Media Gratifications Research. Beverly Hills 1985; Renckstorf, K.: Alternative Ansätze der Medienkommunikationsforschung. In: Rundfunk und Fernsehen 21 (1973) 183⫺179. ⫺ 27 Zillmann, D.: Mood Management. Using Entertainment to Full Advantage. In: Donohew, L./Sypher, H. E./Higgins, E. T. (edd.): Communication, Social Cognition, and Affect. Hillsdale 1988, 147⫺171. ⫺ 28 Festinger, L.: A Theory of Social Comparison Processes. In: Human Relations 7 (1954) 117⫺140; Olson, J. M./Hermann, C. P./ Zanna, M. P.: Relative Deprivation and Social Comparison. Hillsdale, N. J. 1986. ⫺ 29 Horton, D./ Wohl, R. R.: Mass Communication and Para-social Interaction. In: Psychiatry 19 (1956) 215⫺229; Vorderer, P. (ed.): Fernsehen als Beziehungskiste. Parasoziale Beziehungen und Interaktionen mit TV-Personen. Opladen 1996. ⫺ 30 Bosshart (wie not. 11) 21. ⫺ 31 ibid.; cf. auch Schwab, F.: U. Eine evolutionspsychol. Perspektive. In: Früh, W./Stiehler, H.-J. (edd.): Theorie der U. Köln 2003, 285⫺323, hier 297. ⫺ 32 Früh, W.: U. durch das Fernsehen. Konstanz 2002; Früh/Stiehler (wie not. 31). ⫺ 33 Bosshart (wie not. 11) 18; cf. auch EM 4, 317, 334. ⫺ 34 Bausinger (wie not. 3) 21; Becker, R. Z.: Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute. ed. R. Siegert. Dortmund 1980. ⫺ 35 Schenda 1993 (wie not. 16) 40. ⫺ 36 Klaus, E: Kommunikationswiss. Geschlechterforschung. Zur Bedeutung der Frauen in den Massenmedien und im Journalismus. Opladen/Wiesbaden 1998, 329. ⫺ 37 Dyer (wie not. 7) 7, 172; Siegert, G./ Rimscha, B. von (edd.): Zur Ökonomie der U.sproduktion. Köln 2008. ⫺ 38 Schenda 1993 (wie not. 16) 83⫺130. ⫺ 39 ibid., 63; id.: Vorlesen. Zwischen Analphabetentum und Bücherwissen. In: Bertelsmann Briefe 119 (1986) 5⫺14. ⫺ 40 id. 1993 (wie not. 16) 222. ⫺ 41 Maase, K.: Schundkampf und Demokratie. In: id. (ed.): Prädikat wertlos. Der lange Streit um Schmutz und Schund. Tübingen 2001, 8⫺17; Jäger, G.: Der Kampf gegen Schmutz und Schund. Die Reaktion der Gebildeten auf die U.sindustrie. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 31 (1988) 163⫺191; Bourdieu, P.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hbg 1992, 49⫺80; Kosch, G./Nagl, M.: Der Kolportageroman. Bibliogr. 1850 bis 1960. Stg./Weimar 1993, 42. ⫺ 42 Hügel (wie not. 2) 76; Maase (wie not. 15) 231 sq. ⫺ 43 Weiß, R.: U. mit dem elektronischen Dauergast. Zum U.serleben mit dem Hörfunk. In: Bosshart/Hoffmann-Riem (wie not. 3) 301⫺ 309. ⫺ 44 De´gh, L.: American Folklore and the Mass Media. Bloom./Indianapolis 1994; Schmitt, C.: Populäre Medien in der volkskundlichen Erzählforschung. In: SAVk. 97 (2001) 67⫺78; id. (ed.): Erzählkulturen im Medienwandel. Münster u. a. 2008. ⫺ 45 cf. Schmitt 2001 (wie not. 44) 68. ⫺ 46 Imhof, K./ Schulz, P. (edd.): Die Veröff. des Privaten ⫺ Die Privatisierung des Öffentlichen. Opladen/Wiesbaden
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1998; Imhof, K.: Das ,Private‘ in der ,Öffentlichkeit‘. Zur Karriere des Gefühls und des Intimen in den Massenmedien. In: Mäusli, T. (ed.): Talk about Radio. Zur Sozialgeschichte des Radios. Zürich 1999, 127⫺142; Sennett, R.: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Ffm. 12 2001; Pundt, C.: Medien und Diskurs. Zur Skandalisierung von Privatheit in der Geschichte des Fernsehens. Bielefeld 2008. ⫺ 47 Mikos, L.: Im Auge der Kamera ⫺ Das Fernsehereignis Big Brother. B. 2 2001. ⫺ 48 cf. etwa Shojaei Kawan, C.: Wer ist die Schönste hier? Neuaufgeputzter Weiberstreit im dt. Fernsehen. In: Marzolph, U. (ed.): Strategien populären Erzählens. B. 2010, 165⫺186; zu Forschungsdesideraten cf. Schmitt 2001 (wie not. 44) 74 sq. ⫺ 49 Jenkins, H.: Convergence Culture. Where Old and New Media Collide. N. Y. 2008; Frizzoni, B.: Umund Weitererzählungen. Neuere Formen von Fan Fiction zu TV-Serien. In: Marzolph (wie not. 48) 51⫺63. ⫺ 50 Toffler, A.: The Third Wave. L. 1981. ⫺ 51 Bruns, A.: Blogs, Wikipedia, Second Life, and Beyond. From Production to Produsage. N. Y. 2008. ⫺ 52 Landow, G. P.: What’s a Critic to Do? Critical Theory in the Age of Hypertext. In: id. (ed.): Hyper/text/theory. Baltimore, Md. 1994, 1⫺47, hier 14. ⫺ 53 Karpovich, A. I.: The Audience as Editor. The Role of Beta Readers in Online Fan Fiction Communities. In: Hellekson, K./Busse, K. (edd.): Fan Fiction and Fan Communities in the Age of Internet. Jefferson, N. C. 2006, 171⫺188. ⫺ 54 Schneider, I.: Erzählen im Internet. Aspekte des Erzählens im ZA. der Massenkommunikation. In: Fabula 37 (1996) 8⫺27. ⫺ 55 id.: Erzählen und Erzählforschung im Internet. Tendenzen und Perspektiven. In: Schmitt 2008 (wie not. 44) 225⫺242, hier 242. ⫺ 56 cf. etwa Howard, R. G.: Apocalypse in Your InBox. End-Times Communication on the Internet. In: WF 56 (1997) 295⫺315; Fialkova, L./Yelenevskaya, M. N.: Ghosts in the Cyber World. In: Fabula 42 (2001) 64⫺89; Brednich, R.-W.: www.worldwidewitz. com. Humor im Cyberspace. Fbg 2005; Meder, T.: „Welcome to Ollandistan“. PhotoShop-lore and the Growing Perception of Division between ,Us‘ and ,Them‘ in the Netherlands. In: Hose, S. (ed.): Minderheiten und Mehrheiten in der Erzählkultur. Bautzen 2008, 259⫺277; Roth, K.: Erzählen im Internet. In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 101⫺118; Schönberger, K.: Von der Lesewut zur Schreibwut? Über legitimes Lesen und Schreiben. In: Gold, H. (ed.): Absolut privat?! Vom Tagebuch zum Weblog. Ffm. 2008, 112⫺114.
Zürich Hildesheim
Brigitte Frizzoni Hans-Otto Hügel
Unterhaltung der Tiere (AaTh/ATU 106), Sammeltyp, der eine Vielzahl von Erzählungen vereint, in deren Zentrum Tierlaute bzw. tieri-
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Unterhaltung der Tiere
sche Kommunikation (bes. Mot. A 2425⫺ 2426) und ihre Interpretation durch den Menschen stehen1. Konstitutiv sind onomatopoetische Elemente und ein repetitiver, z. T. auch alliterativer Charakter. Grundsätzlich kann unterschieden werden zwischen Texten, die vorrangig onomatopoetische Formeln beinhalten und sich meist auf einzelne Tiere beziehen (cf. auch AaTh/ATU 204, 289: J Tiere auf Seereise)2, und solchen, die eher erzählenden Charakter besitzen3. Letztere behandeln meist eine Interaktion zwischen tierischen Handlungsträgern, seltener zwischen Tier und Mensch, und sind z. T. dialogisch aufgebaut. Derartige Erzählungen lassen sich weiter differenzieren in solche mit und solche ohne ätiologische Deutung. Die Tierdialoge ohne ätiologische Deutung schildern meist eine Kommunikation zwischen Nutztieren. Sie behandeln Themen wie die Schulden des Bauern, Reichtum und Armut oder den Krieg, der Soldaten auf den Bauernhof bringt; die Tiere beurteilen die Arbeitssuchenden, kommentieren die Ankunft von Musikanten oder fragen nach dem Verbleib ihres Herrn4. In einer Reihe von Texten wird das Gackern der Henne als Freude (Unmut) über das gerade gelegte Ei oder als Aussage über dessen Bestimmung (z. B. für das Osterfest) gedeutet5. In einer in Deutschland, Frankreich und Mexiko belegten Erzählung werden die Tierlaute als Kommentar zur Geburt Jesu J Christi ausgelegt (cf. Mot. B 211.0.1, Mot. B 251.1)6: Um Mitternacht ruft der Hahn: „Christus ist geboren!“ Das Schwein (Rind) fragt. „Wo? Wo?“ Die Ziege (Schaf, Lamm) erwidert: „In Bethlehem, in Bethlehem.“
Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in Legenden, nach denen Tiere in der Heiligen Nacht sprechen können (cf. AaTh/ATU 671 D*: cf. J Todesprophezeiungen)7. Ätiologische Ausprägungen von AaTh/ATU 106 zeichnen sich gleichfalls durch die Interaktion verschiedener Vertreter der Tierwelt aus, menschliche Handlungsträger erscheinen selten. Das Meckern der Ziegen wird etwa als Klage über den Tod des Hundes verstanden, der sich beim Schaukeln mit einem Strick erdrosselt hat (lett.)8. Häufig wird die Entstehung von Vogelstimmen behandelt, etwa
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von Ringeltaube und Turteltaube (span.)9, Kuckuck, Nachtschwalbe und Königskrähe, Krähe, Gabelweihe und Ralle (madagass.)10. In schwankhaften Ausprägungen des Erzähltyps aus Schleswig-Holstein mißverstehen Menschen Tierlaute als Nachrichten oder Handlungsanweisungen (cf. AaTh/ATU 1642: Der gute J Handel)11: Ein dummer Schäfer läßt sich bei der Suche nach seinen verlorenen Schafen von einer Krähe und einem Kiebitz verwirren (cf. AaTh/ATU 236*: Miscellaneous Tales with Imitation of Bird Sounds); ein Bauer versteht einen Vogelruf als Mahnung zur Aufmerksamkeit beim Kuhkauf; ein Bursche gibt vor, einem anderen die Sprache der Krähen beizubringen, und interpretiert allerlei in die Rufe der Vögel hinein12; ein Müller versteht das Gegacker des Geflügels als Aufforderung, ihm mehr Korn zu geben (cf. AaTh/ATU 206: Straw Threshed a Second Time)13; ein Schustergeselle und ein Bürgermeister glauben, von einem Bullen im Vorübergehen beschimpft worden zu sein14. Daneben existieren zahlreiche singuläre Erzählungen, in denen Tierlaute eine Rolle spielen (cf. auch AaTh/ATU 211 B*: Animals Go into a Tavern): Eine gefräßige Sau und ihr Ferkel fliehen vor dem Hofhund (ir.)15; ein Hahn stiftet die Hühner an, Korn zu stehlen (schweiz.)16; ein fortgejagter Hahn fordert Einlaß in einen fremden Hühnerstall (katalan.)17; eine Wachtel erschrickt vor einer Kröte (port.)18. In einer verwandten Erzählung wird das Läuten der Halsglocken der Weidetiere (Kuh, Schaf, Lamm) als Ausdruck von deren Meinungen interpretiert19. 1 cf. allg. Aarne, A.: Var.nverz. der finn. Deutungen von Tierstimmen und anderen Naturlauten (FFC 9). Hels. 21967, bes. num. 3⫺76. ⫺ 2 z. B. Wossidlo, R.: Mecklenburg. Volksüberlieferungen. 2: Die Tiere im Munde des Volkes 1. Wismar 1899, 64⫺142; Du Toit, S. J.: Suid-Afrikaanse volkspoe¨sie. Amst. 1924, 36⫺38. ⫺ 3 Delarue, P./Tene`ze, M.-L.: Mimologismes. In: Delarue/Tene`ze 3, 17⫺29. ⫺ 4 Meyer, G. F.: Plattdt. Volksmärchen und Schwänke. Neumünster 1925, num. 150; Wossidlo (wie not. 2) 60⫺64; Grobbelaar, P. W.: Die volksvertelling als kultuuruiting met besondere verwysing na Afrikaans 3. Diss. (masch.) Univ. Stellenbosch 1981, 748; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 2. Grenoble 1971, num. 133.1; Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 1. Madrid 1987, num. 46⫺ 48. ⫺ 5 Coetzee, num. 106.1⫺3; Pelen, J.-M.: Le
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Unterirdische
Conte populaire en Ce´vennes. P. 21994, num. 27; Custodio, I. F.: Memo´ria tradicional de Vale judeu. Loule´ 1997, num. 36. ⫺ 6 Wossidlo (wie not. 2) num. 333 a⫺b; Paredes, A.: Folktales of Mexico. Chic. 1970, num. 79; Pelen (wie not. 5) num. 29. ⫺ 7 Luzel, M. F.: Le´gendes chre´tiennes de la Basse-Bretagne 2. Nachdr. P. 1967, 332⫺334. ⫺ 8 Boehm, M./Specht, F.: Lett.-lit. Volksmärchen. MdW 1924, 153, num. 31 (lett.). ⫺ 9 Bertra`n i Bro`s, P.: El rondallari catala`. Barcelona 1909, 357. ⫺ 10 Haring, num. 2. 1.106 A⫺ E. ⫺ 11 Hubrich-Messow. ⫺ 12 Meyer (wie not. 4) num. 55, 144, 149. ⫺ 13 ibid., num. 151; Wossidlo (wie not. 2) num. 365. ⫺ 14 Meyer (wie not. 4) num. 152; Wossidlo (wie not. 2) num. 152. ⫺ 15 O’Sullivan, S.: Folktales of Ireland. L. 1966, num. 9. ⫺ 16 KHM 190; BP 3, 365. ⫺ 17 Dı´az, J.: Cuentos castellanos de tradicio´n oral. Valladolid 1992, num. 7. ⫺ 18 Vasconcellos, J. L. de: Contos populares e lendas. Coimbra 1963, num. 93. ⫺ 19 Pelen (wie not. 5) num. 28; Coulomb, N./Castell, C.: La Barque qui allait sur l’eau et sur la terre. Carcassonne 1986, num. 1 (frz.).
Göttingen
Juliane Krause
Unterirdische sind übernatürliche oder geisterhafte Wesen (J Geist, Geister), die auf Glaubensvorstellungen der niederen Mythologie zurückgehen und vor allem in dämonologischen Sagen, aber auch in Zaubermärchen begegnen. Ihre Bezeichnung verdanken sie ihrem Wohnort unter der Erdoberfläche, in J Höhlen oder J Bergen (cf. J Unterwelt). Der Vorstellung einer von Geistern belebten Natur (J Animismus) zufolge beherbergte jedes der vier Elemente einen bestimmten Naturgeist (J Elementargeister); in der Erde lebten Erd- und Berggeister, J Zwerge und Gnome. In der Volksüberlieferung haben sowohl Zwerge als auch J Feen, J Elfen und J Fairies ihre Behausung häufig unter der Erde1. Im Gegensatz zu J Kobolden und Hauszwergen wie Heinzel- und Wichtelmännchen, die eher zu den J Hausgeistern zählen, werden Elfen und Fairies stärker mit der Natur in Verbindung gebracht2. Vorstellungen von den U.n differieren regional hinsichtlich ihrer konkreten Ausprägung. So kennt man auf Kreta die Arapides, monsterartige, schwarze Menschenfresser (J Neger), die mit sprechenden Hunden und Pferden in Türmen oder an unterirdischen Orten hausen und verborgene J Schätze bewachen3. In skand. Var.n zu AaTh/ATU 758: Die unglei-
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chen Kinder J Evas werden Evas versteckte Kinder zu geisterhaften Wesen, Huldren und U.n4. In anderen nordeurop. Erzählungen begegnen gefallene Engel, die durch ihren Sturz in Naturgeister verwandelt wurden und manchmal unter der Erde hausen5. U. wurden auch mit dem Totenglauben in Verbindung gebracht, in schwäb. Sagen wurde das wilde Heer (J Wilde Jagd) u. a. als Heer von Erdmännlein dargestellt6. In der europ. Überlieferung sind U. vielfach in Bergbausagen belegt. Die Arbeit unter Tage hat die Entstehung von Sagen mit übernatürlichen Aspekten offenbar bes. befördert (J Bergmann)7. Berggeister wie die Erdmännlein sind Herren unterirdischer Gold- und Silbervorkommen und bewohnen ausgediente Stollen oder Höhlen8, die mitunter sogar nach ihren Bewohnern, z. B. als Erdmannsloch oder Erdmannshöhle, benannt wurden9. Bereits Georg Agricola (1494⫺1555) unterschied zwischen gefährlichen und hilfreichen Berggeistern10. Letztere warnen vor Gefahr, machen Geschenke oder retten Bergleute auf wunderbare Weise. Böse Berggeister bringen Unheil oder Tod; sie wurden im Zuge der Christianisierung diabolisiert und als Bergteufel bezeichnet11. Kobolde waren ebenfalls gefürchtet; sie konnten Bergleute und Schatzgräber angreifen und mit ihrem Atem töten12. In Cornwall erzählte man Geschichten über tommyknocker, freche übernatürliche Gesellen. Sie verdanken ihren Namen dem klopfenden Hintergrundgeräusch in alten Gruben; manchmal wurden sie auch als Geister toter Bergarbeiter angesehen (mitunter als Juden, die in den Gruben Cornwalls gearbeitet hatten13), welche die Lebenden durch Klopfen vor Einsturzgefahr warnten14. Ferner begegnen als Bewohner von Bergen der J Schmied15, aber auch J Riesen und J Trolle, so z. B. in einem norw. Märchen, in dem ein im Berg lebender Troll zwei Schwestern tötet und die dritte gefangenhält16. In den Dt. Sagen der Brüder J Grimm erscheinen mehrfach Erzählungen von Frauen, die zum J Hebammendienst bei U.n gerufen werden (Grimm DS, num. 41, 49, 58, 65⫺70, 305; cf. ATU 476**: Midwife in the Underworld), ein Motiv, das bereits in der J Zimmerischen Chronik (Mitte 16. Jh.) belegt ist17. Menschen sollen bei U.n Pate stehen und erhalten dafür Geschenke18. In AaTh/ATU 503:
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Unterwasserwelt
J Gaben des kleinen Volkes belohnen U. Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, während sie Habgier und Neid bestrafen. Aber U. rauben auch die Kinder von Menschen (J Wechselbalg)19. U. leben in der Regel in Familien20. Wie mittel- und nordeurop. Var.n von AaTh/ATU 1137: cf. J Polyphem zeigen, waren die Gehilfen des geblendeten Riesen Wesen, die „in Gruppen auftreten, wie Zwerge, Unterirdische, wilde Leute, Fenggen, Wassernixen usw.“ 21. Sagen kennen ferner entrückte Herrscher, die ⫺ z. T. mit ihren Armeen ⫺ in der Erde oder in einem Berg ruhen, bis sie zu einem letzten Kampf wieder erweckt werden (J Entrükkung). In der gegenwärtigen Erzählkultur spielen U. kaum mehr eine Rolle. Laut einer modernen Sage sollen Geologen auf einen Hohlraum unter der Erdkruste gestoßen sein, aus dem sie Geschrei gehört hätten und dessen Temperatur unnatürlich hoch gewesen sei22. U. sind nicht nur Sinnbild menschlicher Ängste vor unbekannten und als übernatürlich angesehenen Phänomenen, sondern zugleich Spiegelbild der menschlichen Gesellschaft, in der Geschichten über sie erzählt wurden, und ihre Ausgestaltung variiert dementsprechend23. Man hat angenommen, daß Elfen und andere U. eine frühere Bevölkerung24, in Hügel und Felsen verbannte Götter besiegter Völker25 oder Geister von Verstorbenen sind26. 1
Koomen, M.: Het koninkrijk van de nacht. Over dwergen, elfen en andere geesten van aarde, lucht, water en vuur. Amst. 1978, 67; Dh. 1, 27; Praetorius, J.: Anthropodemvs Plvtonicvs […] 1. Magdeburg 1666, 44⫺156 (Kap. 2). ⫺ 2 Koomen (wie not. 1) 16. ⫺ 3 Coote, H. C.: Folk-Lore in Modern Greece. In: The Folk-Lore J. 2 (1884) 235⫺243, hier 237. ⫺ 4 Dh. 1, 247. ⫺ 5 Dh. 1, 354; Bäschlin [,A.]: Erdleute, -männchen, -weiblein. In: HDA 2 (1929⫺30) 908⫺ 919, hier 909. ⫺ 6 ibid. ⫺ 7 Heilfurth, G.: Bergbau und Bergmann in der dt.sprachigen Sagenüberlieferung Mitteleuropas. Marburg 1967, 47 sq. ⫺ 8 Röhrich, L.: Sage und Märchen. Fbg/Basel/Wien 1976, 85. ⫺ 9 ibid. ⫺ 10 ibid., 103. ⫺ 11 ibid., 115. ⫺ 12 Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, 327; cf. Kooi, J. van der: Sagenland Nordfriesland. In: Nordfriesland 128 (Dez. 1999) 10⫺16, hier 12. ⫺ 13 James, R. M.: Knockers, Knackers, and Ghosts. Immigrant Folklore in the Western Mines. In: WF 51 (1992) 153⫺177, hier 157, 167. ⫺ 14 Hand, W. D.: California Miners Folklore: Below Ground. In: California Folklore Quart. 1 (1942) 127⫺153, hier
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129. ⫺ 15 cf. z. B. Motz, L.: The Wise One of the Mountain. Form, Function, and Significance of the Subterranean Smith. Göppingen 1983 (altisl., engl., dt.). ⫺ 16 Asbjørnsen, P. [C.]/Moe, J.: Norw. Volksmärchen. B. [1908], 183⫺188. ⫺ 17 cf. auch HDA 2, 917; Röhrich (wie not. 8) 47; Praetorius (wie not. 1) 109 sq. (Kap. 2); Blamires, D.: Irdisches und U.s bei der Begegnung mit Elfen in engl.sprachigen Märchen. In: Jacobson, I./Lox, H./Lutkat, S. (edd.): Sprachmagie und Wortzauber/Traumhaus und Wolkenschloss. Krummwisch 2004, 230, 232 sq. ⫺ 18 KHM 39, 2; Bechstein, L.: Neues dt. Märchenbuch. ed. H.-J. Uther. Mü. 1997, num. 7; Cammann, A./Karasek, A.: Volkserzählungen der Karpatendeutschen. Slowakei. Marburg 1981, 242 sq.; Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, num. 85; Grimm DS 47. ⫺ 19 HDA 2, 916; Röhrich (wie not. 8) 47. ⫺ 20 cf. auch ibid., 84; Petzoldt, L.: Einführung in die Sagenforschung. Konstanz 1999, 128. ⫺ 21 Röhrich (wie not. 8) 251. ⫺ 22 Brunvand, J. H.: Enc. of Urban Legends. Santa Barbara u. a. 2001, 476 sq.; id.: Too Good to be True. The Colossal Book of Urban Legends. N. Y./L. 1999, 242 sq.; id.: The Baby Train and Other Lusty Urban Legends. N. Y./L. 1993, 107. ⫺ 23 Röhrich (wie not. 8) 41; cf. auch Blamires (wie not. 17) 227. ⫺ 24 cf. MacCulloch, C. J. A.: Were Fairies an Earlier Race of Men? In: FL 43 (1932) 362⫺ 375. ⫺ 25 Koomen (wie not. 1) 134. ⫺ 26 MacCulloch (wie not. 24) 362.
Leuven
Katrien Van Effelterre
Unterwasserwelt. Parallel zur Oberwelt kennen zahlreiche Erzählungen, bes. Sagen und Märchen, eine Welt, die unter der Oberfläche des J Wassers in einem J Meer1, J Fluß2, See3 oder Teich4 liegt (Mot. F 725). Derartige Geschichten sind bes. in küstennahen Regionen und auf Inseln (Irland5, Deutschland6, Japan7, Norwegen8) aufgezeichnet worden. Vor allem das Meer gilt dabei als J Jenseits- oder Grenzbezirk9. Frühe Zeugnisse für die Vorstellung einer U. finden sich bereits in J Somadevas Katha¯saritsa¯gara10, in J Tausendundeine Nacht11 sowie in Erzählungen des europ. MA.s12. In europ. Sagen wird die Entstehung der U. gelegentlich begründet, so etwa durch Überflutung einst trockener Gebiete13 oder als J Strafe für J Frevel (J Versinken)14. Manchmal markieren durchsichtige oder spiegelnde Stellen auf der Wasseroberfläche ihre Position15. Meist gelangt man durch einen Sprung ins Wasser in die U.16; als Zugänge werden an-
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Unterwasserwelt
sonsten J Brunnen17, Treppe18 oder Schornstein19 genannt. Manchmal weisen Vögel den Weg20, oder der Mensch gelangt durch Zufall dorthin21. Anlässe zu Abenteuern unter Wasser sind etwa eine Einladung von J Wassergeistern22, die Leistung von Hilfe (Dienst als J Hebamme)23 oder die Verfolgung einer Nixe durch einen verliebten Mann24. Die U. wird z. T. ähnlich beschrieben wie die Welt oberhalb des Wassers. So befinden sich auch dort trockene Gebiete, Felder, große Gärten, Häuser, grüne Hänge, Wälder und Viehweiden25. Die Bewohner der U. sind menschenähnliche Wesen. Fast immer gibt es dort ein Königreich mit prunkvollen Palästen und Schlössern26. Nur selten werden Kirchen oder Tempel27 oder einzelne Häuser28 erwähnt. Manchmal ist von ganzen Städten die Rede29, einmal sogar von einem Bürgermeister, der auch nach dem Untergang der Stadt unter Wasser regiert30. Die sozialen und hierarchischen Strukturen der U. spiegeln die menschliche Ordnung über Wasser. Auch unter Wasser gehen die Bewohner aufrecht und atmen31. Menschen müssen allerdings gelegentlich bes. Vorkehrungen treffen, um unter Wasser atmen zu können, etwa mittels einer bestimmten ˇ ullana¯r und ihre Familie Salbe32. Die Nixe G sind im Besitz des Siegelrings J Salomos, dessen Zauberkraft es ihnen ermöglicht, unter Wasser zu atmen33. Ähnlich wie die Oberwelt ist die U. oft Schauplatz von Sagen, in denen bedrohliche Tiere einen J Schatz bewachen, etwa ein feuerspeiender J Drache34, eine aggressive Katze35 oder eine J Schlange36. Aus Indien ist die Vorstellung von einem Königreich der Schlangen (Mot. B 225.1.1; cf. J Schlangenkönig) unter Wasser bekannt. Gelegentlich ist die U. durch Abweichungen von den Gesetzmäßigkeiten der Oberwelt gekennzeichnet: Ein als kurz empfundener Ausflug in die U. beträgt nach menschlicher Zeitrechnung 300 Jahre (cf. AaTh/ATU 681: J Mönch und Vöglein)37. Eine bes. detaillierte Beschreibung einer U. nimmt Hans Christian J Andersen in seinem Kunstmärchen Den lille havfrue (1837) vor. Das Schloß des Meerkönigs befindet sich an der tiefsten Stelle des Meeres und ist daher für Menschen nicht zu erreichen. Umgekehrt bleibt den Bewohnern der U., die halb Mensch, halb Fisch sind, der Zu-
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gang zur Oberwelt verwehrt. Sie können lediglich ab dem 15. Lebensjahr an die Meeresoberfläche schwimmen. Andersen entwirft zusätzlich das furchterregende Reich der Meerhexe. Seine Meermenschen werden 300 Jahre alt und besitzen keine Seele.
In den Lügengeschichten des Barons Münchhausen (J Münchhausiaden)38 werden Sträucher mit Seeschnecken, Hummer-, Krebs- und Austernbäume geschildert; aus Wasser gebaute Gebäude dienen zur Aufzucht der Fische (cf. AaTh/ATU 1889 H: Submarine Otherworld). Zur Fortbewegung unter Wasser benutzt Münchhausen ein gezähmtes Seepferd. In der Geschichte von ¤Abdalla¯h, dem Landbewohner, und ¤Abdalla¯h, dem Meermann, in 1001 Nacht wird die U. als Wunschwelt beschrieben (J Utopie), in der andere (auch politische) Regeln als in der Oberwelt gelten ⫺ es gibt freie Liebe, rohes Essen, keine Bekleidung, keine Trauer39. Der Reichtum der U. zeigt sich in einer Fülle von Marmor, Bergkristall, Perlen, Silber, Gold und Edelsteinen40. Allg. wird das narrative Potential der Vorstellung einer U. in den Erzählungen selten entwickelt, meist stehen die Bewohner und ihre Phänomenologie im Vordergrund. So bleibt die U. eine eher vage Kulisse für einen zeitlich begrenzten Ausflug des Menschen in eine andere Welt, die oft Ähnlichkeiten mit der eigenen Lebenswirklichkeit hat. 1 Karlinger, F.: Das Meer. In: Janning, J./Gehrts, H. (edd.): Die Welt im Märchen. Kassel 1984, 84⫺92, hier 85⫺88; Barker, W. H./Sinclair, C.: West African Folk-Tales. L. 1917, num. 4. ⫺ 2 Petzoldt, L.: Dt. Volkssagen. Mü. 1970, num. 348; Grimm DS 65. ⫺ 3 cf. Meehan, H.: Underwater Worlds of the Donegal Bay Area. In: Be´aloideas 73 (2003) 1⫺12; Stamer, B.: Märchen von Nixen und Wasserfrauen. Ffm. 1987, 132⫺134; Clouston, W. A.: Popular Tales und Fictions 1. Edinburgh/L. 1887, 192⫺195; Krappe, A. H.: Le Lac enchante´ dans le Chevalier Cifar. In: Bulletin hispanique 35 (1933) 107⫺125. ⫺ 4 Simpson, J.: At the Bottom of Bottomless Pools. In: Lysaght, P. (ed.): Islanders and Water-Dwellers. Dublin 1999, 317⫺324; Jungbauer, G.: Dt. Sagenschatz. Jena 1924, 58 sq.; Grimm DS 52. ⫺ 5 cf. Meehan (wie not. 3); Hetmann, F.: Ir. Zaubergarten. Köln/ ´ Su´illeabha´in/ChristianDüsseldorf 192, 97⫺109; O sen, num. 1889 H, 1179*; Cross F 133, F 212, F 725⫺F 725.6.*; cf. Krappe (wie not. 3); Simpson (wie not. 4). ⫺ 6 Grimm DS 52, 65; Jungbauer (wie not. 4); Petzoldt (wie not. 2) num. 338, 348, 354; Stamer (wie not. 3). ⫺ 7 Ikeda, num. 428, 470*, 470 A⫺ C, 730, 738, 800, 973. ⫺ 8 Christiansen, R. T.: Folktales of Norway. L. 1964, num. 26. ⫺ 9 cf. Karlinger
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Unterwelt
(wie not. 1) 85 sq. ⫺ 10 Tawney, C. H.: The Ocean of Story 1⫺10. ed. N. M. Penzer. (Delhi 21923) Nachdr. Delhi u. a. 1968, hier t. 7, 19 sq., num. 163 G (12). ⫺ 11 Chauvin 2, num. 73; Marzolph/van Leeuwen 1, 248⫺251, num. 227; ibid., 65 sq., num. 256; Mommsen, K.: Goethe und 1001 Nacht. B. 1981, 223⫺ 227. ⫺ 12 Hetmann, F.: Die Reise in die Anderswelt. Köln 1981, 248 sq. (ir.). ⫺ 13 Meehan (wie not. 3) 2; cf. The Frank C. Brown Collection of North Carolina Folklore 1. ed. P. G. Brewster u. a. Durham 1952, 636. ⫺ 14 Stamer (wie not. 3); cf. Steuerwald, H.: Der Untergang von Atlantis. B. 1983; Simpson (wie not. 4); Burkhardt, A.: Vineta. Sagen und Märchen vom Ostseestrand. Rostock 1965, 5⫺9. ⫺ 15 Meehan (wie not. 3) 3; Hetmann (wie not. 12). ⫺ 16 Clouston (wie not. 3); Bebel/Wesselski 2, num. 113. ⫺ 17 KHM 79, AaTh/ATU 313 A: cf. Magische Flucht; Tawney (wie not. 10) t. 6, 280. ⫺ 18 Stamer (wie not. 3); Petzoldt (wie not. 2) num. 348; cf. Hünnerkopf, R.: Wassergeister. In: HDA 9 (1938⫺41) 145. ⫺ 19 Hetmann (wie not. 5) 107. ⫺ 20 Christiansen (wie not. 8). ⫺ 21 Meehan (wie not. 3); Tawney (wie not. 10) t. 6, 212 sq.; Barker/Sinclair (wie not. 1). ⫺ 22 Ikeda 470*, 470 B; Meehan (wie not. 3) 3 sq.; Grimm DS 52; Petzoldt (wie not. 2) num. 338; Marzolph/van Leeuwen 1, 65 sq., num. 256. ⫺ 23 Petzoldt (wie not. 2). ⫺ 24 Campbell, J. F.: Popular Tales of the West Highlands 3. L. 1860, num. 86; Tawney (wie not. 10); Ikeda 470 C. ⫺ 25 Clouston (wie not. 3); Hetmann (wie not. 12); Christiansen (wie not. 8). ⫺ 26 Mommsen (wie not. 11); Marzolph/van Leeuwen 1, 248⫺ 251, num. 227; Meehan, Krappe und Clouston (wie not. 3); Petzoldt (wie not. 2) num. 338, 348; Tawney (wie not. 10) t. 4, 280. ⫺ 27 Le Braz, A.: La Le´gende de la mort chez les Bretons armoricains 2. P. 1945, 37⫺39; Stamer (wie not. 3); Tawney (wie not. 10) t. 6, 212⫺214; cf. Mommsen (wie not. 11) 227. ⫺ 28 Barker/Sinclair (wie not. 1); Hetmann (wie not. 5); Clouston (wie not. 3). ⫺ 29 Tawney (wie not. 10); Marzolph/van Leeuwen 1, 65 sq., num. 256. ⫺ 30 Meehan (wie not. 3) 2. ⫺ 31 Mommsen (wie not. 11) 225 sq. ⫺ 32 Marzolph/ van Leeuwen 1, 65 sq., num. 256. ⫺ 33 ibid., 248⫺ 251, num. 227. ⫺ 34 Mommsen (wie not. 11) 227. ⫺ 35 Meehan (wie not. 3) 4. ⫺ 36 ibid. ⫺ 37 ibid., 3. ⫺ 38 Bürger, G. A.: Fahrten und Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen. Wien/Lpz. 1907, 66⫺87. ⫺ 39 Marzolph/van Leeuwen 1, 65 sq., num. 256. ⫺ 40 Mommsen (wie not. 11) 223⫺226.
Göttingen
Marie Unrein
Unterwelt 1. Begriff ⫺ 2. Mythologie ⫺ 2. 1. Beschaffenheit der U. ⫺ 2. 2. Die Toten der U. ⫺ 3. Handlungsschemata ⫺ 3. 1. Reise der Toten in die U. ⫺ 3. 2. Aufenthalt in der U. ⫺ 3. 3. Reise Lebender in die U. ⫺ 4. Volkserzählungen
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1 . B eg ri ff. Obwohl die Bezeichnung U. sich auf jede bewohnbare Region beziehen kann, die unter der Erde liegt, wird sie gewöhnlich in der Bedeutung eines Reichs der J Toten (J Jenseits) verstanden. Nach allg. Vorstellung führen diese ein Dasein, das ein Abglanz des irdischen Lebens ist, an einem geheimnisvollen Ort im Universum, der oft unter der Erdoberfläche angesiedelt ist1. In einigen traditionellen Kosmologien befindet sich das Totenreich nicht unter der Erde, sondern in einer weitentfernten Gegend (cf. J Topographie, fiktive). Z. B. gelangt der griech. Held J Odysseus dorthin, indem er westwärts über den Fluß Okeanos segelt; allerdings ist in der Odyssee (11. Gesang; J Homer) auch von einem Abstieg der J Seelen der Toten die Rede2. In der Gylfaginning (Kap. 49) der Snorra Edda (J Edda) kommt der nord. Gott Hermo´Îr nach einem neun Nächte dauernden Ritt durch dunkle und tiefe Täler ins Totenreich, wo er den Weg nach Hel (Helvegr) einschlägt, der abwärts und in nördl. Richtung verläuft3. Einige Kosmologien kennen mehrere Totenreiche, die für verschiedene Personengruppen bestimmt sind4, so die griech. Mythologie den Erebos, das Reich der menschlichen Toten, und den Tartaros, der hauptsächlich zur Gefangenhaltung besiegter Unsterblicher (Götter, Monstren) dient (Ilias 8,13⫺16; Hesiod, Theogonie 720⫺819)5. Im Christentum wird zwischen der unterirdischen J Hölle (sowie dem J Fegefeuer der röm.-kathol. Kirche) und dem überirdischen J Himmel oder dem J Paradies unterschieden. In einigen unterirdischen Welten leben keine Toten, sondern andere Wesen, z. B. J Fairies, J Zwerge oder andere J Unterirdische. Manchmal werden das unterirdische Reich der Fairies und das Totenreich in der Überlieferung zu einer Welt6. Im folgenden werden vor allem antike U.svorstellungen behandelt. 2 . Myt ho lo gi e 2 .1 . B es ch affe nh ei t d er U. Die U. ist häufig eine nur vage definierte Gegend irgendwo unter der Erdoberfläche, ähnlich einem weiten Keller (cf. J Höhle), in dem die Toten ein trübes Nachleben führen7. So sind im wesentlichen das Totenreich Scheol der frühen jüd. Kosmologie (Hi. 7,9 sq. und 10,21 sq.; Ez. 32,17 sq.) und der griech. Erebos beschaf-
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Unterwelt
fen8. Die Trostlosigkeit der U. stellt im Gegensatz zur christl. Hölle, die ein Ort der J Strafe und des Leidens ist, keine Bestrafung für ihre Bewohner dar; ihr fehlen lediglich alle irdischen Freuden sinnlicher und kognitiver Art. Die U. ist wie das J Grab eine finstere, stille und schmutzige Stätte, an der wenig geschieht9. Dunkelheit ist mit dem Reich der Toten, Licht mit dem Reich der Lebenden kosmisch so eng verbunden (J Hell und dunkel), daß in der Odyssee (12,376⫺388) die bloße Drohung des Sonnengottes Helios, er wolle ins Haus des Hades hinabsteigen und den Toten leuchten, ausreicht, den anderen Göttern seinen Willen aufzuzwingen. In einigen Ausprägungen der U. spiegelt sich die Verbindung mit der Finsternis im Namen wider (griech. Erebos: Dunkelheit; altnord. Niflheimr: Nebelheim)10; einer der Namen des akkad. Totenreichs lautete Haus der Finsternis11. Die U. wird häufig als Haus bezeichnet, als sei sie ein kosmisches Gasthaus der Toten: Haus des Kur (sumer.), Haus des Hades (griech.), Haus des Donn (ir.) oder Haus bzw. Sitz des Yama (vedisch)12. Sie ist in diesem Fall zugleich das Land, auf dem das Haus steht. Die U. kann einen oder mehrere göttliche Herrscher haben: Nergal und seine Frau Eresˇkigala (sumer.)13, Hades und seine Frau Persephone oder die nord. Göttin Hel14. Herrscher und Reich sind nicht immer klar voneinander unterschieden; so kann Erkalla (sumer.) sowohl das Totenreich als auch seinen Gott bezeichnen15; dasselbe gilt für Hades und Hel16. In Übereinstimmung mit der Welt, die sie regieren, können die Herrscher der Toten keine Kinder zeugen. Allerdings können sie lebende Tiere besitzen: Menoites, der Hirte des Hades, weidet die Tiere seines Herrn manchmal im Erebos und manchmal in der Oberwelt17. Die U. besitzt der oberirdischen Welt ähnliche Landschaftsmerkmale wie J Flüsse, Seen, Wiesen, Bäume und Berge. Die Gewässer im Erebos tragen sprechende Namen: Acheron (Kummer), Kokytos (Klagen), Styx (Grauen oder verhaßt), Phlegethon oder Pyriphlegethon (brennend; Odyssee 10,512⫺ 515). Aus der Lethe (Vergessen) müssen die Toten trinken, um ihr vergangenes Leben zu vergessen18. Das Reich der Toten kann von dem der Lebenden durch eine natürliche J Grenze, meist
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ein Gewässer, getrennt sein19, so etwa durch die Flüsse Hubur (babylon.)20 und Okeanos sowie den Fluß oder See Acheron21. In Niflheimr entspringen aus der Quelle Hvergelmir zahlreiche Flüsse, z. B. der Gjo˛ll (Gylfaginning 4)22, der über eine goldüberdachte J Brücke überquert werden kann, die von dem Mädchen Mo´ÎguÎr bewacht wird (Gylfaginning 49)23. Im altengl. J Beowulf wird die Leiche des Helden Scyld auf ein Schiff gebracht und über die See ins Jenseits geschickt (35⫺52). In altskand. Überlieferung bildet häufig eine Feuerwand ein Hindernis, das Besucher des Totenreichs überwinden müssen24. Nach zoroastr. Tradition müssen die Seelen der Toten die Brücke des Richters überqueren, und auch in anderen Überlieferungen ist eine Totenbrücke belegt (J Jenseitswanderungen, Kap. 2). Ein weiterer geläufiger Ort des Übergangs in die U. ist das Tor25. In sumer. und akkad. Mythen wird vom Tor (auch Palast) von Ganzer erzählt, auch von sieben Toren, jedes mit einem Torwächter26, so beispielsweise in Inanas/Isˇtars Gang zur Unterwelt27. Im A. T. sind die Pforten des Totenreiches (Jes. 38,10) und die Tore des Todes (Hi. 38,17) erwähnt; der skand. Mythos kennt die Tore von Hel (Gylfaginning 4, 49), der ind. die Tore von Yama28. In griech. Überlieferung ist oft davon die Rede, daß die Toten die Tore des Hades passieren müssen, und Hades selbst wird ,Türschließer‘ genannt29. In vielen Überlieferungen finden sich am Eingang zur anderen Welt J Hunde (Kap. 3)30: Den Eingang zum Erebos bewacht Kerberos (J Cerberus), die Grenze zu Hels Reich ein blutiger Hund (Baldrs draumar, 2 sq.). Wachhunde und Tore dienen nicht dazu, den Eintritt zu verwehren, sondern dazu, die Toten am Verlassen der U. zu hindern31. Mitunter ist auch vom Schlund der U. die Rede, als wäre sie ein riesiges Untier, das seine Opfer verschlingt (Vergil, Äneis 6, 273; Jes. 5,14)32. 2 .2 . D ie To te n d er U. Die Toten sind z. T. körperlos, z. T. körperhaft gedacht33. Manchmal kann ihre physische Beschaffenheit unklar oder widersprüchlich sein. Körperlose Tote finden sich z. B. in der Odyssee: Beim J Tod trennt sich die Seele vom Körper und gelangt in den Erebos; der Körper wird verbrannt, seine Überreste werden begraben. Die Psyche, auch eidolon (Bild)
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Unterwelt
genannt, hat das Aussehen der lebenden Person, besitzt aber ebensowenig Substanz wie J Schatten, J Traum- und J Spiegelbilder oder Rauch (Odyssee 11,152⫺224; cf. auch Ilias 23,65⫺107). In der mesopotam. U. besteht Nahrung aus Lehm und Staub, Bier ist schlammiges Wasser34. Hel teilt ihre Vorräte mit den Bewohnern ihres Reichs, ihre Schüssel heißt Hunger und ihr Messer Hungersnot (Gylfaginning 34). Nahrungsmittel aus der U. binden die Person, die davon ißt: Besucher des Totenreichs, die in die Oberwelt zurückkehren wollen, müssen sich der Nahrungsaufnahme in der U. enthalten: Um Persephone am Verlassen der U. zu hindern, gibt Hades ihr einen Granatapfelkern zu essen (Homerische Hymne an Demeter 371⫺374). Auch wenn die U. als Aufenthaltsort aller Toten aufgefaßt wird, sind ihre Bewohner gewöhnlich in Klassen unterteilt35. In sumer. und akkad. Texten wird zwischen Männern mit wenigen Söhnen, Männern mit vielen Söhnen, kinderlosen Frauen, in der Schlacht gefallenen Männern etc. unterschieden36. Ein Teil des von Odysseus besuchten Totenreichs ist von den Seelen verschiedenster Toter bevölkert: unverheirateten Mädchen, gefallenen Kriegern, Odysseus’ Mutter Antikleia etc., während berühmte Heldinnen alter Zeiten als eher unabhängige Gruppe erscheinen, ebenso wie mehrere von Odysseus’ Waffengefährten im Trojan. Krieg. Anderswo sieht Odysseus legendäre Gestalten wie Tityos, Tantalos (J Tantalus) und Sisyphos (J Sisyphus), die wegen der Beleidigung der Götter Qualen leiden müssen, sowie Minos, Orion und J Herakles, die den gleichen Beschäftigungen wie zu ihren Lebzeiten nachgehen (Odyssee 11). Hier deutet sich eine moralorientierte Ordnung auf der Grundlage irdischen Verhaltens an, sie ist jedoch kein vollentwickeltes System von Belohnung und Strafe wie im christl. Jenseits. 3 . H an dl un gs sc he ma ta 3 .1 . Rei se de r Tot en in di e U. Mythol. Erzählungen handeln nur gelegentlich davon, wie eine Person ins Totenreich gelangt37. Dem Odysseus begegnet in der U. sein am selben Tag gestorbener Gefährte Elpenor, der den Erebos zu Fuß eher erreichte als Odysseus zu Schiff (Odyssee 11,57 sq.). Fährleute für die
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Toten sind in zahlreichen Überlieferungen belegt38, z. B. der griech.-röm. J Fährmann Charon, zu dessen Bezahlung den Toten oft eine Münze in den Mund gelegt wurde. Die Seele kann aber auch in die U. fliegen: Mit seinem Stab sammelt der J Götterbote Hermes die Seelen von Penelopes getöteten Freiern, die wie Fledermäuse hinter ihm herflattern (Odyssee 24,1⫺14). Einige Verstorbene können nicht in die U. gelangen, so der gefallene Patroklos, da die Toten dem nicht Bestatteten die Überquerung des Flusses verwehren (Ilias 23,65⫺107): Die Lebenden sollen um die Toten trauern, aber die Toten selbst hängen nicht weiter am Leben, sondern wollen zu ihrer nächsten kosmischen Station gelangen39. Der unbestattete Elpenor bittet Odysseus, ihn so schnell wie möglich zu begraben, um die Götter nicht zu erzürnen (Odyssee 11,51⫺78). J Äneas erfährt, daß Charon nur die Bestatteten übersetzt; Unbestattete müssen hundert Jahre warten (Vergil, Äneis 6,317⫺330). 3 .2 . Auf en th al t i n d er U. Der Aufenthalt von lebenden Personen in der U. ist nicht immer klar vom Tod zu unterscheiden, da zu den Toten zählt, wer sich in der U. aufhält. Entsprechend bezeichnet Kirke (J Circe) Odysseus nach seiner Rückkehr aus dem Erebos als jemanden, der zweimal sterben muß (Odyssee 12,21 sq.). Baldr, der nach seiner Tötung verbrannt wurde, hat in der U. wieder körperhafte Gestalt und soll lebendig aus dem Reich der Hel zurückkehren (Gylfaginning 49,53). Bevor Sisyphos stirbt, erteilt er seiner Frau die Anweisung, keine Totenopfer für ihn abzuhalten. Hades schickt Sisyphos zurück in die Oberwelt, um seine Frau zu maßregeln, doch der gerissene Sisyphos bleibt bei den Lebenden, bis er an Altersschwäche stirbt40. Der Tod wird hier behandelt, als bestehe er lediglich aus dem Aufenthalt in der U. und werde durch ihr Verlassen überwunden. Diese ambivalente Todesauffassung kann sich auch auf übernatürliche Wesen beziehen. Dämonische Helfer der sumer. Totengöttin Eresˇkigala verfolgen den Gott Dumuzi, den treulosen Liebhaber der Göttin Inana. Sie entdecken ihn, und von nun an lebt er eine Hälfte des Jahres in der U. und die andere bei den Lebenden41. Die von Hades geraubte Persephone lebt ein Drittel des Jahres in der U. und
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Unterwelt
zwei Drittel in der Oberwelt (Homerische Hymne an Demeter 398⫺413). Die Harpyien entführen die Töchter des Pandareos in den Erebos, wo sie sie den Erinnyen als Dienerinnen übergeben (Odyssee 20,66⫺78)42. Visionen (J Jenseitsvisionen) und Träume bilden eine Quelle von Nachrichten über die U.43 Eine andere sind Erzählungen von Personen, die dem Tod nah oder tatsächlich tot waren, aber ins Leben zurückgekehrt sind und über das Jenseits berichten. Bekanntestes Beispiel ist Platons sog. Mythos von Er (Politeia 10,614 b⫺621 d)44. Einer internat. verbreiteten Erzählung zufolge wird die Seele eines Toten vor den Richter oder Herrscher des Totenreichs gebracht. Dieser stellt fest, daß seine Helfer den Falschen geholt haben, nämlich einen (oft namensgleichen) Mann aus derselben Stadt. Seine Seele wird zurückgeschickt, der Verstorbene kehrt wieder ins Leben zurück und berichtet sein Erlebnis, dessen Wahrheitsgehalt sich bestätigt, als kurz darauf der andere Mann stirbt45. 3 .3 . Rei se Le be nd er in di e U. Berichte über Besuche Lebender in der U. sind gewöhnlich ausführlicher und anschaulicher als Berichte über die Reisen der Toten. Sterbliche suchen die U. meist nur auf, um dort etwas zu holen oder etwas zu erfahren; so segelt Odysseus zum Erebos, um von dem Seher Teiresias Auskunft über seine Heimreise zu erlangen. Die Helden können ihr Vorhaben jedoch nicht immer erfolgreich durchführen, und es gelingt ihnen auch nicht immer zurückzukehren. J Theseus und Peirithoos wollen Persephone entführen, werden jedoch von Hades gefangengenommen, Herakles rettet später Theseus (Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 5,12; Epitome 1,23 sq.); J Orpheus will seine Frau Eurydike zurückholen, verliert sie aber zum zweiten Mal und endgültig; Herakles entführt den Kerberos46. Ein mongol. Text erzählt, wie sich die ˇ inihua Hato in die U. Seele der Schamanin C begibt, um die des getöteten Jägers Do Mergen zurückzuholen47. Mit ähnlicher Absicht wie Sterbliche können Götter in die U. hinabsteigen. Hermo´Îr reitet ins Reich der Hel, um den getöteten Baldr auszulösen, und kann selbst zwar zurückkehren, die Bedingung zur Freilassung Baldrs jedoch nicht erfüllen (Gylfaginning 49)48. Dem apokryphen Nikodemos-Evange-
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lium (Pilatusakten) zufolge holt J Christus bei seiner Höllenfahrt J Adam und die Patriarchen aus der U.49 4 . Vol ks er zä hl un ge n. Die U.en der Volkserzählung haben fast alle wesentlichen Züge mit den U.en der Mythologie gemeinsam. Allerdings sind ihre Darstellungen im allg. weniger detailliert und weniger konventionell als die mythischer Erzählungen. Das Totenreich ist in ihnen nicht immer klar von anderen Jenseitswelten unterschieden. Zu den Gemeinsamkeiten gehören die U. als Gegend mit geogr. Merkmalen, die den irdischen vergleichbar sind, die U. als Reich der Toten, die U. als Ort des Elends und der Strafe (z. B. AaTh/ATU 475: J Höllenheizer), der Herr der U. (z. B. der J Teufel, cf. AaTh/ATU 313: cf. J Magische Flucht), der Fährmann der Toten, verbunden mit einem Gewässer als Grenze zwischen den Welten (AaTh/ATU 461: Drei J Haare vom Bart des Teufels)50, das Tor zur U. (AaTh/ATU 804 B*: The Tavern at Heaven’s Gate; ATU 1346: The House without Food or Drink), die Brücke zur U. (AaTh/ATU 471: J Brücke zur anderen Welt), die Toten als körperhafte Personen und die Tatsache, daß ein Lebender die U. nicht mehr verlassen kann, wenn er dort Speise oder Trank zu sich genommen hat (z. B. AaTh 425 J/ATU 425 B: cf. J Amor und Psyche, J Tom der Reimer). In den christl. geprägten Kulturen wird die U. mit der Hölle gleichgesetzt und als vom Teufel beherrschter Ort der Bestrafung begriffen. Zu den Motiven von Volkserzählungen, die Parallelen zu mythol. Erzählungen aufweisen, gehören die Reise in die U. (z. B. AaTh/ATU 756 B: J Räuber Madej), die Rettung einer Person (Seele) aus der U. (z. B. AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen), die zeitweilige Rückkehr eines Toten in die Oberwelt (z. B. AaTh/ATU 470: J Freunde in Leben und Tod) und das Auftreten von Teufel, Tod oder Todesengel, die eine Person, deren Zeit gekommen ist, holen (z. B. AaTh/ATU 335: J Boten des Todes). 1 Z. B. West, M. L.: Indo-European Poetry and Myth. Ox. 2007, 388; Radermacher, L.: Das Jenseits im Mythos der Hellenen. Bonn 1903, 84 sq. ⫺ 2 West, M. L.: The East Face of Helicon. West Asiatic Elements in Greek Poetry and Myth. Ox. 1997,
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Untreue ⫺ Unverweslichkeit
152 sq. ⫺ 3 cf. ferner Grimm, Mythologie 2, 668 sq., 672; Ellis, H. R.: The Road to Hel. A Study of the Conception of the Dead in Old Norse Literature. N. Y. 1968, 171⫺174. ⫺ 4 z. B.: Stausberg, M.: Hell in Zoroastrian History. In: Numen 56 (2009) 217⫺ 253. ⫺ 5 cf. West (wie not. 2) 159; Hansen, W.: Classical Mythology. A Guide to the Mythical World of the Greeks and Romans. Ox. 2005, 15, 25, 294 sq. ⫺ 6 Bruford, A.: Some Aspects of the Otherworld. In: Folklore Studies in the Twentieth Century. ed. V. J. Newall. Woodbridge/Totowa, N. J. 1980, 147⫺151, hier 148. ⫺ 7 Grimm, Mythologie 2, 672; West (wie not. 2) 158 sq.; id. (wie not. 1) 388; cf. allg. Burkert, W.: Greek Religion. Cambr., Mass. 1985, 194⫺199; Lincoln, B.: Death, War, and Sacrifice. Studies in Ideology and Practice. Chic./L. 1991, 21⫺127; Albinus, L.: The House of Hades. Studies in Ancient Greek Eschatology. Aarhus 2000, 67⫺89; Sourvinou-Inwood, C.: ,Reading‘ Greek Death to the End of the Classical Period. Ox. 1995; West (wie not. 2) 151⫺167; id. (wie not. 1) 387⫺410. ⫺ 8 ibid. ⫺ 9 id. (wie not. 2) 159 sq. ⫺ 10 Grimm, Mythologie 2, 670 sq.; West (wie not. 2) 152⫺154; id. (wie not. 1) 388. ⫺ 11 id. (wie not. 2) 158. ⫺ 12 ibid., 158 sq.; cf. Winkler, [W.]: Hölle. In: HDA 4 (1932) 184⫺257, hier 195 sq., 203 (Nobiskrug). ⫺ 13 Hutter, M.: Altoriental. Vorstellungen von der U. Literar- und religionsgeschichtliche Überlegungen zu „Nergal und Eresˇkigal“. Fbg/Göttingen 1985; West (wie not. 2) 159. ⫺ 14 Grimm, Mythologie 2, 667 sq.; Ellis (wie not. 3) 84. ⫺ 15 West (wie not. 2) 158 sq. ⫺ 16 Grimm, Mythologie 2, 667 sq. ⫺ 17 Hansen (wie not. 5) 35; West (wie not. 1) 393. ⫺ 18 Lincoln (wie not. 7) 49⫺61; West (wie not. 2) 160 sq. ⫺ 19 Grimm, Mythologie 2, 692⫺697; Radermacher (wie not. 1) 3⫺39; West (wie not. 2) 155 sq.; id. (wie not. 1) 389⫺391. ⫺ 20 ibid., 389; id. (wie not. 2) 155. ⫺ 21 Radermacher (wie not. 1) 3⫺10; West (wie not. 2) 155. ⫺ 22 Grimm, Mythologie 2, 670 sq. ⫺ 23 ibid., 696 sq. ⫺ 24 Ellis (wie not. 3) 174⫺185. ⫺ 25 West (wie not. 2) 156⫺158; id. (wie not. 1) 391. ⫺ 26 id. (wie not. 2) 157. ⫺ 27 Sladek, W. R.: Inana’s Descent to the Nether World. Diss. Baltimore 1974. ⫺ 28 West (wie not. 1) 391. ⫺ 29 ibid. ⫺ 30 Lincoln (wie not. 7) 96⫺106; West (wie not. 2) 158; id. (wie not. 1) 392. ⫺ 31 cf. aber Schneemelcher, W.: New Testament Apocrypha 1. ed. R. L. McWilson. Cambr. 1991, 524; West (wie not. 2) 154; id. (wie not. 1) 388 sq. ⫺ 32 cf. Turner, A. K.: The History of Hell. San Diego/N. Y./ L. 1993, 117⫺122. ⫺ 33 West (wie not. 2) 162 sq.; cf. Grimm, Mythologie 2, 689⫺692. ⫺ 34 West (wie not. 2) 161. ⫺ 35 Grimm, Mythologie 2, 671; Ellis (wie not. 3) 84⫺87; West (wie not. 2) 164⫺166. ⫺ 36 Shaffer, A.: Sumerian Sources of Tablet XII of the Epic of Gilgamesˇ. Diss. Phil. 1963; George, A. R.: The Babylonian Gilgamesh Epic 1. Ox. 2003, 12⫺ 14, 726⫺735; West (wie not. 2) 164⫺166.⫺ 37 cf. allg. Frenzel, Motive, s. v. U.sbesuch. ⫺ 38 Lincoln (wie not. 7) 62⫺75; West (wie not. 1) 389⫺391; id. (wie
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not. 2) 155 sq.; Hansen (wie not. 5) 136 sq. ⫺ 39 cf. West (wie not. 2) 152. ⫺ 40 cf. Hansen, W.: Ariadne’s Thread. Ithaca/L. 2002, 244 sq., 406 sq. ⫺ 41 Black, J./Cunningham, G./Robson, E./Zo´lyomi, G.: The Literature of Ancient Sumer. Ox. 2004, 65⫺ 76 (Inanas Gang zur U.), 77⫺84 (Dumuzis Traum). ⫺ 42 Rohde, E.: Psyche. The Cult of Souls and Belief in Immortality among the Greeks. L. 1925, 55⫺114, hier 56 sq. ⫺ 43 cf. z. B. Schmalzbauer, G.: Hades, -fahrt(en), byz. In: Lex. des MA.s 4. Stg./Weimar 1999, 1818 sq. ⫺ 44 cf. Hansen, W.: Phlegon of Tralles. Book of Marvels. Exeter 1996; Ogden, D.: In Search of the Sorcerer’s Apprentice. The Traditional Tales of Lucian’s Lover of Lies. Swansea 2007, 171⫺193. ⫺ 45 ibid. ⫺ 46 Grimm, Mythologie 2, 674 (not. 1); Martı´nez, J. L. C.: The Kata´basis of the Hero. In: He´ros et he´roı¨nes dans les mythes et les cultes grecs. ed. V. Pirenne-Delforge/ E. S. de la Torre. Lüttich 2000, 67⫺78. ⫺ 47 Bäcker, ˇ inhua Hato“ ⫺ SchamanenJ.: „Do Mergen and C Heldinnen und U.sreise. In: Fragen der mongol. Heldendichtung 3. ed. W. Heissig. Wiesbaden 1985, 237⫺272. ⫺ 48 Ellis (wie not. 3) 170⫺174. ⫺ 49 Schneemelcher (wie not. 31) 521⫺526. ⫺ 50 Nagy, I.: Die Gestalt des Charon in den ung. Volksmärchen. In: Antiker Mythos in unseren Märchen. ed. W. Siegmund. Kassel 1984, 102⫺112 (Fährmann der Toten); Sicard, H. von: Das Totenreich in KarangaMärchen. In: Kongreß Kiel/Kopenhagen 1959, 398⫺ 405, hier 400 sq. (Fluß als kosmische Grenze).
Bloomington
William Hansen
Untreue J Treue und Untreue
Unverweslichkeit 1. Allgemeines ⫺ 2. Heilige ⫺ 3. Verfluchte, Vampire etc. ⫺ 4. Märchen
1 . All ge me in es. Die Idee einer U. menschlicher Körper beruht auf der Beobachtung, daß unter bestimmten (vor dem 19./ 20. Jh. kaum erforschten) Bedingungen Verwesungsprozesse unregelmäßig ablaufen. Der tote Körper (J Leiche) kann jahrelang einen Anschein von Lebendigkeit bewahren (frisches Aussehen, Wachstum der Nägel und Haare, postmortale Blutungen, Wohlgeruch [J Geruch])1 oder auch natürlichen Mumifizierungsprozessen unterliegen (Austrockung oder Saponifikation, d. h. Bildung von Leichenlipiden bei luftdichtem Abschluß etwa in feuchtem Boden). Beispiele hierfür sind vielfach bezeugt (St. Michan, Dublin; Kapuzinergrüfte in
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Unverweslichkeit
Palermo und auf Malta; Bremer Bleikeller2; Christian Friedrich von Kahlbutz in Kampehl; Torfleichen) und wurden schon in der Antike beobachtet (cf. u. a. Platon, Res publica 10,614 b⫺621 d; Demokrit3; Plotin, Enneaden 4,4,29; Pausanias, Descriptio Graeciae 5,20,4 sq.; Tertullian, De anima 51). In verschiedenen kulturellen Kontexten gilt U. als religiös signifikantes Phänomen, das allerdings stark divergierenden kontextabhängigen Interpretationen unterliegt. Die eigenartige Faszination, die von U. ausgeht, wirkt bis in die Gegenwart, z. B. durch die Inszenierung der Leichen politischer Führer (Lenin, Mao Tse-tung), die durch chemische Verfahren lebensecht erhalten werden, oder die weltweit erfolgreichen ,Körperwelten‘-Ausstellungen Gunther von Hagens (zuerst Mannheim 1997) mit plastinierten Leichen. Weitläufig verwandt ist auch das Motivfeld um die Mumie, und zwar nicht nur die tatsächlichen Mumifikationen toter Körper in Ägypten, Peru, Birma, bei den Guanchen, Skythen und anderen Völkern, sondern auch als literar. und cineastisches Motiv. Die Mumifikation im alten Ägypten, die schon Herodot ausführlich beschrieb (2,85⫺ 90), diente einer Konservierung des Körpers, die als Bedingung der Weiterexistenz der J Seele galt (die ägypt. Anthropologie kennt verschiedene Seelen, die jeweils ein eigenes Geschick nach dem Tod haben)4. 2 . H ei li ge. Am Übergang von der Antike zum MA. entwickelte sich in der röm.-kathol. Kirche im Kontext der wachsenden J Reliquienfrömmigkeit die Vorstellung, daß manche Körper als Zeichen bes. Heiligkeit nicht verwesen. Diese U. tritt meist überraschend bei Überführung einer Leiche zutage und trägt zur Legitimierung des Heiligenkultes bei. Frühe Belege stammen aus Norditalien (Exhumierung des Nazarius durch Ambrosius [um 396 p. Chr. n.]: Paulinus von Mailand, Vita Ambrosii 32 sq.), Umbrien (Leiche des Herculanus [549 p. Chr. n.]: J Gregor d. Gr., Dialogi 3,13), dem Alpenraum (Eugippius, Vita Severini 44,5⫺7 [511 p. Chr. n.]), Südfrankreich (Dado, Vita Eligii 2,48) und Großbritannien (Beda Venerabilis, Vita St. Cuthberti 42 sowie Historia ecclesiastica gentis Anglorum 3,8 und 3,19; 4,19 und 4,30: U. als Zeichen eines jungfräulichen Lebens)5. Spätere Legenden haben
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U. auch von früheren Heiligen behauptet (hl. Cäcilia). In der hochma.6 und frühneuzeitlichen Frömmigkeit begegnet das Motiv regelmäßig. Im röm.-kathol. Raum hat es seine Faszinationskraft bis heute bewahrt7, auch in populären Erzählungen (z. B. aus der Bretagne8). Die einflußreichste kathol.-theol. Studie wurde Prosper Lambertinis (Papst Benedikt XIV.) De servorum Dei beatificatione et beatorum canonizatione (1734⫺38)9. Unverwest bleiben in kathol. Legenden nicht nur der ganze Körper, sondern auch einzelne Körperteile, z. B. eine Hand, welche die Hl. Schrift abgeschrieben hatte10. Die kathol. Kirche kennt bis in jüngste Zeit zumindest für längere Zeit oder partiell unverweste Selige und Heilige. Im Protestantismus ist das Motiv selten11. Auch die orthodoxen Kirchen kennen unverweste Heilige bis in die unmittelbare Gegenwart12; bekannt sind die unverwesten Körper im Höhlenkloster von Kiew. Außerchristl. ist diese Art von U. eher selten, findet sich aber gelegentlich im Islam13, Buddhismus14 und Hinduismus15; sie berührt sich motivlich mit taoist. Ideen körperlicher J Unsterblichkeit16. Weitläufig verwandt sind die Erzählung von den J Siebenschläfern (AaTh/ATU 766) und ähnliche mit J Entrückung in Zusammenhang stehende Phänomene. 3 . Ver fl uc ht e, Va mp ir e e tc. Im Kontext von gespenstischen J Wiedergängern berührt sich das Motivfeld U. mit dem des J lebenden Leichnams17. Viele Belege bietet die altisländ. Saga-Lit. (Eyrbyggja saga, Kap. 33 sq.; Svarfdœla saga, Kap. 23 u. a.)18. In der ostkirchlichen Tradition wird die U. auch als Zeichen eines Fluchs, gottlosen Lebens oder der kirchlichen Exkommunikation gesehen. Hieran knüpft das reiche Motivfeld um den J Vampir an. Verschiedene Interpretationen sind möglich: Die Seele des Toten bleibt beim Leichnam und bewirkt U. (so oft volkstümlich), oder ein Dämon bedient sich der Leiche (so die kirchliche Position); beides vermischt sich vielfach. Im Kontext des Vampirglaubens19 ist das Motiv der U. als Fluch in ganz Südosteuropa bis nach Polen und Rußland verbreitet. Ein osman.-türk. Einfluß scheint nicht vorzuliegen20, eher ist mit einer allmählichen Transformation antiker griech. Vorstellungen, in jedem Fall aber mit einem älteren slav. Anteil zu
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Unverweslichkeit
rechnen21. Die Chronik des Abtes Neplach von Optatowitz bezeugt einen Fall von U., Leichenpfählung und Verbrennung für 134422; bei Ljubljana ist 1692 ein solcher Fall bezeugt23. Deutlich belegt ist verbreiteter Vampirglaube in Griechenland im 17. Jh.: Der zum Katholizismus konvertierte Grieche Leo Allatius (De Graecorum hodie quorundam opinationibus, 1645) interpretiert die U. der Vampire als eine Art irdische Strafe im Fegefeuer (das die Orthodoxie nicht kennt) und unterscheidet sie phänomenologisch von der U. der Heiligen24. Die griech.-orthodoxe Kirche interpretiert U. von Gottlosen als Ergebnis kirchlicher Exkommunikation: Erst mit deren Aufhebung ist die reinigende Verwesung, welcher die Heiligen nicht bedürfen, des ,tympaniaios‘ (Aufgeblähten) möglich. Im schott. Sutherlandshire existiert die Vorstellung, daß der Körper eines Mordopfers erst verwese, wenn er berührt werde25, in der Bretagne diejenige, daß ein Ertrunkener nicht verwese, bevor sein natürlicher Todeszeitpunkt gekommen sei26. 4 . M är ch en. Eigenartig abgekoppelt von diesen auf realen Begebenheiten basierenden Formen erscheint U. in Märchen des Typs AaTh/ATU 709: J Schneewittchen. Der gläserne J Sarg (Mot. F 852.1) ist dabei aus der kathol. Reliquienfrömmigkeit vertraut27, aber kontextunabhängig übernommen und zuerst bei J Basile (2,8) bezeugt28. In diesem weitverbreiteten Erzähltyp ist die U. dem J Scheintod und dem J Zauberschlaf angenähert und liefert Anhaltspunkte für eine oft untergründige Nähe zur J Nekrophilie29. Altnord. und sonstige ma. Texte kennen die U. einer geliebten Frau, die durch Zauber ermöglicht wird30. Antike Erzählungen, die von G. Anderson als frühe Formen von AaTh/ATU 709 betrachtet wurden, inszenieren eher einen Scheintod der Heldin31. Auch die Sage kennt unverweste Körperteile, meist Hände, aber auch Köpfe. Zahlreiche Geschichten ranken sich um die abgetrennte unverweste Hand von Hingerichteten (cf. auch ATU 760**: The Obstinate Child: Hand greift aus dem Sarg)32. 1
Roach, M.: Stiff. The Curious Lives of Human Cadavers. N. Y./L. 2003; Mims, C.: When We Die. The Science, Culture, and Rituals of Death. N. Y. 1998;
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Unverwundbarkeit
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Lawson, J. C.: Modern Greek Folklore and Ancient Greek Religion. (Cambr. 1910) Nachdr. N. Y. 1964, bes. 361⫺484; Perkowski, J. L.: Vampires of the Slavs. Cambr. 1976; Melton, J. G.: The Vampire Book. The Enc. of the Undead. Detroit/L. 21999; Frenschkowski, M.: Vampire in Mythologie und Folklore. In: Le Blanc, T./Ruthner, C./Twrsnick, B. (edd.): Draculas Wiederkehr. Wetzlar 2003, 28⫺ 58. ⫺ 22 Tuczay, C. A.: „… swem er den toˆt getuot, dem suˆgents uˆz daz warme bluot“. Wiedergänger, Blutsauger und Dracula in dt. Texten des MA.s. In: ead./Bertschik, J. (edd.): Poetische Wiedergänger. Dt.sprachige Vampirismus-Diskurse vom MA. bis zur Gegenwart. Tübingen 2005, 61⫺82, hier 76; Perkowski (wie not. 19) 422 sq. ⫺ 23 ibid., 207. ⫺ 24 cf. umfassend Hartnup, K.: On the Belief of the Greeks. Leo Allatios and Popular Orthodoxy. Leiden/Boston 2004, bes. 174⫺177; cf. Viscuso, P.: Vampires, not Mothers. The Living Dead in the Canonical Responses of Ioasaph of Ephesus. In: St. Vladimir’s Theological Quart. 44 (2000) 169⫺179. ⫺ 25 Campbell, J. G.: The Gaelic Otherworld. Edinburgh 2005, 133. ⫺ 26 Le Braz (wie not. 8) 267, 1218 (not. 2). ⫺ 27 Brückner, W.: Die Katakomben im Glaubensbewußtsein des kathol. Volkes [1994]. In: id.: Vk. als hist. Kulturwiss. 10. Würzburg 2000, 383⫺405. ⫺ 28 cf. Anderson, G.: Fairytale in the Ancient World. L./N. Y. 2000, 55 sq., 60 (versucht wenig plausibel, den Glassarg als antik zu reklamieren, wobei die röm.-kathol. Bezüge übersehen werden). ⫺ 29 Böklen, E.: Sneewittchenstudien 2. Lpz. 1915, 111 sq.; Beier, B.: Der nicht natürliche Tod und andere rechtsmedizinische Sachverhalte in den dt. Volksmärchen unter bes. Berücksichtigung der Kinderund Hausmärchen der Brüder Grimm. Diss. B. 1998, 11⫺16; Schneider, I.: Tot und doch nicht tot. Zur Überwindung des Todes im Märchen. In: Tod und Wandel im Märchen. Salzburg 1991, 151⫺166. ⫺ 30 Shojaei Kawan, C.: A Brief Literary History of „Snow White“. In: Fabula 49 (2008) 325⫺342, hier 329⫺331. ⫺ 31 Anderson (wie not. 28) 43⫺60. ⫺ 32 Geiger, P.: Unverwest. In: HDA 8 (1936⫺37) 1496 sq.; Becker, A.: Die abgehackte, unverwesliche Hand in der Sage. Kaiserslautern 1928.
