Geist=reiche Critik: Hermetik, Mystik und das Werden der Aufklärung in spiritualistischer Literatur der Frühen Neuzeit 9783110314410, 9783110314441

The Corpus Hermeticum was a significant driver of the pluralization of forms of religion and knowledge that occurred in

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German Pages 569 [572] Year 2013

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Table of contents :
Vorwort
I. Einleitung
1. Aufklärung, Säkularisierung und religiöse Devianz
2. Hermetismus, Hermetik und (westliche) Esoterik. Begriff und Forschungsansätze
II. Ansatz, Problemfelder und Methode
1. Ansatz und Vorgehen: Quellenorientierung und philologische Rezeption
2. Kulturelle Narrative und frühneuzeitliche Konfliktfelder zur Profilierung ›hermetischen‹ Wissens: Schöpfungs- und Erlösungslehre, Zeit, Androgynie
3. Zur Physiognomie des Hermetismus aus der Sicht seiner Gegner um 1700
4. Hermetik, Mystik und Philologie
III. Pymander als Inneres Wort: Sebastian Franck (1499–1542)
1. Zu Quellenlage und Forschungsfragen
1.2. Francks Texte und die Tradition der Theologia mystica
2. Pymander als Inneres Wort. Die Übersetzung des Corpus Hermeticum im Kontext mittelalterlicher Logosmystik
2.1. Narrative Struktur und mystisches Sprecher-Ich
2.2. Übersetzung in Tradition und Kontext: Philologie und Anthropologie
2.2.1. Nous, Mens und Gemüt. Trichotome Anthropologie bei Tauler und Eckhart
2.2.2. Seele und Gott in der Tradition. Von Augustin über Plotin zur Theologia deutsch
2.3. Hermetische Logosmystik: Pimander als Inneres Wort
2.4. Christlicher Prätext: Die Geschichte von der Bekehrung Taulers (ca. 1357)
2.5. Inneres Wort und kosmischer Christus
3. Interpretationsdifferenzen und Spannungsfelder zu kanonisierten Deutungen
3.1. Religiöse Toleranz, Pluralität der Wege und die Deutung des Asclepius-Dialogs
3.2. »Fastnachtsspiel vor Gott«. Heilsgeschichte als Liebes-Drama
3.3. Geheime Rede? Poetik und spiritualistische Hermeneutik in Guldin Arch, Paradoxa und dem Verbüthschiert Buch
4. Zur Rezeption: Differenzierung der Wahrheit(en)
4.1. Kritik des konfessionellen Pragmatismus (Luther)
4.2. Naturalisierung und Ethisierung der Heilsgeschichte
IV. Wiedergeburt und All-Einheit: Valentin Weigel (1533–1588)
1. Zu Quellenlage und Forschungsfragen
1.1. Zu Autor, Werk und Kontext
1.2. Historische Hermetisierung und Texte des Hermes in Weigels Werk
1.3. Mystik und Naturphilosophie: Quellen und Traditionen zu Weigels Texten
2. Nosce teipsum: Häretisierung und Hermetisierung des Denkens der Selbsterkenntnis
2.1. Christlicher Kontext: Zur Korruption der menschlichen Natur
2.2. Zur Aktualisierung der trichotomen Anthropologie
2.3. Trichotome Epistemologie: Subjektzentrierte Erkenntnis, Perspektivität und Lumen internum
3. Wiedergeburt und All-Einheit: Selbsterkenntnis und der 13. hermetische Traktat
3.1. Weigels Rezeption des Traktats von der Wiedergeburt
3.2. Das All in allem: Hermetische Ubiquitätserfahrung als ›Auswicklung‹ des Menschen
4. Zur Unterminierung großer Erzählungen: Mystik, Dekonstruktion und ›geist-reiche‹ Kritik
4.1. Die geistliche Übung als Tertium comparationis: Stille und Herzenssabbath
4.2. Augenmetaphorik, Erkenntniskritik und Dekonstruktion
4.3. Selbsterkenntnis und Epistemologie im Vergleich bei Ignatius von Loyola
4.4. Von der Deutung der Selbsterkenntnis zur Demokratisierung des Heilswissens
5. Theologie und Literatur: Weigel und Faust. Von der Häresie zur psychologischen Figurenzeichnung
6. Naturphilosophie und weltschöpferischer Synkretismus
6.1. Die Viererley Auslegung von der Schöpfung. Text, textuelle Strategien und Organisationsformen für christliches und hermetisches Wissen
6.2. Arbeit am Mythos als Integration des Anderen: Luzifers Fall, Emanation und Gott-Mutter
6.3. Biblische Fantasie: Sophia, göttliche Eva und die ›Mutter aller Dinge‹
6.4. Außerbiblische Kontexte: Natura und Weltseele
V. Hermetik und Theosophie: Jakob Böhme (1575–1624)
1. Zur diskursiven Verfugung von Hermetik und Theosophie in der Rezeption
2. Gemeinsamer Kontext: Antiklerikalismus und Autonomiestreben
3. Kontinuität und Variation des Schöpfungswissens: Von der spiritualistischen Genesis-Allegorese zur Selbstbeschaulichkeit Gottes in der Schöpfung
VI. Die Geheimnisse der Mystici mit den Augen der Vernunft einsehen: Johann Conrad Dippel (1673–1734)
1. Zu Quellenlage und Forschungsfragen
1.1. Zu Autor, Werk und Kontext
1.2. »Witz und Landessprache sind die Mistbeete, in denen der Same der Rebellion reifet.« Dippels Texte als theologische Streitliteratur
1.3. Zur Rezeption und Neudeutung des Corpus Hermeticum
1.4. Patristik, Radikalpietismus und neue Naturphilosophie. Dippels Texte im Diskurs um 1700
2. Streitbare Irenik: Anthropologie, Religionskritik und Toleranzfrage
2.1. Trennung der Wege: Der Konflikt um Papismus Protestantium vapulans
2.2. »Homo hæreticus«: Zur Systematik der Häresiekonzepte und zur Dekonstruktion des Religionszwangs (Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie)
2.3. Dippels Reflexion des religiös Anderen zwischen Frühaufklärung und Theosophie (Christian Thomasius und Jakob Böhme)
3. Sozialkritik und Utopie: Andreaes Christianopolis (1609), Dippels Christen=Stadt auf Erden (1699) und Ein Hirt und eine Heerde (1705)
4. Umdeutungen in Theologie und Menschenbild
5. Naturphilosophie zwischen Genesis und Frühaufklärung
5.1. Texte und Kontexte zu Dippels Naturphilosophie
5.2. Skizze der Naturphilosophie nach dem Anderen Theil des Weg-Weisers
5.3. Lebensgeist, Gott-Mutter und Descartes. Von der Theologie des Wortes zur Philosophie des Lebens in der Frühaufklärung
6. Vom Freidenker zum Frankenstein. Zur Hermetisierung des Dippel-Bildes in der kulturellen Erinnerung
VII. Rückblick
VIII. Bibliografie
1. Quellen
2. Literatur
IX. Abbildungsverzeichnis
X. Register
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Geist=reiche Critik: Hermetik, Mystik und das Werden der Aufklärung in spiritualistischer Literatur der Frühen Neuzeit
 9783110314410, 9783110314441

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Kristine Hannak Geist=reiche Critik

Frühe Neuzeit

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Band 182

Kristine Hannak

Geist=reiche Critik Hermetik, Mystik und das Werden der Aufklärung in spiritualistischer Literatur der Frühen Neuzeit

ISBN 978-3-11-031441-0 e-ISBN 978-3-11-031444-1 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: TIESLED Satz & Service, Köln Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Allen meinen Eltern, und besonders meiner Mutter, Brigitte Hannak, die mir nicht nur das Leben, sondern auch die Freude am kritischen Denken geschenkt hat.

Inhalt Vorwort

 XI

I. Einleitung  1. 2. II. 1. 2. 3. 4. III. 1. 1.1. 1.2. 2. 2.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.3.

 1

Aufklärung, Säkularisierung und religiöse Devianz  Hermetismus, Hermetik und (westliche) Esoterik. Begriff und Forschungsansätze   16 Ansatz, Problemfelder und Methode 

 2

 37

Ansatz und Vorgehen: Quellenorientierung und philologische Rezeption  37 Kulturelle Narrative und frühneuzeitliche Konfliktfelder zur Profilierung ›hermetischen‹ Wissens: Schöpfungs- und Erlösungslehre, Zeit, Androgynie  41 Zur Physiognomie des Hermetismus aus der Sicht seiner Gegner um 1700  56 Hermetik, Mystik und Philologie  66 Pymander als Inneres Wort: Sebastian Franck (1499–1542)

 73

Zu Quellenlage und Forschungsfragen  73 Zu Autor, Werk und Kontext  80 Francks Texte und die Tradition der Theologia mystica  86 Pymander als Inneres Wort. Die Übersetzung des Corpus Hermeticum im Kontext mittelalterlicher Logosmystik  98 Narrative Struktur und mystisches Sprecher-Ich  98 Übersetzung in Tradition und Kontext: Philologie und Anthropologie  101 Nous, Mens und Gemüt. Trichotome Anthropologie bei Tauler und Eckhart  101 Seele und Gott in der Tradition. Von Augustin über Plotin zur Theologia deutsch  110 Hermetische Logosmystik: Pimander als Inneres Wort  119

VIII 

 Inhalt

2.4. Christlicher Prätext: Die Geschichte von der Bekehrung Taulers (ca. 1357)  123 2.5. Inneres Wort und kosmischer Christus  126 3. Interpretationsdifferenzen und Spannungsfelder zu kanonisierten Deutungen  134 3.1. Religiöse Toleranz, Pluralität der Wege und die Deutung des Asclepius-Dialogs  134 3.2. »Fastnachtsspiel vor Gott«. Heilsgeschichte als Liebes-Drama  143 3.3. Geheime Rede? Poetik und spiritualistische Hermeneutik in Guldin Arch, Paradoxa und dem Verbüthschiert Buch  155 4. Zur Rezeption: Differenzierung der Wahrheit(en)  163 4.1. Kritik des konfessionellen Pragmatismus (Luther)  163 4.2. Naturalisierung und Ethisierung der Heilsgeschichte  165 IV.

Wiedergeburt und All-Einheit: Valentin Weigel (1533–1588)

 173

1. Zu Quellenlage und Forschungsfragen  173 1.1. Zu Autor, Werk und Kontext  183 1.2. Historische Hermetisierung und Texte des Hermes in Weigels Werk  189 1.3. Mystik und Naturphilosophie: Quellen und Traditionen zu Weigels Texten  196 2. Nosce teipsum: Häretisierung und Hermetisierung des Denkens der Selbsterkenntnis  202 2.1. Christlicher Kontext: Zur Korruption der menschlichen Natur  202 2.2. Zur Aktualisierung der trichotomen Anthropologie  206 2.3. Trichotome Epistemologie: Subjektzentrierte Erkenntnis, Perspektivität und Lumen internum  210 3. Wiedergeburt und All-Einheit: Selbsterkenntnis und der 13. hermetische Traktat  220 3.1. Weigels Rezeption des Traktats von der Wiedergeburt  220 3.2. Das All in allem: Hermetische Ubiquitätserfahrung als ›Auswicklung‹ des Menschen  226 4. Zur Unterminierung großer Erzählungen: Mystik, Dekonstruktion und ›geist-reiche‹ Kritik  239

Inhalt 

 IX

4.1. Die geistliche Übung als Tertium comparationis: Stille und Herzenssabbath  239 4.2. Augenmetaphorik, Erkenntniskritik und Dekonstruktion  247 4.3. Selbsterkenntnis und Epistemologie im Vergleich bei Ignatius von Loyola  255 4.4. Von der Deutung der Selbsterkenntnis zur Demokratisierung des Heilswissens  260 5. Theologie und Literatur: Weigel und Faust. Von der Häresie zur psychologischen Figurenzeichnung  270 6. Naturphilosophie und weltschöpferischer Synkretismus  275 6.1. Die Viererley Auslegung von der Schöpfung. Text, textuelle Strategien und Organisationsformen für christliches und hermetisches Wissen  275 6.2. Arbeit am Mythos als Integration des Anderen: Luzifers Fall, Emanation und Gott-Mutter  282 6.3. Biblische Fantasie: Sophia, göttliche Eva und die ›Mutter aller Dinge‹  286 6.4. Außerbiblische Kontexte: Natura und Weltseele  300 V. 1. 2. 3.

VI. 1. 1.1. 1.2. 1.3.

Hermetik und Theosophie: Jakob Böhme (1575–1624)

 307

Zur diskursiven Verfugung von Hermetik und Theosophie in der Rezeption  307 Gemeinsamer Kontext: Antiklerikalismus und Autonomiestreben  311 Kontinuität und Variation des Schöpfungswissens: Von der spiritualistischen Genesis-Allegorese zur Selbstbeschaulichkeit Gottes in der Schöpfung  315 Die Geheimnisse der Mystici mit den Augen der Vernunft einsehen: Johann Conrad Dippel (1673–1734)  333 Zu Quellenlage und Forschungsfragen  333 Zu Autor, Werk und Kontext  347 »Witz und Landessprache sind die Mistbeete, in denen der Same der Rebellion reifet.« Dippels Texte als theologische Streitliteratur  357 Zur Rezeption und Neudeutung des Corpus Hermeticum  363

X 

 Inhalt

1.4. 2. 2.1. 2.2.

Patristik, Radikalpietismus und neue Naturphilosophie. Dippels Texte im Diskurs um 1700  370 Streitbare Irenik: Anthropologie, Religionskritik und Toleranzfrage  381 Trennung der Wege: Der Konflikt um Papismus Protestantium vapulans  381 »Homo hæreticus«: Zur Systematik der Häresiekonzepte und zur Dekonstruktion des Religionszwangs (Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie)  401 2.3. Dippels Reflexion des religiös Anderen zwischen Frühaufklärung und Theosophie (Christian Thomasius und Jakob Böhme)  413 3. Sozialkritik und Utopie: An­dreaes Christianopolis (1609), Dippels Christen=Stadt auf Erden (1699) und Ein Hirt und eine Heerde (1705)  428 4. Umdeutungen in Theologie und Menschenbild  447 5. Naturphilosophie zwischen Genesis und Frühaufklärung  450 5.1. Texte und Kontexte zu Dippels Naturphilosophie  450 5.2. Skizze der Naturphilosophie nach dem Anderen Theil des Weg-Weisers  465 5.3. Lebensgeist, Gott-Mutter und Descartes. Von der Theologie des Wortes zur Philosophie des Lebens in der Frühaufklärung  471 6. Vom Freidenker zum Frankenstein. Zur Hermetisierung des Dippel-Bildes in der kulturellen Erinnerung  494 VII. Rückblick

 501

VIII. Bibliografie

 511

1. Quellen 2. Literatur

 511  522

IX. Abbildungsverzeichnis X. Register

 553

 551

Vorwort Diese Studie ist das Ergebnis eines interdisziplinären, interuniversitären und internationalen Dialogs. Über die abgesteckten Bahnen der Fächergrenzen hinaus hat er sie stets begleitet und wachsen lassen. Allen Beteiligten sei an dieser Stelle von Herzen gedankt. Für die kundige Betreuung, kritische Begleitung und gemeinsame Freude an der Sache danke ich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Hans-Georg Kemper (Neuere deutsche Literatur/Universität Tübingen), von ganzem Herzen. Seine Treue zum Projekt in guten wie in schweren Zeiten wird unvergessen bleiben, ebenso wie sein Vertrauen, auch zunächst Unbekanntes zu unterstützen. Meiner zweiten Betreuerin und Zweitgutachterin, Frau Prof. Dr. Monika Neugebauer-Wölk (Geschichte der Frühen Neuzeit/Universität Halle-Wittenberg) danke ich herzlichst für ihre fördernde und fordernde, aber letztlich immer solidarische Begleitung. Sie ermöglichte dem Projekt bereits früh, sich der interdisziplinären akademischen Öffentlichkeit zum Dialog zu stellen, was mir rekurrierend Herausforderung, Impuls und Kurskorrektur zugleich war. Meinem dritten Betreuer, Prof. Dr. Udo Sträter (Kirchengeschichte/Universität Halle-Wittenberg) danke ich für wertvolle Hinweise zur Schärfung des theologischen Profils. Den Prüfern im Promotionskolloquium Prof. Dr. Ralph Häfner und Prof. Dr. Klaus Ridder (Neuere deutsche Literatur und Mediävistik/Universität Tübingen) danke ich für die Erstellung des dritten und des vierten Gutachten. Nicht zuletzt gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Friedrich Vollhardt (Neuere deutsche Literatur/Universität München), der diese Arbeit für die Publikation in der Reihe Frühe Neuzeit nachdrücklich eingeworben hat. Die Arbeit an der Studie wurde im Jahr 2010 abgeschlossen. Für den Druck wurde sie noch leicht überarbeitet. Auch für die eigentliche Forschungsarbeit gilt mein Dank verschiedenen Personen: Als erstes möchte ich Herrn Dr. Horst Pfefferl (Marburg) danken, der mir die unveröffentlichten Teile seiner Dissertation zu Valentin Weigel zusandte und brieflich Auskunft gab, wo er konnte. Weiter danke ich Herrn Dr. Stefan Lorenz (Leibniz-Forschungsstelle Universität Münster) für die Übersendung seiner Materialsammlung zu Johann Conrad Dippel, die mir sehr behilflich war. Ich danke auch Prof. Dr. Hans Schneider (Marburg) für kundige Gespräche und anregenden Austausch, ebenso wie Prof. Dr. Joachim Telle (Heidelberg) für die briefliche Beantwortung von Fragen zu Quellen. Für Ermutigung auf dem Weg danke ich Frau Prof. Dr. Allison Coudert (UC Davis, USA). Kurz vor Abschluss des Manuskripts traf ich auf einer Konferenz in Oxford Prof. Dr. Andrew Weeks (University of Illinois, USA). Auch noch am Ende eines langen Forschungsprozesses verdanke ich den Gesprächen mit ihm einige entscheidende Einsichten, ohne die die Arbeit heute nicht das wäre, was sie ist.

XII 

 Vorwort

Der Bibliotheca Philosophica Hermetica in Amsterdam werde ich nicht vergessen, dass sie auch außerhalb der Öffnungszeiten ihre Tore für mich öffnete. Jürgen W. Müller (Klosterbibliothek Oberried) bleibe ich für sein Engagement in der Transkriptions- und Übersetzungshilfe der lateinischen Handschrift verbunden. Längere Forschungsprojekte sind nur mit der Hilfe von institutioneller Unterstützung durchführbar. So danke ich dem Land Baden-Württemberg für ein Landesgraduiertenstipendium und dem Land Sachsen-Anhalt für ein Stipendium im Exzellenz-Netzwerk Aufklärung – Religion – Wissen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Den Betreuern und dem ersten Jahrgang des Graduiertenkollegs im Exzellenz-Netzwerk sei an dieser Stelle noch meine besondere Wertschätzung ausgesprochen. Die kollegiale Arbeitsatmosphäre und die gelungene Organisationsform trugen ganz wesentlich zum Entstehen des Projekts in dieser Form bei. Insbesondere den Mitgliedern meiner Arbeitsgruppe, Lucinda Martin, PhD, und Dr. Jürgen Kaufmann, bin ich in Erinnerung an eine interdisziplinär anregende, intellektuell-heitere Zusammenarbeit verbunden. Nicht zuletzt gilt mein Dank der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ein Forschungsstipendium an die Library of Congress (Washington D.C.). Mein besonders herzlicher Dank gilt schließlich meiner Familie und meinen Freunden. Brigitte und Carolin Hannak danke ich für ihre Unterstützung, Geduld und den unerschütterlichen Glauben an das Projekt. Ellen Braun, Dr. Michael Schober und Dr. Miriam Wallraven danke ich für ihre Freundschaft und Hilfe, nicht nur beim Korrekturlesen, während der gemeinsamen Zeit unterwegs. Zu guter Letzt danke ich Marion Iris Reinhardt für ihre unschätzbare Begleitung auf dem Weg.

I. Einleitung ES gläntzet der Christen inwendiges Leben / ob gleich sie von aussen die sonne verbrannt / was ihnen der König des Himmels gegeben / ist keinem als ihnen nur selber bekannt. Was niemand verspüret / was niemand berühret / hat ihre erleuchtete Sinnen gezieret / und sie zu der göttlichen würde geführet.

