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German Pages 379 [380] Year 2002
de Gruyter Lehrbuch Torge · Geodäsie
Wolfgang Torge
Geodäsie 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage
w
Walter de Gruyter G Berlin · New York 2003 DE
P r o f , (em.) Dr.-Ing. W o l f g a n g Torge Institut f ü r E r d m e s s u n g Universität H a n n o v e r Schneiderberg 50 30167 H a n n o v e r
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-017545-2 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© Copyright 2003 by Walter de Gruyter G m b H & Co. K G , 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Hansbernd Lindemann, Berlin. Konvertierung von WORD-Dateien des Autors: I. Zimmermann, Freiburg. Druck und Bindung: Hubert & Co. G m b H & Co. K G , Göttingen.
Vorwort
Die erste Auflage dieses Buches erschien 1975 in der Sammlung Göschen beim Verlag Walter de Gruyter & Co. Diese komprimierte Darstellung der geodätischen Bezugssysteme, der Datenerfassung und Datenverarbeitung in Erdmessung und Landesvermessung fand bei den Studierenden des Vermessungswesens und benachbarter Disziplinen, aber auch bei den Praktikern eine gute Aufnahme. In den fast 30 Jahren seit dem Entstehen dieses Buches hat sich die Geodäsie insbesondere durch die Entwicklung der Raumtechniken einschneidend verändert. Diesen Veränderungen wurde in den auf dem Göschenband aufbauenden englischen Ausgaben der „Geodesy" (1980, 1991, 2001) schrittweise Rechnung getragen, wobei die jüngste Auflage eine vollständige Umgestaltung und wesentliche Erweiterung erfuhr. Um dem im deutschen Sprachraum gerade auch bei den Studierenden weiterhin bestehenden Interesse an einer deutschen Neuauflage Rechnung zu tragen, haben sich Verlag und Autor zu dieser zweiten Auflage entschlossen. Sie basiert auf der 3. Auflage der „Geodesy", doch wurden einige neuere Entwicklungen aufgenommen und unter Verzicht auf ältere und teilweise schwer zugängliche Literaturstellen verstärkt deutschsprachige Referenzen zitiert. Gegenüber dem Göschenband hat sich die Zahl der Seiten von 268 auf 369 und die der Abbildungen von 101 auf 183 erhöht, die neue Unterteilung in acht Kapitel zeigt nun klar die fundamentalen Änderungen der vergangenen Jahrzehnte und ihre Auswirkungen auf die geodätischen Netze und den Beitrag der Geodäsie zu den Geowissenschaften. In der „Einführung" findet sich wiederum die Definition und eine Zusammenfassung der über 2000-jährigen Geschichte der Geodäsie bis hin zur drei- und vierdimensionalen Modellbildung, die Übersicht über die geodätischen Institutionen wurde auf den neuesten Stand gebracht. Das neue Kapitel „Bezugssysteme" gibt einen systematischen Überblick über die geodätischen Referenz- und Zeitsysteme, ihre Realisierung und ihre gegenseitige Transformation. Das „Schwerefeld der Erde" wird jetzt unter Einschluss des Geoids und Erweiterung bei der Feldgeometrie und der Kugelfunktionsentwicklung behandelt. Auch wegen der Bedeutung des „Geodetic Reference System 1980" und des „World Geodetic System 1984" wird nun das „Geodätische Erdmodell" in einem eigenen Kapitel präsentiert. Kern des Buches bilden die Kapitel über die Mess- und Auswerteverfahren; sie sind völlig neu organisiert und bearbeitet worden. Bei den „Messmethoden" nimmt nun, nach einer ausführlicheren Darstellung der atmosphärischen Refraktion, die Satellitengeodäsie einen führenden Platz ein, wobei dem „Global Positioning System" (GPS) eine besondere Rolle zukommt. Die geodätische Astronomie schließt nun die „Very Long Baseline Interferometry" ein, und bei der Gravimetrie werden die Entwicklungen in der absoluten und in der flugzeuggestützten Schweremessung berücksichtigt. Die terrestrischen geodätischen Messungen konzentrieren sich auf die kombinierte Winkel- und Streckenmessung über kürzere Entfernungen und auf das Nivellement. Bei den „Auswertemethoden" ist die frühere Unterteilung in astrogeodätische, gravimetrische, satellitengestützte und kombinier-
vi
Vorwort
te Verfahren aufgegeben worden. Einem einführenden Abschnitt über das residuale Schwerefeld folgen nun die Blöcke der Positionsbestimmung und der Schwerefeldmodellierung sowie ein Abschnitt zur gemeinsamen Modellbildung. Die Positionsbestimmung geht vom dreidimensionalen Modell aus, die klassische Vorgehensweise bei der Lage- und Höhenbestimmung wird weiterhin kurz beschrieben. Bei der Schwerefeldbestimmung wird stärker auf den Einfluss der Topographie hingewiesen, und es wird klar zwischen der globalen und der lokalen Feldmodellierung unterschieden. Der Kollokation nach kleinsten Quadraten wird ein angemessener Platz eingeräumt. Die letzten beiden Kapitel zeigen die Auswirkung der neuen geodätischen Entwicklungen auf die Grundlagenvermessung und die Geowissenschaften. Im Kapitel über die „Geodätischen und gravimetrischen Netze" spiegelt sich insbesondere der derzeitige Übergang von den klassischen Lage- und Höhennetzen zu dreidimensionalen Referenznetzen sowie das Vordringen absoluter Schweremesstechniken. Unter der Überschrift „Aufbau und Dynamik der Erde" wird nach einer Einführung in das geophysikalische Erdmodell der geodätische Beitrag zur Geodynamikforschung herausgestellt. Der Text ist wiederum durch zahlreiche weitgehend erneuerte Abbildungen erläutert, welche neben grundsätzlichen Prinzipien auch moderne Messsysteme und aktuelle geodätische Ergebnisse darstellen. Das umfangreiche Literaturverzeichnis erleichtert das vertiefte Studium von speziellen Fragen. Das Buch wendet sich vor allem an die Studierenden des Vermessungs- und Geoinformationswesens, aber auch benachbarter Fächer der Ingenieur- und Geowissenschaften. Dem in der Praxis stehenden Vermessungsingenieur bietet es die Gelegenheit, sich über den neuesten Stand der Geodäsie mit seinen erheblichen Auswirkungen auf das Alltagsgeschäft in komprimierter systematischer Form zu informieren und seine Kenntnisse aufzufrischen. Der Inhalt des Buches beruht zu einem erheblichen Teil auf Vorlesungen des Autors an der Universität Hannover und auf Gastvorlesungen an anderen Institutionen. Er dankt den einzelnen Personen und den Organisationen, welche Abbildungen zur Verfügung gestellt haben; entsprechende Hinweise finden sich in den AbbildungsUnterschriften. Die Zeichnungen wurden von cand. geod. Anke Daubner neu angefertigt. Die Kollegen und Mitarbeiter am Institut für Erdmessung der Universität halfen in vielfältiger Weise bei der Erstellung des Manuskripts, Dipl.-Ing. Wolfgang Paech unterstützte den Autor insbesondere bei der Textverarbeitung; für alle diese Hilfe wird gedankt. Die seit nun drei Jahrzehnten bestehende gute Zusammenarbeit mit dem Verlag setzte sich auch bei der Erstellung dieses Buches fort, hierfür geht der Dank des Autors an Dr. Manfred Karbe und die Mitarbeiter bei Walter de Gruyter. Last, but not least danke ich meiner Frau Renate für ihre ständige Ermunterung und ihr Verständnis während des arbeitsreichen letzten Jahres. Hannover, im Oktober 2002
Wolfgang Torge
Inhaltsverzeichnis
1
2
3
Einführung 1.1 Definition der Geodäsie 1.2 Aufgabe der Geodäsie 1.3 Historische Entwicklung der Geodäsie 1.3.1 Das sphärische Erdmodell 1.3.2 Das ellipsoidische Erdmodell 1.3.3 Das Geoid, Gradmessungen und Landesvermessungen 1.3.4 Dreidimensionale Geodäsie 1.3.5 Vierdimensionale Geodäsie 1.4 Organisation der Geodäsie, Literatur 1.4.1 Nationale Organisationen 1.4.2 Internationale Zusammenarbeit 1.4.3 Literatur
. . . .
Bezugssysteme 2.1 Basiseinheiten und Fundamentalkonstanten 2.2 Zeitsysteme 2.2.1 Atomzeit, dynamische Zeit 2.2.2 Sternzeit und Weltzeit 2.3 Internationaler Erdrotationsdienst 2.4 Zälestische Bezugssysteme 2.4.1 Äquatorsystem der sphärischen Astronomie 2.4.2 Präzession und Nutation 2.4.3 Internationales Zälestisches Bezugssystem 2.5 Terrestrisches Bezugssystem 2.5.1 Globales erdfestes geozentrisches System 2.5.2 Polbewegung, Tageslänge, Veränderung des Geozentrums 2.5.3 Internationales Terrestrisches Bezugssystem 2.6 Schwerefeldbezogene Bezugssysteme 2.6.1 Orientierung der örtlichen Lotrichtung 2.6.2 Lokale astronomische Systeme Das Schwerefeld der Erde 3.1 Grundlagen der Schwerefeldtheorie 3.1.1 Gravitation, Gravitationspotential 3.1.2 Gravitation der kugelsymmetrischen Erde 3.1.3 Eigenschaften des Gravitationspotentials 3.1.4 Zentrifugalbeschleunigung, Zentrifugalpotential
. .
1 1 2 4 4 7 9 11 12 12 12 13 14 16 16 18 18 19 22 23 23 26 27 29 29 30 34 36 36 37 42 42 42 44 46 49
vili
Inhaltsverzeichnis
3.2
3.3
3.4
3.5
3.1.5 Schwerebeschleunigung, Schwerepotential Geometrie des Schwerefeldes 3.2.1 Niveauflächen und Lotlinien 3.2.2 Lokale Schwerefelddarstellung, Krümmungen 3.2.3 Natürliche Koordinaten Kugelfunktionsentwicklung des Gravitationspotentials 3.3.1 Entwicklung der reziproken Entfernung 3.3.2 Entwicklung des Gravitationspotentials 3.3.3 Geometrische Interpretation der Kugelflächenfunktionen . . . 3.3.4 Physikalische Interpretation der Kugelfunktionskoeffizienten . Das Geoid 3.4.1 Definition 3.4.2 Der mittlere Meeresspiegel 3.4.3 Das Geoid als Höhenbezugsfläche Zeitliche Schwereänderungen 3.5.1 Gravitationskonstante, Erdrotation 3.5.2 Gezeitenbeschleunigung, Gezeitenpotential 3.5.3 Nicht-gezeitenbedingte Schwereänderungen
51 52 52 54 58 60 60 62 65 66 68 68 69 71 75 75 75 81
4
Das geodätische Erdmodell 4.1 Das Rotationsellipsoid 4.1.1 Parameter und Koordinatensysteme 4.1.2 Krümmung 4.1.3 Räumliche geodätische Koordinaten 4.2 Das Normalschwerefeld 4.2.1 Das Niveauellipsoid, Niveausphäroide 4.2.2 Das Normalschwerefeld des Niveauellipsoids 4.2.3 Geometrie des Normalschwerefeldes 4.3 Geodätische Bezugssysteme
82 82 82 86 89 92 92 93 99 101
5
Messmethoden 5.1 Atmosphärische Refraktion 5.1.1 Grundlagen 5.1.2 Troposphärische Refraktion 5.1.3 Ionosphärische Refraktion 5.2 Satellitenbeobachtungen 5.2.1 Die ungestörte Satellitenbewegung 5.2.2 Die gestörte Satellitenbewegung 5.2.3 Künstliche Erdsatelliten 5.2.4 Messungen von Richtungen, Strecken und Streckenänderungen: Klassische Methoden 5.2.5 Global Positioning System (GPS) 5.2.6 Laserdistanzmessungen 5.2.7 Satellitenaltimetrie
106 106 107 111 113 116 116 119 121 124 127 137 139
5.3
5.4
5.5
6
Inhaltsverzeichnis
ix
5.2.8 Satellite-to-Satellite Tracking, Satelliten-Schweregradiometrie Geodätische Astronomie 5.3.1 Optische Beobachtungsinstrumente 5.3.2 Astronomische Orts-und Azimutbestimmung 5.3.3 Reduktionen 5.3.4 Langbasis-Interferometrie Gravimetrie 5.4.1 Absolute Schweremessungen 5.4.2 Relative Schweremessungen 5.4.3 Schwerebezugssysteme 5.4.4 Schweremessungen auf bewegten Plattformen 5.4.5 Schweregradiometrie 5.4.6 Kontinuierliche Schweremessungen Terrestrische geodätische Messungen 5.5.1 Horizontal-und Zenitwinkelmessungen 5.5.2 Streckenmessungen, Totalstationen 5.5.3 Nivellement 5.5.4 Neigungs-und Dehnungsmessungen
142 144 145 147 150 152 155 155 161 167 169 173 175 179 179 182 188 193
Auswertemethoden 6.1 Residuales Schwerefeld 6.1.1 Störpotential, Höhenanomalie, Geoidhöhe 6.1.2 Schwerestörung, Schwereanomalie, Lotabweichung 6.1.3 Statistische Schwerefeldbeschreibung, Interpolation 6.2 Dreidimensionale Punktbestimmung 6.2.1 Beobachtungsgleichungen 6.2.2 Geodätisches Datum 6.3 Horizontale Punktbestimmung 6.3.1 Ellipsoidische Trigonometrie 6.3.2 Reduktionen auf das Ellipsoid 6.3.3 Berechnungen auf dem Ellipsoid 6.4 Höhenbestimmung 6.4.1 Höhen aus dem geometrischen Nivellement 6.4.2 Trigonometrische Höhen 6.4.3 Höhenbestimmung mit GPS 6.5 Grundlagen der Schwerefeldmodellierung 6.5.1 Die geodätische Randwertaufgabe 6.5.2 Gravitation der Topographie 6.5.3 Schwerereduktionen auf das Geoid 6.5.4 Lagerung und Maßstab von Schwerefeldmodellen 6.6 Globale Schwerefeldmodellierung 6.6.1 Kugelfunktionsentwicklung 6.6.2 Schwerefeldmodelle niederen Grades
195 195 195 197 201 206 206 213 217 218 220 223 226 227 229 231 232 232 236 238 243 245 245 249
χ
Inhaltsverzeichnis
6.7
6.8
6.6.3 Lokale 6.7.1 6.7.2
Schwerefeldmodelle höheren Grades Schwerefeldmodellierung Gravimetrische Geoidhöhen und Lotabweichungen Gravimetrische Höhenanomalien und Oberflächen-Lotabweichungen 6.7.3 Das äußere Schwerefeld 6.7.4 Astrogeodätische Geoid- und Quasigeoidbestimmung Kombinationsmethoden zur Positionsbestimmung und Schwerefeldmodellierung 6.8.1 Erdmodelle und optimale Erdparameter 6.8.2 Kollokation nach kleinsten Quadraten
252 255 256 263 266 267 273 273 275
7
Geodätische und gravimetrische Netze 7.1 Lagenetze 7.1.1 Anlage und Vermessung 7.1.2 Berechnung und Orientierung 7.2 Höhennetze 7.3 Dreidimensionale Netze 7.3.1 Globale und kontinentale Netze 7.3.2 Nationale Netze 7.4 Schwerenetze
279 279 280 282 290 293 294 297 301
8
Aufbau und Dynamik der Erde 8.1 Das geophysikalische Erdmodell 8.2 Die oberen Schichten der Erde 8.2.1 Aufbau der Erdkruste und des oberen Mantels 8.2.2 Isostasie 8.2.3 Plattentektonik 8.2.4 Interpretation des Schwerefeldes 8.3 Geodäsie und rezente Geodynamik 8.3.1 Änderungen der Erdrotation 8.3.2 Meeresspiegeländerungen 8.3.3 Rezente Krustenbewegungen 8.3.4 Zeitliche Schwereänderungen
304 304 307 308 309 313 315 320 320 322 325 329
8.3.5
Erdgezeiten
332
Literaturverzeichnis
339
Index
361
1
1.1
Einführung
Definition der Geodäsie
Die Geodäsie (γη = Erde, δαιω = ich teile) ist nach der klassischen Definition von Friedrich Robert Helmert (1880) die Wissenschaft von der Ausmessung und Abbildung der Erdoberfläche". Diese Definition hat im Grundsatz bis heute Gültigkeit behalten. Die Oberfläche der Erde ist wesentlich von der Schwerkraft geprägt, und auf das Erdschwerefeld beziehen sich auch die meisten geodätischen Messungen. Damit schließt die obige Definition die Bestimmung des äußeren Schwerefeldes der Erde ein. Anwendungen in der Meeres- und der Weltraumforschung haben zu einer Erweiterung dieser Definition geführt. So beteiligt sich die Geodäsie heute in Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen auch an der Bestimmung des Meeresbodens und der Oberflächen und Schwerefelder anderer Himmelskörper (Mond: lunare Geodäsie, Planeten: planetare Geodäsie). Schließlich muss die klassische Definition auch die zeitlichen Veränderungen der Erdoberfläche und des Schwerefeldes einschließen. Mit dieser erweiterten Definition zählt die Geodäsie sowohl zu den Geowissenschaften als auch zu den Ingenieurwissenschaften mit Einschluss der Navigation und der Geomatik (ζ. B. Geodäsie 2000++, 1998). Die Geodäsie lässt sich in die Bereiche Erdmessung, Landesvermessung und Einzelvermessungen unterteilen. Der Erdmessung (globale Geodäsie) obliegt es, die Form und Größe der Erde, ihre Orientierung im Raum und ihr äußeres Schwerefeld zu bestimmen. Die Landesvermessung erfasst die Oberfläche und das Schwerefeld einer bestimmten Region (Land, Kontinent). Hierbei muss die Krümmung und das Schwerefeld der Erde berücksichtigt werden. Durch die Einzelvermessungen (topographische Vermessungen, Katastervermessungen, Ingenieurvermessungen) werden die Detailformen der Erdoberfläche ermittelt. Krümmung und Schwerefeld der Erde können bei diesen lokalen Anwendungen meist vernachlässigt werden. Zwischen der Erdmessung, der Landesvermessung und den Einzelvermessungen bestehen enge Wechselwirkungen. Die Landesvermessungen schließen an die von der Erdmessung eingerichteten Bezugssysteme (globale Netze) an und übernehmen die Parameter für die Figur und das Schwerefeld der Erde, andererseits tragen die Ergebnisse der Landesvermessungen zur Erdmessung bei. Die Einzelvermessungen wiederum werden i. Allg. an die Festpunktfelder der Landesvermessung angeschlossen. Sie dienen insbesondere der Entwicklung von Landeskarten werken, dem Aufbau von Liegenschaftskatastern und Geoinformationssystemen sowie der Lösung vermessungstechnischer Aufgaben bei Ingenieurprojekten. Mess- und Aus wertemethoden der Landesvermessung entsprechen heute weitgehend denen der Erdmessung, dabei spielen geodätische Raumverfahren eine herausragende Rolle. In zunehmendem Maße werden diese Verfahren auch bei den Einzelvermessungen eingesetzt, was u. a. eine verbesserte Kenntnis des Schwerefeldes auch bei lokalen Anwendungen erfordert.
2
1 Einführung
Der im englischen und französischen Sprachraum üblichen Einteilung folgend, verstehen wir im folgenden unter dem Begriff „Geodäsie" (geodesy, la géodésie, „höhere Geodäsie" nach Helmert) nur die Erdmessung und die Landesvermessung. Unter dem Begriff „Vermessungskunde" (surveying, la topométrie, „niedere Geodäsie" nach Helmert) fassen wir die Einzelvermessungen zusammen. In diesem Band wird nur die Geodäsie in dem oben erläuterten engeren Sinn behandelt und auf den Planeten Erde beschränkt. Von den zahlreichen Lehrbüchern zur Vermessungskunde nennen wir KÄHMEN (1997) und BANNISTER et al. (1998). Zur lunaren und planetaren Geodäsie verweisen wir auf NEREM (1995a); numerische Werte für astrometrische und geodätische Parameter finden sich bei YODER (1995).
1.2 Aufgabe der Geodäsie Ausgehend von der Definition [1.1] lässt sich die Aufgabe der Geodäsie folgendermaßen beschreiben: „Die Geodäsie hat die Aufgabe, die Figur und das äußere Schwerefeld der Erde und anderer Himmelskörper als Funktion der Zeit aus Beobachtungen auf den Oberflächen und außerhalb dieser Körper zu bestimmen". Dieses geodätische Randwertproblem enthält eine geometrische (Figur der Erde) und eine physikalische (Schwerefeld) Fragestellung, beide sind eng miteinander verknüpft. Unter der Figur der Erde verstehen wir die physische und die mathematische Erdoberfläche sowie ein geodätisches Erdmodell, s. MORITZ (1990). Die physische Erdoberfläche ist die Begrenzung der festen oder flüssigen Massen gegenüber der Atmosphäre, der Meeresboden als Grenzfläche zwischen dem festen Erdkörper und den ozeanischen Wassermassen wird hierbei eingeschlossen. Die unregelmäßig gestaltete Oberfläche der festen Erde (kontinentale und MeeresbodenTopographie) lässt sich nicht durch eine einfache mathematische (analytische) Funktion darstellen, sie wird deshalb punktweise durch die Koordinaten von Festpunkten beschrieben. Gestützt auf ein hinreichend dichtes Festpunktfeld kann die Detailstruktur dieser Fläche dann aus topographischen und hydrographischen Vermessungen durch Interpolation bestimmt werden (KÄHMEN 1997, HAKE et al. 2002). Die Meeresoberfläche (70 % der Erdoberfläche) lässt sich dagegen leichter beschreiben. Vernachlässigen wir den Einfluss von Meeresströmungen und anderer „Störungen", so bildet die Oberfläche der Ozeane den Teil einer Niveau- oder Äquipotentialfläche des Erdschwerefeldes (Fläche konstanten Schwerepotentials). Wir können uns diese Fläche unter den Kontinenten fortgesetzt denken und bezeichnen sie dann als mathematische Erdfigur, sie kann durch eine Gleichgewichtsbedingung beschrieben werden (HELMERT 1880/84). J . B . LISTING (1873) hat für diese Niveaufläche den Namen Geoid eingeführt. Der große Mathematiker und Geodät Carl Friedrich Gauß (1777-1855) weist bereits auf diese Fläche hin: „Was wir im geometrischen Sinn Oberfläche der Erde nennen, ist nichts anderes als
1.2 Aufgabe der Geodäsie
3
diejenige Fläche, welche überall die Richtung der Schwere senkrecht schneidet, und von der die Oberfläche des Weltmeeres einen Theil ausmacht" (C. F. Gauß: „Bestimmung des Breitenunterschiedes zwischen den Sternwarten von Göttingen und Altona", Göttingen 1828), siehe auch MORITZ (1977).
Die Beschreibung des äußeren Schwerefeldes einschließlich des Geoids stellt den physikalischen Aspekt der Aufgabe der Geodäsie dar. Dabei werden die Erdoberfläche und das Geoid als Randflächen im Erdschwerefeld betrachtet, auf dieses Feld beziehen sich die geodätischen Beobachtungen. Die analytische Modellierung des äußeren Schwerefeldes der Erde (oder anderer Himmelskörper) basiert auf dem Gravitationsgesetz und der durch die Rotation verursachten Zentrifugalbeschleunigung, dabei wird eine große Zahl von Modellparametem benötigt. Eine geometrische Darstellung gelingt durch die Schar der vollständig oder teilweise (wie das Geoid) außerhalb der physischen Erdoberfläche verlaufenden Niveauflächen (Abb. 1.1 ).
MEERESBODEN
FESTE ERDE ELLIPSOID
Abb. 1.1. Physische Erdoberfläche, Geoid und Ellipsoid Bezugssysteme (Referenzsysteme) werden benötigt, um die Orientierung der Erde (und anderer Himmelskörper) im Raum (zälestische Bezugssysteme) sowie die Geometrie ihrer Oberflächen und ihre Schwerefelder (terrestrische Bezugssysteme) zu beschreiben. Definition und Realisierung dieser Systeme stellt eine wesentliche Aufgabe der globalen Geodäsie dar, hierbei ist die Benutzung dreidimensionaler kartesischer Koordinaten im Euklidischen Raum angemessen. Die Anforderungen der Praxis führen zur Einführung von Bezugsflächen, wobei zwischen gekrümmten Flächenkoordinaten für die horizontale Positionierung und Höhen über einer Höhen-Nullfläche für die vertikale Positionierung unterschieden wird. Zur Beschreibung der horizontalen Lage ist ein an den Polen abgeplattetes Rotationsellipsoid (einfaches Bildungsgesetz) besonders gut geeignet, es wird deshalb in der Landesvermessung als Bezugsfläche benutzt. Bei den Einzelvermessungen reicht eine Horizontalebene als Bezugsfläche meist aus. Das Geoid (oder eine andere im Erdschwerefeld definierte Fläche) eignet sich wegen seiner physikalischen Bedeutung als Höhenbezugsfläche. Ein geodätisches Erdmoclell (Normalerde) wird in zahlreichen Anwendungen benötigt. Realisiert wird es durch das mittlere Erclellipsoich welches die Geometrie (Geoid) und das äußere
4
1 Einführung
Schwerefeld optimal approximiert. Abb. 1.1 zeigt die gegenseitige Zuordnung der von der Geodäsie zu bestimmenden Flächen. Der Erdkörper und sein Schwerefeld unterliegen zeitlichen Veränderungen säkularer, periodischer und abrupter Art, welche global, regional und lokal auftreten können. Diese Veränderungen beeinflussen auch die Orientierung der Erde im Raum. Die heutigen geodätischen Mess- und Auswerteverfahren können diese Veränderungen mit hoher Genauigkeit erfassen. Sollen zeitunabhängige Resultate erhalten werden, so sind die geodätischen Beobachtungen von den zeitlichen Änderungen zu befreien. Andererseits trägt die Geodäsie mit der Bestimmung dieser Veränderungen zur Erforschung der Kinematik und Dynamik des Erdkörpers bei. Figur und Schwerefeld der Erde müssen also als zeitliche Variable behandelt werden: „vierdimensionale
1.3
Geodäsie"
( M A T H E R 1973).