Hofheim
Marco Frenschkowski
Unverwundbarkeit (Mot. D 1840), wunderbare J Eigenschaft, die einer Reihe von Gestalten, bes. Helden, seltener auch Tieren und Gegenständen zugeschrieben wird1. Die Vorstellung von U. rührt aus dem Wunsch nach Sicherheit in einer Welt voller Gefahren. Sie ist alt, weit verbreitet und besitzt vielfältige Formen. Im älteren Erzählgut bedeutet U. im engeren Sinne nicht Immunität gegen J Schädigungen aller Art, sondern die Unmöglich-
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keit, mittels einer Waffe verletzt zu werden (J Wunde). Insofern ist U. meist eine Eigenschaft der J Haut der unverwundbaren (u.en) Person; ihre Schutzfunktion wird zur Undurchdringlichkeit überhöht. Aufgrund dieser Eigenschaft garantiert sie Schutz vor Schwertern, Speeren, Pfeilen oder in jüngerer Zeit Kugeln. Durch sekundäre Schutzhüllen, eine zweite Haut oder eine Rüstung, wird die U. veräußerlicht (cf. auch J Abor und das Meerweib; J Aslaug; J Hemd). Erzählungen über u.e Personen werfen implizit die Frage nach deren Besiegbarkeit bzw. J Unsterblichkeit auf. Wird die U. einer Probe unterzogen, führt dies in der Regel zum Tod der betr. Person. Ist eine Gestalt gänzlich u. und kann daher mittels einer Hieb-, Stichoder Schußwaffe nicht getötet werden, wird sie statt dessen zerquetscht, begraben oder erdrosselt: J Herakles erwürgt den u.en nemeischen Löwen und trägt fortan sein undurchdringliches Fell als Rüstung (Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 2,5,1)2. Kyknos, u.er Sohn des Poseidon und Verbündeter der Trojaner, wird von J Achilleus mit einem Helmriemen erdrosselt (Ovid, Metamorphosen 12,72⫺145)3. U. wird Sterblichen vielfach von einem übernatürlichen Wesen verliehen, wie dem Lapithenkrieger Kaineus durch Poseidon; Kaineus wird von seinen Feinden, den Zentauren, zerquetscht oder begraben; unter der Erde kommt er entweder um oder lebt dort weiter (Ovid, Metamorphosen 12,168⫺535; Apollodoros, Epitome 1,21 sq.)4. In einer Version über das Ende des J Narten Sosruquo wird dieser von seinen Feinden begraben und mit einem Grabhügel bedeckt, unter dem er lebendig bleibt5. In einer ma. nord. Sage reisen die Brüder So˛rli und Hamdir zum Hof des Königs Jo˛rmunrekr, um den Tod ihrer Schwester Svanhild zu rächen. Ihre Mutter Gudrun gibt ihnen Rüstungen, die von Eisen nicht durchbohrt werden können (Mot. D 1344.9.1). Als Jo˛rmunrekr bemerkt, daß die beiden Angreifer von Speeren nicht verletzt werden können, befiehlt er seinen Männern, sie zu steinigen6. Abgesehen von den gänzlich u.en Helden begegnen vielfach Figuren mit einer einzigen verwundbaren Stelle (Mot. Z 310), an der sie verletzt und getötet werden können. In Erzählungen über U. sind verwundbare Stelle oder
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Unverwundbarkeit
Verwundbarkeit überhaupt oft ein Geheimnis, das der Gegner entdecken muß. Häufig gelingt ihm dies, indem er es einer anderen Person abringt. Die bekannteste Umsetzung des Motivs vom Helden mit einer einzigen verwundbaren Stelle in der europ. Überlieferung stammt aus spätantiken Erzählungen über Achilleus (J Achillesferse). Die nur bei lat. Autoren belegte Geschichte muß aus Andeutungen rekonstruiert werden: Thetis taucht ihren Sohn Achilleus als Säugling in den Styx. Er wird bis auf die Ferse u., an der sie ihn gehalten hatte; an dieser Ferse wird ihn der trojan. Krieger Paris mit einem Pfeil verletzen und töten7. Mit der Achillessage steht die U. des germ. Helden Siegfried (J Sigurd, Siegfried; J Nibelungenlied) möglicherweise in Zusammenhang8: Siegfried wird durch ein Bad in Drachenblut u. ⫺ bis auf eine Stelle zwischen seinen Schulterblättern, wo während des Bads ein Blatt hängengeblieben war. Hagen erfährt davon durch Kriemhild und ersticht Siegfried (cf. AaTh/ ATU 650 C: The Youth Who Bathed Himself in the Blood of a Dragon). Das Motiv von der verwundbaren Stelle ist weltweit verbreitet. Es wurde bereits in der Antike mit anderen Figuren verbunden: Herakles wickelt Aias als Säugling in das Fell des nemeischen Löwen, und Aias wird u.; seine einzig verwundbare Stelle war nicht von dem Fell bedeckt9. Aus kelt. Überlieferung stammt die Erzählung von Conganchnes (Hornhaut) mac Dedad, dessen Haut so hart ist, daß Waffen von ihr abprallen. Er kann nur getötet werden, indem man ihm glühende Eisenspieße durch die Fußsohlen stößt10. Auch in mündl. gäl. Var.n der Erzählung von J Diarmuid und Gra´inne ist der Held nur an seiner Fußsohle verwundbar11. Der Nartenheld Sosruquo ist bei seiner Geburt aus einem Stein sehr heiß. Ein Schmied glüht ihn in Wasser aus und macht seine Haut dadurch stahlhart, mit Ausnahme der Knie, an denen der Schmied ihn mit Zangen gehalten hatte. Nachdem eine Hexe das Geheimnis seiner Verwundbarkeit erfahren hat, zerschneiden Sosruquos Feinde seine Knie mit einem Diskus und führen so seinen Tod herbei12. Im ind. J Maha¯bha¯rata (16,5,19 sq.) wird Krøisønø a bis auf seine Fußsohlen u. gemacht. Von einem Ra¯ksøasa mit diamantener Haut erzählt der Katha¯saritsa¯gara des J Somadeva. Seine einzige verwundbare
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Stelle befindet sich in seiner linken Hand; dort wird er durch einen Pfeil getötet13. Isfandiya¯r, der Sohn Gusˇta¯sps im pers. Sˇa¯hna¯me des J Firdausı¯, hat einen Körper aus Messing, wird aber von Rustam besiegt, der ihm mit einem Tamariskenpfeil durchs Auge schießt14. Eine Sage der Indianer aus British Columbia berichtet von Tsekame, der seinen neugeborenen Sohn im Blut eines bestimmten Fischs wäscht, wodurch die Haut des Jungen zu Stein wird. Er vergißt jedoch, ihn auch unter dem Kinn einzureiben, das verwundbar bleibt und dem Sohn in einer Schlacht zum Verhängnis wird15. Vergleichbar ist die Uneinnehmbarkeit der Stadt Sardes: Der Herrscher von Lydien erfährt, daß Sardes uneinnehmbar werde, wenn man einen Löwen um sie herumtrage. Dies wird ausgeführt; ausgelassen wird allerdings ein Ort, an dem die Akropolis uneinnehmbar erscheint. Als die Perser Sardes später belagern, entdeckt einer der Feinde, daß er die Mauer an genau diesem Punkt erklettern kann. Andere Krieger folgen ihm in die Stadt und erobern sie (Herodot 1,84)16. Verwundbarkeit im weiteren Sinne bezieht sich nicht auf einen bestimmten Körperteil, sondern muß auf eine spezielle Weise herbeigeführt werden. So verlangt im altnord. Mythos die Göttin Frigg allen Tieren und Gegenständen den Eid ab, ihren Sohn Baldr nicht zu verletzen. Daraufhin vergnügen die Götter sich damit, Baldr mit Geschossen und Steinen zu bewerfen, da sie ihm nichts anhaben können. J Loki jedoch bringt von Frigg in Erfahrung, daß es eine Pflanze gibt, der sie den Eid nicht abgenommen hat: die Mistel. Er verleitet einen anderen Gott dazu, einen Mistelzweig auf Baldr zu werfen, der diesen tötet (J Edda, Kap. 3.2). Erzählungen über Verwundbarkeit an einer bestimmten Stelle weisen starke Übereinstimmungen mit Erzählungen auf, in denen Personen nur auf eine einzige Art geschädigt werden können, so wie der israel. Held Samson (J Simson) und der griech. König Nisos (Ovid, Metamorphosen 8,8⫺151), die unbesiegbar sind, solange ihr J Haar nicht angetastet wird17. Vergleichbar ist auch das Motiv der J External soul: Eine Person erfährt, wo sich die Seele eines Unholds (oder ein Gegenstand, an den dessen Leben gebunden ist) befindet, zerstört sie und führt damit sein Verderben herbei
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Unverwundbarkeit
(Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 1,8,2⫺3; AaTh/ ATU 302: J Herz des Unholds im Ei, AaTh/ ATU 1187: J Meleager)18. U. ist nicht unbedingt eine dauerhafte Gabe, sie kann auch zeitlich begrenzt sein. In der altgriech. Sage macht die Zauberin J Medea den Helden J Jason durch eine magische J Salbe einen Tag lang u., damit er das Goldene Vlies holen kann (Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 1,9,23)19. Krieger in ma. germ. (bes. isl.) Erzählungen hindern manchmal die Schwerter und Speere ihrer Gegner während eines feindlichen Zusammenstoßes am ,Beißen‘ (i.e. Zustechen), indem sie sich und ihre Rüstung zeitweise u. machen20. In einer Erzählung südamerik. Indianer baden die Bewohner eines Dorfes im Saft einer bestimmten Pflanze und erwerben so U. für eine bevorstehende Schlacht21. K. J Ranke schloß aus den in beträchtlicher Variabilität weltweit verbreiteten Motiven von U. und verwundbarer Stelle, daß sich diese voneinander unabhängig und in Polygenese entwickelt haben22. V. J Zˇirmunskij war der Ansicht, daß die Vorstellungen von Verwundbarkeit an einer einzigen Stelle, eine gewissermaßen ,bedingte U.‘, später entstanden seien als die von U. an sich; sie stellten einen Versuch dar, die wunderbare U. des Helden mit Erzählungen über seinen Tod in Einklang zu bringen23. Neben der U. im Sinne von Undurchdringlichkeit ist U. im weiteren Sinne in Volkserzählungen als Immunität gegen körperliche Verletzungen und Gefahren, z. B. durch Gift, Feuer, Wasser und Waffen aller Art, häufig belegt: So kann dem mit dem Schaum seines Pferdes bestrichenen Helden Feuer nichts anhaben24. Der mittelasiat. Epenheld Alpamysh ist gegen Feuer, Lanzen und Geschosse gefeit25. In Legenden ist immer wieder von frommen Glaubenszeugen die Rede, die unter dem Schutz Gottes und seiner Engel J Tötungsversuche durch Feuer, geschmolzenes oder glühendes Metall, Wasser, wilde Tiere, Steinigung, Stoßen von einer Klippe, Zerquetschen, Enthaupten etc. überleben und damit Verfolger verwirren und Zuschauer in Erstaunen versetzen (J Märtyrer; J Hagiographie)26. Seit der Antike bis in die Gegenwart werden J Amulette, die magischen Schutz u. a. vor Verwundung in der Schlacht (J Hieb- und stichfest) versprechen, getragen27. U. spielt
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auch in der Magie eine Rolle und wurde Zauberern, z. B. dem Schweizer Magier Scafius28, zugeschrieben. Abgesehen von diesen konkreten Formen der U. findet sich in Märchen eine abstraktere Vorstellung: Das optimistische Weltbild des Märchens sieht eine Thematisierung des J Todes nicht vor. Zwar sind die Protagonisten sehr häufig tödlichen Gefahren ausgesetzt, doch haben diese eher eine erzähltechnische Funktion. Der oft grausame Tötungsversuch wird in der Regel vereitelt; ist dies nicht der Fall, kann der getötete Held durch magische Heilmittel (J Lebenskraut; J Lebenswasser) wiederbelebt werden. Auch in modernen populären Erzählungen und deren medialen Adaptationen wird die U. des Helden thematisiert. So ist J Superman u., solange seine Kräfte nicht durch grünes Kryptonit von seinem zerstörten Heimatplaneten neutralisiert werden; Frodo, der Protagonist von J Tolkiens Romantrilogie The Lord of the Rings (1954⫺55), trägt auf seiner Reise einen Panzer aus undurchdringlichem Mithril; und dem Titelhelden von Joanne K. Rowlings Harry Potter-Romanen (1997⫺2007) wurde von seiner sterbenden Mutter ein magischer Schutz verliehen, der ihn gegen Angriffe seines Erzrivalen Lord Voldemort immunisiert. James Bond und ähnliche Superhelden tragen trotz vielfacher Herausforderungen keine ernsthaften Verletzungen davon29. 1 cf. allg. Berthold, O.: Die U. in Sage und Aberglauben der Griechen. Mit einem Anh. über den U.sglauben bei anderen Völkern, bes. den Germanen. Gießen 1911; Cock, A. de: Studien en essays over oude volksvertelsels. Antw. 1919, 153⫺177, 309⫺312; Hansen, W.: Ariadne’s Thread. Ithaca/L. 2002, 481⫺ 489; West, M. L.: Indo-European Poetry and Myth. Ox. 2007, 444⫺446. ⫺ 2 Berthold (wie not. 1) 2⫺ 5. ⫺ 3 ibid., 26⫺29. ⫺ 4 Fowler, R. L.: Early Greek Mythography 1. Ox. 2000, 11⫺17 (Fragment 22); Berthold (wie not. 1) 7⫺21; Gantz, T.: Early Greek Myth. Baltimore/L. 1993, 280 sq. ⫺ 5 Colarusso, J.: Nart Sagas from the Caucasus. Princeton 2002, 266. ⫺ 6 EM 3, 989; West (wie not. 1) 445. ⫺ 7 Thordarson, F.: Die Ferse des Achilleus ⫺ ein skyth. Motiv? In: Symbolae Osloenses 47 (1972) 109⫺124; Young, D. C.: The Diachronic Study of Myth and Achilles‘ Heel. In: California Classical Association ⫺ Northern Section J. 4 (1979) 3⫺34; Gantz (wie not. 4) 625⫺628; Hansen (wie not. 1) 483⫺485; Andersen Vinilandicus, P. H.: Wie Melusine den Drachen verdrängte. Eine sagengeschichtliche Unters.
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Ureltern ⫺ Urform
zum U.smotiv. In: Fabula 50 (2009) 227⫺246, hier 231. ⫺ 8 ibid., 230. ⫺ 9 Berthold (wie not. 1) 6⫺26; Gantz (wie not. 4) 631⫺634; Hansen (wie not. 1) 485⫺488. ⫺ 10 West (wie not. 1) 446. ⫺ 11 ibid. ⫺ 12 Colarusso (wie not. 5) 185 sq., 259⫺265; Thordarson (wie not. 7); West (wie not. 1) 445. ⫺ 13 Tawney, C. H.: The Ocean of the Story 1. ed. N. M. Penzer. (L. 1913) Dehli 1968, 127; West (wie not. 1) 445; cf. Scherb, H.: Das Motiv vom starken Knaben in den Märchen der Weltlit. Stg. 1930, 59. ⫺ 14 Abolqasem Ferdowsi: Shahnameh. The Persian Book of Kings. Übers. D. Davis. Wash. 2006, 411⫺ 416. ⫺ 15 Scherb (wie not. 13) 57 (Kueqsutenoq). ⫺ 16 Hansen (wie not. 1) 488. ⫺ 17 Berthold (wie not. 1) 29⫺33; Gantz (wie not. 4) 257 sq. ⫺ 18 Berthold (wie not. 1) 29⫺33; Hansen, W.: Homer and the Folktale. In: A New Companion to Homer. ed. I. Morris/B. Powell. Leiden 1997, 442⫺462, hier 452 sq. ⫺ 19 Berthold (wie not. 1) 48⫺55; Scherb (wie not. 13) 59 sq. ⫺ 20 z. B. Glauser, J./Kreutzer, G.: Isl. Märchensagas. Mü. 1998, 61, 63, 91, 95, 253, 307. ⫺ 21 Wilbert, J.: Yupa Folktales. L. A. 1974, 104. ⫺ 22 EM 1, 59 sq. ⫺ 23 Schirmunski, V.: Vergleichende Epenforschung 1. B. 1961, 37; cf. EM 1, 59. ⫺ 24 BP 3,33; cf. Eberhard, W.: Folktales of China. Chic. 1965, num. 37. ⫺ 25 Schirmunski (wie not. 23) 36. ⫺ 26 z. B. Günter, H.: Legenden-Studien. Köln 1906, 18⫺37, 92 sq.; Günter 1910, 134⫺136, 148 sq.; Hebenstreit-Wilfert, H.: Wunder und Legende. Tübingen 1975, 165⫺169; Gramlich, R.: Die Wunder der Freunde Gottes. Theologien und Erscheinungsformen des islam. Heiligenwunders. Wiesbaden 1987, 222⫺230. ⫺ 27 z. B. Berthold (wie not. 1) 56⫺68; de Cock (wie not. 1) 156⫺165. ⫺ 28 Fischer, E. (ed.): Die „Disquisitionum Magicarum Libri Sex“ von Martin Delrio als gegenreformatorische ExempelQu. Ffm. 1973, 246. ⫺ 29 Shojaei Kawan, C.: Holmes, Marlowe, Bond & Co. Kleine Typologie der Krimihelden. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschr. R. Schenda. Bern u. a. 1995, 661⫺678, hier 667⫺670.
Bloomington
William Hansen
Ureltern J Anthropogonie
Urform. Im allg. Sprachgebrauch ist die U. die ursprüngliche und früheste faßbare Form eines Phänomens (cf. Urfaust; J Faust)1. Auf dieser Grundannahme basiert die Theoretisierung und Verwendung des Begriffs der U. durch A. J Aarne2 und K. J Krohn3 (J Geogr.- hist. Methode). Sie faßten die U. (J Archetypus, Kap. 2) als die ursprüngliche Form eines Erzähltyps (J Typus) auf, die auf der
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Basis aller aus mündl. Überlieferung vorliegenden J Var.n rekonstruiert werden sollte (cf. J Rekonstruktion)4. Dieses Verständnis von U. ist inzwischen weitgehend nur noch wiss.shist. relevant. Das Konzept der U. beruht auf der Annahme von Monogenese (J Diffusion, J Wandertheorie) und spricht der ursprünglichen Form eines Erzähltyps eine größere Bedeutung zu als den späteren Var.n. Daneben geht es von einer Gesetzmäßigkeit späterer Veränderungen aus (J Epische Gesetze, J Selbstberichtigung), einer J Kontinuität der Tradition und der Annahme, daß sich der ursprüngliche Gedanke trotz aller zeitlichen und räumlichen J Variabilität erhalte (J Stabilität)5. Die Ermittlung der U. wurde zum zentralen Anliegen der geogr.-hist. Methode. Sie sollte anhand eigens dafür aufgestellter Kriterien erfolgen, wozu vor allem Anzahl der Aufzeichnungen, Größe des Verbreitungsgebiets, Alter und Qualität der Überlieferung (J Altersbestimmung des Märchens), ,Natürlichkeit‘ und Folgerichtigkeit des Erzählten, Eigenständigkeit im Vergleich mit anderen Erzähltypen, leichte Adaptierbarkeit (J Adaptation) und J Lokalisierung der Aufzeichnungen gehörten6. Parallel zur U. wurden ähnliche Konzepte eingeführt. So verwendete Krohn den Begriff der J Grundform für die zu rekonstruierende ursprüngliche regionale Form einer Überlieferung, wenn ihre U. geogr. anders situiert ist. W. J Anderson verwendete die Termini U. und J Normalform synonym, in seltenen Fällen verstand er unter Normalform eine Abweichung von der U., wenn sie die am häufigsten auftretende Form der Erzählung repräsentiert (sekundäre Neubildungen). Für Krohn dagegen waren Normalformen zeitlich und räumlich stärker begrenzt (cf. J Ökotyp) und bildeten die Basis der Grundform. M. J Lüthi stellte dem Konzept der U. das der J Zielform entgegen, in welcher der Erzählgedanke ,reiner, klarer und folgerichtiger‘ vorliege als in der U.7 Damit sprach Lüthi einen der zentralen Kritikpunkte8 am Konzept der U. an, das dem Alten und Ursprünglichen per se einen höheren Wert zuspricht als dem Neuen und Jüngeren. Zwar wurde die geogr.hist. Methode als positivistische Gegenreaktion auf romantische und mythol. Schulen des 19. Jh.s angesehen, mit ihrer Konzeption der
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Uriasbrief
U. blieb sie jedoch wiss.sgeschichtlich dem 19. Jh. verhaftet9. Die hauptsächliche Kritik am Konzept der U. zielte auf den Konstruktcharakter des Konzepts10, seine Prämissen11 sowie darauf, daß die Rolle schriftl. fixierter Var.n (J Schriftlichkeit, J Buchmärchen) bei der Ermittlung der U., die sich auf mündl. Überlieferung stütze (J Orale Tradition), unterschätzt werde12. Auch gehe die U. bzw. Normalform an der tatsächlichen Überlieferung vorbei, da manche Var.n nur ,gewaltsam imaginären Normalformen‘ zuzuordnen seien13; man werde dem Material nicht gerecht, wenn man alle Var.n eines Erzähltyps auf eine Ebene stelle, so eine ,Zeitlosigkeit des Märchens‘ voraussetze14 und mündl. Überliefertes auf der Grundlage einer ,Vielzahl fragwürdiger Kriterien‘15 untersuche16. Grundsätzlich wurde die Nützlichkeit der Rekonstruktion der U. in Frage gestellt17. 1 cf. z. B. Grothe, H.: Die Anekdote. Stg. 21984, 28⫺ 32. ⫺ 2 Aarne, A.: Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung (FFC 13). Hamina 1913, bes. 23⫺56. ⫺ 3 Krohn, K.: Die folkloristische Arbeitsmethode. Oslo 1926, 111⫺116. ⫺ 4 cf. Anderson, W.: Geogr.-hist. Methode. In: HDM 2 (1940) 508⫺522, hier 516 sq. ⫺ 5 Bødker, L.: Internat. Dict. of Regional European Ethnology and Folklore. 2: Folk Literature (Germanic). Kop. 1965, 34⫺37, bes. 34 sq. ⫺ 6 Aarne (wie not. 2) 42⫺47; cf. Anderson (wie not. 4) 517. ⫺ 7 Lüthi, M.: U. und Zielform in Sage und Märchen. In: Fabula 9 (1967) 41⫺54. ⫺ 8 cf. allg. Lüthi, Märchen (81990) 70⫺72. ⫺ 9 Korompay, B.: Zur finn. Methode. Hels. 1978, 7, 42. ⫺ 10 Panzer, F.: Märchen [1926]. In: Karlinger, F. (ed.): Wege der Märchenforschung. Darmstadt 1973, 84⫺ 129, hier 108⫺110; Vries, J. de: Betrachtungen zum Märchen. Bes. in seinem Verhältnis zu Heldensage und Mythos (FFC 150). Hels. 1954, 20; Raas, F.: Die Wette der drei Frauen. Beitr.e zur Motivgeschichte und zur literar. Interpretation der Schwankdichtung. Bern 1983, 63 sq. ⫺ 11 Wesselski, Theorie, 144⫺166; von Sydow, 11⫺59, 200⫺242. ⫺ 12 Wesselski, Theorie, 144⫺166. ⫺ 13 Bausinger (21980) 36. ⫺ 14 Röhrich, L.: Das Kontinuitätsproblem bei der Erforschung der Volksprosa. In: Bausinger, H./Brückner, W. (edd.): Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. B. 1969, 117⫺133, hier 120. ⫺ 15 Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1987, 33. ⫺ 16 Panzer (wie not. 10) 110 sq.; Peuckert, W.-E.: Das Märchen. In: id./Lauffer, O. (ed.): Vk. Bern 1951, 130⫺175; de Vries (wie not. 10) 15⫺20; Swahn, J.-Ö.: The Tale of Cupid and Psyche. Lund 1955, 9⫺13; Ranke, K.: Betrachtungen zum Wesen und zur Funktion des Märchens. In: Studium
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Generale 11 (1958) 647⫺664; Holbek (wie not. 15) 243 sq. ⫺ 17 EM 10, 97.
Göttingen
Doris Boden
Uriasbrief (AaTh/ATU 930), eines der verbreitetsten Märchen, das aus einer alten J Schicksalserzählung hervorgegangen ist. Die Geschichte vom ,Glückskind mit dem Todesbrief ‘ hat zahlreiche Forscher beschäftigt1. Die schriftl. Fassungen wurden ausführlich von J. Schick dokumentiert2; eine Typenmonographie im Sinne der geogr.-hist. Methode legte A. J Aarne vor3. Ein reicher oder mächtiger Mann (Kaufmann, Herrscher) erfährt durch eine J Prophezeiung, daß ihm ein soeben geborenes Kind zum Schwiegersohn (Erben) bestimmt ist. Er kauft das Kind (bittet, es ihm zu überlassen; läßt es entführen; bringt die Mutter um) und versucht mehrfach vergeblich, es zu töten (z. B. durch Bauchaufschneiden, am Baum Aufhängen) oder durch J Aussetzung (im Wald, Schnee, Wasser) aus dem Weg zu räumen (J Tötungsversuche). (Arme) Leute (Hirten, Müller, Fischer, Mönche) finden das Kind und ziehen es auf. Jahre später findet der Widersacher den Herangewachsenen wieder und beauftragt diesen mit der Überbringung eines J Briefs, der den Befehl enthält, den Boten zu töten. Unterwegs wird das Schreiben von einem Helfer (himmlisches Wesen, Pfarrer, Studenten, Räuber, in den Helden verliebte Tochter des Gegenspielers) geändert: der junge Mann solle umgehend mit der Tochter des Antagonisten verheiratet werden. Dies geschieht. Hinzu kommt häufig ein weiterer Mordversuch, der ansonsten bezeichnend für AaTh/ATU 910 K: J Gang zum Eisenhammer (Kalkofen) ist: Der Reiche befiehlt einem Töpfer (Metallgießer), eine Person, die zu einer bestimmten Zeit kommen soll, in den heißen Ofen zu werfen (anderer Mordbefehl); der ausgeschickte Schwiegersohn verspätet sich jedoch, und statt dessen erleidet der Widersacher selbst das dem Helden zugedachte Schicksal (dessen Sohn, der den Auftrag übernimmt; der Widersacher stirbt daraufhin vor Zorn oder bringt sich um).
In der jüngeren Überlieferung folgt auf die Heirat des Protagonisten meist als weiterer Versuch des Gegenspielers, den jungen Helden in den Tod zu schicken, ein mit einer J Jenseitsreise verbundener Auftrag (AaTh/ATU 461: Drei J Haare vom Bart des Teufels; cf. auch AaTh/ATU 460 A⫺B: J Reise zu Gott [zum Glück]). Obwohl AaTh/ATU 461 und AaTh/ATU 930 auch unabhängig voneinander auftreten können, bilden sie in der Regel eine
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Uriasbrief
Einheit und sind daher vielfach zusammen untersucht worden4. Eng verwandt mit AaTh/ATU 930 ist der Erzähltyp AaTh/ATU 910 K, dessen zentrales Motiv ⫺ der z. T. mit dem Todesbriefmotiv verknüpfte Befehl, den Protagonisten in den brennenden Ofen zu werfen ⫺ jedoch in anderer narrativer Einbindung als in AaTh/ATU 930 auftritt. Ein Pendant mit weiblicher Protagonistin, in dem die Prophezeiung und Versuche, das Kleinkind zu töten, eine Rolle spielen, ist AaTh/ATU 930 A: Die vorbestimmte J Frau. Seinen Namen hat der Erzähltyp von der alttestamentlichen Uriasgeschichte (2. Sam. 11; Flavius Josephus, Antiquitates Judaicae 7,7)5, in der ⫺ anders als in AaTh/ATU 930 und verwandten Erzählungen ⫺ der Todesbrief tatsächlich das Ende seines Überbringers besiegelt: König David begeht Ehebruch mit der Frau des Uria, der als Soldat im Feld steht. Da sie schwanger wird, befiehlt David Uria nach Jerusalem zurück; Davids Manipulationsversuchen zum Trotz geht Uria jedoch nicht heim zu seiner Frau, sondern legt sich zu den anderen Kriegern, die vor dem Haus des Königs schlafen. Daraufhin schickt David Uria mit einem Brief an seinen Heerführer Joab, dem er befiehlt, Uria in der Schlacht dahin zu stellen, wo der Kampf am härtesten ist. Uria fällt, und David heiratet die Witwe.
Ein ins Positive gewendetes Todesbriefmotiv findet sich jedoch schon im antiken Mythos von J Bellerophon6, später u. a. im frz. Versepos J Beuve de Hampton. Größere Gemeinsamkeiten mit AaTh/ATU 930 weist die J Hamlet-Erzählung des J Saxo Grammaticus (Gesta Danorum 3,6,16 und 4,1,1⫺20 [um 1200]) mit der schon in einigen altind. Fassungen vorhandenen Duplizierung der Todesbriefmotivik7 auf: Beim ersten Mal ändert Amlethus selbst den an den brit. König gerichteten Brief seines Onkels/Stiefvaters Fengo in einen Befehl, seine Begleiter zu töten, und die Bitte um, den Überbringer mit der brit. Königstochter zu verheiraten. Nachdem Amlethus Fengo getötet hat, schickt ihn sein Schwiegervater, durch einen Pakt zu Fengos Rächung gezwungen, als Brautwerber zur schott. Königin Hermuthruda, die alle ihre Freier umbringt (cf. J Heldenjungfrau). Ein schott. Spion stiehlt Amlethus den Werbebrief zusammen mit dem Schild, auf dem Amlethus’ Heldentaten abgebildet sind, und bringt beides zur Königin. Diese ist davon so begeistert, daß sie in dem
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Brief anstelle des brit. Königs Amlethus als Werbenden einsetzt. Amlethus und Hermuthruda heiraten; die brit. Königstochter bleibt dennoch bei Amlethus und warnt ihn vor ihrem Vater. Amlethus tötet diesen in einer Schlacht und kehrt mit seinen beiden Frauen nach Jütland zurück.
Wiederholte Versuche, einen Erwählten (hier das Enkelkind) zu töten, sind bereits in der antiken Habis-Sage belegt, die sich durch Justinus’ (2./3. Jh.) Auszug (44,4) aus den Historiae Philippicae des Pompeius Trogus (um Christi Geburt) erschließen läßt und auf die V. J Tille hinwies8. Auffallend ist in der HabisSage bes. die Errettung durch J Tierammen, die nicht nur in einer Reihe anderer Herrschersagen (cf. J Kyros; J Romulus und Remus), sondern auch in den frühen buddhist. Fassungen von AaTh/ATU 930 und AaTh/ATU 910 K eine Rolle spielt; es fehlen jedoch die Prophezeiungs- und die Todesbriefmotivik. Die ältesten vollständigen Fassungen von AaTh/ATU 930 konzentrieren sich auf Indien, das daher gewöhnlich als Ursprungsland der Geschichte angesehen wurde9. In den buddhist., jainist. und visønø uit. Frühbelegen sind die Protagonisten bedeutende Exponenten der jeweiligen Religion, beginnend mit dem Bodhisattva (J Buddha) in einer chin. Übers. kanonischer buddhist. Schriften (J Tripitøaka) aus dem 3. Jh.10 In buddhist. Zeugnissen des 5. Jh.s, der Dhammapadatøtøhakatha¯ und der Manorathapu¯ranø ¯ı 11, sind die Verfolgungen Ghosakas, des späteren Handelsherrn und Gründers des Klosters Ghosita¯ra¯ma, bedingt durch Missetaten in früheren Existenzen12. Gegenüber den buddhist. Quellen, in denen der Säugling mehrfach unter Nutztiere geworfen wird, die ihn jedoch verschonen, anstatt ihn zu zertrampeln, findet in jainist. und visønø uit. Fassungen nur ein einziger Anschlag auf das Leben des Neugeborenen statt13; dagegen ist die Koppelung des Todesbriefs mit einem weiteren Mordanschlag typisch für die altind. Qu.n. Ma. europ. Versionen übertrugen die Erzählung in vereinfachter Form auf Kaiser Heinrich III. (u. a. Gesta Romanorum, num. 20; das Pelagius-Kapitel der Legenda aurea14; Alphabetum narrationum, num. 593; bis hin zu frühneuzeitlichen Bearb.en, z. B. durch Hans J Sachs und Lope de J Vega)15 und als auslösendes Ereignis für die Einführung des Chri-
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Uriasbrief
stentums auf J Konstantin d. Gr. (altfrz., 13./ 14. Jh.)16; der Constant-Sage steht die häufig als Volksbuch gedruckte ital. Novelle von Florindo und Chiarastella (16. Jh.) nahe17. Auf diese historisierenden Ausformungen folgt spät als erste bekannte märchenhafte Gestaltung das böhm. Volksbuch von der Reise des Schwiegersohns zu J Rübezahl (1794), das gleichzeitig den frühesten Nachweis für die typische Verbindung von AaTh/ATU 930 mit AaTh/ATU 461 darstellt18. Darüber hinaus gibt es legendenhafte christl. Ausgestaltungen aus Ägypten und Äthiopien, die möglicherweise auf einer griech. Vorlage fußen und zum Lob des Erzengels J Michael verfaßt sind19. Michael ist in ihnen durchgängig als Helfer präsent; die Aussetzung des Kindes im Meer verbindet die Michaelslegenden mit einer türk. Version von AaTh/ATU 930 (17. Jh.), in der ein Kaufmann versucht, eine außereheliche Affäre zu vertuschen20. Mündl. Var.n des Erzähltyps sind in ganz Europa verbreitet, vor allem im Norden und Osten, weitere Fassungen wurden in Nordafrika und in Asien bis hin nach China sowie über den amerik. Kontinent verstreut aufgezeichnet. Titelgebend ist z. T. der Widersacher des Glückskinds, der in Rußland Marko Bogatyj (der reiche Marko)21, in nord. Ländern Rike Per Krämare, Rige Peer Kræmmer, Rike Tor Kræmar oder ähnlich heißt22; in Finnland sind Ableitungen aus beiden Namenstraditionen gängig23. Der Protagonist ist meist der Sohn armer Eltern, kann aber auch ein Waisenkind aus vornehmer Familie sein, oder er kommt auf wundersame Weise zur Welt, nachdem der Widersacher die schwangere Mutter getötet hat24. Als Künder zukünftigen Glücks erscheinen Gott selbst, J Christus, Michael (z. T. begleitet von weiteren Himmelswesen [u. a. Gabriel, J Petrus; cf. J Erdenwanderung der Götter]), die J Schicksalsfrauen, Vogelschauer, Sternenkundige, eine körperlose Stimme, aber auch Vögel, die Hebamme etc.25 Gott, Christus und Michael treten gleichzeitig auch als Helfer auf, die den Todesbrief ändern26. In Var.n, in denen der Held in einer Kirche haltmacht und die damit auf die Exempla vom Nutzen der Messe (AaTh/ATU 910 K) verweisen, wird der Brief vom Pfarrer, Küster oder Organisten umgeschrieben. Das Vorkommen von Studenten als Helfern in mittel-
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und nordeurop. Var.n27 schreibt Aarne dem Einfluß der Schwanktradition zu, in der die Streiche fahrender Schüler ein häufiges Element sind28. Daß der Held wie Hamlet den Todesbrief selbst umschreibt, scheint ein äußerst seltener Zug zu sein29. In literar. Fassungen wird der Widersacher am Ende nicht immer mit dem Tode bestraft, vielmehr kommt er manchmal zur Einsicht und beugt sich dem Schicksal30; gelegentlich findet sich auch das Motiv des vorgetäuschten Tötungsbeweises (Vorzeigen eines abgeschnittenen Körperteils, J Tierherz als Ersatz)31. Das Märchen, das vor allem eingangs stark auf die Perspektive des Gegenspielers fokussiert ist, zeigt beispielhaft „die Ohnmacht des menschlichen Willens, wenn dieser sich der Entscheidung des Schicksals widersetzen will“32; gleichzeitig, bezogen auf die Figur des verfolgten J Schicksalskinds, bringt es märchentypische Glücks- und Wunscherfüllungsphantasien zum Ausdruck. 1 Zur Forschungsgeschichte cf. Aarne, A.: Der reiche Mann und sein Schwiegersohn (FFC 23). Hamina 1916, 17 sq.; Tille, V.: Das Märchen vom Schicksalskind. In: ZfVk. 29 (1919) 22⫺40, hier 22 sq. ⫺ 2 Schick, J.: Das Glückskind mit dem Todesbrief. 1: Oriental. Fassungen. 2: Europ. Sagen des MA.s und ihr Verhältnis zum Orient. B. 1912/Lpz. 1932. ⫺ 3 Aarne (wie not. 1); cf. ferner BP 1, 276⫺288; Scherf, 1181⫺1186; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./ N. Y. 2008, 77⫺79. ⫺ 4 z. B. Aarne (wie not. 1); Liungman, Volksmärchen 461; Hodne 461; SUS 461; ´ Su´illeabha´in/Christiansen 930 Barag 461; cf. auch O (25 von 31 Var.n verbunden mit AaTh/ATU 461). ⫺ 5 Schick (wie not. 2) t. 2, 216⫺229. ⫺ 6 ibid., 229⫺ 235. ⫺ 7 cf. Aarne (wie not. 1) 21 sq. u. ö. ⫺ 8 Tille (wie not. 1) 28 sq. ⫺ 9 Aarne (wie not. 1) 95 sq., 102; Weber [, A.]: Über eine Episode im „Jaimini-Bhaˆrata“. In: Monatsber.e der Kgl. Preuß. Akad. der Wiss.en zu Berlin (1869) 10⫺48, hier 10; Schick (wie not. 2) t. 1, 13 sq. ⫺ 10 Chavannes 1, num. 45. ⫺ 11 Schick (wie not. 2) t. 1, 15⫺66. ⫺ 12 ibid., 44. ⫺ 13 ibid., 75⫺160, 167⫺297. ⫺ 14 Legenda aurea/ Graesse, 840 sq.; Iacopo da Varazze: Legenda aurea. ed. G. P. Maggioni. Florenz/Mailand 22007, 1432⫺ 1435. ⫺ 15 Schick (wie not. 2) t. 2, 82⫺214 (einschließlich von Übertragungen auf Hannibal und Dagobert); Dvorˇa´k, num. 647; cf. auch Tille (wie not. 1) 27. ⫺ 16 Schick (wie not. 2) t. 2, 8⫺52; Coveney, J.: E´dition critique des versions en vers et en prose de la le´gende de l’empereur Constant. P. 1955. ⫺ 17 Schick (wie not. 2) t. 2, 52⫺81; mündl. Var. bei Imbriani, V.: La novellaja fiorentina. Livorno 1877, num. 34. ⫺ 18 Tille (wie not. 1) 36 sq.;
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Urin, Urinprobe
Langer, G.: Das Märchen in der tschech. Lit. von 1790 bis 1860. Gießen 1979, 47⫺61; Romanticke´ povı´dky z cˇeske´ho obrozenı´ (Romantische Erzählungen aus der Zeit der tschech. Wiedergeburt). ed. M. Novotny´. Prag 1947, 75⫺144. ⫺ 19 Schick (wie not. 2) t. 1, 338⫺417. ⫺ 20 ibid., 309⫺338. ⫺ 21 z. B. Nikiforov, A. I.: Severnorusskie skazki. ed. V. Ja. Propp. M./Len. 1961, num. 81, 94; Sumcov, N. F.: Skazki i legendy o Marke Bogatom (Märchen und Legenden von dem reichen Marko). M. 1894. ⫺ 22 cf. Hodne 461. ⫺ 23 Aarne (wie not. 1) 38⫺40. ⫺ 24 Krappe, A. H.: L’Enfant de la morte. In: Les Lettres romanes 1 (1947) 297⫺310. ⫺ 25 Aarne (wie not. 1) 43⫺53; Brednich, R. W.: Volkserzählungen und Volksglaube von den Schicksalsfrauen (FFC 193). Hels. 1964, 57⫺68. ⫺ 26 Aarne (wie not. 1) 71. ⫺ 27 z. B. Wossidlo, R.: Mecklenburger erzählen. ed. G. Henssen. B. 1957, num. 94; Kristensen, E. T.: Æventyr fra Jylland 4. Kop. 1897, num. 80; Sirova´tka, O.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1980, num. 14. ⫺ 28 Aarne (wie not. 1) 72. ⫺ 29 ibid., 71. ⫺ 30 ibid., 25, 31, 33. ⫺ 31 ibid., 23, 26; Schick (wie not. 2) t. 1, 87 sq., 238; Legenda aurea (wie not. 14). ⫺ 32 Tille (wie not. 1) 23.
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Urin, Urinprobe. Urin (U.) bzw. Harn ist eine bei Menschen und Säugetieren von den Harnorganen abgesonderte Flüssigkeit, mit der Abbauprodukte des Stoffwechsels ausgeschieden werden. Der durch die Wahrnehmung von U. (speziell durch den bei Zersetzung des Harnstoffs entstehenden J Geruch) bei vielen Menschen ausgelöste Ekel scheint im allg. schwächer ausgeprägt als der Widerwille gegen Kot (cf. J Exkremente, J Skatologie). Urethralerotik1 und U.fetischismus2 spielen in Volkserzählungen keine Rolle. Schon J Herodot formulierte „Schicklichkeitsvorschriften im Zusammenhang mit dem Urinieren“3. Später allerdings ist in der europ. Erzählüberlieferung von U. deutlich seltener die Rede als von Kot. Erst seit dem 19. Jh. scheint sich dieses Verhältnis zumindest in gedr. Witzsammlungen und dergleichen umzukehren, da Scherze über Harndrang, Bettnässen, medizinische U.analyse etc. (cf. z. B. AaTh/ATU 1293: J Dauerpisser) als weniger derb empfunden werden denn Fäkalhumor. In Redewendungen steht das ,Anpinkeln‘ für aggressives oder verächtliches Verhalten (z. B. ,jemanden an den Wagen pissen‘, ,auf jemandes Grab pinkeln‘); wer lange vergeblich war-
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tet, ,kriegt die kalte Pisse‘; Streithähne drohen, den anderen so zu verprügeln, ,daß er sich bepinkelt‘ etc.4 Seit der Antike gilt der U. als ein Träger der Lebenskraft5 ⫺ u. a. weil in ältester Zeit zwischen U. und Geschlechtssekret nicht immer unterschieden wurde6. Griech. Qu.n berichten von der Zeugung des Orion: Drei Götter hätten zum Dank dafür, daß sein Vater Hyrieus sie gastlich aufgenommen hatte, in die Haut des für sie geschlachteten Stiers uriniert; Hyrieus vergrub die Tierhaut, zehn Monate später kam Orion zur Welt7. Ausgangspunkt ist wohl die etymol. Herleitung des Namens Orion von griech. urein (harnen); spätere Zeugnisse berichten, Orion sei aus dem Samen der Götter entstanden8. Das Trinken von U. kann manchen Volkserzählungen zufolge eine J Schwangerschaft verursachen (Mot. T 512.2). In einer kambodschan. Var. zu AaTh/ ATU 675: Der faule J Junge uriniert der Held ins Maul eines Fischs, der in einem Brunnen schwimmt; die Prinzessin wird schwanger, als sie darin badet (cf. auch Mot. T 512.6, T 531.1; J Empfängnis: Wunderbare E.)9. Nach einer anderen kambodschan. Erzählung können Tote dadurch erweckt werden, daß auf ihre Knochen uriniert wird (Mot. E 29.6). Nach mitteleurop. Vorstellungen wächst der Alraun (J Mandragora) unter dem Galgen aus U. oder Sperma eines gehängten Diebes (Mot. A 2611.5)10; ehe man die Pflanze (mit Hilfe eines Hundes) aus der Erde ziehen kann, muß man laut J Josephus Flavius (7,6,3) U. von Frauen oder Menstruationsblut darauf gießen. Gras, das aus dem U. eines Gehenkten sprießt, hat Zauberkraft11. Die J Tabakpflanze soll u. a. aus dem U. entstanden sein, mit dem der Teufel aus Zorn über seine Vertreibung die Paradiespforte benäßte12. Zahlreiche Mythen und ätiologische Sagen lassen Flüsse (Mot. A 933) oder Meere (Mot. A 923.1) aus dem U. von Göttern (Göttinnen) oder Riesen (Riesinnen) entstehen ⫺ in einigen Gegenden auch Seen (Mot. A 920.1.6) und Quellen (Mot. A 941.1.1) aus dem U. von Pferden. In frz. Lokalsagen heißt es, Flüsse seien dort entstanden, wo der Riese J Gargantua urinierte; bei J Rabelais harnt Gargantua zum Spaß (,par ris‘) auf das Volk von Lutetia, das ihn anstaunt, woraufhin die Stadt
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Urin, Urinprobe
ihren neuen Namen Paris erhält (Parodie ma. Namensetymologien)13. Seit der Antike wird dem U. Zauberkraft zugeschrieben (Mot. D 1002.1)14. Bei J Petronius (Kap. 62) schildert ein Freigelassener, wie ein Soldat, der sich in einen Werwolf (J Wolfsmenschen) verwandeln wollte, seine Kleider ablegte und umharnte, wodurch sie zu Stein wurden und nicht weggenommen werden konnten. Auch U. von Tieren soll magische Kraft haben (Mot. D 1027)15; menschlicher U. macht Steine weich (Mot. D 562.2.2; cf. Mot. F 979.14). Der U. einer Jungfrau vermag angeblich jeden Zauber zu brechen16. Im Liebeszauber findet U. ebenfalls seit der Antike Verwendung17. Um eine Person in sich verliebt zu machen, solle man ihren U. kochen; als Liebestrank mische man U. mit Wein18. Durch Zauberei verursachte J Impotenz ende, wenn das Opfer durch einen von Daumen und Zeigefinger gebildeten Ring uriniere19. In der antiken, ma. und frühneuzeitlichen Medizin war die U.schau (Uroskopie) eine der verbreitetsten diagnostischen Techniken; das U.glas galt gleichsam als ,Wappen‘ der Ärzte20. Der Anspruch, aus dem zu einem unfehlbaren Orakel erhobenen U. nicht nur gegenwärtige und frühere Erkrankungen und ihre Ursachen, sondern auch Geschlecht, Alter und Stand des Patienten (gegebenenfalls sogar seine uneheliche Geburt, Mot. F 956.2) ersehen zu können21, stand nun freilich in eklatantem Widerspruch zur geringen Treffsicherheit der Diagnosen; zahlreiche Schwänke22 verspotten den Angeber (AaTh/ATU 1641 A: cf. J Scharlatan) oder seine naive Klientel, die glaubt, der U. verrate z. B. den Herkunftsort eines Patienten (Mot. J 1734.1)23. Ein Arzt, der aus der U.probe schließen soll, welcher Art der Wagen war, von dem der Patient gefallen ist, und falsch rät, rechtfertigt sich damit, daß ein Teil des U.s verschüttet wurde: deshalb habe er nur zwei der vier Räder erkennen können (cf. AaTh/ATU 1862 C: Die einfältige J Diagnose)24. Komik erwächst vor allem aus der (absichtlichen oder versehentlichen) Vertauschung von U.proben: Weil die Magd den U. des Herrn verschüttet und durch ihren eigenen ersetzt hat, wird bei einem Geistlichen eine Schwangerschaft diagnostiziert; wenn die Ersatzprobe
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von einer trächtigen Kuh stammt, wird dem Patienten vorausgesagt, er werde ein Kalb zur Welt bringen (AaTH/ATU 1739: J Priester soll Kalb gebären). In einer modernen Var. gibt ein Wehrdienstpflichtiger, der sich vor dem Militärdienst drücken will, bei der Musterung eine U.probe seiner zuckerkranken Freundin ab; der Schwindel wird entdeckt, weil sie schwanger ist25. In der Volksmedizin gilt U. zu allen Zeiten als eine Art Universalheilmittel26. Seit der Antike finden sich zahlreiche Berichte von Menschen, die (ihren eigenen) U. getrunken haben, wie z. B. bei Wassermangel die Soldaten J Alexanders d. Gr.27 Die Anwendung von U. als Heilmittel hatte schon J Plinius beschrieben: So werden die Augen (zur Behandlung von Krankheiten oder zur Vorbeugung) mit (dem eigenen) U., urinhaltigen Wassern oder Salben behandelt28; gegen Ohrenschmerzen und Schwerhörigkeit soll U. von Tieren (Hund, Hase, Stier) oder Knaben helfen29. Waschungen mit U. werden bei Hautkrankheiten empfohlen30; aber U. kommt z. B. auch bei Fieber31, zur Schwangerschaftsdiagnostik32 und nach dem Prinzip J Similia similibus bei Bettnässen33 zur Anwendung. Noch in den 1990er Jahren erreichte das Buch der Journalistin Carmen Thomas über die dem U. (angeblich) innewohnenden Kräfte im dt.sprachigen Raum hohe Auflagen34. 1 Bornemann, E.: Ullstein-Enz. der Sexualität. Ffm./ B. 1990, 837. ⫺ 2 cf. ibid., 838. ⫺ 3 Muth, R.: U. In: Pauly/Wissowa, Suppl. 11 (1968) 1292⫺1303, hier 1293. ⫺ 4 Röhrich, Redensarten, 1186. ⫺ 5 ibid., 1293; Schulz, F.: Der Harn in Aberglauben, Volksmedizin, Medizin. Wien 1974, 26. ⫺ 6 Muth (wie not. 3) 1303. ⫺ 7 ibid., 1300⫺1303. ⫺ 8 ibid., 1302. ⫺ 9 EM 7, 765; Brednich, R. W.: Das Huhn mit dem Gipsbein. Mü. 1993, 77 sq. ⫺ 10 Grimm DS 84. ⫺ 11 Heinemann, F.: Die Henker und Scharfrichter als Volks- und Viehärzte seit Ausgang des MA.s. In: SAVk. 4 (1900) 1⫺16, hier 2 sq. ⫺ 12 Schulz (wie not. 5) 147. ⫺ 13 cf. Rabelais, F.: Les cinq Livres. ed. J. Ce´ard/G. Defaux/ M. Simonin. P. 1994, 89⫺91 (Kap. 16). ⫺ 14 Muth (wie not. 3) 1294⫺1296; HDA 3 (1930⫺31) 1476 sq. ⫺ 15 cf. auch Marzolph, Arabia ridens, num. 1157. ⫺ 16 Schulz (wie not. 5) 145. ⫺ 17 Muth (wie not. 3) 1296. ⫺ 18 Schulz (wie not. 5) 165. ⫺ 19 ibid., 164 sq. ⫺ 20 ibid., 17 sq. ⫺ 21 ibid., 21. ⫺ 22 cf. Moser-Rath, Schwank, 194⫺ 196. ⫺ 23 Marzolph, Arabia ridens, num. 177. ⫺ 24 Moser-Rath, Schwank, 196. ⫺ 25 cf. Schneider, I.: Traditionelle Erzählstoffe und Erzählmotive in Con-
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Ursprungssage ⫺ Ursula, Hl.
temporary Legends. In: Homo narrans. Festschr. S. Neumann. Münster u. a. 1999, 165⫺179, hier 120 sq. ⫺ 26 Muth (wie not. 3) 1296⫺1299; HDA 3, 1481. ⫺ 27 Thiel, H. van: Leben und Taten Alexanders d. Gr. von Makedonien. Darmstadt 1974, 198⫺ 233, hier 3, 17. ⫺ 28 Schulz (wie not. 5) 88⫺93. ⫺ 29 ibid., 173⫺175. ⫺ 30 Muth (wie not. 3) 1298. ⫺ 31 Schulz (wie not. 4) 109⫺116. ⫺ 32 ibid., 184⫺ 188. ⫺ 33 ibid., 95⫺99; Stemplinger, E./BächtoldStäubli, H.: Bettnässer. In: HDA 1 (1927) 1196⫺ 1199. ⫺ 34 Thomas, C.: Ein ganz bes. Saft. U. Köln 1993 (381997).
Bamberg
Albert Gier
Ursprungssage J Ätiologie
Ursula, Hl., J Märtyrerin von fraglicher Historizität1 (Fest 21.10.)2. Die J Legenda aurea3 bietet in geraffter Form die Endstufe der Legendenbildung: U., Tochter des christl. brit. Königs Notus (oder Maurus), wird vom heidnischen Prinzen Aetherius umworben, hat sich aber ewige Jungfräulichkeit geschworen. Auf himmlischen Wink hin willigt sie in eine Verlobung ein, erhebt aber als Abschreckung gedachte, unerfüllbar anmutende Bedingungen: Taufe des Prinzen, Stellung eines Gefolges von elftausend jungfräulichen Begleiterinnen und von elf Schiffen sowie eine dreijährige Frist bis zur Eheschließung. Doch die Gegenseite akzeptiert. U.s Vater sorgt mit dem Beizug von Bischöfen für geziemende männliche Begleitung des Jungfrauenheeres; auch stoßen zahlreiche Fürstinnen und Fürsten samt Gefolge dazu. Täglich läuft die Flotte nun im Zeichen einer ,nova militia‘4 zu nautischen Übungen aus, unterdessen widmet sich U. der Bekehrung ihrer noch heidnischen Begleiterinnen. Als dies vollbracht ist, treibt ein Wind die Flotte an die festländische Küste, dann rheinaufwärts über Köln bis Basel. Von dort geht es, geleitet durch engelsvermittelte himmlische Anweisungen, in Pilgerschaft zu Fuß bis Rom. Papst Cyriakus, selbst ein Brite, schließt sich dem Zug nach einer Massentaufe auf dem Rückweg an. (Das den Amtsverzicht mißbilligende Kardinalskollegium wird deshalb seinen Namen von den offiziellen Papstlisten tilgen.) Maximus und Africanus, zwei heidnische Feldherren, planen die Auslöschung der frommen Scharen und verabreden sich mit dem hunn. Fürsten Julius vor Köln. Von Britannien her ist der mittlerweile bekehrte Bräutigam Aetherius, der von Engeln geführt und von zahlreichen Familienmitgliedern begleitet wird, ebenfalls im Anmarsch. So kommt es vor Köln zu dem durch Engel angekündigten Martyrium der Scharen, die der heidnischen Mordlust einzig fromme Jenseitssehnsucht entgegenstellen.
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Die früh- und hochma. lat. Qu.n5 lassen sich zu einer chronologischen Reihe ordnen; in ihr spiegelt sich zugleich die durch vielfache Ausweitung und Ausschmückung bis zu den Revelationen des 12. Jh.s. zunehmend phantastischer werdende Legendenbildung. Am Anfang steht eine epigraphische Qu.: eine in St. U. zu Köln erhaltene Steintafel6. Sie berichtet, auf himmlisches Geheiß aus dem Osten herbeigerufen, habe der Patrizier Clematius an dieser Stelle im Gedenken an Jungfrauen, die für J Christus ihr Blut vergossen, eine Basilika wiederhergestellt. Der Inhalt deutet auf spätantike Verhältnisse; ob freilich die Tafel samt Inschrift auch ins 4. Jh. gehört, eine karoling. Kopie, Neudeutung oder gar Fälschung darstellt, ist nicht endgültig geklärt7. Diese Überlieferung kennt weder Namen noch eine Zahl noch eine Geschichte der frommen Jungfrauen. In der späten Karolingerzeit setzt dann die Reihe von Urkunden und liturgischen Qu.n (Kalender, Litaneien, Meßformulare) ein, die einen Kölner Kult und eine Kultstätte bezeugen8. So ist für 866 ein Kanonikerstift belegt; 922 wird es von Kanonissen übernommen. Im 14. Jh. kommt es zur Umwandlung in ein weltliches Damenstift (aufgehoben 1802)9. Die heutige U.kirche in Köln läßt sich baugeschichtlich bis ins 4. Jh. zurückverfolgen (1643/44 Einrichtung der goldenen Kammer)10. Die älteste narrative Qu. bildet der Sermo in die natali11, der wohl noch ins 9. Jh. gehört. Es folgt, über die Widmung an den Kölner Erzbischof Gero auf die Jahre 969⫺976 festlegbar, die sog. Erste Passio12. Etwa ein Jh. später folgt die Zweite Passio13. Damit steht die Legende in ihren wesentlichen Zügen fest: U., ursprünglich ein Name unter anderen14, ist nun Anführerin, und aus der Elfzahl ältester Qu.n (,XI M virgines‘ üblicherweise als ,Elf jungfräuliche Märtyrerinnen‘ zu deuten) ist ⫺ vielleicht durch Auffassungsfehler oder durch frommen Schwindel ⫺ die Zahl Elftausend geworden15. Die letzte Phase der Legendenbildung wird 1106 durch den Fund eines spätröm. Friedhofs bei Erweiterung der Stadtmauern ausgelöst. Er lieferte aus ma. Sicht die Bestätigung der alten Berichte. Köln sah sich zudem unverhofft im Besitz eines überreichen, über Jh.e hinweg ausbeutbaren Reliquienschatzes16. Allerdings
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Ursula, Hl.
fehlten hierzu zunächst Namen, Authentizität und eine mindestens minimale Geschichte; auch verlangte der Fund von Männer- und Kindergebeinen inmitten des Jungfrauenheeres nach Erklärungen17. Solche lieferten drei Revelationen. Die erste, verfaßt vom Deutzer Küster Theoderich, gibt eine Liste von ursulanischen Reliquien seines Klosters und beruht auf zeitgenössisch gefälschten Grabinschriften (tituli) der angeblichen Heiligen (Revelationes titulorum, ca 116418). Die zweite basiert auf Visionen der Elisabeth von Schönau aus den Jahren 1156/57, aufgezeichnet durch ihren Bruder Ekbert (Liber revelationum de sacro exercitu virginum Coloniensium19). Die dritte und anonyme (die Zuschreibung an den Steinfelder Mönch Hermann Josef läßt sich nicht aufrecht erhalten20) führt die Visionen der Elisabeth weiter (Revelationum libri duo 1183/ 8721). Nicht sicher auszuschließen ist hier freilich parodistische (aber von den Zeitgenossen nicht immer erkannte) Absicht22. Das Spätmittelalter bringt mit der europaweiten Ausbreitung des Kultes23 durch Reliquientranslationen auch die Übernahme dieses hagiographischen Komplexes in die Volkssprachen24, den Transfer ins Medium des Bildes und des Spiels25. Die Legende, die in bemerkenswerter Weise hagiographische Stereotype mit ungewöhnlichen Erfindungen mischt, vermochte auch widerständige Fakten plausibel zu machen (so etwa das Fehlen des Cyriakus in den Papstlisten26 oder das Nachhinken des Cordula-Festes am 22.10. ⫺ gemäß Legende eine Folge des erst nachträglichen Martyriums der aus Angst sich anfänglich versteckt haltenden Cordula27). Sie konnte darüber hinaus für verschiedenste soziale Gruppen Motive zur Verehrung stiften. So eigneten sich U. und ihre Scharen als Patroninnen Kölns (mit symbolischer Präsenz im Stadtwappen28), Basels und Englands, der Seefahrt und des Schulunterrichts oder als Helferinnen für Städte in Belagerungsnot. Die räumliche Weite des Geschehens gestattete die Integration lokaler Heiliger (etwa Pantulus in Basel). Die in den Revelationen entwickelten Stammbäume ermöglichten die Ansippung einzelner Mitglieder der Elftausend an zahlreiche adlige Häuser in ganz Europa; ihre schiere Anzahl verhieß eine kaum zu übertreffende Interzessionsmacht. Auch die intellektuelle Elite fühlte
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sich angesprochen: Heinrich Glarean schickte 1507/08 Ulrich Zwingli (damals noch Pfarrer zu Glarus) einen Legendendruck und ergänzte ihn mit Auskünften zum Kult, die er vor Ort eingeholt hatte29. Das Patronat der Heiligen über die rhein. Nation veranlaßte Predigten zu ihren Ehren für ein universitäres Publikum (Arbogast Strub 1509, Joachim Vadian 1510, beide für Wien)30. Charakteristische Form nahm dieses kultbegründende Potential in den diversen, seit dem 14. Jh. nachweisbaren Gebetsbruderschaften im Zeichen U.s an (U.schiffchen). Diese warben, anfangs noch hs., dann in oft ill. Drukken, mit Legende und in Traktatform für den Gedanken solidarischer Versicherung beim Heilserwerb auf der Basis von Gebetsprämien31. Im Schiffsmotiv überblendeten sich die Konzepte der Bruderschaft und der Kirche32. Die epische Fülle der Legende förderte die Entstehung umfangreicher Bildzyklen; die meisten und die künstlerisch bedeutendsten gehören dem späten MA. an33. Den zahlreichen Schädelreliquien verdankt sich außerdem die hohe Zahl von Reliquienbüsten. Ikonographisch beachtlich ist ferner die Übertragung des marianischen Schutzmantelmotivs auf U.34 Im Geist gegenreformatorischer Antikritik an der neugläubigen Ablehnung der Heiligenverehrung legte der Kölner Jesuit H. Crombach die umfangreichste Darstellung von Legende und Kult vor35 (freilich wird ihm der Bollandist V. de Buck zwei Jh.e später eine ,incredibilis credulitas‘ bescheinigen36). Angela Merici wählte U. als Patronin ihres 1535 in Brescia gegründeten Ordo Sanctae Ursulae; legendenkonform engagierten sich die Ursulinen bes. im weiblichen Bildungswesen. 1 1969 aus dem röm. Heiligenkalender gestrichen; lokale Verehrung noch erlaubt. ⫺ 2 AS Okt. 9 (1869) 73⫺281; Tervarent, G. de: La Le´gende de St.e Ursule dans la litte´rature et l’art du moyen aˆge 1⫺2. P. 1931; Gugumus, J. E./Liverani, M.: Orsola e compagne. In: Bibl. Sanctorum 9 (1967) 1252⫺1271; Nitz, G.: U. In: LCI 8 (1976) 521⫺527; Zehnder, F. G.: St. U. Legende, Verehrung, Bilderwelt. Köln 1985 (21987); Rautenberg, U.: U. und die elftausend Jungfrauen. In: Verflex. 10 (21999) 131⫺140. ⫺ 3 Iacopo da Varazze: Legenda aurea 2. ed. G. P. Maggioni. Florenz/Mailand 22007, 1073⫺1078. ⫺ 4 Bryan, E. J.: Amazons und Ursulines. In: Mindful Spirit in Late Medieval Literature. ed. B. Wheeler. N. Y.
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Urteil
2006, 21⫺30. ⫺ 5 Bibliotheca Hagiographica Latina 2. Brüssel 1900/01, num. 8426⫺8451. ⫺ 6 Levison, W.: Das Werden der U.-Legende. In: Bonner Jbb. 132 (1927) 1⫺164, hier 1 (Abb.), 4 (Text); cf. auch: Zehnder, F. G.: Die hl. U. und ihre elftausend Jungfrauen. Ausstellungskatalog Köln 1978, Abb. 7 (mit dt. Übers.). ⫺ 7 Levison (wie not. 6) 3⫺25; Gauthier, N.: Origine et premiers de´veloppements de la le´gende de St.e Ursule a` Cologne. In: Comptes rendus de l’Acade´mie des Inscriptions et Belles-Lettres (1973) 108⫺121. ⫺ 8 Levison (wie not. 6) 25⫺58. ⫺ 9 Zehnder (wie not. 6) 10 sq.; Wegener, G.: Geschichte des Stiftes St. U. in Köln. Köln 1971. ⫺ 10 Zehnder (wie not. 2) 49⫺68; Künstler-Brandstätter, K.: St. U. In: Colonia Romanica 11 (1996) 208⫺ 224; Bergmann, U.: Die Goldene Kammer in St. U. ibid. 225⫺231. ⫺ 11 Text: AS Okt. 9 (1869) 154 sq.; Kessel, J. H.: St. U. und ihre Gesellschaft. Köln 1863, 156⫺167 (mit Übers.); Klinkenberg, J.: Studien zur Geschichte der Kölner Märtyrerinnen. In: Jbb. des Vereins von Alterthumsfreunden im Rheinlande 89 (1890) 118⫺ 124; zur Deutung: Levison (wie not. 6) 46⫺58. ⫺ 12 Text: Analecta Bollandiana 3 (1884) 7⫺20; Levison (wie not. 6) 142⫺157. ⫺ 13 Text: AS Okt. 9 (1869) 157⫺163; Klinkenberg (wie not. 11) 154⫺ 163. ⫺ 14 Gauthier (wie not. 7) 115⫺117 (Hypothese zur Herkunft des Namens U. ). ⫺ 15 Levison (wie not. 6) 25⫺42. ⫺ 16 Zender, M.: Räume und Schichten ma. Hl.nverehrung in ihrer Bedeutung für die Vk. Köln 21973, 196⫺202; Zehnder (wie not. 2) 83⫺ 94; Moulinier, L.: E´lisabeth, Ursule et les onze mille vierges. Un cas d’invention de reliques a` Cologne au XIIe`me sie`cle. In: Me´die´vales 22⫺23 (1992) 173⫺ 186. ⫺ 17 Levison (wie not. 6) 107⫺125; Gauthier (wie not. 7) 117 sq. ⫺ 18 Levison (wie not. 6) 110⫺ 114. ⫺ 19 Text: AS Okt. 9 (1869) 164⫺172; dt. Übers.: Elisabeth von Schönau. Werke. ed. P. Dinzelbacher. Paderborn/Mü./Wien/Zürich 2006, 145⫺ 163; cf. ferner Flanagan, S.: Die Heiligen Hildegard, Elisabeth, U. und die elftausend Jungfrauen. In: Schmidt, M. (ed.): Tiefe des Gotteswissens. Schönheit der Sprachgestalt bei Hildegard von Bingen. Stg. 1995, 209⫺222. ⫺ 20 Levison (wie not. 6) 133⫺ 137. ⫺ 21 Text: AS Okt. 9 (1869) 173⫺185. ⫺ 22 Levison (wie not. 6) 127⫺132. ⫺ 23 Lat. Sequenzen cf. Sequentiae ineditae. Liturgische Prosen des MA.s aus Hss. und Frühdrucken 6. ed. C. Blume. Lpz. 1902, num. 331⫺ 333; ibid. 7. ed. H. M. Bannister. Lpz. 1902,.359 sq. ⫺ 24 Für die dt.sprachige Texttradition cf. Rautenberg (wie not. 2) 135⫺140: ferner ead. (ed.): U.-Legenden im Kölner Druck. Faks.ausg. mit einem Verz. der volkssprachlichen und lat. U.-Legenden im Kölner Inkunabel- und Frühdruck. Köln 1992; ead.: Überlieferung und Druck. Heiligenlegenden aus frühen Kölner Offizinen. Tübingen 1996, 89⫺119. ⫺ 25 Bergmann, R.: Katalog der dt.sprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des MA.s. Mü. 1986, 534, num. 274. ⫺ 26 cf. Elisabeth von Schönau, Relevationes de sacro exercitu virginum Colonensium,
Kap. 7 sq. ⫺ 27 Erstmals erwähnt in der ,Ersten Passio‘, Kap. 18, 19; cf. Analecta Bollandiana (wie not. 12). ⫺ 28 Zehnder (wie not. 2) 10. ⫺ 29 Sauerborn, F.-D.: Heinrich Glarean und die Kölner U.legende von 1507. In: Zwingliana 24 (1997) 19⫺57 (mit Textedition). ⫺ 30 Arbogasti Strub Glaronesii Orationes duae. Wien 1511 (mit Widmungsbrief an Zwingli); Vadian, J.: Lat. Reden. ed. M. Gabathuler. St. Gallen 1953, 2⫺21 (mit Übers.). ⫺ 31 Schnyder, A.: Die U.bruderschaften des SpätMA.s. Bern 1986 (mit älterer Lit.); Militzer, K.: U.bruderschaften in Köln. In: Jb. des köln. Geschichtsvereins 66 (1995) 35⫺45. ⫺ 32 cf. Zehnder (wie not. 6) Abb. 71; id. (wie not. 2) 138⫺140. ⫺ 33 cf. LCI 8, 525⫺527; Tervarent (wie not. 2). ⫺ 34 cf. Zehnder (wie not. 6) 58 (mit Abb.); id. (wie not. 2) 140⫺145. ⫺ 35 Vita et martyrium S. Ursulae et sociarum undecim millium virginum. Köln 1647; Auctarium sive liber duocimus [sic] S. Ursulae vindicatae. Köln 1669. ⫺ 36 cf. AS Okt. 9 (1869) 201.
Muri
Andre´ Schnyder
Urteil 1. Begriff ⫺ 2. Der Richter und sein U. ⫺ 3. Ungerechte, vorschnelle und willkürliche U.e ⫺ 4. Kluge U.e ⫺ 5. Sich selbst unwissentlich das U. sprechen
1 . B eg ri ff. Ein U. im engeren Sinne ist ein von einem Rechtsfinder (weltlicher oder geistlicher J Herrscher oder der von ihm eingesetzte Vertreter, J Richter oder J Schiedsrichter) aufgrund vorgängiger Verhandlung ergangener Beschluß; es gründet auf der Beurteilung einer Sachlage und auf der Entscheidung über J Wahrheit oder Unwahrheit einer Aussage1. Das U. klärt die Frage der J Schuld, umfaßt Maßnahmen zur Besserung bzw. J Strafen bis hin zur Todesstrafe und nimmt Stellung zur Rechtmäßigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit eines Anspruchs (J Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit). Eine drakonische Strafe meint ein sehr hartes U. und verweist auf den athen. Gesetzgeber Drakon und die von ihm geschaffenen äußerst strengen Gesetze (um 624 a. Chr. n.). Die Praxis der U.sfindung durch ein Zeichen Gottes war bis ins 13. Jh. hinein verbreitet, wenn der Beweis durch J Zeugen versagte. Die J Gottesurteile beruhten auf dem Glauben, daß Unschuldige in der Probe, die zu bestehen war, von der Gottheit geschützt wurden. In Legenden werden sogar Zeugen aus dem Grab oder der Hölle aufgeboten, um
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den Prozeß zu einem richtigen U. zu führen (AaTh/ATU 756 C*: J Zeuge aus der Hölle). Allen Weltreligionen gemeinsam ist die Vorstellung, daß ein Herrscher und Richter der Toten mit Hilfe eines Tatenregisters ein letztes U. über jeden einzelnen verhängt, das bestimmt, wo dessen Seele sich aufhalten darf (Mot. E 750; J Buch des Lebens). Das Individualgericht sofort nach dem Tode geht dem J Jüngsten Gericht über alle Menschen am Weltende voraus (Mot. V 313). 2 . D er Ri ch te r u nd se in U. Der Richter vertritt kraft seines Amtes das offizielle Recht und fällt zur Vermeidung von Selbstjustiz bei Rechtsstreitigkeiten sowie -verletzungen U.e (J Rechtsfälle, J Rechtsvorstellungen). Es ist ein schon in der Antike geprägter Rechtsgedanke, daß jeder Richter an sein eigenes U. gebunden ist, selbst dann, wenn es wider Erwarten gegen ihn selbst ausschlägt2. Weiß der U.sfinder nicht, gegen wen das U. ergeht, so ist mit der Anwendung dieses Rechtsprinzips zugleich ein großes Maß an Unparteilichkeit gesichert; das Pfänderspiel, dessen rechtshist. Bedeutung anerkannt ist, basiert auf dem gleichen Prinzip (alle Pfänder werden verdeckt)3. Vielfach findet sich der Rechtsbrauch von der Bindung an den eigenen U.sspruch in (rechts)geschichtlichen Zeugnissen aus verschiedenen ZA.n und Kulturen dokumentiert. Hervorzuheben sind etwa die Schicksale von griech. Herrschern bzw. Gesetzgebern wie Kreon4, Charondas (Mot. M 11)5 oder Zaleucus (Mot. M 13)6, welche als erste die unnachgiebige Strenge ihrer eigenen U.e spüren, als sie bei Verstößen gegen die von ihnen erlassenen Gesetze kompromißlos der Gerechtigkeitsidee verpflichtet auf der Ausführung der Strafe an sich selbst oder an nahen Verwandten bestehen. Drastisch ist auch das U. des Perserkönigs Kambyses, der die Haut des korrupten Richters Sisamnes über den Richterstuhl spannen ließ, damit dessen Sohn besser urteilen lerne (Mot. J 167)7. Öfter jedoch herrscht die Einsicht, daß die strikte Anwendung auch allg. akzeptierter U.e nicht unbedingt das letzte Mittel ist: Ein weiser und gerechter Richter urteilt aufgrund seiner Erkenntnisse und seines gesunden Menschenverstandes, stellt manchmal die Einhaltung einer bindenden Vereinbarung in Frage
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und urteilt nach Maßgabe der Billigkeit, ohne gegen den Wortlaut des Gesetzes zu verstoßen (z. B. AaTh/ATU 890: J Fleischpfand). 3 . U ng er ec ht e, vo rs ch ne ll e u nd wi ll k ür li ch e U . e. In mehreren Erzählzusammenhängen wird vor vorschnellen oder falschen U.en gewarnt (cf. auch AaTh/ATU 910 B: cf. Die klugen J Ratschläge). Ein ungeborenes Kind, das im Bauch der Mutter zu sprechen anfängt, enthüllt, daß ein gefälltes U. ungerecht ist (Mot. T 575.1.1.3; J Kind spricht [weint] im Mutterleib). Im Peregrinaggio (1557) des J Christoforo Armeno8 z. B. und in vielen anderen Var.n zu AaTh/ATU 875 D: The Clever Young Woman at the End of the Journey begegnet das Motiv des toten Fischs, der über das törichte Verfahren eines Richters laut auflacht, da dieser geringe Vergehen bei Fremden streng verurteilt, während er die schweren Vergehen im eigenen Haushalt übersieht. Vor allem im Zusammenhang mit J Mordgeschichten wird vielfach von falschen oder willkürlichen U.en berichtet, welche die öffentliche Meinung stark erregt haben. So widmet S. J Goulart ein Kap. seiner in Europa im 17. Jh. weitverbreiteten und öfter aufgelegten Exempelsammlung Thre´sor d’histoires admirables et me´morables de nostre temps9 vorschnellen U.en, kritisiert die traurigen Justizverhältnisse seiner Zeit und beklagt die Unfähigkeit von Richtern. In Märchen wird ein U. oft ohne vorangegangene Untersuchung gesprochen und die grausame Strafe vollzogen. Dies dürfte damit zusammenhängen, daß das Genre handlungsorientiert ist und längere Ausführungen auf Kosten der Dynamik und Spannung gehen. So befiehlt der König auf bloße J Verleumdung hin die Tötung seiner Frau oder Tochter (z. B. AaTh/ATU 451: Das unschuldig verleumdete J Mädchen). Auch in AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens verstößt der König, der zusammen mit seinen Räten ein Todesurteil über seinen jüngsten Sohn ausspricht, ohne dessen Version des Hergangs anzuhören (cf. auch die Rahmenerzählung in J Sieben weise Meister), gegen den Rechtsgrundsatz, nach dem beide Parteien richterliches Gehör finden müssen10. Die Verurteilung von Märchenprotagonisten zum Tode steht selten in einem Verhältnis
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zu dem von ihnen begangenen Vergehen und verlangt daher nach einer Aufhebung: In AaTh/ATU 567 A: cf. Das wunderbare J Vogelherz etwa fordert die Stiefmutter wegen Beleidigung die Tötung ihrer beiden Stiefkinder; die Ehefrau in AaTh/ATU 612: Die drei J Schlangenblätter erwirkt das Todesurteil gegen ihren Ehemann, indem sie ihn fälschlich eines Diebstahls bezichtigt. Doch wird das U. nicht vollstreckt und der wahre Sachverhalt rechtzeitig aufgedeckt. Steht der Märchenprotagonist vor Gericht, so läßt der Richtende Gnade vor Recht ergehen oder gewährt einen letzten Wunsch (J Gnade, letzte), ein Recht, mit dem der Handlungsträger ⫺ falls er es versteht, es trickreich oder redegewandt einzusetzen ⫺ das U. unterlaufen kann11. Für die Richtenden kann sich die Gewährung dieses Rechts jedoch als fatal erweisen: So muß der Richter mitsamt den Schreibern und Gerichtsdienern in AaTh/ATU 592: J Tanz in der Dornhecke bis zur Aufhebung des U.s ununterbrochen tanzen. In der Legende wird ein U. durch Intervention eines Heiligen aufgehoben, indem der Gehenkte lebendig bleibt (J Jakobspilger) oder durch ein Mirakel wieder lebendig wird, wie in dem Wunder von St. Quentin12. Mitunter wird von regelrecht absurden Willkürurteilen erzählt, wie z. B. in AaTh/ATU 1660: J Stein für den Richter. Der U.sfinder trifft seine für den Angeklagten günstige Entscheidung nicht aus Dienstbarkeit an einer höheren Gerechtigkeit, sondern in der Hoffnung auf ein J Bestechungsgeld. 4 . K lu ge U. e. Zahlreiche schriftl. und mündl. tradierte Erzählungen thematisieren kluge, weise oder schlaue Formen der U.sfindung, die den J Scharfsinnsproben verwandt sind. Unter dem weitgefaßten Oberbegriff J Salomonische U.e werden Lösungen von Rechtsfällen subsumiert, in denen sich oft der Triumph von Lebensklugheit über Schulweisheit offenbart (cf. ATU 1543 E*: J Baumzeuge; AaTh/ATU 920 C: J Schuß auf den toten König; AaTh/ATU 976: Die vornehmste J Handlung). Im Episodenschwank AaTh/ATU 1534: Die U.e des J Schemjaka z. B. hilft ein Richter einem Mann, der unabsichtlich eine Reihe von Unfällen verursacht hat, durch konsequente Anwendung der J Talion aus der
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Klemme. Eine Ehefrau bewirkt durch ihr umsichtiges Handeln, daß ein absurdes U. durch eine ebensolche Empfehlung konterkariert werden kann (J Ad absurdum führen; AaTh/ ATU 875: Die kluge J Bauerntochter). Je nach hist. oder geogr. Rahmenbedingungen oder den Intentionen des Erzählers werden solche Formen der Wahrheitsfindung als klug und gerecht, schlau, aber ungerecht oder auch als absurd bzw. dumm gewertet. 5 . S ic h s el bs t u nw is se nt li ch da s U . s pr ec he n. In Märchen und Sagen begegnet analog zu älteren Vorstellungen mehrfach das Erzählmotiv, daß sich eine Erzählfigur selbst unwissentlich das U. spricht (Mot. Q 581; cf. J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung)13. Manchmal geht aus der Handlung nicht klar hervor, ob der U.sfinder (oft ein König) die Selbstäußerung durch seine Entscheidung bestätigt. Doch ist anzunehmen, daß die Strafe auf den U.sspruch des Richtenden zurückgeht. Es vollzieht sich eine Art vollkommene Gerechtigkeit im alttestamentlichen Sinne von ,Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ (Gen. 21,24), welche die Märchenhelden zudem von der Verantwortung für die Härte der Strafe enthebt14. Die wissentliche oder (häufiger) unwissentliche Selbstverurteilung wird oft durch die Frage ,Was verdient derjenige […]?‘ provoziert und bildet in Märchen die für die Zuhörer/ Leser trotz ihres toposhaften Charakters immer wieder überraschende Schlußpointe, wobei das grausame U. (z. B. Hinrichtung im J Nagelfaß) doppelt erwähnt wird: Dabei wird zuerst verkündet und dann vollstreckt, was die Spannung und Wirkung der Handlung abermals erhöht (cf. z. B. KHM 111, AaTh/ATU 304: Der gelernte J Jäger; KHM 135, AaTh/ ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut; KHM 89, AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf )15. 1 cf. allg. Schild, W.: Die Geschichte der Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtssprechung. 1000 Jahre Grausamkeit. Hintergründe, U.e, Aberglaube, Hexen, Folter, Tod. Hbg 1997. ⫺ 2 Röhrich, Redensarten 3, 1663 sq. ⫺ 3 ibid., 1164. ⫺ 4 Hunger, H.: Lex. der griech. und röm. Mythologie. Wien 61969, 40⫺42. ⫺ 5 Tubach, num. 344. ⫺ 6 Tubach und Dvorˇa´k, num. 1944; cf. Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, 56 sq. ⫺ 7 Tubach, num. 2859; Dömö-
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tör, num. 210; Moser-Rath, Schwank, 184. ⫺ 8 Die Reise der Söhne Giaffers. Aus dem Ital. des Christoforo Armeno […]. ed. H. Fischer/J. Bolte. Tübingen 1895, 216. ⫺ 9 Goulart, S.: Thre´sor d’histoires admirables et me´morables de nostre temps 1. Genf 1610, 193⫺298. ⫺ 10 Hamacher, P.: Die Maxime audiatur et altera pars im Völkerrecht. (Diss. Wien 1985) Wien u. a. 1986; Tavolari, P.: Das Recht auf Gehör und die Anhörungsrüge. Hbg 2008. ⫺ 11 Uther, H.-J.: Der letzte Wunsch. Zu Rechtsvorstellungen in Volkserzählungen. In: Lox, H./Lutkat, S./ Kluge, D. (edd.): Dunkle Mächte und was sie bannt/ Recht und Gerechtigkeit im Märchen. Krummwisch 2007, 217⫺233. ⫺ 12 Hattenhauer, H.: Das Recht der Heiligen. B. 1976, 12⫺31. ⫺ 13 Lüthi, M.: Zur Präsenz des Themas Selbstschädigung in Volkserzählungen. In: Vk. Fakten und Analysen. Festschr. L. Schmidt. Wien 1972, 482⫺495; Erler, A.: Sich selbst das U. sprechen. In: Oberdt. Zs. für Vk. 17 (1943) 143⫺155; Ludwig, O.: Richter und Gericht im dt. Märchen. Bühl 1935, bes. 42; Shojaei Kawan, C.: Rechtsverwirklichung und Rechtsverdrehung im europ. Volksmärchen. In: Lox u. a. (wie not. 11) 168⫺199, hier 172⫺174, 198 sq. ⫺ 14 cf. Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 147 sq. ⫺ 15 Shojaei Kawan (wie not. 13) 171 sq., 198 sq.