Christian Friedrich Richter Geist=reiches Gesang=Buch (Halle 1704)

Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Critik, der sich alles unterwerfen muß. Immanuel Kant Critik der reinen Vernunft (Riga 1781)

»Oh Ägypten«, seufzt der anonyme Autor des hermetischen Asclepius-Dialogs, »allein die Erzählungen über deine religiösen Bräuche werden übrig bleiben, und sie werden deinen Nachkommen unglaubwürdig erscheinen.«1 Diese Studie fragt exemplarisch nach der Rezeption jener Erzählungen in der mystischen, spiritualistischen und radikalpietistischen Literatur der Frühen Neuzeit und nach ihrem Beitrag zu Umdeutungen zentraler Konstellationen kulturellen Wissens, die zeitgenössisch tatsächlich als Unglaube wahrgenommen und als Häresien diskursiviert wurden, jedoch auch eine tragende Rolle bei der Formulierung wichtiger Anliegen der späteren Aufklärung spielten. Dabei beschränkt sich die Frage nach dem Zusammenspiel von Mystik und Hermetik nicht auf ihren Beitrag zu den klassischen Topoi einer Herausbildung von Mündigkeit, religiöser Toleranz und der Aufwertung der Natur zur zweiten Offenbarungsquelle Gottes, sondern sie fokussiert auch auf die Entstehung einer spezifischen »Kritik, der sich alles unterwerfen muss«,2 die lange vor Kants Charakterisierung der Aufklärung in diesen Worten das Konzept dogmatisch verfasster Wahrheitsansprüche grundlegend anzuzweifeln vermochte. Die Tragweite dieser Kritik wird allerdings erst unter der Berücksichtigung spezifisch frühneuzeitlicher Rationalitätskonzepte und eines aus der mittelalterlichen Mystik tradierten anthropologischen Wissens greifbar, das die spiritualistischen Autoren in den Texten des Corpus Hermeticum bestätigt sahen, das von der Theosophie

1 Asclepius-Dialog. In: Das Corpus Hermeticum Deutsch. 3 Bde. Hg. v. Carsten Colpe u. Jens Holzhausen. Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, S. 287 (im Folgenden abgekürzt als CHD). 2 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1992, S. 13.

2 

 Einleitung

Jakob Böhmes wiederaufgegriffen wurde und das bis ins 18. Jahrhundert hinein im Wissenshorizont radikalpietistischer Autoren präsent blieb. Frühaufklärern wie Christian Wolff jedoch wurde es fremd und wurde von der späteren Forschung auch nicht als aufklärerisch wahrgenommen. Die These eines Werdens der Aufklärung in einer Tradition, die von namhaften Aufklärern wie der späteren Historiografie lange als ihr dezidiertes Anderes verstanden wurde, mutet auf den ersten Blick paradox an. Wurden die Autoren des mystischen Spiritualismus in der älteren Forschung lange mit Luthers zusammenfassender Bezeichnung der »Schwärmer« assoziiert,3 galt die Aufklärung umgekehrt gerade als »Kampfidee« gegen Schwärmerei und Aberglaube,4 als »Hoffnung auf Vernunft«5 gegenüber »dunklen und verworrenen Vorstellungen«,6 die bereits die prominenten Aufklärer selbst wie Kant oder das Ehepaar Gottsched mit den hochspekulativen Systemen und der dunklen Sprache der Theosophen, Geisterseher, Spiritualisten und Radikalpietisten in eins gesetzt hatten.7 Sie verlangt also nach Präzisierung.

1. Aufklärung, Säkularisierung und religiöse Devianz Der Aufklärungbegriff hat im gegenwärtigen Sprachgebrauch eine doppelte Valenz als Projekt- und als Epochenbegriff, darüber hinaus gilt er als Bezugspunkt für die Deutung und Selbstdeutung der Moderne,8 was ihm ein vielschich-

4

3 Volker Leppin: Art. »Spiritualismus«. In: RGG , Bd. 7 (2004), Sp. 1584 f. 4 Norbert Hinske: Die Aufklärung und die Schwärmer – Sinn und Funktion einer Kampfidee. In: Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. 3.1. (1988), S. 1–6. 5 Werner Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990. 6 Norbert Hinske: Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie. In: Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Hg. v. Raffaele Ciafardone. Stuttgart 1990, S. 407–458, S. 427. 7 Luise Adelgunde Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (Rostock 1735). Hg. v. Wolfgang Martens, Stuttgart 1968, hier insbesondere die Liste radikalpietistischer Literatur S. 102 ff.; Johann Christoph Gottsched: Academische Rede zum Lobe der Weltweisheit. In: Ausgewählte Werke, 9. Bd., 2. Teil. Berlin/New York 1976, S. 400; Wilhelm Kühlmann: Frühaufklärung und Barock. Traditionsbruch – Rückgriff – Kontinuität. In: Europäische Barock-Rezeption. Hg. v. Klaus Garber. 2 Bde. Teil 1. Wiesbaden 1991, S. 187–214. 8 Annette Meyer: Die Epoche der Aufklärung. Berlin 2010, S. 11–21. Siehe dort auch den konzisen Überblick zu Geschichte und Tendenzen der Aufklärungsforschung; Jonathan Israel: Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity and the Emancipation of Man 1670–1752. Oxford 2006; Robert Darnton: George Washingtons falsche Zähne, oder noch einmal: Was ist Aufklärung? München 1997.



Aufklärung, Säkularisierung und religiöse Devianz 

 3

tiges Geflecht an Bestimmungen zuschreibt. Die ältere Forschung orientierte sich in ihren Fragestellungen überwiegend an einer sich auf Kant berufenden Engführung von Aufklärung und Verstandestätigkeit9 sowie an seiner Disziplin, der Philosophie. Damit bewegten sich die Untersuchungsperspektiven in einem epistemologischen Rahmen, der von den kantschen Dichotomien zwischen der Vernunft und ihrem Anderen gekennzeichnet war. Dieser konnte sowohl als positiv konnotierte Durchsetzung der Vernunft oder als negativ konnotierte Verlust­geschichte des »Anderen der Vernunft« interpretiert werden, wobei dieses Andere vielseitig ausdeutbar blieb und so unterschiedliche Aspekte wie den Aberglauben oder das Vorurteil, alle Spielarten der Unvernunft oder den ganzen Komplex der »Nachtseite der Aufklärung« umfassen konnte.10 Nach der diskursanalytischen Wende konnte dieses Andere auch die prädiskursive Welt des Körpers, der Lust oder des Wahnsinns implizieren, der, sentimentalisch interpretiert, ebenfalls die Stimme des Verlorenen zugesprochen und wiederum der Ratio als Antipode gegenüber gestellt wurde.11 Gleichzeitig wurde aber das Unzureichende an der Gleichsetzung von Aufklärung und Rationalisierung deutlich: Weder ließ sich damit das epochale Phänomen des Pietismus einbinden, der als größte religiöse Erneuerungsbewegung des Protestantismus seit der Reformation12 den Frühaufklärern nicht nur zunächst in einer gemeinsamen Opposition gegen die kirchliche Orthodoxie verbunden war13 sowie einen herausragenden Beitrag zur Herausbildung

9 Vgl. die gängige Orientierung einführender Literatur zur Aufklärung an Kant: Peter André Alt: Aufklärung. Stuttgart 2001, S. 1–3; Werner Schneiders: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München 1995, S. 9; Lothar Kreimendahl: Einleitung. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts als Philosophie der Aufklärung. In: Philosophen des 18. Jahrhunderts. Eine Einführung. Hg. v. Lothar Kreimendahl. Darmstadt 2000, S. 1–32, hier S. 2. 10 Etwa Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992 (Studien zur deutschen Literatur 119); Jochen Schmidt: Aufklärung, Gegenaufklärung, Dialektik der Aufklärung. In: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Jochen Schmidt. Darmstadt 1989, S. 1–32; zur Gegenposition Gernot Böhme und Hartmut Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a.M. 1985. Pointiert im Schlagwort der These Max Webers von der »Entzauberung der Welt«: Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: Ders: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftsleh7 re. Hg. v. Johannes Winckelmann. Tübingen 1988, S. 582–613, hier S. 594. 11 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. 1979, S. 184–187. 12 Zu Definitionsfragen siehe in Verbindung mit einem detaillierten Überblick zu Forschungsansätzen Johannes Wallmann: Pietismus und Orthodoxie. Überlegungen und Fragen zur Pietismusforschung. In: Ders: Gesammelte Aufsätze. 2 Bde. Bd. 2. Tübingen 2008, S. 1–22; weiterführend ders.: Die Anfänge des Pietismus, ebd., S. 22–66. 13 Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/1: Aufklärung und Pietismus. Tübingen 1991, S. 103.

4 

 Einleitung

von Individualität und der empfindsamen Gefühlskultur des 18.  Jahrhunderts leistete, noch fand die »Rehabilitation der Sinnlichkeit« als eine der »wichtigsten weltanschaulichen Waffen im Kampf gegen die theologische Ontologie und Moral« einen angemessenen reflektierten Ort.14 Erst das Bewusstsein um die Rückprojektion zeitgenössischer Rede ins 18. Jahrhundert plädierte für einen Abschied von einem gegenwartskompatiblen Wissensbegriff, eine interdisziplinäre Ausweitung der Quellenbasis und für die Berücksichtigung von Autoren, die aus heutiger Sicht nicht zu den Siegern einer linear gedachten Linie des »Fortschritts« zählen, zeitgenössisch jedoch im intellektuellen Feld bedeutende Rollen innehatten.15 Unter der Voraussetzung eines weiten Literaturbegriffs ließ sich damit auch die Gattung der polemischen Literatur und mit ihr der theologische und literarische Streit als Moment umschreiben, das nicht nur das Phänomen Aufklärung als Kommunikationsgefüge sichtbar macht, sondern es historisch an die vorausgehende Epoche der konfessionellen Streitigkeiten rückbindet16 und ihm damit – auch – Antwortcharakter17 zuschreibt. Ebenso öffnete sich der Blick für Radikalisierungsprozesse von Ideen, die, wie etwa Martin Mulsows Studie Moderne aus dem Untergrund gezeigt hat, bereits früh vorhanden waren und über ein komplexes Zusammenspiel an Kommunikationsakten Raum gewannen, die sich nicht in einer begradigten Linie als Siegeszugs der Vernunft darstellen lassen.18 Vor allen Dingen band sie die ästhetischen Neuerungen in die Berücksichtigung der sozialen, politischen und kul-

14 Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002, S. 19. 15 Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 6. Sonderh. (1994), S. 93–157, hier S. 100 ff. u. 122; Monika Neugebauer-Wölk: Die Geheimnisse der Maurer. Plädoyer für eine Akzeptanz des Esoterischen in der historischen Aufklärungsforschung. In: Das 18. Jahrhundert 21.1 (1997), S. 15–32. 16 Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997; Kai Bremer: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert. Tübingen 2005; Wilfried Barner: Was sind Literaturstreite? Über einige Merkmale. In: Literaturstreit. Hg. v. Hans-Jürgen Bachorski, Georg Behütuns u. Petra Boden. Bielefeld 2000 (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 47 [2000], H. 4), S. 374–380. 3 17 Werner Schneiders: Das Zeitalter der Aufklärung. München 2005, S. 7 f. 18 Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühauklärung in Deutschland 1680– 1720. Hamburg 2002, S. 38; ebenso ders.: Die drei Ringe. Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin Veyssière La Croze (1661–1739). Tübingen 2001; ders.: Den ›Heydnischen Saurteig‹ mit dem ›Israelitischen Süßteig‹ vermengt. Kabbala, Hellenisierungsthese und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann und Johann Peter Späth. In: Scientia Poetica 11 (2007), S. 1–50.



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turgeschichtlichen Verhältnisse im 17. und 18. Jahrhundert ein, die noch weithin unhinterfragte Allianz von Thron und Altar, die noch überwiegend intakte Ständeordnung und die Machtfülle der Kirchen, die nicht nur im politischen System, sondern im gesamten Bereich des zivilen und kulturellen Lebens eine Schlüsselrolle inne hatten. Sie prägten das Erziehungswesen über die Universitäten und Katechismusschulen, verübten Zensur und überwachten die Bekenntnistreue, sodass Glaubensfragen zu Fragen der politischen Identität wurden, Abweichungen entsprechend nicht nur religiöse, sondern auch politische Dissidenz implizierten. Kunst, Medizin, Philosophie und ›New Science‹ hatten sich gerade in ihrem Deutungspotenzial von »Welt« zur Theologie zu verhalten, erst spät zur Philosophie. Entsprechend ist Aufklärung als »Autonomiestreben«19 und als »Streben nach Emanzipation aus den Strukturen überlieferter Autorität«20 beschrieben worden, was nicht nur anthropologisch die Emanzipation der Vernunft, der Sinnlichkeit und des Fühlens einschließt, intellektuell eine Haltung des Fragens, Zweifelns und der Selbstaufklärung setzt,21 sondern auch soziologisch die Gemeinsamkeit von Frühaufklärung und Pietismus in ihrer gemeinsamen Frontstellung gegen das Postulat dogmatisch verfassten Wahrheitsbesitzes benennt, wie es historisch noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein von den kirchlichen Orthodoxien formuliert wurde. Der Streit um den Besitz der Wahrheit prägt nicht nur die Streitschriftenliteratur zu Beginn des 18. Jahrhunderts, er findet einen prominenten Kristallisationspunkt noch in den 1770er Jahren im Fragmentenstreit zwischen Gotthold Ephraim Lessing und Johann Melchior Goeze, zugespitzt im Bild der zwei Hände Gottes, die jeweils den Besitz der Wahrheit und das Streben nach Wahrheit halten. Wenn im Rahmen dieser Arbeit vom »Werden der Aufklärung« gesprochen wird, dann schließt der Gebrauch dieser Wendung an das emanzipatorische Moment an, das gerade Kant »vorzüglich in Religionssachen« verstanden wissen wollte.22 Dies betonen auch gerade jüngere Monografien zur Aufklärung wie Jonathan Israels Democratic Enlightenment (2011), die Aufklärung sogar als

19 Kemper: Deutsche Lyrik 5/1, S. 25 u. 17 ff. 20 Ulrich Gaier: Gegenaufklärung im Namen des Logos: Hamann und Herder. In: Jochen Schmidt (Hg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik. Darmstadt 1989, S. 261–276, hier S. 265. 21 So bereits Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1932, S. XIII. 22 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, S. 418–494). In: Ders.: Ausgewählte kleine Schriften. Hamburg 1969, S. 1–9, hier S. 8 (Hervorh. im Orig.).

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»revolutionary transformation« aller Lebensbereiche definiert.23 Dabei orientiert sich Israels Definition an der historischen Opposition gegen die Neuerungen im Denken: einerseits an der starken theologischen Opposition gegen ›Atheisterey‹ und ›Naturalismus‹ ab dem Jahr 1670 und andererseits an der Rückführung der politischen Umwälzungen Ende des 18. Jahrhunderts auf die schädliche Wirkung von »Philosophie«, die lange vor der Wende zum 18. Jahrhundert virulent wurde. Diese Opposition deutet an, dass das neue Denken die intellektuelle Legitimation für die Monarchie, die Ständegesellschaft, die kirchliche Offenbarungsverwaltung, die Sklaverei und die Hierarchie der Geschlechter seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in zunehmender Schärfe zu hinterfragen vermochte.24 Obwohl der Aufklärungsbegriff ab 1691 lexikalisch verzeichnet ist,25 in den 1770er Jahren als Bildungs- und Wissenschaftsprogramm reflektiert wird (Mendelssohn) und die Organe der Berliner (Spät-)Aufklärung bis fast zur Jahrhundertwende bestan­ den,26 war bereits den Zeitgenossen bewusst, dass das Zeitalter der Aufklärung nicht präzise mit dem 18. Jahrhundert identisch ist, sondern dass im 18. Jahrhundert vielmehr Ideen einer lange verfemten philosophischen und wissenschaftlichen Avantgarde eine kritische Masse erreichten, indem sie zugespitzt, popularisiert und vor allem ins tägliche Leben überführt wurden.27 Differenziert man trotz eines grundlegenden Bewusstseins um die Problematik von Epochengrenzen28 zwischen Aufklärung, Konfessionalismus und Reformationszeit innerhalb einer

23 Jonathan Israel: Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution and Human Rights 1750–1790. Oxford 2011, S. 7. 24 Ebd., S. VIff. u. 863 ff. 25 Schneiders: Das Zeitalter der Aufklärung, S. 115 26 Die Mittwochsgesellschaft existierte von 1783 bis 1798, die Berlinische Monatsschrift von 1783 bis 1796, Ebd., S. 111 f. 27 Meyer: Die Epoche der Aufklärung, S. 13 f. Gegenüber der These der mangelnden philosophischen Innovationskraft der lange als bedächtig bezeichneten deutschen Aufklärung (etwa Kreimendahl: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts als Philosophie der Aufklärung, S. 10 f.) wird jüngst daran erinnert, dass die moderate, von Gelehrtendiskursen getragene Aufklärung teilweise sogar als bewusste Abwehr gegenüber der radikalen Aufklärung gelesen werden kann, die im Zuge der Spinoza-Rezeption bereits früh äußerst religions- und institutionskritische Standpunkte einnahm. Jonathan Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity (1650–1750). Oxford 2001; Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. 28 Ansgar Nünning: Kanonisierung, Periodisierung und Konstruktionscharakter von Literaturgeschichte. In: Eine andere Geschichte der englischen Literatur. Hg. v. dems. Trier 1996, S. 1–24, bes. S. 15; auch Michael Titzmann: Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Hg. v. Karl Richter u. Jörg Schönert. Stuttgart 1983, S. 98–131.



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Makroepoche Frühe Neuzeit,29 dann lassen sich Ansätze zu Themen wie die Autonomisierung des Subjekts, religiöse Toleranz und die Aufwertung der Natur im mystischen Spiritualismus bereits zwischen 1500 und 1700 konstatieren, allerdings in Kontexten, die bar jeder naturrechtlichen, rationalistischen oder ähnlich säkular begründeten Argumentationsfiguren sind. Vielmehr werden diese Themen in Kontexten einer Binnendifferenzierung christlicher Deutungsmuster entwickelt, deren Bezugsrahmen bis zur Jahrhundertwende ins 18. Jahrhundert das sentimentalisch anvisi(oni)erte Urchristentum ist. Dieses fungiert gleichsam als Folie, vor der die Kritik an der in konfessionellen Dauerzwist verstrickten Kirche immer lauter wird. Die Träger dieser Kritik werden im 16. und 17. Jahrhundert dem mystischen Spiritualismus und im späten 17. wie im 18. Jahrhundert dem radikalen, d.h. nicht kirchlichen Pietismus zugerechnet.30 Dabei bezeichnet das Prädikat ›radikal‹ zunächst keine politische Ausrichtung, sondern das Bestreben, das Christentum unter Rückführung auf seine Wurzeln – lat. Radix – zu erneuern.31 Restitutio also und Reform, nicht säkulare Neubegründung der

29 So differenziert Israel nach den Kriterien der innertheologischen Reformbewegung (Reformation, Renaissance) versus umfassender Säkularisierungsforderungen (Aufklärung), Regionalismus versus Universalitätsansprüchen, Kontinuität der kirchlichen und gesellschaftlichen Hierarchien versus Gleichheitsdenken. Israel: Radical Enlightenment, S. VI; zur prinzipiellen Binnendifferenzierung der Frühen Neuzeit auch Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation. Frankfurt a.M./Leipzig 2009, S. 24; Kemper: Deutsche Lyrik. Bd. 1: Epochen- und Gattungsprobleme. Tübingen 1987, S. 25 ff. 30 Die Begriffe des mystischen Spiritualismus und der protestantischen Mystik werden synonym verwendet und beziehen sich auf die mystische Strömung, die die Geschichte der Reformation bis zum Pietismus in der Frühen Neuzeit begleitet hat. Vgl. Martin Schmidt: Art. »Protestan3 tische Mystik«. In: RGG , Bd. 4 (1960), Sp. 1253–1256; Volker Leppin: Art. »Spiritualismus«. In: 4 RGG , Bd. 7 (2004), S. 1584–1586. Die spiritualistischen Charakteristika einer individualistisch geprägten Mystik, einer antihierarchischen Neigung und der Theorie des »Inneren Worts« sind beständig rekurrierende Topoi bei den untersuchten Autoren, sodass der Spiritualismus-Begriff als Oberbegriff bis zu Autoren des radikalen Pietismus gewählt wurde. Kulturwissenschaftlich ist er mit den Konzepten des (radikalen) Dissents der Reformationszeit verbunden. Er entspricht jedoch nicht dem englischen Begriff des »Spiritualism«, der dem deutschen Begriff des Spiritismus entsprechen würde. John Patrick Deveney: Art. »Spiritualism«. In: Dictionary of Gnosis and Western Esotericism. Hg. v. Wouter Hanegraaf et al. Leiden/Boston 2005, Bd. 2, S. 1074–1082. Einschlägig zur Begriffsbestimmung Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. 2. ND Aalen 1965 (Tübingen 1922), S. 862 ff.; R.Emmet McLaughlin: Reformation Spiritualism. Typology, Sources and Significance. In: Radikalität und Dissent im 16.  Jahrhundert. Radicalism and Dissent in the Sixteenth Century. Berlin 2002 (Zeitschrift für historische Forschung 27), S. 123–140. 31 Zu Valenzen, Problematisierungen und einer kritischen Wertschätzung des Begriffs ›radikaler Pietismus‹ sowie seiner historischen Kontextualisierung Wolfgang Breul/Marcus Meier/ Lother Vogel (Hg.): Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Göttingen 2010; darin

