Gemeinde, Mission und Transformation: Beiträge zur Gemeindeentwicklung [1 ed.] 9783788734435, 9783788734411


142 96 1MB

German Pages [213] Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Gemeinde, Mission und Transformation: Beiträge zur Gemeindeentwicklung [1 ed.]
 9783788734435, 9783788734411

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

30

BEITRÄGE ZU EVANGELISATION UND GEMEINDEENTWICKLUNG

Johannes Zimmermann

GEMEINDE, MISSION UND TRANSFORMATION Beiträge zur Gemeindeentwicklung

BEG

30

BEITRÄGE ZU EVANGELISATION UND GEMEINDEENTWICKLUNG Herausgegeben von Michael Herbst, Jörg Ohlemacher und Johannes Zimmermann

Johannes Zimmermann

Gemeinde, Mission und Transformation Beiträge zur Gemeindeentwicklung

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Evangelischen Landeskirche Württemberg, des Vereins zur Förderung der Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (Greifswald) und der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profil­bildung („midi“, Berlin).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9074 ISBN 978-3-7887-3443-5

Für Dorothee, Jonathan und Mirjam

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .13 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15 A. Gemeinde als Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19 1. Reformatorische und biblische Impulse zum Verständnis von Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19 1.1 „Denk ich an Kirche in der Nacht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19 1.2 Kirche als „Geschöpf des Wortes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21 1.3 Gemeinde als „Versammlung der Gläubigen“ . . . . . . . . . . . . . . . .22 1.4 Gemeinde als Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .24 1.4.1 Biblische Aspekte zu „Gemeinschaft“ – Ein Überblick . . .24 1.4.2 Koinoinia als „Teilhabe“ und „Gemeinschaft“ (1Kor 10,16f) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .26 1.4.3 Gemeindeaufbau als Koinoina-Gestaltung . . . . . . . . . . . . .27 1.5 Gemeinde als Ort erfahrbarer Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .28 1.5.1 Gemeinde als „Lebens-Ort“ für den Glauben . . . . . . . . . . 28 1.5.2 Gemeinde als Ort der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .31 1.6 „Gemeinschaft“ als Herausforderung in der Volkskirche . . . . . . 32 1.7 Mitarbeitende – sprachfähig und beziehungsstark . . . . . . . . . . . .35 1.8 Der Auftrag: Stärkung im Glauben und Hilfe in Not . . . . . . . . . .38 1.8.1 Seelsorge: Stärkung im Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .38 1.8.2 Diakonie: Glaube, der in der Liebe tätig ist . . . . . . . . . . . . .39 2. Gemeinde und Gemeinschaft in der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . .41 2.1 Sozialität und Individualität – zur praktisch-theologischen Diskussion im Kontext der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .41 2.1.1 Kritik an der Individuumszentrierung der Moderne . . . . 41 2.1.2 Postmoderne Subjektorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .41 2.1.3 Sozialität unter Kollektivismusverdacht? . . . . . . . . . . . . . . .43 2.1.4 Ein Kontrapunkt: der Kommunitarismus . . . . . . . . . . . . . .43 2.1.5 Sozialität in postmoderner Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . .44

8

Inhalt

2.2 Ein Leib – viele Glieder. Biblisch-theologische Grundlegungen zum Verhältnis von Individualität und Sozialität . . . . . . . . . . . . .45 2.2.1 Individualität und Sozialität – Aspekte aus dem irdischen Wirken Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.2.2 Taufe, Herrenmahl und Leib Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . .47 2.3 Auf der Suche nach Sozialformen christlicher Gemeinde in der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .48 2.3.1 Gemeinde als Lebensort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .48 2.3.2 Gemeinde als „Netzwerk“ und Netzwerkgemeinden . . . .49 2.3.3 Pluralitätsfähige Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .52 2.3.4 Gemeinde zwischen Agora und Oikos . . . . . . . . . . . . . . . . .53 2.4 „unentflechtbare Wechselwirkung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .54 B. Missionarische Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .55 3. „Missionarisch Gemeinde sein“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .55 3.1 Vom Herzschlag der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .55 3.2 Sieben Bilder missionarischer Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . .56 3.3 Die Kirche und ihr Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .58 3.3.1 Die „ekklesiologische Lücke“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.3.2 Zwei Pole und zwei Berge – Missionarisch Gemeinde sein zwischen Mt 5 und Mt 28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .59 3.4 Mission, Evangelisation und Diakonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .61 3.4.1 Mission und Evangelisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .61 3.4.2 Diakonische Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .62 3.4.3 Was macht eine „missionarische“ Gemeinde aus? . . . . . . .64 3.5 Weitere Kennzeichen einer missionarischen Gemeinde . . . . . . .67 4. Evangelistisch Gemeinde sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .69 4.1 Biblische Grundlagen und Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .69 4.2 Evangelisation und Glaubenswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .70 4.3 Evangelisation und Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .72 5. Inkulturation und fresh expressions of church . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .76 5.1 Inkulturation, Konterkulturation und die Frage nach der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .77 5.1.1 Zielgruppenorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .77 5.1.2 Inkulturation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .78 5.1.3 „Konter-Kulturation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .79 5.1.4 Exkurs: Milieubezug als Beispiel für Inkulturation . . . . . .80 5.1.5 Die Frage nach der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .82

Inhalt

9

5.2 Mission-shaped Church und fresh expressions of church – Impulse aus der Anglikanischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .84 5.2.1 Gemeindepflanzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .84 5.2.2 Fresh expressions of church . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .85 5.2.3 „Serving first“ oder „worship first“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .87 5.2.4 „Mixed economy“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .88 5.2.5 Zwischen missionarischer Öffnung und Rückzug in die Nische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .89 6. „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“. Kurse zum Glauben vor neuen Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . .90 6.1 Rückblick: Der bisherige Weg der Kurse zum Glauben . . . . . . . .91 6.1.1 Die erste Phase bis etwa 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .91 6.1.2 Die zweite Phase 2006–2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .93 6.1.3 Die dritte Phase seit etwa 2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .95 6.1.4 Wie geht es weiter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .97 6.2 Kurse zum Glauben vor neuen Herausforderungen . . . . . . . . . . .97 6.2.1 Weshalb „Kurse zum Glauben“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .97 6.2.2 „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“ – die Herausforderung der Verstetigung . . . . . . . . . . . . . . . . .98 6.2.3 „Risiken und Nebenwirkungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .99 6.3 Schritte auf dem weiteren Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .103 6.3.1 Die Ausweitung des Angebots und der Zielgruppen . . . . .103 6.3.2 Kurse zum Glauben als Chance für die Kooperation in der Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .104 6.3.3 Schlussgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .107 C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .109 7. Gottes Reich in Riesi – oder: Zum Verhältnis von Gottesherrschaft und Gemeindeaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .110 7.1 Gottes Reich in Riesi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .110 7.2 „Dein Reich komme!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .113 7.3 Gottesherrschaft und Gemeindeaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .116 7.3.1 Zum Verhältnis von „Gemeinde“ und „Reich Gottes“ . . .117 7.3.2 „Die Kirche ist kein Selbstzweck“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .118 7.3.3 „Die Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie für andere da ist“ – Zu einer funktionalen Ekklesiologie . . . . . . . . . . .119 7.4 Zeichen des „Reiches Gottes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .121 7.4.1 Zum Verhältnis von Diakonie, Mission und Evangelisation 121 7.4.2 „Vorgeschmack“ der Zukunft Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . .122 7.4.3 Drei Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .123

10

Inhalt

8. Gemeinde, Mission und Transformation. Impulse von und Anfragen an die Transformationstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .123 8.1 Eine weltweite Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .123 8.1.1 Transformation als politischer Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . .124 8.1.2 Transformation als theologischer Begriff . . . . . . . . . . . . . .125 8.1.3 Die ökumenische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .126 8.1.4 Die Rezeption in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .128 8.1.5 Die deutschsprachige evangelikale Diskussion . . . . . . . . . .129 8.2 „Transformation“ – Zum Begriff und seiner Verwendung . . . . . .131 8.3 Kontexte der Transformationstheologie – Transformationstheologie als kontextuelle Theologie . . . . . . . . . .133 8.3.1 Erste Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .133 8.3.2 Hintergründe der Transformationstheologie und ihr „Sitz im Leben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .133 8.3.3 Transformationstheologie als kontextuelle Theologie . . . .136 8.3.4 Hermeneutische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .137 8.3.5 „Gesellschaftstransformation“, Selbstüberschätzung und die Machtfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .138 8.4 Gemeinde, Mission und Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .140 8.4.1 Die „Hoffnung besserer Zeiten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .140 8.4.2 Transformation, Gemeindeaufbau und Gottesherrschaft .141 8.4.3 Transformation und Zeichen des Reiches Gottes . . . . . . . .142 8.4.4 „Evangelistisch-diakonischer Gemeindeaufbau“ . . . . . . . .143 D. Gemeinde international und interkulturell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .145 9. „Das christliche Gesicht der Migration“. Migration als Herausforderung für die Zukunft christlicher Gemeinden . . . . . . . .145 9.1 Migration und Gemeinde – Erfahrungen und Einsichten . . . . . .145 9.1.1 Ostererfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .145 9.1.2 Migrationsgemeinden als die „bessere“ Lösung? . . . . . . . .146 9.1.3 Gemeinden anderer Sprache und Herkunft – ein Überblick 147 9.1.4 „Vierzig Tage Persisch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .152 9.2 Herausforderungen und ökumenische Lernerfahrungen . . . . . . 154 9.2.1 „Willkommenskultur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .155 9.2.2 Für eine Theologie des Gebens und des Empfangens . . . .156 9.2.3 Von der „reverse mission“ zur gemeinsamen Mission . . . .158 9.2.4 Multi-Kulti ist erst der Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .159 9.2.5 Die Einheit in Christus und die Frage der Identität . . . . . .160 9.2.6 „Und als der Pfingsttag gekommen war“ (Apg 2,1) . . . . . .161

Inhalt

11

E. Gemeinde mit Profil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .165 10. „Profilbildung“ und „Profilgemeinden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .166 10.1 Gemeindeentwicklung als „Profilbildung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .166 10.1.1 „Kirche mit Profil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .166 10.1.2 „Profilbildung“ in der Volkskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .167 10.2 Profilgemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .168 10.2.1 Lange Zeit: nicht gern gesehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .168 10.2.2 Seit kurzem: Neue Töne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .169 10.2.3 Begründungen und Chancen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .171 10.2.4 Einwände und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .172 11. ‚Alte‘ und ‚neue‘ Formen christlicher Gemeinde. Zur Diskussion um die Parochie und ergänzende Formen . . . . . . . .175 11.1 „Die Vielfalt evangelischer Gemeindeformen bejahen“ . . . . . . . .175 11.1.1 Ziele und Wege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .175 11.1.2 Die Situation: Parochie und „Kirche bei Gelegenheit“ . . .176 11.1.3 Perspektiven eröffnen: unterschiedliche Formen der Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .176 11.2 Christliche Gemeinde und ihre Gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .178 11.2.1 Gottes Wort und Gottes Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .178 11.2.2 Die Parochie als mögliche Gestalt christlicher Gemeinde 179 12.2.3 Konstitutionsprinzipien christlicher Gemeinde . . . . . . . . .181 11.2.4 Chancen und Grenzen der Parochie: regional und personal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .182 11.3 Parochie und überparochiale Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .183 11.3.1 Die bisherige Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .183 11.3.2 „Kirchliche Orte“ (Uta Pohl-Patalong) . . . . . . . . . . . . . . . .184 11.3.3 „Leuchttürme“ und „Inseln gelingender Kirchlichkeit“ (Thies Gundlach) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .185 11.3.4 „Personalgemeinde“ und „Profilgemeinde“ – Das Bremer Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .185 11.3.5 Parochieübergreifende Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . .187 11.3.6 Zwischen „Netzwerk“ und „Nachbarschaft“ . . . . . . . . . . . .187 11.4 Herausforderungen für die Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . 189 11.4.1 Geistliche Beheimatung und „missionarische Wendung nach außen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .189 11.4.2 Zum Stellenwert der Strukturfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .190 12. Rückbau, Reform und Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .191 12.1 Zwischen Rückbau und Reform – zur aktuellen Situation . . . . . .191 12.1.1 Die Frage nach der Einstellung zu Veränderungen . . . . . .191 12.1.2 Auf unterschiedlichen Ebenen agieren . . . . . . . . . . . . . . . .191

12

Inhalt

12.2 Von der Konzentration auf die Gemeinde zur Entdeckung der Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .193 12.2.1 „Die Region als gemeinsamer missionarischer Verantwortungsraum“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .193 12.2.2 Regiolokale Kirchenentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .195 12.2.3 Jenseits der Profilbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .197 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .199 Quellensammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Verwendete Literatur in alphabetischer Reihenfolge . . . . . . . . . . . . . . .199

Vorwort

Wie unterschiedlich deutsche Kirchenlandschaften und die jeweiligen Herausforderungen für die Gemeindeentwicklung sein können, haben mir meine beruflichen Stationen der zurückliegenden Jahre vor Augen geführt. Sie waren verbunden mit drei Umzügen quer durch die Republik zusammen mit der Familie: Nach sechs Jahren als wissenschaftlicher Assistent am Praktisch-theologischen Lehrstuhl von Prof. Gerhard Hennig in Tübingen ging es 2004 von Württemberg nach Greifswald in Vorpommern. Dort arbeitete ich bis 2010 am „Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung“ an der Universität Greifswald und bekam – nicht zuletzt durch einen Predigtauftrag in Lassan – Einblicke in die dortige kirchliche Situation. 2010 wechselte ich ins Gemeindepfarramt in Endingen, Stadtteil von Balingen im Zollernalbkreis am Fuß der Schwäbischen Alb. 2017 kam der nächste Wechsel nach Marburg an der Lahn in Mittelhessen. Dort forsche und lehre ich seither als Professor für Praktische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor. Die Beiträge des vorliegenden Bandes verdanken sich unterschiedlichen Fragestellungen, vor denen ich in diesen Jahren stand. Sie markieren auf der einen Seite eine Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Themen und Situationen, auf der anderen Seite Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten in den Fragestellungen, die mich im Blick auf die Grundlagen ebenso wie die Zukunft der christlichen Gemeinde beschäftigen. Soweit die Beiträge auf Vorträge zurückgehen, wurde der Vortragsstil beibehalten. Entstanden ist auf diese Weise ein Kompendium der Gemeindeentwicklung, das Grundthemen im Überblick darstellt und exemplarisch vertieft. Zugleich ist es mein Anliegen, die Diskussion zur missionarischen Gemeindeentwicklung in einer profilierten Position weiterzuführen und so allen, die Verantwortung in Gemeinden und Kirchen tragen, Impulse und Anregungen für ihren Dienst zu geben. Für großzügige Zuschüsse zu den Druckkosten danke ich der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, dem Verein zur Förderung der Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (Greifswald) und der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung („midi“, Berlin).

14

Vorwort

Das Buch widme ich unseren drei Kindern Dorothee, Jonathan und Mirjam, die meine Frau Heike und mich auf den Stationen der zurückliegenden Jahre begleitet haben. Marburg, im November 2019 Johannes Zimmermann

Einleitung

Themen der Gemeindeentwicklung beschäftigen Verantwortliche in Gemeinden und Kirchenleitungen in Zeiten knapper werdender Ressourcen in oft bedrängender Weise. Der Orientierungsbedarf ist hoch. Wie können Kriterien für Entscheidungen gefunden werden, die den Herausforderungen der Situation angemessen und zugleich nicht rein pragmatischer Natur, sondern theologisch fundiert sind? Man kann Gemeindeentwicklung (ich verwende den Begriff gleichbedeutend mit „Gemeindeaufbau“) im Kontext einer „Declining Organisation“1 betreiben, die Erfahrungen des Rückgangs macht und unter Handlungsdruck steht. Wenn es um Pfarrstellen, Gemeindestrukturen, Gebäude, Mitglieder und Finanzen geht, werden Maßnahmen des Rückbaus häufig unumgänglich sein. Bisweilen mag der äußere Druck auch nötig sein, um Trägheits- und Beharrungskräfte ebenso wie das Festhalten an liebgewordenen Kirchenbildern zu überwinden. Das daraus resultierende Handeln ist aber nur dann zielführend, wenn klar ist, wohin die Reise gehen soll. Geld sparen und „Gesundschrumpfen“ genügen als Ziele nicht! Hier setzen die Beiträge dieses Bandes ein und wollen eine andere Perspektive einbringen: Wer von Gemeinde redet und damit die Frage nach „Gemeindeaufbau“ verbindet, braucht nicht nur eine empirische Expertise (die gewiss auch!), sondern insbesondere eine theologische Orientierung. Eine bloße Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation allein führt noch nicht zu Kriterien für eine zukunftsfähige Weiterentwicklung der christlichen Gemeinde. Hier ist vielmehr eine Rückbesinnung auf die biblischen und reformatorischen Grundlagen der Evangelischen Kirche nötig: Was ist christliche Gemeinde von ihren Ursprüngen her und worin besteht ihr Auftrag? Wie können dann in einem nächsten Schritt diese Grundlagen situationsbezogen zur Geltung kommen und bei der konkreten Gestaltung erkennbare Auswirkungen haben?

1

Wegner 2019, 222 ff.

16

Einleitung

Gemeinde – Mission – Transformation. Diese drei Begriffe werden in diesem Band in zweifacher Weise verwendet: Einmal als Überschrift über einem Kapitel, das sich mit der „Transformationstheologie“ einer spezifischen Fragestellung zuwendet. Als Überschrift über den gesamten Band stehen die Begriffe darüber hinaus als pars pro toto für die Thematik und das Anliegen der Beiträge insgesamt. „Gemeinde“ ist nicht nur eines von vielen Themen der Praktischen Theologie, sondern eine „theologische Basisgröße“2. Derzeit gilt das Interesse in der Praktischen Theologie in ekklesiologischer Hinsicht insbesondere der „Kirchentheorie“. Die Bedeutung der damit verbundenen Fragestellungen soll in keiner Weise in Frage gestellt werden. Wenn die Beiträge in diesem Band sich gleichwohl auf Fragen der Gemeindeentwicklung konzentriert sind, verdankt sich das der Überzeugung, dass auch für den weiteren Horizont einer „Kirchentheorie“ die „versammelte Gemeinde“ die „Basisgröße“ bleibt. Für Gemeinde wiederum ist die Frage nach ihrem Auftrag grundlegend: Sie hat eine „Mission“, eine Sendung bzw. präziser: Sie ist Teil der „missio Dei“, einbezogen in die „Mission Gottes“. Ausgehend vom Auftrag der Gemeinde nehmen Fragen des missionarischen Gemeindeaufbaus einen breiten Raum in diesem Band ein. Zwar dauert die neuere Diskussion zu diesem Thema mittlerweile mehrere Jahrzehnte an, sie hat neue Fragestellungen und Themenfelder erschlossen und an vielen Stellen Veränderungen in der Theologie, in der Praxis und in der Mentalität bewirkt; gleichwohl sind „missionarische“ Fragestellungen noch weit davon entfernt, in der praktisch-theologischen Diskussion als selbstverständlich betrachtet zu werden. Hinzu kommt der Klärungsbedarf, was unter „missionarisch“ zu verstehen ist. „Transformation“ schließlich steht für die Notwendigkeit einer Neuausrichtung und des damit verbundenen kirchlichen Umbaus. Die Umbrüche sind vielerorts so gravierend, dass die Rede von einer „Weiterentwicklung“ nicht ausreicht. Transformation („Verwandlung“) kann dabei zum Ausdruck bringen, dass Diskontinuitäten zur bisherigen Praxis gegenüber den Kontinuitäten überwiegen. Auf der theologischen Ebene kann zusätzlich ein Bezug zum „verwandelnden“ Handeln Gottes hergestellt werden. Teil A „Gemeinde als Gemeinschaft“ greift zurück auf das biblische und reformatorische Verständnis von Gemeinde als „Geschöpf des Wortes Gottes“, als „Versammlung“ und als „Gemeinschaft“. Insbesondere die Bedeutung von Gemeinde als „Gemeinschaft“ wird dabei praktisch-theologisch weiter reflek-

2

Nicol 2000, 17.

Einleitung

17

tiert: Wie kann Gemeinde zu einem Ort erfahrbarer Gemeinschaft, zu einem „Lebens-Ort“ für den Glauben werden? Eine exemplarische Vertiefung erfolgt im zweiten Kapitel unter dem Thema „Gemeinde und Gemeinschaft in der Postmoderne“. Dabei wird die Frage nach dem Verhältnis von Individualität und Sozialität skizziert und im Kontext der „Postmoderne“ weitergeführt: Wo liegen die Chancen, wo die Grenzen netzwerkartiger Strukturen als Inkultu­ ration von Gemeinde in postmodernen Kontexten? Teil B „Missionarische Gemeinde“ geht vom Auftrag der Kirche aus und befasst sich mit ekklesiologischen Grundfragen ebenso wie mit unterschiedlichen Konzeptionen „missionarischer Gemeinde“. Eine Näherbestimmung des Verhältnisses von „Evangelisation“ und „Mission“ erweist sich dabei als hilfreiche Orientierung. Wo eine „missionsgeformte Kirche“ (mission-shaped church) Grenzen überschreitet und das Evangelium mit neuen kulturellen Räumen in Berührung kommt, ist die Frage der Inkulturation von Bedeutung. Sie führt zu neuen Gestalten von Kirche (fresh expressions of Church). Anregungen aus der an­gli­ kanischen Kirche werden ekklesiologisch reflektiert und mit der Diskussion und Situation deutschsprachiger Gemeinden verbunden. Die sog. „Kurse zum Glauben“ finden seit mehreren Jahren eine beachtliche Resonanz in der kirchlichen Praxis und in der theologisch-religionspädagogischen Diskussion. Sie stehen an der Schnittstelle von Gemeinde­ entwicklung, Evangelisation und Bildung und stellen eine exemplarische Vertiefung des Themas „Missionarische Gemeinde“ dar. „Gemeindeaufbau“ steht nicht für sich, sondern ist eingebettet in einen größeren Kontext. Der dabei verwendete Begriff des „Reiches Gottes“ setzt Gemeinde mit einer sie übersteigenden Größe und Verbindung; dadurch wird eine Relation hergestellt und Gemeinde zugleich „relativiert“. Wie aber sieht Gemeindeaufbau im Horizont des Reiches Gottes aus? Die ekklesiologische Frage nach Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“ (Teil C) wird in der Gemeindepraxis konkret in der Frage, wie sich diakonisches und politisches Handeln zur Evangelisation verhalten. Diese Fragestellung wird in bestimmten Kontexten mit dem schillernden Begriff der „Transformation“ verbunden. Inwiefern ist „Transformation“ eine angemessene Kategorie für den Auftrag der christlichen Gemeinde? Eine Horizonterweiterung und Grenzüberschreitung anderer Art stellt Teil D „Gemeinde international und interkulturell“ dar: Hier erfolgt ein Blick auf „Gemeinden anderer Sprache und Kultur“, also auf Gemeinden, in denen sich Menschen mit Migrationshintergrund versammeln und die insofern das „Christliche Gesicht der Migration“ darstellen. Die rapide Zunahme von

18

Einleitung

Migrationsgemeinden macht das Thema nicht nur zu einem Zukunftsthema für den Gemeindeaufbau, sondern ist auch mit grundlegenden ekklesiologischen Fragestellungen verbunden: Sollen Christen aus anderen Ländern und Kulturen in deutsche Gemeinden integriert werden oder ist die Bildung eigener Gemeinden der „bessere“ Weg? Was spricht für, was spricht gegen „interkulturelle“ Gemeinden? Teil E „Gemeinde mit Profil“ schließlich führt das Verständnis von „Gemeindeaufbau“ als „Koinonia-Gestaltung“ weiter. Dabei wird über bereits erörterte Themen wie „Netzwerkgemeinden“ und „fresh expressions“ hinaus die Frage nach der Gestalt und Gestaltung christlicher Gemeinde grundsätzlich gestellt, insbesondere für den Kontext landeskirchlicher Gemeinden: Es geht um die Fragen der „Profilbildung“ und „Profilgemeinden“, also um Gemeinden mit besonderen Schwerpunkten. Von da aus kommen Gemeindeformen in den Blick: die Parochie bzw. Ortsgemeinde ebenso wie andere Modelle, die diese in der gegenwärtigen Situation ergänzen können. Ein Abschnitt zu „Gemeinde in der Region“ (ebenfalls ein „Zukunftsthema“) wird verbunden mit pastoralen Impulsen zum Umgang mit der derzeitigen, eher durch Rückbau als durch Aufbruch gekennzeichneten Situation. Welche Chancen birgt diese Situation in sich? Dabei geht es nicht nur um eine strukturelle Neugestaltung, sondern immer auch – und damit schließt sich der Kreis zum Anfang – um eine Rückbesinnung auf und eine Orientierung an den Grundlagen und dem Auftrag der christlichen Gemeinde. Gemeinde – Mission – Transformation: Wenn es um die gegenwärtigen Herausforderungen in Kirche und Gemeinde geht, sind vielerorts Sorgen und Ratlosigkeit unüberhörbar. Mir liegt es ferne, Abbrüche zu übergehen oder schönzureden. Die Motivation und Zuversicht für das anstehende Handeln entspringen gleichwohl nicht der Situationsanalyse. Sie speisen sich aus einer anderen Quelle, aus dem Vertrauen auf den Herrn der Kirche und – bei allem Wandel der Formen und Gestalten von Gemeinde – der Zusage der ecclesia perpetua mansura, der von Mt 28,20 ausgehenden Verheißung, „dass allezeit müsse eine heilige christliche Kirche sein und bleiben“3. In diesem Sinne ist es meine Absicht, zu einer „verheißungsorientierten Gemeindeentwicklung“4 anzustiften.

3 4

„Es wird auch geleret, das alzeit müsse ein heilige Christlich kirche sein und bleiben“ (CA VII, BSELK 102f). Krause 1998.

A. Gemeinde als Gemeinschaft

1. Reformatorische und biblische Impulse zum Verständnis von Gemeinde1 1.1 „Denk ich an Kirche in der Nacht“ Die Stiftskirche in Herrenberg prägt als Gebäude das Bild der gesamten Stadt wie nur wenige Kirchen. Schon von weitem ist sie oberhalb der Stadt mit ihrem überdimensionierten zwiebelförmigen Turm zu sehen. Auch das, was es in der Kirche zu sehen und zu entdecken gibt, ist beeindruckend: Der Innenraum, die Glocken, der Altar. Ein Schatz der Tradition, der es wert ist, für die Zukunft der Kirche fruchtbar gemacht zu werden. Nur gelingt das immer weniger – in Herrenberg ebenso wenig wie anderswo. Wenn die Frage nach der Zukunft der Gemeinde auf die Weitergabe kirchlicher Traditionen beschränkt wäre, sähe es recht düster aus. Viel erschreckender ist eine exemplarische Zahl: Von den 16–29jährigen Evangelischen besucht nur 1 % regelmäßig den Gottesdienst2. Nur 1 % von denen, die noch gar nicht lange konfirmiert wurden! Dabei sind diejenigen gar nicht mitgerechnet, die aus der Kirche ausgetreten sind oder nie zur Evangelischen Kirche gehört haben – und das sind gerade in dieser Altersgruppe immer mehr. Es tröstet auch wenig, dass bei den Katholiken die Zahl mit 4 % viermal so hoch ist. Was heißt das für die Zukunft des evangelischen Gottesdienstes und der evangelischen Kirchen überhaupt? Von den immer weniger werdenden Evangelischen sind längst nicht alle der Überzeugung, dass sie die Kirche brauchen. Oder nur manchmal. Sie suchen vor allem die Kirche bei Gelegenheit, weniger die Kirche in Stetigkeit. Hinzu kommt, dass unter denen, die zur Kirche gehören, viele der Kirche gleichgültig gegenüberstehen. In der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD wird auf dieses wachsende „Phänomen religiöser Indifferenz“ 1 2

Die folgenden Abschnitte gehen aus von einem erstmals am 16.10.2016 in der Stiftskirche in Herrenberg 2016 beim Tag der missionarischen Dienste unter dem Titel: „Gemeinde auf dem Weg in die Zukunft“ gehaltenen Vortrag. Teilpublikation: Zimmermann 2016. Pollack 2016, 446 (Zahl von 2012; Quelle ist das Allensbacher Institut für Demoskopie).

20

A. Gemeinde als Gemeinschaft

hingewiesen. Verbunden damit ist ein „auf den Inhalt des Glaubens bezogenes faktisches Nicht-Verhältnis“3. Anders formuliert: Es gibt viele, die keinerlei Interesse und keinerlei Zugang zu Fragen des Glaubens haben. Das ist eine völlig neue Grundsituation für Gemeinden. Das ist noch längst nicht das Ende der Negativliste: Die, die sich zur Gemeinde halten, werden immer älter. PfarrPläne zwingen zu Einsparungen und Kürzungen, die nächste Runde steht bevor. Und dann gibt es Erfahrungen von Frust und Enttäuschung: über die anderen, über den Pfarrer, darüber, dass sich so wenig bewegt. Man kann nicht gerade sagen, dass Deutschlands Christenheit voller Erwartung und Zuversicht in die Zukunft blickt. Eher geht es frei nach Heinrich Heine: „Denk ich an Kirche in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“  4. Dabei müssen wir diese Fakten auch sehen. Selbst in der Kirche scheint bei manchen das postfaktische Zeitalter angebrochen zu sein, die Lage wird schöngeredet. Wir müssen die Wirklichkeit, auch die Verluste und Abbrüche, nüchtern und ungeschönt zur Kenntnis zu nehmen. Wer seine Gemeinde, wer seine Kirche liebt, für den wird das mit Trauer verbunden sein. Was tun? Kampagnen werden gestartet, um die Kirche zu retten. Es ist sinnvoll, etwas zu tun, aber ein hektischer Aktivismus hilft nicht weiter. Die Zukunft der Gemeinde beginnt mit der Rückbesinnung auf Gottes Verheißungen. Martin Luther hat es so formuliert: „Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten könnten. Unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen. Unsere Nachfahren werden’s auch nicht sein; sondern der ist’s gewesen, ist’s noch und wird’s sein, der da sagt: ‚Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt‘“5. Das ist eine kräftige Verheißung für die Zukunft unserer Gemeinden und Kirchen. Es heißt nicht, dass unsere heutigen Formen und Strukturen für die Ewigkeit sind. Sie ändern sich und werden sich weiterhin ändern. Aber bis zum jüngsten Tag wird es Gemeinde geben. Auch wenn die Zahl der Kirchenmitglieder rapide zurückgeht: Die Kirche Jesu Christi bleibt. Daher braucht es einen Blick, der nicht auf nur Erfahrungen des Abbruchs sieht, sondern auch auf Erfahrungen, die zu Dankbarkeit führen: Dort, wo in der Jugendarbeit etwas gelingt. Wo junge Menschen beginnen, Glauben zu leben und miteinander und christliche Gemeinschaft zu gestalten. Ich denke an Jugendtreffen mit mehreren Tausend jungen Menschen – ein großes Poten3 4 5

Evangelische Kirche in Deutschland 2014; darin: Gundlach 2014, 132. Orig.: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaf gebracht“ (Nachtgedanken, in: Heine 1983, Band 2, 129–130). Martin Luther, WA 50, 476, 31–34 (in modernisierter Schreibweise).

1. Reformatorische und biblische Impulse

21

zial für die Zukunft der Kirchen und Gemeinden! Ich habe das Vertrauen, dass Gott seine Gemeinde weiterführen wird. Es ist unerlässlich, dass sich Kirchen und Gemeinden auf ihr Umfeld und die Herausforderungen der Gegenwart einstellen. Aber ebenso wichtig ist eine Ausrichtung auf die Grundlagen, auf das, was Kirche zur Kirche Jesu Christi macht. Das Reformationsjubiläum 2017 war für viele ein Anlass, sich neu auf die biblisch-reformatorischen Grundlagen von „Kirche“ zu besinnen. Im Folgenden soll von Impulsen der Reformatoren ausgegangen werden, um diese Grundlagen praktisch-theologisch für die Gegenwart weiterzudenken.

1.2 Kirche als „Geschöpf des Wortes“ Eine der Kernstellen für das Verständnis von Kirche bei Martin Luther ist im Jesajabuch zu finden6: „Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende“ (Jesaja 55,10–11). Gott sendet sein Wort, es wird nicht leer zurückkommen. Es wird tun, was Gott mit ihm vorhat. Was wird es tun? Es wird Glauben wecken. Es wird Menschen finden, die auf Gott hören, ihm Vertrauen und ihm glauben. Daher ist der Glaube creatura verbi, Geschöpf des Wortes Gottes. „Glaube“ bedeutet, dass ein Mensch den Zusagen Gottes Glauben schenkt. An anderer Stelle formuliert Martin Luther: Gottes wort kan nicht ohne Gottes Volck sein, wiederumb Gottes Volck kan nicht on Gottes wort sein“7. Das ist eine kühne Aussage: „Gottes Wort kann nicht ohne Gottes Volk sein“. Das heißt: Wo Gottes Wort laut wird, da zielt es auf Glauben beim Einzelnen. Aber seine Wirksamkeit kommt im Glauben des Einzelnen noch nicht zum Ziel, sondern erst dort, wo sich Gottes Volk versammelt und Gemeinde bildet. Diese Aussage verweist auf die Grund-legende Bedeutung des Wortes, dem sich „Gottes Volk“ bzw. die Kirche verdankt. An anderer Stelle formuliert Luther das kurz und prägnant: Ubi verbum, ibi ecclesia8 („Wo das Wort ist, da ist 6 7 8

S. Bayer 2003, 234; außerdem BSELK 514f (Apologia Confessionis Augustanae Art. XIII). Martin Luther WA 50, 629, 34f (Von den Konzilien und [der] Kirche, 1539). Im Folgenden in modernisierter Schreibweise. WA 39 II, 176,8 f. Vgl. dazu Bayer 2003, 232–234.

22

A. Gemeinde als Gemeinschaft

[die] Kirche“). Das ist missverständlich. Es ist nicht als Zustandsbeschreibung (deskriptiv) zu verstehen: Wenn ich irgendwo eine Bibel hinlege, dann ist da Kirche. Oder wenn ich einen Pfarrer im Talar auf eine Kanzel stelle und ihn predigen lasse, dann ist da das Wort, also ist da auch Gemeinde. Von Jesaja 55 her ist es vielmehr als Verheißung zu verstehen: Gottes Wort wird nicht leer zurückkehren, es wird ein Volk Gottes sammeln, es wird Gemeinde bauen. Dahinter steht das Vertrauen auf die Kraft und Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes: Wenn Gott redet, so geschieht es. Das war ganz am Anfang so, als er die Erde erschuf, das ist überall dort so, wo das Evangelium verkündigt wird. Gottes Wort wird nicht wirkungslos bleiben: „Gottes Wort kann nicht ohne Gottes Volk sein“. Luther fährt fort: „Wiederum Gottes Volk kann nicht ohne Gottes Wort sein“. Wo Gemeinde entstanden ist, wo Gemeinde sich zum Gottesdienst versammelt, da ist sie als Geschöpf des Wortes Gottes bleibend auf das Wort angewiesen, dem sie sich verdankt. Das ist ein erster Impuls der Reformatoren, insbesondere von Martin Luther: Kirche, Gemeinde als „Geschöpf des Wortes Gottes“, zu verstehen von der Verheißung, die Gott mit seinem Wort verbindet.

1.3 Gemeinde als „Versammlung der Gläubigen“ Was ist Gemeinde, was ist Kirche? Auf diese Frage ist als Antwort oft zu hören: Gemeinde heißt: Das Evangelium wird rein gepredigt und die Sakramente werden evangeliumsgemäß gefeiert. Diese Aussage nimmt Bezug auf Artikel VII des Augsburger Bekenntnisses: Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden9. Was fehlt der ersten Aussage? Kirche ist zuerst und vor allem „Versammlung der Gläubigen“. Die Predigt des Evangeliums und die Feier der Sakramente sind notwendige Näherbestimmungen dazu10.

  9 Nach BESLK 102. 10 Das Anliegen an dieser Stelle ist es, „darauf hinzuweisen, dass die gegenwärtige ekklesiologische Debatte oft erst bei dem ‚in qua‘ [lat. Relativpronomen zu ‚Versammlung aller Gläubigen‘] einsetzt und vernachlässigt, welche Größe es denn eigentlich ist, die dadurch näher bestimmt wird – nämlich die Gemeindeversammlung (congregatio)“ (Bayer 2003, 236 Anm. 23). „Auf der anderen Seite kann die congregatio keineswegs als Voraussetzung des Wortes angesehen

1. Reformatorische und biblische Impulse

23

Wenn auf die Frage: „Was ist ein Auto?“ geantwortet wird: „Ein Auto ist, wenn sich die Reifen drehen und eine gültige TÜV-Plakette drauf ist“, ist das keine falsche Antwort, aber es ist nicht die Antwort auf die Frage: „Was ist ein Auto?“ Wenn gefragt würde: Was gehört zu einem fahrtüchtigen Auto notwendig dazu, dann könnte so geantwortet werden. Wenn gefragt würde: Was sind notwendige Kennzeichen einer christlichen Kirche? Dann könnte geantwortet werden: Predigt des Evangeliums und Feier der Sakramente. Kirche ist zuerst „Versammlung der Gläubigen“. Das macht ihr Wesen aus. Wichtig ist dabei der Begriff der „Versammlung“ (lat. congregatio). Im Apostolischen Glaubensbekenntnis wird ein anderer Begriff verwendet: „Gemeinschaft“ (communio). Beide Begriffe sind wichtig und grundlegend, setzen aber unterschiedliche Akzente. Während die „Gemeinschaft der Heiligen“ umfassend zu denken ist, als weltweite und zeitumspannende Gemeinschaft aller derer, die zu Christus gehören, benennt „Versammlung“ das, was sichtbar in Erscheinung tritt. Gemeinde ist nicht nur ein abstrakter Begriff, keine gestaltlose Idee, keine „platonische Gesellschaft“ (civitas Platonica11): „Und wir reden nicht von einer erdichteten Kirchen, die nirgends zu finden sei, sondern wir sagen und wissen führwahr, dass diese Kirche, darinne Heiligen leben, wahrhaftig auf Erden ist und bleibet“12. Kirche, Gemeinde bleibt nicht unsichtbar und unwirklich, sie hat vielmehr die Tendenz, sichtbar und erfahrbar zu werden: Sie besteht aus Menschen, die sich versammeln, primär in der gottesdienstlichen Versammlung, darüber hinaus in jeder davon ausgehenden Form gemeinsamen Lebens. Gemeinde ist mehr als das, was sichtbar ist, aber wo Gemeinde ist, gibt es immer auch etwas zu sehen: Menschen, die sich im Namen Jesu Christi versammeln. Das ist eine spannende Frage, wenn es z. B. um virtuelle Formen von Gemeinschaft geht. Kann man dann noch von „Gemeinde“ sprechen? Auf der anderen Seite kann man fragen: Muss „Gemeinde“ als „Versammlung“ notwendig die Form einer Ortsgemeinde, einer Parochie haben? Sind nicht auch andere Formen von „versammelter Gemeinde“ denkbar?13

werden […] Vielmehr ist sie dessen selbstverständliches Implikat“ (ebd.). Anders formuliert: Insofern sich die Kirche dem Wort verdankt, geht das Wort der Kirche als creatura verbi voran; s. dazu auch Abraham 2007, 63–70. 11 BESLK 407,10 (Apologie der CA Art. VII). 12 Nach BESLK 406, 17–19 (Apologie der CA Art. VII). 13 Näheres dazu unten in Teil E, vor allem Kap. 12.

24

A. Gemeinde als Gemeinschaft

Zwei weitere Abschnitte von Martin Luther bekräftigen diesen Akzent: In „Von den Konzilien und (der) Kirche schreibt Luther 1539): „Wohlan – allerlei Schriften und Unterscheidungen in bezug auf das Wort Kirche zurückgestellt, wollen wir diesmal einfältig bei dem Kinderglauben bleiben, der sagt: ‚Ich glaube eine heilige, christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen‘. Da verdeutlicht das Glaubensbekenntnis klar, was die Kirche sei, nämlich eine Gemeinschaft der Heiligen, das ist ein Haufen oder eine Versammlung solcher Leute, die Christen und heilig sind; das heißt ein christlicher Haufe oder Kirche“14 – in der Folge redet er mehrfach vom „christlichen, heiligen Volk“. In der Schmalkaldischen Artikeln schreibt Luther: „Denn es weiß gottlob ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist, nämlich die heiligen Gläubigen und ‚die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören‘ (Joh 10.3). Denn so beten die Kinder: Ich glaube eine heilige, christliche Kirche“15.

Die reformatorische Bestimmung der Gemeinde als „Versammlung“ ist inzwischen auch ökumenischer Konsens bzw. gemeinsame Überzeugung mit der römisch-katholischen Kirche. In einem wichtigen Text des II. Vatikanischen Konzils wird Kirche bzw. Gemeinde als „örtliche Versammlung der Glaubenden“ (congregatio fidelium localis16) bezeichnet. Das ist bemerkenswert, wird damit doch mit „Versammlung“ bzw. congregatio ein wichtiger Begriff aus einem Bekenntnis der Reformation aufgegriffen. Es ist auch deshalb bemerkenswert, weil in der römischen Ekklesiologie traditionell die universale Kirche deutlich stärker betont wurde als die örtliche Gemeinde. Der Begriff „Gemeinde“ war lange Zeit in der römisch-katholischen Kirche ungebräuchlich, man sprach von der „Pfarrei“. Noch 1960 gab es keinen Artikel „Gemeinde“ im katholischen „Lexikon für Theologie und Kirche“. An dieser Stelle hat sich also viel bewegt!

1.4 Gemeinde als Gemeinschaft 1.4.1 Biblische Aspekte zu „Gemeinschaft“ – Ein Überblick17 „Gemeinschaft“ wird gelegentlich mit „Geselligkeit“ gleichgesetzt und insofern als Option, aber keineswegs als notwendiges Wesensmerkmal christlicher Gemeinde betrachtet. Wenn „Gemeinschaft“ als Wesen christlicher Gemeinde 14 S. WA 50, 624, 13–18 (Von den Konzilien und [der] Kirche), zit. nach Martin Luther 1983, Bd. V, 182. 15 Nach BESLK 776, 6–9. 16 DH 4151 (Lumen Gentium 26). – S. dazu Zimmermann 2009, 133–135. 17 Der folgende Abschnitt ist eine überarbeitete Wiedergabe von Zimmermann 2019.

1. Reformatorische und biblische Impulse

25

betrachtet wird, ist ein Rückgang auf die biblischen Wurzeln nötig, um dem Begriff eine inhaltliche Füllung und Tiefe zu geben. Die Frage nach „Gemeinschaft“ in der Bibel beginnt gar nicht so einfach, denn dem Alten Testament ist der „der Begriff Gemeinschaft […] weitgehend fremd, nicht jedoch die damit ausgedrückte Vorstellung einer besonderen Beziehung zwischen dem Einzelnen und Gott sowie zwischen dein Einzelnen untereinander als Glieder des einen Gottesvolkes“18. Wichtig im Alten Testament ist der Begriff der ṣedāqāhā („Gerechtigkeit“, eigentlich „Gemeinschaftstreue“): Er steht für Gottes Treue zu seinem Bund, bei Menschen wird „Gemeinschaftstreue“ auch im Verhalten zum Mitmenschen konkret. Was „Gemeinschaft“ im Neuen Testament bedeutet, lässt sich am Begriff der κοινωνία (Gemeinschaft und zugleich Anteilhabe) darstellen. κοινωνία reicht über menschliche Zusammengehörigkeit oder Vereinigungen hinaus und bekommt theologische Bedeutung insbesondere in den Briefen des Paulus, aber auch in den johanneischen Schriften. Grundlage ist dort die „Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn“ (1Joh 1,3). Sie wirkt sich aus in der Gemeinschaft der Glaubenden untereinander (1Joh 1,3.7). Dieser doppelte Aspekt der κοινωνία mit Christus und untereinander wird im Neuen Testament in unterschiedlichen Aspekten entfaltet und weitergeführt: Die „Gemeinschaft mit dem Sohn“ (1Kor 1,9) verbindet mit dem dreieinigen Gott, der in sich selbst Gemeinschaft ist. Deshalb gehört dazu auch die „Gemeinschaft/Anteilhabe am Heiligen Geist“ (1Kor 13,13 vgl. Phil 2,1). Die Gemeinschaft mit Christus umfasst die Anteilhabe an seinem Weg durch das Leiden zur Verherrlichung. Dazu gehört die Leidensgemeinschaft mit Christus (Phil 3,10; 1Petr 4,13). Die Gemeinschaft der Christen als „Gemeinschaft des Glaubens“ (Phlm 6) beginnt in der „Gemeinschaft am Evangelium“ (Phil 1,5) und umfasst die „geistlichen Güter“ (Rö 15,27) bis hin zu den „Nöten der Heiligen“ (Rö 12,13) einschließlich der Bedrängnis (Phil 4,14) und Gefangenschaft (Phil 1,7). Die gegenseitige Anteilhabe führt zum aktiven Anteil-Geben, zur „Gemeinschaft im Geben und Nehmen“ (Phil 4,15). Konkret wird sie in der Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem als „Gemeinschaft des Dienstes für die Heiligen“ (2Kor 8,4). Dabei ist für Paulus hier „nicht die Geldleistung die Hauptsache, sondern die durch die Kollekte ausgedrückte Gemeinschaft der Christenheit“19. In Hebr 13,16 wird die Gemeinde aufgefordert, „Wohltätigkeit und Gemeinschaft“ (letzteres im Sinne des Teilgebens) nicht zu vergessen. In Apg 2,42

18 Deines 2003, 416. 19 Hauck 1938, 809.

26

A. Gemeinde als Gemeinschaft

schließlich ist vom „Festhalten an der Gemeinschaft“ die Rede. Gemeint ist dabei die umfassende Lebensgemeinschaft der Glaubenden.

1.4.2 Koinoinia als „Teilhabe“ und „Gemeinschaft“ (1Kor 10,16f) Eine zentrale Stelle im Blick auf die Dimensionen der Koinonia ist 1Kor 10,16f: Der Kelch des Segens, den wir segnen, ist der nicht die κοινωνία des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die κοινωνία des Leibes Christi? Denn ein Brot ist’s. So sind wir, die vielen, ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben. Der griechische Begriff κοινωνία mit seiner doppelten Bedeutung „Gemeinschaft“ und zugleich „Anteilhabe“ verbindet das, was Gemeinde ausmacht: Was die Christen untereinander verbindet, ist die Gemeinschaft mit Christus, mehr noch: Die Anteilhabe an ihm, an seinem stellvertretenden Leiden und Sterben und an der Kraft seiner Auferstehung. In der κοινωνία mit Christus, in der Gemeinschaft ihm und der Anteilhabe an ihm hat jede christliche Gemeinde ihre Wurzeln. Diese κοινωνία mit Christus wirkt sich aus in der κοινωνία der Christen untereinander. Im Abendmahl ist es augenfällig: Diejenigen, die gemeinsam am Leib Christi Anteil haben, werden untereinander zum Leib Christi, der Gemeinde, verbunden (1Kor 10,16–17). Das ist die bleibende Grundlage christlicher Gemeinde. Mit Worten eines älteren Liedes: „Das sollt ihr, Jesu Jünger nie vergessen: wir sind, die wir von einem Brote essen, aus einem Kelche trinken, Jesu Glieder, Schwestern und Brüder“20. Von 1Kor 10,16 her ist auch die Bezeichnung „Gemeinschaft der Heiligen“ (communio sanctorum) im apostolischen Glaubensbekenntnis zu verstehen21. Dort ist die Formulierung grammatisch doppeldeutig: Sie kann verstanden werden als communio an den sancta, an den „heiligen Dingen“ (neutr. plur.). Gemeint ist ursprünglich „die gemeinsame Anteilhabe an dem unter Brot und Wein sich uns schenkenden Herrn“22. Die Formulierung kann sich aber auch auf Menschen beziehen (masc. bzw. pluralis communis). Dann bezeichnet sie die communio der sancti, der „heiligen Menschen“. Was trifft nun zu? Heilige Dinge oder heilige Menschen? Von 1Kor 10,16f her trifft beides zu: die κοινωνία/ communio (= Anteilhabe) mit bzw. an Christus konstituiert die κοινωνία/communio (= Gemeinschaft) der Glaubenden untereinander.

20 J. A. Cramer 1780, EG 221,1. 21 Zu Bedeutung und Geschichte dieser Formel s. Peters 1991, 215–220. 22 Peters 1991, 215.

1. Reformatorische und biblische Impulse

27

1.4.3 Gemeindeaufbau als Koinoina-Gestaltung „Koinonia ist […]die Gabe der Gemeinschaft, die durch Teilhabe konstituiert wird, und darum die Aufgabe der Gestaltung von Koinonia als umfassende Lebensgemeinschaft beinhaltet“ (Christoph Schwöbel23). Hier haben wir eine grundlegende Definition von Gemeindeaufbau: Koi­ nonia als Gabe Gottes geht allem menschlichen Handeln voraus. Zugleich stellen „Gabe“ und „Aufgabe“ keinen Gegensatz dar, vielmehr ergibt sich das eine aus dem anderen. Der Gabe-Charakter schließt die menschliche Verantwortung für die Gestaltung der Koinonia nicht aus, sondern ein. Damit bildet die obige Formulierung eine Brücke zwischen dem theologisch grundlegenden Begriff von „Gemeinschaft“ und der erfahrbaren Seite: Die menschliche Aufgabe und Verantwortung im Gemeindeaufbau besteht in der Gestaltung der unverfügbaren und zugleich verheißenen Gabe der Koinonia. Der menschliche Beitrag wird dabei nicht nur negativ bestimmt („nicht verhindern“), sondern ist positiv zu denken: Wie kann menschliches Handeln dem Ereignis der Koinonia dienstbar werden? Was fördert die Erfahrung von Koinonia in beiden Dimensionen? Gemeindeaufbau als „Koinonia-Gestaltung“ hat einen klar theologischen Ausgangspunkt, geht aber weiter zur erfahrbaren Seite von Gemeinde, der soziologische Aspekte einschließt. Weil christliche Gemeinde im Kern Gemeinschaft ist, wohnt ihr die Tendenz inne, wahrnehmbar und erfahrbar zu werden. Daher ist es zu wenig, wenn „Gemeinschaft“ nur im Modus der Behauptung verwendet wird, aber der Gottesdienst faktisch eine Ansammlung von Einzelkonsumenten ist, die dort ihre spirituelle Ration für die nächste Woche abholen. Gottesdienst heißt: Ich gehöre zu Christus – und das verbindet mich mit anderen. Ich bin ein Teil vom Ganzen. Ich gehöre zu einer Gemeinschaft, ich bin unverwechselbares Glied am Leib Christi. Dort werde ich gebraucht, dort brauche ich andere. Das Zentrum ist die gemeinsame Anteilhabe an Christus, die Gemeinschaft mit ihm. Die Gemeinschaft im Gottesdienst ist gewissermaßen der Kristallisationspunkt, der ausstrahlt in alle Bereiche der Gemeinde und des täglichen Lebens. Wo das prägend in der Innen- wie Außenwahrnehmung von „Gemeinde“ ist, stellt die Gemeinde als „Versammlung der Glaubenden“ es ein wirksames Gegengewicht gegen die Tendenz zur pfarramtlichen Dienstleistungskirche dar. Gemeinde ist nicht Anbieter religiöser Dienstleistungen, sondern zuerst Gemeinschaft!

23 Schwöbel 1996, 20.

28

A. Gemeinde als Gemeinschaft

1.5 Gemeinde als Ort erfahrbarer Gemeinschaft „Setzt der christliche Glaube die Gemeinschaft zwingend voraus? Die[se …] Frage kann sowohl soziologisch als auch theologisch beantwortet werden. Die soziologische Antwort muß […] eindeutig positiv ausfallen. Theologisch dürfte die Sache komplizierter liegen“24. So formuliert der österreichisch-amerikanische Soziologe Peter L. Berger (1929–2017) spitz. Wie können beide Seiten, die theologische und die soziologische, in ein konstruktives Verhältnis gebracht werden?

1.5.1 Gemeinde als „Lebens-Ort“ für den Glauben 1. „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf “ – so lautet ein afrikanisches Sprichwort. Ich möchte es gerne abwandeln: „Um als Christ zu leben und zu wachsen, braucht es eine ganze Gemeinde“. Eine Pfarrerin allein reicht dafür nicht aus. Die Gemeinde ist nötig als Lebensraum für den Glauben: Als Schutzraum, in dem Glaube entstehen, eingeübt werden und wachsen kann, als Raum, in dem Beziehungen gelebt werden, als Raum, in dem Gaben entdeckt werden. Ein Pfarrer allein genügt dafür nicht. Nötig ist das ganze Dorf, die ganze Gemeinde. Wie das konkret Gestalt annimmt, kann sehr vielfältig sein, dazu sind viel Fantasie und Flexibilität erforderlich. Da gilt es zu fragen: Welche Formen sind in der heutigen Situation hilfreich für Menschen, eine geistliche Heimat zu finden? Die Bedeutung geistlicher Beheimatung ist in der vergangenen Zeit gestiegen. Je mehr das gesellschaftliche, bisweilen auch das private Umfeld im Hinblick auf den Glauben als unwirtlich empfunden wird, umso mehr steigt das Bedürfnis nach Orten, an denen der Glaube Wurzeln schlagen und sich beheimaten kann. Nach Orten, an denen Glaube entstehen und weitergegeben werden kann, in denen er wachsen kann. Die katholische deutsche Bischofskonferenz spricht sich für eine Vielzahl von „Biotopen gelebter Christlichkeit“ aus25. „Bio-Top“ bedeutet wörtlich „Lebens-Ort“. Es geht um Orte, an denen Glaube nicht fortwährend in Frage gestellt wird und sich behaupten muss, sondern an dem er Förderung und Wachstum erfahren kann. Es geht um die Erfahrung von Wertschätzung und förderlicher Gemeinschaft, die Erfahrung gebraucht zu werden und „Teil eines 24 Berger 1994, 173. 25 Zum Begriff des „Biotops“ (zusammengesetzt aus den griechischen Begriffen βίος [= Leben] und τόπος [= Ort]) s. „Zeit zur Aussaat“ 2000, 25: „Biotope des Glaubens“, „Biotope gelebter Christlichkeit“.

1. Reformatorische und biblische Impulse

29

Ganzen“ zu sein. Gemeinde als „Lebens-Ort“ ist Gemeinde als überschaubares Umfeld, in dem Glaube bestätigt und gestützt wird. Soziologen reden hier von einer „Plausibilitätsstruktur“26. 2. Bei der Frage nach „Gemeinschaft“ geht es also darum, dass die theologisch grundlegende Dimension der Koinonia mit einer sozialen, erfahrbaren Seite verbunden wird. Dabei kann auf die Kategorie des oikos („Haus“) zurückgegriffen werden27. Dabei geht es nicht um festgelegte Formen, sondern um eine praktisch-theologische Kategorie, die seit den Ursprüngen christlicher Gemeinde in erstaunlicher Kontinuität und Flexibilität sich durch die Geschichte der Kirche hindurchzieht. Bis in die frühe Neuzeit hinein stellte das „Haus“ eine mehrere Generationen umfassende Sozial- und Erwerbsgemeinschaft dar. Das kann freilich auch eine Kehrseite haben: Für viele war das „ganze Haus“ nicht nur Schutzraum, es war aufgrund der Herrschaftsverhältnisse innerhalb des „Hauses“ allzu oft auch von Enge gekennzeichnet. Betrachtet man die Situation christlicher Gemeinde in der westlichen Welt, so sticht das weitgehende Ausfallen einer Zwischeninstanz zwischen dem Einzelnen und der meist parochial verfassten Gemeinde ins Auge. Die Auflösung des frühneuzeitlichen „ganzen Hauses“ macht ein soziales Äquivalent erforderlich, das dessen Funktionen übernehmen könnte. Die neuzeitliche Kleinfamilie seit der industriellen Revolution im 19. Jh. ist damit in den meisten Fällen überfordert. Nötig ist daher eine „intermediäre Institution“, die zwischen der Individualität und der Sozialität des Glaubens, zwischen dem Einzelnen und der größeren christlichen Gemeinschaft, z. B. der Ortsgemeinde vermittelt und zugleich ein Netzwerk darstellt, in das (Klein-)Familien ebenso wie Alleinerziehende und Alleinlebende integriert werden können. Der „Verein“ – auch als christlicher Verein – zeigt seit dem 19. Jh. den offensichtlichen Bedarf nach Formen, die über die Kleinfamilie hinausreichen und diese ergänzen. In der Gegenwart sollte das „Haus“ daher nicht auf die neuzeitliche Kleinfamilie reduziert werden. Vielmehr steht es vor der Herausforderung, einen Raum zu bilden, in dem Gemeinschaft erfahren und Glaube gelebt und erfahren werden können. „Das ‚Haus‘ bildet die ‚soziale Basis‘ für die Grundaufgaben der Gemeinde: Es ist ein Ort der Einübung in den Glauben, ein Ort der Lehre und der Weitergabe des Glaubens, ein Ort der Seelsorge und communio“, der als Ort der „Offenheit und Gastfreundschaft […] zum Ort des missionarischen Zeugnisses wird“28.

26 Zimmermann 2009a, §§ 6–8. 27 Zimmermann 2009a, § 9; Bieritz/Kähler 1985. 28 Zimmermann 2009a, 479.

30

A. Gemeinde als Gemeinschaft

3. Das „Haus“ bzw. die Gemeinde als „Bio-Top“ hat zwei Grenzen: Die eine liegt darin, dass wir hier auf der Erde keine bleibende Heimat haben (Hebr 13,10). Die andere ist dort zu sehen, wo das berechtigte Bedürfnis nach geistlicher Beheimatung endet und ein Sich-zurückziehen-wollen beginnt, das in Spannung zur Sendung steht. Die mit der geistlichen Beheimatung verbundene Gefährdung ist der Rückzug in die Nische bis hin zur Abkapselung. Damit aus der Beheimatung keine Abkapselung wird, braucht sie die Ergänzung durch die „missionarische Wendung nach außen“29. Das Zuhause, die geistliche Beheimatung braucht die Ergänzung durch den Marktplatz, die Öffentlichkeit. Das Evangelium soll nichts ins Kämmerlein eingeschlossen werden, es muss unter die Leute kommen. Das Volk Gottes ist dazu berufen, aufzubrechen, heraus aus der vertrauten Umgebung, hin zu den Menschen, denen Gottes Liebe und Zuwendung gilt. Der missionarische Auftrag ruft die Gemeinde zum Aufbruch. Die Erfahrung zeigt, dass Menschen dort zum Glauben und in die Gemeinde finden, wo Gemeinden sich für ihre Umgebung öffnen, damit Berührungspunkte und Kontaktflächen entstehen und Beziehungen wachsen. Soziologisch gesprochen: Das „soziale Kapital“ in Form des „bonding captial“, das die Glieder einer Gemeinschaft untereinander verbindet, braucht die Ergänzung durch das „bridging capital“30, das Verbindungen über die Grenzen der Gemeinschaft hinaus zur Umwelt schafft. 4. Zur geistlichen Beheimatung und zur missionarischen Wendung nach außen kommt ein Drittes hinzu. Diejenigen, denen Gott ein Amt in seiner Gemeinde anvertraut hat, sollen nach Eph 4,12 dazu beitragen, dass „die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden“. Diese gemeindeleitende Aufgabe stellt zugleich das Bindeglied zwischen der geistlichen Beheimatung und der missionarischen Wendung nach außen dar. Das neutestamentliche Zielfoto ist der Leib, in dem alle Glieder gebraucht werden, einander dienen und sich gegenseitig ergänzen (1Kor 12). Anders formuliert: Wo Menschen im in der Gemeinde Heimat finden und im Glauben Wurzeln schlagen, leben sie im Kraftfeld Gottes und werden verändert. Sie entdecken ihre Begabungen und Berufungen, sie werden befähigt für den Dienst in der Gemeinde, aber auch für den Dienst im Alltag der Welt und am Nächsten. Sie werden zu Zeugen der Hoffnung in einer Welt voller Hoffnungslosigkeit und Resignation. Ihr Glaube wird „diasporafähig“31.

29 Evangelische Kirche in Deutschland 2006, 53. 30 Putnam 2000; zum Sozialkapital s. weiter Pickel 2015. 31 S. dazu Zimmermann 2010b.

1. Reformatorische und biblische Impulse

31

Unter diasporafähigem Glauben verstehe ich einen Glauben, der auch ohne gesellschaftliche und kulturelle Stützen überlebensfähig und vor allem ausstrahlungskräftig ist. Glaubende, die im Glauben gegründet und gefestigt sind und nicht bei jedem Windstoß umknicken. „Diasporafähiger Glaube“ ist in der Gemeinde verwurzelt. Wo der einzelne Christ im Alltag in der Minderheit ist, braucht er einen Rückhalt. Das ist die Gemeinde. „Diasporafähiger Glaube“ kennzeichnet Glaubende und Gemeinden, die in einer anders geprägten Umgebung erkennbar sind und Profil zeigen. Glaube, der sprachfähig ist, der nicht dem Konformitätsdruck seiner Umgebung nachgibt (vgl. Röm 12,2), sondern umgekehrt heilsamen Einfluss auf seine Umgebung ausübt.

1.5.2 Gemeinde als Ort der Seelsorge Manche sehen den Akzent auf Gemeinde als „Gemeinschaft“ kritisch und verbinden damit vor allem eine Bedrohung und Einschränkung für den Einzelnen32. Aber es gibt auch die gegenteilige Erfahrung, die hier stark gemacht werden soll: Gemeinde als Raum der Förderung und Entfaltung für den Einzelnen. In dieser Hinsicht hat Gemeinde als Ort erfahrener Gemeinschaft seelsorgliche Relevanz. Seelsorge ist nicht nur das Einzelgespräch. Seelsorge ist Begleitung im Leben und Stärkung im Glauben. Menschen werden stark gemacht, ihren ganz persönlichen Weg in der Gewissheit zu gehen: „Das ist mein Weg von Gott her“. Das geschieht an vielen Stellen in der Gemeinde: Im Gottesdienst, im gemeinsamen Lesen der Bibel, im Gespräch, oft auch einfach „nebenbei“. Ich gehe noch einen Schritt weiter: „Gemeinde ist Seelsorge“33. Die Zugehörigkeit zur Gemeinde ist von seelsorglicher Relevanz – auch wenn immer wieder die entgegengesetzte Erfahrung gemacht wird und die Zugehörigkeit zur Gemeinde zur Anfechtung wird. „Gemeinde ist Seelsorge“ bedeutet: Ich weiß, dass ich dazu gehöre und ein „Teil vom Ganzen“ bin, ein Teil in der Geschichte Gottes und seines Volkes. Das stärkt mich und gibt mir Kraft. Es ist gut, wenn das Menschen erfahren, die zur Gemeinde gehören. Wenn Menschen in der Gemeinde die Erfahrung machen, in Zweifel und Anfechtung, in Sorgen und Nöten ernst genommen und gestärkt zu werden, können sie dadurch einen Weg zur Gemeinde und zum Glauben finden, abgebrochene Glaubensgeschichten können weitergehen. Gemeinde als Ort der Gemeinschaft ist Seelsorge: Zunächst, indem die Gemeinde zum Raum der Vermittlung und Einübung des Glaubens wird, dann zu einem Raum, in dem angefochtener Glaube bewahrt und gestärkt

32 S. u. 2.3.1 „Gemeinde unter Kollektivismusverdacht“. 33 S. Zimmermann 2009a, 302 f.

32

A. Gemeinde als Gemeinschaft

wird, oder grundsätzlicher: zu einem Raum, in dem Glaube gefördert werden kann, wo Begabungen sich entfalten können als Charismen, die zum Dienst in der Gemeinde gegeben sind mit dem Ziel der oikodomé, der gegenseitigen Erbauung, Seelsorge und Fürsorge. Gemeinde ist Seelsorge als Raum der Seelsorge und Ort der „gegenseitigen brüderlichen (und schwesterlichen) Aussprache und Tröstung“ (mutuum colloquium et consolatio fratrum [et sororum])34. So wird Gemeinde zur heilenden und heilvollen Gemeinschaft. Die „heilende Partizipation am Leib Christi“35 umfasst beides, die Erfahrung der von Gott gewährten Gemeinschaft ebenso wie die Gemeinde als Ort erfahrener menschlicher Zuwendung und Gemeinschaft. Gemeinschaft als Zugehörigkeit ist mehr als das, was aktiv gestaltet und erlebt wird. Zugleich kommt Gemeinschaft nicht ohne soziale und erfahrbare Konkretionen aus. Bei allem, was es an Mangelerscheinungen und Mangelerfahrungen gibt, es gibt auch gegenteilige positive Erfahrungen. Eine junge Frau erzählte mir vor einiger Zeit, dass sie als Kind mit ihrer Familie zunächst am Ort A gewohnt hat. Dann zog die Familie an einen Ort B. Dort wuchs sie in die Gemeinde hinein. Der Weg in den Glauben und die Gemeinde hat sie auch bei ihrer Berufswahl geleitet. Heute kann sie sagen: Es macht für mein Leben einen Unterschied, dass ich an diesen Ort mit dieser Gemeinde gekommen bin. Gemeinden sind nötig, die diesen Unterschied machen. Gemeinden, über die Menschen sagen: Es macht für mich, für mein Leben einen Unterschied, dass es diese Gemeinde an diesem Ort gibt.

1.6 „Gemeinschaft“ als Herausforderung in der Volkskirche 1. „Gemeinschaft“ wird von manchen eher als Kennzeichen von Freikirchen und landeskirchlichen Gemeinschaften als von landeskirchlichen Gemeinden betrachtet. Eine Variante besteht darin, dass „Gemeinschaft“ mit „Geselligkeit“ identifiziert und als Bedürfnis eines bestimmten Klientels betrachtet wird. Das ist freilich eine Reduktion dessen, was biblisch unter „Gemeinschaft“ (κοινωνία, s. o. 1.4) zu verstehen ist und führt zu der Frage: Wie kann „Gemeinschaft“ als Wesensmerkmal christlicher Gemeinde auch und gerade in volkskirchlichen Kontexten profilbildend werden?

34 BESLK 766 (Schmalkaldische Artikel). 35 Kunz-Herzog 1997, 136 u. ö.

1. Reformatorische und biblische Impulse

33

Diese Frage wird in der Gegenwart nicht zum ersten Mal gestellt. Am Beginn des 20. Jh. wollte Emil Sulze (1832–1914) die damals teilweise mehrere zehntausend Gemeindeglieder umfassenden Großstadtgemeinden in „Seelsorgegemeinden“ unterteilen, um so eine Verbundenheit zu schaffen und zu ermöglichen36. Es ist nicht die einzige auf die Gesamtheit der Landeskirchen abzielende Total-Strategie von Gemeinschaftsbildung, die aufs Ganze gesehen gescheitert ist. Es kann daher nicht um Vereinnahmungsstrategien gehen und auch nicht darum, eine „one fits all“-Strategie zu verfolgen. Vielmehr besteht die Herausforderung darin, unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen in ihren jeweiligen Situationen Gelegenheiten zu schaffen, „Gemeinschaft“ nicht nur als Geselligkeit, sondern in einem theologisch gefüllten Sinn zu erfahren. 2. An mehreren Stellen kann es dabei zu Problemen kommen: a) Menschen suchen keine Gemeinschaft. Zu hören ist dann: „Ich bin eben kein Gemeinschaftstyp“. An dieser Stelle gibt es offensichtlich so etwas wie ein Nachfrageproblem. b) Der zweite Blick geht auf vorhandene Angebote. Auch hier gibt es vielfach und vielerorts ein Problem: Die existierenden Gruppen und Kreise in unseren Gemeinden sind geeignet für einen bestimmten Typ Mensch – für eben den Typ von Mensch, der sich in diesen Kreisen tummelt. Er ist von der Tendenz her weiblich, zählt eher zu den Senioren. c) Verbindet man beide Seiten, führt das zur Frage nach dem „Passungsverhältnis“ von Nachfrage und Angebot, von Menschen, die Gemeinschaft suchen, sich vielleicht sogar insgeheim danach sehnen – und bei dem, was an Angeboten vorhanden ist. Es ist ein ernstzunehmendes Problem, dass beides oft nicht zusammenpasst. Man braucht hier nur an die Fülle unterschiedlicher Menschen denken, die bei Kasualgesprächen Kontakt mit der Pfarrerin haben und sich fragen: Gibt es ein Angebot von „Gemeinschaft“ in der Gemeinde, das ich dieser Person vorbehaltlos empfehlen könnte? Der einfach gestrickten Putzfrau, dem promovierten Akademiker, den russlanddeutschen Eltern einer Konfirmandin, dem Paar, das heiraten will und einen gehobenen urbanen Lebensstil pflegt usw. Auch hier zeigt sich das Passungsproblem: Es gibt Menschen, die das nicht suchen, was angeboten wird – und das, was angeboten wird, passt nur für einen begrenzten Teil der Menschen, die bewusst oder unbewusst auf der Suche sind.