Mariakerke
Harlinda Lox
Uruguay. Das niedrige Tafelland mit Grassteppen am nördl. Ufer der Mündung des Rı´o de la Plata und östl. des Rı´o U. wurde 1516 von den Spaniern in Besitz genommen. Die nicht sehr zahlreichen indian. Ureinwohner (Charru´as, Guenoas, Yaros, Chana´es) wurden in der Kolonialzeit ausgerottet1. Die Besiedlung des lange umstrittenen Grenzgebiets zwischen dem port. und dem span. Herrschaftsbereich2 setzte erst im späten 17. Jh. ein. Die Einwanderung aus Europa (Spanier, Italiener, Franzosen, Basken, Deutsche) verstärkte sich seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s und brachte eine wachsende Verstädterung mit sich. 1828 wurde U., der zweitkleinste Staat des südamerik. Subkontinents, von Spanien unabhängig. Die Zahl der Einwohner betrug 2008 ca 3,5 Millionen; die meisten sind die Nachkommen europ. Einwanderer, Mestizen und Mulatten umfassen 8 %, die Nachkommen afrik. Sklaven 4 %. Die außer in U. vor allem in Argentinien, Paraguay und Südbrasilien lebenden Gauchos, mestizische Hirten, Reiter und Viehzüchter mit eigenen Lebensformen, die sich in den Pampas Argentiniens und Südbrasiliens entwickelten, sind Nachkommen von Spaniern
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und Indios; sie trugen wesentlich zum wirtschaftlichen Aufschwung bei. Die ethnohist. Forschung beschäftigt sich erst seit der 2. Hälfte des 20. Jh.s mit den Spuren früherer indigener Kulturen auf uruguay. Territorium. Die Überlieferung von Mythen und Erzählungen ist im länderübergreifenden Großraum noch lebendig und weist enge Beziehungen vor allem zum Erzählgut J Argentiniens auf 3. Für die Vermittlung nach U. dürften die Gauchos eine gewisse Rolle gespielt haben4. Afro-amerik. Überlieferungen in U.5 gehen auf entflohene und freigelassene Sklaven zurück. Als erster befaßte sich der Dichter und Schriftsteller Ildefonso Pereda Valde´s (1899⫺1996), der auch als Wegbereiter der kulturanthropol. und ethnogr. Studien in U. gilt, mit den afrik. Einflüssen6. Die afrouruguay. Bevölkerung lebt vorwiegend in Montevideo7. Das geringe soziale Ansehen der Gauchos wurde in den Befreiungskriegen zu Beginn des 19. Jh.s durch ihren kämpferischen Einsatz aufgewertet und danach literar. überhöht. Der payador, der Geschichtenerzähler im Sprechgesang oder Gesangswettstreit (desafı´o), stieg zur Leitfigur des nationalen Selbstverständnisses auf 8. Romane, z. B. von Alejandro Magarin˜os Cervantes (Caramuru´, 1848; Leyendas, 1854), und Versepen, z. B. von Antonio Dionisio Lussich (Los tres gauchos orientales, 1872), stellen den Gaucho ebenso idealisiert dar wie den Charru´a-Indio nach dem Untergang des Stammes im epischen Gedicht Tabare´ (1888) des Juan Zorrilla de San Martı´n. Die Erzähl- und Jugendliteratur des Costumbrismo, einer literar. Strömung des Realismus, greift vielfach auf traditionelle Figuren, Stoffe und Motive zurück9, z. B. im Werk von Ferna´n Silva Valde´s (1887⫺1975)10, Adolfo Montiel Ballesteros (1888⫺1971)11, Francisco Espı´nola (1901⫺73)12 und Serafı´n Jose´ Garcı´a (1905⫺85)13. Auffallend beliebt in mündl. Überlieferungen wie auch in der Lit. der La Plata-Region sind Tiergeschichten, in denen der J Fuchs als Protagonist erscheint14. Horacio Quiroga (1878⫺1937), einer der berühmtesten uruguay. Schriftsteller, hat in seine Erzählungen (Cuentos de la selva, 1918; Anaconda, 1921; Ma´s alla´, 1935), Kinderbücher und Romane (Los desterrados [1926]) zahlreiche Motive und Stoffe aus indian. Überlieferung ein-
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Usbeken
gearbeitet15. Die Dichterin Juana Ibarbourou (1895⫺1979) greift in Chico Carlo (1944) ebenfalls auf die in ihrer Jugendzeit lebendigen Erzählüberlieferungen zurück. Im 20. Jh. wuchs der Abstand zwischen ländlichen Lebensformen mit ihren Traditionen und der städtischen Volkskultur mit Zauber- und Geistergeschichten16 sowie Erzählungen über Werwölfe17. 1
Zano´n, A. J. (ed.): Pueblos y culturas aborı´genes del U. Charru´as, minuanes, chana´es, guaranı´es. Montevideo 1998; Vidart, D.: El mundo de los charru´as. Montevideo 1996; id.: El rico patrimonio de los orientales. Montevideo 2003; Blixen, H.: La nar´ lrativa oral chana´. Montevideo 2000; Abella, G./A varez, A.: La memoria invencible. Montevideo 2003 (nach Charru´a-Legenden); Bracco, D.: Charru´as, guenoas y guaranı´es. Interaccio´n y destruccio´n en el Rı´o de la Plata. Montevideo 2004; Gimeno Sanz, J. M.: ¿Charru´as o guaranı´es? Importancia de nuestro universo ancestral indı´gena y algunas de sus distintas etnias en el U. Montevideo 2006; Houot, A.: Charru´as y guaranı´es en la literatura uruguaya del siglo XIX. Realidad y ficcio´n. Montevideo 2007. ⫺ 2 Schröter, B.: Die Entstehung einer Grenzregion. Wirtschaft, Ges. und Politik im kolonialen U. 1725⫺ 1811. Köln 1999. ⫺ 3 Lo´pez Bre´ard, M. R.: Diccionario folklo´rico guaranı´tico. Asuncio´n 2006; Padro´n Favre, O.: Sangre indı´gena en el U. Montevideo 1986; Blache, M.: Estructura del miedo. Narrativas folklo´ricas guaranı´ticas. Buenos Aires 1982; Clastres, H.: La tierra sin mal. El profetismo tupi-guaranı´. Buenos Aires 1989; Clastres, P.: La palabra luminosa. Mitos y cantos sagrados de los guaranı´es. Buenos Aires 1993; Ganson, B. T.: The Guarani under Spanish Rule in the Rio de la Plata. Stanford 2003; Sole´ Rodrı´guez, O.: Leyendas guaranı´es. Impresiones, tradiciones, ane´cdotas. Montevideo 1902; Yampey, G.: Mitos y leyendas guaranı´es. Asuncio´n 2003; Verza, E. L.: Leyendas del universo guaranı´. Buenos Aires 2006. ⫺ 4 Marin˜o, R.: Compendio de literatura gauchesca del U. Montevideo 22008. ⫺ 5 Mills Young, C.: U. In: The Greenwood Enc. of African American Folklore 3. ed. A. Prahlad. Westport, Conn./L. 2006, 1328⫺1332. ⫺ 6 Pereda Valde´s, I.: El negro rioplatense y otros ensayos. Montevideo 1937; id.: El negro en el U. Pasado y presente. Montevideo 1965; cf. auch Carvalho Neto, P. de: La obra afro-uruguaya de I. Pereda Valde´s. Montevideo 1955. ⫺ 7 Tro´ccoli, J. N. F.: Jinetes africanos. La magia, la mitologı´a, la historia y los rituales de las religiones afrobrasilen˜as del U. Montevideo 1999; Lewis, M. A.: Afro-Uruguayan Literature. Postcolonial Perspectives. Lewisburg 2003; Abella, G.: Mitos, leyendas y tradiciones de la Banda Oriental. Montevideo 2001. ⫺ 8 Santomauro, H. N.: Sobre gauchos y payadores. s. l. 1998; Schlickers, S.: „Que yo tambie´n soy pueta.“ La literatura gau-
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chesca rioplatense y brasilen˜a (siglos XIX y XX). Madrid 2007; Acevedo, M.: El alma del payador. Montevideo 1997. ⫺ 9 Neira, L./Obaldia, J. M.: U. In: LKJ 3 (1984) 657⫺660. ⫺ 10 Silva Valde´s, F.: Cuentos y leyendas del Rı´o de la Plata. Buenos Aires 1941; id.: Cuentos del U. Evocacio´n de mitos, tradiciones y costumbres. Madrid 1966. ⫺ 11 z. B. Montiel Ballesteros, A.: Cuentos uruguayos. Florenz 1920; id.: Fa´bulas y cuentos populares. Montevideo 1928; id.: Fa´bulas. Motivos americanos. Montevideo 1928; id.: Nuevas fa´bulas. Motivos americanos. Montevideo 1932; id.: Fa´bulas, mitos y leyendas indoamericanas. Buenos Aires 1946; id.: Querencia. Cuentos uruguayos. Montevideo 1941. ⫺ 12 Espı´nola, F.: Cuentos completos. ed. A. I. Larre Borges. Montevideo 2006. ⫺ 13 cf. Garcı´a, S. J.: Panorama del cuento nativista del U. Montevideo 1943; cf. auch Rocca; P.: El cuento rural (1920⫺1970). Montevideo 1998. ⫺ 14 z. B. Garcı´a Sa´iz, V.: El narrador gaucho. Novela en cuentos. Montevideo 1945; Montiel Ballesteros, A.: Vida y mundo de Juancito el Zorro. Santa Fe 1947; Espı´nola, F.: Don Juan, el Zorro. Montevideo 1991; Garcı´a, S. J.: Las aventuras de Juan el Zorro. Montevideo 1950; id.: La vuelta al camino. Nuevas andanzas de Juan el Zorro ˜ andu´. Montevideo 1970; Monegal, J.: Memoy el N rias de Juan Pedro Camargo. Montevideo [21968]; Villafan˜e, J./Rolda´n, G.: Don Juan el Zorro. Vida y meditaciones de un pı´caro. Buenos Aires 1989; Vayra, R.: Las aventuras de Juan el Zorro. La venganza del tigre. Montevideo 2006; cf. Gropp, N.: Don Juan, El Zorro. Otros abordajes. In: Hermes criollo 2,3 (2002) 87⫺94. ⫺ 15 Quiroga, H.: Cuentos completos. ed. C. Da´maso Martı´nez. Buenos Aires 1997; id.: Nuevos cuentos de la selva. ed. C. Crouzeilles. Buenos Aires 1997; Rocca, P.: Horacio Quiroga. El escritor y el mito. Montevideo 1996; Pasteknik, E. L.: El mito en la obra de H. Quiroga. Buenos Aires 1997. ⫺ 16 Iturrı´a, R.: Tratado de folklore. Montevideo 2006; Garcı´a Sa´iz, V.: Leyendas y supersticiones del U. Cuentos. Montevideo 1957; Faget, E.: Folklore ma´gico del U. Montevideo 1969; Pereda Valde´s, I.: Proverbios y refranes. Paremiologı´a folklo´rica. Montevideo 1998; Neira, L./Puppo, T.: Cuentos del folklore ma´gico del U. Montevideo 1991; Abella, G.: Mitos, leyendas y tradiciones de la Banda Oriental. Montevideo 2001; Ganduglia, N.: Historias de Montevideo ma´gico. Saberes y encantamientos en las leyendas populares de la ciudad. Buenos Aires 2006. ⫺ 17 Neira, L.: Cuentos de lobisones. Montevideo 2006.
Wolfenbüttel
Dietrich Briesemeister
Usbeken. Die turksprachigen U. (Eigenbezeichnung O‘zbek) leben in der Republik Usbekistan (2005 ca 20 Millionen) und im Norden Afghanistans (ca 3 Millionen). Der Name
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Usbeken
der U. wird von Özbek (1313⫺40 Chan der Goldenen Horde) hergeleitet. Seit dem 15. Jh. drangen usbek. Nomadenverbände aus der Steppe nördl. des Aralsees nach Süden auf das Gebiet des heutigen Usbekistan vor, wo sich bereits seit dem 6. Jh. Turkstämme neben der seit dem Altertum dort lebenden iran. Bevölkerung angesiedelt hatten. Unter dem Chan Abu¯ l-Fathø Muhø ammad Sˇaiba¯nı¯ (1451⫺1510) beendeten die U. die Herrschaft der turksprachigen Timuriden. Unter wechselnden Dynastien lebte die z. T. zweisprachige (usbek./tadschik.) Bevölkerung in den drei Chanaten Buchara, Chiwa und Kokand, bis 1924 die sowjet. Republiken Usbekistan und Tadschikistan (J Tadschiken) gegründet wurden. Seit 1991 ist Usbekistan unabhängig1. Das mündl. überlieferte Erzählgut (früher: el adabiyatı¨, heute: xalq adabiyoti, folklor) spielte bei den U. neben der schriftl. Überlieferung stets eine große Rolle. Im 20. Jh. erfreuten sich die Epen (doston) bes. Aufmerksamkeit, so das Epos Alpomish2, das von der langjährigen und von Kämpfen begleiteten Suche des Recken nach der ihm versprochenen Braut aus der Sippe des Onkels handelt, und die zahlreichen zum Go‘ro‘g‘li-Zyklus (J Körog˘lu) gehörenden Erzählungen3. Beliebt waren auch einzelne romantische Epen: In Orzigul werden die Abenteuer der Heldin durch den inzestuösen Wunsch ihres Vaters, die eigene Tochter zu heiraten, ausgelöst (Mot. S 322.1.2); Kuntug‘mish handelt von einer schicksalhaften Trennung und glücklichen Wiedervereinigung (cf. AaTh/ATU 938: J Placidas). Epen stehen oft in Wechselbeziehung mit Märchen4; bes. deutlich ist das beim Epos Xurshidoy, das AaTh/ ATU 883 A: Das unschuldig verleumdete J Mädchen nahesteht5, wobei der Verführungsversuch verdreifacht ist und die junge Frau am Ende als Bettler verkleidet durch das Erzählen des eigenen Schicksals die Bestrafung der Schuldigen erreicht. Die Epen werden von speziellen Sängern (shoir, baxshi) in Begleitung der Laute (do‘mbira) vorgetragen. Ihr Text war wandelbar und wurde jeweils zeittypisch adaptiert6. Im 20. Jh. waren ca 200 Sänger bekannt; aufgezeichnet und publiziert wurden u. a. die Epen der Sänger Ergash Jumonbulbul o‘g‘li (1868⫺1937), Fozil shoir (1872⫺1955), Islom shoir (1874⫺1953) und Po‘lkan shoir (1874⫺1941).
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In der mündl. Überlieferung der U. weit verbreitet sind Zaubermärchen (z. B. Var.n von AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter7 oder AaTh/ATU 314: J Goldener8) und Tiermärchen. Im Zentrum von Schwankmärchen stehen die Figuren eines Schabernack treibenden Jungen9 und des Kal (J Kahlkopf), der sich durch Witz und Dreistigkeit aus auswegslosen Situationen rettet und gern Lügengeschichten erzählt10. Den Schwankmärchen stehen die Anekdoten (latifa) über Afandi (J Hodscha Nasreddin) nahe, an deren Aufzeichnung sich Dichter wie Abdulla Qahhor und Sobir Abdulla beteiligten11. Witzige Dialoge (askiya) sind bes. im Ferghanatal beliebt12. Auch Sagen (rivoyat, afsona), darunter ätiologische Erzählungen über Orte und Volksstämme, wurden primär mündl. überliefert13. Unter den kleineren Gattungen sind Rätsel (topishmoq)14, Sprichwörter (maqol)15 und Lieder (qo‘shiq, ashula) zu beachten, darunter lyrische Lieder (terma), die Epen einleiten können, Wiegenlieder (alla), Hochzeitslieder (yor-yor) und Scherzlieder (lapar)16. Die mündl. Überlieferung ist z. T. durch schriftl. Quellen beeinflußt, so etwa die Volksbücher (xalq kitobi). Hierunter versteht man seit ca 1900 veröff. Prosafassungen traditioneller Dichtungen und prosimetrische Legenden (qisøsøa) über hist. Gestalten der islam. Frömmigkeit, wie ¤Alı¯, den Cousin und Schwiegersohn des Propheten J Mohammed, oder den Mystiker Uways al-Qaranı¯ (7. Jh.)17. Mündl. Erzähltes war bereits seit dem 19. Jh. hin und wieder aufgezeichnet worden18. Um 1920 begann die systematische Slg und Publ. verschiedener Genres. Die Institutionen, die der 1943 gegründeten Usbek. Akad. der Wiss. vorausgingen, unterstützten die ersten von G‘. O. Yunus (ca 1893⫺1938), G‘. Zafariy (1889⫺1938) und Elbek (Pseud. von M. Yunus, 1898⫺1939) geleiteten Expeditionen19; an einer von ihnen beteiligte sich 1929 K. H. Menges (1908⫺99)20. Mit dem gewaltsamen Tod vieler Wissenschaftler in der Stalinzeit ging der größte Teil des gesammelten Materials verloren. Fortan archivierte die Usbek. Akad. der Wiss. die Texte, die Forscher der nächsten Generationen wie B. Karimov (1906⫺45), H. Zarifov (1905⫺72), M. Alaviya (1909⫺88) und M. Afzalov (1910⫺73) zusam-
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Usbeken
mentrugen. Es war üblich, das Material zu bearbeiten, etwa indem religiöse Begriffe oder gegen Personen anderer Nationalität gerichtete Witze getilgt oder Dialekttexte in die Hochsprache übertragen wurden. Das wiss. Interesse galt Details der poetischen Gestaltung21 und regionalen Gesichtspunkten22. Die Hauptarbeit richtete sich jedoch auf die Publ. aller Genres in einzelnen Bänden und in der Reihe O‘zbek xalq ijodi ([Usbek. Volksschaffen] 1964 sqq.). Ferner wurden ein Epenkatalog23 und Lehrbücher für Hochschulen verfaßt24. B. Sarimsoqov erweiterte das Forschungsspektrum durch Arbeiten über Reimprosa, Regen- und Windbittgedichte sowie Fluchverse25. Eine profunde inhaltliche Klassifizierung der Epen hatten V. M. J Zˇirmunskij und H. Zarifov 1947 vorgelegt, ihr folgte ein weiterer Überblick Zˇirmunskijs zu den Heldenepen der Turkvölker26. K. Reichl, der Märchen und Epen mit Übers. und Kommentar herausgab, führte die Gesamtschau mit neuen Überlegungen zur Struktur der Epen und zur Vortragsweise fort27. Märchenmotive und Motive der Stoffgestaltung verglich J. Taube28. Für die mündl. Dichtung der U. in Afghanistan, deren Erforschung G. Jarring begonnen hatte29, sind die jüngeren Arbeiten von I. Baldauf (geb. Thalhammer) wegweisend30. 1
cf. Barthold, W.: Zwölf Vorlesungen über die Geschichte der Türken Mittelasiens. Hildesheim 21962; Spuler, B.: Geschichte Mittelasiens seit dem Auftreten der Türken. In: Jettmar, K. u. a. (edd.): Geschichte Mittelasiens. Leiden/Köln 1966, 123⫺310; Allworth, E. A.: The Modern Uzbeks. From the Fourteenth Century to the Present. Stanford, Calif. 1990; Soucek, S.: A History of Inner Asia. Cambr. 2000. ⫺ 2 cf. Reichl, K.: Das usbek. Heldenepos Alpomish. Wiesbaden 2001; Mirzayev, T.: „Alpomish“ dostonining o‘zbek variantlari (Usbek. Var.n des Epos Alpomish). Taschkent 1968; Imomov, K. (ed.): „Alpomish“ ⫺ o‘zbek xalq qahramonlik eposi (Alpomish ⫺ ein usbek. Heldenepos). Taschkent 1999. ⫺ 3 Karryev, B. A.: E˙picˇeskie skazanija o Kerogly u tjurkojazycˇnych narodov (Epische Erzählungen über Köroglu bei den Turkvölkern). M. 1968; Reichl, K.: Rawsˇan. Ein usbek. mündl. Epos. Wiesbaden 1985. ⫺ 4 cf. Jalolov, G‘.: O‘zbek folklorida janrlararo munosabat (Wechselbeziehungen zwischen den Genres in der usbek. Volksüberlieferung). Taschkent 1979, 97⫺119; Sarimsoqov, B.: Epik janrlar diffuziyasi (Wechselseitige Durchdringung der epischen Genres). In: O‘zbek folklorining epik janrlari. ed. B. Sayimov/G‘. Mo’minov. Taschkent 1981,
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97⫺148. ⫺ 5 Xurshidoy. ed. H. Zarif. In: Oysuluv, Oychinor, To‘lg‘onoy, Xurshidoy, Yakka Ahmad. Dostonlar (O‘zbek xalq ijodi). Taschkent 1984, 172⫺213. ⫺ 6 cf. Zˇirmunskij, V. M./Zarifov, H. T.: Uzbekskij narodnyj geroicˇeskij e˙pos (Das usbek. Heldenepos). M. 1947, 501. ⫺ 7 Laude-Cirtautas, I.: Märchen der U. MdW 1984, num. 8; cf. Keller, G./ Rachimov, C.: Märchen aus Samarkand. Kirchzarten 2001 (32004), 23⫺29, 141⫺145. ⫺ 8 Laude-Cirtautas (wie not. 7) num. 18; Taube, J.: Der halbe Kicherling. Usbek. Märchen. Lpz. 1990, 79⫺85. ⫺ 9 z. B. in O‘zbek xalq ertaklari 2. Taschkent 21964, 224⫺226; Oltin Olma. Taschkent 1966, 281⫺283; Taube (wie not. 8) 174⫺178. ⫺ 10 cf. Laude-Cirtautas (wie not. 7) num. 28. ⫺ 11 Nasriddin Afandi. Taschkent 1910; cf. Stein, H.: Der Sündensack. Lpz./Weimar 1991; Yo‘ldasheva, F.: O‘zbek latifalarida Nasriddin Afandi obrazi (Die Gestalt des Nasreddin Afandi in usbek. Anekdoten). Taschkent 1979. ⫺ 12 Muhammadiev, R.: Askiya. Taschkent 1970. ⫺ 13 cf. Imomov, K.: Afsona, rivoyat. In: O‘zbek folklori ocherklari 2. ed. B. Sarimsoqov. Taschkent 1989, 3⫺45. ⫺ 14 z. B. Topishmoqlar. Taschkent 1981, 337⫺363 (Nachwort Z. Husaiˇ agatai. Sprachstudien. nova). ⫺ 15 cf. Va´mbe´ry, H.: C (Lpz. 1967) Amst. 1975, 45⫺58; Ostroumov, N.: Poslovicy i zagadki sartov (Sprichwörter und Rätsel der Sarten). Taschkent 1895; Mirzayev, T./Sarimsoqov, B. (edd.): O‘zbek xalq maqollari (Usbek. Sprichwörter) 1⫺2. Taschkent 1987/88; Ergashev, M./Niyozov, I.: Proverbes et dictons d’Ouzbekistan. Brest 2006. ⫺ 16 cf. Zafariy, G‘./Yunus, M.: Ashulalar. Taschkent 1925; Alaviya, M.: O‘zbek xalq qo‘shiqlari (Usbek. Volkslieder). Taschkent 1959; ead.: O‘zbek xalq marosim qo‘shiqlari (Usbek. Volkslieder bei Lebenszyklusriten). Taschkent 1974; Hamidov, H.: O‘zbek an’anaviy qo‘shiqchiliq madaniyati tarixi (Geschichte der traditionellen usbek. Gesangskultur). Taschkent 1996; Thalhammer, I.: Die Liedkategorien der Özbeken Nordwestafghanistans. Wien 1984; Baldauf, I.: Materialien zum Volkslied der Özbeken Afghanistans 1⫺2. Emsdetten 1989. ⫺ 17 cf. Kleinmichel, S.: Mittelasiat. qisøsøa als Problem turkologischer Forschung. In: Turkologie heute ⫺ Tradition und Perspektive. ed. N. Demir/E. Taube. Wiesbaden 1998, 151⫺170; ead.: H ˚ alpa in Choresm und a¯tin a¯yi im Ferghanatal. Zur Geschichte des Lesens in Usbekistan im 20. Jh. B. 2000. ⫺ 18 z. B. Va´mbe´ry, H.: Jusuf und Ahmed. Ein özbeg. Volksepos im Chiwaer Dialekte. Bud. 1911; Ostroumov, N.: Narodnye skazki sartov (Volksmärchen der Sarten). Taschkent 1892; id.: Skazki sartov (Märchen der Sarten). Taschkent 1906. ⫺ 19 Teilpubl. von Epen, Liedern und Volksschauspieltexten in der Zs. Bilim o‘chog‘i (1922⫺23); Überblick bei Solihov, M. B.: Oktyabrgacha bo‘lgan o‘zbek og‘zaki adabiyoti (Usbek. mündl. Lit. vor der Oktoberrevolution). Taschkent 1935. ⫺ 20 Menges, K. H.: Drei özbek. Texte. In: Der Islam 21 (1933) 141⫺194, 22 (1935) 144⫺162. ⫺
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Usurpator
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z. B. Jalolov, G‘.: O‘zbek xalq ertaklari poetikasi (Poetik der usbek. Volksmärchen). Taschkent 1976; Ashurov, T.: O‘zbek xalq dostonlarida satira va yumor (Satire und Humor in den usbek. Volksepen). Taschkent 1974; cf. allg. O‘zbek xalq ertaklari (Usbek. Volksmärchen). Taschkent 1939, 98⫺111 (Nachwort B. Karimov); Afzalov, M.: O‘zbek xalq ertaklari haqida (Über usbek. Volksmärchen). Taschkent 1964; O‘zbek xalq ijodi bo‘yicha tadqiqotlar (Unters.en zum usbek. Volksschaffen) 1⫺7. Taschkent 1967⫺81. ⫺ 22 z. B. Ro‘zimbayev, S.: Xorazm dostonlari (Epen in Choresm). Taschkent 1985. ⫺ 23 Tursunqulov, A./Turdimov, Sh.: O‘zbek xalq dostonlari katalogi (Verz. der usbek. Volksepen). Taschkent 1986. ⫺ 24 O‘zbek xalq og‘zaki poetik ijodi. Universitetlar […] uchun darslik (Mündl. usbek. Volksdichtung. Lehrbuch für Univ.en […]). Taschkent 1990. ⫺ 25 Sarimsoqov, B.: O‘zbek adabiyotida saj‘ (Reimprosa in der usbek. Lit.). Taschkent 1978; id.: O‘zbek marosim folklori (Mit Riten verbundene usbek. Volksdichtung). Taschkent 1986; id.: Olqish va qarg‘ishlar (Gute Wünsche und Verfluchungen). In: O‘zbek xalq og‘zaki poetik ijodi (wie not. 24) 109⫺115. ⫺ 26 Zˇirmunskij/Zarifov (wie not. 6); Zˇirmunskij, V. M.: Tjurkskij geroicˇeskij e˙pos (Das turksprachige Heldenepos). Len. 1974. ⫺ 27 Reichl, K.: Usbek. Märchen. Bochum 1978; cf. id.: Turkic Oral Epic Poetry. Traditions, Forms, Poetic Structure. N. Y./L. 1992; id.: L’E´pope´e orale turque d’Asie centrale. In: E´tudes mongoles et sibe´riennes 32 (2001) 7⫺162. ⫺ 28 Taube, J.: Welt und Leben in Stickereien und Märchen mittelasiat. Völker. Wiesbaden 1993. ⫺ 29 Jarring, G.: Uzbek Texts from Afghan Turkestan. Lund/Lpz. 1938; id.: A Tall Tale from Central Asia. Lund 1973. ⫺ 30 Thalhammer bzw. Baldauf (wie not. 16).
Berlin
Sigrid Kleinmichel
Usurpator. Usurpation (von lat. usurpare: durch Gebrauch an sich reißen) bezeichnet die widerrechtliche Inbesitznahme der politischen Gewalt, einer sozialen Position oder fremden Eigentums. Der U. im hist.-politischen Sinn gelangt durch die gewaltsame oder listige Verdrängung eines legitimen J Herrschers an die Macht und steht in Hinsicht auf die Unrechtmäßigkeit und Gewaltsamkeit der Machtausübung dem J Tyrannen nahe1. Als Figur, die in grundsätzlicher Form die Frage der Legitimität herrscherlicher und staatlicher Macht sowie der Beseitigung illegitimer Herrschaft aufwirft, ist er häufiges Thema der Lit.2 Dabei kann er, wie etwa der sich ein Amt anmaßende Hauptmann von Köpenick3, auch die Sympathien des Publikums auf seiner Seite haben.
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In der Volksüberlieferung ist der U. eine stark symbolbefrachtete Figur, steht er doch durch seinen Vertrauensbruch (J Verrat) und die Anmaßung einer ihm nicht zustehenden J Rolle paradigmatisch für Betrug (J Täuschung; J Betrüger), J Bosheit und die Verletzung der sozialen (bzw. göttlichen) Ordnung. Als böser J Gegenspieler, der den J Helden um das ihm Zustehende bringen will, ist der U. eine Schädiger-Gestalt (J Schädigung). Er fungiert damit als Hindernis für den Helden, das sich aber letztlich positiv auf dessen Reifung auswirkt, und seine Beseitigung oder Bestrafung bedeutet nicht nur das Glück des Helden, sondern auch die Wiederherstellung der Ordnung. Doch der U. tritt in der Volksüberlieferung auch in anderen Kontexten und Funktionen auf und kann ⫺ etwa als Ehebrecher ⫺ auch komische Seiten haben. In der ma. und frühneuzeitlichen europ. Epik wurde J Karl der Große (Kap. 4.3) in den sog. Empörerepen als tyrannischer Herrscher und U. dargestellt, der ungerechte Machtansprüche erhebt, seinen Sohn gegenüber den Thronvasallen bevorzugt oder die Frau eines anderen begehrt. Bereits in epischen Erzählungen erscheint oft das Motiv der unterschobenen J Braut (Kap. 6) als Form weiblicher Usurpation. Das Motiv der widerrechtlichen Aneignung von Leistungen begegnet in Sagen: Ein Meister blendet oder tötet seinen Lehrling, um dessen schöpferische und handwerkliche Überlegenheit zu beenden (J Meister und Geselle [Lehrling], Kap. 2). Das Motiv ist bereits aus der griech. Mythologie bekannt, aus der Sage von J Dädalus, der seinen erfinderischen Neffen Talos töten will. Im Märchen kann dem Helden die Braut und die künftige Herrschaft durch einen U. genommen werden: durch Ausnutzung von dessen Abwesenheit, J Kleidertausch, J Gestalttausch (cf. AaTh/ATU 678: The King Transfers His Soul to a Parrot) oder andere Formen von Betrug und Gewalt. Dies ist der Fall vor allem in Drachentötermärchen (J Drache, Drachenkampf, Drachentöter; z. B. AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen; AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder), in denen ein Betrüger einen Moment der Schwäche des Helden ausnutzt, ihn beseitigt oder ihn zum Rollentausch zwingt, um dessen Leistungen
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Uther, Hans-Jörg
als die eigenen auszugeben und dessen Stelle einzunehmen (cf. auch AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue)4. Der wahre Held kann oft mit Hilfe J dankbarer Tiere oder eines J Erkennungszeichens (Kap. 7)5 seine Heldentat beweisen und den U. entlarven. In der weiblichen Form solcher Märchen ist es die Magd, Kammerzofe oder eine J Fremde, die die Prinzessin zum Rollentausch zwingt (AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut; AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen; AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen; AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf ) und sich als falsche Braut auch deren Platz im Ehebett anmaßt6. Bezeichnend ist, daß die durch ihren Erfolg geblendeten U.en ihre Lage häufig falsch einschätzen und sich ihr eigenes Todesurteil (J Urteil, Kap. 5) sprechen7. Die Usurpation des Platzes im Ehebett ist ein wichtiges Thema auch von Erzählungen und Erzählliedern zum Thema Ehe und Ehebruch, die überwiegend schwankhaft sind (J Ehebruchschwänke und -witze)8. Um Usurpation handelt es sich, wenn der Beischlaf (aus Rache) erschlichen9 oder erzwungen und dadurch der Platz des Ehepartners unrechtmäßig eingenommen wird. In vielen dieser Fälle ist die Betrachtung einer Figur als U. oder als J Stellvertreter abhängig von der Perspektive der Beteiligten. Dies gilt etwa bei göttlichen Usurpationen (J Amphitryon) oder bei Versuchen, den Ehebruch dadurch zu verhindern, daß die Person, mit der er verübt werden soll, durch den Ehepartner, der betrogen werden soll, ersetzt wird10. Im J Nibelungenlied entsteht der handlungsauslösende Konflikt gerade dadurch, daß Gunthers Stellvertreter J Siegfried für die betrogene Brünhild einen U. darstellt. Aus psychol. Perspektive kann im Märchen ein Familienmitglied im Kontext der engeren Familie als U. betrachtet werden11. Zum einen kann die J Stiefmutter (bzw. der Stiefvater) aus Sicht des Kindes den Platz des verstorbenen Elternteils usurpieren; das Märchen gibt dem Kind ein Ventil für seine „Rachegelüste gegen einen solchen bösen Usurpator“12. Zum andern kann es der gleichgeschlechtliche Elternteil des Kindes sein, der ⫺ entsprechend der Theorie des Ödipuskomplexes (cf. AaTh/ ATU 931: J Ödipus) ⫺ den Platz des Kindes
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„in der Zuneigung des andersgeschlechtlichen Elternteils“ usurpiert13. Das Aufzeigen der Überwindung dieses kindlichen Irrtums und damit die Hilfe zur Reifung gehören nach B. Bettelheim zu den wichtigen Aufgaben des Märchens14. 1 Paschoud, F./Szidat, J. (edd.): Usurpationen in der Spätantike. Stg. 1997; Daemmrich, H. S. und I.: Themen und Motive in der Lit. Tübingen 21995, 20. ⫺ 2 ibid., 20 sq. ⫺ 3 z. B. Zuckmayer, C.: G. W. in Einzelwerken. 8: Der Hauptmann von Köpenick. ed. K. Beck/M. Guttenbrunner-Zuckmayer. Ffm. 1995. ⫺ 4 Ranke, K.: Die zwei Brüder (FFC 114). Hels. 1934, 236⫺240. ⫺ 5 z. B. Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf 1975, 80, 124, 138. ⫺ 6 ibid., 138, 174; Shojaei Kawan, C.: Xenophobie und weibliche Klage im Märchen von den drei Orangen. In: Minderheiten und Mehrheiten in der Erzählkultur. ed. S. Hose. Bautzen 2008, 42⫺ 56. ⫺ 7 Lüthi (wie not. 5) 73, 138; Bettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen. Mü. 181995, 158, 163; Shojaei Kawan, C.: Rechtsverwirklichung und Rechtsverdrehung im europ. Volksmärchen. In: Dunkle Mächte im Märchen und was sie bannt/Recht und Gerechtigkeit im Märchen. ed. H. Lox/S. Lutkat/D. Kluge. Krummwisch 2007, 168⫺199, hier 172⫺174, 198 sq. ⫺ 8 Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977. ⫺ 9 ibid., num. D 41, E 39, 40. ⫺ 10 id.: Die Täuschung im Bett. Das Amphitryon-Motiv in der europ. Volkslit. In: Emig, G./Staengle, P. (edd.): Amphitryon, „Das fasst kein Sterblicher“. Heilbronn 2004, 26⫺38; id. (wie not. 8) num. D 53, E 53⫺56. ⫺ 11 Bettelheim (wie not. 7) 15. ⫺ 12 ibid., 155. ⫺ 13 ibid., 159. ⫺ 14 ibid., 159 sq., 164.
München
Klaus Roth
Uther, Hans-Jörg, * Herzberg (Harz) 20. 7. 1944, dt. Germanist und Erzählforscher. Nach einer Offizierslaufbahn bei der Bundeswehr (1965⫺69) studierte U. 1969⫺70 an der Ludwig-Maximilians-Univ. in München und 1970⫺ 73 an der Georg-August-Univ. in Göttingen Germanistik, Geschichte und Vk. (Abschluß: 1. Staatsexamen für Gymnasiallehrer). 1973⫺ 2009 war er wiss. Mitarbeiter im Redaktionsteam der EM in Göttingen, seit 2009 ist er Mitherausgeber. 1980 wurde U. bei K. J Ranke mit der Diss. Behinderte in populären Erzählungen (B./N. Y. 1981) promoviert. 1994 habilitierte er sich in Germanistik/Lit.wissenschaft/ Volksliteratur an der Gesamthochschule Essen (seit 2003 Univ. Duisburg-Essen). Seit 2000 ist
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Uther, Hans-Jörg
er ebenda außerplanmäßiger Professor für Germanistik/Lit.wissenschaft. Seit 1988 ist er Herausgeber bzw. Mitherausgeber der Zs. Fabula, 1989⫺2002 war er Herausgeber der Reihe Die Märchen der Weltliteratur1. Er erhielt u. a. (zusammen mit B. KindermannBieri) den Pitre`-Preis (1993) sowie den Europ. Märchenpreis der Märchen-Stiftung Walter Kahn (2006)2. 2009 wurde ihm eine Festschr. gewidmet3. U.s Arbeitsgebiete sind hist. und vergleichende Erzählforschung mit den Schwerpunkten Dokumentation und Analyse von Volksliteratur, Typen-, Stoff- und Motivgeschichte, Bildforschung, Grimm-Philologie sowie hist. Kinder- und Jugendliteratur. Unter U.s grundlegenden Veröff.en hervorzuheben sind seine Editionen von Klassikern der dt. Erzählkultur. Er besorgte eine vierbändige textkritische und ausführlich kommentierte Ausg. der 7. Aufl. der J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm von 1857 (Mü. 1996) und stellte bes. die Zusammenhänge der KHM mit der Tradition der Hausväterliteratur als einer christl. Sittenlehre und Erziehungsanleitung heraus4. Zuvor war bereits eine Anthologie mit Märchen vor Grimm (Mü. 1990) erschienen, welche für 73 Märchen der Brüder Grimm die wichtigsten direkten Vorlagen, die erste bekannte Fassung oder bedeutende Variationen enthält, die U. in ihren Funktionszusammenhängen kommentiert. In seinen beiden textkritischen Ausg.n des Märchenbuchs (nach der Ausg. von 1857; Mü. 1997) sowie des Neuen dt. Märchenbuchs (nach der Ausg. von 1856; Mü. 1997) beschäftigte U. sich eingehend mit den Bearb.sprinzipien und der Rezeption der J BechsteinMärchen und unternahm erstmals ⫺ wie bereits 1993 für die Dt. Sagen der Brüder Grimm5 ⫺ den Versuch, die z. T. fehlerhaften und ungenau vermerkten Quellen der literar. Vorlagen zu verifizieren6. 1999 folgte eine Ausg. der Märchen von Wilhelm J Hauff 7. Zu den Sagen des dt.-sprachigen Gebiets legte U. repräsentative regionale Slgen für Sachsen, das Rheinland und den Harz vor8. Darüber hinaus hat U. auf vier CD-ROMs der Digitalen Bibl. schwer zugängliche Erzähltexte aus fünf Jh.en zusammengestellt. Die Ausg. Dt. Märchen und Sagen (B. 2003) enthält über 24000 Erzählungen aus der Zeit von 1780 bis 1920; über 7000 Märchen und Sagen
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aus rund 50 Sprachregionen Europas erfaßt die CD-ROM Europ. Märchen und Sagen (B. 2004); auf der CD-ROM Merkwürdige Lit. (B. 2005) sind 30 seltene Werke der Kompilationsund Kuriositätenliteratur des 16.⫺18. Jh.s versammelt; die Ausg. Märchen der Welt (B. 2006) schließlich bietet ca 7000 digitalisierte Texte. U.s langanhaltende Beschäftigung mit Typen- und Motivkatalogen9 führte zur grundlegenden Neubearbeitung des AaTh-Kataloges von 1961. Die dreibändige Ausg. erschien 2004 als The Types of Internat. Folktales. A Classification and Bibliogr. Based on the System of Antti Aarne and Stith Thompson (ATU). Sie folgt zwar aus wiss.shist.en Gründen der genreorientierten Struktur des Katalogs, bietet aber neben vielen neuen Erzähltypen zusätzliche bibliogr. Daten sowie präzisere Typenbeschreibungen und bezieht in weit stärkerem Maße als bei AaTh literar. Überlieferungen und außereurop. Erzählgut ein. Zahlreiche Beitr.e U.s beschäftigen sich unter hist.-vergleichenden und interkulturellen Aspekten mit Vermittlungs- und Wandlungsprozessen von Volkserzählungen. U. befaßte sich vor allem mit Stoffen und Themen10, einzelnen Erzähltypen und -motiven11 und deren Illustrationsgeschichte12 und untersuchte das Märchen in der Kinder- und Jugendliteratur13; bes. Aufmerksamkeit widmete er durchgängig den Sagen14 und Märchen15 der Brüder Grimm. Aus den Studien zu den KHM ging das Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung ⫺ Wirkung ⫺ Interpretation (B./N. Y. 2008) hervor. Einem allg. Publikum ist U. vor allem als Herausgeber von mehr als 20 (z. T. mehrfach aufgelegten) thematisch zusammengestellten Märchensammlungen bekannt16. 1 cf. U., H.-J.: Märchen und Sagen im Eugen Diederichs Verlag. In: Versammlungsort moderner Geister. ed. G. Hübinger. Mü. 1996, 376⫺407. ⫺ 2 Kooi, J. van der: Laudatio auf den Europ. Märchenpreisträger 2005: Prof. Dr. H.-J. U. In: Märchenspiegel 16,4 (2005) 85⫺88; U., H.-J.: Dankesworte des Preisträgers. ibid., 89⫺92. ⫺ 3 Erzählkultur. Beiträge zur kulturwiss. Erzählforschung. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009. ⫺ 4 U., H.-J.: „Ein Volks- und Erziehungsbuch“. Zur Neuausg. der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. In: Tagungsband Chemnitz 1997. ed. C. Pieske u. a. Münster u. a. 1999, 65⫺81. ⫺ 5 cf. Brüder Grimm: Dt. Sagen 1⫺ 3. t. 1⫺2 ed. H.-J. U.; t. 3 ed. B. Kindermann-Bieri.
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Utley, Francis Lee
Mü. 1993, hier t. 1, 293⫺316, t. 2, 584⫺600. ⫺ 6 U., H.-J.: Ludwig Bechstein und seine Märchen. In: Palmblätter 9 (2001) 29⫺53. ⫺ 7 Hauff, W.: Märchen. Nach den Ausg.n von 1825⫺1827. ed. H.-J. U. MdW 1999, bes. 406⫺418 (Nachwort). ⫺ 8 id.: Sächs. Sagen. Mü. 1992; id.: Sagen aus dem Rheinland. Mü. 1994; id.: Sagen aus dem Harz. Mü. 1994. ⫺ 9 cf. id.: Einige Bemerkungen zum gegenwärtigen Stand der Klassifizierung von Volkserzählungen. In: Fabula 25 (1984) 308⫺321; id.: Type- and Motif-Indexes 1980⫺1995. An Inventory. In: Asian Folklore Studies 55 (1996) 299⫺317; id.: Indexing Folktales. A Critical Survey. In: J. of Folklore Research 34,4 (1997) 208⫺220; id.: La nouvelle Classification internationale des contes-types (ATU). In: Cahiers de litte´rature orale 57⫺58 (2005) 225⫺ 239. ⫺ 10 id.: Schönheit im Märchen. Zur Ästhetik in Volkserzählungen. In: Lares 52 (1985) 5⫺16; id.: Zur Bedeutung und Funktion dienstbarer Geister in Märchen und Sage. In: Fabula 28 (1987) 227⫺244; id.: Machen Kleider Leute? Zur Wertigkeit von Kleidung in populären Erzählungen. In: Jb. für Vk. 14 (1991) 24⫺44; id.: The Fox in World Literature. Reflections on a „Fictional Animal“. In: Asian Folklore Studies 65 (2006) 133⫺160; id.: Märchen in Europa. Zur Geschichte des Genres innerhalb der Kinderund Jugendlit. In: Bendix, R./Marzolph, U. (edd.): Hören, Lesen, Sehen, Spüren. Märchenrezeption im europ. Vergleich. Baltmannsweiler 2008, 129⫺ 147. ⫺ 11 z. B. id.: Eulenspiegel als Wunderheiler. Schalk und Scharlatan. In: Eulenspiegel heute. ed. W. Wunderlich. Neumünster 1988, 35⫺48; id.: Die letzte Bitte Verurteilter. Zur Umsetzung von Rechtsvorstellungen in Volkserzählungen. In: Anales de la Universidad de Chile 5,17 (1989) 441⫺449; id.: Die Bremer Stadtmusikanten. Ein Märchen und seine Interpreten. In: Telling Reality. ed. M. Chesnutt. Kop./Turku 1993, 89⫺104; id.: Volksliterar. Stoffe im „Rheinländ. Hausfreund“. Der Schwank von der einbeinigen Gans. In: Umgang mit Kinderlit. Festschr. H. Göbels. Essen 1995, 130⫺141; id.: Auch Vögel brauchen einen Herrn. Von Tierkönigen und denkwürdigen Parlamentswahlen. In: Heindrichs, H.-A./Lox, H. (edd.): Als es noch Könige gab. Kreuzlingen/Mü. 2001, 252⫺269; Doitsu no meruhien to sono media niyoru fukyuu (Dt. Märchen und ihre Verbreitung durch populäre Medien). In: Kodomo to mukashibanashi 14 (2003) 28⫺39. ⫺ 12 z. B. id.: Hans im Glück. Zur Entstehung, Verbreitung und bildlichen Darstellung eines populären Märchens. In: The Telling of Stories. ed. M. Nøjgaard u. a. Odense 1990, 119⫺164; id.: Zur Ikonographie des Rapunzel-Märchens (KHM 12). In: Scritti in memoria di S. Lo Nigro. ed. M. R. Maugeri. Catania 1994, 291⫺319; id.: Illustrations to the Folktale „The Fisherman and his Wife“ (KHM 19, ATU 555). In: Folklore. Electronic J. of Folklore 40 (2008) 7⫺20; id.: Der gestiefelte Kater. Zu bildlichen Darstellungen eines Märchens. In: Lit. in Bayern 24, H. 94 (2008) 27⫺39. ⫺ 13 id.: Fairy Tales as a Forerunner
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Groningen
Jurjen van der Kooi
Utley, Francis Lee, * Watertown (Wisconsin) 25.5.1907, Columbus (Ohio) † 8. 3. 1974, nordamerik. Folklorist und Mediävist. U. studierte 1929⫺32 Engl. Sprache und Lit. an der Univ. von Wisconsin in Madison und 1932⫺ 36 an der Harvard Univ. in Cambridge (Mass.). 1936 legte er dort eine von dem Lit.- und Volksliedforscher G. L. Kittredge betreute Diss. vor, die wenige Jahre später in einer erw. Fassung veröffentlicht wurde. Diese Arbeit, The Crooked Rib. An Analytical Index to the Argument about Women in English and Scots Literature to the End of the Year 1568 (Columbus 1944), stellt einen wichtigen Beitrag zur Unters. des Frauenbilds in MA. und Renaissance dar. Seit 1935 lehrte U. Engl. Sprache und Lit. an der Ohio State Univ. in Columbus. Sein Gesamtwerk umfaßt mehr als 2000 Veröff.en1. 1970 wurde ihm eine Festschrift gewidmet2. U. war ein literaturwiss. orientierter Volkskundler, erkannte aber auch die Bedeutung ethnogr. Feldforschungen für seinen Fachbereich. Er war einer der führenden Lit.wissenschaftler und Volkskundler in der Mitte des 20. Jh.s, der in einer schwierigen Phase der amerik. Folkloristik eine Annäherung zwi-
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Utopie, Utopia
schen anthropol. und lit.wiss. ausgerichteten Volkskundlern herbeiführte3. U. interessierte sich bes. für die Zusammenhänge zwischen J Lit. und Volkserzählung. So untersuchte er die Ballade The Wife of Usher’s Well als Tragödie und verglich dieses ,kleine Meisterwerk‘ mit großen literar. Werken wie J Shakespeares J Hamlet4. Er befaßte sich mit J Chaucers volkstümlichen Qu.n und identifizierte eine große Anzahl literar. und mündl. Vorlagen5; an The Clerk’s Tale arbeitete er Chaucers Nutzung von Entwicklungsdrama, Märchen, Novelle, Exemplum und Allegorie/Symbol heraus6. Neben Beiträgen zur ma. Lit. und Volksüberlieferung publizierte U. zahlreiche Arbeiten über die Bibel mit bes. Betonung der Geschichte J Noahs7, an der er fünf Gebiete untersuchte: Wiss., Ideengeschichte, bildende Künste, Vk. sowie Dichtung und Mythos8. Die zusammen mit R. Patai und D. J Noy herausgegebenen Studies in Biblical and Jewish Folklore (Bloom. 1960) sind ein Standardwerk für die von U. so genannte Bibel des Volks9. Weitere Beiträge U.s befaßten sich mit der Entwicklung der Erzähltheorie. So verglich er die ältere J geogr.-hist. Methode mit neueren strukturalistischen Ansätzen (J Strukturalismus). Zwar stellte seiner Meinung nach die hist.-vergleichende Methode ein besseres Mittel dar, Inhalt, Form und Ästhetik narrativer Überlieferungen zu verstehen, aber die Einbeziehung der von A. J Dundes herausgearbeiteten logischen sowie die von C. J Le´viStrauss vorgeschlagenen dynamischen Strukturen bei der Analyse von Texten sei unbedingt erforderlich10. U. setzte sich außerdem mit der geographischen Vermittlung von Volkserzählungen auseinander11. Zwei stark nachwirkende Art. befassen sich mit einer neuen konzeptionellen Orientierung des Fachs Folklore12. 1
Amsler, M. E.: A Bibliogr. of the Writings of F. L. U. In: Names 23 (1975) 139⫺146; Finnie, W. B.: In Memoriam F. L. U. ibid., 127⫺129; Wilgus, D. K.: F. L. U., 1907⫺1974. In: WF 33 (1974) 202⫺204. ⫺ 2 Medieval Literature and Folklore Studies. Festschr. F. L. U. New Brunswick, N. J. 1970. ⫺ 3 Zumwalt, R.: American Folklore Scholarship. A Dialogue of Dissent. Bloom. 1988, 66. ⫺ 4 U., F. L.: Oral Genres in the Written Literature [1969]. In: Folklore Genres. ed. D. Ben Amos. Austin 1976, 3⫺15. ⫺ 5 id.: Some Implications of Chaucer’s Folktales. In: Laographia
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22 (1965) 588⫺599. ⫺ 6 id.: Five Genres in the ,Clerk’s Tale‘. In: Chaucer Review 6 (1972) 198⫺ 228. ⫺ 7 id.: The One Hundred and Three Names of Noah’s Wife. In: Speculum 16 (1941) 426⫺452; id.: Noah’s Ham and Jansen Enikel. In: Germanic Review 16 (1941) 241⫺249; id.: Some Noah Tales from Sweden. In: Humaniora. Festschr. A. Taylor. Locust Valley, N. Y. 1960, 258⫺269; id.: The Devil in the Ark (AaTh 825). In: Kongreß Kiel/Kopenhagen 1959, 446⫺463. ⫺ 8 id.: Noah, His Wife and the Devil. In: Studies in Biblical and Jewish Folklore. ed. R. Patai/F. L. U./D. Noy. Bloom. 1960, 59⫺ 91. ⫺ 9 id.: The Bible of the Folk. In: California Folklore Quart. 4 (1945) 1⫺17. ⫺ 10 id.: The Folktale. Life History vs. Structuralism [1974]. In: Varia Folklorica. ed. A. Dundes. Den Haag 1978, 1⫺22, hier 19. ⫺ 11 id.: The Migration of Folktales. Four Channels to the Americas. In: Current Anthropology 15 (1974) 5⫺27. ⫺ 12 id.: Folklore. An Operational Definition [1961]. In: The Study of Folklore. ed. A. Dundes. Englewood Cliffs 1965, 193⫺206; id.: A Definition of Folklore [1965]. In: Our Living Tradition. ed. T. P. Coffin. N. Y. 1968, 3⫺14.
Columbus
Patrick Mullen
Utopie, Utopia 1. Begriff und Bedeutung ⫺ 2. Theoretische Grundlagen ⫺ 3. Utopische Motive in der Volkserzählung ⫺ 4. Ideale Welten: Staats- versus Popularutopie
1 . B eg ri ff un d B ed eu tu ng. Der Begriff Utopie (U.) (abgeleitet von griech. outopia: Nicht-Ort) entstammt dem Titel des 1516 erschienenen Romans Libellus vere aureus nec minus salutaris quam festivus de optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia des engl. Staatsmanns Thomas Morus (1478⫺1535), wobei in der engl. Aussprache von Utopia doppelsinnig auch ein eu-topia (griech: GutLand) mitklingt. Das Buch steht am Anfang einer Reihe von Werken1, die ⫺ kritisch gegenüber der eigenen Staats- und Gesellschaftsverfassung ⫺ eine neue, bessere oder sogar ideale Welt entwerfen und diese nicht, wie alte religiöse Hoffnungsbilder (J Himmel, J Jenseits, J Paradies), zeitlich, also in einer besseren Zukunft bzw. nach dem Tod, sondern räumlich verorten, zumeist an einem schwer erreichbaren, weil abgelegenen Ort, nicht selten auf einer J Insel (cf. J Topographie, fiktive). Zur Struktur des utopischen Romans gehört daher häufig ein Erzähler, der ⫺ wie bei Thomas
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Utopie, Utopia
Morus ein weitgereister Seefahrer ⫺ von der ,Entdeckung‘ des wunderbaren Landes berichtet. Die Bedeutung der Begriffe U. bzw. utopisch hat sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Im aktuellen Sprachgebrauch umschreibt der Begriff U. (kritisch und positiv) den alternativen Entwurf einer besseren Welt, während utopisch (umgangssprachlich und negativ) ,unrealistisch, unsinnig‘ bedeutet2. Von der U. im engeren Sinn zu unterscheiden ist die Dystopie (Anti-U.) wie etwa die des totalitären Überwachungsstaats in George Orwells Roman 1984 (1949) ebenso wie die rückwärtsgewandte U. der Vorstellung eines Goldenen J ZA.s. 2 . The or et is ch e G ru nd la ge n. Für die neuere Geschichte und den hier behandelten Zusammenhang wichtig wurde ein erweitertes Verständnis des Begriffs der U., das diese nicht nur in der geschlossenen Form des modernen Staatsromans3 oder einer zukünftigen Idealgesellschaft Gestalt annehmen läßt, sondern sie in vielfältiger, alltäglicher, oft unbewußter und gleichsam ,unreiner‘ Form als antizipatorisches Element des Zukünftigen am Werke sieht. Nach älteren Ansätzen einer solchen Neubestimmung der ,sozialen U.n‘4 war es neben W. Benjamin vor allem E. J Bloch, der, nach Vorarbeiten in den 1930er Jahren, mit Freiheit und Ordnung. Abriß der Sozial-U.n (1947) und Das Prinzip Hoffnung (1959) diesen erweiterten Begriff der U. als ,antizipierendes Bewußtsein‘5 entwickelt hat. Die marxistischen Wurzeln von Blochs Geschichtsphilosophie sind unverkennbar; im Gegensatz zum orthodoxen Marxismus-Leninismus setzt sie allerdings nicht auf gezielte politische Lenkung der Massen, sondern spürt eher den umwälzenden Energien ihres Bewußtseins, ihrer Phantasien und kollektiven Bilder nach (J Kollektivität, Kollektivbewußtsein). Ältere christl.-eschatologische Vorstellungen wirken in dieser Idee des ,futurischen Denkens‘6 nach, das die Geschichte als Prozeß mit prinzipiell hoffnungsvollem Ausgang versteht. Zu den Manifestationen des Utopischen als ,sichtbarem Vor-Schein‘7 des Künftigen gehört für Bloch neben anderen Formen der Massenkultur wie Kolportageliteratur, Science Fiction, Jahrmarkt oder Zirkus auch „das Märchen, das immer lehrreiche“8. Es vermittle in
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phantastischen Bildern reale Sehnsüchte der Menschen, nicht zuletzt der Unterdrückten, so z. B. die Hoffnung auf ein Ende des Hungers9 und der Armut oder „halluzinierte Urwünsche nach Macht“10. Indem er betont, es sei „die Ratio selber, die zu den Wunschbildern des alten Märchens hinführt und ihnen dient“11, stellt Bloch das Märchen in die Tradition der Aufklärung. Im Gegensatz zu älteren, seit den Brüdern J Grimm vorherrschenden Auffassungen, die das Märchen im Mythos wurzeln sahen12, geht Bloch von dem von Benjamin formulierten Gegensatz von ,befreiendem‘ Märchen und ,bindendem‘ Mythos aus: „Das Märchen gibt uns Kunde von den frühesten Veranstaltungen, die die Menschheit getroffen hat, um den Alp, den der Mythos auf ihre Brust gelegt hatte, abzuschütteln.“13 Märchenphantasien erscheinen damit als Teil einer emanzipatorischen Bewegung14. Wie jede Theorie der J Interpretation läßt sich auch die hier entworfene nicht generalisieren, zumal sie den Begriff des Märchens fast eher im phil. als im philol. Sinn benutzt. Dennoch bietet sie einen fruchtbaren Ansatz zum Verstehen popularkultureller Formen. 3 . U to pi sc he Mo ti ve in de r Vol ks er z äh lu ng. Das Utopische als konstitutives Element der Gattung Märchen wird in den Texten gelegentlich selbst thematisiert, so z. B. im programmatischen Beginn von KHM 1, AaTh/ATU 440: J Froschkönig, in dem die Rede ist von „den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“. Der J Wunsch und das Wünschen, oft von ,unmöglichen Dingen‘, ist in der Tat wiederkehrendes Element der Volkserzählung als J Wunschdichtung, wobei magische J Helfer oder J Zaubergaben zum Vehikel einer Wunscherfüllung werden, wie sie im wirklichen Leben nur utopisch vorstellbar ist, zumal von den Angehörigen der sozialen Unterschichten15. Utopisches berichtet die Volkserzählung auch dort, wo sie ⫺ gegen die Wahrscheinlichkeiten der gesellschaftlichen Normalität ⫺ den ,Sieg des Kleinen über den Großen‘16 ins Werk setzt, also den J Dummling, den Kleinen, den J Jüngsten, den Armen über den Großen, den Mächtigen, den Reichen oder den Weisen siegen läßt (J Arm und reich, J Herr und Knecht, J Stark und schwach). Oft taucht dabei ⫺ dem Erzählmi-
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Utopie, Utopia
lieu entsprechend ⫺ die Figur des scheinbar Unterlegenen in Gestalt eines in der alten Gesellschaft sozial Unterprivilegierten auf, z. B. als Bauer, als ausgemusterter Soldat oder generell als armer Mann. Auch Tiere können in diesem Sinne stellvertretend auf soziale Konflikte hinweisen (AaTh/ATU 130: cf. J Tiere auf Wanderschaft). Jenseits solcher manifesten oder latenten sozialen Konstellationen läßt sich auch die Struktur des europ. Zaubermärchens17 insgesamt als utopisch charakterisieren. Sie zeigt den Helden zu Beginn der Erzählung in einer Situation des J Mangels, der Verlassenheit oder J Verwünschung, er muß seine vertraute Umgebung verlassen oder hat schier unlösbare Aufgaben zu bewältigen. Gegen jegliche ,realistische‘ Erwartung meistert er alle Gefahren und erreicht am Ende das große J Glück. In diesem optimistischen Grundton (J Optimismus) vieler Märchen sehen Pädagogen auch ihre Funktion bei der Ausbildung kindlichen Selbstvertrauens18, und dies sogar bei Märchen mit vordergründig schlechtem Ausgang19. 4 . I de al e Wel te n: St aa ts - v er su s P op ul ar ut op ie. Berührungen mit ,klassischen‘ utopischen Entwürfen der Romanliteratur lassen sich insofern beobachten, als auch die Volkserzählung Bilder idealer Welten kennt, die an weit entfernten Orten lokalisiert werden, nur nach einer langen Reise20 aufgefunden werden können und durch bestimmte Barrieren von der übrigen Welt getrennt sind (cf. J Ende der Welt). Neben der ,Insel des Glücks‘, dem ,Land, wo man nicht stirbt‘ (J Unsterblichkeit) oder einem als vergnüglichem ,Bauernhimmel‘ geschilderten Jenseits ist das vor allem beim J Schlaraffenland (AaTh/ATU 1930) der Fall, einem Motivkomplex, den man insgesamt als ,populäre U.‘21 bezeichnen kann. Zu den Bildern des materiellen Überflusses, der sozialen Gleichheit, ewiger Jugend und (seltener) der erotischen Libertinage tritt dort die utopische Vorstellung von der J Verkehrten Welt22. Parallelen zeigen sich auch zu utopischen Zukunftsentwürfen in politischen Programmen (Messianismus23, Marxismus)24. Dennoch unterscheiden sich Popularutopien in ihren Zielvorstellungen deutlich von Staatsutopien25. Sie zeichnen die ideale Welt als
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konsumistische Genußphantasie und nicht als gerechteres Produktions- und Verteilungsmodell. Sie träumen von der gänzlichen Abschaffung der Arbeit statt von deren Reduzierung. Sie sind individualistisch-anarchistisch und nicht kollektiv-zentralistisch angelegt. Sie fabulieren sogar vom gänzlichen Verschwinden der Krankheit und des Todes. 1 cf. Berghahn, K. L./Seeber, H. U. (edd.): Literar. U.n von Morus bis zur Gegenwart. Königstein 1986. ⫺ 2 cf. Hermand, J.: Orte. Irgendwo. Formen utopischen Denkens. Ffm. 1981; Meißner, J. u. a. (edd.): Gelebte U. n. Alternative Lebensentwürfe. Ffm. 2001; Seibt, F.: Utopica. Mü. 2001. ⫺ 3 Wilpert, G. von: Sachwb. der Lit. Stg. 71989, 986⫺ 989. ⫺ 4 Voigt, A.: Die sozialen U. n. Lpz. 1906. ⫺ 5 Bloch, E.: Das Prinzip Hoffnung 1⫺3. Ffm. 1973, hier t. 1, 47. ⫺ 6 Kamlah, W.: U., Eschatologie, Geschichtstheologie. Kritische Unters.en zum Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit. Mannheim/Wien/Zürich 1969. ⫺ 7 Bloch (wie not. 5) 242. ⫺ 8 id.: Freiheit und Ordnung. B. 1947, 9; cf. auch id. (wie not. 5) 409⫺415. ⫺ 9 cf. Camporesi, P.: Il paese della fame. Bologna 1978, 7⫺9. ⫺ 10 Bloch (wie not. 5) 414. ⫺ 11 id.: Das Märchen geht selber in der Zeit [1930]. In: id.: Literar. Aufsätze. Ffm. 1965, 199. ⫺ 12 Paul, F.: „Aller sage grund ist nun mythus“. Religionswiss. und Mythologie im Werk der Brüder Grimm. In: Die Brüder Grimm. Dokumente ihres Lebens und Wirkens. ed. D. Hennig/B. Lauer. Kassel 1985, 77⫺90, hier 81⫺83. ⫺ 13 Benjamin, W.: Der Erzähler [1937]. In: id.: Ges. Schr. 2. ed. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser. Ffm. 1977, 457. ⫺ 14 cf. Brüggemann, H.: Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg 2007. ⫺ 15 Richter, D./Merkel, J.: Märchen, Phantasie und soziales Lernen. B. 1974, 45 sq. ⫺ 16 Richter, D.: Märchen und U. In: Neue Rundschau 104,3 (1993) 135. ⫺ 17 Propp, V.: Die Wurzeln des europ. Zaubermärchens. ed. K. Eimermacher. Mü. 1987. ⫺ 18 Bettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen. Stg. 1977, 13, 15 u. ö. ⫺ 19 Scherf, W.: Die Herausforderung des Dämons. Form und Funktion grausiger Kindermärchen. Mü. 1987, 43 u. ö. ⫺ 20 Patch, H. R.: The Other World According to Descriptions in Medieval Literature. Cambr., Mass.1950, 134⫺171. ⫺ 21 Richter, D.: Schlaraffenland. Geschichte einer populären U. Ffm. 1984. ⫺ 22 Cocchiara, G.: Il mondo alla rovescia. Turin 1963; Lafond, J./Redondo, A.: L’Image du monde renverse´ et ses repre´sentations litte´raires et para-litte´raires de la fin du XVIe sie`cle au milieu du XVIIe. P. 1979. ⫺ 23 Cohn, N.: Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im MA. und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen. Bern/Mü. 1961. ⫺ 24 Richter (wie not. 21) 53⫺71. ⫺ 25 cf. Graus, F.: Social Utopias in the Middle Ages. In: Past and Present 38 (1967) 3⫺19, hier 18 sq.
Bremen
Dieter Richter
V Vagina dentata J Giftmädchen Vakarelski, Christo Tomov, * Momina Klisura (bei Pazardzˇik) 15. 12. 1896, † Sofia 25. 11. 1979, bulg. Volkskundler1. 1919⫺23 studierte V. slav. Philologie an der Univ. Sofia und war 1922⫺25 als Lehrer tätig. Auf Veranlassung I. D. J Sˇisˇmanovs spezialisierte er sich an der Warschauer Univ. auf Polonistik, slav. und allg. Ethnographie2. Seine Diss. über bulg. Heiratsbräuche blieb unvollendet. V. war Assistent (1927⫺37), Leiter (1938⫺43) und Generaldirektor (1945⫺48) am Ethnogr. Museum in Sofia. Parallel dazu leitete er 1941⫺ 44 das Ethnogr. Museum in Skopje3. 1949⫺ 62 war er als wiss. Mitarbeiter und Leiter der Abteilung für materielle Kultur am Ethnogr. Inst. und Museum bei der Bulg. Akad. der Wiss.en beschäftigt. 1965 erhielt V. den Herder-Preis; ihm sind mehrere Festschriften gewidmet4. Sein Nachlaß befindet sich im Zentralen Staatlichen Archiv in Sofia. V. hat mehr als 950 Publ.en vorgelegt, er stand in Kontakt mit bulg. und europ. Forschern5. Als Ethnograph beschäftigte er sich bes. mit der materiellen Volkskultur, aber auch mit der mündl. Überlieferung und trug zum Aufbau der bulg. volkskundlichen Bibliogr. bei6. V. war Anhänger der poln. ethnogr. Schule, bes. der Auffassung K. Moszyn´skis, nicht nur Einzelaspekte zu betrachten, sondern möglichst alle Sphären der Volkskultur einzubeziehen, wie seine Studien über die Musik in seinem Heimatdorf 7, über bulg. Hochzeits-8 und Bestattungsbräuche9 und über Lebensweise und Sprache der Bulgaren in Thrakien und Kleinasien10 belegen. In seinem Hauptwerk Etnografija na Ba˘lgarija (Die Ethnographie Bulgariens), das zuerst in poln., dann in dt. und erst danach in bulg. Sprache erschien11, widmete sich V. auch der mündl. Überlieferung, u. a. Volksliedern und -mär-
chen, Sprichwörtern und Rätseln. Weitere Einzelstudien hierzu erschienen in Zss.12 Er publizierte zum hist. Lied und zum Heldenepos13; veröffentlichte Aufsätze zu Performanz und Erbe in der traditionellen Kultur sowie über Sprach- und Kulturgrenzen14. Darüber hinaus gab V. kommentierte Slgen von Volksliedern heraus15. 1 Dinekov, P.: Ch. V. In: Izvestija na Etnografskija Inst. i Muzej 6 (1963) 5⫺15 (auch in: id.: Mezˇdu folklora i literaturata. Sofia 1978, 424⫺440); Primovski, A.: Ch. V. i ba˘lgarskata etnografija (Ch. V. und die bulg. Ethnographie). In: Etnografski i folkloristicˇni izsledvanija. Festschr. Ch. V. Sofia 1979, 7⫺15; Stojkova, S.: Prinosa˘t na Ch. V. v ba˘lgarskata folkloristika (Ch. V.s Beitr. zur bulg. Folkloristik). ibid., 16⫺22; Todorov, D.: Ch. V. i mjastoto mu v ba˘lgarskata etnografija i folkloristika (Ch. V. und seine Stellung in der bulg. Ethnographie und Folkloristik). In: Ba˘lgarska etnologija 12,4 (1996) 5⫺11; Stojkova, S.: Naucˇnoto delo na Ch. V. (Ch. V.s wiss. Werk). In: Ba˘lgarski folklor 6,2 (1980) 3⫺11; Frolec, V.: Ch. V. sedmdesa´tilety (Ch. V. zum 70. Geburtstag). In: Na´rodopisne´ aktuality 3,3⫺4 (1966) 35; Vargha, L.: Hriszto V. 1896⫺1979. In: Ethnographia 91 (1980) 562⫺565; Peneva-Vincze, L.: Hriszto V. jelento˝se´ge a bolga´r etnogra´fia fejlo˝dese´ben (Ch. V.s Bedeutung für die Entwicklung der bulg. Ethnographie). ibid., 565⫺570; Gunda, B.: In memoriam Ch. V. In: Zs. für Balkanologie 16 (1980) 6⫺8; Rashov, G.: Ch. T. V. In: Demos 3 (1981) 217 sq.; cf. auch V., Ch.: Mojat pa˘t ka˘m i prez etnografijata (Mein Weg zur und in der Ethnographie). Sofia 2002; Benovska-Sa˘bkova, M.: V borba za novi paradigmi (Im Kampf um neue Paradigmen). In: Ba˘lgarska etnologija 33,4 (2007) 11⫺31, bes. 17⫺20. ⫺ 2 cf. Kolev, N.: Ch. V. i evropejskite etnografi (Ch. V. und die europ. Ethnographen). In: Ba˘lgarska etnologija 12,4 (1996) 12⫺17. ⫺ 3 Kovacˇeva-Kostadinova, V.: Ch. V. i Narodnijat Etnografski Muzej (Ch. V. und das Nationale Ethnogr. Museum). ibid., 18⫺29. ⫺ 4 Izvestija na Etnografskija Inst. i Muzej 6 (1963); Festschr. V. (wie not. 1); Ba˘lgarska etnologija 12,4 (1996). ⫺ 5 cf. Krasˇtanova, K.: Izbrani bibliografski materiali za Ch. V. (Ausgewählte bibliogr. Materialien zu Ch. V. ). In: Festschr. V. (wie not. 1) 17⫺26; Kolev, N.: Bibliografija na trudovete na Ch. V.
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Valentin und Orson
(Werkbibliogr. Ch. V. ). In: Archiv za poselisˇtni proucˇvanija 2,3⫺4 (1994) 139⫺190; Papazjan-Tanieljan, S.: Archivnoto nasledstvo na Ch. V. (Ch. V.s archivalisches Erbe). In: Ba˘lgarska etnologija 12,4 (1996) 38⫺45; Kirilova, A.: Po sta˘pkite na Ch. V. (Auf den Spuren von Ch. V. ). ibid., 30⫺37. ⫺ 6 V., Ch.: Die bulg. Ethnographie nach 1918. In: Südost-Forschungen 5 (1940) 769⫺812; id.: Bibliogr. der bulg. Vk. 1914⫺1927. In: Zs. für slav. Philologie 6 (1930) 417⫺448; 7 (1931) 183⫺209; id.: Die bulg. Vk. in den Jahren 1928⫺1939. ibid. 17,2 (1941) 383⫺420; 18,1 (1942) 163⫺193; 18,2 (1943) 434⫺452; 19 (1944⫺47) 188⫺214; id.: Überblick über die volkskundliche Lit. Bulgariens in den Jahren 1944⫺1958. In: DJbfVk. 5 (1959) 423⫺443. ⫺ 7 V., Ch.: Muzikata v zˇivota na rodnoto mi selo. Bitovi materiali ot selo Momina Klisura, Pazardzˇisˇko (Die Musik im Leben meines Heimatdorfes. Materialien zur Lebensweise aus dem Dorf Momina Klisura, Gebiet Pazardzˇik). In: Izvestija na Inst.a za muzika 1 (1952) 167⫺202. ⫺ 8 id.: Svatbenata pesen. Mjastoto i sluzˇbata i v svatbenija obred (Das Hochzeitslied. Seine Stelle und Funktion im Hochzeitsbrauch). In: Izvestija na Narodnija Etnografski Muzej 13 (1939) 1⫺ 130. ⫺ 9 id.: Ba˘lgarski pogrebalni obicˇai. Sravnitelno izucˇavane (Bulg. Bestattungsbräuche. Vergleichende Unters.). Sofia 1990. ⫺ 10 id./Mladenov, S.: Bit i ezik na trakijskite i maloazijskite ba˘lgari (Die Lebensweise und Sprache der thrak. und kleinasiat. Bulgaren). Sofia 1935. ⫺ 11 V., Ch.: Etnografia Bułgarii (Die Ethnographie Bulgariens). Breslau 1965; id.: Bulg. Vk. B. 1969; id.: Etnografija na Ba˘lgarija (Die Ethnographie Bulgariens). Sofia 1974 (21977, 32008). ⫺ 12 cf. z. B. id.: Betrachtung über das heutige bulg. Volksmärchen. In: DJbfVk. 6 (1960) 349⫺352; id.: Narodnite ni gatanki (Unsere Volksrätsel). In: Prosveta 2,4 (1936) 479⫺ 485. ⫺ 13 id.: Ba˘lgarskata istoricˇeska pesen (Das bulg. hist. Lied). In: Rodina 1,3 (1939) 72⫺86; id.: Entwicklung des Krali Marko zum bedeutenden Helden des südslav. Epos. In: Miscellanea. Festschr. K. C. Peeters. Antw. 1975, 739⫺743. ⫺ 14 id.: Schöpfer des bulg. Volksliedes. In: Serta Slavica. Mü. 1971, 726⫺732; id./Primovski, A.: Musikalno-folklorni projavi v Plovdivskoto izlozˇenie prez 1892 g. (Vorführungen von Volkssängern und Volksmusikern auf der Plovdiver Ausstellung 1892). In: Izvestija na Inst.a za muzika 2⫺3 (1955) 267⫺317; V., Ch.: Ein bulg. Verf. von Damaskini und das bulg. Volksleben. In: Dona Ethnologica. Festschr. L. Kretzenbacher. Mü. 1973, 72⫺79; id.: Das alte Erbgut in der bulg. Volkskultur. In: Aus der Geisteswelt der Slaven. Festschr. E. Koschmieder. Mü. 1967, 237⫺247; id.: Altertümliche Elemente in Lebensweise und Kultur der bulg. Mohammedaner. In: Zs. für Balkanologie 4,1⫺2 (1966) 149⫺172; id.: Bemerkungen zum Verhältnis von Sprach- und Kulturgrenze auf Grund bulg. Materials. In: Studien zur Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte 1. Festschr. M. Zender. Bonn 1972, 99⫺105. ⫺ 15 id./Angelov, B. (edd.): Senki iz nevidelica. Kniga na ba˘lgars-
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kata narodna balada (Schatten des Unerwarteten. Buch der bulg. Volksballade). Sofia 1936; iid. (edd.): Trem na ba˘lgarskata narodna istoricˇeska epika ot Momcˇil i Krali Marko do Karadzˇata i Chadzˇi Dimita˘r (Galerie der bulg. hist Volksepik von Momcˇil und Krali Marko bis Karadzˇa und Chadzˇi Dimita˘r). Sofia 1939; V., Ch. (ed.): Ba˘lgarsko narodno tvorcˇestvo. 3: Istoricˇeski pesni (Bulg. Volksdichtung. 3: Hist. Lieder). Sofia 1961.
Sofia
Stojanka Bojadzˇieva
Valentin und Orson, anonym überlieferter frz. Ritterroman aus dem 14. Jh.1 Im Zentrum der Handlung stehen das Schicksal der J Zwillinge V. und O. und ihre gemeinsamen Abenteuer auf der J Suche nach ihren Eltern. Allen Versionen gemeinsam ist folgender Handlungsablauf: Phila, Frau des ung. Königs Crisosmus und Schwester König Pippins von Frankreich, gebiert Zwillinge, die ihr vom Bischof (Schwiegermutter, andere Frau) weggenommen werden. Danach wird sie des J Kindsmords (J Ehebruchs) beschuldigt und verbannt. Eine Magd soll die Kinder ertränken, setzt sie jedoch auf einem See bzw. am Waldrand aus (J Aussetzung). Pippins Tochter findet einen der Jungen, gibt ihm den Namen V. und zieht ihn am Hof groß. Sein Bruder wird von einer Wölfin (Bärin) gesäugt (J Tieramme) und wächst fernab der Zivilisation in den Wäldern auf. Auf einer Jagd begegnen sich die beiden J Brüder. V. hält seinen Bruder zunächst für ein wildes Tier. Er zähmt ihn und gibt ihm den Namen Namelos (O.). Die beiden machen sich auf die Suche nach V.s Eltern, erfahren durch eine Schlange (Bronzekopf), daß sie Brüder sind, bestehen auf der Reise zahlreiche Abenteuer und finden schließlich ihre Eltern wieder. V. erbt die Krone Frankreichs, und O. tritt die Thronfolge in Ungarn an.
Der anonyme Autor verband in seiner Erzählung bekannte Stoffe und Motive, die er aus Legenden, Epen und Romanen entlehnte, zu einer eigenständigen Geschichte2. Handlungsauslösend ist der weitverbreitete Erzählkomplex von der unschuldig verleumdeten und vertriebenen J Frau (Kap. 3.1.2). Für die Aussetzung der Kinder, ihre Trennung, das Säugen durch ein Tier und die spätere Wiedervereinigung fand der Dichter Vorbilder in der Sage von J Romulus und Remus und im J Octavian. Das Aufwachsen in der Einsamkeit des Waldes macht O. zu einem Wilden3, der durch tierähnliches Äußeres und außergewöhnliche J Stärke charakterisiert ist. Das
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Valentin und Orson
Brüderpaar verkörpert den in MA. und früher Neuzeit vielthematisierten Gegensatz von Zivilisation und Barbarei, von höfischem Ritter und gemeinem Mann. Weitere Motive aus der höfischen Epik und der Chanson de geste sind: Auszug und Suche nach den Eltern (Mot. H 1381.1), Wiedererkennen, Kämpfe gegen Riesen und Sarazenen. Daneben finden sich als weitere Erzählmotive u. a. ein unsichtbar machender Ring (Mot. D 1361.17) oder eine sprechende Schlange (Mot. B 211.6.1). Das frz. Original des Ritterromans ist nicht erhalten, es existieren lediglich zehn Hss. in anderen Volkssprachen4. Von einer mittelndl. Versfassung existieren drei Fragmente aus dem 14. Jh. Eine wohl daraus hervorgegangene verkürzte mittelndd. Versdichtung ist in zwei Hss. des 15. Jh.s überliefert. Ein mitteldt. Fragment einer Versfassung stammt aus dem 15. Jh., eine mitteldt. Prosaversion von 1465 ist im Lauf der Überlieferung verschollen. Eine altschwed. Bearb. in Prosa und Versen (drei Hss.) wird dem 15. bzw. 16. Jh. zugeschrieben. Am nächsten steht dem frz. Original wahrscheinlich die mittelndl. Fassung, auf die wiederum die verkürzten dt. und schwed. Bearb.en zurückgehen, die untereinander enge Verwandtschaft aufweisen5. Eine frz. gedr. Ausg. (Lhystoire des deux vaillans cheualiers V. et O.) erscheint erstmals 1489 in Lyon. Sie folgt nach allg. Auffassung im ersten Drittel mit geringfügigen Abweichungen der altfrz. Vorlage und löst sich dann von der Quelle6. Neue Figuren, z. B. der Grüne Ritter und der zauberkundige Zwerg Pacolet mit seinem Zauberpferd (AaTh/ATU 575: J Flügel des Königssohnes), und Schauplätze werden eingeführt, ganze Episoden mit weiteren Abenteuern der Helden ausgesponnen. Bes. die Kämpfe gegen die Sarazenen nehmen in den gedr. Ausg.n größeren Raum ein; das Geschehen spielt nun öfter im Orient. Die relativ geradlinige Handlung der Vorlage wird durch Verwicklungen und Intrigen, Gefangennahmen und anschließende Befreiungen, zahlreiche Zweikämpfe und Liebesabenteuer der verschiedenen Figuren zu einem verstrickten Geschehen. Mit Pacolet und seinem hölzernen Zauberpferd werden den Helden Helfer an die Seite gestellt, die ihnen mit ihren magischen Fähigkeiten zu Diensten sind und sie aus Not-
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lagen retten bzw. sie in Windeseile von einem Ort zum anderen tragen. Während die hs. Tradition nur geringe Verbreitung aufweist, erlangte die Geschichte durch die gedr. Ausg.n große Bekanntheit. Übers.en sind in England seit 1510, in Deutschland seit 1521 bekannt; dazu kommen weitere Übers.en ins Niederländische und Italienische7. Adaptationen zeugen von dem Interesse am Stoff. So sind aus England, Deutschland, Spanien und Frankreich Dramatisierungen bekannt, die sowohl im Theater als auch von Puppenspielern aufgeführt wurden8; in England wurde die Geschichte zudem lyrisch, u. a. in Balladenform, bearbeitet9. In den Niederlanden und in England ist der Stoff im Schullesebuch nachgewiesen10. Einzelne Elemente der Geschichte, bes. das hölzerne Zauberpferd, haben sich in Sprichwörtern und Redensarten niedergeschlagen, z. B. „Il faudrait avoir le cheval de Pacolet pour aller si viste en ce lieu la`“11. Die weitreichende Bekanntheit der Protagonisten belegen darüber hinaus literar. Anspielungen auf V. und O.12 Trotz eines noch spürbaren Interesses am Volksbuch ließ im 19. Jh. die Rezeption der Geschichte um V. und O. erheblich nach. Heute ist der Stoff kaum noch bekannt. 1 Gröber, G.: Grundriß der rom. Philologie 2,1. Straßburg 1902, 792; Beckers, H.: V. und Namelos. In: Verflex. 10 ( 21999) 157. ⫺ 2 cf. Dickson, A.: Valentine and O. A Study in Late Medieval Romance. N. Y. 1929, 28⫺155, bes. 151⫺155 (hs. Versionen), 156⫺268, bes. 266⫺268 (gedr. Ausg.n). ⫺ 3 cf. allg. Rätsch, C./Probst, H. J./Yeti, N.: Sei gegrüßt, Wilder Mann! Mü. 1985. ⫺ 4 Seelmann, W.: V. und Namelos. Norden/Lpz. 1884; Langbroek, E./Roeleveld, A.: V. und Namelos. Amst. 1997; Klemming, G. E.: Namnlös och V. Stockholm 1846; Wolf, W.: Namnlös och V. Uppsala 1934. ⫺ 5 Dickson (wie not. 2) 8⫺13; Dieperink, G. J.: Studien zum V. und Namelos. Haarlem 1933, 1⫺3; Seelmann (wie not. 4) X⫺ XIII. ⫺ 6 Dickson, A.: Valentine and O. (L. 1937) Nachdr. N. Y. 1971; Lühmann, H.: V. und Orsus. Dt. Version (1521) und frz. Orig. (1489). Vergleich und Strukturanalyse. Diss. B. 1974. ⫺ 7 Seelmann (wie not. 4) XXX⫺XL (weist zwischen 1489 und 1876 28 frz., 42 engl., 10 dt., 22 ndl. und 5 ital. Drucke nach). ⫺ 8 Dickson (wie not. 2) 287⫺298; Keller, A. von: Ayrers Dramen 2⫺3. Stg. 1865, 1305⫺1613; Weller, E.: Annalen der poetischen National-Lit. der Deutschen im XVI. und XVII. Jh. 2. Fbg 1864, 287; Lope de Vega: El teatro 2. ed. A. Sa´nchez Romeralo. Madrid 1989, 357⫺360; Desfontaines, N. M.: Be´lissante ou la fide´lite´ reconnue. P.