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schönen neuen Welt, so lässt sich bis in den radikalen Pietismus hinein noch die Vision und die treibende Dynamik hinter einer zunehmenden Autonomisierung spiritualistischer Autoren gegenüber kirchlichen Institutionen und diskursmächtigen Deutungen des Christentums beschreiben, und diese Dynamik verbindet sie mit dem Hauptthema einer Reform der Kirche nach dem Ideal des Urchristentums bereits um 1500.32 Damit steht sie jedoch in einem primär vormodernen, frühneuzeitlichen Kontext, der von einer Vielzahl an Krisen (Kleine Eiszeit, Hunger, Krieg, Pest, apokalyptisches Endzeitbewusstsein) gekennzeichnet ist, angesichts derer sich die Frage nach dem Seelenheil umso drängender stellt.33 Für diese Umwertungs-, Umdeutungs- und Autonomisierungsprozesse existiert die Beschreibungskategorie der Säkularisierung, die unterschiedlichste Aspekte umfassen kann und die ebenfalls auf den Kontext dieser Fragestellung zugespitzt werden muss. In der Frühe-Neuzeit-Forschung im Allgemeinen und in der Germanistik im Besonderen hat der Säkularisierungsbegriff jeweils eigene Systematisierungen, Präzisierungen und Problematisierungen erfahren.34 In

v. a. die Beiträge von Martin Brecht: Der radikale Pietismus  – die Problematik einer historischen Kategorie (S. 11–18); Johannes Wallmann: Kirchlicher und radikaler Pietismus. Zu einer kirchengeschichtlichen Grundunterscheidung (S. 19–43); Hartmut Lehmann: Die langfristigen Folgen der kirchlichen Ausgrenzung des radikalen Pietismus (S. 45–56); sowie Hans Schneider: Rückblick und Ausblick (S. 451–467). Uneingeschränkt für die Nützlichkeit des Begriffs plädieren dagegen im Kontext englischer Studien Ariel Hessayon/David Finnegan: Introduction. Reappraising Early Modern Radicals and Radicalisms. In: Varieties of Seventeenth- and Early EighteenthCentury English Radicalism in Context. Hg. v. dens. Surrey/Burlington 2011, S. 1–29. 32 Kaufmann: Geschichte der Reformation, S. 14. 33 Hartmut Lehmann: Probleme einer Europäischen Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit. Anmerkungen zur Verortung des Hermetismus zwischen Renaissance und Aufklärung. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hg. v. dems. u. Anne-Charlott Trepp. Göttingen 2001, S. 235–242. Auch die Beiträge im Sammelband Hartmut Lehmann/Anne-Charlott Trepp (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1999. 34  Hartmut Lehmann: Auf der Suche nach der Säkularisierung vor der Aufklärung. In: Säkularisierung vor der Aufklärung? Bildung, Kirche und Religion 1500–1750. Hg. v. Hans-Ulrich Musolff, Juliane Jacobi u. Jean-Luc Le Cam. Köln 2008, S. 27–37. Lehmann nennt sieben Aspekte: 1. Rationalisierung (nach Max Weber), 2. funktionale Differenzierung (nach Niklas Luhmann), 3. Privatisierung, 4. Individualisierung/Autonomisierung, 5. Pluralisierung, 6. Verweltlichung, 7.  Marginalisierung, wobei die Wege verschlungen sind, die Begriffe sowohl miteinander verschränkt sind als auch jeweilige Gegenbewegungen umfassen können. Darüber hinaus wird der Begriff nicht nur je nach Disziplin, sondern auch je nach nationaler Forschungskultur verschieden verwendet. Weiterführend und ausführlich ders: Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion. Göttingen 2004 und ders: Von der Erforschung der Säkularisation zur Erforschung von Prozessen der Dechristianisierung und der Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. In: Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen



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der Literaturwissenschaft hat der Begriff der Säkularisierung eine lange Tradition, wobei dort ebenfalls unter diesem Begriff recht unterschiedliche Sachverhalte subsumiert werden konnten.35 Im Rahmen der vorliegenden Fragestellung bestünden kaum Berührungspunkte zur Säkularisierungsdebatte, wenn der Begriff lediglich in der Bedeutung der »Verweltlichung« bzw. »Entchristianisierung« oder als »Rationalisierung« bzw. »Entzauberung« verstanden würde.36 Der dichotome Interpretationsrahmen von »Entzauberung« und »Wiederverzauberung« bzw. Entchristianisierung und Rechristianisierung von Wissensgebieten wird dem komplexen Zusammenspiel von ideen-, kultur- und sozialgeschichtlichen Aspekten oft nicht gerecht. Auch ist die reine Präsenz eines christlichen Referenzhorizonts zunächst wenig aussagekräftig.37 Dagegen zeigt die Berücksichtigung der Pragmatik philosophischer und literarischer Äußerungsakte, auf die z. B. die historische Forschung zu frühneuzeitlichem Konversionsverhalten zwischen den Konfessionen hingewiesen hat, dass religiöse Aussagen auch

Europa. Hg. v. dems. Göttingen 1997, S. 9–16. Spezifisch für die Germanistik siehe Sandra Pott [Richter]/Jörg Schönert: Einleitung. In: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Hg. v. Lutz Danneberg. 3 Bde. Bd. 1: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Hg. v. ders. Tübingen 2002, S. 1–45. Siehe dort den Überblick über die Forschungsgeschichte (S. 11–29). Pott reflektiert den Säkularisierungsbegriff als prozessorientierte heuristische Kategorie und verwendet ihn sowohl als Prozess- wie auch als Interpretationskategorie. Pott: Einleitung, S. 4 f. u. 11 ff. Zu einem Überblick über die ältere Forschung Wilhelm Schmidt-Biggemann: Geschichte als absoluter Begriff: Der Lauf der neueren deutschen Philosophie. Frankfurt a.M. 1991, S. 105–125. 35 Als frühe (germanistische) Etappen seien exemplarisch genannt Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a.M. 1966; Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. Göttingen 1958; Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. 2 Bde. Tübingen 1981. Programmatisch wird für die zehnbändige Geschichte der frühneuzeitlichen Lyrik, die auf der letztgenannten Studie aufbaut und in Bezug auf die Eruierung hermetischer Einflüsse in der Literatur der Frühen Neuzeit Grundlagenarbeit geleistet hat, das Säkularisierungskonzept als strukturbildendes Paradigma der Darstellungskonzeption gewählt. Gefasst werden unter diesem Begriff alle Tendenzen, die den Alleinvertretungsanspruch der Kirchen auf »Wahrheit« relativieren. Kemper: Deutsche Lyrik 1, S. 16–23, hier S. 22 36 Zur produktiven Fortschreibung von Max Webers »Entzauberungs«-Konzept, das nicht nur eine enorme Forschungsaktivität stimulierte, sondern auch das Weber selbst unbekannte Konzept der »Wiederverzauberung« einführte, nun aus der Perspektive der Säkularisierungsproblematik Hartmut Lehmann: Die Entzauberung der Welt. Studien zu Themen von Max Weber. Göttingen 2009. 37 Etwa Friedrich Vollhardt: ›Verweltlichung‹ der Wissenschaft(en)? Zur fehlenden Negativbilanz in der apologetischen Literatur der Frühen Neuzeit. In: Danneberg (Hg.): Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Berlin 2002, S. 67–93.

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mit dem pragmatischen Blick auf Machtverhältnisse hin untersucht werden müssen.38 Da im frühneuzeitlichen Kräftefeld die institutionell verfassten Konfessionen mit umfassenden Machtansprüchen auf alle Aspekte des privaten wie öffentlichen Lebens auftraten sowie um den Anspruch auf Alleinvertretung ›der‹ christlichen Wahrheit konkurrierten, bietet sich die Säkularisierungskategorie da an, wo eine Emanzipation, eine Kritik, eine innere Emigration, im weitesten Sinne eine Einschränkung der kirchlich-konfessionellen Machtansprüche stattfindet.39 Anknüpfungspunkte bieten sich im vorliegenden Kontext damit zu jenen Aspekten der Säkularisierungsdebatte, die nach Lehmann unter den Stichworten der Individualisierung, Autonomisierung und der Pluralisierung firmieren, und die trotz der augenscheinlichen Arationalität spiritualistischer Texte gerade in ihrer zunehmenden spekulativen Komplexität zu suchen sein werden, mit denen sie zentrale Motive des christlichen Sinnsystems fortschreiben, bis sie die dogmatisch fixierten, durch Kirchenmacht gestützten Glaubensaussagen überschreiten, ohne jedoch den christlichen Referenzrahmen je zu verlassen. Im Gegenteil, differenziert man zwischen den Theologoumenen des christlichen Sinnsystens und den christlichen Institutionen, so zeigen gerade die Texte spiritualistischer Autoren, wie die ersten zunehmend emphatischer gegenüber den letzteren ausgespielt werden können und damit eine Entkirchlichung bei gleichzeitiger ReSpiritualisierung und Umdeutung von christlichen Motiven stattfindet, was als Abgrenzung zu deren Umschließung und dogmatischen Fixierung in Bekenntnisschriften und Katechismen gelesen werden kann. Mit dieser Präzisierung soll erstens eine pauschalisierende Einlinigkeit des Begriffs vermieden werden,40 und zweitens wird die Säkularisierungsproblematik hier in Bezug zum jeweiligen historischen Stand der christlichen Verkündigung gesetzt, wie er in den Bekenntnisschriften und den polemischen wie dogmatischen Texten von den Kirchen fixiert und mit Durchsetzungsansprüchen vertreten wurde.41

38 Kaspar von Greyerz u. a. (Hg.): Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Heidelberg 2003, darin etwa Frauke Volland: Konfession, Konversion und soziales Drama. Ein Plädoyer für die Ablösung des Paradigmas der ›konfessionellen Identität‹ (S. 91–104); Martin Muslow: Mehrfachkonversion, politische Religion und Opportunismus im 17. Jahrhundert (S. 132–150) und Hartmut Lehmann: Grenzen der Erklärungskraft der Konfessionalisierungsthese (S. 242–249). 39 Kemper: Deutsche Lyrik 4/1, S. 24 f. 40 Martin Mulsow: Säkularisierung der Seelenlehre? Biblizismus und Materialismus in Urban Gottfried Buchers ›Brief-Wechsel vom Wesen der Seelen‹ (1713). In: Danneberg (Hg.): Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus, S. 145–173, hier S. 160. 41 Kemper: Deutsche Lyrik 1, S. 21.



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Mit dieser Perspektive gewinnen die zeitgenössischen Beschreibungskategorien der Ortho- und der Heterodoxie bzw. nach heutigem Vokabular die Beobachtung religiöser Devianz einen hohen Stellenwert. In einem programmatischen Beitrag hat Michael Titzmann die historische Leistung frühneuzeitlicher Heterodoxien für das Entstehen der Aufklärung und die Konstituierung der europäischen Moderne theoretisch und quellenreich reflektiert.42 Gerade im Blick auf ein kulturwissenschaftliches Verständnis der germanistischen Literaturwissenschaft ist die Frage nach der besonderen Relevanz frühneuzeitlicher Häresien für die historische Anthropologie sowie generell für die Entstehung von Novitäten eine zentrale,43 außerdem lässt sie sich produktiv mit der zugespitzten Säkularisierungsproblematik verbinden. Diskurstheoretisch betrachtet ist der Häresiebegriff auf das engste mit dem Phänomen Diskursmacht verbunden,44 was sich historisch in der Wandlungsfähigkeit der jeweiligen »häretischen« Inhalte sowie in den regionalen und konfessionellen Unterschieden zeigt, in denen der Begriff zur Anwendung kommt.45 In der Frühen Neuzeit haben die christlichen Theologien den Status des dominanten Diskurses inne, der durch politische Macht gestützt wird und dem damit die Rolle zufällt, alle intellektuellen und kulturellen Strukturen zu legitimieren und zur eigenen ›Wahrheit‹ in Beziehung zu setzen. Dies geschieht, indem alle Aussagen und Positionen, die für sich den Anspruch auf ›Wahrheit‹ beanspruchen, mit den jeweiligen theologischen Glaubenssät-

42 Grundlegend Michael Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit. Relevanz  – Formen – Kontexte. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hartmut Laufhütte und dems. Tübingen 2006, S. 5–118; prägnant ders.: Zur Einleitung. Die historische Leistung frühneuzeitlicher Heterodoxien. In: Ebd., S. 1–4; theoretisch zu den Begriffen des kulturellen Wissens und des Diskurses ders.: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61. 43 Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit, S. 7. Ebenso anschließend wären die kulturwissenschaftlichen Themenkreise zu Kanonisierungsprozessen und zu kollektiven Identitäten. Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin 2006, S. 219 ff. u. 223 ff. 44 Bereits Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. 2001 (Paris 1972), S. 29. 45 Zur Theorie Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit, S. 17–27. Titzmann spricht von Häresie grundsätzlich als perspektivgebundene Fremdklassifizierung und analysiert den Begriff in Bezug auf machtpolitische Dominanz. Nach katholischer Lesart war z. B. der frühneuzeitliche Protestantismus eine Häresie; der Protestantismus selbst hat mit dem Verlassen der Minderheitenposition selbst Orthodoxien ausgebildet und andersdenkende Minderheiten der Häresie bezichtigt. Zur strukturellen Relevanz der »Häresien« gilt: »Und ob katholisch oder protestantisch: Der Beitrag der jeweiligen Region zu den Grundlagen der Moderne ist in der Frühen Neuzeit umso relevanter geworden, je mehr sie durch die Existenz von ›Häresien‹ charakterisiert gewesen ist.« (Ebd., S. 19)

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zen kompatibel und idealiter aus ihnen ableitbar sein müssen. Diese Ansprüche gehen davon aus, dass das »ursprüngliche« und »geoffenbarte« Glaubenswissen in lückenloser Kontituität seit den Aposteln tradiert sein soll – als das bis heute sogenannte Depositum fidei – und sich im »Besitz« der sich jeweils als orthodox verstehenden Glaubensgruppierung befindet. Das aus diesen Glaubenssätzen abgeleitete Normensystem gilt entsprechend als gottgewollt und legitimiert somit automatisch irdische Ordnungsstrukturen und Herrschaftsansprüche. In diesem Kontext erklärt sich z. B. der häufig anzutreffende versierte Biblizismus selbst verketzerter, also vermeintlich »abgefallener« Schriftsteller der Frühen Neuzeit, da sich die Abweichung von geltenden Glaubenssätzen, die ex post als Entstehung von Neuem erscheint, sich zunächst als Versuch der Restituierung des Alten, der Rückkehr zum »wahren« und »ursprünglichen« Christentum versteht. In diesem Denksystem aber steht jede neue Proposition dann unter Häresieverdacht, wenn sie die Grundlagen dieses Glaubenssystems tangiert, da dies für die daraus abgeleiteten irdischen Ordnungsstrukturen Konsequenzen hat. Aus diesem Grund wurden z. B. die Entdeckungen des Kopernikus und des Galilei nicht vornehmlich im Paradigma der wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeit, sondern im Paradigma der weltanschaulichen Häresie diskutiert.46 »Häresie« also wird damit nicht in Bezug auf eine invariabel »geoffenbarte Wahrheit«, sondern historisch wandelbar in Bezug auf institutionalisierte Ausschließungssysteme beschreibbar, nicht fern von dem, was Foucault einmal den »Willen zur Wahrheit« genannt hat.47 Historische Diskurse um Häresie, die sich im semantischen Feld des »Abfalls«, des »wahren« und »falschen Glaubens«, der »Schuld« und der Legitimation von Verfolgung »Ungläubiger« wegen ihrer vermeintlichen »Gefährdung des Seelenheils anderer« manifestieren, zeigen damit letztlich Machtkonflikte an. Solange eine häretische Position deutlich in der machtpolitischen Minderheit ist, wird sie durch Verfolgung zu Anpassung oder Auswanderung gezwungen, erreicht sie aber eine bestimmte kritische Masse, dann muss sich das Ordnungssystem entweder selbst transformieren oder eine Abspaltung hinnehmen, was in beiden Fällen einen in die Moderne verweisenden Differenzierungsprozess von Wissen und von Wahrheit(en) andeutet. Im Zuge von Renaissancehumanismus und Reformation entstehen mit der Wiederentdeckung der Antike und dem zunächst als Rückkehr zu den Wurzeln des Christentums unternommenen Protestantismus Ansätze zu einer Pluralisierung der Positionen, die im Zuge der Gegenreformation und der weiteren konfes-

46 Kemper: Deutsche Lyrik 2, S. 62; klassisch Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Frankfurt a.M. 1980. 47 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 15



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sionellen Aufspaltung des Protestantismus eine bis zum Krieg reichende Konkurrenz der drei Konfessionen um die Deutungshoheit des ranghöchsten kulturellen Diskurses in Gang setzt.48 Gleichzeitig setzt dieser Prozess insbesondere in den protestantischen Gebieten enorme innerkonfessionelle Ausdifferenzierungsprozesse frei. Die Denkbarkeit der Alternative sowie der nie befriedete Konflikt um die Deutungshoheit über die christliche Lehre befördern einerseits sowohl die Herausbildung von starken Orthodoxien, die sich um die Abgrenzung der eigenen Konfession von den anderen sowie um die Festlegung eines fest umrissenen Dogmenbestandes als heilsnotwendiges Glaubenswissen bemühen, und andererseits fördert der forcierte Konfessionalisierungsdruck auf die Gläubigen den Gegendruck in Form von weiteren Abspaltungen, der inneren Emigration sowie der polemischen Kritik, die nicht zuletzt aus Interpretationsdifferenzen zur offiziellen Lesart entstehen. Sind diese nicht par force mit dem zu glaubenden – und mit dem Seelenheil verbundenen – Dogmenwissen in Einklang zu bringen, wird der Gläubige letztlich auf die eigene Erfahrung und den eigenen Verstand zurückverwiesen, und zwar gerade in Fragen wie der nach Erlösung, die im christlichen Sinnsystem der Frühen Neuzeit existenzielles Gewicht hatte.49 Durch die den Protestantismus prägenden Postulate des Priestertums aller Gläubigen sowie des Schriftprinzips, nach dem allein der Inhalt der biblischen Bücher zur Basis und zur Norm des ›rechten‹ Glaubens werden sollte, konnten Interpretationsdifferenzen zu den kanonischen Lesarten durch die Berufung auf Stellen der Schrift Autorität beanspruchen oder aber auch die Autorität einer dogmatisch vertretenen Lesart anfechten.50 Die angesichts des kompilatorischen Charakters der Heiligen Schrift unabschließbaren hermeneutischen Differenzen hatten jedoch zur Folge, dass nicht nur verschiedene Bekenntnisse, sondern auch weitere separatistische Strömungen und Einzelpersonen sich alle auf dieselben Texte berufen und aus diesen mehr oder weniger konkurrierende Dogmen und Heilsaussagen ableiten konnten. Angesichts der frühprotestantischen Hochschätzung der Gewissensfreiheit, auf die sich Luther selbst auf dem Wormser Reichstag 1521 eindrucksvoll berufen und die er in Von der Freiheit eines Christenmenschen 1520 auch bezüglich der Schriftauslegung gegenüber feststehenden Regeln und Maßen verteidigt hatte,51 gewinnt die individualisierte Entscheidung

48 Ausführlich Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit, S. 60 ff. 49 Ebd., S. 13 u. 63. 50 Ein Recht, das in der Frühzeit sogar Frauen für sich in Anspruch nahmen; vgl. Kaufmann: Geschichte der Reformation, S. 439 ff. 51 Luther WA 7, 838, 9, sowie Volker Leppin (Hg.): Reformation. Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen. Neukirchen 2005, S. 65 f.; Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Hg. v. Ernst Kähler. Stuttgart 1962, S. 121.