Historische Entwicklung der Geodäsie
Die in [1.2] formulierte Aufgabenstellung der Geodäsie entwickelte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Frage nach der Gestalt der Erde wurde jedoch bereits im Altertum aufgeworfen; die Geodäsie zählt mit der Astronomie und der Geographie zu den ältesten Wissenschaften, welche sich mit dem Planeten Erde befassen. Nachdem zunächst die Kugel als Erdmodell diente [1.3.1], setzte sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das an den Polen abgeplattete Rotationsellipsoid als Erdfigur durch [1.3.2]. Die Bedeutung des Schwerefeldes wurde im 19. Jahrhundert erkannt, und das Geoid wurde als Randfläche im Schwerefeld eingeführt [1.3.3]. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte mit Hilfe der Satellitentechnik das dreidimensionale Konzept der Geodäsie realisiert werden [1.3.4], Schließlich erforderte die drastische Genauigkeitssteigerung der geodätischen Messungen die Berücksichtigung zeitlicher Veränderungen, was zum Konzept der vierdimensionalen Geodäsie führte [1.3.5]. Umfassende Darstellungen zur Geschichte der Geodäsie finden sich u. a. bei P E R R I E R ( 1 9 4 9 ) u n d BIALAS ( 1 9 8 2 ) .
1.3.1
Das sphärische Erdmodell
Im Altertum herrschten unterschiedliche Meinungen über die Erdgestalt, ζ. B. die Vorstellung der vom Okeanos umflossenen Erdscheibe (Homers Ilias ~ 800 v. Chr., Thaies von Milet 600 v. Chr.). Aus ästhetischen Gesichtspunkten schlugen Pythagoras 580 - 500 v. Chr.) und seine Schule eine kugelförmige Erde vor. Zur Zeit von Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) war das sphärische Erdmodell allgemein anerkannt und durch Beobachtungen gestützt. Hierzu zählte der bei Mondfinsternissen sichtbare kreisförmige Schatten der Erde und das allmähliche Auftauchen eines Schiffes am Horizont. In China wurde die Kugelgestalt der Erde im ersten Jahrhundert n. Chr. erkannt. Begründer der Geodäsie ist der Alexandriner Eratosthenes (276 - 1 9 5 ν. Chr.), welcher unter Annahme eines sphärischen Erdmodells den Erdradius aus Messungen herleitete (SCHWARZ 1975). Das Prinzip der von ihm entwickelten Gradmessungsmethode wurde bis in die Neuzeit angewandt. Dabei wird durch geodätische Messungen die
1.3 Historische Entwicklung der Geodäsie
5
Länge AG eines Meridianbogens bestimmt, während astronomische Beobachtungen den dazu gehörenden Zentriwinkel ψ liefern (Abb. 1.2). Der Erdradius ergibt sich dann AG R = — · ψ
(1.1)
Eratosthenes fand, dass zur Zeit der Sommersonnenwende die Sonnenstrahlen in Syene (dem heutigen Assuan) senkrecht in einen Brunnen fielen, während sie in dem genähert auf demselben Meridian liegenden Alexandria mit der Lotrichtung einen
SONNE
SYENE
S
Abb. 1.2. Gradmessung des Eratosthenes
Winkel bildeten. Aus der Schattenlänge eines senkrechten Stabes („Gnomon") in einer Halbkugelschale („Skaphe") bestimmte er diesen Winkel zu 1/50 des Kreisumfangs, d.h. ψ = 7° 12'. Die Entfernung zwischen Syene und Alexandria schätzte er zu 5000 Stadien ab, diesem Wert liegen die Katastervermessungen der „Bematisten" (Schrittzähler) zugrunde. Wird für die Länge eines ägyptischen Stadiums 148,5 m angenommen, so ergibt sich für den Erdradius ein Wert von 5 909 km, das Ergebnis weicht also nur um —7 % vom Radius einer mittleren Erdkugel (6 371 km) ab. Eine weitere Bestimmung aus dem Altertum wird Posidonius ( 1 3 5 - 5 1 v. Chr. ) zugeschrieben. Er benutzte den Meridianbogen zwischen Alexandria und Rhodos und stellte fest, dass der Stern Canopus in Rhodos den Horizont nicht überschritt, während er in Alexandria in einer Höhe von 7° 30' kulmimierte. Dieser Wert entspricht wiederum dem Zentriwinkel des Meridianbogens. Im Mittelalter wurde in Europa die Frage der Erdfigur nicht weiter verfolgt. Chinesische Quellen nennen eine astrogeodätische Vermessung zwischen 17° und 40° Breite, die von den Astronomen Nankung Yüeh und I-Hsing um 725 n. Chr. zur Bestimmung des Meridianbogens durchgeführt wurde. Von den Arabern ist eine unter dem Kalifat von Al-Mánrím ausgeführte Gradmessung ( ~ 827 n.Chr.) überliefert, bei der nordwestlich Bagdad ein Gradbogen von I o Breitendifferenz direkt mit Seilen gemessen
6
1 Einführung
wurde. Zu Beginn der Neuzeit beobachtete der französische Arzt Fernel (1525) die geographischen Breiten von Paris und Amiens mit einem Quadranten, die entspechende Entfernung berechnete er aus der Anzahl der Umdrehungen eines Wagenrades. Die letzten noch von der Kugelgestalt der Erde ausgehenden Gradmessungen sind durch wesentliche Fortschritte in der Instrumententechnik (1611, Keplersches Fernrohr) und in der Methodik gekennzeichnet. Nach ersten Anwendungen der Triangulation durch Gemma Frisáis ( 1 5 0 8 - 1555) in den Niederlanden und durch Tycho Brahe (1546-1601) in Dänemark führte der Holländer Willebrord Snellius (1580-1626) 1615 eine Triangulation zur Bestimmung des Gradbogens zwischen Bergen op Zoom und Alkmaar durch. Damit wurde die bisherige ungenaue Schätzung bzw. direkte Messung der Länge eines Gradbogens durch ein indirektes Verfahren ersetzt. Die Winkel des Dreiecksnetzes werden hierbei mit hoher Präzision gemessen, und der Maßstab wird aus der genauen Vermessung kurzer Grundlinien abgeleitet. Nach entsprechender Reduktion der Beobachtungen auf den Meridian lässt sich dann die Gradbogenlänge mit hoher Genauigkeit ableiten. Die direkte Längenmessung mit Hilfe der Messkette wurde nochmals von Norwood bei einer Gradmessung zwischen London und York (1633-1635) angewandt. Die Messung gegenseitiger Zenitwinkel stellt eine andere Methode zur Bestimmung des Zentriwinkels zwischen den Endpunkten eines Meridianbogens dar. Sie wurde von den italienischen Jesuitenpatem Grimaldi und Riccioli 1645 zwischen Bologna und Modena angewandt (Abb. 1.3). Der Zentriwinkel berechnet sich dabei aus
Abb. 1.3. Zentriwinkel und gegenseitige Zenitwinkel den in P\ und ΡΊ beobachteten Zenitwinkeln ψ =ζι+ζι-π.
und Z2 nach (1.2)
Wegen der nicht mit hinreichender Genauigkeit erfassbaren Krümmung der Lichtstrahlen in der Atmosphäre (Refraktionsanomalien) liefert dieses Verfahren keine zufriedenstellenden Ergebnisse.
1.3 Historische Entwicklung der Geodäsie
7
Durch die Iniative der 1666 in Paris gegründeten Akademie der Wissenschaften übernahm Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert die führende Rolle in der Geodäsie. Der französische Abbé J. Picard führte 1669/1670 im Meridian von Paris zwischen Malvoisine und Amiens eine Gradmessung mit Hilfe einer Triangulation durch, er verwendete dabei erstmals ein Fernrohr mit Fadenkreuz. Der von ihm bestimmte Wert für den Erdradius (Abweichung + 0 , 0 1 %) diente Newton bei der Überprüfung des von ihm 1665/66 formulierten Gravitationsgesetzes.
1.3.2
Das ellipsoidische Erdmodell
Im 16. und 17. Jahrhundert kamen aus der Astronomie und der Physik neue Beobachtungen und Ideen, welche die Vorstellungen von der Figur der Erde und ihrer Bewegung im Raum entscheidend beeinflussten. N. Kopernikus (1473 - 1 5 4 3 ) vollzieht den Übergang vom geozentrischen Weltsystem des Ptolemäus zum heliozentrischen System (1543: „De revolutionibus orbium coelestium"), welches bereits Aristarch von Samos 3 1 0 - 2 5 0 v. Chr.) postuliert hatte. J. Kepler (1571 - 1630) findet die Gesetze der Planetenbewegungen (1609: „Astronomia nova...", 1619: „Harmonices mundi"), und Galileo Galilei ( 1 5 6 4 - 1642) entwickelt die Grundlagen der Mechanik (Fallgesetz, Pendelgesetz). 1666 beobachtet der Astronom / . D. Cassini die Abplattung des Jupiter an den Polen. Der Astronom J. Richer findet 1672/73 in Cayenne anlässlich einer Expedition zur Bestimmung der Marsparallaxe, dass er die Länge eines in Paris justierten Sekundenpendels zu verkürzen hat, um wieder Sekundenschwingungen zu erhalten. Aus dieser Feststellung kann man auf Grund des Pendelgesetzes auf eine Zunahme der Schwerkraft vom Äquator zu den Polen schließen. E. Halley bestätigt dieses Resultat, als er Pendelmessungen in London und St. Helena ( 1 6 7 7 - 1678) miteinander vergleicht. Aufbauend auf diesen Beobachtungen und seinen eigenen theoretischen Arbeiten zur Gravitation und zur Hydrostatik entwickelt Isaac Newton ( 1 6 4 3 - 1727) ein physikalisch begründetes Erdmodell (1687: „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica"). Auf der Grundlage des Gravitationsgesetzes erhält er ein Rotationsellipsoid als Gleichgewichtsfigur für den homogenen, flüssigen und rotierenden Erdkörper. Als polare Abplattung
(.a = große Halbachse, b = kleine Halbachse des Ellipsoids) ergibt sich dabei 1/230. Gleichzeitig postuliert Newton eine Zunahme der Schwerebeschleunigung vom Äquator zu den Polen mit sin 2 φ (φ = geographische Breite). Nachdem er das Prinzip der Pendeluhr und das Zentrifugalgesetz entwickelt hat, berechnet der holländische Physiker Christian Huygens ( 1 6 2 9 - 1 6 9 5 ) ebenfalls ein an den Polen abgeplattetes Erdmodell („Discours de la Cause de la Pesanteur", 1690). Indem er den Ursprung der Erdanziehungskraft in den Erdmittelpunkt verlegt, gelangt er zu einer rotationssymmetrischen Gleichgewichtsfigur mit einer Meridiankurve 4. Ordnung und der Abplattung 1/576.
8
1 Einführung
Zur Überprüfung der vorgeschlagenen ellipsoidischen Erdmodelle wurden Gradmessungen in verschiedenen Breiten notwendig. Falls eine Polabplattung vorliegt, sollte die Länge eines l°-Bogens (Meridianbogenlänge für eine Breitendifferenz von I o ) vom Äquator ausgehend polwärts zunehmen. Die ellipsoidischen Parameter a, b oder a, f lassen sich dann aus zwei Gradmessungen in verschiedenen Breiten berechnen. Wir unterscheiden Gradmessungen längs eines ellipsoidischen Meridians (Breitengradmessung) und längs eines Parallelkreises (Längengradmessung) sowie Gradmessungen schräg zum Meridian. Bei der Berechnung einer Breitengradmessung (Abb. 1.4) werden aus den beobachteten geographischen Breiten φ\, φο, φ[ und φ'Ί die Winkel Αφ = φο — φ\ und Αφ' = φ'Ί — φ\ gebildet. Die dazu gehörenden Meridianbögen AG und AG' wer-
Abb. 1.4. Breitengradmessung
den aus Triangulationen abgeleitet. Bei kurzen Bögen kann man die Meridianellipse durch den Schmiegungskreis mit dem für die Mittelbreite φ = + φ2) geltenden Meridiankrümmungsradius M = M(φ) ersetzen, welcher eine Funktion der Ellipsoidparameter a, / ist. Aus AG = Μ Αφ und AG' = Μ' Αφ' lassen sich a und / berechnen, s. [4.1.2], Die Abplattung wird umso genauer erhalten, je größer die Breitendifferenz φ' — φ ist, die Genauigkeit der großen Halbachse hängt insbesondere von der Länge der Meridianbögen ab. Längengradmessungen lassen sich mit entsprechenden Beziehungen zwischen den gemessenen Parallelkreisbögen und den an den Bogenendpunkten beobachteten geographischen Längen auswerten. Schräg zum Meridian angelegte Gradmessungen erfordern Azimutbestimmungen zur Reduktion auf den Meridian. Erste Auswertungen älterer Gradmessungen (Snellius, Picard u. a.) führten zu einem an den Polen verlängerten Erdmodell. Das gleiche Ergebnis zeigte die Ausdehnung des Picardschen Bogens nach Norden (Dünkirchen) und Süden (Collioure) auf eine Breitendifferenz von 8°20' (./. D. La Hire und / . Cassini, 1683 - 1 7 1 8 ) . Die Auswertung von zwei Teilbögen führte auf eine „negative" Abplattung von —1/95, was wohl hauptsächlich auf Fehler in den astronomischen Breiten zurückzuführen ist. Der sich anschließende heftige Streit zwischen den Anhängern Newtons und der Cassinis um die Erdfigur wurde durch zwei weitere von der französischen Akademie der Wissenschaften veranlasste Gradmessungen in hoher und niedriger Breite entschieden.
1.3 Historische Entwicklung der Geodäsie
9
An der Expedition nach Lappland (1736/37) nahmen u. a. Maupertuis und Clairaut teil, die Resultate dieser Gradmessung (mittlere Breite 66° 20', Breitenunterschied 57,5') bestätigten die Polabplattung. In Verbindung mit der durch Cassini de Thury und La Caille 1739 - 1 7 4 0 überprüften Gradmessung im Meridian von Paris ergab sich ein Abplattungswert von 1/304. Eine zweite Expedition ( 1735 - 1 7 4 4 ) führte nach Peru (Gebiet des heutigen Ecuador), wo von Bouguer, La Condamine und Godin in einer mittleren Breite von 1°31' S ein Bogen von 3°7' Amplitude bestimmt wurde. Die Kombination mit dem Lapplandbogen führte zu einer Abplattung von 1/210. Damit war die Abplattung der Erde an den Polen durch geodätische Messungen nachgewiesen. Eine Synthese zwischen der physikalischen und der geometrischen Begründung der ellipsoidischen Erdgestalt gelangA. C. Clairaut {1713-1765). Das nach ihm benannte Theorem (1743) gestattet die Berechnung der Abplattung aus zwei Schweremessungen in verschiedenen Breiten, s. [4.2.2]. Auf der Basis dieses Theorems konnte P.-S. Laplace (1799) aus nur 15 Schwerewerten eine Abplattung von 1/330 berechnen. Einer erweiterten Anwendung dieser „gravimetrischen Methode" stand bis zum 20. Jahrhundert der Mangel an genauen und gut über die Erde verteilten Schwerewerten und die Schwierigkeit bei der Reduktion der Daten auf das Ellipsoid entgegen. Nachdem das Rotationsellipsoid als Erdmodell allgemein akzeptiert war, wurden bis in das 20. Jahrhundert hinein zahlreiche Gradmessungen ausgeführt, in den meisten Fällen dienten sie auch als Grundlage für eine Landesvermessung, s. [1.3.3]. So wurde der Meridianbogen durch Paris durch Cassini de Thury erweitert und in die erste Triangulation von Frankreich (1733 - 1 7 5 0 ) einbezogen. Eine geodätische Verbindung zwischen den Sternwarten in Paris und Greenwich war der Ausgangspunkt für die Landesvermessung von Großbritannien, wobei der Meridianbogen durch Paris schließlich bis zu den Shetland-Inseln ausgedehnt wurde. Besondere Bedeutung erlangte die im Auftrage der französischen Nationalversammlung von Delambre und Méchain im Meridian von Paris zwischen Barcelona und Dünkirchen durchgeführte Gradmessung (1792-1798), die der Definition des Meters als natürlichem Längenmaß dienen sollte. Die Kombination dieses Bogens mit der peruanischen Gradmessung lieferte eine Ellipsoidabplattung von 1/334. 1.3.3
Das Geoid, Gradmessungen und Landesvermessungen
Wie bereits P.S. Laplace (1802), C. F. Gauß (1828), F. W. Bessel (1837) und andere erkannt hatten, ist die Annahme eines ellipsoidischen Erdmodells bei genügend hoher Messgenauigkeit nicht mehr haltbar. Es können dann nämlich die Abweichungen zwischen der physikalischen Lotrichtung, auf welche sich die Messungen beziehen, und der Ellipsoidnormalen nicht mehr vernachlässigt werden; diese Differenz wird als Lotabweichung bezeichnet. Bei der Ausgleichung verschiedener Gradmessungen zur Bestimmung der Ellipsoidparameter traten Widersprüche auf, welche die Beobachtungsfehler weit überschritten. Diese Erkenntnisse führten zu einer verfeinerten Definition der „Figur der Erde" durch Gauß und Bessel, wobei jetzt klar zwischen der physischen Oberfläche der Erde, dem Geoid als der mathematischen Erdfigur und dem Ellipsoid als einer das Geoid
10
1 Einführung
approximierenden Bezugsfläche unterschieden wurde, s. [1.2], Mit der Definition der Geodäsie [ 1.1 ] vollzog dann F. R. Helmert den Übergang zur heutigen Auffassung von der Figur der Erde (MORITZ 1990). Friedrich Robert Helmert ( 1 8 4 3 - 1917), einer der bedeutendsten Geodäten der Neuzeit, war Professor der Geodäsie an der Technischen Hochschule Aachen und später Direktor des Preußischen Geodätischen Instituts in Potsdam und des Zentralbüros der „Internationalen Erdmessung". Durch seine Arbeiten hat die Geodäsie entscheidende Impulse erhalten, welche bis heute wirksam sind. In seiner grundlegenden Monographie (1880/1884) begründete Helmert die Geodäsie als eigenständige Wissenschaft (WOLF 1993).
Trotz der in den Ausgleichungen auftretenden Widersprüche wurden zunächst die Gradmessungen weiterhin auf der Grundlage des ellipsoidischen Erdmodells berechnet. Dabei wurden die physikalisch bedingten und damit systematisch wirkenden Lotabweichungen wie zufallsbedingte Fehler behandelt. Dieser Ansatz lieferte dementsprechend nur Parameter für Ellipsoide, welche das Geoid im Bereich der Dreiecksketten bestmöglich approximieren: bestanschließende Ellipsoide. Viele der so berechneten Ellipsoide dienten als Bezugsfläche für die im 19. Jahrhundert beginnenden Landesvermessungen: konventionelle Ellipsoide. Die Gradmessungen wurden auf diese Weise in zunehmendem Maße Bestandteil der Landesvermessungen. Durch die Triangulationen der Landesvermessungen wurden Festpunktfelder insbesondere für die Kartenherstellung und den Aufbau von Liegenschaftskatastern eingerichtet, die bis heute die Grundlage für die meisten nationalen geodätischen Bezugssysteme bilden (TORGE 1997). Schweremessungen wurden bei den meisten Gradmessungen und in besonderen Messkampagnen durchgeführt, besonders nach der Gründung der „Mitteleuropäischen Gradmessung", s. [1.4.2], Wir nennen hier den historisch wichtigen Gradbogen von Gauß (Gradmessung zwischen Göttingen und Altona 1821 - 1824, Erfindung des Heliotrop, Ausgleichung nach der Methode der kleinsten Quadrate) und seine Erweiterung zur Triangulation des Königreiches Hannover (bis 1844). Diese Gradmessung war von dem dänischen Astronomen H. Chr. Schumacher initiiert worden, sie sollte Teil eines mitteleuropäischen Gradbogens zwischen Dänemark und Bayern (Triangulation durch /. G. Soldner, 1808 -1828) werden und sich dann weiter nach Süden erstrecken. Bessel und Baeyer führten eine Gradmessung schräg zum Meridian in Ostpreußen aus(1831 1838), die die russischen Triangulationen (W. Struve, C. Fenner) mit den preußischen und dänischen Dreiecksnetzen und schließlich mit den französisch-britischen Gradmessungen im Meridian von Paris verband. Über mehr als 100 Jahre wurden durch die Verbindung nationaler Dreiecksketten eine Anzahl langer Gradbögen aufgebaut. Einige dieser Bögen wurden erst um 1950 und andere überhaupt nicht fertiggestellt, was durch das Verdrängen der klassischen Methoden durch Satellitentechniken bedingt ist. Von den neueren Gradmessungen großer Ausdehnung nennen wir den amerikanischen Meridianbogen (Alaska-Feuerland), den nordamerikanischen Längengradbogen in 30° Breite zwischen dem Atlantik und dem Pazifik, den westeuropäisch-afrikanischen Bogen im Meridian von Paris (Shetlands-Algerien), den Eismeer-Mittelmeer-Bogen (Hammerfest - Kreta) und den damit verbundenen afrikanischen Meridianbogen in
1.3 Historische Entwicklung der Geodäsie
11
30° östlicher Länge (Kairo-Kapstadt), die europäisch-asiatischen Längengradmessungen in 48° (Brest-Astrachan) und 52° (Irland - Ural) Breite sowie die Breitenund Längengradmessungen in Indien (G. Everest, W. Lambdon). Im Rahmen der nationalen Landesvermessungen wurden seit etwa 1880 Höhennetze durch geometrische Nivellements eingerichtet, diese vertikalen Kontrollnetze entstanden aber unabhängig von den Lagenetzen. Die Höhen wurden auf eine in der Nähe des Geoids verlaufende Niveaufläche bezogen, welche durch den an einem Meerespegel bestimmten mittleren Meeresspiegel definiert war. Das Geoid wurde bei dieser getrennten Behandlung von (horizontaler) Lage und Höhe nicht benötigt, spielte aber eine Rolle als geometrische Darstellung des Schwerefeldes. Eine wesentliche Voraussetzung zur Auswertung von großräumigen Gradmessungen, Triangulationen und Nivellements war die Standardisierung der Maßeinheiten. Nachdem das Meter als Längeneinheit in Frankreich bereits Ende des 18. Jahrhunderts eingeführt worden war, beschlossen auf der Internationalen Meterkonvention in Paris 1875 eine größere Zahl von Ländern eine verfeinerte Definition und die Einführung des Meters. Auf der Internationalen Meridiankonferenz (Washington, DC, 1884) wurde auf Grund einer Empfehlung der „Europäischen Gradmessung" der Meridian von Greenwich als Ausgangsmeridian für die Zählung der geographischen Längen und die hierauf bezogene Weltzeit mit dem mittleren Sonnentag als Zeiteinheit eingeführt.
1.3.4
Dreidimensionale Geodäsie
Das dreidimensionale Konzept der Geodäsie besteht aus der gemeinsamen Behandlung von horizontaler und vertikaler Positionsbestimmung in einem mathematischen Modell. Dieser Weg war von BRUNS (1878) mit dem Vorschlag angeregt worden, die Oberfläche der Erde punktweise durch ein räumliches Polyeder zusammen mit den äußeren Niveauflächen zu bestimmen. In der Praxis wurden dreidimensionale Berechnungen jedoch zunächst nicht durchgeführt. Dies lag einerseits an der Unsicherheit der trigonometrisch über größere Distanzen bestimmten Höhen, andererseits am Fehlen der zur Reduktion des Nivellements benötigten Höhen des Geoids über dem Ellipsoid. D a s K o n z e p t d e r d r e i d i m e n s i o n a l e n G e o d ä s i e w u r d e v o n MARUSSI ( 1 9 4 9 ) u n d
HOTINE (1969) wieder aufgegriffen, und Molodenski zeigte 1945, dass die physische Oberfläche und das äußere Schwerefeld der Erde ohne Kenntnis des Geoids allein aus Messungen an der Erdoberfläche bestimmt werden können, MOLODENSKI (1958). Väisälä führte 1946 die Stellartriangulation mit Hilfe von hoch fliegenden Ballonen als einen ersten Schritt zur Realisierung des dreidimensionalen Konzepts ein. In den 1950er und 1960er Jahren folgte dann die elektronische Distanzmessung mit terrestrischen und flugzeuggestützten Methoden. Ein technischer Durchbruch kam mit dem Start des russischen Satelliten Sputnik I (1957). Jetzt konnten Beobachtungen zu erdumlaufenden künstlichen Satelliten genutzt werden, um Festpunkte in einem dreidimensionalen System zu bestimmen und aus der Bahnanalyse Informationen über das Erdschwerefeld abzuleiten. Seit den 1980er Jahren wird das NAVSTAR Global Positioning System (GPS) für geodätische Zwecke benutzt, es dominiert heute die
12
1 Einführung
geodätischen Messtechniken. Die Einbeziehung der klassischen Lage- und Höhenkontrollnetze in das durch Raummethoden aufgebaute globale Bezugssystem ist nun eine aktuelle praktische Aufgabe geworden, wobei der Festlegung des Geoids gegenüber einem globalen Bezugsellipsoid besondere Bedeutung zukommt. 1.3.5
Vierdimensionale Geodäsie
Der Beginn der vierdimensionalen Geodäsie kann auf die Entdeckung der Polbewegung durch F. Küstner (1884-1885) und erste Beobachtungen der Erdgezeiten durch Ε. v. Rebeur-Paschwitz (1889-1893) gelegt werden. Vor rund 100 Jahren begann in Japan und in den USA die geodätische Überwachung von Erdkrustenbewegungen im Zusammenhang mit seismischen Aktivitäten, ausgelöst durch Ereignisse wie das San Francisco-Erdbeben von 1906. In Fennoskandien werden seit den 1880er Jahren Präzisionsnivellements und Meerespegelbeobachtungen herangezogen, um die durch postglaziale Ausgleichsvorgänge verursachte großräumige Landhebung zu bestimmen. Heute werden die Änderungen der Erdrotation und die Bewegungen der tektonischen Platten quasikontinuierlich mit Hilfe globaler Netze beobachtet. Regionale Kontrollnetze sind insbesondere an den Plattengrenzen eingerichtet worden. Großräumige Schwereänderungen lassen sich aus Satellitenbahnanalysen, kleinräumige aus der wiederholten Beobachtung terrestrischer Schwerenetze ableiten. Die Erdgezeiten können mit hoher Genauigkeit mit Hilfe von terrestrischen Daten und aus Satellitenbeobachtungen modelliert werden. Weltweit werden verstärkt große Anstrengungen unternommen, auch mit geodätischen Methoden alle möglichen Arten von geodynamischen Phänomenen zu beobachten u n d zu analysieren (MUELLER u n d ZERBINI 1989).