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Valerius Maximus
[1647]; Dickson (wie not. 2) 218 sq. ⫺ 9 Percy, T.: Reliques of Ancient English Poetry 2. L. 1765, 279⫺ 296. ⫺ 10 Seelmann (wie not. 4) XXVI, XXVIII. ⫺ 11 Le Roux de Lincy, A. J. V.: Le Livre des proverbes franc¸ais 2. P. 1859, 48; Chauvin, V.: Pacolet et Les Mille et une Nuits. In: Wallonia 6 (1898) 5⫺19, hier 5⫺7. ⫺ 12 ibid.; Dickson (wie not. 2) 1, 287⫺298; id. (wie not. 6) li⫺lxiii; Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des preuß. Staats 2. Glogau 1871, 660.
Göttingen
Rita Boemke
Valerius Maximus, röm. Historiker des 1. Jh.s p. Chr. n., Verf. der Factorum dictorumque memorabilium libri IX (1. Hälfte des 1. Jh.s)1. Die nach Sachkategorien angelegte Slg denkwürdiger Taten und Aussprüche ist für den Unterricht in Rhetorikschulen zusammengestellt und in manieriertem, mitunter pathetischem Stil abgefaßt2. Vorbilder sind ähnliche Beispielsammlungen der augusteischen Zeit (z. B. Pomponius Rufus; cf. Facta et dicta 4,4). Die Slg bestand ursprünglich wohl aus zehn Büchern (Aulus Gellius, Noctes Atticae 12,7,8); aus dem 4. Jh. sind Epitomen von Iulius Paris und von Ianuarius Nepotianus erhalten3. Die Memorabiliensammlung umfaßt 964 Exempla (deren Gesamtzahl sich, je nach Zählung, geringfügig erhöht) und ist innerhalb der Bücher in Abschnitte unterschiedlicher Länge gegliedert; ein Buch enthält zwischen 84 (Buch 7) und 132 Exempla (Buch 8, 9). Exempla mit gleicher Thematik folgen zwar nacheinander, unterscheiden sich aber in ihrer Funktion. Ein verbindlicher Rahmen, der die einzelnen Abschnitte zusammenhielte, fehlt. Beispielen aus der röm. Geschichte folgen jeweils solche aus anderen Ländern (vor allem aus Griechenland). Nach religiösen Themen (1. Buch) behandelt V. M. politische Institutionen (2. Buch) und, ausführlicher, Tugenden (3.⫺6. Buch), fortgesetzt (7.⫺8. Buch) mit einem Kunterbunt von Themen wie z. B. Glück (7,1), weise Reden und Handlungen (7,2), Kriegslisten (7,4), Not (7,6), Testamente (7,7; 7,8; 8,5), Urteile (8,1⫺8,3), Beredsamkeit (8,9), außergewöhnlich hohes Alter (8,13), Ehrgeiz (8,14), Ehrenbelohnungen (8,15). Das 9. Buch enthält neben vielen Beispielen charakterlichen Fehlverhaltens ⫺ z. B. übermäßiges Essen und sexuelle Gier (9,1), Grausamkeit (9,2), Zorn und Haß (9,3), Habsucht (9,4), Stolz und Übermut (9,5), Hinterlist (9,6) ⫺ auch Abschnitte über ungewöhnliche Todesarten (9,12) oder Betrügereien (9,15).
Während die Memorabiliensammlung des V. M. in der Antike zunächst keine sonderliche
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Nachwirkung entfaltete, setzte im Spätmittelalter „durch Abkömmlinge einer einzigen Hs.“4 innerhalb Europas eine breite Rezeption (etwa 350 Hss.)5 ein. Spuren der Benutzung der Facta et dicta finden sich sowohl in Exempelkompilationen als auch in der Historiographie und Novellistik des hohen und späten MA.s (cf. z. B. J Jacques de Vitry, J Saxo Grammaticus, J Novellino, J Konrad von Halberstadt [d. J.], J Gesta Romanorum, Robert Holkot6 , J Johannes Gobi Junior, J Dialogus creaturarum, Antoine de J La Sale, J Mensa philosophica, J Libro de los e(n)xemplos, J Pelba´rt von Temesva´r, J Speculum exemplorum). Die Vermittlung beeinflußten auch freie volkssprachliche Übertragungen (Heinrich von Mügeln, 1369)7. Übers.en der Facta et dicta ins Französische, Italienische, Katalanische und Deutsche sind seit dem späten 15. Jh. bekannt. Für das dt.sprachige Gebiet wurde der Druck von 1533 maßgeblich8. Der Erfolg der Facta et dicta im MA. und in der frühen Neuzeit beruhte vor allem auf dem Bedürfnis nach Exempla menschlicher Verhaltensweisen, um ethische Lehren in einem sinnvollen, thematisch nach Schlagworten orientierten Konzept (J Loci communes) anschaulich zu machen9, getreu der u. a. von Cicero vertretenen Maxime: ,historia magistra vitae‘ (De oratore 2,9,36)10. Daß die J Meistersinger des 15./16. Jh.s als stoffliche Grundlage auch Exempla des V. M. nutzten11 oder Johannes J Pauli auf die Slg zurückgriff 12, erstaunt daher nicht, ebensowenig, daß einige Geschichten in die für das 16. Jh. wichtige Gattung des Schwankbuchs13 gelangten, in Sprichwortsammlungen und in die Chronik-, Kompilations- und Historienliteratur sowie die katechetische Lit. Kenntnisse der Antike wurden über die Taten und Äußerungen der Kristallisationsgestalten vermittelt, als Exempla interessierten primär ihre Handlungsweisen und die ihnen zugeschriebenen Aussprüche. Nicht selten enden die Geschichten sentenzartig oder mit moralisierender Auslegung. Vor allem in der Historienliteratur und in der protestant. Kompilationsliteratur des 16./17. Jh.s bildeten die Facta et dicta einen unerschöpflichen Quell für anschauliche Beschreibungen von J Tugenden und Lastern14.
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Valerius Maximus
Im MA. und in der frühen Neuzeit bildete sich eine überschaubare Gruppe von Beispielgeschichten heraus, die bei den Kompilatoren zu einer Art Leitfassung wurden, obwohl V. M. in den seltensten Fällen der älteste Textzeuge war und selbst viele Exempla aus älteren oder zeitgenössischen Quellen (Pindar, Aristoteles, Kallimachos, Cicero, J Ovid, Sallust) geschöpft hatte und die Autoren für die Glaubwürdigkeit der von ihm geschilderten Exempla auch häufiger anführt15. Für einige Exempla bietet V. M. jedoch den ältesten schriftl. Beleg (z. B. 5,4,7; 5,4,ext[erna] 1; 7,3,ext. 5). Die unterschiedliche Nachwirkung dürfte zum einen mit thematischen Aspekten zusammenhängen: Götterverehrung und -verachtung, Vorahnungen und Träume (Buch 1), Kriegszucht oder fremde Bräuche (Buch 2) standen weniger im Fokus der christl. Autoren, ebensowenig Schilderungen von Grausamkeit oder ungewöhnlichen Todesarten (Buch 9). Es interessierten offenkundig auf den Alltag bezogene Beispiele positiver Charaktereigenschaften wie Enthaltsamkeit, Selbstbeherrschung, Bescheidenheit, Freigebigkeit, Gerechtigkeit ebenso wie Geschichten über familiären Zusammenhalt in schwierigen Situationen und über Fragen der Ehe (Buch 4, 5 und 6). Bei der Tradierung der V.-Exempla seit dem MA. sind mehrere Tendenzen erkennbar, die zeitlich bedingt und/oder von unterschiedlichen Nutzanwendungen bestimmt sind. Es ergibt sich folgendes Bild: Die Memorabiliensammlung mit ihren rhetorischen Kategorien dient als Vorbild für humanistische Kompilationen, die wiederum „Standardwerke zum Exzerpieren“16 wurden, z. B. Exemplorum libri decem des Marcantonio J Coccio, Lectiones antiquae des Ludovico Maria J Ricchieri, De dictis factisque memorabilibus collectanea des Battista Fulgosus bis zum großen Sammelband Exempla virtutem et vitiorum des Johann J Herold von 1555. Nachfolgende Kompilatoren orientieren sich an dem Buchtypus und den Beispielgeschichten als weitgehend an das Original angepaßten Schilderungen von Tugenden und Lastern, die in vergleichbare Beispiele eingebettet sind, nun aber vermehrt christl. Auslegungen enthalten (z. B. Jacob J Zanach, Hist. Erquickstunden, 1618; Balthasar Exner, V. M. Christianus, 1620; Johannes J Mollerus, Allegoriae Profano Sacrae, 1646; id., Continuatio Allegoriarum Profano-Sacrorum, 1649). Die applicatio moralis wird den jeweiligen Zielen der Verf. untergeordnet und wechselt innerhalb der literar. Gattungen.
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Der Bezug der Moralisation zum Text erscheint mitunter konstruiert. Die Zuschreibung hist. Persönlichkeiten ist austauschbar, mitunter fehlt die Angabe der Facta et dicta als Quelle. Die Nutzung von Exempla aus den Facta et dicta differiert und betrifft nur etwa 15 %; sie schwankt zwischen einigen aus Buch 2 bis zu gut zwei Dutzend Exempla aus Buch 4, 5 und 6. Im 17./18. Jh. dienen V.-Exempla zwar weiterhin als Gleichnisse für christl. Gedankengut innerhalb der hist. unterhaltsamen, moralisierenden Materien (z. B. Mollerus), aber häufig fehlt die individuelle moralische Auslegung. So hat etwa der im 17./18. Jh. vielgelesene P. Lauremberg in seinem Lehrbuch Acerra philologica 200 Historien zusammengestellt (Erstdruck 1633; zuletzt [1754] 700 Historien)17, verzichtet weitgehend auf bibl. bzw. christl. Bezüge und ermahnt allg. zu ethisch vorbildhaftem Verhalten und Handeln. Eine andere Intention verfolgt das Spätwerk Neu Ausgelegter Curioser Tändl-Marckt der jetzigen Welt (1732 u. ö.) des Wiener Weltpriesters V. J Neiner. Er empfiehlt seine Slg im Untertitel als „Haus-Buch“ und für den Kanzelgebrauch und hat zu diesem Zweck auch V.-Exempla integriert.
Mit dem vermehrten Aufkommen ,sagenhafter‘ Geschichten im 18./19. Jh. und der Aneignung von V.-Exempla für eine bestimmte Stadt, Region oder einen lokalen Amtsträger, ohne V. M. als Vorlage zu nennen, verblassen die ursprünglichen Funktionen, die Exempla leben in erheblich reduziertem Maße als bloße Merkwürdigkeiten weiter (cf. z. B. mündl. Aufzeichnungen zu 6,2,ext. 2). E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Aus w. ): 1,1,ext. 3 ⫽ Dionysius stiehlt aus einem Tempel das goldene Gewand einer Jupiterstatue mit der Begründung, es sei für den Sommer zu warm und den Winter zu kalt (Dvorˇa´k, num. 1677*). ⫺ 1,6,ext. 3 ⫽ Ameisen tragen Weizenkörner in den Mund des schlafenden Midas. Ihm wird prophezeit, er werde der reichste Mann auf Erden (Tubach, num. 293). ⫺ 3,3,1 ⫽ Schmerzverachtung: Kohle verbrennt einem Mann den Arm (Tubach und Dvorˇa´k, num. 1122). ⫺ 3,3,ext. 4 ⫽ Ein Tyrann will dem Philosophen Anaxarchos die Zunge herausschneiden lassen. Dieser beißt sich die Zunge ab, damit sie dem Tyrannen nicht gehorcht (Dvorˇa´k, num. 4897*). ⫺ 3,8,ext. 6 ⫽ J Alexander d. Gr. trinkt den von seinem Freund gereichten Becher trotz einer Warnung, daß dieser vergiftet sei (Tubach, num. 1401). ⫺ 4,3,5 ⫽ Unbestechlichkeit: Armer Herrscher gibt sein Reich nicht für Geld her (Tubach, num. 3165). ⫺ 4,3,7 ⫽ Röm. Konsul lehnt Geschenke ausländischer Boten ab; die Vorteile der Heimat gelten ihm mehr als eigener Gewinn (Dvorˇa´k, num. 5242*). ⫺ 4,3,ext. 3 ⫽ Prostituierte scheitert beim Versuch, Xenokrates zu verfüh-
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Valerius Maximus
ren (Tubach, num. 5192). ⫺ 4,3,ext. 4 ⫽ ATU 1871 C: The Cynic Wants Sunlight (J Diogenes) ⫹ ATU 1871 Z (2): Other Anecdotes about Diogenes. ⫺ 4,5,ext. 1 ⫽ AaTh/ATU 706 B: Die keusche J Nonne. ⫺ 4,6,2; 4,6,5 ⫽ Selbstmord aus Trauer über den Verlust des Ehepartners (Dvorˇa´k, num. 4668*). ⫺ 4,7,ext. 1 ⫽ J Bürgschaft (Tubach und Dvorˇa´k, num. 2208). ⫺ 4,8,1 ⫽ Fabius Maximus zahlt Lösegeld für die Gefangenen, das die Familien nicht aufbringen können, aus eigener Tasche und rettet damit die Ehre seines Landes (Tubach und Dvorˇa´k, num. 4034). ⫺ 5,1,ext. 1 ⫽ Alexander d. Gr. überläßt einem altersschwachen Krieger seinen Platz am Feuer (Dvorˇa´k, num. 106*). ⫺ 5,1,ext. 2 ⫽ Pisistratos’ Frau fordert die Todesstrafe für einen jungen Mann, der ihre Tochter umarmt und geküßt hat. Das Gesuch wird abgelehnt: Wenn wir diejenigen töten, die uns lieben, was sollen wir mit denen machen, die uns hassen? (Tubach und Dvorˇa´k, num. 1291; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 247). ⫺ 5,1,ext. 4 ⫽ Pyrrhus stellt alle zur Rede, die auf einem Fest in seiner Abwesenheit schlecht über ihn gesprochen haben. Er verzeiht ihnen, als sie die Wahrheit sagen: Wenn wir genug Wein gehabt hätten, was hätten wir dann nicht noch gesagt! (Tubach und Dvorˇa´k, num. 5382). ⫺ 5,4,1 ⫽ Als Coriolan Rom belagert, finden Gesuche um Gnade kein Gehör, bis seine Mutter ihn bittet (Tubach und Dvorˇa´k, num. 1246; Dömötör, num. 183). ⫺ 5,4,7 und 5,4,ext. 1 ⫽ Caritas Romana (ATU 985*: The Suckled Prisoner; cf. J Säugen). ⫺ 5,6,ext. 1 ⫽ Codrus opfert sich, um seine Armee zu retten (Tubach und Dvorˇa´k, num. 1136). ⫺ 5,6,ext. 4 ⫽ Zwei Brüder aus Karthago lassen sich für ihr vertragswidriges Handeln beim Grenzlauf als Strafe lebendig begraben und erreichen so die Ausdehnung der Landesgrenze gegenüber Cyrene (J Gründungssage)18. ⫺ 5,9,4 ⫽ Vater bietet dem Sohn, der ihn ermorden will, sein Schwert an; der Sohn bereut (Tubach, num. 4485). ⫺ 5,10,ext. 2 ⫽ Xenophon nimmt als Zeichen der Trauer seine Krone vom Haupt, als er vom Tod seines Sohnes erfährt. Er setzt sie wieder auf, als er hört, daß der Sohn ehrenhaft im Kampf gestorben ist (Tubach und Dvor˘a´k, num. 5397). ⫺ 6,1,1 ⫽ J Lucretia (Tubach und Dvorˇa´k, num. 3095; Mot. K 1397). ⫺ 6,1,2 ⫽ Vater tötet Tochter, weil er lieber Mörder einer Jungfrau als Vater einer Entehrten sein will (Tubach, num. 3436). ⫺ 6,2,ext. 1 ⫽ Eine zu Unrecht verurteilte Frau will bei König Philipp Berufung einlegen, wenn er wieder nüchtern ist (Tubach und Dvorˇa´k, num. 3737). ⫺ 6,2,ext. 2: ATU 910 M: J Gebet für den Tyrannen. ⫺ 6,3,ext. 3 ⫽ Dem ungerechten Richter Kambyses wird die Haut abgezogen und über den Richterstuhl gespannt, den sein Sohn einnehmen muß (Tubach, num. 2855). ⫺ 6,4,2 ⫽ Scipio weist zwei Kandidaten für eine Gesandtschaft zurück: Der eine ist zu bedürftig, der andere zu gierig (Tubach, num. 841). ⫺ 6,5,ext. 2 ⫽ Athener verschmähen den Plan des Themistokles, der ihnen zum Sieg über die Feinde verhelfen könnte, weil er unehrenhaftes Verhalten voraussetzt
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(Dvorˇa´k, num. 5084*). ⫺ 6,5,ext. 3 ⫽ Sohn begeht Ehebruch und verstößt damit gegen ein Gesetz seines Vaters Zaleucus, wonach Ehebrechern der Verlust beider Augen droht; um dem Gesetz Genüge zu tun, läßt Zaleucus sich und seinem Sohn ein Auge ausreißen (Tubach und Dvorˇa´k, num. 1944). ⫺ 6,5,ext. 4 ⫽ Konsul verbietet bei Todesstrafe, die Volksversammlung mit Waffen zu betreten. Als er dies einmal selbst vergißt und auf seinen Fehler hingewiesen wird, stürzt er sich in sein Schwert (Dvorˇa´k, num. 4663*). ⫺ 6,8,6 ⫽ Sklave stirbt für seinen Herrn (Tubach, num. 4286). ⫺ 6,9,1 ⫽ Vater läßt Sohn, der gegen seinen Willen kämpfte, hinrichten, obwohl dieser gesiegt hatte (Dvorˇa´k, num. 4479*). ⫺ 6,9,ext. 5 ⫽ ATU 736 A: Ring des J Polykrates. ⫺ 6,9,ext. 6 ⫽ Dionysius verarmt im Alter so sehr, daß er in Rom Kinder unterrichten muß (Dvorˇa´k, num. 1678**). ⫺ 7,2,ext. 1 ⫽ J Sokrates diskutiert Probleme der Heirat (Tubach, num. 4457). ⫺ 7,2,ext. 5 ⫽ König denkt über Krone nach: ihre Schönheit und die schweren Aufgaben, die mit ihr verbunden sind (Dvorˇa´k, num. 1365*). ⫺ 7,2,ext. 6 ⫽ Besser schweigen als schlecht reden (Tubach, num. 4374). ⫺ 7,2,ext. 9 ⫽ Vater soll seine Tochter lieber mit einem armen Mann verheiraten (Tubach, num. 1444). ⫺ 7,3,ext. 1 ⫽ AaTh/ATU 1191: J Brückenopfer. ⫺ 7,3,ext. 4 ⫽ ATU 1871 B: King Cannot Destroy the City. ⫺ 7,3,ext. 5 ⫽ AaTh/ATU 1591: Die drei J Gläubiger (hier zwei). ⫺ 8,7,ext. 6 ⫽ Mann rühmt sich beim Anblick der heruntergewirtschafteten Güter seines geistigen Reichtums (Tubach, num. 3292). ⫺ 8,7,ext. 1 ⫽ Demosthenes geht an den Strand, um sich durch das Geräusch der Wellen an den Lärm bei Volksversammlungen zu gewöhnen und ein geduldiges Ohr für Verhandlungen zu bekommen (Tubach, num. 1515). ⫺ 8,8,ext. 1 ⫽ Sokrates beim Spiel mit seinen Kindern (Tubach, num. 4455). ⫺ 9,2,ext. 9 ⫽ Schmied fertigt eisernen Bullen als Folterinstrument und wird als erster darin geröstet (Tubach und Dvorˇa´k, num. 811). ⫺ 9,14,ext. 3 ⫽ Gegenseitige Beschuldigung außerehelicher Abstammung: War deine Mutter jemals in der Heimatstadt meiner Eltern? Nein, aber mein Vater war oft dort! (Tubach, num. 833; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 315). 1 V. M.: Slg merkwürdiger Reden und Thaten 1⫺5. Übers. F. Hoffmann. Stg. 1828; id.: Memorable Doings and Sayings 1⫺2. ed. D. R. Shackleton Bailey. Cambr., Mass./L. 2000; Valeri Maximi facta et dicta memorabilia 1⫺2. ed. J. Briscoe. Stg. u. a. 1998; cf. auch Themann-Steinke, A.: V. M. Ein Kommentar zum 2. Buch der „Facta et dicta memorabilia“. Trier 2008. ⫺ 2 cf. Helm, R.: V. M., Seneca und die Exemplaslg. In: Hermes 74 (1939) 130⫺154; Honstetter, R.: Exemplum zwischen Rhetorik und Lit. Zur gattungsgeschichtlichen Sonderstellung von V. M. und Augustinus. Diss. Konstanz 1977; Guerrini, R.: Studi su Valerio Maximo. Pisa 1981; Weileder, A.: V. M.: Spiegel kaiserlicher Selbstdarstellung. Diss. Mü. 1998; Lucarelli, U.: Exemplarische Ver-
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gangenheit. V. M. und die Konstruktion des sozialen Raumes in der frühen Kaiserzeit. Göttingen 2007; Nguyen, V. H. T.: Christian Identity in Corinth. A Comparative Study of 2 Corinthians, Epictetus and V. M. Tübingen 2008. ⫺ 3 Beide Auszüge in V. M./ Briscoe (wie not. 1) t. 2. ⫺ 4 Brunhölzl, F.: V. M. im MA. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 1390 sq., hier 1390. ⫺ 5 cf. Schullian, D. M.: V. M. and Walter Map. In: Speculum 12 (1937) 516⫺518; Buck, A.: Studien zu den Volgarizzamenti röm. Autoren in der ital. Lit. des 13. und 14. Jh.s. Mü. 1978; Wachinger, B.: Pietas vel misericordia. Exempelslgen des späten MA.s und ihr Umgang mit der antiken Erzählung. In: Grubmüller, K. u. a. (edd.): Kleinere Erzählformen im MA. Paderborn 1988, 225⫺242; Kohl, B. G.: V. M. in the Fourteenth Century. The Commentary of Giovanni Conversini da Ravenna. In: id.: Culture and Politics in Early Renaisance Padua. Aldershot 2001, 537⫺546; Strobl, W.: Movere magis exempla quam verba. Zur Rezeption des V. M. bei Hilarion aus Verona. In: Philologus 149 (2005) 133⫺153. ⫺ 6 cf. EM 4, 596. ⫺ 7 Hilgers, H. A.: Die Überlieferung der V.-M.-Auslegung Heinrichs von Mügeln. Köln 1973. ⫺ 8 V. M. von Geschichten der Römer und aussers Volcks […]. Durch Petrum Selbet new verteutscht. Straßburg 1533. ⫺ 9 Buck (wie not. 5) 32. ⫺ 10 Koselleck, R.: Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Natur und Geschichte. Festschr. K. Löwith. Stg./ B./Mainz 1967, 196⫺219; Moos, P. von: Geschichte als Topik. Hildesheim/Zürich/N. Y. 1988. ⫺ 11 EM 9, 524. ⫺ 12 Pauli/Bolte, num. 8, 120, 241, 250, 440, 537, 635, 660. ⫺ 13 Lier, H. A.: Ottmar Nachtigalls „Ioci ac sales mire festivi“. In: Archiv für Litteraturgeschichte 11 (1882) 1⫺50; Stiefel, A. L.: Die Qu.n der engl. Schwankbücher des 16. Jh.s. In: Anglia 31, N. F. 19 (1908) 453⫺520, hier 514 (fünfmal Qu. für Mery Tales […]); id.: Ein unbekanntes Schwankbuch des 16. Jh.s. In: Zs. für dt. Philologie 35 (1903) 81⫺86, hier 85 (36 Exempla). ⫺ 14 Brückner, 87⫺91. ⫺ 15 z. B. Bosch, C.: Die Qu.n des V. M. Stg. 1929; Klotz, A.: Studien zu V. M. und den Exempla. Mü. 1942; Fleck, M.: Unters.en zu den Exempla des V. M. Diss. Marburg 1974. ⫺ 16 Brückner, 88. ⫺ 17 [Lauremberg, P.:] Neue und verm. Acerra Philologica. Ffm./Lpz. 1717, 20 sq., 84⫺86, 86 sq., 411 sq., 732, 790, 915 sq., 985; zu Lauremberg cf. Brüggemann, T. (ed., in Zusammenarbeit mit Otto Brunken): Hb. zur Kinder- und Jugendlit. Von 1570 bis 1750. Stg. 1991, 1511⫺1513. ⫺ 18 cf. Röhrich, L.: Eine antike Grenzsage und ihre neuzeitlichen Parallelen [1949/50]. In: id.: Sage und Märchen. Fbg/Basel/Wien 1976, 210⫺234.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Valjavec, Matija Kracˇmanov, * Srednja Bela (Oberkrain) 17. 2. 1831, † Zagreb 15. 3. 1897, slov. Dichter, Philologe und Volkskundler1. V.
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studierte 1851⫺54 klassische Philologie und Slavistik in Wien. 1854⫺76 war er Gymnasiallehrer in Varazˇdin, 1876⫺91 in Zagreb. 1879 wurde er zum Mitglied der Südslav. Akad. der Wiss.en und Künste in Zagreb ernannt, seit 1883 war er Mitglied der Anthropol. Ges. in Wien. Als Philologe befaßte sich V. vor allem mit slov. Phonetik, Etymologie und Dialektologie sowie altkirchenslav. Hss.2 In seine literar. Werke nahm er vielfach Stoffe aus Volksüberlieferungen auf 3, wie z. B. in den Gedichten Zaprta smrt ([Der eingesperrte Tod] 1854; AaTh/ATU 330: cf. J Schmied und Teufel), Volk Rimljan ([Der Wolf als Römer] 1857; AaTh/ATU 122 A: cf. J Wolf verliert seine Beute), Osel, kralj zverin ([Der Esel, König der Raubtiere] 1857; AaTh/ATU 103 C*: An Old Donkey Meets the Bear), in den Märchen Pastir ([Der Hirte] 1859 u. ö.; AaTh/ATU 560: J Zauberring)4 und Volk in pes ([Der Wolf und der Hund] 1861; AaTh/ATU 103: cf. J Krieg der Tiere). Darüber hinaus übersetzte V. wichtige Werke der Weltliteratur5. Bereits als Gymnasiast hatte V. erste Texte aus populärer Überlieferung aufgezeichnet und veröffentlicht6. Die Kenntnis wiss. Aufzeichnungsmethoden erwarb er bei F. Miklosˇicˇ. Seine Sammeltätigkeit (über 1000 Einheiten) betrifft Volksüberlieferungen (Lieder7, Sagen, Märchen, Sprichwörter und Rätsel), aber auch populäre Glaubensvorstellungen und Volksbräuche, die er meist in Zss. publizierte8. Er war einer der ersten slov. Volkskundler, der sich um die sprachlich und phonetisch genaue Wiedergabe des Materials bemühte. V. trug Erzählungen aus der Steiermark und der Region Prekmurje (Nordostslovenien), vor allem aber aus Oberkrain und der Gegend um Varazˇdin zusammen9. Die von V. in der Steiermark gesammelten Texte sind Erzählungen über Fabelwesen10, Zaubermärchen (cf. AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter11, cf. AaTh/ATU 530: J Prinzessin auf dem Glasberg12), Novellen(cf. AaTh/ATU 934: cf. J Todesprophezeiungen13) und Legendenmärchen (z. B. AaTh/ ATU 788: J Wiedergeburt des verbrannten Heiligen14, AaTh/ATU 756 B: J Räuber Madej15). Aus der Region Prekmurje veröffentlichte V. Legenden-, Zauber- und Novellenmärchen so-
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wie Märchen vom dummen Unhold (z. B. AaTh/ATU 756 B16, AaTh/ATU 613: Die beiden J Wanderer ⫹ ATU 546: The Clever Parrot17, AaTh/ATU 700: J Däumling18, AaTh/ ATU 1088: cf. J Wettstreit mit dem Unhold19, AaTh/ATU 851: J Rätselprinzessin20). Unter V.s Veröff.en Oberkrainer Märchen und anderer Erzählungen finden sich Sagen über Sˇtempihar21, den aufrechten Kraftprotz aus Olsˇevek, und über Hudi Kljukec22, eine Art slov. Trickster und Betrüger, der Reiche bestiehlt und Armen hilft und in einer Nacht von Venedig nach Wien reiten kann. In Varazˇdin sammelte V. zusammen mit seinen Schülern Volkserzählungen in kajkroat. Dialekt. Einige seiner Aufzeichnungen publizierte Miklosˇicˇ23. V.’ Slg Narodne pripovijedke skupio u i oko Varazˇdina ([Volkserzählungen gesammelt in und um Varazˇdin]. Varazˇdin 1858) enthält Sagen, Märchen und Schwänke von J Schicksalsfrauen, Hexen, Schwarzkünstlern, J Vilen, Wolfshirten, Naturgewalten, Krankheiten, Heil- und Zauberpflanzen24. Die Märchen weisen große Ähnlichkeit mit den J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm und Einflüsse mitteleurop. Erzählguts auf, ein Großteil der Sagen dagegen spiegelt slav. und südbalkan. Erzähltraditionen wider25. In O Rodjenicah ili Sudjenicah (Über Geburts- und Schickalsfeen) widerlegte er J. Grimms Behauptung, daß bei den Slaven keine Schicksalsgöttinnen bekannt seien26. Für die intensivere Erforschung von der Volksüberlieferung auf slov. Gebiet setzte sich V. in seiner Abhdlg Narodne stvari. Pricˇe, na vade, stare vere ([Volkskultur. Sagen, Bräuche und Volksglauben] 1866/68) ein27. Am Beispiel der Erzählung Mrtvec pride po ljubico ([Der Tote kommt seine Braut holen]; AaTh/ATU 365: J Lenore) wies V. die internat. Verbreitung der Thematik nach28. V. vertrat als erster slov. Gelehrter eine internat. ausgerichtete komparatistische Forschung29. 1 Stanonik, M.: M. V. kot slovstveni folklorist (M. V. als literar. Folklorist). In: Etnolosˇka tribuna 6⫺7 (1984) 107⫺115; cf. BP 5, 100 sq. ⫺ 2 cf. z. B. V., M. K.: Prinos k naglasu u (novo)slovenskom jeziku (Zur Betonung der [neu]slov. Sprache). In: Rad Jugoslavenske akademije znanosti i umjetnosti 43⫺ 48, 56, 63, 71, 76, 93, 102, 105, 110, 118, 119, 121 (1878⫺95); id.: O prijevodu psalma u nekijem ruko-
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pisima hrvatsko-srpsko- i bulgarsko-slovenskijem (Von der Psalm-Übers. in einigen kroat.-serb. und bulg.-slov. Hss.). ibid. 98 (1889) 1⫺84; 99 (1890) 1⫺ 72; 100 (1890) 1⫺64; id.: Zur Betonung im Slowenischen. Etymologisches. In: Archiv für slav. Philologie 5 (1881) 157⫺164. ⫺ 3 id.: Pesmi (Lieder). Ljubljana 1855; id.: Poezije (Gedichte). ed. F. Levec. Ljubljana 1900. ⫺ 4 cf. Scherf, W.: Märchenlex. 1. Mü. 1995, 602⫺605. ⫺ 5 z. B. Goethes Iphigenie auf Tauris (Ljubljanski cˇasnik [1850] num. 29⫺32), Ovids Vier Weltalter (Koledarcˇek slovenski. [1856]), Sophokles‘ Aias (Slovenski glasnik [1861]). ⫺ 6 id.: Lesena skleda (Die Holzschale). In: Novice 6,4 ˇ erno(1848) 15 (noch sprachlich überarbeitet); id.: C sˇolc (Der Schwarzkünstler). In: Slovenija 2,13 (1849) 52. ⫺ 7 Cvetje slovanskega naroda (1852); Glasnik slovenskega slovstva (1854); V., M. K.: Volkslieder aus Preddvor in Oberkrain. In: Jbb. des Obergymnasiums zu Varazˇdin (1858) 16⫺20; Slovenski glasnik (1859/60); Novice (1856) 386 sq.; ibid. (1858) 69, 77; Kres (1885) 244⫺246; Sˇtrekelj, K.: Slovenske ljudske pesmi (Slov. Volkslieder) 1⫺4. Ljubljana 1895⫺1923 (75 von V. gesammelte kajkroat. Lieder); cf. auch Delorko, O.: Neki vidovi hrvatske kajkavske usmene poezije (Beitr.e zur kajkroat. Volkspoesie). In: Kaj 5 (1972) 24⫺34. ⫺ 8 Gesamtausg.: Kracˇmanove pravljice (Kracˇmans Märchen) 1⫺2. ed. I. Popit. Radovljica 2002/07. ⫺ 9 V., M. K.: Narodne pripovijedke skupio u i oko Varazˇdina (Volkserzählungen gesammelt in und um Varazˇdin). Varazˇdin 1858; id.: Narodne pripoviesti iz susjedne Varazˇdinu Sˇtajerske kao primjer prostonarodnoga govora i prinos za poznavanje jugoslovienskih dialekta (Volkserzählungen aus der Varazˇdin benachbarten Steiermark als Beispiel der Volksrede und Beitr. zur südslav. Mundartforschung). In: Izviestje kr. realne i velike gimnazije i male gradske realke u Varazˇdinu koncem sˇkolske godine 1874/5. Zagreb 1875, 3⫺46; Krauß, F. S.: Sagen und Märchen der Südslaven 1⫺2. Lpz. 1883/84 (enthält 119 Märchen und Sagen von V. ). ⫺ 10 z. B. V., M. K.: Od Torke ali Torkle (Von Torka oder Torkla). In: Novice 16,28 (1858) 222; id.: Od vucˇjeg pastira (Vom Wolfshirten). ibid. 15,57 (1857) 227; 16,9 (1858) 69. ⫺ 11 id.: Zlata tica (Der Goldvogel). In: Slovenska bcˇela 3,33 (1852) 266⫺269. ⫺ 12 id.: Kobilica (Die Heuschrecke). ibid. 3,46⫺48 (1852) 369⫺372, 377⫺ 380, 386⫺388. ⫺ 13 id.: Od divjih deklet (Von den wilden Mädchen). In: Novice 16,28 (1858) 222; 4,3 (1859) 73 sq. ⫺ 14 id.: Sveti Andrej (Der hl. Andreas). In: Slovenski glasnik 9,5 (1863) 155 sq. ⫺ 15 id.: Ocˇe sina vragu dal (Der Vater gab seinen Sohn dem Teufel). In: Novice 18,19 (1860) 149 sq. ⫺ 16 id.: Madaj. In: Slovenski narod 7,67 (1874) 1 sq. (auch in: Kres 5,6 [1885] 302 sq.). ⫺ 17 id.: Narodna pripovedka o treh bratih (Die Volkserzählung von den drei Brüdern). In: Slovenski glasnik 9,5 (1863) 155 sq. ⫺ 18 id.: Palcˇek (Der Zwerg). In: Slovenski narod 7,65 (1874) 1 sq. (auch in Kres 5,5 [1885] 248 sq.). ⫺ 19 id.: Trije hajdje no zver (Drei Riesen und die Bestie). In: Izviestje (wie not. 9) 11⫺13. ⫺
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id.: Vüsˇja slanina (Der Lausspeck). ibid., 13⫺ 16. ⫺ 21 id.: Sˇtempihar. In: Slovenija 1,44/45 (1848) 176, 180. ⫺ 22 id.: Hudi Kljukec (Der furchtbare Kljukec). ibid. 2,9 (1849) 36. ⫺ 23 Miklosˇicˇ, F.: Chorvat.slov. Märchen aus der Umgegend von Varazˇdin. Wien 1858, 169 sq. (12 Märchen). ⫺ 24 Neuausg. u. d. T.: Narodne pripovjesti u Varazˇdinu i okolici (Volkserzählungen in Varazˇdin und Umgebung). Zagreb 1890; cf. Leskien, A.: Balkanmärchen aus Albanien, Bulgarien, Serbien und Kroatien. MdW 1915, num. 42⫺46; Bosˇkovic´-Stulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975, num. 17, 25, 49, 58, 59, 63. ⫺ 25 ead.: Kajkavske pripovijetke i predaje (Kajkav. Erzählungen und Überlieferungen). In: Kaj 5,5 (1972) 3⫺10, hier 8. ⫺ 26 V., M. K.: O Rodjenicah ili Sudjenicah (Über Geburts- und Schickalsfeen). In: Knjizˇevnik 2 (1865) 52⫺61. ⫺ 27 id.: Narodne stvari. Pricˇe, navade, stare vere (Volkskultur. Sagen, Bräuche und Volksglauben). In: Slovenski glasnik 9 (1866) 23⫺28, 67⫺70, 108⫺112, 146⫺151, 229 sq., 309 sq., 406⫺409, 448⫺451, bes. 23 sq.; ibid. 11 (1868) 152⫺154. ⫺ 28 id. 1858 (wie not. 9) 4⫺7. ⫺ 29 id. (wie not. 27); id.: Prinesˇcˇek, kako in od kod se narodne pripovesti razsˇirjajo (Über die Herkunft und Verbreitung der Volkserzählungen). In: Kres 6,2 (1866) 151⫺154.
Ljubljana
Monika Kropej
Vampir (Mot. E 251), eine in Südosteuropa beheimatete Spielart des in ganz Europa verbreiteten Glaubens an J Wiedergänger (cf. auch J Lebender Leichnam). Der V. ist ein Untoter (cf. J Tot, Tote), der aus seinem J Grab zurückkehrt, um Mensch und Vieh zu schädigen sowie die Ernte zu beeinträchtigen oder gar zu zerstören. Die Gründe für seine Rückkehr sind vielfältig und reichen von einem gräßlichen Unfalltod über ein sündhaftes Leben bis zu Fehlern, die während der Aufbahrung der J Leiche oder beim J Begräbnis gemacht wurden. Dem V. ist daher der Übergang in eine andere Welt nicht möglich, so daß er im Diesseits weiterexistiert, obwohl er nicht mehr dorthin gehört. Da der V. eine dauerhaft schädigende Wesenheit ist, muß er unter allen Umständen vernichtet werden. Hat man sein Grab ausfindig gemacht, wird der darin liegende Körper entweder durch Verbrennen komplett zerstört oder aber durch gezielte Manipulationen wie das Pfählen des Herzens unschädlich gemacht. Das Wort V. soll (in der altruss. Form ,upir‘) zuerst 1047 bezeugt sein, doch ist diese
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Theorie umstritten1. Vorrangig ist der V. eine Figur der Überlieferung Südosteuropas, wo er auch unter anderen Namen wie z. B. strigoi (rumän.) oder lugat (alban.) bekannt ist. Der älteste schriftl. Beleg für Praktiken, die mit dem Volksglauben an V.e in Verbindung stehen, findet sich 1349 im Gesetzbuch des serb. Zaren Stefan Urosˇ IV. Dusˇan (1331⫺55). Hier wird untersagt, einmal bestattete Leichen auszugraben und zu verbrennen, wobei im Falle der Zuwiderhandlung das ganze Dorf eine Geldstrafe zu bezahlen habe und ein daran teilnehmender Pope Amt und Würden verlieren werde2. Sicher faßbar wird der V.glaube erstmals 1725 und massiv ab 1731 mit den Ber.en österr. Militärkommissionen, die in Bosnien und Serbien eine Reihe von Vorfällen untersuchten; diese begannen mit einem von den Dorfbewohnern als ungewöhnlich beschriebenen Sterben mehrerer Menschen, für das man einen V. verantwortlich machte. Die dabei gemachten Angaben folgen einem Muster, das man in der überwiegenden Mehrzahl der V.berichte wiederfindet, unabhängig davon, wo und wann sie aufgenommen wurden3. Es beginnt mit scheinbar unerklärlichen und bedrohlichen Phänomenen wie schreckhaftem Vieh auf der Weide, mißratener Ernte, verdorbenen Vorräten, plötzlichen Krankheitsfällen oder dem rasch aufeinanderfolgenden Tod mehrerer Bewohner eines Dorfes oder Mitglieder einer Familie. Häufig wird berichtet, daß ein kürzlich Verstorbener gesehen worden sei; ist dies nicht der Fall, so werden Vermutungen angestellt, wer hinter diesen Vorgängen stecken könnte. Daraufhin wird dessen Grab ausfindig gemacht und untersucht. Ist der im Sarg liegende Leichnam gut erhalten (scheinbarer Haar- und Bartwuchs; rosige Haut; austretende, als Blut identifizierte Körperflüssigkeiten; J Unverweslichkeit), wird er vernichtet; falls nicht, wird das Grab wieder geschlossen und weitergesucht, bis der V. gefunden ist. Nach Vernichtung des V.s finden die bedrohlichen Vorfälle stets ein Ende.
Häufig findet sich die Annahme, daß ein soeben Verstorbener im Grab zum V. werden könne. Da sich die Transformation als solche nicht verhindern läßt, wird mit verschiedensten Vorsichtsmaßnahmen versucht, ihn im Grab zu halten: durch Einwickeln des Leichnams in ein Netz, Durchtrennen der Sehnen, Einführen von Knoblauchzehen in Körperöffnungen, Ausstreuen von Mohnsamen oder Sonnenblumenkernen im Sarg, um den V. zum Zählen zu verleiten, und dergleichen mehr.
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1732 wurde im Gefolge der durch die österr. Militärkommissionen untersuchten Vorfälle eine aufgeklärte V.debatte entfacht, die bis 1739 andauerte. Die hierbei geäußerten Erklärungsversuche reichen von bloßer Einbildung über medizinische Erklärungen wie Krankheiten, z. B. aufgrund des Genusses von infiziertem Schaffleisch, bis hin zu Vermutungen über das Fortleben der J Seele über den Tod hinaus4. Die Debatte lief sich aufgrund mangelnder weiterer Ber.e und der festgefügten Ansichten ihrer Teilnehmer rasch tot. Sie wurde auch nach Ber.en über weitere Vorfälle aus dem Banat und Siebenbürgen in der Mitte des 18. Jh.s nicht wiederaufgenommen, obwohl bes. der ausführliche Ber. des Arztes G. Tallar über eine Reihe von V.vorfällen in Siebenbürgen reichlich neues medizinisches und volkskundliches Material enthielt5. Über die aufgeklärte V.debatte gelangte die Vorstellung vom wiederkehrenden und schädigenden Toten, dem man alsbald auch das J Blutsaugen nachsagte, in den mittel- und westeurop. Kulturkreis6. Im Laufe dieser Debatte wurde der Begriff V. popularisiert und fand Eingang in den Wortschatz der europ. Sprachen. J Voltaire brachte ihn in seinem Dict. philosophique (1764) mit einem wirtschaftlichen und sozialen ,Blutsaugertum‘ in Zusammenhang7. Nach Abklingen des gelehrten V.diskurses verschwand der V. weitgehend aus der wiss. Publizistik. In Westpreußen sind Exhumierungen wegen angeblichem Vampirismus noch im 19. Jh. mehrfach bezeugt8, ebenso im ländlichen Neuengland (Rhode Island)9, in Ungarn (1902)10, Bulgarien und Rumänien bis in die unmittelbare Gegenwart11. Das Interesse an der Volkskultur, das im 19. Jh. einen Aufschwung der ethnogr. Forschung in den Ländern Südosteuropas bewirkte, führte zu einer Vielzahl von Unters.en12. V.geschichten wurden schon früh auch von einheimischen Volkskundlern gesammelt13, so daß sie mittlerweile für einen Zeitraum von fast 300 Jahren vorliegen. Das Grundmuster der Geschichten wird dabei bestätigt, doch weisen die Details eine große Varianz auf, wobei Abweichungen bereits in räumlich nahe beieinander liegenden Erhebungsgebieten auftreten können. Die volkstümlichen V.erzählungen haben äußerst selten ein offenes Ende; typisch ist hingegen die Ver-
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nichtung des V.s durch die Familie oder die Dorfgemeinschaft. Dies verdeutlicht eine ihrer zentralen Funktionen, nämlich die Sicherung des Zusammenhalts der Gemeinschaft: Nur im gemeinsamen Vorgehen gegen den V. ist ein Erfolg garantiert14. Ein wichtiger Aspekt ist, daß der V. kein Fremder ist, sondern ein Familienmitglied oder ein Mitbewohner des Dorfes. Lediglich wenn Soldaten zu V.en werden, gilt diese Regel nicht; hier sind es eher die Feinde, die zu schädigenden Wiedergängern werden15. Seit Ende des 18. Jh.s wurde der V. eine häufig wiederkehrendes Figur der Lit.16 Gottfried August J Bürgers Ballade Lenore (1773/ 74), J Goethes Ballade Die Braut von Korinth (1797), John William Polidoris (1795⫺1821) The Vampyre (1816), E. T. A. J Hoffmanns Novellensammlung Die Serapionsbrüder (1819⫺ 21), Edgar Allan J Poes vampirhafte Frauengestalten in Berenice (1835), Morella (1835) und Ligeia (1838), The´ophile J Gautiers La Morte amoureuse (1836) oder Joseph Sheridan Le Fanus (1814⫺73) Carmilla (1872) sind die bekanntesten frühen literar. Verarbeitungen des V.motivs. Bereits Goethes Braut von Korinth zeigt deutlich, daß die literar. V.erzählungen und -romane mit dem V. des Volksglaubens nur wenig gemein haben: Hier ist die Handlung in die griech. Antike verlegt. Doch erst die J Romantik mit ihrem Interesse an übernatürlichen, mystischen oder gesellschaftlich verpönten Themen, zu denen auch das Böse und die Beschäftigung damit gehören, macht den V. zu einem immer wiederkehrenden Motiv. Die Angst vor dem Sterben und dem Tod, die sich häufig mit der Furcht verband, lebendig begraben zu werden (J Scheintod), aber auch die Möglichkeiten zur verklausulierten Darstellung von Erotik und Sexualität ließen den V. als Projektionsfläche interessant erscheinen. Insbesondere das Blutsaugen, das so keine Entsprechung im Volksglauben hat, aber in den V.berichten des 18. Jh.s festgestellt wurde, und der dazugehörige Biß eröffneten vielfältige Möglichkeiten, Sexualität und Eros metaphorisch zu beschreiben. Der im Verlauf des 19. Jh.s immer stärker zutage tretende Hang zur Dekadenz sorgte für eine weitere Popularisierung. Den Prototyp des Gentleman-V.s, des aristokratischen Blutsaugers, schuf Lord Byrons Leibarzt Polidori mit Lord Ruthven in
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seiner durch ein Gedicht Byrons inspirierten Erzählung The Vampyre; Heinrich Marschner verarbeitete die Erzählung in seiner Oper Der Vampyr (1828). 1845⫺47 wurden die Geschichten um ,Varney the Vampire‘ als Groschenheftreihe (sog. Penny Dreadfuls) veröffentlicht, die ein weiterer Schritt zur Popularisierung der V.figur waren. Varney ist der erste V. der Lit.geschichte, der seine Existenz als Wiedergänger haßt, doch nichts gegen sein Dasein unternehmen kann. Zu dieser Zeit wurden V.e noch nicht mit einer bestimmten Landschaft verbunden. Polidoris Lord Ruthven ist in Griechenland ebenso zu Hause wie in London, Gautiers Clarimonde treibt in Frankreich ihr Unwesen, und Sheridan Le Fanus Carmilla sucht sich ihre Opfer in der Steiermark. Die Figur des V.s war im 19. Jh. sehr häufig weiblich: bei Goethe und Gautier wie bei Hoffmann finden sich weibliche Blutsauger, und auch Carmilla ist eine untote Femme fatale. Bes. dieser Umstand ist heute in Vergessenheit geraten, wird doch das Bild, das allg. vorherrscht, durch Bram Stokers J Dracula (1897) bestimmt17. Dieser Roman sollte nicht nur das Bild des V.s in der mittel- und westeurop. Öffentlichkeit nachhaltig beeinflussen, er machte darüber hinaus Südosteuropa, im engeren Sinn Rumänien und bes. Siebenbürgen (Transsilvanien), zum klassischen Heimatland des literar. V. s. Stoker wurde durch Sheridan Le Fanus Carmilla wie auch durch die Varney-Geschichten zu seinem Roman inspiriert. Die häufige Behauptung einer starken Beeinflussung durch die Ber.e über den walach. Fürsten Vlad III. T¸epes¸ (1431⫺77) trifft nicht zu; Stoker wußte offenbar außer dem eher zufällig aufgeschnappten Namen und einigen Details nichts über den Fürsten18. Sein Buch ist eine Mischung aus Reise-, Liebes-, Abenteuer- und Schauerroman und besteht formal aus einer Abfolge von Tagebucheintragungen, Mitschriften von Grammophonaufnahmen, Briefen, Notizen und Ztgsartikeln. Überhaupt spielen moderne Kommunikationsmittel eine große Rolle. Es wird telegraphiert und auf Schreibmaschinen geschrieben, was nicht nur den Kontrast zur altmodischen und morbiden Welt des Grafen Dracula erhöht, sondern auch der Begeisterung Stokers für die technischen Neuerungen geschuldet ist, die kurz vor
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der Jh.wende die Kommunikation revolutionierten. Dem Roman fehlt ein auktorialer Erzähler, was der Handlung ein dokumentarisches und realistisches Gepräge verleiht. Viele der Details, die in den V.romanen und -filmen des 20. Jh.s zu festen Bestandteilen der V.figur wurden, fehlen aber noch: auffallend große Eckzähne, Lichtempfindlichkeit und der schwarze Anzug mit Cape. Stoker schuf mit seinem Grafen Dracula eine der erfolgreichsten Figuren im Arsenal des Horrorgenres (J Horrorgeschichte, Horrorliteratur), die ihre Ausformung allerdings erst durch unzählige Filme erlangte. Bei diesen handelt es sich überwiegend um freie Interpretationen des Romans oder um vollkommen neue Geschichten, die mit Stokers Werk lediglich die Namen und einige Charakteristika der Figuren gemeinsam haben. Friedrich Wilhelm Murnaus (1888⫺1931) Nosferatu, eine Symphonie des Grauens (1922), Tod Brownings (1882⫺1962) Dracula (1931) und die in den 1950er und 1960er Jahren entstandenen Filme von Terence Fisher (1904⫺80) haben hier stilbildend gewirkt. Zu den bekannteren V.filmen aus neuerer Zeit gehören etwa Roman Polanskis Satire The Fearless Vampire Killers (1967; dt.: Tanz der V.e), Werner Herzogs Nosferatu, Phantom der Nacht (1979), Francis Ford Coppolas Dracula (1992) oder Neil Jordans Verfilmung (1994) von Anne Rices Roman Interview with the Vampire (1976). Auch in die Kinderund Jugendliteratur haben V.geschichten Eingang gefunden. Angela Sommer-Bodenburgs Buchreihe Der kleine V. (1979 sqq.) handelt von der Freundschaft zwischen dem Menschenkind Anton und dem V.kind Rüdiger; die Twilight-Serie (2005 sqq.) der amerik. Autorin Stephenie Meyer beginnt damit, daß ein Teenager sich in einen jugendlich erscheinenden, in Wahrheit aber steinalten V. verliebt. In den Lit.en Südosteuropas gibt es demgegenüber nur wenige V.erzählungen. Zu den seltenen Beispielen gehört Mircea J Eliades rumän. Novelle Domnis¸oara Christina (1936), in der er bewußt auf Motive des Volksglaubens zurückgreift und einen weiblichen V. zum Gegenstand der Handlung macht. Im alban. Nationalepos Lahuta e malcis (Die Laute des Hochlandes), das seit 1905 von dem Franziskaner Gjergj Fishta (1871⫺1940) verfaßt und
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1937 veröffentlicht wurde, ist der 11. Gesang Lugati (V.)19. In europ. bzw. internat. verbreiteten Volkserzählungen spielen als V. bezeichnete Gestalten keine große Rolle, wenngleich einige Erzähltypen mit V.erzählungen verwandt erscheinen. Dies gilt etwa für Var.n von AaTh/ ATU 311, 312: J Mädchenmörder oder den in fast ganz Europa verbreiteten Erzähltyp AaTh/ATU 307: J Prinzessin im Sarg, auf den auch die Novelle Vij (1835) von Nikolaj V. J Gogol’ zurückgeht. Ein blutsaugender Oger erscheint in Var.n von AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder20. In dem in weiten Teilen Europas verbreiteten Erzähltyp AaTh/ATU 363: The Corpse-Eater ist die Hauptfigur bestenfalls eine vampirähnliche Gestalt: Eine junge Frau heiratet einen Mann mit einem ungewöhnlichen Charakteristikum (grüner Bart, goldene Nase etc.). Nachts beobachtet sie heimlich, wie er auf dem Friedhof Leichen verspeist. Später daraufhin angesprochen, verneint sie, etwas gesehen zu haben, selbst als ihr Mann in Gestalt ihres Vaters bzw. Bruders erscheint; erst als er in Gestalt ihrer Mutter auftritt, gibt sie es zu. Sie wird von ihrem Mann getötet und verspeist, oder sie kann im letzten Moment fliehen.
Für Rumänien und seine Tourismusindustrie stellt die Verquickung von einheimischem Volksglauben und importierten Vorstellungen einen nicht zu unterschätzenden Faktor dar. So wurde die Törzburg (Castelul Bran) bei Kronstadt (Bras¸ov) zum Dracula-Schloß stilisiert, untermauert mit Hinweisen auf hist. nicht belegte Besuche des Fürsten Vlad T¸epes¸. Die Errichtung eines Dracula-Vergnügungsparks wird immer wieder diskutiert. Mehrere Restaurants im ganzen Land sind nach Stokers Romanfigur benannt. Wie fest diese Stereotypen mittlerweile mit Rumänien in Verbindung gebracht werden, zeigt das satirische Kunstwerk Entropa (2009), mit dem David ˇ erny´ Vorurteile und Stereotypen in Europa C reflektiert: Rumänien wird dort als Geisterbahnschloß mit einem als Draculakopf gestalteten Eingang dargestellt. 1 Perkowski, J. L.: Vampire Lore. Bloom. 2006, 216, 332; McClelland, B. A.: Slayers and Their Vampires. Ann Arbor 2006, 187⫺191; Oinas, F.: Heretics as Vampires and Demons in Russia. In: Slavic and East European J. 22 (1978) 433⫺441. ⫺ 2 Burkhart, D.:
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V.glaube in Südosteuropa. In: ead.: Kulturraum Balkan. B./Hbg 1989, 65⫺109, hier 77. ⫺ 3 Hamberger, K.: Mortuus non mordet. Dokumente zum Vampirismus 1689⫺1791. Wien 1992. ⫺ 4 Lecouteux, C.: Die Geschichte der V. e. Metamorphose eines Mythos. Düsseldorf/Zürich 2001, 160⫺180. ⫺ 5 Tallar, G.: Visum repertum anatomico-chirurgicum oder Gründlicher Ber. von den sog. Blutsäugern, Vampier, oder in der wallach. Sprache Moroi […]. Wien/ Lpz. 1784. ⫺ 6 Kreuter, P. M.: Der V.glaube in Südosteuropa. B. 2001, 81⫺96; Keyworth, G. D.: Was the Vampire of the Eighteenth Century a Unique Type of Undead Corpse? In: FL 117,3 (2006) 241⫺ 260. ⫺ 7 Voltaire: Dict. philosophique. ed. R. Naves. P. 1951, 548. ⫺ 8 Steiner, O.: V.leichen. V.prozesse in Preußen. Hbg 1959; Hamberger, K.: Über Vampirismus. Krankengeschichten und Deutungsmuster 1801⫺1899. Wien 1992. ⫺ 9 Bell, M. E.: Food for the Dead. On the Trail of New England’s Vampires. N. Y. 2001. ⫺ 10 Stern-Szana, B.: Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei 1. B. 1903, 370. ⫺ 11 Fifor, M./Andronache, M.: Haunting the Strigoi. From Ritual to Media Event. In: Symposia. J. for Studies in Ethnology and Anthropology (2004) 233⫺244. ⫺ 12 Andree, R.: Ethnogr. Parallelen. Stg. 1878, 80⫺94; Bischof, F./D’Elvert, C.: Zur Geschichte des Glaubens an Zauberer, Hexen und Vampyre in Mähren und Oesterr. Schlesien. Brünn 1859; Lübeck, K. L.: Die Krankheitsdämonen der Balkanvölker. In: ZfVk. 8 (1898) 241⫺249, 379⫺ 389; Mannhardt, W.: Über Vampyrismus. In: Zs. für dt. Mythologie 4 (1859) 259⫺282; Mayo, H.: On the Truth Contained in Popular Superstitions. L. 1851; Thallo´czy, L. von: Beitr.e zum Vampyr-Glauben der Serben. In: Ethnol. Mittlgen aus Ungarn 3 (1888) 17⫺20. ⫺ 13 Dumitras¸cu, N. I.: Strigoii. Din credint¸ele, datinile s¸i povestirile poporului romaˆn. Buk. 1929; Gorovei, A.: Credint¸i s¸i superstit¸ii ale poporului romaˆn. Buk. 1915; Pamfile, T.: Diavolul ⫺ Invra˘jbitor al Lumii dupa˘ credint¸ele poporului romaˆn. Buk. 1914; ead.: Mitologie romaˆneasca˘. 1: Dus¸mani s¸i prieteni ai omului. Buk. 1916. ⫺ 14 Hedes¸an, O.: Pentru o mitologie difuza˘. Temeschwar 2000, 204⫺ 273; ead.: S¸apte eseuri despre strigoi. Temeschwar 1998. ⫺ 15 Sasse, H.-J.: Arvanitika. Die alban. Sprachreste in Griechenland 1. Wiesbaden 1991, 500⫺507. ⫺ 16 Bertschik, J./Tuczay, C. (edd.): Poetische Wiedergänger. Dt.sprachige Vampirismus-Diskurse vom MA. bis zur Gegenwart. Tübingen 2005. ⫺ 17 Harmening, D.: Der Anfang von Dracula. Zur Geschichte von Geschichten. Würzburg 1993; Pütz, S.: V.e und ihre Opfer. Der Blutsauger als literar. Motiv. Bielefeld 1992. ⫺ 18 Miller, E.: Dracula. Sense und Nonsense. Southend-on-Sea 2000. ⫺ 19 Lambertz, M.: Gjergj Fishta und das alban. Heldenepos „Lahuta e Malsise¨“ ⫺ Laute des Hochlandes. Lpz. 1949. ⫺ 20 Belmont, N.: Poe´tique du conte. P. 1999, 102⫺117; Shojaei Kawan, C.: „Li sette palommielle, Lo cuorvo, Le tre cetra“. Drei Märchen von Basile und ihr Verhältnis zur mündl. Überliefe-
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rung. In: Giovan Battista Basile e l’invenzione della fiaba. ed. M. Picone/A. Messerli. Ravenna 2004, 223⫺246, hier 225.
Regensburg
Peter Mario Kreuter
Variabilität 1. Allgemeines ⫺ 2. V. und Performanz ⫺ 3. V. und gattungsspezifische Aspekte
1 . All ge me in es. Der Begriff V. bezeichnet das grundsätzliche Potential der Veränderbarkeit, als deren Resultat durch Variation im Prozeß der Tradierung Varianz entsteht. Aus Sicht der Erzählforschung bewirkt V. als eines der wichtigsten Merkmale der Volksdichtung die Entstehung der Vielheit textlicher J Varianten, in denen die Überlieferung existiert1. V. steht im Gegensatz zu der oft komplementär aufgefaßten J Stabilität der Volksdichtung, die ⫺ je nach den zugrundeliegenden theoretischen Ansätzen ⫺ für die formalen, inhaltlichen oder soziokulturellen Elemente der Überlieferung geltend gemacht wird2. Im Rahmen der J geogr.-hist. Methode unterschieden frühere methodische Zugänge zum Phänomen der V. zwischen der ursprünglichen Form (J Urform) einer Erzählung, die oft auch als deren vollkommene Form (Idealform) verstanden wurde, und der mündl. oder schriftl. realisierten Var. Nach W. J Anderson läßt sich die Urform einer Erzählung aus der J Normalform durch den Vergleich einer genügend hohen Anzahl von Var.n erschließen; die grundsätzlich voneinander verschiedenen Var.n zielten auf eine stabile Form (J Zielform) und oszillierten um das feste Zentrum einer Erzählung, d. h. eine grundlegende Struktur bzw. ein sog. Minimalgerüst. Durch das Gesetz der J Selbstberichtigung werde dabei die Varianz der Erzählungen begrenzt3. Die Anhänger der geogr.-hist. Methode klassifizieren Erzählungen nach J Typen, die sie aufgrund der durch vergleichende Forschungen regional bzw. internat. festgestellten Gesamtheit dokumentierter Var.n erschlossen. Dabei werden synchron die geogr. J Verbreitung bzw. J Diffusion der Erzähltypen sowie diachron die Überlieferung der Erzähltypen in der hist. Entwicklung untersucht. Innerhalb dieses Rahmens betreffen Modifikationen
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etwa die Austauschbarkeit von J Motiven und J Episoden, von J Requisiten oder J Handlungsträgern, die Bindung an unterschiedliche J Kristallisationsgestalten, die Vermischung theoretisch isolierter ,reiner‘ Erzähltypen (J Kontamination), die J Affinität von J Texten oder ihrer Teile zueinander oder auch die Reduktion von Texten zu J Schwundstufen. Bei den späteren soziol. Ansätzen (J Biologie des Erzählguts, J Performanz) wird die V. der mündl. Überlieferung im J Kontext ihrer natürlichen Existenzbedingungen untersucht. Seit der Mitte des 20. Jh.s befaßt sich die Erzählforschung zudem stärker mit dem Wandel der Erzählungen durch J Adaptation (cf. auch J Akkulturation) an veränderte kulturelle oder soziale Rahmenbedingungen. Die V. der Texte oder des J Repertoires einzelner Gruppen läßt sich dabei bes. aufschlußreich im Zusammenhang mit den sozialen und kulturellen Prozessen in eingrenzbaren Kontaktgebieten untersuchen, etwa in Grenzregionen oder Regionen, in denen verschiedene sprachlich oder ethnisch definierte J Traditionen zusammentreffen (J Interethnische Beziehungen). Allg. ist ein unterschiedlicher Grad der V. für schriftl. bzw. mündl. überlieferte Texte festzustellen (cf. Mündlichkeit und J Schriftlichkeit). Form und Inhalt mündl. überlieferter Texte sind aufgrund der sich ständig wandelnden Performanzkontexte in verschiedener Hinsicht großen Schwankungen unterworfen. Demgegenüber läßt sich für schriftl. überlieferte Texte eine relativ hohe Traditionspermanenz feststellen, wenngleich eine gewisse Varianz ⫺ etwa durch Fehler der Kopisten oder bewußte Eingriffe späterer Kompilatoren ⫺ auch hier grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann. 2 . V. u nd Pe rf or ma nz. Die Erforschung des lebendigen J Erzählens und des Prozesses der Reproduktion der mündl. Überlieferung konzentriert sich in erster Linie auf die Erzähler bzw. Erzählerinnen und auf das Erzählmilieu (J Soziales Milieu). Dabei werden die Erzähler u. a. in bezug auf ihre J Kreativität (J Improvisation, J Interaktion) in den Blick genommen. Differenziert wird zwischen aktiv schöpferischen Erzählern, die fähig sind, neue
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Var.n der mündl. Überlieferung zu produzieren, und eher mechanisch vorgehenden Erzählern, welche die überlieferten Erzählungen nicht ändern können oder wollen. Die Beobachtung aktiver Erzähler während ihres Vortrags und die detaillierte Dokumentation des Entstehungsprozesses ihrer Erzählungen führte zu einem stärkeren Bewußtsein für die Bedeutung des Kontexts. Dabei kann zwischen einem situativen, linguistischen und kulturellen bzw. soziokulturellen Kontext unterschieden werden4. Der situative Kontext bezeichnet die spezifische Situation, in welcher der Erzähler sein Repertoire vorträgt, etwa die Erzählgelegenheit oder die Zusammensetzung des Publikums (J Zuhörer). Jede Änderung der Performanzbedingungen kann zu einem Wechsel der Erzählthemen oder Erzählgattungen oder auch zu Veränderungen der konkreten Ausgestaltung der einzelnen Erzählungen führen. Wiederholte Aufnahmen derselben Erzählung bei verschiedenen Erzählgelegenheiten (cf. J Experimentelle Erzählforschung) haben gezeigt, wie Form und Inhalt eines Texts variieren können5. Unterschiede zeigen sich vor allem in der Länge des Texts, der entweder nur die wichtigsten Motive in einer kondensierten Form enthält oder unterschiedliche Grade der Ausschmückung verwirklicht6. Meist wurde die jeweils längste Version einer Erzählung beim wiederholten Erzählen, speziell bei wiederholten Interviews mit dem Sammler, geliefert. Wenn der Erzähler dagegen in seinem üblichen Zuhörerkreis war oder wenn mehrere Erzähler nacheinander auftraten, wurden eher kürzere, kondensierte Fassungen vorgetragen7. Die in längeren Fassungen eingefügten J Details besaßen offensichtlich für das übliche Publikum weniger Bedeutung; im Fall mehrerer Erzähler sollten die Texte rasch hintereinander vorgetragen werden, damit sich die Interpreten abwechseln konnten. Die Erforschung des linguistischen Kontexts befaßt sich mit der Stellung der Erzählung im konkreten narrativen Diskurs. Die vorgetragene Erzählung ist z. B. die Erwiderung auf eine Frage, oder sie ist in eine Kette von ähnlichen Erzählungen eingegliedert, sie entspringt einer J Assoziation, oder sie steht in Zusammenhang mit der Erzählung eines vorherigen Erzählers. Derartige Umstände kön-
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nen eine formale oder inhaltliche Varianz bewirken, z. B. Änderungen im sprachlichen Ausdruck, die Länge des Texts, die Ausw. der Erzählmotive oder ihre Differenzierung in Haupt- und Nebenmotive bzw. deren Reihenfolge. Auch können etwa die komischen oder andererseits die didaktischen Momente einer Erzählung betont werden, was zu einer veränderten Wertigkeit oder auch Bedeutung der Erzählung führen kann (cf. auch J Gattungsprobleme, J Hermeneutik, J Interpretation)8. Der kulturelle bzw. soziokulturelle Kontext umfaßt einerseits das Profil des Erzählers, z. B. seinen Beruf, seine Bildung, seine Position in der Gemeinschaft/Gesellschaft oder genderspezifische Aspekte9, anderseits die Rolle des Erzählens im Leben der Gemeinschaft (cf. J Sitz im Leben) und den Einfluß der Alltagskultur auf das Erzählen (kulturelle J Normen und Werte, Reflexion des Alltagslebens in den Texten; cf. J Sozialgeschichtliche Aspekte). Darüber hinaus entsteht Varianz durch Aktualisierung älterer Texte bzw. durch deren Adaptation an veränderte hist. und gesellschaftliche Rahmenbedingungen10, was sich sowohl auf das Repertoire einzelner Erzähler als auch die mündl. Überlieferung einer ganzen Region oder Gemeinschaft auswirken kann. Manche Motive (cf. auch J Topos), J Themen, J Stoffe und Textsorten werden bewahrt oder neu belebt, andere verdrängt. Hierdurch können unter veränderten Bedingungen sowohl die Vorstellungen der Erzähler als auch die Erwartungen ihrer Zuhörer erfüllt werden11. 3 . V. u nd ga tt un gs sp ez if is ch e Asp ek t e. Die Gattungen der Volksliteratur unterscheiden sich hinsichtlich ihres Variationspotentials. Manche Gattungen neigen zu genauem Einprägen und zu wörtlicher Reproduktion oder erfordern diese sogar, wie etwa Sprichwörter oder Zaubersprüche in Reimund Prosaform; andere Gattungen beruhen auf einem allg. Kompositionsschema mit einem relativ frei verstandenen Inhalt und unterliegen daher im Prozeß der Reproduktion einer größeren Varianz. Zwischen diesen beiden Extremen befindet sich ein breites Spektrum von Gattungen, die unterschiedliche formale bzw. inhaltliche Neigung zu V. oder Stabilität zeigen12. Eine bes. Bedeutung hat die
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Erforschung der Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen der V. in der Lied- und Balladenforschung gespielt (cf. auch J Produktionstheorie)13. Das Märchen als vielepisodische phantastische Abenteuererzählung ist meist durch eine geschlossene Struktur gekennzeichnet und stellt eine kohärente, ausgewogene und relativ stabile Einheit dar14. Das Grundthema des jeweiligen Märchens bleibt auch bei unterschiedlichen Performanzen in der mündl. Überlieferung meist erhalten, die wichtigsten Motive, J Eingangs- und J Schlußformeln, Schlüsselstellen der Handlung und zentrale J Dialoge werden oft auf die gleiche Art und Weise wiedergegeben15. Allerdings unterscheiden sich die einzelnen Var.n prinzipiell voneinander, wobei sowohl Inhalt als auch Form oder J Stil betroffen sein können. Variationen des Stils zeigen sich vorrangig bei nicht formelhaften bzw. nicht standardisierten Abschnitten des Texts, etwa im Austausch von Prosa und gebundener Rede. Schwänke, Anekdoten und Witze sind kürzere Texte, die oft nur aus einer oder wenigen Episoden bestehen. Diese können in unterschiedlicher Reihenfolge oder Gruppierung erzählt werden und variieren oft in Inhalt und Form. Anekdote und Witz werden rasch an veränderte gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen angepaßt bzw. aktualisiert16. Wie beim Märchen ist auch hier die konkrete Ausprägung des Texts stark vom jeweiligen situativen wie auch sozialen und kulturellen Kontext abhängig. Während sprachliche und inhaltliche Ausgestaltung von Anekdote und Witz stark variieren, verändert sich die J Pointe bei den verschiedenen Fassungen der knappen Erzählungen wenig, wodurch ein gleichbleibender humoristischer Effekt erreicht werden kann17. Als kurzer, wenig strukturierter, fragiler und subjektiver Text soll die Sage vor allem eine Botschaft vermitteln. Daher ist die Gattung auf Information, auf die Wahrhaftigkeit der Erzählung gerichtet. Diese Funktion hat eine direkte Auswirkung auf die Varianz der Texte. Um die J Glaubwürdigkeit der Erzählung zu wahren, werden inhaltliche Details ⫺ z. B. Personennamen oder Orte (J Lokalisierung) ⫺ immer wieder neu konkretisiert und an unterschiedlichste gesellschaftliche, kultu-
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relle oder hist. Bedingungen angepaßt. Daher sind Form und Inhalt dieser Texte mehr als bei den anderen Gattungen situationsbedingt und variabel18. Die Sage verfügt meist über keine geschlossene Struktur, eine formale Stabilität ist eher die Ausnahme als die Regel19. Diese Charakteristik gilt für alle Untergattungen der Sage, sowohl für dämonologische oder Glaubenssagen als auch für hist. Erzählungen und für die sog. modernen Sagen. Allerdings unterliegen Glaubenserzählungen, die meist stark an die Erfahrungen und Erlebnisse der Erzähler (oder ihnen nahestehender Menschen), an ihre J Weltanschauung, kulturelle oder soziale Identität gebunden werden und daher überaus subjektive Texte sind, in der Regel der größten Varianz. 1 ˇ Cistov, K. V.: Die V. als Problem der Theorie der Folklore. In: Leˇtopis C 19 (1976) 22⫺33, hier 23; Honko, L.: Types of Comparison and Forms of Variation. In: D’un Conte … a` l’autre. La variabilite´ dans la litte´rature orale. ed. V. Görög-Karady (unter Mitarbeit von M. Chiche). P. 1990, 391⫺402, hier 391. ⫺ 2 Jech, J.: V. und Stabilität in den einzelnen Kategorien der Volksprosa. In: Fabula 9 (1967) 55⫺ ˇ istov (wie not. 1); Lixfeld, H.: Zielformen im 62; C Witz. Zur V. und Stabilität in der Erzählüberlieferung. In: Fabula 20 (1979) 107⫺115. ⫺ 3 Anderson, W.: Kaiser und Abt. Die Geschichte eines Schwanks (FFC 42). Hels. 1923, 398⫺403; id.: Zu Albert Wesselski’s Angriffen auf die finn. folkloristische Forschungsmethode. Tartu 1935, 16. ⫺ 4 Kaivola-Bregenhøj, A.: Variability and Narrative Context. In: Görög-Karady (wie not. 1) 47⫺64, hier 49⫺57. ⫺ 5 z. B. Britsyna, O.: Anecdotes, Jokes and Jests in Everyday Communication. Folklore Texts under Observation and Experimental Study. In: Fabula 40 (1999) 26⫺32. ⫺ 6 Marzolph, U.: Variation, Stability, and the Constitution of Meaning in the Narratives of a Persian Storyteller. In: Thick Corpus, Organic Variation and Textuality in Oral Tradition. ed. L. Honko. Hels. 2000, 435⫺452, bes. 439⫺445. ⫺ 7 Kaivola-Bregenhøj (wie not. 4) 52 sq.; De´gh, L.: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. B. 1962; Bauman, R.: Story, Performance and Event. Cambr. 1986; Jech, J./Rychnova´, D.: O promeˇnlivosti lidove´ho prozaicke´ho poda´nı´ (Über die V. von ˇ L 41 (1954) 209⫺ Prosavolksüberlieferungen). In: C 218. ⫺ 8 Voigt, V.: Sur les Niveaux de variantes des contes. In: Görög-Karady (wie not. 1) 403⫺413, hier 403⫺408; cf. auch Marzolph, U.: Narrative Strategies in Popular Literature. Ideology and Ethics in Tales from the „Arabian Nights“ and Other Collections. In: New Perspectives on Arabian Nights. ed. W. Ouyang/G. J. van Gelder. L./N. Y. 2005, 39⫺50; Köhler-Zülch, I.: Der gestiefelte Kater. In: Märchen. ed. O. Beisbart/B. Kerkhoff-Hader. Hohengehren
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Variae lectiones ⫺ Variante
2008, 43⫺71, hier 60⫺64. ⫺ 9 Köhler-Zülch, I.: Ostholsteins Erzählerinnen in der Slg Wilhelm Wisser. Ihre Texte ⫺ seine Ber.e. In: Fabula 32 (1991) 94⫺ 118. ⫺ 10 Jech (wie not. 2) 60⫺62. ⫺ 11 Neumann, S.: Variability in Repertory and Performance of Mecklenburg Folkstory Tellers. In: Göˇ istov (wie rög-Karady (wie not. 1) 75⫺82. ⫺ 12 C not. 1) 26. ⫺ 13 Strobach, H.: V. Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen. In: Jb. für Volksliedforschung 11 (1966) 1⫺9; Brednich, R. W./Röhrich, L./Suppan, W. (edd.): Hb. des Volkslieds 2. Mü. 1975, Reg. s. v. V., Var.nbildung; cf. allg. Linder-Beroud, W.: Von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Ffm. 1989. ⫺ 14 De´gh, L.: The Variant and the Folklorization Process in Märchen and Legend. In: Görög-Karady (wie not. 1) 161⫺173, hier 162 sq. ⫺ 15 Jech (wie not. 2) 57 sq. ⫺ 16 z. B. Marzolph, U.: Die Qu. der Ergötzlichen Erzählungen des Bar Hebräus. In: Oriens Christianus 69 (1985) 81⫺125. ⫺ 17 Jech (wie not. 2) 58⫺60; Lixfeld (wie not. 2) 115. ⫺ 18 De´gh ˇ istov (wie not. 1) 27. ⫺ 19 Jech (wie not. 14) 163; C (wie not. 2) 61 sq.
Bratislava
Gabriela Kilia´nova´
Variae lectiones, nicht zu verwechseln mit Variantes lectiones, dem neulat. Terminus für Lesarten ma. Mss., die durch Abweichungen der Kopisten entstanden sind (cf. J Philol. Methode, J Variante)1. R. J Schenda erhob die Bezeichnung zu einem Sammelbegriff der Erzählforschung und faßt darunter Unterhaltungsliteratur mit ,vermischten Geschichten aller Art‘. Den Grundtypus hatte er bei seinem Studium der frz. J Prodigienliteratur unter dem zunächst span. Titel Silva de varia leccio´n (1540) des Pedro J Mexı´a entdeckt, gefolgt von dem Franzosen Claude Gruget und seinem Titel Les diverses Lec¸ons (1552). Schenda faßt seine Unters.en darüber zusammen: „Die Diverses Lec¸ons bieten nicht nur in ihrer Gesamtheit, sondern auch in jedem einzelnen Kapitel ein buntes Gemisch von Geschichten aus allen Wissensgebieten. Der trockene Stoff gelehrter Kompendien wird so in gefälliger Form vulgarisiert. Der Verfasser will jedoch nicht nur belehren und gefallen, sondern auch überraschen und staunen machen.“2 Die neulat. Entsprechung fand Schenda in schweiz. und bad. Volkskalendern des 19. Jh.s als einen Anh. ,variarum lectionum‘ aus medizinischen Rezepten, landwirtschaftlichen Ratschlägen, erbaulichen Geschichten, Gedichten, Liedern, Erzählungen von Unglücksfällen
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etc.3 Dies entspricht den Tutti frutti. Slg ausgewählter und interessanter Erzählungen, Novellen, Criminalgeschichten aus allen Weltgegenden, erschienen in Leipzig in vielen Lieferungen 1839⫺46, sowie ähnlichen Slgen der gleichen Zeit unter demselben Haupttitel in Stuttgart, Berlin und Straßburg4. Ein vergleichbarer Begriff ist aus der Bilderbogenproduktion des 19. Jh.s bekannt: Ausschneidebögen mit vielfältigsten Motiven heißen Mace´doines oder Mazedonienbilder, gleich dem frz. und ital. Begriff für Obstsalat (mace´doine bzw. macedonia di frutta). 1 cf. Zedler, J. H.: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste 46. Lpz./ Halle 1745, 595. ⫺ 2 Schenda, R.: Die frz. Prodigienlit. in der 2. Hälfte des 16. Jh.s. Mü. 1961, 14⫺21, hier 19. ⫺ 3 id.: Volk ohne Buch. Ffm. 1970, 285. ⫺ 4 ibid., 476.