36 Zu Sulze s. Zimmermann 2009a, 206–209.

34

A. Gemeinde als Gemeinschaft

Dabei kann eines mit dem anderen zusammenhängen: Menschen sagen: „Ich brauche keine Gemeinschaft“, weil sie bei „Gemeinschaft“ an die vorhandene Angebote denken und diese Angebote „nicht ihr Ding“ sind. Das kann bis dahin gehen, dass sie sich schlicht nicht vorstellen können, dass es eine Form von Gemeinschaft in der Kirchengemeinde geben könnte, die ihnen zusagt. Umgekehrt kann bei den „Anbietern“ der Eindruck da sein, dass bei „den andern“ kein Interesse vorhanden ist – und deshalb wird an dieser Stelle auch nicht weiter nachgedacht. Die Folge: Alles bleibt, wie es ist. Wie kann es dazu kommen, dass durch erfahrene Gemeinschaft ein Hunger nach Gemeinschaft entsteht? 3. Der bekannte Satz von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf „Ich statuiere kein Christentum ohne Gemeinschaft“37 bleibt ein Stachel im volkskirchlichen Fleisch. Um nicht ständig mit einer als defizitär betrachteten Realität leben zu müssen, suchen viele Zuflucht bei verbreiteten volkskirchlichen Verarbeitungsstrategien. Das klingt dann so: „Christsein ist auch in anderen Formen möglich als in der regelmäßigen Teilnahme an Gruppen und Kreisen einer Ortsgemeinde“38. Unter der Hand führt das zu einem volkskirchlichen Minimalismus, der nicht positiv ansetzt mit der Frage: Wie kann die Dimension der „Gemeinschaft“ erfahrbar werden?, sondern negativ auf vorhandenen Angebote blickt. Diese kommen dann in aller Regel nicht gut weg, das zeigen die Rede von „Milieuverengung“, „Vereinschristentum“ und „Gemeinschaftschristentum“. Oft ist dann von unterschiedlichen Beteiligungsformen und Beteiligungstiefen die Rede und von der Volkskirche, die allen Raum biete – oder davon, dass die Bedingungslosigkeit des Evangeliums keine zusätzlichen Bedingungen in der Mitgliedschaft vertrage. Das Problem besteht hier darin, dass die Bedingungslosigkeit des Evangeliums (sola gratia) verwechselt bzw. gleichgesetzt wird mit einer Folgenlosigkeit des Evangeliums. Demgegenüber ist festzuhalten: Das Evangelium ist bedingungslos, aber es bleibt nicht ohne Folgen bei denen, die ihm glauben. Eine weitere beliebte volkskirchliche Strategie ordnet die Dimension der Koino­ nia dem Gottesdienst zu und unterscheidet mehrere Typen von Kirchenmitgliedschaft39: 37 „Zinzendorf zu Peistel 1736: Haben Sie Gemeinschaft? Ja, wir sehen einander täglich und reden vom Heiland. Zinzendorf antwortet: Das ist Gemeinschaft, ich statuiere kein Christentum ohne Gemeinschaft“ (zit. Uttendörfer 1948, 168). 38 Neues wächst! 2001, 16. 39 S. dazu Cornehl 1990.

1. Reformatorische und biblische Impulse

35

Es gibt den Wochenzyklus: Menschen, die Woche für Woche in den Gottesdienst kommen. Der zweite Typ ist der Jahreszyklus: Menschen, die an besonderen Höhepunkten im (Kirchen-)Jahr, allem voran am Heiligen Abend, in den Gottesdienst kommen. Der dritte Typ schließlich ist der Lebenszyklus. Hier findet der Gottesdienstbesuch anhand der lebenszyklischen Kasualien (Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung) statt. Hier wird die Dimension der Koinonia festgehalten, allerdings so ausgeweitet, dass auch diese „Lösung“ dem volkskirchlichen Minimalismus verhaftet bleibt. Wer weder flächendeckenden betreuungskirchlichen Angebotsstrategien noch einem Minimalismus huldigen will, benötigt einen anderen Ansatz. Ausgangspunkt könnte die Frage sein: Wie kann das Evangelium seine gemeinschaftsbildende Kraft entfalten? Wie kann Koinonia als grundlegende Dimension christlicher Gemeinde erfahrbar werden – und zwar so, dass „Gemeinschaft“ mit positiven Konnotationen und Emotionen verbunden wird? 4. Dabei wird auch zu beachten sein, dass landeskirchliche Gemeinden als Ganze im Blick auf erfahrbare Gemeinschaft sind häufig zu groß und unüberschaubar sind. In Verbindung damit und ergänzend dazu sind daher kleine, überschaubare Orte nötig, an denen Gemeinschaft erfahren werden kann. Dabei kann die praktisch-theologische Kategorie des „Hauses“ aufgegriffen und situationsadäquat weiterentwickelt werden, ohne einem romantisierenden Familienideal zu huldigen. „Eine entscheidende Ressource für die Gemeinde auf dem Weg in die Zukunft werden kleine Gemeinschaften von Christenmenschen sein“40.

1.7 Mitarbeitende – sprachfähig und beziehungsstark 1. Gemeinde als Gemeinschaft setzt voraus, dass es Menschen gibt, die sich mit ihr und ihrem Auftrag identifizieren. Menschen, deren Verhältnis zur Gemeinde nicht nur das von „Konsumenten“, sondern von „Mitarbeitenden“ ist. Das führt zum Thema der Ehrenamtlichen, das zunehmend Aufmerksamkeit erfährt41 – als Dauerthema und häufig auch als Problem. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Gemeinden, die sich mit viel Leidenschaft und Engagement für ihre Gemeinde einsetzen, erleben dabei viel Freude, aber auch viel Ent-

40 M. Herbst mündlich. 41 Exemplarisch verweise ich auf zwei Beiträge in neueren gemeindepädagogischen Kompendien: Hofmann 2012; Breit-Keßler 2008.

36

A. Gemeinde als Gemeinschaft

täuschung. Dabei stehen Kirchengemeinden nicht allein: Aus Vereinen sind ganz ähnliche Töne zu hören. Oft sind es wenige, die an vielen Stellen dabei sind und sich engagieren. Viele Kirchengemeinden sind nach wie vor durch eine Pfarrerzentrierung geprägt. Es geht nach dem Motto: „Die Pfarrerin ist gut ausgebildet und macht ihre Sache gut“. Leider ist die Konsequenz oft die, dass die Gemeinde zu einem Club von Konsumenten wird. Solche Mentalitäten sitzen tief. Zwar wird es immer Menschen geben, die auf Zuwendung und Unterstützung angewiesen sind, dennoch sollte alles das kritisch unter die Lupe genommen werden, was den Charakter einer „religiösen Variante des betreuten Wohnens“42 hat. Was Christsein, mehr noch: was Nachfolge, Mitarbeit, Zuverlässigkeit heißt, kann Gegenstand vieler Erörterungen sein. Prägend wirken wird es nur dann, wenn es an konkreten Personen anschaulich wird und gelebt wird. Wie diejenigen, die in der Gemeinde Verantwortung tragen, ihren Glauben und ihre Mitarbeit leben, wirkt ansteckend – im Positiven wie im Negativen. Wenn Gemeindeglieder die Gewohnheit haben, erst nach dem Beginn des Gottesdienstes einzutrudeln, wird das bald Nachahmung bei den Konfirmanden finden43. Das ist auch deshalb beachtenswert, weil in der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU V) der Abbruch der kirchlichen und christlichen Sozialisation in geradezu alarmierender Weise dargestellt wird. „Die Generationsweitergabe des Evangeliums gelingt zunehmend weniger, mitunter muss man die Sorge haben, dass sie schon unterbrochen ist“44. Damit dieser Kreis durchbrochen wird, sind Gemeinden nötig als Orte, an denen Glaube gemeinsam eingeübt und gelebt wird. Ein Pfarrer allein genügt dafür nicht. Eine Pfarrerin begegnet vielen Menschen. Punktuelle Begegnungen bei Geburtstagsbesuchen, bei Tauf- und Trauergesprächen sind wichtig, aber sie können die Gemeinde nie ersetzen. Dazu gehört auch die Frage: Können guten Gewissens Menschen in die Gottesdienste eingeladen werden – oder steht zu befürchten, dass es peinlich wird? Möglich ist eine Einladung dann, wenn 42 M. Herbst mündlich. 43 Einen ähnlichen Eindruck habe ich bei Aussiedlern. Sie sind aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach Deutschland gekommen und wollen dazugehören. Also werden die Kinder getauft und kommen in den Konfirmandenunterricht. Aber bald merken sie: Der Durchschnittsevangelische lebt nach dem Motto: „nicht mehr Kirche als nötig“. Das ist schnell nachgemacht. Mit dem Unterschied, dass Aussiedler der mittleren Generation, also die Elterngeneration, zwar getauft sind, aber keinerlei Einführung und Glaubensfragen haben und weiterhin Analphabeten in Sachen Christsein sind. 44 Gundlach 2014, 132.

1. Reformatorische und biblische Impulse

37

eine Gemeinde gastfreundlich und beziehungsstark ist, wenn Tauffamilien und Konfirmanden freundlich aufgenommen werden. Sie zu begleiten ist nicht nur Sache des Pfarrers, sondern der ganzen Gemeinde. Für eine solche „Willkommenskultur“ sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nötig, die bereit sind, Beziehungen und Kontakte weiterzuführen, Menschen auf dem Weg hin zum Glauben und in die Gemeinde zu begleiten. Dabei geht es nicht um Mitarbeiter, die einen hektischen Aktivismus ausstrahlen. Es geht um Menschen, die in Christus verwurzelt sind, die ihre Kraft aus der Bibel, dem Gebet und erfahrener Gemeinschaft schöpfen und aus dieser Christusbeziehung heraus „Frucht“ bringen (Joh 15,5). Solche Menschen zu prägen und zu begleiten, das ist eine zentrale Aufgabe für die Zukunft der Gemeinde. Eine Aufgabe, die nicht vom Pfarrer allein wahrgenommen werden kann. 2. Wenn in einer Gemeinde Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begleitet und gefördert werden – was für ein Ziel ist dann leitend? Welche Begabungen, welche Kompetenzen sind in Zukunft neu oder verstärkt nötig? Geht es darum, kleine Pfarrerinnen heranzuziehen – oder genügen treue und anspruchslose Kirchgänger? Ich nenne ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Eigenschaften, die zukünftig verstärkt nötig sein werden. Zunächst geht es um Menschen, die bereit und fähig sind, Verantwortung zu übernehmen. Menschen, die Verbindlichkeit leben und auf die Verlass ist. Von solchen Menschen lebt eine Gemeinde in allen Bereichen auch schon bisher. Nötig sind ermutigende Vorbilder, die Verbindlichkeit nicht als Pflicht einfordern, sondern fröhlich und überzeugend vorleben – und nicht gleich aufgeben, wenn ihr Vorbild nicht sofort Nachahmer findet. Immer wieder taucht das Stichwort sprachfähig auf. Auch wenn Charaktere und Begabungen unterschiedlich sind, gibt es zu viele Christen, die nicht in der Lage sind, mit anderen über ihren Glauben zu reden. Sie sind nicht fähig, das Evangelium ihren Kindern und damit der nächsten Generation weiterzugeben. Neben „sprachfähig“ ergänze ich „beziehungsstark“, denn es geht um Menschen, die Beziehungen in der Gemeinde und über die Gemeindegrenzen hinaus aufbauen und pflegen können. Das ist eine wichtige Grundlage, den Glauben in Wort und Tat weiterzugeben. Wenn Gottesdienste auch ohne Pfarrer gefeiert werden sollen, braucht es andere, die dazu fähig sind. Das bedeutet, dass die Aufgabe der „öffentlichen Wortverkündigung“ nicht auf die beschränkt bleiben kann, die ein theologisches Universitätsstudium hinter sich haben. Neben den dabei zu klärenden Fragen der Ordination bzw. Beauftragung geht es insbesondere darum, geeignete Personen zu qualifizieren – und darüber hinaus weitere Begabungen in die Gestaltung von Gottesdiensten und gottesdienstlichen Angeboten einzubeziehen.

38

A. Gemeinde als Gemeinschaft

Verstärkt werden Menschen mit Pioniergaben gebraucht: Die Gemeindearbeit einer Ortsgemeinde kann viele, aber nie alle erreichen. Schwierig ist es bei der Bildungselite, aber auch bei den bildungsfernen Schichten, dem sog. Prekariat. Schwierig ist es bei jugendkulturellen und postmodern geprägten Milieus, aber auch bei Aussiedlern und anderen Migranten bis hin zu Flüchtlingen. Neben der Teilnahme an Fortbildungen bleibt für ehrenamtlich Mitarbeitende das Erfahrungslernen wichtig. Neben kleinen Gemeinschaften werden mündige, im Glauben wache und informierte Christenmenschen … die entscheidende Ressource der Zukunft sein“  45.

1.8 Der Auftrag: Stärkung im Glauben und Hilfe in Not „Im Aufsehen auf Jesus Christus […] bin ich bereit […] mitzuhelfen, dass das Evangelium von Jesus Christus […] aller Welt verkündigt wird“46. So heißt es in der Ordinationsverpflichtung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Dabei ist das Formular nicht auf den Pfarrdienst beschränkt, sondern wird bei allen kirchlichen Mitarbeitern verwendet. Wer in der Kirche mitarbeitet, ist an alle gewiesen, nicht nur die, die immer schon in einer landeskirchlichen Gemeinde beheimatet sind. Eine Gemeinde hat es mit sehr unterschiedlichen Menschen zu tun. Es gibt Jüngere und Ältere, Einheimische und Zugezogene, Aussiedler, Gastarbeiter und Geflüchtete. Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund, mit ganz unterschiedlicher Lebenserfahrung. Das prägt auch ihre Einstellung zum christlichen Glauben. Die einen haben in der Kindheit so viel davon mitbekommen, dass sie später die Distanz suchten. Heute überwiegt eher das umgekehrte Problem: Menschen, für die Glaube und Gemeinde unbekannte Größen sind. Von den unterschiedlichen Dimensionen des missionarischen Auftrags möchte ich an dieser Stelle auf zwei etwas näher eingehen47.

1.8.1 Seelsorge: Stärkung im Glauben Neben der Verkündigung des Evangeliums wird im Augsburger Bekenntnis als zweites Kennzeichen der Kirche als „Versammlung aller Gläubigen“ die Feier der Sakramente genannt. Die Sakramente dienen der Vergewisserung des

45 Michael Herbst mündlich. 46 Kirchenbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg 1985, 20. 47 S. dazu auch unten Teil B. „Missionarische Gemeinde“.

1. Reformatorische und biblische Impulse

39

Einzelnen48. Es geht um die persönliche Zusage: Du bist getauft, über deinem Leben steht Gottes Ja! Im Abendmahl: Nimm und iss, nimm und trink – für dich gegeben! Es ist die Vergewisserung: „Gott ist mir gut. In aller Ungewissheit des Lebens: Er ist für mich da, sein Segen begleitet mich. Wo Schuld war, vergibt er und fängt neu mit mir an.“ Menschen werden heil in ihrer Beziehung zu Gott und zu anderen Menschen. Dazu gehören auch die Beichte und der persönlich zugesprochene Segen: Das Evangelium wird so für den Einzelnen „spürbar“. Die Reformatoren sprechen vom „leiblichen Wort“49. Es geht hier um Seelsorge. Seelsorge ist nicht nur der Besuch der Pfarrerin oder das Einzelgespräch. Seelsorge ist Begleitung im Leben und Stärkung im Glauben. Menschen werden stark gemacht, ihren ganz persönlichen Weg in der Gewissheit zu gehen: Das ist mein Weg von Gott her. Meine Vergangenheit kann ich in Gottes Hand legen. Meine Zukunft empfange ich aus seiner Hand in der Gewissheit: Was auch kommen mag, nichts kann mich von seiner Liebe trennen. Das kann an vielen Stellen in der Gemeinde geschehen: Im Gottesdienst, im gemeinsamen Lesen der Bibel, im Gespräch, oft auch einfach „nebenbei“. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Die Zugehörigkeit zur Gemeinde ist von seelsorglicher Relevanz („Gemeinde ist Seelsorge“, s. o. 1.5). Ich weiß: Ich gehöre dazu, ich bin ein Teil vom Ganzen, ich bin ein Teil in der Geschichte Gottes. Das stärkt mich und gibt mir Kraft. Es ist gut, wenn das Menschen erfahren, die zur Gemeinde gehören. Noch besser ist es, wenn das auch auf andere anziehend wirkt. Wenn Menschen die Erfahrung machen, in Zweifel und Anfechtung, in Sorgen und Nöten ernst genommen und gestärkt zu werden, können sie so einen Weg zur Gemeinde und zum Glauben finden, abgebrochene Glaubensgeschichten können weitergehen.

1.8.2 Diakonie: Glaube, der in der Liebe tätig ist Die Hinwendung zu den Menschen umfasst auch die Diakonie50. Zur Gemeinde gehören zwei Bewegungsrichtungen: Hin zur Mitte, hin zu Christus – und hin zu den Menschen, denen Gottes Liebe gilt. „Wer in Gott eintaucht, taucht bei den Menschen, besonders den Armen, auf “51. Gemeinden sind seit Jahren dabei, Diakonie (wieder) als Aufgabe der Gemeinde zu entdecken. Diakonische Gemeinde52 ist die Gemeinde Jesu in 48 49 50 51 52

Mit dieser Funktion sind die Sakramente freilich nicht erschöpfend beschrieben. BSELK 100,8 (lat.: verbum externum, BSELK 101,9, CA V). Zur Diakonie vgl. unten Kap. 3.4.2. Passauer Pastoralplan, zit. nach Zulehner 2012, 116. Zum folgenden Abschnitt s. Zimmermann 2005, v. a. 40–41.

40

A. Gemeinde als Gemeinschaft

der Nachfolge dessen, der nicht gekommen ist, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben hinzugeben zur Erlösung der Vielen (Mk 10,45). Diakonie braucht spezialisierte Institutionen, um Menschen wirksam helfen zu können. Aber damit ist die Gefahr verbunden, dass Gemeinden die Aufgabe der Diakonie an Spezialisten abtreten. „Diakonische Gemeinde“ bedeutet, dass die Gemeinde der Zukunft Diakonie wieder als ihre ureigenste Sache entdecken und praktizieren wird. Diakonische Gemeinde wird sich im Umgang mit denen erweisen, die am Rand der Gesellschaft stehen: mit Behinderten und Kranken, mit Arbeitslosen, Asylanten und Alten. Im Umgang mit Kindern und ungeborenem Leben. Sie wird dort helfen, wo niemand anders helfen möchte. Diakonische Gemeinde ist immer auch ein Stück Betreuungskirche. Das Ideal einer Beteiligungskirche wird dort unbarmherzig, wo es nicht darauf Rücksicht nimmt, dass es Menschen gibt, die zeitweise oder nicht mehr die Kräfte haben, andere zu unterstützen, sondern selbst auf Unterstützung angewiesen sind, etwa junge Familien mit kleinen Kindern oder ältere Menschen. Diakonische Gemeinde wird auffallen in einer Umgebung, in der Menschen herrschen wollen und auf Eigennutz aus sind. Die Bereitschaft zum Verzicht und zum Dienst macht sie glaubwürdig. Die Frage dabei ist: Wie können wir Menschen dienen – als Einzelne und als Gemeinde? Geflüchtete sind ein wichtiges Thema, aber es gibt noch weit mehr. Zu einem glaubwürdigen Zeugnis gehört beides: Das Evangelium als persönlicher Zuspruch – und die konkrete Hilfe, Seelsorge und Leibsorge. Dabei sieht die Zuwendung zum Einzelnen den Menschen in seiner materiellen Bedürftigkeit, darüber hinaus aber auch als Geschöpf Gottes, das auf eine Beziehung zu seinem Schöpfer hin angelegt ist. Als Mensch mit seinen Sehnsüchten und Hoffnungen, die auf materielle Weise allein nicht gestillt werden können. Neben den „material needs“ stehen die „spiritual needs“.

2. Gemeinde und Gemeinschaft in der Postmoderne

41

2. Gemeinde und Gemeinschaft in der Postmoderne53 Romano Guardini formulierte 1923: „Der Staat opfert den Einzelnen für die Gesamtheit; Gott nicht“54. Hier ist unter dem Eindruck der Schrecken des Ersten Weltkriegs in einer Schrift, die die Bedeutung der kirchlichen Gemeinschaft stark betont, zugleich der bleibende Unterschied zwischen den Kollektivismen der Moderne und christlichem Denken festgehalten. Wie aber ist es mit der Postmoderne – ist sie hier näher am christlichen Denken dran?

2.1 Sozialität und Individualität – zur praktisch-theologischen Diskussion im Kontext der Postmoderne 2.1.1 Kritik an der Individuumszentrierung der Moderne Das autonome Subjekt, das sich aus seinen Bezügen zu seinen Mitmenschen wie zu seiner Umwelt herauslöst, ist ein Signum der Moderne. Die Individuumszentrierung hinterließ ihre Spuren in vielen Bereichen, auch in Theologie und Kirche. An dieser Stelle gibt es in den letzten Jahren eine wichtige Veränderung. In der Seelsorgelehre etwa nimmt die Kritik an Vorstellungen zu, die den Einzelnen als autonomes Subjekt betrachten und sein soziales Umfeld vernachlässigen. Demgegenüber wird für eine stärkere Beachtung kontextueller Faktoren55 plädiert: Soziologische und systemische Betrachtungsweisen sollen helfen, die Fixierung auf das isolierte Individuum zu überwinden. Der Mensch lebt nicht inselhaft, sondern ist verwoben in vielfältige Kontexte und Bezüge.

2.1.2 Postmoderne Subjektorientierung Nun bedeutet freilich das, was „Postmoderne“ genannt wird, keineswegs das Ende der Ausrichtung auf den Einzelnen und der Subjektorientierung. „Alt-

53 Dieser Beitrag fußt auf einem Vortrag, der erstmals unter dem Titel „Being connected. Sozialität und Individualität in der christlichen Gemeinde“ beim Symposium „Kirche in der Postmoderne“ im Alfried-Krupp-Wissenschaftskolleg vom 18.–20. Oktober 2007 gehalten wurde (veröffentlicht: Zimmermann 2008). Die hier vorliegende gekürzte und überarbeitete Version wurde als Vortrag im Juni 2013 vor Theologiestudierenden in Tübingen gehalten. 54 Guardini 1923, 29. 55 Exemplarisch: Ziemer 2000, 17.

42

A. Gemeinde als Gemeinschaft

moderne Matadore des Subjekts und postmoderne Verkünder von dessen Tod stehen sich unversöhnlich gegenüber.“ – So ist bei Wolfgang Welsch zu lesen, aber wenig später fährt er fort: „In der Postmoderne kehrt […] Subjektivität eher wieder, als dass sie noch immer dementiert würde“56. Sie kehrt wieder, aber in einer gegenüber der Moderne veränderten Form: Nicht mehr Grenzenlosigkeit ist Kennzeichen des Subjekts, nun ist zu hören von Selbstbegrenzung und Selbstverendlichung57. Die Rede ist vom „schwachen Subjekt“. Es ist nicht mehr das herrscherliche Subjekt, sondern das vielheitsfähige, das Subjekt, das offen und empfänglich ist für andere58, sensibel für Differenzen und Umbrüche59. Dazu gehört auch die Selbstrelativierung: Zu heterogen, zu unterschiedlich ist das, was mir vom anderen her an Rationalität ebenso wie an Erfahrung begegnet, als dass die eigene Vernunft und die eigene Erfahrung zum verbindlichen Maßstab gemacht werden könnten. Die Wertschätzung des Heterogenen und jeglicher Einzelerfahrung prägt postmodernes Denken. Das führt auch in der Kirche zu einer Wertschätzung des Pluralen: Die Nachbarschaft zu orthodoxen Kirchen und Pfingstgemeinden zeigt, wie relativ und kontextbedingt vertraute Frömmigkeitsformen und Liturgien sind. So wichtig das Ziel kirchlicher Einheit ist – nicht Einheitlichkeit ist angesagt, sondern die Wertschätzung des Pluralen. (Freilich, und das sei hier nur als offene Frage genannt: Gibt es da auch Grenzen?) Auf der anderen Seite, in scheinbarem Gegensatz zum bisher Gesagten wird die Subjektorientierung der Moderne in der Postmoderne nicht nur weitergeführt, sondern zugespitzt: Maßstab für Wahrheit war in der Moderne nicht der Einzelne, sondern die als universal postulierte Vernunft. Für postmodernes Denken gibt es nichts mehr, das dem Einzelnen übergeordnet wäre. Die Wahrheit wird in das Subjekt verlagert, eine universal gültige Wahrheit wird abgelehnt (wobei genau genommen dieses Postulat schon wieder eine übergeordnete Wahrheit zu sein beansprucht). So haben wir auf der einen Seite das „schwache Subjekt“, auf der anderen Seite ein Verständnis von Wahrheit, das nur als subjektive Wahrheit denkbar ist. In dieser Hinsicht ist die Individuumszentrierung der Moderne nicht überwunden, sondern verschärft.

56 57 58 59

Welsch 1993, 315. Schieder 1994, 38 ff. Vgl. Welsch 1993, 316. Pohl-Patalong 1996, 114.

2. Gemeinde und Gemeinschaft in der Postmoderne

43

2.1.3 Sozialität unter Kollektivismusverdacht? Zur Moderne zählt auf der einen Seite die Emanzipation des Subjekts aus allen Bindungen, aus allem, was es bevormunden will. Zugleich und in direktem Widerspruch dazu kennt gerade die Moderne verschärfte Formen der Sozialität: Nicht nur der Individualismus ist ein Kind der Moderne, auch der moderne Kollektivismus bis hin zum Totalitarismus sind auf ihrem Boden gewachsen. Er „verdankt“ sich einer Hypostasierung der Vernunft mit einem universalen Anspruch, die über den Einzelnen hinwegsehen und ihn übersehen kann. Die Folge ist ein ambivalentes Verhältnis der Postmoderne zur Sozialität. Auf der einen Seite gibt es eine neue Offenheit durch die Beachtung von Kontexten, auf der anderen Seite eine aus den Erfahrungen moderner Vereinnahmung resultierende Reserve gegenüber allem Gemeinschaftlichen. Demgegenüber wird das Recht des Heterogenen stark gemacht, der Einzelne soll gegenüber der Masse in Schutz genommen werden. In der Praktischen Theologie kann sich das in einer prinzipiellen Skepsis gegenüber Entwürfen des Gemeindeaufbaus äußern, bis dahin, dass diese unter Kollektivismusverdacht gestellt werden. Wo das der Fall ist, kann Gemeinschaft nur als etwas gedacht werden, das den Einzelnen behindert und in seiner Entfaltung hemmt. Individualität und Sozialität werden damit zu konkurrierenden, letztlich einander ausschließenden Alternativen. Auch wenn die Verbindung zum Kollektivismus nicht explizit gezogen wird, ist ein sozialitätskritisches Denken in der evangelischen Praktischen Theologie im deutschsprachigen Raum weit verbreitet. In der römischkatholischen Pastoraltheologie ist das weniger der Fall, aber auch da sind entsprechende Stimmen zu hören60.

2.1.4 Ein Kontrapunkt: der Kommunitarismus Lassen sich Individualität und Sozialität, lassen sich der Einzelne und die Gemeinde nur als konkurrierende Größen denken und erfahren? Es gibt auch andere Stimmen zur Sozialität im Kontext postmodernen Denkens. Dazu zählt auch der sog. „Kommunitarismus“61, der seinen Schwerpunkt vor allem in Nordamerika hat. Hier wird Gemeinschaftsbildung nicht als Hindernis für die Möglichkeit der Entfaltung des Individuums gesehen, sondern umgekehrt als deren Voraussetzung. Das moderne Individualitätsdenken wird dabei nicht einfach übergangen, sondern bildet die Grundlage. Aber das Menschenbild ist ein anderes: Der Mensch wird nicht als singuläres Atom, sondern als soziales

60 So z. B. Haslinger/Bundschuh-Schramm 2000, 299; vgl. Haslinger 2005. 61 Zur Einführung s. Reese-Schäfer/Schobert 2002; Hilpert 1997.

44

A. Gemeinde als Gemeinschaft

Wesen gesehen. Angesichts der Kosten, die die moderne Freisetzung des Individuums mit sich bringt, machen sich die Vertreter des Kommunitarismus stark für die Bedeutung intermediärer Gemeinschaften. Glaube, so wird von Theologen wie George Lindbeck62 argumentiert, kann nur dann ausgedrückt und kommuniziert werden, wenn eine Sprache und „Grammatik“ des Glaubens vorgegeben ist, die der Einzelne erlernen und sich aneignen kann. Das Gemeinsame, die „Grammatik“ des Glaubens, ist die Voraussetzung für den Glauben des Einzelnen.

2.1.5 Sozialität in postmoderner Perspektive Den Hintergrund kann man so sehen: Das moderne Subjekt war bei allen Emanzipationsbestrebungen in der Regel noch in traditionale Sozialsysteme eingebettet, allen voran die Familie – möglicherweise versuchte es, gerade deshalb gegen diese Bindungen zu revoltieren, weil es sie als Beeinträchtigung empfand. Das postmoderne Subjekt hingegen ist in einer anderen Situation: Nachdem die Enttraditionalisierung noch weiter fortgeschritten ist, werden soziale Bindungen und Bezüge zur Mangelware. Das führt zur Einsicht in die „Relevanz sozialer Beziehungen gerade aus postmoderner Perspektive“63. Moderne Sozialformen boten nur für einen Teil der Bevölkerung Wahlmöglichkeiten, vor allem für ökonomisch unabhängige Männer. „Postmodern wird demgegenüber eine Flexibilität und Pluralität von Sozialformen favorisiert, die individuell gestaltet werden können.“ Aber dies ist verbunden mit „hohen Anforderungen an die Individuen […], die nun selbst gestalten müssen, was ihnen Jahrhunderte lang Institutionen abgenommen hatten“64. Man kann in sozialen Netzwerken die Sozialform der Postmoderne sehen: Sie bedeuten eine Verknüpfung und Vernetzung des Einzelnen ohne Unterordnung unter eine größere „Willenseinheit“65. Voraussetzung für ihr Gelingen ist „die Aktivität des Individuums als ‚Baumeister des Sozialen’, das für seine Netze permanent tätig ist. Das Individuum kann sich ihrer nie ganz sicher sein, so dass hinsichtlich der Vermittlung von Sicherheit und Geborgenheit Defizite bleiben“66. Außerdem ist mit dem Netzwerkkonzept eine „bleibende bzw. eher noch wachsende Bedeutung sozialer Ungleichheit“ verbunden, „da jetzt auch die sozialen Kontakte von spezifischen Ressourcen abhängen“67. 62 63 64 65 66 67

Vgl. Lindbeck 1994. Pohl-Patalong 1996, 147. Pohl-Patalong 1996, 147. Schmidt 1991, 357; vgl. dazu Pohl-Patalong 1996, 147. Pohl-Patalong 1996, 148 (Zitat von Keupp 1994, 342). Pohl-Patalong 1996, 149.

2. Gemeinde und Gemeinschaft in der Postmoderne

45

Während das Lebensmuster „Netzwerk“ bei jungen Erwachsenen bzw. dem mobilen Teil der Bevölkerung verbreitet ist, entwickeln Kinder und ältere Menschen ebenso wie nicht berufstätige Frauen mit kleinen Kindern nach wie vor lokal geprägte Lebensmuster. Die Auflösung traditionaler Sozialbindungen ist daher ambivalent. Wo solche Bindung als einengend empfunden wurde, wird deren Wegfall als Befreiung erlebt. Wo Menschen nicht die Ressourcen zur Verfügung stehen, posttraditionale Sozialbeziehungen aufzubauen, nützen ihnen auch die Wahlmöglichkeiten nichts. Welche Folgen hat das für die Gestalt christlicher Gemeinde? Diese Frage wird uns später noch beschäftigen (s. u. 2.3).

2.2 Ein Leib – viele Glieder. Biblisch-theologische Grundlegungen zum Verhältnis von Individualität und Sozialität 2.2.1 Individualität und Sozialität – Aspekte aus dem irdischen Wirken Jesu Eine biblisch-theologische Skizze68 soll zeigen, dass die Verbindung von Individualität und Sozialität zu den Grundlagen des christlichen Glaubens gehört. Ich stelle eine These von Martin Doerne voran: „Der Einzelne und die Gemeinde sind gleich ursprünglich Gegenstand des göttlichen Heilshandelns“69. In der irdischen Wirksamkeit Jesu nach den synoptischen Evangelien sind Aspekte erkennbar, die auf den ersten Blick als Beleg für eine Individuumszentrierung erscheinen können. Dazu zählt die Berufung der Jünger (z. B. Lk 9,57–62). An sie ergeht der Ruf: „Folge mir nach!“ Auf den ersten Blick ein klarer Beleg dafür, dass im Neuen Testament die Individualität Priorität hat: Der Einzelne in seiner Unvertretbarkeit, der Einzelne, der aus seinen sozialen Bindungen herausgerufen wird, selbst das Begräbnis des eigenen Vaters hat sich dem unterzuordnen. Ergo: Der Ruf zum Glauben und in die Nachfolge steht exemplarisch für den Aufbruch zur Individualität. Doch halt! Wer so denkt, beachtet nicht den Kontext. Jesus beruft nicht nur einzelne Jünger. Er beruft den Zwölferkreis: „Und er setzte zwölf ein, die er auch Apostel nannte, dass sie bei ihm sein sollten und dass er sie aussendete zu predigen“ (Mk 3,14). Wörtlich steht da „und er machte, er schuf (die) Zwölf “

68 Vgl. zu diesem Teil: Zimmermann 2009a, § 4. 69 Doerne 1989, 168.

46

A. Gemeinde als Gemeinschaft

(ἐποίησεν δώδεκα). Die Berufung des Zwölferkreises ist eine prophetische und messianische Zeichenhandlung. Die Zwölfzahl steht für das Zwölfstämmevolk, für das vollständige Gottesvolk, von dem zur Zeit Jesu nur noch zweieinhalb Stämme existierten. Mit der Berufung der Jünger beginnt die Wiederherstellung und Sammlung des Gottesvolkes der Endzeit, des Gottesvolkes in seiner Gesamtheit. Damit erhebt Jesus zugleich einen Anspruch auf das gesamte Israel, auf das gesamte Gottesvolk. Der Ruf zum Glauben und in die Nachfolge ist die eine Seite, die Eingliederung in das Gottesvolk und dessen endzeitliche Sammlung die andere Seite desselben Geschehens. Ein weiteres Beispiel ist das Gleichnis vom verlorenen Schaf: das Gleichnis vom Hirten, der hundert Schafe hat, eines davon verliert, die neunundneunzig in der Wüste lässt und dem verlorenen nachgeht, bis er es findet (Lk 15,4–7). Der Einzelne ist Gott wichtig, dem Einzelnen geht er nach, den Einzelnen will er bei sich haben, er freut sich über jeden Einzelnen, der zu ihm umkehrt – mehr als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. Wieder eine Stelle, bei der man auf den ersten Blick den Eindruck bekommen kann, die Botschaft Jesu sei mit einem kräftigen Individualisierungsschub verbunden. Aber auch hier gilt es den Kontext zu beachten. Es geht wieder um das Gottesvolk: Der Verlust des einen Schafes hat zur Folge, dass die Herde nicht mehr vollständig ist. Und das Wiederfinden des Schafes bedeutet nicht nur die Rückkehr unter die fürsorgende Obhut des Hirten, sondern zugleich seine Wiedereingliederung in die Herde, die zuvor unvollständig war und nun wieder vollständig ist. Die Aufgabe Jesu besteht nach diesem Gleichnis darin, das Gottesvolk zu sammeln und in seiner Gesamtheit wiederherzustellen. Mehr noch: das Gleichnis hat einen alttestamentlichen Hintergrund, wichtig ist dabei vor allem Hesekiel 34: Gott verheißt, das zerstreute Volk „aus allen Völkern“ zu sammeln (Ez 34,12f); dabei wird das Suchen der „Verlorenen“ besonders hervorgehoben (Ez 34,16). Wieder haben wir zwei Seiten ein und derselben Medaille: Es geht um den Einzelnen, der verloren ist, der Hilfe braucht und der von Jesus gesucht und gefunden wird – und es geht zugleich um die Sammlung des Gottesvolkes in seiner Gesamtheit, um die Sammlung der zerstreuten Schafe, die unter einem Hirten eine Herde sein werden. Es geht um das neue Gottesvolk, um die Heilsgemeinde der Endzeit. Ich breche ab und fasse zusammen: Der Einzelne, der von Jesus berufen bzw. gefunden wird, und die Sammlung des Gottesvolkes gehören untrennbar zusammen.

2. Gemeinde und Gemeinschaft in der Postmoderne

47

2.2.2 Taufe, Herrenmahl und Leib Christi Bei den Sakramenten wird die Verbindung von Individualität und Sozialität des Glaubens in besonderer Weise anschaulich: In der Taufe spricht Gott dem Einzelnen zu: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ (Jes 43,1) – und zugleich erfolgt in der Taufe die „Einverleibung“ in die Gemeinde. ἐν Χριστῷ εἶναι steht für die Taufe ebenso wie für die Zugehörigkeit zur Gemeinde. Ähnlich das Herrenmahl: Dem Einzelnen wird zugesprochen: Für dich gegeben. Die Anteilhabe an Christus ist zugleich ein gemeindegründendes Geschehen: Alle, die im Mahl am Leib Christi Anteil haben, werden untereinander verbunden zum Leib Christi, der Gemeinde (1Kor 10,16f). Ihr aber seid der Leib Christi und einzeln genommen (dessen) Glieder (1Kor 12,27)70. Den Leib gibt es nicht ohne die einzelnen Glieder, die Glieder wiederum sind nur als Teil des Leibes lebens- und handlungsfähig – und, darin besteht die Pointe: Die Besonderheit, Unentbehrlichkeit und insofern „Individualität“ des einzelnen Gliedes besteht gerade darin, dass es unverwechselbares Glied des Leibes ist. Als solches ist es zugleich mit den anderen Gliedern verbunden: Und wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit (1Kor 12,26). Ich fasse zusammen mit dem bereits genannten Satz von Martin Doerne: „Der Einzelne und die Gemeinde sind gleich ursprünglich im Heilshandeln Gottes“. Wie sind die biblischen Aspekte zu verstehen? Ich möchte an dieser Stelle eine hermeneutische Zwischenbemerkung einschieben: Die biblischen Grundlagen sind weder Reminiszenz einer längst vergangenen Zeit noch ein unerreichbares Ideal, verbunden mit einem Handlungsdruck, der immer wieder in der Frustration endet. Sie sind promissional zu verstehen: als Zusagen, Verheißungen, die unseren Glauben, unser Vertrauen und auch unseren Gehorsam hervorrufen, „pro-vozieren“ wollen. Sie bringen einen Zuwachs an Realität mit sich, an Realität, die in der Erfahrung nicht einholbar ist, aber auch nicht ohne Anhalt in der Erfahrung bleibt71. Sie sind von Gott hergegeben und insofern unverfügbar, ziehen aber eine menschliche Gestaltungsaufgabe nach sich.

70 Übersetzung nach Lang 1986. 71 Vgl. Krause 1998, 15 f.

48

A. Gemeinde als Gemeinschaft

2.3 Auf der Suche nach Sozialformen christlicher Gemeinde in der Postmoderne 2.3.1 Gemeinde als Lebensort 1. Keine Frage, es gab und gibt Zeiten und Situationen, in denen die christliche Kirche den Gefährdungen des Kollektivismus erlag. Aber das ist noch lange kein Grund, jede Form der Sozialität unter Kollektivismusverdacht zu stellen. Wie kann die Sozialität in der christlichen Gemeinde so gestaltet werden, dass sie den Einzelnen nicht beeinträchtigt und hemmt, sondern vielmehr ein Umfeld darstellt, das ihn fördert und in dem er sich entfalten kann? Die biblischen Grundlagen, vor allem das Bild der Gemeinde als Leib Christi, bilden die Grundlage für den seelsorglichen Auftrag der Gemeinde, das „schwache Subjekt“ der Postmoderne-Diskussion kann einen sinnvollen Anknüpfungspunkt darstellen. Damit ist die „unentflechtbare Wechselwirkung“ zwischen persönlichem Glauben und christlicher Gemeinde angeschnitten72: Das Gegenüber von Einzelnem und Gemeinde darf weder individualistisch aufgelöst werden, indem Gemeinde nur als lose Ansammlung religiöser Individuen verstanden wird, noch kollektivistisch, indem der Einzelne dem Gemeindeganzen untergeordnet wird. 2. Bei der Verflechtung von Individualität und Sozialität, von Einzelnem und Gemeinde, geht es um mehr als um eine Vermittlung von Individualität und Gemeinschaftsaspekt: Die in Christus erneuerte Gottesbeziehung wirkt sich aus in einer erneuerten Beziehung zum Nächsten. Wo die gestörte Gottesbeziehung heil geworden ist, kann auch das menschliche Miteinander heil werden, christliche Gemeinde kann zu einem Raum werden, in dem Menschen in jeder Hinsicht „heil“ werden. Erfahrene Freiheit und die Heilkraft der christlichen Gemeinschaft schaffen einen Raum dafür, dass Menschen ihre Persönlichkeit entfalten und weiterentwickeln können. 3. Damit ist zugleich eine seelsorgliche Aufgabe benannt: die Aufgabe, die Gemeinde als glaubensförderndes und lebensbegleitendes Umfeld für den Einzelnen zu gestalten73. Christliche Gemeinschaft hat von ihrer Bestimmung her den Auftrag, der Ort zu sein, der den Einzelnen im Glauben stützt und fördert, der Raum zu sein, in dem er sich in seiner Berufung und mit seinen Begabungen entfalten kann – und damit auch der Raum zu sein, in dem die Mentalität des modernen Konsum-Christentums überwunden wird.

72 Zulehner 1995, 13. 73 S. Zimmermann 2009a, 312 ff.

2. Gemeinde und Gemeinschaft in der Postmoderne

49

Soziologisch formuliert: Die Gemeinde stützt und fördert den Einzelnen, indem sie ihn in Netzwerke einbezieht, indem sie durch regelmäßige Kommunikation des Glaubens für den Glauben eine „Plausibilitätsstruktur“ darstellt: ein soziales Umfeld, in dem Glaube plausibel und erfahrbar gemacht wird. 4. Oder, mit einer Formulierung, die sich derzeit wachsender Beliebtheit in der Evangelischen Kirche erfreut: Die Gemeinde als geistliche Heimat, als Ort, an dem Glaube Wurzeln schlagen kann, als Bio-Top74, wörtlich: LebensOrt für den Glauben. Es spricht viel dafür, dass gerade die Unüberschaubarkeit des gesellschaftlichen wie des kirchlichen Pluralismus einen nicht zu unterschätzenden Anteil daran hat, dass das Bedürfnis nach geistlicher Beheimatung steigt. Je unwirtlicher das gesellschaftliche, bisweilen auch das familiäre und kirchliche Umfeld für den christlichen Glauben empfunden wird, umso mehr steigt dieses Bedürfnis. Die Grenze liegt dort, wo aus dem Biotop das ausgegrenzte und abgegrenzte Reservat wird – möglicherweise sogar in der Annahme, christliches Leben sei nur noch in solchen Sonderräumen möglich. Mit anderen Worten: Der missionarische Auftrag begrenzt den berechtigten Wunsch nach Beheimatung.

2.3.2 Gemeinde als „Netzwerk“ und Netzwerkgemeinden Das Netzwerk als „Sozialform der Postmoderne“ steht angesichts eines inflationären Anstiegs des Gebrauchs dieser Metapher in der Gefahr, sein Profil zu verlieren und konturenlos zu werden. Viele reden vom „Netzwerk“, das EKDImpulspapier „Kirche der Freiheit“75 ebenso wie „Mission-shaped Church“ aus der Anglikanischen Kirche76 – aber meinen alle dasselbe? Eine wichtige Frage geht dahin, ob Netzwerkstrukturen für eine nur lose oder eine intensive Verbundenheit stehen. Vom Bild her ist ein Netzwerk nur dann tragfähig, wenn die Knoten fest geknüpft sind. Aber das Bild des Netzwerks wird genauso für lockere und lose Kontakte verwendet. Der Akzent kann dann darauf liegen, dass ein Netzwerk kein Zentrum hat. Auch wenn damit das Bild an seine Grenzen kommt, steht letzteres postmodernem Denken und Erleben zweifellos näher. Für Mission-shaped Church steht das Lebensmuster „Netzwerk“ dem Lebensmuster „Nachbarschaft“ gegenüber77. Es bezieht sich vor allem auf den jüngeren und mobileren Teil der Bevölkerung. Bezugspersonen sind für diese 74 Zum Begriff des „Biotops“ s. „Zeit zur Aussaat“ 2000, 25: „Biotope des Glaubens“, „Biotope gelebter Christlichkeit“. 75 Evangelische Kirche in Deutschland 2006. 76 Herbst (Hg.) 2006. 77 Herbst (Hg.) 2006, 40–44 u. ö. – Zu fresh expressions of church s. u. 5.2.

50

A. Gemeinde als Gemeinschaft

nicht die Nachbarn, sondern etwa diejenigen, deren Nummern sie auf dem Handy gespeichert haben. „Netzwerkgemeinden“ organisieren sich auch nach diesem Prinzip, streben aber eine feste Verbundenheit an. In dieser Hinsicht sind „Netzwerkgemeinden“ eine alternative Gemeindeform, die große Chancen hat, weil sie Menschen nicht von ihrem Wohnsitz her, sondern von ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und Milieus ansprechen kann. Im EKD-Papier „Kirche der Freiheit“ steht das „Netzwerk“ der Parochie gegenüber, es wird in einem Atemzug mit Begriffen wie „situative Begegnungsorte“ und „Passantengemeinden“ genannt78. Auch das ist typisch „postmodern“, eine Form der postmodernen Gemeinde ist die Passantengemeinde: die Gemeinde, die nicht auf Dauer und Verbindlichkeit angelegt ist, sondern durch ein ständiges Kommen und Gehen gekennzeichnet ist. Sie ist wie eine City-Gemeinde: bevölkert von einem bunten Gemisch aus Touristen, Schülern, einsamen Gottsuchern und anderen Spiritualitätshungrigen. Hier das Angebot einer liturgischen Andacht, dort die Möglichkeit, sich segnen zu lassen, wieder anderswo eine Ecke zum Teetrinken, eine Wand für Gebete und vieles andere mehr. Jeder kommt als Individuum, und jeder kann sich so viel an Gemeinschaft zumuten, wie er meint, nötig zu haben. Einen ähnlich passageren Charakter haben auch virtuelle Formen christlicher Gemeinschaft, etwa in einem Chatroom im Internet: Der Einzelne linkt sich ein und verabschiedet sich ganz nach seinen Bedürfnissen. Für die einen ein Traumbild von Kirche, andere hingegen würden sich weigern, hier von „Gemeinde“ zu reden. Zugespitzt gefragt: Ist die Passantengemeinde die Inkulturation christlicher Gemeinde in der Postmoderne? Oder ist das schon eine Anbiederung an Laufkundschaft und ihre wechselnden Bedürfnisse, ein Christsein light ohne jegliche Zumutungen und Ansprüche, ohne jede Verbindlichkeit? Man wird differenzieren müssen: Auf der einen Seite werden solche Angebote nötig sein, damit Menschen überhaupt in Berührung mit dem Evangelium und mit christlicher Gemeinde kommen. Eine Inkulturation in die Postmoderne wird nicht um netzwerkartige und passagere Strukturen herumkommen. „Passantengemeinden“ sind nötig als Inkulturationen christlicher Gemeinde in postmoderne Kontexte und haben darin ihre begrenzte Berechtigung. Wo Menschen feste Bindungen scheuen, wird man nur zu ihnen in Beziehung treten können, indem ihnen lockerer und loser Kontakt angeboten wird. Auf der anderen Seite ist hier in der Tat nicht nur Inkulturation, sondern zugleich Konter-Kulturation angesagt79, ausgehend von der Frage: Wie kann die gemeinschaftsstiftende

78 Evangelische Kirche in Deutschland 2006, 53–57. 79 Zu Inkulturation und Konter-Kulturation s. u. 5.1.

2. Gemeinde und Gemeinschaft in der Postmoderne

51

Kraft des christlichen Glaubens in solchen Kontexten Gestalt gewinnen? Der christliche Glaube ist nicht minimalistisch, wenn es darum geht, die Kommunikation des Glaubens zu gestalten. Aus der Gemeinschaft mit Christus erwachsen Formen gemeinsamen Lebens in der christlichen Gemeinde, zu deren Kennzeichen auch Verlässlichkeit und Verbindlichkeit gehören. Ganz abgesehen davon, dass dort, wo Passanten eine Herberge angeboten werden soll, dies nur möglich ist, wenn Christenmenschen diese Herberge ebenso gastfreundlich wie zuverlässig gestalten. „Kirche bei Gelegenheit“80 ist nur möglich, wenn es auch „Kirche in Stetigkeit“81 gibt. Wie ist es mit virtuellen Formen von Gemeinschaft? Die kann und soll es geben. Massenmediale und virtuelle Formen von Gemeinschaft sind notwendig als Inkulturationen in postmoderne Kontexte, brauchen aber die Rückbindung Gemeinde als congregatio sanctorum (CA VII), als Versammlung der Glaubenden, die ohne leibhaftes Zusammenkommen nicht denkbar ist. Sie können die versammelte Gemeinde ergänzen, aber nicht dauerhaft ersetzen. Taufe und Abendmahl können nicht virtuell, sondern nur bei leibhafter Anwesenheit gefeiert werden. Weiter ist an diejenigen Menschen zu denken, die auf mehr Unterstützung angewiesen sind. Wer ein soziales Netz braucht, das ihn trägt, für den sind lockere Kontaktmöglichkeiten zu wenig. Die Enttraditionalisierung der vergangenen Jahre und Jahrzehnte hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen ohne stützende familiäre Verbindungen leben müssen. Daraus entsteht ein Bedarf an tragfähigen Netzwerkstrukturen. Gemeindliche Netzwerkstrukturen sind nötig, die vorhandene Sozialstrukturen wie Kleinfamilien ergänzen und wo nötig auch ersetzen. Nicht zuletzt ist an diejenigen zu denken, die nicht die Ressourcen dazu haben, sich Netzwerke zu bilden und die nach wie vor stärker in lokal geprägten Beziehungen leben. Dazu zählen ältere Menschen ebenso wie Kinder, junge Familien, Alleinerziehende und sozial Schwache. Die Verantwortung ihnen gegenüber bringt es mit sich, dass Kirche nicht in überparochialen Netzwerkstrukturen aufgehen kann, sondern gut beraten ist, Netzwerke auch mit pa­ rochialen Strukturen zu verbinden. Ausschließlich auf Netzwerken basierende Gemeindeformen sind auch nicht davor geschützt, sich in eigene Subkulturen und Nischen zurückzuziehen. Gerade dort, wo eine hohe Intensität an Gemeinschaft angestrebt wird, ist diese Gefahr präsent. Die Herausforderung in postmodernen Kontexten ist daher eine doppelte: eine missionarische und eine diakonische.

80 S. Nüchtern 1991. 81 Gerhard Hennig mündlich.

52

A. Gemeinde als Gemeinschaft

a) Die missionarische Herausforderung gilt für lokal und parochial strukturierte Gemeinden ebenso wie für netzwerkförmige. Sie besteht darin, Netzwerke nicht abzuschotten und sich abzukapseln, sondern sie offenzuhalten82 – nur so können Gemeinden ihre Selbstgenügsamkeit überwinden und ihrem Auftrag gerecht werden. b) Zur diakonischen Herausforderung: Netzwerke bringen viele Chancen mit sich, aber auch spezifische Gefährdungen. Je lockerer sie geknüpft sind, umso störanfälliger und labiler sind sie. Sie bringen zwar weniger Sozialkontrolle mit sich, aber oft auch weniger Halt in Krisensituationen. Hier greift der diakonische und seelsorgliche Auftrag der Gemeinde: Menschen die Unterstützung zuteil werden zu lassen, die sie brauchen. Gerade labile Menschen brauchen stabile Strukturen, die tragfähig sind, ohne einzuengen. Von daher stellen auch kommunitäre und vorkommunitäre Formen christlicher Gemeinde, die für andere offen sind, in missionarischer wie diakonischer Hinsicht besondere Chancen in postmodernen Kontexten dar.

2.3.3 Pluralitätsfähige Gemeinde Pluralität als Schlüsselbegriff der Postmoderne kam bisher erst am Rand vor. Im Kontext der Frage nach christlicher Sozialität will ich mich beschränken auf die Pluralisierung der Gemeindeformen83, und zwar in einer doppelten Hinsicht: a) Zu den Ortsgemeinden treten Profilgemeinden und Netzwerkgemeinden. Kriterium der Zugehörigkeit ist nicht mehr primär der Wohnbezirk, sondern ein bestimmtes theologisches Profil, ein milieuspezifisches oder kulturelles Profil, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Personengruppe. Damit ist die Diskussion um Gemeindepflanzung und fresh expressions of church84 angeschnitten. b) Eine weitere Pluralisierung erfolgt in ökumenischer Hinsicht: Neue Gemeinden etwa charismatischer und pfingstlicher Prägung entstehen, und vor allem Migrantengemeinden tragen zu einer signifikanten Pluralisierung bei: Das Spektrum umfasst Aussiedlergemeinden ebenso wie koreanische, afrikanische, brasilianische und viele andere Gemeinden. 82 Bei seinem Versuch, den „Aufstieg des Christentums“ soziologisch zu rekonstruieren, verweist Rodney Stark mehrfach auf die Bedeutung sozialer Netzwerke für die ur- und frühchristliche Mission und folgert daraus: „Wir müssen feststellen, wie es den Christen gelang, ihre sozialen Netzwerke offenzuhalten, fähig zu bleiben, Bindungen mit Außenstehenden einzugehen – statt zu einer geschlossenen Gesellschaft von Gläubigen zu werden“ (Stark 1997, 133). – Bleibt zu hoffen, dass Vergleichbares später einmal in einer „Kirchengeschichte der Postmoderne“ stehen wird. 83 Zum Thema Gemeindeformen s. u. Teil E. 84 S. Kap. 5.

2. Gemeinde und Gemeinschaft in der Postmoderne

53

Dadurch stellt sich die ökumenische Frage noch einmal neu: Es geht nicht nur um die Gestaltung der Beziehungen zu römisch-katholischen Gemeinden und den traditionellen Freikirchen, sondern auch zu orthodoxen, charismatischen und pfingstkirchlichen Gemeinden – und das alles in internationaler und interkultureller Hinsicht. Die Herausforderung sehe ich darin, von gut nachbarschaftlichen Beziehungen zu einem gastfreundlichen Miteinander zu kommen, übergemeindliche Netzwerke zu entwickeln und in gemeinsamen gottesdienstlichen Feiern die umfassende Einheit des Leibes Christi erfahrbar werden zu lassen. Dazu ist es wichtig, dass Gemeinden vielheitsfähig, pluralitätsfähig werden. Dass sie ihre eigene Prägung, ihre eigene Frömmigkeitsform nicht absolut setzen, sondern über alle kulturellen Differenzen hinweg Gemeinschaft möglich wird. Das mag einfach sein, solange man Berichte aus fernen Ländern hört und für die Mission in Übersee spendet. Das kann schwieriger werden, wenn die afrikanische Gemeinde im Gemeindehaus zu Gast ist und ein Fest mit allen dazu gehörenden Gerüchen und Geräuschen feiert. Für diese Form der lokal erfahrenen Globalisierung wurde das Kunstwort „Glokalität“ gebildet: Nächstenliebe ist bisweilen schwieriger als Fernstenliebe, leibhafte Begegnung anspruchsvoller als ein virtuelles Being connected. Auch hier sind „schwache Subjekte“ gefragt, offen für andere, sensibel für Differenzen, Christenmenschen, die die Vielfalt der Gemeindeformen nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung erfahren.

2.3.4 Gemeinde zwischen Agora und Oikos Angesichts der postmodernen Unübersichtlichkeit warnt Albrecht Grözinger vor der „Versuchung […], den Weg zurück zur frühchristlichen Hauskirche zu gehen“, die er am Verkauf von Kirchengebäuden in Stadtzentren konkretisiert. Dies würde eine allzu schnelle Aufgabe der öffentlichen Präsenz der Kirche bedeuten“85. Man kann fragen, ob hier die „Hauskirche“ nicht zu negativ wegkommt86. Auf der anderen Seite – und hier folge ich Grözinger – lässt er sich nicht auf das „Haus“ begrenzen, er drängt an die Öffentlichkeit. Öffentlichkeit heißt in postmodernen Zeiten nun aber nicht mehr, dass die Kirche im Zentrum steht und alles andere sich um sie herum gruppiert. Die Herausforderung für Christen besteht vor allem darin, auf der Agora, dem Marktplatz, präsent zu sein, und das bedeutet auch: mitzumischen im öffentlichen Diskurs und Wettbewerb.

85 Grözinger 2000, 45. 86 Zur praktisch-theologischen Kategorie des „Hauses“ s. Zimmermann 2009a, § 9.

54

A. Gemeinde als Gemeinschaft

Profiliert präsent zu sein unter einer Vielzahl weltanschaulicher Angebote und Konkurrenten. Oikos und Agora, Haus und Marktplatz: Beide stellen keine Alternative dar, sondern ergänzen einander. Das eine steht für die Verwurzelung und Beheimatung, das andere für die öffentliche Präsenz und den öffentlichen Anspruch. Zwischen beidem braucht es Verbindungen, Übergänge, Passagen. Mit anderen Worten: Wir brauchen Brücken vom Event zum Netzwerk, von der Internet-Community und dem Citykirchenangebot zur verlässlich erlebbaren Gemeinschaft, oder, mit der Formulierung aus einer römisch-katholischen Konzeption: von der „Passantenpastoral“ zur „gemeinschaftsbildenden Pastoral“ mit dem Ziel der Bildung von „Zellen christlichen Lebens“87.

2.4 „unentflechtbare Wechselwirkung“ Individualität und Sozialität, so lautete die These, stehen im christlichen Glauben nicht gegeneinander oder in Konkurrenz zueinander. Mehr noch: Wo Menschen von Gottes Geist erneuert werden, wird auch ihr Miteinander neu. Individualität und Sozialität stehen in einer „unentflechtbaren Wechselwirkung“, beide unterstützen und fördern sich gegenseitig. Das stellt die Grundlage nicht nur für alte, sondern auch für neue Gemeindeformen einschließlich der fresh expressions of church, in postmodernen Kontexten mit ihren spezifischen Herausforderungen dar.

87 Bravo 2000.

B. Missionarische Gemeinde

3. „Missionarisch Gemeinde sein“1 3.1 Vom Herzschlag der Kirche „Wenn die Kirche ein Herz hätte, ein Herz, das noch schlägt, dann würden Evangelisation und Mission den Rhythmus des Herzens der Kirche in hohem Maße bestimmen. Und Defizite bei der missionarischen Tätigkeit der christlichen Kirche […] würden sofort zu schweren Herzrhythmusstörungen führen [… W]enn Mission und Evangelisation nicht Sache der ganzen Kirche ist oder wieder wird, dann ist etwas mit dem Herzschlag der Kirche nicht in Ordnung“.2

Mit diesen markanten Sätzen machte sich Eberhard Jüngel 1999 auf der EKDSynode in Leipzig für das Anliegen der Mission stark. Für das Thema „missionarisch Gemeinde sein“ steht damit eine steile These am Anfang: Eine Kirche und Gemeinden, die ihrem missionarischen Auftrag nicht nachkommen, sind herzkrank. Wie aber sieht eine missionarische Kirche, wie eine missionarische Gemeinde aus? Woran sind sie zu erkennen? Es gibt viele Vorstellungen und Vorurteile darüber, wie „Mission“ aussieht – und wie nicht. Eine Galerie von Bildern „missionarischer“ Gemeinden soll das verdeutlichen. Nach dieser „Galerie“ (3.2) geht es weiter zu einer ekklesiologischen Grundlegung zum Auftrag der Kirche (3.3), anschließend folgen Kennzeichen einer missionarischen Gemeinde (3.4) und das zusammenfassende Fazit (3.5). Die folgenden Kapitel befassen sich mit dem Thema „Evangelistische Gemeinde“ (4.), den Fragen nach Inkulturation, Konter-Kulturation und „fresh expressions of church“ (5.). Exemplarisch für „missionarische“ und „evangelistische“ Gemeindearbeit stehen „Kurse zum Glauben“ (6.).

1 2

Die ersten Teile dieses Kapitels gehen zurück auf einen Vortrag mit dem Titel „Heute missionarisch Gemeinde sein“ am 23.6.2016 am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Erlangen-Nürnberg; für die Veröffentlichung wurden sie grundlegend überarbeitet. Jüngel 2001, 15.

56

B. Missionarische Gemeinde

3.2 Sieben Bilder missionarischer Gemeinden Was sollen wir uns unter einer „missionarischen Gemeinde“ vorstellen? Viele reden von „missionarischer Gemeinde“, verbinden damit aber ganz unterschiedliche Bilder und Schwerpunkte. Wenn eigene Erfahrungen dabei eine Rolle spielen, können solche Bilder auch emotionsbesetzt sein. Ich möchte zunächst ein Panorama solcher Vorstellungen von Gemeinden skizzieren, die alle ihrem Selbstverständnis nach „missionarische“ Gemeinden sind: Die erste Gemeinde versteht unter Mission den Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Die Gebäude der Gemeinde sind ökologisch saniert, ein großer Weltladen ist der Blickfang beim Betreten des Gemeindezentrums. Die Gemeinde ist vernetzt mit Umwelt- und Friedensaktivisten. Themen von Armut, Ausgrenzung, Gewalt und Fragen der Gerechtigkeit im eigenen Land und in weltweiter Perspektive sind in Gottesdiensten und Gemeindeveranstaltungen stets präsent. Mit einem Tafelladen und einer Vesperkirche macht die Gemeinde ihre diakonischen Anliegen konkret, sie ist engagiert in Projekten der Stadtentwicklung (bzw. Dorfentwicklung). Gemeinde zwei versteht Mission als Grenzüberschreitung, als Begegnung mit Fremden. Für sie steht der interkulturelle Aspekt im Vordergrund: Das Evangelium drückt sich in kulturellen Formen aus, zugleich schafft es eine Verbundenheit über kulturelle Grenzen hinweg. Mit der ersten Gemeinde zusammen ist sie in der Flüchtlingsarbeit engagiert, im Gemeindehaus wird ein „Café Asyl“ angeboten. Auch mit dem Kirchenasyl hat die Gemeinde bereits Erfahrungen gesammelt. Darüber hinaus hat die Gemeinde ein Kontaktnetz zu Migrantengemeinden. Eine koreanische und eine afrikanische Gemeinde haben bei ihr Gastrecht im Gemeindezentrum. Die Gemeinde hat gut nachbarschaftliche Beziehungen zur örtlichen Moschee; sie bietet ökumenische und interreligiöse Gesprächskreise an. Gemeinde drei sieht ihre Mission, ihre Sendung darin, Gott zu loben. Das soll nach außen ausstrahlen und andere heraus aus dem Alltag in den Bereich des Heiligen mitnehmen. Tagzeitengebete und Lobpreisabende, Taizégebete und Zeiten der Anbetung sowie die Gottesdienste insgesamt stehen im Zentrum dieser Gemeinde. „Gott loben, das ist unser Amt“ ist das Motto, das mit unterschiedlichen musikalischen Stilen aus Geschichte und Gegenwart verbunden wird. Das Lob Gottes in seiner Vielfalt stellt zugleich die Verbundenheit zur weltweiten Kirche und zu den vorherigen Generationen her. Die vierte Gemeinde sieht ihren Auftrag darin, Menschen zum Glauben und in die Gemeinde zu führen. Die Gemeinde nennt das „Evangelisation“. Dazu bietet sie eine breite Palette missionarischer Veranstaltungen an: Alle Jahre wieder gibt es Zeltabende auf einem zentralen Platz am Ort, an denen Lebens-

3. „Missionarisch Gemeinde sein“

57

fragen unter der Perspektive des Glaubens behandelt werden. Kurse zum Glauben helfen Menschen, den Glauben persönlich zu entdecken und zu vertiefen. Niederschwellige und kreativ gestaltete Gottesdienste wenden sich an Kirchendistanzierte und andere seltene Kirchenbesucher. Gemeindeglieder werden in die weltweite Missionsarbeit ausgesandt und von der Gemeinde unterstützt. Diese Gemeinde will „das Evangelium unter die Leute bringen“. Die fünfte Gemeinde versteht sich als „missionarisch“ im Hinblick auf die Angebote, die die Breite der Kirchenmitglieder erreichen, insbesondere auf Kasualien und Gottesdiensten an den besonderen Festen im Kirchenjahr, vor allem am Heiligen Abend. Eine liebevoll gestaltete Taufe und persönliche Worte bei der Beerdigung sind wichtig. Auch wenn sie nur selten in der Kirche zu sehen sind, sollen Menschen bei solchen Gelegenheiten Respekt und Wertschätzung erfahren. Durch einfühlsame Gespräche, eine hohe Qualität und ansprechende Gestaltung der Kasualien sollen Menschen im Glauben und Leben begleitet und in ihrer Zugehörigkeit zur Evangelischen Kirche gestärkt werden. Die sechste Gemeinde gehört zur „Geistlichen Gemeinde-Erneuerung“. Sie legt ihren Schwerpunkt auf das Wirken des Heiligen Geistes in der Gegenwart und auf die Gaben des Geistes, die den Glaubenden gegeben sind. Zeichen und Wunder demonstrieren die Macht des Heiligen Geistes. In Lobpreisgottesdiensten wird das Sprachengebet praktiziert. Das Gebet um Heilung für Kranke nimmt einen wichtigen Platz ein. Menschen berichten von Erfahrungen von Heilung und von Kraftwirkungen des Heiligen Geistes in ihrem Alltag. Die Gemeinde ist überzeugt, dass diese Erfahrungen allen offenstehen. Die siebte Gemeinde möchte den Begriff „missionarisch“ durch „missional“ ersetzen. Menschen sollen nicht durch Aufgaben in der Gemeinde absorbiert werden, die eigentliche Mission vollzieht sich, indem Christen bei den Menschen sind und ihnen dienen: in ihrer Nachbarschaft, in ihren Beziehungsnetzwerken und Milieus. Dadurch soll die Gemeinde für ihr Umfeld relevant werden. Die „missionale“ Gemeinde will nicht Menschen aus ihrem Umfeld heraus in die Gemeinde holen (das wäre „attraktional“), sondern dem Vorbild Jesu folgend bei den Menschen sein und ihnen auf Augenhöhe begegnen. Die Gemeinde nennt das „inkarnatorisch“. Ein starker Akzent liegt dabei auf der Gestaltung von echten, authentischen Beziehungen. Das Ziel ist es, dass „Gemeinde“ nicht auf die das Kirchengebäude beschränkt ist, sondern in ganz unterschiedlichen Formen in den unterschiedlichen Netzwerken und Milieus entsteht. Sieben unterschiedliche Gemeinden sind hier idealtypisch dargestellt. Alle haben den Anspruch, „missionarisch“ zu sein, sie gehen zurück auf theologische und konfessionelle Positionen und Modelle, die in der Diskussion ebenso wie in der Realität zu finden sind. Aber welche dieser Gemeinden sind tatsächlich „missionarisch“? Auch wenn es nicht darum gehen soll, Zensuren zu verteilen,

58

B. Missionarische Gemeinde

ein Ranking zu erstellen oder ein achtes Modell als Synthese der sieben dargestellten zu entwickeln, so ist für einen angemessenen Umgang mit diesen Modellen gleichwohl eine „Hermeneutik des Missionarischen“ erforderlich. Entsprechende Kriterien werden nach weiteren Klärungen in 3.4.3 entwickelt. Es wird dabei – so viel sei vorweg gesagt – vor allem um das Verhältnis von Mission und Evangelisation gehen.

3.3 Die Kirche und ihr Auftrag 3.3.1 Die „ekklesiologische Lücke“ In seinem bereits erwähnten Synodalvortrag sprach Eberhard Jüngel von einer „peinliche[n] Lücke in der Lehre von der Kirche“3. Er meint damit die reformatorischen Bekenntnisschriften, die zwar auf die um Wort und Sakrament versammelte Gemeinde blicken, aber von der Gemeinde, die über sich selbst hinausgeht und ihren Auftrag wahrnimmt, schweigen. Gerhard Hennig formuliert es so: „Was wir die ‚missionarische Dimension‘ der Kirche nennen, ging in die Bekenntnisbildung der lutherischen Kirchen und in das Bewusstsein ihrer Pfarrer nicht ein“4. Damit signalisiert er, dass das Problem nicht nur in den Bekenntnistexten, sondern auch in vorhandenen Mentalitäten, im Bewusstsein der Pfarrerinnen und Pfarrer und sicher auch vieler Gemeindeglieder zu sehen ist. Die Lücke beginnt sich nach Jüngel zu schließen, er verweist auf die sechste These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934: „Der Auftrag der Kirche […] besteht darin […], die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“5. Damit ist klar: Das Evangelium gilt „allem Volk“, nicht nur denen, die der Kirche angehören, nicht nur denen, die im Gottesdienst zu finden sind. Allerdings wartet diese These nach Jüngel „noch immer auf ihre ekklesiologische Rezeption“6. Mit anderen Worten: Kirche ist creatura verbi (Geschöpf des Wortes Gottes), ihr Auftrag ist es, das Wort, dem sie sich verdankt, aller Welt zu bezeugen. Die Kirche wird nur dann ihrem Auftrag gerecht, wenn sie in ihrem Handeln davon ausgeht, dass das Evangelium nicht nur ihr selbst gilt, sondern dass der Adressatenkreis der Evangeliumsverkündigung keiner Einschränkung unter3 4 5 6

Jüngel 2001, 14. Hennig 2001, 322 f. Zitiert nach Hüffmeier/Stöhr (Hg.) 1984, 246. Jüngel 2001, 17: „In der Lehre von der Kirche beginnt sich allerdings erst in unseren Tagen jene Lücke zu schließen, die in der überlieferten Ekklesiologie unübersehbar klaffte“.

3. „Missionarisch Gemeinde sein“

59

liegen darf: „Es ist theologisch nicht zu begründen, dass die christliche Kirche irgend jemand gegenüber von der Aufgabe der Bezeugung des Wortes Gottes entbunden wäre“ (Wilfried Härle)7. Wenn im apostolischen Glaubensbekenntnis die Kirche als „katholische“, als „allgemeine“ Kirche bekannt wird, dann impliziert dies die „missionarische Dimension“ der Kirche. Sie ist positiv zu verstehen „als missionarische Verpflichtung, d. h. als Sendung zu allen Menschen (ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, Klasse, Nation usw.)“ (W. Härle)8. Das Gegenbild einer missionarischen Gemeinde in einer zunehmend multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft wäre eine Kirche, die sich darauf beschränkt, „Volkskirche“ im Sinne einer Stammeskirche für Einheimische zu sein – im Verzicht auf den Auftrag, „hinzugehen“ und Grenzen zu überschreiten.