In Zukunft werden die geodätischen Beobachtungen eine weitere Steigerung der Genauigkeit und der räumlichen und zeitlichen Auflösung erfahren. Längere Beobachtungsreihen werden es dann ermöglichen, langfristige Veränderungen der Erde und ihres Schwerefeldes aufzudecken, was zu entsprechenden Konsequenzen für die Modellbildung in der Erdmessung und der Landesvermessung zwingt. Der vierdimensionale Aspekt der Geodäsie wird in wachsendem Maße bei der Auswertung und Präsentation geodätischer Produkte zu berücksichtigen sein (LAMBECK 1988, BRUNNER und R i z o s 1990).
1.4
Organisation der Geodäsie, Literatur
1.4.1
Nationale Organisationen
Die Aufgaben der Erdmessung lassen sich nur durch die Zusammenarbeit der auf nationaler Ebene tätigen Institutionen mit internationalen Diensten lösen, s. [1.4.2], Universitätsinstitute (Geodäsie, Geophysik, Astronomie, Raumforschung) führen Grundlagenforschung durch. In einigen Ländern sind auch Akademie- oder andere staatliche Institute mit geodätischer Forschung befasst (China: Institut für Geodäsie und Geophysik, Wuhan; Finnland: Finnisches Geodätisches Institut; Deutschland: Deutsches
1.4 Organisation der Geodäsie, Literatur
13
Geodätisches Forschungsinstitut, München, Geoforschungszentrum Potsdam; Russland: Institut für die Physik der Erde, Moskau). Die Landesvermessung wird je nach Struktur des staatlichen Vermessungswesens entweder von Zentralbehörden oder dezentralisierten Institutionen ausgeführt (Australien: Australian Surveying and Land Information Group; Kanada: Geodetic Survey Division, National Resources Canada; China: National Bureau of Surveying and Mapping; Frankreich: Institut Géographique National; Deutschland: Landesvermessungsämter in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Kartographie und Geodäsie BKG; Grossbritannien: Ordnance Survey; Indien: Survey of India; lapan: Geographical Survey Institute; Russland: Federal Service of Geodesy and Cartography; Südafrika: Surveys and Land Information; USA: National Geodetic Survey, National Oceanic and Atmospheric Administration NOAA (früher U.S. Coast and Geodetic Survey). Zusätzlich führen verschiedene nicht-geodätische Institutionen im Rahmen ihrer speziellen Aufgaben auch geodätische Arbeiten aus. Hierzu werden theoretische Grundlagen erarbeitet, Mess-Systeme und Methoden entwickelt, vor allem aber geodätische Daten gesammelt und ausgewertet. Wir nennen speziell die Raumfahrtagenturen (z. B. Goddard Space Flight Center der NASA, Greenbelt, Md.; Centre National d'Etudes Spatiales, Toulouse), Geologische und Hydrographische Dienste (China: State Seismological Bureau; Frankreich: Bureau des Recherches Géographiques et Minières; Deutschland: Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie; Grossbritannien: Institute of Geological Sciences, Institute of Océanographie Sciences; USA: U.S. Geological Survey, U.S. Naval Observatory), Universitäts-Departments (ζ. Β. Jet Propulsion Laboratory, California Institute of Technology, Pasadena, Cal.; Lamont Doherty Earth Observatory, Columbia Univ., Palisades, N.Y.) und militärische Dienststellen (z.B. USA: National Imagery and Mapping Agency NIMA, früher Defense Mapping Agency). Weitere Angaben finden sich im Journal of Geodesy 74 (2000): 1 4 2 - 1 5 4 .
1.4.2
Internationale Zusammenarbeit
Bereits bei Beginn der Gradmessung im Königreich Hannover (1821) äußerte C. F. Gauß den Wunsch nach internationaler Zusammenarbeit. Danach sollte diese Dreieckskette mit den benachbarten Dreiecksnetzen verknüpft werden und so die zentraleuropäischen Observatorien miteinander verbinden. Die organisierte internationale Zusammenarbeit geht auf eine Denkschrift des preußischen Generals,/. J. Baeyer ( 1 7 9 4 - 1885) zurück: „Über die Größe und Figur der Erde, eine Denkschrift zur Begründung einer Mitteleuropäischen Gradmessung" (1861). 1862 wurde die „Mitteleuropäische Gradmessung" als eine der ersten wissenschaftlichen Vereinigungen von Bedeutung in Berlin gegründet, Baeyer wurde ihr erster Präsident (BUSCHMANN 1994). Nach Erweiterung zur „Europäischen Gradmessung" (1867) und zur „Internationalen Erdmessung" („Association Géodésique Internationale", 1886) entfaltete die Assoziation eine fruchtbare Tätigkeit, die besonders durch die Arbeiten von Helmert als Direktor des Zentralbüros geprägt wurde (TORGE 1993a).
14
1 Einführung
Nach dem Erlöschen der „Internationalen Erdmessung" während des ersten Weltkrieges wurde 1919 die international Union of Geodesy and Geophysics" (IUGG) gegründet, dieser „non-governmental" Organisation gehören heute 75 Länder an. Die IUGG setzt sich aus der „International Association of Geodesy" (IAG) und sechs geophysikalischen Assoziationen zusammen. Die IAG wird von einem auf vier Jahre gewählten Präsidenten geleitet, dem ein Vizepräsident und ein Generalsekretär zur Seite stehen. IUGG und IAG treten in Abständen von vier Jahren zu Generalversammlungen zusammen. Daneben veranstaltet die IAG wissenschaftliche Symposien, Workshops und Summer Schools, besondere Bedeutung besitzt die zwischen den Generalversammlungen stattfindende Scientific Assembly. Die IAG gliedert sich nach ihrer Neustrukturierung (SCHWARZ 2000a) ab 2003 in vier Kommissionen: Geometrische Bezugssysteme, Schwerefeld, Erdrotation und Geodynamik, Positionsbestimmung und Anwendungen. Studiengruppen werden zur Lösung begrenzter Probleme für maximal vier Jahre eingerichtet. Die folgenden permanenten Dienste werden von der IAG, teilweise in Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen Organisationen, betrieben: International GPS Service (IGS) mit dem Zentralbüro am Jet Propulsion Laboratory, Pasadena, Kalifornien; Bureau Gravimétrique International (BGI), Toulouse; International Geoid Service (IGeS), Milano; International Center for Earth Tides (ICET), Brüssel; International Earth Rotation Service (IERS) mit dem Zentralbüro am Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (BKG), Frankfurt a. M.; Permanent Service for Mean Sea Level, Bidston Observatory, Merseyside, UK; Bureau International des Poids et Mésures-Time Section, Sèvres; International Laser Ranging Service (ILRS), International VLBI Service for Geodesy and Astrometry (IVS). Schließlich unterhält die IAG einen Informations- und einen bibliographischen Dienst. 1.4.3
Literatur
Hinweise auf Lehr- und Handbücher der Geodäsie und benachbarter Disziplinen (Mathematik, Physik, Astronomie, Geophysik, Vermessungswesen, Kartographie) werden im laufenden Text gegeben. Eine Liste geodätischer und geodätisch relevanter Zeitschriften und Schriftenreihen findet sich im Journal of Geodesy 74 (2000): 155 - 162. Wir erwähnen insbesondere das Journal of Geodesy (früher Bulletin Géodésique und Manuscripta Geodaetica, Springer Verlag: Berlin-Heidelberg-New York) als offizielles IAG-Journal. Die Ergebnisse der IAG-Generalversammlungen werden in den Travaux veröffentlicht und die vorgelegten Landesberichte im IAG-Zentralbüro gesammelt. Die Proceedings der IAG-Symposien werden in einer eigenen Reihe publiziert (Springer). Von den wissenschaftlich-technischen Zeitschriften aus den Bereichen Geodäsie, Geophysik, Navigation und Vermessungswesen nennen wir die folgenden: Acta Geodaetica, Geophysica et Montanistica Hungarica (Ungarn), Acta Geodaetica et Cartographica Sinica (China), Annali di Geofisica (Italien), Artificial Satellites (Polen), Australian Journal of Geodesy, Photogrammetry and Surveying, The Australian Surveyor, Bolletino de Geodesia e Scienze Affini (Italien), Allgemeine Vermessungsnachrichten
1.4 Organisation der Geodäsie, Literatur
15
(Deutschland), Bolletino die Geofisica Teorica ed Applicata (Italien), EOS Transactions (American Geophysical Union), Geodesia (Niederlande), Geomatica (Kanada), Geodeziya i Aerosyemka, Geodeziya i Kartografiya (Russland), Geophysical Journal International (UK), Geophysical Research Letters (USA), Geophysics (USA), GPSWorld (USA), GPS Solutions (USA), Journal of Earthquake Prediction Research (China/Russland), Journal of Geodynamics (Niederlande), Journal of the Geodetic Society of Japan, Journal of Geophysical Research (USA), Journal of Surveying Engineering (USA), Marine Geodesy (USA), The Journal of Navigation (USA), Österreichische Zeitschrift für Vermessungswesen und Geoinformation, Physics and Chemistry of the Earth A: Solid Earth and Geodesy (Niederlande), Reviews of Geophysics and Space Physics (USA), Revista Cartografica (Mexico), Surveying and Land Information Systems (USA), Studia Geophysica et Geodaetica (Tschechische Republik), Survey Review (UK), Surveys in Geophysics (Niederlande), Tectonophysics (Niederlande), Vermessung, Photogrammetrie und Kulturtechnik (Schweiz), Zeitschrift für Vermessungswesen (Deutschland). Schriftenreihen werden von Universitäts- und Forschungs-Instituten sowie einigen staatlichen Diensten herausgegeben. Wir nennen: Bull. d'Inf. Bureau Gravimétrique International, Toulouse; Bull. d'Inf. Marées Terrestres, Brüssel; Bull. Earthquake Research Inst., Univ. of Tokyo; Bull. Geograph. Survey Inst., Tokyo; Geod. Geophys. Arb. in der Schweiz, Schweiz. Geod. Komm., Zürich; Geowiss. Mittl. Studieng. Verm.wesen, TU Wien; IERS Techn. Notes, Paris; IGS Techn. Reports JPL, Pasadena, USA; Journal of Wuhan Technical University of Surveying and Mapping; Mitt. Bundesamt Kart, u. Geod., Frankfurt a. M.; Mitt. Geod. Inst. Univ. Bonn; Mitt. Geod. Inst. TU Graz; Mitt. Inst. Geod. Photogr. ΕΤΗ Zürich; NASA Goddard Space Flight Center Rep., Greenbelt, Md.; Nat. Survey and Cadastre, Geod. Div. Techn. Rep., Copenhagen; Nederlandse Comm. voor Geodesie Pubi.; NIMA Techn. Rep., Washington D.C.; NOAANOS-National Geod. Survey Techn. Rep., Rockville, Md.; Publ./Rep. Finnish Geod. Inst. Helsinki; Pubi. Division of Geomatics, Univ. of Calgary; Rep. Dep. of Geodetic Science and Surveying, The Ohio State Univ., Columbus, Ohio; Rep. on Geodesy, Inst, of Geodesy and Geod. Astronomy, Warsaw Univ. of Technology; Math, and Phys. Geodesy, TH Delft; Schriftenreihe d. Institute d. Fachber. Vermessungswesen, Univ. Stuttgart; Schriftenr. Univ. Studiengang Vermessungswesen, Univ. der Bundeswehr, München; Univ. Rep. School of Geomatic Engineering, Univ. of New South Wales, Sydney; Veröff. Bayer. Komm, für die Internationale Erdmessung, München; Veröff. Deutsche Geod. Komm., München; Wiss. Arb. Fachr. Vermessungswesen, Univ. Hannover.
2
Bezugssysteme
Bezugssysteme werden benötigt, um die geodätischen Beobachtungen als Funktion der gesuchten Parameter zu modellieren. Die zugehörigen Koordinatensysteme sind grundsätzlich dreidimensional, sie müssen in Bezug auf ihre Orientierung, ihre Metrik und ihre Krümmung definiert werden (HEITZ 1988). Die gegenseitigen Bewegungen zwischen der Erde und anderen Himmelskörpern und die Deformationen der Erde erfordern, dass die Zeit als vierte Dimension einbezogen wird. In Analogie zur Erde lassen sich Bezugssysteme auch für den Mond und die anderen Planeten des Sonnensystems definieren. Basiseinheiten und Fundamentalkonstanten sind grundlegend für die geodätischen Mess- und Auswerteverfahren [2.1], Zeitsysteme basieren entweder auf quantenphysikalischen Vorgängen oder auf der täglichen Rotation der Erde [2.2], Globale Bezugssysteme (reference systems) werden durch einen Satz von Festpunkten realisiert (reference frames), wobei den vom Internationalen Erdrotationsdienst (IERS) unterhaltenen Systemen besondere Bedeutung zukommt [2.3]. Wir unterscheiden zwischen dem raumfesten zälestischen [2.4] und dem erdfesten terrestrischen [2.5] Bezugssystem (KOVALEVSKY et al. 1989). Zusätzlich müssen auf das Schwerefeld bezogene Bezugssysteme eingeführt werden, da fast alle geodätischen Messungen sich auf dieses Feld beziehen [2.6].
2.1
Basiseinheiten und Fundamentalkonstanten
Länge, Masse und Zeit sind die in der Geodäsie benutzten Basisgrößen. Die zugehörigen Basiseinheiten sind das Meter (m), das Kilogramm (kg) und die Sekunde (s). Sie werden durch das Internationale Einheitensystem (Système International d'Unités SI) definiert, welches 1960 durch die 11. Generalkonferenz für Gewichte und Maße (CGPM) in Paris eingeführt wurde (SIMMERDING 1970, B I P M 1991). Die Definitionen lauten: •
Das Meter ist die Länge der Strecke, die das Licht im Vakuum während eines Zeitintervalls von 1/299 792458 Sekunden durchläuft (CGPM 1983).
•
Das Kilogramm ist die Masseneinheit, es ist gleich der Masse des internationalen Kilogramm-Prototyps (CGPM 1901).
•
Die Sekunde ist das 9 192 631 770-fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids 133 Cs entsprechenden Strahlung (CGPM 1967).
Die Realisierung und Erhaltung der Standards für diese Einheiten ist Aufgabe des Internationalen Büros für Gewichte und Maße (Bureau International des Poids et Mésures) BIPM in Sèvres, Frankreich. Das BIPM arbeitet mit den entsprechen-
2.1 Basiseinheiten und Fundamentalkonstanten
17
den nationalen Laboratorien im Rahmen der Internationalen Meterkonvention (1875) zusammen. Hierzu zählen u. a. das National Institute of Standards and Technology, Gaithersburg, Md., USA., das National Physical Laboratory, Teddington, UK, und die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, Braunschweig. Die Realisierung des Meter beruht auf interferometri sehen Längenmessungen (relative Unsicherheit 1 0 " l 2 ) mit frequenz- stabilisiertem Laser-Licht. Der internationale Kilogramm-Prototyp wird seit 1889 im BIPM aufbewahrt, nationale Prototypen sind hierauf mit einer Unsicherheit von 1 0 - 9 bezogen. Die Sekunde und die Atomzeitskala werden von der Zeit-Sektion des BIPM (bis 1987: Bureau International de l'Heure BIH, Paris) definiert (relative Unsicherheit 1(T 1 4 ), s. [2.2.1], Frühere Definitionen des Meter und der Sekunde basierten auf Naturmaßen. Das Meter war ursprünglich als der zehnmillionste Teil des durch Paris verlaufenden Meridianquadranten definiert. Seine Länge wurde durch eine Gradmessung ermittelt, s. [1.3.2], und 1799 durch einen Prototyp realisiert (mètre des archives). Als Folge der Internationalen Meter-Konvention wurde ein stabilerer Meter-Standard (Platin-Iridium-Stange) angefertigt (Internationales Meter). Dieser Meter-Prototyp wird seit 1889 im BIPM aufbewahrt, die der Meter-Konvention beigetretenen Staaten erhielten entsprechende Kopien. Diese verbesserte Definition (Unsicherheit 10~ 7 ) blieb bis 1960 gültig, als erstmals die Wellenlänge einer bestimmten Spektrallinie des Lichts zur Definition benutzt wurde. Das Naturmaß für die Zeit wird von alters her durch die tägliche Drehung der Erde um ihre Achse geliefert. Der mittlere Sonnentag, s. [2.2.2], wird durch astronomische Beobachtungen bestimmt, und die Sekunde ist als der 1 / 8 6 400ste Teil des Tages definiert. In den 1930er Jahren wurde erkannt, dass diese Definition wegen der Unregelmäßigkeiten der Erdrotation um 10~ 7 unsicher ist, s. [2.5.2].
Für ebene Winkel dient der Radiant (rad) als ergänzende SI-Einheit: •
Ein Radiant ist gleich dem ebenen Winkel, der als Zentriwinkel eines Kreises vom Halbmesser 1 m aus dem Kreis einen Bogen der Länge 1 m ausschneidet.
Geodäsie, Astronomie und Geographie benutzen ferner die Sexagesimalteilung mit 1 Vollkreis = 360° (Grad), I o = 60' (Minuten) und 1' = 60" (Sekunden, auch Bogensekunden). Da 2π rad einem Winkel von 360° entspricht, gilt für einen Winkel a die folgende Umrechnung von Radiant in Grad: a(°) = p(°)a rad,
p° = 180°/jr.
(2.1)
Zu den in der Geodäsie benutzten Fundamentalkonstanten gehören die Lichtgeschwindigkeit und die Gravitationskonstante. Die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum ist nach Definition (1983) c = 299 792458 m s " 1 . (2.2) Für die Gravitationskonstante gilt (CODATA System der physikalischen Konstanten 1986): G = (6,67259 ± 0 , 0 0 0 8 5 ) χ IO" 1 1 m 3 k g " 1 s " 2 . (2.3) Die erste experimentelle Bestimmung von G wurde 1798 von Cavendish mit einer Drehwaage durchgeführt. Laufende Arbeiten haben das Ziel, die relative Genauigkeit von G auf besser
18
2 Bezugssysteme
als 10~ 4 zu steigern. Das schließt Untersuchungen zur Abhängigkeit von G von Material, äußeren Einflüssen, Entfernung und Richtung ein, ebenso die Frage eines eventuellen nicht invers-quadratischen Verhaltens der Gravitation (GILLIES 1987, FISCHBACH und TALMADGE 1999).
Weitere in Geodäsie, Astronomie und Geophysik benutzte Einheiten und Konstanten werden in den entsprechenden Kapiteln eingeführt, siehe auch AHRENS (1995), GROTEN (2000).
2.2
Zeitsysteme
Die Zeit spielt in der Geodäsie eine fundamentale Rolle. Dies liegt zum einen daran, dass die meisten Messverfahren die Signallaufzeit elektromagnetischer Wellen zur Positionsbestimmung benutzen und dass eine gleichförmige Zeitskala auch zur Modellierung der Bahnen künstlicher Satelliten benötigt wird. Andererseits ist ein Zeitsystem erforderlich, um die Relativbewegung der Erde im Sonnensystem gegenüber dem Inertialraum und die durch innere und äußere Kräfte verursachten Deformationen der Erde zu beschreiben. Zeitsysteme werden durch die Einheit für ein Zeitintervall und durch einen Zeitpunkt (Epoche) definiert. Sie beruhen entweder auf der Definition der SI-Sekunde [2.2.1] oder auf der täglichen Rotation der Erde um ihre Achse [2.2.2]. Ausführliche Darstellungen der Zeitsysteme finden sich bei MORITZ und MUELLER (1987) und SEIDELMANN (1992).
2.2.1
Atomzeit, dynamische Zeit
Ein gleichförmiges Zeitmaß hoher Genauigkeit wird durch die Internationale Atomzeit (Temps Atomique International) TAI gewährleistet. Die Atomzeitsekunde entspricht der Definition der SI-Sekunde, s. [2.1], deren Länge bestmöglichst der Sekundenlänge der früher benutzten Ephemeridenzeit angepasst wurde. Letztere war durch die Bewegung der Erde um die Sonne definiert und aus astronomischen Langzeitbeobachtungen abgeleitet. Der Ursprung der Atomzeitskala wurde so festgelegt, dass ihre Epoche (1. Januar 1958, 0 Uhr) mit dem entsprechenden Zeitpunkt der Weltzeit UT1, s. [2.2.2], übereinstimmt. DerTAI-Tag enthält 86 400 s und das Julianische Jahrhundert 36525 TAI-Tage. TAI wird durch eine große Zahl (mehr als 200) von Atomuhren realisiert, die in rund 60 global verteilten Laboratorien betrieben werden. Überwiegend werden CäsiumFrequenznormale benutzt, sie stellen insbesondere die Langzeitstabilität sicher. Eine hohe Kurzzeitgenauigkeit wird durch Wasserstoffmaser erreicht. Einige Zeitlaboratorien führen mit Hilfe von GPS-Messungen, s. [5.2.5], Uhrenvergleiche durch, in der BIPM-Zeit-Sektion wird daraus ein gewogenes Mittel gebildet. Die relative Frequenzstabilität der Atomzeit liegt zwischen einigen 10 - 1 5 (über Minuten bis Tage) und 10 - 1 3 (über Jahre). Relativistische Effekte erfordern, dass die Atomzeitmessungen auf eine gemeinsame Höhenbezugsfläche reduziert werden (SI-Sekunde „auf dem Geoid").
2.2 Zeitsysteme
19
Eine streng gleichförmige Zeitskala (Inertialzeit) ist erforderlich, um die Bewegungen von Himmelskörpern und künstlichen Satelliten zu beschreiben. Dies wird durch eine aus den Bewegungen von Körpern im Sonnensystem abgeleiteten dynamischen Zeit erreicht. Dynamische Zeitskalen beziehen sich entweder auf den Schwerpunkt des Sonnensystems (Temps Dynamique Barycentrique) TDB oder auf den Erdschwerpunkt (Temps Terrestre) TT. Als Einheit der TT-Skala wurde die SI-Sekunde eingeführt. Wegen der Definition der TAI-Epoche besteht eine konstante Differenz zwischen TT und TAI: TT = T A I + 32.184 s. (2.4) Die dynamische Zeit wird in der Himmelsmechanik im Zusammenhang mit den Newtonschen Bewegungsgleichungen benutzt, ζ. B. als Argument für die astronomischen Ephemeriden von Mond und Sonne. 2.2.2
Sternzeit und Weltzeit
Die tägliche Drehung der Erde um ihre Achse stellt ein natürliches Zeitmaß dar. Entsprechend definierte Zeitsysteme dienen zur Verknüpfung erdgebundener Beobachtungen mit einem raumfesten Bezugssystem: Sternzeit und Weltzeit (Sonnenzeit). Dabei spielen zwei periodische Bewegungen der Erde eine Rolle (Abb. 2.1 ): NORDPOL
Abb. 2.1. Erdrotation. Äquatorebene und Ebene der Ekliptik
•
Die tägliche Rotation der Erde um ihre polare Achse. Die Rotationsachse fällt genähert mit einer Hauptträgheitsachse (maximales Trägheitsmoment) zusammen und verläuft durch den Massenschwerpunkt der Erde, s. [2.5.2], Senkrecht hierzu liegt die Aquatorebene.
•
Oer jährliche Umlauf der Erde um die Sonne. Die Erde beschreibt dabei nach den Keplerschen Gesetzen eine Ellipse mit der Sonne als einem Brennpunkt. Kleinere
20
2
Bezugssysteme
Bahnstörungen werden durch die Gravitation des Mondes und anderer Planeten verursacht. Die Bahnebene der Erde wird als Ebene der Ekliptik bezeichnet, sie ist um 23,5° gegenüber der Äquatorebene geneigt (Schiefe der Ekliptik). Einfache geometrische Beziehungen ergeben sich, wenn die auf den Erdmittelpunkt bezogene Einheitskugel (Himmelskugel) eingeführt wird. Der Himmelsäquator und die Ekliptik sind dann durch die Schnitte dieser Kugel mit den entsprechenden Ebenen definiert. Der Friihlingspunkt entsteht durch den Schnitt der Ekliptik mit dem Äquator beim Übergang der Sonne von der Süd- zur Nordhalbkugel. Die Sternzeit ist unmittelbar mit der Erdrotation verknüpft. Die scheinbare (oder wahre) Ortssternzeit (Local Apparent Sidereal Time) LAST bezieht sich auf den Ortsmeridian des Beobachters, sie ist gleich dem Stundenwinkel des (wahren) Frühlingspunktes (Abb. 2.2), s. [2.4.1]. Der Frühlingspunkt unterliegt der Präzession und der
Abb. 2.2. Rektaszension, Sternzeit. Stundenwinkel und Länge
Nutation und erfährt deshalb lang- und kurzperiodische Veränderungen, s. [2.4.2], Wird die Nutation berücksichtigt, so ergibt sich die auf den mittleren Frühlingspunkt bezogene mittlere Ortssternzeit (Local Mean Sidereal Time) LMST. Für den Meridian von Greenwich (Nullmeridian) heißen die entsprechenden Stundenwinkel scheinbare Sternzeit Greenwich (Greenwich Apparent Sidereal Time) GAST und mittlere Sternzeit Greenwich (Greenwich Mean Sidereal Time) GMST. Die astronomische Länge Λ des Ortsmeridians ist der Winkel zwischen den Ebenen des Ortsmeridians und des Meridians von Greenwich. Es gilt, s. [2.6.2], Λ = LAST - GAST = LMST - GMST.