Würzburg
Wolfgang Brückner
Variante, Bezeichnung für das Resultat einer durch Variation bedingten Abweichung geringeren Umfangs, die in bezug auf J Texte z. B. sprachlicher, inhaltlicher oder struktureller Natur sein kann. Um das Wesen bzw. den Grad der Abweichung zu bestimmen, bedarf es eines als maßgeblich bzw. normativ anerkannten Bezugspunktes. In den Lit.wissenschaften bezeichnet die V. die abweichende Lesart von Textstellen eines meist von einem namentlich bekannten Autor verfaßten Werks; lassen sich anhand mehrerer V.n Fassungen mit übereinstimmender Gestaltungstendenz nachweisen, spricht man von J Redaktionen1. In der Liedforschung ist die V.nbildung ein zentrales Forschungsthema, wobei gerade in der älteren Lit. primär von Fassungen bzw. Versionen gesprochen wird2. In der von der EM weitestgehend konsequent angewandten Terminologie der hist. und vergleichenden Erzählforschung bezeichnet eine V. die Konkretisierung eines jeglichen durch J Stoff oder J Thema geformten narrativen Texts, vorzugsweise eines Erzähltyps (J Typus)3; umgekehrt wird der Erzähltyp als analytisches Konstrukt durch die Gesamtheit seiner V.n definiert4. Der normative Bezugspunkt der V.5 kann dabei die als J Urform, J Grundform, J Normalform oder J Zielform verstandene Ausprägung des Erzähltyps sein.
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Variante
Die terminologische Definition der V. beruht darüber hinaus auf weiteren Prämissen. Hierzu zählt zum einen die Annahme der aufgrund der Bedingungen der Überlieferungspraktik (J Tradition) potentiell unendlichen J Variabilität der (populären) Überlieferung, in der zwei Realisierungen eines Erzähltyps nie völlig deckungsgleich sind, es sei denn, es handle sich um Mehrfachpublikationen oder bewußt wörtliche Wiedergaben einer vorgegebenen Quelle. Zum anderen geht die der J geogr.-hist. Methode verpflichtete Erzählforschung davon aus, daß Erzählungen sich durch Wanderung verbreiten (J Diffusion, J Wandertheorie), wobei das jeweilige Vehikel nie der Erzähltyp als solcher, sondern immer dessen als V. vorliegende Realisierung ist. A. J Aarnes bereits 1913 formulierte Erkenntnisse zu „Veränderungen in den Märchen“6 bzw. den Ursachen für die Entstehung von V.n hat S. J Thompson unter dem Gesichtspunkt stilistischer Gesetzmäßigkeiten (J Stil) nochmals zusammengefaßt (cf. auch J Epische Gesetze)7. Die wichtigsten Punkte dabei sind: (1) Einzelne Teile oder Elemente einer Erzählung werden vergessen (J Vergessen und Erinnern; cf. auch J Blindes Motiv); (2) Kombination oder J Kontamination analytisch trennbarer Elemente oder ganzer Erzähltypen führen zu einer Erweiterung (J Konglomerat); (3) Elemente (J Handlungsträger, J Requisiten, J Episoden) werden vervielfältigt oder mit leichter Variierung wiederholt; bes. beliebt ist hierbei die J Dreigliedrigkeit mit J Achtergewicht. (4) Allg. unterliegen V.n einem ständigen Prozeß der J Adaptation (cf. auch J Akkulturation), der die Anpassung der Erzählungen an sich wandelnde sprachliche, geogr., ethnische, religiöse, kulturelle oder zeitgebundene Rahmenbedingungen erfordert.
Vor diesem Hintergrund erzeugen V.n nach G. J Ortutay bei den Rezipienten eine ,dialektische Spannung‘, die sich aus dem Erkennen des Bekannten bei gleichzeitiger Würdigung der künstlerischen Variation speist8. V. J Voigt hat die Faktoren der Variation in drei große Gruppen klassifiziert, die er nach Sprache (Ausdruck, Form), Bedeutung (J Hermeneutik) und J Funktion differenziert9. Prinzipiell werden in der EM V.n aus schriftl. Überlieferung gleichwertig zu solchen aus mündl. J Performanz bzw. deren schriftl. oder mit anderen Medien dokumentierter Aufzeichnung behandelt. Allerdings liegt der
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Schwerpunkt auf V.n, die der mündl. Überlieferung entstammen oder zumindest mit dieser in Verbindung stehen. Literar. Werken entstammende bzw. literar. bearb. Texte (J Bearbeitung, J Buchmärchen) genießen vorzugsweise unter zwei Voraussetzungen größere Aufmerksamkeit: einerseits, wenn sie entsprechende Verbreitung bzw. Nachwirkung für die folgende Überlieferung erlangt haben ⫺ so etwa die Texte des äsop. Fabelkorpus (J Äsopika), der J Gesta Romanorum oder der J Legenda aurea, von J Kalila und Dimna, den J Sieben Weisen Meistern oder von J Tausendundeine Nacht; andererseits, wenn sie in einer mit der mündl. oder schriftl. Überlieferung in Wechselwirkung stehenden Überlieferungskette auftreten ⫺ so für Europa etwa die Märchen J Perraults, der Brüder J Grimm oder J Afanas’evs (cf. J Lit. und Volkserzählung). Wenngleich ähnlichen Prozessen entstammend, weisen V.n aus der schriftl. bzw. literar. Tradition gegenüber solchen aus der mündl. Überlieferung meist eine geringere Variationsbreite bzw. eine größere J Stabilität auf. Ist ein Erzähltyp durch die Gesamtheit seiner V.n konstituiert, so bestehen auch die V.n aus kleineren Einheiten, die je nach Intention als J Motiv (cf. auch J Motivem), Element oder Zug (J Detail) bezeichnet werden. In wesentlichen Punkten übereinstimmende Gruppen von V.n bilden ihrerseits ⫺ terminologisch nicht eindeutig festgelegte ⫺ Formen, die als Ausprägung, Fassung, Version oder Subtyp verstanden werden. Einzig der J Ökotyp ist klar definiert als die für ein abgrenzbares Gebiet oder eine ethnische Gruppe spezifische Version eines auch darüber hinaus verbreiteten Erzähltyps. Die Kritik am Konzept der V. bezieht sich auf mehrere Punkte. Wenngleich V.n vorwiegend als Variationen eines Erzähltyps verstanden werden, lassen sich keineswegs alle narrativen Texte der schriftl. oder mündl. Überlieferung einem Erzähltyp zuordnen; die Vielfalt der Volksüberlieferung, die eine große Menge singulär belegter Texte einschließt, läßt sich also nur bedingt in V.n fassen. Demgemäß genießen etwa narrative Texte, die sich nicht in das AaTh/ATU-System (oder andere Typensysteme) einordnen lassen, deutlich geringere Aufmerksamkeit, was allerdings weniger über ihre Bedeutung für die jeweilige Erzählgemein-
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Variation ⫺ Vasconcel(l)os (Cardoso Pereira de Melo), Jose´ Leite de
schaft aussagt, als vielmehr über die traditionellen Schwerpunkte der hist. und vergleichenden Erzählforschung. Darüber hinaus ist darauf hingewiesen worden, daß Erzähler ebensowenig V.n wie Erzähltypen oder Genres erzählen; vielmehr stehe für sie der in den Lebenszusammenhang eingebundene Sinn einer Erzählung im Vordergrund10. Zudem hat das Problem, bis zu welchem Grad der Abweichung eine V. einem bestimmten Erzähltyp zuzuordnen sei oder bereits einen eigenständigen Erzähltyp konstituiere, wiederholt zu grundsätzlichen Diskussionen über den Begriff geführt11. Forscher wie B. J Holbek halten es daher für prinzipiell angebracht, anstelle von V.n von Versionen zu sprechen. Ausgangspunkt von Holbeks Kritik ist dabei die ursprünglich auf die J Rekonstruktion eines hypothetischen ,Originals‘ (J Archetypus) zielende Arbeitsweise der geogr.-hist. Methode (cf. auch J Philol. Methode). Demgegenüber vertritt Holbek die Ansicht, daß kein Text als V. eines anderen angesehen werden könne. Vielmehr sei es aufgrund der Mechanismen der mündl. Überlieferung angebracht, jegliche textliche Realisierung einer Erzählung als autonome und gleiche Wertigkeit genießende Version zu bezeichnen, denn im Gegensatz zu dem implizit abwertenden Begriff V. würdige dieser Terminus die konstante Wandlungsfähigkeit der Erzählungen gegenüber einer mechanistisch angenommenen Vererbung. Während das Konzept der V. von einem hierarchischen Prozeß von Verfall und Korruption ausgehe (cf. J Gesunkenes Kulturgut), belege die Variabilität der Volksüberlieferung deren unendliche Vitalität und Anpassungsfähigkeit12. Vor diesem Hintergrund werde auch das von W. J Anderson beschriebene Gesetz der J Selbstberichtigung, nach dem sich im Prozeß der Überlieferung die den idealen Typen am nächsten stehenden V.n durchsetzten, fragwürdig13. In einer neueren Arbeit grenzt G. Hasan-Rokem Versionen als genetisch miteinander verbundene Realisierungen eines Texts ab gegen V.n, die zwar inhaltlich und strukturell ähnlich ausgeprägt sein können, jedoch nicht notwendigerweise auf genetischer Verwandtschaft beruhten14. 1 Woesler, W.: Lesart, V. In: RDL 2 (32000) 401⫺ 404. ⫺ 2 cf. z. B. Meier, J.: Kunstlieder im Volksmunde. (Halle 1906) Nachdr. ed. R. W. Brednich.
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Hildesheim u. a. 1976; Strobach, H.: Variabilität. Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen. In: Jb. für Volksliedforschung 11 (1966) 1⫺9; Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, Reg. s. v. V.nbildung; Brednich, R. W./Röhrich, L./Suppan, W. (edd.): Hb. des Volkslieds 2. Mü. 1975, Reg. s. v. V., V.nbildung. ⫺ 3 Bødker, L.: Internat. Dict. of Regional European Ethnology and Folklore. 2: Folk Literature (Germanic). Kop. 1965, 310; Apo, S.: Variant. In: Folklore. An Enc. […]. ed. A. Green. Santa Barbara u. a. 1997, 830; Vaz da Silva, F.: Variant. In: The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales 3. ed. D. Haase. Westport, Conn./L. 2008, 1010 sq. ⫺ 4 Lüthi, Märchen (81990), 18. ⫺ 5 De´gh, L.: The Variant and the Folklorization Process in Märchen and Legend. In: D’un Conte … a` l’autre. La variabilite´ dans la litte´rature orale. ed. V. GörögKarady (unter Mitarbeit von M. Chiche). P. 1990, 161⫺173. ⫺ 6 Aarne, A.: Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung (FFC 13). Hamina 1913, 23⫺39. ⫺ 7 Thompson, S.: Fassung (V.). In: HDM 2 (1034⫺40) 56⫺63; cf. auch Krohn, K.: Die folkloristische Arbeitsmethode. Oslo 1926, bes. 33. ⫺ 8 Ortutay, G.: Principles of Oral Transmission in Folk Culture. In: Acta Ethnographica 8 (1959) 175⫺ 221. ⫺ 9 Voigt, V.: Sur les Niveaux de variantes de contes. In: Görög-Karady (wie not. 5) 403⫺413. ⫺ 10 Honko, L.: Types of Comparison and Forms of Variation. ibid., 391⫺395. ⫺ 11 z. B. Grambo, R.: The Conceptions of Variant and Motif. In: Fabula 17 (1976) 243⫺250. ⫺ 12 Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1987, 160; id.: Variation and Tale Type. In: GörögKarady (wie not. 5) 471⫺475; cf. auch Jason, H.: Structural Analysis and the Concept of the „Taletype“. In: Arv 28 (1972) 36⫺54, hier 38; Pöge-Alder, K.: Märchenforschung. Tübingen 2007, 13. ⫺ 13 Holbek 1990 (wie not. 12) 472. ⫺ 14 Hasan-Rokem, G.: Tales of the Neighborhood. Jewish Narrative Dialogues in Late Antiquity. Berk./L. A./L. 2003, 109.
Göttingen
Ulrich Marzolph
Variation J Variabilität
Vasconcel(l)os (Cardoso Pereira de Melo), Jose´ Leite de, * Ucanha 7. 7. 1858, † Lissabon 17. 5. 1941, port. Philologe, Ethnologe und Folklorist1. V. studierte 1879⫺81 Naturwissenschaften an der Academia Polite´cnica do Porto und 1881⫺86 Medizin an der Escola Me´dico-Ciru´rgica do Porto, praktizierte aber nur bis 1887 als Arzt. 1888⫺1911 war V. als Konservator an der port. Nationalbibliothek in Lissabon angestellt. 1893 gründete er das
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Vasudevahinø dø i ⫺ Vater
Museu Etnolo´gico Portugueˆs (seit 1929 Museu Etnolo´gico do Dr. L. de V., seit 1989 Museu Nacional de Arqueologia), als dessen Direktor er bis 1911 fungierte. 1898⫺1901 studierte er an der Sorbonne und am Colle`ge de France in Paris Philologie und Archäologie und wurde 1901 mit einer sprachwiss. Arbeit in rom. Philologie promoviert2. Seit 1911 lehrte V. an der Univ. Lissabon lat. Sprache und Lit., frz. Sprache und Lit. des MA.s, vergleichende Grammatik der rom. Sprachen, port. Philologie, Archäologie, Numismatik und Epigraphik. Erst 1929 trat er in den Ruhestand. V. begründete 1887 die bis 1943 erscheinende Revista lusitana. Archivo de estudos philologicos e ethnologicos relativos a Portugal, die 1981 von M. Viegas Guerreiro und L. F. Lindley Cintra neubegründet wurde, sowie 1895 die noch heute erscheinende Zs. O Archeologo portugueˆs. Er war Mitglied zahlreicher internat. wiss. Ges.en und erhielt wiederholt hohe staatliche Ehrungen. V. war der letzte große Vertreter der alten Schule umfassend gebildeter und vielfältig interessierter Gelehrter in J Portugal. Wiss. Kontakte pflegte er u. a. zu A. J Aarne, K. J Krohn und J. J Bolte. Im Rahmen der Erforschung der port. Kultur3 galt sein Interesse sowohl Sprachwissenschaft4 als auch Lit.5, Volksschauspiel6, Volkslied7 und Volksglauben8. Zentralen Stellenwert besaß für ihn die Arbeit an der großen Bestandsaufnahme Etnografia Portuguesa 1⫺10 (Lissabon 1933⫺89), von der er die ersten drei Bände (1933/36/41) verfaßte. Als Sammler von Volkserzählungen zeichnete sich V. vor allem durch sorgfältige Transkriptionen aus. 1880⫺1900 publizierte er zahlreiche Erzählungen in lokalen Ztgen und Periodika sowie ausländischen Fachzeitschriften. In ethnogr. Kontext und aus komparatistischer Perspektive veröffentlichte er sie später in Tradic¸mes populares de Portugal (Porto 1882)9 und Ensaios etnographicos 1⫺4 (Esposende 1891/1903/Lissabon 1906/10). Als sprachwiss. Material publizierte er im Anh. zum 2. Band seiner Estudos de philologia mirandesa zwei Zaubermärchen und drei Fabeln10. Einige von V.’ Aufzeichnungen aus der mündl. Überlieferung, die er eher als Nebenprodukte seiner ethnogr. Studien aufgefaßt hatte, wurden mit V.’ ausführlichen Anmerkungen erst aus dem Nachlaß veröffentlicht11.
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1 Dias, J. L.: O Dr. J. L. de V. Elementos para o estudo de sua vida e obras. Lissabon 1958; Ribeiro, O.: Vida e obra de J. L. de V. In: J. L. de V. Livro do centena´rio (1858⫺1958). Lissabon 1960, 66⫺100; Guerreiro, M. Viegas: Notas para uma biografia do Doutor J. L. de V. ibid., 109⫺137 (beide Beitr.e auch in: Revista lusitana N. S. 12 [1994] 15⫺49, 53⫺79); Coito, L. C./Cardoso, J. L./Martins, A. C.: J. L. de V. Fotobiografia. Lissabon 2008. ⫺ 2 V., J. L. de: Esquisse d’une dialectologie portugaise. P./Lissabon 1901. ⫺ 3 id.: Opu´sculos 1⫺4, 6. Coimbra 1928/28/ 31/29/85, t. 5/7. Lissabon 1938/38; Amzalak, M. B.: Indı´culo dos trabalhos litera´rios de J. L. de V. (1879⫺1923). Lissabon 1924; Cepeda, I. V.: Bibliogr. de J. L. de V. In: J. L. de V. Livro do Centena´rio (wie not. 1) 139⫺265; Branco, J. F.: Portugal e as suas etnografias. In: Revista lusitana N. S. 12 (1994) 95⫺110. ⫺ 4 V., J. L. de: O dialecto mirandez. Contribuic¸mes para o estudo da dialectologia romanica no dominio glottologico hispano-lusitano. Porto 1882 (erw. Ausg. u. d. T. Estudos de philologia mirandesa 1⫺2. Lissabon 1900/01). ⫺ 5 id.: Romanceiro portugueˆs 1⫺2. ed. L. F. Lindley Cintra/M. Viegas Guerreiro. Coimbra 1958/60. ⫺ 6 id.: Teatro popular portugueˆs 1⫺3. ed. A. Machado Guerreiro. Coimbra 1974/79/79. ⫺ 7 id.: Cancioneiro popular portugueˆs 1⫺3. ed. M. A. Zaluar Nunes. Coimbra 1975/79/83. ⫺ 8 id.: Religio˜es da Lusitaˆnia 1⫺3. Lissabon 1897/1905/13. ⫺ 9 id.: Tradic¸mes populares de Portugal. ed. M. Viegas Guerreiro. Lissabon 2 1986. ⫺ 10 id. 1901 (wie not. 4) 309⫺320. ⫺ 11 id.: Contos e lendas 1⫺2. ed. A. da Silva Soromenho und P. Carata˜o Soromenho. Coimbra 1964/ 69; cf. hierzu Cardigos (Klassifizierung).
Lissabon
Maria Aliete Galhoz
Vasudevahinø dø i J Brøhatkatha¯
Vater 1. V.schaft und Mutterschaft ⫺ 2. V.-Sohn-Beziehungen ⫺ 3. V.-Tochter-Beziehungen
1 . V.s ch af t u nd Mu tt er sc ha ft. Bevor sich mit DNA-Tests neue Möglichkeiten eröffneten, eine biologische V.schaft festzustellen, war nur die Abstammung von der J Mutter gesichert (cf. lat. Rechtsspruch: „Pater semper incertus est; mater, certissima.“). Entsprechend galt Mutterschaft als primäre und V.schaft als sekundäre Beziehung. Antike Autoren (z. B. Aristoteles, De generatione animalium 716a, 729a, 732a) wie volkstümliche Überlieferung verknüpfen die Mutterschaft
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Vater
und ihre nährende Funktion mit Materialität (Urmutter, Mutter Erde, Mutter Natur) und die Rolle des V.s mit Spiritualität (Göttervater, geistiger V., Pater patriae). Im 19. Jh. benutzte J. J. J Bachofen dieses Geschlechtermodell als Rahmen für die Darstellung des menschlichen Fortschritts und beschrieb die kulturelle Entwicklung als von einer ursprünglichen matriarchalen Ordnung (J Matriarchat) ausgehend, die einer patriarchalen (J Patriarchat) Platz gemacht habe, und damit als Materialität, die Spiritualität weiche1. Vor einem ähnlichen geistigen Hintergrund erklärte S. J Freud den Aufstieg des Monotheismus als Höherentwicklung von der Sinnlichkeit zur Geistigkeit, verbunden mit der Abwendung von der Mutter und der Hinwendung zum V.2 Das empirische Primat der Mutter ist also seit langem in ein ideologisches Bezugssystem eingebettet. Danach steht am Anfang die irdische und mit dem Stofflichen verbundene Mutter; das Schicksal der Kulturen wie das der Individuen verläuft in einer linearen Entwicklung von Mutterschaft, Mutterrecht und der Verehrung weiblicher Gottheiten hin zur geistigen und intellektuellen Verfeinerung von V.schaft, V.recht und dem Glauben an Gott als V. (cf. auch J Anthropol. Theorie; J Ethnol. Theorie; J Archetypus, Kap. 1). Derartige Vorstellungen finden auch in Märchen ihren Ausdruck. Die fundamentale Ungewißheit hinsichtlich von V.schaft findet z. B. in J Deszendenzproben (cf. AaTh/ATU 873: J König entdeckt seinen unbekannten Sohn; AaTh/ATU 920: J Sohn des Königs und S. des Schmieds; J Knabenkönig) und im Thema der J V.wahl ihren Ausdruck: Ein J Kind, das seinen V. nicht kennt, findet ihn aus einer Anzahl Männer heraus (cf. AaTh/ATU 675: Der faule J Junge). Entscheidend ist dabei, daß der V. sein Kind nicht auf natürlichem Wege, sondern durch Zauberkunst gezeugt hat (J Empfängnis, wunderbare). Zaubermärchen betonen den übernatürlichen Aspekt der Zeugung: Wenn in ihnen explizit von Empfängnis die Rede ist, werden Frauen in der Regel durch den Verzehr von Äpfeln, Rosen, Fisch etc. oder durch das Trinken von Wasser schwanger. Bei J Basile (3,1) werden die Gebete eines Königs, der sich unbedingt ein Kind wünscht, schließlich erhört. In einer russ. Var. von AaTh/ATU 303: Die zwei J
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Brüder wird ein König, der die J Schwangerschaft seiner Frau bewirkt, indem er ihr einen wunderbaren Fisch zu essen gibt, als ,Ziehvater‘ bezeichnet3. In Erzählungen ohne übernatürliche V.schaft läßt sich eine Tendenz zur Darstellung des V.s als eher ferne und wenig handlungsfähige Gestalt feststellen (cf. z. B. KHM 15, AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel; KHM 21, AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella)4. Die Teilnahmslosigkeit der V. im Märchen unterstreicht den Vorrang der Bindung zwischen Mutter und Kind und macht V.figuren zu sekundären Gestalten. Nach V. Ja. J Propp stellen Zaubermärchen Prozesse des Erwachsenwerdens in Form von J Jenseitsreisen dar5. Dies läßt die Schlußfolgerung zu, daß J Initiationsriten gewöhnlich auf eine Loslösung des Kindes von der Mutter zielen, um die Herausbildung der sozialen Persönlichkeit des Kindes zu fördern (J Reifung). B. Bettelheim zufolge führt die Vorrangstellung der Mutter dazu, daß dem Kind die Selbstfindung ohne Hilfe eines Dritten nicht möglich ist6. Märchen stellen das Erwachsenwerden als Aufbruch aus dem Mutterschoß in ein fernes übernatürliches Reich dar: Die Heldin findet einen Ehemann, der an den V. erinnert (nach M. Tatar spekulieren einige Interpreten von KHM 65, AaTh/ATU 510 B: cf. Cinderella über die Möglichkeit, daß die Heldin am Ende denselben König heiratet, vor dem sie anfangs geflohen war7). Dem Helden dagegen werden schwierige Aufgaben abverlangt, bevor er den Thron besteigen kann. V.-Tochter-Beziehungen (J Tochter, Töchter) sind von den Themen J Hochzeit und inzestuöse Verstrickung (J Inzest), V.-Sohn-Beziehungen (J Sohn, Söhne; J V.-Sohn-Motiv) dagegen von Rivalität und Fragen der Erbfolge geprägt. 2 . V.- So hn -B ez ie hu ng en. In der Erzählüberlieferung dominiert eine feindliche Grundstimmung zwischen V.n und Söhnen. Wie Freud zeigte, stellen Mythos und Sage vielfach den Despotismus der V. und den ungeduldigen Wunsch der Söhne, durch deren Tod selbst Herrscher zu werden, dar (AaTh/ATU 931: J Ödipus; J Zeus)8. In ma. Epen kann dieses Grundmuster auf verschiedene Weise ausgestaltet sein: Z. B. wird der älteste Sohn und zunächst designierte Nachfolger des V.s zu
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Vater
dessen potentiellem Rivalen, während der jüngste (uneheliche) Sohn den Vater rettet und seine Nachfolge antritt9. Zaubermärchen behandeln vorrangig den Antagonismus zwischen den älteren Brüdern und dem J Jüngsten, der gewöhnlich den V. rettet, bevor er ihm auf den Thron folgt (z. B. AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter; AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens). Entgegen der Gepflogenheit, den ältesten Sohn zum Nachfolger zu machen, stellen sie gewöhnlich den Letztgeborenen als würdigen Erben dar. Damit wird nahegelegt, daß der V.-Sohn-Beziehung im Märchen ein Element radikaler Erneuerung zugrunde liegt. Zaubermärchen setzen dieses Erneuerungsthema in symbolischen Bildern um: In Form des J Drachenkampfs ist der V.mord in der ide. Mythologie präsent10. Nach Propp bildet das Drachentöterthema den Kern des Zaubermärchens11: Der Drache, der in seiner Entwicklung als Erzählfigur durchaus positive Züge haben konnte, wird von Propp als derjenige identifiziert, der den Drachentöter gebiert; der Drachentöter sei damit der einzig mögliche Bezwinger des Drachen12. B. J Holbek hat gezeigt, daß der V., der seine Tochter in seiner Macht zu halten sucht, oft als Drache, Troll, Riese etc. erscheint13. Der Drachenkampf steht damit für den Kampf des Schwiegersohns um seine Braut und die Rivalität von V. und Sohn und verschleiert diese zugleich. Der Held muß eine V.figur ersetzen, ohne daß dies explizit wird. Die Heldin dagegen entzieht sich dem Herrschaftsbereich des V.s, wenn sie ihren Mann findet14. Einige Erzählungen handeln von dem Helden, dem es bestimmt ist, seinen V. zu töten und dessen Platz bei seiner Mutter einzunehmen (AaTh/ATU 931; ATU 931 A: cf. J Elternmörder)15. Durch Freuds Deutung des antiken Ödipusmythos wurde dieses Thema zum Herzstück der psychoanalytischen Theorie (J Psychoanalyse). Auf die strukturelle Äquivalenz zwischen der Ersetzung des V.s durch seinen Sohn und des J Schwiegervaters durch seinen Schwiegersohn wies Propp hin16. So stellen Var.n von AaTh/ATU 510 B die Beziehung zwischen dem V. der Heldin und ihrem Mann tendenziell nach dem Muster einer V.-Sohn-Beziehung dar17. Insgesamt ist es die Bestimmung des Helden im Zaubermärchen,
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eine ferne V.figur (seinen eigenen V. oder den V. seiner Braut) zu ersetzen und so König zu werden. 3 . V.- To ch te r- Be zi eh un ge n. Die Hauptpflicht des V.s gegenüber seiner Tochter ist im Märchen, einen Ehemann für sie zu finden. Selbst problematisches väterliches Verhalten dient dazu, die Tochter (ungewollt) dem künftigen Gatten zuzuführen. Äußerst verbreitet ist in diesem Zusammenhang das Thema der fälschlichen Beschuldigung junger Frauen, ihr Lebenswandel entspreche nicht den Regeln der J Keuschheit18. Z. B. erzählt AaTh/ATU 883 A: Das unschuldig verleumdete J Mädchen, wie ein tugendhaftes Mädchen von einem abgewiesenen Verführer verleumdet und von ihrem V. verstoßen wird (oder er befiehlt, sie zu töten, aber der Beauftragte verschont sie; cf. J Tierherz als Ersatz), wodurch sie zu dem Fürsten gelangt, der ihr Ehemann wird. In AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände und AaTh/ATU 510 B ist der abgewiesene Verführer der V. selbst, der das Mädchen verstößt bzw. vor dem sie flieht. Das Thema des versuchten Inzests wurde in der Lit. Westeuropas spätestens seit dem 13. Jh. immer wieder aufgegriffen (J Helena von Konstantinopel, J Mai und Beaflor)19. Auch in AaTh/ATU 923: J Lieb wie das Salz verstößt der zornige V. die am meisten geliebte T. (oder befiehlt ihren Tod)20. A. J Dundes bezeichnete den V., der seine Tochter vertreibt, weil sie ihn nicht genug liebe, als Spielart des V.s, der seine Tochter zwingen will, ihn selbst zu heiraten21. In den Aschenputtelmärchen (AaTh/ATU 510 A) ist der V. hingegen eher eine handlungsunfähige Gestalt: Er verhindert nicht, daß die J Stiefmutter seine Tochter mißhandelt. Nach Dundes legt eine Analyse der Allomotive nahe, daß sowohl die Schikanen der Stiefmutter als auch der inzestuöse Heiratswunsch des V.s in der starken Ähnlichkeit zwischen Tochter und Mutter begründet sind22. Damit geht das Thema des inzestuösen V.s auf das Primat der Mutter zurück. Bettelheim zufolge steht die Figur des Jägers, der dem Wunsch der Stiefmutter, die Prinzessin zu töten, nur scheinbar nachkommt (z. B. AaTh/ATU 709: J Schneewittchen), ebenfalls für den schwachen und nebensächlichen V.23 Auch hier verweist die Vorstellung von V.schaft als entfern-
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Vater beschießen ⫺ Väterchen Frost
ter Beziehung auf die Vorrangstellung der Mutter. Nach Propp lassen sich die gesuchte Braut und ihr V. hinsichtlich ihrer Funktion (Stellung der schweren Aufgabe, Kennzeichnung des Helden, Entlarvung des falschen Helden etc.) nicht eindeutig unterscheiden, weshalb Propp Braut und V. als eine Figur zusammenfaßt24. Entsprechend hat der Held im V. der Braut einen mächtigen Gegner zu erwarten (cf. AaTh/ATU 313 sqq.: J Magische Flucht). Dadurch bestätigt sich, daß der verwitwete König, der sich an seine Tochter klammert, im Zaubermärchen ein Motiv von grundlegender Bedeutung ist. Bachofen, J.: Das Mutterrecht. Stg. 1861. ⫺ Freud, S.: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: id.: G. W. 14. ed. A. Freud u. a. L. 1950 (Nachdr. Ffm. 1999), 101⫺246. ⫺ 3 Afanas’ev, num. 136. ⫺ 4 cf. Solms, W.: Der nichtsnutzige V. In: Lox, H./Lutkat, S./Schmidt, W. (edd.): Der V. in Märchen, Mythos und Moderne/Burg und Schloss, Tor und Turm im Märchen. Krummwisch 2008, 56⫺ 72. ⫺ 5 Propp, V. Ja.: Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens. Mü. 1987, 59⫺180, bes. 60⫺65. ⫺ 6 Bettelheim, B.: The Uses of Enchantment. Harmondsworth 1988, 220. ⫺ 7 Tatar, M.: The Hard Facts of the Grimms’ Fairy Tales. Princeton 1987, 152; cf. Dollerup, C./Reventlow, I./Rosenberg Hansen, C.: A Case Study of Editorial Filters in Folktales. A Discussion of the Allerleirauh Tales in Grimm. In: Fabula 27 (1986) 12⫺30; Baumann, H.-H.: Das Mädchen ohne Hände. Zur Genese eines Märchenmotivs. In: Fabula 37 (1996) 259⫺271. ⫺ 8 Freud, S.: Die Traumdeutung. In: id.: G. W. 2. ed. A. Freud u. a. L. 1942 (Nachdr. Ffm. 1999), 254⫺274; Beit, H. von: Symbolik im Märchen 1⫺2. Bern/Mü. 21960/65, 385, 394, 1071, 1073. ⫺ 9 Mene´ndez Pidal, R.: La leyenda de los infantes de Lara. Madrid 1971; Grisward, J.: Arche´ologie de l’e´pope´e me´die´vale. P. 1981, 79⫺135; Kullmann, D.: Verwandtschaft in epischer Dichtung. Tübingen 1992, 95⫺107, 141⫺161, 215⫺259. ⫺ 10 Coomaraswamy, A.: Hinduism and Buddhism. N. Y. 1943, 6, 8; Calasso, R.: The Marriage of Cadmus and Harmony. L. 1994, 342 sq.; Harrison, J.: Themis. L. 1963, 434 sq.; cf. Watkins, C.: How to Kill a Dragon. N. Y. 1995, 314, 325 sq. ⫺ 11 Propp, V.: Morphology of the Folktale. Austin 1996, 89 (Kap. 8). ⫺ 12 id. (wie not. 5) 347⫺353 (Kap. 3⫺4). ⫺ 13 Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1998, 425, 503. ⫺ 14 ibid., 426. ⫺ 15 Edmunds, L./Dundes, A. (edd.): Oedipus. A Folklore Casebook. Madison 1983. ⫺ 16 Propp, V.: Oedipus in the Light of Folklore [1944]. ibid., 85⫺89. ⫺ 17 Vaz da Silva, F.: Metamorphosis. N. Y. 2002, 102 sq., 228⫺231. ⫺ 18 Bacchilega, C.: An Introduction to the ,Innocent Persecuted Heroine‘
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Fairy Tale. In: WF 52 (1993) 1⫺12; von Beit (wie not. 8) 1020, 2307. ⫺ 19 Dundes, A.: The Psychoanalytic Study of the Grimms’ Tales with Special Reference to ,The Maiden Without Hands‘ (AT 706). In: The Germanic Review 62,2 (1987) 58 sq. (Bibliogr.); cf. Laurent, D.: Pre´face. In: Beaumanoir, P. de: La Manekine. Roman du XIIIe sie`cle. P. 1995, 9⫺18. ⫺ 20 cf. Cox, M. R.: Cinderella. L. 1893, xxv. ⫺ 21 Dundes, A.: ,To Love My Father All‘. A Psychoanalytic Study of the Folktale Source of „King Lear“ [1976]. In: id. (ed.): Cinderella. A Folklore Casebook. N. Y. 1982, 229⫺244, hier 234. ⫺ 22 Vaz da Silva (wie not. 17) 200⫺202. ⫺ 23 Bettelheim (wie not. 6) 205 sq. ⫺ 24 Propp (wie not. 11) 79 sq. (Kap. 6).
Lissabon
Francisco Vaz da Silva
1 2
Vater beschießen J Schuß auf den toten König
Väterchen Frost. Die Figur V. F. geht auf die J Personifikation von Winter und Kälte in der russ. Volksüberlieferung zurück. Obgleich V. F. (russ. Ded Moroz) im russ. Kontext lediglich als Brauchfigur begegnet, die Erzählfigur dagegen als F. (russ. Moroz, Diminutiv Morozko), hat sich die Bezeichnung V. F. im Deutschen auch für die Erzählfigur eingebürgert. Seit Mitte des 19. Jh.s wurde die Gestalt des F.s aus dem russ. ländlichen Erzählgut in die städtische Folklore übernommen und erfuhr als V. F. eine enorme Popularisierung1. A. N. J Afanas’ev beschrieb die Rolle des F.s im Zusammenhang des Kampfes zwischen Sommer und Winter, dem mythische Vorstellungen zugrunde liegen, und als Alltagsdämon Moroz-treskun (klirrender F.) bzw. Morozkuznec (schmiedender F.)2. Im 20. Jh. wurden im Zuge der Sowjetisierung Osteuropas in den meisten slav. Sprachen analoge Figuren eingeführt. Sie sollten regionale und lokale Brauchfiguren rund um das Weihnachts- und Neujahrsfest ersetzen, konnten diese in der Regel jedoch nicht (vollständig) verdrängen3. In der ostslav. Volkserzählung nimmt der F. keine prominente Rolle ein4; mitunter tritt der Nordwind (J Wind) als sein Äquivalent auf. Als dämonisches Wesen, welches das gute Mädchen belohnt und das böse (faule) mit dem Tod bestraft, agiert er in ostslav.5 und balt.6 Var.n von AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen. In einer russ. Fas-
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Vatermord ⫺ Vater-Sohn-Motiv
sung will die Stiefmutter das gute Mädchen mit ihm verheiraten7. In ostslav. Var.n von AaTh/ATU 564: J Provianttasche8 bzw. AaTh/ ATU 563: J Tischleindeckdich9 zerstört der F. einem Bauern die Ernte, dieser erhält die Zaubergaben als Entschädigung. Afanas’ev beschreibt in einer Version eine Attributverschiebung: Obwohl Dämonen sonst kein eigenes Zuhause haben und in der freien Natur leben, findet der Bauer den F. in einem Haus aus Eis (cf. Haus der J Baba Jaga)10. Der F. tritt in vielen osteurop. Var.n von AaTh/ATU 298: J Streit zwischen Sonne und Wind als dritter Streitpartner auf: Die drei Elemente wollen ihre Kraft messen, in der Regel gewinnt der Wind11, einmal aber auch die Sonne12. In einer weißruss. Var. des schwankhaften Märchens AaTh/ATU 298 A: J F. und Sohn wollen zwei F.brüder einen reichen Mann im Pelzmantel und einen Bauern erfrieren lassen (cf. auch AaTh/ATU 71: J F. und Hase). Der Reiche ist ein leichtes Opfer, während sich der Arme u. a. durch Holzhacken warmhält und einen der F.brüder sogar besiegen kann, indem er den Handschuh, in den dieser gekrochen war, zerhackt13. Oft kann der arme Schlucker dem F. trotzen, indem er Alkohol trinkt14. Hierzu existieren satirische Zeichnungen in russ. Bilderbogen (lubok), die den Alkoholismus anprangern: Der F. verspottet einen Bauern, der sich mit Tabak und Schnaps gegen ihn gewappnet meint15. Rudimentär taucht der F. auch in Bylinen als Widersacher der Recken auf. In der Legende des hl. J Onuphrius schlägt dieser den F. im Streit bewußtlos; von diesem Tag an (Tag des Heiligen 12. Juni) bis zum Tag, an dem der F. das Bewußtsein wiedererlangt (Tag der Verklärung des Herrn 19. August), soll es deshalb gewöhnlich keinen F. geben16. Darüber hinaus begegnet der F. in personifizierter Form auch in anderen Überlieferungen. In Mythen der sibir. Inuit fällt Tykyvak (Takyvak), der strengen F. mit sich bringt, mit dem Gesicht auf den Boden, woraufhin die Erde aufreißt. Die Menschen antworten ihm mit einem Klopfen. Tun sie dies nicht, ist er gekränkt17. Ein übermütiger Jüngling schießt mit seiner Harpune auf den F. Später wird er an der Stelle, wo er den F. gefangen hatte, von diesem in Gestalt eines Ehepaars (alter Mann)
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bewirtet, erfährt nach dem Essen, daß er seine eigenen Waffen verspeist hat, und wird von ihnen durchbohrt18. 1 Madlevskaja, E. L.: Obraz Deda Moroza i sovremennye predstavlenija o nem (Das Bild des V. F. und moderne Vorstellungen über ihn). In: Zˇivaja starina (2000) H. 4, 37⫺39; Dusˇecˇkina, E. V.: Ded Moroz: E˙tapy bol’sˇogo puti (V. F.: Etappen eines großen Wegs). In: Novoe literaturnoe obozrenie 47 (2001) 253⫺262. ⫺ 2 Afanas’ev, A. N.: Poe˙ticˇeskie vozzrenija slavjan na prirodu 1 (Poetische Anschauungen der Slaven über die Natur). M. 1865, 318 sq., 582⫺ 586. ⫺ 3 cf. Mezger, W.: St. Nikolaus. Zwischen Kult und Klamauk. Zur Entstehung, Entwicklung und Veränderung der Brauchformen um einen populären Heiligen. Ostfildern 1993, 218⫺222, 288, ⫺ 4 Chiriaeva, L.: Studien zu einer strukturellen Typologie des russ. und bulg. Zaubermärchens. Ffm. 1999, 241. ⫺ 5 Andreev; Barag. ⫺ 6 Ara¯js/Medne. ⫺ 7 Afanas’ev 1, num. 95, 96; cf. Bartsch, A.: Die Märchenverfilmung ,Morozko‘ (V. F.) als sowjet. Operette. In: Fabula 50 (2009) 22⫺36. ⫺ 8 Konkka, U. S.: Karel’skie narodnye skazki. M./Len. 1963, num. 44; Pankeev, I.: Skazki slavjanskich narodov 1. M. 1993, 295⫺297 (ukr.). ⫺ 9 Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. Petrograd 1915, num. 25; ˇ aradzejnyja kazki 1. Minsk Kabasˇnikau˘, K. P.: C 1973, 591. ⫺ 10 Afanas’ev (wie not. 2) 318 (zu AaTh/ ATU 564, russ.). ⫺ 11 Barag 298 A. ⫺ 12 Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1966, num. 94. ⫺ 13 ibid., num. 93. ⫺ 14 Smirnov, A. M.: Velikorusskie skazki archiva geograficˇeskogo obsˇcˇestva 1. (Petrograd 1917) Nachdr. SPb. 2003, 410. ⫺ 15 Sytowa, A. S. (ed.): Lubok. Russ. Volksbilderbogen 17. bis 19. Jh. Len. 1984, num. 111. ⫺ 16 Vinogradova, L. N.: Moroz. In: Tolstoj, N. (ed.): Slavjanskie drevnosti 3. M. 2004, 302 sq. ⫺ 17 Menovsˇcˇikov, G. A.: Skazki i mify e˙skimosov Sibiri, Aljaski, Kanady i Grenlandii. M. 1985, num. 116. ⫺ 18 ibid., num. 115, 116.
Eggenstein-Leopoldshafen
Alice Bartsch
Vatermord J Elternmörder Vaterrecht J Patriarchat Vater-Sohn-Motiv (Mot. N 731.2), auch als Vater-Sohn-Kampf oder Vater-Sohn-Sage bezeichnet, ist ein verbreitetes literar. Motiv bzw. Thema, das eine zugespitzte Form des Generationenkonflikts (J Konflikt) zwischen J Vater (V.) und J Sohn (S.) behandelt1. Das V.-S.Motiv trägt J archaische Züge und ist vor
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Vater-Sohn-Motiv
allem in Heldensagen und -liedern behandelt worden. V. und S. stehen sich in einem J Zweikampf gegenüber, ohne zu wissen, wer der jeweils andere ist. Der Kampf endet tragisch mit dem Tod des S.es oder versöhnlich mit der Enthüllung seiner Identität durch die rechtzeitige Entdeckung eines J Erkennungszeichens und/oder seines J Namens.
Die Geschichte der Erforschung des V.-S.Motivs beginnt mit den Brüdern J Grimm2, die das Kasseler Ms. (9. Jh.) des Hildebrandslieds3 untersuchten. Der mangelhafte Zustand des Texts (der Schluß fehlt) legt nahe, daß es einer epischen Tradition angehört, die zu dieser Zeit im Niedergang begriffen war. Die ir. Erzählung über den tödlichen Kampf zwischen dem Ulsterhelden J Cu´ Chulainn und ´ enfir Aı´fe seinem S. Conla (manchmal Aided O [Der Tod von Aı´fes Einzigem] genannt) ist in Ms.form nicht vor Ende des 14. Jh.s greifbar, doch halten die meisten Keltisten sie für etwa ebenso alt wie das Hildebrandslied 4; die Balladenparaphrase im Book of the Dean of Lismore (hauptsächlich niedergeschrieben 1512⫺26) und spätere Aufzeichnungen aus Schottland zeigen dagegen ihre andauernde Popularität in der gäl. Welt5. Im Sˇa¯hna¯me (Königsbuch) des pers. Dichters Ferdousi (J Firdausı¯), das auf ca 1000 p. Chr. n. datiert wird und auf vorislam. Quellen zurückgeht, findet sich die Geschichte von Sohra¯b und Rustam: Auf Sohra¯bs Sieg über seinen V. Rustam folgt ein erneuter Kampf, in dem Rustam unwissentlich seinen S. tötet6. Für die russ. Lieder über J Il’ja Muromec und seinen S. Sokol’nicˇek wird ma. Ursprung angenommen, sie wurden jedoch erst sehr viel später aus mündl. Bylinenüberlieferung aufgezeichnet7. Aus der 2. Hälfte des 13. Jh.s stammt die altnord.-isl. ÏiÎreks saga8, während die Kjalnesinga saga9 und die A´smundar saga kappabana beide vermutlich kurz nach 1300 datieren; allerdings ist eine lat. Parallele zur A´smundar saga in der Chronik des J Saxo Grammaticus ein volles Jh. älter10. Die u. d. T. Das jüngere Hildebrandslied bekannte Ballade schließlich stammt aus dem späten MA.11 Daß verschiedene Textzeugen geogr. und zeitlich weit voneinander entfernt sind, forderte zu einer hist. Erklärung ihrer Beziehung heraus. Germanisten des frühen 20. Jh.s wie A. Heusler12 und H. Schneider13 gingen davon
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aus, daß es sich bei der Konfrontation zwischen V. und S. um ein J Wandermotiv handelt. Auf dieser Prämisse fußt auch die an Erkenntnissen reichste Behandlung des Themas durch G. Baesecke14, der als Ursprungsland Iran annahm. Angefochten wurde dieses Ergebnis von J. de J Vries, der das V.-S.-Motiv der idg. Vorzeit zuordnete. Er unternahm einen neuen Versuch, aus dem vorliegenden ⫺ oft entstellten und widersprüchlichen ⫺ Material eine J Normalform zu gewinnen15; von de Vries jedoch nicht berücksichtigte südosteurop. Parallelen sind die griech. Lieder über Tsamados und Andronikos16 und die serb. Ballade von Predrag und Nenad17. Die folgende Analyse stellt die von Baesecke und de Vries herausgearbeiteten Schlüsselmotive vor, mit zusätzlichen Beobachtungen aufgrund altnord.-isl. Quellen. (1) Der S. wird bei einer kurzen Begegnung zwischen V. und Mutter gezeugt, wobei der V. sich fern der Heimat befindet. Dieser Zug ist allen Überlieferungen gemein, mit Ausnahme der dt., in der Hadubrand ehelich geboren wird und im V.haus verbleibt, während Hildebrand zum Dienst bei J Dietrich von Bern fortzieht. Obwohl die ÏiÎreks saga einer ndd. Quelle folgt, stimmt sie teilweise mit der Normalform überein: Hier ist der S. noch nicht geboren, als der V. Abschied nimmt. Die ÏiÎreks saga stellt Dietrich und Hildebrand als Fremde am Hof des Hunnen Atli (J Attila) dar. Im Hildebrandslied bezeichnet der S. seinen V. verächtlich als alten Hunnen; in der Rez. M der A´smundar saga ist Hildebrand mit Atli verbündet und verschwägert. Das fremde Land der Kjalnesinga saga ist ein Land der Riesen in den norw. Bergen. Die A´smundar saga und Saxos Gesta Danorum enthalten keine Aussagen über die Umstände der Geburt des S.es. (2) Der V. hinterläßt ein Erkennungszeichen (Sˇa¯hna¯me: Edelstein; russ.: goldener Ring oder Kruzifix), das schließlich auf dem Schlachtfeld entdeckt wird. Ringe erscheinen in ir. und dt. Textzeugen, spielen aber für den Ausgang wohl keine Rolle; in der Kjalnesinga saga schenkt die Riesenmutter dem menschlichen V. einen Ring. Das Erkennungszeichen ist damit zum J blinden Motiv geworden; in der A´smundar saga und bei Saxo scheint es nicht auf. (3) V. und S. begegnen sich als Kämpfer zweier feindlicher Heere. Dieser Zug ist in der pers. und dt. Überlieferung deutlich ausgeprägt. In den ir. und russ. Quellen ist der S. ohne Begleitung, als er auf seinen Gegner trifft. Der Kjalnesinga saga zufolge sucht er seinen V. zu Hause auf; dagegen sind die Gegner in den Var.n der A´smundar saga und bei Saxo nicht mehr V. und S., sondern Halbbrüder, obwohl beide Texte noch auf die Tötung eines S.es durch Hildebrand (Saxo: Hildiger) anspielen.
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Vater-Sohn-Motiv
(4) Einer der Kämpfer erkennt den anderen nicht und/oder weigert sich, seinen Namen zu nennen. In der ir. Quelle weiß Conla nicht, daß Cu´ Chulainn sein V. ist, und darf seinen eigenen Namen nicht sagen, da ein Tabu ihm untersagt, ihn einem einzelnen Gegner mitzuteilen. Auch im Sˇa¯hna¯me wird dem S. befohlen, seine Identität geheimzuhalten, aber es ist der V., der seinen Namen auf Befragen verleugnet. Cu´ Chulainn ahnt, daß der Gegner sein S. ist, anders Rustam und Il’ja. In dt. Quellen gibt der S. seinen Namen preis, verweigert sich aber der Erkenntnis, daß Hildebrand sein totgeglaubter V. ist. Im Sˇa¯hna¯me wird Sohra¯b hinsichtlich Rustams Identität bewußt getäuscht, und Rustam wiederum kann sich nicht vorstellen, daß ein so starker Gegner sein junger S. sein könnte; dagegen hält der V. in der Kjalnesinga saga seinen Gegner für zu unscheinbar, als daß er sein S. sein könnte. (5) Der V. besiegt seinen S. durch Hinterlist. Cu´ Chulainn muß zu seinem Zauberspeer greifen, um Conla zu überwinden. Rustam macht Sohra¯b weis, nach dem Sieg bedürfe es eines zweiten Kampfes mit dem gleichen Gegner, und dabei behält Rustam die Oberhand. In der russ. Überlieferung ist das Motiv der Heimtücke unterdrückt; Il’ja bittet (wie Rustam) Gott um Hilfe. In den dt. und altnord. Quellen ist es der S., der zu tückischen Mitteln greift, und der V. hält ihm vor, dies müsse ihm eine Frau beigebracht haben (in der Kjalnesinga saga kommt Hinterlist nicht vor, aber der Vorwurf bleibt). (6) Schließlich tötet der V. seinen S. Dieser Zug erscheint ebenso in der ir. und pers. Überlieferung und war vermutlich auch Teil des ahd. Textzeugen. In der Kjalnesinga saga (14. Jh.) ist es der S., der den V. tötet. Das Jüngere Hildebrandslied und die ÏiÎreks saga führen ein glückliches Ende mit gegenseitigem Wiedererkennen und Versöhnung ein. In den am besten erhaltenen Liedern über Il’ja und Sokol’nicˇek folgt auf das Wiedererkennen keine Versöhnung, sondern der Versuch des S.es, sich für die beschämenden Umstände seiner Geburt zu rächen: Er bringt seine Mutter auf grausame Weise um und wird von seinem V. auf ebensolche Weise getötet.
De Vries räumt ein, daß sich die Sage, die sich um das V.-S.-Motiv gebildet hat, in hist. Zeit in Nordwesteuropa verbreitete und mit dem versöhnlichen Schluß eine sekundäre Entwicklung durchgemacht habe, die er dem Einfluß des Christentums und der ritterlichen Ethik zuschreibt18. Dennoch erklärt er die Normalform als erzählerische Umsetzung archetypischer Muster, d. h. als Mythos, der mit einem Initiationsritus (wohl die rituelle Tötung durch den V.) verbunden ist. Markante mythol. Parallelen wären die angedeutete Tötung von J Herakles und Balder durch ihre V. J Zeus und Odin19. Die Sage sei keine Wandererzählung, sondern biete ein warnendes Bei-
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spiel für „jugendlichen Übermut, der die Grenzen der Ehrfurcht vor dem eigenen Vater zu übertreten wagt“, sei also „uraltes Gleichnis für menschliches Verhalten“20. Dieser Standpunkt ist nicht weit von der J ide. Theorie nach Auslegung des schwed. Folkloristen C. W. von J Sydow entfernt, jedoch mit dem umstrittenen Konzept der J Polygenese verbunden: das ,uralte Gleichnis‘ habe eine bestimmbare Form angenommen, sei aber nicht gewandert, sondern statt dessen immer wieder neu geschaffen worden. Gegen diese Annahme spricht die Tatsache, daß das damit verbundene hypothetische Ritual bis ins kleinste Detail festgelegt gewesen sein mußte, um im Mythos die Einzelheiten der Normalform mehrfach hervorzubringen. De Vries’ Aufsatz ist nur einer von mehreren Versuchen, die Bedeutung der V.-S.-Sage zu erklären. Die J anthropol. Theorie brachte Lesarten hervor, die sie mit primitiven Bräuchen des J Matriarchats und der Exogamie verbanden21. In Interpretationen J Freudscher Ausrichtung ergeben sich Verwechslungen mit dem J Ödipus-Mythos (cf. AaTh/ATU 931)22. Es scheint jedoch, daß der Verf. der Kjalnesinga saga und die vielen Dichter, die wie er die Geschichte im Verlauf des MA.s bearbeiteten, wenig Gedanken an Strukturen der Generationenautorität verschwendeten und noch weniger an die verdrängte sexuelle Eifersucht von S.en im Kindesalter dachten. In der isl. Saga bildet der Kampf mit dem nicht anerkannten S. ein bequemes Mittel, die Laufbahn eines unsympathischen V.s zu beenden. In zahlreichen frz. und engl. Versromanen wird die Tötung durch ein Erkennen in letzter Minute verhindert, und der S. beeilt sich, seinen unstet lebenden V. mit seiner Mutter wiederzuvereinen23. Für die ma. Menschen stellte die Geschichte daher eher eine an pflichtvergessene V. gerichtete Mahnung dar, ihre Familien nicht zu verlassen, weniger eine Warnung an rebellische S.e. Offensichtlich dasselbe empfand der Dichter der Ballade über Conlas Tod im Book of the Dean of Lismore, der das archaische Namentabu für die Rache Aı´fes an dem treulosen Cu´ Chulainn instrumentalisierte. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zur J Rache durch V.mord, wie schon das antike Beispiel der (verlorenen) Telegonia des Eugammon von Cyrene (6. Jh. a. Chr. n.) zeigt, in
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Vaterunser
der J Odysseus von seinem S. Telegonos getötet wird, weil er J Circe verlassen hat24. V.mord sollte jedoch sorgfältig von der Tötung des S.es durch den V. unterschieden werden25, was nicht immer geschieht26. Vor allem im Märchen endet der im letzten Augenblick vermiedene Bruch mit den Gesetzen der Blutsverwandtschaft versöhnlich, wie etwa die weite geogr. Verbreitung von AaTh/ATU 873: J König entdeckt seinen unbekannten S. zeigt (cf. auch AaTh/ATU 910 B: Die klugen J Ratschläge)27. Gleichzeitig verbinden die Eingangsmotive der Normalform der V.-S.-Sage nicht nur mit AaTh/ATU 873, sondern auch mit der alten Geschichte über den vaterlosen Jungen auf dem Spielplatz (J Knabenkönig; cf. AaTh/ATU 933: J Gregorius). Diese Erzählung scheint als Subtyp der V.-S.-Sage im Nahen Osten entstanden zu sein und findet sich auch im Sˇa¯hna¯me28. 1 Frenzel, Motive, 690⫺707. ⫺ 2 Die beiden ältesten dt. Gedichte aus dem 8. Jh. Das Lied von Hildebrand und Hadubrand und das Weissenbrunner Gebet. ed. J. Grimm. Kassel 1812. ⫺ 3 Zahlreiche Ausg.n, z. B. Barber, C.: An Old High German Reader. Ox. 1964, num. 34; cf. auch Glaser, E.: Hildebrand und Hildebrandslied. In: Reallex. der Germ. Altertumskunde 14. B./N. Y. 1999, 554⫺ 561. ⫺ 4 Dillon, M.: Early Irish Literature. Chic./L. 1948, 16; Meyer, K. (ed.): The Death of Conla. In: E´riu 1 (1904) 113⫺121; cf. dagegen Thurneysen, R.: Die ir. Helden- und Königsage bis zum 17. Jh. […]. Halle 1921, 404⫺406, hier 404 (bezweifelt eine so frühe Datierung). ⫺ 5 ibid., 407 sq. ⫺ 6 Ferdowsi, A.: Shahnameh. The Persian Book of Kings. Übers. D. Davis. N. Y. 2006, 187⫺214. ⫺ 7 Trautmann, R.: Die Volksdichtung der Großrussen 1. Heidelberg 1935, 301⫺308; Gesemann, W.: Zum Stellenwert der slav. Versionen des V.-S.-Kampfmotivs in der Heldenlieddichtung. In: Anzeiger für slav. Philologie 9 (1977) 59⫺73. ⫺ 8 Jo´nsson, G. (ed.): ÏiÎreks saga af Bern 2. Reykjavı´k 1951, 549⫺553. ⫺ 9 Halldo´rsson, J. (ed.): Kjalnesinga saga. Reykjavı´k 1959, 28⫺34, 42 sq.; GuÎmundsson, H.: Um Kjalnesinga sögu. Reykjavı´k 1967, 88⫺93. ⫺ 10 Detter, F. (ed.): Zwei Fornaldarsögur. Halle 1891, 79⫺100 (XLIX⫺LV: Vergleich mit Saxo, Gesta Danorum 7,9,12⫺20). ⫺ 11 DVldr 1, num. 1. ⫺ 12 Heusler, A.: Das alte und das junge Hildebrandslied [1927]. In: id.: Kl. Schr. 1. ed. H. Reuschel. B. 1943, 1⫺11. ⫺ 13 Schneider, H.: Germ. Heldensage 1. B. 1928, 316. ⫺ 14 Baesecke, G.: Die idg. Verwandtschaft des Hildebrandliedes. In: Nachrichten von der Ges. der Wiss.en zu Göttingen, Phil.-hist. Kl. 4, N. F. 3,5 (1940) 139⫺153. ⫺ 15 Vries, J. de: Das Motiv des V.-S.-Kampfes im Hildebrandslied. In: GRM 34, N. F. 3 (1953) 257⫺274, bes. 266⫺268; cf. auch Uecker, H.: Germ. Helden-
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sage. Stg. 1972, 60⫺62. ⫺ 16 Petropoulos, D. A.: Kampf zwischen V. und S. in griech. Heldenliedern. In: Kongreß Kiel/Kopenhagen 1959, 265⫺270. ⫺ 17 Noyes, G. R./Bacon, L. (Übers.): Heroic Ballads of Servia. Boston 1913, 241⫺248. ⫺ 18 Ähnlich in einer abgeleiteten ir. Erzählung, in der V. und S. mit knapper Not den bewaffneten Kampf vermeiden, cf. Meyer, K. (ed.): Fianaigecht. Dublin 1910, 24⫺ 27. ⫺ 19 Graves, R.: The Greek Myths 2. Harmondsworth 21957, 178 sq.; Turville-Petre, E. O. G.: Myth and Religion of the North. L. 1964, 118 sq. ⫺ 20 de Vries (wie not. 15) 264, 272⫺274. ⫺ 21 Potter, M. A.: Sohrab and Rustem. L. 1902, 97⫺ 205; Gennep, A. van: La Formation des le´gendes. P. 1910, 235⫺252. ⫺ 22 z. B. Petropoulos (wie not. 16) 269; EM 11, 201. ⫺ 23 z. B. Potter (wie not. 21) 46⫺ 48, 50⫺54. ⫺ 24 Graves (wie not. 19) 373 sq. ⫺ 25 Busse, B.: Sagengeschichtliches zum Hildebrandsliede. In: Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 26 (1901) 1⫺92, hier 9 sq. ⫺ 26 cf. z. B. Köhler/ Bolte 2, 256⫺261, 262 sq.; Potter (wie not. 21) 1⫺ 97; Rank, O.: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Lpz./Wien 21926, 162⫺183; Schlauch, M.: Romance in Iceland. Princeton 1934, 114⫺118. ⫺ 27 EM 11, 263 sq. ⫺ 28 Potter (wie not. 21) 99⫺105; Chesnutt, M.: The Fatherless Hero in the Playground. Irish Perspectives on the Norse Legend of Sigurd. In: Be´aloideas 68 (2000) 33⫺65, bes. 36⫺38.
Rom
Michael Chesnutt
Vaterunser, bekanntestes J Gebet des Christentums und das einzige, das Jesus (J Christus) selbst seine Jünger gelehrt hat (Mt. 6,9⫺ 13; Lk. 11,2⫺ 4). Seit dem MA. gehört das V. als Universalgebet, das in nuce das Evangelium enthält, zu den christl. Glaubensgrundlagen1. Neben Auslegungen in der Volkssprache2 ist das V. auch in der Ikonographie3, in volkstümlicher Musik, Volksglauben und Volkserzählung präsent. Märchen beschäftigten sich selten, und wenn, dann meist in schwankhafter Weise mit dem V. In einer syr. Var. von AaTh/ATU 1199: J Gebet ohne Ende erfährt ein junger Mann, daß der Todesengel ihn in der Hochzeitsnacht holen will, und heiratet deshalb erst nach 400 Jahren. Als der Todesengel kommt, erbittet er die J Gnade, vorher noch ein V. sprechen zu dürfen, das er jedoch nicht beendet. Nach weiteren 20 Jahren vollendet er das Gebet versehentlich beim Essen und wird vom Tod ereilt4. Dieselbe List erscheint auch in Var.n von AaTh/ATU 332: J Gevatter Tod. In einem verwandten Meisterlied von Hans J Sachs ist der Listige ein Arzt. Der Tod kontert hier mit ei-
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Vaterunser
ner Gegenlist: Er verstellt sich als Kranker und bittet den Arzt, ein V. für ihn zu beten. Dieser kommt dem Wunsch ohne Argwohn nach und verwirkt so sein Leben5. Die mahnende Tendenz von AaTh/ATU 756 A: Der selbstgerechte J Eremit kommt gelegentlich darin zum Ausdruck, daß der Verbrecher bei der Beichte die Auflage erhält, jedesmal ein V. zu beten, wenn er an einem Kruzifix vorbeikomme6. Seit Anfang des 18. Jh.s ist der Schwank AaTh/ATU 1832 D*: „How Many Sacraments are There“ (J Sakramente) belegt, in dem ein Bauer auf die Anweisung des Pfarrers, er solle das V. lernen, etwa entgegnet, dann müsse auch der Pfarrer lernen, einen Strohhut zu flechten7, oder der Pfarrer werde dafür bezahlt, also solle er das V. beten8. Von Augustinus bis zu J Luther und darüber hinaus spielt das V. bei der J Katechese eine wichtige Rolle und erscheint dementsprechend gelegentlich auch in ma. und frühneuzeitlichen Katechismusschwänken und Exempeln9. Zwischen Anekdote und Exemplum oszilliert AaTh/ATU 1835 D*: J V. beten, ohne an anderes zu denken10. In der Sage dient das Beten des V.s vorrangig der J Erlösung von umgehenden Toten, Armen Seelen (J Fegefeuer) und Gespenstern aus dem unseligen Zustand der Ruhelosigkeit. Sonntagskinder finden den goldenen Schlüssel zu einem Schatz, können ihn aber nur dann heben, wenn sie das J Kreuzzeichen machen und drei V. beten11. Im Volksglauben dient das V. als Segensund J Abwehrzauber, bes. beim Gesundbeten und Besprechen. Es schützt vor bösen Geistern, in geschriebener Form auch als J Amulett, ist das Totengebet schlechthin, bewirkt rückwärts gebetet einen Schadenzauber oder dient als Beschwörungsformel12. An den Volksglauben knüpfen auch Sprichwörter wie „Das Vaterunser ist ein hoher Zaun und dickes Gehege, darüber der Teufel nicht kann steigen“ oder „Ein gutes (stark) Vatervnser ist ein gut bewerth stück bey der Artzney“ an13. Andere Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten heben die große Bedeutung des V.s im menschlichen Leben hervor, geißeln dessen heuchlerische Anwendung, die bes. anderen Konfessionen, Nationen und Individuen unterstellt wird, oder benutzen seine Dauer als Maß für Zeitabläufe14.
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Das größte Kontingent der volkskundlichen V.-Überlieferung ist der Gattung Parodie zuzurechnen. Schon das lat. MA. kannte parodistische V.-Fassungen, deren Spitze gegen die Bauern gerichtet war15. Der älteste dt.sprachige Beleg, das politische Mißstände geißelnde sog. Ulmer V., stammt aus dem Jahr 148616. Parodien des V.s gehören neben solchen auf die Zehn Gebote (J Dekalog), das Glaubensbekenntnis und das Ave Maria sowie J Predigten zu den beliebtesten Formen der religiösen Parodie17. Hier wird das ,große Gebet der Christenheit‘ „verkehrt zu einem Denkmal des Hasses gegen die Herrschenden, der Verzweiflung und der Skepsis, zu einem Anti-Gebet der Unterschicht, das die christlichen Tugenden verhöhnt“18. Ziel des Angriffs sind z. B. staatliche Repräsentanten und Unterdrücker, Aggressoren und Kriegsgegner, bes. die feindliche Soldateska, aber auch der Papst. Formal lassen sich in der Hauptsache zwei Typen von V.-Parodien unterscheiden. Der ältere existierte vom 15. bis zum Beginn des 17. Jh.s. Mit den Worten des Gebets wechseln hier zeilenweise rein weltliche Reden ab, wie im sog. Schweizer V.: „Vater Unser / Freiburg ist unser. / Der du im Himmel bist, / Zug mit einem Zug genommen ist […]“19. Der zweite, besser belegte Typus verflicht die Worte des Gebets völlig mit dem weltlichen Gedicht, so daß sie dadurch oft einen ganz anderen Sinn bekommen, wie z. B. in dem seit dem 16. Jh. belegten Bauern-V.: „Wann der Soldat zum Bauren geht ein, / grüeßt er ihn mit freundlichem Schein ⫺ Vatter. / Denket ihm darneben jeder Frist: / Baur, was du hast, das alles ist ⫺ unser […]“20. V.-Parodien nehmen außer politisch bedingten Mißständen auch unchristl. Verhalten bestimmter Berufsvertreter aufs Korn. J Abraham a Sancta Clara soll etwa in einer Predigt das mit geschäftlichen Überlegungen befaßte V. eines Kaufmanns gegeißelt haben21, Bäcker beten angeblich statt „Unser täglich Brot gib uns heute“ „Gib anderen Leuten täglich großes Geld für unsere kleinen Brote“22. Es existieren auch Versionen, die auf andere Berufe wie Feldhornisten23 oder Berg- und Hüttenleute Bezug nehmen24. Neuere V.-Parodien, die z. T. internat. verbreitet sind25, füllen das gesamte Gebet mit neuen Inhalten. Aktuell sind weiterhin (gesellschafts)politische The-
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Vaterunser beten, ohne an anderes zu denken
men26 bis hin zum Anti-Atomkraft-V. aus den 1980er Jahren27. Elogen an alkoholische Getränke28, bes. das Bier29, gehören zu den beliebtesten V.-Parodien. Auch in der Kinderüberlieferung finden sich Beispiele30. Neben der mündl. Überlieferung waren die Trägermedien der V.-Parodien früher u. a. J Flugblatt31 und Bilderbogen32 (J Bildquellen, -zeugnisse), in der 2. Hälfte des 20. Jh.s ist es die Bürofolklore (J Xeroxlore). Anfang des 21. Jh.s ist ihr Hauptmedium das Internet. Hier wird etwa die Forderung der Autofirmen Mercedes oder Ford verbreitet, den lat. Text des V.s mit seiner angeblichen Werbung für Fiat („fiat voluntas tua“) zu ändern33. Parodistische Anspielungen auf das V. finden sich auch im Titel der Fanzeitung Schalke Unser des Fußballvereins Schalke 04, in der Bezeichnung des Personen-Umlaufaufzugs als Paternoster oder in der bayr. Unterscheidung von Kartoffelgrößen analog den Rosenkranzkugeln, nach den kleinen Gegrüßetseistdumariakartoffeln und den größeren V.kartoffeln34. 1 cf. Kranemann, B.: Pater noster. In: Lex. des MA.s 6. Stg./Weimar 1999, 1781 sq. ⫺ 2 Adam, B.: V.auslegungen in der Volkssprache. In: Verflex. 10 (21999) 170⫺182. ⫺ 3 Lechner, M.: V. In: LCI 4 (1972) 412⫺ 415. ⫺ 4 Prym, E./Socin, A.: Syr. Sagen und Märchen […]. Göttingen 1881, 299. ⫺ 5 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 4. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1903, num. 448. ⫺ 6 Tubach, num. 4777. ⫺ 7 EM-Archiv: de Memel, Lustige Gesellschaft (1656) num. 12; Freudenberg (1731) num. 1. ⫺ 8 EM-Archiv: Zincgref/Weidner, Apophthegmata 3 (1644) 332; cf. Wahrmund, F. [i.e. Henning, Ä.]: Nagelneue Bauren Anatomia […] s. l. 1674, 86; cf. Veroander [i.e. Henning, Ä.]: Des Neunhäutigen Und Haimbüchenen schlimmen Baurenstands und Wandels/ Entdeckte Ubel ⫽ Sitten ⫽ Und Lasterprob […]. s. l. [1684], 122. ⫺ 9 Tubach, Reg. s. v. Paternoster. ⫺ 10 Bausinger, 205; cf. allg. Mot. H 1554.3; Tubach, num. 3615; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 1246. ⫺ 11 Zentralarchiv der dt. Volkserzählung, Marburg, num. 144449. ⫺ 12 Schneider [, A. M.]: V. In: HDA 8 (1936⫺37) 1513⫺1515. ⫺ 13 Wander 1, 1519 (num. 3, 5). ⫺ 14 ibid., 1519 sq.; Röhrich, Redensarten 3, 1668. ⫺ 15 Röhrich, L.: Gebärde ⫺ Metapher ⫺ Parodie. (Düsseldorf 1967) Nachdr. ed. W. Mieder. Burlington 2006, 117. ⫺ 16 Mehring, G.: Das V. als politisches Kampfmittel. In: ZfVk. 19 (1909) 129⫺142, hier 129 sq. ⫺ 17 Röhrich (wie not. 15) 115⫺130. ⫺ 18 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Ffm. 1970, 431; cf. Werner, R. M.: Das V. als gottesdienstliche Zeitlyrik. In: Vierteljahresschr. für Lit.geschichte 5 (1892) 1⫺ 49. ⫺ 19 Mehring (wie not. 16) 130. ⫺ 20 ibid., 131. ⫺
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Das große dt. Anekdoten-Lex. (Erfurt 1843/44). Nachdr. Lpz./Wiesbaden 1985, 2, num. 9. ⫺ 22 ibid., 23. ⫺ 23 Artmann, H. C.: ein lilienweißer brief aus lincolnshire. gedichte aus 21 jahren. Ffm. 1969, 343. ⫺ 24 Kirnbauer, F.: Ein „V.“ für die Berg- und Hüttenleute. In: ÖZfVk. 61 (1958) 36 sq. ⫺ 25 Naselli, C.: Padrenostri popolari italiani. Florenz 1965; Monteiro, G.: Religious Parodies. In: New York Folklore Quart. 25 (1969) 59⫺76; Robert St. Vincent, P.: A Philologist’s Prayer. In: Maledicta 1,1 (1977) 62. ⫺ 26 Heindl, G. und M.: Himmlische Rosen ins irdische Leben oder Die Frau in der Anekdote. Wien 1981, 54; Dor, M./Federmann, R.: Der politische Witz. Mü. 1966, 25; Dt. Anekdotenschatz. Geschichten um bekannte und berühmte Persönlichkeiten. Genf 1991, 25. ⫺ 27 Wehse, R.: Parodie ⫺ eine neue Einfache Form? In: Jb. für Volksliedforschung 27/28 (1982⫺83) 316⫺334, hier 326. ⫺ 28 Renner, U.: The Afterlast English Letters. Ffm. 1986 (ohne Seitenzählung). ⫺ 29 Kutter, U.: „Ich kündige!“ Zeugnisse von Wünschen und Ängsten am Arbeitsplatz. Marburg 1982, 90 sq. ⫺ 30 Senti, A.: Reime und Sprüche aus dem Sarganserland. Basel 1979, 22 sq.; Gaignebet, C.: Le Folklore obsce`ne des enfants. P. 21980, 239 sq.; Liede, A.: Parodie. In: id.: Dichtung als Spiel 2. B./N. Y. 21992, 319⫺423, hier 398. ⫺ 31 Wäscher, H.: Das dt. ill. Flugblatt 1. Dresden 1955, 56. ⫺ 32 Fraenger, W.: Materialien zur Frühgeschichte des Neuruppiner Bilderbogens. In: Jb. für hist. Vk. 1 (1925) 300 sq. ⫺ 33 Archiv R. Wehse, München. ⫺ 34 McCormack, R. W. B.: Tief in Bayern. Mü. 2002, 175.
München
Rainer Wehse
Vaterunser beten, ohne an anderes zu denken (AaTh/ATU 1835 D*), Erzählung aus der Gruppe AaTh/ATU 1800⫺1849: Other Jokes about Religious Figures. Der Erzähltyp kann als Katechismusschwank oder Predigtschwank eingeordnet werden. AaTh/ATU 1835 D* hat folgende Normalform: Ein Geistlicher (Adliger, Mann) wettet mit einem anderen (Bauer, Knecht, Schuster) um ein Pferd, daß dieser kein V. beten könne, ohne an etwas anderes zu denken. Während des J Gebets hält der Mann inne, um zu fragen, ob die Wette auch das Geschirr einschließe.
Verwandte Erzählungen finden sich bereits in der arab. Lit. des 9. Jh.s1. Die Erzählung ist seit dem MA. in Europa bei verschiedenen Exempelkompilatoren nachgewiesen, zuerst bei J Jacques de Vitry (Sermones feriales, num. 48), dann ⫺ zumeist unter Berufung auf ihn ⫺ bei J E´tienne de Bourbon (num. 204),
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Vaterunser: Das letzte V. ⫺ Vaterwahl
J Johannes Gobi Junior (num. 210), in der J Legenda aurea des J Jacobus de Voragine2 und bei J Pelba´rt von Temesva´r (num. 248)3. Sie dient zur Demonstration der menschlichen Schwäche, sich schlecht auf eine bestimmte Sache konzentrieren zu können, ohne dabei andere (sündige) Gedanken zu haben. Mit dieser Intention wird AaTh/ATU 1835 D* bis ins 17. Jh. tradiert und findet sich z. B. bei J. W. J Zincgref 4 und A. van Overbeke5. Belege aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s (finn.6, lett.7, dän.8, engl.9, fläm.10, dt.11, österr.12, frz.13, port.14, bulg.15 und poln.16) lassen keinen Bezug zu christl. Moralvorstellungen erkennen. Es wird die allg.menschliche Schwäche karikiert, ohne eine Auslegung anzuschließen. Die Wettpartner sind auf der einen Seite der hl. J Bernhard von Clairvaux17, Gott18, ein Bischof 19, Abt20, Pater21, Pfarrer22, Landesfürst23, Edelherr24, Gerechter25 oder Bauer26, auf der anderen Seite ein Heiliger (J Petrus27), Geistlicher28 oder Einsiedler29, aber auch ein Bauer31, Pflüger32, Gemeindemitglied30, 33 34 Knecht , Schuster oder eine Frau35. Fast ausschließlich wird das V. gebetet; nur einmal soll statt dessen ein Gottesdienst zelebriert werden36. Hier wird ein Scheffel Geld versprochen, während es sich sonst in der Regel um ein Pferd oder singulär um ein Ferkel37 handelt. In den meisten Fällen scheitert der Betende, weil er an den zugehörigen Sattel und zuweilen auch an das Zaumzeug38 denkt, während bei der Wette um ein Ferkel die Gedanken während des Gebets zu einem Eber abschweifen bzw. im Zusammenhang mit dem Scheffel zur Überlegung führen, ob dieser auch gestrichen voll sei. Die Wette wird ausdrücklich als verloren bezeichnet39, oder der Beter gibt freiwillig auf, weil er den Gedanken an den Sattel in sein Gebet eingeschlossen hat40. Selten sind Verbindungen mit Episoden aus anderen Schwanktypen festzustellen41. Marzolph, Arabia ridens 1, 156. ⫺ 2 Angaben bei Tubach, num. 3615. ⫺ 3 Tubach, num. 595. ⫺ 4 EMArchiv: Zincgref/Weidner, Apophthegmata 4 (1655) 518. ⫺ 5 Overbeke, A. van: Anecdota sive historiae jocosae. ed. R. Dekker/H. Roodenburg. Amst. 1991, num. 2360. ⫺ 6 Rausmaa, SK 6, num. 512, 513. ⫺ 7 Ara¯js/Medne. ⫺ 8 Kristensen, E. T.: Vore Fædres ˚ rhus 1899, num. 46. ⫺ 9 Baughman; Kirketjeneste. A DBF A 2, 237. ⫺ 10 Joos, A.: Vertelsels van het Vlaamsche Volk 1. Brügge 1889, num. 42. ⫺ 1
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11 Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus der Westeifel. Bonn 1935, num. 153; Dietz, J.: Lachende Heimat. Schwänke und Schnurren aus dem Bonner Land. Bonn 1951, num. 107. ⫺ 12 Merkens, H. L.: Was sich das Volk erzählt 2. Jena 1895, num. 158; Zaunert, P.: Dt. Märchen aus dem Donauland. MdW 1958, 166 sq. ⫺ 13 Blade´, J.-F.: Contes populaires de la Gascogne 2. P. 1886, 158⫺162. ⫺ 14 Cardigos. ⫺ 15 BFP. ⫺ 16 Krzyz˙anowski, num. 1704. ⫺ 17 z. B. Iacopo de Varazze: Legenda aurea […]. ed. G. P. Maggioni. Florenz 22007, num. 116; EM 10, 697. ⫺ 18 Blade´ (wie not. 13). ⫺ 19 Merkens (wie not. 12). ⫺ 20 Joos (wie not. 10). ⫺ 21 DBF A 2, 237. ⫺ 22 Kristensen (wie not. 8); Cardigos. ⫺ 23 Overbeke (wie not. 5). ⫺ 24 Zaunert (wie not. 12). ⫺ 25 BFP. ⫺ 26 Zender (wie not. 11). ⫺ 27 Blade´ (wie not. 13). ⫺ 28 BFP; Overbeke (wie not. 5). ⫺ 29 Zaunert (wie not. 12). ⫺ 30 Cardigos. ⫺ 31 Legenda aurea (wie not. 17); Kristensen (wie not. 8); Joos (wie not. 10). ⫺ 32 DBF A 2, 237. ⫺ 33 Dietz (wie not. 11). ⫺ 34 Merkens (wie not. 12). ⫺ 35 Zender (wie not. 11). ⫺ 36 BFP. ⫺ 37 Zender (wie not. 11). ⫺ 38 EM-Archiv (wie not. 4); Kristensen (wie not. 8); DBF A 2, 237; Overbeke (wie not. 5); Dietz (wie not. 11); Zaunert (wie not. 12). ⫺ 39 Kristensen (wie not. 8); DBF A 2, 237; Joos (wie not. 10); Zender (wie not. 11). ⫺ 40 Merkens (wie not. 12). ⫺ 41 z. B. Blade´ (wie not. 13).