3.3.2 Zwei Pole und zwei Berge – Missionarisch Gemeinde sein zwischen Mt 5 und Mt 28 Das Matthäusevangelium enthält eine Fülle von intratextuellen Bezügen9. Dazu gehören auch Spannungsfelder, die für das Verständnis des Missionsauftrags und einer „missionarischen Gemeinde“ grundlegend sind. Zwei davon sollen hier skizziert werden. 1. Zwei Pole (Mt 18 und Mt 28) • Mt 18,20: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“. • Mt 28,20: „Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt“. Beide Male sagt der irdische Jesus seiner Gemeinde seine Gegenwart zu: Einmal der Gemeinde, die sich in seinem Namen versammelt, und einmal der Gemeinde, die sich vom Auferstandenen in alle Welt senden lässt, um alle Völker auf den Weg der Jüngerschaft zu führen. Sammlung und Sendung sind die beiden Pole, die die Identität der Gemeinde Jesu ausmachen: Auf der einen Seite steht der Gottesdienst, das Hören, Beten, Singen und Feiern, die Ausrichtung auf den lebendigen Herrn der Kirche. Ihm gegenüber steht die Sendung hin zu den Menschen. Damit sind wir wieder beim Herzschlag der Kirche, beim Rhythmus von „bei sich selbst sein“ und „über sich hinausgehen“. 7 8 9

Härle 1989, 294. Härle 1989, 293. Das Matthäusevangelium zeigt sich „als ein durchkomponiertes und kunstvoll gestaltetes Ganzes, das ein feines, engmaschiges intratextuelles Netzwerk aufweist“ (Konradt 2015,1).

60

B. Missionarische Gemeinde

2. Zwei Berge (Mt 5 und Mt 28)10 Der Missionsauftrag steht in ähnlicher Weise im Spannungsfeld von Mt 5 und Mt 28, konkret von Mt 5,13 („Ihr seid das Salz der Erde“) und Mt 28,1911 („geht hin und macht zu Jüngern alle Völker“). Verbunden damit ist die Frage, was das für die „Mission“ der Gemeinde heute bedeutet. Theo Sundermeier vertritt folgende Position: „Nicht Mt 28 begründet die Mission, sondern in Mt 5 wird den Jüngern das Kirchesein und damit zugleich ihr Sein als Mission zugesprochen: ‚Ihr seid das Licht der Welt‘ […], ‚ihr seid das Salz der Erde‘ […] Die Kirche hat nicht eine Mission, sondern sie ist Mission“12. Für Sundermeier ist Mt 5 „der erste und eigentliche ‚Missionsbefehl‘, genauer, die zentrale Missionsverheißung, die der Kirche ihr Sein und ihre Sendung zuspricht“13. Wenn Sundermaier in Mt 5 und nicht in Mt 28 den ersten und eigentlichen Missionsauftrag sieht, ist damit ein positives Anliegen verbunden. Er möchte Mission nicht im Tun, sondern im Sein der Kirche verankern. Anders formuliert: Mission ist nicht nur ein „Werk“, das von Sein und Wesen der Kirche abtrennbar ist, sondern elementarer Bestandteil ihrer Existenz. Das Problem dabei ist die Alternative, die er aufstellt. Die der Kirche gegebene Zusage, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein, erübrigt nicht ihr Tun. Gerhard Hennig formuliert zugespitzt: „Mission ist nicht das Wesen der Kirche, das ihr zu eigen ist, sondern das Werk, das ihr geboten wird […] Nicht ihr Irgendwie-Dasein, sondern ihr Gehorsam-Sein, ihre ‚guten Werke‘ machen die Kirche überzeugend, erkennbar und zum Licht für die Welt“14. Ich sehe deshalb Mt 5 und Mt 28 nicht als Gegensätze oder Alternativen, sondern in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander. Es ist kaum ein Zufall, dass im Kontext des Matthäus-Evangeliums beide Reden Jesu auf einem Berg lokalisiert werden. Das Gegenüber von Mt 5 und Mt 28 kann praktisch-theologisch weitergeführt werden zur Unterscheidung zwischen einem als „missionarischen“ Dimension allen kirchlichen Tuns und besonderem „missionarischem“ Handeln.

10 Die Gegenüberstellung der beiden Berge habe ich erstmals vorgetragen in: Zimmermann 2009b, 89–93. 11 Zur Frage der Auslegung und Übersetzung von Mt 28,19 s. Zimmermann 2017; außerdem die Beiträge in Heft 2/2018 (49. Jg.) der „Theologischen Beiträge“: Farnbacher/Teuffel 2018; Kähler 2018; Puttkammer 2018; Klaiber 2018. 12 Sundermeier 2003, 39 f. 13 Sundermeier 1999, 18. 14 Hennig 2001, 320–321.

3. „Missionarisch Gemeinde sein“

61

Analog zu einer Unterscheidung aus der Seelsorgelehre kann von Mt 5 her die „generelle Mission“ in der missionarischen Dimension allen kirchlichen Handelns gesehen werden. Jeder Gottesdienst, jedes Kirchenkonzert ob mit Bachkantate oder geistlicher Popmusik, ja selbst die Kirchengebäude und kirchliche Kunst strahlen durch ihr Dasein etwas aus von der Schönheit Gottes. Im Unterschied dazu wäre die „spezielle Mission“ von Mt 28 her ein Handeln, das sich durch das „Hingehen“ und spezifisch missionarische Intentionen auszeichnet15. Beide Seiten benötigen und ergänzen einander gegenseitig. Wo Mission ausschließlich im „Besonderen“ verortet wird, besteht die Gefahr, die Bedeutung des Alltäglichen und des Herkömmlichen zu missachten. Wer umgekehrt Mission ausschließlich mit dem „Sein“ der Kirche verbindet, läuft Gefahr, alles mit dem Etikett „missionarisch“ zu versehen, ohne dass dies erkennbare Auswirkungen hätte. Die Frage, ob denn nun Kasualien und Religionsunterricht auf der einen Seite oder Kurse zum Glauben und Gottesdienste für Kirchendistanzierte auf der anderen Seite die „bessere“ „missionarische Gelegenheit“ seien, erübrigt sich, weil beide einen Bezug zum missionarischen Auftrag der Kirche haben. Sie erübrigt sich auf der anderen Seite nicht, weil die Frage, was der Sendung dient, nicht grundsätzlich, sondern immer nur im Konkreten und von der Situation her zu beantworten ist.

3.4 Mission, Evangelisation und Diakonie 3.4.1 Mission und Evangelisation Weshalb ist nach den Erläuterungen zur „missionarischen Gemeinde“ noch ein eigener Abschnitt zur Evangelisation nötig? Worin besteht der Unterschied zwischen Mission und Evangelisation? „Lange Zeit wurde unter Evangelisation die Evangeliumsverkündigung innerhalb der Christenheit verstanden. Was außerhalb der ‚christlichen Gesellschaft‘ stattfand, wurde in Europa nicht Evangelisation, sondern ‚Mission‘ genannt: Schaustellermission, Schiffermission, Mitternachtsmission usw. […] Demgegenüber wird 15 Vergleichbar damit unterscheidet Eberhard Hauschildt ein sektorales und ein dimensionales Verständnis von Mission (Hauschildt 2006, 144 Anm. 19); vgl. auch F. Huber 2006, 355: „Vielleicht wäre es sinnvoll, von der Mission im direkten Sinn eine missionarische Dimension in allem Handeln der Kirche zu unterscheiden“.

62

B. Missionarische Gemeinde

Mission an ihrem grenzüberschreitenden Charakter festgemacht: Sie geht über die Grenzen der ‚christlichen Gesellschaft‘ hinaus“16.

Diese Unterscheidung ist in der Gegenwart nicht mehr brauchbar. Sinnvoller ist die in der ökumenischen Diskussion gebräuchliche Unterscheidung von Mission und Evangelisation17: Mission bezeichnet demnach die liebevolle Zuwendung Gottes zur Welt. Die missio Dei zielt auf „Schalom“ im umfassenden Sinn: Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung und heilvolles Menschsein in allen seinen Dimensionen. Gelingendes Menschsein umfasst nach biblischem Verständnis auch die Dimension der Gottesbeziehung. Die Zuwendung Gottes zur Welt und zum Einzelnen zielt auf Resonanz, auf die Antwort des Glaubens. In der Sendung der Kirche steht „Mission“ für die Breite der missio Dei, der Zuwendung Gottes zur Welt. Evangelisation ist die Verkündigung des Evangeliums als Teilbereich der Mission und zugleich das Herzstück der Mission: Die auf die Resonanz des Glaubens zielende Kommunikation des Evangeliums, die auch Umkehr und Konversion einschließt. Mission und Evangelisation benötigen einander: Die Evangelisation bewahrt die Mission davor, profillos zu werden und sich zu verzetteln – und die Mission bewahrt die Evangelisation vor Verengungen. Die Isolierung der Verkündigungsaufgabe bzw. einer Reduktion auf die verbale Bezeugung des Evangeliums ist ebenso eine Engführung wie die Verselbständigung von Diakonie und sozialer Hilfe ohne Rückbindung an den Auftrag, „die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“ (Barmen VI)18.

3.4.2 Diakonische Gemeinde Zur „Sendung“ der Kirche und ihrer Hinwendung zu den Menschen gehört das verkündigte Wort ebenso wie die Tat der Liebe. Darin entspricht sie der liebenden Zuwendung Gottes zu dieser Welt, die alle Lebensbereiche und -dimensionen umfasst.

16 Zimmermann 2017b, 1863; vgl. Castro/Linn 1986 (dort werden auch andere Zuordnungen diskutiert). 17 Bosch 1987 versteht Mission „als umfassende Aufgabe […], die Gott der Kirche um der Erlösung der Welt willen gestellt hat […] Evangelisation kann dann andererseits als eine der verschiedenen Dimensionen der umfassenden Mission der Kirche gesehen werden, noch genauer als der Kern, das Herz und Zentrum der Mission“ (103). 18 Ausführlicher zur „evangelistischen Gemeinde“ s. u. B.2.

3. „Missionarisch Gemeinde sein“

63

Im Vordergrund des diakonischen Auftrags als Teil der missio Dei steht dabei die barmherzige, suchende, rettende Liebe: Die Zuwendung zum Nächsten soll transparent sein für die Liebe Christi. „Diakonie ist Kirche und damit weit mehr als ‚staatliche Sozialarbeit in kirchlicher Trägerschaft‘. Sie geht aus vom Gottesdienst der Gemeinde, ist gelebter Glaube, präsente Liebe, wirksame Hoffnung“19. Neben der missio Dei wird hier der Gottesdienst als weiterer Ursprungsort der Diakonie genannt: „Der Empfang der sakramentalen Gabe mündet in das Miteinander-Teilen und setzt eine Kette gegenseitigen Dienens in Gang“20. Im Herrenmahl wird die Gemeinde in der gemeinsamen Anteilhabe am sakramentalen Leib Christi als „Leib Christi“ konstituiert (1Kor 10,16f). In der Entfaltung des Bildes vom „Leib Christi“ in 1Kor 12 wird die Gemeinde dargestellt als Leib, der aus unterschiedlichen Gliedern besteht, die einander wechselseitig benötigen und einander dienen. Eben das ist Berufung der Gemeinde: als Gemeinschaft der Verschiedenen zu leben, die einander dienen. Diese beiden Aspekte, die missio Dei ebenso wie der Ursprung der Diakonie im Gottesdienst, verdeutlichen zugleich, dass der diakonische Auftrag nicht primär der Individualethik zuzuordnen ist, sondern zuerst und vor allem Auftrag der Gemeinde ist. Das gilt auch für einen dritten Begründungskreis, der auf Jesus als „Diakon“ rekurriert, der von sich sagt: „Ich aber bin unter euch wie ein Diakon (Diener)“ (Lk 22,27). Exemplarisch deutlich wird dieses Selbstverständnis Jesu an der Fußwaschung (Joh 13), die verbunden ist mit der Aufforderung zu entsprechendem Handeln: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe“ (Joh 13,15). Diakonische Gemeinde ist die Gemeinde Jesu in der Nachfolge dessen, der nicht gekommen ist, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben hinzugeben zur Erlösung der Vielen (Mk 10,45). Neben diesen Grundlegungen stehen Gefährdungen der Diakonie. Die erste besteht darin, die Sendung und damit die Adressaten aus dem Blick zu verlieren: Die Menschen, denen die Zuwendung Gottes gilt. Eine zweite Gefährdung besteht darin, den Bezug zum Auftrag und zum Auftraggeber zu verlieren. Diakonie wird dann zu einem rein innerweltlichen Geschehen. In Verbindung damit steht die dritte Gefährdung: Die Kirche versucht, sich durch ihre „guten Werke“ einen respektierten und anerkannten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen bzw. auf diese Weise ihre Relevanz unter Beweis zu stellen.

19 Eurich 2014, 261 (als Zitat von www.diakonie.de von 2014). 20 Ruddat/Schäfer 2005, 205.

64

B. Missionarische Gemeinde

Demgegenüber wird immer wieder der Rückbezug zum Auftrag erforderlich sein. Anders formuliert: Neben der Adressatenorientierung (Wo ist Not? Wer braucht unsere Hilfe am dringendsten?) und der Frage nach den eigenen Ressourcen (Welche Begabungen bringen die Mitarbeitenden mit? Welche Mittel stehen uns zur Verfügung21?) bedarf es der steten Auftragsorientierung (Was ist unser Auftrag in dieser Situation?), die der Setzung von Prioritäten und Posterioritäten nach sich zieht: „Die Kirche hat den Auftrag, Gottes Liebe zur Welt in Jesus Christus allen Menschen zu bezeugen. Diakonie ist eine Gestalt dieses Zeugnisses und nimmt sich besonders der Menschen in leiblicher Not, in seelischer Bedrängnis und in sozial ungerechten Verhältnissen an […] Sie richtet sich in ökumenischer Weite an einzelne Gruppen, an Nahe und Ferne, an Christen und Nichtchristen. Da die Entfremdung von Gott die tiefste Not des Menschen ist und sein Heil und Wohl untrennbar zusammengehören, vollzieht sich Diakonie in Wort und Tat als ganzheitlicher Dienst am Menschen“22.

3.4.3 Was macht eine „missionarische“ Gemeinde aus? Die Unterscheidung von Mission und Evangelisation und „diakonische Gemeinde“ als Teil der „Sendung“ und damit der „Mission“ wirft die Frage nach einer Verhältnisbestimmung auf, die zugleich eine Antwort auf die bei der Galerie missionarischer Gemeinden aufgekommene Frage darstellt, was denn das spezifisch „Missionarische“ ausmacht. 1. Man kann zunächst einwenden, dass Vieles von dem, was als Kennzeichen missionarischer Gemeinden dargestellt wurde, nicht spezifisch „missionarisch“ ist: Dazu zählen diakonisches Engagement, weltweite Vernetzung und doxologische Intentionen, die auch bei Gemeinden zu finden sind, die nicht für sich in Anspruch nehmen, „missionarisch“ zu sein. In der Tat ist diakonisches Engagement an sich kein hinreichendes Kennzeichen für eine „missionarische“ Gemeinde. Je weiter das Verständnis des „Missionarischen“ gefasst wird, umso mehr verschwimmen die Konturen23. Zugespitzt: Wenn alles „missionarisch“ ist, wird der Begriff überflüssig.

21 Auch die ökonomischen Zwänge und die Frage nach der Finanzierung und Finanzierbarkeit der Diakonie gehören dazu – und die Versuchung, die Arbeit auf die „profitablen“ Bereiche zu konzentrieren. 22 Satzung des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland (1975), zit. nach Maaser/Schäfer (Hg.) 2016, 525. 23 S. Hauschildt 2003.

3. „Missionarisch Gemeinde sein“

65

Würden aber alle diese Merkmale vom „Missionarischen“ getrennt, bliebe ein verengtes Verständnis einer „missionarischen Gemeinde“ zurück, die „Evangelisation“ wäre isoliert und nicht mehr eingebettet in weitere Dimensionen der „Mission“. Die oben vorgenommene Zuordnung von Mission und Evangelisation kann an einem „klassischen“ Beispiel verdeutlicht werden: Der Missionar, der nach Afrika reiste, war nicht nur Evangelist. Er baute nicht nur eine Kirche, sondern oft zuerst ein Krankenhaus und eine Schule. Dabei stehen Krankenhaus und Schule exemplarisch für die Dimensionen der Diakonie und Bildung. Zugrunde liegt dabei die oben vorgenommene Unterscheidung und Zuordnung von Mission und Evangelisation. Indem sie in den missionarischen Auftrag einbezogen werden, werden auch diejenigen Tätigkeiten und Ziele, die als solche nicht „missionarisch“ sind, Teil des missionarischen Auftrags und damit Kennzeichen einer „missionarischen“ Gemeinde. Diese Zuordnung bedeutet keine Instrumentalisierung der „Mission“ für die „Evangelisation“, sondern steht in einem komplexeren Verhältnis. Das soll im Folgenden am Beispiel der Zuordnung von Diakonie und Mission bzw. Evangelisation gezeigt werden. 2. Wenn Diakonie nur noch als Instrument und Vehikel für die Evangelisation gesehen wird, kommt es schnell dazu, dass jede Hilfeleistung unter dem Verdacht steht, dass es letztlich nicht um die Hilfe geht, sondern um anderes, verbunden mit der Frage: Was soll damit erreicht werden? Oder, frei nach Goethe: Man spürt die Absicht und ist verstimmt24. Das andere Extrem wäre eine Diakonie als Anbieter von Sozialleistungen, die sich in nichts von anderen Anbietern unterscheiden. Gibt es einen Mittelweg, der nicht profillos, sondern geistlich profiliert ist? Bei einer Studienfahrt nach England war es für mich eindrücklich zu sehen, wie Gemeinden eine „unconditioned love“ leben, eine zweckfreie Zuwendung zu den Menschen, die nicht zuerst nach dem Ertrag für die Gemeinde oder Auswirkungen auf den Gottesdienstbesuch fragt. Es waren Gemeinden, in denen Diakonie und Evangelisation Geschwister waren, die ihre eigene Würde und ihr eigenes Recht hatten. Die konkreten Formen können sehr unterschiedlich aussehen. Das kann bürgerschaftliches Engagement sein, Gemeinwesenarbeit, Sozialarbeit und Diakonie in allen Formen.

24 Wörtlich: „So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt“ (Goethe, Torquato Tasso, zweiter Akt, erster Auftritt, Tasso zur Prinzessin).

66

B. Missionarische Gemeinde

Dazu ein Beispiel, das gar nicht spektakulär ist: Die Gemeinde in Stanton Hill in der Nähe von Nottingham hatte einen Second-Hand-Laden aufgemacht mit dem Namen: „The Vine Tree Charity Shop“25. Ihre Absicht dabei war es aber nicht, die Gemeindefinanzen etwas aufzubessern, obwohl das ein legitimes Anliegen wäre. Ihr erstes Ziel lautet: „Serving people’s material needs“. Konkret ging es darum, Menschen, die knapp bei Kasse sind, günstig Kleider und andere Gegenstände anzubieten. Der Erlös ging nicht in die Gemeindekasse, sondern in soziale und diakonische Projekte der Kommune: „Supporting Community Projects“ lautete das zweite Ziel. Schließlich kommt noch ein Drittes: „Spiritual support in a safe place“. Auf diese Weise wird eine Brücke zur Evangelisation geschaffen, ohne dass damit eine Instrumentalisierung verbunden ist. Der Dienst an Menschen wurde nicht in erster Linie daran gemessen, ob er ertragreich genug für die Gemeinde sei, auf der anderen Seite war die Hilfe nicht in materielle und spirituelle Hilfe unterteilt, beides gehörte selbstverständlich zusammen. Die Herausforderung besteht darin, „in der Praxis das evangelisierende, zum Glauben einladende Wort mit der helfenden Tat zu verbinden, und zwar so, dass die helfende Tat nicht evangelistisch verzweckt wird, aber ebenso wenig stumm bleibt“26. 3. Die Unterscheidung und Zuordnung von Mission und Evangelisation ist das zentrale Kriterium für eine Hermeneutik des „Missionarischen“. „Mission“ kann unterschiedliche Formen und Schwerpunkte annehmen; Kriterien sind dabei der Bezug zum Auftrag sowie die Frage der Angemessenheit im Blick auf den Kontext und die Ressourcen der Gemeinde. Grundlegend hingegen ist die Frage, ob und wie die Dimension der Evangelisation vorkommt und wie ihre Verbindung zu weiteren Dimensionen bzw. einem breiter gefassten Verständnis von „Mission“ aussieht. Das bedeutet nicht automatisch, dass die Gemeinde, die ihren Schwerpunkt auf Evangelisation legt, die „bessere“ Gemeinde ist, es ist eher eine Frage an die anderen Gemeinden, wie sie „Evangelisation“ mit ihren unterschiedlich akzentuierten Schwerpunkten von „Mission“ verbinden. Problematisch wird es dort, wo „Evangelisation“ ganz ausfällt und damit die auf die Antwort des Glaubens zielende Kommunikation des Evangeliums als nachranging betrachtet wird. Eine „missionarische Gemeinde“ zeichnet sich in dieser Hinsicht dadurch aus, dass sie Evangelisation und Mission in einer Weise verbindet, die dem Auftrag der Gemeinde entspricht, der konkreten Situation der Gemeinde angemessen ist und so erfolgt, dass beide Aspekte einander ergänzen und unterstützen.

25 Besuch im November 2009. 26 Herbst/Laepple 2009, 6.

3. „Missionarisch Gemeinde sein“

67

3.5 Weitere Kennzeichen einer missionarischen Gemeinde Die Galerie „missionarischer Gemeinden“ stellte am Beginn dieses Kapitels die Bandbreite der „Sendung“ der christlichen Gemeinde vor Augen. Eine Näherbestimmung erfolgte durch die Gemeinde als evangelistische und diakonische Gemeinde. Zusammenfassend und ergänzend werden hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit weitere Kennzeichen einer missionarischen Gemeinde skizziert; auf die meisten davon wird an anderer Stelle ausführlicher eingegangen. 1. Missionarische Gemeinde als grenzüberschreitende Gemeinde a. Haus und Marktplatz: Das „Haus“ steht für die Gemeinde als Gemeinschaft, als Lebensraum und für den Glauben, als Ort, an dem der Glaube Wurzeln schlagen kann. Zugleich lässt sich Gemeinde nicht auf das Haus begrenzen. Das Haus braucht eine Ergänzung durch den „Marktplatz“, die Öffentlichkeit. Ihr Auftrag drängt die Gemeinde hinaus auf den „Marktplatz“. Es geht um die Aufgabe, als christliche Gemeinde im öffentlichen Leben wahrnehmbar präsent zu sein. Wie die Kirchengebäude oft weithin sichtbar sind und das Ortsbild prägen, so hat Gemeinde den Auftrag, in der Öffentlichkeit präsent zu sein und sich qualifiziert und sachkundig vom Evangelium her einzubringen. Zum „Marktplatz“ und damit zur Präsenz in der Öffentlichkeit gehören auch Schule, Rathaus und die Akteure der Zivilgesellschaft; ferner die Medien vom Gemeindebrief über die Presse bis zum Internet. Das umso mehr in einem Staat, der die Mitwirkung und Mitgestaltung des öffentlichen Lebens durch die Kirchen ausdrücklich vorsieht. b. Gemeinde in der Region: Gemeinde, die nicht bei sich selbst bleibt, sondern Grenzen überschreitet, steht vor der Herausforderung, auch den Horizont des eigenen Kirchturms zu überschreiten – nicht nur gezwungenermaßen im Rahmen von Kürzungsmaßnahmen. Wenn nicht die Bestandswahrung, sondern die Auftragsorientierung im Vordergrund steht, können Gemeinden sich als Teil einer Region sehen und einander ergänzen. Auf diese Weise können profilierte Ortsgemeinden Teil einer attraktiven Kirche in der Region werden und gemeinsam missionarische Verantwortung für einen größeren Bereich wahrnehmen27. c. Gemeinde in weltweiter Vernetzung: Eine „Volkskirche“ soll dazu beitragen, dass der christliche Glaube im Volk verwurzelt ist. Zugleich gehört zum christlichen Glauben, dass er nationale, kulturelle und geographische

27 S. u. 13.2.

68

B. Missionarische Gemeinde

Grenzen überschreitet. Missionarische Gemeinde wird sich daher als Teil der weltweiten Christenheit sehen: Auf der einen Seite durch eine weltweite ökumenische Verbundenheit und Vernetzung sowie dadurch, dass kultureller Vielfalt innerhalb der eigenen Kirche Raum gegeben wird. Auf der anderen Seite werden im Zusammenleben, Dialog und Zeugnis Grenzen überschritten hin zu denen, die ihr nicht angehören: Konfessionslose ebenso wie Angehörige anderer Religionen. 2. Missionarische Gemeinde und fresh expressions of church: Es geht hier um Menschen, die so weit vom Evangelium und vor allem von der bestehenden kirchlichen Kultur weg sind, dass es wenig sinnvoll scheint, sie darin beheimaten zu wollen. Sie sollen eine eigene, ihnen entsprechende Art und Weise finden, Gottesdienst zu feiern und Gemeinschaft zu leben. Daher sollen nicht „alte“ Modelle von Gemeinde einfach in andere Kontexte übertragen werden. Wo Gemeinde neue Wege zu den Menschen sucht und dabei das Evangelium auf Kulturen und Kontexte trifft, entstehen neue Formen christlicher Gemeinde, fresh expressions of church. 3. Missionarische Gemeinde als doxologische Gemeinde: Ausgangspunkt der Mission ist Gott als der sendende Gott, die Missio Dei, Gott in seiner liebenden Zuwendung zur Welt. Gott ist auch Zielpunkt der Mission. Mission mündet ein in die Doxologie, in das Soli Deo Gloria. Das ist der Fall, wo die Zusage des Evangeliums in der Antwort des Glaubens einen Widerhall findet und einmündet in das gemeinsame Lob Gottes. Überhaupt ist bemerkenswert, dass dort, wo der Missionsauftrag Resonanz findet, im Neuen Testament häufig Verben des Staunens, der Freude und des Lobes damit verbunden werden. Die Klage über den Zustand der Kirche hat ihr Recht. Sie braucht aber das Gegengewicht durch den Blick auf Gottes Reichtum. Mission setzt an beim Reichtum Gottes, den dieser nicht für sich behalten, sondern mit uns teilen will. Sie mündet ein in den Lobpreis dessen, der alles in allem sein wird. Mission hat in doxologischer Absicht den Auftrag, in einer vorläufigen und fragmentarischen Weise zum universalen Gotteslob am Ende aller Zeiten beizutragen.

4. Evangelistisch Gemeinde sein

69

4. Evangelistisch Gemeinde sein In der Verhältnisbestimmung von „Mission“ und „Evangelisation“ wurde „Evangelisation“ als unentbehrlicher Teil der Mission dargestellt; dies soll hier weiter vertieft werden. „Evangelisation“ ist mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen und vielen Vorbehalten verbunden. Es gibt in der Praxis Zerrformen ebenso wie unbegründete Vorurteile, Menschen berichten von positiven wie negativen Erfahrungen. Angesichts dieser insgesamt schwierigen Ausgangslage geht es hier darum, in Theologie und in der Praxis Formen (wieder) zu gewinnen, die dem Auftrag der christlichen Gemeinde entsprechen.

4.1 Biblische Grundlagen und Impulse28 Der Auftrag der Evangelisation gewinnt Konturen und inhaltliche Tiefe durch die Orientierung an den dahinter stehenden biblischen Begriffen. εὐαγγέλιον bedeutet biblisch nicht nur „frohe Botschaft, gute Nachricht“, sondern beinhaltet die Ansage und das Kommen der Gottesherrschaft. Gott wird seine Herrschaft als König antreten! (Jes 52,7ff; Ps 47; 93–99). Im Neuen Testament wird das inhaltlich in der Verkündigung Jesu aufgegriffen (exemplarisch: Das Summarium der Verkündigung Jesu in Mk 1,14f) und gefüllt durch die Person und das Werk Jesu Christi: Es geht um das „Evangelium von Jesus Christus“. „Evangelium“ hat einen dynamischen Charakter: es handelt sich nicht nur um ein „Reden über“, sondern um die wirkmächtige Proklamation der Gottesherrschaft. Das damit verbundene Verb εὐαγγελίζεσθαι durchläuft biblisch mehrere Stadien und bedeutet: 1. im Alten Testament die Ansage des Heilshandelns Gottes an Ende der Zeit; 2. in der Verkündigung Jesu das mit seinem Wirken anbrechende heilvolle Kommen der Herrschaft Gottes; 3. nachösterlich: die Verkündigung dessen, was Gott durch Jesus Christus getan hat; das Christusgeschehen wird als Heilsbotschaft verkündet29. Vor den praktisch-theologischen Überlegungen schließt dieser Teil mit weiteren Unterscheidungen: „Evangelisation“ wird oft mit einer bestimmten Veranstaltungsform verbunden (paradigmatisch die „Zeltevangelisation“), ist aber weiter zu verstehen als die grundlegende Aufgabe glaubenweckender

28 Zu den folgenden Ausführungen s. Zimmermann 2017b. 29 Mit Klaiber 1990, 28–29.

70

B. Missionarische Gemeinde

Verkündigung. Im Englischen wird das begrifflich unterschieden: evangelism bezeichnet die grundlegende Aufgabe der Evangelisation, evangelisation hingegen die Veranstaltungsform. Vergleichbar damit die die Unterscheidung von kontingenter und permanenter Evangelisation: kontingente Evangelisation meint die Veranstaltung mit Event-Charakter, permanente Evangelisation die kontinuierliche Aufgabe der Gemeinde. In der römisch-katholischen Kirche ist auch der Begriff der Evangelisierung gebräuchlich.

4.2 Evangelisation und Glaubenswege Mit der Aufgabe der Evangelisation verbunden ist grundlegend die Aufgabe einer Kommunikation des Evangeliums, die das Einverständnis des Glaubens nicht voraussetzt, sondern allererst anstrebt. Diese Aufgabe ist jedoch nicht begrenzt auf diejenigen, die in Evangelisationsveranstaltungen „evangelisieren“. Vielmehr ist „Evangelisation“ Auftrag der ganzen Gemeinde (s. u. 4.3). Zuvor erfolgt ein Blick auf diejenigen, die von der Evangelisation „profitieren“, also die Adressaten der Evangelisation. Dieser Blick ist mit einem Perspektivenwechsel verbunden. Mit einem Bild: Es geht nicht nur um die Aufgabe des „Sämanns“30 und um die Frage, wie dieser seinen Auftrag ausführt und welche Kompetenzen er dafür benötigt. Der Perspektivenwechsel besteht im Blick auf die Saat und die Frage, was ein Samenkorn benötigt, damit es keimen, wachsen und reifen und zuletzt Frucht bringen kann. Nicht mehr im Bild: Was fördert die Entstehung und das Wachstum von Glauben in einem Menschen? Evangelisation kann in dieser Hinsicht gesehen werden als Summe der Prozesse, die dazu beitragen, dass ein Mensch ein Jünger Jesu wird31. Damit wächst Evangelisation über die Aufgabe der Verkündigung hinaus und verbindet sich mit der Aufgabe der Wegbegleitung bzw. „Wachstumsbegleitung“. Dabei gilt es Abschied zu nehmen von traditionellen Vorstellungen. „Evangelisation“ wurde häufig einer „subita conversio“, einer plötzlichen Lebenswende verbunden. Als Modell dafür diente die Lebenswende des Paulus, dem „Damaskuserlebnis“, wie es in der Apostelgeschichte berichtet wird (Apg 9 u. ö.). So sehr es immer wieder Berichte gibt, die dem „Modell Damaskus“ nahe ste-

30 Es ist der Perspektivwechsel von der „Hand, die aussät“, zur aufgehenden Saat s. „Zeit zur Aussaat“ 2000, 11 ff. 15 ff. 31 Der englische Bischof Stephen Cotrell mündlich.

4. Evangelistisch Gemeinde sein

71

hen, so wenig bilden derartige Erfahrungen den Normalfall. In den derzeitigen landes- wie freikirchlichen Kontexten überwiegt eine andere Erfahrung: Wo Menschen zum Glauben kommen, ist dafür Zeit nötig; meist steht es am Ende eines längeren Weges. Evangelisation ist in diesem Fall nicht ein einzelnes Ereignis, sondern ein Prozess. Das biblische Vorbild ist hier „Emmaus“ (Lk 24,11–36): Emmaus steht für einen längeren Weg, verbunden mit Gespräch und Dialog, mit Enttäuschung und Zweifeln, mit Fragen und Verstehenshilfen, mit geduldiger und liebevoller Begleitung, mit Wegbegleitern, die warten können, bis Jesus selbst sich zu erkennen gibt. Ein Weg, auf dem der Auferstandene selbst unerkannt dabei ist. Einer der neueren Glaubenskurse aus England trägt dementsprechend programmatisch die Bezeichnung „Emmaus“. Der englische Bischof John Finney formuliert das veränderte Verständnis von Evangelisation so: „Bekehrung wurde nicht mehr als die plötzliche Entscheidung eines Einzelnen angesehen, der vom Unglauben zum Glauben übertrag, sondern als eine Pilgerreise, auf der jeder Mitreisende auf seiner eigenen Route den Weg zum Glauben fand“32. Der Hintergrund für das Verständnis der Konversion als Prozess bzw. als Weg33 ist auch darin zu sehen, dass die Evangelisation in der westlichen Welt lange Zeit anknüpfen konnte an vorhandene Kenntnisse und an einen weitreichenden Konsens über christliche Werte und Vorstellungen. Hier hat sich die Situation grundlegend geändert34. Lange Zeit konnte Evangelisation auf einem „christlichen Grundwasserspiegel“ aufbauen und sah ihren Auftrag vor allem darin, Menschen zur Zustimmung und individuellen Aneignung der bereits bekannten Botschaft zu führen. Gegenwärtig steht Evangelisation zunehmend vor der Herausforderung, auch die Grundlagen dafür zu legen und grundlegende Kenntnisse zu vermitteln. Es ist gewissermaßen die Aufgabe einer „Alphabetisierung“ in Glaubensfragen. Evangelisation erfordert Wegbegleitung; dabei übernimmt sie Aufgaben der Bildung, wie es exemplarisch bei den sog. „Kursen zum Glauben“ gesehen werden kann35. Für eine verantwortliche Wegbegleitung ist es nötig, über die individuelle Vielfalt hinaus zu fragen, wie ein Weg zum Glauben in elementaren Schritten aussehen kann. Ein möglicher Anknüpfungspunkt sind die „fünf Stufen auf

32 Finney 2007, 92. 33 Moynagh 2016 sieht hier eine dritte Verschiebung: „Nachdem das Verständnis von Konversion als einem spezifischen Moment sich gewandelt hat zum Verständnis der Konversion als Prozess, ist mittlerweile eine dritte Verschiebung zu beobachten – zur Konversion als Weg“ (373). Er ergänzt: „Mehr als in der Vergangenheit wird so das Individuelle jedes Weges betont“ (ebd.). 34 S. dazu Bartholomä/Paas 2017. 35 S. u. Kap. 6 zum Thema „Kurse zum Glauben“.

72

B. Missionarische Gemeinde

dem Glaubensweg“, die auf das Apostolische Schreiben „Evangelii nuntiandi“ von Papst Paul VI. (1975) zurückgehen und auch im Schreiben „Zeit zur Aussaat“ der römisch-katholischen deutschen Bischöfe 2000 nochmals ausgeführt werden. Die fünf Schritte haben die in dieser Reihenfolge durchaus ein gewisses Gefälle, bedeuten aber keine schematische oder festgelegte Abfolge, sondern sind als Zusammenstellung wichtiger Aspekte zu betrachten. 1. Zeugnis des Lebens 2. Zeugnis des Wortes 3. Zustimmung des Herzens („Die Botschaft des Evangeliums will gehört, aufgenommen und angeeignet werden, sie sucht die Zustimmung der Herzen der Menschen zur Wahrheit des Glaubens.“) 4. Eintritt in eine Gemeinschaft von Gläubigen 5. Beteiligung am Apostolat – selbst in die Sendung eintreten36. Hier ist gut zu sehen: Der Weg zum Glauben steht im Zentrum, aber es braucht eine Hinführung: Das Zeugnis des Lebens, das Menschen aufmerksam macht und Interesse weckt in der Begegnung mit Christenmenschen, die ihren Glauben glaubwürdig leben, in der Erfahrung selbstloser Hilfe und anderem. Dann erst kommt das „Zeugnis des Wortes“. Dieses wiederum zielt auf Resonanz, auf die „Zustimmung des Herzens“. Damit Glaube keine Eintagsfliege bleibt, sondern dauerhaft wird, braucht er die Einbettung in die Gemeinde. Das Ziel schließlich ist, dass der Kreis sich schließt, indem Menschen sich wiederum senden lassen. Dabei ist erkennbar: „Evangelisation“ ist kein isoliertes Thema, sondern eng mit Fragen der Mission und der Gemeindeentwicklung, aber auch mit Diakonie und Bildung verwoben.

4.3 Evangelisation und Gemeinde 1. Evangelisation erschöpft sich nicht in der Bekehrung Einzelner. Wo Menschen zum Glauben finden, wird Gottes Volk gesammelt und seine Gemeinde „erbaut“. Wo diese beiden Grund-Dimensionen der Evangelisation („der Einzelne – die Gemeinde“) Realität werden, tritt eine dritte Dimension hinzu: Gottes Herrschaft wird gegenwärtig erfahrbar37. 36 „Zeit zur Aussaat“ 2000, 15–33 (hier: 23). 37 Vgl. zur Unterscheidung dieser Dimensionen mit klarer Priorisierung der letzteren Abraham 1989, 13: „Over against those who construe evangelism as the proclamation of the gospel and against those who construe it as church growth, the thesis presented and argued here is that we should construe evangelism as primary initiation into the kingdom of God“.

4. Evangelistisch Gemeinde sein

73

Evangelisation als Teil der Sendung der Kirche, der Mission, benötigt die Einbettung in den Gemeindeaufbau. Beide, Mission/Evangelisation und Gemeindeaufbau wiederum gehören in den umfassenderen Rahmen der βασιλεία τοῦ θεοῦ, die Dimension der Gemeinde transzendiert und relativiert: Gemeinde ist kein „Selbstzweck“, sondern eingeordnet in die „Missio Dei“ und steht somit im Horizont des kommenden „Reiches Gottes“ und der damit verbundenen Bitte „Dein Reich komme!“38 2. Dass Evangelisation grundlegend nicht Aufgabe Einzelner, sondern der Gemeinde ist, wurde bereits betont. Je länger Glaubenswege dauern, umso mehr wird es Herausforderung an die Gemeinde, Evangelisation nicht nur als Event zu gestalten, sondern als Weg, auf dem Menschen in ihrer individuellen Glaubensgeschichte selbst Erfahrungen sammeln können und dabei begleitet werden. Das setzt voraus, dass die Gemeinden als Räume für Glaubenswege unterschiedlicher Art bereitstehen, als Räume, in denen Menschen in ihrem Suchen und Finden, mit ihren Fragen und Zweifeln ernst genommen und unterstützt werden. Wo diese Aufgabe ernst genommen wird, erledigt sich auch die Vorstellung von Evangelisation als einer kommunikativen Einbahnstraße39, weil Wegbegleitung nur in wechselseitiger Kommunikation möglich ist. Verändert werden dabei nicht nur diejenigen, die auf einem Weg hin zum Glauben sind, verändert wird auch die Gemeinde, wenn sie sich auf andere Menschen, auf ihre Fragen und Lebenswelten einlässt. Der Zusammenhang von Evangelisation und Gemeinde ist somit ein mehrfacher: „Die Gemeinde ist Trägerin der Evangelisation und damit auch der Raum, in dem Glaubenswege ermöglicht und gefördert werden. Sie ist auch Ziel der Evangelisation, insofern die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Glaubenden Folge eines Anfangs im Glauben ist. Die Herausforderung besteht daher in einer engen Verbindung von Evangelisation und Gemeindeaufbau“40. Franz Xaver Kaufmann benennt in diesem Sinn die soziologische Grundlagen einer „evangelistischen“ Gemeinde: „Wenn es zutrifft, dass Wertorientierungen nur über die Identifikation mit Gruppen oder Personen erworben werden können, so gibt es aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht eigentlich nur zwei Wege, um zu einem in theologischer Hinsicht qualifizierten Glauben zu gelangen: entweder die länger dauernde Einbindung in religiös motivierte Gruppen oder die Identifikation mit Personen, die als Vorbilder erfahren werden“41. 38 39 40 41

S. u. Teil C. Vgl. Moynagh 2016, 366. Zimmermann 2017b, 1865. Kaufmann 1989, 226.

74

B. Missionarische Gemeinde

3. „Evangelistisch Gemeinde sein“ stellt dabei keinen isolierbaren Auftrag dar, sondern ist im Kontext einer „missionarischen“ Gemeinde zu sehen. Im Folgenden werden einige Kennzeichen genannt, bei denen z. T. beides ineinander übergeht: • Zu einer Gemeinde gehört „Gemeinschaft“, eine Verbundenheit untereinander. Zu einer evangelistischen Gemeinde gehört ebenso die „Wendung nach außen“. Das beginnt bei vorhandenen Kontakten und Beziehungsnetzen. Es geht weiter in der bewussten Öffnung und Gestaltung von Beziehungen über die Gemeinde hinaus. Oft ist es die Herausforderung, die eigene Nische zu verlassen. • Die Öffnung und der Aufbau von Beziehungen ist auf der einen Seite Teil der Sendung der Gemeinde und der Vorbereitung der evangelistischen Aufgabe. Zugleich geht es um einen selbstlosen Dienst für andere, der nicht zuerst nach dem „Ertrag“ für die eigene Gemeinde fragt, sondern nach den Menschen und ihren Bedürfnissen in allen Dimensionen ihres Menschseins. Das führt zum diakonischen Aspekt evangelistischer Gemeinde. • Unentbehrlich für eine evangelistische Gemeinde ist eine gastfreundliche Gemeinde-„Kultur“, die offen ist für andere. Es sind Fragen wie die folgenden: Sind die Umgangsformen und Veranstaltungen gastfreundlich? Oft herrscht eine Diskrepanz zwischen guten Absichten und tatsächlicher Wirkung. Gesagt wird: „Wir sind offen für andere“ – unausgesprochen klingt mit: „Wenn sie so werden wie wir es sind“. John Finney redet von Glastüren, die unsichtbar sind, aber wirkungsvoll in der Ausgrenzung42. Hilfreich ist die Frage: Wie geht es Menschen, die zum ersten Mal dabei sind? Gäste wollen nicht vereinnahmt, aber auch nicht übersehen werden. • Evangelistische Aktionen erreichen nur selten Menschen über die Gemeinde hinaus, wenn vorher keine Beziehungen zu ihnen vorhanden waren. Dabei stellen Veranstaltungen und Beziehungen keine Alternative dar, es geht um eine „Koalition“ von beziehungsstarken Menschen und zum Glauben einladenden Veranstaltungen und Aktionen43. Je weiter Menschen weg sind von Glaube und Gemeinde, desto wichtiger sind Kontakte von Einzelnen. • Isolierte Aktionen stehen in der Gefahr, dass ihre Wirkungen schnell verpuffen. Sinnvoller ist es, die einzelnen Aktionen und Projekte als Teil des Gemeindeaufbaus zu sehen und in der Evangelisation eine Nachhaltigkeit anzustreben. Das gilt auch und gerade für Evangelisationsveranstaltungen. Es ist wichtig, sich hier rechtzeitig Gedanken über „flankierende Maßnahmen“, über das zum „Davor“ und „Danach“ zu machen. Evangelisation braucht die Einbettung in den Gemeindeaufbau.

42 Finney 2007, 151 ff. 43 S. Zimmermann/Schröder (Hg.) 2011, 121–122.

4. Evangelistisch Gemeinde sein

75

• Deshalb gehört zu einer evangelistischen Gemeinde die „missionarische Ökumene“, die Zusammenarbeit mit anderen Kirchen, Gemeinden und Gemeinschaften in der Absicht, gemeinsam missionarische Verantwortung für eine Stadt oder eine Region zu übernehmen und einander dabei zu ergänzen, zu unterstützen und zu begleiten. • Nicht nur Strukturen und Aktionen sind gefragt. „Evangelistisch Gemeinde sein“ ist auch eine Frage der Haltung – und wie sie von anderen wahrgenommen wird. Bei denen, die einer evangelistischen Gemeinde begegnen, soll ankommen: „Es geht um mich, ich werde nicht für fremde Interessen vereinnahmt“. Die Motivation für den evangelistischen Auftrag ist nicht der sorgenvolle Blick auf die Zukunft der eigenen Gemeinde, sondern der Auftrag Jesu: „Die Liebe Christi drängt uns“ (2Kor 5,20). Es geht um eine selbstlose Liebe, die nicht nach dem eigenen Interesse, sondern nach dem anderen fragt. Weiter geht es um eine Gelassenheit, die bei aller Dringlichkeit des Auftrags der Evangelisation auf den rechten Zeitpunkt warten kann – und um das Vertrauen auf Gott und seine Zusage. 4. Wo eine Gemeinde Menschen auf dem Weg zum Glauben begleitet, steht sie vor der Herausforderung, ihnen eine dauerhafte Perspektive in der Gemeinde zu vermitteln. Die Einführung in den Glauben bedarf der Weiterführung. Wie aber kann diese aussehen? Erstaunlich ist, dass im Auftrag in Mt 28 die Missionspredigt nicht erwähnt wird. Daraus kann man nicht folgern, dass dieses Element entfallen soll. Dagegen spricht schon, dass die Taufe im Neuen Testament durchweg in enger Verbindung mit der Umkehrpredigt steht (z. B. Act 2,38). Vielmehr werden andere Aspekte hervorgehoben: „The emphasis in the commission thus falls not on the initial proclamation of the gospel but more on the arduous task of nurturing into the experience of discipleship“44. Der Akzent liegt also nicht auf der anfänglichen Verkündigung, sondern auf dem, was folgt, wenn Menschen umkehren und die Taufe empfangen, auf der Einweisung in die Nachfolge und Jüngerschaft45 und damit auf der Gemeinde als „Lerngemeinschaft“. Für Christian Hennecke sind Kurse zum Glauben als Einführung in den Glauben nötig – aber eben als „Vorgeschmack“: „Was es darüber hinaus aber geben muss, das sind Räume, in denen dieser ‚vorgeschmeckte‘ Glaube und die darin sich abzeichnende Lebensform länger in all seinen Dimensionen ein44 Hagner 1995, 887. 45 Das Themenfeld „Jüngerschaft – Nachfolge“ erfährt in der jüngeren Vergangenheit wieder zunehmende Aufmerksamkeit. Exemplarisch dafür steht die Weltmissionskonferenz 2018 in Arusha 2018, die unter dem Thema stand „Moving in the Spirit – Called to Transforming Discipleship“ (Moving in the Spirit, oikumene.org); s. außerdem Herbst/Stahl 2018.

76

B. Missionarische Gemeinde

geübt, gelernt, erfahren werden kann, so dass Prozesse des begleiteten Wachstums möglich sind: ein ‚Seminarium‘ des Glaubens“46. In diesem Sinne geht es bei der „Evangelisation“ zwar um eine „Lerngemeinschaft“, die aber nicht zum „Schulabschluss“ führt, sondern als Einweisung in eine Lebensform auf eine lebenslange Praxis in der Gemeinde zielt. Die Einführung in den Glauben und in die Gemeinde zielt auf Beheimatung, auf Wachstum im Glauben, Entfaltung der Begabungen, auf Sprachfähigkeit – und eine eigene Teilnahme an der „Sendung“.

5. Inkulturation und fresh expressions of church47 „Grenzüberschreitung“ ist ein Kennzeichen einer missionarischen Gemeinde. „Grenzüberschreitung“ bedeutet: Eine Gemeinde kreist nicht nur um sich selbst, ihr Auftrag führt sie über die Grenzen der eigenen Gemeinschaft hinaus. Das schließt das Überschreiten kultureller Grenzen ein. In dieser Hinsicht wird hier das Thema der „missionarischen Gemeinde“ weitergeführt: Es geht um die Frage, wie das Evangelium in neue Lebens- und Erlebenswelten, konkret: in neue „Kulturen“ eingeht. Es geht um „Inkulturation“ – und in der Folge davon um die Frage, wie Gemeinde im „neuen Land“ Gestalt annimmt – bis hin zu neuen, bisher nicht dagewesenen Ausdrucksformen christlicher Gemeinde, zu fresh expressions of church. Die damit verbundenen Herausforderungen sind nicht nur technischer Art („wie kann das gemacht werden?“), sondern immer auch hermeneutischer Art: Wie kann das Evangelium in diesem Prozess seine Relevanz erweisen und zugleich seine Identität bewahren? Die damit verbundenen Fragestellungen sind komplex und in der Forschung ausdifferenziert. Das folgende Kapitel versucht, eine Einführung und einen Überblick für die gegenwärtigen Herausforderungen für die Gemeindeentwicklung zu geben. Beispiele des Misslingens verdeutlichen die Bedeutung der Thematik, etwa dort, wo in der Praxis der Mission – oft unbedacht – ein Export eigener Kirchenkulturen und -strukturen damit verbunden war. Die Missionswissenschaften und die Liturgik haben daraus die Frage nach der Inkulturation bzw. Kon-

46 Hennecke 2010, 134. 47 Dieser Teil geht zurück auf verschiedene Vorträge vor Pfarrkonventen und Theologiestudierenden.

5. Inkulturation und fresh expressions of church

77

textualisierung entwickelt48. Gewissermaßen die Vorstufe dazu ist die Zielgruppenorientierung.

5.1 Inkulturation, Konterkulturation und die Frage nach der Einheit 5.1.1 Zielgruppenorientierung Seit langem gibt es Gottesdienste und Gemeinden für spezielle Zielgruppen: Für Studierende, für Soldaten, für Bewohner von Altersheimen, Krankenhäusern und Gefängnissen, für Deutsche in Dubai und für Aussiedler in Deutschland. Als in den 1990er Jahren eine neue „Welle“ von „alternativen“ Gottesdiensten aufkam, wurde häufig eine neue Form der Zielgruppenorientierung verwendet, die von der Milieuforschung ausging. Verdeutlicht werden kann das an den unterschiedlichen Musikprofilen der Programme eines Radiosenders. Der Südwest-Rundfunk hat vier Programme. SWR 2 ist der „Klassik-Sender“, SWR 3 spielt Rock- und Popmusik für die jüngere, SWR 1 für die mittlere Generation. SWR 4 schließlich zielt mit Volksmusik eher auf die ältere Generation. Verbunden sind die unterschiedlichen Musikstile mit unterschiedlichen Lebensgefühlen und Lebensstilen. Mittlerweile stellen die Sender eigene „Welten“ dar und verzichten darauf, für den jeweils anderen Sender des eigenen Hauses zu werben. Protagonisten „alternativer“ Gottesdienste übertrugen diese Erfahrungen auf das Angebot und die Gestaltung von Gottesdiensten. Sie gingen dabei aus von der Beobachtung, dass das bestehende traditionelle Gottesdienstangebot zwar den Anspruch hat, für alle da zu sein, aber faktisch nur einen Ausschnitt der Gesellschaft erreicht. „Empirisch gesehen finden die meisten evangelischen Gottesdienste als Zielgruppen-Gottesdienste statt, auch wenn dies oft […] nicht bewusst ist“. Die „liturgische Form führt dazu, dass ältere Erwachsene aus der Kleinbürger- bis Mittelschicht zum Gros der Gottesdienstgemeinde gehören“49. Die zunehmende Pluralisierung der Gesellschaft macht es schwer, wenn nicht sogar unmöglich, eine Gottesdienstform zu finden, die allen entspricht: „In einer pluralistischen Gesellschaft, in der Menschen verschieden gebildet sind und dementsprechend unterschiedliche Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen pflegen, droht für das gottesdienstliche Angebot die Gefahr, einzelne Grup-

48 Zur Frage der Inkulturation s. Wrogemann 2016; Grethlein 2018. 49 Grethlein 1998, 14. Ähnlich ist die Argumentation bei Knoblauch 1996, 10–12.

78

B. Missionarische Gemeinde

pen besonders zu bevorzugen. Es erscheint gegenwärtig […] (fast) unmöglich, eine alle Menschen in unserem Land gleichermaßen ansprechende, d. h. (mit Luther) ‚zum Glauben reizende‘ Veranstaltungsform zu finden“ (Christian Grethlein)50.

Die Frage der Zielgruppenorientierung und ihrer Grenzen führt weiter zum Thema der Inkulturation.

5.1.2 Inkulturation 1. „Wegen seiner missionarischen Dimension kann kirchliches Leben nicht darauf verzichten, sich zu ‚inkulturieren‘, d. h. sich im Rahmen jeweiliger kultureller, sozialer und frömmigkeitsgeschichtlicher Gegebenheiten zu konkretisieren […] Inkulturation in einer differenzierter werdenden Gesellschaft erfordert aber eine Vielfalt von Sozialgestalten kirchlichen Lebens, einschließlich einer Vielfalt von Gemeindeformen und Formen gottesdienstlichen Lebens“51 – so ist in einem kirchlichen Papier aus dem Jahr 2000 zu lesen. 2. „Inkulturation“, in der evangelischen Theologie auch Kontextualisierung genannt, kommt aus der Missionswissenschaft. Ausgangspunkt der Inkulturation ist letztlich die Inkarnation: „in unser armes Fleisch und Blut / verkleidet sich das ewig Gut“52. Gott wird Mensch, weil er uns Menschen nahe kommen will. Von daher ergibt sich die Aufgabe: den Menschen, die Gott liebt, nahe zu kommen und ihnen in ihrer Lebenswelt zu begegnen. In der Mission in Übersee ist die Aufgabe der Inkulturation einleuchtend: Wenn ich in einem fremden Land andern Menschen mit einer mir fremden Kultur das Evangelium zugänglich machen möchte, dann muss ich zunächst ihre Kultur und Sprache kennenlernen: die Art und Weise, wie sie miteinander umgehen, ihr Leben gestalten, auch, wie sie miteinander feiern und vieles andere mehr. Das erfordert enorme Anstrengungen, die Jahre dauern können. Aber nur so können andere das Evangelium verstehen und merken: Es ist nicht nur eine Sache für Mitteleuropäer, es gilt auch uns. „Inkulturation“ heißt: sich um eine kulturellen Gestalt und Formen der Kommunikation des Evangeliums mühen, die dem Leben und Erleben der Menschen entspricht. Das Evangelium soll verständlich sein und zugleich als Herausforderung erkannt werden53. Die Frage nach dem Gegenüber ist auch im Missionsland Deutschland unverzichtbar. Auch hier gilt: Jedem soll das Evangelium in seiner Kultur 50 51 52 53

Grethlein 1998, 14. Grundsätze zur Bildung von Gemeinschaftsgemeinden 2000, 135. Martin Luther, EG 23,2. Wie komplex und anspruchsvoll das Thema der Inkulturation sein kann, zeigt Wrogemann 2016.

5. Inkulturation und fresh expressions of church

79

zugänglich sein. Mit „Kultur“ meine ich hier Lebensgewohnheiten und Lebensweisen im weitesten Sinne. In dieser Hinsicht besteht ein kultureller Graben zwischen Konfirmanden und zwischen der älteren Generation, die vielerorts den Großteil der Gottesdienstbesucher ausmacht. Es wäre schade, wenn ein Konfirmand das Evangelium nur in der ihm meist fremden kulturellen Gestalt eines traditionellen Gottesdienstes kennenlernen würde! Die traditionelle Kirchlichkeit ist nicht die Urform des Evangeliums. Wir müssen zwischen dem Evangelium und seiner kulturellen Form unterscheiden. Es gibt das Evangelium nicht „pur“, sondern immer nur in kulturell geprägten Formen. Viele regelmäßige Gottesdienstbesucher schätzen die traditionelle kulturelle Form der Gottesdienste: Die Lieder des Gesangbuchs, Orgelmusik, eine feste Liturgie, die vom regelmäßigen Nachvollzug lebt, tiefgründende Predigten. Aber anderen ist diese kulturelle Einbindung des Evangeliums fremd oder unbekannt. Das gilt schon von den sog. Distanzierten, noch mehr für Menschen in konfessionslosen und atheistischen Milieus, ebenso bei Migranten. Von ihnen zu verlangen, sich zuerst zu einer bestimmten kulturellen Form zu „bekehren“, damit ihnen das Evangelium verständlich und einleuchtend wird, wäre absurd. Von Konfirmanden kann nicht erwartet werden, dass sie zuerst Orgelmusik, Bachkantaten und traditionelle Gottesdienste schätzen müssen, um einen Zugang zum Evangelium zu bekommen. Man stelle sich vor, ein Missionar unterrichtet einem indigenen Volk die Sprache Luthers, damit Menschen in Papua-Neuguinea die Lutherbibel lesen können und das Evangelium verstehen! Hier kommt die Aufgabe der Inkulturation zum Zug: Wie kann das Evangelium in einer kulturellen Form, in einem kulturellen Umfeld zum Ausdruck kommen, der den Menschen, mit denen ich lebe, vertraut ist? Eine Verweigerung der Inkulturation wäre lieblos, denn das würde bedeuten, Hürden zu errichten, die Menschen erst überwinden müssen, um Zugang zum Evangelium zu bekommen. Das ist auch der Grundgedanke vieler „Gottesdienste für Kirchendistanzierte“. Es ist die Frage: Wie können wir das Evangelium Kirchendistanzierten in einer Form nahe bringen, die ihnen vertraut ist und die sie verstehen? Es geht darum, Gottesdienste so gestalten, dass die Bedeutung des Evangeliums in ihrer Situation verständlich und erkennbar wird, dass der Gottesdienst ihnen „etwas sagt“.

5.1.3 „Konter-Kulturation“ Das könnte freilich missverstanden werden. Soll Kirche alles machen und anbieten, Hauptsache, es kommt an? Die Inkulturation ist nur die eine Seite. Daneben tritt die Aufgabe der Konter-Kulturation: Das Evangelium soll ein-

80

B. Missionarische Gemeinde

gehen in die Lebenswelten unserer Zeit und in diesen als etwas anderes, davon Unterschiedenes zum Leuchten kommen. Aufgabe der christlichen Gemeinde ist es nicht nur, nahe an den Menschen dran zu sein, sondern auch ein klar erkennbares Profil zu haben. Während die Inkulturation dafür steht, dass das Evangelium in eine Kultur eingeht, steht die Konter-Kulturation für die bleibende Unterschiedenheit und Differenz zu dieser Kultur. Es geht also nicht um Anbiederung. Es geht nicht nur darum, das Evangelium in einer andere kulturelle Form eingeht, sondern immer auch darum, dass es in dieser Kultur als Herausforderung, als Ruf zur Umkehr wahrgenommen wird. Das Ziel ist es, dass die jeweilige Kultur vom Evangelium her neu gestaltet und verändert wird. Eine offene Frage dabei ist, ob Musik Teil der Inkulturation oder der Konter-Kulturation ist. Es gibt beides: Der Versuch, musikalisch auf die Vorlieben und Rezeptionsgewohnheiten der Zuhörer einzugehen und den Gottesdienst musikalisch in ihre Lebenswelt zu „inkulturieren“ – und genauso das Kontrastprogramm, bei dem die Musik gerade nicht „alltäglich“ ist und dazu dient, den Kontrast bzw. die Schwelle zwischen Gottesdienst und Alltag zu markieren. Wichtig ist in beiden Fällen, dass die Musik „anspricht“ – als etwas Vertrautes oder als Kontrast dazu. Als Teil des Alltag oder bewusst als etwas „AußerAlltägliches“. Diese Erfahrung kann auch bei traditionellen Formen des Gottesdienstes eintreten: Gerade das Fremd- und Andersartige kann anziehend wirken, insbesondere bei Menschen, die derartige Formen nicht im Lauf ihrer Kindheit und Jugendzeit erlebt haben und daher auch nicht mit negativen Erinnerungen verbinden.

5.1.4 Exkurs: Milieubezug als Beispiel für Inkulturation In den zurückliegenden Jahren gab es mehrfach Ansätze, unterschiedliche Milieutheorien und -modelle mit der kirchlichen Praxis in Verbindung zu setzen. Hier kann exemplarisch die Bedeutung der Inkulturation und KonterKulturation verdeutlicht werden54. Ein bewusst gestalteter Milieubezug stellt eine Form gelungener Inkultu­ ration dar und ist für die kirchliche Arbeit eine große Chance. „Aktive Beteiligung und die Bildung von Gemeinschaft kann die Kirche nur durch ihren eigenen Milieubezug ermöglichen und von daher soziale Handlungskraft ­gewinnen.

54 Im Folgenden greife ich Gedanken von Wegner 2000 und Ahrens/Wegner 2013 auf.

5. Inkulturation und fresh expressions of church

81

Im Milieubezug kirchlichen Lebens besteht folglich der Lebensbezug von Kirche überhaupt […] Inkarnation erfolgt ins Milieu“. Der notwendige Milieubezug hat jedoch eine Kehrseite: „Durch ihren Milieubezug fördert die Kirche […] nicht nur die Bildung von Gemeinschaft, sondern damit auch die Schaffung von Grenzen“55. Anders formuliert: Milieubezug heißt immer auch Ausgrenzung anderer. Menschen anderer Milieus werden durch eine bestimmte Milieuprägung ausgeschlossen. Damit stehen wir vor einem Dilemma: Der Milieubezug ist notwendig, weil nur so Beheimatung stattfinden kann, aber der Milieubezug wirkt faktisch stets ab- und ausgrenzend. Diese Ausgrenzung ist in der Regel nicht beabsichtigt, aber sie findet faktisch statt. Sobald eine bestimmte Prägung in der Gemeinde oder einer Veranstaltung da ist – solche Prägungen sind unverzichtbar! – fühlen sich die einen angezogen, die anderen abgestoßen. „Will die Kirche jedoch Menschen für christlichen Glauben gewinnen, so wird es sie zum einen interessieren, ob ihr gegenwärtiges gemeindliches Leben dafür wirklich offen ist, und zum anderen, ob und wie sich christliches Lebensgefühl in verschiedenen Milieus artikuliert. Die Frage nach der Milieubezogenheit von Kirche ist theologisch nichts anderes als die nach ihrer Missionsfähigkeit. Mission aber heißt nicht, anderen meinen Habitus zu vermitteln, sondern zu helfen, dass Christus im anderen Leben Gestalt gewinnt“56 – also auch in der Art und Weise, wie christliche Gemeinschaft gelebt wird. Dabei ist die „Begegnung mit dem lebendigen Christus“ für die Milieus „Krise und Neuschöpfung zugleich“57. In der Begegnung mit Christus zeigt sich, dass sie Milieus in ihrer Vorfindlichkeit vor Christus keinen Bestand haben. Sünde wird entlarvt, unter dem „Feuer lebendiger Verkündigung“ kann es zu einem „Einschmelzungsprozess“ kommen, zu einer „kreativen Zerstörung“58. „Kreative Zerstörung“ deshalb, weil die Zerstörung kein Selbstzweck ist, sondern auf Neuschöpfung zielt, auf die Neuschaffung von Identitäten. Das hat eine „authentische Transformation“ der Milieus zur Folge und führt zu neuen Gestalten des Glaubens, „die Kirche wächst in bisher unbekanntes Land hinein“59. Mit anderen Worten: Fresh expressions of church entstehen.

55 56 57 58 59

Wegner 2000, 68. Wegner 2000, 69 f. Ahrens/Wegner 2013, 132. Ahrens/Wegner 2013, 135 (auch im Orig. in Anführungszeichen, z. T. fett). Ahrens/Wegner 2013 (in Anlehnung an H.R. Niebuhr).

82

B. Missionarische Gemeinde

5.1.5 Die Frage nach der Einheit Inkulturation führt zur Vielfalt und Vervielfältigung. Damit stellt sich unausweichlich die Frage nach der Einheit und Zusammengehörigkeit der vielfältigen Formen christlichen Lebens und christlicher Gemeinde. Beim Ausgangsbeispiel der Zielgruppenorientierung liegt eine Grenze dort, wo die „milieubedingte Zersplitterung der Gesellschaft“60 sich in der christlichen Gemeinde bis in den Gottesdienst hinein fortpflanzt oder gar dupliziert und dadurch verfestigt wird. Wo Inkulturation nur zu kirchlichen Duplikaten gesellschaftlicher Milieus mit allen Abgrenzungen führt, läuft etwas schief. Zur christlichen Gemeinde gehört immer auch, dass solche zueinander finden, die in der Gesellschaft oftmals beziehungslos nebeneinander her leben: Ältere und Jüngere, Einheimische und Migranten, Akademiker und Menschen ohne Schulabschluss. So sinnvoll zielgruppenspezifische Arbeit an vielen Stellen ist, sie hat an auch Grenzen: Das Gotteslob verträgt keine Begrenzungen, auch die Feier des Herrenmahls nicht. Anders formuliert: Zur Konter-Kulturation gehört auch die Einheit der Gemeinde in Jesus Christus, die alle kulturellen, sozialen, nationalen und biologischen Unterschiede relativiert und nivelliert: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Damit lassen sich Chancen und Grenzen der Zielgruppenorientierung im Rückgriff auf den Apostel Paulus präzise benennen: Zielgruppenorientierung steht in der Spannung zwischen 1Kor 14,19ff (die Verständlichkeit für „Unkundige und Ungläubige“) und 1Kor 9,20–22 („den Juden bin ich wie ein Jude geworden, […] Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette“) auf der einen und Gal 3,26–28 („hier ist nicht Jude noch Grieche […] denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“) auf der anderen Seite. Beides ist nötig: die Orientierung an den Zielgruppen – weil nur so Menschen in ihrer Situation erreicht werden – und das Überschreiten gesellschaftlicher Grenzen innerhalb der Gemeinde. Darin wird wieder die Dialektik von Inkulturation und Konter-Kulturation erkennbar. Das muss nicht bedeuten, dass beides von einer bestimmten Gemeindeoder Gottesdienstform geleistet werden muss, wichtig ist vielmehr, dass beide Aspekte in einer Gemeinde im Blick sind und angestrebt werden. Wie und wo, das kann je nach Situation variieren. Konkret: Es kann zu viel sein, alles auf einmal zu verlangen. Eine Gemeinde kann von denen, die auf dem Weg sind, in einer Jugendkirche in den Glauben

60 Janz 1999, 70.

5. Inkulturation und fresh expressions of church

83

hineinzuwachsen, nicht verlangen, zugleich ein Herz für Ausdruckformen des Glaubens bei älteren Menschen zu entwickeln. Aber es bleibt eine notwendige Zielangabe, dass Jugendliche nach und nach entdecken, dass sie nicht die einzigen Christen sind, sondern es auch andere Arten und Weisen gibt, den Glauben zu leben. So können generationsspezifische durch generationsübergreifende Formen von Gemeinschaft ergänzt werden. Gerade bei einer Vielzahl von Gemeinden gewinnt die Verbindung zur größeren kirchlichen Gemeinschaft an Bedeutung. Grundlegend ist die Fürbitte. Sie führt weiter zur gemeindlichen Gastfreundschaft. Noch weitergehend könnten die unterschiedlichen Gemeinden einer Stadt oder Region regelmäßig zu einem gemeinsamen Festgottesdienst in kultureller Vielfalt und mit gemeinsamer Feier des Herrenmahles zusammenkommen. So kann weitergedacht werden: An einem Ort gibt es einen klassischen Kirchenchor, am anderen einen Gospelchor. Eine Gemeinde bietet regelmäßig Kurse zum Glauben an, eine andere hat einen Schwerpunkt in Seniorenarbeit. In der einen Gemeinde gibt es Lobpreisgottesdienst, in der nächsten werden Taizé-Lieder gesungen, in der dritten wird die Evangelische Messe gefeiert, in der vierten ein klassischer Predigtgottesdienst und in der fünften der Gottesdienst der Landeskirchlichen Gemeinschaft, in der sechsten allsonntäglich ein Jugendgottesdienst, in der siebten ein moderner Gottesdienst im Willow-CreekStil. Sicher, ein wenig Konkurrenz lässt sich nicht vermeiden. Aber es ist ein Wettstreit im Guten. Gemeinden freuen sich auch über Erfolge der anderen. Mehr Menschen werden erreicht, als wenn sieben Mal derselbe Gottesdienststil angeboten wird. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt: Ein Gottesdienst mit Volksmusik – ein russischsprachiger Gottesdienst für Aussiedler – ein postmoderner Gottesdienst nach Art der „Emerging Church“, ein – je nach Region – schwäbischer oder plattdeutscher Mundartgottesdienst. Michael Herbst betont in diesem Zusammenhang: „Die Einheit in versöhnter Verschiedenheit ist […] nicht der Ausgangspunkt der liturgischen Bemühungen, so sehr sie als Zielpunkt festgehalten werden muss“. D. h., die Ziele der missionarischen Offenheit und der Einheit wären nicht gleichzeitig, sondern nacheinander anzustreben: zuerst die Offenheit, dann die gottesdienstliche Einheit. Dazu ist Geduld nötig; über gemeinsame Elemente im Gottesdienst und „liturgische Gastfreundschaft“ sieht Herbst die „Vollversammlung der Gemeinde in der gottesdienstlichen Mahlfeier“ als „Zielpunkt des Gemeindeaufbaus“61.

61 Herbst 2000, 173.

84

B. Missionarische Gemeinde

Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass Menschen von ihrer Prägung so weit weg sind, dass sie nie den Weg in traditionelle Gottesdienste finden werden. Wenn solche Menschen zum Glauben kommen, sind „neue“ Gemeinden und Gottesdienste nötig, die ihrer Prägung und Lebensweise entsprechen oder zumindest daran anschlussfähig sind. Das wiederum hat Folgen für die Gemeinde. Wie aber sieht eine Kirche, eine Gemeinde aus, die sich ganz auf diesen Auftrag hin ausrichtet, die von ihrer „Mission“ her „geformt“ und so zur mission-shaped church wird, die dazu beiträgt, dass fresh expressions of church entstehen können? Dazu blicken wir nach England.