(2.5)
Die scheinbare Ortssternzeit LAST wird unmittelbar aus astronomischen Beobachtungen zu Fixsternen und extragalaktischen Radioquellen bestimmt. In der daraus abgeleiteten mittleren Steinzeit überlagern sich die Erddrehung und die Präzessionsbewegung des mittleren Frühlingspunktes. Beide sind nahezu konstant und haben den
2.2 Zeitsysteme
21
gleichen Drehsinn, so dass eine gleichförmige Zeitskala entsteht. Zeiteinheit ist der mittlere Sterntag (kurz: Sterntag), er entspricht dem Zeitintervall zwischen zwei aufeinanderfolgenden Durchgängen des mittleren Frühlingspunktes durch den Meridian. Aus praktischen Gründen wird im täglichen Leben die Sonnenzeit benutzt. Sie bezieht sich auf den (scheinbaren) täglichen Umlauf der Sonne um die Erde. Da diese Bewegung ungleichmäßig abläuft, wird eine mit konstanter Geschwindigkeit auf dem Äquator sich bewegende „mittlere" Sonne eingeführt, wobei mittlere und wahre Sonne zu derselben Zeit durch den Frühlingspunkt gehen. Die mittlere Sonnenzeit ist dann gleich dem Stundenwinkel der mittleren Sonne plus 12 Stunden. Bezogen auf den mittleren astronomischen Meridian von Greenwich, s. [2.5.1], wird sie als Weltzeit (Universal Time) UT bezeichnet. Zeiteinheit ist der mittlere Sonnentag als Intervall zwischen zwei Durchgängen dieser fiktiven Sonne durch den Meridian. Die Umrechnung von Weltzeit in mittlere Sternzeit ist streng möglich und durch eine von der Internationalen Astronomischen Union festgelegte Reihenentwicklung nach der Zeit gegeben (MORITZ und MUELLER 1987). Da die Bahnbewegung der Erde etwa I o je Tag beträgt (360°/365 d), hat das in Sterntagen gezählte Jahr einen Tag mehr als bei Zählung in Sonnentagen. Näherungsweise gilt: 1 mittlerer Sterntag = 1 mittlerer Sonnentag — 3 min 55,90 s = 86 164,10 s. (2.6) Die Erdrotationsrate beträgt 15,041 07"/1 s, und die Winkelgeschwindigkeit der Erde ist ω = 2π : 86 164,10 s = 7,292 115 χ I O - 5 rad s - 1 . (2.7) Im Rahmen des Internationalen Erdrotationsdienstes, s. [2.3], wird die Weltzeit durch eine größere Anzahl von Stationen bestimmt. Die aus den Stationsbeobachtungen abgeleitete Universalzeit UTO bezieht sich auf die momentane Rotationsachse, sie enthält also noch den Einfluss der Polbewegung, s. [2.5.2]. Um die Ergebnisse der verschiedenen Stationen vergleichbar zu machen, werden die Beobachtungen auf den Conventional Terrestrial Pole reduziert. Die Polbewegungsreduktion in der astronomischen Länge Δ Α ρ , s. [5.3.3], entspricht einer Zeitreduktion. Diese überführt UTO in die auf das konventionelle terrestrische System, s. [2.5.3], bezogene Weltzeit UT1 = UTO + Δ Α ρ .
(2.8)
Die derzeitige Präzision in der Bestimmung von UT1 beträgt etwa 0,01 bis 0,02 ms bei einer eintägigen Auflösung. UT1 enthält ebenso wie die mittlere Sternzeit Greenwich noch die Rotationsschwankungen der Erde, diese sind säkularer, periodischer und unregelmäßiger Art, s. [2.5.2], Werden die jährlichen und halbjährlichen Änderungen modelliert, so ergibt sich die heute selten benutzte Weltzeit UT2 als Annäherung an eine gleichförmige Zeitskala. Mit der entsprechenden Reduktion A A g erhalten wir
UT2 = UTO + ΔΛ ρ + AAg.
(2.9)
Praktische Anwendungen etwa in der Navigation benötigen eine gleichförmige Zeitskala, die eng mit UT1 verknüpft ist. Diese Forderung führte zur Einführung der koordinierten Weltzeit (Coordinated Universal Time) UTC. Das Zeitintervall von UTC
22
2
Bezugssysteme
entspricht der Atomzeit TAI, s. [2.2.1], und die Epoche soll sich um weniger als 0.9 s von UT1 unterscheiden: |DUT1| = |UT1 - U T C | < 0,9 s.
(2.10)
Zum Einhalten dieser Bedingung werden wenn nötig Schaltsekunden in UTC eingeführt. UTC wird von der BIPM-Zeit-Sektion bereitgestellt und durch Zeitzeichensender verbreitet, während DUT1 vom IERS berechnet wird, s. [2.3], Zu den kontinuierlich ausstrahlenden Zeitzeichensendern gehören u. a. in Europa DCF77/Mainflingen (77,5 kHz), HBG/Prangins (75 kHz) und MSF/Rugby (60 kHz), ferner W W V bzw. WWVB/Ft. Collins, Colorado (2 500 bis 2 0 0 0 0 kHz bzw. 60 kHz) und WWVH/Kauai, Hawaii (2 500 bis 15 000 kHz).
2.3
Internationaler Erdrotationsdienst
Der Internationale Erdrotationsdienst (International Earth Rotation Service) IERS ist für die Bereitstellung und Laufendhaltung konventioneller zälestischer und terrestrischer Bezugssysteme (reference frames) zuständig. Diese realisieren die von der International Union of Astronomy (IAU) und der International Union of Geodesy and Geophysics (IUGG) von Zeit zu Zeit empfohlenen und in Bezug auf die theoretischen Grandlagen definierten Bezugssysteme (reference systems). Der IERS stellt auch die Erdorientierungsparameter bereit, welche die gegenseitige Zuordnung zwischen dem z ä l e s t i s c h e n u n d d e m t e r r e s t r i s c h e n S y s t e m v e r m i t t e l n (SEIDELMANN 1 9 9 2 , R E I G BER u n d FEISSEL 1997).
Anmerkung: Im Englischen wird sauber zwischen „reference system" und „reference frame" unterschieden. Dabei wird unter dem ersten Begriff die grundlegende Definition eines Bezugssystems, unter dem zweiten seine Realisierung durch Beobachtungen verstanden. Im Deutschen ist diese begriffliche Unterscheidung bisher nicht üblich.
Der IERS wurde von der IAU und der IUGG eingerichtet, er operiert unter der Schirmherrschaft dieser beiden Organisationen seit dem 1. Januar 1988. Der IERS sammelt, analysiert und modelliert die Beobachtungen eines globalen Netzes astronomischer und geodätischer Stationen (etwa 300 im Jahre 1996), diese operieren entweder permanent oder nur über bestimmte Zeiträume. Zu den Beobachtungstechniken zählen die Langbasis-Interferometrie (Very Long Baseline Interferometry VLBI), Lasermessungen zum Mond (Lunar Laser Ranging LLR), Laserdistanzmessungen zu Satelliten (Satellite Laser Ranging SLR), das Global Positioning System (GPS) und das DORISSystem (Doppler Orbit determination and Radio positioning Integrated on Satellite), s. [5.2], [5.3], Die Beobachtungssätze einer bestimmten Technik werden in den IERS-Koordinierungszentren bzw. den hierfür zuständigen IAG-Diensten ausgewertet und dann im IERS-Zentralbüro durch Ausgleichung kombiniert. Als Ergebnis liegen insbesondere die Positionen (Koordinaten) der extragalaktischen Radioquellen und der terrestrischen Stationen sowie die Erdorientierungsparameter (Earth Orientation Parameter)
2.4 Zälestische Bezugssysteme
23
EOP vor. Bezüglich der EOP liefert das VLBI-Verfahren Präzession, Nutation, Polbewegung und die Weltzeit UT1, s. [2.4.2], [2.2.2]; Satellitentechniken tragen insbesondere zur täglichen Interpolation von UT und zur Bestimmung der Polbewegung bei, s. [2.5.2], Die Ergebnisse des IERS werden den Nutzern durch Bulletins, Jahresberichte und Technical Notes zugänglich gemacht. Die Kombinationslösungen haben eine Genauigkeit von ±0,0003" für die EOP und von ±0,01 m für die Positionen der terrestrischen Stationen, s. [2.4], [2.5]. Der Auswertung der Beobachtungen liegen die IERS-Konventionen zugrunde, sie sind mit den IAU- und IUGG-Empfehlungen zu den Bezugssystemen konsistent (MCCARTHY 1996), s. [2.4.2], [4.3], Zu den frühen internationalen Vereinbarungen über die Positionsbestimmung und die Zeit gehört die Einführung des Green wicher Nullmeridians und der Weltzeit (1884). Die Reihe von Sternkatalogen mit den Positionen ausgewählter Fixsterne wurde in den 1880er Jahren mit dem ersten Fundamentalkatalog eröffnet. Internationale Aktivitäten zur Bestimmung der Erdrotation reichen in das Jahr 1899 zurück. Der Internationale Breitendienst (International Latitude Service ILS) nahm damals mit fünf auf 39°08' nördlicher Breite liegenden und um die Erde verteilten Observatorien die systematische Beobachtung der Polbewegung auf (HÖPFNER 2000). Nach Erweiterung zum Internationalen Polbewegungsdienst (International Polar Motion Service IPMS) und in Kooperation mit dem 1912 eingerichteten Internationalen Zeitbüro (Bureau International de l'Heure BIH) nahmen schließlich etwa 50 astronomische Observatorien an der Bestimmung von Polbewegung und Zeit teil, dabei wurde für die Mittelwerte über 5 Tage eine Genauigkeit von ± 0 , 0 2 " bzw. ± 1 ms erreicht. Der IPMS und die Erdrotations-Sektion des BIH wurden durch den IERS ersetzt, während die BIH-Aktivitäten bezüglich der Zeitskala am BIPM fortgesetzt werden, s. [2.2.1].
2.4
Zälestische Bezugssysteme
Ein Inertialsystem wird benötigt, um die Bewegungen der Erde und anderer Himmelskörper einschließlich künstlicher Erdsatelliten im Raum zu beschreiben. In einem solchen System gelten die Newtonschen Bewegungsgesetze: das System befindet sich entweder in Ruhe oder es besitzt eine gleichförmige geradlinige Bewegung ohne Rotation. Ein raumfestes System (Celestial Reference System) stellt eine Annäherung an ein Inertialsystem dar, es wird durch geeignete Konventionen definiert: konventionelles Inertialsystem (Conventional Inertial System CIS). Der Koordinatenrahmen für ein solches System wird durch die sphärische Astronomie bereitgestellt [2.4.1]. Da die räumliche Orientierung dieses Rahmens sich mit der Zeit ändert, müssen diese Veränderungen modelliert werden [2.4.2], Das Internationale Zälestische Bezugssystem (International Celestial Reference Frame) stellt eine Realisierung des zälestischen B e z u g s s y s t e m s d a r [2.4.3], KOVALEVSKY et al. ( 1 9 8 9 ) , SEIDELMANN ( 1 9 9 2 ) .
2.4.1
Aquatorsystem der sphärischen Astronomie
Die Koordinaten des zälestischen Bezugssystems sind durch das Aquatorsystem der sphärischen Astronomie gegeben (SLGL 1993, SCHÖDLBAUER 2000). Wir führen zunächst ein dreidimensionales kartesisches Koordinatensystem mit Ursprung im Mas-
24
2
Bezugssysteme
senzentrum der Erde (Geozentrum) ein. Die Z-Achse fällt mit der Rotationsachse der Erde zusammen. Die X- und K-Achsen spannen die Äquatorebene auf, wobei die X-Achse zum Frühlingspunkt zeigt. Die F-Achse ist so gerichtet, dass ein rechtshändiges System gebildet wird (Abb. 2.3). s. [2.2.2], ζ
Abb. 2.3. Astronomisches Äquatorsystem Wir werden im Folgenden den Ursprung dieses Systems durch Parallelverschiebung auch in den Standpunkt des Beobachters auf der Erde (Topozentrum) oder in das Massenzentrum (Baryzentrum) des Sonnensystems legen. Mit diesen verschiedenen Definitionen des Ursprungs verändern sich auch die Richtungen zu den Himmelskörpern (Parallaxen), s. [5.3.3]. Da der Erdradius im Verhältnis zu den Entfernungen zu den Fixsternen und zu extragalaktischen Radioquellen vernachlässigbar klein ist, können die Richtungsunterschiede zwischen einem geozentrischen und einem topozentrischen System jedoch vernachlässigt werden.
Wir umschreiben nun die Einheitskugel (Himmelskugel) um die Erde. Die verlängerte Rotationsachse durchstösst diese Kugel in den Himmelspolen Ρχ (Nordpol) und Ps (Südpol). Die senkrecht zum Himmelsäquator durch die Himmelspole laufenden Großkreise werden als Stundenkreise, die parallel zum Himmelsäquator laufenden Kleinkreise als Parallelkreise (Deklinationsparallele) bezeichnet. Die Rektaszension a ist der in der Äquatorebene gemessene Winkel zwischen den Stundenkreisebenen durch den Frühlingspunkt und durch den Himmelskörper S, er wird vom Frühlingspunkt aus im Gegenuhrzeigersinn gezählt. Die Deklination 2 Tage und zusätzliche vom IERS gelieferte zeitabhängige Korrektionen definiert ist.
Die momentane Position eines Himmelskörpers, s. [2.4.1], wird als wahrer Ort zur Epoche t bezeichnet. Nach Berücksichtigung der Nutation ergibt sich der mittlere Ort zur Epoche t, er bezieht sich auf den mittleren Himmelsäquator und den mittleren Frühlingspunkt, s. [2.2.2], Wird auch die Präzession berücksichtigt, so erhält man den mittleren Ort zur Referenzepoche J 2000.0. 2.4.3
Internationales Zälestisches Bezugssystem
Das von der IAU empfohlene Internationale Zälestische Bezugssystem (International Celestial Reference System) ICRS basiert auf der alllgemeinen Relativitätstheorie, wobei die Zeit-Koordinate durch die Internationale Atomzeit, s. [2.2.2], definiert ist. Das ICRS stellt eine Approximation an ein raumfestes konventionelles Inertialsystem (CIS) mit Ursprung im Baryzentrum des Sonnensystems dar. Dabei wird unterstellt, dass das System keine globale Rotation ausführt. Dies setzt voraus, dass die zur Realisierung des Systems benutzten Quellen entweder keine Eigenbewegung (die zur Himmelskugel tangentiale Komponente der räumlichen Bewegung) aufweisen oder dass
28
2 Bezugssysteme
diese hinreichend gut modelliert werden kann. Die Koordinatenachsen werden durch den zälestischen Referenzpol und den Frühlingspunkt definiert, so wie diese von den IAU-Modellen für die Präzession und Nutation gegeben sind. Realisiert werden die Achsen durch die mittleren Richtungen zu extraterrestrischen Zielen: Stellares und Radioquellen-CIS, s. [2.4.2], Das stellare System beruht auf den im Fundamentalkatalog FK5 (FRICKE et al. 1988) enthaltenen Sternen. Es stellt die mittleren Örter (a, S) und die Eigenbewegungen (i.Allg. < 1"/Jahr) von 1535 Fundamentalsternen für die Epoche J 2000.0 mit einer Präzision von ± 0 , 0 1 " bis 0,03" bzw. ±0,05"/Jahrhundert bereit. Ein FK5-Supplement enthält weitere Sterne bis zu einer scheinbaren Helligkeit von 9,5. Der mittlere Äquator und der mittlere Frühlingspunkt für J 2000.0 werden durch den FK5-Katalog mit einer Genauigkeit von ± 0 , 0 5 " realisiert. Wegen der Unsicherheiten in der Erfassung der Refraktion kann diese Genauigkeit durch erdgebundene astrometrische Techniken kaum erhöht werden. Astronomische Raummissionen haben die Realisierung eines stellaren CIS wesentlich verbessert. Mit dem Astrometrie-Satelliten HIPPARCOS ( 1 9 8 9 - 1 9 9 3 ) wurde durch die Messung großer Winkel ein Netz von etwa 100 000 Sternen (bis zur scheinbaren Helligkeit 9) aufgebaut, das den gesamten Himmel überdeckt. Der so entstandene Bezugsrahmen gewährleistet eine Genauigkeit von ± 0 , 0 0 1 " für die Position und ±0,0005"/Jahr für die Eigenbewegung (KOVALEVSKY et al. 1997). Aus verbesserten FK5-Daten und den HIPPARCOS-Ergebnissen ist für eine begrenzte Zahl von Fixsternen (davon 340 „astrometrically excellent") der FK6-Katalog entwickelt worden, wobei gegenüber dem HIPPARCOS-Katalog besonders die Eigenbewegungen genauer festgelegt werden konnten (WIELEN et al. 1999). Zukünftige astrometrische Raummissionen werden optische Interferometrie-Techniken verwenden und damit die Positionsgenauigkeit auf ± 0 , 0 0 0 0 1 " erhöhen (BROSCHE und DICK 1996). Das Radioquellen-System stützt sich auf extragalaktische Radioquellen (Quasare und andere kompakte Quellen). Es wurde 1997 von der IAU als ICRS angenommen, seit 1998 ersetzt es das vorangegangene stellare System (FK5). Wegen der großen Entfernungen ( > 1,5 Milliarden Lichtjahre) weisen die Radioquellen keine messbaren Eigenbewegungen auf. Das System wird durch den International Celestial Reference Frame (ICRF) realisiert und durch den IERS laufend gehalten (MCCARTHY 1996, MA et al. 1998). Der ICRF-Bezugsrahmen enthält die Koordinaten (Äquatorialsystem Epoche J 2000.0) von mehr als 600 Objekten. Hiervon zählen etwa 200 zu den gut vermessenen „Definitionsquellen" (defining sources), weitere 100 dienen der Verdichtung und der Verbindung zum stellaren Bezugssystem (Abb. 2.6). Da die Radioteleskope auf der Nordhalbkugel konzentriert sind, ist der Südhimmel weniger gut mit Quellen bedeckt. Die mit radioastronomischen Methoden bestimmten Koordinaten der Radioquellen weisen eine durchschnittliche Präzision von besser als ± 0 , 0 0 1 " und ± 0 , 0 0 0 3 " für die am besten beobachteten Objekte auf (BROSCHE und SCHUH 1999). Die Verknüpfung zwischen dem stellaren und dem Radioquellen-CIS ist mit einer Genauigkeit von ±0,05" bis 0,1" gegeben, dies entspricht der Unsicherheit des FK5. Mit den Resultaten neuer astrometrischer Raummissionen (optische Signale einer begrenzten Anzahl von Radio-
2.5 Terrestrisches Bezugssystem
29
quellen) wird sich diese Verknüpfung auf ± 0 , 0 0 1 " oder besser für die Epoche der Beobachtung verbessern.
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Abb. 2.6. Internationaler Zälestischer Bezugsrahmen (ITRF), aus IERS (1995): Missions and goals for 2000
2.5
Terrestrisches Bezugssystem
Zur Positionsbestimmung und Navigation auf und nahe der Erdoberfläche sowie zur Beschreibung des Schwerefeldes und anderer ortsabhängiger Parameter wird ein erdfestes Bezugssystem eingeführt und durch ein dreidimensionales Koordinatensystem definiert [2.5.1], Die Orientierung dieses Systems ändert sich mit der Zeit sowohl in Bezug auf den festen Erdkörper als auch auf das zälestische Bezugssystem [2.5.2]. Realisiert wird das System durch den Internationalen Terrestrischen Bezugsrahmen (International Terrestrial Reference Frame) ITRF, welcher vom IERS einschließlich seiner Beziehung zum Internationalen Zälestischen Bezugsrahmen bereitgestellt wird [2.5.3],
2.5.1
Globales erdfestes geozentrisches System
Als grundlegendes terrestrisches Koordinatensystem wird ein erdfestes (d. h. mit der Erde rotierendes) System räumlicher kartesischer Koordinaten Χ, Υ, Ζ eingeführt (Abb. 2.7). Sein Ursprung liegt im Erdschwerpunkt (Geozentrum) O, welches für die gesamte Masse der Erde einschließlich der Hydrosphäre und der Atmosphäre definiert ist. Die Z-Achse ist zum konventionellen „mittleren" terrestrischen (Nord-) Pol gerichtet. Die hierzu senkrechte „mittlere" Äquatorebene wird durch die X- und die K-Achse aufgespannt. Die Einführung einer „mittleren" Rotationsachse und Äquatorebene ist notwendig, da die Erdachse im Laufe der Zeit ihre Lage im Erdkörper verändert, s. [2.5.3]. Die X, Z-Ebene repräsentiert die konventionelle „mittlere" Meridianebene von Greenwich. Sie ist durch die mittlere Rotationsachse und den Greenwich-Nullmeridian
30
2
Bezugssysteme
definiert, auf den sich die Weltzeit bezieht, s. [2.2.2], Die Z- und die X-Achse werden indirekt durch die Koordinaten von terrestrischen Festpunkten („fiducial stations") realisiert, s. [2.5.3]. Die 7-Achse ist so gerichtet, dass ein Rechtssystem entsteht. ζ
Abb. 2.7. Erdfestes geozentrisches kartesisches Koordinatensystem Die momentane Rotationsachse der Erde ist der gemeinsame Ausgangspunkt für die Definition der Z-Achsen des räum- und des erdfesten Bezugssystems. Die Zeitabhängigkeit der Systeme lässt sich durch Bezug auf eine bestimmte Referenzepoche modellieren, s. [2.4.2], [2.5.2], Die Richtungen der X-Achsen beider Systeme unterscheiden sich um den Winkel der mittleren Sternzeit Greenwich GMST, s. [2.2.2],
Um bestimmte physikalische Eigenschaften der Erde (Schwerefeld, Magnetfeld, Topographie usw.) analytisch und anschaulich zu beschreiben, werden häufig Kugelkoordinaten r, û, λ verwendet. Dabei ist r der radiale Abstand vom Geozentrum, û die Poldistanz (Kobreite) und λ die geozentrische Länge. Anstelle von f) wird auch die geozentrische Breite φ = 90°-ΰ
(2.13)
benutzt (Abb. 2.8). Die Position des Punktes Ρ ergibt sich dann zu ( X \ /sin û cos λ \ F I = /· I sin # sin λ I . Ζ) \ cos ϋ
J
2.5.2
(2.14)
Polbewegung, Tageslänge, Veränderung des Geozentrums
Die Rotation der Erde kann durch den zum Nordpol gerichteten Vektor der momentanen Drehachse und die Winkelgeschwindigkeit ω (2.7) beschrieben werden.
2.5 Terrestrisches Bezugssystem
31
Ζ Ρ
MERIDIAN^EBENE
+-Y
X Abb. 2.8. Kartesische Koordinaten und Kugelkoordinaten
Richtung und Betrag des Drehvektors verändern sich auf Grund astronomischer und geophysikalischer Vorgänge mit der Zeit. Zu den auslösenden Prozessen gehören die Änderungen in der Anziehungskraft von Mond und Sonne und Massenumverteilungen in der Atmosphäre und Hydrosphäre, in der festen Erde und im flüssigen Erdkern. Diese Veränderungen verlaufen säkular, periodisch oder quasiperiodisch und u n r e g e l m ä ß i g ( M O R I T Z u n d M U E L L E R 1987, D I C K E Y 1995), s. [8.3.1].
Unter der Polbewegung (polar motion ) verstehen wir die Verlagerung der Erdachse relativ zur Erdkruste, bezogen auf das erdfeste Koordinatensystem. Sie wirkt sich direkt auf die Koordinaten von Punkten auf der Erdoberfläche und auf den Schwerevektor aus. Die Polbewegung setzt sich aus mehreren Anteilen zusammen: •
Eine freie Schwingung mit einer Periode von etwa 435 Tagen (Chandler-Periode) und einer Amplitude von 0,1" bis 0,2" führt bei Sicht auf den Nordpol zu einer Bewegung im Gegenuhrzeigersinn. Diese Chandler-Schwankung (wobble) wird dadurch verursacht, dass die Drehachse der Erde nicht exakt mit einer Hauptträgheitsachse zusammenfällt. Bei einer starren Erde würde dies zu einem kreiseiförmigen Umlauf der Rotationsachse um die Hauptträgheitsachse mit einer Periode von A/(C — A) Tagen (Euler-Periode) führen. Dabei ist C das polare und A das mittlere äquatoriale Trägheitsmoment (bei angenommener Rotationssymmetrie mit Gleichheit der äquatorialen Momente A = Β). Der Unterschied zwischen der Chandler- und der Euler-Periode zeigt, dass die Erde von diesem starren Modell abweicht. Dabei vernachlässigen wir die Tatsache, dass die Richtungen der Rotationsachse und der raumfesten Drehimpulsachse voneinander abweichen. Diese Abweichung bleibt jedoch bei Perioden < 1 Tag kleiner als 0,001".
32
2
Bezugssysteme
•
Der Chandlerbewegung überlagert sich eine jährliche Schwingung, welche durch jahreszeitliche Verlagerungen von Luft- und Wassermassen verursacht wird. Sie verläuft in derselben Richtung wie die Chandler-Bewegung mit Amplituden von 0,05" bis 0,1".
•
Eine langsam fortschreitende säkulare Bewegung wurde im Verlauf der letzten mehr als 100 Jahre beobachtet. Sie verläuft in Form einer unregelmäßigen Drift von etwa 0,003"/Jahr in Richtung des Meridians 80° West. Diese Bewegung wird auf das Abschmelzen der polaren Eiskappen und auf großräumige tektonische Vorgänge zurückgeführt, über geologische Zeiträume kann sie große Beträge annehmen: Polwanderung.
•
Über Zeiträume von einigen Tagen bis Jahren werden unregelmäßige Variationen mit Amplituden bis zu 0,02" beobachtet. Sie resultieren im wesentlichen aus Massenumverteilungen innerhalb der Atmosphäre, jedoch spielen auch Volumenänderungen der ozeanischen Wassermassen, Schwankungen des Grundwasserstandes und Massenverschiebungen bei Erdbeben eine Rolle.
Die Überlagerung der einzelnen Polbewegungsanteile führt zu einer leicht gestörten spiralförmigen Bewegung des momentanen Pols mit langsam fortschreitender Mittellage (Abb. 2.9), SCHUH et al. (2001). Über ein Jahr bleiben die Abweichungen
.·•'...