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des Einzelnen zur Annahme oder zur Auseinandersetzung mit dem Glaubenswissen an Gewicht. Ein in diesem Kontext interessantes Schlaglicht auf die Aspekte der Individualisierung und Pluralisierung wirft das historische Beispiel eines Verhörs von zwölf Einwohnern der Stadt Nürnberg aus dem Jahr 1640, die im Verdacht standen, der neuen »Secte« der Weigelianer anzugehören. Sie wurden in 32 Fragepunkten nach der Rolle der Obrigkeit, deren Recht, Kriege und Prozesse zu führen, ihrer eigenen Stellung zur Augsburgischen Konfession und zum apostolischen Bekenntnis sowie ihrer Haltung zur Schrift und zur Predigt befragt.52 Die einzeln verzeichneten Antworten der Bürger sind höchst unterschiedlich, stimmen aber alle darin überein, dass die Befragten in Glaubensdingen das Recht auf eigenes Prüfen für sich in Anspruch nehmen und keiner christlichen Autorität mehr untertan sein wollten.53 Sie benennen, dass Kindertaufe und Beichte keinen Beleg im neuen Testament haben, differenzieren zwischen dem Status der Heiligen Schrift als historisches Zeugnis und dem Wort Gottes, und kein einziger antwortet in der Frage nach den Mitteln Gottes zur Seligkeit korrekt lutherisch mit dem Satz, der Glaube mache selig. Stattdessen nennen die Befragten die Liebe, Christus oder den Heiligen Geist. Bezüglich der Kirche und ihrer Ämter äußern sie teilweise offene Ablehnung. Ebenso denkt mehr als die Hälfte über die Trinitätslehre abweichend vom Athanasianischen Glaubensbekenntnis, und zwar wieder unter Berufung auf die Bibel. Die Haare seien ihm »zu Berge gestanden«, so der Bürger Gellmann, als er die Lehre des Symbolum Athanasii darüber gelesen habe, doch, so gibt er zu Protokoll, bedürfe er für diese Aussage des Schutzes der weltlichen Obrigkeit; die geistliche würde ihn dafür verfolgen.54 Häresie bzw. religiöse Devianz manifestiert sich in diesen Beispielen zunächst nicht als Abkehr vom Christentum, sondern als vehementer innerchristlicher Protest gegen den alleinigen Wahrheitsanspruch kirchlicher Deutungen. Sie impliziert eine selbstbestimmte Stellungnahme zu kanonisiertem Wissen. So wie sie hier von sogenannten Schwärmern bzw. religiösen Separatisten vorgenommen wird, findet sie ihre historische Verlängerung nur wenige Jahrzehnte später mit Beginn der historisch-kritischen Kritik nicht nur an Dogmen, sondern selbst an der Bibel, wie sie frühaufklärerisch von Texten wie Lodewijk Meyers (1629–1681)

52 Richard van Dülmen: Schwärmer und Separatisten in Nürnberg (1618–1648). Ein Beitrag zum Problem des ›Weigelianismus‹. In: Archiv für Kulturgeschichte 55 (1973), H. 1, S. 107–137; ebenso Siegfried Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte. In: Valentin Weigel. Ausgewählte Werke. Hg. v. dems. Stuttgart/Berlin 1978, S. 17–164, hier S. 67 ff. 53 Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte, S. 68. 54 Ebd., S. 70.



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Philosophia S. Scripturae interpres (1666) oder am prominentesten in Baruch de Spinozas Theologisch-politischem Traktat (1670) vorgenommen wird.55 Bezeichnenderweise treffen sich die Einschätzung der religiösen Separatisten zum Wort Gottes mit Spinozas Urteil, darunter nicht eine bestimmte Anzahl von heiligen Büchern, sondern den göttlichen Geist zu verstehen, dem man sich in Liebe und Gerechtigkeit (nicht in einem bestimmten Glauben) zu ergeben habe.56 Die Differenz zwischen diesen zeitlich und räumlich getrennten Beispielen ist keine prinzipielle mehr, sondern lediglich eine graduelle: Wo die Nürnberger Separatisten, wenn überhaupt, sich neben dem Zeugnis der Schrift auf das unmittelbare, mystisch wirkende innere Gelehrtwerden von Gott beriefen, favorisiert Spinoza das natürliche Licht57 – in beiden Fällen ein individualisierter Zugang zum Absoluten, der mit der Differenzierung von Wort und Schrift und der Möglichkeit zur Kritik an religiös sanktionierten Normen einhergeht. Doch nicht nur von Seiten der religiösen Abweichler, auch von Seiten der nervösen kirchlichen Reaktion lässt sich die Verbindung von Orthodoxie und Diskursmacht am Nürnberger Beispiel in nuce studieren: Die Verhörten selbst präsentierten sich als Vertreter eines konsequenten Spiritualismus außerhalb der drei Konfessionen, lehnten jede Gemeindebildung ab und bekannten sich zu einer individualisierten Religion lediglich auf der Grundlage des Neuen Testaments, ohne Predigt oder Sakramente. Sie forderten Gewissens- und Glaubensfreiheit, praktizierten Toleranz in religiösen Fragen und stellten die Liebe über den Glauben.58 Der humanistisch gesinnte Rat ließ sogar mitten im Dreißigjährigen Krieg über zwei Jahrzehnte gegenüber den unauffällig lebenden Bürgern Toleranz walten. Doch obwohl diese Bürger keinerlei sozialrevolutionäre Tendenzen erkennen ließen, bemühten sich die Prediger mit allen Mitteln darum, die Obrigkeit zur ihrer Ausweisung zu bewegen. Sie beurteilten die spiritualistische Forderung nach Glaubensfreiheit als gefährliche Bedrohung für die Kirche, ebenso erschien ihnen die praktizierte konfessionspolitische Neutralität der Separatisten sowie ihre Friedensbotschaft als Untergrabung der Grundlagen ihres Kirchenverständnisses und damit der Gesellschaft an sich.59 In eindringli-

55 Auch Spinoza schrieb im Kontext clandestiner Freidenker und Separatisten. Ausführlich zu Spinoza und dem Kontext der Entstehung seines Werks in Amsterdam Israel: Radical Enlightenment, S. 169 ff., spezifisch zu Meyer S. 196 ff. 56 Baruch de Spinoza: Theologisch-politischer Traktat. Hg. v. Günter Gawlick. Hamburg 1994 (Sämtliche Werke 3), S. 10. 57 Ebd., S. 8; Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte, S. 68. 58 Dülmen: Schwärmer und Separatisten in Nürnberg, S. 125, 128. 59 Die Gutachten der im Übrigen sehr unterschiedlich, von streng lutherisch bis irenisch gesinnten Prediger sind referiert in Dülmen: Schwärmer und Separatisten in Nürnberg, S. 130 ff.

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chen Worten forderten sie den Entzug des Bürgerrechts selbst betagter, alteingesessener Bürger und warnten vor den Gefahren einer Einführung der Religionsfreiheit, die gleich mit gesellschaftlichem Umsturz assoziiert wurde.60 Religiöse Devianz selbst in Form der strikten Nichteinmischung in konfessionelle Fragen wird auch bei unbedingtem Respekt gegenüber der weltlichen Obrigkeit als Bedrohung empfunden und entsprechend bekämpft, womit ihr transgressives Potenzial förmlich produziert wird. Die Omnipräsenz von Religion im öffentlichen Raum und die politische, konfliktträchtige Konkurrenz um die ›rechte‹ Religion sind neben der Profilierung der eigenen Konfession durch Abgrenzung auf die Disziplinierung der Untertanen und ihrer Verpflichtung auf ein Bekenntnis angewiesen. An den theologischen Fragen nach der Stellung zur Taufe, zum Abendmahl, zur Beichte und zur Predigt wird damit nicht nur das Seelenheil der betreffenden Person, sondern auch die politische Loyalität zur jeweiligen Konfession in ihrer institutionellen Verfasstheit (mit-)verhandelt. In diesem Kontext musste die Berufung auf einen unabhängig von Schrift und Predigt gepflegten Umgang mit Gott, wie sie von Vertretern des protestantischen Spiritualismus formuliert wurde, transgressiv wirken. Dies gilt umso mehr, wenn zu diesem Umgang noch die Auseinandersetzung mit Schriften hinzutrat, die nach dem Stand historiografischen Wissens heidnischen und hermetischen Ursprungs waren und auf einer nichtbiblischen Offenbarung beruhen sollten.

2. Hermetismus, Hermetik und (westliche) Esoterik. Begriff und Forschungsansätze Die Themen der religiösen Devianz und des Säkularisierungsprozesses sind eng mit dem Beitrag hermetischer, paracelsischer, theosophischer und alchemistischer Diskurse zur literarischen und religiösen Kultur der Frühen Neuzeit ver-

Bezeichnend ist darüber hinaus, dass die Spiritualisten, die von der Obrigkeit als »Weigelianer« bezeichnet wurden, sich nie auf Weigel beriefen. »So wurde also jeder, der um 1620–1640 für Pacifismus bzw. Glaubensfreiheit eintrat und sich dabei gegen die Kirche und Schultheologie wandte, des Weigelianismus bezeichnet.« (Ebd., S. 108) 60 »Was auß solcher Licenz für Unheil entstehen würde, wann bald dieser, bald iener ihm seines gefallens eine religion fürschreiben wolte, darf keines großen beweises. Es dürfte fast dem unruhigen Engelland dahinnaus laufen, in dem die darinnen also genannten Independenten schon guten vorschub darzuthun.« Prediger Dilherr in Bezug auf den Einspruch des 62-jährigen Pfaff gegen seine Ausweisung, der 46 Jahre lang Bürger in Nürnberg gewesen war, zit. n. Dülmen, Schwärmer und Separatisten in Nürnberg, S. 135.



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bunden.61 Allerdings implizieren diese Diskurse sowohl eine schillernde Vielgestaltigkeit des Gegenstands als auch eine ebenfalls große Vielfalt an Begriffen, Methoden und Theorien in der Forschung. Da diese Begriffe und Zugänge in verschiedenen Ländern wie unterschiedlichen Disziplinen entwickelt wurden, dann wiederum teilweise kontrovers diskutiert, teilweise in Nachbardisziplinen erst mit großer Verzögerung rezipiert wurden, sei im Folgenden eine (keineswegs vollständige) Skizze der jüngeren Entwicklung gezeichnet, um den anschließenden Problemaufriss und den eigenen Zugang der (exemplarischen) Analysen philologisch nachweisbarer Rezeptionsspuren zu verorten und zu präzisieren. Es existieren große thematische Überschneidungen zwischen den Begriffen und Forschungsfeldern der Hermetik bzw. des Hermetismus und der Esoterik (Western Esotericism), die bis zur synonymen Verwendung der Begriffe reicht. Dabei lässt sich je nach Forschungstradition entweder der Esoterikbegriff als heuristischer, nicht-quellensprachlicher Überbegriff auf die Gesamtheit der hermetischen, paracelsischen, alchemistischen und rosenkreuzerischen Diskurse beziehen, wobei dann problematisiert wird, dass der Begriff selbst in der Frühen Neuzeit noch nicht existierte und dass damit auch keine Nähe zu esoterischen Diskursen des 20. Jahrhunderts impliziert ist.62 Oder aber der Hermetikbegriff

61 Zu einer programmatischen Verknüpfung dieser Themenfelder und einem Überblick über die ältere Forschung Monika Neugebauer-Wölk: Aufklärung – Esoterik – Wissen. Transformationen des Religiösen im Säkularisierungsprozess. Eine Einführung. In: Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Hg. v. ders. unter Mitarb. v. André Rudolph. Tübingen 2008, S. 5–28. In der germanistischen Literaturwissenschaft formulierte die These, dass in der nicht-christlichen Religiosität der Frühen Neuzeit die wesentlichen Anliegen der Aufklärung vorgebildet sind Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. 2 Bde. Tübingen 1981. 62 So die Verhältnisbestimmung der Begriffe bei Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik im 18.  Jahrhundert  – Aufklärung und Esoterik. Eine Einleitung. In: Aufklärung und Esoterik. Hg. v. ders. unter Mitarb. v. Holger Zaunstöck. Hamburg 1999, S. 1–37, hier S. 7 ff.; vgl. weiterführend dies.: Aufklärung – Esoterik – Wissen, S. 24; der Begriff ›Esoterik‹ als Substantiv ist erst im frühen 19. Jahrhundert etabliert: Antoine Faivre: Esoterik im Überblick. Geheime Geschichte des abendländischen Denkens. Freiburg 2001 (Paris 1992), S. 12; weiterhin Bettina Gruber: Mystik, Esoterik und Okkultismus. Überlegungen zu einer Begriffsdiskussion. In: Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900/Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900. Hg. v. Moritz Baßler u. Hildegard Châtellier. Strasbourg 1998, S. 27–39; breiter angelegt Christoph Bochinger: Was ist Esoterik? In: Informationes Theologiae Europae. Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie 7 (1998), S. 271–281; Walter Sparn: Esoterik? Ein theologischer Orientierungsversuch. In: Ebd., S. 331–341; mit einem Überblick über die Forschungsgeschichte zu Western Esotericism Wouter Hanegraaff: The Study of Western Esotericism. New Approaches to Christian and Secular Culture. In: New Approaches to the Study of Religion. Bd. 1: Regional, Critical and Historical Approaches. Hg. v. Peter Antes, Armin

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wird als sogar quellensprachlicher Oberbegriff gewählt,63 wobei dann aber die methodische Unschärfe reflektiert werden muss, dass das namensgebende Corpus Hermeticum lediglich einen sehr geringen Anteil an den unter seinen Namen subsumierten Diskursen der Frühen Neuzeit innehat. Zu diesen können einerseits erhebliche thematische Differenzen bestehen wie z. B. zum Paracelsismus, da Paracelsus (d.i. Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim; vermutl. 1493–1541) selbst kaum Kenntnisse oder intertextuelle Referenzen zur Renaissancephilosophie zu erkennen gab und erst postum im paracelsischen Diskurs zum deutschen Trismegistos gemacht wurde.64 Andererseits ist angesichts eines noch wenig erforschten Amalgams aus verschiedenen Diskursen paracelsischer, hermetischer, pythagoräischer, kabbalistischer, alchemistischer und theosophischer Provenienz eine topologische Abgrenzung wiederum oft

W. Geertz u. Randi Warne. Berlin/New York 2004 (Religion and Reason 42), S. 489–519. Begriff und Forschungsfeld des Western Esotericism entspringen dabei dem Wunsch nach Professionalisierung gegenüber einer breiten, auch populärwissenschaftlichen, selbst esoterikaffinen und modernitätskritischen Gegenkultur und ihrem Stichwort einer »grand narrative of Hermeticism«; Wouter Hanegraaff: Beyond the Yates Paradigm. The Study of Western Esotericism between Counterculture and new Complexity. In: Aries. Journal for the Study of Western Esotericism 1 (2001), H. 1, S. 5–37. 63 Wilhelm Kühlmann: Der Hermetismus als literarische Formation. Grundzüge seiner Rezeption in Deutschland. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 145–157; Anne-Charlott Trepp: Hermetismus oder zur Pluralisierung der Religions- und Wissensformen in der Frühen Neuzeit. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hg. v. ders. u. Hartmut Lehmann. Göttingen 2001, S. 7–15, hier S. 10; Kemper: Deutsche Lyrik 4/1, S. 56; Peter-André Alt: Fragmentierung und Reorganisation arkanen Wissens. Zur Verarbeitung hermetischer Topoi in der barocken Bukolik. In: Scientia Poetica 12 (2008), S. 1–43, hier S. 3; ebenso die Beiträge der Bände Peter-André Alt/Volkhard Wels (Hg.): Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit. Göttingen 2009 sowie Peter-André Alt: Imaginäres Geheimwissen. Untersuchungen zum Hermetismus in literarischen Texten der Frühen Neuzeit. Göttingen 2012. 64 Carlos Gilly: Vom ägyptischen Hermes zum Trismegistos Germanos. In: Alt/Wels (Hg.): Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit, S. 71–131; Wilhelm Kühlmann: Einleitung. In: Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Bd.  1: Der Frühparacelsismus. Erster Teil. Hg. v. dems. u. Joachim Telle. Tübingen 2001, S. 1–39, hier S. 19. Zur Hermetisierung des Paracelsismus Wilhelm Kühlmann: Einleitung. In: Ebd., Bd. 2: Der Frühparacelsismus. Zweiter Teil. Tübingen 2004, S. 1–39, hier S. 27 f.; ders.: Paracelsismus und Hermetismus. Doxographische und soziale Positionen alternativer Wissenschaft im postreformatorischen Deutschland. In: Trepp/Lehmann (Hg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis, S. 17–39; Carlos Gilly: Theophrastia Sancta. Der Paracelsismus als Religion im Streit mit den offiziellen Kirchen. In: Analecta Paracelsica: Studien zum Nachleben Theophrast von Hohenheims im deutschen Kulturgebiet der frühen Neuzeit. Hg. v. Joachim Telle. Stuttgart 1994 (Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit 4), S. 425–448.



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schwierig,65 insbesondere da offene hermetische Referenzen angesichts drohender Häresievorwürfe bei frühneuzeitlichen Autoren nicht selbstverständlich sind und die Hermetisierung von Texten, Autoren und Diskursen auch über kulturelle Zuschreibungen und Verschmelzung von Theoriegebäuden verläuft, die erst nachträglich unter die Patronage des Hermes Trismegistos gestellt werden.66 Nicht zuletzt ist das Corpus Hermeticum als kompilatorisches Werk sogar in sich selbst konstitutiv inkonsistent bezüglich zentraler Fragen für die europäische Rezeptionsgeschichte wie der nach dem moralischen Stellenwert des materiellen Körpers oder der sichtbaren Welt, zu denen die Texte schlicht gegensätzliche Aussagen treffen.67 Wenn im Folgenden also von Hermetik gesprochen wird, dann bezieht sich diese Begriffsverwendung zunächst pragmatisch auf die disziplinspezifische Begriffstradition innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft68 und zweitens schließt sie an die historisch lokale Begriffsverwendung um 1700 an, wie sie der große Kritiker und Systematiker des frühneuzeitlichen Hermetismus Daniel Ehregott Colberg (1659–1698) in Bezug auf die devianten Strömungen der Frühen Neuzeit verwendet. Sein Hermetisch-platonisches Christenthum (1690/91) dokumentiert am historischen Ende der deutschsprachigen spiritualistischen

65 Kühlmann: Der Hermetismus als literarische Formation, S. 145; Kemper spricht von »Proteus« (Deutsche Lyrik 4/1, S. 56). Dagegen hat Faivre einen Vorschlag zu Definition und Abgrenzung der verschiedenen esoterischen Konzepte (Hermetik, Kabbala, Paracelsismus, Theosophie) und Strömungen (Alchemie, Magie, Astrologie, Okkultismus, Philosophia perennis) unterbreitet, der in der deutschsprachigen Germanistik jedoch kaum rezipiert wurde (Antoine Faivre: Questions of Terminology proper of the Study of Esoteric Currents in Modern and Contemporary Europe. In: Western Esotericism and the Science of Religion. Hg. v. dems. u. Wouter Hanegraaff. Leuwen 1998, S. 1–10). 66 So z. B. das Konzept der Renaissancemagie, das Marsilio Ficino (1433–1499) vor allem aus einer Reinterpretation neuplatonischer Philosophie entwickelte, nicht aus dem Corpus Hermeticum. Brian Copenhaver: Art. »Astrology and Magic«. In: The Cambridge History of Renaissance Philosophy. Hg. v. Charles B. Schmitt et al. Cambridge 1988, S. 264–300, hier S. 280 ff. Gleiches gilt von der ebenso bereits in der Frühen Neuzeit »alten« Wissenschaft der Alchemie: vgl. Joachim Telle: Art. »Alchemie II«. In: TRE. Bd. 2. Berlin/New York 1978, S. 199–227, hier S. 199. 67 Diese Inkonsistenz, so Brian Copenhaver, wird gerne übersehen, und noch keine Theorie hat sie auflösen können; ders.: Magie und die Würde des Menschen. Picos ›Oratio‹ vor und nach Kant. In: Scientiae et Artes. Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik. Hg. v. Barbara Mahlmann-Bauer. 2  Bde. Wiesbaden 2004 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 38), Bd. 1., S. 65–97, hier S. 94; ders.: Introduction. In: Hermetica. The Greek Corpus Hermeticum and the Latin Asclepius in a new English Translation with Notes and Introduction. Hg. v. dems. Cambridge 1992, S. 13–83, hier S. 60. 68 Neuerdings wieder im Rückgriff auf die innergermanistischen Anfänge bei Zimmermann und Kemper Peter-André Alt/Volkhard Wels: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit, S. 7–22, hier S. 9 f.; sowie Alt: Imaginäres Geheimwissen, S. 14.