5.2 Mission-shaped Church und fresh expressions of church – Impulse aus der Anglikanischen Kirche 5.2.1 Gemeindepflanzung62 Bereits in den 1990er Jahren schauten deutsche Kirchenleute fasziniert über den Kanal. „Church planting“ wurde als neues Thema entdeckt. Es gab Geschichten von Gemeinden, die entdeckten: Von den Menschen jenseits der großen Durchgangsstraße oder jenseits der Eisenbahnlinie kommt fast niemand in den Gottesdienst, obwohl das Gebiet innerhalb der Parochie bzw. Ortsgemeinde liegt. Wie können diese Menschen erreicht werden? Ein Team wurde gebildet – ein Leitfaden lieferte dazu detaillierte Anweisungen –, ein Gebäude innerhalb des Pflanzungsgebiets gesucht, etwa eine Schule oder ein Kindergarten, die Gegend wurde genau erkundet, und so die Feier des ersten eigenen Gottesdienstes und damit die Geburt einer neuen Gemeinde vorbereitet. Eine Stufe weiter gingen Pflanzungen über Parochiegrenzen hinweg. Ein aus 30–50 Personen bestehendes Team wird „verpflanzt“ und stellt die Kernzelle einer neuen Gemeinde am neuen Ort dar. Ein solches Vorgehen empfahl sich in einigen Vorstädten (suburbs) mit Gemeinden, die am Aussterben sind oder zumindest ihre aus dem 19. Jh. stammenden Kirchengebäude im viktorianischen Stil nicht mehr halten konnten. Das war freilich nur der Auftakt. Rückblickend wird kritisch gefragt, ob church planting bedeute, dasselbe an anderer Stelle zu wiederholen. „Mehr

62 S. dazu Herbst (Hg.) 2006, 80 f. 141 ff.

5. Inkulturation und fresh expressions of church

85

Gemeinden der gleichen Art werden nicht unbedingt mehr Menschen anziehen, die von den bereits existierenden Gemeinden nichts halten“63. Das bedeutet nicht, dass das Modell „Gemeindepflanzung“ ad acta gelegt würde. Aber 2004 erschienene Report „Mission-Shaped Church“  64 geht wichtige Schritte weiter und führt zu den sog. fresh expressions of church.

5.2.2 Fresh expressions of church65 Der Ansatz bei der Inkulturation ersetzt die Frage „Wie können wir die Menschen zu uns holen?“ durch die Frage „Wie können wir bei den Menschen sein?“ Es bedeutet den Verzicht, die Menschen so machen zu wollen, wie wir es sind. „Die Aufgabe besteht darin, Kirche für sie, bei ihnen und mit ihnen zu sein und sie unter der Leitung des Heiligen Geistes dahin zu führen, Kirche in ihrem eigenen kulturellen Kontext zu werden“66. Damit verbunden ist ein höchst aufregender Prozess. Er ist zu vergleichen mit dem auch im Neuen Testament verwendeten Bild vom Samenkorn, das in die Erde fällt. Damit etwas Neues wachsen kann, muss es sterben. Dieser Prozess wird verglichen mit der Selbst-Entäußerung des Gottessohnes. „Die Kirche ist sich selbst am meisten treu, wenn sie in der jeweiligen Kultur ihre Gestalt aufgibt, um dann eine neue Gestalt inmitten der Menschen anzunehmen, die noch nichts vom Sohn Gottes wissen. In jedem neuen Kontext muss die Kirche sterben, um zu leben“67. Es geht also nicht darum, bestimmte Formen und Gestalten von Kirche zu klonen. Vielmehr ist wächst durch das Eintauchen des Evangeliums in die neue Kultur auch eine neue Gestalt von Kirche, eine fresh expression of church. Dabei ist die Gestalt von Kirche nicht beliebig, sondern erwächst aus einer spannenden und immer neu zu vollziehenden Begegnung des Evangeliums mit Menschen in einer bestimmten Kultur, in einer bestimmten Lebenswelt und Gesellschaft. Der Ausdruck fresh expressions of church ist kaum übersetzbar: „frische Gestalten von Kirche“. Die Begriffe kommen aus der declaration of assent (anglikanische Ordinationsverpflichtung): Dort geht es um das Bekenntnis des Glauben, um the „faith the Church is called upon to proclaim afresh to each generation“  68.

63 Herbst (Hg.) 2006, 210. 64 Mission-Shaped Church 2004; die deutsche Ausgabe: Herbst (Hg.) 2006 „Mission bringt Gemeinde in Form“. 65 Die Literatur dazu ist mittlerweile kaum noch überschaubar. Grundlegend: Moynagh 2016. 66 Herbst (Hg.) 2006, 93. 67 Herbst (Hg.) 2006, 168. 68 Mission-shaped Church, 100. – s. Herbst (Hg.) 2006, 83. 186 f.

86

B. Missionarische Gemeinde

Wenn das Evangelium jeder Generation neu zu verkünden ist, dann ist auch damit zu rechnen, dass die creaturae verbi, die Geschöpfe und Früchte des Evangeliums, in jeder Generation und jedem Kontext wieder anders aussehen. Der Heilige Geist bringt nicht nur Leben in bestehende Strukturen, er schafft auch ständig neue Strukturen und Formen – solche, die den Auftrag in der jeweiligen Zeit und Situation dienen und angemessen sind. Er verändert die Kultur von innen her69. „Eine Gemeindepflanzung soll darum […] nicht ‚dasselbe an anderer Stelle‘ wiederholen. Vielmehr wird etwas Neues entstehen. Wie Gemeinde an diesem neuen Ort aussehen wird, ist nicht vorhersehbar. Es ist ein geistliches Geschehen. Es ist nicht die Kopie eines Erfolgsmodells an anderer Stelle ohne Rücksicht auf den Kontext, also die Geschichte, die Gaben und Grenzen von Menschen, den sozialen Hintergrund, die kulturelle Ausprägung, die finanziellen Möglichkeiten“70.

Konkret bedeutet es zunächst die Umstellung von Komm- zu Gehstrukturen: „Das Evangelium soll bei den Menschen beheimatet werden und nicht nur bei uns und so wie wir es mögen“71. – „Versucht nicht, sie dorthin zurückzubringen, wo sie herkommen, und versucht auch nicht, sie dorthin zu holen, wo ihr seid, so schön ihr es auch bei euch finden mögt. Ihr müsst den Mut haben, euch mit ihnen gemeinsam zu einem Ort aufzumachen, den weder ihr noch sie jemals gesehen haben“ (Vincent Donavan)72. Das bedeutete eine Kehrtwende gegenüber dem bisher verbreiteten Konzept einer „attraktionalen“ Kirche, die versucht, Menschen aus ihrem kulturellen Umfeld herauszuziehen und in bestehende Gemeinden „einzupflanzen“. Im schlechteren Fall führt das dazu, dass sie kulturell entwurzelt und in einer christlichen Subkultur beheimatet werden. Hier gilt es, im Sinne einer Inkultu­ ration die Richtung umzukehren. Diejenigen, die sich als Missionare in eine Kultur hineinbegeben und ganz auf die Menschen dort einlassen, geben damit alle Bilder auf von dem, wie Kirche aussehen könnte, wie Gottesdienst gefeiert werden könnte usw. Sie leben mit den Menschen und teilen mit ihnen das Leben und das Evangelium. Das erfordert ein Hören auf die Kultur ebenso wie auf das Evangelium73. Damit ver-

69 70 71 72 73

S. Herbst (Hg.) 2006, 172. Herbst 2006b, 59. Herbst (Hg.) 2006, 95. Herbst (Hg.) 2006, 174. S. Herbst (Hg.) 2006, 193. – Vgl.: „Die Gestalt der Gemeinde entsteht erst dann, wenn die Saat des Evangeliums in der jeweiligen Kultur aufgegangen ist“ (193f).

5. Inkulturation und fresh expressions of church

87

bunden ist das Vertrauen, dass das Evangelium die andere Kultur von innen her erneuert74. Das kann so weit gehen, dass das Ziel aufgegeben wird, die Menschen irgendwann in die vorhandene Kirche und in den Gemeindegottesdienst zu bringen. In ihrem Umfeld, in ihrer Kultur soll eine Gemeinde neuer Art entstehen, eben eine fresh expression of church. Im Blick sind dabei vor allem Menschen, die so weit vom Evangelium und vor allem von der traditionellen kirchlichen Kultur weg sind, dass es wenig sinnvoll scheint, sie darin beheimaten zu wollen. Sie sollen eine eigene, ihnen entsprechende Art und Weise finden, Gottesdienst zu feiern und Gemeinschaft zu leben. Eine Arbeitsdefinition greift das auf: „Eine fresh expression ist eine neue Form von Gemeinde für unsere sich verändernde Kultur, die primär für Menschen gegründet wird, die noch keinen Bezug zu Kirche und Gemeinde haben. Sie entsteht dort, wo Menschen auf Gott hören, sich der Lebenswelt anderer zuwenden, ihnen liebevoll dienen, das Evangelium verkörpern und andere in die Nachfolge Jesu führen. Sie hat das Potenzial, eine vitale Form von Gemeinde zu werden. Dabei wird sie geformt durch das Evangelium und die grundlegenden Merkmale von Kirche. Gleichzeitig ist sie relevant für ihren kulturellen Kontext“75. Mission-shaped Church beschreibt eine ganze Reihe von fresh expressions of church: Schulgemeinden, Jugendkirchen, Midweek-Congregations, CaféChurches usw76.

5.2.3 „Serving first“ oder „worship first“? Beim Ziel, eine fresh expression of church zu gründen, können zwei unterschiedliche Wege und methodische Ansätze unterschieden werden: „Worship first“ führt das Modell der Gemeindepflanzung weiter und bedeutet, dass der Start einer neuen Gemeinde mit der Feier des ersten Gottesdienstes gleichgesetzt wird. Vom Gottesdienst aus geht es dann weiter mit Angeboten wie Kurse zum Glauben, die Inhalte des christlichen Glaubens auf kreative Art und Weise vermitteln. Dieses Vorgehen kann hilfreich sein bei Menschen, die auf der Suche nach Kontakt sind, etwa Neuzugezogenen. Für Menschen aus kirchenfernen Milieus ist sie weniger erfolgversprechend. Hier kann der andere Ansatz des „serving first“ greifen: Die Reise beginnt hier mit einem „doppelten Hören“: „Das Hören auf die Bedürfnisse der Men74 S. Herbst (Hg.) 2006, 172: „Inkulturation soll dem Evangelium Raum geben, die Kultur von innen her zu verändern“. 75 Weimer 2015, 428. 76 S. ausführlich dazu Herbst (Hg.) 2006, Kap. 4.

88

B. Missionarische Gemeinde

schen und auf die Spuren Gottes in dem spezifischen Kontext sind zentrale Bestandteile einer geistlichen Suchbewegung“77. „Daraus ergeben sich oftmals Möglichkeiten, den Menschen in ihrer Lebenswelt zu begegnen und ihnen zu dienen […] Auf diesem Weg entwickeln sich persönliche Beziehungen, und eine neue Form von Gemeinschaft entsteht“78. Menschen werden auf dem Weg zum Glauben begleitet, Evangelisation und Diakonie bzw. praktische Hilfe gehen Hand in Hand. Schritt für Schritt geht es dann weiter mit dem Einüben von Nachfolge, sukzessive kann eine neue Ausdrucksform von Gemeinde wachsen und sichtbar werden. Dieses Vorgehen ist insbesondere bei Menschen angemessen, die keinen Kontakt zur Gemeinde haben oder ihn bewusst abgebrochen haben. Daran wird etwas Grundsätzliches erkennbar: Je weiter Menschen vom Glauben entfernt sind, umso länger können Wege hin zum Glauben sein. Sie beginnen dann nicht mit expliziter Verkündigung, sondern mit dem „Zeugnis des Lebens“, mit der Bereitschaft, anderen zu dienen. Die erfahrene bedingungslose Zuwendung („unconditioned love“) soll transparent werden für die Liebe Gottes.

5.2.4 „Mixed economy“ Oftmals hat das „Neue“ den Anspruch, das „Alte“ zu ersetzen. Diese Frage stellt sich auch bei fresh expressions of church. Wie verhalten sie sich zu bestehenden Formen von Kirche und Gemeinde? Sie treten nicht mit dem Anspruch auf, die herkömmlichen Formen zu ersetzen, aber wollen diese dort ergänzen, wo deren Grenzen zutage treten. An dieser Stelle kommt die sog. „mixed economy“ („Mischwirtschaft“) ins Spiel. „Wir müssen und der Realität stellen, dass heute viele missionarische Ansätze nötig sind. Wir werden eine ‚Mischwirtschaft‘ aus Ortskirchengemeinden und ‚Netzwerkgemeinden‘ brauchen, die innerhalb eines größeren Gebietes, also vielleicht eines Dekanates [bzw. Kirchenkreises], partnerschaftlich mit anderen zusammenarbeiten“79. Eine mixed economy beginnt bei der Diversifizierung des gottesdienstlichen Angebotes innerhalb einer parochialen Gemeinde und reicht bis zu fresh expressions of church im engeren Sinn. Wichtig ist der Gedanke der mixed econ77 Weimer 2015, 431. 78 Weimer 2015, 435. 79 Herbst (Hg.) 2006, 30. – „We need to recognize that a variety of integrated missionary approa�ches is required. A mixed economy of parish churches and network churches will be necessary, in an active partnership across a wider area, perhaps a deanery“ (Mission-Shaped Church 2004, xi).

5. Inkulturation und fresh expressions of church

89

omy auch in der Hinsicht, dass fresh expressions bzw. Gemeindegründungen sich nicht als Strategie für alle Fälle und Situationen eignen: Auch bereits bestehende Gemeinden, oft Ortskirchengemeinden, bleiben unentbehrlich für den gemeinsamen Auftrag.

5.2.5 Zwischen missionarischer Öffnung und Rückzug in die Nische Der Gedanke der fresh expressions of church hat mittlerweile eine lebhafte Rezeption in Mitteleuropa ausgelöst, die von der theologischen Reflexion über Ausbildungsformate bis zur Gründung eines Netzwerks reicht, das unterschiedliche Kirchen, Verbände und Werke miteinander verbindet. In der Rezeption trifft das missionarische Anliegen der fresh expressions of church auf eine bereits mehrere Jahrzehnte dauernde Diskussion und Entwicklung. War die Gemeindeaufbaudiskussion der 1980er Jahre fast ausschließlich bezogen auf die Erneuerung der Gemeinden in ihrer parochialen Gestalt, so wird seit den 1990er Jahren verstärkt die Strukturfrage gestellt. Die Anknüpfung an die Modelle aus England, insbesondere an die fresh expressions of church, kann dabei als Quelle der Inspiration verwendet werden, aber auch zur Rechtfertigung der eigenen Konzeption. Konkret wird das beispielsweise dort, wo landeskirchliche Gemeinschaften sich zur eigenen Gemeinde mit Gottesdienst am Sonntag Vormittag weiterentwickeln. Auslöser kann das missionarische Anliegen sein, aber auch menschliche Konflikte und inhaltliche Auseinandersetzungen mit landeskirchlichen Ortsgemeinden können am Beginn des Wegs in die Eigenständigkeit stehen. Wie verhält sich das zu den fresh expressions? Michael Herbst schreibt dazu: „Alle diese Bewegungen hatten sich die Erneuerung vorhandener Gemeinden auf die Fahnen geschrieben. Und sie merkten mit der Zeit, dass es zuweilen in den vorhandenen Strukturen schwierig war, missionarische Gemeinde zu bauen. Die Gründe sind vielfältig: der Reibungsverlust durch Konflikte mit einer gewissen, damals noch stärker verbreiteten Missionsallergie gehört ebenso hierher wie der Wunsch, das eigene Profil einmal pur und unvermischt ausgestalten zu können. Ich kann nicht erkennen, dass es überwiegend missionarische Motivationen war[en]. Der Überdruss gegenüber einem bestimmten Pluralismuskonzept war vielleicht doch das stärkere Motiv. Pluralismus auf Deutsch hieß: In jeder Gemeinde muss möglichst Unterschiedliches Raum finden. Pietisten fanden wohl nicht zu Unrecht, dass diese Liberalität häufig endete, wenn es zu fromm zu werden drohte. Und man war des ewigen Ausgleichens satt. Man suchte auch die Nische für das Eigene. Und so setzen auch diese Bewegungen seit einiger Zeit (nicht nur, aber) auch auf neue Strukturen, d. h. aber in der Regel: auf eigene gemeindliche Strukturen.“ Das ist verbunden mit der Frage: „Gibt es eine gewisse Folgerichtigkeit: von einer

90

B. Missionarische Gemeinde

Strategie der Erneuerung vorhandener Gemeinden zu einer Strategie der Begründung neuer Gemeinden?“80

Mit anderen Worten: Führt der Weg derjenigen, die angetreten sind, vorhandene Formen zu erneuern, zwangsläufig hin zu neuen Strukturen und Gestalten von Gemeinde? Wie kann man das verhindern? Soll man das überhaupt verhindern? Neue Gemeindeformen werden nicht nur in England mit der Notwendigkeit missionarischer Öffnung begründet. Oft drängt sich jedoch die Frage auf, ob es sich de facto nicht vor allem um einen Rückzug in die Nische handelt. Das schließt nicht aus, dass sich in der Praxis beides miteinander verbinden kann. Man kann weiter fragen, ob der Versuch, dem landeskirchlichen Pluralismus zu entfliehen, nicht in vielen Fällen dazu führt, diesen faktisch um eine neue Variante zu bereichern81. Andererseits entspricht die damit verbundene Vielfalt der postmodernen Vielfalt von Lebensstilen und Lebensweisen; auf diese Weise werden Menschen erreicht, die durch die Maschen der herkömmlichen Gemeindearbeit fallen.

6. „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“. Kurse zum Glauben vor neuen Herausforderungen82 Kurse zum Glauben sind ein relativ junges kirchliches Handlungsfeld – und ebenso ein relativ junger Gegenstand theologischer Reflexion. Mittlerweile liegen allerdings so viele Erfahrungen vor, dass es sich lohnt, eine Zwischenbilanz zu ziehen. In einem ersten Teil werde ich einen Überblick über die bisherige Geschichte und die theologische Forschung geben (6.1), um mich dann unter dem Motto „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“ den neuen Herausforderungen für Kurse zum Glauben zuzuwenden (6.2), schließlich werde ich mögliche Schritte auf diesem Weg aufzeigen (6.3).

80 Herbst 2006b, 44. 81 Vgl. Hempelmann 1996, z. B. 37 ff. 92 ff. 82 Antrittsvorlesung als apl. Prof. am 27.10.2014 in Greifswald (überarbeitet und aktualisiert).

6. „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“.

91

6.1 Rückblick: Der bisherige Weg der Kurse zum Glauben Bei der bisherigen Entwicklung der Kurse zum Glauben unterscheide ich drei Phasen; dabei kommen jeweils vier Ebenen von Akteuren in den Blick: Die Ebene der Gemeinden, die Ebene der Kirchenleitungen, die theologische Forschung und Reflexion und schließlich die übergemeindlichen Akteure. Zu den letzteren zählen Autoren, Multiplikatoren und Netzwerke. In den unterschiedlichen Phasen sind die einzelnen Ebenen und Akteure in unterschiedlicher Weise beteiligt, es ist aufschlussreich, auf die Änderungen zu achten.

6.1.1 Die erste Phase bis etwa 2005 Einen genauen Beginn der neuen Generation von „Kursen zum Glauben“ – lange Zeit „Glaubenskurse“ genannt – festzulegen, überlasse ich zukünftigen Historiographen. In den ersten Jahren stehen auf der einen Seite mehr und weniger prominente Verfasser von Kursen, auf der anderen Seite diejenigen, die diese Modelle aufgriffen und in den Gemeinden umsetzten. Genannt werden können die von Helmut Thielicke um 1960 im Hamburger „Michel“ angebotenen „Glaubensseminare“. Auf katholischer Seite veröffentlichte Heribert Mühlen 1976 die „Einübung in die christliche Grunderfahrung“. Seit 1977 bot Wolfram Kopfermann ebenfalls in Hamburg einen „Grundkurs des christlichen Glaubens“ an, dessen überarbeitete Fassung 1990 unter dem Titel „Farbwechsel“ veröffentlicht wurde. 1986 begann Burghard Krause mit seinem Kurs „Christ werden – Christ bleiben“, der 1990 veröffentlicht wurde. Dazu kommt die Rezeption von Kursen aus England, zunächst des Alpha-, später auch des Emmaus-Kurses. Die prominenten Namen ändern nichts daran, dass die Kurse vor allem eine Basisbewegung in den Gemeinden waren. Ohne entsprechende Rezeption wären sie Gelehrtenkonstrukte geblieben. Weitere Namen könnten genannt werden: Es gibt Wurzeln in der Erwachsenenbildung, im Gemeindekolleg der VELKD (damals) in Celle und anderswo. Auch die Kurse zur Taufvorbereitung im Osten, vor allem in Sachsen gehören dazu. Freilich – so die hier vertretene Überzeugung – wäre es ohne den missionarischen Impuls nicht zum EKD-Projekt „Erwachsen glauben“ und zum derzeitigen Boom an Kursen zum Glauben gekommen. Auf der Ebene der Kirchenleitungen passiert in dieser Zeit wenig, auf überörtlicher Ebene entstehen Netzwerke, die AMD und einzelne Ämter für missionarische Dienste und Gemeindedienste widmen sich der Information und Multiplikation.

92

B. Missionarische Gemeinde

In der Theologie setzt die Reflexion und Forschung im Grunde genommen erst am Beginn des neuen Jahrtausends ein. Das Erscheinen der Monographien von Götz Häuser83 und Jens Martin Sautter84 2005 können zugleich als Abschluss ersten Phase betrachtet werden. Häuser stellt Glaubenskurse als „zeitgemäße Form der Glaubenslehre für Erwachsene“ (Untertitel) dar und zeigt Verbindungen zu früheren Formen bis hin zum Erwachsenenkatechumenat der Alten Kirche auf85. Diese Parallele zieht auch Sautter, er legt dabei den Akzent mit seinem Untertitel auf die „Einführung in die Gestalt christlichen Glaubens“. Er wählt dabei einen stärker hermeneutischen Zugang und fragt, was denn in Glaubenskursen gelernt werden könne. Da „Glaube als vertrauensvolle Hingabe an Gott selbst kein Lernziel sein“ könne, schlägt er vor, die „Lernziele […] auf der Ebene der Spiritualität […], nicht aber auf der Ebene des Glaubens“ anzugeben86: „Menschen sollen den christlichen Glauben als ein mögliches Lebens- und Deutungsmodell kennenlernen du in einer ganzheitlichen Auseinandersetzung damit zu einer eigenen Antwort kommen“87. „Zeitgemäße Form der Glaubenslehre für Erwachsene“ bei Häuser, „Einführung in die Gestalt christlichen Glaubens“ bei Sautter und – einige Jahre später – „Sich im Glauben bilden. Der Beitrag von Glaubenskursen zur religiösen Bildung und Sprachfähigkeit Erwachsener“ bei Beate Hofmann. Die Titelformulierungen setzen klar konturierte und unterschiedliche Akzente im Verständnis der Kurse und umreißen das bisherige Feld der Interpretationsansätze. Die von Sautter gestellte Frage nach der Lernbarkeit des christlichen Glaubens begegnet mehrfach. Friedrich Schweitzer nennt das Thema „Die NichtLehrbarkeit des Glaubens und die Notwendigkeit des Lernens“88. „Lernen ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den Glauben“89. Glaube selbst ist kein Lernziel, aber zum Glauben gehört ein Lernen, das somit gewissermaßen zu den „äußeren Entstehungsbedingungen des Glaubens“ zählt90. In einem 2008 veröffentlichten Band aus der Schweiz mit dem Titel „Kann man Glauben lernen?“ wird der Beitrag der Kurse darin gesehen, „Möglichkeitsräume und Anreizsysteme“ für den Glauben bereitzustellen91. 83 Häuser 2010 (1. Aufl. 2004). 84 Sautter 2008 (1. Aufl. 2005). 85 Häuser 2010, 215 ff. 86 Sautter 2008, 41. 87 Ebd. 88 Schweitzer 2006, 26. 89 Schweitzer 2006, 32. 90 Schweitzer 2006, 32 (Schweitzer zitiert dabei Härle 2000, 70). 91 Plüss (Hg.) 2008, 14.

6. „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“.

93

Ein Charakteristikum der Kurse sieht Sautter in der „Inszenierung einer Antwort“92. Damit will er den missionarischen Akzent betonen und zugleich den Anschluss an andere Diskurse schaffen. In England betrachtet John Finney Kurse zum Glauben als Evangelisation. Seine pointierte Gegenüberstellung klingt so: „1985 bedeutete Evangelisation für die meisten das große Treffen, den bedeutsamen Prediger, den mühsamen und teuren Einsatz der Gemeinde. 2000 bedeutet Evangelisation in Großbritannien die kleine Gruppe, das normale Gemeindeglied und die kontinuierliche Arbeit der Gemeinde“93. Dabei ist die kleine Gruppe für ihn die „nurture group“, konkret: Der Kurs zum Glauben. Auch als Impuls für die Gemeindeentwicklung werden Glaubenskurse geschätzt: Das Thema ehrenamtlicher Mitarbeit, das Gespräch über Fragen des Glaubens und nicht zuletzt die Aufgabe, interessierten Teilnehmern Möglichkeiten zur Weiterführung anzubieten, sind verbunden mit Herausforderungen und Chancen. Ist die Gemeindekultur kompatibel mit derjenigen der Kurse? Das führt zur Frage der Einbettung der Kursangebote in die Gemeindeentwicklung. Die Themen Vernetzung und Nachhaltigkeit beginnen sich zu stellen.

6.1.2 Die zweite Phase 2006–2011 In der zweiten Phase geht auf der Ebene der Gemeinden die Ausbreitung und Rezeption weiter. Das Kursspektrum wird erweitert, die Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Diakonie und Erwachsenenbildung kommt verstärkt in den Blick. Kurse zum Glauben werden von Kirchenleitungen wahrgenommen, sie finden zunehmend in Berichten von Bischöfen, Dekanen und Superintendentinnen Erwähnung. In Verbindung mit den überörtlichen Akteuren werden Arbeitsund Orientierungshilfen für die inzwischen verwirrende Vielfalt an Kursen veröffentlicht – bis hin zum „Glaubenskursfinder“ in Bayern. In der Schweiz wird der Kurs „Glauben12 – das reformierte Einmaleins“ als Reaktion auf die Ausbreitung des Alpha-Kurses, dessen theologische Prägung und Zielsetzung eine Reihe von Pfarrerinnen und Pfarrer nicht teilten94. Das markanteste Ereignis auf dieser Ebene ist das Projekt „Erwachsen Glauben“. Entstanden im Umfeld der AMD, arbeitete von 2007–2008 eine sog. „Spurgruppe“. Deren Arbeit mündete in ein Hearing am 4. Juni 2008 im EKD-Kirchenamt95. Im Januar 2009 nahm die vom Rat der EKD berufene Steuerungsgruppe 92 93 94 95

Sautter 2008, 107–109; 315 ff. Finney 2004, 70 (Übersetzung M. Herbst). Plüss (Hg.) 2008, 49. Die Vorträge sind veröffentlicht in Kirchenamt der EKD (Hg.) 2008.

94

B. Missionarische Gemeinde

ihre Arbeit auf. Die damit verbundene Projektstelle hatte Andreas Schlamm inne, der auch im Vorfeld die Idee einer von ihm so genannten „missionarischen Bildungsinitiative“ entwickelt hatte. Die Arbeit der Steuerungsgruppe bestand in der Erstellung eines Handbuchs, der Entwicklung des Corporate Design und in der Verbindung von Kursen zum Glauben mit dem Milieuthema. Außerdem ging es darum, die Arbeit in den einzelnen Landeskirchen zu koordinieren und zu vernetzen. Was ursprünglich als Basisbewegung „von unten“ begann, wird auf diese Weise durch kirchenleitendes Handeln „von oben“ gefördert. Die Entscheidung, unterstützend und nicht reglementierend vorzugehen, hat sich im Rückblick bewährt. In der theologischen Forschung stand in dieser Phase die Diskussion um das Verhältnis von Bildung und Mission im Vordergrund. Der konkrete Hintergrund bestand darin, dass es auf dem Weg zum Projekt Erwachsen Glauben und bei der Durchführung des Projekts zu Gesprächen und Kooperationen zwischen Einrichtungen der Erwachsenenbildung und der missionarischen Dienste kam. Inwiefern können die Kurse unter dem Aspekt der Bildung bzw. der Mission betrachtet werden? Passt beides zusammen? Zugespitzt mit dem Titel eines Sammelbandes: „Darf Bildung missionarisch sein?“96 Themen waren die Frage nach der Ergebnisoffenheit religiöser Bildung und die Unterscheidung einer „Hermeneutik der Verständigung“ und einer „Hermeneutik der Vermittlung“97. Geht es für den Einzelnen um Auseinandersetzung oder um Aneignung? Von Seiten der Erwachsenenbildung gibt es kritische Rückfragen an die Kurse, ihren theologischen Ansatz und ihre Didaktik98. Umgekehrt wird das Bildungsverständnis der Erwachsenenbildung auf seine theologische Belastbarkeit hin hinterfragt. Es kam zu einem kritischen und fruchtbaren Dialog, in dem mehr Konvergenzen zwischen Mission und Bildung erkennbar werden, als es auf den ersten Blick zu erwarten war99.

96 Zimmermann 2010a. 97 Hofmann 2010, 98. 98 Exemplarisch Thomas Schlag: „In jüngster Zeit ist eine Konjunktur sogenannter Theologieund Glaubenskurse festzustellen […] Problematisch ist hierbei allerdings ein Bildungskonzept, das eigenständige theologische und ethische Urteilsbildung durch normative Setzung, ein restriktives Schriftverständnis oder die bewusste Abblendung der Vielfalt individueller Glaubensäußerungen unterläuft“ (Schlag 2007, 487). 99 Zimmermann 2010b, 186.

6. „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“.

95

6.1.3 Die dritte Phase seit etwa 2011 Mit der Publikation des Handbuchs „Erwachsen Glauben“ und der Verteilung an alle Pfarrämter traten die Kurse zum Glauben 2011 eine dritte Phase. In den Gemeinden erhielt die Verbreitung der Kurse Auftrieb durch Kurse zum Glauben in der Region. Kooperationen in der Region, aber auch zwischen unterschiedlichen Lernorten nehmen zu, die Zahl der Anbieter jenseits der anfangs dominierenden Frömmigkeitsprägungen stieg. Kirchenleitungen unterstützten das Projekt „Erwachsen Glauben“. Regionale Steuerungsgruppen wurden gebildet, Ressourcen für Pilotprojekte und regionale Projekte bereitgestellt, teilweise auch Stellen oder Stellenanteile dafür eingerichtet. Von den überörtlichen Akteuren wurden die Gemeinden und Regionen in der Durchführung begleitet, Multiplikatoren ausgebildet, in Bayern sogar mit einem eigenen Fortbildungsprogramm. Nach dem Ende der offiziellen Projektphase machte die Steuerungsgruppe als „Fachkonferenz Erwachsen Glauben“ weiter. Ihre Aufgabe ist die Begleitung der Neu- und Weiterentwicklung von Kursen und weiterhin die Vernetzung. In der theologischen Forschung werden die Kurse vom Mainstream wahrgenommen. Ein Themenheft der „Praktischen Theologie“ zeigt exemplarisch die Ausweitung der Perspektiven bis hin zum religionswissenschaftlichen Vergleich100. Der Schwerpunkt der Forschung in dieser Phase jedoch liegt auf empirischen Untersuchungen über Kurse zum Glauben. Es geht um Fragen nach dem Verhältnis von Intention und tatsächlicher Wirkung, nach anvisierter Zielgruppen und den Personen, die dann tatsächlich an den Kursen teilnehmen. Was kann in empirischer Perspektive über Mission und Bildung ausgesagt werden? Bereits die Greifswalder Studie „Wie finden Erwachsene zum Glauben?“ hatte auf die Bedeutung von Kursen zum Glauben für Glaubenswege Erwachsener hingewiesen. 66 % der Teilnehmenden hatten angegeben, dass „Glaubensgrundkurse“ eine Bedeutung für ihre Glaubensveränderung hatte, ein klarer regionaler Schwerpunkt lag dabei in Sachsen101. In der Schweiz hatte Eva-Baumann-Neuhaus 2008 eine religionswissenschaftliche Studie zum Alpha-Kurs veröffentlicht102 mit ernst zu nehmenden Fragen im Hinblick auf Diskrepanzen zwischen der Intention und der von ihr beobachteten Wirkung des Kurses:

100 Praktische Theologie 48 (2013), Heft 4. 101 Zimmermann Schröder (Hg.) 2011, 138–148. 102 Baumann-Neuhaus 2008.

96

B. Missionarische Gemeinde

„In seiner Form als Temporärgemeinschaft scheint es dem Kurs jedoch nicht zu gelingen, bei den Kursteilnehmenden auch eine nachhaltige Verbindlichkeit und Loyalität gegenüber der religiösen Gemeinschaft zu schaffen“103. BaumannNeuhaus sieht im Alpha-Kurs einen „kundenorientierten Kurs“, der „bei den Teilnehmenden einen individualisierten und situativ anpassungsfähigen Glauben“104 fördere und zu einer privaten und verinnerlichten Gottesbeziehung führe. Der Schwerpunkt der 2013 erschienenen Studie und Habilitationsarbeit von Beate Hofmann105 liegt in der Darstellung der 2009 in den Großräumen Nürnberg und Dresden durchgeführten empirischen Studie. Hofmann verbindet damit die Absicht, nicht nur das Kursmaterial zu untersuchen, sondern „die Wirkung aus der Sicht der Teilnehmenden zu beschreiben und dazu die Sicht der Kursleitenden zu ergänzen“106. Hofmann unterscheidet drei Typen von Glaubenskursen. Typ 1 sind Kurse, die von den jeweiligen Kursleitenden selbst entwickelt wurden. Sie werden vor allem in den neuen Bundesländern angeboten und oft im Kontext von Kircheneintritt und Taufe besucht. Bei Typ 2 handelt es sich um etablierte Kurs-Formen mit vorgegebenem Kurs-Material (z. B. Alpha, Spur8). Typ 3 besteht aus Kursen für spezielle Zielgruppen oder mit besonderen inhaltlichen Profilierungen wie z. B. „Exerzitien im Alltag“. Die Arbeit bietet eine Fülle von Daten zu Teilnehmerstrukturen (c.5), den Motiven für die Teilnahme (c.6), zu Kursgestaltung und Kursgeschehen (c.7) sowie zu Wirkungen und Erträgen (c.8). Die dominierende Perspektive dabei ist die der Bildung, ohne dass deshalb Fragen der Gemeindeentwicklung ausgeblendet würden. Exemplarisch nenne ich ein Ergebnis, das sich mit der Greifswalder Studie deckt: Glaubenskurse wecken nicht das Interesse für den Glauben, sondern stillen das anderweitig geweckte Interesse und „formatieren“ vorhandene religiöse Erfahrungen107. Das Fazit von Hofmann ist insgesamt positiv: „Glaubenskurse als befristete, auf Verbindlichkeit in der Teilnahme angelegte Projekte haben in der Gesellschaft des frühen 21. Jh. einen Ort und eine Chance. Sie stoßen bei den Teilnehmenden auf eine hohe Bereitschaft, sich einzulassen und Zeit zur Verfügung zu stellen“108.

103 Baumann-Neuhaus 2008, 299. 104 Baumann-Neuhaus 2008, 300. 105 Hofmann 2013: Sich im Glauben bilden: Der Beitrag von Glaubenskursen zur religiösen Bildung und Sprachfähigkeit Erwachsener. 106 Hofmann 2013, 80. 107 Hofmann 2013, 404. 108 Hofmann 2013, 442.

6. „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“.

97

Auch im Umfeld des Projekts „Erwachsen Glauben“ wird geforscht und publiziert: Dazu zählen der Der Projektbericht aus Heidelberg-Ladenburg109 und vom Greifswalder IEEG durchgeführte Evaluation „Kurs halten“, die Erfahrungen von Gemeinden und Einzelnen mit Kursen zum Glauben evaluiert110. Dabei stehen Fragen der Gemeindeentwicklung im Vordergrund. In der Evangelischen Landeskirche Württemberg wurde eine Umfrage von der Universität Tübingen (Lehrstuhl Prof. Dr. Friedrich Schweitzer) durchgeführt und ausgewertet111.

6.1.4 Wie geht es weiter? Der aktuelle Zwischenstand lässt sich daran ablesen, wo Kurse zum Glauben vorkommen – und wo (noch) nicht: Sie werden in Synoden- und Bischofsberichten genannt, kommen in der innerkirchlichen ebenso wie in der „säkularen“ Berichterstattung vor. Theologisch sind sie Gegenstand von Qualifikationsarbeiten und von Artikeln in Fachzeitschriften. Auf der anderen Seite sind sie noch nicht Teil der jährlichen Statistiken zum kirchlichen Leben, in der universitären Lehre kommen sie erst vereinzelt vor, in der Ausbildung (exemplarisch: in der Vikarsausbildung) ist es ähnlich. Ebenso fehlen sie bisher in theologischen Lexika und Handbüchern. Insgesamt ist es nach den öffentlichkeitswirksamen Events um das Projekt „Erwachsen glauben“ in den Jahren danach etwas ruhiger um „Kurse zum Glauben“ geworden. Es ist davon auszugehen, dass dies zumindest teilweise auch damit zusammenhängt, dass sie selbstverständlicher in der kirchlichen Landschaft geworden sind. Erhöhtes Interesse hat nochmals das Reformationsjubiläum 2017 mit einer Reihe von thematisch darauf abgestimmten Kursangeboten mit sich gebracht.

6.2 Kurse zum Glauben vor neuen Herausforderungen 6.2.1 Weshalb „Kurse zum Glauben“? Dass Kurse zum Glauben als Erfolgsmodell präsentiert werden können, macht sie zu einem Forschungsobjekt, erübrigt aber nicht die praktisch-theologische

109 S. dazu den Projektbericht Hörsch/Schlamm (Hg.) 2012. 110 Monsees/Witt/Reppenhagen 2015. 111 Wolking/Schweitzer 2015.

98

B. Missionarische Gemeinde

Kriteriologie und damit auch die Frage, ob bzw. weshalb es ein erstrebenswertes Ziel ist, sie „so selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“ anzubieten. Dazu exemplarisch einige einigen Stichworte: a) Kurse zum Glauben stehen für das Thema elementarer Glaubensbildung. b) Kurse zum Glauben sind für die theologische Reflexion durch ihre Per­ spektivenvielfalt interessant. Hier überschneiden sich Bildung, Gemeindeentwicklung und Mission/Evangelisation. c) Kurse zum Glauben verbinden individuelle Glaubenswege von Anfang an mit der Erfahrung von Gemeinschaft. d) Der Schwerpunkt bei Kursen zum Glauben liegt in der mittleren Generation der 40–60jährigen und damit bei einer Altersgruppe, die sonst im Hinblick auf kirchliche Partizipation als eher schwierig gilt.

6.2.2 „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“ – die Herausforderung der Verstetigung Das im Titel genannte Zitat entstammt einer Pressemeldung der EKD vom 1. Juli 2011: „Glaubenskurse sollten zu einem Regelangebot in den evangelischen Landeskirchen und ihren Gemeinden werden, „so selbstverständlich wie der Konfirmandenunterricht“. Das sagte die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Katrin Göring-Eckardt, am Freitag, 1. Juli, bei einer Pressekonferenz in Berlin, bei der die Werbematerialien für das Projekt „Erwachsen glauben“ vorgestellt wurden. Sie hoffe, dass Glaubenskurse zu einem „öffentlich erkennbaren Markenzeichen der evangelischen Kirche“ werden“112.

Ähnlich klingt es im Handbuch „Erwachsen glauben“: „Ziel ist es, Kurse zum Glauben zu einem Regelangebot an verschiedenen kirchlichen Lernorten auszubauen. Sie sollen einen so selbstverständlichen Stellenwert bekommen, wie ihn Konfirmandenunterricht bzw. Christenlehre seit Jahrzehnten haben. Kurse zum Glauben haben das Potenzial, zu einem öffentlich erkennbaren Markenzeichen der Evangelischen Kirche zu werden. Zukünftig soll das Angebot so ausgebaut sein, dass Menschen überall in Deutschland wohnortnah an einem solchen Kurs teilnehmen können, d. h. einen niveauvollen Rahmen vorfinden, in dem sie offen über den Glauben ins Gespräch kommen können“113.

112 EKD-Presse, ekd.de. 113 Schlamm 2009, 8–9.

6. „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“.

99

„So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“ ist eine Zielangabe über den Stellenwert, der Kursen zum Glauben beigemessen wird: Es geht um den Charakter als Regelangebot, verbunden mit einer flächendeckenden Erreichbarkeit, konkret werden 25 km als maximale Distanz genannt. „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“ – in Bezug auf Gemeinde­ pfarrerinnen und -pfarrer könnte das heißen, dass es ganz selbstverständlich zum Aufgabengebiet eines Gemeindepfarrers und einer Gemeindepfarrerin gehört. Ist das auch gemeint? (ich höre schon das Seufzen der meisten Betroffenen). „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“ – zielt das auch auf eine volkskirchliche Selbstverständlichkeit der Teilnahme, wie beim Konfirmandenunterricht zumindest in Westdeutschland der Fall ist? Anders gefragt: Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Grenzen einer parallelen Betrachtung von Kursen zum Glauben und Konfirmandenunterricht? Mehr noch: Wie realistisch ist die Ausweitung der Kurse zum Glauben zum Regelangebot? Der Greifswalder Umfrage unter den Steuerungsgruppen der Landeskirchen zufolge ist es für über ¾ der Steuerungsgruppen in den Landeskirchen „als durchaus realistisch anzusehen […], ‚dass in fünf bis zehn Jahren jeder Interessierte im Umkreis von 25 km zu seinem Wohnort einen Kurs zum Glauben besuchen kann‘“. Der damit verbundene Mittelwert auf der Skala von 1–5 beträgt 3,92. „30,92 % der Steuerungsgruppen sind sogar stark davon überzeugt, dass Kurse zum Glauben in fünf bis zehn Jahren zu einem Regelangebot dem Konfirmandenunterricht vergleichbar werden können“114. – Genauso viele betrachten dies als gering oder sehr gering115. Bei solchen Angaben ist allerdings mit der Möglichkeit zu rechnen, dass die Einschätzung Wünsche oder Befürchtungen der Befragten widerspiegelt.

6.2.3 „Risiken und Nebenwirkungen“ Eine Verstetigung wird Auswirkungen auf die Durchführung und den Charakter der Kurse haben. Frei nach dem Motto: „Zu den Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie ihren praktischen Theologen“. Diese „Risiken und Nebenwirkungen“, die nicht auf der Packungsbeilage stehen, sind im Vorfeld gründlich zu bedenken. Ich verstehe sie nicht als prinzipiellen Einwand gegen die Verstetigung. Ziel ist es, dass pastorale und kybernetische Nebenwirkungen gezielt angegangen und dadurch minimiert werden.

114 Monsees/Witt/Reppenhagen 2015, 57 f. 115 Monsees/Witt/Reppenhagen 2015, 67.

100

B. Missionarische Gemeinde

1. Pfarrerinnen und Pfarrer: Die Ausweitung zum Regelangebot wird nicht allein auf freiwilliger Basis möglich sein. Es wird unumgänglich sein, bestimmte Personengruppen dazu zu verpflichten, Kurse zum Glauben anzubieten. Dafür in Frage kommen insbesondere diejenigen, die in einem kirchlichen Beschäftigungsverhältnis stehen und eine pädagogische bzw. theologische Qualifikation haben – darunter auch Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrer. Eine erste Auswirkung ist bei der Motivation zu erwarten. Es ist damit zu rechnen, dass – vorsichtig formuliert – die Motivationen vielfältiger und unterschiedlicher werden als dort, wo Kurse ausschließlich auf freiwilliger Basis durchgeführt werden. Ein Markenzeichen vieler Kursangebote sind bisher die ehrenamtlich Mitarbeitenden, die an Gesprächen beteiligt sind, für ein gastfreundliches Umfeld sorgen und so ganz wesentlich die Kursatmosphäre prägen. Werden von der Kirche beschäftigte Akteure zur Durchführung von Kursen verpflichtet, werden Teams von Ehrenamtlichen weniger selbstverständlich sein. Die Herausforderung ist hier: Wie kann die positive Erfahrung von Durchführungen in Team auch bei der Verstetigung des Angebots erhalten bleiben? Vielerorts werden Kurse zum Glauben als Projekt mit hohem Aufwand durchgeführt. Auf dem Weg vom Event zum Regelangebot werden hier sicher Abstriche gemacht werden müssen. Es stellt sich die Frage, ob die Ressourcen dauerhaft ausreichen. Bisher war es meist so, dass in Gemeinden eine hohe Motivation vorhanden war, Kurse zum Glauben vorzubereiten und durchzuführen. Die weithin damit verbundenen guten Erfahrungen führten dazu, dass vielerorts der Funke übersprang und andere Gemeinden motiviert wurden, ebenfalls Kurse zum Glauben vorzubereiten. Wird das bei einer Verpflichtung zum Kursangebot auch so sein? Neue Aufgaben, die als Basisbewegung beginnen und dann „kirchenoffiziell“ als pastorale Aufgabe übernommen werden, sind häufig mit einem Professionalisierungsschub verbunden. Das kann trotz der damit verbundenen positiven Aspekte auch dazu führen, dass die Aufgabe so an die Person des Pfarrers gekoppelt wird, dass der Gemeindebezug unklar wird oder in der Wahrnehmung der Betroffenen ganz verloren geht. Erfahrungen bei Kasualien, Geburtstagsbesuchen, in der Diakonie und Bildung geben hier zu denken. Weiter stellt sich das Problem der Addition von Aufgaben für Pfarrerinnen und Pfarrer. Der demographische Wandel, finanzielle Zwänge und weitere Faktoren führen auf, dass die Verantwortungs- und Zuständigkeitsbereiche von Pfarrstellen ausgeweitet werden. Mit den Kursen zum Glauben käme auch noch ein weiteres Aufgabenfeld dazu. Wie kann die Verstetigung so gestaltet werden, dass nicht nach dem Prinzip der Addition, sondern ressourcenorientiert vorgegangen wird?

6. „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“.

101

Die Gefahr, einfach Aufgaben zu addieren, führt zur grundsätzlichen Frage nach der Rolle von Pfarrerinnen und Pfarrern bei Kursen zum Glauben. Könnten andere kirchliche Mitarbeiter mit einer theologischen oder pädagogischen Qualifikation diese Aufgabe übernehmen? Das betrifft sowohl den Bereich der angestellten Mitarbeiter wie Gemeindediakone und Jugendreferenten als auch Ehrenamtliche wie Lehrerinnen und Lehrer. Auf der einen Seite korrespondiert die hohe Bedeutung, die die zu erwartende Qualität im Vorfeld der Kurse hat116, mit dem hohen Vertrauen, das vielen Pfarrerinnen und Pfarrer entgegengebracht wird. Hinzu kommt, dass elementare Glaubenslehre für viele zu den Kernaufgaben des pastoralen Dienstes gezählt wird. Eine einfache Lösung ist daher nicht in Sicht. 2. Auch für die Seite der Teilnehmenden ist von Veränderungen auszugehen. Der Charakter als Regelangebot ist nicht zwingend damit verbunden, dass es bestimmte Personengruppen gibt, für die die Teilnahme verpflichtend gemacht werden kann. Trotzdem stellt sich eine solche Frage. Im Grunde sind es zwei Personengruppen, die dafür in Frage kommen: Auf der einen Seite sind es Personen, die von einem kirchlichen Arbeitgeber zur Teilnahme an Kursen verpflichtet werden können, auf der anderen Seite diejenigen, die eine Aufnahme in die Evangelische Kirche anstreben. Ein Beispiel für das Erstere sind Kurse zu Themen des Glaubens für Mitarbeitende in der Diakonie117. Dass ein Arbeitgeber in der Diakonie es für wichtig hält, dass die im Bereich der Diakonie Tätigen das christliche Profil der Diakonie kennen und zumindest loyal mittragen, ist verständlich. Ebenso verständlich ist aber auch, dass auf Seiten der Betroffenen die Verpflichtung zur Teilnahme argwöhnisch betrachtet werden kann, vor allem dann, wenn das Arbeitsverhältnis mit der Kirchenmitgliedschaft gekoppelt ist. Im „Osten“ ist die politische Indoktrination in der DDR bei vielen noch als negative Folie präsent. Hier hängt viel von einer sensiblen Gestaltung der Kurse ab, um die Teilnehmenden zu gewinnen, indem sie erkennen, dass es vor allem um sie selbst geht und nicht darum, vom Arbeitgeber „auf Linie“ gebracht zu werden. Entsprechende Fortbildungsangebote in der Diakonie verbinden eine Einführung in den Glauben mit der Entwicklung der Unternehmenskultur und der Qualifizierung Diakonisch-fachlichen Handelns118.

116 Hofmann 2013, 193 ff. 117 S. dazu Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband 2012; Horizonte des Glaubens erkunden 2013. 118 Mit diesen drei Aspekten werden die einzelnen Kursangebote charakterisiert (Horizonte des Glaubens erkunden 2013).

102

B. Missionarische Gemeinde

Die Kurse vom Typ 1 bei Beate Hofmann im Großraum Dresden können auch auf diesem Hintergrund der Pflicht zum Angebot und zur Teilnahme betrachtet werden: Die Kurse werden überwiegend von Pfarrern durchgeführt – oft nur von einer Person, für viele ist die Teilnahme im Umfeld einer Taufe oder der Aufnahme in die Evangelische Kirche verpflichtend. Wie die Ergebnisse zeigen, sind auch in einem solchen Kontext positive Erfahrungen möglich. Nachdenklich machen mich meine eigenen Erfahrungen mit Aussiedlern aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Hier von religiösem Analphabetismus zu reden, ist nicht übertrieben. Die Verpflichtung zur Teilnahme an Kursen halte ich grundsätzlich für sinnvoll. Gleichzeitig sind die Situationen vielfältiger als es die kirchlichen Ordnungen vorsehen. Mehrfach hatte ich mit Taufgesuchen zu tun, bei denen der Anlass die Anfrage zum Patenamt in der Verwandtschaft war. Es wäre zu einfach, das nur als Sekundärmotivation abzutun. Meine bisherigen Erfahrungen deuten eher darauf hin, dass der Wunsch schon länger da ist und bisher nur der Anlass gefehlt hat. Das Problem im Hinblick auf einen verpflichtenden Kurs liegt anderswo: Die Anfragen kommen in der Regel, wenn der Tauftermin längst feststeht, in nicht allzu großer Ferne liegt und kein Kursangebot verfügbar ist. Hinzu kommt, dass unter der Milieuperspektive die Mitarbeitenden und Teilnehmenden der Kurse zum Glauben meist eine „ganz andere Welt“ als die Aussiedler bewohnen. Wir sind damit bei der Frage nach den Unterschieden zwischen Kursen zum Glauben und Taufkursen. Der Hauptunterschied kann in der Motivation der Teilnehmenden gesehen werden119. Bei Taufkursen steht der Weg zur Taufe im Vordergrund, verbunden mit den jeweiligen biographischen Situationen. Die Motivationen im Blick auf die Teilnahme am Kurs sind entsprechend vielfältig. Der Ausgangspunkt für die Teilnahme bei Kursen zum Glauben ist hingegen eher das Interesse „an der Sache“, der Wunsch nach Austausch und Gemeinschaft. Interesse und Motivation können sich im Verlauf eines Kurses entwickeln, aber die Anforderungen an die Kursleitung steigen dadurch. Didaktische Kompetenz ist ebenso gefragt wie persönliche Glaubwürdigkeit. Es ist vergleichbar mit dem Religions- und Konfirmandenunterricht: Den Ausgangspunkt bildet eine Fülle divergenter Motive, und sei es nur die der Konvention und Tradition. Das schließt keineswegs aus, dass sich im Verlauf eines Kurses durch positive Erfahrungen echtes Interesse entwickelt. Auch kybernetisch erfordert der Weg vom Projekt zum Regelangebot Reflexion: Wird ein derart ausgeweitetes Angebot auch entsprechend nachgefragt?

119 Diese Information verdanke ich Jens Jacobi.

6. „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“.

103

Die bisherige Erfahrung, dass neben öffentlicher Werbung insbesondere die persönliche Einladung zur Teilnahme an den Kursen führte, wird hier an Grenzen stoßen. Auch bei einer Teilnahmepflicht für bestimmte Gruppen bringt ein flächendeckendes Angebot nicht automatisch eine entsprechende Nachfrage mit sich, zudem ist die Möglichkeit einer „Markterschöpfung“ zu bedenken.

6.3 Schritte auf dem weiteren Weg 6.3.1 Die Ausweitung des Angebots und der Zielgruppen Was ist nötig, damit gute Erfahrungen mit Kursen zum Glauben weiteren Personengruppen zugänglich gemacht werden können? a) Das führt zunächst zu der Frage, wo und wie der Kreis potenzieller Teilnehmer erweitert werden und neue Zielgruppen erschlossen werden können. Erforderlich ist eine Durchsicht des Kursmaterials, wahrscheinlich auch die Gestaltung neuer Kurse mit anderen didaktischen Zugängen – etwa für sog. bildungsferne Schichten, für die die kognitive Seite bei den bestehenden Kursen immer noch zu stark ausgeprägt ist. Die Milieuperspektive ist eine mögliche und durchaus sinnvolle Perspektive. Die Erfahrungen der Modellregion Heidelberg-Ladenburg120 zeigen, dass Kurse zum Glauben bisher Menschen vor allem bei den prekären und hedonistisch geprägten Milieus so gut wie nicht erreichen. Mehr als auf das Material kommt es allerdings darauf an, dass die Kommunikation nach außen und die Gestaltung milieusensibel durchgeführt werden. Ein weiteres Thema ist die Frage nach Kursen zum Glauben, die auf die besondere Situation im Osten Deutschlands eingehen121. b) Der Blick mit der „Milieubrille“ zeigt, zeigt, dass nicht alle Milieus auf gleiche Weise angesprochen werden. Durch eine milieusensible Gestaltung sind hier Ausweitungen der Teilnehmergruppen möglich, freilich nicht unbegrenzt. Wie aber können Menschen erreicht werden, für die die Veranstaltungsform „Kurs“ nicht geeignet ist? Was ist mit denen, die ungern in einer Gruppe mit anderen über persönliche Fragen und Themen des Glaubens zu reden? Wie können sie in den Glauben eingeführt werden? Wie kann sich ihnen die Gemeinschaftsdimension des Glaubens erschließen?122

120 S. Hörsch/Schlamm (Hg.) 2012. 121 Land (Hg.) 2015. 122 S. Beck/Schlamm 2015.

104

B. Missionarische Gemeinde

c) Eine weitere „Baustelle“ ist die Frage nach Fortsetzungskursen. Bei der Aktion „Erwachsen Glauben“ stehen sog. „Grundkurse des Glaubens“ im Vordergrund, also Kurse, die der Einführung in die Grundlagen des christlichen Glaubens dienen. Schon das trifft nicht auf alle Kursformate zu. Theologiekurse etwa sind nicht unbedingt Einführungskurse. Wie kann eine Weiterführung nach der Einführung aussehen? Die Greifswalder Untersuchung „Kurs halten“ kommentiert: „Es gibt eher eine Verstetigung der einzelnen Kursangebote als eine Kette von glaubensfördernden und vor allem den Glauben vertiefenden Maßnahmen für die einzelnen Teilnehmenden“123. Diese Herausforderung hat mehrere Aspekte: 1. Dazu braucht es geeignetes Kursmaterial124. 2. Mindestens ebenso wichtig ist eine Sensibilisierung und Motivation in den Gemeinden. 3. Begleitend dazu ist eine theologische Diskussion darüber nötig, was Inhalt dieser Kurse sein soll, welche Kompetenzen erworben werden können, welche Ziele verfolgt werden. Schon das bisherige Angebot zeigt unterschiedliche Akzentsetzungen. Auf der einen Seite steht die Einübung in Spiritualität, auf der anderen Seite stehen ethische, diakonische und stärker gesellschaftsrelevante Themen. Denkbar ist der Ausgang von den klassischen Themen des Katechismus, die auch dem Emmaus-Kurs zugrunde liegen: Gestaltung des Glaubens (Gebet, Gottesdienst, Gemeinde, Sakramente), Inhalte des Glaubens und der Bibel, Fragen der Lebensgestaltung und Ethik. Als Ausgangspunkt dienen können auch die vier von Jens Martin Sautter für Kurse zum Glauben genannten Dimensionen (Alltag – Gemeinde – Liturgie – Lehre)125.

6.3.2 Kurse zum Glauben als Chance für die Kooperation in der Region 1. Kurse zum Glauben als Bezirksaktion: In der Frage von bezirksweiten Aktionen mit „Kursen zum Glauben“ liegen mittlerweile mehre Erfahrungen vor. Auf der einen Seite stehen die Pilotprojekte in den Modellregionen. In der Region Heidelberg-Ladenburg wurden Kurse zum Glauben in zwei Dekanaten in der Evangelischen Kirche in Baden angeboten, dabei lag ein Schwerpunkt

123 Monsees/Witt/Reppenhagen 2012, 2. 124 Der Kurs „spürbar“ (Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste 2014) stellt einen „Nachfolge-Kurs“ zum Kurs „Spur8“ dar. 125 Sautter 2008, 93–109.

6. „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“.

105

auf der milieusensiblen Gestaltung von Kursen zum Glauben126. In Köln luden vier evangelische Stadtdekanate ein, 32 von 56 Gemeinden haben sich mit Kursangeboten beteiligt. Die Dokumentationen zeigen eindrucksvoll die Professionalität in der Vorbereitung und Durchführung, aber auch den damit verbundenen hohen Aufwand, der in dieser Weise weder auf Dauer gestellt werden kann noch beliebig multiplizierbar ist. Daher hat es auch etwas für sich, dass auf der anderen Seite der Charme kleinerer Projekte mit überschaubarem Aufwand steht. Ein Beispiel dafür ist das Evangelische Dekanat Balingen in Württemberg127. Eine erste Bezirksaktion fand 2012 statt, weitere folgten in den Jahren 2013–2015 und 2017. Jeweils sechs bis elf Gemeinden waren mit Kursangeboten beteiligt. Die Erfahrung war, dass sich durch eine gemeinsame Aktion auch Gemeinden, die bisher keine Kurse zum Glauben angeboten haben, zum Mitmachen motivieren lassen. Es gab Orte, die jedes Jahr einen Kurs anbieten, andere Orte, die einmal mitmachen und alles so gründlich vorbereiten und planen, dass klar ist: Mit diesem hohen Aufwand können Kurse nicht regelmäßig angeboten werden. Die Gemeinden in den städtischen Bereichen (Balingen, Albstadt, Hechingen und Sigmaringen) haben sich eher spärlich beteiligt. Anders als bei den Pilotprojekten findet hier keine strategische Planung unter regionalen oder unter Milieugesichtspunkten statt. Der Charakter als Basisbewegung bleibt dadurch stärker erhalten. Die großen Projekte haben eine wichtige Signalwirkung und leisten einen wichtigen Beitrag zur Akzeptanz und Verbreitung. Es ist das Signal: „Was in Heidelberg und Köln geschehen ist, kann nicht als Phänomen des Hinterlandes abgetan werden“. Sie stellen aber auch die Frage nach der Übertragbarkeit mit vertretbarem Aufwand. Die „kleinen“ Projekte hingegen zeigen, dass auch ohne den großen Aufwand der Pilotprojekte Projekte sinnvoll, durchführbar und mit einem „Mehrwert“ gegenüber einzelnen Angeboten ohne Vernetzung verbunden sind. Gemeindeübergreifende Projekte erzeugen mehr öffentliche Aufmerksamkeit als unkoordinierte Einzelangebote. Diese Aufmerksamkeit reicht vom gemeinsamen Werbeauftritt bis hin zur Berichterstattung in der Presse. Davon profitieren letztlich auch die Angebote an den einzelnen Orten. Eine weitere wichtige Erfahrung formuliert die Heidelberger Dekanin Marlene Schwöbel-Hug: „Mit dem Projekt ging ein großes Aufatmen durch all unsere Gremien. Endlich konnte man sich auf Inhalte konzentrieren […] Frus-

126 S. Hörsch/Schlamm (Hg.), 2012. 127 An den Aktionen war ich als Gemeindepfarrer selbst beteiligt.

106

B. Missionarische Gemeinde

tration über Strukturdebatten konnte sich in Engagement für die ‚wirklichen‘ Aufgaben von Kirche wandeln“128. 2. Kirchenleitende Aufgaben129: Solange Kurse zum Glauben auf freiwilliger Basis durchgeführt werden, kann sich kirchenleitendes Engagement darauf beschränken, Ressourcen zur Unterstützung bereitzustellen, die in der Regel abgerufen werden müssen. Analog zur Aufgabe der Kurse für den Einzelnen geht es darum, „Möglichkeitsräume und Anreizsysteme“ für Kurse zum Glauben zu eröffnen bzw. bereitstellen130. Das ist auch bei Bezirksaktionen, die lediglich Kursangebote sammeln, nicht anders. Daneben ist hier auch der Aspekt der Motivation wichtig. Dass bei der stadtweiten Aktion in Köln 32 von 56 evangelischen Gemeinden teilnahmen, kann einen Eindruck davon vermitteln, wie groß das Potenzial durch Motivation und Anreize auf freiwilliger Basis ist. Mit der Ausweitung zum Regelangebot steigen die Anforderungen an kirchenleitendes Engagement. Gibt es eine Pflicht zur Durchführung oder Teilnahme, in diesem Fall in Bezug auf Gemeinden oder Regionen? Inwieweit ist das angesichts der Eigenständigkeit der Gemeinden sinnvoll und möglich? Aber auch umgekehrt könnte gefragt werden: Stellt die grundsätzlich wünschenswerte Eigenständigkeit der Gemeinden an manchen Stellen ein Hindernis für übergreifendes kirchliches Handeln dar? 3. Kooperation in der Region: Das Thema Regionalisierung131 steht auf vielen kirchlichen Agenden der letzten Jahre. Für viele ist es nicht hoffnungsbesetzt, sondern mit schmerzlichen Erfahrungen verbunden: Stelleneinsparungen, Gebäudekonzepte, Fusionen und anderes führten vielerorts zu einem hohen Druck zu regionaler Zusammenarbeit. Kurse zum Glauben sind ein gutes Beispiel dafür, wie die Zusammenarbeit in der Region als Chance und Gewinn erlebt werden kann. Wenn der Ausgangspunkt der ist, dass einzelne Gemeinden für sich Kurse zum Glauben vorbereiten und durchführen, dann besteht eine erste Horizonterweiterung darin, die anderen Angebote wahrzunehmen. Eine Bezirksaktion geht einen Schritt weiter: Schon ein gemeinsamer Flyer zeigt, dass die einzelnen Kurse Teil einer bezirks- bzw. dekanatsweiten Aktion sind und damit nicht Einzel-Angebote, die nichts miteinander zu tun haben. 128 Schwöbel-Hug 2012, 64. 129 S. Heckel 2017, 194 ff.: „Erwachsenenbildung und Kurse zum Glauben. Stellungnahme aus kirchenleitender Sicht.“ 130 Plüss 2008, 14. 131 S. u. Kap. 12.2.

6. „So selbstverständlich wie Konfirmandenunterricht“.

107

Erleichtert werden Bezirksaktionen dadurch, dass der größte Teil der Kurse in der Zeit zwischen Neujahr und Ostern stattfindet. Die Zeit im Herbst zwischen Schuljahresbeginn und der Adventszeit wird zwar auch genutzt, spielt aber aufs Ganze gesehen eine geringere Rolle. Die Stärke des Projekts Erwachsen Glauben liegt darin, dass durch das Vorhalten von Werbematerial nicht nur Bezirksaktionen von Anfang an im Blick waren, sondern dass ein ansprechendes Logo und Corporate Design angeboten werden, für die sonst vor Ort große Summen aufgewendet werden müssten. Über das Sammeln von Angeboten hinaus kann der nächste Schritt in einer gezielten Planung bestehen. Sie kann regional erfolgen in der Absicht, die Angebote möglichst gleichmäßig zu verteilen. Es kann auch im Hinblick auf unterschiedliche Zielgruppen geschehen, etwa unter Milieugesichtspunkten: Unterschiedliche Kursangebote sollen unterschiedliche Segmente und Milieus ansprechen. Dabei stoßen wir freilich auf ein Problem: Werbung ist in der Regel nicht für alle, sondern zielgruppen- und milieubezogen. Kann eine Werbeaktion milieubezogen und milieuübergreifend zugleich vorgehen? Die unterschiedlichen Motive der Aktion „Erwachsen Glauben“ versuchen diesen Spagat. Regionale Kooperation erfolgt nicht unter dem Vorzeichen von Konkurrenz und divergierenden Interessen, sondern ist verbunden mit wechselseitiger Vernetzung, Ergänzung und Unterstützung. Gute Erfahrungen im Miteinander wiederum bilden eine wichtige Grundlage für die anstrengenden Seiten der Regionalisierung und Zusammenarbeit: Wo verbindende gemeinsame Erfahrungen vorhanden sind, wird die Verbundenheit gestärkt. Das kann einen Beitrag dazu leisten, dass nicht Sparzwänge, sondern gemeinsame Visionen den Motor für eine weitere Zusammenarbeit darstellen. Eine Grenze besteht darin, dass sich „Kurse zum Glauben“ als „Angebot der Evangelischen Kirche“ nur bedingt für ökumenische Veranstaltungen eignen. Zumindest wird es hier schwierig, auf der Verwendung von Logo und Corporate Design der Aktion „Erwachsen Glauben“ zu bestehen.

6.3.3 Schlussgedanke Kurse zum Glauben stehen in den Schnittfeldern von Bildung, Mission/Evangelisation und Gemeindeentwicklung. In Verbindung mit Fragen der Gemeindepraxis, der Kirchenleitung und der Ökumene ergeben sich hier Themen und Aufgaben, die in der Forschung ebenso wie in der kirchlichen Praxis noch lange nicht erschöpft sind. Dabei gehört die Aufgabe, der sich Kurse zum Glauben stellen wollen, zur elementaren Aufgabe der „Bildung“ im Glauben: „Der Weg zum Glauben muss

108

B. Missionarische Gemeinde

ebenso als Bildungsaufgabe verstanden werden wie das Bleiben und Wachsen im Glauben“ (Wolfgang Huber)132.

132 Huber 1999, 295.

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

In der Diskussion um den Gemeindeaufbau wird häufig Bezug genommen auf das „Reich Gottes“. Dieser Bezug kann dabei mit ganz unterschiedlichen Akzenten verbunden sein: • Das „Reich Gottes“ steht für umfassenden „Schalom“ und meint konkret den Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. • Die Ausbreitung des Reiches Gottes wird dort gesehen, wo durch Evangelisation Menschen zu „Jüngern“ werden. • Der „Einsatz für das Reich Gottes“ (oder das „Bauen am Reich Gottes“) wird mit dem Gemeindeaufbau identifiziert. Diese unterschiedlichen Akzentsetzungen zeigen, dass eine Verhältnisbestimmung beider Größen nötig ist, konkret: Wie verhält sich die Vaterunserbitte „Dein Reich komme!“ zum Gemeindeaufbau? Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass „Reich Gottes“ schon an sich ein in mehrfacher Hinsicht schillernder und mit Unschärfen verbundener Begriff ist: • „Reich Gottes“ meint den Bereich der Herrschaft Gottes. Die Rede vom „Reich Gottes“ kann aber – ausgehend vom griechischen βασιλεία τοῦ θεοῦ auch als nomen actionis die Ausübung der Herrschaft Gottes einschließen. • „Reich Gottes“ ist als Hoffnungsbegriff auf die Zukunft gerichtet. Inwiefern kann von einer „Gegenwart der Reiches Gottes“ geredet werden? Wie verhalten sich Gegenwart und Zukunft des Reiches Gottes zueinander? • Verbreitetet ist die Rede vom „Bauen des Reiches Gottes“. Das führt zu der Frage, wie sich göttliches und menschliches Handeln im Blick auf das „Reich Gottes“ zueinander verhalten. • Was kennzeichnet das „Reich Gottes“? Häufig wird „Schalom“ im Sinne eines umfassenden „Heil-Werdens“ genannt. Das ist wiederum erklärungsbedürftig und führt zur Frage, wie sich Diakonie, soziales und politisches Handeln der Gemeinde zu Mission und Evangelisation verhalten. Volker Gäckle1 vertritt die These, dass ausgehend von der Verkündigung Jesu das „Reich Gottes“ im Neuen Testament nicht die Gegenwart der Gottesherr-

1

Gäckle 2018; S. dazu auch meine Rezension (Zimmermann 2018b).

110

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

schaft bezeichne („dynamische“ Bedeutung als nomen actionis), sondern einen futurischen spatialen Raum, in den man „eingehen“ kann, teilweise auch eine futurische Zeit des Heils. Gegenwärtige Bedeutung erhält das „Reich Gottes“ als Heilsgabe, die schon jetzt empfangen, ererbt und besessen werden kann. Auch Stellen, die mit präsentischen Akzenten verbunden werden können, interpretiert er von dieser These her, so etwa das sog. „Exorzismuslogien“ (Lk 11,20par: „Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja die βασιλεία τοῦ θεοῦ zu euch gekommen“). Er resümiert: „Im Rückblick muss die dynamisch-präsentische Deutung von βασιλεία τοῦ θεοῦ im Sinne einer präsentischen Königsherrschaft Gottes als ein Phänomen des 20. Jh. betrachtet werden“2, die tieferen Gründe dafür sieht er in der Geschichte des 20. Jh. und lässt durchblicken, dass auch seine exegetische Arbeit ideologiekritisch motiviert ist. Gäckles Beitrag fordert dazu auf, den Gebrauch verbreiteter biblischer Begriffe immer wieder an den biblischen Ursprüngen zu orientieren. Hier kann er ein vorrangig futurisches Verständnis des „Reiches Gottes“ exegetisch plausibel machen. Freilich – das räumt auch Gäckle ein – setzt das Reich Gottes als futurisches Heilsgut voraus, dass Gott jetzt schon seine Herrschaft auf verborgene Weise in dieser Welt ausübt. Hier wird die Diskussion über die „Gegenwart des Reiches Gottes“ weitergehen.

Die beiden Kapitel dieses Teils erörtern zwei Varianten der Verhältnisbestimmung von „Gemeinde(aufbau)“ und „Reich Gottes“ mit unterschiedlichen, ­einander ergänzenden Akzentsetzungen.

7. Gottes Reich in Riesi – oder: Zum Verhältnis von Gottesherrschaft und Gemeindeaufbau3 7.1 Gottes Reich in Riesi Riesi ist eine Stadt in Sizilien. Ausgangspunkt unserer Reise in diese Stadt ist ein Buch mit dem Titel: „Riesi – Geschichte eines christlichen Abenteuers“. Geschrieben hat es Tullio Vinay4.

2 3 4

Gäckle 2018, 252. Probevorlesung am 7.12.2015 in Marburg/Lahn, Evangelische Hochschule Tabor (überarbeitet). S. Ricca 2005.