Sterup
Gundula Hubrich-Messow
Vaterunser: Das letzte V. J Gebet ohne Ende Vaterwahl. Der Begriff V. wird in der Erzählforschung vor allem für die Bestimmung des biologischen Vaters durch ein uneheliches J Kind (J Bastard) verwendet, wie sie in AaTh/ATU 675: Der faule J Junge vorliegt. Die V. in dem bes. durch die literar. Var. J Basiles (1,3) beeinflußten Erzähltyp steht im weiteren Kontext der J Deszendenzproben, geht aber im Gegensatz zu diesen nicht vom Bedürfnis (des Vaters) aus, legitime von illegitimen Abkömmlingen unterscheiden zu wollen, sondern besteht umgekehrt im Erkennen des Vaters durch das Kind: Der Dummling schwängert die Prinzessin (in die er verliebt ist), um sie für ihren Hohn zu bestrafen. Er bedient sich dafür der magischen Fähigkeiten eines Helfers und wünscht ihr die J Schwangerschaft an (J Empfängnis, wunderbare; J Vergewaltigung). Um die Ehre der bloßgestellten Prinzessin wiederherzustellen, wird, als das Kind geboren ist, die V. veranstaltet. Innerhalb einer Gruppe anderer Männer kennzeichnet das Kind seinen Vater, indem es
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Veckenstedt, Albert Edmund
ihm einen Gegenstand zuwirft (ihn umarmt, als Vater bezeichnet).
Die intuitive Entscheidung des Kindes, die möglicherweise auf die Vorstellung zurückgeht, daß Kinder ihre Eltern instinktiv erkennen1, schließt jeden Zweifel an der verwandtschaftlichen Beziehung aus (Mot. H 481). Eine negative Bewertung des misogynen Handelns des Vaters erfolgt nicht2, vielmehr erlangt er hierdurch die Prinzessin zur Frau und den Königsthron. Das Erkennen des Vaters stellt ebenso wie die Tatsache, daß die V. allg. Anerkennung findet, der Märchenlogik entsprechend eine natürliche Handlung dar. Die Bezeichnung als Wahl ist irreführend, weil sie die Möglichkeit einer Auswahl suggeriert. Die V. begegnet auch in einer mythol. Erzählung nordamerik. Indianer, in welcher der Vater ein Nerz ist3. Im Gegensatz zur folgenreichen Märchenhandlung hat sie hier eher episodischen Charakter. H. Ehrenreich vermutete darin einen durch Gruppenehe begründeten Brauch, der einen soziol. Hintergrund habe4. Abgesehen von der Bestimmung des Vaters durch das Kind wird der Begriff V. für unterschiedliche, z. T. nur vage in Zusammenhang stehende Phänomene verwendet. In Var.n von AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter und AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens legt die Prinzessin wertvolle Stoffe oder Gold auf der Straße aus; der Vater ihres Kindes wird daran erkannt, daß er, ohne die Wertgegenstände zu beachten, darüber reitet (Mot. H 485). Im Gegensatz zur V. in AaTh/ATU 675 wird der Vater hier nicht auf unerklärliche Weise gekennzeichnet, seine Nichtbeachtung der wertvollen Gegenstände rührt vielmehr aus der Sehnsucht und J Liebe des Vaters nach seiner Frau, von der er längere Zeit getrennt war. Dieser Zug steht der Deszendenzprobe in AaTh/ATU 920 C: J Schuß auf den toten König nahe: Der legitime Sohn verzichtet auf sein Erbe, indem er den Schuß auf den toten Vater verweigert, und gibt sich so zu erkennen. An V. erinnern daneben Fälle, in denen ein Kind am Sterbebett der Mutter damit konfrontiert wird, daß es unehelich gezeugt wurde, und jetzt um einen guten Vater bittet (Mot. J 1279.1). Das Motiv stammt aus der ital. Novellistik (z. B. Lodovico J Guicciardini) und wurde wohl von hieraus in die dt. Unterhaltungsliteratur übernommen5. In an-
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deren Erzählungen will das uneheliche Kind seinen bisherigen Vater behalten: Um die Ehre der Familie zu wahren, bittet das Kind seine Mutter, ihren Ehebruch vor dem Vater geheimzuhalten (Mot. J 325)6. Die eigentliche Wahl fehlt, die Erzählungen zeugen vielmehr vom Wunsch des Kindes nach Sicherheit als Reaktion auf ein unerhörtes Geständnis. Geschlechteremanzipation und moderne Medizin mit künstlicher Befruchtung, Eizellspende und Leihmutterschaft schaffen neue Realitäten, in denen die Bedeutung biologischer Vaterschaft in den Hintergrund tritt. So erhält der Begriff V. in jüngster Zeit eine neue Dimension: In Großbritannien dürfen Mütter von durch künstliche Befruchtung entstandenen Kindern seit Sept. 2009 entscheiden, wer als zweites Elternteil auf der Geburtsurkunde des Kindes eingetragen wird. Da eine biologische Verwandtschaft nicht erforderlich ist, wird so auch eine ,Mutterwahl‘ möglich7. 1 cf. Clouston, W. A.: Popular Tales and Fictions. ed. C. Goldberg. Santa Barbara, Calif. 2002, 359, not. 2. ⫺ 2 cf. Solms, W.: Der nichtsnutzige Vater. In: Lox, H./Lutkat, S./Schmidt, W. (edd.): Der Vater in Märchen, Mythos und Moderne/Burg und Schloss, Tor und Turm im Märchen. Krummwisch 2008, 56⫺ 72. ⫺ 3 Krickeberg, W.: Indianermärchen aus Nordamerika. MdW 1924, num. 28 (Prärie- und Plateauvölker). ⫺ 4 Ehrenreich, H.: Die allg. Mythologie und ihre ethnol. Grundlagen. Lpz. 1910, 212. ⫺ 5 EM-Archiv: Melander, Jocorum atque seriorum liber 1 (1604) num. 225; Joco-Seria (1631) num. 54; Gerlach, Eutrapeliae 3 (1656) num. 770; Zeitvertreiber (1685) 323 sq.; Sinnersberg, Belustigung (1747) num. 571. ⫺ 6 EM-Archiv: Plener, Acerra philologica (1687) 625. ⫺ 7 Templeton, S.-K.: Who’s the IVF daddy? Anyone You Care to Name? In: Sunday Times (1.3.2009) 7.
Göttingen
Doris Boden
Veckenstedt, Albert Edmund (Pseud. Heinrich Veltheim), *Vehlitz bei Magdeburg 7. 1. 1840, † Halle (Saale) 7. 2. 1903, dt. Volkskundler1. V. studierte 1861⫺65 klassische Philologie in Halle und Berlin, wurde 1867 in Halle mit der Diss. Regia potestas quae fuerit secundum Homerum promoviert und erwarb 1869 die Lehrbefähigung für höhere Schulen (Griechisch, Latein, Französisch und Deutsch). 1869 trat V. am Gymnasium in Cottbus in den Schuldienst. 1879 übersiedelte er nach Libau
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Veda slovena
(heute lett. Liepa˘ja) und unterrichtete bis 1882 Alte Sprachen und Lit.en am Nikolai-Gymnasium2. Um sich ausgiebiger seinen wiss. Arbeiten widmen zu können, ging V. 1883 nach Leipzig, wo er 1884 die Redaktion der Familienzeitschrift Sphinx (späterer Titel Von Nah und Fern) übernahm. 1890 zog er nach Halle. In Leipzig und Halle engagierte er sich für die Institutionalisierung der Vk. als eigenständige Disziplin mittels der wiss. Zs. für Vk. in Sage und Märchen, Schwank und Streich, Lied, Rätsel und Sprichwort, Sitte und Brauch 1⫺3; t. 4 […] Sitte, Brauch und Recht (Lpz. 1888⫺92 [Nachdr. Hildesheim 2001]) und einer wiss. Ges. V.s Antrag auf Habilitation und eine Professur für Traditionalismusforschung an der Univ. Halle fand ⫺ wohl aus politischen Gründen ⫺ kein Gehör. Er wechselte 1898 nach Marburg, kehrte jedoch 1902 nach Halle zurück, wo er kurze Zeit später starb. Zu den bekanntesten Schr. V.s zählt die umfassende Studie über die Farbenbezeichnungen der griech. Epiker von J Homer bis Quintus Smyrnäus3. Sein bes. Interesse galt den mythischen und dämonologischen Sagen der Sorben4, Letten und Litauer5, die er in Buchform u. d. T. Wend. Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche (Graz 1880) und Mythen, Saˇ amaiten (Litauer) 1⫺ gen und Legenden der Z 2 (Heidelberg 1883) veröffentlichte. Die während seiner Zeit als Gymnasiallehrer entstandenen Slgen bildeten die Grundlage für vergleichende Studien6. Den Idealen des Mediziners und Anthropologen R. Virchow (1821⫺ 1902) folgend, propagierte er die Eigenständigkeit der ,vom fremden Sprachmeer‘ umgebenen kleinen Kulturen7. In der dt. Fachwelt fand V. nur wenig Akzeptanz. Die von V. begründete ,vergessene‘ Zs.8, die seit dem 3. Jg als ,Organ der dt. Ges. für Vk.‘ erschien und mit 150 korrespondierenden Mitgliedern im In- und Ausland rasch ein internat. Profil gewann, kam allerdings wegen persönlicher Rivalitäten und der Konkurrenz zu K. Weinhold und dem Berliner Verein für Vk. über vier Jge nicht hinaus. Seine Kritik an der Sammelmethode u. a. von W. J Mannhardt, dessen „halbes Hundert Mythengestalten“ er als „Schemen seiner Einbildungskraft“ bezeichnete9, brachte ihm ebenso wie seine Polemik gegen konkurrierende Volkskundler und Sammler (W. von Schulenburg, J. A. J Karło-
wicz) einen umstrittenen Ruf und den beißenden Spott von F. S. J Krauss ein10. Das Ende des 19. Jh.s innerhalb der unter Weinhold institutionalisierten Vk. gefaßte Urteil, V. habe seine Slgen zum großen Teil mit unlauteren Methoden von Schülern und Mittelsleuten zusammentragen lassen, wurde von der Fachgeschichte unkritisch fortgeschrieben11. V.s Verdienste um die Publ. von sprachlich schwer zugänglichen Erzählungen kleinerer Völker wie der Sorben und Litauer, sein vergleichender Forschungsansatz und seine fachliche Vernetzung über die Grenzen des Dt. Reichs hinaus (u. a. mit K. J Krohn, G. J Pitre` und I. V. J Zingerle) verdienen eine Neubewertung und Würdigung. 1 Emmrich, B.: V., A. E. In: Sächs. Biogr. (Elektronische Ressource im Internet) ⫺ 2 cf. u. a. V., E.: Die Geschichte der Gil-Blas-Frage. B. 1880; id.: Ganymedes. Libau 1882. ⫺ 3 id.: Geschichte der griech. Farbenlehre. Paderborn 1888 (Nachdr. Hildesheim 1973). ⫺ 4 id.: Die wend. Volkssagen der Niederlausitz. In: Verhandlungen der Berliner Ges. für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (1877) 93⫺111; id.: Der Wendenkönig und die Bozˇa-łosc´. ibid. (1878) 162⫺182. ⫺ 5 cf. id.: La Musique et la danse dans les traditions des Lithuaniens, des Allemands et des Grecs. P. 1889. ⫺ 6 id.: Pumphut, ein Kulturdämon der Deutschen, Wenden, Litauer und Zˇamaiten. Lpz. 1885; id.: Sztukoris, der Till Eulenspiegel der Litauer und Zˇamaiten, und Schut Fomka, sein russ. Ebenbild. Lpz. 1885; id.: Das Paradies und die Bäume des Paradieses sowie ihre angeblichen Ebenbilder bei den Chaldäern, Persern, Indern, Griechen, Nordgermanen und Norddeutschen nach Religion, Mythologie, Meteorologie, Naturwiss. und Volksanschauung. Halle 1896; id.: Der Met nach Wesen und geschichtlicher Bedeutung sowie eine größere Anzahl von Metrezepten von Aristoteles bis auf unsere Tage. Lpz. 1897. ⫺ 7 Meˇtsˇk, F.: Litauer, Letten und Sorben im volkskundlichen Werk E. V.s. In: Zs. für Slawistik 23 (1978) 722⫺ 733; Zwahr, H.: Meine Landsleute. Bautzen 1984, 268. ⫺ 8 Könenkamp, W.: Gescheitert und vergessen. Folgenloses aus der Geschichte der Vk. In: Sievers, K. D. (ed.): Beitr.e zur Wiss.sgeschichte der Vk. im 19. und 20. Jh. Neumünster 1991, 171⫺192. ⫺ 9 cf. Zs. für Vk. in Sage und Märchen […] 3 (1891) 352. ⫺ 10 Krauss, F. S.: Böhm. Korallen aus der Götterwelt. Folkloristische Börsenber.e vom Götter- und Mythenmarkte. Wien 1893, 26⫺43. ⫺ 11 z. B. Nedo, P.: Sorb. Volksmärchen. Bautzen 1956, 27 sq.
Bautzen
Susanne Hose
Veda slovena J Verkovicˇ, Stefan
1365
Vega Carpio, Lope Fe´lix de
Vega Carpio, Lope Fe´lix de, * Madrid 25. 11. oder 2. 12. 1562, † ebenda 27. 8. 1635, span. Dichter und Dramatiker. L., Neffe des Inquisitors von Sevilla, besuchte seit 1573 eine Jesuitenschule und studierte 1577⫺81 Theologie an der Univ. Alcala´ de Henares. 1583 nahm er an der Expedition der Armada teil. Nachdem er Ende 1587 aufgrund einer Satire verhaftet worden war, wurde er Anfang 1588 für mehrere Jahre aus dem Königreich Kastilien verbannt. 1591⫺99 war L. Sekretär des Herzogs von Alba, 1607 bis zu seinem Tod Sekretär von Luis Fernando de Co´rdoba, zu dem sich eine enge Freundschaft entwickelte. 1614 erhielt er die Priesterweihe, 1616 wurde er apostolischer Protonotar und 1627 Johanniterritter1. Bereits 1575 war L.s Lustspiel El verdadero amante erschienen. Seit seiner Jugend als Genie berühmt, war L. viele Jahrzehnte lang der bekannteste span. Schriftsteller seiner Zeit und übertraf an Erfolg bei weitem seinen Zeitgenossen Miguel de J Cervantes, zu dem er ein gespanntes Verhältnis hatte2. Er genoß in allen Schichten der Bevölkerung bis hin zu Adel und König Ansehen und zählt zu den einflußreichsten Autoren der span. Lit. Sein bewegtes Liebesleben mit mehreren Ehefrauen und zahlreichen Geliebten hat deutliche Spuren in vielen seiner Werke hinterlassen. L.s Werk ist sowohl im Umfang als auch hinsichtlich von Qualität und Einfluß überaus bedeutend. Er verfaßte mehrere hundert Komödien und Dramen, neun Epen, drei umfangreiche und vier kurze Romane sowie eine große Anzahl von Gedichten3. Die literar. Produktion L.s, bes. die dramatische, greift häufig auf populäre Stoffe und Motive zurück, die sich oft auch in anderen literar. Texten finden4. Vor allem in seinen Theaterstücken hat L. Hunderte von Erzählungen verarbeitet, die manchmal die Haupthandlung, manchmal den Inhalt eingeschobener Episoden bilden. Einige seiner Erzählungen weisen eine direkte Verbindung zur mündl. Überlieferung auf; die große Mehrzahl schöpfte er allerdings aus den ital. Erzählungen des MA.s und der Renaissance, etwa J Boccaccios Decamerone5. Vor allem die Novellen von Matteo J Bandello nutzte L. oft als Vorlage. Weitere Inspirationsquellen waren Fabeln sowie Apophthegmata und Exempla aus der griech.-lat. Antike, die im
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MA. lebendig blieben und in der Renaissance zu neuer Blüte kamen6. Allerdings verarbeitete L. alle Gattungen der Volkserzählung: Tier-, Zauber-, Novellen- und Legendenmärchen, Erzählungen von Dummköpfen und Listigen, Geschichten über Ehepaare, Satirisches etc. Dabei verstand er es, die Erzählungen leicht und ungezwungen in seine Komödien und Novellen einzubauen. Einige Stücke, wie die Tragödie El castigo sin venganza (1631), die viele als sein Meisterwerk betrachten, enthalten eine außergewöhnlich hohe Anzahl an Erzählungen7. Die Tragödie ist hauptsächlich von einer Novelle Bandellos (num. 44) inspiriert, die Mehrzahl der interpolierten Erzählungen sind Apophthegmata aus der klassischen Tradition, wie sie von den Humanisten des 15./16. Jh.s zitiert wurden; manche Geschichten gehen auf die Bestiarien (z. B. V. 1502⫺1519 zum Pelikan) oder J Valerius Maximus zurück. Zu den enthaltenen Volkserzählungen zählt eine Var. von AaTh/ATU 34: cf. J Spiegelbild im Wasser (V. 21⫺24), ein seinerzeit populärer ethnischer Witz über die Einwohner der Biskaya (V. 2223⫺2240)8 und eine in der span. mündl. Überlieferung überaus populäre Var. der äsop. Fabel vom Wiesel als Braut (2375⫺2391)9. Primär der Volksüberlieferung angehörende Geschichten scheint L. nicht bes. geschätzt zu haben, wenngleich er diese Tradition zweifellos kannte, da sie nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Städten lebendig war. Als Ausdruck seiner Geringschätzung läßt er etwa in seiner Komödie El mayor imposible eine der Figuren verächtlich von den ,Erzählungen der alten Weiber für das Feuer und die Winternächte‘ (J Ammenmärchen, J Spinnstube) sprechen10. Demgegenüber bevorzugte L. Erzählungen aus der Lit., bes. wenn sie griech.röm. oder ital. Vorläufer hatten. L.s spezifische Arbeitsweise, bei der er häufig ursprünglich voneinander getrennt überlieferte Erzählungen oder Erzählmotive vermischte, macht es gelegentlich schwierig, seine genauen Vorlagen festzustellen. Oft spielt er nur kurz und in elliptischer Weise auf Erzählungen an, die dem Publikum vertraut waren. So zitiert oder adaptiert er in mehreren Komödien (Los Porceles de Murcia, Quien ama no haga fieros, La prueba de los amigos [1604], la Comedia de Bamba etc.) sehr kurz den auch heute noch in Spanien verbreiteten Erzähltyp
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Vegetationsriten ⫺ Velculescu, Ca˘ta˘lina
AaTh/ATU 326 A*: Soul Released from Torment11. Gelegentlich nutzte er Erzählungen als Vorlage für Romanzen oder Sonette, die er in seine Komödien einfügte. In zahlreichen Stücken ist die Haupthandlung von populären Erzählungen inspiriert. So benutzte L. AaTh/ATU 934: cf. J Todesprophezeiungen als Vorlage für die Komödie Lo que ha de ser. Die Komödie La difunta pleiteada ist eine Adaptation von AaTh/ATU 885 A: J Scheintote Prinzessin. AaTh/ATU 887: J Griseldis erfuhr eine meisterhafte Bearb. in El ejemplo de casadas y prueba de la paciencia12. El ma´s gala´n portugue´s enthält die Fabel AaTh/ATU 214: J Esel will den Herrn liebkosen13, eine Episode des Lesedramas La Dorotea (1632) verweist auf AaTh/ATU 777: J Ewiger Jude14, und AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter kommt in der Komödie Santiago el Verde vor. 1
Castro, A./Rennert, H. A.: Vida de L. de V. (1562⫺ 1635). Salamanca 1968. ⫺ 2 Pedraza Jime´nez, F. B.: Cervantes y L. de V. Historia de una enemistad. In: id.: Cervantes y L. de V. Barcelona 2006, 13⫺62. ⫺ 3 Mene´ndez Pelayo, M.: Obras completas. 6: Estudios sobre el teatro de L. de V. Santander 1949. ⫺ 4 cf. allg. Camarena/Chevalier; Chevalier, M.: Cuentecillos tradicionales en la Espan˜a del Siglo de Oro. Madrid 1975; id.: Folklore y literatura. El cuento oral en el Siglo de Oro. Barcelona 1978; id.: Cuentos espan˜oles de los siglos XVI y XVII. Madrid 1982; id.: Cuentos folklo´ricos en la Espan˜a del Siglo de Oro. Barcelona 1983; id.: Cuento tradicional, cultura, literatura (siglos XVI⫺XIX). Salamanca 1999; Fradejas Lebrero, J.: Novela corta del siglo XVI. Barcelona 1985; Lida de Malkiel, M. R.: El cuento popular y otros ensayos. Buenos Aires 1976; Pedrosa, J. M.: El cuento popular en los Siglos de Oro. Madrid 2004. ⫺ 5 Segre, C.: Da Boccaccio a L. de V. Derivazioni e trasformazioni. In: id.: Semiotica filologica. Turin 1979, 97⫺115; D’Antuono, N. L.: Boccaccio’s „Novelle“ in the Theater of L. de V. Madrid 1983. ⫺ 6 Fradejas Lebrero, J.: Seis cuentos de origen cla´sico en L. de V. In: Boletı´n de la Acad. Puertorriquen˜a de la Lengua Espan˜ola 14,2 (1986) 7⫺34. ⫺ 7 McGrady, D.: Sentido y funcio´n de los cuentecillos en „El Castigo sin Venganza“ de L. In: Bulletin hispanique 85 (1983) 45⫺64. ⫺ 8 Chevalier 1975 (wie not. 4) 266 sq. ⫺ 9 Pedrosa, J. M.: La bestia metamorfoseada en novia. Una fa´bula de Esopo, un relato del „Calila e Dimna“, y un cuento de los Fang de Guinea Ecuatorial. In: Ora´frica 1 (2005) 49⫺60. ⫺ 10 Chevalier 1975 (wie not. 4) 16. ⫺ 11 id. 1983 (wie not. 4) 65. ⫺ 12 Soriano, C.: El ejemplo de casadas y prueba de la paciencia de L. de V.
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In: Dicenda 19 (1991⫺92) 293⫺326. ⫺ 1983 (wie not. 4) 42. ⫺ 14 ibid., 86.
Madrid
13
Chevalier
Jose´ Manuel Pedrosa
Vegetationsriten J Ritualistische Theorie
Velculescu, Ca˘ta˘lina (geb. Brezuleanu), *Bukarest 19. 12. 1941, rumän. Historikerin und Erzählforscherin. V. studierte rumän. Sprache und Lit. an der Univ. Bukarest (1960⫺65) und Theologie am Röm.-Kathol. Theologie-Inst. in Bukarest (1995⫺2000). 1982 wurde sie bei I. C. J Chit¸imia mit der Diss. Ca˘rt¸i populare s¸i cultura˘ romaˆneasca˘ 1 promoviert. 1965⫺2007 war V. wiss. Angestellte des Inst.s G. J Ca˘linescu an der Rumän. Akad. der Wiss.en. Seit 1998 ist sie Dozentin und seit 2006 Professorin an verschiedenen Bukarester Hochschulen. V.s Forschungsinteresse gilt vor allem dem Einfluß der mündl. Überlieferung auf rumän. Hss. (Chroniken2, Prologe3, Viten von Narren in Christo4; Erzählungen über Blitz, Donner und Drachen5). Unter der Leitung von Chit¸imia wirkte V. zusammen mit M. Moraru an der Bibliogr. der rumän. J Volksbücher mit6. Außer mit dem J Alexanderroman (anhand der rumän. Übers. einer serb. Fassung des Pseudo-Kallisthenes)7 beschäftigte sie sich bes. mit dem J Physiologus (J Bestiarien); für diesen identifizierte sie die verbreitetste rumän. Form8 und besorgte zusammen mit V. Guruianu die Herausgabe der wichtigsten rumän. Fassungen9. Anhand von Jagdszenen mit Stoffen, die ihren Ursprung im Physiologus, in den J Äsopika, in J Barlaam und Josaphat sowie in den Legenden von Eustachius bzw. J Placidas (AaTh/ATU 938) haben, untersuchte V. den Niederschlag von Volksbuchthemen in der Wandmalerei10. In den Werken von Autoren wie Neagoe Basarab (1512⫺22 Woiwode der Walachei), Gavriil Protul (Gabriel Protos; Anfang 16. Jh.) oder Dimitrie Cantemir (1673⫺ 1723) identifizierte sie Motive und Themen aus Volksbüchern11. Die Vermerke in den rumän. Mss. und die Subskribentenlisten einer neugriech. und einer rumän. Ausg. bildeten die Grundlage einer Studie über die Rezeption des Epos Erotocritos von Vitzentzos Kornaros (frühes 17. Jh.)12. Eine ähnliche Arbeit wid-
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Venediger
mete V. dem Roman J Paul et Virginie (1788) von Jacques-Henri Bernardin de St. Pierre13. Zusammen mit Guruianu besorgte sie eine kommentierte Ausg. der rumän. Übers.en einer zusammen mit dem Physiologus und den J Fiore di virtu` kopierten ma. Kosmographie, die u. a. Erzählungen über anthropomorphe Monstren, Tataren, Amazonen, Fabelwesen (Einhorn, Salamander, Phoenix) und die Inseln Java und Ceylon enthält14. V. beschäftigte sich ferner mit den rumän. Var.n der Erzählungen vom sagenhaften Reich des J Priesters Johannes15. Zudem arbeitete sie zu den an Bibelthemen orientierten Schriften von Picu Pa˘trut¸ (Oprea Procopie), einem Bauern aus Sa˘lis¸te (Siebenbürgen)16. 1 V., C.: Volksbücher und rumän. Kultur. In: Ber.e im Auftrag der Internat. Arbeitsgemeinschaft für Forschung zum rom. Volksbuch 6 (1983) 259⫺ 275. ⫺ 2 ead.: Village Mentality and Written Culture. In: Revue roumaine d’histoire 2 (1981) 219⫺222; ead.: Die ersten rumän. Chronisten an der Grenze zwischen Schrifttum und Oralität. In: Dacoromania 6 (1981/82) 81⫺88; ead.: Die rumän. Kopisten zwischen Schrifttum und Mündlichkeit. In: Revue roumaine d’histoire 4 (1983) 303⫺307; ead.: Ca˘rt¸i populare s¸i cultura˘ romaˆneasca˘. Buk. 1984, 53⫺74; ead.: Iˆntre scriere s¸i oralitate. Buk. 1988, 7⫺26; ead.: Folclor s¸i cultura˘ comuna˘. In: Limba˘ s¸i literatura˘ 4 (1989) 559⫺566. ⫺ 3 ead.: Die rumän. Prologe. Übers.en und Bearb.en. In: Mehrfachübers.en im südslav. MA. ed. L. Taseva u. a. Sofia 2007, 503⫺ 514. ⫺ 4 ead.: „Narr in Christo“ (salos, jurodivyj) und die rumän. Tradition. In: Revue des e´tudes sudest europe´ennes (2004) 87⫺97; ead.: Nebuni ˆıntru Hristos (Buk. 2008). ⫺ 5 ead.: Über Blitz, Donner, Blitzschlag in rumän. Hss. In: Festschr. V. Caˆndea 2. Buk. 2002, 371⫺384. ⫺ 6 ead./Moraru, M.: Bibliogr. analitica˘ a literaturii romaˆne vechi. Ca˘rt¸ile populare laice 1⫺2. Buk. 1976/78. ⫺ 7 V., C./Zgraon, F.: Alexandria ˆın manuscrise inedite. In: Revista de istorie s¸i teorie literara˘ (1991) 307⫺322. ⫺ 8 V., C.: Fiziologul de la Bistrit¸a. In: Revista de istorie s¸i teorie literara˘ (1982) 209⫺222. ⫺ 9 ead./Guruianu, V.: Fiziolog. Bestiar. Buk. 2001; V., C.: Ein Tierbuch aus dem 16.⫺20. Jh. In: Revue des e´tudes sud-est europe´ennes (2001) 133⫺141; ead./Toader, L.: Damaschin Studitul s¸i Pseudo-Fiziologul editat de C. N. Mateescu. Buk. 2006, 127⫺178. ⫺ 10 V. 1984 (wie not. 2) 8⫺31; ead. 1988 (wie not. 2) 27⫺36; ead.: Physiologus-Bestiarium-Bilder und die rumän. Volkskultur. In: Synthesis 25 (1998) 67⫺77; ead.: Die Tiersymbolik in der Wandmalerei der rumän. Länder. In: New Europe College Yearbook 1994⫺ 1995 (1998) 290⫺310; ead./Sta˘nculescu, I.: Animaux et parangons dans les monaste`res moldaves du XVIe sie`cle. In: E´tudes et documents balcaniques et me´di-
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terrane´ens 20 (2000) 51⫺62; eaed.: Tiersymbolik in rumän. Kirchen. In: Das Münster 4 (2002) 281⫺ 291. ⫺ 11 ead.: „Alexandria“ aus der Sicht von Neagoe Basarab und Antonio de Guevara. In: Synthesis 8 (1981) 105⫺112; ead.: Albinele s¸i „Iˆnva˘t¸a˘turile“ lui Neagoe Basarab. In: Dacoromania 5 (1979/80) 5; ead. 1984 (wie not. 2) 39⫺42; ead.: „Viat¸a Patriarhului Nifon“ s¸i „Alexandria“. In: Revista de istorie s¸i teorie literara˘ (1977) 115⫺117; ead.: Possible Starting Points of Dimitrie Cantemir’s „Hieroglyphical History“. In: Revue des e´tudes sud-est europe´ennes (1980) 120⫺122. ⫺ 12 ead.: La Re´ception roumaine d’un livre populaire. L’E´rotocrite. In: Synthesis 12 (1985) 49⫺58; ead. 1988 (wie not. 2) 112⫺127; ead.: Die rumän. Leser eines Volksbuches kret. Herkunft. Der „Erotocrit“. In: Europ. Volkslit. Festschr. F. Karlinger. Wien 1980, 184⫺193. ⫺ 13 ead.: Les Souscripteurs roumains a` „Paul s¸i Virginia“. In: Cahiers roumains d’e´tudes litteraires (1986) 26⫺33. ⫺ 14 ead.: Kosmographien und Historiographie. ibid. (1985) 40⫺51; ead.: Eine georg. Legende in rumän. Übertragung. In: Synthesis 23 (1996) 23⫺28; ead./ Guruianu, V.: Cosmographies in Romanian. „Laus Asiae“ or „Laus Europae“? In: Revue des e´tudes sud-est europe´ennes (1995) l53⫺170; iid.: Povestea t¸a˘rilor Asiei. Cosmografie romaˆneasca˘ veche. Buk. 1997. ⫺ 15 V., C.: Animale fantastice s¸i s˛ara preotului Ioan. In: Manuscriptum (1992) 26⫺33; cf. auch Sta˘nculescu, I.: T˛ara Preotului Ioan. Buk. 2003, 61⫺ 123. ⫺ 16 V., C.: Die Welt des Oprea-Procopie aus Sa˘lis¸te. In: Volksbuch ⫺ Spiegel seiner Zeit. ed. A. Birner. Salzburg 1987, 187⫺200.
Bukarest
Ileana Sta˘nculescu
Venediger (Venetianer, V.männlein, V.mandl, Italiener, Welscher, Wale etc.), geheimnisvoller erz- und mineralsuchender J Fremder, Figur eines vor allem in Bergbaugebieten der Alpenländer1 sowie der Mittelgebirge (Harz2, Thüringen, Erzgebirge3, Fichtelgebirge4, Glatzerund Altvatergebirge5, Riesen- und Isergebirge6) bis zu den Karpaten verbreiteten dt.sprachigen Sagenkomplexes7, der Berührungspunkte mit J Bergmanns- und J Schatzsagen aufweist. Die sog. V.sagen wurden von G. Heilfurth und I.-M. J Greverus umfassend dokumentiert8: Fremde aus Venedig (seltener Padua, Mailand, Florenz), von kleiner Statur und ärmlich gekleidet, kommen als Hausierer (Bettler, Kräutersammler) meist allein (zu zweit, zu dritt) alljährlich im Sommer (alle drei Jahre, zweimal im Jahr) ins Gebirge9, um nach Edelmetallen zu schürfen (J Edelsteine [Perlen] zu sammeln, J Gold in Quellen abzufangen
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Venediger
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oder aus Bachsand zu sieben10), und tragen die gewonnenen Reichtümer in ihre Heimat. So unvermutet, wie sie auftauchen, verschwinden sie auch wieder. Sie sind schweigsam, wollen unbeobachtet arbeiten, wohnen im Gebirge bei einfachen Leuten und nehmen zuweilen Einheimische als Führer. Sie gelten einerseits als Mineralkundige (u. a. Kenntnisse in Schmelz- und Scheidekunst), die mehr wissen als die Einheimischen (ihnen wird häufig der Spruch zugeschrieben: Der Stein, den der Hirte nach der Kuh wirft, ist wertvoller als die Kuh11), und verfügen andererseits über supranaturale Fähigkeiten: Sie benutzen Wünschelrute, Berg- und Sichtspiegel (J Spiegel) sowie J Zauberbücher, haben Macht über J Schlangen und J Drachen, können sich J unsichtbar machen und fliegen (auf einem Mantel, im Wirbelsturm12; J Luftreisen). Des öfteren kommt ein Einheimischer auf Einladung (durch Zufall, als Soldat, in Notlage, als Verkäufer gestohlenen V.guts) in die Heimatstadt des Erzsuchers, meist Venedig, und kehrt von dort durch J Entrückung im Schlaf (durch Flug) zurück bzw. gelangt auf diese Weise nach Venedig und zurück13. Er erkennt den ihn in seinen prächtigen Palast einladenden reichen Herrn als den V. aus dem Gebirge oft erst wieder, als dieser sich in ärmlicher Kleidung zeigt; er wird großzügig bewirtet14, sieht im V.spiegel Vorgänge in seiner Heimat15 und wird mit wertvollen Geschenken verabschiedet16. Allg. erscheinen die V. als friedfertig und großzügig gegenüber ihren Helfern (Hirten, Führer, Wirte17), doch halten sie ihre Fundplätze geheim, machen sie für andere unzugänglich18 und geben ihre Kenntnisse an Einheimische (als Dank) erst weiter, wenn sie selbst die Fundplätze aufgegeben haben19. Seltener werden Konflikte dargestellt: V. bedrohen und schädigen Einheimische, die sie nachahmen und bestehlen (für Kärnten und Steiermark: heimtückische Anschläge auf Mitwisser)20; umgekehrt attackieren mißtrauische und habgierige Einheimische die Fremden (vor allem oberpfälz.: unbeabsichtigte Verletzung eines V.s im Wirbelsturm durch Messerwurf 21).
Abschriften zu Beglaubigungszwecken schließlich auch V.n zugeschrieben wurden26. Während es in V.sagen vor allem um Gold bzw. um Stoffe, die in Gold verwandeln, geht (cf. J Alchemist), schrieben Sachverständige für Bergbau schon im 16. Jh., daß Mineralien nach Italien (speziell Venedig) zur Glasschmelze und Farbglasherstellung gebracht würden27. Seit dem 17. Jh. erfuhren Walen und V. eine Dämonisierung, z. B. durch C. G. Lehmann (1611⫺88), einen Chronisten des Erzgebirges28. Hingegen dokumentiert eine Schrift der Spätaufklärung zwar den zeitgenössischen Umlauf von V.sagen im Harz, jedoch mit der Intention, einem kindlichen Publikum zu erklären, daß es sich bei V.n nicht um zauberische Gold-, sondern um erfahrene Mineraliensucher handle29. Unters.en W.-E. J Peuckerts und neuere Publ.en werten Ortsund Fundangaben in Walenbüchern sowie Wegmarkierungen (sog. Walenzeichen oder V.steine) als durchaus realen Gegebenheiten entsprechend30 und bestimmen die ,Schätze der V.‘ vor allem als das für die ital. Glasproduktion notwendige Mangan31, dessen Suche bes. im 15. und 16. Jh. betrieben wurde. Nach Peuckert sind die V.sagen durch Nordtiroler Holzknechte Ende des 16. Jh.s aus den Alpenländern ins Riesengebirge und auch in den Harz gekommen32. O. Moser stellte die Dämonisierung der V.gestalt in den alpenländischen Sagen33, von denen angenommen wird, daß sie sich Anfang des 17. Jh.s auf die V.sagen insgesamt ausgewirkt haben, in Zusammenhang mit J Hexen, J Zauberern und fahrenden Schülern.
Die Sagen weisen überregional große Übereinstimmung und einen realhist. Hintergrund auf. Im 16. Jh. häuften sich Aussagen in Chroniken und Bergbauschriften, daß aus dt. Gebieten Erze und Gold nach Italien geschafft würden: Ihnen zufolge sind die Sucher und Transporteure vor allem ,Walen‘22, ,Italiener‘23, ,Walen und V.‘24 oder ,Italiener aus Venedig‘25. Von den V.sagen sind die schriftl. tradierten Walenbücher ⫺ Wegweiser zu neuen Fundstellen ⫺ zu trennen, deren dt.sprachige Verf. ursprünglich sachkundige wandernde Bergleute (Prospektoren) waren, die erst im 16. Jh. den Namen Walen (oberdt. für Welsche) erhielten, und deren überaus populäre
1 Moser, O.: Die V. im Erzählgut des Ostalpenraums. In: Alpes orientales (1959) 91⫺98 (mit Hinweis auf slov. Sagen und mediterrane Überlieferungen über griech. Schatzsucher). ⫺ 2 Grosse, W.: Die V. im Harz. In: Der Harz (1925) H. 12, 569⫺573; id.: Die venetian. Goldsucher im Harz 1⫺2. In: Zs. des Harz-Vereins 64 (1931) 105⫺150, 65 (1932) 1⫺15. ⫺ 3 Schurtz, H.: Der Seifenbergbau im Erzgebirge und die Walensagen. Stg. 1890. ⫺ 4 Hanika, J.: Die Volkssage im Fichtelgebirge und seinem Umland. Bayreuth 1958, 18 sq., 112⫺122. ⫺ 5 Peter, H.: Geschichtliches Volkssagengut in den Sudetenländern. (Diss. Prag 1936) Marburg 1978, 95⫺122. ⫺ 6 Peukkert, W.-E.: Walen und V. In: Mittlgen der Schles. Ges. für Vk. 30 (1929) 205⫺247. ⫺ 7 Locher, E.: Die V.sagen. (Diss. Freiburg [Schweiz]) Tübingen 1922; Weiser-Aall, L.: Walen. In: HDA 9 (1938⫺41) 63⫺
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66; Schramm, R.: Venetianersagen von geheimnisvollen Schatzsuchern. Lpz. 21987. ⫺ 8 Heilfurth, G. (unter Mitarbeit von I.-M. Greverus): Bergbau und Bergmann in der dt.sprachigen Sagenüberlieferung Mitteleuropas. 1: Qu.n. Marburg 1967, 64, 210 sq., 732⫺841, num. 824⫺984 (Themengruppe K: V. ⫺ die geheimnisvollen Schürfer und Finder; cf. verstreut in Themengruppe L: Reichtum der Gebirge und Gewässer und M: Unzugängliche und verwunschene Bodenschätze), Motivreg., num. 141⫺148, Reg. der Sagengestalten s. v. V. ⫺ 9 ibid., Motivreg., num. 141. ⫺ 10 ibid., num. 142. ⫺ 11 ibid., 757 sq. (Text von Bruschius, C.: Des Vichtelbergs […] gründtliche beschreibung. Nürnberg 1542, zitiert nach Agricola, G.: Ausgewählte Werke 2. ed. H. Prescher. B. 1955, 341); cf. auch Wilsdorf, H.: Einführung in die Bergmannssagen „von den Venedigern“. In: Schramm (wie not. 7) 217⫺255, hier 231 sq. ⫺ 12 Heilfurth (wie not. 8) Motivreg., num. 143. ⫺ 13 ibid., num. 144. ⫺ 14 ibid., num. 144.78. ⫺ 15 ibid., num. 145.58. ⫺ 16 ibid., num. 146.2. ⫺ 17 ibid., num. 146.1. ⫺ 18 ibid., num. 62.38, 63.55. ⫺ 19 ibid., num. 145. ⫺ 20 ibid., num. 147. ⫺ 21 ibid., num. 148, 148.56. ⫺ 22 Wilsdorf (wie not. 11) 232 (zu H. Ruckhardt [1523]), 233 (J. Aventinus [1554]); Peuckert (wie not. 6) 241 (J. Aventinus, F. Faber [genannt Köckritz; 1565]). ⫺ 23 Locher (wie not. 7) 53 sq. (G. Agricola [1556]); Wilsdorf (wie not. 11) 218, 227. ⫺ 24 Heilfurth (wie not. 8) 757 sq.; Wilsdorf (wie not. 11). ⫺ 25 Peuckert (wie not. 6) 245 (C. Schwenkfeldt [1601]). ⫺ 26 ibid., 240⫺247; id.: Dt. Volksglaube des SpätMA.s. Stg. 1942, 201⫺203; Heilfurth (wie not. 8) 842⫺863, num. 985⫺1008. ⫺ 27 cf. Wilsdorf (wie not. 11) 219 (J. Scaliger [1557], A. Caesalpinus [1597]), 224 (L. Ercker [1574]). ⫺ 28 L[ehmann], C. G.: Nachricht von Wahlen, wer sie gewesen, wo sie Gold-Erz aufgesucht […] wie sie aus Erzen und Kräutern Gold gebracht […]. Ffm./Lpz. 1764; cf. Schramm (wie not. 7) 149⫺153, 238. ⫺ 29 Goeze, J. A. E.: Dritte kleine Harzreise zum Unterricht und Vergnügen der Jugend. Lpz. 1786, 264⫺ 269. ⫺ 30 Peuckert (wie not. 6) 232⫺234; id.: Der Walenwegweiser zur Abendburg. In: Das älteste schles. Walenbuch. ed. E. Boehlich u. a. Breslau 1938, 21⫺37; Laub, G.: V.zeichen im Oberharz. In: Unser Harz (1962) H. 3, 8 sq.; kritisch hingegen Wilsdorf (wie not. 11) 234⫺236. ⫺ 31 Laub (wie not. 30) 8; Wilsdorf (wie not. 11) 219 sq., 224 sq. ⫺ 32 Peuckert (wie not. 6) 245 sq. ⫺ 33 Moser (wie not. 1) 96 sq.; cf. HDA 2 (1929⫺30) 1124; ibid. 9 (1938⫺41) 1020.
Göttingen
Ines Köhler-Zülch
Venezuela 1. Allgemeines ⫺ 2. Geschichte der Erzählforschung ⫺ 3. Gestalten der venezolan. Volkserzählung
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1 . All ge me in es. V. erhielt seinen Namen von dem span. Seefahrer A. de Hojeda, der das Land 1499 unter dem Eindruck der indian. Pfahlbaudörfer am Golf von Maracaibo als ,Klein-Venedig‘ bezeichnete. In der Folgezeit meist unter span. Herrschaft, erklärte V. im Zuge der Revolution unter Simo´n de Bolı´var 1811 seine Unabhängigkeit. Nach einer langen Zeit der Bürgerkriege und politisch instabilen Verhältnisse ist V. seit 1961 eine präsidiale Bundesrepublik, deren Wohlstand zum Großteil auf dem Export von Erdöl und Erdgas beruht. Die Bevölkerung V.s (2000: ca 27 Millionen) besteht zu 67 % aus Mestizen; 20 % sind europ., 10 % afrik. und 3 % indian. Abstammung. 2 . G es ch ic ht e d er Er zä hl fo rs ch un g. A. Rojas (1826⫺94) war der erste venezolan. Autor, der systematisch von dem Begriff J Folklore Gebrauch machte1. Mit der Gründung des Servicio de Investigaciones Folklo´ricas Nacionales (1947; seit 1953 Instituto Nacional de Folklore) in Caracas erhielt V. eine Einrichtung, die sich mit der wiss. Unters. der Volksüberlieferung befaßte. Zusammen mit dem 1971 begründeten Instituto Interamericano de Etnomusicologı´a y Folklore und dem Museo Nacional de Folklore bildet sie seit 1985 den Centro para Estudio de las Culturas Populares y Tradicionales. Die auf dieser Grundlage 1990 eingerichtete Fundacio´n de Etnomusicologı´a y Folklore besteht seit 2006 als Centro de la Diversidad Cultural. El cojo ilustrado (1892⫺1915) ist die erste venezolan. Zs., die volkskundliche Themen unter Berücksichtigung begriffs- und fachspezifischer Aspekte behandelte. Für die Erzählforschung relevant sind ferner bes. die Zss. Cultura venezolana (1918⫺34), Acta venezolana (seit 1945), Archivos venezolanos de folklore (seit 1952), Revista venezolana de folklore (1968⫺75) und Boletı´n del Instituto de Folklore (1953⫺65). Wesentliche Impulse verdankt die Erzählforschung in V. dem Besuch S. J Thompsons (1947), der auf Einladung des Servicio de Investigaciones Folklo´ricas eine Einführung in die Methoden der Folkloristik gab2; bei dieser Gelegenheit klassifizierte Thompson auch 166 venezolan. Erzählungen aus neuerer Überlieferung3. Frühe Slgen von Erzählungen aus der
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mündl. Überlieferung des Landes stammen von Schriftstellern wie Juan Pablo Sojo (1907⫺48)4, Antonio Arra´iz (1903⫺62)5 und Santos Erminy Arismendi6. R. Rivero Oramas, der Begründer der Kinderzeitschriften Onza, Tigre y Leo´n (1938⫺48) und Tricolor (1949⫺67), veranstaltete als ,Onkel Nicola´s‘ ein abendliches Radioprogramm für venezolan. Kinder7. R. Olivares Figueroa wird die erste landesweite Slg von Volkserzählungen zugeschrieben8. L. A. Domı´nguez erforschte die Überlieferung des Staates Falco´n und der Andenregion9. L. F. Ramo´n y Rivera und seine Frau I. Aretz untersuchten u. a. die Volkserzählungen des Staates Ta´chira10. L. Dubuc de Isea sammelte mündl. Erzählungen von Bauern aus den ländlichen Randgebieten der Stadt Bocono´ im Staat Trujillo11. Im Staat Me´rida beschäftigte sich J. Carrillo mit der Überlieferung von Bauern der Andenregion12. Nach Y. Salas de Lecuna beläuft sich die Zahl der für V. nachgewiesenen Erzähltypen auf mehr als 20013. Einige Autoren veröffentlichten einheimische Volkserzählungen in sprachlichen Bearbeitungen, wobei sie sich bemühten, den Charakter der mündl. vorgetragenen Versionen zu bewahren. Hierzu gehören vor allem die als Schullektüre obligatorischen Bearb.en des Mythos der weißen Adler durch den Schriftsteller Tulio Febres Cordero (1860⫺1938)14. In Ta´chira sammelte L. Robles de Mora Zaubermärchen, Sagen, Anekdoten und andere Geschichten15, wie ähnlich auch L. E. Mora Zambrano16 und F. Zulay Rojas17. R. Agagliate18 sowie J. A. Castillo19 zeichneten Erzählungen in Sanare im Staat Lara auf. Die Dichterin und Schriftstellerin Fanny Uzca´tegui20, die für ihr Werk Piapoco 2007 den nationalen Kinderbuchpreis erhielt, greift in ihren heiteren Erzählungen auf Themen und Motive aus der volkstümlichen Überlieferung zurück. Erzählungen voller Poesie stammen von Javier Villafan˜e21. In methodologischer Hinsicht beschäftigten sich venezolan. Wissenschaftler u. a. mit strukturellen und morphologischen Aspekten der venezolan. Volkserzählung, so P. Almoina de Carrera22, Salas de Lecuna23, M. del R. Jime´nez Turco24 und D. Mato25. Jime´nez Turco, eine Schülerin von Almoina de Carrera, erar-
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beitete ein flexibles deskriptives Modell zur Klassifizierung der traditionellen humoristischen Erzählung in V.26 D. Pannier Fraino besprach ein Korpus von Erzählungen aus dem Staat Me´rida nach ihrer jeweiligen Ausrichtung ⫺ etwa als mythisch, religiös, furchterregend, märchenhaft, moralistisch oder witzig. Ihre Unters. zielt darauf ab, die Bedeutung der Erzählungen für die jeweiligen Gemeinschaften hervorzuheben27. Salas de Lecuna hat Vorarbeiten für einen Index der venezolan. Volkserzählung geleistet, der u. a. auch die Charakteristika der lokalen Var.n berücksichtigen soll28. Die Autorin unterteilt ihr Korpus von 78 Erzählungen in ,sakralisierende‘ (Zauber-, Legenden- und Novellenmärchen) und ,desakralisierende‘ Erzählungen (Witze und schwankhafte Erzählungen, Geschichten vom dummen Teufel [Riesen]). Nach ihrem Verständnis wird in den sakralisierenden Erzählungen die Realität sublimiert und verschönert, was zu ihrer Umkehrung und Verwandlung in eine magische, phantastische, übernatürliche oder einfach fiktive Welt führt. Derartige Erzählungen stärken die traditionelle Ordnung, hierarchische Werte werden als unveränderlich dargestellt, sie ordnen die chaotische Realität und sakralisieren sie in Übereinstimmung mit traditionellen Mustern. Die desakralisierenden Erzählungen hingegen entmythisieren das Bestehende und Traditionelle. Die Wirklichkeit ist nicht magisch, sondern pikaresk, die Ordnung wird nicht über das Wunderbare hergestellt, sondern über die schlauen und betrügerischen Handlungen des zum Helden erhobenen Protagonisten.
3 . G es ta lt en de r v en ez ol an . Vol ks er z äh lu ng. Die venezolan. Volkserzählung ist vor allem durch das Zusammenspiel von Elementen aus drei Kulturbereichen gekennzeichnet: dem span., dem afrik. und dem indigenen. Die folgenden Gestalten sind für die venezolan. Überlieferung charakteristisch. Marı´a Lionza ist eine Gottheit, die in den Sorte-Bergen im Staat Yaracuy verehrt wird. In Bocono´ kennt man sie als Don˜a Aldonza, die mit ihrem Mann Don Monterudo und ihrem Hofstaat von momoyes je nach den Umständen wohltätig oder schädlich wirkt29. Die momoyes sind zwergenhafte Waldbewohner, die Gewässer und Saaten beschützen. In ländlichen Gegenden werden sie gleichzeitig bewundert und gefürchtet. Sie sind dafür bekannt, daß sie Kinder rauben, die allein im Fluß baden; oft werden diese dann Jahre später im Zustand geistiger Umnachtung wieder aufgefunden30.
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Tı´o Tigre (Gevatter Tiger) und Tı´o Conejo (Gevatter Kaninchen; J Brer Rabbit) sind Trickstergestalten afrik. Ursprungs. Tı´o Conejo ärgert mit seiner Gerissenheit und Flinkheit Tı´o Tigre, den er trotz dessen Stärke und Majestät stets besiegt31. Pedro Rimales ist die venezolan. Ausprägung des auch in anderen Ländern Lateinamerikas bekannten Pedro de Urdemales32. Er ist der Inbegriff des Schelms, ein Herumtreiber und Lebenskünstler, der aus jedem Abenteuer siegreich hervorgeht. Trotz seiner Unverschämtheit genießt er die Sympathie des Publikums. Trifft er mit seinem Gegenbild Juan Bobo (Hans Dumm) zusammen, so ist Juan immer der Betrogene oder Unterlegene33. Als El Salvaje (Der Wilde) wird der Brillenoder Andenbär bezeichnet, der in den Bergwäldern der Andenregion lebt. Er raubt und schwängert Frauen, die er auf einem Baum gefangenhält, wo er ihnen beständig die Füße leckt34. Verehrt und gefürchtet werden auch die Seelen der Verstorbenen. Man schreibt ihnen große Macht bei der Lösung von Schwierigkeiten zu, doch muß man mit größter Vorsicht vorgehen, um ihre Gunst zu gewinnen35. Zu den nächtlichen Schreckgespenstern gehören La Mula Mania´, El Silbo´n, La Llorona und La Sayona. Diese Figuren nehmen verschiedene Gestalten an und manifestieren sich u. a. mit Geheul, Kettenrasseln und schrecklichen Gesichtern. Jede von ihnen hat eine Vorgeschichte, die ihr nächtliches Wandern erklärt36. Sehr verbreitet sind Geschichten über Hexen. Sie sollen nachts auf einem Besen reiten, auf den Dachfirsten der Häuser rasten sowie die Mähnen der Tiere flechten. Hexen werden als menschliche Wesen aufgefaßt, die sich mit Hilfe übernatürlicher Kräfte verwandeln. Man kann sie identifizieren, indem man sie an der Tür ihres Hauses um Salz bittet37. 1 Rojas, A.: Contribuciones al folklore venezolano. Caracas 1967. ⫺ 2 Dupuy, W.: Acerca de dos libros del Prof. Stith Thompson. In: Revista venezolana de folklore 4 (1972) 100⫺102; Acosta Saignes, M.: Estudios de folklore venezolano. Caracas 1962, 3⫺ 24. ⫺ 3 Domı´nguez, L. A.: Documentos para el estudio del folklore literario de V. Caracas 1976; Salas de Lecuna, Y.: El cuento folklo´rico. Caracas 1985. ⫺ 4 Sojo, J. P.: Cuentos y leyendas de Barlo-
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vento y otras regiones venezolanas. In: Boletı´n del Instituto de Folklore 2,3 (1955) 77⫺100; id.: Seleccio´n de algunos trabajos literarios, lingüı´sticos y de investigacio´n folklo´rica. In: El Estado Miranda. Sus tierras y sus hombres. Caracas 1959, 209⫺375. ⫺ 5 Arra´iz, A.: Tı´o Tigre y Tı´o Conejo. Caracas 1988. ⫺ 6 Erminy Arismendi, S.: Huellas folklo´ricas. Tradiciones, leyendas, brujerı´as y supersticiones. Caracas 1953. ⫺ 7 Rivero Oramas, R.: Un cuento del tı´o Nicola´s. El hojarasquerito del monte. Caracas 1981; id.: El mundo de Tı´o Conejo. Caracas 1985. ⫺ 8 Olivares Figueroa, R.: Folklore venezolano. Caracas 1948. ⫺ 9 Domı´nguez, L. A.: Encuentro con el folklore en V. Caracas 21990; id.: Los estudios del folklore en V. Caracas 1992. ⫺ 10 Ramo´n y Rivera, L. F./Aretz, I.: Folklore tachirense 1⫺2. Caracas 1961. ⫺ 11 Dubuc de Isea, L.: Romerı´a por el folklore bocone´s. Me´rida 1966; ead.: Del imaginario popular. Palabra y memoria colectiva. Trujillo 2007. ⫺ 12 Carrillo, J.: Relatos de hombres y pueblos meriden˜os. Me´rida 1984. ⫺ 13 Salas de Lecuna (wie not. 3). ⫺ 14 Febres Cordero, T.: Obras completas. 3: Tradiciones y leyendas. Me´rida 1960. ⫺ 15 Robles de Mora, L.: Leyendas de espantos y aparecidos (Estado de Ta´chira). San Cristo´bal 21998; ead.: Leyendas del Ta´chira 2⫺3. San Cristo´bal 2000/02. ⫺ 16 Mora Zambrano, L. E.: Reencuentro con los ritos de la vida y de la muerte. Ayer, hoy y siempre. San Cristo´bal 1994. ⫺ 17 Rojas, F. Z.: Patrimonio tachirense. San Cristo´bal 2006. ⫺ 18 Agagliate, R.: Las Quintillizas de El Tocuyo. Barquisimeto 1987. ⫺ 19 Castillo, J. A.: Leyendas de Sanare. Sanare 2006. ⫺ 20 Uzca´tegui, F.: Maichak y el prisma sagrado. Caracas 2006. ⫺ 21 Villafan˜e, J.: La gallina que se volvio´ culebra y otros cuentos que me contaron. Me´rida 1978. ⫺ 22 Almoina de Carrera, P.: El cuento popular venezolano. Caracas 1990; id.: Ma´s alla´ de la escritura. La literatura oral (sobre textos de la tierra ine´dita). Caracas 2001. ⫺ 23 Salas de Lecuna (wie not. 3). ⫺ 24 Jime´nez Turco, M. del R.: El cuento folklo´rico. Una aproximacio´n a su estructura y tipologı´a. Caracas 2003. ⫺ 25 Mato, D.: El arte de narrar y la nocio´n de la literatura oral. Caracas 1995. ⫺ 26 Jime´nez Turco, M. del R.: El relato humorı´stico tradicional en V. Una aproximacio´n a su estructura y tipologı´a. Caracas 2003. ⫺ 27 Pannier Fraino, D.: Tras el sentido del cuento folklo´rico popular del estado Me´rida. Me´rida 2006. ⫺ 28 Salas de Lecuna (wie not. 3). ⫺ 29 Tamayo, F.: El culto a Maria Lionza. In: Boletı´n del Centro Histo´rico Larense 2,5 (1943) 5⫺8; Antolı´nez, G.: Los ciclos de los dioses. Folklore y mitologı´a de centro occidente de V. San Felipe 1995; Rojas, B.: Las diosas madres andinas. Representaciones mı´tico-religiosas de los Andes venezolanos. Me´rida 1987. ⫺ 30 ibid., 119⫺133; Dubuc de Isea 1966 (wie not. 11) 264⫺280. ⫺ 31 Arra´iz (wie not. 5); Carrera, G. L.: Folklore literario. In: Panorama del folklore venezolano. ed. M. Cardona u. a. Caracas 1959, 103⫺190; Almoina de
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Carrera 2001 (wie not. 22) 321⫺331; Dubuc de Isea 2007 (wie not. 11) 61⫺66. ⫺ 32 cf. z. B. Laval, R. A.: Cuentos de Pedro Urdemales. Santiago de Chile 2 1943; Chertudi, S.: Los cuentos de Pedro Urdemales en el folklore de Argentina y Chile. In: Cuadernos del Instituto Nacional de Antropologı´a 7 (1968⫺71) 33⫺63. ⫺ 33 Almoina de Carrera 2001 (wie not. 22) 125⫺136; Jime´nez Turco (wie not. 26) 215⫺219; Dubuc de Isea 1966 (wie not. 11) 239⫺243; ead. 2007 (wie not. 11) 27⫺36, 91⫺103. ⫺ 34 Carrera (wie not. 31) 161⫺164; Antolı´nez (wie not. 29) 269⫺277; Dubuc de Isea 1966 (wie not. 11) 270 sq. ⫺ 35 Erminy Arismendi (wie not. 6) 220⫺222; Antolı´nez (wie not. 29) 269⫺277; Pollack Eltz, A.: Las a´nimas milagrosas en V. Caracas 1989. ⫺ 36 Madriz Galindo, F.: Narraciones de consejas. In: Boletı´n del Instituto del Folklore 6 (1954); Erminy Arismendi (wie not. 6) 59⫺61, 147, 152⫺155, 160; Antolı´nez (wie not. 29) 146⫺151. ⫺ 37 Erminy Arismendi (wie not. 6) 251⫺267; Dubuc de Isea 1966 (wie not. 11) 271 sq., 279; ead. 2007 (wie not. 11) 107 sq.; Antolı´nez (wie not. 29) 121⫺128.
Bocono´
Lourdes Dubuc de Isea
Venus, eine ambivalente Gestalt des Mythos, oft mit der griech. Göttin Aphrodite gleichgesetzt, von vollkommener J Schönheit und Anmut, jedoch von zwielichtigem Wesen. Sie schenkt Frieden, Freude und Glück, stiftet aber auch Krieg, Leid, Schrecken und Verzweiflung. Sie ist nachtragend, ihrer Macht kann sich niemand entziehen1. Die Etymologie des Namens V. ist umstritten; auszugehen ist wahrscheinlich von religiösen, auf die übernatürliche Gnade bezogenen Begriffen2. Ungeklärt bleiben auch die italischen Anfänge bzw. Ursprünge der Gestalt. Seit dem 4. Jh. v. u. Z. ist die Identifizierung mit der griech. Göttin Aphrodite nachweisbar. Über Aphrodites Geburt und ihre Eltern bestehen unterschiedliche Mythen: z. B. entstand sie mittelbar aus den Genitalien des von Kronos kastrierten Uranos, stieg auf Kythera an Land und gelangte von dort nach Zypern (Hesiod, Theogonie 123⫺206; Homerischer Hymnus). Sokrates (Platon, Symposion 202 C, 203 A) bezeichnet Aphrodite als eine Dämonin, als ein Mittelglied zwischen Gott und Mensch, während Pausanias (Symposion 180 D) eine ältere, mutterlose, himmlische Aphrodite von einer jüngeren, irdischen unterscheidet. Die Göttin war nach der Odyssee (8, 286⫺343; J Homer) mit Hephaistos verheiratet; dieser be-
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strafte sie für ihren von Helios verratenen Ehebruch mit Ares (adulterium Veneris), indem er beide auf dem Lager mit einem nur von ihm lösbaren Netz umgarnte und so dem Gelächter der Götter preisgab. V. hatte verschiedene Affären mit Göttern und Sterblichen, u. a. mit Ares/Mars, dem kgl. Rinderhirten Anchises und mit Adonis. Aus diesen Verbindungen stammten zahlreiche Kinder, u. a. J Äneas. Die V.kulte ergeben kein homogenes Bild3: Die literar. Veneres referieren vor allem auf Sinnlichkeit und Schönheit, die kultischen darüber hinaus auf Tod und Bestattung. Caesar erklärte sich als Venere prognatus (von V. entsprossen), er weihte der V. einen Tempel und stiftete ihr zu Ehren Spiele. Ihr bewegtes Leben und ihre unvergleichliche Schönheit brachten der V. zahlreiche positive und negative Attribute und Zuschreibungen ein. In ihren Brustgürtel sind die Wonnen der Liebe gewoben (Homer, Ilias 16,215). Sie ist u. a. die Vulgivaga ,Umherschweifende‘. Mehrere Pflanzen und Tiere sind ihr geweiht. V. stand metonymisch für Schönheit, geschlechtliche Liebe oder einen geliebten Gegenstand. Ihre Dienerinnen waren die drei Grazien4. Bes. Verehrung genoß sie in Paphos auf Zypern. Auf V. bezieht sich der Name des Planeten und danach der sechste (heute fünfte) Tag der Woche (dies Veneris). Auch Tiere (z. B. V.muschel), Pflanzen (z. B. V.fliegenfalle, V.schuh) und menschliche Körperteile (z. B. V.hügel) sowie Geschlechtskrankheiten (z. B. V.seuche) tragen ihren Namen.
Zur bis in die Gegenwart wirkenden künstlerischen Leitfigur wurde die Knidische Aphrodite/V. des Praxiteles (um 340 v. u. Z.), eine unbekleidete große Frauengestalt, die mit ihrer rechten Hand die Scham bedeckt (V. Pudica). Sie gilt als Vollendung göttlicher und weiblicher Schönheit. Mit ihr ist das literar. Motiv der auflebenden J Statue verknüpft (J Pygmalion), seit dem 12. Jh. auch das Motiv von einem jungen Mann, welcher der V. aus Übermut seinen Ehering aufsteckt, den er nur mit Hilfe eines Priesters zurückerhält5. Aus späterer Zeit stammen zahlreiche Bildwerke nach hellenist. Vorbildern6: Bes. bekannt sind die V. von Medici (mit nun auch bedeckter Brust; 1. Jh. v. u. Z.), die V. von Milo (Aphrodite von Melos, mit verhülltem Unterleib; ca 100 n. u. Z.) und die V. Kallipygos (die mit dem schönen Hintern).
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Während des MA.s und der frühen Neuzeit blieb V. das Objekt männlicher Weiblichkeitsphantasien und die bekannteste antike Göttergestalt überhaupt7. Das christl. MA. begegnete ihr mit großer Zurückhaltung und machte sie gerne zum Zerrbild, denn sie repräsentierte auch die Wollust, die zu den sieben Todsünden (J Sünde) zählte8. Damit unterlag sie aber dem maßgeblich von der Theologie inszenierten Programm der Dämonisierung der gesamten antiken Götterwelt9. Reformation und Gegenreformation verdichteten die christl. Diskreditierung der V. Die verstärkte negative Sicht ging nicht nur auf die Skepsis gegenüber Renaissance und Humanismus zurück, sondern auch auf eine massive, hauptsächlich von der Kirche und dem Patriziat der Städte getragene frauenfeindliche Publizistik, die im frühen 16. Jh. verstärkt einsetzte. An den fürstlichen Höfen Europas genoß V. weiterhin hohes Ansehen, während sich die theol.-moralisierende Sichtweise eher an ein breiteres Publikum wandte. An den Höfen prägten die antiken V.mythen den literar. Liebesdiskurs entscheidend mit10. Seit dem altfrz. Roman d’Eneas (um 1160) und dem mittelhd. Eneas (um 1180) Heinrichs von Veldeke finden sich Texte zu V. in fast allen literar. Genres. Anders als im Norden konnte die Dämonisierung der V. in Italien nicht wirklich Fuß fassen, zumal dort der J Euhemerismus es den weniger dogmatischen christl. Denkern bis weit in die frühe Neuzeit hinein ermöglichte, die antiken Götter gegen ihre theol. Diskreditierung in Schutz zu nehmen und dadurch die Statuen als Kulturträger der Vergangenheit vor einer Dämonisierung zu schützen. Das wichtigste Werk in diesem Zusammenhang war J Boccaccios De genealogiis deorum gentilium (1355/60, Druck 1475)11. J Ariosts Orlando furioso (1532) enthält mehrere Hinweise auf die strahlende Schönheit der V., und in J Camo˜es’ port. Nationalepos Os Lusiadas (1572) stehen V. und Mars den Portugiesen auf der Seefahrt nach Indien bei. In der galanten Dichtung fiel V. eine herausragende Rolle im Rahmen der erotischen Metaphorik zu, wobei sich die neue Wertung der Wollust auf das Zivilisationsprojekt einer somatischen und geistig-seelischen Freiheit bezog, eine Entfesselung, die als Traum ausgelebt werden kann:
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„Ihr habt euch von der last der fessel schon befreyt.“12 Die seit dem 16. Jh. aufblühende Emblematik griff das reichhaltige Angebot der V.attribute für die Allegorese und die Präsentation einer frühbürgerlichen Ethik auf 13. Die eindrucksvollsten Bilder der ,neuen V.‘ lieferte die ital. Malerei14. Die Pose der V. Pudica war während des MA.s auf Eva (J Adam und Eva) als Verkörperung der Sünde und weiblicher Schwachheit übertragen worden15, und sie wurde jetzt für die antike Göttin gleichsam zurückgeholt16. Der V.mythos ist bis in die Gegenwart produktiv geblieben; gerne wurde die Göttin, bei unterschiedlicher moralischer Wertung und oftmals als bloßes Schibboleth in der Unterhaltungsbranche, als Metapher für eine schöne, begehrenswerte Frau und als Symbol für Schönheit schlechthin in Anspruch genommen. In dieser Tradition lebte V. im phil., bes. kunstphil. Diskurs weiter17. In einer neuen Sicht auf die antiken Götter als Formen des Natürlichen nahm die moderne Religionsphilosophie Abschied von den metaphorischen, allegorischen und symbolischen V.bildern18. Nach dem Ende der barocken Divertissementkultur sowie im Rahmen einer moralischen Distanzierung von der ital. Renaissance und mit dem aufkommenden Gespenster- und Schauerroman entstanden seit dem späteren 18. Jh. neue, vorzugsweise der dämonischen V.tradition entnommene Texte, die sich bes. des Motivs der auflebenden Statue19 und der J Tannhäuser-Überlieferung bedienten. Die in der auflebenden Statue gegebene Nähe zum religiösen Wunder ermöglichte es, V. durch Maria zu ersetzen. In fast allen Medien sowie bes. in der Erotikbranche ist V. bis heute fest etabliert. In Sagen tritt die Göttin verhältnismäßig selten auf, am häufigsten dann, wenn sie im V.berg haust20. Sie lebt (ähnlich den J Sibyllen) als Frau V. mit ihrem Gefolge in einem verwunschenen Berg und gilt in der Regel als J Fee21. Oft ist der V.berg in die TannhäuserÜberlieferungen integriert22. Die Erzählungen vom V.berg sind von der christl. Dämonisierung der Göttin geprägt, häuften sich bes. seit der Reformation23 und sind heute noch als einschlägige Anspielungen verstehbar.
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Der Charakter der V. als Göttin ist unfest, und nicht immer ist sie die Inhaberin des nach ihr benannten Berges. Nach J Paracelsus heißt der V.berg zwar nach ihr, ist jedoch jetzt von Nymphen, den Nachkommen einer ,wasserfrauen‘, bewohnt24. In diesem Kontext mutiert V. zu einer Verwandten der J Melusine und anderer Nymphen, auch J Frau Holles und der J Percht, die als Bewohnerinnen des V.berges vorkommen25. Fahrende Schüler können im V.berg die Zauberkunst erlernen26. Dem Hexenglauben angenähert ist der V.berg in Hans J Sachs’ Die unsichtige nacket Haussmagdt ([1559] 27⫺30), der nach Art der J Hexen auf einer Gabel oder einem Bock erreicht werden kann. In den Kontext dieses Berges gehören auch die auf Backtrögen über Wasser fahrenden schles. V.weiblein und -männlein27. Auf den V.berg beziehen sich verschiedene, vielfach mit der Tannhäuserlegende verbundene Ortssagen, namentlich aus Thüringen (bes. über den Hörselberg)28; andere Ortssagen29 und geogr. Bezeichnungen30 sind peripher. Außer V.berg finden sich Termini wie V.halde, -haus, -mühle31. J. J Fischart setzte in Gargantua (Kap. 36) den V.berg spöttisch mit dem J Gral gleich. Fassungen der genealogischen Sage vom J Schwan(en)ritter spielen auf das schon in der Antike bekannte Schwanenattribut der Göttin an32. Bei den Gründungssagen dürfte Magdeburg beispielgebend gewesen sein; dort habe Caesar einen der V. geweihten Tempel mit einer V.statue errichten lassen33. V. wird darüber hinaus mit Gründungssagen von Merseburg (Tempel von Mars und V.) und Thorn (vom röm. Feldherrn Thorendus erbauter V.tempel) in Verbindung gebracht34. In Märchen und märchenhaften Romanen ist die Figur der V. selbst kaum zu finden. Eine Ausnahme bildet der Roman de J Perceforest (AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit), in dem V. Zellandine das Leben rettet und das Paar nach mannigfachen Verwicklungen zusammenführt35. Einige Märchen spielen auf die antike Erzählung J Amor und Psyche (cf. AaTh/ATU 425 sqq.) an, ohne daß V. in ihnen aufträte36. In einer bayr. fragmentarischen Fassung zu AaTh/ATU 431: J Haus im Walde heißt eine von drei Schwestern V.; sie wird für ihr barmherziges Verhalten belohnt37. Ein rumän. Märchen erklärt die Milchstraße als zer-
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streutes Stroh, das V. nachts aus den Schobern des hl. J Petrus gestohlen und auf dem Heimweg verloren habe38. 1 Grundlegend Leis, M.: Mythos Aphrodite. Lpz. 2000 (Textslg); Dalby, A.: V. B. 2006 (V.biogr. mit Qu.nangaben); Hinz, B.: Aphrodite. Mü. 1998 (Affekt- und Kunstgeschichte). ⫺ 2 cf. zum folgenden auch Otto, W. F.: Die Götter Griechenlands. Ffm. 9 2002, 116⫺131. ⫺ 3 Boer, E.: V. In: Kl. Pauly 5 (1975) 1173⫺1180. ⫺ 4 Mertens, V.: Die drei Grazien. Studien zu einem Bildmotiv in der Kunst der Neuzeit. Wiesbaden 1994. ⫺ 5 Tubach, num. 4101, 4103; Guthmüller, B.: Visuelle Topoi und die Tradition der imagines deorum gentilium. Der Fall der V. In: Pfisterer, U./Seidel, M. (edd.): Visuelle Topoi. Mü./B. 2003, 197⫺215; Pabst, W.: V. und die mißverstandene Dido. Hbg 1955. ⫺ 6 Pasquier, A.: La Ve´nus de Milo et les Aphrodites du Louvre. P. 1985. ⫺ 7 Kiermeier-Debre, J./Vogel, F. F. (edd.): Die Entdeckung der Wollust. Mü. 1995. ⫺ 8 Kern, M./Ebenbauer, A.: Lex. der antiken Gestalten in den dt. Texten des MA.s. B. 2003, 639⫺662; Müller, U.: V. In: MA. Mythen. 3: Verführer, Schurken, Magier. St. Gallen 2001, 969⫺982; Bartz, G.: Mit Ovid durch das Reich der V. im MA. In: ead./Karnein, A./ Lange, C. (edd.): Liebesfreuden im MA. Stg./Zürich 1994, 15⫺80. ⫺ 9 cf. Guthmüller und Pabst (wie not. 5). ⫺ 10 Benton, J. F.: Clio and V. In: Newman, F. X. (ed.): The Meaning of Courtly Love. Albany 1968, 19⫺42; Schnell, R.: Causa amoris. Bern/Mü. 1985, 351⫺379. ⫺ 11 Guthmüller (wie not. 5). ⫺ 12 Capua, A. G. de/ Philippson, E. A. (edd.): Benjamin Neukirchs Anthologie 2. Tübingen 1965, 309 (3 sq.); cf. Czarnecka, M.: Mythol. Frauenträume im Barock. In: Zs. für Germanistik N. F. 18 (2008) 44⫺54; in dem Schäferroman „Jungst-erbawete Schäferey“ (1632) erscheint die allmächtige V. im Traum als eine wunderschöne Alabasterstatue. ⫺ 13 Henkel, A./Schöne, A. (edd.): Emblemata. Stg./Weimar 1996. ⫺ 14 Denk, C.: V. Bilder einer Göttin. Ausstellungskatalog Mü. 2001; Clark, K.: Das Nackte in der Kunst. Köln 1958. ⫺ 15 Salomon, N.: Die V. Pudica. In: Wunder, H./Engel, G. (edd.): Geschlechterperspektiven. Königstein 1998, 79⫺104. ⫺ 16 Wind, E.: Heidnische Mysterien der Renaissance. Ffm. 21984, 135⫺164; Warburg, A. M.: Sandro Botticellis Geburt der V. In: id.: Ausgewählte Schr. und Würdigungen. ed. D. Wuttke. Baden-Baden 1979, 15⫺64. ⫺ 17 U. a. entwickelte G. E. Lessing die unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten der Maler und Dichter („Laokoon“, 8), F. Schiller die Begriffe von Anmut und Schönheit („Über Anmuth und Würde“) mit Hilfe des V.mythus. ⫺ 18 Otto (wie not. 2) 116⫺131. ⫺ 19 Klotz, V.: V. Maria. Bielefeld 2000; Briese, O.: V. Madonna ⫺ Maria. In: Aufklärung und Skepsis. Festschr. G. Gawlick. Stg./Weimar 1999, 436⫺ 449. ⫺ 20 Petzoldt, L.: V.berg. In: MA. Mythen. 5: Burgen, Länder, Orte. Konstanz 2008, 917⫺926. ⫺
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Verbergen
HDA 1 (1927) 1049 sq., 1056; DWb. 12,1,49. ⫺ Weigel, H.: Tannhäuser in der Lit. In: id./Klante, W./Schulze, I.: Tannhäuser in der Kunst. Bucha 1999, 11⫺101. ⫺ 23 z. B. Sebastian Brant, Narrenschiff (1494), Kap. 13; Hans Sachs, Das Hofgsind Veneris (1517); Panzer, F.: Bayer. Sagen und Bräuche 1⫺2. ed. W.-E. Peuckert. Göttingen 1954/56, hier t. 2, 260 (beim Schembartlaufen in Nürnberg wurde seit dem ausgehenden 15. Jh. eine Hölle mitgeführt, die einen V.berg enthielt). ⫺ 24 Paracelsus: De nymphis […]. In: Sämtliche Werke. 1,14. ed. K. Sudhoff. Mü./B. 1933, 115⫺151, hier 139 sq. ⫺ 25 HDA 6 (1934⫺35) 1483; EM 5, 162; Grimm, Mythologie 2, 795 sq.; Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. Lpz. 1853, num. 459. ⫺ 26 cf. u. a. Hans Sachs, Der fahrend Schuler ins Paradeis (1550); Grimmelshausen, Simplicius Simplicissimus, 5,17. ⫺ 27 HDA 1 (1927) 778; HDA 6 (1934⫺35) 255; HDA 8 (1936⫺ 37) 716; 9 (Nachtrag) (1938⫺41) 1054. ⫺ 28 cf. zusammenfassend Weigel, H.: Die Hörselberge bei Eisenach. Kulturgeschichte einer magischen Landschaft. Bucha 2002. ⫺ 29 Lyncker, K.: Dt. Sagen und Sitten in hess. Gauen. Kassel 1854, num. 152 (Finisoder V.loch in Marburg). ⫺ 30 z. B. V. Harbor im Westen der austral. Halbinsel Eyre; V. Bay südöstl. von Melbourne; Cap V. am nördl. Rand des Mount Orohena auf Tahiti. ⫺ 31 Fischer, H.: Schwäb. Wb. 2. Tübingen 1908, 1056. ⫺ 32 Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, num. 51. ⫺ 33 Bechstein (wie not. 25) num. 324, 330; Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staats 1⫺ 2. Glogau 1868/71, hier t. 1, num. 268; Panzer (wie not. 23) t. 1, 102. ⫺ 34 Grässe (wie not. 33) t. 1, num. 367; ibid. 2, num. 512. ⫺ 35 Scherf 2, 1018 sq.; Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen 1. MdW 1923, num. 19. ⫺ 36 Schmidt, B.: Griech. Märchen, Sagen und Volkslieder. Lpz. 1877, num. 17; Gonzenbach, num. 15; Rittershaus, A.: Die neuisl. Volksmärchen. Halle 1902, num. 6.2; Musäus, J. K. A.: Volksmärchen der Deutschen. ed. N. Miller. Mü. 1976, 176, 380, 724. ⫺ 37 Spiegel, K.: Märchen aus Bayern. Würzburg 1914, num. 12. ⫺ 38 Schott, A. und A.: Rumän. Volkserzählungen aus dem Banat. Buk. 21973, num. 55. ⫺ 21 22
Staufenberg
Otfrid Ehrismann
Verbergen. Vorgänge des V.s oder auch Verhüllens und Versteckens lassen sich unterteilen in ,sich‘ oder ,etwas‘ v., und das im Guten wie im Bösen. Dinge und Personen werden der Wahrnehmung oder dem Zugriff entzogen, um sie vor anderen zu verheimlichen oder vor Mißbrauch zu schützen. Mensch und Tier verstecken sich an geheimen Orten oder hinter Gegenständen, etwa um sich retten, jemanden J belauschen oder beobachten zu können. Verborgen werden können aber auch Informa-
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tionen (J Geheimnis) oder Gefühle. Im psychoanalytischen Sinne verborgen ist die Gesamtheit der im Bewußtsein nicht gegenwärtigen Inhalte, d. h. des J Unbewußten1. In populären Erzählungen v. sich Personen auf der J Flucht, um einer J Verfolgung zu entgehen oder um das eigene Leben zu schützen. Sie suchen hinter oder in Alltags- und Aufbewahrungsgegenständen wie Körben, Fässern, Kisten, Bottichen und Säcken, aber auch in Verschlägen und Ställen, auf Bäumen, in Türmen, Höhlen oder in der Erde selbst Schutz. Sichverstecken und Entdecktwerden haben z. T. sexuelle Konnotationen. In J Ovids Metamorphosen (1,689⫺713) flieht die Nymphe Syrinx vor dem Hirtengott Pan ins Schilf und verwandelt sich in ein Schilfrohr. Er entdeckt sie und löchert das Rohr, wodurch sie zu einer Flöte wird . In populären Glaubensvorstellungen und mystischen Erzählungen wird häufig die Frage nach dem ,verborgenen Gott‘ gestellt. Im schiit. Islam existiert die Vorstellung von einem verborgenen zwölften Ima¯m, der in eschatologischen Zeiten als Erlöser zurückkehren soll2. Christl. Legenden thematisieren das Leben der Heiligen im Verborgenen als Leben in der Einsamkeit (J Einsiedler), um sich den Verpflichtungen religiöser Würden, aber auch der Verfolgung zu entziehen (cf. auch J Reliquie)3. Sagen erzählen von bergentrückten Herrschern (J Entrückung), die ⫺ mitunter zusammen mit ihrem Heer ⫺ auf ihren Einsatz warten. Die in Brunnen und Höhlen hausende Sagengestalt J Frau Holle (cf. auch J Percht)4 ist mit mythischen J Jenseitsvorstellungen verbunden. Vor allem im Märchen ist das V. an das Gegenmoment des Auf- oder Entdeckens gebunden. V. und Entdecken strukturieren das Erzählen. Dupliziert und paradigmatisch verdichtet findet sich diese Opposition etwa in AaTh 676 ⫹ 954/ATU 954: J Ali Baba und die vierzig Räuber: Ali Baba beobachtet aus seinem Versteck, wo die Räuber ihre Kostbarkeiten lagern, raubt und versteckt sie. Die Räuber wiederum v. sich in Ölkrügen, um an Ali Baba Rache zu nehmen, werden aber von dessen Sklavin Mardscha¯na entdeckt und getötet. Um das eigene Leben zu schützen, v. sich Figuren in Tiermärchen ebenso wie in Zaubermärchen: Der Unterlegene versteckt sich vor
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Verbergen
dem stärkeren Verfolger (AaTh/ATU 123: J Wolf und Geißlein; AaTh/ATU 124: J Wolf im Schornstein; AaTh/ATU 311, 312: J Mädchenmörder; AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen; AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen; AaTh/ATU 955: J Räuberbräutigam; AaTh/ATU 956 B: Das tapfere J Mädchen und die Räuber). Verborgene Heldinnen begegnen vielfach in der Rolle der (heimlichen) Haushälterin (AaTh/ATU 408; AaTh/ATU 451 [2]: J Mädchen sucht seine Brüder; AaTh/ATU 510 B: cf. J Cinderella; AaTh/ATU 709: J Schneewittchen). Werden Verstecke in böser Absicht aufgesucht, können sie dem Versteckten zum Verhängnis werden (AaTh 676 ⫹ 954/ATU 954). Die J Tierhaut eines weiblichen übernatürlichen Wesens wird gegen dessen Willen verborgen und ihre Besitzerin auf diese Weise festgehalten (J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe). Der Gegenspieler kann seine Seele außerhalb seines Körpers verstecken und glaubt, so unbesiegbar zu werden (J External soul; AaTh/ATU 302: J Herz des Unholds im Ei). Im Körper des J Giftmädchens (AaTh 507 C/ ATU 507) nicht sichtbar befinden sich Schlangen. Märchenfiguren v. ihre Identität (AaTh/ ATU 500: J Name des Unholds). Hierzu und um bestimmte Körpermerkmale oder ihr Geschlecht nicht preiszugeben, können sie J Verkleidungen benutzen (cf. auch J Tarnkappe; AaTh/ATU 530: J Prinzessin auf dem Glasberg); Gegenspieler bedienen sich dieses Mittels, um ihre negativen Eigenschaften zu v. (AaTh/ATU 311, 312; AaTh/ATU 955). In AaTh/ATU 314: J Goldener dagegen hat es erotische Konnotationen, wenn der Protagonist seine goldenen Haare verbirgt bzw. zeigt. Eine bereits aus der Antike bekannt List besteht darin, daß sich Personen in einem Gegenstand v. (cf. J Trojan. Pferd). In AaTh/ ATU 854: Der goldene J Bock und AaTh/ ATU 516: Der treue J Johannes erreicht der Held auf diese Weise unerkannt die Gemächer seiner künftigen Frau. In AaTh/ATU 825: The Devil in Noah’s Ark versteckt sich der Teufel im Schatten von J Noahs Frau und gelangt so auf die Arche. Dem J Zaunkönig gelingt es, verborgen in den Federn des Adlers höher als dieser zu fliegen (AaTh/ATU 221: cf. J Königswahl der Tiere). In AaTh/ATU 329: J
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Versteckwette muß sich der Protagonist im Rahmen einer J Freierprobe verstecken. Wird eine Person von einer anderen verborgen, so geschieht dies entweder auf eigenen Wunsch und ermöglicht es dem Verborgenen, ein Geheimnis zu erfahren (J Menschenfleisch riechen; cf. auch AaTh/ATU 812: J Rätsel des Teufels; AaTh/ATU 461: Drei J Haare vom Bart des Teufels), oder das V. erfolgt gegen ihren Willen (AaTh/ATU 310: J Jungfrau im Turm; AaTh/ATU 870: J Prinzessin in der Erdhöhle; AaTh/ATU 758: Die ungleichen Kinder J Evas). Im Gegensatz zu Sagen, in denen die Bergung des J Schatzes am Ende in der Regel mißlingt, werden in Märchen Schätze (AaTh/ ATU 910 D: J Schatz hinter dem Nagel; AaTh/ATU 961 B: cf. J Geld im Stock) ebenso wie Personen verborgen, um gefunden zu werden (AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit). Wenn Gegenstände versteckt sind, wird deren Kostbarkeit vielfach durch eine umgekehrte Relation zur Größe des Verstecks unterstrichen: Dinge von großem Wert finden in winzigen und J unscheinbaren Gegenständen Platz (J Proportionsphantasie). In Schwänken sind mit dem Motiv des V.s Charakterzüge wie J Geiz und J Neid angesprochen. Habgierige werden für ihren Geiz meist bestraft, während die Armen und Listigen davonkommen: So sucht der reiche Priester in AaTh/ATU 1341 B: J Gott ist auferstanden seinen Schatz erfolglos vor Dieben zu sichern, indem er ihn verbirgt; in AaTh/ATU 1525 M: J Schaf in der Wiege kann das Diebesgut vor dem Reichen verborgen werden. Dagegen wird der Diebstahl in ATU 1617*: J Schatz des Blinden bestraft. Der Betrüger in AaTh/ATU 1532: J Stimme aus dem Grab, der sich im Grab versteckt, um das Erbe des gerade Beerdigten für sich zu beanspruchen, wird von seinem Gefährten dort zurückgelassen. Der Arme in AaTh/ATU 1567 C: Den großen J Fisch befragen erlistet sich auch den verborgenen großen Fisch, den seine Gastgeber nicht mit ihm teilen wollen, und der J Junge im Bienenkorb (AaTh/ATU 1525 H4) kann die Räuber um ihre Beute bringen. Das V. im Schwank wird vielfach durch ein Gegenmoment konterkariert. Anders als im Märchen wird das Verborgene hier nicht unbedingt offenbart, V. und Geheimhalten erfolgen
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Verbot
jedoch nicht im intendierten Sinn. Z. B. verrät in AaTh 1341 B*/ATU 1341 A (2): The Fool and the Robbers der sicher Verborgene dumm sein eigenes Versteck. Ein den Blicken entzogener Gegenstand kann Mißverständnisse herbeiführen (AaTh/ATU 1660: J Stein für den Richter). In J Ehebruchschwänken v. sich Liebhaber ⫺ meist erfolglos ⫺ vor dem betrogenen Ehemann. Der Ehemann versteckt sich, um den Betrug seiner Frau aufzudecken. Die Ehefrau hingegen verbirgt ihren Verehrer, um ihn vor ihrem Mann geheimzuhalten, manchmal aber auch, um sich seiner zu entledigen. Sie wird mitunter auch von ihrem Mann vor potentiellen Liebhabern verborgen. 1 Jung, C. G.: Die Archetypen und das kollektive Unbewußte. In: id.: G. W. 9,1. ed. L. Jung-Merker/ E. Rüf. Solothurn/Düsseldorf 1995, 143⫺175; Kaiser-El-Safti, M.: Unbewußtes; das Unbewußte. In: Hist. Wb. der Philosophie 11. Basel 2001, 124⫺ 133. ⫺ 2 Macdonald, D. B./[Hodgson, M. G. S.]: Ghayba. In: EI2 2 (1965) 1026. ⫺ 3 Stadler, J. E./ Heim, F. J./Ginal, J. N.: Vollständiges Heiligen-Lex. (Augsburg 1858⫺82) CD-ROM B. 2005, s. v. verbarg, v., verbirgt, verborgen. ⫺ 4 Timm, E.: Frau Holle, Frau Percht und verwandte Gestalten. Stg. 2003.