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Tradition das breite Identifikationspotenzial des Begriffs innerhalb der frühneuzeitlichen Quellensprache selbst, referiert eine Fülle an Texten, die zu diesem historischen Zeitpunkt aus der Perspektive der theologischen Abwehrfront gegen religiöse und naturphilosophische Devianz zum Diskurs gezählt wurden und belegt, dass Hermes Trismegistos auch als Patron für die Richtungen firmieren konnte, die ihn nie namentlich oder referentiell anführen wie z. B. die Theosophie Jakob Böhmes. Neben den verschiedenen Begriffen existiert gleichermaßen eine noch größere Vielfalt an methodischen Zugängen und an Vorverständnissen des Gegenstands. Unumstritten ist, dass man innerhalb des Hermetismus von zwei zu unterscheidenden, jedoch nie ganz getrennten Unterströmungen ausgehen muss, der neuplatonisch gefärbten philosophisch-theologischen Hermetik, die im Humanismus der Renaissance über die Kirchenväter, die Wiederentdeckung der (neu-)platonischen Philosophen sowie der Übersetzung des Corpus Hermeticum durch Marsilio Ficino (1463, erschienen 1471) entsteht und auf der anderen Seite der praktisch-alchemistischen Tradition. Die Alchemie, die im frühneuzeitlichen Sprachgebrauch ebenfalls als Ars Hermetica gilt, ist nicht vom Renaissancehermetismus abhängig, sondern leitet sich aus eigenen praxisbetonten Überlieferungssträngen her, die als »praktische« oder »populäre« Hermetica gelten und Texte wie die Turba Philosophorum oder den von Agrippa rezipierten Traktat Picatrix beinhalten, eines ursprünglich arabischen Kompendiums praktischer Zauberliteratur.69 Bezieht sich die erste Unterströmung auf das Corpus Hermeticum als zentralen Referenztext, fokussiert die zweite eher auf die ebenfalls Hermes zugeschriebene Tabula Smaragdina und verbindet sich mit dem Namen der hermetischen Tradition vor allem über die Rolle des Hermes Trismegistos in den Legitimationslegenden.70 Trotz des Wissens um die Überlieferung

69 Hellmut Ritter: Einführung. In: Picatrix. Das Ziel des Weisen von Pseudo-Mağrỉţỉ. Transl. into German from the Arabic by Hellmut Ritter and Martin Plessner. London 1962, S. 20; Esteban Law: Die hermetische Tradition. Wissensgenealogien in der alchemischen Literatur. In: Alt/Wels (Hg.): Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit, S. 23–70. 70 Differenziert zur Geschichte dieser zwei Traditionsstänge Florian Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus. Mit einem Vorwort v. Jan Assmann. München 2005, bes. S. 89 ff. u. 101 ff. Die Differenzierung zwischen philosophischen und praktischen Hermetica wird schon lange in der englischsprachigen Welt betont, wo sich in der Folge von Frances Yates’ grundlegender Studie zu Giordano Bruno und der hermetischen Tradition ein auch akademischer Philo-Hermetismus entwickelt hatte, der verschiedenste Theoriefelder unter dem Stichwort der ›hermetischen Magie‹ synkretistisch verschmolz und diese mit dem Weltbild der Renaissance gleichsetzte; Frances A. Yates: Giordano Bruno and the Hermetic Tradition. London 1964; zur Differenzierung noch S. 44 ff.; kritisch dann die Aufsätze in: Ingrid Merkel/Allen G. Debus (Hg.). Hermeticism and the Renaissance. Washington 1988; darin etwa Brian Copenhaver:



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von Spuren hermetischen Wissens bei den Kirchenvätern, in der arabischen Welt und bei einzelnen Autoren des Mittelalters gilt nach Augustins diskursmächtigem Verdikt der hermetischen Texte in De civitate Dei die Renaissance als eigentlicher Beginn ihrer Wiederentdeckung bzw. als signifikante Verdichtung ihrer Wirkungsgeschichte.71 Die deutschsprachige Forschung widmete sich im vergangenen Jahrhundert zunächst grundlegender Erschließungsarbeiten des Gegenstands, wobei im germanistischen Kontext ein besonderes Augenmerk auf der literaturgeschichtlichen Fragestellung der literarischen Wirkungsgeschichte des Hermetismus lag.72

Hermes Trismegistos, Proclus, and a Philosophy of Magic (S. 79–110); ebenso Paul Richard Blum: Theoriesynkretismus. Bemerkungen zum Hermetismus bei Giordano Bruno. In: Wolfenbütteler Renaissance Mitteilungen 21 (1997), S. 101–110. Einen jüngeren Überblick über die englischsprachigen Debatten und Forschungstradition gibt Staphan Laqué: Hermetik und Dekonstruktion. Die Erfahrung von Transzendenz in Shakespeares Hamlet. Heidelberg 2005, S. 11–23. Die Unterscheidung in gelehrte/philosophische und populäre/praktische Hermetica geht ursprünglich auf die Herausgeber der griechisch-französischen Ausgabe Walter Scott und André Jean Festuguière zurück. Copenhaver: Introduction, S. 32. – Weitere Differenzierungsmöglichkeiten zwischen den Traditionssträngen nach Nuancen in der Gründerfigur als Hermes Trismegistos und Hermes Mercurius unternimmt Antoine Faivre: Renaissance Hermeticism and the Concept of Western Esotericism. In: Gnosis and Hermeticism from Antiquity to Modern Times. Hg. v. Roelof van den Broek u. Wouter Hanegraaff. New York 1998, S. 109–124. 71 Zum Überblick über die Rezeptionsspuren bei einzelnen Autoren durch die Jahrhunderte Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 62 ff., übersichtlich S. 189 ff; ebenso mit Auswahlbibliografien zu den Hermes zitierenden Texten in den jeweiligen Epochen Antoine Faivre: The eternal Hermes. From Greek God to Alchemical Magus. Transl. by Joscelyn Godwin. Grand Rapids 1995, S. 181 ff. 72 Frühe Stationen der (deutschsprachigen) Forschungsgeschichte umfassen die frühen Bände Will-Erich Peuckerts: Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und schwarzen Magie. 2 Berlin 1956; ders.: Cabalia. Ein Versuch zur Geschichte der Magia Naturalis im 16. bis 18. Jahrhundert. Berlin 1967. – Wichtige Wegmarken bildeten die germanistischen Beiträge von RolfChristian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18.  Jahrhunderts. 2  Bde. München 1969 und Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung; darauf aufbauend die zehnbändige Lyrikgeschichte Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. 10 Bde. Tübingen 1987–2006; weiter Peter Cersowsky: Magie und Dichtung. Zur deutschen und englischen Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1990; Randolf Quade: Literatur als hermetischen Tradition. Eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung frühneuzeitlicher Texte zur Erschließung des Welt- und Menschenbildes in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 2001; Burkhard Dohm: Poetische Alchimie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barock-Mystik bis zum Pietismus. Tübingen 2000; weiterhin die Sammelbände Antoine Faivre/Rolf-Christian Zimmermann (Hg.): Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt. Berlin 1979; Nicola Kaminski (Hg.): Hermetik. Literarische Konfigurationen zwischen Babylon und Cyberspace. Tübingen 2002; Hans-Jürgen Schrader/Katharine Weder (Hg.): Von der Pansophie

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Nicht immer firmierten die Beiträge dabei unter der Überschrift des Hermetismus, sondern erschienen ebenfalls zum Thema der Ägyptenrezeption73 oder des Paracelsismus.74 Auch in der Philosophie, der Geschichtswissenschaft, der Wissenschaftsgeschichte und – vereinzelt – der Theologie erschienen Studien, die den Hermetismus als »Schnittstelle frühneuzeitlicher Sinngebungen und frühneuzeitlichen Wissensbildungen« im Zuge der »Pluralisierung von Religiositäts- und Wissensformen« untersuchten.75 Thematische Nähe bei unterschiedlicher Termi-

zur Weltweisheit. Goethes analogisch-philosophische Konzepte. Tübingen 2004; Peter-André Alt: Imaginäres Geheimwissen. Untersuchungen zum Hermetismus in literarischen Texten der Frühen Neuzeit. Göttingen 2012; die Beiträge des Sammelbandes Peter-André Alt/Volkhard Wels (Hg.): Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit. Göttingen 2010. 73 Hier etwa die Beiträge Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München/Wien 1998; ders.: ›Hen kai pan‹. Ralph Cudworth und die Rehabilitation der hermetischen Tradition. In: Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik, S. 38–52; Linda Simonis: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2002. 74 Hier vor allem die Arbeiten von Joachim Telle und Wilhelm Kühlmann wie das Editionsprojekt: Der Frühparacelsismus, 4 Bde. Tübingen 2001 ff.; Joachim Telle (Hg.): Analecta Paracelsica. Studien zum Nachleben Theophrasts von Hohenheims im deutschen Kulturgebiet der frühen Neuzeit. Stuttgart 1994; ders. (Hg.): Parerga Paracelsia. Paracelsus in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart 1993 (Heidelberger Studien zur frühen Neuzeit 3); daneben die Beiräge von Carlos Gilly: Das Bekenntnis zur Gnosis von Paracelsus bis auf die Schüler Jacob Böhmes. In: From Poimandres to Jacob Böhme. Gnosis, Hermeticism and the Christian Tradition. Hg. v. Roelof van den Broeck u. Cis van Heertum. Amsterdam 2000, S. 385–425; ders.: Theophrastia Sancta. Der Paracelsismus als Religion im Streit mit den offiziellen Kirchen. In: Telle (Hg.): Analecta Paraceslisca, S. 425–488; Maximilian Bergengruen: Nachfolge Christi – Nachahmung der Natur. Himmlische und natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen). Hamburg 2007. 75 Trepp: Hermetismus oder zur Pluralisierung von Religiositäts- und Wissensformen in der Frühen Neuzeit. In: Trepp/Lehmann (Hg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis, S. 7–15, hier S. 14. – Weiterhin die Sammelbände von Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Hamburg 1999; dies. (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Tübingen 2008, die Einleitungen enthalten jeweils fundierte Forschungsüberblicke; dies.: Zur Konstituierung historischer Religionsforschung 1974–2004. In: zeitenblicke. Onlinejournal für die Geschichtswissenschaft 5 (2006), Nr. 1; online unter: www.zeitenblicke.de; Martin Mulsow (Hg.): Das Ende des Hermetismus. Historische Kritik und neue Naturphilosophie in der Spätrenaissance. Dokumente und Analysen der Debatte um die Datierung der hermetischen Schriften von Genebrard bis Casaubon (1567–1614). Tübingen 2002; Stephan Meier-Oeser et al.: Art. »Hermetisch-platonische Naturphilosophie«. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Abt. 5: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Hg. v. Helmut Holzhey u. Wilhelm Schmidt-Biggemann unter Mitarb. v. Vilem Murdoch. Basel 2001, S. 7–60; Christoph Meinel (Hg.): Die Alchimie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 1986; August Buck (Hg.): Die okkulten Wissenschaften in der Renaissance.



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nologie ergab sich dabei sowohl zu Studien zum sogenannten idealistischen Pantheismus76 wie zur Frage nach Umrissen abendländischer Spiritualität in Form einer »prisca theologia« oder »Philosophia perennis«.77 Diese unterschiedlichen disziplinarischen Zugriffe und verschiedenen Vorverständnisse warfen die Frage nach einer klaren Bestimmung des Gegenstands, der Quellenbasis und – idealerweise – eines methodischen Zugriffs auf dieses synkretistisch und eklektisch entstandene Amalgam heterogener Strömungen auf und brachten in den folgenden Forschungsdebatten eine Vielstimmigkeit disparater Antworten hervor. Prominent wirkte der Vorschlag des französischen Germanisten Antoine Faivre, der den Gegenstand Esoterik als Denkform bezeichnete und diese nach sechs Kriterien umschrieb.78 Aufgegriffen und in engeren Bezug zum Christentum gesetzt wurde dieser Ansatz vor allem von Monika Neugebauer-Wölk, die ihrerseits fünf Kriterien zur Gegenstandsbestimmung vorschlug, Esoterik als einen vom Christentum unabhängigen religiösen Entwurf interpretierte und Esoterik und Christentum als zwei religiöse und konkurrierende Sinnsysteme gegeneinander

Wiesbaden 1992. Von den autorspezifischen Studien ist als theologischer Beitrag besonders zu nennen Hermann Geyer: Verborgene Weisheit. Johann Arndts ›Vier Bücher vom wahren Christentum‹ als Programm einer spiritualistisch-hermetischen Theologie. 2 Bde. Berlin 2001; ergänzt aus der Philosophie von Hanns-Peter Neumann: Natura sagax. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Mystik in der frühen Neuzeit am Beispiel Johann Arndts. Tübingen 2004. 76 Siegfried Wollgast: Philosophische Strömungen in Deutschland im 17.  Jahrhundert: Einige Grundlinien. In: Vergessene und Verkannte. Zur Philosophie und Geistesentwicklung in Deutschland zwischen Reformation und Frühaufklärung. Hg. v. Siegfried Wollgast. Berlin 1993, S. 10–67; ders.: Grundlinien oppositionellen weltanschaulich-philosophischen Denkens in Deutschland zwischen 1550 und 1720. In: Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Hg. v. Günter Vogler. Weimar 1994, S. 337–367 77 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a.M. 1998. 78 Es handelt sich dabei um die Kriterien des Denkens in Entsprechungen, die Idee der lebenden Natur, Imagination und Mediation, die Erfahrung der Transmutation sowie die Konkordanzbildung und die Transmission des Wissens durch Meister; vgl. Faivre: Esoterik im Überblick, S. 24 ff. Einige jüngst wieder aufgeworfene Fragen zu Begrifflichkeit und Methode sind auch bereits reflektiert in ders.: Access to Western Esotericism. Albany 1994, S. 3–48. Sein Vorschlag zur Definition des »Key concepts« Hermetismus lautet: »In English, the word ›Hermeticism‹ (adjective ›hermetic‹) designates a) the Alexandrian Greek texts and teachings (called Hermetica) from the beginning of our era, associated with the name of Hermes Trismegistus, as well as works and th currents directly inspired by the Hermetica, chiefly from the 16 century onwards; b) Alchemy; c) Both a) and b) simultaneously and in a general manner most of the forms taken by modern esotericism (e.g. Christian Kabbalism, Paracelsianism, Rosicrucianism, Theosophy). Nevertheless, to designate a), the word ›hermetism‹ is much more appropriate.« (Ebd., S. 35)

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abgrenzte.79 Mit der Profilierung der (westlichen) Esoterik, immer verstanden als Sammelbegriff der einzelnen esoterischen Richtungen, sollte sich die Religions­ forschung über die fachspezifischen Fragestellungen der Kirchen- und Theologiegeschichte hinaus erweitern lassen.80 Mehr noch: Sie sollte einen Perspektivenwechsel in Bezug auf die devianten, nicht-kanonischen Formen von Religion ermöglichen, die z. B. in der Forschungsliteratur bis weit ins 20. Jahrhundert hinein unbeirrt als »Schwärmerei« bezeichnet werden konnten. Diese entintellektualisierende, aus der historischen Siegerperspektive übernommene Rede ließ sich nun ebenso wie die Reduktion der Aufklärung als bloße Vernunftbewegung einer kritischen Reflexion unterziehen, gleichzeitig ließ sich die historische Bewegung des Pietismus, der bis dahin vor allem kirchengeschichtlich als reine Frömmigkeitsbewegung interpretiert worden war, auf seine theologisch-philosophische Eigenständigkeit hin befragen. Beide Ansätze eint nicht nur das Bemühen um die Etablierung marginalisierten Wissens als eigenständiger Forschungsgegenstand, sondern auch ein vergleichbarer methodischer Zugang. Dieser wurde als Modell einer ideengeschichtlichen, typologischen oder sogar idealtypischen Gegenstandsbestimmung problematisiert. Dabei, so wurde kritisiert, liegen die Grenzen der typologischen Gegenstandsbestimmung in der Gefahr eines Zirkelschlusses, also der typologischen Suche nach dem, was vorher als ›esoterisch‹ aus einem bestimmten Quellenkorpus abgleitet worden war. Damit jedoch kommt die Analyse der historischen Wandelbarkeit dessen, was in verschiedenen Epochen sowie in unterschiedlichen kulturellen Milieus als esoterisch gelten konnte, an ihre Grenzen, und es ergibt sich die Gefahr einer Enthistorisierung des Phänomens bis hin zu einer geschichtsüberhobenen invarianten Denkform.81

79 Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik und Christentum vor 1800. Prolegomena zu einer Bestimmung ihrer Differenz. Aries. 3 (2003), H. 2, S. 127–165. Die Kriterien lauten in diesem Fall die Überschreitung heiliger Schriften, das höhere Wissen, die Realisierung und weltliche Macht, Differenzen in Erlösung und Christusbild (Autosoteriologie, Entpersönlichung Christi) und Unsichtbare Kirche und geheime Geheimschaft (ebd., S. 137 ff.); zur Bestimmung von Religion als Sinnsystem auch Burkhard Gladigow: Europäische Religionsgeschichte. In: Lokale Religionsgeschichte. Hg. v. Hans G. Kippenberg, Hans G. u. Brigitte Luchesi. Marburg 1995, S. 21–42. 80 Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik in der Frühen Neuzeit. Zum Paradigma der Religionsgeschichte zwischen Mittelalter und Moderne. In: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), S. 321–364; ebenso das Themenheft von ders.: Religionsgeschichte der Neuzeit. Profile und Perspektiven. In: Zeitenblicke. Onlinejournal für Geschichtswissenschaften 5.1., online unter: www. zeitenblicke.de; darin zur Standortbestimmung dies.: Zur Konstituierung historischer Religionsforschung 1974–2004. 81 So ist z. B. das Denken in Entsprechungen in der Frühen Neuzeit nicht auf spezifisch esoterisches Denken beschränkt. Zur Kritik Hanegraaff: The Study of Western Esotericism, S. 508 ff.



Hermetismus, Hermetik und (westliche) Esoterik 

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Diese Kritik mündete in den diskurstheoretisch konturierten Vorschlag des Religionswissenschaftlers Kocku von Stuckrad, die Differenzen um die Frage nach dem Verhältnis von Esoterik und Christentum dadurch zu lösen, indem man sie im Namen weltweit zu eruierender »esoterischer Diskursfelder« relativiert,82 das Neben- und Ineinander hermetischer und christlicher Interessen unter dem Schlagwort »plurale Identitäten« erfasst und den ganzen Komplex der Häresievorwürfe, der Clandestinität und der Verfolgungen den »Institutionen der Diskurskontrolle« zuschreibt.83 Stuckrad deutet Topoi, die in früheren Ansätzen als Bestimmungselemente vorgeschlagen wurden, zum Material des Diskurses um, das sich in einem diskursiven Feld immer wieder neu auskristallisiert.84 Als Bestimmungskriterien fungieren nun Erkenntnisansprüche als Modi des Wissens, die sich als Diskurs absoluter Erkenntnis zeigen und sich in der Dialektik aus Verborgenem und Offenbartem, genauer: in der Rhetorik einer verborgenen Wahrheit manifestieren.85 Damit kommen die Kriterien der Alterität und Devianz ins Spiel, die für die Konstruktion des Anderen und die Auskristallisierungen innerhalb des diskursiven Feldes verantwortlich sind. Letztlich wird damit der Gegenstand »Esoterik« eine heuristische Kategorie; indem nämlich das Esoterische nun als Diskurselement der europäischen Religionsgeschichte verstanden wird, hört es auf, Gegenstand der Religionsgeschichte zu sein und wird zu einem wissenschaftlichen Interpretationsmodell zur Analyse historischer Sachverhalte.86 Doch gerade das geäußerte Desiderat einer konsequenten Historisierung des Gegenstands lässt in Bezug auf die literaturwissenschaftliche Forschung zur frühen Neuzeit fragen, inwieweit Stuckrads Ausgangsthese eines überwiegend

Entsprechend laut erscholl der Ruf nach Empirie und einer Ausrichtung am Kriterium der Reinterpretation; Wouter Hanegraaff: Empirical Method in the study of esotericism. In: Method and Theory in the Study of Religion. 7–2 (1995), S. 99–129. 82 Kocku von Stuckrad: Was ist Esoterik? Kleine Geschichte des geheimen Wissens. München 2004, S. 240. Argumentativer Ausgangspunkt ist die diskursanalytische Beobachtung, dass das Andere jeweils als das Andere konstruiert wird und dass sich die Fragestellung damit von der Frage nach »Wahrheiten« hin zu »conditions of their establishment« verschiebt; ders.: Discursive Study of Religion. From States of the Mind to Communication and Action. In: Methods and Theory in the Study of Religion 15 (2003), S. 255–271, hier S. 258. 83 Stuckrad; Was ist Esoterik? S. 22 u. 241. 84 Ebd., S. 243. 85 Ebd., S. 21. 86 Ebd., S. 20, ebenso ders.: Die Esoterik in der gegenwärtigen Forschung: Überblick und Positionsbestimmung. In: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 1, hier Absatz 14.