7. Gottes Reich in Riesi

111

Wir schreiben das Jahr 1961. „Riesi liegt im trostlosesten Teil Siziliens und ist ein Sammelbecken sozialen Elends, wirtschaftlichen Rückschritts, hygienischer Missstände und rückständiger gesellschaftlicher Verhältnisse“5. Kurzum: Sizilien ist das „größte Notstandsgebiet im freien Westeuropa“6. Dorthin kommt Tullio Vinay, geb. 1909, als Pastor der dortigen Waldensergemeinde. Aber nicht die Gemeindearbeit ist sein eigentliches Ziel. Er will einen „Servizio Cristiano“, ein christliches Zentrum aufbauen und den Menschen dort in ihrer Hoffnungslosigkeit eine neue Perspektive vermitteln. Er weiß, worauf er sich in Riesi einlässt und sieht gerade dort seinen Auftrag. Er wendet sich den Menschen zu, die Hilfe brauchen. Und die gibt es in Riesi zuhauf: Arbeiter in einem Schwefelbergwerk, in dem er häufig tödliche Unfälle gibt; Landwirte und Landarbeiter, die mit überzogenen Abgaben belastet werden; verwahrloste Straßenkinder, die nicht zur Schule gehen und in einem Alltag voller Gewalt leben; Frauen, die von unbarmherzigen Traditionen in das Verlies ihrer Häuser eingesperrt werden. Für sie soll es eine bessere Zukunft und Hoffnung geben. Auf der einen Seite versucht Vinay Einzelnen zu helfen, wo er kann – bis hin zu juristischer Unterstützung bei Gerichtsverfahren. Auf der anderen Seite will er mit einer Gruppe von Mitarbeitern den „Servizio Cristiano“ bauen, ein christliches Zentrum mit Kindergarten, Grundschule, christlichem Gästehaus, Familienberatungsstelle und landwirtschaftlicher Abteilung. In seinem Tagebuch beschreibt er einzelne Erlebnisse in den Monaten nach seiner Ankunft: „Ich habe mit Fernanda eine Kranke besucht. Es empfängt uns der Mann von 70 Jahren. Ich denke, die Frau ist ebenso alt. Sie sitzt neben der Kohlenpfanne, ganz in Schwarz, das Gesicht von Runzeln durchfurcht, gebückt und müde. Später erfahre ich dann, dass sie erst 54 ist. Monatlich hat er eine Pension von 6000–7000 Liren – das sind etwa 45 Mark, die er durch Landarbeit aufrundet […] Das Zimmer hat einen Fußboden aus festgestampfter Erde, die Decke bilden die Schrägbalken des Daches. Alles ist verräuchert und dreckig. Auf der einen Seite der Platz für den Esel, auf der anderen das Ehebett. Tische gibt es nicht, aber eine Kommode und einige Stühle. Das ist alles. Während wir uns unterhalten, kommt eine Nachbarin – fast achtzigjährig. Sie lebt allein in einer anderen Hütte. Sie erhält eine Unterstützung von der Gemeinde. 600 Lire – 4 Mark – im Monat […] Ich sage ihr: ‚Jesus hat gesagt: Selig sind die Armen‘, und ich beeile mich zu erklären, dass der Herr die Vergessenen nicht vergessen wird. Mir fällt auf, dass das Wort besser aus

5 6

Vinay 1965, Buchumschlag (Rezension „Stimmen der Arbeit“, Boll). Vinay 1965, 5 (Reinhard Wilhelm Schmidt).

112

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

dem Munde dessen kam, der keinen Platz hatte, um sein Haupt niederzulegen […] ‚Signuruzzu beddu‘ – ‚Schönes Herrlein!‘ ruft die Alte aus“7.

In diesen Tagebucheinträgen finden sich vereinzelt immer wieder Passagen, in denen die Motivation Tullio Vinays und sein theologisches Denken aufscheinen: „Es ist ein gewalttätiges Volk, leicht bereit zum Verbrechen […] Ich dachte an die lange Geschichte der Unterdrückungen, der Gewaltherrschaften, der Ausbeutungen Siziliens […] Doch seit Christus gekommen ist, leben wir in einer speziellen Zeit, in der Zeit Gottes. Wie, wenn er gerade jetzt dieses Volk aufsuchen und sich dabei unser bedienen wollte?“8. „Ein Mann von Riesi, den ich noch nie gesehen hatte, der aber offenbar unsere Arbeit beobachtet hatte, sagte mir: ‚Ihr Waldenser seid eine Art von Christen, die nicht ihren Vorteil suchen, sondern dienen wollen.‘ Ich fühlte, dass dieser Unbekannte etwas von der Bedeutung des Reiches Gottes verstanden hatte […] Man sagt heutzutage allgemein, die christliche Botschaft sei veraltet und könne auf die moderne Gesellschaft keinen Einfluss mehr ausüben. Das ist nicht wahr. Die Botschaft vom Reich Gottes ist lebendig wie eh und je […] Die Kirche muss Verkörperung der Botschaft sein, ein Körper, der sich für das Leben der Welt gibt. Sonst hat sie nichts mehr zu sagen“9. „B. kam zu mir und sagte: ‚Ja, Pastore, wir werden das neue Riesi aufbauen.‘ – ‚Davon bin ich vollkommen überzeugt‘, antwortete ich […] Nötig sind Menschen, die die ‚neue Welt Christi‘ zu verstehen beginnen, entschlossen, den Sinn ihres Lebens zu ändern. ‚Ja, B., mit diesen, mit euch wahren Männern werden wir das neue Riesi aufbauen“10.

So viel zum Reich Gottes in Riesi, zu Tullio Vinay und den Anfängen, die hin zum „servicio christiano“ führten. Diese Notizen sollen im Folgenden als Ausgangspunkt für eine theologische Reflexion dienen. Vorher freilich ist es angesagt, Respekt vor dem Werk Tullio Vinays zu äußern. Sein hoher persönlicher Einsatz, sein zielgerichtetes Engagement und seine Selbstlosigkeit, beruhend auf einem festen Glauben, verdienen höchste Anerkennung. Ich bin versucht zu fragen: Wie war es 1990, als im Osten zwar keine mit Sizilien 1961 vergleichbare Situation herrschte, aber doch eine verunsicherte Bevölkerung den Folgen der Wende, mafiösen Seilschaften und nicht immer   7   8   9 10

Vinay 1965, 32–34 (Tagebucheintrag vom 12. Dezember 1961). Vinay 1965, 64f (25. April 1962). Vinay 1965. 133 (17. März 1963). Vinay 1965, 163 (21. Juni 1963).

7. Gottes Reich in Riesi

113

sensiblen „Besserwessis“ gegenüberstand? Wo waren da die deutschen Tullio Vinays, die selbstlos im Auftrag Christi Not linderten und Menschen eine Hoffnung vermittelten? Wo sind sie heute, wo Flüchtlingsströme in unser Land kommen? Bevor „Riesi“ Gegenstand theologischer Reflexion wird, ist es eine Herausforderung.

7.2 „Dein Reich komme!“ Zusammen lassen sich die einzelnen Äußerungen Vinays zu einem klaren Bild zusammenfügen: Das Kommen der Gottesherrschaft, das „Reich Gottes“ ist das zentrale theologische Motiv der Arbeit von Tullio Vinay in Riesi. Dafür spricht auch, dass dieses Motiv damals nicht alleine auf weiter Flur stand, sondern enge Bezüge zur damaligen Missionstheologie im Ökumenischen Rat der Kirchen erkennen lässt. Ja, man kann geradezu sagen: Die Praxis in Riesi und die Theologie in Genf erläutern und veranschaulichen sich gegenseitig. Dazu später mehr. „Gottes Reich in Riesi“ dient hier nicht nur als historische Reminiszenz, es geht exemplarisch um ein zentrales Thema in der Theologie und der Geschichte der Kirche. Dazu einige Streiflichter: Schon in der Bibel ist Gottes Herrschaft eines der zentralen Themen. Im Alten Testament beginnt es mit der prophetischen Verkündigung: „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!“ (Jes 52,7). „Dein Gott ist König“ – Es geht um Gottes Königsherrschaft. Das Königtum Gottes ist Thema der sog. Jahwe-Königspsalmen, vor allem von Psalmen 93–99. Es ist Anlass zum Feiern und zum Jubel nicht nur für Israel, sondern für alle Völker. Die ganze Schöpfung, Himmel, Erde, das Meer, das Feld und die Bäume im Wald sollen in einen universalen und kosmischen Jubel mit einstimmen, wie das unnachahmlich in Psalm 96,11–13 dargestellt wird. Kein Wunder, dass auch Jesus an zentraler Stelle vom Anbruch der Königsherrschaft Gottes redet. Im Summarium seiner Verkündigung am Anfang des Markusevangeliums klingt es so: Die Zeit ist erfüllt und die βασιλεία τοῦ θεοῦ ist herbeigekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium! (Mk 1,15) Evangelium ist biblisch gesehen nicht zu trennen von der Nachricht der βασιλεία τοῦ θεοῦ. Im griechischen Text von Jesaja 52 ist der Bote der Evangelist, der εὐαγγελιζόμενος. „Evangelium“ ist nicht nur allgemein „gute Nachricht“, sondern die Kunde vom Anbruch der Königsherrschaft Gottes. Die Königsherrschaft Gottes ist nach seltenem Konsens der Exegeten das Zentrum der Verkündigung Jesu. Wir sehen es in den Gleichnissen: „Mit dem

114

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft“ (Mk 4,26). Alltägliche Vorgänge werden zum Gleichnis für Gott und seine Herrschaft. „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit“ (Mt 6,33) hören wir in der Bergpredigt, und im Gebet, das Jesus selbst gelehrt hat, bitten wir: „Dein Reich komme!“ (Mt 6,10a) Vieles gäbe es noch zu diesem Thema zu sagen, ich beschränke mich auf zwei Punkte: a) Im Neuen Testament ist das Kommen des Reiches Gottes untrennbar mit Jesus, seinem Wirken und seiner Person verbunden. b) Durch das Neue Testament hindurch zieht sich eine Spannung zwischen dem gegenwärtigen Anbrechen des Reiches Gottes im Wirken Jesu und seinem zukünftigen Kommen in Herrlichkeit. Die Rede Jesu von der Nähe des Reiches Gottes hält diese Spannung aufrecht. Wir können dieses Thema weiter durch die Kirchengeschichte verfolgen. Da kam es allerdings auch immer wieder vor, dass die Spannung von Gegenwart und Zukunft des Reiches Gottes einseitig nach einer Seite hin aufgelöst wurde. Auf der einen Seite kam es vor, dass die Gegenwart der Kirche mit dem Reich Gottes identifiziert wurde. So geschah es im christlich gewordenen römischen Reich und später in der römisch-katholischen Kirche. Auf der anderen Seite wurde das Reich Gottes zu einer rein jenseitigen Größe reduziert, die mit der Gegenwart nichts mehr zu tun hatte. Glaube wird in die Innerlichkeit verlagert. Bis dahin, dass es bei Adolf von Harnack um 1900 nur noch um Gott und die Seele geht11. Für wieder andere in der Geschichte der Kirche ist die Erwartung des Reiches Gottes ein kräftiger Antrieb gewesen. Philipp Jacob Spener ist in den Pia desideria motiviert von der „Hoffnung besserer Zeiten“, weil Gottes Verheißungen für diese Welt und für die Kirche noch längst nicht in Erfüllung gegangen sind12. Die Aufbrüche im 19. Jahrhundert, die Erweckungsbewegung, die Entstehung der diakonischen und missionarischen Werke, der Posaunenchöre, der Jugendarbeit, der Evangelisation – alles undenkbar ohne die brennende Erwartung des Reiches Gottes! Genauer: Undenkbar ohne die feste Überzeugung, dass das Reich Gottes nicht nur eine zukünftige Größe ist, sondern bereits in der Gegenwart erfahrbar werden kann.

11 Von Harnack 2012. 12 Spener 1996.

7. Gottes Reich in Riesi

115

Sieht man das „Reich Gottes“ in Riesi auf diesem Hintergrund, dann leuchtet es kräftig als christliches Zeugnis der Erwartung des Reiches Gottes in aller Vorläufigkeit schon hier auf der Erde. Wir haben damit eine Spur, die weiterführt bis in die Gegenwart. Eine Zeitlang konnte man den Eindruck haben, als sei die Hoffnung auf die gegenwärtige Erfahrbarkeit des Reiches Gottes zum ökumenischen Rat der Kirchen abgewandert. Dort wurde die Diskussion um die Struktur missionarischer Gemeinden weiterentwickelt zum konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Allerdings haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten der Pietismus und die evangelikale Bewegung deutlich aufgeholt und damit gewissermaßen ihr eigenes Erbe wieder entdeckt: Der Einsatz für Arme, Notleidende und Flüchtlinge, für Bildung und Entwicklung verbindet bei allen Unterschieden die großen Strömungen der Weltchristenheit. Das Thema „Heilung“ wird in vielen Kirchen neu entdeckt. Im Pietismus ist ein Bogen von der Beteiligung an der „Willkommenskultur“ für Flüchtlinge bis hin zur „Micha-Initiative“ und dem Engagement für Gesellschaftstransformation zu sehen. Spannt man den Bogen noch weiter, dann können auch die „Zeichen und Wunder“ mit einem starken Akzent auf Erfahrungen von Heilungen in der charismatischen Bewegung und Pfingstbewegung mit dazu gerechnet werden. Um das Panorama nochmals zu erweitern, verweise ich auf einen Ansatz der Evangelisation. In seinem Buch „The logic of Evangelism“ formuliert William J. Abraham programmatisch: „Over against those who construe evangelism as the proclamation of the gospel and against those who construe it as church growth, the thesis presented and argued here is that we should construe evangelism as primary initiation into the kingdom of God“13. Zusammengefasst: Auch bei Evangelisation geht es nicht zuerst um Verkündigung des Evangeliums und nicht zuerst um Gemeindewachstum, sondern um die anfängliche, erste Hinführung zum Reich Gottes. Wenn wir den biblischen Bezug von εὐαγγελίζεσθαι als Ankündigung der Herrschaft Gottes ernst nehmen, dann hat das ja durchaus seine Logik: Wenn εὐαγγελίζεσθαι biblisch eine Verbindung zum Kommen der Gottesherrschaft hat, dann muss das sich auch im Verständnis von Evangelisation niederschlagen.

13 Abraham 1989, 13.

116

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

7.3 Gottesherrschaft und Gemeindeaufbau 1. In der Überschrift dieses Kapitels kommt der Begriff „Gemeindeaufbau“ vor. In den bisherigen Ausführungen war davon noch kaum die Rede. Wenn überhaupt, dann war es eine Nebenrolle im Hintergrund. Nun weckt aber der Titel die Erwartung, dass ein Bogen zu diesem Thema kommt. Durchaus möglich, dass dabei auch der eine oder andere kritische Blick nach Riesi geht. Der Respekt für das, was dort geschah, schließt ein theologisches Nach-Fragen nicht aus. Damit wird das, was in Riesi geschehen ist, nicht abgewertet. Aber unsere Aufgabe ist nicht die Imitation, sondern das Lernen von Vorbildern. Und dazu taugt Riesi allemal. Einige Fragen werden als Ausgangspunkt für die weiteren Ausführungen dienen: a) Bleibt die Spannung zwischen der Gegenwart und Zukunft des Reiches Gottes erhalten? Bisweilen entsteht der Eindruck, dass der Akzent auf der Gegenwart des Reiches Gottes so dominant wird, dass die Frage nach seiner Zukunft dahinter zurücktritt. Das ist auch in Riesi nicht anders. Wenn dort vom „neuen Riesi“ die Rede ist, dann geht es offensichtlich um das, was gegenwärtig erfahrbar werden soll: „Das neue Riesi wird durch euch entstehen […] Hier entsteht etwas sehr Schönes. Im Lande der Mafia beginnt man zu dienen und zu lieben“14. Damit wird die Gegenwart zur Zeit der Erfüllung. Wird ihre Vorläufigkeit noch hinreichend gesehen – oder ist das „Reich Gottes“ primär eine präsentische und kaum noch eine futurische Größe? b) Welche Rolle spielt der Glaube des Einzelnen? Bei der Verkündigung Jesu gehört diese Dimension grundlegend dazu, direkt auf die Ankündigung der Gottesherrschaft folgt die Aufforderung: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). c) Welche Rolle kommt dem Gemeindeaufbau beim Thema „Gottes Reich“ zu? Man kann auch umgekehrt fragen: Welche Bedeutung hat das „Reich Gottes“ für den Gemeindeaufbau? 2. Damit wird es Zeit, das Verhältnis von Gottesherrschaft und Gemeindeaufbau näher zu beleuchten. Nach dem bisher Dargestellten kann gefragt werden: Müssen wir uns zwischen zwei Programmen entscheiden: Entweder wir setzen und für das Kommen des „Reiches Gottes“ ein – oder wir betreiben Gemeindeaufbau? Manchmal hat man in der Evangelischen Kirche den Ein-

14 Vinay 1965, 173.

7. Gottes Reich in Riesi

117

druck, das sei tatsächlich so: Die einen setzten sich für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung ein und sehen das als Einsatz für das „Reich Gottes“ und den verheißenen Schalom. Die anderen halten das für zweitrangig, sie sehen den zentralen Auftrag der Kirche im Aufbau lebendiger Gemeinden, sie feiern Gottesdienste und laden zu Kursen zum Glauben und evangelistischen Veranstaltungen ein. Ein erster Kontrast dazu ist eine Erfahrung aus England. Wir haben dort bei einer Reise vor einigen Jahren mehrere Gemeinden besucht, und als die jeweiligen Pfarrer ihre theologischen Grundlagen ihres ebenso diakonischen wie evangelistischen Engagements vorstellten, war häufig von einer „theology of the kingdom“ die Rede. Ich nehme das als ersten Hinweis darauf, dass „Reich Gottes“ und Kirche nicht notwendig alternativ zu sehen sind, sondern ein Zusammenhang zwischen beiden bestehen kann.

7.3.1 Zum Verhältnis von „Gemeinde“ und „Reich Gottes“ Zunächst dürfen in der Tat „Kirche“ und „Reich Gottes“ nicht gleichgesetzt werden. Das würde bedeuten, dass die Ausbreitung der Herrschaft der Kirche identisch wäre mit der Ausbreitung des „Reiches Gottes“, wie das die römischkatholische Kirche lange Zeit meinte. „Kirche“ und „Reich Gottes“ müssen unterschieden werden. Aber es gibt einen präzise zu benennenden Zusammenhang: Das Reich Gottes ist biblisch nicht zu denken ohne das Volk Gottes. Dazu kann nochmals auf Markus 1,14f verwiesen werden. Jesus verkündet: „Die Herrschaft Gottes ist nahe herbeigekommen. Kehrt um und glaubt dem Evangelium!“. Wie beginnt die Umsetzung? Damit, dass er Jünger beruft und so das Gottesvolk der Endzeit sammelt (Markus 1,16–20). An anderer Stelle redet Jesus von der „kleinen Herde“, die das Reich seines Vaters empfangen soll (Lk 12,32). Damit wird ein Begriff auf die Jünger übertragen, „der als Bezeichnung für das Gottesvolk Israel geläufig war“15. Zum alttestamentlichen Hintergrund für diesen Zusammenhang gehört die große Vision in Daniel 7. Das Volk der Heiligen des Höchsten, Gottes Volk, empfängt dort die Herrschaft: „Aber das Reich und die Macht und die Gewalt über die Königreiche unter dem ganzen Himmel wird dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden, dessen Reich ewig ist, und alle Mächte werden ihm dienen und gehorchen.“ (Dan 7,27) Der Zusammenhang von Gottes Reich und Gottes Volk kann weitergeführt werden: Die Gemeinde ist der Ort der Gegenwart der Gottesherrschaft. Wo

15 Wolter 2008, 457.

118

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

Gottes Name geheiligt wird, wo Gottes Wille geschieht, da ist Gottes Herrschaft gegenwärtig. Die Gottesherrschaft gewinnt dort sichtbar Gestalt, wo Menschen sich die heilvolle Herrschaft Christi stellen und ihm Glauben schenken – in gleicher Weise wie dort, wo sein Volk gesammelt, seine Gemeinde erbaut wird.

7.3.2 „Die Kirche ist kein Selbstzweck“16 Gemeinde hat einen Bezug zur Herrschaft Gottes. Sie wird damit relativiert, in Beziehung gesetzt zu einem größeren Ganzen. Das ist auch gemeint mit dem immer wieder zu hörenden Slogan „Die Kirche ist kein Selbstzweck“. Nicht die Kirche, nicht die Gemeinde, sondern Gottes Reich ist das Ziel der Wege Gottes. An dieser Stelle müssen wir theologisch ausholen: Hier kommt eine Bewegung ins Spiel, die die ganze Weltgeschichte umspannt. Es ist die Dynamik der Zuwendung Gottes zu dieser Welt, der „missio Dei“ (Sendung Gottes). Es ist die Bewegung, die hinführt zur βασιλεία τοῦ θεοῦ. Wenn wir von der missio Dei ausgehen, dann können wir die Stellung und Aufgabe der Kirche klar erfassen: „It is not the Church of God that has a mission in the world, but the God of mission who has a Church in the word.“17 – „Wer Kirche als Ausgangspunkt nimmt und mit ihr startet, dem wird wahrscheinlich die Mission verloren gehen. Wer mit der Mission startet, wird vermutlich die Kirche finden“  18. Die Wurzeln dieser Gedanken liegen in der erwähnten ökumenischen Diskussion um die Struktur missionarischer Gemeinden in den 1960er Jahren, später unter anderen rezipiert in der anglikanischen Diskussion zur „mission-shaped church“ und zu „fresh expressions of church“. Mission wird nicht von der Kirche abgeleitet, sondern in Gott selbst verankert. Die Kirche hat Anteil an der missio Dei. Sie ist kein Selbstzweck, sondern daran zu messen, ob sie der Sendung Gottes in die Welt dienstbar ist. Nicht die Kirche, sondern die Gottesherrschaft ist das Ziel der Wege Gottes. Die Kirche hat im Hinblick auf die Missio Dei und damit im Hinblick auf die Gottesherrschaft eine Aufgabe und Funktion. Damit gibt es zugleich ein Kriterium, an den vorhandene Kirchen zu messen sind. Die Kritik kann entsprechend hart ausfallen. Deshalb: Fang nicht bei der Kirche an, bei Kirchentümern mit alter und ehrwürdiger Tradition. Dann landest du allenfalls bei der Frage, wie diese Institution heute noch relevant für die Menschen werden kann. Fang bei Gott an.

16 Exemplarisch für viele vergleichbare Äußerungen: Kirchenamt der EKD (Hg.) 2000, 17. 17 Mission-Shaped Church 2004, 85 (dt.: Herbst [Hg.] 2006, 162). 18 Herbst (Hg.) 2006, 211 (englisch: Mission-Shaped Church 2004, 116).

7. Gottes Reich in Riesi

119

Bei seiner liebevollen Zuwendung zu seiner Welt und seinen Menschen. Fang mit der Mission an. Gemeindepflanzung und Gemeindeaufbau sollten deshalb nicht „church centered“ sein. „Sie sollten vielmehr „Ausdruck der Mission Gottes“ sein19. Ich fasse zusammen: „Dein Reich komme!“ ist der Horizont, in dem Gemeindeaufbau geschieht. Weil es um das Kommen des „Reiches Gottes“ geht, ist Gemeindeaufbau angesagt. Einmal deshalb, weil zum Reich Gottes immer das Volk Gottes gehört. Zum anderen deshalb, weil Kirche den Auftrag hat, „Ausdruck der Mission Gottes“ zu sein.

7.3.3 „Die Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie für andere da ist“ – Zu einer funktionalen Ekklesiologie 1. „Die Kirche ist kein Selbstzweck“. Kirche wurde eingeordnet in die Sendung Gottes. Sie steht nicht für sich selbst, sondern ist einer anderen Größe zugeordnet. Man kann von einer „funktionalen Ekklesiologie“ reden. Ausgangspunkt war dabei häufig ein Zitat von Dietrich Bonhoeffer: „Die Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie für andere da ist“20. Der Slogan „Kirche für andere“ bildet eine Brücke der Diskussion der 1960er Jahren bis hin zur Anglikanischen Diskussion („mission-shaped church“), ja noch weiter bis zur Willow Creek Community Church in Chicago. Es ist kein Zufall, dass der Satz von Bonhoeffer im Kontext von Willow Creek immer wieder zu hören ist21, geht es doch darum, programmatisch „Kirche für Distanzierte“ zu sein und mit den „seeker services“ Gottesdienste anzubieten, die auf die ausgerichtet sind, die noch nicht zur Gemeinde gehören. Nicht nur Riesi, auch Willow Creek versteht sich als „Kirche für andere“ – wenn auch auf jeweils andere Weise. 2. Wenn es um Fragen der Gemeindepraxis und um die Gestalt der Gemeinde geht, sind funktionale Fragestellungen berechtigt, ja notwendig: Gemeinde ist daran zu messen, ob sie dem Auftrag der Kirche dient. Die Gestalt der Gemeinde ist damit weder sakrosankt noch beliebig, sondern „funktionalen“ Kriterien zu unterwerfen. Wo Kirche funktional auf das „Reich Gottes“ hingeordnet wird, wird sie als das Instrument und Werkzeug gesehen, dessen sich Gott bedient, um seine Herrschaft zu realisieren. Hier ist jedoch zu ergänzen, dass Gott seine Herr-

19 Herbst (Hg.) 2006, 162 (Mission-Shaped Church 2004, 85). 20 Bonhoeffer 1998, 560. 21 Exemplarisch: Scheunemann 1995, 9.15.86 u. ö.

120

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

schaft nicht nur durch die Kirche verwirklicht, sondern auch in der Kirche. Kirche ist nicht nur Werkzeug der Gottesherrschaft, sondern auch der Ort der Gegenwart der Gottesherrschaft. Kirche ist damit nicht nur „Funktion“, sondern auch ein „Zweck“ und besitzt insofern einen Eigenwert, auch wenn sie sich nicht mit der endgültigen Gestalt des „Reiches Gottes“ verwechseln darf. Das heißt aber auch, dass Gemeinde nicht ausschließlich als Werkzeug bzw. und Funktion von etwas außerhalb ihrer selbst Liegendem gesehen werden. Damit ist aber auch schon eine Grenze funktionaler Ekklesiologie markiert. „Gemeinde“ hat einen „relativen Eigen-Wert“22, einen „Selbstzweck“. Dieser Eigenwert entspricht der Gemeinde als gegenwärtiger Ort der Gottesherrschaft. Eine Grenze funktionalen Denkens markiert auch die Doxologie: Wo die Gemeinde in ihrem Sein wie in ihrem Tun Gott lobt, muss sie nicht mehr funktionalen Kriterien genügen. Sie lobt Gott schon allein durch den Reichtum, den er in sie hineingelegt hat. Es ist ähnlich wie in der Schöpfung: Schon durch ihr bloßes Dasein verherrlichen die Geschöpfe ihren Schöpfer. Das geschieht auch und gerade durch den Überfluss, der in der Schöpfung liegt, durch alles, was sich nicht funktional bemessen lässt, ja funktional gesehen überflüssig sein kann. So lobt auch die Kirche als creatura verbi, als zur Neuschöpfung gehörendes Geschöpf Gottes, ihren Schöpfer. Der „Eigenwert“ der Gemeinde über ihre Zwecke und Funktionen hinaus zeigt sich auch in biblischen Metaphern, etwa am Bild der Gemeinde als „Braut Christi“ (Eph 5,25ff; Offb 21 u. ö.). Weil sie von Christus erwählt und geliebt ist, ist die Gemeinde wertvoll. An ihr will er sich verherrlichen, sie hat er ausgesondert und geheiligt, vor allen Leistungen und „Funktionen“ ist sie dazu berufen, sein Eigentum zu sein. 3. Ich fasse zusammen: Gemeindeaufbau steht in der Spannung zwischen Funktionalität und Selbstzwecklichkeit der Kirche. „Die Kirche ist kein Selbstzweck“ – sie ist Teil der missio Dei und hingeordnet auf das Kommen des „Reiches Gottes“. Darin besteht ihre „Funktionalität“. Kirche hat zugleich eine „Selbstzwecklichkeit“: Als Ziel des göttlichen Heilswirkens, als Ort der Gegenwart der Herrschaft Gottes, als Braut Christi hat sie einen Eigenwert vor ihren Funktionen und über sie hinaus.

22 Kühn 1980, 156 f.

7. Gottes Reich in Riesi

121

7.4 Zeichen des „Reiches Gottes“23 7.4.1 Zum Verhältnis von Diakonie, Mission und Evangelisation 1. Die Kirche ist Werkzeug der Mission Gottes. Sie hat einen Auftrag in dieser Welt. Was aber ist ihr Auftrag? Anders gefragt: Wie dient die Kirche, die Gemeinde Jesu dem Kommen des „Reiches Gottes“? Ist es mit dem, was in Riesi geschah, hinreichend beschrieben? Die Diskussion führt rasch zu den Themen Gemeindeaufbau, Mission, Evangelisation und Diakonie bis hin zu gesellschaftsdiakonischem und politischem Handeln. Dazu gehört auch die breite Diskussion zum Verhältnis von Evangelisation und sozialem Engagement. Man kann ansetzen beim Menschenbild und der Frage: Welche Hilfe braucht der Mensch? Hat er nur „material needs“ oder nicht auch „spiritual needs“? Andere reden von einer „ganzheitlichen“ Mission (holistic Mission): Zum Menschsein gehört der Körper ebenso wie Seele und Geist, die Gottesbeziehung ebenso wie das Leben in dieser Welt und mit anderen Menschen. Gerne wird hier auf das Vorbild Jesu verwiesen, der alle diese Dimensionen des Menschseins berücksichtigt habe. Wieder andere verweisen auf die Sozialkritik der alttestamentlichen Propheten. 2. Ich bin der Überzeugung, dass die Frage nach dem Verhältnis von Diakonie und Mission durch die Zuordnung beider Dimensionen des Auftrags der Kirche zur βασιλεία τοῦ θεοῦ vertieft werden kann. Schon bei den Wundern Jesu geht es um mehr als um einen „ganzheitlichen“ Ansatz. Die Wunder Jesu sind im Neuen Testament Zeichen für den Anbruch der Gottesherrschaft. Das lässt die Antwort Jesu an den Täufer Johannes klar erkennen: „Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt.“ (Mt 11,4b-5) Es handelt sich hier nicht nur um eine Auflistung von Wundern, sondern um eine Kombination alttestamentlicher Prophetenworte. Im Kontext ist klar: Es geht um die Königsherrschaft Gottes, sie bricht im Wirken Jesu an. Die Wunder sind Zeichen, die über sich hinaus weisen. So kann soziales und diakonisches Handeln zum Zeichen der Gegenwart des „Reiches Gottes“ werden. Zum Zeichen, in denen einerseits erfahrbar wird, was die gute Herrschaft Gottes kennzeichnet: Menschen werden heil an Leib und Seele, Beziehungen

23 S. dazu u. Kap. 8.4.3 mit einem ergänzenden Gedankengang.

122

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

zwischen Gott und Mensch und zwischen Menschen untereinander werden heil, Arme erfahren Zuwendung und hören das Evangelium, Unterdrückung und Gewalt werden beendet. Bei einem Zeichen ist wesentlich, dass es in seinem Zeichencharakter wahrgenommen wird. Das könnte ein hilfreiches Kriterium auch in der gegenwärtigen Diskussion sein. Dann würde es nicht nur um die Fragen gehen: Wieviel soziale Aktion, wie viel Gesellschaftstransformation darf oder muss sein? Sondern: Wie kann das, was wir im Auftrag Jesu tun, zum Zeichen für den Anbruch seiner Herrschaft werden und als solches wahrgenommen werden? Das ist die eine Seite. Die Zeichen weisen voraus, sie sind „Vorzeichen“ für das was kommen wird. Sie sind noch nicht die endgültige Gestalt des Reiches Gottes, sondern ein „Vorgeschmack“ dafür.

7.4.2 „Vorgeschmack“ der Zukunft Gottes Mit dem Stichwort „Vorgeschmack“ wird eine auf Lesslie Newbigin zurückgehende Trias vervollständigt24: Die Kirche als „Zeichen, Werkzeug und Vorgeschmack von Gottes erlösender Gnade“25. Werkzeug bedeutet: Die Kirche ist Werkzeug der Sendung, der Mission Gottes, m. a. W.: „Die Kirche ist kein Selbstzweck“. Als Zeichen weist die Kirche über sich hinaus. Gemeinde ist nicht die endgültige Gestalt des „Reiches Gottes“. Was wir hier erleben, ist immer vorläufig und fragmentarisch. Das ist entlastend und schmerzlich zugleich. Entlastend, weil nicht unser Tun das Reich Gottes herbeiführt. Schmerzlich, weil eben keine Gemeinde das „Reich Gottes“ auf Erden darstellt, sondern immer auch durch menschliche Unvollkommenheit und Schuld geprägt ist. Die Kirche weist aber nicht nur über sie hinaus, als Ort der Gegenwart Gottes ist sie Vorgeschmack des Reiches Gottes. Der Gemeindeaufbau hat den Auftrag und die Verheißung, dazu beizutragen, dass hier auf Erden schon etwas von dem sichtbar und erfahrbar wird, was Gottes Herrschaft ausmacht. Von Gottes Vollendung her haben unsere bruchstückhaften Bemühungen Sinn, von seiner Zusage her können unsere Gemeinden zu Vor-Orten für das kommende Reich Gottes werden26.

24 S. Herbst (Hg.) 2006, 179 (Kirche als Vorgeschmack – Zeichen – Werkzeug des Reiches Gottes). 25 Newbigin 2017, 269; zu dieser Trias bei Newbigin s. Reppenhagen 2011, 140 f. – Als Beispiel für eine Rezeption dieser Trias s. Herbst (Hg.) 2006, 179. 26 Zum Bild des „Vor-Ortes“ s. Bohren 1969, 141.

8. Gemeinde, Mission und Transformation

123

7.4.3 Drei Dimensionen Am Ende blicken wir zurück auf Riesi. Keine Frage, der Gedanke des Reiches Gottes war dort präsent, und fraglos wurde auch etwas von dem erfahrbar, was Gottes Reich kennzeichnet. Freilich steht die Gegenwart des Reiches Gottes so im Vordergrund, dass ihre über das irdisch Erreichbare hinausgehende Zukunft zu verschwinden droht. In den Hintergrund traten auch zwei andere Größen, die sich in der theologischen Reflexion als grundlegend erwiesen haben: Die Gemeinde als Volk Gottes und der Einzelne, der zur Umkehr und in die Nachfolge gerufen wird. Am Ende sollen aber nicht Ratschläge für Riesi stehen, sondern der Hinweis auf drei fundamentale Dimensionen, die grundlegend zum Zusammenhang von Gottesherrschaft und Gemeindeaufbau gehören und einander zugeordnet sind: • Das Reich Gottes, die βασιλεία τοῦ θεοῦ als das Ziel, das über allem steht. • Das Volk Gottes, die Gemeinde und damit die Aufgabe des Gemeindeaufbaus. • Der Einzelne, der durch den Glauben Anteil an der Gottesherrschaft hat und Teil des Volkes Gottes ist. Diese drei Dimensionen sind nicht alternativ, sondern einander ergänzend zu sehen. Auch wenn Akzentsetzungen denkbar sind, ist beim Gemeindeaufbau, in der Diakonie und bei der Evangelisation darauf zu achten, dass alle drei Dimensionen angemessen vorkommen. Wo eine davon dauerhaft in den Hintergrund tritt, entsteht eine Schieflage.

8. Gemeinde, Mission und Transformation. Impulse von und Anfragen an die Transformationstheologie27 8.1 Eine weltweite Diskussion „Transformation“ ist ein Begriff, der in ganz unterschiedlichen Kontexten verwendet wird28. Für die theologische Diskussion wichtig sind insbesondere der politische und theologische Diskurs, dabei ist eine spezifisch theologische Ver27 Überarbeitete Fassung der Antrittsvorlesung an der Evangelischen Hochschule TABOR (Marburg) am 19.04.2018 (gekürzte Publikation: Zimmermann 2018a). 28 Einen Überblick dazu gibt der Wikipedia-Artikel (Transformation, wikipedia.org). Außerdem gibt es 123 Artikel, die „Transformation“ im Titel enthalten (Wikipedia, transformation Spezial-Suche, wikipedia.org). Kein einziger davon hat freilich einen Bezug zur Theologie.

124

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

wendung noch vergleichsweise neu – so neu jedenfalls, dass sie noch nicht in den gängigen theologischen Fachlexika zu finden ist29. Nach einem exemplarischen Überblick über die Verwendung von „Transformation“ als theologischem, teilweise auch als politischem Begriff (8.1) werden Überlegungen zum Begriff und seiner Verwendung angestellt (8.2). Es folgen Erörterungen zu Kontexten der „Transformationstheologie“ (8.3), weitergeführt in 8.4 zu „Gemeinde, Mission und Transformation“.

8.1.1 Transformation als politischer Begriff Bevor wir uns der spezifisch theologischen Verwendung von „Transformation“ zuwenden, sollen einige Beispiele Einblick in die politische Verwendung geben. Ȥ 2011 veröffentlichte der mit ausgewiesenen Fachleuten besetzte Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung – Globale Umweltveränderungen (WBGU) ein über 400seitiges Hauptgutachten unter dem Titel: „Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation“30. Darin geht es um Themen wie Werte im Wandel; Gestaltung und Akteure der Transformation u. v. a. m. An anderer Stelle wird nach Religion und Spiritualität als „Ressourcen für die große Transformation“31 gefragt. Ȥ Der „Transformationskongress“ 2012 in Berlin32 wurde veranstaltet vom DGB und dem Deutschen Naturschutzring, aber auch von der Kirche nahestehenden Organisationen wie Brot für die Welt. Themen waren Wirtschaft, Demokratie, Umwelt, Ernährung, Mobilität, Nachhaltigkeit u. v. a. m. Ȥ Die Bertelsmann-Stiftung erstellt jährlich einen „Transformations-Index“33. Es geht dabei um den Wandel von politisch autoritären Systemen und staatlich dirigierter Wirtschaft hin zu Demokratie und Marktwirtschaft. Der Index erstellt dazu eine Rangfolge der Staaten34. Ȥ 2017 erschien posthum „Die Metamorphose der Welt“ des Anfang 2015 verstorbenen Soziologen Ulrich Beck. Metamorphose, so Beck, impliziere eine weitaus radikalere Veränderung als Konzepte des Wandels wie „Evolution, Revolution und ­Transformation“35.

29 30 31 32 33 34

Ein erster Überblick: Botha 2016. WBGU, wbgu.de. Religion und Spiritualität 2016. Transformationskongress, transformationskongress.de. BTI, bti-project.org. „Wir verstehen Transformation als einen umfassenden und politisch gestalteten Wandel, der aus autoritären Systemen und staatlich dominierten oder klientelistischen Wirtschaftsordnungen heraus in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft erfolgt.“ Das impliziere jedoch keine lineare oder unumkehrbare Entwicklung: „Autoritäre Rückfälle und Stagnationsphasen sind ebenso möglich wie Umwege und Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung“ (Transformationsindex 2018: BTI, bti-project.org). 35 Beck 2017, 15.

8. Gemeinde, Mission und Transformation

125

Man könnte das für eine Wortspielerei halten, weil „Metamorphose“ das griechische Äquivalent für das lateinische „Transformation“ ist, aber offensichtlich wirkt „Metamorphose“ im Deutschen kräftiger. Vor allem aber stellt uns Beck schon am Beginn unserer Weltreise vor die Tatsache, dass sich auch der Begriff der Transformation abnutzen kann.

8.1.2 Transformation als theologischer Begriff Die früheste theologische Verwendung von „Transformation“, die ich ausfindig machen konnte, führt in die evangelikale Missionstheologie, genauer zu einer Konsultation der „Lausanner Bewegung“ 1983 in Wheaton unter dem Thema: „Transformation: The Church in Response to Human Need“36. Inhaltlich ging es darum, die bereits beim Kongress in Lausanne 1974 aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Evangelisation und sozialem bzw. politischem Handeln weiterzuführen37: Welchen Auftrag hat die Kirche menschlichen Nöten gegenüber und wie verhält sich das zum Auftrag der Evangelisation? „Transformation“ ersetzt den Begriff der Entwicklung und wird dadurch als theologischer Begriff profiliert38, dass ein klarer Akzent auf Veränderungen durch Gott liegt. „Transformation“ bezeichnet die Schaffung der „neuen Kreatur“ und reicht über den Einzelnen hinaus zur Verwandlung der Umstände und Gemeinschaften39. Der Begriff dient so dazu, Evangelisation und sozialdiakonisches Handeln miteinander zu verbinden. Im Zentrum des Transformationsverständnisses von Wheaton steht Art. 11: „According to the biblical view of human life, then, transformation is the change from a condition of human existence contrary to God’s purpose to one in which people are able to enjoy fullness of life in harmony with God (John 10:10; Col. 3:8–15; Eph. 4:13). This transformation can only take place through the obedience of individuals and communities to the Gospel of Jesus Christ, whose power changes the lives of men and women by releasing them from the guilt, power, and consequences of sin, enabling them to respond with love toward God and toward others (Rom. 5:5), and making them ‚new creatures in Christ‘ (2 Cor. 5:17)“. Eine Weiterführung der Diskussion der internationalen Lausanner Bewegung fand 2004 in Pattaya (Thailand) statt unter dem Titel: „A New Vision, a New Heart, a ­Renewed Call“  40.

36 Lausanne – transformation, lausanne.org. 37 S. dazu Berneburg 1997, 177–199; im Hintergrund stehen Art. 5 der Lausanner Erklärung und die sog. „radikalen Evangelikalen“. 38 „The Church in Response to human need“, Art. 8 (Lausanne – transformation, lausanne.org.) 39 „The Church in Response to human need“, Art. 11 (Lausanne – transformation, lausanne.org.). 40 Lausanne – holistic mission, lausanne.org.

126

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

Insbesondere bei den sog. „radikalen Evangelikalen“ wird in der Folge programmatisch „Mission als Transformation“ gefordert, konkret der Einsatz für Arme und unterprivilegierte, der Kampf gegen Gewalt und Ungerechtigkeit. Es geht um „holistische“, ganzheitliche Mission41. Einen anderen Akzent hat die neocalvinistische Transformationsdiskussion in den USA. Dort steht der Einsatz für die kulturelle Präsenz der Christen in der Gesellschaft im Vordergrund. Transformation wird auf das kulturelle Engagement bezogen. In politischer Hinsicht sind die Vertreter eher linksliberal, aber – das müssen sie eingestehen – die „Christliche Rechte“ in den USA schöpft aus denselben Quellen, ihr geht es mit einer ganz anderen politischen Ausrichtung auch um den kulturellen Einfluss auf die Gesellschaft42.

8.1.3 Die ökumenische Diskussion 1. Der 1992 verstorbene südafrikanische Missionswissenschaftler David Bosch hat mit „Transforming Mission“ (1991) eines der Standardwerke der neueren Missionstheologie verfasst. Der Titel ist bewusst doppeldeutig: Es geht auf der einen Seite um die „Transformationen“, um die Wandlungen der Gestalt von Mission in ihrer Geschichte. „Mission im Wandel“ ist entsprechend der deutsche Titel. Zugleich bezieht sich „transforming Mission“ auf die durch die Mission bewirkten Veränderungen: Es ist Ziel und Absicht der Mission, die sie umgebende Welt zu „transformieren“43. Von David Bosch aus44 setzt dann neben der evangelikalen auch in der ökumenischen Bewegung eine Transformations-Diskussion ein. Das Thema wird dann im ÖRK bis hin zur Konferenz des Weltmissionsrates im März 2018 in Arusha (Tansania) weitergeführt. Der Konferenztitel „Moving in The Spirit. Called to Transforming Discipleship“45 enthält wieder eine bewusste Doppeldeutigkeit: Es geht darum, dass die Formen der Jüngerschaft bzw. Nachfolge sich wandeln – und zugleich um die Veränderungen, die „Verwandlungen“, die durch Menschen in der Nachfolge Christi bewirkt werden.

41 Einen guten Einblick in die Diskussion geben die bei Samuel & Sugden 1999 gesammelten Artikel. – In das Umfeld dieser Diskussion gehören auch Vertreter der sog. „missional church“ und „emerging church“. 42 S. dazu die kompakte, informative und zugleich kritische Darstellung bei Keller 2017, 181–191. 43 Bosch 2004, XV (dt.: Bosch 2012); s. dazu Botha 2016, 286–287. 44 Da David Bosch in Wheaton 1983 dabei war (Berneburg 1997, 185), legt sich eine Verbindung zum evangelikalen Missionsdiskurs nahe. 45 https://www.oikoumene.org/en/mission2018.

8. Gemeinde, Mission und Transformation

127

Beim Lutherischen Weltbund wird 2004 betont, dass politische Transformationsprozesse nicht verwechselt werden dürften mit der Transformation, die vorrangig Gottes Werk sei: Politische Transformation „should not be confused with transformation, which from the perspective of the mission of the church is primarily God’s work in the midst of creation“ (das das engl. transformation wird in der deutschen Ausgabe – noch – mit „Verwandlung“ übersetzt). – Neben solchen „lutherischen“ Akzenten wechselt die Erklärung freilich rasch über zu den anstehenden politischen Aufgaben, denen sich die Kirche zuwenden soll46. In der ÖRK-Vollversammlung 2013 in Busan (Südkorea, Titel: „Together towards Life: Mission and Evangelism in Changing Landscapes“) ist weiter von „mission as transformation“ (Art. 6) die Rede: „The church is a gift of God to the world for its transformation towards the kingdom of God“ (Art. 10)47. Im Arusha Call to Transforming Discipleship (2018) werden theologische Grundlegungen mit politischen Konkretionen verbunden: „Discipleship is both a gift and a calling, to be active collaborators with God for the transforming of the world […] As disciples of Jesus Christ, both individually and collectively [es folgen 13 Sätze mit der Einleitung „We are called“]: We are called by our baptism to transforming discipleship […] We are called to worship the one Triune God, the God of justice, love, and grace at a time when many worship the false god of the market system. We are called to proclaim the good news of Jesus Christ – the fullness of life, the repentance and forgiveness of sin, and the promise of eternal life – in word and deed, in a violent world in which many are sacrificed to the idols of death and many have not yet heard the gospel“48.

Kritiker der ökumenischen Transformationstheologie bemängeln neben theologischen Anfragen vor allem die utopischen und unrealistischen Erwartungen, die mit einer Transformation verbunden werden49. 2. Einen anderen Akzent setzte Jürgen Moltmann 2010 in seiner „Ethik der Hoffnung“. Im Zentrum steht der Abschnitt „Transformative Ethik“ als Teil der „Transformativen Eschatologie“. Darin wird „Transformation“ zum zentralen Begriff einer „Ethik der Hoffnung“, die auf Gottes Neuschöpfung vorausblickt und menschliches Handeln heute damit verbindet:

46 47 48 49

Mission im Kontext 2005, 35. Together Towards Life, oikumene.org. The Arusha Call do Discipleship, oikumene.org. S. z. B. Siegemund 2017.

128

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

„Christen haben die große Wende aller Dinge in der Auferweckung des gekreuzigten Christus im Rücken und hoffen darum auf die eschatologische Weltenwende. Sie arbeiten an einer entsprechenden Umwertung der Werte dieser Welt, um der kommenden Welt Gottes gerecht zu werden“50. „Eine Ethik der Hoffnung sieht die Zukunft im Licht der Auferstehung Christi […] Sie leitet zum transformierenden Handeln an, um nach Möglichkeiten und Kräften die Neuschöpfung aller Dinge vorwegzunehmen, die Gott verheißen und Christus in Kraft gesetzt hat. Die Befreiung der Unterdrückten, die Aufrichtung der Erniedrigten, die Heilung der Kranken und die Gerechtigkeit der Armen sind ihre bekannten und praktikablen Stichworte“51.

8.1.4 Die Rezeption in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Der Transformationsdiskurs in der EKD lässt Bezüge sowohl zur politischen als auch zur ökumenischen Diskussion erkennen. 2012 hielt es die Synode der EKD „für notwendig, dass der Transformationsdiskurs durch die EKD auf geeignete Weise begleitet, koordiniert und zielgerichtet unterstützt wird“52. Eine 2015 vorgelegte „Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung“ plädiert für eine „sozial-ökologische Transformation“. Dabei gehe es nicht zuletzt „auch darum, die transformative Kraft einer Spiritualität zu entfalten, die über den Tag und über die Begrenztheit der menschlichen Perspektive hinausweist“53. Diese Äußerungen befassen sich vor allem mit der Rolle der Kirchen in den gesellschaftlichen Transformationsprozessen. „Transformation“ wird primär politisch verstanden mit einer Offenheit hin zu theologischen Akzenten. Der damalige badische Landesbischof Ulrich Fischer formuliert es am Ende seines Bischofsberichts 2013 so: „Zielpunkt muss es sein, eine Transformation hin zu einer Konsum-, Produktions- und Lebensweise zu erreichen, der alle Menschen auf der Welt folgen können, ohne die Erde nachhaltig zu schädigen. Wir brauchen eine Transformation hin zu einer Ethik des Genug und zu einer Politik der Suffizienz. In diesen Transformationsprozess haben wir als Kirche viel einzubringen“54. Am Ende schließt

50 51 52 53 54

Moltmann 2010, 58. Moltmann 2010, 60. Evangelische Kirche in Deutschland 2012. Kirchenamt der EKD (Hg.) 2015, 96. Fischer, Ulrich 2013, Schluss: „Die Vision einer transformierten Welt“ (S. 14–15).

8. Gemeinde, Mission und Transformation

129

er mit dem Hinweis auf den „eschatologischen Vorbehalt“: „Wir haben hier keine bleibende Stadt“ (Hebr. 13,14). Ein weiteres Beispiel ist die International Twin Consultation Brazil 2015 – Germany 2016 („reformation – education – transformation“, daher das Kürzel R-E-T). Beteiligt waren neben brasilianischen Partnern aus Deutschland Brot für die Welt, emw, Franckesche Anstalten; die Konsultation fand in Verbindung mit ÖRK, LBW, Ref. Weltbund, EKD statt55.

8.1.5 Die deutschsprachige evangelikale Diskussion 1. Roland Hardmeier, Pastor einer Freien Evangelischen Gemeinde in der Schweiz, steht theologisch in der Tradition der „radikalen Evangelikalen“ und setzt sich für ein „ganzheitliches Missionsverständnis“ ein. „Mission als Transformation wird von der Vision der Umwandlung der Welt in einen Ort des Friedens und der Gerechtigkeit angetrieben“ – Ziel ist die „Ausbreitung der Herrschaft Gottes über die ganze Erde und jeden Lebensbereich […] Es ist die Vision von der Wiederherstellung aller Dinge, welche Mission als Transformation antreibt“56. Rettung einzelner Menschen durch den Glauben an Christus ist ein sehr wichtiger Aspekt der Mission, aber nicht der einzige57. „Die soziale Verantwortung einschließlich der Transformation der Strukturen, die das Zusammenleben der Menschen regeln, ist ein integrativer Bestandteil der Mission selbst. Sie steht als gleichberechtigter Partner neben der Evangelisation“58. Das alles sei „keine Verwässerung des Evangeliums, sondern ein Schritt hin zu einem ganzheitlichen biblisch verankerten Missionsverständnis“59. 2. Von Hardmeier geht es weiter zur Marburger „Transformationstheologie“. Die lokale Zuordnung ist insofern berechtigt, als in Marburg wichtige Angebote und Publikationen ihren Sitz haben. Es geht um Tobias Faix, Johannes Reimer und Volker Brecht, um die im Francke-Verlag publizierten „Transformationsstudien“ mit Titeln wie „Die Welt umarmen“, „Die Welt verändern“60. Das Marburger Bildungs- und Studienzentrum (MBS) bietet „Gemeindetransformation“ an, und ein ursprünglich auch am MBS beheimateter Studiengang wird inzwischen an der CVJM-Hochschule Kassel unter dem Titel „Transformationsstudien:

55 N.N., r-e-t.net. 56 Hardmeier 2009, 89. 57 S. Hardmeier 2009, 89. 58 Hardmeier 2009, 98. 59 Ebd. 60 Reimer 2009; Faix/Reimer/Brecht (Hg.), 2009.

130

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

Öffentliche Theologie und Soziale Arbeit“61 angeboten. Dieser Studiengang soll dazu befähigen, gesellschaftlichen Wandel zu analysieren, zu verstehen und zu gestalten; dabei wird ein klar politischer Transformationsbegriff verwendet. Allerdings sind bei den „Marburgern“ (einschließlich Johannes Reimer) auch Unklarheiten zu finden: Auf Nachfrage sagen Tobias Faix und Johannes Reimer, „Transformation“ sei für sie in erster Linie ein politischer Begriff62. Auf der anderen Seite wird immer wieder auf die weltweite evangelikale Diskussion und auf Römer 12,2 als biblische Grundlage der Transformationstheologie verwiesen. Breite Ausführungen befassen sich mit der „Reich-Gottes-Theologie“ und versuchen, eine deutlich präsentisch akzentuierte Eschatologie zu etablieren. Insgesamt jedoch dominiert die politische Verwendung. Das zeigt auch die semantische Verwendung von „Transformation“. Es finden sich Wortfelder wie: Transformation der Menschen – der Beziehungen – des Kontextes – der Gesellschaft – mit einem deutlichen Übergewicht des letzteren, vor allem mit dem Begriff der „Gesellschaftstransformation“63. Dieser Begriff wird weniger deskriptiv, sondern stärker programmatisch verwendet: Bei „Gesellschaftstransformation“ geht es darum, konkrete Veränderungen in Gang zu setzen. 3. Die evangelikale Transformationstheologie ist nicht unumstritten. Während der Begriff der „Transformation“ in der evangelikalen Diskussion dazu dient, die „Verwandlung“ von Menschen und von Strukturen und damit Evangelisation und soziales Handeln auch terminologisch miteinander zu verbinden, geht es den Kritikern darum, beides zwar nicht zu trennen, aber doch zu unterscheiden64 und in der Regel die Priorität der Evangelisation zu betonen. Zu den prominenten Kritikern zählt der emeritierte Tübinger Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus. Der sog. „Tübinger Pfingstaufruf “ stellte 2013 die Frage „Weltevangelisation oder Weltveränderung?“ und übte heftige Kritik an der Transformationstheologie65. Im selben Jahr fand die die Tagung des „Arbeitskreises für evangelikale Missiologie“ unter dem Thema „Evangelisation und Transformation. ‚Zwei

61 62 63 64

cvjm-hochschule, cvjm-hochschule.de. In: Fragen aus dem Plenum, in: Badenberg/Knödler (Anm. 187), 57.150 f. S. z. B. bei Müller 2012; vgl. Reimer 2009, 377 s. v. Transformation. „Allerdings entfällt mit dem Transformationsbegriff die biblisch notwendige Unterscheidung zwischen der Bekehrung eines Menschen zu Gott und den doch den bekehrten Menschen bewirkten Veränderungen in der Welt“ (Berneburg 1997, 198). – Berneburg äußert die Vermutung, es sei „nicht zu erwarten, dass sich der Transformationsbegriff allgemein in der evangelikalen Missionstheologie durchsetzen wird“ (ebd.). 65 Internationale Konferenz Bekennender Gemeinschaften, ikgb.net.

8. Gemeinde, Mission und Transformation

131

Münzen oder eine Münze mit zwei Seiten?‘“ statt66. Kontrahenten wie Ulrich Parzany und Volker Gäckle auf der einen, Tobias Faix und Johannes Reimer auf der anderen Seite sorgten für eine echte Kontroverse. Weniger kontrovers ging es in der Ringvorlesung „Mission und Transformation“ 2015 an der STH Basel zu, hier kamen ausschließlich Kritiker zu Wort67.

8.2 „Transformation“ – Zum Begriff und seiner Verwendung 1. Der Begriff „Transformation“ wird als „selbst-verständlich“ vorausgesetzt. Nur selten sind Erläuterungen oder so etwas wie Definitionen zu finden. Was führt dazu, dass gerade der Begriff der Transformation eine derart steile kirchlich-theologische Karriere hinlegt? Der Hinweis, dass „Transformation“ den Entwicklungsbegriff ersetzt, führt einen ersten Schritt weiter. Während „Entwicklung“ die Kontinuität betont, liegt der Akzent bei „Transformation“ auf der Diskontinuität. Das entspricht einem weitverbreiteten Empfinden in der Wahrnehmung der politischen und gesellschaftlichen Situation. Transformation heißt hier: „Die Welt ist nicht mehr die, die sie einmal war, sie hat sich nicht nur weiterentwickelt, sondern ist eine völlig andere geworden“. Daraus kann eine programmatische Rede werden: Angesichts vieler als Krisen erlebten Situationen sind gravierende Veränderungen nötig, die Dinge sollen nicht so bleiben, wie sie sind. „Transformation“ wird hier zum Hoffnungsbegriff, ja geradezu zum „Zauberbegriff “: Dinge, Strukturen und Umstände sollen „verwandelt“ werden. Die Hoffnung und Sehnsucht, dass Menschen und die Welt verwandelt, transformiert werden, bieten einen Ansatzpunkt für die christliche Hoffnung und die Erwartung des Reiches Gottes. Hinzu kommt, dass der Wunsch nach Veränderung und aktiver Mitgestaltung gerade in christlichen Gemeinden und vor allem in der jungen Generation einen viele anspricht. Junge Christen fragen nach dem Sinn und nach den Resultaten ihres Handelns. Sie wollen „history maker“ (Titel eines Liedes von Hillsong68) sein, die Welt mitgestalten, Dinge tun, die relevant sind, etwas bewegen können.

66 Badenberg/Knödler (Hg.) 2013. 67 Seubert (Hg.) 2015. 68 Als You-Tube-Video zu sehen unter History Maker, youtoube.com.

132

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

Allerdings ist Begriff ambivalent. Auch wenn der „Transformationsindex“ auf politische Verbesserungen weg von autoritären Staatformen blickt, kann „Transformation“ auch für ganz andere Veränderungen verwendet werden. Transformation bezeichnet einen Prozess, gibt aber noch kein Ziel an. „Gesellschaftstransformation“ findet derzeit auch in Russland und der Türkei, in mehreren Ländern Osteuropas und in den USA statt. Nicht alle dieser Transformationen sind aus unserer Sicht erfreulich. 2. Wie aber sieht es mit der theologischen Verwendung aus? „Transformation“ bietet biblische Anknüpfungspunkte, allerdings finden wir im NT gerade drei Mal das griechische μεταμορφοῦσθαι. Die lateinische Übersetzung (Vulgata) verwendet drei unterschiedliche Begriffe, nur einmal kommt „transformari“ vor: • Bei der sog. „Verklärung“ Jesu lesen wir in den Evangelien: „und er wurde verklärt vor ihnen“ (Mt 17,2 par Mk 9,1, lat. transfigurari). • Römer 12,2: „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch [bzw. werdet verwandelt, lasst euch verwandeln] und erneuert euer Denken“, Einheitsübersetzung, lat. reformari). • 2Kor 3,18: „und wir werden verwandelt in sein Bild“, in das Bild Christi (lat. transformari). Die eben genannte Einschränkung, dass „Transformation“ einen Prozess, aber noch kein Ziel bezeichnet, lässt sich auch biblisch an den beiden letztgenannten, auf die Glaubenden bezogenen Stellen aufzeigen: Die Rede von der „Verwandlung“ erfolgt nicht absolut, sondern ist verbunden mit einer Näherbestimmung durch die Zielangabe „in sein Bild“ (3Kor 3,18) bzw. durch die Angabe der Art und Weise: Die „Verwandlung“ erfolgt „durch Erneuerung des Denkens“ (Röm 12,2). Die Rede von der „Erneuerung“ wiederum ist im Neuen Testament zwar nur an wenigen Stellen zu finden, stellt aber sprachlich den Bezug zur Neuschöpfung her: „Erneuerung“ erfolgt durch den „Heiligen Geist“ (Tit 3,5) und „zur Erkenntnis dessen, der ihn geschaffen hat“ (Kol 3,10), Ziel ist die „neue Kreatur“ (2Kor 5,17)69. Insgesamt ist daher der Begriff der „Erneuerung“ in diesem Zusammenhang geeigneter und aussagekräftiger als derjenige der „Transformation“, da „Erneuerung“ eine Zielangabe einschließt und sich nach Röm 12,2 die „Transformation“ als „Erneuerung“ vollzieht: Es geht um Gottes erneuerndes Handeln, um die neue Schöpfung.

69 Auf die Verbindung von Röm 12,2 und 2Kor 5,17 weist auch Haacker 2002, 254 hin; vgl. Schniewind 1981, 126–128.

8. Gemeinde, Mission und Transformation

133

8.3 Kontexte der Transformationstheologie – Transformationstheologie als kontextuelle Theologie Ich verzichte darauf, die in der bisherigen Debatte gegen die Transformationstheologie erhobenen Einwände und Bedenken zu wiederholen, auch wenn ich sie zu einem großen Teil für berechtigt halte. Stattdessen nehme ich die Kontexte der Transformationstheologie näher in den Blick und frage nach den damit verbundenen Anliegen. Dabei verstehe ich die „Transformationstheologie“ als „kontextuelle Theologie“: Als eine Theologie, sie sich einem spezifischen Kontext verdankt und auch aus diesem heraus zu verstehen ist.

8.3.1 Erste Beobachtungen 1. Kommunikationsstörungen: In der innerevangelikalen Diskussion werden heftige Angriffe gefahren, die in Richtung „Verrat am biblischen und evangelikalen“ Erbe gehen. Ich nehme massive Kommunikationsstörungen nach beiden Seiten hin wahr und frage mich, woher sie kommen und wie sie zu erklären sind. Nur ein Beispiel: Den Vertretern einer „Transformationstheologie“ wird vorgeworfen, „Evangelisation“ durch „Transformation“ ersetzen zu wollen. Wenn ich die Beiträge der Vertreter dann selbst lese, merke ich, dass sie bei aller Leidenschaft für Transformation im Sinne eines sozialen und politischen Engagements durchaus ein Herz für Evangelisation haben und beides nicht als Alternative sehen. Wie kommt es dann zu den heftigen Vorwürfen? 2. Der Kontext: „Freie Gemeinden“: Schaut man die im Kontext der Transformationstheologie erzählten Geschichten und Beispiele näher an, kann man rasch bemerken, dass es landeskirchliche Gemeinden als Ortsgemeinden praktisch gar nicht dabei vorkommen, es geht mehr oder weniger ausschließlich um Freikirchen, freie Gemeinden, um landeskirchliche Gemeinschaften, die zu eigenständigen Gemeinden geworden sind und um freie Werke70.

8.3.2 Hintergründe der Transformationstheologie und ihr „Sitz im Leben“ Im nächsten Schritt frage ich nach den Anliegen, die mit der Transformationstheologie verbunden sind. 70 Diejenigen, die sich in der keineswegs einheitlichen evangelikalen deutschsprachigen „Transformationstheologie“ zu Wort gemeldet haben, verbindet außerdem ein Bezug zur UNISA (University of South Africa, Kapstadt). Dazu zählen Johannes Reimer, Tobias Faix, Roland Hardmeier und Volker Brecht.

134

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

1. In einem 2017 in der Zeitschrift „AufAtmen“ erschienen Artikel blickt Kerstin Hack kritisch auf ihre Prägung und ihre Geschichte zurück: „Ich bin in einer christlichen Subkultur groß geworden, die mich gelehrt hat, mich von der ‚Welt‘ zu distanzieren, um meine innere Reinheit zu bewahren. Meine christliche Prägung war voll von Berührungsängsten und darauf konzentriert, in einer sicheren christlichen Umgebung – man könnte auch ‚Blase‘ sagen – ein möglichst heiliges Leben zu führen. Dass Licht stärker ist als die Finsternis, war offensichtlich aus unseren Bibeln gestrichen worden“71. 2. Ausgangspunkt der „Gemeindetransformation“ als Beratungsangebot für Gemeinden am Marburger Bibel- und Studienzentrum72 ist der „Bedeutungsverlust der Gemeinde“. Mit Bezug auf Röm 12,2 wird dann gefragt: „Wie kann sich eine Gemeinde verwandeln und neu aufbrechen? Wie kann sie an Bedeutung für die Menschen in ihrem Umfeld gewinnen und dort den Willen Gottes widerspiegeln?“73 Da das Angebot Gemeinden ansprechen soll, gehe ich davon aus, dass die Fragen nicht nur rhetorische Fragen sind, sondern die Situation und Selbstwahrnehmung von Gemeinden zum Ausdruck bringen. 3. Johannes Reimer redet in seiner Analyse vom „Scheitern westlicher evangelikaler Evangelisationsbemühungen“74. Sein Fazit im Blick auf die „Resultate unserer evangelikalen Gemeindearbeit im Westen Europas“: „Wir haben versagt.“ „Keine Frage, die Evangelikale Bewegung scheint in einer Krise […] Sie wurzelt in einem einseitigen und damit falschen Verständnis der Mission“75. 4. Eine Erklärung für diese Krise finde ich in einem Beitrag zur neueren Freikirchenforschung. Stefan Paas und Philipp Bartholomä verweisen auf die komplexen Beziehungen von Freikirchen und der christentümlich imprägnierten Gesellschaft einschließlich der Volkskirchen: „Einerseits sind sie aus der Ablehnung dieses Konzeptes entstanden, andrerseits hing ihr Bestehen weitgehend davon ab, dass dieses ‚Christentum‘ weiter funktionierte“76. „Man grenzte sich ab und profitierte gleichzeitig von volkskirchlich-christentümlichen Strukturen, der Anschlussfähigkeit christlicher Moralvorstellungen und den

71 Hack 2017, 38. Sie fährt fort: „So war ich – wie die Antihelden im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter – geprägt davon, achtlos an meiner verwundeten Stadt vorbeizugehen, weil der geistliche Dienst in den christlichen Tempeln Vorrang zu haben schien. Ich musste mühsam lernen, meine Aktivitäten unterbrechen zu lassen, wenn ein Mensch die Begegnung mit mir brauchte. Oder an Orte zu gehen, die alles andere als ‚rein‘ zu sein scheinen. So wie Jesus selbst es getan hat. Er war nur selten im Tempel, aber viel bei eher kaputten Leuten, die Nähe, Heilung und Liebe brauchten“ (38f). 72 MBS, gemeindetransformation.de. 73 MBS: MBS Trafo, 5. 74 Reimer 2009b, 246. 75 Reimer 2009b, 247. 76 Bartholomä/Paas 2017, 356.

8. Gemeinde, Mission und Transformation

135

vorhandenen theologischen Rahmenbedingungen“77. Mit der zunehmend nachchristlichen Situation in unserer Gesellschaft fallen diese Rahmenbedingungen weg. Das führt Freikirchen nicht nur zu einer missionarischen Krise, sondern auch zu einer Identitätskrise. Wie kann Evangelisation angesichts eines rapide sinkenden christlichen Grundwasserspiegels aussehen? Ein Bündel von Erfahrungen und Anliegen kommt hier zusammen: Da sind Christen und Gemeinden, für die ein Graben klafft zwischen den Erfahrungen im Beruf und im Alltag auf der einen und der Gemeinde auf der anderen Seite. Da ist in den Gemeinden viel von Bekehrung und Evangelisation die Rede – aber wo bleibt die Liebe zum Nächsten, zu den Menschen in ihren vielen Nöten? Wer ist mein Nächster in einer immer unübersichtlicher werdenden Gesellschaft? Christen und Gemeinden heraus wollen aus ihrer Subkultur, zugespitzt gesagt: aus ihrem selbst geschaffenen Ghetto. Auf der Ebene der Gemeinde wird ein Bedeutungsverlust bis hin zur Irrelevanz wahrgenommen. Möglicherweise werden durchaus Evangelisationen veranstaltet, aber kaum Außenstehende erreicht. Der Nachwuchs besteht vor allem aus den Kindern der Familien in der Gemeinde. Hin und wieder kommen unzufriedene Christen aus anderen Gemeinden dazu, die aber im schlechteren Fall nach einiger Zeit wieder weiterziehen. Was aber, wenn die Zahlen deutlich zurückgehen? Verständlich, dass junge Christen nicht länger „irrelevant“ sein wollen. Sie wollen etwas bewegen und Resultate ihres Handelns sehen. Verständlich, dass eine Theologie, die von „Transformation“, von einer Verwandlung der Herzen, der Gemeinde und der Gesellschaft redet, da auf Resonanz stößt. Es ist die Sehnsucht, dass Dinge nicht bleiben, wie sie sind, sondern anders werden. Die Hoffnung, dass etwas von Gottes Herrschaft im eigenen Leben, in der Gemeinde und in der Gesellschaft erfahrbar wird. Sie geben sich nicht damit zufrieden, nur als Zuschauer an den Nöten dieser Welt vorüber zu gehen – so wie der Priester und der Levit im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Gemeinden brechen aus der selbstgeschaffenen Isolation, bewegende Geschichten von realen Veränderungen etwa in sozialen Brennpunkten werden erzählt. Da sind Gemeinden, denen es gelingt, ihren Platz in der Öffentlichkeit eines Ortes zu finden – und zugleich finden Menschen zum Glauben und in die Gemeinde. Auch bei einem Gespräch auf der Ebene der Theologie darf dieser reale Hintergrund nicht aus dem Blick verloren werden. Die Fragen, die theologisch

77 Bartholomä/Paas 2017, 362.

136

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

gestellt werden müssen, sind die eine Seite. Das schränkt den Respekt vor dem, was vor Ort bewegt wird, nicht ein. Die Öffnung von Gemeinden und Hinwendung zu ihrer Umwelt steht nicht nur in Verbindung mit dem Auftrag der Gemeinde, sondern kann für viele Gemeinden geradezu überlebensnotwendig sein.