Leipzig
Alfrun Kliems
Verbot 1. Allg. ⫺ 2. Mythen und Sagen ⫺ 3. Märchen und Schwänke
1 . All g. Ein V. ist die Anweisung, eine bestimmte Handlung zu unterlassen, und in diesem Sinne ein negatives Gebot. V.e regeln alle Bereiche der sozialen Interaktion, ihr Bezugsrahmen sind J Normen, Prinzipien oder Gesetze, die nicht verletzt werden dürfen, und J Gefahren, die hierdurch abgewendet werden sollen. Das Prinzip des V.s setzt eine Autorität voraus, die das V. ausspricht und seine Einhaltung überwacht bzw. seine Übertretung bestraft. Eine Sonderform des V.s ist das J Tabu. In Erzählungen sind V.e bzw. ihre Übertretung von konstitutiver Bedeutung für die Entwicklung der Handlung (J Dynamik). 2 . Myt he n u nd Sa ge n. In Mythen, Sagen und didaktischen Erzählungen kommt V.en in
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der Regel eine warnende oder erzieherische Funktion zu, die auf bestimmte Normen oder eine bestimmte J Moral ausgerichtet ist. Die Übertretung eines V.s hat hier daher meist fatale Folgen bzw. zieht harte J Strafen nach sich (J Gehorsam und Ungehorsam). Im griech. Mythos beschert J Pandora der Menschheit dauerhaft Plagen, indem sie, obwohl es ihr verboten worden war, das Faß öffnet und damit die unheilvollen Gaben freisetzt. Für westl. Kulturen bildet die zweite Schöpfungsgeschichte im A. T. (Gen. 2,8⫺ 3,24; J Adam und Eva) die archetypische V.serzählung. Gott erlaubt J Adam, die Früchte aller Bäume zu essen, bis auf die des Baums der Erkenntnis (J Exzeptionsprinzip); trotz der drohenden Bestrafung mit dem Tod übertritt Adam das V. (J Versuchung). Der seit dem MA. belegte Erzähltyp AaTh/ATU 1416: Die neue J Eva verbindet Elemente der Pandora- und der Paradieserzählung: Eheleute beklagen sich über die Neugier Adams und Evas, die die Ursache für ihr eigenes hartes Leben sei. Daraufhin werden sie einer Gehorsamsprobe unterzogen ⫺ sie dürfen ein zugedecktes Gefäß nicht öffnen ⫺, die sie ebenso wie ihre mythischen und bibl. Vorgänger nicht bestehen. Explizit ausgesprochene V.e betreffen oft das Verhalten an jenseitigen Orten. Weltweit verbreitet ist das Motiv vom V., hinter sich zu blicken (Mot. C 331). So darf J Orpheus, der Eurydike aus der Unterwelt zurückholen will, nicht zurückschauen; als er es dennoch tut, verliert er sie endgültig. In Mythen der amerik. Ureinwohner wird es den Helden, die ihre Frauen aus dem Jenseits retten wollen, verboten zurückzuschauen, ein Seelengefäß zu öffnen, einzuschlafen, zu sprechen, Feuer anzuzünden oder Geschlechtsverkehr zu vollziehen; auch sie scheitern1. Ähnlich mißachtet Lots Frau das Gebot des Engels, nicht auf die durch Feuer und Schwefel zerstörten Städte J Sodom und Gomorrha zurückzuschauen, und erstarrt zur Salzsäule (Gen. 19,17 und 26). Beim Aufenthalt im Jenseits müssen bestimmte Tabus beachtet werden: Im Reich der Jenseitigen darf nicht gegessen (Mot. C 211), getrunken, gesprochen, gelacht, geweint oder geschlafen werden (J Jenseits; J Unterwelt); es darf nichts berührt werden und man darf sich den Jenseitigen nicht nähern2; es ist ver-
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Verbot
boten, sie beim J Namen zu nennen (cf. J Euphemismus). Manchmal werden solche Verhaltensmaßregeln explizit zum Ausdruck gebracht3: So darf ein Mensch zum Besuch bei den Zwergen niemanden mitbringen4. Menschen dürfen den Lebensraum von J Samovilen nicht betreten, an deren Feiertagen nicht arbeiten und sie nicht beim Namen nennen; bei Nichteinhaltung werden die Ungehorsamen mit unheilbaren Krankheiten überzogen. Explizite V.e werden oft von einem übernatürlichen Ehepartner ausgesprochen oder sind in anderer Weise mit ihnen verbunden (J Mahrtenehe: Die gestörte M.; J Schwan[en]ritter; J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe). Traditionelle Erzählungen bestätigen die zehn Gebote (J Dekalog), indem sie zeigen, wie J Sünden bzw. J Frevel bestraft werden (cf. J Tugenden und Laster; J Blasphemie; J Mord; J Hartherzigkeit; J Ehebruch; J Dieb, Diebstahl; J Geiz; J Neid)5. Zu den frevelhaften Handlungen zählen: Arbeit an Sonn- und Feiertagen (ATU 779 J*: Breaking the Sabbath; ATU 751 E*: J Mann im Mond)6, Versetzung von Grenzsteinen (J Grenze), J Tanz (ATU 779 E*: J Tänzersage) oder J Kartenspiel (AaTh/ATU 1613, 2340; cf. auch J Spieler). An J Fastentagen sind bestimmte Speisen verboten. Warnenden Charakter haben auch die Erzählungen vom J Zauberlehrling (AaTh/ATU 325*: The Sorcerer’s Apprentice), in denen der Protagonist mittels eines verbotenen Buchs einen Geist heraufbeschwört. Recht selten wird die Einhaltung von V.en thematisiert. In Var.n von AaTh/ATU 759: J Engel und Eremit muß der Protagonist versprechen, in bezug auf die seltsamen Dinge, die er als Begleiter des Engels sieht, keine Fragen zu stellen7. Wird ein unmoralisches V. übertreten, bleibt dies unbestraft: Als eine heiligmäßige Person trotz V.s Almosen verteilt, verwandeln diese sich, als sie entdeckt wird, in Blumen und wertlose Gegenstände (cf. J Rose, Rosenwunder)8. 3 . M är ch en un d S ch wä nk e. In Märchen werden V.e meist konsequent mißachtet: Sie „sind scheinbar nur dazu da, um übertreten zu werden“9. Das V. reizt offenbar zu seiner Verletzung, wobei die J Neugier der Protagonisten eine wesentliche Rolle spielt. V. Ja. J
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Propp betrachtet das V. und seine Übertretung entsprechend als ,paariges Element‘, wobei durch die Übertretung der Gegenspieler des Protagonisten auf den Plan tritt10. In der Regel führt die Übertretung nicht zu einer dauerhaften Bestrafung, vielmehr stellen die Schwierigkeiten und Gefahren, in die die Figuren geraten, eine Zwischenstation auf dem Weg zu ihrem Glück dar. Die Nichtbefolgung des V.s hat am Anfang der Erzählung eine handlungsauslösende, sonst eine J retardierende Funktion. Während in Mythen und Sagen die Übertretung des V.s Folgen nach sich zieht, die in der Regel nicht rückgängig oder wiedergutzumachen sind, gelingt dies in Märchen meist. Diese weisen jedoch teilweise einen ähnlichen Motivbestand auf: Das Motiv vom Gefäß, das wie das Faß der Pandora nicht geöffnet werden darf, wird in Zaubermärchen, bes. in AaTh/ ATU 425 A: cf. J Amor und Psyche, aufgegriffen: Die Protagonistin erhält ein Kästchen (Sack, Beutel); dadurch, daß sie es trotz V.s öffnet, setzt sie gefährliche Tiere oder die in dem Kästchen befindlichen Musikanten (Instrumente) oder Juwelen frei bzw. läßt sie davonfliegen11. In AaTh 313 B/ATU 313 (1): cf. J Magische Flucht gibt ein Adler dem Vater des Protagonisten ein Kästchen, das er zu öffnen verbietet. Der Mann übertritt das V., weshalb er sein J Kind dem Teufel versprechen muß. In der Amor und Psyche-Erzählung (AaTh/ ATU 425 B) des J Apuleius ist es Psyche nicht erlaubt, Cupido zu sehen, da er sie gegen den Willen seiner Mutter J Venus zur Frau genommen hat. Cupido warnt Psyche davor, auf ihre Schwestern zu hören, die ihr raten herauszufinden, wie er aussieht (Metamorphosen 5, 5⫺6). Psyche übertritt das V. und wird von Venus in den Hades geschickt, wo ihr verschiedene V.e auferlegt sind; bes. darf sie das Kästchen, das Proserpina ihr für Venus gibt, nicht öffnen. Psyche wird von ihrer Neugier besiegt, öffnet es und fällt in einen todesähnlichen Schlaf (Metamorphosen 6, 18⫺21), aus dem Cupido sie jedoch retten kann. Spätere Versionen von AaTh/ATU 425 B enthalten weitere V.e: Die Frau darf ihren Mann nicht sehen (oder kein Licht auf ihn fallen lassen), niemandem sagen, wer er ist, oder nicht zu lange von ihm fortbleiben. Bevor er zu seinen Eltern
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Verbot
heimkehrt, untersagt die übernatürliche Frau ihrem Mann in AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau, sie herbeizurufen oder mit ihr zu prahlen. Er übertritt das V., sie verläßt ihn, und er gewinnt sie erst nach einer J Suchwanderung zurück. Die Frau kehrt mitunter ins Jenseits zurück und sagt ihrem Mann, er müsse zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort auf sie warten und dürfe dort nicht schlafen. In Var.n von AaTh 313 C/ATU 313 (3): cf. Magische Flucht warnt die Frau ihren Mann vor dem Besuch bei seiner Familie davor, sich küssen zu lassen. Als er dies dennoch tut, vergißt er sie; das magische J Vergessen kann erst durch ihre Erinnerungsverse gebrochen werden. Ebenso können Erzählungen vom verbotenen J Zimmer einen glücklichen Ausgang nehmen: Die Übertretung rettet dem Protagonisten das Leben (cf. AaTh/ATU 311, 312: J Mädchenmörder)12, oder dieser wird mit einer Markierung versehen und erlangt durch die Mißachtung des V.s Vorteile (AaTh/ATU 314: J Goldener [Subtyp 1]; AaTh/ATU 710: J Marienkind). Der J Höllenheizer (AaTh/ATU 475) übertritt das V. des Teufels und sieht in die angefeuerten Kessel. Da er jedoch mit den darin vorgefundenen Sündern offenbar im Sinne des Teufels verfährt, wird er nicht bestraft, sondern mit einem Lohn entlassen. Vielfach warnen V.e in Märchen vor einer Handlung, die eine Gefahr in sich birgt. Warnung und märchentypische Wiederholung nehmen spätere Ereignisse vorweg. Gewöhnlich spielt dabei ein übernatürlicher Gegenspieler eine Rolle13. Die Protagonisten werden davor gewarnt, jemanden ins Haus zu lassen (z. B. AaTh/ATU 123: J Wolf und Geißlein; AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder [Subtyp 2]; AaTh/ATU 709: J Schneewittchen), einen bestimmten Ort aufzusuchen (AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter; AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder) oder einen bestimmten Gegenstand an sich zu nehmen (AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und Ferdinand der ungetreue). J Rotkäppchen (AaTh/ATU 333) wird eingeschärft, auf dem Weg zum Haus der Großmutter seinen Pfad nicht zu verlassen und nicht zu trödeln14. Sind mehrere kindliche Protagonisten involviert, kann das eine Kind das andere (die anderen) davor warnen, etwas Bestimmtes zu
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essen oder zu trinken (AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen)15. Oft rät ein Helfer dem Protagonisten, was er tun und was er lassen solle; z. B. warnt in AaTh 511 A/ATU 511: Der rote J Ochse das helfende Tier den kindlichen Protagonisten davor, in den Zauberwäldern ein Blatt oder einen Zweig abzubrechen16; in AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler weist ein Junge seinen Vater an, das Zaumzeug nicht zusammen mit dem Pferd zu verkaufen17; Aschenputtel (AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella) darf nur bis Mitternacht auf dem Fest bleiben18. In AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit verbannt der König alle Spindeln aus seinem Reich (Mot. C 832); der gefangengehaltene wilde J Mann in AaTh/ATU 502 darf von niemandem freigelassen werden. Als V.e können die weisen Regeln im Erzählzyklus AaTh/ATU 910⫺915 A (z. B. AaTh/ATU 910 A⫺B: Die klugen J Ratschläge; cf. auch J Mitleidsverbot) formuliert sein19. In Var.n von AaTh/ ATU 707: Die drei goldenen J Söhne verbietet der König, nachts Licht brennen zu lassen. Das Mißachten des V.s, etwas zu erzählen bzw. ein J Geheimnis zu verraten, zieht harte Strafen nach sich (AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes; AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf ). In AaTh/ATU 334: J Haushalt der Hexe wird das Mädchen getötet, weil es erzählt, was es im Haus der Hexe gesehen hat. J Tiersprachenkundigen Menschen (AaTh/ATU 670) droht der Tod, falls sie jemandem das Geheimnis ihrer wunderbaren Gabe anvertrauen20. Um seine Brüder zu erlösen, hält das Mädchen in AaTh/ATU 451 das J Schweigegebot ein. Der J Bärenhäuter (AaTh/ATU 361), dem vom Teufel das V. erteilt wurde (cf. J Teufelspakt), sich mehrere Jahre lang weder zu waschen noch seine Kleidung zu wechseln oder zu beten, wird für dessen Einhaltung belohnt. In Schwänken wird mit Autoritäten und V.en anders umgegangen. V.e werden etwa zum eigenen Vorteil erfunden: In einer schwankhaften Tiererzählung benutzt der Fuchs ein angebliches Gesetz, das verbietet, auf einem Baum zu sitzen, als Vorwand, um sein Opfer herunterzulocken (AaTh/ATU 62*: Forbidden to Sit in Trees). Personen scheitern in ihrem Bemühen, eine bestimmte Sache zu
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Verbreitung
unterlassen, kläglich (AaTh/ATU 1000: J Zornwette; AaTh/ATU 1351: J Schweigewette; AaTh/ATU 1835 D*: J Vaterunser beten, ohne an anderes zu denken) oder geben dabei vor, eine andere Handlung auszuführen (AaTh/ ATU 1565 [2⫺4]: J Kratzverbot). In einer Reihe von Erzählungen wird der Ungehorsam von Frauen thematisiert (Mot. H 473.1⫺5, T 254.1⫺5)21: So zeigt ein Mann seiner Frau Gift, damit sie es meide, sie aber nimmt es und stirbt (Mot. T 254.1). Der Pfarrer in AaTh/ ATU 1835*: Not to Turn Around konterkariert sein eigenes V.: Er verbietet den Teilnehmern eines Gottesdienstes sich umzudrehen, statt dessen werde er die Namen der Zuspätkommenden nennen. In AaTh/ATU 1565*: The Big Cake ist es den Protagonisten verboten, mehr als einen Kuchen zu essen; sie umgehen das V., indem sie einen Kuchen von der Größe eines Wagenrads herstellen22. In der Lit. und ihren medialen Adaptationen hat das Thema der verbotenen Liebe, die sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzt, u. a. durch die Liebesgeschichten um J Romeo und Julia oder J Tristan und Isolde große Popularität erlangt. 1
Gayton, A. H.: The Orpheus Myth in North America. In: JAFL 48 (1935) 263⫺293. ⫺ 2 Grimm DS 30; Keightley, T.: The Fairy Mythology. L. 1878, pass.; Hartland, E. S.: The Science of Fairy Tales. L. 1891, 40⫺48. ⫺ 3 Grimm DS 49; Christiansen, Migratory Legends, num. 5005, 5010, 5079; Noy, D.: Folktales of Israel. Chic. 1963, num. 12 (AaTh/ATU 476*). ⫺ 4 Grimm DS 31, 35. ⫺ 5 Tubach, Reg. s. v. Adultery, Blasphemy, Drunkard, Lust, Miser, Perjury, Punishment, Sin, Sinner, Thief etc.; Hand, W.: Deformity, Disease, and Physical Ailment as Divine Retribution. In: Studien zu Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte 1. Festschr. M. Zender. Bonn 1972, 519⫺525. ⫺ 6 Müller-Bergström, W.: V. In: HDA 9 (1938⫺41) Nachtrag, 799⫺812, bes. 799⫺802; Tubach, num. 34, 155, 758. ⫺ 7 cf. Tubach, num. 3590. ⫺ 8 Schmidt, L.: Gestaltheiligkeit im bäuerlichen Arbeitsmythos. Wien 1952, 146 sq. ⫺ 9 Röhrich, L.: Tabus in Bräuchen, Sagen und Märchen [1967]. In: id.: Sage und Märchen. Fbg/Basel/Wien 1976, 125⫺142, hier 128. ⫺ 10 Propp, V.: Morphology of the Folktale. Austin/L. 21968, 26⫺28 (Kap. 3, Sektion 2⫺3). ⫺ 11 Swahn, J. O.: The Tale of Cupid and Psyche. Lund 1955, 264 sq. ⫺ 12 cf. aber Marzolph, U. (ed.): Das Buch der wundersamen Geschichten. Mü. 1999, num. 5. ⫺ 13 Propp (wie not. 10) 26⫺28; id.: Les Racines historiques du conte merveilleux. P. 1983, 42 sq. (Kap. 2, Sektion 2); Scherf, W.: Die Heraus-
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forderung des Dämons. Mü. u. a. 1987, 48 sq., 106, 136 sq., 158. ⫺ 14 Zipes, J.: The Trials and Tribulations of Little Red Riding Hood. South Hadley, Mass. 1983, 124, 172, 178, 182, 188, 264. ⫺ 15 Goldberg, C.: „The Dwarf and the Giant“ (AT 327 B) in Africa and the Middle East. In: JAFL 116 (2003) 339⫺350, hier 342 sq. ⫺ 16 Asbjørnsen, P. C./Moe, J.: Popular Tales from the Norse. Übers. G. W. Dasent. L. (1858) 1889, 367; Rooth, A. B.: The Cinderella Cycle. Lund 1951, 136 sq. ⫺ 17 Cosquin, E.: E´tudes folkloriques. P. 1922, 512, 523; cf. Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1987, 562. ⫺ 18 Cox, M. R.: Cinderella. L. 1893, 10, 36, 86, 150 sq., 176. ⫺ 19 cf. auch Tubach, num. 70, 72. ⫺ 20 cf. auch Noy (wie not. 3) num. 4. ⫺ 21 Tubach, num. 5277, 5278. ⫺ 22 HDA 9 (1938⫺41) Nachtrag, 811.
Los Angeles
Christine Goldberg
Verbreitung. In der Erzählforschung kennzeichnet der Begriff V. zum einen die aktive Bekanntmachung und zum andern das empirisch belegte Vorkommen von Erzählgut innerhalb eines geogr. definierten Raums (J Motiv, J Typus). Damit verbunden sind Überlegungen zur J Altersbestimmung, zur diachronen und synchronen J Diffusion, zu interkulturellen Gemeinsamkeiten (J Archetypus, J Elementargedanke, J Universalie) sowie zur J Kontinuität, J Vermittlung und J Performanz in den jeweiligen sozialen und kulturellen J Kontexten. Voraussetzungen für eine weite V. von Erzählgut sind dessen J Prägnanz und Aussagekraft, wobei sich die hist. V. in der Regel aufgrund schriftl. Var.n und Hinweise erschließen läßt; das mündl. Erzählen kann dabei schriftl. Quellen reoralisieren. Mündl. und schriftl. Überlieferungen können hierbei über längere Zeiträume interagieren (J Interaktion, J Kommunikation, J Lit. und Volkserzählung, J Schriftlichkeit)1. Hist. Umschlagplätze des J Erzählens sind z. B. Wirtshäuser, Marktplätze, Spinnstuben, Wallfahrten oder Kirchen, über die sich Erzählgut durch Reisende, Soldaten, Seeleute, Kaufleute und professionelle Erzähler verbreitete (J Biologie des Erzählguts, J Wandertheorie, J Conduit-Theorie)2. Erzählgenres besitzen unterschiedliche V.sgeschwindigkeiten, so etwa Märchen oder J Gerücht3. Die V. lokalen Erzählguts kann sich erweitern, wenn durch Mehrsprachigkeit
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Verbreitung
(J Interethnische Beziehungen) oder J Übersetzung Sprachgrenzen überschritten werden4. Für den weiträumigen, z. T. interkontinentalen Transfer von Erzählungen sind insbesondere die von den Hochreligionen betriebene Missionierung und der vielfach von Europa ausgehende Kolonialismus mit seinem Siedler- und Schulwesen verantwortlich. Die Schriftlichkeit erhöht Nachhaltigkeit und Radius der V.; zugleich schafft sie oft eine Orientierung für eine chronol. Einordnung. Gedruckte Werke extendieren die Reichweite im jeweiligen Sprachraum beträchtlich. Mehr noch gilt dies für die Medien J Rundfunk und Fernsehen (J Television)5; das Internet macht Erzählungen im räumlich unbestimmten, auf Weltweite angelegten Cyberspace bekannt. Manche Publ.sformen (z. B. Märchenreihen, Radio- und Fernsehprogramme) sind auf die V. von Erzählgut zu Zwecken von J Unterhaltung und Erziehung spezialisiert (J Popularisierung); sie werden im modernen Publ.skontext durch Werbung und Kritiken flankiert. Durch die Übers. in über 160 Sprachen, darunter einige Weltsprachen mit sehr großer Reichweite, gelten die J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm als Märchensammlung mit der weltweit größten V. Märchenreihen wie Folktales of the World, Skazki i mify narodov vostoka (Märchen der Völker des Ostens), Les Litte´ratures populaires de toutes les nations oder die Märchen der Weltliteratur (1912⫺ 2003)6 ⫺ mit 174 Einzelbänden aus mindestens 125 namentlich genannten National-, Regional- und Sprachräumen ⫺ tragen wesentlich zur V. bei. In der Forschung ist die V. von Erzählgut anhand empirischer Aufnahmeorte räumlich identifizierbar. Die geogr. Ausdehnung läßt sich örtlich, regional, national, kontinental oder interkontinental untersuchen und kann durch Länder-, Gebiets-, Orts-, Sprach- oder Stammesnamen bzw. -bezeichnungen angezeigt werden. Erste Überlegungen zu Ursprung und V. von Märchen stellte J. G. J Herder an7. Systematische Vergleichsnachweise zu geogr. disparaten J Var.n und Stoffelementen lieferten 1812/15 erstmals die Brüder Grimm in den Anmerkungen zu den KHM, die nachfolgend vor allem durch R. J Köhler, J. J Bolte und
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J. J Polı´vka ergänzt wurden (J Komparatistik) . Mit den maßgeblichen Theorien des 19. Jh.s (J Ide. Theorie, J Ind. Theorie), bes. aber mit der J geogr.-hist. Methode richtete sich das Interesse auf die V. von Erzählgut und wurde ein konstitutiver Bestandteil der Analyse, vor allem auch durch komparatistische Einzelanalysen. Zu diesem Zweck erfolgt die systematische Erschließung von Quellen und Var.n zur Feststellung von Gemeinsamkeiten, Abweichungen (J Variabilität) und Dominanzen sowie feststehenden Erzählkernen (J Stabilität) mit Hilfe bibliogr. Werke (J Motivkataloge, J Typenkataloge). Darüber hinaus lassen sich mit Hilfe von V.skarten die hypothetischen V.srichtungen und -wege der betr. Volkserzählung und ihre lokalen J Redaktionen (J Ökotyp; cf. auch J Statistik) darstellen. In Verbindung mit der V.sdichte, hist. Schriftquellen und kulturhist. Daten sind auch Aussagen über den Ursprungsort möglich. Unschärfen ergeben sich dabei aus der jeweils unterschiedlichen Sammelintensität und der allg. Dokumentationssituation im Raum. Verf. von Typenkatalogen oder Typenmonographien nutzen das Anschauungsmittel der Karte jedoch seltener8. Obwohl die geogr.-hist. Methode in hohem Maße systematisch arbeitet, wurde der Parameter V. mit seinen wichtigen Aspekten V.sschwerpunkt, V.sbereich, V.sweg, V.sgrenze und V.sdichte (allg., weit, mittel, gering, örtlich beschränkt, areal kontinuierlich etc.) kaum näher definiert. Geogr. Faktoren können einen V.sweg begünstigen (z. B. Handelskontakte via Seidenstraße) oder erschweren (z. B. Kaukasus-Gebirge). Im Unterschied dazu entwickelte im 20. Jh. die ethnol.9 (cf. J Kulturkreislehre) und die volkskundliche Kulturraumforschung10 eine kartographische Methode. Ihre Hauptimpulse bezog sie aus der Dialektologie (Sprachatlanten) und der ,Wörter und Sachen‘-Forschung11. Sie kartierte zwar hauptsächlich die V. von Objekten der materiellen Kultur und des Brauchwesens, einzelne Karten und Analysen sind jedoch gerade auch für die Erzählforschung relevant, so zu bestimmten Figuren des Volksglaubens12. Bedeutsam sind die kulturhist.-vergleichend und statistisch kommentierten V.skarten zum Sagenkomplex des Aufhokkers13 und zu den Marienkäferliedern14 sowie
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Verbrennen
weitere Folgearbeiten, hierunter bes. die von M. J Zender aktualisierte Sagengeographie im Kulturraum Rheinland ⫺ Eifel ⫺ Luxemburg, die sich mit Tempelherren- und Zwergensagen sowie der V. diverser Spukgestalten befaßt15. Mit neuen methodischen Ansätzen16 entwickelte sich in den 1950er und 1960er Jahren eine Sagenkartographie auch in anderen europ. Regionen17, die hauptsächlich Sagen (hist. Persönlichkeiten, Riesen und Zwerge, Arbeit des Teufels, Totenprozession, Wilde Jagd, Kinderschreckgestalten) wie auch Schildbürgerstreiche verzeichnet18. Ein neues Interesse an literaturwiss. Kartenwerken schließt auch die V. von volksliterar. Erzählgut ein19. 1
Schenda, R.: Von Mund zu Ohr. Bausteine zu einer Kulturgeschichte volkstümlichen Erzählens in Europa. Göttingen 1993, 217⫺232. ⫺ 2 ibid., 52⫺ 146. ⫺ 3 Brokoff, J./Fohrmann, J./Pompe, H./Weingart, B. (edd.): Die Kommunikation der Gerüchte. Göttingen 2008. ⫺ 4 Roth, K.: Crossing Boundaries. The Translation and Cultural Adaptation of Folk Narratives. In: Fabula 39 (1998) 243⫺255; id.: Narration, Narratives and Intercultural Communication. In: Handoo, J./Kvideland, R. (edd.): Folklore. New Perspectives. Mysore 1999, 117⫺131; Petrilli, S./Ponzio, A.: Telling Stories in the Era of Global Communication. Black Writing ⫺ Oraliture. In: Research in African Literatures 32 (2001) 98⫺109. ⫺ 5 Ong, W.: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987, 123 sq., 135 sq. ⫺ 6 cf. Uther, H.-J.: Märchen und Sagen im Eugen Diederichs Verlag. In: Hübinger, G. (ed.): Versammlungsort moderner Geister. Mü. 1996, 376⫺410; Diederichs, U.: Die Märchen der Weltlit. 1912⫺ 1996. In: Marginalien 145⫺147 (1997) 51⫺93. ⫺ 7 z. B. Herder, J. G.: Mährchen und Romane. In: Adrastea 2 (1801) 132⫺141, 148⫺158, bes. 139 sq., 153 sq. ⫺ 8 Ausnahmen z. B.: Liungman, W.: Traditionswanderungen Euphrat ⫺ Rhein. Studien zur Geschichte der Volksbräuche (FFC 118). Hels. 1937, 21 (Weltei), 34 (Sonne und Mond), 55 (Spinnerin bzw. Weberin im Mond); id.: Der Kampf zwischen Sommer und Winter (FFC 130). Hels. 1941, Beilage 1; Pentikäinen, J.: The Nordic Dead-Child Tradition (FFC 202). Hels. 1968, 151, 163, 208, Klappkarte 12; van der Kooi; Aprile. ⫺ 9 Frobenius, L.: Karten als Sinnbilder der Kulturbewegung. Einführung in den Atlas Africanus und in das Verständnis der kinematographischen Karte. Mü. 1922; id.: Vom Kulturreich des Festlandes. B. 1923; id.: Das Archiv für Folkloristik. In: Paideuma 1 (1938) 1⫺18; Baumann, H.: Schöpfung und Urzeit des Menschen im Mythus der afrik. Völker. B. 1936; Abrahamsson, H.: The Origin of Death. Studies in African Mythology. Uppsala 1951. ⫺ 10 Wiegelmann, G.: The Atlas der
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Dt. Volkskunde and the Geographical Research Method. In: J. of the Folklore Institute 5 (1968), 187⫺197. ⫺ 11 Peßler, W.: Die geogr. Methode in der Vk. In: Anthropos 27 (1932) 707⫺742; Zender, M.: Einführung. In: id. (ed.): Atlas der dt. Vk. N. F. Erläuterungen 1⫺2. Marburg 1959⫺64/1966⫺82, hier t. 1, 3⫺ 16, bes. 3⫺10. ⫺ 12 cf. Beitl, R.: Korndämonen. In: HDA 5 (1932⫺33) 249⫺314 (mit sieben V.skarten). ⫺ 13 Grober-Glück, G.: Aufhocker und Aufhocken. In: Zender (wie not. 11) t. 2, 127⫺223. ⫺ 14 ead.: Lieder an den Marienkäfer. ibid., 339⫺ 410. ⫺ 15 Zender, M.: Volkssage und Kulturraumforschung. In: Fabula 9 (1967) 303⫺312; id.: Kobold, Totengeist und Wilder Jäger. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 415⫺427; id.: V. von Sagenmotiven und Vorstellungen des Volksglaubens im Rheinland. In: Neerlands volksleven 21 (1971) 39⫺51. ⫺ 16 Kretschmer, I.: Die thematische Karte als wiss. Aussageform der Vk. Bad Godesberg 1965. ⫺ 17 Schmidt, L.: Die Volkserzählung. B. 1963, 145⫺155; Wildhaber, R.: Folk Atlas Mapping. In: Dorson, R. M. (ed.): Folklore and Folklife. Chic./ L. 1972, 479⫺496; Tene`ze, M.-L.: Cartographie de me´thode et pistes d’analyse. In: Technologies, ide´ologies, pratiques 4 (1982⫺83) 119⫺132. ⫺ 18 Geiger, P./Weiss, R.: Atlas der schweiz. Vk. 1⫺2. Basel 1950⫺95; Weiss, R.: Einführung in den Atlas der schweiz. Vk. Basel 1950, 40 sq.; Burgstaller, E./Wolfram, R./Helbok, A. (edd.): Österr. Vk.atlas 1⫺6, Kommentar 1⫺8. Graz 1965⫺81; Kretschmer, I.: Der österr. Vk.atlas. Zum Abschluß des Gesamtwerkes. In: Arnberger, E. (ed.): Kartographie der Gegenwart. Wien 1984, 193⫺207; Meertens, P. J./ Meyer, L. M. de: Vk.atlas voor Nederland en Vlaams-Belgie¨ 1⫺2, Commentaar 1⫺4. Antw./Amst. 1959⫺69; Nespen, W. van: De cartografische verwerking van het Vlaamse sagenmateriaal. In: Vk. 64 (1963) 186⫺194; Cox, H. L.: Enkele aspecten van de cartografische methode in de volkskunde. Nijmegen/ Utrecht 1968; id.: De Vk.-atlas voor Nederland en Vlaams-Belgie¨ (1959⫺1969). In: Vk. 97 (1996) 10⫺ 23. ⫺ 19 z. B. Moretti, F.: Atlas des europ. Romans. Köln 1999, 47, 69, 235.
Köln
Thomas Geider
Verbrennen (AaTh/ATU 1116), Bezeichnung für eine Episode innerhalb der Schwankkette AaTh/ATU 1049, 1060⫺1063 B, 1070, 1071, 1083⫺1090, 1095, 1096: J Wettstreit mit dem Unhold. Die geogr. weitverstreuten Belege (vor allem Nord-, Ost- und Südosteuropa, Vorderasien, Kaukasus, vereinzelt Südamerika, Südafrika, Japan) lassen sich drei Ausprägungen zuordnen. Am häufigsten nachgewiesen ist die bereits im AaTh-Katalog (1928) (knapp) beschriebene
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Verbrennen
Fassung mit Belegen bes. aus Nord- und Südosteuropa sowie dem Kaukasus1: Ein Unhold (Oger, Riese, Teufel, Drache) ist von einem Mann in einem Wettstreit besiegt worden und will diesen im Schlaf verbrennen (mit kochendem Wasser verbrühen). Der Mann erfährt von dem Vorhaben und versteckt sich. Als der Unhold an die Brandstelle (Schlafstelle des Mannes) zurückkehrt, findet er dort den Mann völlig unversehrt vor: Er sitzt auf der Asche und bemerkt, es sei ein wenig warm gewesen (liegt im Bett und klagt, er habe in der Nacht heftig geschwitzt).
Oft bleibt es nicht bei diesem einen Anschlag auf das Leben des Protagonisten. Entsprechend häufig sind Kombinationen mit Erzähltypen, in denen der Held ebenfalls getötet werden soll, so mit AaTh/ATU 1115: J Mordversuch mit dem Beil 2, aber es finden sich auch drei J Tötungsversuche3 oder sogar vier4 wie in Verbindung mit AaTh/ATU 1132: Flight of the Ogre with His Goods in the Bag und AaTh/ ATU 1120: cf. J Teufel tötet Frau und Kinder, die stets erfolgreich abgewehrt werden. In einer Reihe von Var.n rettet sich der Held durch das Überlistungsschema der Substitution: Er hinterläßt an seiner Stelle einen Holzklotz im Bett, der zum Objekt der Attacke wird5. Der tödliche Anschlag wird in der Regel durch die J Angst des Unholds motiviert, der die überlegene Kraft des Menschen fürchtet, die dieser im Wettstreit ⫺ scheinbar ⫺ bewiesen hat. Die Episode kann aber auch im Kontext von AaTh/ATU 1000: J Zornwette stehen. Statt einer jenseitigen Figur versucht hier ein Gutsherr (Pope), seinen Knecht zu schädigen, weil er um seinen Besitz fürchtet. Doch der Knecht weiß sich zu wehren: Erst durch die Zahlung eines hohen Geldbetrags gelingt es dem Herrn, den Knecht loszuwerden6. Die zweite Ausprägung von AaTh/ATU 1116 ist in Lettland nachgewiesen7: Der J Teufel versucht, seinen Gehilfen zu verbrennen. Er sperrt ihn in das heiße Badehaus, aber der Mann findet eine Möglichkeit zu entkommen (läuft weg, gräbt ein Loch unter dem Fußboden).
Diese Fassung wird in einer tatar. Var.8 erweitert: Hier will ein reicher Bauer seinen Hirten töten, indem er ein Bad herrichtet und die Steine im Badehaus mit Gift besprengt. Der Hirt bemerkt den Plan, entfernt die Steine, wäscht sich, legt die Steine dann wieder zurück und fordert den Bauern dazu auf, sich nun ebenfalls zu waschen, da das Bad noch gut heiß
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sei. Der Bauer meint, ihm könne nichts geschehen, da der Hirt heil davongekommen ist. Er geht ins Bad, atmet das Gift ein und stirbt.
Die dritte Ausprägung bilden die in Ungarn9 und in der Schweiz10 aufgezeichneten Var.n, in deren Mittelpunkt der Wettstreit zwischen einem übernatürlichen Wesen und einem Menschen steht: Der Teufel und ein junger Mann (Junge) wetten (um einen Geldbetrag), wer mehr Hitze aushält. Sie tragen ihren Wettstreit in einem kleinen Raum aus, wobei der Teufel den Platz vor dem heißen Ofen bekommt (setzen sich beide auf einen heißen Ofen). Als die Hitze für ihn unerträglich wird, behauptet der Mann, ihm sei kalt, und bittet um ein Kissen (rutscht unruhig auf dem Ofen hin und her und behauptet, er suche nach der heißesten Stelle). Der Teufel gibt auf (und der Sieger erhält den Geldbetrag).
Allen Fassungen dieses Erzähltyps gemeinsam ist der Grundsatz, daß sich der Protagonist in der Auseinandersetzung mit einem eigentlich mächtigeren Gegner durch List als der Überlegene erweist (J Stark und schwach). 1
Germania 15 (1870) 181⫺183 (lapp.); Lagercrantz, E.: Lapp. Volksdichtung 5. Hels. 1961, num. 268; Qvigstad, J. K.: Lappiske eventyr og sagn 1⫺4. Oslo 1927⫺29, hier t. 2 (1928) num. 61; ibid. 3 (1929) ˚ berg, G. A.: Nynum. 90; Liungman 1, 388⫺391; A ländska folksagor. Helsingfors 1887, num. 128; Allardt, A./Perkle´n, S.: Nyländska folksagor och -sägner. Helsingfors 1896, num. 91, 92; Säve, P. A./Gustavson, H.: Gotländska sagor 1. Uppsala 1952, num. 38; Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 2. Helsingfors 1920, num. 202 b; Slancˇiauskas, M.: Sˇiaure˙s lietuvos pasakos. Vilnius 1974, ˇ ajkanovic´, V.: Srpske narodne pripovetke num. 66; C 1. Belgrad 1927, num. 97; Dume´zil, G.: Contes et le´gendes des Oubykhs. P. 1957, num. 1⫺9; Lintur, P. V.: Zakarpatskie skazki Andreja Kalina. Uzˇgorod 1957, 166⫺172; Popov, P. M.: Ukraı¨n’ski narodni kazki, legendy, anekdoti. Kiew 1957; Sˇakryl, K. S.: Abchazskie narodnye skazki. M. 1975, num. 36; Jarmuchametov, Ch. Ch.: Tatarskie narodnye skazki. Kasan 1957, 195⫺200; Hoogasian-Villa, S.: 100 Armenian Tales and Their Folkloristic Relevance. Detroit 1966, num. 64; Macler, F.: Contes, le´gendes et e´pope´es populaires d’Armenie 1. P. 1928, 62⫺68. ⫺ 2 z. B. Rausmaa SK 3, num. 1, 2, 14, 40; Kecskeme´ti/ Paunonen (lapp., karel.); Hodne; Liungman, Volksmärchen; Lagercrantz, Allardt/Perkle´n, Sˇakryl und Macler (wie not. 1). ⫺ 3 Qvigstad 1929, Slancˇiausˇ ajkanovic´, Lintur und Jarmuchametov (wie kas, C not. 1); Rausmaa, SK 3, num. 1, 2, 40. ⫺ 4 Lintur ˇ ajkanovic´, (wie not. 1). ⫺ 5 z. B. SUS; Lagercrantz, C Sˇakryl und Hoogasian-Villa (wie not. 1); Özbek, B.: Erzählungen der letzten Tscherkessen auf dem Amselfeld. Bonn 1986, num. 3. ⫺ 6 Qvigstad 1929 (wie
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Vereinigte Staaten von Amerika
not. 1). ⫺ 7 Ara¯js/Medne. ⫺ 8 Jarmuchametov (wie not. 1) 158⫺160. ⫺ 9 MNK. ⫺ 10 SAVk. 17 (1912) 95 sq., 161⫺163.
Göttingen
Gudrun Schwibbe
Vereinigte Staaten von Amerika 1. Die Zeit der Entdeckungen ⫺ 2. Frühe gedr. Quellen ⫺ 3. Literar. Bearb.en ⫺ 4. Sammeltätigkeit ⫺ 4. 1. Brit.-amerik. Erzählgut ⫺ 4. 2. Afrik.amerik. Erzählgut ⫺ 4. 3. Autochthones Erzählgut ⫺ 4. 4. Frz.- und span.-amerik. Erzählgut ⫺ 5. Erzählforschung
1 . D ie Ze it de r E nt de ck un ge n. Die frühesten erhaltenen Angaben zu Volkserzählungen aus den heutigen V.n S. stammen von Entdeckern, Missionaren und Kolonisten überwiegend span., engl. und frz. Herkunft. Verbreitet waren bes. einheimische Erzählungen über die magischen Eigenschaften und die Reichtümer des Landes, in deren Nacherzählungen durch die Europäer die Entdecker selbst zu zentralen Gestalten wurden. So werden als Anlaß für Juan Ponce de Leo´ns Expedition nach Florida (1513) nach seinem Tod einheimische Überlieferungen über einen Jungbrunnen (J Verjüngung) genannt1. Bei der Erforschung des Südwestens der heutigen V.n S. durch Francisco Va´zquez de Coronado (1510⫺ 54) spielten Erzählungen Einheimischer über aus Gold gebaute Städte ⫺ die sich auf die Adobe-Siedlungen der Zun˜i und anderer amerik. Kulturen bezogen ⫺ eine Rolle2. Die Erzählungen über Ponce de Leo´n und Coronado sind nach wie vor Bestandteil der Überlieferung US-amerik. Schulkinder. Solche Geschichten waren prägend für spätere Volkserzählungen der V.n S., die oft in einer Umgebung spielen, in der die Natur eine Hauptquelle des Magischen bildet. Typisch für die Sagenüberlieferung der V.n S. ist ferner, daß die Ureinwohner als Wesen mit für Europäer unzugänglichem Geheimwissen dargestellt werden. Spätere Generationen europ. Entdecker lieferten genauere Beschreibungen der Erzählungen und Erzählstile der Ureinwohner. Der Deutsche John Lederer, der 1670⫺71 durch North Carolina reiste, lernte indian. Geschichte aus Erzählungen kennen, die den Informanten in ihrer Kindheit übermittelt worden waren3.
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Manche der von den europ. Entdeckern erzählten Geschichten über persönliche Abenteuer werden bis heute tradiert. John Smith, der 1607 an der Errichtung der Kolonie Jamestown in Virginia beteiligt war, berichtete etwa über seine Gefangennahme durch den Stamm der Powhatan und die Verhinderung seiner Hinrichtung durch die Häuptlingstochter Pocahontas4. Ungeachtet der Frage ihres hist. Wahrheitsgehalts beeinflußten derartige Erzählungen die populäre Phantasie und fügten sich in die Tradition der J Lügengeschichte (tall tale) ein, die zur charakteristischen Gattung der amerik. Grenzregionen werden sollte. 2 . Frü he ge dr. Q ue ll en. Die umfangreichsten fiktionalen Erzählungen, die in der Kolonialzeit aufgezeichnet wurden, waren Lügengeschichten und Schwänke. Nach der Veröff. des ersten amerik. Kalenders (1639) wurde diese Quellengattung bis ins 19. Jh. zur wichtigsten Vermittlungsinstanz von Volkserzählungen. Ihr Inhalt war stark von brit. Schwankbüchern beeinflußt. Bei der Auswertung von 878 Kalendern, die zwischen 1775 und 1800 publiziert wurden, ließen sich nur zwei Tiermärchen, sechs Zaubermärchen, 14 Legendenmärchen, 35 Novellenmärchen und sechs Geschichten vom dummen Teufel (Riesen) klassifizieren; dem stehen 184 schwankhafte Erzählungen gegenüber5. Bestimmte Erzähltypen blieben über zwei Jh.e hinweg populär, wobei die Kalender möglicherweise stabilisierend wirkten. In den untersuchten Quellen waren die beliebtesten Schwänke AaTh/ATU 1319: J Eselsei ausbrüten (13 Var.n), AaTh/ATU 1833: cf. J Katechismusschwänke (11 Var.n) und AaTh/ATU 1525: cf. J Meisterdieb (9 Var.n)6. Für Zaubermärchen gibt es nur wenige frühe Belege. Am bemerkenswertesten sind die schriftl. Erinnerungen von J. Doddridge an lange, dramatische J Jack Tales, die im Grenzland von West Virginia um 1770 als Zeitvertreib für die Jugend dienten7. Ähnliche Erzählungen waren zu dieser Zeit in Großbritannien außerordentlich populär, wo sie in zeitgenössischen Chapbooks wie Jack and the Beanstalk (ATU 328 A: cf. J Bohnenranke; veröff. 1711) und Jack the Giant Killer (AaTh/ ATU 328: J Corvetto; veröff. 1734) erschienen8. Obwohl die Chapbooks in den V.n S. nicht belegt sind, blieben ihre Handlungen
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und Figuren bis zur Mitte des 20. Jh.s in der mündl. Überlieferung präsent9. Einen indirekten Nachweis für die Existenz von Chapbooks in den V.n S. des 18. Jh.s bildet auch eine gereimte Version von Catskins (AaTh/ATU 510 B: cf. J Cinderella) aus dem Jahr 1797, die mit relativer Sicherheit aus einer gedr. Quelle abgeschrieben ist10. 3 . L it er ar. B ea rb .e n. Bearb.en amerik. Volkserzählungen durch Schriftsteller, im 18. Jh. noch ausgesprochen selten, wurden im 19. Jh. zunehmend beliebter. In den frühesten Arbeiten von Washington J Irving (1783⫺1859) ⫺ u. a. seiner Kurzgeschichte Rip Van Winkle (AaTh/ATU 766: J Siebenschläfer) ⫺ sind amerik. Lokalsagen noch mit dt. und anderen europ. literar. Quellen vermischt. Mit der Zeit fanden immer mehr Erzählungen aus der amerik. mündl. Überlieferung Eingang in die Lit., bes. Lügengeschichten und Schwänke. Periodika wie Spirit of the Times (ab 1831) widmeten dem humoristischen Genre breiten Raum und veranlaßten zahlreiche Autoren, Lügenmärchen literar. zu bearbeiten11. Im 19. Jh. nutzten prominente Politiker wie der Kongreßabgeordnete David (Davy) J Crockett (1786⫺ 1836) solche tall tales zur Werbung in eigener Sache. Zeitungskolumnisten und Feuilletonisten, darunter H. E. Taliaferro (1811⫺75), T. B. Thorpe (1815⫺78) und vor allem Mark Twain (Pseud. von Samuel Langhorne Clemens; 1835⫺1910), bearbeiteten den mündl. Stil von Lügengeschichten und Schwänken literar. Bekannt ist u. a. Mark Twains Essay How to Tell a Story (1897), der eine Fassung von AaTh/ ATU 366: J Mann vom Galgen enthält12. Die einflußreichsten frühen literar. Adaptationen afrik.-amerik. Tiermärchen sind die J Uncle Remus-Geschichten von Joel Chandler Harris (1845⫺1908). 4 . S am me lt ät ig ke it. Die systematische wiss. Aufzeichnung von Erzähltexten aus der mündl. Überlieferung begann im späten 19. Jh. Sie wurde bes. von zwei Institutionen betrieben13. 1879 wurde von der Regierung der V.n S. das Bureau of Ethnology (seit 1897 Bureau of American Ethnology) eingerichtet, um die Aufzeichnung von Zeugnissen der einheimischen amerik. Kultur zu organisieren, die in
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der Smithsonian Institution in Washington archiviert werden sollten. J. W. Powell (1834⫺ 1902), der Direktor der Gründungsjahre, stand unter dem Eindruck der Kulturevolutionstheorien von E. B. J Tylor und L. H. Morgan. Er erhoffte sich von der Überlieferung der ,reinen‘ einheimischen Kulturen wichtige Aufschlüsse über Ursprung und prähist. Entwicklung von Kultur allg.14 Zu den bedeutendsten unter Powells Ägide veröff. Slgen gehören Publ.en von F. H. Cushing, F. J Boas und J. Mooney15. Ein weiterer Anstoß zum Sammeln amerik. Volkserzählungen kam 1888 mit der Gründung der American Folklore Soc. Im ersten Band des J. of American Folklore (JAFL) forderte dessen Begründer und erster Herausgeber W. W. Newell zum Sammeln bisher vernachlässigter alter Kindermärchen (,ancient nursery tales‘) auf. Die Sammeltätigkeit sollte die Überlieferung von vier kulturellen Gemeinschaften betreffen, die bis dahin weitgehend isoliert behandelt worden waren: die engl.sprachige Bevölkerung, die Schwarzen der Südstaaten, die Indianer Nordamerikas sowie die frz.- bzw. span.sprachigen Gemeinschaften Nord- und Mittelamerikas16. 4 .1 . B ri t. -a me ri k. Er zä hl gu t. Die ,Relikte altengl. Erzählungen‘, nach denen die Gründer der American Folklore Soc. suchten, stammten nicht nur von Menschen engl. Herkunft, sondern auch von engl.sprachigen Bevölkerungsteilen aus Irland, Schottland und Wales (J Anglo-amerik. Erzählgut). Newell zufolge waren solche Erzählungen bis vor kurzem noch in großer Fülle vorhanden gewesen; sie wurden aufgrund des wirkungsmächtigen Vorbilds der Brüder J Grimm aber weitgehend für ein dt. Phänomen gehalten17. Tatsächlich waren Briten (meist schott. Iren bzw. Ulsterschotten) und Deutsche die beiden größten Bevölkerungsteile im Grenzland der V.n S., und es ist anzunehmen, daß dt. mündl. Überlieferungen in das allg. verfügbare Erzählrepertoire eingingen18. Die frühesten amerik. Erzählungen europ. Ursprungs, die das JAFL von Korrespondenten erhielt, kamen größtenteils von Laien aus Neuengland und dem Mittleren Westen. Unter diesen relativ kurzen Märchen befinden sich zwei der beliebtesten anglo-amerik. Tiererzählungen (AaTh/ATU 124: J Wolf im Schorn-
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stein und AaTh/ATU 130: cf. J Tiere auf Wanderschaft) in Fassungen, die den in Großbritannien aufgezeichneten sehr ähnlich sind19. Nachdem Boas 1908 die Herausgeberschaft des JAFL übernommen hatte, erschienen umfangreichere und systematischere Slgen. 1923 veröffentlichte die Zs. die erste größere Slg amerik. Märchen europ. Herkunft, die bei Feldforschungen von ein und derselben Gewährsperson aufgenommen worden waren. Die Aufzeichnung umfaßt 15 ,Tom, Will, and Jack tales‘, erzählt von Jane Hicks Gentry aus den südl. Appalachen, die schon zu C. J. Sharps Balladensammlung aus den Appalachen mehr Balladen als alle anderen Sänger beigetragen hatte20. Im Mittelpunkt der Märchen steht ein Junge namens Jack, der so allg. mit dem Zaubermärchen in Zusammenhang gebracht wurde, daß ,Jack tales‘ zur Gattungsbezeichnung für Märchen in den V.n S. wurde. Jack ist der jüngste und unscheinbarste von drei Söhnen, tut sich jedoch meist durch Intelligenz, aber auch durch Gutherzigkeit hervor. Seine wichtigsten übernatürlichen Gegenspieler sind Riesen und Hexen. Häufiger noch sind Jacks Gegner andere Menschen, oft ein König oder Bauer oder seine eigenen Brüder.
Gentrys Verwandte und Nachkommen ⫺ die Familie Hicks-Harmon in North Carolina und Tennessee ⫺ wurden durch weitere Aufnahmen und Veröff.en zur berühmtesten Märchenerzählerfamilie in den V.n S.21; die von R. Chase aufgezeichneten und in Bearb. veröff. Geschichten wurden zur bekanntesten Märchensammlung der V.n S.22 Angehörige der Familie traten in vielen Revival-Veranstaltungen auf; zum bekanntesten traditionellen Erzähler des Landes wurde Ray Hicks (1922⫺ 2003), der regelmäßig am alljährlichen National Storytelling Festival in Jonesborough, Tennessee, teilnahm23. Seit 1923 wurden fast alle größeren Slgen zur brit.-amerik. Überlieferung in den südl. Berggebieten der V.n S. aufgenommen ⫺ in den Appalachen und den Ozark-Bergen. In beiden Gegenden stellten die Ulsterschotten die kulturell dominante Bevölkerungsgruppe. V. J Randolphs sieben Erzählsammlungen aus den Ozark-Bergen enthalten homogenisierte Umarbeitungen24. L. Roberts publizierte Märchen aus dem östl. Kentucky25. Ihm ist auch die umfassendste Slg mit Tonaufnahmen
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von Märchen aus den Appalachen zu verdanken26. Die brit.-amerik. Zaubermärchen sind kürzer als ihre europ. Vorgänger und enthalten weniger Zauberelemente und weniger Personen von kgl. Geblüt. Die übernatürlichen Gegner des Helden sind meist Riesen oder Hexen mit menschlichen Zügen. Am beliebtesten sind Erzählungen, die Sagenatmosphäre haben und Begegnungen mit Geistern enthalten. Die populärsten Erzählungen aus den Appalachen sind Ökotypen von AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen und AaTh/ATU 366: J Mann vom Galgen, die oft als Lokalsagen erzählt werden; in ihrem Mittelpunkt steht der nächtliche Angriff eines übernatürlichen Wesens auf Menschen in einem einsamen Haus27. Andere sonst meist als Zaubermärchen erzählte Geschichten werden in den Appalachen und den OzarkBergen gewöhnlich ihrer übernatürlichen Züge entkleidet und sind der Absicht und Form nach de facto Sagen28.
Die gelegentliche Dominanz brit. und ir. Überlieferungen zeigt sich etwa an AaTh 511A/ATU 511: Der rote J Ochse. Außer in Irland, wo dieser Subtyp am häufigsten vorkommt, ist er in den südöstl. Bergregionen der V.n S. öfter aufgezeichnet worden als an jedem anderen Ort29. 4 .2 . Afr ik .- am er ik . E rz äh lg ut. Die zentrale Gestalt im J afro-amerik. Erzählgut ist der Trickster J Brer Rabbit. Seine Popularität, die sich am Werk von Harris und dessen Rezeption zeigt, inspirierte zahlreiche Sammler, darunter A. H. Fauset30. Die Boas-Schülerin Z. N. Hurston veröffentlichte auf der Basis von Feldforschungen in ihrem Heimatstaat Florida eine künstlerisch ausgestaltete Darstellung des natürlichen Erzählkontexts und seiner Funktionen31. Die Bücher R. M. J Dorsons bilden zusammen die größte veröff. Slg afrik.-amerik. Erzählungen32. Dorson zeichnete u. a. 175 Erzählungen und Lieder eines einzigen Informanten, James Douglas Suggs aus Calvin, Michigan, auf 33. Erzähler mit afrik.-amerik. Hintergrund haben eine deutliche Vorliebe für Tiermärchen, bes. solche, in denen das Kaninchen als Trickster erscheint. Wenn sein Gegenspieler ein Unterdrücker (z. B. ein Sklavenhalter) ist, erscheint Brer Rabbit oft in einer Heldenrolle; wenn der Gegenspieler hingegen auf gleicher gesellschaftlicher Stufe mit ihm steht, ist Brer Rabbit häufig ein Soziopath34. Typisch für das afrik.-amerik. Repertoire sind ferner ätiologische Erzählungen35, Schwänke über einen Sklaven (oder Farmpächter) namens John und seine Versuche, seinen alten ,Marster‘ auszutricksen36, sowie Lügenge-
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schichten. Auch im Vergleich mit dem Repertoire brit. Herkunft ist die afrik.-amerik. Überlieferung arm an Zaubermärchen. Eine Ausnahme bildet der Erzähltyp AaTh/ATU 313: cf. J Magische Flucht, in dem als Gegenspieler des Helden gewöhnlich der Teufel erscheint37.
4 .3 . Aut oc ht ho ne s E rz äh lg ut. Das Erzählgut der amerik. Urbevölkerung ist in der EM unter dem Stichwort J Indianer (Kap. 2) behandelt. Sowohl in Boas’ langer Zeit als Herausgeber des JAFL (1908⫺24) als auch während der Herausgeberschaft seiner Schülerin R. Benedict (1925⫺39) erschienen zahlreiche Slgen indigener Folklore. Zu den wichtigsten einschlägigen Publ.en gehören ferner die von E. C. J Parsons (Pueblo-Kultur)38 und M. Opler (Apachen)39. 4 . 4 . Frz .- un d s pa n. -a me ri k. Er zä hl g ut. A. Fortier, der zweite Präsident der American Folklore Soc., stellte 1895 eine Slg kreol. ⫺ i.e. auf dem Französischen basierender afrik.-amerik. ⫺ Volkserzählungen zusammen40. Spätere Slgen befaßten sich hauptsächlich mit den frankophonen Cajuns in Louisiana und mit der Siedlung Old Mines in Missouri41. Das Repertoire beider Gemeinschaften weist eine starke Vermischung afrik. und europ. Erzählelemente auf ⫺ z. B. folgen in beiden Gegenden die Handlungen von Tiermärchen eng ihren europ. Vorläufern, aber der Genarrte heißt in beiden Überlieferungen nicht Brer Bear (wie es für die engl.sprachige Überlieferung typisch ist), sondern Bouki, ein Wort, das in der westafrik. Sprache Wolof Hyäne bedeutet. Span.sprachige Überlieferungen wurden von J. M. J Espinosa senior und J. B. J Rael gesammelt sowie von S. L. J Robe und M. Weigle42 aus früheren hs. Slgen zusammengestellt und untersucht. Diese Erzählungen wurden oft als Bestandteile der span. oder mexikan. Überlieferung aufgefaßt, doch ist ihr Einfluß auf die Kultur der V.n S. unbestreitbar43. 5 . E rz äh lf or sc hu ng. Die Erzählforschung in den V.n S. war zu einem großen Teil durch eine disziplinäre Kluft geprägt: Die Folkloristen sammelten und untersuchten Texte mit europ. und afrik. Hintergrund, während Ethnologen sich der indigenen Überlieferung widmeten. Boas war ein Pionier der Komparatistik, wobei er Erzählungen als Widerspiegelungen
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des Alltags der jeweiligen Kultur auffaßte44. Boas und sein Schülerkreis betrachteten die Folkloristik als die Unters. der Volkserzählung per se, Ethnologie hingegen als Unters. kultureller Artefakte im Kontext45. Im allg. waren die frühen Erzählforscher in den V.n S. eher textorientiert und in literaturwiss. Fachbereichen verankert. Der Balladenforscher F. J. J Child (1825⫺96) unterrichtete an der Harvard Univ. vergleichende Erzählforschung; Childs Schüler G. L. Kittredge, ein Spezialist für ma. engl. Lit., wandte die komparatistische Methode auf ma. Versromane an46. Kittredges Schüler S. J Thompson ist die Übers. (1928) von A. J Aarnes Verz. der Märchentypen (1910) und dessen Umgestaltung zum internat. Katalog der Volkserzählung (AaTh; J Typenkataloge) zu verdanken. Komplementär hierzu entwickelte Thompson ein System der Klassifizierung von Erzählmotiven (Mot.; J Motivkataloge). Sein Buch über die Erzählungen nordamerik. Indianer (1919)47 und seine Typenmonographie The Star Husband Tale (1953) sind heute ethnol. Standardwerke48. Thompsons Schüler setzten die deskriptiven Arbeiten des Vergleichs und der Katalogisierung amerik. Erzählungen fort, so H. J Halpert mit seinen umfassenden komparatistischen Anmerkungen49 und E. W. J Baughman durch seinen Typen- und Motivindex des nordamerik. Erzählmaterials50. Weitgehend unter dem Einfluß von Kittredge und Thompson tendierten an literaturwiss. Abt.en der Univ.en lehrende Erzählforscher im 20. Jh. dazu, sich mehr mit den Erzählungen Europas als der V.n S. zu befassen. So dominieren (u. a. auch aufgrund der Quellenlage) europ. Texte in den nach der geogr.hist. Methode angelegten Typenmonographien von A. J Taylor, W. E. J Roberts, J. H. Brunvand, S. S. Jones und C. Goldberg51. R. S. J Boggs, T. P. J Cross, G. M. Bordman, F. C. J Tubach, L. Haring, E. R. Henken und H. El-Shamy erarbeiteten Indizes, die europ., afrik. und asiat. Material erschließen52. Antike und ma. Texte der europ. Überlieferung untersuchten F. L. J Utley, J. F. Nagy, C. Lindahl und W. Hansen aus Sicht der volkskundlichen Erzählforschung53. In jüngerer Zeit befaßten sich Lit.wissenschaftler wie R. B. Bottigheimer, D. Haase, M. Tatar und J. J Zipes mit der Unters. des
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sozioliterar. Kontexts europ. Erzählungen, bes. der J Kinder- und Hausmärchen54; C. Bacchilega und Zipes untersuchten postmoderne Märchen unter feministischen Gesichtspunkten55. Die J Biologie des Erzählguts war in den V.n S. kaum ein Thema, bevor L. J De´gh 1965 aus Ungarn an die Indiana Univ. in Bloomington kam. L. W. Roberts stellte amerik. Märchen im Kontext der Lebensgeschichten und traditionellen Lebensstile der Erzähler dar56. Zu den für ihren märchenbiologischen Ansatz bekanntesten Wissenschaftlern der V.n S. gehören H. Glassie und R. Cashman, die beide nordir. Erzählgemeinschaften untersuchten und sich auf hist. Erzählungen konzentrierten, sowie J. Langlois, die lokale Sagenüberlieferungen über eine Serienmörderin in einer Stadt des Mittleren Westens studierte57; in ähnlicher Weise befaßte sich R. D. Abrahams mit afrik.-amerik. urbanen und karib. Erzähltraditionen, J. Sobel mit den amerik. ,Erzählrevivals‘58. In den 1930er und 1940er Jahren hatten sich die Erzählforscher der V.n S. verstärkt Slgen und Unters.en zugewandt, welche die Vielfalt regionaler Kulturen widerspiegeln. Eine der führenden Persönlichkeiten dieser Bewegung war Dorson. Seine erste regionale Slg, die sich mit Erzählungen aus Neuengland befaßte, war noch ethnisch homogen59; die zweite, eine Betrachtung der Volkserzählungen der Oberen Halbinsel von Michigan, zeichnet sich hingegen durch große ethnische Vielfalt aus60. Neuere Anthologien aus einzelnen Bundesstaaten sowie Slgen aus allen Landesteilen setzten diese Tradition fort61. Die Unters. afrik. und afrik.-amerik. Erzählungen gewann in der 2. Hälfte des 20. Jh.s zunehmend an Popularität und Dynamik. Abrahams’ Deep Down in the Jungle 62 stellt eine der frühen Studien der J Performanz und Veränderung traditionellen Erzählguts in städtischem Umfeld dar; D. J. Crowley sammelte und untersuchte die engl.sprachigen Erzählungen der Karibik, während W. Bascom und H. Scheub sich den Erzählungen verschiedener afrik. Überlieferungen widmeten und J. W. Roberts Elementen erzählerischer Charakterisierung der Tricksterfiguren von Afrika bis in die V.n S. nachging63. Zur Widerlegung von Dorsons Behauptung, afrik.-amerik. Erzäh-
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lungen seien von Amerikanern europ. Ursprungs entlehnt, dokumentierte Bascom afrik. Parallelen zu afrik.-amerik. Erzählungen64. J. Minton betonte später in zwei der geogr.hist. Methode verpflichteten Unters.en die kreativen Aspekte und ökotypischen Qualitäten der afrik.-amerik. Var.n65. In den letzten Jahrzehnten wurden Märchen eher von Lit.wissenschaftlern untersucht, in der Folkloristik dagegen spielte die Sagenforschung eine große Rolle. Vor De´gh dominierte die vor allem von Dorson betriebene Unters. hist. Sagen66. In der von ihr 1968⫺80 herausgegebenen Zs. Indiana Folklore leistete De´gh mit ihrem Schülerkreis Pionierarbeit bei der Erforschung der amerik. Glaubenssagen (belief legends) sowie der modernen J Sagen (Kap. 10). 1971 gab W. D. J Hand das Buch American Folk Legend mit innovativen Beitr.en von De´gh und R. Georges heraus67. Auch das von De´gh und A. Va´zsonyi entwickelte Konzept der ostension, der Inszenierung und Verwirklichung des Sagentexts durch Erzähler und Teilnehmer, wurde weithin rezipiert68. Mit seinen außerordentlich publikumswirksamen Slgen machte Brunvand für die modernen Sagen den Begriff urban legend populär69. Anfang des 21. Jh.s untersuchten u. a. B. Ellis, D. Goldstein und C. Briggs die Rolle der Sage in Zusammenhang mit zeitgenössischen Themen wie Prozessen um Kindesmißbrauch durch Satanisten, Choleraepidemien und der Verbreitung von Aids70. In der 2. Hälfte des 20. Jh.s widmete sich die Forschung zunehmend Aspekten der Performanz. Veröff.en von A. Paredes, R. Bauman, D. Ben-Amos und K. S. Goldstein betonen deren Atmosphäre und Dynamik71. J. B. J Toelken untersuchte die Ästhetik und Spiritualität von Indianererzählungen72. Persönliche Erlebnisse, Familien- und Lokalgeschichte gewannen in Erzählsammlungen und Unters.en stetig an Bedeutung, wie M. C. Boatrights Konzept der ,Familiensaga‘ ⫺ ein Korpus von Geschichten, die von einer Familie benutzt werden, um ihre Geschichte zu erklären73 ⫺ und die Arbeiten von S. K. Stahl (Dolby) zeigen74. Erzählforscher der V.n S. haben bedeutende theoretische Perspektiven entwickelt, aber nur wenige wurden auf traditionelle amerik. Erzählungen angewandt. De´gh stellte sagenhafte
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und autobiogr. Erzählungen in den Mittelpunkt ihrer amerik. Feldforschungen und theoretischen Arbeiten und entwickelte u. a. die J Conduit-Theorie. A. J Dundes wandte strukturalistische und psychoanalytische Ansätze auf indigene amerik. Erzählungen, amerik. moderne Sagen sowie internat. verbreitete Erzählungen an. Die wichtigsten Betrachtungen des amerik. Märchens waren jedoch methodologischer, nicht theoretischer Art, und der Hauptzweck dieser Methoden bestand darin, die Erzählungen als Ausdruck der Werte, der Ästhetik und der individuellen Anliegen der Erzähler wahrzunehmen. So besteht Dorsons ,Theorie‘ der amerik. Folklore hauptsächlich in der Feststellung, daß die Volksüberlieferung der V.n S. nur im J Kontext der speziellen hist. Umstände ihrer Entstehung angemessen zu verstehen ist75. Die performanzorientierte Schule der Folkloristik gründet in der Überzeugung, daß die Volkserzählung am besten durch genaue Unters. der Performanz begriffen werden kann76. Die einer Theorie am nächsten kommende Aussage in W. B. McCarthys und Halperts amerik. Märchenstudien besteht in dem Postulat, daß man sich mehr um die Suche nach Märchen bemühen muß, bevor man sie für tot erklärt77; Lindahl plädierte dafür, die privaten, verinnerlichten Dimensionen der öffentlichen Performanz genauer zu untersuchen78. Die Erzählforscher der V.n S. sind im wesentlichen antitheoretisch; ihre besten Beispiele werden eher aufgrund von ,Zweckdienlichkeit‘ als von ,Souveränität‘ gewählt, als ein Versuch, ,die Philologie des Einheimischen‘ zu praktizieren79. Eigenständige Abt.en für Folkloristik waren an den Univ.en der V.n S. immer selten. Erzählforschung wurde meist im Rahmen der Lit.wissenschaft gelehrt; manche Erzählforscher sind in Disziplinen wie Geschichte, Ethnologie und Amerikanistik tätig. Das erste institutionelle Zentrum für Erzählforschung in den V.n S. war die Univ. Harvard, an der u. a. Child und Kittredge unterrichteten. Einflußreich für die Erzählforschung waren auch die Arbeiten des dortigen Slavisten A. B. J Lord zur J Formeltheorie (J Oral Poetry). Heute leitet die Grimm-Spezialistin Tatar den Studiengang für Folklore und Mythologie80. An der Univ. Indiana enstand unter Thompson der mehr als ein halbes Jh. lang führende Studien-
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gang Folkloristik in den V.n S.; nach Thompson wurde er u. a. von Dorson, De´gh und Bauman geleitet. In den 1960er Jahren erlangte der Studiengang Folkloristik der Univ. of Pennsylvania unter der Leitung von M. Leach Bedeutung. Wichtig wurden ferner in den 1960er Jahren die Studiengänge der Univ. Texas in Austin und der Univ. of California in Los Angeles und Berkeley. Interdisziplinäre Studiengänge für Doktoranden, die Erzählforschung berücksichtigen, finden sich Anfang des 21. Jh.s in Harvard, an der Ohio State Univ., der Univ. of Missouri und der Univ. of Wisconsin. Die bekannteste Zs. der V.n S. zur Erzählforschung ist das JAFL (seit 1888). Weitere für Erzählforschung wichtige Periodika sind das J. of Folklore Research (zuerst J. of the Folklore Institute, seit 1964) und das Folklore Forum (seit 1968) sowie die Zss. Southern Folklore (zuerst Southern Folklore Quart., 1937⫺ 2000), Western Folklore (zuerst California Folklore Quart., seit 1942), Oral Tradition (seit 1986) und Marvels & Tales (seit 1987). 1 Fonteneda, H. de E.: Memoria de las cosas y costa de la Florida. Madrid 1575, Kap. 2; cf. Fuson, R. H.: Juan Ponce de Le´on and the Spanish Discovery of Puerto Rico and Florida. Blacksburg 2000. ⫺ 2 Hammond, G. P./Rey, A.: Narratives of the Coronado Expedition, 1540⫺1542. Albuquerque 1940. ⫺ 3 The Discoveries of John Lederer. Übers. W. Talbot. L. 1672. ⫺ 4 Smith, B.: Captain John Smith. His Life and Legend. Phil. 1953. ⫺ 5 Stitt, J. M./Dodge, R. K.: A Tale Type and Motif Index of Early U. S. Almanacs. N. Y. 1991. ⫺ 6 ibid., 47⫺57; Baughman, E. W.: Type and Motif-Index of the Folktales of England and North America. Den Haag 1966. ⫺ 7 cf. Perdue, C. L.: Outwitting the Devil. Jack Tales from Wise County, Virginia. Albuquerque 1987, 97. ⫺ 8 Opie, P. und I.: The Classic Fairy Tales. N. Y. 2 1980, 58⫺82, 211⫺222. ⫺ 9 Roberts, L. W.: Old Greasybeard. Tales from the Cumberland Gap. Hatboro, Pa. 1969, num. 17. ⫺ 10 cf. McCarthy, W. B.: Cinderella in America. Jackson, Miss. 2007, 42⫺ 65. ⫺ 11 Dorson, R. M.: American Folklore. Chic. 1959, 39⫺73, bes. 54 sq. ⫺ 12 ibid., 39⫺73; cf. Boggs, R. S.: North Carolina Folktales Current in the 1820’s. In: JAFL 48 (1934) 269⫺288. ⫺ 13 cf. allg. Zumwalt, R. L.: American Folklore Scholarship. A Dialogue of Dissent. Bloom. 1988; Bronner, S. J.: American Folklore Studies. An Intellectual History. Lawrence, Kans. 1986. ⫺ 14 Powell, J. W.: The Lessons of Folklore. In: American Anthropologist 2 (1900) 1⫺36. ⫺ 15 Cushing, F. H.: Outlines of Zun˜i Creation Myths. In: Annual Report of the Bureau of
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Vereinigte Staaten von Amerika
Ethnology 13 (1891⫺92), 321⫺447; Boas, F.: Chinook Texts. Wash. 1894; Mooney, J.: Myths of the Cherokee. Wash. 1902. ⫺ 16 [Newell, W. W.:] On the Field and Work of a J. of American Folklore. In: JAFL 1 (1888) 3 sq. ⫺ 17 ibid. ⫺ 18 cf. Glassie, H.: Three Southern Mountain Jack Tales. In: Tennessee Folklore Soc. Bulletin 30 (1964) 88 sq.; Roberts (wie not. 9) 8; id.: South from Hell-fer-Sartin. Kentucky Mountain Folktales. Lexington 1955, 11 sq. ⫺ 19 Owen, M. A.: Coyote and Little Pig. In: JAFL 15 (1902) 63⫺65; Newell (wie not. 16) 228⫺230; McCarthy (wie not. 10) 49 sq., 62⫺65; cf. DBF A 1, 174 (AaTh/ATU 124); DBF A 2, 572⫺574 (AaTh/ ATU 130). ⫺ 20 Smith, B.: Jane Hicks Gentry. A Singer among Singers. Lexington 1998. ⫺ 21 McCarthy (wie not. 10) 328⫺356; id.: Jack in Two Worlds. Contemporary North American Tales and Their Tellers. Chapel Hill 1994, xiii⫺xxxiv, 1⫺149; Lindahl, C.: Perspectives on the Jack Tales and Other North American Märchen. Bloom. 2001, 1⫺ 6; id.: American Folktales from the Collections of the Library of Congress 1⫺2. Armonk, N. Y. 2004, hier t. 1, 1⫺42. ⫺ 22 Chase, R.: The Jack Tales. Boston 1943. ⫺ 23 cf. Isbell, R.: Ray Hicks. Master Storyteller of the Blue Ridge. Chapel Hill 2000; Lindahl 2004 (wie not. 21) t. 1, 131⫺158; Sobol, J.: The Storyteller’s Journey. An American Revival. Urbana 1999. ⫺ 24 Dorson, R. M.: American Folklore and the Historian. Chic. u. a. 1971, 24 sq. ⫺ 25 Roberts (wie not. 9); id. (wie not. 18); id.: Sang Branch Settlers. Folksongs and Tales of a Kentucky Mountain Family. Austin 1974. ⫺ 26 Lindahl 2001 (wie not. 21) 81⫺89. ⫺ 27 cf. Roberts (wie not. 18) num. 9, 12; Lindahl, C.: The Uses of Terror. Appalachian Märchen-Telling, Folklore Methodology, and Narrator’s Truth. In: Fabula 47 (2006) 264⫺276. ⫺ 28 z. B. Randolph, V.: Sticks in the Knapsack and Other Ozark Folktales. N. Y. 1958, 17 (AaTh/ATU 301 A), 116 sq. (AaTh/ATU 1119); Roberts (wie not. 9) num. 27. ⫺ 29 cf. Perdue (wie not. 7); Halpert, H./Widdowson, J. D. A.: Folktales of Newfoundland 1⫺2. N. Y. 1995, hier t. 1, 253⫺278. ⫺ 30 Fauset, A. H.: Negro Folk Tales from the South. In: JAFL 40 (1927) 213⫺ 230. ⫺ 31 Hurston, Z. N.: Mules and Men. Phil. 1935; ead.: Every Tongue Got to Confess. Negro Folktales from the Gulf States. N. Y. 2001. ⫺ 32 Dorson, R. M.: Negro Folktales in Michigan. Cambr., Mass. 1956; id.: Negro Tales from Pine Bluff, Arkansas, and Calvin, Michigan. Bloom. 1958; id.: American Negro Folktales. Greenwich, Conn. 1967. ⫺ 33 id.: The Astonishing Repertoire of James Douglas Suggs, a Michigan Negro Storyteller. In: Michigan History 40 (1950) 152⫺166; cf. Lindahl 2004 (wie not. 21) t. 1, 183⫺ 217. ⫺ 34 Dorson 1958 (wie not. 32) num. 1, 2. ⫺ 35 cf. z. B. ibid., num. 11, 14, 24, 70, 72, 130, 132, 134. ⫺ 36 Oster, H.: Negro Humor. John and Old Marster. In: JFI 5 (1968) 42⫺57; Dorson 1956 (wie not. 32) num. 35⫺69; Lindahl 2004 (wie not. 21) t. 2, num. 147⫺151. ⫺ 37 z. B. Dorson 1956 (wie not. 32) 142; Hurston 2001 (wie not. 31) 47⫺51. ⫺
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Parsons, E. C.: Tewa Tales. Boston u. a. 1926; ead.: Taos Tales. Boston 1940. ⫺ 39 Opler, M. E.: Myths and Tales of the Jicarilla Apache Indians. Boston 1938; id.: Myths and Traditions of the Lipan Apache Indians. N. Y. 1940; id.: Myths and Tales of the Chiricahua Apache Indians. Boston 1942. ⫺ 40 Fortier, A.: Louisiana Folk-Tales in French Dialect and English Translation. Boston 1895. ⫺ 41 Carrie`re, J. M.: Tales from the French Folklore of Missouri. Evanston 1937; Saucier, C.: Folk Tales from French Louisiana. N. Y. 1962; Claudel, C. A.: Fools and Rascals. Louisiana Folktales. Baton Rouge 1978; Ancelet, B. J.: Cajun and Creole Folktales. N. Y. 1994. ⫺ 42 Weigle, M.: Two Guadalupes. Hispanic Legends and Magic Tales from Northern New Mexico. Albuquerque 1987. ⫺ 43 Paredes, A.: Folktales of Mexico. Chic. 1970; id.: Folklore and Culture on the Texas-Mexican Border. Austin 1993; Espinosa, A. M.: The Folklore of Spain in the American Southwest. Norman 1985. ⫺ 44 Boas, F.: Kwakiutl Culture as Reflected in Mythology. N. Y. 1935. ⫺ 45 Reichard, G. A.: Franz Boas and Folklore. In: American Anthropologist 45,3 (1943) 52⫺ 57, hier 52. ⫺ 46 Kittredge, G. L.: A Study of Sir Gawain and the Green Knight. Cambr., Mass. 1916. ⫺ 47 Thompson, S.: European Tales among the North American Indians. Colorado Springs 1919. ⫺ 48 id.: The Star Husband Tale. In: Liber saecularis in honorem J. Qvigstadii. ed. N. Lid. Oslo 1953, 93⫺ 163. ⫺ 49 cf. Chase (wie not. 22); Randolph (wie not. 28); Halpert/Widdowson (wie not. 29). ⫺ 50 Baughman (wie not. 6). ⫺ 51 Taylor, A.: The Black Ox: A Study in the History of a Folktale (FFC 70). Hels. 1927; Roberts, W. E.: The Tale of the Kind and the Unkind Girls. AA-TH 480 and Related Tales. B. 1958; Brunvand, J. H.: The Taming of the Shrew. A Comparative Study of Oral and Literary Variants. N. Y. 1991; Jones, S. S.: The New Comparative Method. Structural and Symbolic Analysis of the Allomotifs in „Snow White“ (FFC 247). Hels. 1990. Goldberg, C.: Turandot’s Sisters. A Study of the Folktale AT 851. N. Y. 1993; ead.: The Tale of the Three Oranges (FFC 263). Hels. 1997. ⫺ 52 Boggs; Cross; Bordman, G. M.: Motif-Index of the English Metrical Romances (FFC 190). Hels. 1963; Tubach; Haring; Henken, E. R.: Traditions of the Welsh Saints. Cambr. 1987; El-Shamy, Folk Traditions; El-Shamy, Types; id.: Motif Index of the Thousand and One Nights. Bloom. 2006; cf. auch Thompson/Roberts. ⫺ 53 Utley, F. L.: The Crooked Rib. An Analytical Index to the Arguments about Women in English and Scots Literature to the Year 1568. Columbus, O. 1944; Nagy, J. F.: The Wisdom of the Outlaw. The Boyhood Deeds of Finn in Gaelic Narrative Tradition. Berk. 1986; Lindahl, C.: Earnest Games. Folkloric Patterns in the Canterbury Tales. Bloom. 1987; Hansen, W.: Ariadne’s Thread. A Guide to Internat. Tales Found in Classical Literature. Bloom. 2002. ⫺ 54 Bottigheimer, R. B.: The Grimms’ Bad Girls and Bold Boys. New Haven, Conn. 1989; Haase, D.