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unproblematischen Nebeneinanders verschiedener religiöser Diskurse87 mit dem von den frühneuzeitlichen Aktanten selbst betonten höchst lebendigen Bewusstsein, im Spannungsfeld kirchlich-konfessioneller Alleinvertretungsansprüche auf ›die‹ Wahrheit zu schreiben, vereinbar ist? Es lassen sich eine Fülle an Beispielen finden, wie die konfessionellen Alleinvertretungsansprüche auf Wahrheit für die zu untersuchenden Texte gerade zu den zentralen »conditions of their establishment«88 in der gesamten frühen Neuzeit zählen. Erklärungsbedürftig würde dann auch die enorme psychische Energie, die in allen Konfessionen kirchlicherseits auf das Ringen um Dogmen und Bekenntnisschriften sowie auf die Polemik und Abgrenzung gegen Häretiker verwendet worden ist, die sich de facto als eine mit institutioneller Macht überwachte Grenzziehung zwischen Weltbildern verstand.89 Weiter kann man fragen, inwieweit die Annahme eines historisch wie geografisch omnipräsenten »esoterischen Diskurselements«, das konfessionelle und religiöse Grenzziehungen souverän überspringt, nicht selbst dazu tendiert, eine generalisierende Grenzziehung zwischen dem esoterischen Element und allen anderen (exoterischen) Religionen zu ziehen, sodass, salopp formuliert, in der Nacht des Diskurses alle philosophischen Nuancen grau werden.90 Nicht zuletzt erinnert die Bestimmung des esoterischen Diskurselements mittels des Merkmals einer Rhetorik der verborgenen Wahrheit gerade wieder an eine, jetzt nur inhaltlich anders gefüllte, Typologie, die der Ansatz methodisch eigentlich zu überwinden gedachte. Im Hinblick auf die spezifische Situation der frühen Neuzeit schließlich verflüchtigt sich bei der Zuspitzung der Analysekriterien auf wenige Komponenten wie die Rhetorik der verborgenen Wahrheit schließlich das Analyseinstrument, das nicht nur im clandestinen Milieu das epidemisch anzutreffende Phänomen des uneigentlichen Sprechens bzw. die Verstellung ins Christliche greifen kann. Die zeitweise betont christliche Rede, die erst von ihren Kritikern als ›hermetisch‹ oder ›esoterisch‹ kritisiert wird, wäre nämlich durchaus auch im Spannungsfeld des Esoterischen zu untersuchen, allerdings entweder im Kontext eines nicht dogmatischen Verständnisses des Christentums oder

87 Stuckrad: Was ist Esoterik? S. 18: »[S]o war es für christliche Identitäten der Frühen Neuzeit keineswegs problematisch, pantheistische Gedanken aufzugreifen oder esoterische Disziplinen wie die Astrologie und Alchemie zu betreiben.« 88 Vgl. Hans G. Kippenberg/Kocku von Stuckrad: Einführung in die Religionswissenschaft: Gegenstände und Begriffe. München 2003, S. 13. 89 Dagegen deutet Stuckrad ideelle Differenzen als Erhöhung »geringfügiger Unterschiede« zu »radikalen Kontrasten« (vgl. ders.: Was ist Esoterik?, S. 18). 90 So auch Kemper: Deutsche Lyrik 4/1, S. 57 ff.



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als Resultat der inneren Zensur, die lange vor den Auftritten der »Institutionen der Diskurskontrolle« psychologisch wirksam wird.91 Eine Zuspitzung der konsequent diskurstheoretischen und kulturwissenschaftlichen Gegenstandsbestimmung schlug schließlich der Religionswissenschaftler Michael Bergunder unter Hinzuziehung diskurstheoretischer Ergebnisse der Postcolonial Theory sowie unter Rückgriff auf Michel Foucault, Jacques Derrida, Pierre Bourdieu, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vor.92 Um den Eindruck zu vermeiden, es gäbe irgendeine esoterische oder hermetische »Essenz«, wird Esoterik nun als Identitätsmarkierung und -positionierung verstanden, die relational, nicht wesenhaft zu analysieren ist. Esoterik wird zum leeren Signifikanten, der in den komplexen Dynamiken kultureller Aushandlungsprozesse und diskursiver Praktiken verhandelt und zugeschrieben wird.93 Damit löst sich die Frage nach einer esoterischen Tradition von der Rekonstruktion gemeinsamer inhaltlicher Kernelemente und akzentuiert stattdessen konzeptionelle Transformationsprozesse. Zwar liegt der Fokus dieser kulturwissenschaftlichen Gegenstandsbestimmung auf dem Erscheinungsbild der Esoterik im 20. Jahrhundert, doch bietet sie Anregungen z. B. für das auch in der frühen Neuzeit zu beobachtende Phänomen der Hermetisierungsprozesse, für die Inkongruenzen zwischen der weiten Ausstrahlung des Phänomens »Hermetismus« in der kulturellen Erinnerung und der vergleichsweise kleinen Rolle, die die Texte des Corpus Hermeticum darin spielen,94 für das Phänomen völlig gegensätzlicher Rezeptionslinien

91 Weiterführend Antoine Faivre: Kocku von Stuckrad et la Notion d’Esotérisme. In: Aries 6 (2006), H. 2, S. 206–214. 92 Michael Bergunder: Was ist Esoterik? Religionswissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Esoterikforschung. In: Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik, S. 477–507 (hier auch zu einer Übersicht der Debatten zum Gegenstand und dem diskurstheoretischen Stand der Forschung). 93 »Aufgrund der bisherigen Überlegungen lässt sich folglich Esoterik als identifikatorischer Allgmeinbegriff in Form eines leeren Signifikanten verstehen, der durch eine Diskursgemeinschaft und in verschiedenen Diskursfeldern artikuliert und reproduziert wird. In diesem Sinne ist Esoterik ein historisches Phänomen und wird weder nominalistisch noch idealistisch verstanden, sondern als kontingenter Knotenpunkt bzw. Fixierung eines strittigen Machtdiskurses. In diesem Sinne wird Esoterik hier als Gegenstand der religionswissenschaftlichen Esoterikforschung bestimmt.« (Bergunder: Was ist Esoterik?, S. 500) 94 So z. B. wenn bestimmte Autoren ex post zu dezidierten »Hermetikern« in der kulturellen Erinnerung gemacht werden und andere nicht, wobei diese Erinnerung oft nicht proportional zur philologisch nachweisbaren Auseinandersetzung mit hermetischen Texten verläuft. Bergunder verweist als Beispiel auf Swedenborg (ders: Was ist Esoterik?, S. 505); Friedemann Stengel: Swedenborg als Rationalist. In: Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik, S. 149–203. Zu denken wäre auch an Frances Bacon, dessen Advancement of Learning (1605) trotz hermetischer Referenzen und Wissensformen als Frühwerk der Aufklärung gilt. Stephen A. McKnight:

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christlicher Klassiker wie des Werks Johann Arndts (1555–1621), die gänzlich differierenden Schicksale von Autoren wie Athanasius Kircher und Giordano Bruno oder die changierende Wahrnehmung der Alchemie zwischen subventionierter Fürstenalchimie, christlich gedeutetem Renovatio-Streben, poetischem Opus magnum und ridikülisierter schwarzer Kunst.95 In der germanistischen Literaturwissenschaft existieren dagegen eigene Ansätze zur Gegenstandsbestimmung, die teilweise wieder an topologische Modelle heranführen und im engeren Sinn vom Corpus Hermeticum ausgehen. Nicht eine bestimmte Anzahl an Kriterien, sondern fünf verschiedene Interpretationsmodelle schlägt Hans-Georg Kemper im Hinblick auf das synkretistische Feld frühneuzeitlicher Hermetik vor, die von der Hermetik als Alternative zur christlichen Religion bis zur christlichen Hermetik reichen und sowohl theologische wie literarische und kulturelle Felder umfassen.96 Dabei lässt sich an dem Ende des Spektrums, das die größte Differenz beschreibt, in Abgrenzung zu den christlichen Bekenntnissen die Skizze einer »von der Schöpfung bis zur Erlösung eigenständige[n] religiöse[n] Weltanschauung«97 profilieren, womit die Abwehrhaltung der christlichen Konfessionen entsprechend als Reaktion auf die so erkannte geistige Konkurrenz interpretierbar wird. Gleichwohl lassen sich innerhalb des Spannungsfeldes zwischen den Extremen verschiedene Positionierungen beschreiben, die jeweils auf das Selbstverständnis des Autors, auf intertextuelle Bezüge oder auf mögliche diskurspolitische Rücksichtnahmen zu befragen sind. Mit diesem Vorschlag öffnet sich die rein literaturwissenschaftliche Perspektive auf das kulturelle Feld, auf dem die Auseinandersetzungen um die hermetischen Texte stattfanden und wo sie im Wetterleuchten der Abgren-

Naturwissenschaft und Mystik bei Francis Bacon. In: Jenseits der entzauberten Welt. Naturwissenschaft und Mystik in der Moderne. Hg. v. Klaus Vondung u. K. Ludwig Pfeiffer. München 2006, S. 57–82. Umgekehrt erwähnt der sogenannte deutsche Trismegistos Theophrast von Hohenheim, Paracelsus, das Corpus Hermeticum so gut wie nicht. 95 Im Überblick etwa Karl Hoheisel: Christus und der philosophische Stein. Alchemie als überund nichtchristlicher Heilsweg. In: Meinel (Hg.): Die Alchemie in der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, S. 61–84; Richard Scherer: Einleitung. In: Alchymia. Die Jungfrau im blauen Gewande. Alchemistische Texte des 16. und 17. Jahrhunderts. Hg. v. Richard Scherer. Mössingen-Talheim 1988, S. 11–56. 96 Kemper: Deutsche Lyrik 4/1, S. 56 ff. Es handelt sich dabei um die Modelle der Hermetik als Alternative zur christlichen Religion, einer christlichen Hermetik, der Deutung von Hermetik als Vorläufer/Typos des Christentums, das im Zuge der Etablierung des Deutschen als Hochsprache betonte Identifikationspotenzial des Hermes/Theut mit dem »Teutschen« sowie Praktiken des kulturellen Gesprächs- und Rollenspiels mit der mythischen Hermesfigur und den mit seinem Namen identifizierten Geheimwissenschaften. 97 Ebd., S. 61.



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zungsenergien ihrer Gegner sichtbar wurden, nämlich auf dem Feld der Theologie. Vergleichbar lassen sich auch die Konturen des Paracelsismus im Licht der kenntnisreich argumentierenden zeitgenössischen Gegner profilieren, denen es letztlich um theologische Fragen ging, weniger um poetologische, da anhand der ersteren die machtpolitischen Verwerfungslinien des Diskurses verhandelt wurden.98 Das allerdings wird erst sichtbar, wenn die Literaturwissenschaft sich neben den gattungstheoretischen und neuerdings den kulturpoetischen Fragestellungen auch dem frühneuzeitlichen Quellenmaterial der geistlichen Literatur zuwendet, da dort die Grenzziehungen und Konfliktfelder sichtbar sind. Die einzelnen Analysen lassen sich nach diesem Ansatz an den jeweiligen, kleinräumig abzusteckenden Stand konfessionellen Wissens rückbinden. In der Variabilität der Interpretationsmodelle innerhalb des Diskurses und der Berücksichtigung der Gegnerperspektive akzentuiert dieser Ansatz die Grenzen des Diskurses, zeichnet aber den Stellenwert des Corpus Hermeticum vergleichsweise weich und macht das erste nicht zum alleinigen Gravitationszentrum der hermetischen Tradition. Genau dies schlägt jedoch Peter-André Alt in einem Zugang vor, der eine stärker literarisch zugespitzte Topik aus sieben Kriterien vorsieht und diese aus dem spezifischen Quellenkorpus des Corpus Hermeticum und des AsclepiusDialogs ableitet. Die Topoi als »hermetische Interpretamente« sollen klar von verwandten Modellen wie Paracelsismus, Alchemie, Pansophie und christlicher Kabbalistik abgehoben werden.99 Dieser Vorschlag zur Gegenstandsbestimmung fußt auf dem Konzept der Topik als Ordnungsgefüge von Wissen, das von der für die frühe Neuzeit prägenden cicerionischen Variante des Gedächtnissystems inspiriert ist. Dabei beschreibt die frühneuzeitliche Topik eine in ›loci communes‹ organisierte Speicherung von Wissen in enzyklopädischen Gedächtnissystemen, die einerseits die Stabilisierung und Tradierung der einzelnen Wissenselemente

98 Kühlmann: Paracelsismus und Hermetismus, hier S. 39. 99 Alt: Fragmentierung und Reorganisation arkanen Wissens, S. 3. Hier handelt es sich um die Topoi der formalen Korrespondenz von Natur und Logos, das Theorem von der Schönheit Gottes, die Idee der im Schöpfer bezeichneten Einheit von Einzelnem und Vielem, die Transmutation der Schöpfungselemente, die Lehre von der geistigen Ubiquität Gottes, die Ersetzung der Vorstellung vom jüngsten Gericht durch eine kosmologische Erlösungsvorstellung und das Festhalten an arkanen Initiationsmodellen; Alt: Hermetismus und frühneuzeitliche Literatur. Zur Forschungslage. In: Ders.: Imaginäres Geheimwissen, S. 11–24, hier S. 21; ders.: Topik in Transformationen. Muster frühneuzeitlicher Hermetik-Rezeption. In: Ders.: Imaginäres Geheimwissen, S. 25–42, hier S. 41 f. Die Argumentation zur Quellengrundlage rekurriert auf Thomas Leinkauf: Interpretation und Analogie. Rationale Strukturen im Hermetismus der Frühen Neuzeit. In: Trepp/Lehmann (Hg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis, S. 41–61, hier S. 45 f.

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gewährleisten, andererseits aber auch ihre Adaption als produktive Rezeption zulassen sollen.100 Die Leistung dieses Modells liegt zweifellos in der nuancierten Balance der Spannung zwischen Tradition und Transformation, um die auch die verwandte Esoterikforschung ringt. Durch die topische Organisation des Wissensfeldes erlangt die Analyse Freiheit gegenüber der Einschränkung auf rein positivistische Rezeptionsspuren. Fraglich erscheint jedoch, inwieweit der Anspruch, ausschließlich aus dem Corpus Hermeticum und dem Asclepius-Dialog eine Reihe an Topoi als »genaue Definition hermetischen Wissens«101 ableiten und gegenüber dem Paracelsismus und anderen verwandten Strömungen abgrenzen zu können, angesichts der historischen Quellenlage haltbar ist. Wie soll diese »genaue Definition« methodisch ableitbar sein und historisch bestehen angesichts der unhintergehbaren Inkonsistenz des Corpus Hermeticum selbst,102 seiner philologisch bescheidenen Rolle innerhalb eines bereits Ende des 16. Jahrhunderts verschmelzenden Wissensfeldes aus Hermetismus und Paracelsismus103 und den frühneuzeitlichen Quellentexten von Adepten, Theologen, Literaten und Naturphilosophen, nach deren Zeugnissen »Hermetischem Wissen« je nach Autor sehr unterschiedliche Inhalte zugeschrieben werden konnten?104

100 Alt: Fragmentierung und Reorganisation arkanen Wissens, S. 5. Der Ansatz fußt auf dem philosophiegeschichtlich entwickelten Modell der Topica universalis Wilhelm Schmidt-Biggemanns: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983, S. 7–10, sowie ders.: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichte und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hg. v. Anja Hallacker u. Boris Bayer. Göttingen 2007, S. 229–246. 101 Alt: Fragmentierung und Reorganisation arkanen Wissens, S. 4; ders.: Hermetismus und frühneuzeitliche Literatur, S. 20. 102 Diese Inkonsistenz hat vor allem die englischsprachige Forschung betont, als sie die Frage nach der Plausibilität einer Ableitung hermetischer Alleinstellungsfaktoren allein aus dem Corpus Hermeticum bereits vor Jahrzehnten verwarf. In Deutschland wurde diese Forschungsdebatte jedoch kaum rezipiert. Noch einmal Brian Copenhaver: »From a philosophical point of view, even the non-magical piety of the Hermetica is eclectic and incoherent: unlike the Neoplatonic systems with which it is often confused, the Corpus Hermeticum has little to offer anyone who requires a consistent conceptual and terminological framework for analysis of the problems it presents.« (Astrology and Magic, S. 281) 103 Wilhelm Kühlmann: Der vermaledeite Prometheus – Die antiparacelsistische Lyrik des Andreas Libavius und ihr historischer Kontext. In: Scientia Poetica 4 (2000), S. 30–61, hier S. 31; ebenso ders.: Paracelsismus und Hermetismus, S. 17. 104 So charakterisiert Carsten Colpe als Mitherausgeber der historisch-kritischen Ausgabe des Corpus Hermeticum die Bestimmungsfrage als Problem »alles für hermetisch anzusehen, was so heißen soll oder selbst will« (Art. »Hermetik/Hermetica II / 4: Neuzeit«. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3. Tübingen 2000, Sp. 1672 f., hier Sp. 1672); Stephan Meier-Oeser: Hermetisch-platonische Naturphilosophie. Einleitung. In: Grundriss der Geschichte der Philo-



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Zwar wurde im Zuge der Kritik an der sogenannten Yates-These, nach der bereits in der älteren Forschung das Theoriegebäude des hermetischen Diskurses mit dem Corpus Hermeticum verknüpft werden sollte, zwischen den Texten des Corpus Hermeticum und dem doxografischen Rekurs auf Hermes im Paracelsismus differenziert und letzterer als pragmatische Fiktion einer Legitimationslegende entlarvt. Dennoch legt allein ein Blick in einzelne frühneuzeitliche Quellen nahe, die Grenzen zwischen den Diskursen weiterhin als »ausgefranst«105 anzunehmen. So verlockend die These der Eruierung von »Alleinstellungsfaktoren«106 allein aus dem Corpus Hermeticum in periodischen Abständen der Forschungsdiskussion immer wieder erscheint, so sehr wirft sie schwierige methodische Fragen im Hinblick auf den Stellenwert weiterer ›hermetischer‹ Quellen im frühneuzeitlichen Diskurs auf. Welchen hermeneutischen Stellenwert hätte etwa das Selbstverständnis eines Textes wie die Schrift Von der Hermetischenn Philosophia (1586), die sich offensichtlich als zeitgenössische Einführung in hermetisches Wissen verstand, aber als Text der sogenannten praktischen Hermetica nun von der Profilbildung hermetischen Wissens ausgeschlossen bleiben müsste?107 Wie reflektiert man die philosophische Inkonsistenz der Texte des Corpus Hermeticum? Wie lässt sich die Trennschärfe hermetischer Topoi gegenüber paracelsistischen (Transmutation) und christlichen (Logostheologie) genau fassen? Das Kriterium der Schönheit Gottes zum Beispiel nimmt neben dem Corpus Hermeticum auch in Marsilio Ficinos Symposionkommentar De Amore (1469) eine u. a. auf Hermes zurückgeführte prominente Stellung im Renaissanceplatonismus ein.108 Aber als platonischer Topos, als den ihn übrigens auch Ficino bespricht, ist er ebenfalls

sophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4. Basel 2001, S. 7–18, hier S. 10 f. Vergleichbar ist die Anerkennung der Unmöglichkeit, Texte und Rezeptionsphänome in einer Theorie zu organisieren im verwandten Feld der Paracelsismusforschung: Wilhelm Kühlmann/Joachim Telle: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Der Frühparacelsismus I, S. 1–39, hier S. 4. 105 Bergengruen: Nachfolge Christi – Nachahmung der Natur, S. 20. 106 Alt: Hermetismus und frühneuzeitliche Literatur, S. 22. 107 Von der Hermetischenn Philosophia / das ist / vom Gebenedeiten Stain der weisen / der hocherfahrnen und fürtrefflichen Philosophen / Herrn Bernhardi Graven von der Marck / vnd Tervis ein Buch. Item Dicta Alani, Darinn alles hell vnd klar an tag geben wirdt. Exlibris Doctoris Henrici Vuolffij. Gedruckt zu Straßburg durch Antonium Bertram 1586 (Erstdruck Straßburg 1574). Die Vorrede des Michael Toxites (Hagenau 1574) differenziert zwischen theophrastischen und den – hier verlegten – hermetischen Schriften, die jedoch de facto Texte des Alchemo-Paracelsismus sind und sich daher konsequenterweise nicht auf das Corpus Hermeticum, sondern auf die Tabula Smaragdina beziehen (ebd., S. 1 u. 41 ff.). 108 Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Lateinisch-deutsch. Hg. v. Paul Richard Blum. Hamburg 1994, S. 299.