8.3.3 Transformationstheologie als kontextuelle Theologie Meine These ist, dass die evangelikale Transformationstheologie aus dem eben umrissenen Kontext zu verstehen ist. In diesem Kontext vertritt sie verständliche und weithin berechtigte Anliegen. Darin liegen auch ihre Chancen. Zu Missverständnissen bis hin zu Schieflagen kann es dann kommen, wenn sie unbedacht in andere Kontexte transferiert wird. Ein Teil der Kritiker kommt aus anderen Kontexten, unter anderem aus landeskirchlichen Kontexten und der europäischen akademischen Theologie. Dazu zwei Beispiele: 1. Wenn transformationstheologisch argumentiert wird, Mt 28 sei als Begründung für Mission nicht ausreichend78, dann ist das verständlich in einem Kontext, in dem Mission auf evangelistische Veranstaltungen reduziert wird und möglicherweise sogar ein Gegensatz zur diakonischen Zuwendung zu Menschen in Not aufgemacht wird. Hier kann es in der Tat nötig sein, die Zusammengehörigkeit der Hilfe in Wort und Tat stärker zu betonen. Ganz anders klingt das Argument in landeskirchlichen Kontexten, wo die Evangelisation angesichts der Fülle diakonischer Hilfsangebote oft nur ein kümmerliches Dasein fristet. Hier besteht die Aufgabe weit mehr darin, Mt 28 als Grund-Text der Mission wiederzugewinnen. 2. In der Transformationstheologie wird mehrfach betont, es sie zu wenig, in sozialem Handeln die Folge der Evangelisation zu sehen, vielmehr müssten beide als gleichrangig betrachtet werden79. Das ist verständlich in einem Umfeld, in dem zwar Evangelisation selbstverständlich ist, aber nur wenig soziales Engagement als Folge der persönlichen Veränderung erkennbar ist. Die Betonung der Gleichrangigkeit kann hier schlicht eine Gegenreaktion gegen eine Verengung sein. Problematisch wird es dann, wenn darin eine allgemeingültige theologische Aussage gesehen wird. Der Versuch, das Anliegen und die Argumentation aus dem jeweiligen biographischen und kirchlich Kontext nachzuvollziehen, gilt auch umgekehrt für die Kritiker der Transformationstheologie. So kämpft der Tübinger Missions-

78 So z. B. Hardmeier 2009, 81. 79 Z. B. Hardmeier 2009, 98.

8. Gemeinde, Mission und Transformation

137

wissenschaftler Peter Beyerhaus seit den 1960er Jahren er gegen eine auf soziales und politisches Engagement reduzierte ökumenische Missionstheologie und die daraus resultierende Politisierung der Kirchen. Er war am Aufbruch der Evangelikalen beteiligt, für die der Kongress für Weltevangelisation 1974 in Lausanne steht. Wenn ihm jetzt in der evangelikalen Missionstheologie Argumente und Denkfiguren begegnen, die er aus der alten ökumenischen Debatte kennt, dann müssen bei ihm alle theologischen Warnlampen aufleuchten. Ein genauer Blick auf die Kontexte wird zwar nicht alle strittigen Fragen klären, kann aber im Gespräch weiterhelfen.

8.3.4 Hermeneutische Fragen Immer wieder wird in der Kontroverse um die Transformationstheologie die Frage nach dem Bibelverständnis aufgeworfen. Exemplarisch gehe ich auf die Frage nach „ganzheitlichem Heil“ ein. Wenn in der Bibel von „Heil“ oder „Rettung“ die Rede ist, dann umfasst das in der Tat mehr als die Vergebung der Sünden und das ewige Leben. „Heil“ bzw. „Rettung“ ist die Befreiung Israels aus Ägypten als Rettung aus der Sklaverei, ebenso die Erfahrung der Hilfe und Rettung Gottes in Krankheit, in Hungersnot und in Bedrohung durch Krieg. Es ist wichtig, dabei die biblische Dynamik und Entwicklung zu beachten: Der ursprünglich breit verwendete Begriff von „Heil“ bekommt im Neuen Testament eine Zuspitzung im Heilshandeln Gottes in Jesus Christus. Das Heil in Jesus Christus negiert nicht die anderen Aspekte des Heilshandelns Gottes, aber in der Vergebung der Sünden und der Gabe des ewigen Lebens schafft Gott Heil in einer noch nie dagewesenen und unüberbietbaren Weise. Nicht umsonst stellt endet das apostolische Glaubensbekenntnis geradezu mit einer Klimax: „Ich glaube an […] die Vergebung der Sünden, die Auferstehung der Toten und das ewige Leben“. Gegenüber diesen Heilsgütern müssen alle irdischen Erfahrungen von Heil und Rettung verblassen, so sehr sie dankbar aus Gottes Hand empfangen werden können. Wo jedoch ein individualistisches Heilsverständnis dazu führt, dass das Heil in Christus abgetrennt von allen innerweltlichen Erfahrungen von Gottes Heilshandeln wird, kommt es zu Engführungen. Dass die Erneuerung eines Menschen auch die Erneuerung seiner Beziehungen einschließt, gerät aus dem Blick, die Evangelisation wird isoliert. Die Hinwendung zum Menschen in allen seinen Bezügen wird nicht mit der Evangelisation verbunden, sondern von dieser abgetrennt. Das Anliegen, das Umfeld wieder zu gewinnen, ist daher berechtigt. Problematisch wird es dort, wo das Zentrum nicht mehr das Zentrum bleibt und faktisch gleichrangig zum Umfeld wird – wo innerweltliche Heilserfahrungen

138

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

auf einer Linie mit dem Heilshandeln in Christus gesehen werden und die notwendige Unterscheidung von „Vorletztem“ und „Letztem“ (D. Bonhoeffer80) verunklart wird oder ganz verloren geht. Hier ist auch die Verwendung des Transformationsbegriffs mit einer Gefährdung verbunden, weil er Evangelisation und soziales Handeln, die „Veränderung der Herzen und der Strukturen“ ohne Unterscheidung und Gewichtung verbindet.

8.3.5 „Gesellschaftstransformation“, Selbstüberschätzung und die Machtfrage 1. Bei den „Marburgern“ stand lange Zeit der Begriff der „Gesellschaftstransformation“ im Vordergrund. Tobias Künkler räumt ein, dass dieser Begriff „irritierend“ sei. Er versteht dann unter Gesellschaft die Wechselwirkungen von Individuen und definiert: „So wäre die Aufgabe von GT [Gesellschaftstransformation]: Formen der Wechselwirkung im Sinne eines biblischen, ganzheitlichen Heils zu ermöglichen und zu fördern“81. Ich kann dieser Definition zustimmen, sie ändert aber nichts daran, dass der Begriff „irritierend“ bleibt und mit Konnotationen verbunden ist, die auch durch solche Erläuterungen nicht ausgeräumt werden82. Hier ist wieder ein Blick auf den Kontext wichtig: Auch auf der politischen Ebene wird von „Gesellschaftstransformation“ geredet. Dort diskutieren Akteure der Zivilgesellschaft wie Kirchen und Gewerkschaften über den gesellschaftlichen Wandel. Eine andere Ebene liegt vor, wenn eine freie Gemeinde ihr eigenes Handeln als „Gesellschaftstransformation“ bezeichnet. Ich versuche mir vorzustellen, wie ein Bürgermeister reagiert, wenn eine Gruppe engagierter Christen zu ihm kommt und sagt: „Wir wollen Gesellschaftstransformation machen, daher wollen wir Gutes für den Ort tun“. Der Begriff mag in der internen Kommunikation Menschen motivieren, ist aber in der Kommunikation nach außen ungeeignet und irritierend. Das eigene Handeln als „Gesellschaftstransformation“ zu sehen, ist darüber hinaus mit der Gefahr der Selbstüberschätzung verbunden. Die Messlatte für Erwartungen wird hoch gesteckt, im schlechteren Fall mit entsprechenden Enttäuschungen in der Folge. 80 S. Bonhoeffer 2006, 137–162 (Hinweis von Martin Haizmann). 81 Künkler 2009, 115. 82 Vgl. den „Bericht des listening team“, in: Badenberg/Knödler (Hg.) 2013: „Wir im listening team empfanden jedoch, dass der Begriff ‚Gesellschaftstransformation‘ besonders leicht missverstanden werden kann“ (142).

8. Gemeinde, Mission und Transformation

139

2. Die Rede von der Gesellschaftstransformation provoziert außerdem die Machtfrage. Tobias Künkler selbst spricht von einem „Beigeschmack von politisch-gesellschaftlicher unbotmäßiger Einflussnahme von Christen auf den säkularen Staat“83. Wenn eine Gesellschaft transformiert werden soll, was ist dann mit denen, die ganz andere Vorstellungen vom gesellschaftlichen Wandel haben? Ulrich Parzany formuliert es so: „Meine Frage an das Gesellschafstransformationskonzept ist: Wer Gesellschaft transformieren will, muss auch die Frage beantworten, wie er die behandeln will, die nicht freiwillig mitmachen“84. Auch wenn die Vertreter der Transformationstheologie gewaltsame Veränderungen einhellig ablehnen, bleiben offene Fragen85. Hinzu kommt, dass Ansätze im Umfeld der Transformationstheologie als Neuauflagen einer Christianisierung verstanden werden können. Das beginnt in der sog. „missionalen Theologie“ damit, dass Christen nicht warten sollen, die die Menschen in die Gemeinden kommen, sondern selber hingehen – mit dem Ziel, den Sportverein oder Kaninchenzüchterverein christlich zu machen. So erfreulich das wäre, wenn es in den genannten Fällen gelingen sollte, so irritierend kann diese Vorstellung für die Betroffenen sein, zumal auch die „christliche Rechte“ in den USA hat das Ziel einer „Gesellschaftstransformation“ verfolgt. 3. Ein weiteres Problem stellt die Frage nach der Zielvorstellung einer „transformierten“ Gesellschaft. Wo es um akute Unterstützung in Notlagen und diakonische Hilfe geht, ist eine solche weithin unstrittig. Wie aber sieht das Arbeitsrecht, wie sehen Tarifverhandlungen in einer christlich transformierten Gesellschaft aus? In der Flüchtlingsfrage ist eine christliche Motivation eine wichtige Grundlage auch für politisches Handeln, dennoch bleiben viele Fragen, bei denen über die Frage der Gesinnung hinaus politische Vernunft nötig ist. Hier liegt eine Stärke der Lehre Luthers von den beiden Regimenten. Beide Regimente stehen im Dienst Gottes gegen das Böse und das Chaos, aber sie sind zu unterscheiden, weil sie unterschiedliche Mittel verwenden: In der Kirche regiert Christus durch das Evangelium, im staatlichen Bereich durch die Gebote, hier ist der Einsatz von Macht und Vernunft nötig. Das öffnet einen weiten Raum für Taten der Liebe ebenso wie für den Einsatz politischer Vernunft.

83 Künkler 2009, 111. 84 Parzany 2013, 56. 85 Die Beispiele aus der Geschichte, was geschehen konnte, wenn Christen Macht ausübten und Gesellschaften „transformierten“, sind in vielen Fällen eher abschreckend als ermutigend.

140

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

8.4 Gemeinde, Mission und Transformation 8.4.1 Die „Hoffnung besserer Zeiten“ Die biblische Botschaft ist undenkbar ohne die Hoffnung auf das Reich Gottes86. Diese Hoffnung richtet sich auf die Zukunft, schließt aber die Gegenwart ein. Diese Hoffnung ist tief im Pietismus und in der evangelikalen Bewegung verwurzelt, sie gehört gewissermaßen zu ihrer genetischen Ausstattung. Philipp Jakob Spener, der „Vater des Pietismus“, schreibt: „Sehen wir in die Heilige Schrift, so haben wir nicht zu zweifeln, dass Gott noch einen besseren Zustand seiner Kirchen hier auf Erden versprochen hat“87. In der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhundert wurden in dieser „Hoffnung besserer Zeiten“ Werke der Mission und Diakonie gegründet. Dabei waren die Erwartung der Wiederkunft Jesu und ein tatkräftiges Engagement in Kirche und Gesellschaft in den meisten Fällen kein Gegensatz, vielmehr ergab sich eins aus dem anderen. Nicht zuletzt ist der missionarische Gemeindeaufbau nicht denkbar ohne einen kräftigen Schuss präsentischer Eschatologie, ohne die starke auf die Gegenwart bezogene Hoffnung, dass bereits hier etwas von Gottes guter Herrschaft sichtbar und erfahrbar wird. Gegenüber einem individualistischen, allein auf den Einzelnen und seine Bekehrung ausgerichteten Pietismus bedeutet die Transformationstheologie für viele eine lohnende Perspektive und einem beträchtlichen Motivationsschub: „Nicht nur einzelne Menschen sollen durch den Glauben an Jesus gerettet werden, auch die sozialen Beziehungen, die Gesellschaft, die Kultur und die Schöpfung sollen unter die gute Herrschaft Gottes kommen“88. Gemeinden entdecken ihr Umfeld und beginnen, sich für die Belange der Menschen einzusetzen. Ob im Elternbeirat in der Schule oder im Kindergarten, ob in der Arbeit mit Flüchtlingen oder in der Mitarbeit in einer „Tafel“ – zivilgesellschaftliches und soziales Engagement geraten verstärkt in den Blick und werden als Teil des Auftrags der Gemeinde gesehen. Erfreulich ist es, wenn dadurch etwas von dem aufleuchtet, was Gottes Herrschaft kennzeichnet und auf deren Zukunft vorausweist. So sehr die Hoffnung auf Gottes Reich Christen in Bewegung setzt, zeigt der Blick in die Geschichte aber auch eine Gefährdung. Sie besteht darin, „Gottes

86 S. Zum Thema „Reich Gottes“ s. Gäckle 2018 und oben die Einführung zu Teil C. 87 Spener 1996, 172, Z. 26–28 (zit. nach Spener 1986, 46). 88 Hardmeier 2009, 129.

8. Gemeinde, Mission und Transformation

141

Reich“ als das Resultat menschlichen Handelns zu betrachten. Wir können das auch bei Jürgen Moltmanns „Ethik der Hoffnung“ sehen. Aus der christlichen Hoffnung wird eine Ethik abgeleitet. Natürlich sollen wir uns für die Befreiung der Unterdrückten und für Gerechtigkeit für die Armen einsetzen. Die Gefahr ist die der Ethisierung der christlichen Hoffnung: Im Vordergrund steht, was Menschen tun sollen und nicht mehr Gottes Handeln. Wenn Jesus sagt: „Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,13), dann ist das zuerst eine Verheißung für die Jünger Jesu, ein Zuspruch und nicht eine Aufforderung zum Handeln. Es macht einen großen Unterschied, ob ich mit dem Anspruch auftrete, „Transformation“ zu bewirken – oder mich von Gottes Zusage ermutigen lasse, dass auf meinem menschlichen Stückwerk Gottes Verheißung liegt. Eine andere Gefährdung besteht darin, dass die Gegenwart so sehr zur Zeit der Erfüllung wird, dass ihre Vorläufigkeit nicht mehr gesehen werden wird. Die Zukunft des „Reiches Gottes“ tritt dann ganz hinter seiner Gegenwart zurück. Die futurische Eschatologie wird nur noch „am Rande“ weitergeführt, hat aber nicht mehr die Rolle einer wesentlichen Orientierung und Motivationsquelle.

8.4.2 Transformation, Gemeindeaufbau und Gottesherrschaft In den 1980er Jahren und danach fand das Thema „Gemeindeaufbau“ eine starke Resonanz nicht nur in landeskirchlichen, sondern auch in freien Gemeinden und landeskirchlichen Gemeinschaften. Manche waren so sehr auf die eigene Gemeinde fixiert, dass das Umfeld, in dem die Gemeinde lebte, aus dem Blick geraten konnte. Hier kann die Transformationstheologie ein wirksames Gegengewicht darstellen. Bei ihr ist umgekehrt zu fragen, ob sie nicht auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen droht. Zwar ist durchaus weiterhin von „Gemeinde“ die Rede, aber sie tritt merkwürdig zurück, die ekklesiologische Dimension ist eher unterbelichtet. Wenn Gemeinde im Blick ist, dann vor allem als Akteur der Transformation. Es geht um „Gemeinde für andere“: Gemeinde ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug der Mission Gottes in dieser Welt. Eine solche instrumentelle Ekklesiologie ist ein wichtiger Ertrag der internationalen Missionstheologie des 20. Jh. Zum Problem wird sie, wo Kirche ausschließlich in dieser Weise betrachtet wird. Hier ist zu ergänzen, dass Gott seine Herrschaft nicht nur durch die Kirche verwirklicht, sondern auch in der Kirche. Kirche ist nicht nur Werkzeug der Gottesherrschaft, sondern auch der Ort der Gegenwart der Gottesherrschaft. Kirche ist damit nicht nur „Funktion“, sondern auch ein „Zweck“ und besitzt insofern einen Eigenwert, auch wenn sie sich nicht mit der endgültigen Gestalt des Reiches Gottes verwechseln darf.

142

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

8.4.3 Transformation und Zeichen des Reiches Gottes Die Wunder Jesu stehen für sich: Kranke werden gesund, Menschen erfahren Gottes heilvolles Handeln. Zugleich und vor allem aber sind die Wunder Jesu Zeichen. Als Zeichen weisen sie über sich hinaus auf Gottes Herrschaft, die im Wirken Jesu anbricht. So kann auch menschliches Handeln im Auftrag Jesu zum Zeichen der Gegenwart des Reiches Gottes werden. Zu Zeichen, in denen erfahrbar wird, was die gute Herrschaft Gottes kennzeichnet: Menschen werden heil an Leib und Seele, Beziehungen zwischen Gott und Mensch und zwischen Menschen untereinander werden heil, Arme erfahren Zuwendung und hören das Evangelium, Unterdrückung und Gewalt werden beendet. Die Zeichen weisen voraus auf das, was kommen wird. Sie sind noch nicht die endgültige Gestalt des Reiches Gottes, sondern „Vor-Zeichen“ dafür. Gottes Reich wird nicht durch menschliche Bemühungen aufgerichtet werden. Hier auf der Erde müssen wir mit menschlicher Vorläufigkeit und Begrenztheit leben. Das gilt für die Hoffnung auf eine Transformation ebenso bei den Erwartungen von Krankenheilungen in der Pfingstbewegung. Bei einem Zeichen ist wesentlich, dass es in seinem Zeichencharakter wahrgenommen wird. Das könnte ein hilfreiches Kriterium in der gegenwärtigen Diskussion sein. Dann würde es nicht nur um die Fragen gehen: Wieviel soziale Aktion, wie viel Transformation darf oder muss sein? Sondern: Wie kann das, was wir im Auftrag Jesu tun, zum Zeichen für den Anbruch seiner Herrschaft werden und als solches wahrgenommen werden? Im Johannesevangelium werden die Wunder Jesu „Zeichen“ genannt. Dazu gehört auch die Brotvermehrung in Johannes 6. Die Menge staunt, sie hält Jesus für einen Propheten und will ihn zum König machen, der sie mit Brot versorgen soll (V. 15). Diese Menschen verstehen nicht, dass das Sattwerden nicht für sich selbst steht und nicht das letzte Ziel des Handelns Jesu ist, sondern ein Zeichen, das auch als Zeichen wahrgenommen werden will: Ein Zeichen für Christus als das Brot des Lebens. Wer dieses Brot isst, den wird in Ewigkeit nicht mehr hungern. Hier ist deutlich, dass beides zusammengehört: das irdische Brot, das satt macht – und Jesus als das Brot des Lebens. Ebenso klar ist aber auch, dass beides nicht auf derselben Ebene liegt, sondern eine Unterscheidung nötig ist: Wer das irdische Brot isst, den wird wieder hungern; nur wer in Jesus das Brot des Lebens findet, dessen Hunger wird bleibend gestillt (Joh 6,35). Jesu Wunder als Zeichen zielen auf die Resonanz des Glaubens. Damit es zum antwortenden Glauben kommt, ist das hinweisende und verkündigende Wort nötig: Hier ist Gott am Werk!

8. Gemeinde, Mission und Transformation

143

Das gilt auch für alles diakonische Handeln im Auftrag Jesu: Es hat seinen Wert in sich, zielt aber letztlich auf den Glauben, der darin Gottes Handeln und das „Vorzeichen“ seines Reiches erkennt und Gott dafür lobt und preist. Um als Zeichen wahrgenommen werden zu können, braucht es das begleitende Wort. Anders formuliert: Die helfende Tat braucht die begleitende Verkündigung, die Evangelisation, damit beides zusammen zur „ganzheitlichen“ Hilfe wird. So kommt zusammen, was zusammengehört: Das Staunen über Gottes Hilfe – und die dankbare Antwort des Glaubens. So kommt es zur „Transformation“.

8.4.4 „Evangelistisch-diakonischer Gemeindeaufbau“ Ich habe versucht, den konkreten „Sitz im Leben“ der „Transformationstheologie“ aufzuzeigen. Weiter habe ich auf die Notwendigkeit von Klärungen und theologischer Weiterarbeit verwiesen. Hier sehe ich eine große Verantwortung der „Transformationstheologen“, die damit beginnt, die eigene Kontextualität wahrzunehmen und an der Beseitigung theologischer Schieflagen zu arbeiten. Abschließend möchte ich die Brücke zu einem anderen Kontext schlagen, in dem dasselbe Anliegen in ganz anderer Terminologie vorkommt: Es ist die Diskussion zum „evangelistisch-diakonischen Gemeindeaufbau“. Für Michael Herbst ist das eine der wichtigen Weiterentwicklungen des missionarischen Gemeindeaufbaus in der Volkskirche. Auch wenn die Begriffe „Gesellschaftsrelevanz“ und „Transformation“ dort nicht vorkommen, sind wichtige Themen präsent89: Ȥ Es geht um einen „ganzheitlichen Dienst am Menschen“, der den „Dienst an den Armen“ einschließt. Ȥ Das Sendungswort Mt 28 soll nicht ohne den Rest des Evangeliums gelesen werden. Ȥ Es ist darauf zu achten, dass „soziales Kapital“ einer Gemeinde nicht nur aus innergemeindlichen Beziehungen besteht, sondern eine Außenorientierung mit der Hinwendung zu den Menschen über den engeren Kreis der Gemeinde hinaus einschließt. Ȥ Diakonisches und evangelistisches Handeln haben beide einen eigenen Wert und eine eigene Würde. Es geht um einen Missionsbegriff, der Evangelisation und Diakonie miteinander verbindet, ohne dass eines durch das andere verzweckt wird.

In alledem geht es um mehr als um „Gesellschaftsrelevanz“. Es geht darum, dass Gemeinden in sich ändernden Kontexten ihrem Auftrag treu bleiben. Mein persönliches Anliegen dabei ist eine stärkere Vernetzung beider Seiten,

89 Herbst 2010, 518–521.

144

C. Gemeinde im Horizont des „Reiches Gottes“

eine stärkere Zusammenarbeit und ein gegenseitiges Voneinander-Lernen, von dem beide Seiten profitieren: Landeskirchliche Gemeinden ebenso wie landeskirchliche Gemeinschaften und freikirchliche Gemeinden. Mein Herz schlägt dort, wo Gemeinde und Mission zusammenfinden – ob mit oder ohne den Begriff der „Transformation“.

D. Gemeinde international und interkulturell

9. „Das christliche Gesicht der Migration“. Migration als Herausforderung für die Zukunft christlicher Gemeinden1 9.1 Migration und Gemeinde – Erfahrungen und Einsichten 9.1.1 Ostererfahrungen 1. Ostermontag 2016 im Ulmer Münster. Ich bin dort, weil ein Neffe von mir getauft wird. Zusammen mit dem kleinen Jacob werden vier irakische Kurden getauft. Vier junge Männer, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind und hier Asyl suchen. Mit dem Wunsch, getauft zu werden, waren sie auf einen Pfarrer der Münstergemeinde zugekommen. Der hatte sich mehrere Monate lang trotz aller Sprachprobleme mit ihnen zum Taufunterricht getroffen. Jetzt, am Ostermontag ist es so weit. Ein festlicher Gottesdienst. Einer der Täuflinge liest den Auftrag zur Taufe und zur Mission aus Matthäus 28 in seiner Sprache. Die Tauffrage lautet: „Willst du auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft werden und mit uns Gemeinschaft halten an Wort und Sakrament?“2 Und dann der bewegende Moment: Die vier jungen Männer werden getauft und in die Gemeinschaft der Christenheit aufgenommen. Im Anschluss gibt es einen kleinen Empfang. Bei aller Freude gibt mir zu denken, dass die Täuflinge keine Paten oder Taufzeugen haben. Wie es wohl nach der Taufe weitergehen wird? Der Taufunterricht und damit der regelmäßige Kontakt zum Pfarrer sind zu Ende. Werden ihren Platz in der Gemeinde finden? Wie wird es für sie aussehen: „Gemeinschaft halten an Wort und Sakrament“? Hier liegen enorme Herausforderungen. Zum Christwerden braucht es mehr als einen Pfarrer und eine 1

2

Vortrag an der Evangelischen Hochschule Tabor (Marburg) am 25.10.2017 im Rahmen der Ringvorlesung „Eine Gesellschaft – Viele Herausforderungen. Theologie und Soziale Arbeit im Gespräch“. Etwas gekürzt veröffentlicht: Zimmermann 2019a unter dem Titel: „Kirche für die Einheimischen oder Multi-Kulti?“ Kirchenbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg 1989, 58–59.

146

D. Gemeinde international und interkulturell

Kirche. Es braucht eine Gemeinde als Lebensraum, in dem der Glaube Wurzeln schlagen und wachsen kann. Das wird aber kaum der traditionelle württembergische Predigtgottesdienst im Ulmer Münster sein, so viel ist mir an diesem Morgen klar. 2. Einen Tag vorher, Ostersonntag in der Stiftskirche in Stuttgart: Im Ostergottesdienst werden acht Muslime getauft, dabei drei vom Landesbischof Frank Otfried July. Das Interesse der Medien ist enorm3. Was ist hier anders? Nicht nur die Tatsache, dass der Landesbischof selbst tauft. Das ist gleichwohl ein wichtiges Signal nach außen: Die Evangelische Landeskirche in Württemberg steht dazu, dass die christliche Gemeinde auch für Muslime offen ist, die Christen werden wollen. Der Hauptunterschied ist ein anderer: Es gibt eine Gemeinde, in der die Getauften ihren Weg weitergehen können: die evangelische arabische Gemeinde in Stuttgart. Sie gehört zur Stiftskirchengemeinde in Stuttgart, Pfarrer ist der blinde Islamexperte Hanna Josua. Die Voraussetzungen für eine dauerhafte Integration in die christliche Gemeinde sind in diesem Fall deutlich besser. Zwei ganz ähnliche Ereignisse und doch ein markanter Unterschied. Auf den ersten Blick sieht es nach einer „besseren“ und einer „schlechteren“ Lösung aus. Glücklicherweise ist die Geschichte mit den getauften irakischen Kurden ist noch nicht zu Ende. Im Herbst 2016 traf ich den Pfarrer der Münstergemeinde wieder und fragte ihn, was aus ihnen geworden sei. Durch Verlegung an andere Orte seien nicht mehr alle da, aber – so der Kollege: „Da muss ich die Geschwister von der landeskirchlichen Gemeinschaft loben“. Eine landeskirchliche Gemeinschaft in der näheren Umgebung würde die jungen Männer begleiten.

9.1.2 Migrationsgemeinden als die „bessere“ Lösung? Was ist besser für Muslime, die in Deutschland getauft werden: Sollen sie in deutsche Gemeinden integriert werden – oder eigene Gemeinden bilden, in denen sie in ihrer Muttersprache Gottesdienst feiern können? Blicken wir auf die arabisch-evangelische Gemeinde. Für neugetaufte Christen mit muslimischem Hintergrund eigentlich ein Idealfall: In ihrer Sprache können sie die Bibel lesen, Gottesdienst feiern und in den Glauben hineinwachsen. Sie müssen nicht erst sprachliche und kulturelle Hürden überwinden, um Christen zu werden und Gemeinschaft des Glaubens zu erfahren.

3

S. z. B. den Bericht im Evangelischen Gemeindeblatt für Württemberg 14/2016: „Ungewöhnliche Taufen“.

9. „Das christliche Gesicht der Migration“

147

Im Hintergrund steht ist ein Grundprinzip der Mission, Kontextualisierung oder Inkulturation genannt: Menschen sollen dem Evangelium in einer ihnen vertrauen kulturellen Gestalt begegnen. Nimmt man die Lebenssituation von Migranten dazu, die Herausforderung, sich in einem fremden Land mit einer schwer zu erlernenden Sprache und vielen unbekannten Gepflogenheiten und Verhaltensweisen zurechtzufinden, dann ist es nur zu begrüßen, wenn wenigstens das Hineinwachsen in den Glauben in einem vertrauten Umfeld stattfinden kann und nicht auch noch durch Erfahrungen der Fremdheit und des Missverstehens überlagert wird. Es ist auch eine Frage der Identität: Um Christ zu werden, muss jemand nicht seine kulturelle und sprachliche Identität als Araber über Bord werfen. Ähnliche Lebenslagen und Problemstellungen verbinden ihn mit anderen, er erfährt Verständnis etwa für die ablehnende Haltung der Familie zur Taufe, für die Ungewissheiten, die mit dem Asylverfahren verbunden sind. Die Bildung muttersprachlicher Gemeinden im Ausland ist keineswegs neu. Diesen Weg wählte der größte Teil der deutschen Auswanderer: In den USA, in Brasilien und in Russland bildeten Auswanderer deutsche Gemeinden und feierten deutsche Gottesdienste. Die Gemeinde wurde zu einem Stück Heimat in der Fremde und half, den Schmerz des Verlusts der ursprünglichen Heimat zu überwinden. Für christliche Gemeinden im Kontext von Migration ist das fast so etwas wie der Normalfall. Stärker als die Furcht vor der Bildung von Parallelgesellschaften sollte die Chance gesehen werden, dass es für viele eine Hilfe ist, neben den vielen Anforderungen im neuen Umfeld Orte zu haben, an denen Sprache und Kultur vertraut sind. Auf den ersten Blick scheint das also der Königsweg zu sein: Neue Gemeinden für Migranten, die Schaffung kulturell homogener Gemeinden, um so eine Beheimatung in der Diaspora eines fremden Landes ermöglichen.

9.1.3 Gemeinden anderer Sprache und Herkunft – ein Überblick 1. Wir sind damit mitten in der Themenstellung: Migration als Herausforderung für christliche Gemeinden in Deutschland. Es gibt nicht nur die evangelischarabische Gemeinde in Stuttgart, sondern eine Vielzahl von Gemeinden, die in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten aufgrund von Migration entstanden sind. Seit den 1960er Jahren kamen meist katholische Gastarbeiter aus Kroatien, Italien, Spanien und Portugal und später auch aus Polen; dazu kommen die griechisch-orthodoxen Griechen. Eine zweite Gruppe sind die Aussiedler: die evangelischen Siebenbürger Sachsen aus Rumänien, katholische Aussiedler aus Polen, lutherische, teils auch baptistische Christen aus den Nachfolgestaaten

148

D. Gemeinde international und interkulturell

der Sowjetunion, in der jüngeren Generation bisweilen konfessionslos, hin und wieder mit russisch-orthodoxen Ehepartnern. Die römisch-katholischen Südeuropäer wurden durch Seelsorger und Gottesdienste in ihrer Landessprache begleitet. Bei den Aussiedlern ist das Bild bunter. Da gibt es auf der einen Seite vor allem ältere Christen, die zu treuen Gottesdienstbesuchern in deutschen Gemeinden geworden sind. Daneben hat sich eine eigene Szene von Aussiedlergemeinden entwickelt. Ganz offensichtlich konnten oder wollten die aus Russland und Kasachstan kommenden Christen nicht in deutsche Gemeinden integriert werden, wobei das genauso für die deutschen Gemeinden gilt: Auch sie konnten oder wollten die nach Deutschland gekommenen Christen nicht integrieren. Ihre Frömmigkeit wurde als seltsam empfunden, umgekehrt stand die Wahrnehmung einer oberflächlichen Christlichkeit deutscher Gemeinden bei denen, die jahrelang die Unterdrückung im real existierenden Sozialismus erlitten hatten4. Bei der jüngeren Generation von Aussiedlern, die noch viel stärker in der russischen Kultur und Sprache verwurzelt ist, kann gefragt werden, ob nicht Angebote in russischer Sprache ein hilfreicher Weg sein könnten. Im württembergischen Balingen, wo ich mehrere Jahre lebte, war freilich das einzige Angebot in russischer Sprache ein Hauskreis bei den Zeugen Jehovas. Neben den größtenteils europäischen „Gastarbeitern“ und den Aussiedlern gibt es Migranten aus weiteren Ländern, die in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland gekommen sind und in Deutschland Gemeinden gründeten: Aus Korea, Indonesien, Tamilen aus Sri Lanka, die Bootsflüchtlinge aus Vietnam. Seit den 1990er Jahren ist auch die „Migration aus Afrika zahlenmäßig relevant: Geschäftsleute und Studierende aus Ghana, Flüchtlinge aus Nigeria und aus dem Kongo ließen sich vor allem in den Großstädten nieder“5. 2014 redet die EKD-Schrift „Gemeinsam evangelisch!“ vom „christlichen Gesicht der Migration“6 und verweist auf den Hessischen Integrationsmonitor von 2010: „Von den in Hessen lebenden ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ waren im Jahr 2010 rund 67 % christlichen Glaubens erfasst – im Vergleich zu 20 % muslimischer Religionszugehörigkeit“7. Das ist dabei, sich zu ändern. Dem Hessischen Integrationsmonitor von 2015 zufolge waren 2013 noch 54 % der Menschen mit Migrationshintergrund ihrer Selbstauskunft zufolge Christen8.

4 5 6 7 8

Zum Thema Aussiedler s. Eyselein 2006. Währisch-Oblau 2003, 369. Kirchenamt der EKD (Hg.) 2014, 13. EKD 2014, 13. Hessisches Ministerium für Soziales und Integration 2015, Tabelle D3, S. 206. – Es ist davon auszugehen, dass die starke Differenz gegenüber 2010 mit darauf zurückzuführen ist, dass die Zahlen auf Selbstauskunft basieren.

9. „Das christliche Gesicht der Migration“

149

In vielen europäischen Städten ist mittlerweile die Zahl der „weißen“ Gottesdienstbesucher in der Minderheit gegenüber den farbigen9. Das Thema Migration verbinden heute angesichts der Flüchtlingswelle der zurückliegenden Jahre viele mit Flüchtlingen und Asylsuchenden. Zu einem beträchtlichen Teil sind sie muslimisch, aber es sind – etwa aus Syrien und dem Irak – auch Christen darunter. Und von denen, die nicht als Christen hier angekommen sind, gibt es mittlerweile eine steigende Zahl, die in Deutschland den christlichen Glauben annehmen und sich taufen lassen, darunter insbesondere Iraner. Inzwischen sind Taufen von Muslimen in katholischen und evangelisch-landeskirchlichen Gemeinden ebenso wie in Gemeinschaften und freikirchlichen Gemeinden keine Einzelphänomene mehr, es gibt bemerkenswerte Reportagen darüber im Fernsehen10; in der Presse wird die Frage erörtert, ob Muslime sich durch den Übertritt zum Christentum Vorteile im Asylverfahren verschaffen wollen11. Das Thema ist präsent, an dieser Stelle geht es aber weniger um die politische oder humanitäre Dimension, sondern um die Auswirkungen und Herausforderungen für Christen mit Migrationshintergrund – und für christliche Gemeinden in Deutschland. 2. Wie reagieren die Kirchen darauf? Anfangs gab es einzelne Stellen für „Ausländerseelsorge“, inzwischen gibt es in den evangelischen Landeskirchen Beauftragte und Kontaktstellen12 für „Gemeinden anderer Sprache und Herkunft“, so mittlerweile die gängige Bezeichnung. Schon ein Blick auf die unterschiedlichen Bezeichnungen, die verwendet werden, zeigt unterschiedliche Perspektiven auf dieses Phänomen: Zunächst sprach man von Ausländergemeinden, dann von Migranten- oder Migrations­ gemeinden, gelegentlich werden sie „internationale Gemeinden“ (Michael Herbst) oder „neue Missionskirchen“ (Dietrich Werner) genannt. Die Bezeichnung „Gemeinden fremder Sprache und Herkunft“ wurde abgelöst von der mittlerweile gebräuchlichen Bezeichnung „Gemeinden anderer Sprache und Herkunft“. Die Schwierigkeit besteht darin, eine Begrifflichkeit zu finden, die einerseits das ganze Spektrum von Gemeinden abbildet (das ist etwa bei „neue Missionskirchen“ nicht der Fall) und zugleich dem Selbstverständnis der Betroffenen entspricht. Das gilt auch und gerade für die Bezeichnung „Gemein  9 S. Herbst 2013, 159 (Zitat von Walter Hollenweger). 10 So z. B. die Reportage „Asyl nach Taufe. Wenn Flüchtlinge zum Christentum konvertieren“, ausgestrahlt am 24.08.2018 auf Arte (Asyl nach Taufe, arte.de). 11 So z. B. „Taufen nur Mittel zum Zweck?“ (Zollernalbkurier vom 7.8.2016). 12 Die Evangelische Kirchen von Kurhessen-Waldeck listet den Arbeitsbereich „Migration/Aussiedler“ unter der Rubrik Ratgeber – Beratungsangebot auf (EKKW, ekkw.de).

150

D. Gemeinde international und interkulturell

den anderer Sprache und Herkunft“. Sie ist zwar sachlich angemessen ist, bleibt aber „im Grunde bei der Beschreibung der Andersheit […] stehen“. Wir finden darin die „Perspektive der historischen Großkirchen“ und weniger das „Selbstverständnis der neuen Kirchen“13. Um die Vielfalt zu ordnen und übersichtlicher zu machen, gibt es Versuche, Gruppen von Gemeinden zu bilden14. Das Spektrum beginnt bei Gemeinden der klassischen Denominationen. Dazu zählen etwa die lutherische finnische oder die reformierte ungarische Gemeinde. Eine zweite Gruppe sind „neue Missionskirchen mit überseeisch-konfessioneller Identität“: Diese Gemeinden sind eher monoethnisch, häufig charismatisch oder pfingstlerisch und haben „einen klaren evangelistischen Anspruch gegenüber Immigranten ihrer Herkunftsnation, vor allem afrikanische Kirchen auch gegenüber Deutschen“. Schließlich gibt es „denominationsunabhängige neue Missionsgemeinden“. Sie sind tendenziell eher multiethnisch und verstehen sich als „nichtdenominationell“ bzw. überkonfessionell. Sie gehören zu keinen Kirchenverbänden, sondern nur zu informellen charismatischen Netzwerken15. Zu dieser Klassifizierung hinzu kommen Entwicklungsdynamiken innerhalb der Gemeinden und Veränderungen beim Übergang zur zweiten und dritten Generation. Aufgrund dieser Vielfalt und Unübersichtlichkeit ist es schwierig, verlässliche Daten und Statistiken zu erheben, in der Regel werden Gemeinden aufgelistet, zu denen Kontakt besteht. Eine Broschüre der EKiR und EKvW nennt 550 Gemeinden anderer Sprache und Herkunft im Bereich der beiden Landeskirchen, „die im weitesten Sinn evangelisch sind“16. Kaum jemand wird es offiziell eingestehen, aber im Umgang mit dieser Vielfalt von Gemeinde gibt es eine geheime Hierarchie. Sie zeigt sich, wenn etwa bei besonderen Anlässen Vertreter deutscher Kirchen eingeladen werden. Wer kommt dann? Der Bischof, die Dekanin oder gibt es nur einen schriftlichen Gruß des Ortspfarrers, der sich entschuldigen lässt? Oben auf der verborgenen Hierarchie stehen skandinavische lutherische Gemeinden, unten afrikanische Pfingstgemeinden. Ähnlich ist es, wenn es um den Dialog vor Ort geht. Wird der Geistliche der Migrationsgemeinde vom deutschen Pfarrer als ebenbürtiger theologischer Gesprächspartner akzeptiert? 13 Werner 2005, 276. 14 Ausführlich dazu: Fischer 2011. 15 Währisch-Oblau 2003, 371; vgl. auch die Versuche, Entwicklungsphasen der Gemeinden darzustellen (Simon 2011, 256–258; vgl. EKD 2014, 43–46). 16 Evangelische Kirche im Rheinland/Evangelische Kirche von Westfalen (Hg.) 2015, 14; 80 % dieser Gemeinden liegen im Bereich der EKiR.

9. „Das christliche Gesicht der Migration“

151

Das alles sind wichtige Themen. Wo es aber zu Begegnungen mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft kommt, stellen sich zunächst ganz praktische Fragen. Daher verwundert es nicht, wenn die kirchlichen Dokumente hier sehr konkret werden. Das beginnt bei der Frage der gemeinsamen Nutzung von Gebäuden. In der Handreichung aus dem Rheinland und Westfalen lesen wir: „Eine afrikanische Gemeinde, die laute Gottesdienste und Gebetsnächte feiert, kann in einem Gemeindehaus mit Einliegerwohnungen viele Probleme verursachen“17. 3. Ein Mietverhältnis ist noch nicht der Gipfel einer Beziehung. Kooperation kann sehr unterschiedlich aussehen, und auch dafür wurden Modelle entwickelt. Mehrfach rezipiert wurde die Unterscheidung von drei bzw. vier Formen der Kooperation von Benjamin Simon18: a) Beim ersten, dem Parallel-Modell, läuft die jeweilige Gemeindearbeit parallel nebeneinander her. Konkret: Die internationale Gemeinde kommt nur als Mieterin von Gemeinderäumen in den Blick – darüber hinaus gibt es keine Beziehungen. Benjamin Simon nennt das ein „nichtchristliches Nebeneinander von Geschwistern“19. b) Als Zweites nennt er das „Schwesterkirchen-Modell“. Es ist durch regelmäßigen Austausch geprägt. Es gibt gemeinsame Veranstaltungen und von Zeit zu Zeit gemeinsame Gottesdienste. Je eine Person ist Mitglied im Kirchengemeinderat der anderen Gemeinde. c) Noch einen Schritt weiter geht das Integrationsmodell. Die Ebene der Integration ist hier nicht die der örtlichen Gemeinde, sondern der Landeskirche: Die internationale Gemeinde wird als „Personalgemeinde“ oder „Anstaltsgemeinde“ in die Strukturen einer deutschen Landeskirche integriert, die Mitglieder sind Mitglieder der Landeskirche und in den entsprechenden Gremien vertreten. d) Das vierte Modell schließlich ist das sog. „hybride Gemeindemodell“ als Variante des Integrationsmodells. Einheimische und zugewanderte Christen bilden gemeinsam eine Gemeinde. Das scheint aber eher Zukunftsmusik zu sein, denn das einzige Beispiel, das in einer Broschüre der Evangelischen Landeskirchen in Baden und Württemberg genannt wird, liegt in der Schweiz in Basel-Stadt20.

17 Evangelische Kirche im Rheinland/Evangelische Kirche von Westfalen (Hg.) 2015, 54. 18 Simon 2011, 258, in Ev. Landeskirche in Württemberg und Ev. Landeskirche in Baden (Hg.) 2014, 14ff wird diese Unterscheidung übernommen. 19 Simon 2011, 258. 20 Evangelische Landeskirche in Württemberg & Evangelische Kirche in Baden (Hg.) 2014, 16 mit Verweis auf den ökumenischen und interkulturellen „Mitenand-Gottesdienst“ in der Matthäus-Kirche in Basel (s. Mitenand, rehovot.ch).

152

D. Gemeinde international und interkulturell

Nichtsdestotrotz sieht Benjamin Simon in der Bildung von HybridGemeinden ein „dringendes Desiderat“. Er will in den Großstädten „ein bis zwei landeskirchliche Gemeinden mit Migrationshintergrund bzw. ein bis zwei internationale Gemeinden […] etablieren, die in die Strukturen der jeweiligen Landeskirche angepasst sind“21. Die vier Modelle haben ein klares Gefälle, auffallend aber ist, dass die ersten drei Modelle trotz aller Kooperation von einem fortgesetzten Gegenüber ausgehen: Hier die deutsche Gemeinde, dort die „Gemeinde anderer Sprache und Herkunft“. Lediglich das Hybrid-Modell geht einen Schritt weiter. Aus diesem Grund möchte ich über die Potenziale dieses Modells nachdenken und beginne dazu wieder mit einem Beispiel.

9.1.4 „Vierzig Tage Persisch“ 1. Ein pensionierter evangelischer Pfarrer aus Münster erzählte mir, dass in seiner landeskirchlichen Gemeinde eine größere Zahl von Iranern zum Glauben gekommen und getauft worden sei. Er erzählte von gemeinsamen Weihnachtsfeiern, von Übersetzern im Gottesdienst, von der Suche nach Wohnungen für die Iraner, von einer hohen Hilfsbereitschaft in der Gemeinde, von der Begleitung bei Asylverfahren und anderem. Die neuen Gemeindeglieder haben sich zu einem eigenen Arbeitsbereich entwickelt, der Aspekte der Sozialarbeit einschließt. Ich stellte die Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, eine eigene Gemeinde für die Iraner zu bilden. „Nein“, war die Antwort. Das würden auch die betroffenen Iraner gar nicht wollen. Sie wollten in Deutschland integriert werden und für diesen Weg sei die Zugehörigkeit zu einer deutschen Gemeinde eine Hilfe. Auch wenn es sprachlich eine Herausforderung bleibt, würde es auch zu einem schnelleren Erlernen der deutschen Sprache beitragen. Für das Ankommen in Deutschland und die vielen Formen der Unterstützung im Alltag sei die Zugehörigkeit zur deutschen Gemeinde besser als die Bildung einer iranischen Gemeinde. Für die deutschen Gemeindeglieder sei es eine wichtige Herausforderung, die neuen Gemeindeglieder aufzunehmen und sie zu begleiten. Was ändert sich durch die neuen iranischen Christen für die deutsche Gemeinde? Wenn die Hälfte der Teilnehmenden einer Gemeindefreizeit Iraner sind oder gemeinsame Feste gefeiert werden, ändert sich Manches. Am Ende des Gottesdienstes kommt regelmäßig als Abspann: „Für unsere iranischen Freunde suchen wir …“ – Gesucht werden Wohnungen, Fahrräder, Möbel und vieles andere. Erstaunlich, was alles so an entbehrlichen, aber gut erhaltenen

21 Simon 2011, 258.

9. „Das christliche Gesicht der Migration“

153

Gegenständen in deutschen Wohnungen lagert! In den Gottesdiensten gibt es Übersetzung für Farsi, aber mindestens ebenso wichtig ist, dass regelmäßig Elemente der Liturgie in Farsi gehalten werden und einen wichtigen Beitrag zur Beheimatung der Iraner leisten. Es ist das Signal: Ihr werdet wahrgenommen, ihr gehört dazu! 2. Eine Reihe von Gesprächen seitdem haben mir vor Augen geführt, dass das, was in Münster geschieht, kein Einzelfall ist. Gemeinsame Gottesdienste mit Übersetzung in Farsi gibt es auch in anderen landeskirchlichen und freikirchlichen Gemeinden. In der Ökumenischen Monatszeitung „Kirche in Marburg“ lädt die evangelisch-freikirchliche Gemeinde zum Bibelstudium in persischer Sprache im Anschluss an die Gottesdienste ein. Ich hörte von einer Gemeinde in Berlin, die nach dem gemeinsamen Beginn in unterschiedliche Sprachgruppen auseinandergeht, von einer Gemeinde im Ruhrgebiet, die nicht nur zwei Bevölkerungsgruppen vereint, sondern interkulturell zusammengesetzt ist. Hier geschieht in der Tat etwas Neues, zumindest erleben wir eine neue Stufe einer Entwicklung. Bei aller Freude über diese Erfahrungen darf nicht verschwiegen werden, dass im Rückblick gesehen die Versuche eines kulturübergreifenden Miteinanders häufiger gescheitert als gelungen sind. Warum bilden die meisten landeskirchlichen und freikirchlichen Gemeinden ebenso wie Gemeinschaften nach wie vor rein „weiße“ Gottesdienstgemeinden? 2003 resümierte Claudia Währisch-Oblau: „Fast nirgendwo ist es landeskirchlichen Gemeinden gelungen, Migrantinnen und Migranten zu integrieren“22. Das müssen gar nicht Migranten aus einer fremden Sprache und Kultur sein, bereits Milieu-Unverträglichkeiten können zu Abstoß-Effekten führen. Wir können zurückblicken auf Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Gastarbeiter und die Aussiedler. Auch da gibt es viele Geschichten von Integrationsversuchen, gelungener und misslungener Integration. Die Grundfrage dahinter ist die nach der Bereitschaft zu Veränderungen. Allzu häufig werden neu Dazukommende vor eine meist unausgesprochene Alternative gestellt: Sie stehen vor der Wahl, sich anzupassen, um dazugehören zu dürfen – oder eben die Konsequenzen zu ziehen und wieder zu gehen. Die Tatsache, dass deutsche Gemeinden sich ändern, stellt einen der wesentlichen Unterschiede zur bisherigen Integration von Migranten dar: Bisher sahen die deutschen Gemeinden häufig keinen Anlass zu Veränderungen. Bei der ersten Generation der Aussiedler hieß es, das seien Deutsche wie wir. Wenn hin und wieder Einzelne dazukommen, hält sich der Veränderungsbedarf in Grenzen.

22 Währisch-Oblau 2003, 366.

154

D. Gemeinde international und interkulturell

3. Aus den Anfangserfahrungen mit dem Hybridmodell erwachsen Fragen: Lebt es nur vom Zauber des Anfangs, ist es ein Übergangsmodell oder liegen darin Potenziale, die auf Dauer gestellt werden können? In Münster und an anderen Orten können wir gespannt sein auf die weitere Entwicklung. Wie wird es sein, wenn etwa ein Hauptamtlicher da ist, der Farsi spricht und auch in dieser Sprache predigen kann? Wird die Gemeinde dann weiter gemeinsam Gottesdienst feiern? Die Homepage einer Gemeinde in Bielefeld zeigt eine anregende Aktion: Begleitend zu einer Predigtreihe „Vierzig Tage Persisch“ in der Fastenzeit wurden die deutschen Gemeindeglieder aufgefordert, jeden Tag ein Wort Farsi zu lernen23. Dass die Integration von überseeischen Migranten nicht aussichtslos ist, zeigt der Blick in einige Nachbarländer: In den Niederlanden und in Frankreich ist diese deutlich weiter fortgeschritten als hierzulande24. Das hängt sicher auch mit anderen Voraussetzungen zusammen, so entfallen etwa in Frankreich für Migranten aus Ländern mit frankophoner Prägung und Geschichte die Sprachbarrieren. Das ändert nichts daran, dass die Erfahrungen dort eine wichtige Herausforderung darstellen.

9.2 Herausforderungen und ökumenische Lernerfahrungen Im zweiten Teil möchte ich die dargestellten Entwicklungen und Erfahrungen theologisch reflektieren, vertiefen und in sechs Schritten zu Herausforderungen und ökumenischen Lernerfahrungen verdichten25. Bei diesem Thema eilt die Wirklichkeit der theologischen Reflexion voraus. Wer heute in die kirchlichen Handreichungen aus den Jahren 2010–2015 blickt, wird mild lächeln, weil durch die Flüchtlingswelle der Jahre 2015–2016 Vieles schon wieder überholt ist. Diese Flüchtlingswelle war sicher der Motor für wichtige Veränderungsschübe, gleichwohl lohnt es sich, das Thema auf eine breitere Grundlage zu stellen.

23 Pauluskirche Bielefeld, pauluskirche-bielefeld.de. 24 Währisch-Oblau 2003, 366 Anm. 12: „Das ist in den Niederlanden inzwischen anders“; für Frankreich kann ich aus eigenen Erfahrungen Ähnliches berichten. 25 Vgl. den Katalog mit Herausforderungen bei Schäfer 2011, v. a. 246 ff.

9. „Das christliche Gesicht der Migration“

155

9.2.1 „Willkommenskultur“ Die Rede von der „Willkommenskultur“ ist seit der Flüchtlingswelle im Herbst 2015 bekannt und verbreitet. Im Blick auf Gemeinden anderer Sprache und Kultur sind dabei Herausforderungen verbunden, die ich in mehreren Schritten entfalte: a) In einem ersten Schritt soll Bekanntes in Erinnerung gerufen werden. Am Anfang steht schlicht die Wahrnehmung, dass es neben landes- und freikirchlichen Gemeinden und Gemeinschaften eine Vielfalt von Gemeinden anderer Sprache und Herkunft gibt. Die damit verbundene ökumenische Lernaufgabe insbesondere für evangelisch-landeskirchliche Gemeinden besteht darin, den oft unausgesprochenen Alleinvertretungsanspruch aufzugeben, also die Meinung, alleine für das Christliche bzw. Evangelische auf deutschem Boden zuständig zu sein26. b) Was fremd ist, ist oft seltsam. Nicht nur kulturell, auch die Art und Weise, wie Christen aus anderen Kulturen Glauben leben und Theologie treiben, kann befremdend wirken. Manche sehen daher in den Gemeinden anderer Sprache und Herkunft primär einen Fall für die Weltanschauungsbeauftragten der deutschen Kirchen. So wichtig und nötig deren Dienst ist, hier plädiere ich für ein anderes Vorgehen. Wo die gemeinsame Basis der Glaube an Jesus Christus ist, sollte am Anfang nicht die theologische Kontrolle stehen, sondern die Wertschätzung und der Versuch, das Anliegen und die Eigenart der anderen zu verstehen. Empathie ist gefragt. Das klingt gut, ist aber in der Praxis oft eine wirkliche Herausforderung. Ein Beispiel dafür ist die „militaristische und triumphalistische Sprache neopentekostaler Kirchen“, die in deutschen Ohren reichlich schrill klingt. Sieht man jedoch auf den „Sitz im Leben“, führt das zu der Wahrnehmung, dass hier „farbige Migrantinnen und Migranten“ sprechen, also „Menschen, die sich als machtlos und marginalisiert erleben […] Es sind also Ohnmächtige, die hier im Glauben an die Macht Gottes eine Wirklichkeit proklamieren, die ihren Erfahrungen eine ganz andere Wirklichkeit entgegen setzt“27. Ein weiteres Beispiel: Wie gehe ich damit um, wenn der afrikanische Pastor allen Ernstes vor bösen Geistern warnt, die uns durch die Öffnungen der Toilette bedrohen sollen?28 Oder was heißt Empathie und Wertschätzung, wenn der deutsche Pfarrer die theologische Ausbildung seines afrikanischen Kollegen

26 S. Werner 2005, 269: „Abkehr vom konfessionellen Alleinvertretungsanspruch: Wir sind die (einzige) Kirche auf deutschem Boden“. 27 Währisch-Oblau 2003, 378. 28 Mündlicher Bericht von Matthias Frey (Direktor der Studien- und Lebensgemeinschaft Tabor).

156

D. Gemeinde international und interkulturell

nicht ernst nimmt, und dieser umgekehrt den Dienst eines Geistlichen nicht akzeptiert, weil dieser Alkohol trinkt? c) Ein dritter Schritt ist gelebte Gastfreundschaft. Unsere Willkommenskultur sollte nicht nur Flüchtlinge und Asylanten einschließen, sondern auch und gerade Christen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft (ohne dass zwischen beiden ein Konkurrenzverhältnis aufgerichtet werden soll). d) Bei alledem bleibt grundlegend die Frage nach der Bereitschaft zur Veränderung. In Gesprächen habe ich deshalb immer wieder nachgehakt: Was hat sich dadurch für die deutsche Gemeinde verändert? Wo Menschen einander nahekommen, prägt und verändert die Beziehung beide Seiten. Das ist bei jeder Freundschaft und Ehe so. Wo deutsche Gemeinden sich auf Christen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft einlassen, bleibt das nicht ohne Folgen für sie selbst: Sie werden andere. Möglicherweise ist das auch mit Ängsten vor Identitätsverlust verbunden. Dem steht die beglückende Erfahrung einer Gemeinschaft über Grenzen hinweg entgegen. Die Herausforderung kannte schon die frühe Christenheit. Paulus fordert die aus Christen mit jüdischem und heidnischem Hintergrund zusammengesetzte Gemeinde in Rom auf: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob“ (Röm 15,7).

9.2.2 Für eine Theologie des Gebens und des Empfangens a) Durch die Ankunft vieler Flüchtlinge stehen an vielen Orten diakonische Hilfeleistungen im Vordergrund. Bei einem Miteinander in einer Gemeinde ist das mit der Gefährdung verbunden, dass auf Dauer ein Abhängigkeitsverhältnis entsteht, zu dem sich auch eine Anspruchshaltung auf Seiten der Empfänger gesellen kann. Fortgesetzte Asymmetrien können zu einem Überlegenheitsgefühl auf der einen und zu einem Unterlegenheitsgefühl auf der anderen Seite führen, ganz abgesehen davon, dass solche Beziehungen anfällig für Missverständnisse sind. Gemeinden ebenso wie Christen innerhalb von Hybrid-Gemeinden stehen daher vor der Herausforderung, das Miteinander nicht nur auf Dauer zu stellen, sondern auch als geschwisterliches Miteinander „auf Augenhöhe“ zu gestalten. Auch diese Situation ist keineswegs neu, es gibt es Parallelen zur Situation der ersten Gemeinden, in denen sich Sklaven und Freie als Brüder und Schwestern in Christus wiederfanden. Der Brief an Philemon im Neuen Testament führt uns in eine solche Situation. Wo Migration im Kontext von Flucht und Vertreibung stattfindet oder mit einem Wohlstandsgefälle verbunden ist, hat sie eine Tendenz zur Hilfsbedürftigkeit. Der damit verbundene Bedarf an Unterstützung und legt es nahe, hier die Brücke zu den Themen Diakonie und Sozialarbeit zu schlagen. Hier sind Kom-

9. „Das christliche Gesicht der Migration“

157

petenzen aus der Sozialarbeit bis hin zu interkulturellen Kompetenzen unentbehrlich. Mehr noch: Eine vorausschauende Sozialarbeit kann einen Beitrag dazu leisten, Abhängigkeitsverhältnisse nicht zu perpetuieren, sondern Menschen auf einem Weg zu begleiten, auf dem sie ihre eigenen Ressourcen entdecken, aktivieren und dadurch wieder zu Subjekten ihres Geschicks werden. „Empowerment“ ist hier ein wichtiges Modell aus der sozialen Arbeit, das Wege aus der „Fürsorge-Falle“ weisen kann. b) Zu einer Beziehung auf Augenhöhe gehört ein gegenseitiges Geben und Empfangen. Allen Sparzwängen zum Trotz zählen deutsche Gemeinden im internationalen Vergleich zu den wohlhabenden Gemeinden – und das prägt häufig auch das Selbstbewusstsein. Überlegenheitsgefühle gibt es auch in der theologischen Forschung und Ausbildung. Gerade im Vergleich mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft ist die Versuchung nahe, dass wir uns für die „Besseren“ halten. Kann hier ein partnerschaftliches Verhältnis gestaltet werden, das aus einem gegenseitigen Geben und Nehmen besteht und in Gemeinden anderer Sprache und Herkunft nicht nur Empfänger diakonischer Hilfeleistungen und theologischer „Entwicklungshilfe“ sieht? Das ist eine echte Herausforderung, denn wenn von einem gegenseitigen Geben und Nehmen die Rede ist, kommt rasch die Frage: Was können diese Gemeinden uns geben? Im schlechteren Fall reicht die Vorstellungskraft nicht über musikalische und kulinarische Beiträge zum Gemeindefest hinaus. Nicht zu Unrecht fordert Michael Herbst hier eine Befreiung aus der „folkloristischen Gefangenschaft“29. Ja, es geht um eine „Theologie des Empfangens“. Wer sich immer nur in der Rolle des Gebenden sieht und die Theologie der Sendung nicht durch eine Theologie des Empfangens ergänzt, neigt zum Hochmut. Es gehört Bescheidenheit zu der Einsicht: Auch wir sind „Empfänger und rezeptiv Nehmende [etwa] im Blick auf missionarische Impulse aus anderen Kulturen und Ländern“30. Dietrich Werner formuliert es in der wünschenswerten Klarheit: „Das Verhältnis zwischen einer Theologie und Praxis des Sendens und einer des Empfangens ist der Testfall für die ökumenische Glaubwürdigkeit und Partnerschaftsfähigkeit unserer Kirchen“31. Ein konkreter Bereich, in dem sich eine Theologie des Empfangens Gestalt gewinnen kann, ist das schon genannte Thema Mission, dem wir uns nun zuwenden.

29 Herbst 2013, 171. 30 Werner 2005, 270. 31 Werner 2005, 270.

158

D. Gemeinde international und interkulturell

9.2.3 Von der „reverse mission“ zur gemeinsamen Mission Weniger die Gemeinden der klassischen Denominationen, aber eine ganze Reihe der übrigen Gemeinden anderer Sprache und Herkunft sieht einen Auftrag zur Mission in Deutschland, der über ihre eigenen Landsleute hinausreicht. Auf der Homepage der Marburger Mission, die selbst einen Arbeitszweig „Reverse Mission“ betreibt, wird Josué Brepohl aus Brasilien zitiert: „Vor vielen Jahren habt ihr und die gute Nachricht von Jesus gebracht. Dafür sind wir euch sehr dankbar. Nun bringen wir euch das Evangelium zurück nach Deutschland“32. Deutsche Kirchenleute mögen zunächst schmunzeln, wenn sie das hören und denken: Wenn es uns schon kaum gelingt, unsere eigenen Mitglieder mit dem Evangelium zu erreichen – wie soll das dann brasilianischen Missionaren gelingen? Sie mögen Landsleute erreichen, aber sich den eigenen Nachbarn in einer afrikanischen Pfingstgemeinde vorzustellen, braucht eine gehörige Portion Phantasie. Nicht jeder Versuch der sog. „reverse mission“ gelingt. Erstaunlicherweise haben sich durch die „reverse mission“ aber internationale Gemeinden gebildet, die tatsächlich Deutsche erreichen, insbesondere Bevölkerungsgruppen und Schichten, zu denen die deutschen Landes- und Freikirchen nur schwer Zugang finden. Sicher, nicht alles ist unser Stil und nicht alles entspricht unseren Vorstellungen von kultursensibler Mission. Dennoch bleibt die unbekümmerte Art und Weise, wie hier Christen anderer Herkunft den missionarischen Auftrag ernst nehmen, für deutsche Gemeinden eine Herausforderung. Der Missionstheologie Dietrich Werner spitzt zu: „Die Landeskirchen tun gut daran, sich dieser Gestalt missionarischer Präsenz […] zu öffnen“33. Das Ziel wäre dann ein „bewusstes und öffentliches Ja zu einer ausländischen christlichen Mission auf deutschem Boden“34. Ganz ähnlich Michael Herbst: „Die lokalen deutschen Kirchen müssen lernen, dass die ‚reverse mission‘ für unsere missionarische Herausforderung in Deutschland ein Geschenk ist. Wir können vereint in der einen Mission stehen […] Können wir uns freuen, wenn nicht-glaubende Deutsche zum Glauben finden – sagen wir, in einer internationalen Baptistengemeinde in Hamburg?“35.

32 Marburger Mission, marburger-mission.org. Ähnliche Zitate finden sich bei Währisch-Oblau 2005, 39 und Herbst 2013, 172. 33 Werner 2005, 267. 34 Werner 2005, 270. 35 Herbst 2013, 172.

9. „Das christliche Gesicht der Migration“

159

9.2.4 Multi-Kulti ist erst der Anfang a) Kaum eine deutsche Kirche wird sich als „Stammeskirche für die Einheimischen“ verstehen, aber viele Gemeinden sind durch Mentalitäten geprägt, die zur kritischen Rückfrage Anlass geben, ob nicht unterschwellig doch ein solches Verständnis leitend ist. Ist dann „Multi-Kulti“ die angemessene Alternative in einer zunehmend multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft? In der Tat, wer Kirche für das „ganze Volk“ und nicht nur für einen einheimischen „Stamm“ sein will, muss Grenzen überschreiten und „vielfältig“ werden. Darin liegt eine bisher kaum wahrgenommene ekklesiologische Provokation, geht es doch letztlich um die Herausforderung für den deutschen Protestantismus, die „kulturell-ethnische Verengung im Verständnis von Kirche“ zu überwinden36. Claudia Währisch-Oblau formuliert es so: „Weder in den vielen Studien und Überlegungen zur Volkskirche noch in den offiziellen Handreichungen zur ökumenischen Zusammenarbeit mit Migrationsgemeinden wird auch nur angedacht, dass die Volkskirche in einer multikulturellen Gesellschaft selbst multikulturell werden muss, wenn sie denn Kirche des ganzen Volkes und nicht nur einer Ethnie sein will. Das ethnozentrische Selbstverständnis der evangelischen Landeskirchen bleibt in der ökumenischen Kooperation mit Migrationskirchen unausgesprochen und unhinterfragt“37. b) „Multikulti“ kann zwar deskriptiv verstanden werden, häufig aber ist der Begriff ein programmatisches, bisweilen auch abwertend verwendetes Reizwort. Was meint dann „Multi-Kulti ist erst der Anfang“? In kulturwissenschaftlicher Terminologie38 bedeutet Multikulturalität, „dass es nicht zur Verschmelzung der verschiedenen Kulturen kommt, sondern, dass sie nebeneinander bestehen“39 – so formuliert es der Seminar-Anbieter „InterKultur und Didaktik“ (IKUD). Multi-Kulti als rein additives Nebeneinander ist daher erst der Anfang und noch lange nicht das Ende eines Miteinanders! Ein nächster Schritt ist die Interkulturalität. Darunter „versteht man das Aufeinandertreffen von zwei oder mehr Kulturen, bei dem es trotz kultureller Unterschiede zur gegenseitigen Beeinflussung kommt“ (IKUD). Jetzt treten die

36 Werner 2005, 266. 37 Währisch-Oblau 2003, 366. 38 Einen ausgezeichneten Überblick über die damit verbundene Theoriebildung gibt Wrogemann 2016, 223 f. 338–341; Wrogemann wirft auch einen kritischen Blick auf die mit den jeweiligen Konzepten verbundenen Implikationen, insbesondere die Frage, „ob die Begriffe ‚multi‘kulturell und ‚inter‘-kulturell nicht zu sehr ein einheitliches Kulturverständnis voraussetzen“ (333). Auch in EKD 2014, 46–48 werden die Begriffe verwendet. 39 IKUD, ikud.de; daraus sind auch die folgenden Zitate entnommen.

160

D. Gemeinde international und interkulturell

Kulturen in Interaktion. Darin besteht ein wichtiges Ziel im interkulturellen Miteinander zwischen Christen und Gemeinden unterschiedlicher Sprache und Kultur: Im Voneinander-Lernen und Einander-Bereichern. Nur nebenbei bemerkt: Auch rein deutsche Gemeinden sind schon lange durch interkulturelle Dynamiken geprägt. Ich nenne nur die vielen Gospel-Chöre und die unzähligen Lieder in den Gesangbüchern und auf den Leinwänden der Kirchen, die in anderen Kulturen beheimatet sind, aber längst in unseren Gottesdiensten ihren festen Platz gefunden haben. Die dritte Stufe schließlich ist die Transkulturalität. Hier wird nicht mehr davon ausgegangen, „dass Kulturen […] homogene, klar voneinander abgrenzbare Einheiten sind, sondern besonders infolge der Globalisierung, zunehmend vernetzt und vermischt werden“ (IKUD). Transkulturalität führt zu einer neuen kulturellen Identität, die sich aus verschiedenen kulturellen Zugehörigkeiten zusammensetzt. Für eine Hybrid-Gemeinde würde das bedeuten: Nicht mehr die deutsche Gemeinde integriert Elemente einer Migrantenkultur, sondern in der Begegnung und im Zusammenleben entsteht eine neue christliche Identität und Kultur – im besten Fall strahlt das aus und wirkt in der Umwelt kulturprägend. Damit ist nicht gesagt, dass jede Gemeinde interkulturell oder gar transkulturell werden muss – aber die Unterscheidung kann eine Idee davon geben, in welche Richtungen Entwicklungen gehen können. Multi-Kulti im Sinne der Multikulturalität ist jedenfalls erst der Anfang. Bei den hier vorgestellten Modellen geht es nicht primär um ein „besser“ oder „schlechter“, um ein mehr oder weniger „fortschrittlich“, sondern um die Frage, ob die Form des Miteinanders der Situation und dem Kontext angemessen sind. Konkret: Die Erfahrungen von Hybrid-Gemeinden bedeuten nicht, dass die Bildung von „Gemeinden anderer Sprache und Herkunft“ ab sofort nur noch die zweite Wahl darstellt. Die unterschiedlichen Modelle und Stufen werden weiter nebeneinander bestehen – und das ist auch gut so. Auch der an sich sinnvolle Vorschlag, in der Großstadt zwei HybridGemeinden zu etablieren, wird kaum „von oben“ planbar und durchsetzbar sein, sondern setzt ein Miteinander voraus, das an der Basis wachsen muss. Denkbar ist jedoch, dass entsprechende Initiativen vor Ort kirchenleitend durch entsprechende Begleitung und finanziell unterstützt werden.

9.2.5 Die Einheit in Christus und die Frage der Identität Die EKD-Handreichung „Gemeinsam evangelisch!“ von 2014 stellt unterschiedliche biblisch-theologische Modelle vor, die als Leitmodelle für das Verständnis und die Gestaltung der Beziehung zwischen deutschen Gemeinden und

9. „Das christliche Gesicht der Migration“

161

Gemeinden anderer Sprache und Herkunft dienen können40. Dazu zählt der in der Bibel breit bezeugte Schutz der Fremden. Weitere Modelle sind die der Koinonia oder Konvivenz, also ein Zusammenleben in Dialog und Gastfreundschaft. Aber selbst das Konzept der „ökumenischen Gastfreundschaft“ – so resümiert die EKD-Schrift – trägt auf Dauer nicht, weil es neben allen Vorzügen „letztlich ein Machtgefälle“ impliziert41. Dagegen wird die Kirche als Gemeinschaft der Herausgerufenen stark gemacht, weil in diesem Modell die Unterschiede von „Einheimischen“ und „Zugewanderten“ relativiert werden: Die Einheit im Leib Christi hebt diese Trennung auf. Hierher gehört Eph 2,19–20: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist.“ Für christliche Gemeinden ist Galater 3,28 ein kräftiger Akzent und zugleich eine Verheißung: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“. Die Zusammengehörigkeit und Identität in Christus übersteigt geschlechtliche, nationale und kulturelle Identitäten. Gerade in einer Gesellschaft, die an vielen Stellen durch Gräben und Verwerfungen geprägt ist, kann die Orientierung an der Einheit in Christus helfen, Gräben zu überwinden: Im Miteinander von Generationen, Geschlechtern, Milieus und eben auch angesichts kultureller und sprachlicher Differenzen. Wo kulturelle Differenzen unüberwindbar scheinen, kann kritisch gefragt werden, ob hier wirklich die Identität in Christus an erster Stelle steht oder ob nicht letztlich die kulturelle Prägung dominiert. Wo freilich das Miteinander gelingt, wird ein kontra-kultureller Aspekt des christlichen Glaubens deutlich und erfahrbar: Wo wir Menschen zu Trennungen neigen, schafft Christus neue Verbindungen und Gemeinsamkeiten.