·.'.•;.1996.0
xr> Abb. 2.9. Polbewegung 1 9 9 6 - 1 9 9 9 und mittlere Pollage 1 8 9 0 - 1 9 9 9 , aus IERS Annual Report 1998
des momentanen Pols von der mittleren Lage < 0,3", was einer Lageverschiebung von 9 m auf der Erdoberfläche entspricht. Die Bezugsrichtung zur Beschreibung der momentanen Pollage gegenüber der festen Erde wird durch den IERS Bezugspol (IERS reference pole) gegeben. Er stimmt innerhalb von ±0,03" mit dem Comentional International Origin (CIO) überein, welcher durch die zwischen 1900.0 und 1906.0 bestimmte mittlere Lage des Nordpols definiert ist. Die Lage des momentanen Pols (Celestial Ephemeris Pole, s. [2.4.2]),
2.5 Terrestrisches Bezugssystem
33
gegenüber dem Bezugspol ist durch die rechtwinkligen Koordinaten xp, y ρ gegeben, sie sind in der im Nordpol aufgespannten Tangentialebene definiert (Abb. 2.9). Die xAchse zeigt in die Richtung des mittleren Meridians von Greenwich (entspricht dem früheren BIH-Nullmeridian) und die v-Achse ist auf den 90°W-Meridian gerichtet. Diese ebenen Koordinaten werden i. Allg. als sphärische Abstände (in Bogensekunden) auf der Einheitskugel ausgedrückt. Die Winkelgeschwindigkeit ω der Erdrotation verändert sich von der Erde aus betrachtet ebenfalls mit der Zeit. Die relativen Änderungen erreichen einige 1 0 - 8 , was einigen ms über einen Tag entspricht. Die Änderungen werden i. Allg. durch die Abweichung der Umdrehungszeit von 86400 s angegeben und als Tageslänge (Length of Day) LOD bezeichnet. Bestimmt wird sie durch Vergleich der aus astronomischen Zeitbestimmungen hergeleiteten Weltzeit UT1 mit den gleichförmigen Zeitskalen TAI oder UTC, s. [2.2.2]. Die folgenden Variationen der Tageslänge sind beobachtet worden (Abb. 2.10):
» ι •••• I •••• I • ••• I « . . . I . . • • » • • • . I . . . . I 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 Abb. 2.10. Unterschied zwischen der Atomzeitskala TAI und der Weltzeit UT1 ( 1 9 6 2 - 1 9 9 8 ) und Tageslänge (LOD) 1 9 7 9 - 1 9 8 7 . nach IERS Inform. 1998
•
Eine säkulare Abnahme der Winkelgeschwindigkeit der Erdrotation. Sie ist hauptsächlich durch die Gezeitenreibung verursacht und bewirkt eine Zunahme der Tageslänge um etwa 2 ms/Iahrhundert.
•
Über Dekaden verlaufende Schwankungen. Sie werden auf Massenbewegungen im flüssigen Erdkern und langsame Klimaänderungen zurückgeführt.
•
Die Gezeiten der festen Erde und der Ozeane verursachen lang- (jährlich ) und kurzmonatlich und weniger) periodische Änderungen, welche 1 ms erreichen.
•
Saisonale Effekte werden durch atmosphärische Anregung und Veränderungen im globalen Wasser- und Eishaushalt erklärt.
•
Unregelmäßige Änderungen resultieren aus verschiedenen Quellen. Hierzu gehören terrestrische Massenverschiebungen (Erdbeben), variable Sonnenaktivität und ozeanisch-atmosphärische Vorgänge wie El Niño.
34
2
Bezugssysteme
Während die Auswirkung der Polbewegung auf geodätische Messungen vom Beobachtungsort abhängt, wirken sich Änderungen der Tageslänge an allen Orten gleich aus. Die Polkoordinaten und die Tageslänge werden ebenso wie ω als Erdorientierungsparameter (EOP) durch den IERS bereitgestellt, bei täglicher Auflösung ist die Genauigkeit dieser Parameter ± 0 , 0 0 0 3 " bzw. ± 0 , 0 2 m s und besser (REIGBER und FEISSEL 1997).
Die Lage des Geozentrums (Ursprung des terrestrischen Bezugssystems) gegenüber den Beobachtungsstationen verändert sich im Laufe der Zeit geringfügig. Aus Satellitenbahnanalysen konnten bisher jährliche und halbjährliche Variationen mit Amplituden von einigen mm/Jahr nachgewiesen werden. Diese Verschiebungen sind überwiegend durch Massenumverteilungen in der Atmosphäre und den Ozeanen sowie durch kontinentweite Grundwasseränderungen verursacht. Die jeweilige Lage des Geozentrums wird durch die Koordinaten der ITRF-Stationen, s. [2.5.3], mit einer Genauigkeit von wenigen mm festgelegt (MONTAG 1998). 2.5.3
Internationales Terrestrisches Bezugssystem
Das Internationale Terrestrische Bezugssystem (International Terrestrial Reference System) ITRS wird vom IERS durch ein globales Netz von geodätischen Stationen realisiert. Die geozentrischen kartesischen Koordinaten und die Geschwindigkeiten dieser Beobachtungsstationen bilden den Internationalen Terrestrischen Bezugsrahmen (International Terrestrial Reference Frame) ITRF. Die teilnehmenden Stationen führen die Beobachtungen entweder kontinuierlich oder nur in bestimmten Epochen aus, dabei werden oft auch verschiedene Raumtechniken angewandt (Abb. 2.11). Die 180* 210' 240" 270" 300" 330" 0' 90"
30' 60' 90' 120" 150" 180'
60"
30" 0' -30' -60'
-90" ANZAHL VERSCHIEDENER BEOBACHTUNGSTECHNIKEN:
• 1
· 2
· 3
#4
Abb. 2.11. Internationaler Terrestrischer Bezugsrahnien: ITRF-Beobachtungsstationen 1997, nach BOUCHER et al. (1999)
Beobachtungsstationen sind über zwölf der größeren tektonischen Platten verteilt, so dass die mit der Plattentektonik zusammenhängenden Horizontalgeschwindigkeiten
2.5 Terrestrisches Bezugssystem
35
abgeleitet werden können, s. [8.2.3], Der IERS veröffentlicht in jährlichen Abständen ITRF-Lösungen. So enthält ζ. B. ITRF97 die geozentrischen Positionen (Χ, Υ, Ζ) und die Geschwindigkeiten von über 550 Stationen, die auf etwa 320 Standorte verteilt sind (BOUCHER et al. 1999). Die Genauigkeit der Ergebnisse hängt von den verwendeten Beobachtungstechniken (und der Beobachtungsdauer) ab, höchste Genauigkeiten werden mit VLBI-, SLR- und GPS-Beobachtungen erreicht (±0,5 . . . 2 cm bzw. ± 1 . . . 3 mm/Jahr). Bei den Berechnungen werden verschiedene zeitabhängige Effekte berücksichtigt, dazu gehören u. a. Punktverschiebungen durch Erdgezeiten, ozeanische und atmosphärische Auflasten sowie postglaziale Ausgleichsvorgänge, s. [8.2.2], Die ITRF-Lösungen genügen der Bedingung, dass keine restliche „Netto"-Drehung ( residual net-rotation) in Bezug auf das Plattentektonik-Modell NNR- NUVEL 1A auftritt, vertikale Bewegungen werden überhaupt nicht zugelassen, s. [8.2.3]. Die Orientierung des ITRF ergibt sich durch den IERS-Bezugspol und den IERS-Bezugsmeridian, s. [2.5.2]. Der momentane (Zeit t) Ortsvektor r eines Punktes auf der Erdoberfläche wird aus seiner Lage zur Bezugsepoche (fo) wie folgt hergeleitet: r ( 0 = r o + ro(i-io),
(2-15)
wobei ro und ro die Position und die Geschwindigkeit zur Zeit to darstellen. Die Beziehung zwischen dem zälestischen (ICRS) und dem terrestrischen (ITRS) Bezugssystem ist durch räumliche Drehungen gegeben, welche von den in [2.2.2], [2.4.2], [2.5.2] eingeführten Erdrotationsparametern abhängen, MCCARTHY (1996),
RICHTER, BU. (1995). Die vollständige Transformation vom zälestischen zum terrestrischen System lautet: r(ITRS) = R2(-xp)R\(-yp)R3(GAST)N(t)P(t)r(lCRS).
(2.16)
Hierbei wird der im ICRS gegebene Positionsvektor zunächst durch die Präzessionsmatrix P(t) von der Bezugsepoche ío (J 2000.0) in die Beobachtungsepoche f transformiert. Die Nutationsmatrix N(t) bewirkt dann den Übergang vom mittleren zum momentanen wahren Äquator und Frühlingspunkt. Die in diesen Drehmatrizen auftretenden Eulerschen Winkel werden durch die Präzessions- und Nutationsmodelle bereitgestellt, s. [2.4.2]. Mit der scheinbaren Sternzeit Greenwich GAST, s. [2.2.2], wird das System anschließend um die Z-Achse gedreht: / cos ( G A S T ) Ä3(GAST)=
-sin(GAST)
V
sin ( G A S T )
0\
cos(GAST)
0
0
1
1
,
(2.17)
/
wobei GAST aus UT1 berechnet wird. Schließlich werden mit den Polkoordinaten χ ρ und y ρ (kleine Winkel) Rotationen im Gegenuhrzeigersinn um die X- und K-Achsen ausgeführt, s. [2.5.2]:
R\(-yp)=
/I 0 \0
0 1 yp
0 \ -yp , 1 /
R2(-xp)=\
/ 1 0 \-xp
0 xP\ 1 0 . 0 1 /
(2.18)
36
2
Bezugssysteme
Die Gleichungen (2.17) und (2.18) überführen das momentane raumfeste System in das konventionelle terrestrische System.
2.6
Schwerefeldbezogene Bezugssysteme
Die meisten an oder nahe der Erdoberfläche ausgeführten geodätischen und astronomischen Beobachtungen orientieren sich an der örtlichen Lotrichtung, sie beziehen sich also auf das Erdschwerefeld. Zur Modellierung dieser Beobachtungen werden lokale, auf das Schwerefeld bezogene Referenzsysteme eingeführt. Gegenüber dem globalen Bezugssystem sind diese lokalen Systeme durch die astronomische Breite und Länge orientiert [2.6.1]. Diese Orientierungsparameter erlauben dementsprechend auch die Transformation der lokalen Systeme in das globale System und zurück [2.6.2], 2.6.1
Orientierung der örtlichen Lotrichtung
Die Richtung der Lotlinie (örtliche Lotrichtung) wird gegenüber dem globalen geozentrischen System durch zwei Winkel festgelegt (Abb. 2.12). Die astronomische (geographische) Breite Φ ist der in der Meridianebene gemessene Winkel zwischen der Äquatorebene und der örtlichen Lotrichtung im Punkte Ρ . Sie wird vom Äquator aus nach Norden positiv und nach Süden negativ gezählt. Als astronomische (geographische) Länge Λ wird der in der Äquatorebene gemessene Winkel zwischen der Meridianebene von Greenwich und der Meridianebene durch Ρ bezeichnet, sie wird nach Osten positiv gezählt. Das Schwerepotential W ordnet Ρ im System der Niveauflächen W = const, ein, s. [3.2.1]. Die örtliche astronomische Mericlianebene wird dabei durch die Lotrichtung in Ρ und eine Parallele zur Rotationsachse aufgespannt, s. [2.4.1], Ζ
LOTLINIE
Abb. 2.12. Astronomische Breite und Länge
2.6 Schwerefeldbezogene Bezugssysteme
37
Wir führen in Ρ die äußere Flächennormale η (Einheitsvektor) zur Niveaufläche W = Wp ein. Sie ist zum Zenit gerichtet und damit entgegengesetzt zur Richtung des Schwerevektors g. Nach Abb. 2.12 gilt
(
cos Φ cos A\
cos Φ sin Λ sin Φ
J
.
(2.19)
Die Breite Φ und die Länge Λ können mit den Methoden der geodätischen Astronomie bestimmt werden, s. [5.3]. Sie bilden zusammen mit dem Potential W ein im Schwerefeld definiertes Tripel dreidimensionaler Koordinaten, s. [3.2.3].
2.6.2
Lokale astronomische Systeme
Geodätische und astronomische Beobachtungen beziehen sich auf die Richtung der Lotlinie im Beobachtungspunkt und damit auf das Erdschwerefeld, eine Ausnahme bilden die von einem Bezugssystem unabhängigen Streckenmessungen. Die Beobachtungen bauen so lokale schwerefeldbezogene Systeme auf: Lokale astronomische Systeme (Abb. 2.13). Der Ursprung dieser Systeme liegt im jeweiligen Beobachtungspunkt P . Die z-Achse fällt in die örtliche Lotrichtung und zeigt zum Zenit. Die x-Achse (Nord) und die v-Achse (Ost) spannen die Horizontalebene auf, sie ist tangential zur Niveaufläche W = Wp. Das x, y, z-System ist ein Linkssystem. Zu den in lokalen Systemen beobachtbaren geometrischen Größen gehören astronomische Azimute, Horizontalrichtungen und -winkel, Zenitwinkel, Raumstrecken und nivellierte Höhenunterschiede. Das astronomische Azimut A ist der in der Horizontalebene gemessene Winkel zwischen dem astronomischen Meridian von Ρ (x-Achse) und der durch die Lotrichtung in Ρ und den Zielpunkt P¡ aufgespannten Vertikalebene. Es wird von der .v-Ac h sc aus im Uhrzeigersinn positiv gezählt. Horizontalrichtungen und Horizontalwinkel lassen sich als Azimute ohne Orientierung bzw. als Azimutdifferenzen betrachten. Oer Zenitwinkel (auch Zenitdistanz) ζ ist der in der Vertikalebene gemessene Winkel zwischen der örtlichen Lotrichtung (z-Achse) und der Verbindungslinie zwischen Ρ und P,. Er wird von der z-Achse aus im Uhrzeigersinn positiv gezählt. Die Raumstrecke s ist die Länge der geradlinigen Verbindung zwischen Ρ und P¡. Das geometrische Nivellement orientiert sich ebenfalls an der örtlichen Lotrichtung, es liefert über kurze Distanzen den Höhenunterschied gegenüber der Niveaufläche W = Wp. Es lässt sich als Grenzfall der trigonometrischen Höhenbestimmung für einen Zenitwinkel von 90° ansehen. Schweremessungen und Messungen des Schweregradienten beziehen sich ebenfalls auf das lokale astronomische System. Nach Abb. 2.13 ergibt sich der Ortsvektor zwischen Ρ und l'¡ aus x\ /cos A sin z\
(
y Z
= i I sin A sin ζ I .
J
\
COS ζ
(2.20)
J
Das lokale astronomische System wird bei astronomischen und geodätischen Aufgabenstellungen benutzt.
38
2
Bezugssysteme ζ ZENIT
Abb. 2.13. Lokales astronomisches System
In der geodätischen Astronomie werden ausschließlich Richtungsmessungen (Zenitwinkel und Azimute) zu Himmelskörpern ausgeführt. Das lokale System wird hier als Horizontsystem und sein Ursprung als Topozentrum bezeichnet. Die Durchstoßpunkte der Lotrichtung durch die Himmelskugel ergeben den Zenitpunkt Ζ und den Nadirpunkt Z'. Der Schnitt der Horizontalebene mit der Himmelskugel ist der astronomische Horizont. Das Azimut wird in der Astronomie i. Allg. positiv vom Südpunkt aus über Westen nach Norden gezählt, wir behalten hier die geodätische Zählweise (positiv von Norden aus im Uhrzeigersinn) bei. Das Poldreieck (Abb. 2.14) verbindet das Horizontsystem mit dem äquatorialen Stundenwinkelsystem, s. [2.4.1], siehe auch Abb. 2.4. Es wird auf der Himmelskugel durch den Nordpol Ρ χ , den Zenitpunkt Ζ und
Abb. 2.14. Poldreieck (Astronomisches Dreieck)
den Himmelskörper S gebildet. Das Dreieck enthält die Ergänzungen der Deklination 0. Aus (3.25) bis (3.27) folgt, dass das Potential und seine ersten und zweiten Ableitungen eindeutige, endliche und stetige Funktionen sind, die im Unendlichen verschwinden. Wir wenden nun den Laplaceschen Differentialoperator Δ = div grad auf V an. Im X, Y, Z-System ergibt sich Δ ν = Vxx + V r r + v z z .
(3.28)
Beim Einsetzen von (3.27) in (3.28) heben sich die Terme auf der rechten Seite gegenseitig auf. Wir erhalten die Laplacesche Differentialgleichung zweiter Ordnung, welche das äußere Gravitationsfeld beherrscht: Δ ν = 0.
(3.29)
Stetige Funktionen mit stetigen ersten und zweiten Ableitungen, die (3.29) erfüllen, werden als harmonische Funktionen bezeichnet. Liegt der Aufpunkt Ρ innerhalb des Erdkörpers, so kann der Fall l = 0 eintreten. Dies erfordert wegen der Unstetigkeit von 1 /1 eine gesonderte Betrachtung. Hierzu denken wir uns Ρ von einer Kugel Κ (Mittelpunkt Po, Radius p) umschlossen; ρ wird hinreichend klein gewählt, so dass innerhalb von Κ die Dichte ρ = const, ist (Abb. 3.3). Das Potential in Ρ setzt sich aus den Anteilen der außerhalb und innerhalb von Κ liegenden Massen zusammen. Aus (3.10) und (3.21) folgt mit R = p,
r = q = y/(X - X0)2 + (Y - F 0 ) 2 + (Z - Z 0 ) 2
für das Gravitationspotential:
"-"///t+^^-T)· Erde-ÄT
48
3 Das Schwerefeld der Erde
KUGEL Κ
VARIABLE DICHTE ρ
Abb. 3.3. Gravitationspotential innerhalb der Erde
Beim Grenzübergang ρ —»· 0 und q 0 erhalten wir Übereinstimmung mit dem Ausdruck für das Außenraumpotential (3.10). Differentiation ergibt Vx = -G
Iff Hl
dm - jnGp(X
-
XQ)
Erd e-K
usw. Für q —> 0 muss auch gelten X — Xq = Y — Yo = Ζ — Zq 0, so dass sich wiederum Übereinstimmung mit dem Außenraumfall (3.26) ergibt. Die zweiten Ableitungen lauten rrr Vxx = —G Erde—Ä"
ι μ
dm
+
3G
rrr / / /
(x - x')2
dm
4 -
3π°Ρ
Erde-X
usw. Beim Grenzübergang q —> 0 bleibt der letzte Temi erhalten: Vxx = - A - t x G P
(3.30)
usw. Das Gravitationspotential und seine ersten Ableitungen sind also auch im Innenraum eindeutig, endlich und stetig. Die zweiten Ableitungen weisen nach (3.30) Unstetigkeiten bei abrupten Dichteänderungen auf. Einsetzen von (3.30) in (3.28) liefert die Poissonsche Differentialgleichung·. Δ y = -4nGp.
(3.31)
Im Innern der Erde ist V also keine harmonische Funktion. Schließlich nennen wir die Gaußsche Integralformel, welche die Normalenableitungen auf einer beliebigen Randfläche S (die i. Allg. keine Niveaufläche ist) und die im Laplace-Operator (3.28) enthaltenen zweiten Ableitungen miteinander verknüpft: AVdv.
(3.32)
3.1 Grundlagen der Schwerefeldtheorie
49
Dabei ist ν das Volumen des Körpers mit der Oberfläche S (Abb. 3.4). Der Term r^NDFLÄCHg
Abb. 3.4. Äußere Flächennormale auf der Randfläche und auf der Niveaufläche
auf der linken Seite kann als „gravitativer Fluss" durch S interpretiert werden. In der Potentialtheorie wird gezeigt, dass er der Gesamtmasse M
proportional ist:
=
JJj
ff S
dm
dV dns
= JJJ
p(r')dv
dS = -4nGM.
(3.33)
(3.34)
Einsetzen von (3.34) in (3.32) und Grenzübergang zum Quellpunkt P ' führt zur Poissonschen Differentialgleichung (3.31), im Außenraum (p = 0) geht sie in die Laplacesche Differentialgleichung (3.29) über. Auf der Grundlage des Gaußschen Satzes lassen sich fundamentale Beziehungen zwischen Beobachtungen im Schwerefeld und den die Oberfläche S beschreibenden Parametern herleiten, s. [6.5.1], 3.1.4
Zentrifugalbeschleunigung, Zentrifugalpotential
Wegen der Rotation der Erde um ihre Achse tritt im erdfesten System die Zentrifugaloder Fliehkraft auf. Wir unterstellen im folgenden eine Drehbewegung mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ω um eine gegenüber dem Erdkörper unveränderliche Drehachse. Die tatsächlich auftretenden kleinen zeitlichen Änderungen des Drehvektors können durch entsprechende Reduktionen berücksichtigt werden, s. [2.5.2]. Die auf die M a s s e n e i n h e i t w i r k e n d e
Zentrifugalbeschleunigung
ζ = (ω χ r) χ ω = ω'ρ
(3.35a)
ist senkrecht zur Drehachse nach außen gerichtet (Abb. 3.5). Mit der geozentrischen Breite φ ergibt sich der Abstand zur Drehachse ρ = r
cos
φ
50
3 Das Schwerefeld der Erde
MASSENSCHWERPUNKT
Abb. 3.5. Gravitation. Zentrifugalbeschleunigung und Schwere
und für den Betrag der Zentrifugalbeschleunigung (3.35b)
ζ = \z\ = co'r cos φ. Die
Winkelgeschwindigkeit ω = 7.292 115 χ IO" 5 rad s " 1
(3.36)
ist mit hoher Genauigkeit aus der Astronomie bekannt, s. [2.2.2]. Die Zentrifugalbeschleunigung ζ = |z| kann also bei bekannter Position von Ρ berechnet werden. Im erdfesten X. Y, Z-System fällt die Z-Achse mit der Drehachse der Erde zusammen, s. [2.5.1]. Wir haben also
= \p\=Jx2
+ Y2.
Mit ζ = grad Ζ führen wir das Zentrifugalpotential
(3.37)
ein:
Z = Z{p) = — p ¿ , 2
lim Ζ = 0. />—»o
(3.38)
Hinweis: Wir haben hier die Symbole ζ und Ζ für die Zentrifugalbeschleunigung und ihr Potential verwendet. Diese Bezeichnungen werden auch für lokale und globale Koordinaten benutzt. Zweimalige Differentiation und Anwendung des Laplaceschen Operators ergibt Δ Ζ = 2ω 2 .
(3.39)
3.1 Grundlagen der Schwerefeldtheorie
51
Die analytische Funktion Ζ ist also im Gegensatz zum Gravitationspotential V nicht harmonisch. Für Punkte auf dem Erdäquator hat das Zentrifugalpotential einen Wert von 1,1 χ 10 5 m 2 s~ 2 , und die Zentrifugalbeschleunigung beträgt 0,03 m s - 2 0,3% der Gravitation). An den Polen gilt Ζ = 0 und ζ = 0. 3.1.5
Schwerebeschleunigung, Schwerepotential
Die Schwerebeschleunigung oder Schwere g (lateinisch: gravitas) ist die Resultierende aus der Gravitation b und der Zentrifugalbeschleunigung ζ (Abb. 3.5): g = b + z.
(3.40)
Nach Multiplikation mit der Masse m des angezogenen Punktes erhalten wir die Schwerkraft F = mg. (3.41) Die Richtung von g wird als Lotrichtung, der Betrag g als Schwereintensität (meist ebenfalls nur Schwere) bezeichnet. Mit (3.10) und (3.38) ergibt sich das Schwerepotential der Erde: W = W(r) = V + Z = G j j j jdv
+ γρ2.
(3.42)
Erde
Die Schwerebeschleunigung folgt als Gradient des Potentials: g = grad W.
(3.43)
gT = (grad W)T = (Wx, WY, Wz).
(3.44)
Im X, Y, Z-System haben wir
Mit (2.19) ergeben sich die Komponenten des Schwerevektors, wobei die Richtung durch die Lotrichtungsparameter Φ, Λ ausgedrückt wird: (cos Φ cos Λ^ g = — gn = — g I cos Φ sin Λ | . sin Φ
(3.45)
Aus den entsprechenden Eigenschaften von Gravitation und Zentrifugalbeschleunigung folgt auch die Wirbelfreiheit des Schwerefeldes: rot g = rot grad W = 0,
(3.46)
was auch durch die Bedingungen = WYX,
Wxz
= Wzx,
WYZ = WZy
(3.47)
52
3 Das Schwerefeld der Erde
ausgedrückt werden kann. W und seine ersten Ableitungen sind wegen der Eigenschaften von V und Ζ im gesamten Raum eindeutig, endlich und stetig. Ausnahmen bilden die nicht interessierenden Fälle r oo (dann gilt auch Ζ oo) und g = 0 (Lotrichtung nicht eindeutig). Wegen der Eigenschaften des Gravitationspotentials V weisen die zweiten Ableitungen von W bei Dichtesprüngen Unstetigkeiten auf. Die für die Geodäsie wichtigste Unstetigkeit findet sich beim Übergang vom Außenraum in den Erdkörper. Hier tritt an der physischen Erdoberfläche ein Dichtesprung von l , 3 k g m - 3 (Luftdichte) auf 2 700 kg m - 3 (mittlere Dichte der oberen Erdkruste) auf. Mit (3.31) und (3.39) ergibt sich die erweiterte Poissonsche A f = —Απ Gρ + 2 ω 2 . Sie geht für den Außenraum ( ρ = 0) in die erweiterte Laplacesche chung über: AW = 2ω2.
Differentialgleichung (3.48) Differentialglei(3.49)
Wegen der Bedingungen (3.47) und (3.48) bzw. (3.49) besitzt das Schwerepotential W nur fünf (von insgesamt neun) voneinander unabhängige zweite Ableitungen. Sie stehen in engem Zusammenhang mit der Krümmung der Niveauflächen und der Lotlinien, s. [3.2.2], Wegen der Abplattung an den Polen und der Zentrifugalbeschleunigung hängt die Schwere von der geographischen Breite ab. Der für ein sphärisches Erdmodell geltende Gravitationswert von 9 , 8 2 m s - 2 , s. [3.1.2], verkleinert sich für ein ellipsoidisches Modell am Äquator und vergrößert sich an den Polen. Die Zentrifugalbeschleunigung führt zu einer weiteren Verkleinerung am Äquator, verändert aber die Gravitation an den Polen nicht, s. [3.1.4], Die Schwere variiert dann zwischen 9 , 7 8 m s - 2 (Äquator) und 9 , 8 3 m s - 2 (Pol), siehe auch [4.3],
3.2
Geometrie des Schwerefeldes
Geometrisch lässt sich das Schwerefeld durch die Niveauflächen und die Lotlinien darstellen [3.2.1]. Die örtlichen Feldeigenschaften werden durch die Krümmung der Niveauflächen und der Lotlinien beschrieben [3.2.2], hierauf kann ein System „natürlicher" Koordinaten aufgebaut werden [3.2.3],
3.2.1
Niveauflächen und Lotlinien
Die Flächen konstanten Schwerepotentials W = W(r)
= const.
(3.50)
werden als Äquipotentialflächen oder Niveauflächen der Schwere bezeichnet (auch Geopotentialflächen). Aus (3.43) ergibt sich bei einer infinitesimal kleinen Verschiebung ds die Potentialdifferenz von zwei differentiell benachbarten Niveauflächen
3.2 Geometrie des Schwerefeldes
53
(Abb. 3.6) zu dW = g • ds = g ds cos(g, ds).
(3.51)
Die Ableitung des Schwerepotentials in einer bestimmten Richtung ist demnach gleich der entsprechenden Komponente der Schwere. Da nur die Projektion von ds auf die Lotlinie in (3.51) eingeht, ist dW vom Weg unabhängig. Beim Fortschreiten auf einer Niveaufläche W = const, wird also keine Arbeit geleistet, die Niveauflächen sind Gleichgewichtsflächen.