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Gemeingut bei christlichen Mystikern wie bei (Pseudo-)Dionysios Areopagita.109 Welchen Stellenwert hätten endlich historische Rezeptionszeugnisse des Corpus Hermeticum für die moderne Begriffsbildung? So stellte bereits ein so prominenter frühneuzeitlicher Leser des Corpus Hermeticum wie der Renaissance-Humanist Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) ein deutlich von modernen Definitionsversuchen abweichendes Exzerpt hermetischer Topoi in seinen 900 Thesen (1486) zusammen, dessen ihm zentral erscheinende zehn Charakteristika nun in den Topoi der Allbelebtheit, der Allbeseeltheit, der Nichtexistenz des Todes und damit der ewigen Unsterblichkeit allen Seins gipfeln.110 Zu bedenken gilt auch: Diese Denkfiguren waren selbstverständlich häretisch und wurden in dieser Form kein zweites Mal so pointiert auf den Punkt gebracht: Picos 900 Thesen provozierten die erste große Inquisitionsaktion in der Geschichte des Drucks, bei der fast alle Exemplare verbrannt wurden, da sie, nach dem Verdammungsurteil des Papstes, dem katholischen Glauben gefährlich werden konnten; sie führten zur Einführung der ersten Vorpublikationsliste noch im selben Jahr, und selbst der Nachlass Giovanni Picos wurde auf das Gröbste editorisch verstümmelt und unterschlagen.111 Für die Profilierung des Hermetismus jedoch setzt hier, trotz einer gewissen Unschärfe in der innerdiskursiven Abgrenzung, eine analytisch und hermeneutisch höchst ergiebige Quellenliteratur an historischen Gegenstandsbestimmungen aus der Gegnerperspektive ein, die von den theologischen Gegnern der konfessionellen Orthodoxien wie Thomas Erastus (1524–1583), Andreas Libavius (1558–1616), Nicolaus Hunnius (1585–1643), Jacob Thomasius (1622–1684), Daniel Ehregott Colberg, Friedrich Christian Bücher (1651–1714) bis zum Autor des Artikels in Zedlers Universal-Lexicon und zum Aufklärer Johann Christoph Adelung

109 (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Die Namen Gottes. Übersetzt v. Beate Regina Suchla. Stuttgart 1988, S. 14. 110 Siehe die Conclusiones secvndvm priscam doctrinam Mercurii Trismegisti aegyptii nvmero .x.: »Correllatium: Vbique uita, ubique prouidentia, ubique immortalis.« In: Steve A. Farmer: Syncretism in the West. Pico’s 900 Theses (1486). The Evolution of traditional religious and philosophical Systems. With Text, Translation and Commentary. Temple 1998 (Medieval and Renaissance Texts and Studies 167), S. 340. Diese neben ihrer Editionsleistung glänzende Studie zu Giovanni Pico della Mirandola weist auch auf die Differenzen bereits zwischen den prominenten Renaissancehumanisten und Vermittlern ›hermetischen Wissens‹ ins humanistische Wissensgebäude, Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola, hin (ebd., S. 12). 111 Farmer: Synkretism in the West, S. 16 u. 152 ff. Bereits Thomas Morus, der im Jahr 1510 ein Portrait Picos verfasste, stellt die Rolle des Neids und der Missgunst gegenüber Picos Projekt der 900 Thesen heraus: Ders.: Das Leben des Giovanni Pico della Mirandola. In: Giovanni Pico della 4 Mirandola: Über die Würde des Menschen. Hg. v. Herbert Werner Rüssel. Zürich 1996, S. 65–88, hier S. 70.



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(1732–1806)112 verfasst wurde. Sie bietet nicht nur Einblick in die Rezeptionsformen hermetischen Wissens bei seinen Sympathisanten, nämlich sehr häufig über die Adaption des Mythos vom ägyptischen Hermes als autoritätsgebietender Referenz zur Legitimation eigener Theoriebestände, sondern sie bindet auch mit Hilfe des sicheren Gespürs der Gegner für Häresien den Gegenstand ›Hermetismus‹ in den europäischen Konflikthorizont ein. Damit stellt sie eine wertvolle Interpretationshilfe dar, wenn man nach den Motiven für das Interesse an der Hermetik fragt. Diese Gegner bildeten als akademische Theologen und Verteidiger des dominanten Diskurses einen ausgeprägten Scharfsinn für alternative Sinnangebote aus, die sie an Systemstellen des christlichen Sinnsystems sogar aus den amorphen Theoriegebäuden und synkretistischen Verschränkungen des hermetischen Diskurses herausdestillierten. Entsprechend organisiert sich das Profil des mit dem ägyptischen Hermes assoziierten hermetischen Wissens hier nicht um eine aus dem Corpus Hermeticum abgeleitete Topik, sondern um die gegenüber dem Christentum profilierten Knotenpunkte der Christologie, der Schöpfungs- und Erlösungslehre. Diese Schriften dokumentierten gerade in ihrem ablehnenden Eifer dabei nichts weniger als eine bibliografische Bestandsaufnahme der Texte, die zum jeweiligen historischen Zeitpunkt als ›hermetisch‹ gelten konnten und auf dem Markt, also sichtbar waren. Ebenso belegen sie die Rezeptionsschritte der von ihnen ausgehenden Denkanstöße über die Verschmelzung des Hermetismus zunächst mit dem Paracelsismus und dann mit der Theosophie Böhmes, ihre weitere Wirkung durch die Rezeption im radikalen Pietismus bis hinein in die Freimaurerlogen des 18. Jahrhunderts. In dieser Literatur stößt man auf teilweise sehr abweichende Antworten, wenn man nach hermetischen Topoi fragt. So nennt Daniel Ehregott Colbergs zweibändiges Kompendium der ›platonisch-hermetischen‹ Literatur, das eine Unzahl an Schriften und Debatten über einen Zeitraum von 200 Jahren auswertet, als erstes Kriterium den Topos der Selbstvergottung, die, zweitens, durch Selbsterkenntnis erreicht werde. Dieser Gedanke wird in der modernen Begriffsbestimmung nun nicht einmal erwähnt. Colberg jedoch bindet ihn in einer versierten philologischen Lektüre auch an das Corpus Hermeticum zurück und identifiziert ihn gleichzeitig als topisches Bindeglied des gesamten hermetischen Diskurses,

112 Wilhelm Kühlmann: Biographische Methode und aufgeklärte Revision der Geschichte – Johann Christoph Adelungs Paracelsusbiographie. In: Telle (Hg.): Analecta Paracelsica, S. 541–556; Friedrich Vollhardt: Die Theosophie Jakob Böhmes und die orthodoxe Kritik. In: Prädestination und Willensfreiheit. Luther, Erasmus, Calvin und ihre Wirkungsgeschichte. Hg. v. Wilfried Härle u. Barbara Mahlmann-Bauer. Leipzig 2009, S. 167–178.

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der nach seinem Verständnis von den Rosenkreuzern bis zu den Quäckern reicht.113 Methodisch stellt damit die Berücksichtigung dieses historischen Quellenmaterials einen »unschätzbaren«114 hermeneutischen und analytischen Schlüssel über die Texte des Corpus Hermeticum hinaus dar. Die Übersicht zu Methoden und Gegenstandsbestimmungen ließe sich problemlos erweitern.115 Doch fruchtbarer als die Zuspitzung der Debatte um Begriffe und Theorien erscheint mir die Bemühung um Transparenz in der Wahl des jewei-

113 Ehre Gott Daniel Colberg: Das Platonisch-hermetisches [!] Christenthum /Begreiffend die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten/ Weigelianer / Rosencreutzer / Quäcker / Böhmisten / Wiedertäuffer / Bourignisten / Labadisten / und Quietisten. Franckfurt und Leipzig 1690 (2. Teil 1691), hier Bd. 1, S. 4 ff.: »Der Zweck der Philosophie sey Gott gleich werden / oder in Gott verwandelt / und wie seine Schüler heut zu Tage reden / vergöttert werden.« (Ebenso S. 92 ff.) 114 So Kühlmann: Paracelsismus und Hermetismus, S. 39. Kühlmann spricht von den Gegnerschriften als Zeugnissen für die »Dynamik einer nicht nur scientifischen Pluralisierung von Wissenskonzeptionen«. Sie tragen »mithin die Signatur einer hinter den staatskirchlichen Fassaden ausgetragenen Kontroverse«, ob der hermetische Offenbarungsglaube »Alternativen zum staatskirchlichen Akademismus mit seinem auch sozial abgesicherten Wissens- und Glaubensmonopol finden« ließ. Ebenso Kühlmann: Einleitung. In: Telle/Kühlmann (Hg.): Der Frühparacelsismus I, S. 9 ff. Die geradezu diskurskonstituierende Kraft der polemischen Literatur betont auch Wouter Hanegraaff: Introduction. In: Hanegraaff et al. (Hg.): Dictionary of Gnosis and Western Esotericism, S. vii-xiii, sowie ders: Forbidden Knowledge. Anti-Esoteric Polemics and Academic Research. In: Aries 5 (2005), H. 2, S. 225–253. Überspitzt scheint mir die Aufwertung jedoch dann, wenn sie in der These einer Grand Polemical Narrative die westliche Esoterik als das erst im Diskurs konstruierte Sujet wieder als das Andere des monotheistischen Christentums oder der Vernunft zeichnet. In der Aufwertung der sicher strukturbildenden Polemik zum alleinigen diskurskonstituierenden Faktor scheint mir die Gefahr zu liegen, das Sujet in die Opferrolle des »Verdrängten« zu schieben und die Interferenzen und Zwischenbereiche damit ebenso zu marginalisieren wie die Tatsache, dass auch esoterisch geprägte Positionen Diskursmacht halten konnten, und sei sie lokal begrenzt wie am Sulzbacher Hof oder in Freimaurerlogen, dass sie sich dann jedoch der Selbstinszenierung mit der gleichen Hingabe widmeten wie sonst die christlichen Kirchen oder barocken Höfe. 115 Weitere Vorschläge zur Konturierung des Gegenstands Hermetismus, auf die hier nur verwiesen sei, unterbreiten Jan Assmann: Vorwort. In: Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 7–15 (Kriterien: Offenbarung, Hyperkosmismus, Geheimhaltung und Einweihung); Ralf Liedtke: Die Hermetik. Traditionelle Philosophie der Differenz. Paderborn 1996, S. 21 ff. (zehn Indikatoren: Dynamismus, Autosoteriologie, Physikotheologie, Teleologie, Psychologie, Sympathie, Synkretismus, Eklektizismus, Analogie, Gemeinsinn). Liedtke gilt als Vertreter der hermetischen Counter Culture, wobei sein Buch und sein Ansatz zunächst auch in wissenschaftlichen Foren sehr positiv rezensiert wurden. Jacques Fabry: Rez. zu Ralf Liedtke – Die Hermetik. Traditionelle Philosophie der Differenz. In: Aries 21 (1997), S. 107–110; Hans Thomas Hakl: Die Hermetik – eine alte neue Weltsicht. Bemerkungen zum Buch ›Die Hermetik‹ von Ralf Liedtke. In: Aries 22 (1998), S. 101–112.



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ligen Begriffs und des jeweiligen Zugangs angesichts einer höchst komplexen Quellenlage, die zum jetzigen Zeitpunkt noch alles andere als erschlossen ist.116 Die Schwierigkeit, die es zu reflektieren gilt, besteht darin, dass es angesichts der verschiedenen, sich auf den ägyptischen Hermes berufenden Richtungen schwer möglich sein dürfte, diese auf ein philosophisches System zu reduzieren. Gleichzeitig gilt es aber auch die Traditionen inhaltlich zu berücksichtigen, die sich nicht auf Hermes berufen, aber mit ersteren koexistieren und diesen topisch eng verbunden sind.117 Diese Wissensfelder liegen in der frühen Neuzeit im besonderen Spannungsfeld der christlichen Konfessionen, deren Wahrheitsansprüche zumindest innerhalb dieser Diskurse nicht ›postmodern‹ relativiert, sondern zunächst in ihrem Anspruch auf Wahrheitsbesitz absolut vertreten werden. Zu diesem Anspruch, der im Verlauf vom 15. bis zum 18. Jahrhundert selbst zunehmend brüchig wird, müssen sich Autoren verhalten, positionieren, in Beziehung setzen, was einerseits alle Formen des uneigentlichen Sprechens, des Unterschlagens von einschlägigen Referenzen oder eine Hinwendung zu (später selbst häretisierten) christlichen Mystikern und Kirchenvätern einschließt, umgekehrt aber auch eine Integration von Topoi, die zeitgenössische Kritiker als hermetisch benennen, in das christliche Theoriegebäude umfasst, die dieses quasi ›von innen‹ überdehnen. Mit der zunehmenden Einsicht in die Schwierigkeit der Formulierung einer alles erklärenden Methode, einer umfassenden Theorie, eines Begriffskatalogs wurde in den vergangenen Jahren auf den unterschiedlichen Schauplätzen der Debatte vermehrt der Ruf nach »konkrete[r] historische[r] Feldvermessung«118 laut, nach exemplarischen »Mikrostudien«,119 nach »Complexity«, »Reinterpretation« und »Empirie«,120 nach den »jeweils historisch konkreten Ausformungen und Sinngehalten des Hermetismus«.121 Es interessieren neben der ideengeschichtlichen Rekonstruktion auch die funktions- und sozialgeschichtlichen Aspekte, da sich über diese Aspekte die Motive erschließen, die bei frühneuzeitlichen Autoren die Auseinandersetzung mit hermetischen Texten überhaupt attraktiv erscheinen ließen.122 Ebenso ist der philologische und editionsgeschicht-

116 Wilhelm Kühlmann: Vorbemerkungen zum Themenkomplex ›Alchemie‹. In: MahlmannBauer (Hg.): Scientiae et Artes 2, S. 631–639, hier S. 637. 117 Assmann: Vorwort. In: Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 9. 118 Kemper: Deutsche Lyrik 4/1, S. 65. 119 Lehmann: Auf der Suche nach der Säkularisierung vor der Aufklärung, S. 37. 120 Hanegraaff: The Study of Western Esotericism, S. 511. 121 Trepp: Hermetismus oder zur Pluralisierung von Religions- und Wissensformen, S. 9 122 So resümiert Christian Soboth: »Ohne ineinandergreifende sozial- und funktionsgeschichtliche Flankierung wird die rein ideengeschichtliche Aufarbeitung des hermetisch-alchemisti-

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liche Stand der untersuchten Quellen zu reflektieren, da hier noch die »simple (nein: eigentlich die wirklich schwierige, im Detail oft zur Desperation führende!) philologische, überlieferungsgeschichtliche, exegetisch-kommentierende und sozial- wie wissenschaftlich ausgerichtete Grundlagenforschung«123 zu erbringen ist. Diesem Ruf sei mit dem anschließenden Problemaufriss gefolgt.

schen Diskurses gerade für das 18. Jahrhundert wenig aussagekräftig sein.« (Ders.: Die Alchimie auf dem Abtritt – Johann Salomo Semler und die hermetische Kehrseite der Neologie. In: Kaminski [Hg.]: Hermetik: Literarische Konfigurationen zwischen Babylon und Cyberspace, S. 67–99, hier S. 77.) 123 So emphatisch Kühlmann: Vorbemerkungen zum Themenkomplex ›Alchemie‹, S. 636.

II. Ansatz, Problemfelder und Methode 1. Ansatz und Vorgehen: Quellenorientierung und philologische Rezeption Dieser Ansatz fragt exemplarisch nach den philologisch nachweisbaren Rezeptionspuren des Corpus Hermeticum in den jeweiligen intellektuellen Kontexten von Autoren des Spiritualismus und radikalen Pietismus zwischen den Jahren 1530 bis 1730. Damit geht er nicht von einer Theorie, sondern von den Quellen aus. Die exemplarische Konzentration auf einzelne Autoren ermöglicht nicht nur, die konkreten Texte zu identifizieren, die für frühneuzeitliche Autoren eine Rolle spielten, sie zeigt auch, wie und mit Hilfe welcher Argumentationsfiguren diese Texte rezipiert wurden. Geleistet werden soll dabei auch ein Beitrag zur Frage, wieso nach der philologischen Diskreditierung des Anciennitätsmythos durch Isaac Casaubon Hermes nicht nur als Identifikationsfigur des Paracelsismus, sondern explizit auch als Autor des Corpus Hermeticum diesen vermeintlichen Todesstoß überlebte.1 Damit soll die Rolle der philologischen Kritik in Auseinandersetzung und Vermittlung der hermetischen Schriften nicht marginalisiert werden. Im Mittelpunkt des Interesses steht lediglich die paradox anmutende Frage, wieso Hermes auch im 18. Jahrhundert noch als realer Autor gelesen werden konnte. Ein Schlüssel zu dieser Frage liegt in der religiösen Literatur des Spiritualismus und Pietismus, die für die germanistische Literaturwissenschaft trotz des ›cultural turn‹ noch spärlich bearbeitetes Forschungsland darstellt. Abgeschreckt durch die religiös motivierte Fiktions- und Kunstfeindschaft der Pietisten einerseits sowie die fehlende Höhenkammliteratur im Spiritualismus andererseits2 wird übersehen, dass diese deutschsprachigen Texte einen kaum zu überschätzenden Beitrag für die deutsche Literaturgeschichte leisteten: Nicht nur popularisierten sie hermetisches Wissen zu einer Zeit, in der die Wissenschaft noch auf Latein schrieb in den Gattungen der humanistisch geprägten Florilegien (Sebastian

1 Mulsow: Das Ende des Hermetismus; darin zu Casaubon Anthony Grafton: Protestant versus Prophet. Isaac Casaubon über Hermes Trismegistus, S. 283–303; im Ausblick Martin Mulsow: Epilog. Das schnelle und das langsame Ende des Hermetismus, S. 305–310. 2 Obwohl sich gerade die Pietismusforschung inzwischen durch fächerübergreifenden Fragestellungen und interdisziplinäre Offenheit auszeichnet, wird die Definitionshoheit unverändert bei der Kirchengeschichte und Theologie gesucht. Udo Sträter: Der breite und der schmale Weg? Bilanz und Perspektiven der Pietismusforschung seit dem ersten Kongress 2001. In: Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung. Hg. v. dems. et al. Tübingen 2009, S. XIX-XXXI, hier S. XXVII.

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Franck), der philosophischen Traktatliteratur (Valentin Weigel) sowie der offenen Streitschriften (Johann Conrad Dippel); sie waren darüber hinaus als Teil einer geistlichen Protest- und Reformbewegung eine treibende Kraft hinter den Umbrüchen im kulturellen Wissen, die u. a. auch vielen bedeutenden poetologischen Innovationen bis ins 18. Jahrhunderts den Boden bereiteten.3 Nicht zuletzt leisteten diese Texte – da Hermes selbstverständlich als »Heide« rezipiert wurde – einen ganz wesentlichen Beitrag zur Toleranzdebatte der frühen Neuzeit. Indem dieser Zugang von philologisch nachweisbaren Rezeptionsspuren ausgeht, zielt er nicht auf eine weitere Großtheorie zum Gegenstand Hermetismus, sondern er möchte vielmehr einen Beitrag zur Differenzierung zwischen dem Werk der untersuchten Autoren und seiner Rezeption leisten. Dazu ist es nötig, die Analogie zwischen den Hermetisierungs- und Häretisierungsprozessen in der kulturellen Erinnerung exemplarisch herauszuarbeiten. Jedes Kapitel enthält daher einen eigenen Abschnitt zur Quellenkritik und zur weiteren Rezeption des Autors. Dieser Schritt erschien angesichts der Tatsache sinnvoll, dass insbesondere die Texte Weigels und Dippels nach deren Ableben pseudonym fortgeschrieben wurden, wobei bereits im hochemotionalen Spannungsfeld der Häresievorwürfe die diskursmächtigen Stimmen der Gegner wie Anhänger nicht mehr zwischen den Originalen und den Pseudonyma unterschieden. Somit lässt sich zumindest exemplarisch verfolgen, wie der Nimbus des Schillernden, der den Begriff ›Hermetismus‹ bis heute umgibt, zu einem guten Teil gemacht, also konstruiert wird: Einerseits erscheint nämlich das pseudonyme Schrifttum vielfach als freie Improvisation über den Texten der namengebenden Autoren, deren Name zum Signum für alchemistische, apokalyptische oder chiliastische Spekulationen wird. Andererseits verschärfte dieses Phänomen das Stigma des »Schwärmer«- und »Ketzertums« in der Fremdwahrnehmung so weit, dass es in der kulturellen Erinnerung kaum noch in Frage gestellt wurde. So kommt es bis in die jüngste Forschung hinein vor, dass das Werk dieser Autoren mit Blüten einer spekulativen Fantasie in Verbindung gebracht wird, allerdings aufgrund

3 Grundlegend und bis heute nicht überholt dazu Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt im radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ ›Historie der Wiedergebohrnen‹ und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989, S. 23 ff.; ebenso Dohm: Poetische Alchimie, S. 4; Kemper: Deutsche Lyrik 3, S. 37 ff.; ders.: Deutsche Lyrik. Bd. 6/2: Sturm und Drang: Genie-Religion, S. 36 ff.; Hans-Jürgen Schrader: Die Literatur des Pietismus – Pietistische Impulse zur Literaturgeschichte. Ein Überblick. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, S. 387–403, hier S. 389. Im Hinblick auf die Transformation des religiösen Spiritualismus über Melanchthons Kritik in den »Enthusiasmus«Begriff und die damit verschränkte Geschichte poetischer Inspiration Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin 2009, S. 179 ff., bes. 184 u. 188 ff.