9.2.6 „Und als der Pfingsttag gekommen war“ (Apg 2,1) Das Lob der Vielfalt und Pluralität zieht sich fast unisono durch die neueren kirchlichen Verlautbarungen zu Gemeinden anderer Sprache und Herkunft und scheint typisch protestantisch zu sein. „Gott will in seiner Kirche die Vielfalt, nicht die Uniformität“42 formuliert die Handreichung aus dem Rheinland und aus Westfalten programmatisch.

40 Kirchenamt der EKD (Hg.) 2014, 17–26. 41 Kirchenamt der EKD (Hg.) 2014, 18 f. 42 Evangelische Kirche im Rheinland und Evangelische Kirche von Westfalen (Hg) 2015, 22.

162

D. Gemeinde international und interkulturell

Auch von „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ ist häufig die Rede. Das geht einen Schritt tiefer, weil es impliziert, dass Verschiedenheit nicht per se versöhnt und einträchtig, sondern häufig auch konfliktträchtig ist. Ich möchte diesen Ansatz biblisch-theologisch weiterführen und in zwei Spannungsfelder stellen: a) Das Lob der Vielfalt kann von der sog. „Völkertafel“ in Gen 10 ausgehen. Auch nach der Sintflut ist „die Vielfalt der Völker und die Verschiedenheit der Sprachen und Kulturen […] nicht nur als Zerfall einer homogenen Urgesellschaft und als göttliche Strafe zu bewerten, sondern auch als Reichtum und als Teil der Vollzugs des göttlichen Auftrags, die Erde zu füllen“43. Im Kontrast dazu steht die in Gen 11 folgende Geschichte vom Turmbau zu Babel. Die Vielfalt der Völker ist dort nicht Zeichen der schöpferischen Vielfalt. Die Sprachverwirrung und das Einander-nicht-Verstehen-Können ist das traurige Endergebnis und zugleich die Strafe für die Auflehnung gegen Gott44. In diesen beiden Kapiteln finden wir bereits die Spannung, die bis heute interkulturelle Beziehungen und die damit verbundene Vielfalt und diversity prägt: Es gibt die beglückende Erfahrung von Gemeinschaft und Bereicherung, aber eben auch die schmerzliche Erfahrungen bleibender Fremdheit und eines Nicht-Verstehen-Könnens. Das Lob der Vielfalt verstummt rasch, wenn zwei sich kaum verständigen können, weil sie keine gemeinsame Sprache sprechen. b) Von hier aus kann der zweite Bogen zur Pfingstgeschichte (Apg 2) als Kontrastgeschichte zur Turmbaugeschichte gespannt werden. Pfingsten heißt: Der Geist Gottes ermöglicht Verstehen und neue Gemeinschaft. Dabei ist Pfingsten nicht nur als Wiederherstellung der ursprünglichen Schöpfung (restitutio in integrum) zu verstehen, sondern eschatologisch als Beginn der neuen Schöpfung. Apg 2 nimmt Bezug auf die Verheißung der Geistausgießung auf alles Fleisch „in den letzten Tagen“ (Apg 2,17 bzw. Joel 3,1). Damit wird das Miteinander von Christen unterschiedlicher Sprache und Herkunft in einen großen Bogen vom Anfang aller Zeiten bis zu ihrem Ende eingezeichnet: Von der Schöpfung her steht dieses Miteinander in der Spannung zwischen schöpferischer Vielfalt und schmerzlicher Trennung. Seit Pfingsten steht die christliche Gemeinde unter der Verheißung, dass Gottes Geist Menschen zueinander führt und miteinander verbindet. Er schafft neues Verstehen über kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg. Überall, wo Menschen diese Einheit in Christus leben und erfahren, auch und gerade im Miteinander von Christen und Gemeinden unterschiedlicher Sprache und Herkunft, wird die in Christus verheißene und verbürgte Zukunft bereits gegenwärtig anschaulich und erfahrbar. Sicher noch fragmentarisch und durch menschliche Unzuläng-

43 Klaiber 2005, 180. 44 S. Klaiber 2005, 186.

9. „Das christliche Gesicht der Migration“

163

lichkeiten geprägt, aber dennoch als Vorzeichen dessen, was der christlichen Gemeinde verheißen ist. Wir bekommen einen Vorgeschmack von der neuen Schöpfung. Wir leben in der Hoffnung und Sehnsucht darauf, am Ende alle heute noch als schmerzlich erfahrenen Trennungen, alles Missverstehen und Nicht-Verstehen-Können ein Ende haben werden – und wir nicht nur Christus „von Angesicht zu Angesicht“ (1Kor 13,2) schauen werden, sondern auch untereinander als Schwestern und Brüder in ungetrübter Gemeinschaft leben werden. Das ist der tiefste Grund dafür, Migration als Chance und Herausforderung für die Zukunft christlicher Gemeinden zu sehen und deshalb heute schon mutig Schritte hin zu einem die Sprach- und Kulturgrenzen überschreitenden Miteinander zu gehen.

E. Gemeinde mit Profil

Ausgehend vom Verständnis von „Gemeindeaufbau“ als „Koinoinia-Gestaltung“ (s. o. 1.4.3) geht es um die Aufgabe, der Gabe der Koinonia eine wahrnehmbare Gestalt zu geben und damit um die Fragen nach unterschiedlichen Formen und Gestaltungen christlicher Gemeinde. Dieses Thema kam bereits an einigen Stellen vor: • Bei der „Suche nach Sozialformen christlicher Gemeinde in der Postmoderne“ wurde die Bedeutung netzwerkartiger Strukturen erörtert. (Teil A) • Das Thema „missionarische Gemeinde“ (Teil B) führt zu fresh expressions of church bzw. „neuen Ausdrucksformen von Kirche“. • Migration und die Frage nach interkulturellen Gemeinden warfen eine Grundfrage der Gestaltung christlicher Gemeinde auf: Sollen Gemeinden homogen sein und kultureller Beheimatung dienen – oder sind gerade Gemeinden ein Ort der Begegnung und Gemeinschaft über kulturelle, sprachliche und ethnische Grenzen hinweg?

In diesem Teil werden weitere Themen erörtert, die die Frage nach Gestalt und Gestaltung christlicher Gemeinde insbesondere im Kontext landeskirchlicher Gemeinden betreffen: Es geht um die Fragen der „Profilbildung“ und „Profilgemeinden“ (Kap. 10), dann um die Parochie bzw. Ortsgemeinde und andere Modelle, die diese in der gegenwärtigen Situation ergänzen könnten (Kap 11). Ein Abschnitt zum „Zukunftsthema“ „Gemeinde in der Region“ wird verbunden mit pastoralen Impulsen zum Umgang mit der derzeitigen, eher durch „Rückbau“ als durch Aufbruch gekennzeichneten Situation (Kap. 12).

166

E. Gemeinde mit Profil

10. „Profilbildung“ und „Profilgemeinden“ 10.1 Gemeindeentwicklung als „Profilbildung“ 10.1.1 „Kirche mit Profil“ Was ist eine Kirche mit Profil? Die einen halten eine Gemeinde für profillos, einer anderen Gemeinde wird der Vorwurf gemacht, sie profiliere sich auf Kosten anderer. Ganz offensichtlich ist Profilbildung durchaus ein Thema für den Gemeindeaufbau, in der neueren Diskussion ist von „Profilgemeinden“ oder einer erwünschten „Profilierung spezifischer Angebote“1 die Rede. Wie aber ist die Rede von „Profil“ und von „Profilierung“ zu verstehen? Ausgangspunkt ist die Grundbedeutung der Seiten- oder Schattenansicht eines menschlichen Gesichts, bei der charakteristische Merkmale wie die Form des Kopfes und der Nase hervorstechen. Dabei hat Profil stets mit Außenwahrnehmung zu tun. Sein eigenes Profil kann man nicht bzw. nur im Spiegel sehen. Wenn wir von „Kirche mit Profil“ reden, dann geht es auch darum, wie Kirche bzw. Gemeinde von außen wahrgenommen wird. Im Blick auf den Gemeindeaufbau würde Profilbildung also bedeuten: Kirche oder Gemeinde bemüht sich um ein Profil, um ein charakteristisches Erscheinungsbild. Wer aber soll es wahrnehmen, wer sind die Adressaten? Mehr noch: Ab wann kann man von einer „Außenwahrnehmung“ reden? Kaum bei denen, die eng mit der Gemeinde verbunden sind, bei sog. „Distanzierten“ schon eher, erst recht bei Nicht-Mitgliedern. Das Profil einer Gemeinde wird auch von Nachbargemeinden, Kirchenleitungen und der lokalen Öffentlichkeit wahrgenommen. Zurück zum Gesichtsprofil. Es handelt sich um einen Anblick von der Seite, bei dem nur die Umrisse erkennbar sind, das, was hervorsticht. Was ist es, was bei einer Gemeinde bzw. Kirche hervorstechen soll? Konkret: Wenn ein Konfessionsloser gefragt wird, welche Merkmale er mit „Kirche“ oder „Gemeinde“ verbindet – was wird ihm einfallen? Wie verhält sich das zur Selbstwahrnehmung der Gemeinde und deren intendiertem Profil? Die Differenz zwischen erwünschten und tatsächlich von außen wahrgenommenem Profil könnte einen Ausgangspunkt für einen Prozess der Gemeindeentwicklung darstellen, weitergeführt mit der Frage, wie ein Weg vom aktuell vorhandenen zum erwünschten Profil gestaltet werden kann.

1

Evangelische Kirche in Deutschland 2006, 53.

10. „Profilbildung“ und „Profilgemeinden“

167

10.1.2 „Profilbildung“ in der Volkskirche Das „klassische“ bzw. „traditionelle“ Bild von Kirche ist das der Volkskirche. Dazu gehören der Pfarrer und der Kirchturm, außerdem Gottesdienste, insbesondere am Heiligabend, Taufen, Konfirmationen, Trauungen, Beerdigungen. Das sind auch die Hauptberührungspunkte mit Kirche: Die Pfarrerin, die Geburtstagsbesuche macht, die Kirche, die im Ort sichtbar ist, und eben die genannten hervorgehobenen Gottesdienste. „Wer die Volkskirche ruinieren will, der muss die Amtshandlungen, insbesondere die Kindertaufe, in Frage stellen, das Weihnachtsfest madig machen und das Parochialprinzip antasten“ – so formuliert es der Kieler Praktologe Rainer Preul2. Mit anderen Worten: Die Kasualien, das Weihnachtsfest (zusammen mit Erntedankfest und Schulanfang), das sind zusammen mit der Parochie, zu der auch der Pfarrer als parochus gehört, die „Wahrzeichen“ der Volkskirche. Ist dies aber das, was theologisch im Zentrum steht und daher ihr Profil ausmachen soll? Zugespitzt: Gehört das alles notwendig zur Kirche? Sind das Dinge, ohne die sie nicht Kirche sein kann? Ich versuche ein anderes Profil zu zeichnen: Gemeinde ist ihrem Wesen nach Gemeinschaft, sie besteht aus Menschen, die Anteil an Christus haben, an ihn glauben und mit ihm verbunden sind. Ihr Glaube zu Jesus verbindet sie auch untereinander: Sie sind Glieder am Leib Christi, mit Christus und untereinander verbunden. Die „Versammlung der Glaubenden“ im Gottesdienst ist ihre gemeinsame Mitte. Von da aus bilden sich Formen gemeinsamen Lebens. Das strahlt nach außen aus: Menschen leben ihren Glauben in ihrer Familie, in ihrem Bekanntenkreis, an ihrem Arbeitsplatz glaubwürdig. Das wäre eine Zielangabe: Nicht zuerst Gebäude, nicht zuerst der Mann in Schwarz mit dem Talar, der Kinder tauft, sondern eine Gemeinschaft von Menschen, die ihren Glauben leben, Gott loben und Gutes tun. Das muss es gewesen sein, was die ersten Christen nach außen überzeugend machte. Es gab keine Kirchengebäude, Türme schon gar nicht, keine Pfarrer, keinen Gottesdienst am Heiligabend, keine Konfirmation und keinen Religionsunterricht an der Schule. Das alles soll nicht abgeschafft werden – schließlich werden diese Zeilen von einem landeskirchlichen Pfarrer geschrieben. Es geht nicht um eine Attacke gegen die Volkskirche, sondern um die nötige Unterscheidung: Was gehört zum esse, was zum bene esse der Kirche? Was ist notwendig für eine christliche Gemeinde – und was sind Dinge, die sein können oder eben auch nicht? Sie

2

Preul 1997, 183.

168

E. Gemeinde mit Profil

sind der Kirche im Laufe ihrer Geschichte zugewachsen und können und sollen sein, solange sie hilfreich sind. Ein kritischer Punkt wäre dann erreicht, wenn sie sich zum Ballast entwickeln. Wie kann in der Volkskirche das zur Geltung kommen, was Gemeinde Jesu im Kern ausmacht – und das in einer Weise, dass es nicht nur ihre Identität ausmacht, sondern auch ihr von außen wahrnehmbares Profil darstellt? Hier kann zurückgegriffen werden auf das Verständnis von „Gemeindeaufbau“ als Aufgabe der Gestaltwerdung von Koinonia: Es geht darum, der Gemeinschaft mit Christus und untereinander eine erfahrbare Gestalt zu geben3. Ein davon abgeleitetes Gemeindeentwicklungsprogramm könnte als Ziel formulieren: In zwanzig Jahren denkt ein Konfessionsloser, der „Kirche“ hört, zuerst nicht an das Kirchengebäude oder den Pfarrer im Talar, sondern an Menschen, die – mit Bonhoeffer gesprochen – auffallen durch „Beten und Tun des Gerechten“4.

10.2 Profilgemeinden 10.2.1 Lange Zeit: nicht gern gesehen In der neueren Diskussion innerhalb der evangelischen Landeskirchen werden Ortsgemeinden bzw. Parochien mit einer bestimmten Prägung als „Profilgemeinden“ bezeichnet. In „Kirche der Freiheit“ (2006) werden sie unterschieden von überparochialen Gemeinden, also Gemeinden, die keine Ortsgemeinden, sondern sog. „Personalgemeinden“ oder „Netzwerkgemeinden“ darstellen5. „Profilgemeinden“6 in dieser Hinsicht besitzen ein „Gemeindeprofil“, das sich von dem anderer parochialer Gemeinden unterscheidet. Es ist so ähnlich wie mit der Rede vom „Schulprofil“ – das meint ein besonderes, von anderen unterscheidbares Profil einer Schule, etwa ein reformpädagogisches. Zunächst gibt es profilierte Gemeinden schon lange. Manche Gemeinden haben ein klar pietistisches Profil, andere etwa ein liberales. Lange Zeit sah man

3 S. o. Kap. 1, v. a. 1.4.3. 4 Bonhoeffer 1998a, 435 f. 5 Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass auch überparochiale und freikirchliche Gemeinden „Profile“ ausbilden können und insofern als „Profilgemeinden“ bezeichnet werden können. 6 In die Diskussion ist der Begriff „Profilgemeinden“ vor allem durch das Impulspapier der EKD „Kirche der Freiheit“ (Evangelische Kirche in Deutschland 2006) gekommen.

10. „Profilbildung“ und „Profilgemeinden“

169

das „von oben“ in der Kirchenleitung nicht gerne. Man sah es als Gefährdung der Einheit, wenn eine Gemeinde sich zu sehr von der anderen unterschied und bremste sie aus. An dieser Stelle gab es oft eine Inkonsequenz im Umgang mit dem Pluralismus. Auf der einen Seite hieß man die Vielfalt in der Kirche willkommen, aber wenn eine ganze Gemeinde daraus ein eigenes Profil mit eigenen Gottesdienstformen entwickelte, dann wurde das schnell verdächtigt: Ihr wollt euch nur auf Kosten der anderen profilieren! Und wenn eine solche Gemeinde dann auch noch Menschen anzog, dann bekam sie schnell innerkirchlichen Gegenwind: Nein, das war nicht erwünscht. Jeder soll sich bitteschön zu der Gemeinde halten, in der er wohnt, und keine Gemeinde soll aus der Reihe tanzen. Hinzu kommen kollegialer Eifersucht und Neid unter Pfarrern. Im Kollegenkreis hatten es die Pfarrer solcher Profilgemeinden in der Regel nicht leicht, wurde ihnen doch unterstellt, sie würden die Leute von anderswo „abziehen“. Das angestrebte Ergebnis war letztlich eine kirchliche Einheitskultur, die in einem seltsamen Widerspruch zum Lob des Pluralismus stand. Profilierung fand zwar statt, war aber aufs Ganze gesehen nicht erwünscht.

10.2.2 Seit kurzem: Neue Töne An dieser Stelle ist eine bemerkenswerte Veränderung eingetreten. Exemplarisch für die „neuen Töne“ stehen das EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ (2006) und eine von Wilfried Härle in Heidelberg durchgeführte Untersuchung (2008). A) „Kirche der Freiheit“ formuliert programmatisch: „Aus den Parochien heraus entwickeln sich immer häufiger Profilgemeinden, die mit einem besonderen geistlichen, kirchenmusikalischen, sozialen, kulturellen oder jugendbezogenen Schwerpunkt nicht nur die unmittelbare örtliche Umgebung ansprechen, sondern eine regional bezogene Ausstrahlung entwickeln. Solche Profilgemeinden verbinden die Grundaufgaben von Ortsgemeinden mit einem Schwerpunktbereich, den sie besonders stark ausbauen und kompetent gestalten. In diesem Bereich nehmen sie stellvertretend für umliegende Gemeinden eine regionale Gemeinschaftsaufgabe wahr“7.

7

Evangelische Kirche in Deutschland 2006, 55. – Die Fortsetzung lautet: „Profilgemeinden sind daher auf eine Region oder einen Kirchenkreis angewiesen, in der oder in dem eine solche stellvertretende Aufgabenwahrnehmung gewünscht und gefördert wird. Eine gesamtkirchliche Einbindung ist auch für geistliche Richtungs- oder Migrantengemeinden notwendig, in denen sich Menschen mit einem speziellen Frömmigkeitsstil oder mit einer gemeinsamen Herkunft sammeln (beispielsweise charismatisch orientierte Gemeinden, russlanddeutsche Gemeinden

170

E. Gemeinde mit Profil

Gegenüber früheren Zeiten bedeutet das eine 180 °-Kehrtwende! Profilbildung wird hier als Schwerpunktbildung gesehen, die nicht auf Kosten anderer geschieht, sondern umgekehrt: Nicht jede Gemeinde muss alles machen, nicht jede Gemeinde muss dieselben Schwerpunkt bilden, hier können sich die Gemeinden gegenseitig ergänzen. Nicht jede Gemeinde muss ein „Vollsortimenter“ sein, Spezialisierung ist möglich und erwünscht. Es geht gewissermaßen nach dem Motto: Besser in wenigen Bereichen richtig gut als in vielen Bereichen mittelmäßig. Bisher erfolgte diese Art der Profilbildung eher zufällig bzw. sie orientierte sich an Vorlieben der in der Gemeinde Engagierten, häufig des Pfarrers oder der Pfarrerin. Ihr Musikgeschmack, ihre Themen und Interessen und die damit verbundenen, oft zielgruppenspezifischen Angebote trugen zur „Profilbildung“ bei. Als Zukunftsaufgabe kommt eine koordinierte Profilbildung in den Blick – dazu unten mehr (Kap. 10.2.3). B) „Wachsen gegen den Trend. Analysen von Gemeinden, mit denen er aufwärtsgeht“ ist ein Buch überschrieben, das 2008 unter Federführung des damaligen Heidelberger Systematikers Wilfried Härle veröffentlicht wurde8. Der Darstellung liegt keine strenge sozialwissenschaftliche Methodik zugrunde, vielmehr enthält er Portraits von landeskirchlichen evangelischen Gemeinden, die zwischen 2003 und 2006 hinsichtlich der Mitgliederzahl und/oder des Gottesdienstbesuchs gewachsen sind. Sie wurden aufgrund von Anfragen an Kirchenleitungen, dem sich anschließenden Versand von Fragebögen und den Rückmeldungen darauf ausgewählt. Es sind sehr unterschiedliche Gemeinden, die sich weder im Hinblick auf die Frömmigkeit noch auf ihr Umfeld über einen Kamm scheren lassen. Der Ansatz der Darstellung ist die sog. „good-practice“: Modelle gelungener Praxis sollen Impulse sollen nicht kopiert werden, aber Impulse zum Weiterdenken geben. Das Buch will dazu beitragen, den Bekanntheitsgrad erfreulicher Entwicklungen zu erhöhen9. In einer Auswertung werden die wichtigsten Beobachtungen zusammengefasst. Auf die Frage „Wodurch sind Gemeinden gewachsen? – Impulse und Auslöser des Wachstums“ wird als erstes „Profilbildung“ genannt: „Wachstum ging bei einem überwiegenden Teil der beobachteten Gemeinden mit einer Profil-

8 9

oder fremdsprachige Gemeinden). Vorausgesetzt ist, dass solche Gemeinden sich selbst der Gemeinschaft der evangelischen Kirche in Deutschland zuordnen, die Vielfalt der Frömmigkeitsformen im Protestantismus mittragen, öffentliche Gottesdienste anbieten und Visitationen erlauben“. Härle u. a. 2008. Härle u. a. 2008, 13.

10. „Profilbildung“ und „Profilgemeinden“

171

bildung einher“10. Es geht dabei um Schwerpunktsetzungen, die bewusst initiiert oder weiterentwickelt wurden, aber auch um die Reaktion auf Anforderungen von außen, etwa durch die Entstehung eines Neubaugebiets. Unterschieden werden bei der Profilbildung zwei Typen: Auf der einen Seite steht eine frömmigkeitsspezifische Profilbildung, auf der anderen Seite eine Profilbildung im Sinne einer Schwerpunktsetzung, einer intensive Zuwendung zu einer Zielgruppe oder einem Arbeitsfeld. Das Fazit: „Profilbildung, in welcher Ausprägung auch immer, hat sich also als ein starker Wachstumsimpuls erwiesen“11. Das heißt im Umkehrschluss nicht, das alle Profilgemeinden wachsen, aber wenn eine Gemeinde unter volkskirchlichen Bedingungen wächst, dann ist es sehr wahrscheinlich eine Profilgemeinde – eine Gemeinde mit einem erkennbaren Profil. Zum Gottesdienst ist zu lesen: „Die an dieser Untersuchung beteiligten Gemeinden haben durchweg die Erfahrung gemacht, dass der Gottesdienst das Zentrum und Herzstück des Gemeindelebens und des Gemeindewachstums bildet“; dabei hat sich der Gottesdienst „in den meisten Fällen durch den Wachstumsprozess verändert“12. Dabei war die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes einer der herausragenden Konfliktpunkte im Wachstumsprozess vieler Gemeinden13. In der Gottesdienstgestaltung werden zwei Strategien unterschieden: Auf der einen Seite stehen Gemeinden, in denen es nur einen gemeinsamen Gottesdienst für die ganze Gemeinde am Sonntag gibt. Auf der anderen Seite haben wir Gemeinden, die ein sog. „Zweites Gottesdienstprogramm“ eingeführt haben und niedrigschwellige Gottesdienstangebote gestalten, die ein unverbindliches Dabeisein ermöglichen sollen – gewissermaßen eine Art gottesdienstlicher Profilbildung.

10.2.3 Begründungen und Chancen Die Chancen der Profilbildung liegen darin, dass sich das einzelne Gemeindeglied nicht nur mit einem Typ von Gemeinde abfinden muss. Unterschiedliche Profile sprechen unterschiedliche Menschen an. Sie können in einer ihnen nahestehenden kulturellen Form das Evangelium hören. Darin liegt eine missionarische Chance und zugleich die Möglichkeit der geistlichen Beheimatung. Diese kann ohne „Fremdheitserfahrungen“ vor sich gehen, wenn die Prägung der Gemeinde, der Stil von der Musik über die Raumausstattung bis zu den Umgangsformen und dem Frömmigkeitsstil denjenigen entspricht, die auf der Suche nach Beheimatung sind. 10 11 12 13

Härle u. a. 2008, 304. Härle u. a., 304. Härle u. a. 2008, 319. S. Härle u. a. 2008, 320 f.

172

E. Gemeinde mit Profil

Die damit angesprochenen Fragen von Gemeinde-„Kultur“ und Ästhetik werden in Milieutheorien erörtert, die die Profilbildung erhellen und illustrieren können: Es geht um Mentalitäten, um ästhetische Präferenzen, um Wertvorstellungen und „Lebensgefühle“. Milieutheoretiker bilden aufgrund dieser und weiterer Merkmale wie Alter, Bildung und Weltanschauung „Gruppen Gleichgesinnter“. Der Gewinn einer milieuspezifischen Profilbildung ist derjenige der Inkultu­ ration in bestehende Lebens- und Erlebenswelten. Die Kehrseite bzw. Grenzen lassen sich ebenfalls milieutheoretisch erklären: Was für die einen Beheimatung bedeutet, führt bei anderen zu Fremdheitserfahrungen aufgrund von Milieuschranken. Anschauliche Beispiele sind Musikstile: Die einen werden dadurch angesprochen, andere abgeschreckt. Zugleich wird der immer wieder zu hörende Anspruch, „für alle“ da zu sein, widerlegt. Bisher erfolgten Profilierungen häufig aufgrund vorhandener Schwerpunkte oder aufgrund der Präferenzen und Ressourcen der beteiligten Akteure; Auslöser waren in der Regel gemeindeinterne Gesichtspunkte. Einen Schritt weiter geht der Gedanke der gegenseitigen Ergänzung in der Region. Eine koordinierte Profilierung könnte zu Profilbildungen in regionaler Absprache führen – in der Absicht, dass unterschiedliche Profile in einer Region einander ergänzen. Das bedeutet zugleich eine Entlastung: Nicht mehr jede Gemeinde muss alles selbst machen, sondern kann auf Profile und Prägungen anderer Gemeinden verweisen. Regionale Absprachen und Ergänzungen können zu einem anderen Umgang mit dem mit der Profilbildung latent verbundenen Konkurrenzproblem führen: Die Nachbargemeinde ist nicht mehr die „Konkurrentin“, auf der Grundlage eines regionalen „Wir-Gefühls“ sind alle „Erfolge“ gemeinsame Erfolge. Gemeinden freuen sich auch über Erfolge der anderen. Regionale Profilbildung kann innerhalb einer Stadt mit mehreren Gemeinden erfolgen, ist aber auch in ländlichen Regionen denkbar. So kann weitergedacht werden: An einem Ort liegt der Schwerpunkt auf der Arbeit mit jungen Familien, am anderen in der Seniorenarbeit. Eine Gemeinde bietet regelmäßig Kurse zum Glauben an, eine andere öffnet sich für Aussiedler, wieder eine andere für Geflüchtete. Profilbildungen sind ebenso im kulturellen, diakonischen und musikalischen Bereich möglich. Mehr Menschen werden erreicht, als wenn sieben Mal derselbe Gemeinde- und Gottesdienststil angeboten wird.

10.2.4 Einwände und Herausforderungen Der Einwand legt sich nahe: Führt das nicht zu einer Zersplitterung, zu einer Aufteilung in Gruppen und Grüppchen – wo bleibt da die Einheit der Kirche?

10. „Profilbildung“ und „Profilgemeinden“

173

Ist es nicht ein Kennzeichen christlicher Gemeinde, dass dort Alte und Junge gemeinsam Gott loben, Gebildete und weniger Gebildete miteinander Abendmahl feiern, Deutsche und Ausländer zur selben Gemeinde gehören? Wenn es nun für jedes Milieu eine eigene Gemeinde gibt – wie steht es da um die Einheit? Das ist ein gewichtiger Einwand. Hier kann zurückgefragt werden, wie die derzeitige Situation in den Gemeinden aussieht. Welche Milieus sind vertreten, welche nicht? Ist die ganze Bandbreite der Kirchenmitglieder (und darüber hinaus) in den Gottesdiensten zu finden? Es gibt integrative Gottesdienste, in denen Alt und Jung miteinander feiern und Menschen unterschiedlicher Hautfarben und Nationalitäten miteinander Gott loben. Aber das ist eher die Ausnahme als die Regel. In der Mehrzahl der Gemeinden ist nur ein bestimmter Ausschnitt der Menschen zu finden, die dort wohnen. Nur ein paar Fragen: Wie ist es mit der jungen und mittleren Generation? Wie ist es mit den Zugezogenen? Wo sind etwa im Großraum Stuttgart die Ingenieure von Bosch, Daimler und Porsche, die Informatiker von Hewlett Packard, die in den Neubaugebieten vieler Gemeinden leben? Das Anliegen der geistlichen Beheimatung steht hier höher als ein stures Festhalten am Wohnort-Prinzip. Natürlich kann es sein, dass bisweilen weniger das Anliegen der geistlichen Beheimatung, sondern eine Anspruchshaltung dazu führt, dass einige dorthin gehen, wo sie meinen, etwas Besonderes zu finden. Andere wollen einfach ihr „Eigenes“ haben und sich von niemandem dreinreden lassen. Profilentwicklung kann auch mit Konflikten in der Gemeinde verbunden sein. Am Beispiel von neuen Gottesdienstformen ist das gut erkennbar. Konflikte sind möglich zwischen denen, die eine Profilbildung anstreben und denen, die die „Volkskirche“ unverändert weiterführen wollen („Kirche soll so bleiben, wie sie schon immer war“). Wo in landeskirchlichen Gemeinden „Profilbildung“ erfolgt14, besteht die Herausforderung darin, die „Profilierung“ bzw. Schwerpunktbildung so zu gestalten, dass die Profilierung anschlussfähig bleibt an die „volkskirchlichen“ Mitglieder und es nicht zu einer Trennung von „Profilgemeinde“ und „Ortsgemeinde“ kommt15. Wo Profilbildung sich als Wachstumsimpuls erweist, kann es auch zu einem gewissen Stolz führen, zu einer „besonderen“ Gemeinde zu

14 Eine Anmerkung zur pastoraltheologischen Konsequenz: Für volkskirchliche Pfarrer in Profilgemeinden bedeutet das, dass sie nicht nur ein volkskirchliches Herz haben, sondern sich auch mit einem Gemeindeprofil identifizieren können sollten. Die Folge: Nicht jeder Pfarrer passt in jede Gemeinde; Pfarrstellenbesetzungen könnten schwieriger werden. 15 S. Härle u. a. 2008, 304: Bei frömmigkeitstypischen Profilierungen „wurde sogar davon gesprochen, dass sich zwei unterschiedliche Formen von Gemeinde bilden, nämlich diejenige einer Richtungsgemeinde und diejenige einer Parochie. Trotz dieser Doppelstruktur konnte

174

E. Gemeinde mit Profil

gehören – selbst dann, wenn nicht alle Formen den persönlichen Vorlieben entsprechen16. Ein weiterer Einwand verweist auf die Gefahr der kulturellen Segregation17. Von der Milieutheorie her ist das nicht von der Hand zu weisen: Profilbildung ist potenziell mit exkludierenden Wirkungen verbunden. Diese Gefährdung sollte im Blick bleiben, ohne dass daraus notwendig eine grundsätzliche Verweigerung der Profilbildung resultieren muss. Geht man vom Profil als „charakteristischem Erscheinungsbild“ einer Gemeinde aus, so findet Profilbildung immer statt, auch dort, wo sie nicht bewusst gestaltet wird. Mit unbeabsichtigten Nebenwirkungen ist bei jeder Kontextualisierung18 zu rechnen; sie können nicht völlig beseitigt, aber durch umsichtige Gestaltung minimiert werden. Die bereits beim Thema „Inkulturation“ erörterte Frage nach der Einheit ist auch beim Thema Profilbildung wichtig: Je größer die Vielfalt wird, umso wichtiger wird die Frage nach der Gestaltung der Zusammengehörigkeit und Einheit19. Hier kann das Beispiel der unterschiedlichen Profile in der Region weitergesponnen werden: In regelmäßigen Abständen treffen sie alle Gemeinden in der Region zu einem großen Festgottesdienst mit Abendmahl. Sie freuen sich übereinander und erleben ihre Verschiedenheit als Reichtum. Auch der Festgottesdienst ist bunt gestaltet mit einem musikalischen Potpourri. Auch nach außen hin wird deutlich: In ihrer Unterschiedlichkeit gehören die Gemeinden zusammen und halten zusammen. Allgemeiner gesagt: Vielfalt ist nötig, um in missionarischer Hinsicht möglichst viele und unterschiedliche Menschen zu erreichen – und um möglichst vielen und möglichst unterschiedlichen Menschen geistliche Heimat zu geben. Ebenso nötig ist erfahrbare Einheit, in der Grenzen überwunden werden und Menschen im Glauben ihre Verbundenheit erfahren, die in der Gesellschaft nie zusammenkommen würden. Beides ist nötig – wo und wie sich das verteilt, wird je nach Kontext unterschiedlich zu beantworten sein. Profilbildung stellt in dieser Hinsicht in gewisser Weise eine landeskirchliche Form der Inkulturation bzw. Kontextualisierung dar. An manchen Stellen wird jedoch auch die „Profilierung“ und Weiterentwicklung bestehender Gemeinden

16 17 18 19

sich aber keine der analysierten Gemeinden eine Teilung vorstellen, sondern die aus der Profilierung entstehenden Spannungen werden häufig als positives Korrektiv und als Quelle für weitere Entwicklungen wahrgenommen“. Das war meine eigene Erfahrung als Gemeindepfarrer. Karle 2010, 138. S. Grethlein 2018, 43, 223 u. ö. S. Kap. 5.1.5.

11. ‚Alte‘ und ‚neue‘ Formen christlicher Gemeinde

175

an ihre Grenzen stoßen. Ein Beispiel dafür sind die während der DDR-Zeit in den ostdeutschen Bundesländern entstandenen Plattenbausiedlungen mit ihren speziellen Milieus. Hier stößt die Reichweite vorhandener Gemeinden und Profilierungen an Grenzen. Über die Herausforderung zur Profilierung gelangen wir zur Frage neuer Gemeindeformen und den fresh expressions of church (s. o. Kap. 5).

11. ‚Alte‘ und ‚neue‘ Formen christlicher Gemeinde. Zur Diskussion um die Parochie und ergänzende Formen 11.1 „Die Vielfalt evangelischer Gemeindeformen bejahen“ Als 2006 das EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ erschien, haben sich manche verwundert die Augen gerieben. Da waren in der Tat neue Töne zu hören. Bislang war es in der Regel so, dass in kirchlichen Papieren das Bestehende gewürdigt wird, dass ein paar Verbesserungsvorschläge kommen, aber dass dann insgesamt doch davon ausgegangen wird, dass die bestehenden Strukturen und Formen auch weiterhin wichtig, hilfreich und unentbehrlich sein werden. „Kirche der Freiheit“ klingt merklich anders.

11.1.1 Ziele und Wege Das zweite von zwölf „Leuchtfeuern“ beginnt mit folgendem Einleitungstext: „Auf Gott vertrauen und das Leben gestalten – die Vielfalt evangelischer Gemeindeformen bejahen. – Im Jahre 2030 gibt es verschiedene, in gleicher Weise legitime Gemeindeformen der evangelischen Kirche. Durch sie werden Mitgliederorientierung und missionarische Wendung nach außen gestärkt“20.

Auf die genannten zwei Ziele hin folgen vier Wege: „Die Profilierung spezifischer Angebote ist erwünscht, die frei gewählte Zugehörigkeit der Kirchenmitglieder zu einer bestimmten Gemeinde wird bejaht, ein verantwortetes Maß an Wettbewerb unter den Gemeindeformen und -angeboten wird unterstützt und gelingende Beispiele werden gestärkt (good-practice-Orientierung)“21.

20 Evangelische Kirche in Deutschland 2006, 53. 21 Ebd.

176

E. Gemeinde mit Profil

Gegenüber der bisherigen Praxis bedeutet das in der Tat eine kleine Revolution, galt doch bisher das Wohnort-Prinzip als beinahe unumstößlich, ergänzt allenfalls durch Seelsorgeangebote für bestimmte Lebenslagen (Krankenhaus, Akademien usw.).

11.1.2 Die Situation: Parochie und „Kirche bei Gelegenheit“ Bei der Beschreibung der Situation werden positive wie negative Aspekte (mit einseitiger Verteilung) genannt. Zunächst ist zur Parochie zu lesen: „Die klassische evangelische Parochialgemeinde in ihrer vertrauten Struktur nimmt wichtige Aufgaben in verlässlicher Form wahr; doch im Blick auf missionarische Herausforderungen und geistliche Qualitätsansprüche bedarf sie der Weiterentwicklung wie der Ergänzung. So steht in den Gemeinden zu oft eine vereinsmäßige Ausrichtung mit deutlicher Milieuverengung einer missionarischen Öffnung entgegen. Damit möglichst viele Menschen erfahren und erleben können, dass das Evangelium eine Hilfe zum Leben ist, sind Gemeindeformen zu stärken, die Räume der Begegnung über die vorherrschenden gemeindlichen Milieus hinaus eröffnen“22.

Der zweite Bereich bekommt unterschiedliche Bezeichnungen: „Kirche bei Gelegenheit“, situative Begegnungsorte, netzwerkartige Beteiligungsstrukturen, funktionale Handlungsfelder der Kirche, inhaltlich profilierte Angebote. Dazu zählen zunächst die Amtshandlungen, die zugleich ein Bindeglied beider Bereiche darstellen, dann die sog. „funktionalen Handlungsfelder der Kirche“: Krankenhaus, Akademien, Tourismusseelsorge, Bundeswehr, Citykirchen. Plädiert wird für eine Erweiterung des Gemeindebegriffs, der nicht nur die Parochie umfassen soll, und am Ende ist zu lesen: Die „eigenständige Bedeutung solcher inhaltlich profilierten Angebote als neuer Gemeindeformen [ist] zu achten“23.

11.1.3 Perspektiven eröffnen: unterschiedliche Formen der Zugehörigkeit Wie sehen nun die Perspektiven aus? Zunächst werden zwei Formen der Zugehörigkeit unterschieden: die lokale und die netzwerkartige Form der Zugehörigkeit. Daraus ergeben sich drei unterschiedliche Formen24: 22 Evangelische Kirche in Deutschland 2006, 54 („a) Die Situation beschreiben“). 23 Evangelische Kirche in Deutschland 2006, 54. 24 Die folgenden Zitate entstammen Evangelische Kirche in Deutschland 2006, 54–56 („b) Perspektiven eröffnen“).

11. ‚Alte‘ und ‚neue‘ Formen christlicher Gemeinde

177

• Formen lokaler Zugehörigkeit: Dazu zählen vor allem Parochien, weiter werden „Standorte christlichen Lebens mit Gottesdienstkernen“ genannt. Ein Beispiel dafür sind Christen, die etwa in Dorfkirchen geistliches Leben aufrecht erhalten. • Verschränkung lokaler und netzwerkartiger Zugehörigkeiten: Hierzu zählen Profilgemeinden. Ihr „Profil“ kann in einem „besonderen geistlichen, kirchenmusikalischen, sozialen, kulturellen oder jugendbezogenen Schwerpunkt“ bestehen, dazu zählen aber auch geistliche Richtungsgemeinden und Migrantengemeinden. Ein weiteres Beispiel sind Regionalkirchen. • Situative und lokal unabhängige Beteiligungsformen: Beispiele für „Netzwerkgemeinden“ sind zunächst Passantengemeinden. Dazu die Beschreibung: „Nicht immer knüpft sich daran eine dauerhafte Bindung; aber auch dann bleibt die Zuwendung zu den zufällig oder auf Zeit versammelten Menschen nicht folgenlos“. Konkret wird auf Tourismusseelsorge, Citykirchenarbeit, Wiedereintrittsstellen und anlassbezogene Angebote verwiesen. Weitere Netzwerkgemeinden sind Kommunitäten und klosterähnliche Gemeinschaften und schließlich Mediengemeinden, bei denen freilich zugegeben wird, dass hier die Bezeichnung „Gemeinde“ „besonders kühn“ sei25. Die situativen Begegnungsorte sind für die Verfasser ganz offensichtlich von großem Interesse, sie werden im dritten Leuchtfeuer weitergeführt: „ausstrahlungsstarke Begegnungsorte evangelischen Glaubens schaffen und stärken“. Danach werden Ziele formuliert, die mit einer deutlichen Umgewichtung sowohl der Finanzen als auch der Pfarrstellen verbunden sind – weg von der Parochie, hin zu den Profilgemeinden und Netzwerkgemeinden26. Die hier skizzierten Vorschläge von „Kirche der Freiheit“ stießen auf ein lebhaftes und kontroverses Echo. Um in dieser Kontroverse kompetent Stellung beziehen zu können, ist es nötig, Grundfragen zu klären und Kriterien für Gemeindeformen und ihre kontextuelle Angemessenheit zu entwickeln – es wäre zu wenig, nur zu sagen, dass Parochie nicht die einzige Form von Gemeinde ist27.

25 Evangelische Kirche in Deutschland 2006, 56. 26 Evangelische Kirche in Deutschland 2006, 56–57. – Die dort genannten Zahlen (50 % Ortsgemeinden, 25 % Profilgemeinden, 25 % netzwerkartige Gemeinden) wurden in der Diskussion besonders angegriffen und daraufhin von den Herausgebern relativiert. 27 In der fehlenden Kriteriologie liegt eine der großen Schwachstellen von „Kirche der Freiheit“.

178

E. Gemeinde mit Profil

11.2 Christliche Gemeinde und ihre Gestalten28 11.2.1 Gottes Wort und Gottes Volk Gemeinde konstituiert sich primär weder durch ein abgegrenztes Gebiet, noch durch ein Kirchengebäude und auch nicht durch die Person eines Amtsträgers. Gemeinde ist vor allem anderen die Gemeinschaft derer, die der Ruf Christi miteinander verbindet: „Herr, wir stehen Hand in Hand, die dein Hand und Ruf verband.“30 Nicht Abstammung oder Sympathie, nicht Hobbys oder dieselbe Milieuzugehörigkeit verbindet sie miteinander, sondern die Berufung durch Christus „Folge du mir nach!“ Christus verbindet Menschen mit sich und miteinander, die sonst nicht zusammenfinden würden. Wir reden davon, dass der Glaube des Einzelnen „Geschöpf des Wortes Gottes“ ist. In derselben Weise ist auch die christliche Gemeinde „Geschöpf der Wortes Gottes“ (creatura verbi). Wo Gottes Wort, wo das Evangelium laut wird, da sammelt es Gemeinde. Sie wird sichtbar in der Versammlung der Heiligen (congregatio sanctorum, CA VII). Gemeinde Jesu geht nicht im Sichtbaren auf, aber wo Gemeinde Jesu ist, hat sie immer eine sichtbare und erfahrbare Seite. Die in und durch Christus geschenkte Gemeinschaft ist verbunden mit der Aufgabe verantwortlicher Gestaltung, sie zielt auf eine ihr entsprechende äußere Form und wahrnehmbare Gestalt. Zum Gemeindeaufbau gehören immer zwei Aspekte: Auf der einen Seite die Kontinuität, das Gleichbleibende: Die Treue zum Evangelium und zum Bekenntnis. Die Grundlage des Gemeindeaufbaus steht nicht beliebig zur Disposition: „Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ (1Kor 3,11) Auf der anderen Seite ist der Gemeindeaufbau dem Wandel unterworfen. Wir würden unseren Auftrag verfehlen, wenn wir unverändert das fortschreiben würden, was unsere Väter und Mütter taten. Wir müssen uns fragen: Dient das, was bisher seine Stärken hatte, was sich in früheren gesellschaftlichen Situationen bewährt hat, auch heute noch dem Gemeindeaufbau? Gemeindeaufbau ist nicht die Pflege eines Museums, sondern lebt vom Sich-Einstellen auf stets neue Herausforderungen, vom stets neuen Hinhören auf Gott und sein Wort ebenso wie von der aufmerksamen Wahrnehmung der Situation. 29

28 S. zum Folgenden Zimmermann 2006a. 29 S. Zimmermann 2006a, 197. 30 EG Württ 594,1; Otto Riethmüller 1932.

11. ‚Alte‘ und ‚neue‘ Formen christlicher Gemeinde

179

Zum letzteren gehört auch die Frage nach angemessenen Strukturen. Strukturen sind nötig, aber Strukturen allein machen noch keine Kirche, eine zukunftsfähige Kirche schon gar nicht. Strukturen haben keinen Selbstzweck, sie sind daran zu messen, ob sie dem Gemeindeaufbau dienen.

11.2.2 Die Parochie als mögliche Gestalt christlicher Gemeinde 1. „Die Parochie ist nicht aus dem Begriff des Evangeliums erwachsen, sondern aus seiner Geschichte. Aber sie ist seit der Reformation ein sachgemäßes Prinzip für die Organisation des evangelischen Gemeindelebens gewesen“31. So ist im „Grundriß der Praktischen Theologie“ von Dietrich Rössler zu lesen. In diesen Sätzen stecken zwei Thesen: a) Die Parochie ist nicht notwendig aus dem Evangelium abzuleiten32. Ihre Entstehung verdankt sich vielmehr der Situation und ihren Erfordernissen. Die Parochie ist geschichtlich gewachsen, sie unterliegt Veränderungen und ist daher auch weiter veränderbar. Die Frage an die Parochie ist an jede Sozialform christlicher Gemeinde zu richten: Dient sie der sichtbaren Gestalt der congregatio sanctorum, ermöglicht und fördert sie die oikodome und die Wahrnehmung des missionarischen Auftrags? Die Antwort darauf kann nur situationsbezogen erfolgen. Sie wird für unterschiedliche Zeiten, für unterschiedliche Regionen und Personengruppen unterschiedlich ausfallen. b) Nach Rössler ist die Parochie „seit der Reformation ein sachgemäßes Prinzip für die Organisation des evangelischen Gemeindelebens gewesen“. Darin steckt die zweite These: Die Parochie hat sich in der Geschichte der evangelischen Kirche bewährt. Dabei wird die Relativierung der Parochie ihrerseits wieder relativiert. Bei Rössler hört sich das so an: „Eine grundsätzliche Alternative zur Parochie hat sich jedoch bis heute nicht herausgebildet.“ Gesellschaftliche Entwicklungen hätten die Ortsgemeinde „zwar verändert, aber […] nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Es scheint, dass die parochiale Struktur unverändert gerade dem evangelischen Gemeindebegriff Ausdruck zu geben vermag“33.

31 Rössler 1994, 590. 32 Vgl. Ellwein 1961, 235: „Es ist nicht möglich, die traditionelle Gestalt der Parochie unmittelbar aus einer theologischen Lehre von der Kirche abzuleiten. Diese besagt lediglich, daß die Grundfigur der paroikia die um das verkündigte Wort versammelte Gemeinde ist, sie besagt nicht, daß die traditionelle Parochie die einzig mögliche und richtige Realisierung dieser Grundfigur sei“. 33 Rössler 1994, 589. Vgl. Ellwein 1961, 235: „Soweit wir sehen, gibt es in unserem Bereich keine echte Alternative zur Parochie“.

180

E. Gemeinde mit Profil

2. Auch wenn die Parochie diejenige Form ist, die in der Geschichte und in der weltweiten Ökumene am weitesten verbreitet ist und so etwas wie den „Normalfall“ darstellt, bleiben derartige Aussagen mittlerweile nicht mehr unwidersprochen. Die Parochie ist nicht die einzig mögliche sachgemäße Gestalt christlicher Gemeinde. Wenn Rössler eingrenzt „seit der Reformation“, dann kann man darauf hinweisen, dass es vor der Reformation schon andere Formen gab, vor allem im Mönchtum. Und auch in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten entstand eine Vielzahl alternativer Formen. 3. Was muss gegeben sein, „damit eine Gemeinschaft, die sich um das Evangelium versammelt, überhaupt möglich ist“? Wilfried Härle nennt zwei Bedingungen: „Menschen müssen einander leibhaft begegnen und miteinander kommunizieren können“34. Die beiden Bedingungen sind also Erreichbarkeit und Verstehbarkeit35. Der nächstliegende Fall ist eine Versammlung von Menschen, die „kulturell“ (z. B. durch Sprache) untereinander verbunden sind und nahe beieinander wohnen“, also die Parochialgemeinde. Die „Bedingungen der Begegnungsmöglichkeit und der Kommunikationsmöglichkeit“36 können aber auch miteinander konkurrieren. In weitgehend homogenen Gesellschaften tauchte das Problem nur an wenigen Stellen auf, in unserer unübersichtlicher werdenden Lebenswelt und in unserer immer pluraler werdenden Gesellschaft kommt das immer häufiger vor. In solchen Fällen wird die Erreichbarkeit nicht das einzige Kriterium für Gemeindebildung sein können. Die Verstehbarkeit und damit die kulturelle Nähe rücken in den Vordergrund: Koreaner in Stuttgart und Deutsche in Moskau bilden eigene Gemeinden, ebenso Studierende in Tübingen. Auf der anderen Seite geht es nicht ohne die Erreichbarkeit: Zur Gemeinde gehört das Zusammenkommen, und das impliziert einen lokalen Aspekt, die konkrete Ortshaftigkeit. Die Parochie ist eine sich nahe legende Möglichkeit, aber eben nicht die einzige. 4. Ich will die Parochie nicht abwerten. Sie ist kein Auslaufmodell, sondern besitzt eine Vielzahl von Zukunftspotentialen37. Ich nenne nur wenige Beispiele: • Für viele stellt die Ortsgemeinde nach wie vor so etwas wie „Heimat“ dar, Kirchengebäude sind für viele wichtig im Hinblick auf die lokale Identität. • Ortsgemeinden stehen für die Grundform der erreichbaren Kirche im Nahbereich, für verlässliche Zuständigkeiten und Ansprechbarkeit. • Für eine öffentlichkeitswirksame Wahrnehmung des Auftrags der Kirche sind Ortsgemeinden auch langfristig unentbehrlich. • Parochial verfasste Gemeinden sind diakonisch relevant für den weniger mobilen Teil der Bevölkerung. 34 35 36 37

Härle 2000, 591. Härle 1989, 303. Härle 2000, 592. S dazu Zimmermann 2006b.

11. ‚Alte‘ und ‚neue‘ Formen christlicher Gemeinde

181

• Ortsgemeinden können ein Modell für die christliche Gemeinde als „Gemeinschaft der Verschiedenen“ darstellen. Inwieweit das der Realität entspricht, ist eine andere Frage. Ich nenne diese Stärken deshalb, weil diejenigen, die sich für andere Formen aussprechen, immer auch die Stärken der Parochie im Blick behalten und sich dessen bewusst sein müssen, welche Verluste mit der Schwächung der Parochie – von einer Abschaffung ist derzeit nirgends die Rede – verbunden sein könnten. Im Folgenden geht es nicht darum, die Parochie zu ersetzen, sondern nach der Möglichkeit und Notwendigkeit von Ergänzungen zu fragen.

12.2.3 Konstitutionsprinzipien christlicher Gemeinde Welche Alternativen gibt es zum parochialen Prinzip? Hilfreich ist die Unterscheidung von vier Konstitutionsprinzipien für Gemeinden (nach Frank W. Löwe38): • Das Parochialprinzip: „Die Glieder einer nach dem Parochialprinzip konstituierten Gemeinde verbindet (neben Taufe und Konfession) der gemeinsame Wohnbezirk“. • Das Personalprinzip: „Im Unterschied zur Parochialgemeinde organisiert sich die Personalgemeinde durch die bewusste Entscheidung ihrer Mitglieder“39. Ein Beispiel dafür ist der Berliner Dom, dessen Gemeinde eine reine Personalgemeinde ist. • Das Funktionsprinzip: „Nach dem Funktionsprinzip organisierte Gemeinden konstituieren sich durch gemeinsame Lebenslagen (z. B. Studium, Krankenhausaufenthalt, Wohnen im Altenheim) oder Interessen (z. B. Vorliebe für Orgelmusik, Engagement für Dritte Welt, Gestaltung von experimentellen Gottesdiensten). Funktionsgemeinden entwickeln besondere Angebote für spezielle Zielgruppen“. • Das Bekenntnisprinzip: „Die Glieder solcher Gemeinden verbindet eine (über den in jeder volkskirchlichen Gemeinde vorausgesetzten Grundkonsens hinausgehende) gemeinsame Glaubenshaltung bzw. theologische Einstellung“40. Klassische Beispiele sind reformierte Gemeinden in einer lutherischen Landeskirche, aber auch charismatische Richtungsgemeinden, Kommunitäten, die Gemeinden der Berliner Stadtmission oder Gemeinschaftsgemeinden.

38 Löwe 1999, 307f (ferner 313–444). 39 Löwe 1999, 307. 40 Löwe 1999, 308.

182

E. Gemeinde mit Profil

Diese Bestimmung zeigt, dass das konfessionelle Prinzip keineswegs nur dann vorliegt, wenn es um Abspaltungen oder Sonderlehren geht. Die vier Prinzipien lassen sich paarweise ordnen: Auf der einen Seite stehen Parochialprinzip und Personalprinzip einander als formale Organisationsprinzipien gegenüber, auf der anderen Seite Funktionsprinzip und Bekenntnisprinzip als materiale Prinzipien41. In der Praxis verbinden sich die Prinzipien häufig miteinander, und im Grunde genommen ist schon das Nebeneinander einer evangelischen und einer katholischen Gemeinde am selben Ort nichts anderes als die Vorordnung des konfessionellen Prinzips vor das parochiale.

11.2.4 Chancen und Grenzen der Parochie: regional und personal Die Chancen ebenso wie die Grenzen lassen sich gut an Regionen und an Personengruppen darstellen. 1. Ihre Stärken entfalten kann die Parochie vor allem in folgenden Regionen: + in ländlichen Gebieten, vor allem bei noch vorhandener volkskirchlicher Prägung. + in den „Speckgürteln“ um die Großstädte, die für viele Familien den Lebensraum bilden. + mit Einschränkungen auch in weiteren städtischen Bereichen und urbanen Zentren. Die Grenzen der Parochie zeigen sich vor allem in Regionen wie: − den City-Bereichen der Städte, in denen es vielfach zwar Kirchengebäude, aber kaum noch Wohnbevölkerung gibt. Wo noch Kirchenmitglieder wohnen, orientieren sich viele Mitglieder nicht parochial, sondern nach anderen Kriterien. − Am anderen Ende stehen ländliche Gebiete etwa in Ostdeutschland, die so „ausgedünnt“ sind, dass eine flächendeckende parochiale Versorgung auf Dauer die personellen wie finanziellen Ressourcen der Kirchen übersteigt. − Hinzu kommen ostdeutsche Plattenbausiedlungen mit ihren eigenen, vor allem konfessionslosen Milieus. 2. Im Hinblick auf Personengruppen liegen die Stärken der Parochie bei + den wenig mobilen Gruppen der Bevölkerung, bei Alten, Kranke und sozial Schwachen, allgemein: bei den „Modernisierungsverlierern“. + bei Familien mit kleinen Kindern.

41 S. Löwe 1999, 310.

11. ‚Alte‘ und ‚neue‘ Formen christlicher Gemeinde

183

An ihre Grenzen stößt die Parochie bei: − Bevölkerungsgruppen mit hoher Mobilität, etwa postmoderne Milieus. − Die Parochie ist „blind“ für viele Differenzierungen der Gesellschaft, etwa für neue Milieus, lebensalterspezifische Kulturen usw. Das betrifft insbesondere Migrantengruppen.

11.3 Parochie und überparochiale Formen 11.3.1 Die bisherige Diskussion 1. In den 1960er und 1970er Jahren gingen viele von einer abnehmenden Bedeutung des Wohnortes aus – man nahm an, diese werde sich auf das Schlafen und Essen reduzieren. Andere wesentliche Lebensbezüge wie Arbeit, Freizeit und Bildung würden davon abgekoppelt. Deshalb sah man die Ortsgemeinde als Auslaufmodell. Betrachtet man die in jener Zeit entstandenen Wohnsilos, ist das durchaus verständlich. In dieser Zeit kam aus der Ökumene die Diskussion um die Struktur missionarischer Gemeinden42. Kirche dürfe nicht am Herkömmlichen festhalten wollen, sondern müsse sich ganz von der missio Dei, der Sendung Gottes her verstehen. „Kirche in der Raumschaft“ hieß eines der Schlagworte, zugleich wurde die Bedeutung kleiner Gruppen hervorgehoben. Wer an der herkömmlichen Gestalt der Parochie festhalten wollte, wurde zum „morphologischen Fundamentalisten“ deklassiert. Vieles davon ist mittlerweile Geschichte, manche der Erben der Kirchenreformbewegung haben in strukturellen Fragen regelrechte Konversionen hinter sich. Verständlich, denn die weitere Entwicklung verlief anders, „der Ort als Lebensraum und in seinem Gefolge die Ortsgemeinde waren stabiler als vermutet“43. Mittlerweile liegt es näher, von der „bleibenden Bedeutung des Wohnortes“ auch und gerade in Bezug auf kirchliche Arbeit zu reden44. 2. Die bis heute bleibenden Folgen jener Diskussion sind die seit den 1960er Jahren vermehrt eingerichteten übergemeindlichen kirchlichen Werke und Dienste, außerdem Akademien, Hochschulgemeinden und Kirchentage. Damit sind wir schon bei der Diskussion, die auch im Impulspapier der EKD geführt wird. Diejenigen, die sich dafür stark machen, betonen, auch dort

42 S. Ratzmann 1980. 43 Lindner 1994, 130. 44 S. Lindner 1994, 130–134.

184

E. Gemeinde mit Profil

ereigne sich Kirche, vor allem würden dort Menschen erreicht, die durch das Netz der herkömmlichen Gemeindearbeit fallen. Kritiker fragen, ob denn die damit verbundene „Kirche bei Gelegenheit“ nachhaltige Wirkungen habe und zu dauerhafter Gemeindebildung führe. Diese Diskussion wird heute weniger unter missionarischem Vorzeichen, sondern vor allem dort geführt, wo es um Strukturreformen in den Kirchen geht, und das heißt in der Regel: um die Einsparung von Stellen. Der Streit geht dann darum, ob mehr bei den sog. „Sonderpfarrämter“ und „Funktionspfarrämtern“ oder bei den Gemeindepfarrämtern gespart werden soll.

11.3.2 „Kirchliche Orte“ (Uta Pohl-Patalong)45 Uta Pohl-Patalong versucht mit ihrem Modell der „kirchlichen Orte“, einen „dritten Weg zwischen Parochialität und Nichtparochialität“46 zu beschreiten. Mit „kirchlichen Orten“ meint Pohl-Patalong „ebenso bisherige Parochien, die in der Regel baulich durch eine Kirche und ein Gemeindehaus repräsentiert werden, wie Tagungshäuser, kirchlich genutzte Räume in Krankenhäusern, Schulen und Gefängnissen und jegliche Gebäude, in denen bisher kirchliche Arbeit geleistet wird“47. An allen Orten soll gottesdienstliches Leben in „einer Vielfalt gottesdienstlicher Formen mit unterschiedlichem Charakter und zu unterschiedlichen Zeiten“48 stattfinden, außerdem sowohl vereinskirchliches Leben als auch inhaltlich qualifizierte kirchliche Arbeit. Ziel ist es, eine „wohnortnahe kirchliche Präsenz“ sicherzustellen und zugleich „differenzierte Angebote für die unterschiedlichen Lebenswelten von Menschen“49 zu entwickeln, die der Pluralität kirchlicher Aufgaben in der Gegenwart gerecht werden. Dabei ist für sie der Gottesdienst konstitutiv, aber auf den Gemeindebegriff verzichtet sie, weil der zu sehr mit der Parochie verbunden sei. Als Gegenüber zur Ortsgemeinde hat Pohl-Patalong praktisch nur die funktionale Seite im Blick, und zwar diejenige, die mit sog. Funktionspfarrstellen verbunden ist50. Würde der Vorschlag umgesetzt, so würde das für die übergemeindlichen „Dienste“ vielfach zur „Gemeindewerdung“ beitragen, vor allem durch die regelmäßige Feier von Gottesdiensten51. 45 46 47 48 49 50 51

Pohl-Patalong 2003. bzw. kürzer Pohl-Patalong 2004. Pohl-Patalong 2003, Kap. 5.2. Pohl-Patalong 2003b, 75. Pohl-Patalong 2003b, 78. Pohl-Patalong 2004, 134. Zum Modell von Pohl-Patalong s. Zimmermann 2004. In vergleichbarer Weise erhob Yorick Spiegel schon 1970 am Beginn der Debatte um „Pfarrer ohne Ortsgemeinde“ die Forderung: „Der Ausbau der Sonderpfarrämter zu Personalgemeinden müßte weiter vorangetrieben werden“ (Spiegel 1970, 42).

11. ‚Alte‘ und ‚neue‘ Formen christlicher Gemeinde

185

11.3.3 „Leuchttürme“ und „Inseln gelingender Kirchlichkeit“ (Thies Gundlach) In den ländlichen Gebieten Ostdeutschlands, aber auch schon an anderen Orten kommt die Parochie dadurch an ihre Grenzen, dass sich nicht beliebig viele Gemeinden zusammenlegen lassen. Mit zehn Kirchen, acht Friedhöfen und drei Pfarrhäusern ist irgendwann eine Grenze erreicht. Wie lange können wir noch am Selbstbild einer flächendeckenden Versorgungskirche festhalten? Macht es auf Dauer Sinn, in vielen ausgedünnten Gemeinden mit immer weniger Geld und hängender Zunge ein mittelmäßiges Programm aufrecht erhalten, das immer weniger Interesse findet? Thies Gundlach spricht sich hier für den „Abbau der kirchlichen Überdehnung“  52 aus: „Lieber einige wenige glaubwürdige Kirchengemeinden mit geistlicher Ausstrahlung und überzeugenden Angeboten als viele unzureichend ausgestattete und inhaltlich erschöpfte Gemeinden“53. Er plädiert für „Inseln gelingender Kirchlichkeit“, für „Leuchtturm-Kirchen“, die wie die „Stadt auf dem Berg“ in die Region ausstrahlen sollen. „Diese Inseln bleiben einerseits Parochiegemeinden“, werden aber wohl für ein größeres Gebiet zuständig sein. „Sie wachsen aber zugleich hin auf eine Profil- bzw. Personalgemeinde mit eigenem Netzwerk der Unterstützung, die mit ihrer Ausstrahlung, ihrer spezifischen Musik […] und mit ihren markanten theologischen Profilen Menschen aus der Region zu sammeln vermögen“. „Die Inseln funktionierender Kirchlichkeit konzentrieren sich auf ihr geistlich-spirituelles Kerngeschäft, sie haben ihre wichtigste Aufgabe in Angeboten regelmäßiger und verlässlicher Gottesdienste zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichsten Gestalten“54. Ideal wäre für Gundlach die Verbindung mit einer kommunitären Gemeinschaft und regelmäßigen Gebetszeiten. Insgesamt hieße das: Flächendeckend wird eine pastorale Grundversorgung aufrecht erhalten. Ansonsten werden die Kräfte an einigen geistlichen Zen­tren gebündelt.

11.3.4 „Personalgemeinde“ und „Profilgemeinde“ – Das Bremer Modell Die Beobachtung, dass die Bevölkerung unseres Landes nach unterschiedlichen Lebensstilen und Milieus differenziert werden kann, hat in den Kirchen ein lebhaftes Echo gefunden.

52 Gundlach 2005, 224. 53 Gundlach 2004, 28. 54 Gundlach 2005, 225.

186

E. Gemeinde mit Profil

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Evangelische Kirche in Bremen. Dort gibt es seit 1860 ein Personalgemeindemodell. Die bestehende Regelung geht aus von der Zugehörigkeit zur Gemeinde am Wohnort. Die Umgemeindung sehr offen gehandhabt: „Die Bremer Evangelische Kirche begrüßt ausdrücklich die freie Gemeindewahl ihrer Mitglieder unabhängig von parochialer Zugehörigkeit. In der Zuweisung von Kirchensteuermitteln an eine Gemeinde wirkt sich deren Mitgliederzahl unmittelbar aus“55. Auf diesem Hintergrund befasst sich Claudia Schulz mit der Frage nach einer „milieuspezifische[n] Profilierung von Ortsgemeinden“ in Bremen. Ausgangspunkt ist die Statistik: Von den 245 000 Evangelischen in Bremen zählen 14,3 % zur sogenannten Personalgemeinde, das heißt, sie gehören nicht zur Gemeinde ihres Wohnbezirks. Das ist EKD-weit die höchste Zahl. In anderen norddeutschen Großstädten sind die Zahlen signifikant niedriger: in Hannover bei 2 %, im Kirchenkreis Alt-Hamburg bei 6 %56. In Bremen verteilt sich die Zahl sehr ungleichmäßig, der Personalgemeindeanteil reicht von 2 % bis zu über 60 %. Tendenziell ist der Personalgemeindeanteil im City-Bereich größer. Welche Gründe führen zur Umgemeindung? Claudia Schulz hat sich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Gemeinden kundig gemacht und war überrascht, dass es einen „einheitlichen Spitzenreiter der Umgemeindungsgründe“ gab: „Alle Befragten vermuteten als wichtigsten Grund die Stadtteiloder auch Parochieverbundenheit ihrer Mitglieder, die sich bei oder nach einem Umzug in die frühere Gemeinde zurückmelden lassen“57. Daneben gibt es auch andere Gründe: Das gemeindliche Angebot ebenso wie theologische Gründe. Das direkte Werben von Mitgliedern anderer Gemeinden hat sich als Tabu erwiesen, dennoch achten viele Gemeinden auf die Gemeindezugehörigkeit derer, die ihre Angebote nutzen. Das kann bis dahin gehen, dass attraktive Kirchen wie der Dom bei Kasualien wie einer Trauung die Gemeindezugehörigkeit erwarten58. Auf der Ebene der Gemeinden hat das zu einer Profilierung geführt, auch wenn diese Profilierung in den meisten Fällen nicht milieuspezifisch ist. Claudia Schulz stellt zuerst eine bildungsbürgerlich-familienfreundliche Gemeinde vor, dann eine alternativ-intellektuelle, und schließlich eine nachbarschaftlichgesellige Gemeinde vor. Ferner erwähnt sie evangelikale Profilierungen.

55 56 57 58

Zit. bei Schulz 2005, 345. S. Schulz 2005, 344. Schulz 2005, 348. Schulz 2005, 348.

11. ‚Alte‘ und ‚neue‘ Formen christlicher Gemeinde

187

11.3.5 Parochieübergreifende Gemeinden Heiderose Gärtner plädiert für „parochieübergreifende Gemeinden“59. Dabei geht es nicht um unterschiedliche Profile von Ortsgemeinden, sondern um neue Profile durch parochieübergreifende Gemeinden. Deren Bedarf begründet sie mit drei Argumenten: „Erstens, weil es sie schon gibt, z. B. in der Organisationsform der landeskirchlichen Gemeinschaften, zweitens, vor allem weil die Anzahl der Umpfarrungen im städtischen Bereich hoch ist und ansteigende Tendenz aufzeigt, drittens: Als aktive Reaktion auf die soziologische Entwicklung der Gesellschaft“60, bei letzterem verweist sie auf die Ausbildung neuer sozialer Milieus. Zur Struktur solcher Gemeinden schreibt Gärtner: „Die übergreifende Gemeinde muß eine vereinbarte Mindestzahl von Mitglieder[n] haben, bevor sie als solche bei der Landeskirche eingetragen wird. Ihre Grundlagen sind die Bekenntnisse und die Verfassung der Landeskirche […] Das spezielle Gesicht der übergreifenden Gemeinde, ihr besonderes Profil, ihre Zielgruppen und ihre spezielle Aufgabenstellung wird schriftlich dargelegt. Durch die Mitgliedschaft erhält sie die Schlüsselzuweisungen für die Mitglieder von der Landeskirche“61. Für Gärtner hat dieses Gemeindemodell „nichts mit Anbiederung an den Geschmack moderner Menschen zu tun, auch nichts mit einem Modell ‚Servicekirche’. Es ermöglicht dem Menschen in seiner Gemeinschaft (oikos) Glauben zu leben.“ Sie sieht darin „eine den heutigen Verhältnissen angemessene Form der Hausgemeinde, die neben der Ortsgemeinde schon immer bestanden hat, letztendlich sogar die Wurzeln der Ortsgemeinde in sich trägt“62. Deshalb hält sie „die rechtliche Ermöglichung pluraler christlicher Gemeinschaften (übergreifende Gemeinden) unter dem Dach der Volkskirche für eine die Einheit der Kirche fördernde Aufgabe“63.

11.3.6 Zwischen „Netzwerk“ und „Nachbarschaft“ Das eben dargestellte und von einer Vertreterin des Pfarrvereins stammende Plädoyer kann auf „parochieübergreifende Gemeinden“ unterschiedlicher Art angewandt werden: Es beginnt bei landeskirchlichen Gemeinschaften, von denen insbesondere in städtischen Regionen (aber nicht nur dort) viele mittlerweile den Schritt zur „Gemeindewerdung“ gegangen sind. Hinzu kommen 59 60 61 62 63

Gärtner 1997 (daraus auch die folgenden Seitenangaben). Gärtner 1997, 450. Gärtner 1997, 451. Gärtner 1997, 452. Gärtner 1997, 450.