Abb. 3.6. Benachbarte Niveauflächen und Lotlinie
Liegt ds in der Niveaufläche W = Wp. so folgt aus dW = 0, dass cos(g, ds) = cos90° = 0: die Schwere steht senkrecht auf W = Wp. Die Niveauflächen werden also von den Lotlinien senkrecht durchsetzt. Die Tangente an die Lotlinie in Ρ wurde als Lotrichtung bereits in [3.1.5] eingeführt. Fällt ds in die Richtung der äußeren Flächennormalen η, so gilt wegen c o s ( g , n) = cos 180° = —1 die wichtige D ifferent ialbeziehung dW = —g dn. (3.52) Sie liefert einen Zusammenhang zwischen dem Potentialunterschied (physikalische Größe) und dem Höhenunterschied (geometrische Größe) benachbarter Niveauflächen. Potentialunterschiede lassen sich also aus einer Kombination von Schweremessungen und (differentiellen) Höhenunterschieden berechnen, letztere können mit dem geometrischen Nivellement bestimmt werden, s. [5.5.3]. Variiert g auf einer Niveaufläche, so ändert sich nach (3.52) der Abstand dn zur benachbarten Niveaufläche. Die Niveauflächen verlaufen demnach nicht parallel, die Lotlinien sind doppelt gekrümmte Raumkurven. Aus der Schwerezunahme von 0,05 ms~ 2 vom Äquator zu den Polen folgt, dass die Niveauflächen der Erde zu den Polen hin relativ um 0,05 m s _ 2 / 9 , 8 m s - 2 oder um 5 χ 1 0 - 3 konvergieren. Zwei Niveauflächen, die am Äquator 100,0 m voneinander entfernt sind, haben also an den Polen nur noch einen Abstand von 99,5 m (Abb. 3.7). Die Niveauflächen innerhalb und im näheren Außenraum der Erde sind in sich geschlossene sphäroidische (kugelähnliche) Flächen. Das Geoid ist die Niveaufläche, welche den mittleren
54
3 Das Schwerefeld der Erde
,
LOTLINIEN
NIVEAUFLÄCHEN W = const.
Abb. 3.7. Niveauflächen und Lotlinien in Erdnähe Meeresspiegel approximiert. Wegen seiner Bedeutung als Höhenbezugsfläche wird es in [3.4] gesondert behandelt. Als äußere Begrenzung des Definitionsbereichs der Schwere kann die Niveaufläche angesehen werden, bei der sich im Äquator Gravitation und Zentrifugalbeschleunigung aufheben. Der Äquatorradius dieser Fläche beträgt 42 200 km. Das Konzept der Niveauflächen wurde von MacLaurin (1742) eingeführt, während Clairaut (1743) die Eigenschaften von Niveauflächen und Lotlinien gründlich erörterte. BRUNS (1878) schloss dann die Bestimmung der Gesamtheit der äußeren Niveauflächen in die Aufgabe der Geodäsie ein.
3.2.2
Lokale Schwerefelddarstellung, Krümmungen
Aus den Eigenschaften der Potentialfunktion W = W(r) folgt, dass die vollständig im Außenraum verlaufenden Niveauflächen analytische Flächen sind, also keine Ecken oder singuläre Punkte besitzen, s. [3.1.5], Sie können demnach auch in Taylor-Reihen entwickelt werden. Teilweise oder vollständig im Innenraum liegende Niveauflächen weisen bei Dichtesprüngen Unstetigkeiten in den zweiten Ableitungen auf. Diese Flächen lassen sich also nur aus Teilen analytischer Flächen zusammensetzen. Für die lokale Schwerefelddarstellung benutzen wir das in [2.6.2] eingeführte lokale χ, y, ^-System. Die Reihenentwicklung des Potentials W lautet dann in der Umgebung des Ursprungs Ρ + Wv.v + Wzz + ~{Wxxx2
W = Wp + Wxx + Wxyxy
+ u\,v-
Dabei sind Wx = dW/dx,Wxx
.2
+ Wvv ν2 + W
z z
r)
(3.53)
+ Wyz yz + •·•
= d2W/dx2.
W v v = d2W/dxdy
usw. die partiellen
Ableitungen erster und zweiter Ordnung in P . Liegt der Aufpunkt auf der durch Ρ verlaufenden Niveaufläche, so gilt w
=
W p ,
W
x
=
W y
= 0,
W
z
=
-g.
Die Auflösung nach ; liefert die Gleichung der Niveaufläche in der Umgebung von Ρ : (3.54)
3.2 Geometrie des Schwerefeldes
55
Hier haben wir die Glieder 3. und höherer Ordnung vernachlässigt, wobei ζ wegen der geringen Krümmung der Niveauflächen gegenüber χ und y nur von zweiter Ordnung Die Krümmung der Niveaufläche im Azimut A wird durch die Krümmung des entsprechenden Normalschnitts (Schnitt der Vertikalebene mit der Niveaufläche) beschrieben (Normalkrümmung). Sie ergibt sich aus der bekannten Formel für die Absenkung einer Kugel (lokale Approximation der Niveaufläche) gegenüber der horizontalen χ, y-Ebene: ζ = -
2 RA mit s = Abstand von Ρ und Ra = Krümmungsradius im Azimut A (Abb. 3.8).
(3.55)
z(ZENIT)
LOTLINIE
x(NORD) NIVEAUFLACHE
y( OST)
Abb. 3.8. Krümmung der Niveauflächen und der Lotlinien
Wir ersetzen x, y durch die lokalen Polarkoordinaten ν. ,4 : χ
=
s
cos A,
y
=
s
sin A
und führen (3.55 ) in (3.54) ein. Die Normalkriimmung 1 k
=
—
=
cos2 A +
(WKK
Ra
lautet dann
sin A cos A + Wvv sin" A).
2Wyv
(3.56)
g
Für die Krümmungen in x- und v-Richtung (A = 0° und A = 90°) erhalten wir 1 kv kx
~
T
r
~
g
=
1 R~v
Wy} g
(3.57)
wobei Rx und Ry die entsprechenden Krümmungsradien sind. Analog ergibt sich die geodätische Torsion in Richtung des Meridians (beschreibt die Richtungsänderung senkrecht zum Meridian): Wr
ír =
--
(3.58)
56
3 Das Schwerefeld der Erde
Die Normalkrümmung nimmt ihre Extremwerte in den zueinander senkrechten Hauptkrümmungsrichtungen Α ι und Αι = A \ ± 90° an. Aus einer Extrem Wertbetrachtung folgt Wxv tan 2A[ 2 = 2 " . (3.59) W x x - U vv Einsetzen von (3.59) in (3.56) ergibt die zugehörigen Hauptkrümmungen
Rau,2) Die mittlere Krümmung
= -~(WXX g
+ Wxv tan Ai 2)·
(3.60)
der Niveaufläche lautet J =
2
+ ky) = ~^~(WXX 2g
+ Wyy).
(3.61)
Außerhalb der Erdmassen können auch die Lotlinien analytisch beschrieben werden. Im lokalen astronomischen System lautet die Gleichung der Lotlinie χ = x(s),
y = y (s),
ζ = z(s),
(3.62)
wobei s die Bogenlänge in Schwererichtung ist (Abb. 3.8). Das Bogenelement ds unterscheidet sich also von der Schwere nur um den „Maßstabsfaktor" g: v \
A
(Wx
!
//
(3.63)
Wz
mit x' = dx/ds usw. Der Krümmungsvektor der Lotlinie liegt in der Hauptnormalen durch Ρ und somit in der Horizontalebene. Er ergibt sich zu
(3.64)
wobei κ die Totalkrümmung und A das Azimut der Hauptnormalen ist. Wir leiten (3.63) nochmals nach s ab und berücksichtigen, dass in Ρ dann x' = y' = 0 und z! = — 1 gilt. Einsetzen in (3.64) liefert κ =
Wxz g cos A
=
Wyz g sin A
(3.65)
und Wy, A = arctan ——. W xz
(3.66)
Die Krümmung der Projektionen der Lotlinie auf die x, z-Ebene (A = 0°) und die >·, ζ-Ebene (A = 90°) folgt aus (3.65) zu
3.2 Geometrie des Schwerefeldes
57
mit Κ
=
Λ/ /C^
Ky·
(3.56) bis (3.67) zeigen, dass die Krümmungen der Niveauflächen und der Lotlinien von den zweiten Ableitungen des Schwerepotentials abhängen. Wie für die Potentialfunktion diskutiert, s. [3.1.5], weisen sie also bei abrupten Dichteänderungen Unstetigkeiten auf. Der Schweregradiententensor (Eöfträ-Tensor) setzt sich aus den zweiten Ableitungen von W wie folgt zusammen: W
x
x
W
W
y
x
W y y
x
W
Z
W
y
x
z
W y
Z
(3.68)
y
E r k a n n m i t ( 3 . 5 7 ) , ( 3 . 5 8 ) , ( 3 . 6 7 ) u n d Wz = —g i n d e n Marassi-Tensor
transformiert
werden: AJE
1
grad g =
I tx
T
X
ky
K
κ},
X
| ,
(3.69)
welcher die Geometrie des Schwerefeldes vollständig beschreibt (GRAFAREND 1986, M O R I T Z u n d H O F M A N N - W E L L E N H O F 1 9 9 3 ) . W i e b e r e i t s in [ 3 . 1 . 5 ] e r l ä u t e r t , e n t h a l -
ten (3.68) bzw. (3.69) nur fünf voneinander unabhängige Elemente. Der Eötvös-Tensor (3.68) enthält den Schweregradienten (Wxz\ (dg/dx\ grad G = — I Wvz I = I dg/dy I , \WZZ/I ydg/dzj
(3.70)
welcher die Schwereänderung in der Horizontalebene und in der Lotrichtung beschreibt. Der Horizontalgradient setzt sich aus den Komponenten dg/dx und dg/dy zusammen und zeigt in Richtung der maximalen Schwerezunahme in der Horizontalebene. Die vertikale Komponente (oft als vertikaler Schweregradient bezeichnet) dg/dz beschreibt die Änderung der Schwere mit der Höhe. Kombinieren wir die erweiterte Poissonsche Differentialgleichung (3.48) AW = Wxx + Wyy + Wzz = -2gJ
- ^ = —ΑπGp + dz
2ω\
mit der mittleren K r ü m m u n g (3.61), so erhalten wir die von BRUNS (1878) g e f u n d e n e
Beziehung —
= -2g
J + Απ Gp -2ω2.
(3.71)
dz Sie verbindet den vertikalen Gradienten mit der mittleren Krümmung der Niveaufläche und erlaubt so die Bestimmung dieses Krümmungsmaßes aus Schweremessungen, s. [5.4.5],
58
3 Das Schwerefeld der Erde
3.2.3
Natürliche Koordinaten
Wir führen ein System von im Schwerefeld definierten nicht-linearen „natürlichen" Koordinaten Φ, Λ, W ein. Die astronomische Breite Φ und die astronomische Länge Λ beschreiben die Richtung der Lotlinie im Punkt P . Sie sind bereits in [2.6.1] als Orientierungsparameter des lokalen Schwerefeldsystems gegenüber dem globalen geozentrischen System eingeführt worden. Das Schwerepotential W ordnet Ρ in die Schar der Niveauflächen W = const, ein (Abb. 2.12). Der Punkt Ρ ist damit durch den nicht-orthogonalen Schnitt der Koordinatenflächen Φ = const., Λ = const, und W = const, festgelegt. Die Koordinatenlinien (doppelt gekrümmte Raumkurven) werden als astronomische Meridiankurve (Λ, W = const.), astronomische Parallelkurve (Φ, W = const.) und Isozenitale (Φ, Λ = const.) bezeichnet. Die natürlichen Koordinaten können unmittelbar aus Messungen bestimmt werden. Breite und Länge werden durch astronomische Ortsbestimmungen ermittelt, s. [5.3.2]. Obwohl W nicht direkt gemessen werden kann, lassen sich aus der Kombination des geometrischen Nivellements mit Schweremessungen Potentialunterschiede ableiten, die dann auf eine ausgewählte Niveaufläche, ζ. B. das Geoid, bezogen werden, s. [5.5.3], Der Zusammenhang zwischen dem globalen X, Y, Z-System und dem Φ, Λ, WSystem ergibt sich aus (3.45): ^cos Φ cos Λ^ g = grad W = -g ( cos Φ sin Λ | . sin Φ
(3.72)
Auflösung nach den natürlichen Koordinaten liefert die in hohem Maße nichtlinearen Beziehungen -Wz
Φ = arctan 2
Jw A = arctan
Wy
+
x
wf
,
(3.73)
W = W(X, Υ, Ζ). Differentialbeziehungen zwischen den lokalen kartesischen Koordinaten x, y, ζ (lokales astronomisches System) und dem globalen Φ, Λ, W-System erhalten wir mit 3Φ 3Φ 9Φ άΦ = — dx Η dy Η dz dx d}' dz usw., wobei dx, dy und dz aus örtlichen Messungen abgeleitet werden können, s. [2.6.2],
Die partiellen Ableitungen von Φ und Λ beschreiben die bei einer Bewegung im Schwerefeld auftretende Änderung der Krümmungen. Dies ist bei einer Bewegung in
3.2 Geometrie des Schwerefeldes
59
der Horizontalebene die Krümmung der Niveaufläche und bei einer vertikalen Bewegung die Krümmung der Lotlinie. Es gelten die folgenden Beziehungen: 3Φ
3Φ ky
cos3>3A
·
9Φ ír .
Κγ
dx dy dx cos®3A οοβΦΘΛ —: = ky, — = Ky, dy dz 3W 3W 3W =0, =0, = -g, dx 3}' dz
%
dz (3.74)
wobei die Krümmungs- und Torsionsparameter durch (3.57), (3.58) und (3.67) gegeben sind. Führen wir (3.74) in die obigen Differentialbeziehungen ein, so ergibt sich k
x
tx
0
tx ky
o
Κχ
\
Ky
i dx [dy
(3.75)
-gl \dz
Diese Beziehung enthält wiederum die Elemente des Marussi-Tensors (3.69), siehe GRAFAREND (1975), MORITZ und HOFMANN-WELLENHOF (1993).
Da die Orientierung der lokalen Systeme sich von Punkt zu Punkt ändert, liegen mit dx, dy, dz imperfekte Differentale vor, die Schleifenschlüsse weichen von Null ab: r
dx φ 0,
(j) dy φ 0,
ψάζφΟ.
(3.76)
Die Koordinaten Φ, Λ, W besitzen dagegen perfekte Differentiale mit den Schleifenschlüssen Γ
άΦ = 0,
j)dK
= 0, 2a2b
ω2α
«
GM
(4.50)
γα
das Verhältnis zwischen der Zentrifugalbeschleunigung und der Normalschwere am Äquator. Aus (4.48) und (4.49) folgen die entsprechenden Näherungen für das Theorem von Pizetti (4.42): GM = a2Ya(\
-
f
(
4
.
5
1
)
und das Theorem von Clairaut (4.43): f + ß=5-m.
(4.52)
Setzen wir (4.49) und (4.50) in (4.48) ein, so erhalten wir die Newtonsche formel, s. [1.3.2]: Vo = K / 0 + ßsin2 φ).
Schwere(4.53)
Sind auf dem Ellipsoid (Problem der Schwerereduktion!) zwei in verschiedenen Breiten ψ liegende Schwerewerte γο bekannt, so lassen sich aus (4.53) γα und β berechnen. (4.50) liefert bei bekannter großer Halbachse a und Winkelgeschwindigkeit ω die Größe m. Das Theorem von Clairaut (4.52) ergibt dann die geometrische Abplattung / , die damit aus Schwerewerten bestimmbar ist. Die Anwendung dieses Prinzips, d. h. die Herleitung geometrischer Formparameter aus physikalischen Größen, auf die tatsächliche Erde führt zur gravimetrischen Methode der physikalischen Geodäsie, s. [6.5.1], Die obigen, in f , β und m linearen Beziehungen lassen sich auch aus Reihenentwicklungen der geschlossenen Formeln herleiten. Sie wurden bereits von Clairaut in seinem Werk „Théorie de la Figure de la Terre" (1743) gefunden. Die Entwicklung bis zu den Gliedern der Ordnung / 2 ergibt (IAG 1971): 3 /
=
2
m / 2 +
2
9 , +
8
/ 2
5 β = —f -|—m 2 m =
15 +
17 14
3
28/2ίΜ fm-\
cú2a2b GM
γο = Υα(ί + β sin 2 φ + ßi sin 2 2φ),
+
15 4
, (454)
5 6 ^ 9
m2,
(4.55)7
V
,
(4.56)
βχ = \ f o
2
- \ f m . o
(4.57)
Eine der ersten Anwendungen des Theorems von Clairaut stammt von Helmert (1901). Die Ausgleichung von etwa 1 400 freiluftreduzierten Schwerewerten auf Grund der Schwereformel (4.57) ergab γα = 9,7803 m s " 2 und β = 0,005 302 sowie eine Abplattung / = 1 /298,3.
98
4 Das geodätische Erdmodell
Die harmonischen Koeffizienten zweiten und vierten Grades berechnen sich aus / und m wie folgt: 2 m 1 J2 = - f - - - - f
9 +
2 - f m ,
4 J4 = - - f
, 4 - f m .
+
(4.58)
Bei den heutigen Genauigkeitsansprüchen reicht meist eine Entwicklung bis η = 3 (entsprechend l = 6) aus, diese schließt die Glieder der O r d n u n g / 3 ein. Entwicklungen bis zur O r d n u n g / 5 finden sich bei CHEN (1982). Zur B e r e c h n u n g der N o r m a l s c h w e r e im Außenraum reicht in Erdnähe eine TaylorEntwicklung nach der ellipsoidischen H ö h e h aus:
+
/î +
^ = ^ (S)o Die partielle Ableitung dy/dh (3.71) auf den A u ß e n r a u m :
/î2 + KS)0 -·
ergibt sich durch A n w e n d u n g der Brunsschen
= -2yJ-2w2,
—
(459) Formel
(4.60)
wobei J die mittlere K r ü m m u n g des Ellipsoids (4.19) ist. Eine Reihenentwicklung bis zur O r d n u n g / führt auf die vertikale K o m p o n e n t e des normalen Schweregradienten:
ah
= —2—(1 + f + m — 2f sin 2 φ). a
(4.61)
Die zweite Ableitung lässt sich aus der sphärischen Approximation von γ herleiten, siehe (3.17). M i t GM dy GM γ — γ = —j-, — = - 2 rL y r = 2 .— i r
r
erhalten wir d2v ' ^ γ·
2
6 GM j-4
"
r r
γ
(4.62)
2
Einsetzen der ersten und der zweiten Ableitung in (4.59) liefert, w e n n auf der rechten Seite r = a und y = yo gesetzt wird, die Normalschwere als Funktion von Breite und Höhe: γ = y0
- ^ (1 + / + m - 2 / sin 2 φ)ΐι +
.
(4.63)
Bei größeren H ö h e n m u s s γ aus der Ableitung des Normalschwerepotentials (4.38) hergeleitet werden, wobei entweder im β , λ , α - S y s t e m oder nach entsprechender Transformation auch im φ, λ, /ι- oder im i f . λ, / -System gearbeitet werden kann, siehe HKISKANEN u n d M O R I T Z ( 1 9 6 7 , S. 2 2 8 ) .
Mit y = 9 , 8 1 m s ~ 2 und a = 6 3 7 8 km ergibt sich dy/dh = — 3,08μπΐ8~2/πι 2 2 m s u n d d y/dh = 1,5 χ 10 V / m . G e n a u e r e Zahlen werte finden sich in [4.3]. In Schwerereduktionen wird f ü r den vertikalen Gradienten konventionell der Wert —3,086 μ π ι β - 2 / ! ! ! benutzt.
4.2 Das Normalschwerefeld
4.2.3
99
Geometrie des Normalschwerefeldes
Die Geometrie des Normalschwerefeldes wird durch die Sphäropotentialflächen und die normalen Lotlinien repräsentiert. Die Sphäropotentialflächen sind Flächen konstanten Normalschwerepotentials: U = Ufr) = const.
(4.64)
Sie sind mit Ausnahme des Niveauellipsoids (U = i/o) keine Ellipsoide und verlaufen nicht parallel zueinander. Die normalen Lotlinien schneiden die Sphäropotentialflächen rechtwinklig, in der Meridianebene sind sie wegen deren Nichtparallelität leicht gekrümmt (Abb. 4.8 ). Zur geometrischen Beschreibung des Normalschwerefeldes wer-
Abb. 4.8. Sphäropotentialflächen, normale Lotlinien, Normalhöhe
den „normale" geodätische Koordinaten φΝ, λΝ, U eingeführt, sie sind in Analogie zu den „natürlichen" Koordinaten Φ, Λ, W des wirklichen Schwerefeldes definiert, s. [3.2.3]. Die normalen geodätischen Koordinaten beziehen sich auf den Punkt Q, welcher dem Oberflächenpunkt -Ρ(Φ, Λ, W) durch die Bedingungen φ% = ΦΡ,
λ ρ = Ap,
Uq = WP
(4.65)
zugeordnet ist. Die so punktweise definierte Fläche stellt eine Annäherung an die physische Erdoberfläche dar, die Abweichung bleiben kleiner als rund 100 m bzw. eine Bogenminute. Nach HlRVONEN (1960) wird diese Fläche als Telluroid bezeichnet. Das Telluroid ist keine Niveaufläche des normalen Schwerefeldes, sondern ähnelt in der Form der physischen Erdoberfläche. Die normale geodätische Breite φΝ ist der in der Meridianebene gemessene Winkel zwischen der ellipsoidischen Äquatorebene und der normalen Lotrichtung. Sie weicht von der in [4.1.1] eingeführten geodätischen Breite φ um den kleinen Winkel δφΝ ab, welcher als Folge der Lotkrümmung auftritt (siehe unten und Abb. 4.8 ). Die normale
100
4 Das geodätische Erdmodell
geodätische Länge λΝ entspricht der geodätischen Länge λ. Das Normalschwerepotential U ordnet den Punkt Q der Niveaufläche U = Uq ZU. Anstelle von U kann auch die Potentialdifferenz zum Niveauellipsoid i/o — UQ benutzt werden. Mit der geopotentiellen Kote C = Wo — Wp (3.105) und der Bedingung UQ = Wp gilt auch UQ = WQ. Hieraus lässt sich die bereits in [3.4.3] eingeführte Normalhöhe H» =
=
γ
W
°~W γ
P
(4.66)
ableiten. HN ist demnach längs der normalen Lotlinie als Abstand zwischen Q und dem Niveauellipsoid definiert. In guter Näherung kann HN auch längs der Ellipsoidnormalen durch den Oberflächenpunkt Ρ gemessen werden. Nach (3.108) ist γ die mittlere Normalschwere zwischen dem Ellipsoid und Q. Durch Einsetzen von γ aus (4.63) in (3.108) und Integration folgt hierfür γ =
γ ο
^ Ι - 1 ( 1 +f
+ m -2f
sin2 1 und proportional zur Dichte des Gases. Ist das Medium in einem bestimmten Spektralbereich dispersiv, so hängt η auch von der Wellenlänge ab: Dispersion. Nahe der Erdoberfläche gilt für η ein mittlerer Wert von 1,0003. Anstelle von η wird häufig der Ausdruck Ν = (Η - 1) · IO 6
(5.3)
benutzt. Einsetzen von (5.2) in (5.1) ergibt At =
-J Weg
nds = min.
(5.4)
108
5
Messmethoden
η ds = ds lässt sich (5.4) auch als Minimumsbedingung für die „elektromagnetische" Weglänge ausdrücken (Abb. 5.1 ): s
= J
J
ds =
Weg
η ds = min.
(5.5)
Weg
Die Lösung des Variationsproblems (5.5) ergibt den Weg s, dabei wird die Kenntnis von η entlang des Weges vorausgesetzt.
Abb. 5.1. Strahlkrümmung in der Atmosphäre
Der Einfluss der Refraktion auf die Strecke ergibt sich als Unterschied zwischen der wirklichen Weglänge s und der geradlinigen Verbindung ν (Sehne):
s —s =
J Weg
η ds — 0
j
j(n
ds =
j
η ds —
Weg
0
— \)ds + ^
0
J η ds^j.
(5.6)
Der erste Term auf der rechten Seite berücksichtigt den durch die längere Laufzeit in der Atmosphäre verursachten Längenunterschied, der zweite Term enthält den Einfluss d e r S t r a h l k r ü m m u n g auf d i e S t r e c k e n l ä n g e ( J A N E S et al. 1991).
Die Auswirkung der Refraktion auf die Strahlkrümmung lässt sich unter der Annahme einer horizontal geschichteten Luftdichte herleiten (Abb. 5.1). Das Brechungsgesetz von Snellius beschreibt in Übereinstimmung mit Fermats Prinzip die Krümmung eines Strahls beim Durchgang durch Schichten mit unterschiedlichem Brechungsindex: η sin ζ
=
const.
(5.7a)
Für zwei Punkte P\ und Po gilt entsprechend η ι sin
= η2 sin £2-
(5.7b)
5.1 Atmosphärische Refraktion
109
Unter obiger Voraussetzung ist der Winkel zwischen der Normalen zur Fläche η = const, und der Tangente an den Strahl mit der Krümmung 1 j r gleich dem Zenitwinkel z. Differentiation von (5.7) liefert sin zdn + η cos z. dz = 0. Mit dn = (grad n) • ds = \ grad η | cos ζ ds folgt für die Krümmung 1 dz - = — = r ds
I grad η \ . smz. η
(5.8)
Wird grad η in die horizontale und die vertikale Komponente aufgeteilt, so ergeben sich die Krümmungen der Strahlprojektionen in die Horizontal- bzw. Vertikalebene. Die Auswirkung dieser Krümmungen auf Horizontal- und Vertikalwinkel wird als Horizontalrefraktion (auch Seitenrefraktion) bzw. Vertikalrefraktion bezeichnet. Die Horizontalrefraktion ist um ein bis zwei Größenordnungen kleiner als die Vertikalrefraktion. Wird sie vernachlässigt, so ergibt sich ein vereinfachter Ausdruck für die Krümmung bei der Vertikalrefraktion: 1 - = r
1 dn — sin z, η dn
(5.9a)
wobei h die Höhe ist, s. [4.1.3]. Bei terrestrischen geodätischen Messungen ist « ~ 1 und ζ ~ 90°, so dass die vereinfachte Beziehung 1 dn - = - — (5.9b) r dn gilt. Anstelle von 1 / r wird oft der Refraktionskoeffizient k benutzt. Er ist als Verhältnis zwischen dem Erdradius R und dem Strahlkrümmungsradius r definiert: R dn k = — = —R — . r dh
(5.10)
Der vertikale Refraktionswinkel 8 ist die Auswirkung der Refraktion auf den Zenitwinkel (Abb. 5.2). Er ergibt sich aus der Integration von 1 jr bzw. dn/dh über den Weg: 1 r dn S= ~ (s-si)-ds. (5.11a) 5 Jo dh Hierbei wird der lokale Vertikalgradient von η in Abhängigkeit vom Abstand zum Beobachter gewichtet, dichter am Beobachter liegende Werte erhalten ein höheres Gewicht. Bei einem kreisförmigen Strahlverlauf (r = const.) reduziert sich (5.11a) unter Berücksichtigung von (5.10) zu 8 =
k 2R
—
(
5
.