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Verfolgung
(ed.): The Reception of the Grimms’ Fairy Tales. Detroit 1993; Tatar, M.: The Hard Facts of the Grimms’ Fairy Tales. Princeton 22003; ead.: Off with Their Heads! Princeton 1993; Zipes, J.: The Brothers Grimm. From Enchanted Forests to the Modern World. N. Y. 22002. ⫺ 55 Bacchilega, C.: Postmodern Fairy Tales. Gender and Narrative Strategies. Phil. 1997; Zipes, J.: Don’t Bet on the Prince. Contemporary Feminist Fairy Tales in North America and England. N. Y. 1986. ⫺ 56 Roberts, L. W.: Sang Branch Settlers. Folksongs and Tales of a Kentucky Mountain Family. Austin 1974. ⫺ 57 Glassie, H.: Passing the Time in Ballymenone. Phil. 1982; id.: The Stars of Ballymenone. Bloom. 2006; Cashman, R.: Storytelling on the Northern Irish Border. Bloom. 2008; Langlois, J.: Belle Gunness. The Lady Bluebeard. Bloom. 1985. ⫺ 58 Abrahams, R. D.: Deep Down in the Jungle. Negro Narrative Folklore from the Streets of Philadelphia. Hatboro, Pa 1964; id.: The Man-of-Words in the West Indies. Baltimore 1983; Sobel, J. D.: The Storytellers’ Journey. An American Revival. Chic. 1999. ⫺ 59 Dorson, R. M.: Jonathan Draws the Long Bow. Cambr., Mass. 1946. ⫺ 60 id.: Bloodstoppers & Bearwalkers. Folk Traditions of the Upper Peninsula. Cambr., Mass. 1952. ⫺ 61 Burrison, J.: Storytellers. Folktales and Legends from the South. Athens, Ga 1991; Lindahl, C./ Owens, M./Harvison, C. R.: Swapping Stories. Folktales from Louisiana. Jackson 1997; Lindahl 2004 (wie not. 21); McCarthy (wie not. 10). ⫺ 62 Abrahams 1964 (wie not. 58). ⫺ 63 Crowley, D. J.: I Could Talk Old-Story Good. Creativity in Bahamian Folklore. Berk. 1966; Roberts, J. W.: From Trickster to Badman. The Black Folk Hero in Slavery and Freedom. Phil. 1990; Bascom, W.: African Folktales in the New World. Bloom. 1992; Scheub, H.: The Xhosa Ntsomi. N. Y. 1975; id.: Story. Madison, Wisc. 1998. ⫺ 64 Dorson, R. M.: American Folklore. Chic. 1959, 166⫺198; Bascom (wie not. 63). ⫺ 65 Minton, J.: Big ’Fraid and Little ’Fraid. An Afro-American Folktale (FFC 253). Hels. 1993; id./Evans, D.: The Coon in the Box. A Global Folktale in African-American Context (FFC 277). Hels. 2001. ⫺ 66 z. B. Dorson, R. M.: America in Legend. N. Y. 1973. ⫺ 67 cf. De´gh, L. (ed.): Indiana Folklore. A Reader. Bloom. 1980; ead.: The Belief Legend in Modern Society. In: Hand, W. D. (ed.): American Folk Legend. Berk. 1971, 55⫺68; Georges, R.: The General Concept of Legend. ibid., 1⫺ 19. ⫺ 68 De´gh, L./Va´zsonyi, A.: Does the Word Dog Bite? Ostensive Action: A Means of Legend-Telling. In: J. of Folklore Research 20 (1983) 5⫺34; Ellis, B.: Death by Folklore. Ostension, Contemporary Legend, and Murder. In: WF 48 (1989) 201⫺220; Lindahl, C.: Ostensive Healing. Pilgrimage to the San Antonio Ghost Tracks. In: JAFL 118 (2005) 164⫺ 185. ⫺ 69 Brunvand, J. H.: The Mexican Pet. More „New“ Urban Legends. N. Y. 1986, 9; cf. auch id.: The Vanishing Hitchhiker. American Urban Legends and Their Meanings. N. Y. 1981; id.: The Choking
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Doberman and Other „New“ Urban Legends. N. Y. 1984; id.: Enc. of Urban Legends. Santa Barbara/ Denver/Ox. 2001. ⫺ 70 Ellis, B.: Aliens, Ghosts, and Cults. Jackson 2003; Goldstein, D.: Once Upon a Virus. AIDS Legends and Vernacular Risk Perceptions. Logan, Utah 2004; Whatley, M. H./Henken, E. R.: Did You Hear About the Girl Who …? Contemporary Legends, Folklore, and Human Sexuality. N. Y. 2000; Briggs, C./Mantini-Briggs, C.: Stories in the Time of Cholera. Racial Profiling during a Medical Emergency. Berk. 2003. ⫺ 71 Paredes, A./Bauman, R.: Toward New Perspectives in Folklore. Austin 1972; Paredes, A.: Folklore and Culture on the Texas-Mexican Border. Austin 1995; Bauman, R: Verbal Art as Performance. In: American Anthropologist 77 (1975) 290⫺311; BenAmos, D./Goldstein, K. S.: Folklore. Performance and Communication. Den Haag 1975; Ben-Amos, D.: Sweet Words. Storytelling Events in Benin. Phil. 1977. ⫺ 72 Toelken, J. B.: The Pretty Languages of Yellowman. In: Ben-Amos, D. (ed.): Folklore Genres. Austin 1976; Toelken, B.: The Anguish of Snails. Native American Folklore in the West. Logan, Utah 2003. ⫺ 73 Boatright, M. C.: The Family Saga as a Form of Folklore. In: The Family Saga and Other Phases of American Folklore. ed. id./R. B. Downs/ J. T. Flanagan. Urbana, Ill. 1958, 1⫺19. ⫺ 74 Stahl, S. K.: The Personal Narrative as Folklore. In: JFI 14 (1977) 9⫺30; Dolby, S. K.: Literary Folkloristics and the Personal Narrative. Bloom. 1989; cf. ferner Ancelet (wie not. 41); Lindahl, Owens und Harvison (wie not. 61). ⫺ 75 Dorson (wie not. 24) 15⫺48. ⫺ 76 cf. Ben-Amos/Goldstein (wie not. 71). ⫺ 77 McCarthy (wie not. 10) 22; Halpert/Widdowson (wie not. 29) t. 1, xxxi⫺xliv. ⫺ 78 Lindahl (wie not. 27). ⫺ 79 Haring, L.: America’s Antitheoretical Folkloristics. In: J. of Folklore Research 45,1 (2008) 1⫺9; Mills, M.: What(’s) Theory. ibid., 19⫺28; Bauman, R.: The Philology of the Vernacular. ibid., 29⫺ 36; Noyes, D.: Humble Theory. ibid., 37⫺43. ⫺ 80 Tatar (wie not. 54).
Houston
Carl Lindahl
Verfolgung, Vorgang, bei dem einer Person oder Personengruppe durch eine andere in meist unguter Absicht nachgestellt wird. V. im weiteren Sinne ist einerseits eine allg. Bedrohung, andererseits die V. ethnischer und religiöser Minderheiten oder politisch Andersdenkender bis hin zu deren physischer Vernichtung (J Antisemitismus; J Jude, Judenlegenden; J Zigeuner; J Hexe). Bei V. im engeren Sinne handelt es sich dagegen um die konkrete Handlung der physischen V., bei der einem Fliehenden ein Verfolger auf den Fersen ist (J Flucht). Beide Formen der V. gehen in
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Verfolgung
Volkserzählungen häufig ineinander über. Sie können mit unterschiedlichem Ziel erfolgen: zur Sicherung der Machtposition, um einer Person Schaden zuzufügen (J Schädigung) oder sie zu bestrafen (J Strafe). Der Verfolger ist dann entweder bestrebt, die fliehende Person in seine Gewalt zu bekommen, z. B. durch Gefangennahme, J Entführung, J Vergewaltigung oder sogar Tötung (J Mord, J Tötungsversuche), oder sich auf Kosten des Opfers zu bereichern, z. B. durch dessen Beraubung. V. kann aber auch dazu dienen, etwas in Erfahrung zu bringen (J Geheimnis). V. als allg. Bedrohung findet sich im germ. Erzählgut z. B. in den Sagenkreisen um die ostgot. Könige Ermanarich (gest. 376) und Theoderich d. Gr. (ca 455⫺526) bzw. in den auf ihnen fußenden jüngeren Nach- und Umdichtungen. Ermanarich war in der nord. Überlieferung nach der Hinrichtung seiner Frau der Rache und V. durch ihre Brüder ausgesetzt1; Theoderich wurde in der Erzähltradition dt.sprachiger Länder als verfolgter, heimatloser J Dietrich von Bern zur zentralen Heldengestalt. Im inhaltlich disparaten Sagenkreis um J Sigurd bzw. Siegfried und den Burgundenuntergang werden mehrere Helden von ihren Gegenspielern mit erbitterter Rachsucht verfolgt (J Nibelungenlied)2. Die in diesen und anderen Heldensagen geschilderten Nachstellungen, Kämpfe und heimtückischen Morde sogar innerhalb des Familienverbands bieten eine dichte anschauliche Folge gegenseitiger z. T. blutrünstiger V.en. In mitteleurop. Sagen wurden hist. Ereignisse wie die feudalen Fehden des MA.s, der 30jährige Krieg und die Kriege Friedrichs d. Gr. (J Alter Fritz) oder die Zeit der napoleonischen Fremdherrschaft (J Napoleon) aufgegriffen. So wird z. B. von Burgherren und Raubrittern erzählt, die sich gegenseitig bekriegen3, ihre Untertanen peinigen4 oder Bauern und Kaufleute verfolgen und berauben5, aber auch durch ein irdisches oder göttliches Strafgericht Burg und Leben verlieren6. Landsknechte der Schweden verfolgen und töten sich im Streit um einen Schatzfund gegenseitig7, stellen Bauern und jungen Mädchen nach8 und fliehen vor den sie verfolgenden Feinden9. Auch die Reiter der Gegenseite werden als Verfolger von Jungfrauen dargestellt10; Verräter, die fliehen, trifft der Zorn der sie verfolgenden Bür-
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ger11. Aus der friderizian. Zeit stammen Geschichten, die schildern, wie preuß. Werber in Nachbarländern junge Burschen verfolgen und zum Wehrdienst pressen12; Soldaten der geschlagenen frz. Armee sowie die ihnen nachsetzenden, auch Napoleon persönlich verfolgenden Kosaken13 werden als Marodeure geschildert14. Verfolgt werden in solchen hist. Sagen Menschen, die in der Regel keine Chance zur Gegenwehr haben und ihr Heil daher in der Flucht suchen15. Nur gelegentlich wird von Fällen erzählt, in denen marodierende Soldaten vertrieben oder getötet werden16. Auch in Märchen begegnet V. vor allem als nachhaltige Schädigung: Der J Drache bedroht das ganze Land, und es muß ihm regelmäßig eine Jungfrau geopfert werden. Den Platz des Drachentöters (z. B. AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen; AaTh/ ATU 303: Die zwei J Brüder) beansprucht ein Betrüger (J Usurpator) für sich. In AaTh/ ATU 410: J Schlafende Schönheit wird die Protagonistin von der Rache der gekränkten Fee verfolgt, und der ganze Hofstaat versinkt in einen 100jährigen Zauberschlaf. Allerleiˆ ne, Catskin etc.) ist den V.en rauh (Peau d’A ihres Vaters ausgesetzt, der sie zum Inzest zwingen will, so daß ihr nur die Flucht bleibt (AaTh/ATU 510 B: cf. J Cinderella). In anderen Märchen von unschuldig verleumdeten und verfolgten J Frauen (Kap. 3. 1.2; z. B. AaTh/ ATU 706: J Mädchen ohne Hände, AaTh/ ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder, AaTh/ATU 709: J Schneewittchen; cf. J Verleumdung) ist die Protagonistin meist der V. von Stiefmutter, Schwiegermutter oder Stiefschwester ausgesetzt, die sie aus Neid beseitigen wollen. In AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut wird die schöne Königsbraut auf der Reise zu ihrer Hochzeit oder als Königin im Kindbett von ihrer Stiefmutter ermordet, damit diese dem König ihre eigene, häßliche Tochter unterschieben kann. Dagegen betreffen die Nachstellungen des Neiders in AaTh/ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt einen Mann. Vielfach sind die unmittelbaren Verwandten die Verfolger und Schädiger der Helden oder im Gegenteil ihre Helfer, um V.en abzuwehren. Die V. der positiv gezeichneten Märchengestalten ist jeweils integraler Teil der in den Märchen dargestellten Konflikte und zugleich
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Verfolgung
J retardierendes, spannungssteigerndes Element, das die in fast allen Fällen letztendlich überraschend glückliche Lösung hinauszögert. Für die V. religiöser Minderheiten liefern zahlreiche Märtyrerlegenden Beispiele (J Acta martyrum et sanctorum, J Märtyrer, J Hagiographie). Schon im A. T. wird vom gewaltsamen Tod aus Glaubensgründen erzählt (z. B. Dan. 3,6); auch aus der Frühzeit des Christentums sind derartige Erzählungen überliefert. Vor allem die Christenverfolgung unter dem röm. Kaiser Diokletian mit ihren zahlreichen Hinrichtungen hat ihren Niederschlag in Legenden gefunden. In einer Erzählung stirbt der Verfolger plötzlich und wird von göttlicher Strafe getroffen17; in einer anderen hat ein von seinem weltlichen Herrn verfolgter Abt die Vision, daß ihm Wiedergutmachung zuteil werde; kurz darauf erhält er die Nachricht vom Tod seines Verfolgers18. V. im engeren Sinne ist der Komplementärbegriff zur Flucht. Um einer drohenden J Gefahr zu entgehen, kann die bedrohte Person fliehen oder ihrem Gegner offensiv entgegentreten. Im ersten Fall gibt der Fliehende seine Unterlegenheit zu erkennen, so daß es sich anbietet, ihm nachzusetzen; im zweiten Fall entsteht dem Verfolger ein Gegner, mit dessen Widerstand zu rechnen ist. V. und Flucht sind J archetypische Verhaltensweisen, die in Erzählungen vielfach begegnen. In der Heldenepik und den von ihr beeinflußten mündl. Erzählungen steht V. vor allem im Kontext bewaffneter Auseinandersetzungen. Verfolgt werden (besiegte) Feinde19, Räuber20 oder dämonische Gegenspieler angefangen von der antiken Epik bis zur Karlsepik21. Auch die Entführung junger Frauen (J Brautraub) und die anschließende V. der Entführer wird in Epen und hist. Sagen thematisiert22. In dämonologischen Sagen sind die Gegenspieler vielfach mit magischen Kräften und Fähigkeiten ausgestattete Übernatürliche oder Jenseitige. Das gilt bes. für die große Gruppe der Totensagen, in denen J Tote als Verfolger auftreten. So verlassen Verstorbene ihre Bahre, um ihren Verwandten zu schaden23; sie steigen aus dem Grab, um ihren Angehörigen das Blut auszusaugen, so daß diese ebenfalls sterben (J Vampir)24. Weil Menschen die Grabruhe eines Toten gestört (AaTh/ATU 366: J Mann vom Galgen)25, einen Toten beleidigt26 oder beim
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Tanzen beobachtet haben27, werden sie von diesem verfolgt. Aber auch Dämonen und ähnliche übernatürliche Wesen (Alp, Aufhokker etc.) verfolgen, erschrecken und quälen Menschen. Ein großer schwarzer J Hund (Kap. 3.2) streicht gespenstisch umher, und Menschen sehen sich von ihm verfolgt und bedroht28. In Märchen steht die V. in der Regel in einem übernatürlichen Kontext. Das Motiv der J Magischen Flucht (AaTh 313 sqq.) ist ein zentrales dramatisches Element mehrerer Erzähltypen. Ein frühes Beispiel hierfür ist das Ägypt. J Brüdermärchen, in dem ein Bruder den anderen verfolgt, um ihn wegen der angeblichen Vergewaltigung seiner Frau zu töten; den Verfolgten rettet ein plötzlich hinter ihm entstandener Fluß mit Krokodilen, der sich als schwer zu überwindendes Hindernis für den Verfolger erweist. Das Motiv kehrt u. a. in einer türk. Var. von AaTh/ATU 1137: cf. J Polyphem wieder, in der der Menschenfresser einen Fliehenden verfolgt, aber durch einen Fluß aufgehalten wird29. In europ. Zaubermärchen sind die Verfolgten meist ein Liebespaar. Sie verwandeln sich oder werfen Gegenstände hinter sich, die zu Hindernissen für ihre Verfolger werden. Um bei der Flucht oder der V. rasch voranzukommen, werden manchmal magische Gegenstände benutzt (J Siebenmeilenstiefel; Fliegender J Teppich; cf. J Automat)30. In AaTh/ATU 306: Die zertanzten J Schuhe folgt der Soldat unter einer J Tarnkappe der Prinzessin und findet so heraus, wo sie sich nachts aufhält. In J Tausendundeine Nacht wird von Marjam der Gürtlerin erzählt, die mit ihrem Geliebten vor ihrem Mann flieht und von ihren Brüdern verfolgt wird, jedoch entkommen kann31. Die Protagonistin des Novellenmärchens AaTh/ATU 956 B: Das tapfere J Mädchen und die Räuber wird, nachdem sie alle Räuber bis auf einen erschlagen hat, mehrfach von diesem verfolgt, kann ihm jedoch ebenfalls entfliehen (cf. AaTh/ATU 311, 312: J Mädchenmörder). In schwankhaften Erzählungen tritt die V. als Handlungselement kaum auf. Wenn sie doch wie in AaTh/ATU 1540: J Student aus dem Paradies (Paris) thematisiert wird, entbehrt sie der Dramatik: Erfolglos verfolgt der zweite Ehemann der törichten Frau den Stu-
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Verfremdung
denten, um ihm ihre Gaben für den toten ersten Mann im Himmel wieder abzunehmen. Das Motiv der V. begegnet darüber hinaus in der populären Lit. und ihren medialen Adaptationen, z. B. im Kriminalroman und bes. im Thriller, wenn Opfern von Tätern aufgelauert wird oder Verbrecher von Detektiven verfolgt werden. 1 Edda. ed. G. Neckel/H. Kuhn. Heidelberg 31962, 264⫺274; Dronke, U. (ed.): The Poetic Edda 1. Ox. 1969, 143⫺242; Die Edda. Übers. F. Genzmer. Köln 1981, 217⫺222, 289⫺292; See, K. von: Die Sage von Hamdir und Sörli [1967]. In: id.: Edda, Saga, Skaldendichtung. Heidelberg 1981, 224⫺249; id.: GuÎru´narhvo˛t und HamÎisma´l [1977]. ibid., 250⫺258. ⫺ 2 ibid., 1078⫺1080. ⫺ 3 Neumann, S.: Sagen aus Pommern. Mü. 1991, num. 9, 12. ⫺ 4 ibid., num. 10; id.: Sagen aus Sachsen-Anhalt. Mü. 1995, num. 24. ⫺ 5 Peuckert, W.-E.: Ostalpensagen. B. 1963, num. 418; Griepentrog, G.: Hist. Volkssagen aus dem 13.⫺19. Jh. B. 1975, num. 32, 42, 43; Neumann (wie not. 3) num. 8, 9, 11, 13; id. (wie not. 4) num. 34. ⫺ 6 Schell, O.: Sagen des Rheinlandes. Lpz. 1922, num. 328; Griepentrog (wie not. 5) num. 40; Neumann (wie not. 3) num. 10, 12. ⫺ 7 id.: Sagen aus Mecklenburg. B. 1993, num. 89. ⫺ 8 Brückner, 321, num. 244; Neumann (wie not. 4) num. 113, 114. ⫺ 9 Eisel, R.: Sagenbuch des Voigtlandes. Gera 1871, num. 716. ⫺ 10 Neumann (wie not. 4) num. 106. ⫺ 11 id. (wie not. 7) num. 91. ⫺ 12 Burde-Schneidewind, G.: Hist. Sagen zwischen Elbe und Niederrhein. B. 2 1975, num. 323⫺325; Neumann (wie not. 7) num. 99, 100. ⫺ 13 Schell (wie not. 6) num. 326. ⫺ 14 Zaunert, P.: Rheinland Sagen 1. Jena 1924, 43; Neumann (wie not. 3) num. 99; id. (wie not. 7) num. 106⫺ 108. ⫺ 15 Zaunert (wie not. 14). ⫺ 16 ibid.; Neumann (wie not. 7) num. 106, 107; id. (wie not. 4) num. 113⫺115. ⫺ 17 Tubach, num. 3710. ⫺ 18 ibid., 3711. ⫺ 19 Heissig, W.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 1⫺2. Wiesbaden 1988, hier t. 1, 135. ⫺ 20 ibid. 1, 135, 154, 340 sq.; 2, 674, 688 sq.⫺ 21 ibid. 1, 210, 214 sq.; 2, 686, 692; cf. auch Birkhan, Reg. s. v. V. ⫺ 22 cf. Geißler, F.: Brautwerbung in der Weltlit. Halle 1955, 161⫺166. ⫺ 23 Müller/ Röhrich C 12. ⫺ 24 ibid. M 12. ⫺ 25 cf. ibid. C 6, L 32. ⫺ 26 ibid. L 4. ⫺ 27 ibid. L 5. ⫺ 28 Peuckert, W.E.: Westalpensagen. B. 1965, num. 70 (I⫺III); Kooi, J. van der/Schuster, T.: Die Frau, die verlorenging. Sagen aus Ostfriesland. Leer 2003, num. 140 (1⫺3, 5⫺6). ⫺ 29 Eberhard/Boratav, num. 146. ⫺ 30 Geißler (wie not. 22) 200⫺205. ⫺ 31 1001 Nacht 5,2, 728⫺757.
Rostock
Siegfried Neumann
Verfremdung, Vorgang, der Phänomenen das Selbstverständliche nimmt. V. ist insbesondere ein J Stilmittel, das eine künstlerische
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Darstellung als Ganzes oder einzelne ihrer Elemente aus einer vertrauten in eine ungewöhnliche, fremd anmutende Perspektive rückt. Im prägnanten Sinne ist der Begriff theoretisch und praktisch mit der Dramatik Bertolt Brechts (1898⫺1956) verbunden. Sein episches Theater bedient sich des ,V-Effekts‘, um eine J Distanz des Zuschauers zum Vorgeführten zu schaffen und ihn damit zu gesellschaftskritischen Einsichten und als deren Folge zur Veränderung der realen (kapitalistischen) Gesellschaftszustände zu bringen1. Brechts Theaterpraxis will aber nicht nur den Gegenstand verfremden, sondern auch das Verfremden selbst und sein Medium zum Thema machen. Angestrebt wird weniger eine neue Art der Wahrnehmung als ein fremder Blick, dem das Gegebene als etwas Zweifelhaftes und zu Bezweifelndes in Erscheinung tritt. Nicht gleichzusetzen mit Brechts V. ist der im Rahmen des russ. Futurismus von V. Sˇklovskij (1893⫺ 1984) geprägte Begriff ostranenie (Verseltsamung), der auf ein neues Sehen abzielt, auf ein Sich-Bewußtmachen von Erscheinungen, die gewöhnlich automatisiert wahrgenommen werden2. Aus der Perspektive der Erzählforschung wird unter V. meist in einem allg. Sinne die Veränderung des Gewohnten ins irritierend Ungewohnte verstanden. Genaugenommen bedeutet jeder ästhetische Abbildungsakt eine V. der Wirklichkeit, die zur Darstellung kommt. So hat J Novalis die romantische Poetik als „die Kunst, auf angenehme Art zu befremden“, charakterisiert3. Das ,Fremdmachen‘ kann sich zunächst durch stilistische Mittel auf der Textebene vollziehen (z. B. durch Juristensprache in einer Parodie auf AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen 4 ), dann zusätzlich durch die Vortragsart (ironische Stimmmodulation, Augenzwinkern), wobei die Wirkkraft der V. über Intention und Fähigkeiten des Erzählers hinaus auch vom aufnehmenden Bewußtsein des einzelnen Zuhörers abhängig ist (indem er etwa Ironie ignoriert oder eine naiv-phantastische Episode als grotesk empfindet). Bes. komplex erscheint der V.sprozeß beim Medienwechsel, wenn z. B. die Gestalt J Schneewittchens (AaTh/ATU 709) in Walt J Disneys Snow White and the Seven Dwarfs (1937) unterschiedlichen Frauenbildern europ. Bildkünstler verpflichtet ist5. So bleibt die Grenze,
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Verfremdung
an der eine poetische Variation, eine kulturelle J Adaptation oder die J Übersetzung eines Textes zur V. des ursprünglich Gegebenen wird, unscharf. Auf der Seite des Autors/Erzählers ist für die V. eine Absicht nötig, ist ein Stilbruch im Gestaltungsakt vorauszusetzen; auf der Seite des Rezipienten können aber auch ⫺ räumlich, zeitlich, sozial ⫺ inadäquate Kontexte sowie andersartige und unzeitgemäße Einzelelemente einer Erzählung (J Anachronismus, J Historisierung und Enthistorisierung, J Modernismen, J Requisit [Kap. 3]) als V. erscheinen6. Speziell werden in Sprachformeln (J Sprichwort, J Redensarten) und Volkserzählungen J Namen (J Ortsneckerei), Personen, Gegenstände, Handlungen oder der charakteristische Gattungsstil durch J Karikatur, J Parodie, J Travestie oder J Ironie verfremdet. Generell kann V. Aufmerksamkeit erzeugen, Irritationen auslösen oder ein illusionistisches Vorstellungsbild aufbrechen. Das spielerische Moment, das hier wirksam wird, setzt beim Autor/Erzähler eine gewisse Distanz zu den von ihm vermittelten Inhalten voraus. Im Motiv der J Verkehrten Welt wird V. anschaulich auf die Spitze getrieben. Sie besitzt eine Attitüde des Verrätselns und eine deutliche Tendenz zur J Komik. Andererseits können in märchenhafter V. gesellschaftliche Widersprüche enthüllt und kritisiert (Evgenij J Sˇvarc, Friedrich Karl Waechter7), Gattungen der populären Überlieferung ironisiert (Hans Christian J Andersen8) oder selbst wiss. Methoden vorgeführt werden (Hans Traxler, Iring Fetscher)9. V. durchbricht den Erwartungshorizont. Darum kann man innerhalb des Märchens, in dem sich Verwandlungen selbstverständlich vollziehen, kaum von V. sprechen: Das Menschenbild spiegelt sich in dem zu tierischer ,Fremdform‘ verwünschten Helden nur metaphorisch, nicht begrifflich in einer ,wunderbaren V.‘10 Wenn in der Fabel Tiere wie Menschen handeln und sprechen, entspricht dies ebenfalls dem Gattungsstil. V. verlangt eine deutliche Abweichung von den herrschenden J Norm- und Idealvorstellungen (einer Gattung), doch können im hist. Prozeß durchaus alte Normen mit neuen Normsetzungen konkurrieren. Man hat z. B. die Märchen der Brüder J Grimm ihrer grausamen Züge we-
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gen unter pädagogischem Aspekt ,entgrimmt‘11 oder als ,SimsalaGrimm‘12 in ein unterhaltendes Fernsehformat transponiert. Diese Maßnahmen, die mancher Rezipient als V. empfinden mag, müssen jedoch intentional eher als zeittypische Anpassungen oder Umgestaltungen verstanden werden, die veränderten Erziehungs- bzw. Unterhaltungsnormen Rechnung tragen. Allerdings begegnen in Lit. und bildender Kunst der sog. Postmoderne, die durch selbstreferentielle und intertextuelle Verfahren, Genre-Mischung, Parodien, Simulationen und Ironisierungen gekennzeichnet ist, allenthalben verfremdende Transformationen. Der Überraschungseffekt liegt dabei aber nicht mehr in der V. als solcher. Diese erscheint vielmehr omnipräsent als ein epochenspezifisches Stil- und Spielmittel, das auch den Umgang mit Märchen- und Sagenstoffen wesentlich bestimmt. Mit den nahezu beliebig ausgewählten und vielschichtig parodierten Elementen aus dem überlieferten Erzählfundus erweisen sich die postmodernen Märchenfiguren und Sagenszenarien vor allem im Film13 und im Computerspiel als keiner präziser bestimmbaren V.sstrategie unterworfen. 1 Brecht, B.: Kleines Organon für das Theater [1948]. In: Helmers, H. (ed.): V. in der Lit. Darmstadt 1984, 133⫺138; cf. Daphinoff, D.: V. In: RDL 4 (1984) 613⫺626. ⫺ 2 Sˇklovskij, V.: Kunst als Kunstgriff [1916]. In: Helmers (wie not. 1) 70⫺87; Lachmann, R.: Die ,V.‘ und das ,Neue Sehen‘ bei Viktor Sˇklovskij [1970]. ibid., 321⫺351; cf. Weber, T.: V.: In: Hist. Wb. der Philosophie 11. Darmstadt 2001, 653⫺658; Frankhauser, G.: V. als Stilmittel vor und bei Brecht. Tübingen 1971. ⫺ 3 Novalis: G. W. 4. ed. C. Seelig. Zürich 1946, 301. ⫺ 4 Ritz, H.: Die Geschichte vom Rotkäppchen. Göttingen 111993, 141 sq. ⫺ 5 Girveau, B./Diederen, R. (edd.): Walt Disneys wunderbare Welt und ihre Wurzeln in der europ. Kunst. Mü. 2008, bes. 170⫺181. ⫺ 6 Lausberg, H.: V. in der literar. Rhetorik [1960]. In: Helmers (wie not. 1) 172⫺182. ⫺ 7 Waechter, F. K.: Tischlein deck dich und Knüppel aus dem Sack. Reinbek 1972; id.: Der Teufel mit den drei goldenen Haaren. Mü. 1975; id.: Die Bremer Stadtmusikanten. Ffm. 1977. ⫺ 8 Shojaei Kawan, C.: The Princess on the Pea. Andersen, Grimm and the Orient. In: Fabula 46 (2005) 89⫺ 115, hier 102⫺106, 109. ⫺ 9 Traxler, H.: Die Wahrheit über Hänsel und Gretel. Ffm. 1963; Fetscher, I.: Wer hat Dornröschen wachgeküßt? Düsseldorf 1972. ⫺ 10 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf 21990, 155, 168. ⫺ 11 Fischer, H.: Grimms Märchen neu erzählt, modern, ent-grimmt und ver-simsalagrimmt. In: Mär-
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Verführer: Der bestrafte V.
chenspiegel 11,1 (2000) 43⫺46. ⫺ 12 Drascek, D.: „SimsalaGrimm“. Zur Adaption und Modernisierung der Märchenwelt. In: SAVk. 97 (2001) 79⫺ 89. ⫺ 13 Frizzoni, B.: „Shrek“ ⫺ ein postmodernes Märchen. In: Schmitt, C. (ed.): Erzählkulturen im Medienwandel. Münster u. a. 2008, 187⫺202.
München
Helge Gerndt
Verführer: Der bestrafte V. (AaTh/ATU 883 B)1, Novellenmärchen mit Zaubermärchenelementen, das beispielhaft vorführt, wie es einem gewitzten Mädchen in einer von männlicher Kontrolle und Doppelmoral geprägten Gesellschaft gelingt, die gefährdete Ehre zu bewahren und eine vorteilhafte Ehe zu schließen: Ein Kaufmann (Herrscher, reicher Mann, seltener Mann von niedrigem Stand) geht auf (Geschäfts-) Reise (zieht in den Krieg). Er sperrt (mauert) seine (meist drei) Töchter zum Schutz vor Verführungsversuchen ein; Zaubergegenstände (Blumen, Äpfel, Kränze, Vögel, Ringe) sollen anzeigen, ob sie ihre J Keuschheit bewahren können. Ein Prinz (König, Herzog, junger Mann) verschafft sich Einlaß und verführt die beiden älteren Schwestern; die jüngste widersteht und spielt ihm eine Reihe perfider, z. T. in J Verkleidung ausgeführter Streiche; dabei legt sie ihm oft auch die in der Zwischenzeit von den Schwestern geborenen Kinder ins Bett (überbringt sie auf andere Weise). Nach Rückkehr des Vaters heiratet der Prinz die Übeltäterin. Um seiner Rache vorzubeugen, legt sie in der Hochzeitsnacht eine Puppe aus Zucker (Honig) oder mit süßlichem Inhalt (Blutblase) ins Ehebett. Er versucht, die vermeintliche Braut zu töten; als er jedoch schmeckt, wie süß ihr Blut ist, bereut er. Das Paar versöhnt sich und ist fortan glücklich.
Dieses Märchen steht aufgrund der Motivik des Liebesgeplänkels AaTh/ATU 879: J Basilikummädchen nahe, vor allem wegen der fast alle Var.n beider Erzähltypen beschließenden Zuckerpuppenepisode. Seine Ausgangssituation und die Streiche weisen ferner große Ähnlichkeiten mit der bes. im Mittelmeerraum beliebten Erzählung vom Besuch einer Mädchenbande in der Räuberhöhle und ihrer Verfolgung durch den Räuberhauptmann (AaTh 956 C/ATU 968: Miscellanous Robber and Murder Stories) auf 2. Den ältesten bislang bekannten Beleg für AaTh/ATU 883 B bildet J Basiles Märchen Sapia Liccarda (Pentamerone 3,4; 1. Drittel 17. Jh.). Anders als sonst erscheint hier eine
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Konstellation von drei Liebespaaren: Das unerlaubte Verhältnis von Sapias Schwestern mit den zwei älteren Prinzen führt relativ komplikationslos zur Ehe, und auch die unehelich geborenen Kinder sind den Vätern willkommen; dagegen ist der jüngste Prinz über den Widerstand und die Aktionen der tugendhaften Sapia zutiefst gekränkt, und diese muß dafür beinahe mit dem Leben bezahlen. Insgesamt spricht aus Basiles Erzählung eine Indifferenz gegenüber dem offiziellen Sittenkodex sowie eine Betonung natürlicher Regungen, auch wenn der Autor abschließend Sapias Tugend verbale Reverenz erweist. Dagegen dominiert in einer weiteren literar. Fassung, Mademoiselle J L’He´ritiers Feenmärchen L’adroite Princesse ou les aventures de Finette (1695 oder 1696)3, eine rigide Moral, verknüpft mit erzieherischen Intentionen. Innerhalb eines pseudohist. Rahmens (Zeit der Kreuzzüge) spielt die Autorin die trägen und denkfaulen Schwestern Nonchalante und Babillarde gegen die geistreiche, hausfraulich-fleißige und vernünftige Finette aus. Zur Herstellung einer klaren Dichotomie von Gut und Böse ist die Figur des männlichen Gegenspielers in einen Schurken und einen exemplarischen Helden (Finettes künftigen Ehemann) aufgespalten; und nicht nur der Bösewicht wird mit dem Tod bestraft, auch die moralisch schwachen Schwestern müssen sterben. P. J Delarue hat L’He´ritiers Märchen auf die Volksüberlieferung zurückgeführt4; R. Robert dagegen sieht Basile als ihr Vorbild an5. Dem Erzähltyp wurde ferner eine Erzählung von Gonc¸alo Fernando J Trancoso (1,3; um 1570) zugewiesen6. Diese handelt jedoch lediglich davon, wie ein tugendhaftes Mädchen dem Verführungsversuch eines Adligen mit Hilfe einer List entrinnt und ihn dadurch zum Ehemann gewinnt; das Dreischwesternschema und die typischen Einzelmotive fehlen7. Aus mündl. Überlieferung ist AaTh/ATU 883 B ⫺ außer in den Niederlanden und Großbritannien ⫺ in fast allen europ. Ländern belegt, mit Ausläufern nach Nordafrika sowie Lateinamerika (Brasilien, US-Bundesstaat Colorado)8. Die zwei einzigen dt.sprachigen, über J. J Grimm zugekommenen Nachweise wurden erst 1977 veröffentlicht9. Bes. häufig findet sich das Märchen in Frankreich (20 Var.n)10, Portugal (15 Var.n)11 und Ungarn (mindestens
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Verführer: Der bestrafte V.
12 Var.n)12. In gedr. Slgen ist es zwar weniger präsent, doch spricht die Tatsache, daß es noch bis in die jüngste Vergangenheit aufgezeichnet werden konnte13, für seine Beliebtheit. Texte aus mündl. Überlieferung weisen fast durchgängig eine andere Figurenkonstellation als die beiden frühen literar. Fassungen auf: Es tritt nur ein einziger V. auf, der identisch mit dem künftigen Ehemann der Protagonistin ist; Var.n mit drei V.n wie bei Basile14 bzw. dem Gegensatzpaar V./untadeliger künftiger Ehemann wie bei L’He´ritier15 sind äußerst selten. Trotz dieser entscheidenden Abweichung macht sich der Einfluß L’He´ritiers, wohl durch Vermittlung populärer Lesestoffe16, weit über Frankreich hinaus bemerkbar17. Oft aus dem Feenmärchen übernommene bzw. mit ihm übereinstimmende Elemente sind: die Namen der Personen; gläserne Spinnwerkzeuge als Keuschheitszeichen; der Fall des V.s aus dem ihm über einer Kloake, Latrine oder Mistgrube bereiteten Bett; das zur Rache an der Heldin bestimmte nagelfaßähnliche Strafwerkzeug, das jedoch dem V. selbst zum Verhängnis wird; die Verkleidung der Heldin als Arzt zur Überbringung der Kinder; die blutgefüllte Strohpuppe statt der Zuckerpuppe. Als typische Elemente der Volksüberlieferung fallen auf: In westslav., ung. und nord. Var.n spielt der V. mit den Mädchen Karten (Würfel, Schach): Wer verliert, muß mit ihm schlafen18. In anderen Var.n würfeln die Mädchen um den V.19 Die Sexualthematik ist in einem Teil der Var.n entweder abgeschwächt (Küsse20, keine Schwangerschaften trotz Beischlafs21), euphemistisch verschleiert (,er nimmt ihr die Rose‘22) oder vollständig unterdrückt, wodurch die Streiche der Jüngsten als bloßer Mutwille erscheinen23. Die Streiche nehmen in mündl. Var.n oft erheblichen Raum ein. Typisch ist die Trias Diebstahl in der kgl. Küche (wobei das Mädchen das restliche Essen verdirbt), im Weinkeller (wobei es den restlichen Wein auslaufen läßt) und im Obstgarten. Zu ihren Raubzügen verkleidet sich die Heldin oft als Mann (z. B. Koch, Kellermeister, Gärtnerbursche [cf. J Frau in Männerkleidung]). Im Garten kommt es zur lebensgefährlichen Konfrontation mit dem Gegner, bei der ihn die Protagonistin in bzw. auf das für sie vorbereitete nagel- oder messerbewehrte Folterinstrument (z. B. mit Rasiermessern ausgerüstetes Kanapee24) schiebt, ihn in seiner eigenen Falle fängt und verdrischt25 oder wie in AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel in den Ofen wirft26.
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Ähnlich wie in AaTh/ATU 879 spielt sie dann den Arzt: Statt seine Verletzungen zu heilen, macht sie alles nur noch schlimmer, indem sie seine Wunden z. B. mit Salz und Paprika einreibt27 oder mit Honig beschmiert und dann Hornissen auf ihn losläßt28. Zur Überbringung der Kinder tritt sie außer als Arzt29 in rom. Var.n auch häufig als (Liebesschmerzen heilende) Blumenhändlerin auf 30. Verse bzw. Sprüche, die die Heldin mit dem sprechenden, ihre Intelligenz und Klarsicht betonenden Namen am Ort ihrer Untaten hinterläßt, unterstreichen entweder das moralische Element („Här är Clara/Som sin ära kan bevara“31), das Moment der Rache (,Das hat dir die kluge Zˇofa getan, sie hat ihre schönen Schwestern gerächt‘32) oder die freche Herausforderung (,Hier war Sophie, schnappt mich doch, wenn ihr könnt!‘33). Bei der Rückkehr des Vaters greifen die Schwestern vielfach zu der List, dreimal das makellos erhaltene Keuschheitszeichen der jüngsten vorzuzeigen34. Skand. Var.n zeichnen sich erstens durch ihre maritime Kulisse aus: Die Schwestern oder Gefährtinnen befinden sich auf einer Insel35, der Prinz erscheint oft als Schiffbrüchiger36. Zweitens sind sie frei von skatologischen Elementen: Anstatt in eine Latrine oder Abfallgrube wird der V. meist ins Wasser katapultiert37. Span. und katalan. Erzählungen leiten die Geschichte mit den Tricks der Lehrerin aus AaTh/ATU 879 ein, die die jungen Leute zusammenbringen will; der V. gibt sich als Pilger aus38. Eine vergleichbare Affinität zu AaTh/ATU 879 weisen die griech. Var.n auf 39. In den Var.n der Berber schleicht sich der ungebetene Gast als Frau maskiert ein und betäubt alle Mädchen bis auf das jüngste, das sich durch einen Trick rettet. Die sexuelle Motivation ist z. T. durch diebische Absichten ersetzt. Die Streiche fehlen; es folgt die Heirat und (z. T. mehrfach) die Zuckerpuppenepisode, zusätzlich überredet die junge Frau noch ihre Schwiegermutter oder eine andere Verwandte ihres Mannes zum J Bettplatztausch. Die Heldin entkommt; hilfreiche Tiere töten den verbrecherischen Ehemann40. Daneben gibt es auch Formen, die den europ. Var.n nahestehen41. Anstatt der Zuckerpuppenepisode kommt die Substitution durch eine ältere Frau ferner in dän. und schwed. Var.n vor42.
Auf den ersten Blick erscheint AaTh/ATU 883 B als amüsante Geschichte; der muntere Ton und die Situationskomik können jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, daß hier eine Welt dargestellt wird, in der Heuchelei, Rücksichtslosigkeit und Brutalität an der Tagesordnung sind. Weibliche Tugend wird zwar offiziell großgeschrieben, behaupten kann sich jedoch nur die Unverfrorenheit. Letztlich tobt hier ein gnadenloser Krieg der Geschlechter:
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Verführung
,Als wir letztes Mal zusammen waren, wolltest du mich ertränken, aber jetzt will ich dich erhängen.‘43 1
Ergänzend zu ATU: Meraklis, M.: Das Basilikummädchen, eine Volksnovelle (AT 879). Diss. (masch.) Göttingen 1970, 117⫺151; Oriol/Pujol (engl.; in der katalan. Ausg. noch unter AaTh/ATU 879 klassifiziert); die bei BP 4, 222 sq. aufgeführten Var.n sind z. T. AaTh/ATU 879 zuzurechnen. ⫺ 2 Meraklis (wie not. 1) 152⫺157; cf. ferner Frobenius, L.: Volksmärchen der Kabylen 2. Jena 1922, num. 15. ⫺ 3 Mademoiselle Lhe´ritier, Mademoiselle Bernard, […]: Contes. ed. R. Robert. P. 2005, 93⫺114. ⫺ 4 Delarue, P.: Les Contes merveilleux de Perrault 1. In: Arts et traditions populaires 2 (1954) 1⫺22, hier 4 sq. ⫺ 5 Robert (wie not. 3) 25 sq. ⫺ 6 EM 13, 856; Cardigos. ⫺ 7 Zitiert nach Braga, T.: Contos tradicionaes do povo portuguez 2. Lissabon 21915, 39⫺42. ⫺ 8 Romero, S.: Folclore brasileiro. Rio de Janeiro 3 1954, num. 12; Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y Nuevo Me´jico 1. Stanford [1957], num. 28. ⫺ 9 Rölleke, H. (ed.): Märchen aus dem Nachlaß der Brüder Grimm. Bonn 21979, num. 1 und 2; cf. BP 4, 222 sq., not. 1. ⫺ 10 Delarue/Tene`ze (davon eine ital. aus Menton und eine bruchstückhafte bask.). ⫺ 11 Cardigos. ⫺ 12 MNK 4; Dobos, I.: Bodrogkeresztu´ri mese´k e´s monda´k. Bud. 1988, num. 6 (16 Var.n). ⫺ 13 Schenda, R.: Märchen aus der Toskana. MdW 1996, num. 50 (1995 aufgezeichnet); Camarena/Chevalier (6 von 7 Var.n aus den 1980er⫺90er Jahren). ⫺ 14 Kremnitz, M.: Rumän. Märchen. Lpz. 1882, num. 7. ⫺ 15 Tille, Soupis 1, 379 sq. ⫺ 16 Delarue/Tene`ze; Rausmaa, SK 2, 350; Dobos (wie not. 12) num. 6; cf. Liungman, Volksmärchen; laut A. Be´res (Rozsa´lyi ne´pmese´k. Bud. 1967, 463) finden sich jedoch keine Spuren des Erzähltyps in ung. Volkslesestoffen. ⫺ 17 Tille, Soupis 1, 379 sq.; Cardigos (Var. 4). ⫺ 18 Polı´vka 4, num. 122; Rona-Sklarek, E.: Ung. Volksmärchen 2. Lpz. 1909, num. 29; Dobos (wie not. 12) num. 6; Rausmaa, SK 2, num. 108; Kvideland, R./Eirı´ksson, H. Ö.: Norw. und isl. Volksmärchen. B. 1988, num. 14 (isl.). ⫺ 19 Tille, Soupis 1, 380 sq.; Skattegraveren 10 (1888) 196⫺ 205. ⫺ 20 Kremnitz (wie not. 14). ⫺ 21 Dobos (wie not. 12) num. 6. ⫺ 22 Maspons y Labro´s, F.: Lo rondallayre. Barcelona 1871, 66⫺71. ⫺ 23 Imbriani, V.: La novellaja fiorentina. Livorno 1877, num. 3, 4 (⫽ Nerucci, G.: Sessanta novelle popolari montalesi. Florenz 21891, num. 4); Calvino, I.: Fiabe italiane. Turin 21959, num. 195; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 2. Grenoble 1971, num. 72.2; RTP 22 (1907) 312⫺314. ⫺ 24 Rona-Sklarek (wie not. 18). ⫺ 25 z. B. Säve, P. A.: Gotländska sagor 1. ed. H. Gustavson. Uppsala 1952, num. 26 Be´res (wie not. 16) num. 37. ⫺ 27 Dobos 24. ⫺ (wie not. 12) num. 6. ⫺ 28 Be´res (wie not. 16) num. 39. ⫺ 29 z. B. Nerucci (wie not. 23) num. 56. ⫺ 30 Schenda (wie not. 13); Camarena/Chevalier (Bei-
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spielversion); Cardigos; Romero und Rael (wie not. 8); ferner Sahlgren, J./Liljeblad, S.: Sagor fra˚n Sma˚land. Stockholm 1939, 56 sq. ⫺ 31 Liungman. ⫺ 32 Polı´vka 4, num. 122. ⫺ 33 Berze Nagy, num. 577 (Var. 5, cf. Var. 9); cf. Be´res (wie not. 16) num. 37. ⫺ 34 z. B. Cardigos; Maspons y Labro´s (wie not. 22); Romero (wie not. 8); Kvideland/Eirı´ksson (wie not. 18); Säve (wie not. 25); Skattegraveren (wie not. 19). ⫺ 35 Liungman; Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 1. Hels. 1917, num. 177; Skattegraveren 7 (1887) 102⫺107; ibid. 10 (wie not. 19). ⫺ 36 Hackman und Skattegraveren 7 (wie not. 35). ⫺ 37 Säve (wie not. 25); Kvideland/Eirı´ksson (wie not. 18). ⫺ 38 Camarena/Chevalier (Beispielversion); Maspons y Labro´s (wie not. 22); Alcover, A. M.: Aplec de rondaies mallorquines 7. Palma de Mallorca s. a., 98⫺113. ⫺ 39 Meraklis (wie not. 1) 122 sq. ⫺ 40 Frobenius (wie not. 2) t. 3 (1921) num. 22; Laoust, E.: Contes berbe`res du Maroc. P. 1949, num. 99. ⫺ 41 Basset, R.: Nouveaux Contes berbe`res. P. 1897, num. 116. ⫺ 42 Skattegraveren (wie not. 19); Säve (wie not. 25). ⫺ 43 Skattegraveren (wie not. 19).
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Verführung 1. Allg. ⫺ 2. V. zum Lustgewinn ⫺ 3. Dämonische Verführer ⫺ 4. V. und Intrige
1 . All g. V. ist der gelungene Versuch, eine Person zu einer Handlung zu bewegen, die primär nicht deren eigenständiger willentlicher Entscheidung entspringt. V. ist ein Verstoß gegen moralische J Normen und Werte. Sie erfolgt im Gegensatz zu J Vergewaltigung und Zwang gewaltlos und bedient sich der J Manipulation (J List), indem sie implizit oder explizit ein Glücksmoment verheißt. Verführbarkeit als menschliche Schwäche ist die Voraussetzung für manipulative Handlungen auf den verschiedensten Gebieten sozialer Interaktion. Sie wird von charismatischen politischen und religiösen Führerpersönlichkeiten ebenso ausgenutzt wie in der Werbung, sie kann zu Sucht (Alkohol, Narkotika, Nikotin), aber auch zu Verbrechen (Diebstahl, Raub, sexueller Mißbrauch, Mord) führen. Als archetypische V. wird die bibl. Erzählung vom Sündenfall J Adams und Evas (Gen. 3,1⫺6) angesehen. Zum Prototyp politischer und ökonomischer V. wurde in Lit., Werbung und Karikatur der J Rattenfänger von Hameln (ATU 570*). V. im engeren Sinne, die sexuelle V., bewegt sich
1433
Verführung
zwischen individueller Selbstverwirklichung und gesellschaftlichen Normen, Triebbefriedigung und Restriktion; sie berührt ein zentrales Moment der menschlichen Existenz1. Es verwundert daher nicht, daß V. innerhalb der Lit. und der Volkserzählung bes. auf das Gebiet der J Erotik festgelegt ist2. Wie, von wem und mit welchem Ziel eine V. realisiert wird, ist in Volkserzählungen in starkem Maße mit stereotypen Auffassungen verknüpft. In der chin. Überlieferung erscheint die Füchsin als gefährliche Verführerin, die Männern ihre Lebenskraft aussaugt (J Fuchs, Kap. 3.1). In span. Balladen wurde Marı´a de Padilla, die Geliebte Pedros des Grausamen, als Verführerin dargestellt3. Kunst und Lit. des späten 19. Jh.s, bes. des Symbolismus, stilisierten die J Sphinx zur verführerischen Femme fatale4. Diese und andere mythische oder sagenhafte Frauenfiguren (J Circe5; J Peri; J Lorelei) sind Äquivalente einer auf sexuelle Befriedigung zielenden Vorstellung von Männlichkeit6. 2 . V. z um Lu st ge wi nn. Männliche Verführer finden sich bereits in frühen literar. Überlieferungen. In der klassischen Mythologie nehmen Götter wie J Zeus und Halbwesen wie Satyrn und Faune Tiergestalt an, um Frauen zu verführen (cf. J Sodomie). In kelt. Erzählungen verführt das Wasserpferd, ein Seeungeheuer, das auch menschliche Gestalt annehmen kann, junge Frauen7. Internat. verbreitet ist der Stoff um den sagenhaften Frauenhelden Don Juan8, aber auch die Promiskuität realer Personen wie Heinrichs VIII.9 und August des Starken10 wurde narrativ tradiert. Giacomo Casanova schilderte in seinen Memoiren seine Liebschaften11. V. ist ein verbreitetes Thema in schwankhaften Erzählungen. Typisch ist hier, daß die männlichen Verführer ihre naiven Opfer trickreich zum Geschlechtsakt (J Koitus) bewegen12: Der Protagonist in AaTh/ATU 1424: J Nasenmacher behauptet, den unvollständigen Fötus einer Schwangeren vervollständigen zu wollen. Vielfach bedienen sich die Männer einer metaphorischen Bezeichnung, die von den Frauen nicht verstanden wird. In einer ma. Erzählung läßt sich die sittsame Nonne von einem Mönch ,reiben‘13, oder eine Klosterschülerin tauscht in ihrer Unwissenheit Minne gegen den ,Vogel‘ eines Ritters14. In AaTh 1543*,
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1543 A*/ATU 1543*: Der gekaufte J Penis gibt ein Mann vor, er habe keinen Penis, sondern einen ,Striegel‘. Der Protagonist von AaTh/ATU 1545: cf. J Junge weiß nichts von Frauen bedient sich der Verwendung mißverständlicher Umschreibungen für Genitalien und Geschlechtsverkehr, um Frau und Tochter seines Arbeitgebers in dessen Gegenwart zu verführen. Verführer können ihre Opfer betrunken machen, um das Ziel zu erreichen, sie stapeln hoch, verkleiden sich als Frau, als der eigentliche J Liebhaber oder Ehemann einer Frau (J Verkleidung) oder nehmen dessen Gestalt an (J Gestalttausch; J Amphitryon). In AaTh/ATU 854: Der goldene J Bock läßt sich der Freier im Inneren eines künstlichen Tiers in das Schlafgemach der Prinzessin einschleusen und gewinnt sie für sich. In AaTh/ATU 1547*: The Trickster with Painted Penis erweckt der Verführer das Interesse der Frau durch auf seinen Penis gemalte Ringe, die angeblich signalisieren, was für ein Kind er zeugt.
Seltener sind verbale V.staktiken, die milieuabhängig zu sein scheinen: Im höfischen Ambiente der frz. Contes de fe´es kommen Liebesbeziehungen vorzugsweise über raffinierte V.sgespräche zustande15. Doppelt erfolgreich sind Verführer von Ehefrauen (J Ehebruchschwänke und -witze), die durch List erreichen, daß der betrogene Ehemann ihnen die zur V. eingesetzten Werte erstattet (AaTh/ATU 1420 A: cf. J Pfand des Liebhabers) oder sogar noch etwas zahlt oder schenkt (AaTh/ATU 1420 G: J Anser venalis)16. V.en erfolgen in der Regel ohne fremde Hilfe. Zuweilen kann dem Protagonisten aber auch eine J Kupplerin beistehen (AaTh/ATU 1515: Die weinende J Hündin). Auf die reine V. mit anschließender Schilderung des Geschlechtsverkehrs ist die Liebesthematik vor allem in derberen Schwänken und Erzählliedern reduziert17. Ihr Witz liegt im häufigen Gebrauch frivoler Metaphern18: Z. B. ist der Mann der Unterlegene, weil er seine ,Munition verschossen‘ hat; der Schnitter mäht, bis sich seine ,Sense biegt‘19. In der Gartenmetaphorik (J Garten) bedeutet das ,Pflükken der Früchte‘ Liebesgenuß. Explizit Anstößiges und unverschlüsselte J Obszönitäten finden sich fast ausschließlich in vulgärsprachlichen Erzählungen mit Handlungsträgern aus unteren sozialen Schichten vom Fabliau bis zur J Zote (cf. J Anthropophyteia; J Krypta´dia)20. Die schwankhaften Verserzählungen des 13.⫺16. Jh.s kennen als Verführer Ritter21 und
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Pfarrer22; Studenten begegnen z. B. in AaTh/ ATU 1363: Die Erzählung von der J Wiege, AaTh/ATU 1361: J Flut vorgetäuscht und AaTh/ATU 1547*. Klassischer V.sort ist neben dem Bett (Heu) der Wald: Bes. im Volkslied gilt er als Ort der freien J Liebe, mit dem Jäger als Inbegriff des Liebhabers und Verführers (J Jagd, Jagen, Jäger); das Liebesabenteuer wird mit Hilfe von Jagdmetaphern geschildert (verfolgen, erlegen). In Witzen werden Dienstmädchen, Mägde, Hausgehilfinnen und Sekretärinnen als Sexualobjekt ihrer Arbeitgeber dargestellt23. Der allg. positiven Bewertung des erfolgreichen Verführers bes. im Schwank steht seine oft boshaft-spöttische Zeichnung gegenüber, wenn er ertappt wird und im erotischen Dreieck den kürzeren zieht, weil der Ehemann (und die Ehefrau) gegen ihn agiert (cf. AaTh/ ATU 1360 C: Der alte J Hildebrand) oder er bestraft wird (AaTh 571 A⫺B/ATU 571 A: J Liebhaber bloßgestellt)24. Die Strafe reicht von Androhung der J Kastration über substantielle Unterhaltszahlungen bis hin zu gerichtlichen Rügen ⫺ Lösungen, zu denen häufig klug ausgedachte Pläne führen, oft auch in Kombination mit metaphorischem Wortwitz25. In AaTh/ATU 1855 A: Jüdin verspricht, J Messias zu gebären macht ein Geistlicher, der eine junge Jüdin verführt hat, deren Eltern glauben, sie werde den Messias gebären; sie bringt jedoch ein Mädchen zur Welt. Ab und zu mündet eine V. in eine Heirat (AaTh/ATU 883 B: Der bestrafte J Verführer)26. Meist jedoch bricht die Erzählung mit der V. ab, die Frau steht mit Kind, aber ohne Mann und finanzielle Absicherung da27 oder begeht sogar J Selbstmord28. L. J Röhrich betonte in Zusammenhang mit der V.sthematik im Volkslied den sozialgeschichtlichen Hintergrund des Geschlechterkonflikts: Das Mädchen wird von einem sozial Überlegenen verführt. Die Konflikte spiegeln Klassen- und Standesgegensätze: „Fast alle Liebesballaden verschärfen den Liebeskonflikt noch durch einen sozialen. Die in der Ballade geschilderten Liebesbeziehungen suchen aus der strengen Eheordnung der Zeit auszubrechen.“29 3 . D äm on is ch e Ver fü hr er. In der christl. Tradition ist der J Teufel der Meister-
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verführer. Er gewinnt seine J Hexen üblicherweise durch V. Ihnen gegenüber tritt er als Edelmann, Jäger, Student oder hübscher Jüngling auf. Sein Ziel erreicht er aber auch, indem er die Gestalt des Ehemannes oder eines Bekannten, mit dem die Frau schon zuvor ein sexuelles Verhältnis hatte, annimmt, oder indem er die Sinne seiner Opfer verwirrt, manchmal auch durch Androhungen von Gewalt oder Mißhandlung. In der christl. Allegorese, auf die sich die kathol. Liedpropaganda und Emblematik stützen, erscheint der Teufel als J Schlange30. Im MA. sind verführende Jenseitige Teile einer komplexen Dämonologie, die erst mit dem Nachlassen der Hexenverfolgung an Bedeutung verloren hat. Zwecks religiöser Indoktrination unterstellte man J Ketzern hemmungslose V.sabsichten31. In religiösem Kontext wird V. häufig als J Keuschheitsprobe eingesetzt: Heilige und Asketen sucht der Teufel in Gestalt einer schönen Frau zu verführen. Die Versuchung des hl. J Antonius Eremita ist in Kunst und Lit. vielfach thematisiert worden32. In AaTh/ATU 812: J Rätsel des Teufels sucht der Teufel in Gestalt eines schönen Mädchens einen frommen Bischof zu verführen33. Innerhalb der Reformationspolemik stellte H. J Rauscher das gesamte Arsenal der teuflischen V.sgeschichten als ,papistische Lügen‘ zusammen34. Das Thema der V. heiligmäßiger Personen beschränkt sich jedoch nicht auf das christl. Abendland, wie eine Erzählung aus der Zeit der chin. Sung-Dynastie (981⫺1276) zeigt35. In einer buddhist. Erzählung bedient sich der König, der über einen gelehrten Mönch ungehalten ist, der Künste einer Hetäre, um diesen erfolgreich zu verführen36. J Elfen verleiten angeblich junge Männer zum Tanz im Mondlicht und locken auch Frauen und Kinder fort, um durch die sexuelle Verbindung mit den Menschen das Blut ihres Geschlechts aufzufrischen. Auch J Fairies bringen Männer durch erotische V. dazu, ihnen in ihr Reich zu folgen (cf. J Tom der Reimer). In der Schauerliteratur des 19. Jh.s waren J Incubi und Succubi beliebte Elemente von J Vampir- und J Wiedergänger-Erzählungen, in denen sie häufig Bräutigam/Braut darstellen, die durch sexuelle V. versuchen, ihren Partner ins Grab nachzuziehen (cf. auch AaTh/ATU
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365: J Lenore). In der Ballade ist der Verführer oft ein als solcher nicht erkennbarer Jenseitiger, z. B. J Rübezahl, der ein Hirtenmädchen entführt37, oder wie in der AaTh/ATU 311: cf. J Mädchenmörder nahestehenden Ballade der Ritter Ulinger, der Jungfrauen durch seinen Gesang betört und anschließend umbringt38. 4 . V. u nd In tr ig e. Weniger verbreitet ist das Verfolgen eines nicht offensichtlich mit der V. in Zusammenhang stehenden Ziels, einer intrigenhaften Ausnutzung von V. Im apokryphen Buch Judith läßt die titelgebende Figur sich während der Belagerung ihrer Vaterstadt vom gegnerischen Feldherrn Holofernes verführen und erhält dadurch Gelegenheit, ihn zu töten (J Apokryphen, Kap. 1. 7.1.). Nach einer romanhaften byzant. Erzählung des 14. Jh.s veranlaßt Kaiser Justinian einen Freund, seine Frau Theodora zu verführen, die Frauen mit lockerem Lebenswandel getadelt hatte. Dies gelingt, und die Düpierte geht voll Abscheu in die Einsamkeit39. V. kann an der J Impotenz des Verführers oder an der Integrität der/des zu Verführenden scheitern (AaTh/ATU 712: J Crescentia; AaTh/ATU 882: cf. J Cymbeline; J Susanna). Mißlungene V.sversuche ziehen gravierende Konsequenzen nach sich, wenn die Abgewiesenen für die Zurückweisung J Rache üben (cf. J Joseph: Der keusche J.; AaTh/ATU 883 A: Das unschuldig verleumdete J Mädchen; AaTh 881*/ATU 514**: J Frau als Doktor; AaTh/ ATU 910 K: J Gang zum Eisenhammer [Kalkofen]). Meist sind Frauen die Opfer solcher J Verleumdungen (J Frau, Kap. 3. 1.2.), sie können aber auch in der Rolle der Verleumderin auftreten (Phädra40). Subtiler ist die V. und Demütigung der Königstochter als Rache des abgewiesenen Freiers in AaTh/ATU 900: J König Drosselbart. 1 Wunderlich, W.: Verführer, Schurken, Magier. In: Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): MA. Mythen 3. St. Gallen 2001, 13⫺26. ⫺ 2 cf. Little, W. T.: Seduction. In: Dict. of Literary Themes and Motifs 2. ed. J.-C. Seigneuret. N. Y. u. a. 1988, 1158⫺1171. ⫺ 3 Cruz, A. J.: The Politics of Illicit Love in the ‘Pedro el Cruel’ Ballad Cycle. In: Arv 48 (1992) 1⫺16. ⫺ 4 Brosi, S.: „Der Kuß der Sphinx“. Weibliche Gestalten nach griech. Mythos in Malerei und Graphik des Symbolismus. (Diss. Fbg 1986) Münster/Hbg 1992,
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14⫺60, bes. 59 sq. ⫺ 5 Tuczay, C.: Kirke. In: Müller/ Wunderlich (wie not. 1) 493⫺507. ⫺ 6 Wunderlich (wie not. 1) 19⫺21; Frenzel, Motive, 737⫺751; Daemmrich, H. S. und I.: Themen und Motive in der Lit. Tübingen 1987, 150⫺154. ⫺ 7 MacKinlay, J. M.: Folklore of Scottish Lochs and Springs. Glasgow 1893, 171⫺181; Campbell, J. G.: Superstitions of the Scottish Highlands. Glasgow 1900, 204⫺216. ⫺ 8 Singer, A. E.: The Don Juan Theme. An Annotated Bibliogr. of Versions, Analogues, Uses and Adaptations. Morgantown, W. Va 1993; Lo´pez de Abiada, J. M.: Don Juan. In: Müller/Wunderlich (wie not. 1) 193⫺209; Sommer, D.: Der Mythos Don Juan in Oper und Theater des 17. bis 20. Jh.s. Marburg 2008; cf. auch Frenzel, Motive, 720⫺737. ⫺ 9 cf. z. B. The Private Life of Henry VIII. Großbritannien 1933 (Regie Alexander Korda); Carry on Henry. Großbritannien 1970 (Regie Gerald Thomas) (dt.: Heinrichs Bettgeschichten oder Wie der Knoblauch nach England kam). ⫺ 10 Delau, R.: August der Starke und seine Mätressen. Dresden 2005. ⫺ 11 Casanova, G. G.: Histoire de ma vie 1⫺6. Wiesbaden/P. 1960⫺62. ⫺ 12 cf. allg. Grubmüller, K.: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europ. Novellistik im MA.: Fabliau ⫺ Märe ⫺ Novelle. Tübingen 2006, 223⫺238. ⫺ 13 Fischer, H.: Die dt. Märendichtung des 15. Jh.s. Mü. 1966, 93⫺ 98. ⫺ 14 Frosch-Freiburg, F.: Schwankmären und Fabliaux. Göppingen 1971, 28⫺43. ⫺ 15 EM 11, 590. ⫺ 16 Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977, num. D 13⫺14, E 13. ⫺ 17 Blümml, E. K.: Erotische Lieder aus Österreich. In: Anthropophyteia 2 (1905) 70⫺112; Klusen, E.: Das apokryphe Volkslied. In: Jb. für Volksliedforschung 10 (1965) 85⫺102; Brednich, R. W.: Erotisches Lied. In: Hb. des Volksliedes 1,1. ed. id./L. Röhrich/W. Suppan. Mü. 1973, 575⫺616. ⫺ 18 Danckert, W.: Symbol, Metapher, Allegorie im Lied der Völker. ed. H. Vogel. Bonn-Bad Godesberg 1977, 488⫺507; Wehse, R.: The Erotic Metaphor in Humorous Narrative Songs (Schwank Songs). In: Folklore on Two Continents. Festschr. L. De´gh. Bloom. 1980, 223⫺232. ⫺ 19 id.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, num. 127, 132⫺134; cf. auch Roth (wie not. 16) 167⫺186. ⫺ 20 cf. z. B. Legman, G.: Rationale of the Dirty Joke. An Analysis of Sexual Humor. N. Y. 1969. ⫺ 21 Grubmüller, K. (ed.): Novellistik des MA.s. Ffm. 1996, 568⫺617. ⫺ 22 Fischer, H.: Studien zur dt. Märendichtung. Tübingen 21983, 121 sq. ⫺ 23 Legman (wie not. 20) 217⫺255; Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 153⫺173; Wehse, R. (ed.): Warum sind die Ostfriesen gelb im Gesicht? Die Witze der 11⫺14jährigen. Ffm. 1983, num. 37. ⫺ 24 Olsen, M.: Les Transformations du triangle e´rotique. Kop. 1976. ⫺ 25 Wehse (wie not. 19) num. 81, 83⫺90, 123, 135. ⫺ 26 ibid., num. 78⫺80. ⫺ 27 ibid., num. 91⫺94, 96⫺ 105, 107. ⫺ 28 Erk/Böhme, num. 40. ⫺ 29 Röhrich, L.: Das verführte und das verführende Mädchen. Liebes- und Sozialkonflikte im älteren erzählenden Volkslied. In: Festschr. S. Gutenbrunner. Heidelberg
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1972, 183⫺193, hier 183; cf. auch Roth (wie not. 16) 223⫺250. ⫺ 30 Leibbrand, J.: Speculum bestialitatis. Die Tiergestalt der Fastnacht und des Karnevals im Kontext christl. Allegorese. Mü. 1989, 168⫺174. ⫺ 31 Tubach, num. 84. ⫺ 32 Sauser, E.: Antonius Abbas. In: LCI 5 (1973) 205⫺217; Flaubert, G.: La Tentation de Saint-Antoine. P. 1874; cf. Busch, W.: Der hl. Antonius von Padua. In: id.: G. W. Mü. 1966, 927⫺996, hier 981⫺991; cf. auch Tubach, num. 1071 a. ⫺ 33 Legenda aurea/Benz, 23⫺25; cf. Klapper, MA., num. 200. ⫺ 34 Schenda, R.: Hieronymus Rauscher und die protestant.-kathol. Legendenpolemik. In: Brückner, 178⫺259, hier 207⫺
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215. ⫺ 35 Le´vy, A.: Le Moine et la courtisane. Formation et e´volution d’un the`me litte´raire d’origine Sung. In: E´tudes Song 2,2 (1980) 139⫺158. ⫺ 36 Grünwedel, A.: Die Geschichten der 84 Zauberer (Mahasiddhas). In: Baessler-Archiv 5,4⫺5 (1916) 137⫺228, hier 192⫺195, num. 52. ⫺ 37 Erk/Böhme, num. 3. ⫺ 38 ibid., num. 41; cf. num. 42; Child, num. 4. ⫺ 39 Lampsides, O.: Mythistorimatike¯ die¯ge¯sis peri te¯s Theodo¯ras (Eine romanhafte Erzählung über Theodora). In: Neon Athe¯non 3 (1959/60) 17⫺23. ⫺ 40 Kl. Pauly 4, 692.
Reichertshausen
Rainer Wehse