188

E. Gemeinde mit Profil

Migrationsgemeinden, „Anstaltsgemeinden“, „Netzwerkgemeinden“ bzw. alle Gemeinden innerhalb der evangelischen Landeskirchen, bei denen anstelle oder in Ergänzung zum Wohnort andere bzw. weitere Konstitutionsprinzipien Anwendung finden. Im Grunde genommen geht es bei „Erreichbarkeit“ und „Verstehbarkeit“ nicht um Alternativen, sondern um die Frage der Gewichtung. „Erreichbarkeit“ stellt eine Voraussetzung für alle Gemeinden dar, in denen sich Menschen zum Gottesdienst versammeln. Die Frage ist also, ob der Wohnort bzw. die damit das einzige Kriterium darstellt oder ob noch weitere hinzutreten und wie sie gewichtet werden. Bei der Diskussion um postmoderne „Netzwerkgemeinden“, bei den fresh expressions of church64 und dann wieder bei der oben geführten Diskussion um die Parochie ist uns die Gegenüberstellung von „Nachbarschaft“ und „Netzwerk“ begegnet65. Dabei schien die Form des „Netzwerks“ näher bei postmodernem Lebensgefühl zu liegen, während die Nachbarschaft tendenziell dem weniger mobilen Teil der Bevölkerung zugeordnet wurde. Möglicherweise bahnt sich hier eine Entwicklung an, die wieder mit einer stärkeren Gewichtung der „Nachbarschaft“ im Sinne des räumlichen Kontextes von Gemeinden verbunden ist. Beratungstools für Gemeinden, die eher parochieübergreifend als parochial gebunden arbeiten66, legen starkes Gewicht auf die Analyse und Erkundung des Kontextes, gefolgt von der Entwicklung kontextbezogener Angebote und Aktivitäten, die diakonische Akzente tragen oder Anliegen der Gemeinwesenarbeit aufgreifen. Hintergrund ist ganz offensichtlich die Erfahrung, dass Gemeinden, die parochieübergreifend arbeiten und keinen durch einen Wohnbezirk festgelegten Mitgliederstamm vorweisen, vor der Herausforderung stehen, öffentlich präsent zu sein und sich nicht in eine Nischenexistenz zurückzuziehen. Möglicherweise rührt das daher, dass eine ausschließliche Orientierung am „Netzwerk“ mit der Gefahr verbunden ist, in Subkulturen abzudriften und mehr oder weniger isoliert vom Umfeld zu leben, während eine stärkere Gewichtung der „Nachbarschaft“ auch im räumlichen Sinn bzw. allgemein des örtlichen Umfelds eine Präsenz in der Öffentlichkeit zwar nicht garantiert, aber doch tendenziell erleichtert. Das wiederum ist eine tendenzielle Stärke von Ortsgemeinden67.

64 65 66 67

Mission-Shaped Church 2004, 4–8.106.145 u. ö. S. o. Kap.  2.3.2. Z. B. Faix/Reimer (Hg.) 2012; Reimer/Müller 2015. Vgl. Wegner 2019, 317: „Durch die parochiale Verfasstheit der Gemeinden ist eine prinzipielle Beziehung zum Gemeinwesen vorgegeben“.

11. ‚Alte‘ und ‚neue‘ Formen christlicher Gemeinde

189

11.4 Herausforderungen für die Gemeindeentwicklung 11.4.1 Geistliche Beheimatung und „missionarische Wendung nach außen“ 1. „Kirche der Freiheit“ will durch „verschiedene, in gleicher Weise legitime Gemeindeformen der evangelischen Kirche“ die „Mitgliederorientierung und missionarische Wendung nach außen“68 stärken. Dabei ist das erstgenannte Ziel der „Mitgliederorientierung“ ambivalent. Auf der einen Seite kann eine Kirche ihren Auftrag nicht an ihren Mitgliedern vorbei ausüben. Auf der anderen Seite kann es nicht um ein unkritisches Eingehen auf Wünsche und Erwartungen gehen. Jede Form der „Kundenorientierung“ ist am Auftrag der Kirche zu messen. Sinnvoller ist es, „Mitgliederorientierung“ auftragskonform als „geistliche Beheimatung“ zu verstehen69. Vom ersten „Leuchtfeuer“ in „Kirche der Freiheit bietet sich ein solches Verständnis an. Die Bedeutung geistlicher Beheimatung ist gestiegen. Je mehr das gesellschaftliche, bisweilen auch das private Umfeld im Hinblick auf den Glauben als unwirtlich empfunden wird, umso mehr steigt das Bedürfnis nach einem geistlichen „Zuhause“. Glaube benötigt ein Zuhause, einen „Lebens-Ort“, an dem er Wurzeln schlagen, Beheimatung, Förderung und Wachstum erfahren kann. Die Grenze des berechtigten Bedürfnisses nach geistlicher Beheimatung liegt dort, wo es zum Rückzug bis hin zur Abkapselung führt und die Sendung der Gemeinde aus dem Blick gerät. 2. Deshalb muss zur geistlichen Beheimatung die „missionarische Wendung nach außen“ treten. Das Evangelium soll nichts ins Kämmerlein eingeschlossen werden, es muss unter die Leute kommen. Das Volk Gottes ist dazu berufen, aufzubrechen, heraus aus der vertrauten Umgebung, hin zu den Menschen, denen Gottes Liebe und Zuwendung gilt. Immer wieder machen Gemeinden die Erfahrung, dass Menschen dort zum Glauben und in die Gemeinde finden, wo Gemeinden sich für ihre Umgebung öffnen, damit Berührungspunkte und Kontaktflächen entstehen und Beziehungen wachsen können.

68 Evangelische Kirche in Deutschland 2006, 53. 69 Hier kann auf das erste „Leuchtfeuer“ von „Kirche der Freiheit“ Bezug genommen werden, wo „den Menschen geistliche Heimat geben“ als Ziel genannt wird (Evangelische Kirche in Deutschland 2006, 49).

190

E. Gemeinde mit Profil

11.4.2 Zum Stellenwert der Strukturfrage 1. Strukturfragen sind wichtig, aber nicht alles. Wer zu viel von ihnen erwartet, wird enttäuscht werden. Betrachtet man die vielen Strukturdebatten und Strukturausschüsse der deutschen Kirchen in den letzten Jahrzehnten, so ist das Ergebnis jedenfalls ausgesprochen mager. Inzwischen werden Strukturfragen gerne durch eine Regel aus der Organisationsentwicklung relativiert: „structure follows strategy“70. Die erste Frage ist nicht: Welche Struktur brauchen wir?, sondern: Welches Ziel verfolgen wir? Ist das Ziel geklärt und eine Strategie entwickelt, dann macht die Frage nach geeigneten Strukturen Sinn. Das Ziel ist für mich Gemeindeaufbau, um Gemeindeentwicklung: Was dient der Sammlung und Erbauung der Gemeinde? Was macht sie zukunftsfähig, was ist ihrem Auftrag förderlich? 2. Alle diese Fragen haben etwas mit Strukturen zu tun, reichen aber sehr viel tiefer. Es geht um Klarheit über den Auftrag, um Berufung und Begabung, um Motivation und Befähigung – und um den Geist Gottes, der das bewirkt. Wo das vorhanden ist, kann schon eine flexible Handhabung der vorhandenen Strukturen viel bewirken. Das macht die Suche nach zweckmäßigen Strukturen wiederum nicht überflüssig. Strukturen können hilfreich und förderlich sein, aber auch hinderlich. Deshalb müssen sie ständig auf dem Prüfstand bleiben und weiterentwickelt werden. Darin sehe ich eine wichtige kirchenleitende Aufgabe. 3. Die Gemeinde Jesu wird bleiben, ihr gilt die Verheißung – nicht aber einer bestimmten Gestalt von Kirche. Unterschiedliche Gestalten von Gemeinde werden kommen und gehen. Unsere Aufgabe besteht darin, sie verantwortlich zu gestalten und dabei nicht einer bestimmten Gestalt von Kirche verhaftet zu bleiben, sondern nach der Zukunft der Gemeinde Jesu zu fragen.

70 Linder 2000, 155; Strunk 2001, 58.

12. Rückbau, Reform und Region

191

12. Rückbau, Reform und Region 12.1 Zwischen Rückbau und Reform – zur aktuellen Situation 12.1.1 Die Frage nach der Einstellung zu Veränderungen Für Gemeinde wird immer grundlegend bleiben, dass Menschen sich versammeln, um auf Gott zu hören, ihn zu loben und Gemeinschaft mit ihm und untereinander zu erfahren – und der Zusage vertrauen, „dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss“71. Dieses Vertrauen ist unverfügbar; es bekommt bei unterschiedlichen Menschen mit ihren unterschiedlichen Mentalitäten unterschiedliche Ausprägungen. Eine Frage der Mentalität ist es auch, wie Einzelne und ganze Gemeinden dem Wandel begegnen. Für die einen stellen Veränderungen Horrorszenarien dar. Andere befürchten umgekehrt, es könnte alles so bleiben wie es ist. Sie begrüßen, mehr noch: Sie umarmen Veränderungen und sehen sie als Chance. Die Spannung zwischen Bewahrern und Erneuerern kann für die Gemeindeentwicklung fruchtbar sein. Sie kippt dort, wo die einen kein Verständnis für gewachsene Formen und Traditionen haben und die anderen jede Veränderung bremsen und blockieren. Viele Gemeinden haben lange Zeit versucht, den anstehenden und in der Regel mit Kürzungen verbundenen Veränderungen abwartend bis passiv zu begegnen in der Hoffnung, dass das Schlimmste an ihnen vorübergeht. Mittlerweile haben die Notwendigkeiten struktureller Veränderungen in den deutschen Kirchen Ausmaße angenommen, die dazu führen, dass das Risiko inzwischen für diejenigen höher ist, die nichts tun und versuchen, die Krisen „auszusitzen“, als für diejenigen, die sich bewegen und den Wandel aktiv (mit-)gestalten.

12.1.2 Auf unterschiedlichen Ebenen agieren Manche werden denken: Für zukunftsweisende Reformen, für Gemeinde­ entwicklung auf lokaler ebenso wie auf regionaler Ebene würde ich gerne meine Kräfte einsetzen, aber leider müssen wir uns mit Konzepten mit Bezeichnungen

71 Nach CA VII (BSELK 102).

192

E. Gemeinde mit Profil

wie „Strukturanpassung“ oder „PfarrPlan“ beschäftigen72, bei denen es vor allem um einen kirchlichen Rückbau geht: Um die Reduzierung der Pfarrstellen und in Verbindung damit häufig um Zusammenlegungen und Fusionen von Gemeinden, eine Reduktion des Gottesdienstangebots und weitere Maßnahmen. Daran wird sich voraussichtlich in den kommenden Jahren wenig ändern. Mit „Gemeinde“ kann Begeisterung verbunden werden, mit „Strukturanpassungen“ und kirchlichem Rückbau nicht. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Wie aber kann dann ein möglichst konstruktiver Umgang damit aussehen? Es ist hilfreich, drei Ebenen zu unterscheiden. Ausgangspunkt ist die Frage nach Pfarrstellen und ihrer Verteilung. Angesichts zurückgehender Pfarrerzahlen geht es inzwischen bei den Stellenstreichungen vor allem um Verteilungsgerechtigkeit. Würde die Zahl der Pfarrerinnen und Pfarrer zurückgehen, die Zahl der Stellen bleibe aber unverändert, würde es dazu führen, dass Pfarrstellen in weniger attraktiven, oft ländlichen und strukturschwachen Regionen unbesetzt blieben. Auch wenn die Frage nach Pfarrstellen der Auslöser war und wohl auch unvermeidbar ist, ist es nicht besonders spannend und nicht unbedingt motivierend, sich nur mit Pfarrstellenanteilen zu beschäftigen. Als weitere Ebene dazu kommt die Frage nach Gemeindestrukturen, vor allem im Hinblick auf Verwaltungsfragen. Die Strukturfrage (das Thema wurde im vorangehenden Kapitel erörtert) hat keinen Eigenwert, sondern ist an der Zweckmäßigkeit auszurichten. Neben diesen beiden Ebenen gibt es die dritte, besser: die erste Ebene. Sie umfasst „alles übrige“: die gesamte Gemeindearbeit und damit auch die Frage nach der zukünftigen Ausrichtung einer Gemeinde, die Frage einer Vision bis hin zu Fragen regionaler Kooperation und Zusammenarbeit. Auch wenn die Beschäftigung mit den anderen beiden Ebenen nicht vermeidlich ist, sollte möglichst viel Zeit und Kraft in diese Ebene fließen. Hier können Mitarbeitende motiviert werden, weil (Mit-)Gestaltungsmöglichkeiten vorhanden sind. Zielführend kann es daher sein, auf den Ebenen der Pfarrstellen und der Strukturen mit möglichst wenig Aufwand möglichst gute Lösungen zu finden, um dann auf der „ersten“ Ebene möglichst viel Kraft und Energie in die konkrete Gemeindearbeit und in die Bemühungen um eine gemeinsame missionarische Verantwortung für eine Region zu stecken.

72 Die folgenden Gedanken haben die Evangelische Landeskirche in Württemberg im Blick, sind aber nicht auf die begrenzt – in anderen Landes- und Freikirchen finden vergleichbare Prozesse statt.

12. Rückbau, Reform und Region

193

12.2 Von der Konzentration auf die Gemeinde zur Entdeckung der Region 12.2.1 „Die Region als gemeinsamer missionarischer Verantwortungsraum“ 73 1. Die „Region“ als festumrissene oder nur informelle Größe ist nichts Neues, auch kirchliche Arbeit findet oft in Bezirken, Distrikten, Regionen und Subregionen statt. Dennoch ist es erstaunlich, dass die Region als Thema der Gemeindeentwicklung erst in den zurückliegenden Jahren verstärkt Aufmerksamkeit erfährt. 2009 wurde von der EKD das „Zentrum für Mission in der Region“ (ZMiR) gegründet74, und 2010 nennt Michael Herbst als eine von zehn wesentlichen Veränderungen im Vergleich von 1987 und 2010 „Von der Konzentration auf die Gemeinde zur Entdeckung der Region“75. Die verstärkte Aufmerksamkeit für die Region verdankt sich letztlich der kirchlichen Krise der jüngeren Vergangenheit: Die kirchlichen Sparmaßnahmen und „Strukturanpassungen“ machen eine verstärkte Zusammenarbeit über Gemeindegrenzen hinweg nötig. Lange Zeit haben die zu starke Betonung lokaler Identitäten und der geradezu sprichwörtliche „Kirchturmhorizont“ dazu geführt, dass viele Gemeinden nur sich selbst und ihr begrenztes Umfeld sehen – und so den größeren Horizont des „Reiches Gottes“ aus dem Blick verloren haben. Hier kann der Druck von außen kann auch als Chance gesehen werden: Gemeinden bekommen einen Anstoß, Schritte zu gehen, die sie eigentlich längst hätten gehen sollen. Zwar gibt es auch bei der angestrebten Zusammenarbeit von Kirchengemeinden „Unverträglichkeiten“, die teils theologischer Natur sind, teils sind sie durch Milieuprägungen erklärbar. Animositäten gegenüber den Nachbargemeinden und -orten sind freilich keine kirchliche Spezialität, sondern auch in anderen Bereichen zu finden. Der Druck von außen kann zwar hilfreich sein kann, damit Veränderungen überhaupt in Gang kommen; auf der anderen Seite stellt jedoch Freiwilligkeit eine weit bessere Grundlage auf dem Weg zu mehr Gemeinsamkeiten dar, weil

73 S. dazu Herbst 2016, v. a. 199ff; Pompe 2014, 95 ff. Zur Thematik insgesamt s. Ebert/Pompe (Hg.) 2014. 74 Das „Zentrum für Mission in der Region“ arbeitete von 2009–2019 und ging dann auf in der „Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi)“. 75 Herbst 2010, 512–514.

194

E. Gemeinde mit Profil

hier eher gewährleistet ist, dass die wünschenswerten Voraussetzungen für eine verstärkte Zusammenarbeit gegeben sind. Kooperationen auf regionaler Ebene setzen Vertrauen voraus, und Vertrauen entsteht auf einem Weg bewusster Gestaltung von Beziehungen und gemeinsamer Erfahrungen. Was die Motivation betrifft, so stellt ein gemeinsamer „Glutkern des Glaubens“ (H.-H. Pompe) eine weite bessere Basis dar als in Aussicht gestellte Einsparungen durch Kooperationen. Wo Gemeinden in unterschiedlichen Bereichen der Zusammenarbeit die Erfahrung machen, dass die jeweils andere Gemeinde nicht nur den eigenen Vorteil im Blick hat, sondern nach dem Wohl aller fragt, lassen sich auch konfliktträchtige Themen wie die Verteilung von Pfarrstellenprozenten anders angehen als in einer von Misstrauen geprägten Situation. Die „Entdeckung der Region“ bedeutet für den Gemeindeaufbau: Gemeinden sehen nicht nur sich selbst, sie beginnen, einander wahrzunehmen, aufeinander zuzugehen. Dabei machen sie die beglückende Erfahrung: Wir gehören zusammen – uns verbindet mehr, als uns trennt! Und: Gemeinsam sind wir stärker, von einem Miteinander profitieren alle Beteiligten. So kann sich auch ergänzend zur lokalen eine regionale Identität entwickeln. Wo über den gemeinsamen Auftrag eine gemeinsame Berufung und Vision gefunden werden, sind das wichtige Schritte auf dem Weg zur Region als gemeinsamem missionarischen Verantwortungsraum. Das Zentrum für Mission in der Region nennt als Ziel: „Profilierte Ortsgemeinden als Teil einer anziehenden Kirche“ und unterscheidet mehrere Formen der Kooperation76: 1) Wachsende Kooperation statt stagnierender Isolation. Wir tun so viel gemeinsam wie möglich, wir machen so viel allein wie nötig. Kooperation wird zur Regel, Alleingang zur Ausnahme. 2) Auftragsorientierung statt Bestandswahrung. Von den Menschen her denken: Was brauchen sie? Abschied von: Das haben wir schon immer gemacht. Eine geistliche Sicht auf den eigenen Ort als Teil einer Region gewinnen. Wir denken konsequent von den Menschen her: Was brauchen sie? Wir geben bestimmten Sätzen den Abschied, z. B.: „Das haben wir schon immer so gemacht.“ Wir möchten eine geistliche Sicht bekommen: Was hat Gott in dieser Region und an unserem Ort vor? […] 3) Vertrauen aktiv gestalten statt abwartend reagieren. Wir investieren in das Vertrauen untereinander. Wir legen einen Schatz an gemeinsamen Erfahrungen an. Wir möchten gemeinsam wieder einen Zugriff bekommen und spüren: Wir handeln, wir reagieren nicht nur.

76 Herbst/Pompe 2017, 27.

12. Rückbau, Reform und Region

195

4) Gegenseitige Ergänzung als Geschenk entdecken. „Gottes Gaben sind Gottes Berufungen“ (G. Heinemann). Jede Ergänzung ist zugleich Entlastung in Überforderungen.

2. Der Hinweis auf Vertrauen als Voraussetzung für ein Gelingen von Kooperationen auf regionaler Ebene zeigt, dass es nicht nur darauf ankommt, Strukturen zu entwickeln, sondern dass auch sog. „weiche“ Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Man kann sie mit einem Eisberg vergleichen: Oben ist das Sichtbare und Ausgesprochene. Darunter schlummert unsichtbar, aber höchst wirksam das Unsichtbare und Unausgesprochene. Dazu gehört auch die Frage nach dem Umgang mit „Erfolgen“ der jeweils anderen. Wie sieht es aus, wenn in der Nachbargemeinde etwas gelingt? Wie ist es, wenn die eigenen Konfirmanden lieber im Gospelchor des übernächsten Ortes mitsingen? Was, wenn ein älteres Ehepaar sich nach einem Kurs zum Glauben fest zu einer Gemeinde hält – aber nicht der Gemeinde ihres Wohnortes? Das Thema „Konkurrenz“ wird hier aktuell, und das neunte und zehnte77 Gebot erhalten ungeahnte Aktualität – und können zugleich zur Überwindung einer weitverbreiteten Neidkultur beitragen. Freiwillige Kooperation erfolgt nach dem Motto: „Gemeinsam besser“. Was dabei hilft, ist nach Michael Herbst eine „Haltung, die auf Kooperation und weniger aus Konkurrenz basiert. Wenn wir konkurrieren, sind wir wie Angler am See, die am Abend ihre gefangenen Fische zählen, und der Größte ist der, der am Abend mehr Fische hat als die anderen. Wenn wir kooperieren, dann zählt am Abend, was wir gemeinsam gefangen haben. Der Fisch, den ein andere fing, ist dann nicht länger mein Verlust, sondern der gemeinsame Gewinn“78.

Insgesamt geht es darum, eine Kultur der gemeinsamen Verantwortung für die Weitergabe des Glaubens zu entwickeln, die über den eigenen Ort bzw. die eigene Gemeinde hinausreicht.

12.2.2 Regiolokale Kirchenentwicklung Die Entdeckung der Region wird nicht dazu führen, dass lokale Identitäten durch regionale Identitäten abgelöst werden. Vielmehr kommt es darauf an, beide in einer komplementären Weise zu einer „regiolokalen Gemeindeentwicklung“ zu verbinden.

77 Nach reformierter Zählung nur das zehnte Gebot. 78 Herbst 2016, 201.

196

E. Gemeinde mit Profil

Das Bild einer regiolokalen Gemeindeentwicklung stammt von Michael Herbst und Hans-Herrmann Pompe und steht unter dem Motto „unordentlich, aber vital“. „Das Ergebnis wäre eine etwas unordentlichere Region: Was man dabei sehen kann, ist eine Veränderung der Landkarte. Sie wird sicher unübersichtlicher. Das herrschende Prinzip der Parochie wird nicht aufgegeben, aber kirchliches Leben sortiert sich nicht mehr nur nach einem geographischen Muster, bei dem lauter Vollprogramm-Anbieter sich das Gelände teilen. Was ich mir vorstelle, ist in der Tat ein Nebeneinander und Übereinander verschiedener Mitspieler in der regiolokalen Kirche“79:

Konkret kann das so aussehen: • Die „Grundform“ bilden nach wie vor parochiale Ortsgemeinden, von denen immer mehr sich zu Profilgemeinden weiterentwickeln. Die Verwurzelung am Ort und die pastorale Verantwortung für die dort lebenden Kirchenmitglieder wird ergänzt durch Angebote, die regionale Resonanz finden und zu einer Durchlässigkeit der Parochiegrenzen führen. • Unter den Ortsgemeinden, teils auch unabhängig davon gibt es „Leuchtturm-Gemeinden“, deren Angebot über den jeweiligen Ort „hinausstrahlt“. Das können ressourcenstarke Gemeinden sein, die andere Gemeinden in der Region unterstützen; hinzu kommen City-Kirchen, regional bedeutsame Kirchengebäude sowie touristisch relevante Orte mit einem besonderen Angebot. • Wie bisher ergänzen Zielgruppengemeinden für Studierende, „Anstalts­ gemeinden“ (Krankenhäuser, Pflegeheime, Gefängnisse usw.) und „Akademiegemeinden“ das Angebot der Ortsgemeinden. • Zunehmend Bedeutung erlangen Migrationsgemeinden, internationale und interkulturelle Gemeinden, die sich nach ethnischen und/oder kulturellen Gesichtspunkten bilden bzw. bewusst interkulturell ansetzen. Sie bilden eine Heimat für Menschen mit Migrationshintergrund, bilden Brücken für deren Integration und erreichen missionarisch neue Zielgruppen. • Landeskirchliche Gemeinschaften arbeiten teils eigenständig, teils in Verbindung mit landeskirchlichen Gemeinden und bringen ihre Begabungen ein: ehrenamtliches Engagement, tragfähige Formen von Gemeinschaft und geistliche Vertiefung. • Fresh expressions of church wenden sich Menschen und Zielgruppen zu, die von herkömmlichen Gemeindeformen und Angeboten nicht erreicht werden. Gerade die regionale Zusammenarbeit stellt eine gute Grundlage für

79 Herbst 2016, 206f; Herbst/Pompe 2017. Auch die folgende Auflistung lehnt sich an die Skizze von Herbst und Pompe an und führt sie weiter.

12. Rückbau, Reform und Region









197

Projekte dar, die für eine Einzelgemeinde eine Überforderung darstellen würde. Wo „fresh expressions“ experimentierfreudig angegangen werden, werden einige Projekte scheitern, dafür entstehen aus anderen innovativen Formen von Gemeinde. Kommunitäre und vorkommunitäre Gemeinschaften, etwa Gebetshäuser, aber auch Gemeinschaften, die sich aus mehreren Familien und Angehörigen unterschiedlicher Generationen zusammensetzen, bilden Orte und Zentren geistlichen Lebens in der Region, die durch Gebetszeiten, Angebote der Seelsorge und Gemeinschaft an ihren Orten und darüber hinaus ausstrahlen. In ländlichen Regionen wird es nicht an allen Orten und Siedlungen möglich sein, Gottesdienste und andere Angebote regelmäßig von Hauptamtlichen anzubieten. Die Zuständigkeit für Kasualien bleibt bestehen, daneben gibt es ehrenamtlich verantwortete „Ansprechbarkeit in Sachen Kirche“ sowie Angebote von gottesdienstlichen Formen und gemeinschaftlichem Leben. Die „mixed economy“ wird in der Verbindung, Kooperation und Ergänzung dieser und weiterer Akteure Gestalt annehmen. Insbesondere Gemeinden und Gemeinschaften, deren Arbeit diakonische und sozialarbeiterische Akzente haben, werden unterstützt von Ortsgemeinden und anderen Gemeinden. Neben der regionalen Zusammenarbeit derjenigen Gemeinden und Gemeinschaften, die mit der Evangelischen Landeskirche verbunden sind, überschreitet die regionale Kooperation Kirchengrenzen und wächst in den Bereich der Ökumene mit der römisch-katholischen Kirche, mit orthodoxen Kirchen und Freikirchen hinein.

12.2.3 Jenseits der Profilbildung 1. Am Ende kehren wir zu den ekklesiologischen Überlegungen am Anfang des Bandes zurück. Gemeindeaufbau als Koinonia-Gestaltung in unterschiedlichen Formen, in Ortsgemeinden, Profilgemeinden, Netzwerkgemeinden, fresh expressions und anderen Formen geschieht an einzelnen Orten und in regionaler Kooperation im Wissen darum, dass das Gelingen nicht verfügbar ist. Die Gemeinde als Ganze ist ebenso wie der Glaube des Einzelnen creatura verbi verdankt sich dem Evangelium und damit dem Wissen, dass nur da Glaube geweckt wird, „wo und wann Gott will“ (CA V, ubi et quando visum est Deo). Das wird allerdings nicht resignativ („Wer weiß, ob Gott überhaupt will“), sondern von der Verheißung Gottes für seine Gemeinde her verstanden: „Wie der Glaube nicht ohne sichtbare Früchte sein kann (CA VI), so kann auch die Gemeinschaft des Glaubens, die Kirche, nicht ohne sichtbare Anzeichen der in ihr schöpferisch wirksamen Verheißungen Gottes sein […] Dabei geht ein verheißungsorientiertes Denken davon aus, dass die geglaubte Kirche nirgendwo

198

E. Gemeinde mit Profil

und zu keiner Zeit mit der erfahrenen Kirche ganz identisch war und werden wird. Erst das vollendete Reich Gottes wird die Differenz zwischen Erfahrung und Verheißung vollends aufheben“ (Burghard Krause)80. 2. Damit sind wir beim „eschatologischen Vorbehalt“: Gemeinde ist nicht die endgültige Gestalt des „Reiches Gottes“. Was wir hier erleben, ist immer vorläufig und fragmentarisch. Das ist entlastend und schmerzlich zugleich. Entlastend, weil nicht unser Tun das Reich Gottes herbeiführt. Schmerzlich, weil keine Gemeinde das Reich Gottes auf Erden ist, sondern immer auch durch menschliche Unvollkommenheit und Schuld geprägt ist. 3. Die Unausweichlichkeit des Fragmentarischen ändert nichts daran, dass es die Berufung und Verheißung christlicher Gemeinde ist, „Vorgeschmack“ des kommenden Reiches Gottes zu sein81. Die christliche Gemeinde hat den Auftrag und die Verheißung, dazu beizutragen, dass hier auf Erden schon etwas von dem sichtbar und erfahrbar wird, was Gottes Herrschaft ausmacht. Sie weist nach vorne auf die vollendete Gestalt des Reiches Gottes. Von Gottes Vollendung her haben die bruchstückhaften menschlichen Bemühungen Sinn, von seiner Zusage her können Gemeinden mit ihren Profilen und jenseits aller Profilbildung zu Vor-Orten für das kommende Reich Gottes werden. Mit Worten aus Mission-Shaped Church: „In einer Zeit grundlegenden Wandels muss die Anglikanische Kirche vom Heiligen Geist lernen, mehr zu einem Vorgeschmack auf die Zukunft Gottes zu werden, als eine Gesellschaft zur Bewahrung des Althergebrachten zu sein“82.

Oder, mit dem jugendkulturell anschlussfähigen Bild des Trailers: Gemeinde verhält sich zum „Reich Gottes“ wie der Trailer zum Film: Der Trailer ist „ganz Film“, aber nicht der ganze Film. Was der Trailer zeigt, ist Teil des Films, aber eben nur ein Teil. Wer einen Trailer sieht, soll denken: Wenn schon der Trailer so gut ist, wie muss dann erst der Film sein! Der Trailer soll als Appetitanreger dienen und einen Vorgeschmack des Films geben. Ein anregender Vergleich für die Aufgabe des Gemeindeaufbaus!

80 Krause 1998, 15 f. 81 S. Herbst (Hg.) 2006, 179 (Kirche als Zeichen – Werkzeug – Vorgeschmack des Reiches Gottes; dort als Zitat aus „Eucharistic Presidency“). – s. dazu oben Kap. 7.5.2. 82 Herbst (Hg.) 2006, 170. – „At a time of substantial change, the Church of England needs to learn from the Spirit to be more an anticipation of God’s future than a society for the preservation of the past“ (Mission-Shaped Church 2004, 90).

Literaturverzeichnis

Quellensammlungen Denzinger, Heinrich: Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Lateinisch – Deutsch, hg. von Peter Hünermann, Freiburg u. a. 371991. Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 1996. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition. Hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014. Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff.

Verwendete Literatur in alphabetischer Reihenfolge Abraham, Martin 2007: Evangelium und Kirchengestalt. Reformatorisches Kirchenverständnis heute (TBT 140), Berlin. Abraham, William J. 1989: The Logic of Evangelism, Grand Rapids. Ahrens, Petra-Angela/Wegner, Gerhard 2013: Soziokulturelle Milieus und Kirche. Lebensstile – Sozialstrukturen – kirchliche Angebote, Stuttgart. Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste (Hg.) 2014: spürbar. glauben. leben. Der Nachfolgekurs, Neukirchen-Vluyn. Asyl nach Taufe: „Asyl nach Taufe. Wenn Flüchtlinge zum Christentum konvertieren“, ausgestrahlt am 24.08.2018 auf Arte (https://www.arte.tv/de/videos/080580-003-A/ re-asyl-nach-taufe/ [24.08.2018] bzw. bzw. https://programm.ard.de/TV/arte/re-asyl-nach-taufe/eid_28724809919136 [26.11.2019]. Badenberg, Robert/Knödler, Friedemann (Hg.) 2013: Evangelisation und Transformation. „Zwei Münzen oder eine Münze mit zwei Seiten?“ Referate der Jahrestagung 2013 des Arbeitskreises für evangelikale Missiologie (AfeM), Bonn. Bartels, Matthias/Reppenhagen, Martin (Hg.) 2006: Gemeindepflanzung – ein Modell für die Kirche der Zukunft? (BEG 4), Neukirchen-Vluyn. Bartholomä, Philipp/Paas Stefan 2017: „Die Zeiten haben sich geändert“ – Rahmenbedingungen für freikirchlichen Gemeindeaufbau im nachchristlichen Kontext, in: Keller, Timothy 2017, 356–368.

200

Literaturverzeichnis

Baumann-Neuhaus, Eva 2008: Kommunikation und Erfahrung. Aspekte religiöser Tradierung am Beispiel der evangelikal-charismatischen Initiative „Alphalive“ (Religionswissenschaftliche Reihe, Bd. 27). Marburg. Bayer, Oswald 2003: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen. Beck, Armin/Schlamm Andreas 2015: Glaubenskommunikation im hedonistischen Milieu, in: Monsees, Jens/Witt, Carla J./Reppenhagen, Martin 2015, 173–183. Beck, Ulrich 2017: Die Metamorphose der Welt. Unter Mitarbeit von Frank Jakubzik, Berlin. Bedford-Strohm, Heinrich/Jung, Volker (Hg.) 2015: Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung: die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Evangelische Kirche in Deutschland, Gütersloh, 1. Auflage. Berger, Peter L. 1994: Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit, Frankfurt/New York. Bericht des listening team, in: Badenberg/Knödler (Hg.) 2013, 140–144. Berneburg, Erhard 1997: Das Verhältnis von Verkündigung und sozialer Aktion in der evangelikalen Missionstheorie. Unter besonderer Berücksichtigung der Lausanner Bewegung für Weltevangelisation (1974–1989), Wuppertal. Bieritz, Karl-Heinrich/Kähler, Christoph 1985: Art. Haus III. Altes Testament/Neues Testament/Kirchengeschichtlich/Praktisch-theologisch, TRE 14, 478–492. Bohren, Rudolf 1969: Die Hauskirche Johann Christoph Blumhardts. Anmerkungen zur seelsorgerlichen Funktion des Hauses, in: ders., Dem Worte folgen. Predigt und Gemeinde, München/Hamburg 1969, 125–146. Bonhoeffer, Dietrich 1998a, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Christian Gremmels, Eberhard Bethge und Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt (DBW 8), Gütersloh. – 1998b: Ethik. Hg. von Ilse Tödt u. a. (DBW 6), Gütersloh 2. überarb. Aufl. Bosch, David J. 1987: Art. Evangelisation, Evangelisierung, LMG, 102–105. – 2004: Transforming Mission. Paradigm Shifts in Theology of Mission, Maryknoll 19. Aufl. – 2012: Mission im Wandel. Paradigmenwechsel in der Missionstheologie, hg. von Martin Reppenhagen, Gießen/Basel. Botha, Nico M. 2016: Art. Transformation, in: Kenneth R. Ross u. a. (Hg.), Ecumenical Missiology. Changing Landscapes and New Conceptions of Mission, Oxford/Genf 2016, 282–295. Bravo, Benjamin 2000: Konzept einer Großstadtpastoral, in: Michael Fischer/Max Himmel (Hg.), Herausforderung Gemeindeentwicklung. Erfahrungen – Aspekte – Perspektiven, Tübingen/Basel, 73–81. Breit-Keßler, Susanne/Vorländer, Martin 2008: Ehrenamtliche Mitarbeitende, in: Gottfried Adam/Rainer Lachmann (Hg.), Neues Gemeindepädagogisches Kompendium, Göttingen, 111–128. BTI: https://www.bti-project.org/de/ueber-uns/projekt/methode/ [25.5.18].

Verwendete Literatur in alphabetischer Reihenfolge

201

Castro, Emilio/Linn, Gerhard 1986: Art. Evangelisation, EKL3 Bd. 1, 1194–1198. Cornehl, Peter 1990: Teilnahme am Gottesdienst. Zur Logik des Kirchgangs – Befund und Konsequenzen. In: Kirchenmitgliedschaft im Wandel. Untersuchungen zur Realität der Volkskirche. Beiträge zur zweiten Umfrage „Was wird aus der Kirche?“, hg. v. Joachim Matthes, Gütersloh, 15–53. CVJM-Hochschule: https://www.cvjm-hochschule.de/en/studium/studiengaenge/trans� formationsstudien-oeffentliche-theologie-soziale-arbeit-m-a/profil/ [25.5.2018]. Deines, Roland 2003: Art. Gemeinschaft, CBL 1, 416 f. Deutsche Bischofskonferenz (Hg.) 2000: „Zeit zur Aussaat“. Missionarisch Kirche sein. Reihe die deutschen Bischöfe Nr. 68, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn. Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband 2012: Kurse zu Themen des Glaubens – in der Diakonie Hearing „In der Diakonie Glauben Weitergeben – durch Kurse zu Themen des Glaubens“ am 20. Juni 2012, Berlin (Diakonie-Texte, Dokumentation 09.2012), Leinfelden-Echterdingen. Doerne, Martin 1964, Das Liebeswerk der Predigt. Ein Beitrag zur Predigtlehre, in: Verantwortung, FS G. Noth, Berlin (Ost), 40–51, wieder abgedruckt in: Friedrich Wintzer (Hg.), Predigt. Texte zum Verständnis und zur Praxis der Predigt in der Neuzeit (ThB 80), München 1989, 162–173. Ebert, Christhard/Pompe, Hans-Hermann (Hg.) 2014: Handbuch Kirche und Regionalentwicklung. Region – Kooperation – Mission, hg. Auftrag des Zentrums für Mission in der Region, Leipzig. EKD-Presse: https://www.ekd.de/presse/pm163_2011_werbematerial_fuer_glaubens� kurse_vorgestellt.htm [21.8.2017]. EKKW: http://www.ekkw.de/ratgeber/beratungsstellen_770.htm [26.10.2017]. Ellwein, Th. 1961: Geschichte und Zukunft der Parochie, in: E. Müller/H. Stroh (Hg.), Seelsorge in der modernen Gesellschaft. Erfahrungen und Perspektiven, Hamburg 1961, 217–243. Eurich, Johannes 2014: Art. Diakonie als kirchlicher Ort in der Gesellschaft, in: Ralph Kunz/Thomas Schlag (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 261–268. Evangelische Kirche im Rheinland und Evangelische Kirche von Westfalen (Hg.) 2015: Gemeinden anderer Sprache und Herkunft. Bielefeld/Düsseldorf. Evangelische Kirche in Deutschland 2006: Kirche der Freiheit – Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein „Impulspapier“ des Rates der EKD. Hannover. – 2012: Beschlüsse. 5. Tagung der 11. Synode der EKD, Timmendorfer Strand, 1. bis 7. November 2012. Beschluss zur kirchlichen Beteiligung am Prozess gesellschaftlicher Transformation – nachhaltig handeln – Wirtschaft neu gestalten – Demokratie stärken. – 2014: Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKDErhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover.

202

Literaturverzeichnis

Evangelische Landeskirche in Württemberg & Evangelische Kirche in Baden (Hg.) 2014: Gemeinsam auf dem Weg. Eine Handreichung zum ökumenischen Miteinander mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft. Stuttgart. Eyselein, Christian 2006: Rußlanddeutsche Aussiedler verstehen. Praktisch-theologische Zugänge, Leipzig 3. Aufl. Faix, Tobias/Reimer, Johannes (Hg.) 2012: Die Welt verstehen. Kontextanalyse als Sehhilfe für die Gemeinde (Transformationsstudien 3), Marburg 2. Aufl. Faix, Tobias/Reimer, Jürgen/Brecht, Volker (Hg.) 2009: Die Welt verändern. Grundfragen einer Theologie der Transformation, Marburg. Farnbacher¸ Traugott/Teuffel Jochen 2018: Übersetzung von Matthäus 28,19–20: Doppeltes Lehren oder Einladung zur Jüngerschaft? Offener Brief an die Herausgeber und die Übersetzungs-Kommission der revidierten Luther-Bibel 2017, ThBeitr 49, 120–122. Finney, John 2004: Emerging Evangelism. London. – 2007: Wie Gemeinde über sich hinauswächst. Zukunftsfähig evangelisieren im 21. Jahrhundert (BEG Praxis), Neukirchen-Vluyn (deutsche Übersetzung von Finney 2004). Fischer, Moritz 2011: Typologisierung „Neuerer Migrationskirchen“ als Aufgabe Interkultureller Theologie, ZMiss 37, 183–203. Fischer, Ulrich 2013: Nachhaltig glauben – nachhaltig leben. Bericht des Landesbischofs zur Tagung der Landessynode am 18. April 2013 in Bad Herrenalb, Evangelische Landeskirche in Baden. Gäckle, Volker 2018: Das Reich Gottes im Neuen Testament, Göttingen. Gärtner, Heiderose 1997: Das eine tun und das andere nicht lassen. Parochial-strukturierte und parochie-übergreifende Gemeinden, DtPfBl 97, 450–452. Goethe, Johann Wolfgang von 1807: Torquato Tasso, zit. nach https://www.aphorismen. de/zitat/186183 [10.09.2019]. Grethlein, Christian 1998: in: Christian Grethlein und Wolfgang Nestvogel, Pro & Kontra Zielgruppen-Gottesdienste, in: praxis 3/98, 14–15. – 2018: Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext, Berlin/Boston. Grözinger, Albrecht 2009: Die Kirche – ist sie noch zu retten? Anstiftungen für das Christentum in postmoderner Gesellschaft, Gütersloh 3. Aufl. Grundsätze zur Bildung von Gemeinschaftsgemeinden 2000: Grundsätze zur Bildung von Gemeinschaftsgemeinden innerhalb der Evangelischen Landeskirche in Württemberg“ vom April 2000, in: Gnadauer Verband/Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Kirche und Gemeinschaft. Die Vereinbarungen zwischen den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland und den im Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband zusammengeschlossenen Gemeinschaftsverbänden, 4., korrigierte und ergänzte Auflage, Hannover/Kassel 2016, 134–140. Guardini, Romano 1923: Vom Sinn der Kirche. Fünf Vorträge, Mainz. Gundlach, Thies 2004: Blühende Inseln der Spiritualität, zeitzeichen 3/2004, 26–29. – 2005: Wohin wächst die Kirche? Von der Generalzuständigkeit zu Zentren gelingender Kirchen, PTh 94, 217–230.

Verwendete Literatur in alphabetischer Reihenfolge

203

– 2014, Handlungsherausforderungen. Erste Überlegungen zu den Ergebnissen der V. KMU, in: Evangelische Kirche in Deutschland 2014, 128–132. Haacker, Klaus 2002: Der Brief des Paulus an die Römer, (ThHKNT 6) Leipzig 2. Aufl. Hack, Kerstin 2017: Wie die Stadt den Glauben prägt. Und der Glaube die Stadt, AufAtmen 3/2017, 36–39. Hagner, Donald A. 1995: Matthew 14–28 (WBC 33B), Dallas. Hardmeier, Roland 2009: Kirche ist Mission. Auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Missionsverständnis, Schwarzenfeld. Härle, Wilfried/Augenstein, Jörg/Rolf, Sibylle/Sieber, Anja 2008: Wachsen gegen den Trend. Analysen von Gemeinden, mit denen es aufwärtsgeht, Leipzig. Härle, Wilfried 1989: Art. Kirche VII. Dogmatisch, TRE 18, 277–317. – 2000: Dogmatik, Berlin/New York 2. Aufl. Harnack, Adolf von 2012: Das Wesen des Christentums, sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf v. Harnack/Adolf von Harnack. Hrsg. von Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 3., erneut durchges. Aufl. Haslinger, Herbert/Bundschuh-Schramm, Christiane, 2000: Gemeinde – Lebensraum und Organisation, in: H. Haslinger (Hg.), Handbuch Praktische Theologie Band 2: Durchführungen, Mainz, 287–307. Haslinger, Herbert 2005: Lebensort für alle. Gemeinde neu verstehen, Düsseldorf. Hauck, Friedrich 1938: Art. κοινός, κοινωνός, κοινωνέω, κοινωνία, συγκοινωνός, συγκοινωνέω, κοινωνικός, κοινόω, ThWNT III (1938), 798–810. Hauschildt, Eberhard 2003: Ist Mission Dialog? Rückfragen an eine gutgemeinte These (Buchbericht), PTh 92, 300–305. – 2006: Aufgaben und Anregungen aus der Diskussion. Zusammenfassende Bemerkungen zu den „Bonner Thesen zur Mission“, PTh 95, 139–144. Häuser, Götz 2010: Einfach vom Glauben reden. Glaubenskurse als zeitgemäße Form der Glaubenslehre für Erwachsene (BEG 12), Neukirchen-Vluyn, 2. Aufl. Heckel, Ulrich 2017: Wozu Kirche gut ist. Beiträge aus neutestamentlicher und kirchenleitender Sicht, Göttingen. Heine, Heinrich 1983: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Unter Mitarbeit von hg. von Manfred Windfuhr, Hamburg. Hempelmann, Heinzpeter 1996: Gemeindegründung. Perspektive für eine Kirche von morgen?, Gießen/Basel. Hennecke, Christian 2010: Glänzende Aussichten. Wie Kirche über sich hinauswächst, Münster. Hennig, Gerhard 2001: Matthäus 28,16–20 aus der Sicht der Praktischen Theologie. Beobachtungen und Überlegungen, ThBeitr 32, 317–326. Herbst, Michael (Hg.) 2006: Mission bringt Gemeinde in Form. Dt. Übersetzung von Mission-shaped Church. Mit einem Geleitwort von W. Huber (BEG-Praxis), Neukirchen-Vluyn.

204

Literaturverzeichnis

Herbst, Michael/Stahl, Benjamin 2018: Kingdom Learning. Ein deutsch-englischer Beitrag zum Thema „lebendiges mündiges Christsein“ („discipleship“), ThBeitr 49, 220–242. Herbst, Michael 2000: Neue Gottesdienste braucht das Land, BThZ 17, 155–176. – 2006b: Eine Perspektive der Gemeindeentwicklung in nach-volkskirchlicher Zeit, in: Bartels, Matthias/Reppenhagen, Martin (Hg.) 2006, 36–67. Michael 2010: Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche (BEG 8), Neukirchen-Vluyn 4. Aufl. – 2013: Mission kehrt zurück: Internationale Gemeinden in Deutschland. in: ders., Kirche mit Mission. Beiträge zu Fragen des Gemeindeaufbaus (BEG 20), NeukirchenVluyn, 155–173 (zuerst: ThBeitr 41 [2010], 8–24). – 2016: Geistlich leiten- reformatorisch glauben – missionarisch Kirche sein, ThBeitr 47, 188–209. Herbst, Michael/Laepple, Ulrich 2009: Vorwort: „Das missionarische Mandat der Diakonie“, in: dies. (Hg.), Das missionarische Mandat der Diakonie. Impulse Johann Hinrich Wicherns für eine evangelisch profilierte Diakonie im 21. Jahrhundert (BEG 7), Neukirchen-Vluyn, 5–6. Herbst, Michael/Pompe, Hans-Hermann 2017: Regiolokale Kirchenentwicklung. Wie Gemeinden vom Nebeneinander zum Miteinander kommen können (ZMiR:klartext), Dortmund. Hessisches Ministerium für Soziales und Integration 2015: Integration nach Maß. Der Hessische Integrationsmonitor – Fortschreibung 2015, Wiesbaden. Hilpert, Konrad 1997: Art. Kommunitarismus, LThK3 Bd. 6, 226–227. History Maker: You-Tube-Video zu sehen unter https://www.youtube.com/watch?v= 0OnGv6sMFm4 [23.08.2018]. Hofmann, Beate 2010: Erwachsen glauben. In: Johannes Zimmermann (Hg.) 2010, 94–108. – 2012: Gemeindepädagogische Arbeit zwischen Engagement und Profession, in: Bubmann, Peter u. a. (Hg.), Gemeindepädagogik, Berlin/Boston, 325–349. – 2013: Sich im Glauben bilden. Der Beitrag von Glaubenskursen zur religiösen Bildung und Sprachfähigkeit Erwachsener, Leipzig. Horizonte des Glaubens erkunden 2013: Kurse zu Themen des Glaubens für Mitarbeitende in der Diakonie; ein Handbuch für Entscheiderinnen und Entscheider, Bildungsreferentinnen und Bildungsreferenten, Berlin. Hörsch, Daniel/Schlamm, Andreas (Hg.) 2012: Aufbruch in die Lebenswelten. Milieusensibles Marketing für Kurse zum Glauben in der Modellregion Heidelberg/Ladenburg-Weinheim. Projektabschlussbericht, Dortmund/Berlin. Huber, Friedrich 2006: Neue Ansätze einer Missionstheologie, ThLZ 131, 347–358. Huber, Wolfgang 1999: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh. Hüffmeier, Wilhelm/Stöhr, Martin (Hg.) 1984: Barmer Theologische Erklärung 1934– 1984. Geschichte – Wirkung – Defizite (Unio und Confessio Bd. 10), Bielefeld.

Verwendete Literatur in alphabetischer Reihenfolge

205

IKUD: https://www.ikud.de/glossar/multikulturalitaet-interkulturalitaet-transkultu­ ralitaet-und-plurikulturalitaet.html [23.10.2017]. Internationale Konferenz Bekennender Gemeinschaften: www.ikbg.net/TuebingerPfingstaufruf-2013-Langfassung.pdf [25.5.18]. Janz, Manuel 1999: Der Gottesdienst – Problem für den modernen Menschen? Ichthys Nr. 28 (Juli 1999), 63–71. Jüngel, Eberhard 2001: Referat zur Einführung in das Schwerpunktthema, in: Kirchenamt der EKD (Hg.), Reden von Gott in der Welt. Der missionarische Auftrag der Kirche, Hannover 2. Auflage, 14–35. Kähler, Christoph 2018: Wer macht eigentlich zu Jüngern?, ThBeitr 49, 123–126. Karle, Isolde 2011: Kirche im Reformstress, Gütersloh, 2. Aufl. Kaufmann, Franz-Xaver 1989: Religion und Modernität, Tübingen. Keller, Timothy 2017: Center Church deutsch – Kirche in der Stadt, Worms 2. Aufl. Keupp, Heiner 1994: Ambivalenzen postmoderner Identität, in: U. Beck/E. Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M., 336–350. Kirchenamt der EKD (Hg.) 2000: Das Evangelium unter die Leute bringen. Zum missionarischen Dienst der Kirche in unserem Land, EKD-Texte Nr. 68, Hannover. – 2008: Missionarische Bildungsinitiative „Erwachsen glauben – missionarische Bildungsangebote als Kernaufgabe der Gemeinde“. Dokumentation eines Hearings der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste im Diakonischen Werk der EKD am 3. Juni 2008 in Hannover, Hannover. – 2014: Gemeinsam evangelisch! Erfahrungen, theologische Orientierungen und Perspektiven für die Arbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft; Ad-hocKommission des Rates der EKD zur Zukunft der Arbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft. EKD-Texte Bd. 119, Hannover. – 2015: »… damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen«. Ein Beitrag zur Debatte über neue Leitbilder für eine zukunftsfähige Entwicklung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung, EKD-Texte Nr. 122, Hannover. Kirchenbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg 1985: Zweiter Teil: Sakramente und Amtshandlungen, Teilband: Einführungen, Stuttgart. – 1989: Zweiter Teil: Sakramente und Amtshandlungen. Teilband: Die Heilige Taufe, Stuttgart. Klaiber, Walter 1990: Ruf und Antwort. Biblische Grundlagen einer Theologie der Evangelisation, Stuttgart/Neukirchen-Vluyn. – 2005: Schöpfung. Urgeschichte und Gegenwart (BTS 27), Göttingen. – 2018: „… machet zu Jüngern …“?, ThBeitr 49, 129–131. Knoblauch, Jörg 1996: Kann Kirche Kinder kriegen? Der zielgruppenorientierte Gottesdienst, Wuppertal. Konradt, Matthias 2015: Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1), Göttingen.

206

Literaturverzeichnis

Krause, Burghard 1998: Auszug aus dem Schneckenhaus. Praxis-Impulse für eine verheißungsorientierte Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn, 2. Aufl. Kühn, Ulrich, 1980: Kirche (HST 10), Gütersloh. Künkler, Tobias 2009: Wen oder was soll Gesellschaftstransformation eigentlich transformieren? Der Beitrag der Soziologie zur Gesellschaftstransformation, in: Faix/Reimer/Brecht (Hg.) 2009, 111–117. Kunz-Herzog, Ralph 1997: Theorie des Gemeindeaufbaus. Ekklesiologische, soziologische und frömmigkeitstheoretische Aspekte, Zürich. Land, Dorothee (Hg.) 2015: Lasst uns drüber reden! Glaubenskurse im Osten Deutschlands. Ein Werkbuch – für alle, die über den Glauben ins Gespräch kommen wollen, Weimar/Neudietendorf. Lang, Friedrich 1986: Die Briefe an die Korinther (NTD 7), Göttingen 16. Aufl. (1. Aufl. dieser neuen Bearb.). Lausanne – holistic mission https://www.lausanne.org/content/holistic-mission-lop-33 [23.08.2018]. Lausanne – transformation https://www.lausanne.org/content/statement/transformation-the-church-in-response-to-human-need [25.5.18]. Lindbeck, George A. 1994: Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter (Theologische Bücherei Systematische Theologie, 90), Gütersloh. Lindner, Herbert 1994: Kirche am Ort. Eine Gemeindetheorie, Stuttgart u. a. – 2000: Kirche am Ort. Ein Entwicklungsprogramm für Ortsgemeinden, Völlig überarbeitete Neuausgabe, Stuttgart u. a. Löwe, Frank W. 1999: Das Problem der Citykirchen unter dem Aspekt der urbanen Gemeindestruktur. Eine praktisch-theologische Analyse unter besonderer Berücksichtigung von Berlin, Münster. Luther, Martin 1983: Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Frankfurt 2. Aufl. Maaser, Wolfgang/Schäfer, Gerhard K. (Hg.) 2016: Geschichte der Diakonie in Quellen. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Neukirchen-Vluyn. Marburger Mission: http://www.marburger-mission.org/de/unsere-arbeit/reverse-mis�sion/ [26.10.2017]. MBS: „Gemeindetransformation“ („Trafo“); www.gemeindetransformation.de [25.5.18]. MBS: MBS Trafo, Trafo kurz erklärt. Wie eine Gemeinde zur Entfaltung kommt, Marburg o. J. Mission im Kontext 2005: Verwandlung, Versöhnung, Bevollmächtigung. Ein Beitrag des LWB zu Verständnis und Praxis der Mission, Genf. Mission-Shaped Church 2004. Church Planting and Fresh Expressions of Church in a Changing Context, London. „Mitenand“: www.rehovot.ch/mitenand [5.10.2018]. Moltmann, Jürgen 2010: Ethik der Hoffnung, Gütersloh.

Verwendete Literatur in alphabetischer Reihenfolge

207

Monsees, Jens/Witt, Carla J./Reppenhagen, Martin 2012: Gemeinden auf Kurs. Ergebnisse der empirischen Untersuchung zur Bedeutung von Kursen zum Glauben für die Entwicklung von Gemeinde und Kirche, Greifswald. – 2015: Kurs halten. Erfahrungen von Gemeinden und Einzelnen mit Kursen zum Glauben (BEG Praxis), Neukirchen-Vluyn. Moving in the spirit: https://www.oikoumene.org/en/press-centre/events/conferenceon-world-mission-and-evangelism-moving-in-the-spirit-called-to-transformingdiscipleship[21.8.2018]. Moynagh Michael 2016: Fresh Expressions of Church. Eine Einführung in Theorie und Praxis, Gießen. Müller, Tobias 2012: Transformation der Nachbarschaft: eine empirisch-theologische Studie einer Lebens- und Wohngemeinschaft in einem sozialen Brennpunkt Marburgs, Masterarbeit in Praktischer Theologie (UNISA). N. N., www.r-e-t.net [06.08.2018]). Neues wächst! 2001: Ein Diskussionsbericht mit Praxisimpulsen zur Gemeindeentwicklung und zur Entwicklung von Haupt- und Ehrenamt in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, hg. von der Projektstelle Notwendiger Wandel beim Personaldezernat des Evangelischen Oberkirchenrats, Stuttgart. Newbigin, Lesslie 2017: Das Evangelium in einer pluralistischen Gesellschaft (BEG Praxis), Neukirchen-Vluyn. Nicol, Martin 2000: Grundwissen Praktische Theologie. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart, Berlin, Köln. Nüchtern, Michael 1991: Kirche bei Gelegenheit. Kasualien – Akademiearbeit – Erwachsenenbildung (Praktische Theologie heute, Bd. 4), Stuttgart, Berlin, Köln. Oswald, Roy M.: How to Minister Effectively in Family, Pastoral, Program, and Corporate Sized Churches (http://www.congregationalresources.org/article0132.asp [19.7.2010]. Parzany, Ulrich 2013: in: Fragen aus dem Plenum, in: Badenberg/Knödler (Hg.) 2013, 56. Pauluskirche Bielefeld: http://www.pauluskirche-bielefeld.de/category/predigten/predigt�reihe-40-tage-persisch/ [26.10.2017]. Peters, Albrecht 1991: Kommentar zu Luthers Katechismen Bd. 2: Der Glaube, hg. von Gottfried Seebaß, Göttingen. Pickel, Gert 2015: Sozialkapital und zivilgesellschaftliches Engagement evangelischer Kirchenmitglieder als gesellschaftliche und kirchliche Ressource, in: Bedford-Strohm/ Jung 2015, 279–301. Plüss, David (Hg.) 2008: Kann man Glauben lernen? Eine kritische Analyse von Glaubenskursen. Reformierte Landeskirche Aargau (Theologisch-ekklesiologische Beiträge Aargau Bd. 4), Zürich. Pohl-Patalong, Uta 1996: Seelsorge zwischen Individuum und Gesellschaft. Stuttgart, Berlin, Köln. – 2003a: Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentationen und ein alternatives Modell, Göttingen.

208

Literaturverzeichnis

– 2003b: Regionalisierung – das Modell der Zukunft? Plädoyer für eine ebenso grundlegende wie kreative Debatte, PTh 92, 66–80. – 2004: Von der Ortskirche zu kirchlichen Orten. Ein Zukunftsmodell, Göttingen. Pollack, Detlef 2016: Was wird aus der Kirche? Religionssoziologische Beobachtungen und vier Vorschläge, DtPfBl 116, 374–379. 445–448. 506–509. Pompe, Hans-Hermann 2014: Mitten im Leben. Die Volkskirche, die Postmoderne und die Kunst der kreativen Mission (BEG-Praxis), Neukirchen-Vluyn. Praktische Theologie. Heft 4, 2013; Themenheft: „Kurse zum Glauben“, Bd. 48. Preul, Reiner 1997: Kirchentheorie, Berlin/New York. Putnam, Robert D. 2000: Bowling alone. The Collapse and Revival of American Community, New York. Puttkammer, Annegret 2018: Zur Übersetzung von Matthäus 28,19a – ein Zwischenruf, ThBeitr 49, 127–128. Ratzmann, Wolfgang 1980: Missionarische Gemeinde. Ökumenische Impulse für Strukturreformen, Berlin (Ost). Reese-Schäfer, Walter/Schobert, Wolfgang 2002: Art. Kommunitarismus, RGG4 Bd. 4, 1530–1533. Reimer, Johannes/Müller, Tobias 2015: Die eigene Gemeinde verstehen. Wie Gemeinde ihr Potenzial entdeckt (Praxisreihe Trafo Tools 2), Marburg. Reimer, Johannes 2009a: Die Welt umarmen, Theologie des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus, Marburg. – 2009b: Evangelikale für soziale Gerechtigkeit und die Suche nach der gesellschaftlichen Relevanz in den Kirchen des Westens, in: Faix, Tobias/Reimer, Jürgen/Brecht, Volker (Hg.) 2009, 246–262. Religion und Spiritualität 2016: „Religion und Spiritualität – Ressourcen für die große Transformation?“ Politische Ökologie Nr. 147, 2016. Reppenhagen, Martin 2011: Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche. Die Diskussion um eine „Missional Church“ in den USA (BEG 17), Neukirchen-Vluyn. Ricca, Paolo 2005: Art. Vinay, Tullio, RGG 4. Aufl., Bd. 8, 1118. Rössler, Dietrich 1994: Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 2. Aufl. Ruddat, Günter/Schäfer, Gerhard K. 2005: Diakonie in der Gemeinde, in: dies. (Hg.), Diakonisches Kompendium, Göttingen 2005, 203–228. Samuel, Vinay/Sugden, Chris (Hg.) 1999: Mission as Transformation. A Theology of the Whole Gospel, Oxford. Sautter, Jens Martin 2008: Spiritualität lernen. Glaubenskurse als Einführung in die Gestalt christlichen Glaubens (BEG 2), Neukirchen-Vluyn 3. Aufl. Schäfer, Klaus 2011: Missionstheologische Visionen jenseits der parochialen Partikularismen, ZMiss 37, 240–260. Scheunemann, Kai S. 1995: Kirche für Distanzierte. Das Erfolgsgeheimnis der Willow Creek-Gemeinde, Wiesbaden. Schieder, Rolf 1994: Seelsorge in der Postmoderne, WzM 46, 26–43.

Verwendete Literatur in alphabetischer Reihenfolge

209

Schlag, Thomas 2007: Art. Erwachsenenbildung. Bildungsverantwortung/Bildungsstandards/Informationsmedien/individuelle Lebensführung und politische Verantwortung. In: Wilhelm Gräb (Hg.): Handbuch praktische Theologie, Gütersloh, 481–493. Schlamm, Andreas 2009: Erwachsen glauben. Missionarische Bildungsangebote als Kernaufgabe der Gemeinde (Brennpunkt Gemeinde Studienbrief. A, Gemeindeaufbau 82), Stuttgart. Schmidt, Hartwig 1991: Postmoderne Aussichten, Initial 4, 352–358. Schniewind, Julius 1981: Geistliche Erneuerung, Göttingen. Schulz, Claudia 2005: Milieuspezifische Profilierung von Ortsgemeinden, PTh 94, 341– 359. Schweitzer, Friedrich 2006: Religionspädagogik (Lehrbuch Praktische Theologie 1), Gütersloh. Schwöbel, Christoph 1996: Kirche als Communio, MJTh VIII, 11–46. Schwöbel-Hug, Marlene 2012: Aus der Perspektive des Dekanats Heidelberg, in: Hörsch, Daniel/Schlamm, Andreas (Hg.) 2012, 64–65. Seubert, Harald (Hg.) 2015, Mission und Transformation. Beiträge zu neueren Debatten in der Missionswissenschaft, Wien/Zürich. Siegemund, Axel, 2017: Transformation in Mission, Biologie und Industrie. Zum Gegenstand eines zentralen ethischen Begriffs in der gegenwärtigen Missionstheologie, ZMiss 43, 319–335. Simon, Benjamin 2011: Christliche Gemeinden und Migration. Zwei Seiten einer Medaille, DtPfBl 111, 255–258.263. Spener Philipp Jacob 1986: Umkehr in die Zukunft. Reformprogramm des Pietismus – Pia desideria, hg. von Erich Beyreuther, Gießen/Basel 4. Aufl. – 1996: Pia desideria, in: Die Werke Philipp Jakob Speners. Studienausgabe. Band I: Die Grundschriften Teil 1, in Verbindung mit Beate Köster hg. von Kurt Aland, Gießen/Basel 1996, 55–407. Spiegel, Yorick 1970: Funktionale Pfarrämter – Flucht oder Neubeginn?, in: ders. (Hg.), Pfarrer ohne Ortsgemeinde, München/Mainz 1970, 13–43. Stark, Rodney 1997: Der Aufstieg des Christentums. Neue Erkenntnisse aus soziologischer Sicht, Weinheim. Strunk, Klaus-Martin 2001: Marketing-Orientierung in der Gemeindearbeit, in: HansJürgen Abromeit u. a. (Hg:), Spirituelles Gemeindemanagement. Chancen – Strategien – Beispiele, Göttingen 2001, 42–81. Sundermeier, Theo 1999: Mission und Dialog in der pluralistischen Gesellschaft, in: Andreas Feldtkeller/Theo Sundermeier (Hg.), Mission in pluralistischer Gesellschaft, Frankfurt 1999, 11–25. – 2003: Kulturelle Sensibilität und Kreuzestheologie, in: Michael Böhme u. a. (Hg.), Mission als Dialog. Zur Kommunikation des Evangeliums heute, Leipzig 2003, 39–60. Taufen nur Mittel zum Zweck?, Zollernalbkurier vom 7.8.2016, S. 2.

210

Literaturverzeichnis

The Arusha Call to Discipleship: https://www.oikoumene.org/en/resources/documents/ commissions/mission-and-evangelism/the-arusha-call-to-discipleship [06.08.2018]. Together Towards Life: https://www.oikoumene.org/en/resources/documents/commis� sions/mission-and-evangelism/together-towards-life-mission-and-evangelism-inchanging-landscapes [06.08.2018]. Transformationskongress: www.transformationskongress.de [25.05.18]. Ungewöhnliche Taufen, Evangelisches Gemeindeblatt für Württemberg 14/2016. Uttendörfer, Otto 1948: Evangelische Gedanken. Gewissheit, Freude, Kraft. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Berlin. Vinay, Tullio 1965: Riesi. Geschichte eines christlichen Abenteuers, Stuttgart 2. Aufl. Währisch-Oblau, Claudia 2003: Mission und Migration(skirchen). In C. Dahling-Sander (Hg.), Leitfaden ökumenische Missionstheologie, Gütersloh, 363–383. – 2005. Migrationskirchen in Deutschland. Überlegungen zur strukturierten Beschreibung eines komplexen Phänomens, ZfM 31, 19–39. WBGU: https://www.wbgu.de/hauptgutachten/hg-2011-transformation/ [25.05.18]. Wegner, Gerhard 2000: „Niemand kann aus seiner Haut“. Zur Milieubezogenheit kirchlichen Lebens, PTh 89, 53–70. – 2019: Wirksame Kirche. Sozio-theologische Studien, Leipzig. Weimer, Markus 2015: Gekommen, um zu bleiben. Methodologische Aspekte einer missionalen Initiative innerhalb der Church of England, in: Dessoy, Valentin/Lames, Gundo/Lätzel, Martin/Hennecke, Christian (Hg.), Kirchenentwicklung. Ansätze – Konzepte – Praxis – Perspektiven (Gesellschaft und Kirche – Wandel gestalten, Band 4), Trier 2015, 427–436. Welsch, Wolfgang 1993: Unsere postmoderne Moderne, Berlin 4., Aufl. Werner, Dietrich 2005. Von missionarischer Abstinenz zu missionarischer Polyphonie in Deutschand – Zur Rolle von Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, in ders., Wiederentdeckung einer missionarischen Kirche. Breklumer Beiträge zur ökumenischen Erneuerung (Christlicher Glaube in der Einen Welt Bd. 8), Schenefeld, 264–280. Wikipedia, Tranformation: https://de.wikipedia.org/wiki/Transformation [25.5.18]. Wikipedia – Transformation Spezial-Suche: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title= Spezial:Suche&profile=advanced&search=intitle%3A%22Transformation%22&ns0= 1&searchToken=clehb7 m59trbnnf9zv1mli3nt [25.5.18]. Wolking, Lena; Schweitzer, Friedrich 2015: Erwachsenenbildung und Kurse zum Glauben. Angebotserhebung und -analyse in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Bielefeld. Wolter, Michael 2008: Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen. Wrogemann, Henning 2016: Interkulturelle Theologie und Hermeneutik. Grundfragen, aktuelle Beispiele, theoretische Perspektiven (Lehrbuch Interkulturelle Theologie/ Missionswissenschaft Band 1), 2. Aufl. Gütersloh.

Verwendete Literatur in alphabetischer Reihenfolge

211

„Zeit zur Aussaat“ 2000: Missionarisch Kirche sein, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Die deutschen Bischöfe Nr. 68), Bonn. Ziemer, Jürgen 2000: Seelsorgelehre. Eine Einführung für Studium und Praxis (UTB 2147), Göttingen. Zimmermann, Johannes 2004: „Kirchliche Orte“ – ein Modell der Zukunft? Buchbericht und Diskussion zu: Uta Pohl-Patalong, Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentationen und ein alternatives Modell, Göttingen 2003, in: DtPfBl 104, 91–94. – 2005, Auf dem Weg zur Gemeinde der Zukunft. Gemeindeaufbau vor neuen Herausforderungen, ThBeitr 36, 30–43. – 2006a: Parochie – und was sonst? Die Gestalt der Gemeinde Jesu Christi zwischen parochialen und überparochialen Strukturen, ThBeitr 37, 197–214. – 2006b: Die Parochie ist kein Auslaufmodell, in: Bartels, Matthias/Reppenhagen, Martin (Hg.) 2006, 184–203. – 2008: „Being connected. Sozialität und Individualität in der christlichen Gemeinde“, in: Martin Reppenhagen/Michael Herbst (Hg.), Kirche in der Postmoderne (BEG 6), Neukirchen-Vluyn, 136–160. – 2009a: Gemeinde zwischen Sozialität und Individualität. Herausforderungen für den Gemeindeaufbau im gesellschaftlichen Wandel (BEG 3), Neukirchen-Vluyn 2. Aufl. – 2009b: „Wir sind hier doch nicht in Brasilien“. Praktisch-theologische Überlegungen zum Thema Mission, ThBeitr 40, 79–95. – (Hg.) 2010a: Darf Bildung missionarisch sein? Beiträge zum Verhältnis von Bildung und Mission (BEG 16), Neukirchen-Vluyn. – 2010b: Gibt es missionarische Bildung? – Auf der Suche nach Verbindungen von Bildung und Mission. In: Johannes Zimmermann (Hg.) 2010a, 162–186. – 2010c, Diasporafähiger Glaube“ – Eine Herausforderung für christliche Gemeinden in pluraler Gesellschaft, in: M. Reppenhagen (Hg.), Kirche zwischen postmoderner Kultur und Evangelium, Neukirchen-Vluyn 2010 (BEG 15), 39–62. – 2016: „Gemeinde unter Gottes Verheißung“ in: Lebendige Gemeinde 4/2016, 4–7. – 2017a: Zwei Mal „Lehren“? Ein Widerspruch zu Wolfgang Reinbolds Auslegung von Mt 28,19, ZThK 114, 138–148. – 2017b: Art. Evangelisation, ELThG2 Bd. 1, 1863–1869. – 2018a: Gemeinde, Mission und Transformation. Ein Gespräch mit der „Transformationstheologie“, ThBeitr 49, 296–312. – 2018b: Rezension zu: Volker Gäckle, Das Reich Gottes im Neuen Testament, Göttingen 2018, in: ThBeitr 49, 319–320. – 2019a: Kirche für die Einheimischen oder Multi-Kulti? Migration als Herausforderung für die Zukunft christlicher Gemeinden, in: Claudia Rahnfeld (Hg.), Theologie und Soziale Arbeit im Gespräch. Eine Gesellschaft – viele Herausforderungen, Wiesbaden 2019, 167–184. – 2019b: Art. Gemeinschaft I. biblisch, ELThG2, Bd. 2, 441–442.

212

Literaturverzeichnis

Zimmermann, Johannes; Schröder, Anna-Konstanze (Hg.) (2011): Wie finden Erwachsene zum Glauben? Einführung und Ergebnisse der Greifswalder Studie (BEG-­ Praxis), Neukirchen-Vluyn, 2., überarb. u. erw. Aufl. Zulehner, Paul M. 1995: Gemeindepastoral. Orte christlicher Praxis (Pastoraltheologie Band 2), Düsseldorf 3. Aufl. Zulehner, Paul M. 2012: Kirchenvisionen. Orientierung in Zeiten des Kirchenumbaus, Ostfildern.