1
1
b
)
110
5
Messmethoden ÖRTLICHE LOTRICHTUNG
BEOBACHTER Abb. 5.2. Vertikalrefraktion
Bei den meisten geodätischen Anwendungen wird das Signal durch Modulation der Trägerwelle übertragen. Dies lässt sich als Überlagerung einer Gruppe von Wellen verschiedener Frequenz auffassen. Während die in (5.2) eingeführte Phasengeschwindigkeit i>ph sich auf eine monochromatische Trägerwelle bezieht, breitet sich das Zentrum einer kurzen Wellengruppe (Signalenergie) mit der Gruppengeschwindigkeit dvph vix = vvu-X—— dk
(5.12)
aus. In einem dispersiven Medium gilt η = η (λ) und dv^/dX sich der entsprechende Gruppenbrechungsindex díiph ηgr = »ph - λ - ^ - = ííph +
φ 0. Mit (5.2) ergibt
í7«ph
, ,5 1 3 t · '
mit / = Frequenz, s. [5.1.2], [5.1.3]. Für eine Standardatmosphäre (Temperatur 273,15 K, Luftdruck 1013,25 hPa, Feuchtigkeit 0,0hPa, C0 2 -Gehalt 0,0375 %) wird die folgende Formel zur Berechnung der Phasenbrechzahl empfohlen (IAG-Resolution, Gen. Ass. Birmingham 1999): ^Vph = ("ph - 1)10 6 = 287,6155 +
1,62887 0,01360 ^ + ^ ,
(5.14)
hierbei ist λ die Trägerwellenlänge in μηι und η ρι, der entsprechende Phasenbrechungsindex. Für die Gruppenbrechzahl gilt: 4,88660 0,06800 6ή TQT jVgr = (ηοχ - 1)10ΛΟ =—287,6155 + I ' 2 — ++ L — 4 λ
λ
(5.15)
mit η gr = Gruppenbrechungsindex. Nach (5.6) und (5.11) hängt die Auswirkung der Refraktion auf Strecken und Winkel vom Brechungsindex und seinem Gradienten längs des Strahlweges ab, diese Größen verhalten sich in der Troposphäre und der Ionosphäre unterschiedlich.
5.1 Atmosphärische Refraktion
5.1.2
111
Troposphärische Refraktion
Die Troposphäre ist die untere Schicht der Atmosphäre. Sie erstreckt sich an den Polen bis zu einer Höhe von etwa 9 km und am Äquator bis zu 16 km. In der Troposphäre ist fast 90 % der Atmosphärenmasse konzentriert, hier finden die Wettervorgänge statt. Von der anschließenden Stratosphäre ist die Troposphäre durch die Tropopause getrennt. Troposphäre, Tropopause und Stratosphäre sind elektronisch neutral. Der Brechungsindex η hängt von der Temperatur Τ, dem Druck ρ und der Feuchtigkeit e ab. Für sichtbares Licht verhält sich die Troposphäre als dispersives Medium, s. [5.1.1 ]. Der Brechungsindex nimmt mit der Höhe ab und wird in einer Höhe von etwa 40 km genähert 1. Die bis zu dieser „effektiven" Höhe auftretende Wirkung der Strahlbrechung wird als troposphärische Refraktion bezeichnet. Oberhalb von etwa 70 km ist die Atmosphäre ionisiert, s. [5.1.3]. Die meteorologischen Parameter T, p, e hängen nicht nur stark von der Höhe, sondern auch von der geographischen Breite, der Land/Ozean-Verteilung, der Topographie und Vegetation sowie von örtlichen Gegebenheiten ab. Der Brechungsindex weist dementsprechend erhebliche Anomalien auf. Diese unterliegen außerdem zeitlichen Variationen von langzeitiger, saisonaler, täglicher und turbulenter Art. Rasche Veränderungen finden besonders nahe der Erdoberfläche in einer 10 bis 30 m mächtigen bodennahen Schicht statt. Die Temperatur
Τ nimmt in der Troposphäre etwa linear mit der Höhe h ab: dT/dH
?» - 0 , 0 0 6 5 ° C / m ,
(5.16a)
in der Stratosphäre folgt ein leichter Temperaturanstieg. Der horizontale Temperaturgradient kann einige ° C / 1 0 0 km erreichen. In Bodennähe sind Temperaturänderungen besonders ausgeprägt, hier findet sich u. a. eine nächtliche Temperaturinversion und eine mittägliche Konvektion. Der Luftdruck ρ nimmt exponentiell mit der Höhe ab. Unter der Annahme hydrostatischen Gleichgewichts hängt der vertikale Temperaturgradient von der Dichte ρ und der Schwere g ab. Nahe der Erdoberfläche führt dies unter Standardbedingungen (T = 288 Κ, ρ = 1013 hPa) zu dp/dh
= -pg
= - 0 , 0 3 4 ^ = -0,12hPa/m.
(5.16b)
Die Feuchtigkeit ist recht unregelmäßig verteilt. Sie konzentriert sich in einer wenige km mächtigen Schicht über dem Erdboden und variiert hier erheblich mit der Zeit. Gemessen wird die Feuchtigkeit durch den Partialdruck des Wasserdampfs e, nahe der Erdoberfläche beträgt dieser in mittleren Breiten 10 bis 2 0 h P a . Die Feuchtigkeit nimmt i. Allg. mit der Höhe ab, in Bodennähe gilt ein mittlerer Wert de/dh
= —0,0035 h P a / m .
(5.16c)
Zwischen dem Brechungsindex und den meteorologischen Parametern sind sowohl für Licht als auch für Mikrowellen empirische Beziehungen abgeleitet worden (L ANGLEY 1998). Falls der Zustand der Atmosphäre von der Standardatmosphäre, s. [5.1.1], abweicht, lässt sich die Gruppenbrechzahl von Licht und nahem Infrarot in umgebender
112
5
Messmethoden
feuchter Luft wie folgt berechnen (IAG Resolution, Gen. Ass. Birmingham 1999): Ν/ = (πι - 1)106 =
273,15 ρ e -AU-11,271013,25 Γ Τ
(5.17)
mit Τ in Kelvin und ρ und e in hPa. Gleichung (5.17) gilt auch mit der entsprechenden Phasenbrechzahl (5.14) für unmoduliertes Licht. Die Strahlenbrechung von Mikrowellen ist von der Wellenlänge unabhängig, sie lässt sich nach der Formel von THAYER (1974) berechnen, die praktisch mit der Formel von Essen und Froome (IAG Resolution, Gen. Ass. Berkeley 1963) identisch ist: Nm = (nm - 1)106 = 7 7 , 6 θ | - 1 3 ^ + 3,78 χ 1 0 5 ^ .
(5.18)
Der erste Term auf der rechten Seite von (5.18) repräsentiert eine „trockene" Komponente der Strahlenbrechung. Er trägt in den unteren 15 km etwa 9 0 % zur gesamten atmosphärischen Refraktion bei, unter der Annahme hydrostatischen Gleichgewichts lässt er sich mit Hilfe des an der Erdoberfläche gemessenen Luftdrucks modellieren. Die von e abhängigen Terme (besonders der letzte) stellen eine „nasse" Komponente dar. Diese ist äußerst schwer modellierbar, sie nähert sich aber in rund 10 km Höhe dem Wert Null an. Soll der in (5.17) und (5.18) durch die meteorologischen Parameter verursachte Fehleranteil im Brechungsindex jeweils 10~ 6 nicht überschreiten, so ist die Temperatur auf etwa ± 1 °C, der Luftdruck auf ± 3 , 5 hPa und die Feuchtigkeit auf ± 2 5 hPa (Licht) bzw. ± 0 , 2 hPa (Mikrowellen) genau zu bestimmen.
Die Ableitung von (5.17) und (5.18) nach der Höhe h liefert die Abhängigkeit der Strahlkrümmung von den meteorologischen Parametern. Mit (5.16b) und unter Vernachlässigung kleinerer Terme erhalten wir in den oberflächennahen Schichten für Licht dNi p i dT\ 11 de = - 7 8 - ^2 0 , 0 3 4 + — . (5.19a) dh T \' dh J Τ dh Für Mikrowellen lautet der letzte Term auf der rechten Seite (nasse Komponente): 3,7 χ 105 de T2 dh
(5.19b)
Soll der Refraktionskoeffizient k aus (5.10) mit einer relativen Genauigkeit von 1 % hergeleitet werden, so ist demnach für Licht die Temperatur auf ± 2 ° C , der Luftdruck auf ± 6 h P a und der vertikale Temperaturgradient auf ± 0 , 0 0 0 2 ° C / m zu bestimmen. Für Mikrowellen sind die zulässigen Unsicherheiten etwa zweimal so groß. Der Wasserdampfdruck-Gradient sollte für Licht mit einer Unsicherheit von ± 0 , 0 0 5 h P a / m und für Mikrowellen mit ± 0 , 0 0 0 1 h P a / m ermittelt werden. Besonders kritisch sind also die vertikalen Gradienten der Temperatur und, insbesondere für Mikrowellen, des Dampfdrucks. Nach (5.1 lb) verfälscht ein um 1 % fehlerhafter Refraktionskoeffizient den Refraktionswinkel bei einer Zielstrahllänge von 10 km um 0 , 2 " und bei 25 km um 0 , 4 " .
In den bodennahen Schichten führen die großen örtlichen und zeitlichen Änderungen der meteorologischen Parameter zu entsprechenden Änderungen des Refraktionskoeffizienten, wobei ausgeprägte saisonale und Tag/Nacht-Variationen auftreten
5.1 Atmosphärische Refraktion
113
(HÖPCKE 1964). Im Höhenbereich zwischen 40 m und 100 m über Grund gilt unter mittleren meteorologischen Verhältnissen am Tage bei klarem Himmel für Licht ki = 0,13
oder
r¡ = 8 R
(5.20a)
oder
rm=4R.
(5.20b)
und für Mikrowellen km=
0,25
Troposphärenmodelle basieren i. Allg. auf der Annahme sphärisch-konzentrischer Luftschichtung und vernachlässigen zeitliche Änderungen. Globale Modelle werden als „Standard-Atmosphäre" in Form vertikaler Profile für die Temperatur, den Luftdruck und die Dichte bereitgestellt. Die US Standard Atmosphere (1976) stellt eine Annäherang an die in mittleren Breiten für trockene Luft geltenden Verhältnisse dar, breitenabhängige und saisonale Abweichungen werden in Supplements angegeben (NOAA 1966, 1976). Zur Reduktion geodätischer Beobachtungen sind verfeinerte Refraktionsmodelle entwickelt worden, in welche auch die an der Erdoberfläche gemessenen Daten einfließen (SAASTAMOINEN 1972/73, NIELL 1996). Die Zunahme der Refraktion mit dem Zenitwinkel ζ wird hierbei durch eine „Abbildungsfunktion" (mapping function) berücksichtigt, bei nicht zu kleinen Höhenwinkeln stellt die Funktion 1 /cos ζ eine gute Annäherung dar. Die Phasenverzögerung, welche die GPS (Global Positioning System) Signale beim Durchlaufen der Atmosphäre erfahren, s. [5.2.5], kann für troposphärische und ionosphärische Untersuchungen genutzt werden (DAVIS et al. 1996). Wird die „trockene" Komponente aus der troposphärischen Signalverzögerung abgetrennt, so kann aus der „nassen" Komponente die Gesamtmenge des oberhalb der Beobachtungsstation befindlichen Wasserdampfes abgeschätzt werden. Diese Information wird heute durch permanente GPS-Netze, s. [7.3.1 ], global und regional mit hoher zeitlicher Auflösung geliefert (NOTHNAGEL 2000). Auf Satelliten in niedrigen Bahnen (Low Earth Orbiter: LEO) installierte GPS-Empfänger erlauben Atmosphärensondierungen mit Hilfe von Radioüberdeckungen. Beobachtet wird hierbei die durch die atmosphärische Strahlenbrechung induzierte Dopplerverschiebung, aus der sich in dichter zeitlicher Folge Profile des Drucks, der Temperatur und des Wasserdampfs sowie der Dichte herleiten lassen. Diese Ergebnisse dienen zur Entwicklung verfeinerter Troposphärenmodelle und in Zukunft auch zur Verbesserung der Wettervorhersage (GENDT et al. 2002). 5.1.3
Ionosphärische Refraktion
Die Ionosphäre als Teil der oberen Atmosphäre ist durch die Existenz von freien, negativ geladenen Elektronen und positiven Ionen gekennzeichnet. Verursacht wird die Ionisation durch die Einwirkung der ultravioletten Sonnenstrahlung, sie hängt von der Dichte des atmosphärischen Gases und der Strahlungsintensität ab. Die Ionosphäre erstreckt sich über den Bereich von etwa 60 km bis 1500 km über der Erde, die maximale Elektronendichte findet sich in einer Höhe von 200 bis 300 km. Für Frequenzen unterhalb 30 MHz wirkt die Ionosphäre wie ein Spiegel. Radiowellen höherer Frequenz durchlaufen die Ionosphäre, erfahren dabei aber eine frequenzabhängige Brechung (Dispersion). Messungen zu oberhalb der Ionosphäre befindlichen
114
5 Messmethoden
Zielen werden zusätzlich durch den Elektronengehalt in der Plasmasphäre beeinflusst; diese Schicht erstreckt sich am Äquator bis zu einer Höhe von einigen Erdradien, sie fehlt an den Polen (KLOBUCHAR 1991, WANNINGER 1995).
Der Brechungsindex hängt in erster Linie von der Elektronenanzahl Ne je m 3 ab: Elektronendichte. Der P/zasenbrechungsindex ergibt sich in erster Näherung zu Ne 1 - K-ß
nph=
(5.21)
mit der Konstanten Κ = 40,28 m 3 s~ 2 undder F r e q u e n z / . Höhere Terme der Ordnung 1 / / 3 und 1 / / 4 hängen auch von der Intensität des Erdmagnetfeldes und der Richtung der Signalausbreitung ab. JV e (el/m 3 ) beträgt am Tage zwischen etwa 108 und IO 10 (Höhenbereich 60 bis 90km), über 10 11 (105 bis 160km), zwischen 10 11 und 10 12 (160 bis 180 km) und 10 12 (300 bis 400 km). Aus (5.2) und (5.21) ergibt sich, dass die Phasengeschwindigkeit größer als die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum ist, dies entspricht einer im Vergleich zum Vakuum größeren Wellenlänge des Signals. Da die Signalfortpflanzung mit der Gruppengeschwindigkeit erfolgt, setzen wir (5.21) in (5.13) ein und erhalten den Gruppenbrechungsindex ngT = l + Kφ.
(5.22)
Einsetzen von (5.21) bzw. (5.22) in (5.6) liefert die Differenz zwischen der elektromagnetischen Weglänge s und der geradlinigen Verbindung s. Für die Messung von Trägerphasen (n p h) bzw. Strecken (n g r ) erhalten wir Κ (s - sOph = -(s - s)gr =
J
fs / Ngds, J0
(5.23)
wobei die geringfügige Auswirkung der Strahlkrümmung vernachlässigt ist. Das Integral der Elektronendichte längs des Signalweges wird als totaler Elektronengehalt (total electron content) TEC bezeichnet: TEC = f
Jo
Ne(s)ds.
(5.24)
Es entspricht der Gesamtzahl der Elektronen entlang des Signalweges, gemessen in einer zylindrischen Säule von 1 m 2 Querschnitt. Als Einheit wird 1TECU = 10 16 Elektronen/m 2 verwendet. Für eine sphärisch geschichtete Ionosphäre wird vom Elektronengehalt einer vertikalen Säule der Höhe h ausgegangen. Der Neigungsfaktor F (mapping function) liefert liefert dann den TEC längs des Signalweges: nh TE C = F
Jo
Ne(h)dh.
(5.25)
Für ζ < 70° gilt F ~ 1/ cos z¡, wobei z¡ der am Subionosphärenpunkt P¡ gemessene Zenitwinkel ist (Abb. 5.3). P¡ liegt in der „mittleren Höhe" h¡ der Ionosphäre
5.1 Atmosphärische Refraktion
115
(Einfachschicht-Modell) mit z.B. h¡ = 350km. z¡ lässt sich aus h¡ und dem am Boden gemessenen Zenitwinkel s berechnen: sin Zi =
R R + h,
sin z.
(5.26)
wobei R den Erdradius bezeichnet.
Abb. 5.3. Ionosphärische Refraktion Der Elektronengehalt in der Ionosphäre variiert erheblich mit der Zeit. Änderungen mit täglicher. saisonaler und etwa elfjährlicher (Zyklus der Sonnenaktivität) Periode sind besonders ausgeprägt, sie werden überlagert von unregelmäßigen Störungen. Kurzzeitige Oszillationen finden besonders in der Äquatorzone, aber auch in den polaren und auroralen Regionen statt (magnetische Stürme). Ionosphärische Störungen wellenähnlicher Struktur wandern mit Horizontalgeschwindigkeiten zwischen 100 und 1000 m / s mit Ausdehnungen von einigen 10 bis 1000 km und Perioden von einigen Minuten bis zu einigen Stunden.
Ionosphärenmodelle beschreiben die räumliche Verteilung von Ne und die zeitlichen Änderungen. Grandlage hierfür ist die Abhängigkeit des Ionosphärenzustandes von der Position der Sonne. Unter der Voraussetzung einer kugelschalenförmigen Verteilung stellen die Modelle den TEC-Verlauf in vertikalen Profilen und eine Abbildungsfunktion für die schräge Signalfortpflanzung zur Verfügung. Beispiele für solche Modelle sind die International Reference Ionosphere (IRI) 1995 und das GPS-Broadcast-Modell (KLOBUCHAR 1991). Auf Grund ionosphärischer Störungen können diese Modelle um einige 10% von der Realität abweichen. Verfeinerte Modelle berücksichtigen auch beobachtete Ionosphärenparameter und die Sonnenfleckenzahl (KLEUSBERG 1998). Andererseits kann wegen der Dispersion der größte Anteil des ionosphärischen Refraktionseffekts durch Verwendung von zwei Frequenzen zur Signalfortpflanzung e l i m i n i e r t w e r d e n , s. [5.2.4]. [5.2.5], [5.2.7], Aus der ionosphärischen Verzögerung von GPS-Signalen lassen sich Informationen über den Aufbau und das zeitliche Verhalten der Ionosphäre gewinnen. Die Analyse der beiden zur Eli-
116
5
Messmethoden
mination der ionosphärischen Refraktion benutzten Trägerwellen, s. [5.2.5], erlaubt die Berechnung des totalen Elektronengehalts (TEC) entlang der Verbindungslinie vom Empfänger zum GPS-Satelliten. Aus den Ergebnissen globaler GPS-Netze können so TEC-Karten erzeugt werden. Durch die Nutzung von GPS-Daten aus satellitengetragenen Empfängern wird sich diese Ionosphärenerfassung (ionospheric imaging) besonders in Bezug auf die vertikale Auflösung wesentlich verbessern (YUNCK und MELBOURNE 1996).
5.2
Satellitenbeobachtungen
Die Satellitengeodäsie benutzt künstliche Satelliten und den Mond als extraterrestrische Ziele und/oder als Sensoren. Für ein punktmassenförmiges Erdmodell wird die Bewegung des Satelliten durch die Keplerschen Gesetze beschrieben [5.2.1]. „Bahnstörungen" werden durch die Abweichungen des tatsächlichen Gravitationsfeldes vom Punktmassenmodell und durch nicht- gravitative Kräfte verursacht [5.2.2], Die für geodätische Aufgabenstellungen benutzten Satelliten unterscheiden sich je nach Missionszweck und Beobachtungsmethode im instrumenteilen Design, in der Instrumentierung und in den Bahnparametern [5.2.3], Die Leistungsfähigkeit der Satellitentechnik zum Aufbau großräumiger geodätischer Kontrollnetze und zur Bestimmung des Gravitationsfeldes wurde bereits in den 1960er bis 1980er Jahren mit unterschiedlichen, inzwischen teilweise klassischen Verfahren gezeigt [5.2.4], Heute wird das Global Positioning System (GPS) in allen Maßstäben zur dreidimensionalen Punktbestimmung eingesetzt [5.2.5]. Laserentfernungsmessungen dienen hauptsächlich zum Aufbau und zur wiederholten Vermessung globaler Netze [5.2.6]. Die Satellitenaltimetrie trägt durch die laufende Bestimmung der Meeresoberfläche wesentlich zur Modellierung der Schwerefeldes bei [5.2.7], Derzeit anlaufende „satellite-to-satellite tracking"und Schweregradiometrie-Missionen werden die hochauflösende Erfassung des Schwerefeldes und seiner zeitlichen Änderungen ermöglichen [5.2.8], Die Theorie der Satellitenbahnen und die Satellitenmessverfahren werden in den Lehrbüchern und Monographien zur Satellitengeodäsie behandelt, z.B. in Κ AULA ( 1 9 6 6 ) , SCHNEIDER ( 1 9 8 8 ) , S E E B E R ( 2 0 0 3 ) .
5.2.1
Die ungestörte Satellitenbewegung
Nach Trennung des Satelliten von seinem Träger beginnt der freie Umlauf um die Erde. Wir nehmen hierein gravitatives Massenpunktmodell (Zentralmasse) an, s. [3.1.2], die Satellitenmasse kann gegenüber der Masse der Erde vernachlässigt werden. Nicht berücksichtigt werden zunächst auch nicht-gravitative Störungen und der Einfluss anderer Himmelskörper (Zweikörperproblem). Die Bewegungsgleichung des Satelliten im Gravitationsfeld wird dann durch das zweite Newtonsche Gesetz geliefert: r = grad V =
GM r r rz
(5.27)
r ist der geozentrische Ortsvektor des Satelliten und r = d2r /dt1 seine Beschleunigung, M und V sind die Masse bzw. das Gravitationspotential der Erde, s. (3.16). Die
5.2 Satellitenbeobachtungen
117
Integration dieser vektoriellen Differentialgleichung zweiter Ordnung enthält sechs Integrationskonstanten, etwa die Position und die Geschwindigkeit zu einer bestimmten Epoche. Die grundlegende Theorie zum Zweikörperproblem wird von der Himmelsmechanik bereitgestellt. In der entsprechenden Literatur ( K O V A L E V S K Y 1 9 8 9 , S C H N E I D E R 1 9 9 2 / 1 9 9 3 ) finden sich auch die Grundlagen der Störungsrechnung und die Behandlung des Drei- und Mehrkörperproblems. Johannes Kepler ( 1 5 7 1 - 1 6 3 0 ) leitete aus den astronomischen Beobachtungen von Tycho Brahe ( 1 5 4 6 - 1601) drei Gesetze der Planetenbewegung her. Damit lässt sich auch die ungestörte Zentralbewegung eines Satelliten um die Erde (Erdmasse im Massenzentrum konzentriert) geometrisch beschreiben. Nach den Keplerschen Gesetzen bewegt sich der Satellit in einer Ellipsenbahn. Ein Brennpunkt der Ellipse mit der großen Halbachse a und der ersten numerischen Exzentrizität e (nicht zu verwechseln mit den entsprechenden Bezeichnungen für die Parameter des Erdellipsoids!) fällt mit dem Massenzentram der Erde zusammen. Im Satellitenbahnsystem wird der Satellitenort durch den Abstand r vom Massenzentrum und die wahre Anomalie ν beschrieben (Abb. 5.4). Hierbei ist ν der geozentrische
Abb. 5.4. Satellitenbahnsystem Winkel zwischen den Richtungen zum Satelliten und zum Perigäum (erdnächster Punkt des Satelliten). Anstelle von υ kann auch die exzentrische Anomalie E benutzt werden, wobei folgende Beziehungen gelten:
r = a( 1 — e c o s E),
tan υ =
V i — e 2 sin E cos E — e
Mit dem dritten Keplerschen Gesetz führen wir die mittlere
« =
.
Winkelgeschwindigkeit
GM
ein, sie beschreibt eine mittlere Bahnbewegung. Die mittlere M = ñ(t - Τ)
(5.28)
(5.29) Anomalie (5.30)
118
5
Messmethoden
ist ebenfalls zur Festlegung des Satellitenortes in seiner Bahn geeignet. Sie wird häufig benutzt, da sie linear mit der Zeit t wächst. Τ ist der Zeitpunkt des Durchgangs durch das Perigäum. Aus kann iterativ mit Hilfe der berechnet werden:
M
E
Keplerschen Gleichung
M = E-esmE.
(5.31)
Das Bahnsystem lässt sich durch drei Rotationen in das raumfeste Äquatorsystem, s. [2.4.1], transformieren (Abb. 5.5). Die Rektaszension des aufsteigenden Knotens Ω ζ
Abb. 5.5. Bahn- und Äquator-System
und die Inklination i orientieren die Bahnebene im Raum. Das Argument des Perigäums ω liefert die Orientierung der Ellipse in der Bahnebene. Ergebnis dieser Transformation ist der geozentrische Ortsvektor (2.11) als Funktion der sechs und (oder gleichwertig Τ):
Bahnelemente a, e, Ώ,ί,ω
(
ν
Keplerschen
Ε, Μ,
cos S cos ce\ /cos(co + v) cos Ω — sin (ω + ν) sin Ω cos ιΛ cos ist wegen der Relativgeschwindigkeit s = ds/dt des Satelliten in Bezug auf den Beobachter gegenüber fs verschoben (Doppler-Effekt):
fg - f
= ~-s. c
(5.40)
Die Doppler-Frequenzverschiebung ist proportional zu s; im Zeitpunkt der größten Annäherung des Satelliten an den Beobachter ( j = 0) tritt eine Vorzeichenumkehr ein. Aus (5.40) lässt sich grundsätzlich eine Streckenänderung (range rate) durch Integration über die Zeit bestimmen. In der Praxis wird fg mit einer im Doppler-Empfänger erzeugten konstanten Bezugsfrequenz / ο ~ / , verglichen. Integration über ein Zeitintervall ergibt den Doppler-Zählwert (Doppler count) f t j + Atj Nij=
(fo~fg)dt.
(5.41)
Jti + Ati Mit (5.40) erhalten wir die
Beobachtungsgleichung
NU = (/o - f Wj - t¡) + ^ ( S j -s¡),
(5.42)
sie erlaubt die Berechnung der Streckenänderung s ¡ — s¡ aus den Doppler-Zählwerten. Dopplermessungen sind als Mikrowellenmessungen unabhängig von den Wetterbedingungen, innerhalb kurzer Zeit können große Datenmengen gewonnen werden.
5.2 Satellitenbeobachtungen
127
Heute werden Dopplermessungen bei verschiedenen Satellitenmissionen und bei dem DORIS-Positionierungssystem genutzt, s. [5.2.3]. Das Navy Navigation Satellite System (NNSS) oder Transit System stellte eine wichtige Anwendung von Dopplermessungen dar (ANDERLE 1986). Als Navigationssystem für die US Marine entwickelt, wurde es früh für zivile Anwender geöffnet und zwischen 1964 und 1996 erfolgreich genutzt. Eine Positionsbestimmung basierte auf jeweils 4 bis 7 im Umlauf befindlichen TransitSatelliten (h = 1 100 km, i s=¡ 90°), welche kontinuierlich Frequenzen von 150 und 400 MHz ausstrahlten. Die Bahnebenen der Satelliten waren in Bezug auf die geographische Länge gleichmäßig so verteilt, das wegen der Erdrotation am Äquator spätestens nach jeweils zwei Stunden ein Satellit sichtbar wurde. Die Satellitenbahnen wurden durch Dopplermessungen von vier in den USA gelegenen Tracking-Stationen bestimmt. Die Ephemeriden bezogen sich ursprünglich auf das World Geodetic System 1972 (WGS72) und später auf das WGS84, s. [5.2.5], Die von den Satelliten in Zwei-Minuten Intervallen ausgesendeten „broadcast ephemeris" besaßen eine Genauigkeit von ± 1 0 bis 2 0 m , außerdem wurden UTC Zeitsignale abgegeben. Autorisierten Nutzern wurden später auch die „precise ephemeris" ( ± 1 bis 2 m) zur Verfügung gestellt. Unter den kommerziell vertriebenen Doppler-Empfängern befanden sich auch einige speziell auf geodätische Nutzungen abgestimmte tragbare Systeme. Hauptbestandteile dieser Empfänger waren der Referenz-Oszillator, der Mikroprozessor, eine Datenaufzeichnungseinheit, die Antenne und die Energieversorgung. Der Einfluss der ionosphärischen Refraktion konnte weitgehend durch die Benutzung von zwei Frequenzen eliminiert werden, s. [5.1.3]. Der Einfluss der troposphärischen Refraktion wurde mit Hilfe von Atmosphärenmodellen und gemessenen meteorologischen Daten berechnet, s. [5.1.2], Aus einem Satellitendurchgang konnte die Lage auf ± 1 0 bis 3 0 m bestimmt werden, bei 30 bis 50 Durchgängen reduzierte sich diese Unsicherheit auf ± 2 bis 5 m (broadcast ephemeris) bzw. ± 0 , 5 bis 1 m (precise ephemeris). Relative Punktbestimmungen nutzten simultane Messungen auf zwei oder mehr Bodenstationen. Hierdurch reduzierten sich Bahnund Refraktionsfehler weitgehend, so dass Streckengenauigkeiten von ± 0 , 2 bis 0 , 5 m erzielt wurden (SEEBER et al. 1982).
Mit der vollen Operationalität des GPS-Systems wurde das NNSS-System nicht mehr weiter aufrechterhalten. 5.2.5
Global Positioning System (GPS)
Das NAVSTAR/GPS (Navigation System with Time and Range/ Global Positioning System) ist ein satellitengestütztes Radionavigationssystem. Es wird vom US Department of Defense (DOD) betrieben. Die Systementwicklung begann 1973,1978 wurden die ersten GPS-Satelliten in Umlauf gebracht, und 1993 wurde das Sytem vollständig operationell. GPS erlaubt die Echtzeitnavigation und die Positionsbestimmung mit Hilfe von Einweg-Mikrowellen-Entfernungsmessungen zwischen dem Satelliten und dem GPS-Empfänger. Die Nutzung von GPS für geodätische Zwecke wurde früh untersucht (SEEBER 1984), und die GPS-Positionierung wird heute in der Geodäsie für die unterschiedlichsten Aufgaben globaler, regionaler und lokaler Art eingesetzt, einschließlich der Bestimmung von Punktbewegungen. Zum GPS-Verfahren existieren ein e A n z a h l v o n L e h r b ü c h e r n (u. a. LEICK 1995, H O F M A N N - W E L L E N H O F et al. 2 0 0 1 ) ,
128
5
Messmethoden
siehe auch SEEBER (2003) und zum aktuellen Stand TEUNISSEN und KLEUSBERG
(1998a) sowie die Proceedings der Satellite Division des Institute of Navigation (ION). Das Grundkonzept von GPS besteht darin, an jedem Punkt der Erde ständig wenigstens vier Satelliten oberhalb des Horizonts verfügbar zu haben. Im Prinzip lassen sich bereits aus drei gemessenen Strecken die dreidimensionalen Koordinaten der Empfängerantenne als Schnitt von Kugelschalen berechnen. Eine vierte Streckenmessung ist erforderlich, da die Uhren im Satelliten und im Empfanger nicht synchronisiert sind, also ein Synchronisationsfehler als vierte Unbekannte auftritt. Die aus der Signallaufzeit abgeleiteten Strecken werden deshalb auch als Pseudoentfernung (pseudo range) bezeichnet (Abb. 5.8). SAT Β
ρ GPS EMPFÄNGER Abb. 5.8. G P S - P o s i t i o n s b e s t i m m u n g
Wir unterscheiden zwischen dem Raum-, dem Kontroll- und dem Nutzer- Segment von GPS. Das Raumsegment besteht aus mindestens 21 Satelliten (+ 3 zusätzlichen Reservesatelliten), die in sechs genähert kreisförmigen Bahnen (/ = 55°, 12 h Umlaufperiode) in einer Höhe von etwa 20 200 km angeordnet sind (Abb. 5.9, Abb. 5.10). Wegen der begrenzten Lebensdauer eines Satelliten (im Durchschnitt 10 Jahre) ist ein regelmäßiger Ersatz in Blöcken vorgesehen, wobei mit jedem Block auch technische Verbesserungen vorgenommen werden; im Mai 2001 waren 23 Satelliten vom Block II bzw. IIa und 6 Satelliten vom Block HR (replenishment) im Orbit. Ab 2005 wird die Nachfolgegeneration Block IIF (follow-on) gestartet. Atomuhren (zwei Rubidium- und zwei Cäsium-Uhren je Satellit) mit einer relativen Langzeitstabilität von 10 12 bis 10~ 13 dienen als Frequenzstandard hoher Präzision, s. [2.2.1], Sie liefern die Grundfrequenz von 10.23 MHz. Durch Multiplikation werden hieraus zwei Trägerwellen im L-Band erzeugt und kontinuierlich ausgesendet (LI: 1575,42 MHz entsprechend 19,0 cm Wellenlänge, L2: 1127,60 MHz entsprechend 24,4 cm). Den LI und L2 Trägern sind zwei Code-Signale und ein Datensignal (Navigationsnachricht) aufmoduliert. Bei den Codes handelt es sich um binäre Signale
5.2 Satellitenbeobachtungen
Abb. 5.9. GPS (Global Positioning System) Satellit. The Aerospace Corporation, El Segundo, CA. USA
129
Abb. 5.10. GPS-Konfiguration
(Folge von + 1 und —1) mit zufallsähnlichem Charakter (pseudo-random noise PRN), Abb. 5.11. Der CIA-Code (coarse/acquisition code) ist nur auf LI mit einer WiederhoZEIT TRÄGER CODE
»—*
·
* ·
*——•
mmmmmwmm π
SIGNAL
* ·
r u
υ
mummmmm
Abb. 5.11. GPS-Signale
lungsrate von 1 ms moduliert (Frequenz 1,023 MHz entsprechend 293 m Wellenlänge). Der Ρ-Code (precise code) ist auf LI und L2 moduliert (Frequenz 10,23 MHz entsprechend 29,3 m), die Wiederholungsrate beträgt 266 Tage. Er dient hauptsächlich zur präzisen Navigation und ist autorisierten Nutzern vorbehalten. Die Navigationsnachricht (navigation message) wird auf LI und L2 ausgesendet. Sie enthält die SatellitenEphemeriden (broadcast ephemeris) in Form von Keplerelementen, verschiedenen Zeitableitungen und Bahnkorrekturen, eine Uhrkorrektion (auf GPS-Zeit bezogen), die Koeffizienten eines troposphärischen Refraktionsmodells und Informationen über den Status des GPS-Systems. Die vorausberechneten Broadcast Ephemeriden besitzen eine Genauigkeit von einigen m und nähern sich heute der Submeter-Genauigkeit. Mit dem vollen Ausbau des GPS-Systems wurde vom DOD der Zugang für zivile Nutzer eingeschränkt. Der Präzise Positionierungsdienst (Precise Positioning Service PPS) liefert autorisierten Nutzern (in der Regel militärische Dienststellen) sämtliche GPS-Signale und damit die volle Systemgenauigkeit ( ± 1 0 bis 20 m oder besser). Der Standard-Positionierungsdienst (Standard Positioning Service SPS) stellt nur den C/A-
130
5
Messmethoden
Code bereit. Der P-Code ist durch Anti-Spoofing (AS) verschlüsselt, was zu dem unzugänglichen Y-Code führt. Zwischen 1990 und 2000 waren die GPS-Signale für nicht autorisierte Nutzer nur beschränkt verfügbar: Selective Availability (SA). Erreicht wurde das durch eine systematische Verfälschung der Satellitenuhren und eine Manipulation der Ephemeridendaten. Dies führte zu größeren Fehlern in den Pseudoentfernungen, die absolute Genauigkeit der Positionsbestimmung verringerte sich auf etwa 100 m in der horizontalen Lage und 150 m in der Höhe. Bei geodätischen Anwendungen konnten diese Einflüsse weitgehend durch Differentialtechniken eliminiert werden. Die Aufhebung von SA führte dann wieder zu einer Genauigkeitssteigerung bei der Positionierung und der Zeitübertragung, heute wird fast die für autorisierte Nutzer erreichbare Genauigkeit gewährleistet.
Das GVS-Kontrollsegment ist für den laufenden Betrieb des Satellitensystems, die Bestimmung der GPS-Zeit und die Vorausberechnung und Speicherung der Navigationsdaten verantwortlich. Es besteht aus der Hauptkontrollstation (master control station) in Colorado Springs, CO, USA, und fünf global verteilten Monitorstationen. Die Stationen sind mit Cäsium-Oszillatoren und GPS-Empfängern ausgerüstet. Sie messen kontinuierlich die Pseudoentfernungen zu sämtlichen Satelliten und übertragen die Ergebnisse zur Hauptkontrollstation. Nach Berechnung der Satellitenbahnen und der Uhrkorrektionen werden die (extrapolierten) Broadcast Ephemeriden und die GPSZeit über Bodenantennen an die Satelliten übertragen und dort gespeichert. Dieses operationeile Kontrollsystem wird durch eine Anzahl zusätzlicher, von der U.S. National Imagery and Mapping Agency (NIMA) betriebenen Monitorstationen (1997: 7 Stationen) ergänzt. Die GPS Ephemeriden beziehen sich auf ein erdfestes, durch die Koordinaten der Monitorstationen definiertes System: World Geodetic System (WGS). Es wurde seit Ende der 1950er Jahre vom DOD entwickelt und mit den Bezeichnungen WGS 60, WGS 72 und WGS 84 realisiert. Das WGS soll als Grundlage für die Kartenherstellung, die Positionsbestimmung und die Navigation dienen und internationalen Standards für geodätische Bezugssysteme genügen. Die Definitionsparameter für die jüngste Version d e s W G S 8 4 l a u t e n (SLATER u n d MALYS 1 9 9 8 , N I M A 2 0 0 0 ) :
•
große Halbachse a = 6 378 137 m,
•
reziproke Abplattung 1 / / = 298,257 223 563,
•
geozentrische Gravitationskonstante GM = 398 600,4418 χ 109 m 3 s 2 , einschließlich des Atmosphärenanteils GM a t m = 0,35 χ IO9 nr s ,
•
Winkelgeschwindigkeit der Erdrotation ω = 7,292 115 χ IO" 5 rad s " 1 .
WGS 84 fällt damit praktisch mit dem Geodätischen Bezugssystem 1980 zusammen, s. [4.3], Das zugehörige Schwerefeld ist durch das globale Geopotentialmodell EGM 96 (vollständige Kugelfunktionsentwicklung bis zu Grad und Ordnung 360) gegeben, s. [6.6.3]. Die Koordinaten der Monitorstationen beziehen sich auf die Epoche 1997.0, berücksichtigt ist die Auswirkung der Erdgezeiten (tide-free system), s. [3.4.1], und der
5.2 Satellitenbeobachtungen
131
tektonischen Plattenbewegungen. Die Genauigkeit der WGS 84-Koordinaten beträgt ± 0 , 0 5 m, in diesem Maße stimmen auch das WGS 84 und das Internationale Terrestrische Bezugssystem (ITRF) überein, s. [2.5.3]. Die GPS-Zeit (Einheit SI-Sekunde) wird durch die Cäsium-Uhren der Kontrollsegment-Stationen definiert. Sie stimmte am 5. Januar 1980 mit UTC überein und unterscheidet sich inzwischen näherungsweise um eine ganze Zahl von Sekunden. Diese sich vergrößernde Differenz wird dadurch verursacht, dass in die GPS-Zeit keine Schaltsekunden eingefügt werden, s. [2.2.2], Der aktuelle Unterschied (einige 10ns) zwischen GPS-Zeit und UTC ist Teil der GPS-Navigationsnachricht ( ± 1 0 n s ) . GPS ist damit auch ein sehr leistungsfähiges System zur Zeitübertragung. Die Genauigkeit eines Uhrenvergleichs beträgt ± 100 ns, sie erhöht sich bei Differentialtechniken auf ± 10 ns und besser. Zur Zeitübertragung stehen auch spezielle GPS-Zeitempfänger zur Verfügung, die als C/A-Einkanal-Instrumente automatisch operieren. Seit den 1970er Jahren wurde in der früheren Sowjetunion ein ähnliches Satelliten-Navigationssystem entwickelt: GLONASS (Global Navigation Satellite System). Es arbeitet ebenso wie GPS als Einweg-Entfernungsmesssystem und ist seit 1996 betriebsbereit (ZARRAOA et al. 1997). Im Vollausbau soll das System aus 24 Satelliten (einschließlich von drei Reservesatelliten) bestehen, die in einem gleichmäßigen Abstand von 45° über drei genähert kreisförmige, um 120° gegeneinander versetzte Bahnen (i = 64,8°, h = 19 100 km, Umlaufzeit etwa 11,2 h) so verteilt sind, dass jederzeit fünf Satelliten sichtbar sind. Die Satelliten senden in zwei Frequenzbändern (1 602 — 1 615 MHz, 1 246 — 1 256 MHz) mit verschiedenen Frequenzen für jeden Satelliten (im Gegensatz zu GPS). Die C/A- und P-Code Modulationen sind dagegen für alle Satelliten gleich. Eine Signalverfälschung wird bei GLONASS nicht vorgenommen. Zur Bahnbestimmung sind die Satelliten mit Laser-Reflektoren ausgestattet. Das Kontrollsegment besteht aus einer Hauptkontrollstation nahe Moskau und einer Anzahl von Sekundärstationen, die über das Gebiet der früheren Sowjetunion verteilt sind. Die Ergebnisse der GLONASS Positionsbestimmung beziehen sich auf das Referenzsystem PZ90, welches auf dem sowjetischen Bezugssystem SGS85 beruht. Die Transformationsparameter des PZ90 zum WGS 84 sind mit einer Genauigkeit von einigen m bekannt (MISRA und ABBOT 1994). GLONASS benutzt ein eigenes Zeitsystem (UTC + 3 Stunden), das durch Einfügen von Schaltsekunden innerhalb von 1 μ s mit UTC übereinstimmt. Seit einigen Jahren besteht allerdings das Problem, dass sich nur eine begrenzte Anzahl von funktionsfähigen Satelliten im Orbit befindet (2002: 6 Satelliten). Seit 1999 wird ein europäisches Navigations-Satellitensystem (GALILEO) diskutiert. Dieses Entfernungsmesssystem soll unter Verwendung von vier Trägerfrequenzen eine EchtzeitPositionsbestimmung im Sekundentakt und mit einer Genauigkeit von 10 m (95% Vertrauensbereich) liefern (DIVIS 1999). Im Jahr 2002 haben die europäischen Verkehrsminister die Anschubfinanzierung für dieses Projekt bewilligt. Danach sollen 30 Satelliten bis zum Jahre 2008 in 24 000 km Höhe operieren. Als Oberbegriff für satellitengestützte Navigations- und Positionierungs-Systeme oder Kombinationen von solchen wird neuerdings die Abkürzung GNSS (Global Navigation Satellite System) benutzt. Das Nutzersegment ist der GPS-Empfänger, wobei für die unterschiedlichen Anwendungen in Navigation, Geodäsie und Vermessungswesen die verschiedensten Geräte entwickelt worden sind. Die wichtigsten Komponenten eines Empfängers sind die Antenne, die Empfängerelektronik, der Mikroprozessor, der Oszillator, der Daten-
132
5
Messmethoden
Speicher, das Benutzer-Interface und eine Energiequelle. Eine zusätzliche TelemetrieEinheit kann u. a. zur Datenübertragung zwischen verschiedenen Empfängern benutzt werden. Die vom Satelliten ausgesandten Signale werden von der Antenne empfangen und verstärkt. Nach Identifizierung werden die Signale im Signalprozessor zu Pseudoentfernungen verarbeitet, hierbei ist grundsätzlich ein Kanal für das Tracking eines Satelliten zuständig. Heutige Empfänger enthalten 12 oder mehr Kanäle für jede Frequenz (Mehrkanaltechnik). Der Mikroprozessor dient der Empfängerkontrolle und steuert die Datenerfassung, als Navigationslösung stellt er die dreidimensionale Position der Antenne im WGS 84 und bei bewegten Antennen auch die Geschwindigkeit und das Azimut bereit. Der Quarzoszillator generiert die Bezugsfrequenz, die genähert mit der GPS-Zeit synchronisiert ist. Sämtliche Daten (Pseudoentfernungen, Phasen, Zeit, Navigationsnachricht) werden im Datenspeicher registriert. Damit wird das bei geodätischen Anwendungen übliche Post-Processing von meist in mehreren Beobachtungskampagnen vermessenen Basislinien oder Netzen (Mehrstationslösung) möglich, s. [6.1.2], Die Kontroll- und Anzeigeeinheit (user interface) enthält ein Tasten- und ein Anzeigefeld für die Kommunikation zwischen dem Nutzer und dem Gerät. Zur Stromversorgung dienen interne wiederaufladbare Nickel-Cadmium-Batterien. Während GPS-Navigationsempfänger nur die Code-Signale benutzen (siehe unten), müssen bei geodätischen Empfängern wegen der höheren Genauigkeitswünsche auch die Trägerphasen als Messgrößen verfügbar sein (LANGLEY 1997). Geodätische Empfänger benutzen beide Frequenzen (LI und L2) und sind als Mehrkanalgeräte mit Zugang zum P-Code und der vollständigen Trägerwelleninformation konzipiert. Weitere Charakteristika sind das niedrige Empfänger-Rauschen im Code und der Trägerphase, eine hohe Datenrate (> 1 Hz) und eine große Speicherkapazität. Das Antennenphasenzentrum soll zeitlich stabil und gegen Mehrwegreflexionen (multipath) abgeschirmt sein. Das Macrometer (1982) war der erste für geodätische Anwendungen entwickelte Empfänger (codefrei, eine Frequenz, 6 parallele Kanäle). Der Texas Instruments TI 4100 GPS Navigator (1984) stellte bereits sämtliche geodätisch bedeutsame Messgrößen bereit (P- und C/A-Code Pseudoentfernungen, Trägerphasen auf LI und L2), eine Multiplextechnik erlaubte die Erfassung mehrerer Satelliten. Die Leistungsfähigkeit geodätischer Empfänger wird in der Literatur diskutiert (z.B. HEER und SCHWIEGER 1999), Abb. 5.12 bis 5.14 zeigen einige neuere Geräte. Kombinierte GPS/GLONASS-Empfänger sind ebenfalls verfügbar (Abb. 5.15). Sie erlauben die Nutzung einer beliebigen Kombination von GPS-und GLONASS-Satelliten, bei voll ausgebauten Systemen werden stets 12 bis 21 Satelliten sichtbar sein. Mit der größeren Zahl verfügbarer Satelliten verbessert sich die Satelliten/Empfänger-Geometrie, die Zuverlässigkeit und die Genauigkeit der Positionsbestimmung wird erhöht.
Bei der GPS-Positionsbestimmung unterscheiden wir zwischen Code-und Trägerphasenmessungen. Codemessungen benutzen die Laufzeit At eines Signals zwischen dem Satelliten und der Empfängerantenne. Die Laufzeit wird dabei durch Vergleich der Phasenlage einer empfangenen Codefolge mit der Phasenlage einer im Empfänger erzeugten Kopie des Codes bestimmt (Korrelationstechnik). Die Multiplikation von At mit
5.2 Satellitenbeobachtungen
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der Lichtgeschwindigkeit c ergibt die Pseudoentfernung zwischen dem Satelliten und der Antenne, vgl. [5.1.1]. Unter Berücksichtigung des Uhr-Synchronisationsfehlers St
Abb. 5.12. Kontinuierlich arbeitende GPS Referenzstation (CORS) mit Empfänger (GPS Totalstation 4700) und Choke Ringantenne, Trimble Navigation Ltd., Sunnyvale, CA, USA
Abb. 5.13. Geodätischer GPS Zweifrequenzempfänger (GPS Totalstation SR530) mit Terminal TR500 und Telemetrieantenne, Leica Geosystems AG, Heerbrugg, Schweiz
Abb. 5.14. Geodätischer GPS Zweifrequenzempfänger (GePoS Experience) mit Antenne, Zeiss/Spectra Precision AB, Danderyd, Schweden
Abb. 5.15. GPS/GLONASS Empfänger mit Antenne, JAVAD Positioning Systems/TOPCON, Paramus, NJ, USA
lautet die Beobachtungsgleichung
für die Pseudoentfernung
R wie folgt:
R = cAt = s + cSt.
(5.43a)
Hierbei gilt im globalen Koordinatensystem für die Entfernung 5: S=
- Xp)2 + {Ys - Yp)2 + (Zs - Zp)2·
(5.43b)
wobei Xs, Ys, Ζs und Xp, Y Z p die geozentrischen Koordinaten des Satelliten bzw. der Bodenstation sind. Mit den vom Satelliten ausgesandten Broadcast Ephemeriden
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5
Messmethoden
lassen sich damit die Koordinaten der Bodenstation und die Empfängeruhrkorrektion aus gleichzeitigen Messungen zu mindestens vier Satelliten bestimmen. In (5.43) ist vorausgesetzt, dass die atmosphärischen Refraktionseffekte durch Reduktionen hinreichend erfasst sind (siehe unten). Die Genauigkeit wird bei dieser Methode durch das Messrauschen begrenzt. Sie hängt von der Wellenlänge ab und liegt bei Verwendung des C/A-Codes im Meter- und beim P-Code im Dezimeter-Bereich. Diese Standardverfahren der Navigation liefert in Echtzeit eine Positionierungsgenauigkeit von etwa 10 m und besser. Aus der Integration von Doppler-Frequenzverschiebungen (Doppler counts) der Trägerfrequenz lassen sich nach (5.41) und (5.42) Differenzen von Pseudoentfernungen berechnen. Sie werden in der Navigation für die Geschwindigkeitsbestimmung genutzt. Dopplerlösungen spielen außerdem bei der Mehrdeutigkeitsbestimmung von Trägerphasenmessungen eine Rolle. Zur Echtzeit-Positionierung ist diese Methode wegen der erforderlichen längeren Beobachtungszeit nicht geeignet. Relative GPS-Methoden (differential GPS: DGPS) liefern Koordinatendifferenzen zwischen zwei oder mehr Stationen. Dies wird durch simultane Messung auf allen beteiligten Stationen erreicht, wobei wenigstens eine Station koordinatenmäßig bekannt sein muss. Eine andere Möglichkeit besteht im Anbringen von Korrektionen, die von einer (oder auch mehreren) kontinuierlich betriebenen Referenzstation geliefert werden. Entsprechende DGPS-Dienste sind gerade auch für Navigationszwecke in vielen Gebieten eingerichtet worden, s. [7.3.2]. Die für ein bestimmtes Einzugsgebiet geltenden Korrektionen werden dabei aus dem Vergleich der auf den Referenzstationen gemessenen mit den berechneten Pseudoentfernungen ermittelt. Über Entfernungen von 50 km bis zu einigen 100 km werden dabei Genauigkeiten von einem halben Meter bis zu wenigen Metern erreicht.
Geodäsie und Vermessungswesen verlangen Genauigkeiten, die i.Allg. um wenigstens zwei Größenordnungen höher sind als in der Navigation. Dies wird durch Trägerphasenmessungen erreicht. Das Messrauschen liegt hierbei wegen der kürzeren T r ä g e r w e l l e n l ä n g e n u r i m m m - bis s u b - m m - B e r e i c h ( B E U T L E R et al. 1987).
Nach Abzug des Codes lässt sich die Trägerphase durch Vergleich des empfangenen Trägersignals mit der im Empfänger erzeugten Referenzfrequenz ermitteln. Um L2 unter AS-Bedingungen (Verschlüsselung des P-Codes) zu rekonstruieren, sind verschiedene Techniken entwickelt worden. Hierzu zählt die Quadriertechnik (durch Multiplikation des empfangenen Signals mit sich selbst fällt der Code heraus) und die Kreuzkorrelation von LI und L2. Die gemessene Phasendifferenz Αφ =