Ansatz und Vorgehen

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von Texten, die überhaupt nicht von ihnen stammen. Es soll mit diesem Zugang damit zumindest exemplarisch gezeigt werden, dass es sich in der historischen Nonkonformität der von ihren Gegnern als hermetisch bezeichneten Schriften nicht um textferne »Schwärmerei« handelt, sondern um Interpretationsvarianzen zu diskursmächtigen Theologoumenen, die oft mit erheblichem philologischen und gelehrten Aufwand entwickelt werden,4 allerdings von ihren Gegnern kompromisslos verurteilt und von ihren Anhängern bedenkenlos fortgeschrieben wurden. Diese Theologoumene, Dogmen und Bekenntnisse markieren nach dem Verständnis dieses Ansatzes Systemstellen im religiösen Sinnsystem. Dieses jedoch ist sprachlich verfasst und hat nicht zuletzt einen narrativen Charakter: In Anlehnung an die Theorie des kulturellen Gedächtnisses lassen sich Dogmen als Stationen der Organisation, (Re-)Strukturierung und verbindlichen Festlegung der fundierenden Geschichte des christlichen Glaubens lesen. Eine fundierende Geschichte ist eine identitätsstiftende Erzählung und damit mehr als eine reine Erzählung: sie stellt, wie in vorchristlichen Zeiten der Mythos, normative Ansprüche und besitzt formative Kraft.5 Im Christentum erzählt sie vom Heilshandeln des Gottessohns, deutet die Weltschöpfung, das Weltende sowie die Zwischenzeit der historischen Gegenwart und liefert Erklärungsmuster für die Frage nach dem Weg zum Heil, kurz: diese fundierende Geschichte hat gerade über ihre narrativen Strukturen die Funktion, Orientierung in der Welt zu ermöglichen und die eigene Gegenwart in Bezug auf eine erinnerte, das heißt in dieser Form: auf eine heilsgeschichtlich identitätsstiftende Vergangenheit zu deuten. Damit ist sie nicht nur grundlegend für die Herausbildung einer kollektiven Identität, sie speist auch über Jahrhunderte die Symbolsprache und organisiert die rituellen (Re-)Inszenierungen bzw. sakramentalen Vergegenwärtigungen der identitätsstiftenden Motive.6 Die konfessionalistischen Auseinandersetzungen werden somit auch

4 Analog beschrieb Hans Blumenberg das Verhältnis das Verhältnis vom Kunstmythos zum Grundmythos als »Ausgestaltung elementarer Grundfiguren« (ders.: Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M. 1979, S. 194). 5 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1999, S. 75 ff. 6 Jan Assmann: Was ist das ›kulturelle Gedächtnis‹? In: Ders.: Religion und kulturelles Gedächt3 nis. Zehn Studien. München 2007, S. 11–44. Die Berücksichtigung dieser rituellen, kulturpraktischen Dimension scheint mir gerade in Bezug zum hermetischen Schrifttum ein entscheidender Punkt zu sein, der in rein topologischen Bestimmungsmodellen noch wenig reflektiert wurde. Die zeitgenössischen klerikalen Kritiker zeigen ein ausgeprägtes Interesse für die Gefahr einer Entkirchlichung des Christentums durch hermetische Literatur (z. B. Colberg: Das hermetischplatonisches Christenthum 1, S. 107–118). Damit allerdings bestätigen sie geradezu Assmanns

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 Ansatz, Problemfelder und Methode

als Konflikte um Deutungsdifferenzen in Bezug auf das tragende kulturelle Narrativ lesbar.7 Entsprechend lassen sich die Hinwendung zu Texten vermeintlich nicht-christlicher Offenbarungen wie den Texten des Hermes oder der jüdischen Kabbala angesichts der Unmöglichkeit, trotz des enormen gelehrten Aufwandes eine abschließende Deutung der nach Luther doch klaren Worte der Heiligen Schrift zu finden, aus dem Bedürfnis nach Sinngebung, nach Semiotisierung von »Welt« und Geschichte heraus interpretieren. Es dürfte dasselbe Motiv sein, das auch der Hinwendung zum zweiten »Buch« Gottes, dem Liber naturae zugrunde liegt, als dessen Prophet der ägyptische Hermes gerade im Paracelsismus gilt.8 Damit erweitert und relativiert sich zugleich die häufig anzutreffende Zuspitzung des Hermetismus auf das Motiv einer »verborgenen Wahrheit« oder des »Geheimen«, da das Geheime nicht einfach eine Semantik des Arkanen beschreiben

These von der zunehmenden Differenzierung zwischen unsichtbarer und sichtbarer, d.h. institutionell verfasster Religion in der Aufklärung als Umkehrung des Prozesses, der im Übergang zum Monotheismus diese beiden Religionsformen einst übereinander geschoben hatte. Assmann spricht in Bezug auf die Herausbildung jener »sekundären Religionen« (Judentum, Christentum) als »Theologisierung des kulturellen Gedächtnisses«, wobei der Begriff des kulturellen Gedächtnisses synonym zum Begriff der »Unsichtbaren Religion« verwendet wird, wie ihn Thomas Luckmann eingeführt hat; ders.: Unsichtbare Religion und kulturelles Gedächtnis. In: Ders.: Religion und kulturelles Gedächtnis, S. 45–61; Thomas Luckmann: The invisible Religion. New York 1967. 7 Das spektakulärste Beispiel dürfte der Abendmahlsstreit sein, der – nicht zufällig gerade um ein Sakrament, also um eine Kulturpraktik geführt – in der Deutungsdifferenz um ein einziges Wort bei den Einsetzungsworten zur Kernspaltung der protestantischen Konfessionen geführt hat. Kaufmann: Geschichte der Reformation, S. 531 ff. 8 Fast ein Jahrhundert nach der philologischen Entzauberung des Anciennitätsmythos durch Casaubon trägt die deutschsprachige Übersetzung des Corpus Hermeticum aus dem Jahr 1706 noch den Titel Hermetis Trismegisti Erkäntnüß der Natur Und Des darin sich offenbahrenden Grossen Gottes (Hamburg 1706). In der alchemistischen Tradition gilt Hermes oft explizit als Philosoph der Natur. Etwa bei Joachim Tancke: Prompuarium Alchemiae, Das ist: Vornehmer gelarten Philosophen vnd Alchimisten Schriffte und Tractat / von dem Stein der Weisen / samt kuenstlichen Alchimistischen Handgriffen / vnd bewerten schoenen bereittungen allerley Artzneyen / auß den Animalien, Vegetabilien, Mineralien und Metallen / beydes den Alchymisten vnd Medicis hochnoehtig / dienstlich und sehr nuetzlich. Leipzig 1610: »Sondern die ware Alchimey vnd Philosophey / so auch die wahre Medicin begreifft / wil geistliche Augen haben / die in die Natur hinein sehen koennen / vnd nicht allein das Irrdische beschawen / sondern was in einem jeden dinge Geistlich verborgen ist. Solche vortreffliche Philosophi seyn gewesen Hermes, Democritus, Pythagoras und Plato, so mit Himlischen oder Englischen Augen gesehen / daß die Natur allen dingen eine verborgene vnd geistliche gewalt / Samen / krafft eingepflanzet vnd eingegossen / daß wenn dieselbigen von der irrdischen Corporitet vnd verhinderung / darinne sie verwickelt und gefangen / loß gesprochen vnd erlöset / daß sie wunderbarlicher wirckung seyn / so den Vnverstendigen vngleublich / und als sonderliche Wunderwerck vorkommen.« (Vorrede, o. Pag.)



Ansatz und Vorgehen

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muss, sondern auch in hermeneutische und soziale Aspekte differenziert werden kann.9

2. Kulturelle Narrative und frühneuzeitliche Konfliktfelder zur Profilierung ›hermetischen‹ Wissens: Schöpfungs- und Erlösungslehre, Zeit und Androgynie Geht man von identitätsstiftenden kulturellen Narrativen aus, dann ist es hilfreich, zunächst die Problemfelder zu eruieren, auf denen sich die Konfliktfelder in der Auseinandersetzung mit den hermetischen Texten entfalten. Trotz unterschiedlichster konfessioneller Ausprägungen konzentriert sich die Heilsgeschichte des Christentums auf die Rolle Jesu Christi als Mittler, an dessen Heilshandeln die Gläubigen (und nur diese) partizipieren, sei es über den Glauben an die stellvertretende Rechtfertigung im Luthertum, über die Prädestination im Calvinismus oder über das katholische Sakramentsverständnis und die Mitgliedschaft in der Kirche als mystischem Leib Christi. Damit verbunden sind zentrale, im Frühchristentum als identitätsstiftend etablierte Dogmen wie das Trinitätsdogma, die Zweinaturenlehre und die erst mit der augustinischen Theologie weitgehend etablierte Erbsündedoktrin.10 Diese sind für den christlichen Kulturraum so strukturbildend geworden, dass die Namen der in den frühchristlichen Konflikten unterlegenen Gegner bis in die Neuzeit hinein zu feststehenden Begriffen für Häresien wurden: der Arianismus nach dem nordafrikanischen Presbyter Arius, der auf dem Konzil von Nicäa (325) die Wesenseinheit des Sohnes mit dem Vater bezweifelte oder

9 Zur Bedeutung der Frage nach Sinngebung Trepp: Hermetismus, oder zur Pluralisierung von Religions- und Wissensformen, S. 14; zur Rezeption nicht-christlicher Mystik Kemper: Deutsche Lyrik 3, S. 71. Der Topos des Geheimnisses oder des Arkanen wird häufig als essentiell »hermetisch« wahrgenommen, bis hin zum Begriff der »hermetischen Lyrik« des 20. Jahrhunderts. Daneben gilt es jedoch zu zeigen, dass das »Geheimnis« auch ein hermeneutisches (Franck) oder ein soziales (Weigel) Kriterium sein kann. Auch die christliche Theologie kennt den Topos des Geheimnisses in Bezug auf Glaubenssätze wie die Trinität oder die Menschwerdung des Wortes. Zum traditionellen Verständnis der Geheimhaltung und Verrätselung Florian Ebeling: ›Geheimnis‹ und ›Geheimhaltung‹ in der Hermetica der Frühen Neuzeit. In: Trepp/Lehmann (Hg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis, S. 63–80; Gerhard Eis: Vom Reden und Schweigen der Alchimisten. In: DVjs 1951, S. 415–435. 10 Erst ab hier wird die später auch für Luther zentrale Sündhaftigkeit des Menschen zur Signatur seiner Existenz. Nach Augustinus ist diese Sündhaftigkeit kein bestimmtes Tun, sondern die »verkehrte Grundrichtung der gesamten menschlichen Existenz, aus der sich keiner befreien kann; sie ist die Existenzform, in der wir uns immer schon vorfinden«; Bernhard Lohse: Epochen der Dogmengeschichte. Stuttgart 1963, S. 118.

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 Ansatz, Problemfelder und Methode

der Pelagianismus nach dem britischen Mönch Pelagius, der gegen Augustinus die These von der Willensfreiheit vertrat, ein Konflikt, der sich in der frühen Neuzeit zwischen dem Humanisten Erasmus von Rotterdam und dem Augustinermönch Martin Luther wiederholte.11 Über die kulturellen Praktiken der Sakramente wie die Taufe oder das Abendmahl wird das Heilshandeln Jesu Christi performativ vergegenwärtigt und gleichzeitig aus der Vergangenheit an die Gläubigen der historischen Gegenwart vermittelt, wobei dies unter einer strategisch zentralen Einbindung der Kirche als irdischer Vermittlungsinstanz geschieht.12 Eine hermeneutische Herausforderung besteht in der Auseinandersetzung mit den Texten des Corpus Hermeticum als vermeintlich nicht-christlicher Offenbarung darin, dass die Texte als Dokumente des spätantiken Hellenismus sowohl in suggestive Nähe zu platonischen Strömungen des Christentums zu bringen sind als auch deutlich abweichende Positionen vertreten können. Dabei oszillieren die Schriften zwischen Weltzugewandheit und -abgewandheit ebenso wie die christliche Literatur selbst.13 Deshalb soll im Folgenden keine Typologie ent-

11 Zu Forschungsstand und Wirkungsgeschichte in der frühen Neuzeit vgl. Härle/MahlmannBauer: Prädestination und Willensfreiheit. 12 Das Gebiet der frühchristlichen Glaubensrichtungen, des Kanonisierungs- und Institutionalisierungsprozesses ist ein eigenes Forschungsgebiet. Quellennah, unter besonderer Berücksichtigung der Dispute um die Entstehung von Dogmen und damit der Motive der Kombattanten die Aufsätze von Elaine Pagels: Adam, Eva und die Schlange. Die Geschichte der Sünde. Reinbeck 2 1994 (New York 1988); Elaine Pagels: Das Geheimnis des fünften Evangeliums. München 2006 (Unter dem präziseren Titel: Beyond Belief. The secret Gospel of Thomas. New York 2003); dies.: Versuchung durch Erkenntnis. Die gnostischen Evangelien. Frankfurt a.M. 1987 (1979); Bart D. Ehrman: Lost Christianities. The Battles for Scripture and the Faiths we never knew. Oxford 2003. 13 Bereits Lovejoy machte in Bezug auf Platon auf zwei widersprüchliche Strömungen der gesamten Philosophiegeschichte aufmerksam, die sich beide auf sein Werk berufen. Er nennt dies den Konflikt zwischen Diesseitigkeit und Jenseitigkeit. Dabei steht die Diesseitigkeit für die Hinwendung zur Welt der Vielheit, der Veränderung und der Sinnlichkeit, was den Glauben an den grundsätzlichen Wert des Daseins einschließt. Demgegenüber steht die Jenseitigkeit für die Konzentration auf das Eine hinter aller Vielheit und für die Konzeption des wahrhaft Guten als dieser Welt radikal entgegengesetzt, sodass das Gute »nicht von dieser Welt« zu sein scheint, sie selbst aber tendenziell als Trugbild erscheint. Bei dieser Konfliktlinie, die Lovejoy den tiefsten Zwiespalt der Religionsgeschichte nennt, stand Platon zu gleicher Zeit in beiden Lagern westlichen Denkens. Was Lovejoy hier für den Platonismus skizziert, lässt sich auf den Hermetismus übertragen, da dieser Problemaufriss in nuce die unauflösliche Widersprüchlichkeit der Texte des Corpus Hermeticum selbst beschreibt. Auch das Christentum kennt beide Positionen und eine breite Variationsbreite zwischen den Extremen. Aus diesem Grund erscheint die zunächst philologisch mühsame Zuspitzung sinnvoll, detailliert danach zu fragen, was genau in welchen Kontexten rezipiert wurde. Zu Platon Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Übersetzt von Dieter Turck. Frankfurt a.M. 1985 (Harvard 1936), S. 37 ff.



Kulturelle Narrative und frühneuzeitliche Konfliktfelder

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wickelt, sondern zunächst Problemfelder skizziert werden, auf denen die rein philologische Rezeption des Corpus Hermeticum Anschlusspunkte für alternative Sinngebungen ermöglicht. Erst danach lassen sich Eckpunkte des Gegenstands für einen konkreten historischen Diskurs umreißen. So kennen die Texte des Corpus Hermeticum bereits keinen Mittler zwischen Gott und Mensch, wohl aber einen »Sohn Gottes«, nur ist der in diesem Fall der Kosmos.14 Rezeptionsgeschichtlich gewinnt diese Differenz etwa dann höchste Signifikanz im Säkularisierungsprozess, wenn sie einerseits die Natur als Ort der Begegnung mit dem Numinosen sakralisiert, andererseits dagegen die christliche Heilsgeschichte historisiert und sie als mythologisches Narrativ beschreibbar macht, das in allen seinen Motiven bis hin zu Leiden, Tod und Auferstehung des göttlichen Sohns in Bezug zu vorchristlichen Mythologemen und damit als Kulturgeschichte, nicht mehr als Heilsgeschichte gelesen werden kann.15 Der am häufigsten rezipierte Text, der erste Traktat Poimandres, enthält einen Schöpfungsmythos, der einerseits in den Motiven der Erschaffung des ersten Menschen oder der weltschöpferischen Rolle des Logos zu Gen 1 und Joh 1,1 in Beziehung gesetzt werden kann, jedoch im Vergleich zu Gen 1 auch signifikante Systemstellen der Geschichte anders erzählt. Ohne das ganze Phänomen »Hermetismus« auf einen einzigen Text des Corpus Hermeticum reduzieren zu wollen, lassen sich doch im exemplarischen Vergleich der zwei für die kulturelle Wirkungsgeschichte prägenden Grundmythen verschiedene Problemfelder identifizieren, auf denen

14 CH IX, 8 (CHD I, S. 89), auch Kemper: Deutsche Lyrik 4/1, S. 60; Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 49 ff. 15 So etwa bei Johann Christian Edelmann, einem eifrigen Leser Johann Conrad Dippels und Autor des Übergangs vom radikalen Pietismus zur Aufklärung: »Die Allerältesten unter den Heyden hatten dißfalls weit vernünfftigere Gedancken als wir, die wir uns weit über sie hinaus zu sehen düncken lassen. Denn wenn sie GOtt einen Sohn zuschrieben, so verstunden sie keineswegs unter diesem Nahmen ein solch klein Bißchen von der Welt, wie der elende Mensch ist, sondern die gantze Welt selber hieß bey ihnen ein Sohn GOttes, wie wir lesen könen in den Schrifften, die wir noch dato unter dem Nahmen hermetis trismegisti besitzen, beym patricio […]. Da mögen wir nun diese Schrifften vor eine ächte Geburt des Egyptischen hermetis, oder vor so genannte gottselige Betrügereyen der ersten Christen erklähren, so werden wir im ersten Fall zum wenigsten darinnen von den Heyden beschämet, daß sie sich weit würdigere Gedancken von einem Sohne GOttes gemacht, als wir: Auf den andern Fall aber sehen wir deutlich, daß die ersten Christen an die Vergötterung des Fleisches Jesu noch mit keinem Worte gedacht.« Johann Christian Edelmann: Abgenöthigtes Jedoch Andern nicht wieder aufgenöthigtes GlaubensBekentniß. Hg. v. Walther Grossmann. Stuttgart-Bad Cannstadt 1969, S. 134 f. Zur Kontextualisierung mit vorchristlichen Mythen ebd., S. 194.

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die historisch lokalen Auskristallisierungen des hermetischen Diskurses in der frühen Neuzeit zu suchen sind.16 Es gibt im hermetischen Mythos keine Creatio ex nihilo, sondern stattdessen eine Weltschöpfung per Emanation (CH I, 8/9). Im Gegensatz zur biblischen, in der christlich-jüdischen Tradition als konstitutiv gewordenen Trennung zwischen Gott und Welt, symbolisiert bereits im Bild Jahwes, der Sonne und Mond als Laternen an das Himmelsgewölbe setzt (Gen 1,17), besteht im hermetischen Text keine ontologische Differenz, sondern ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf (CH I, 12).17 Der Gott des Corpus Hermeticum, der sich wie der christliche Gott »Vater« nennt, ist das Unsichtbare und das Sichtbare, das Eine, das alles gebiert und die Vielfalt der sichtbaren Welt, in der sich das Eine ausdrückt (CH V, 9). Dieser All-Einheitsgedanke, der in der frühen Neuzeit unter dem Begriffen Omnia-unum und Hen kai pan verhandelt wird, verbindet sich in der Rezeption mit der stoizistischen Logoslehre und dem im platonischen TimaiosDialog entfalteten Weltseelegedanken und bildet die Grundlage für Vorstellungen wie die Kette der Wesen, die die gesamte Schöpfung in abgestufter Geistigkeit an den Schöpfer rückbindet oder des Alls in Einem, wie es am prominentesten in der Mikrokosmos-/Makrokosmos-Lehre zum Ausdruck kommt. Dieses platonische Motiv unterläuft die in der christlichen Tradition prägend gewordene Trennung zwischen Geist und Materie, die sich auf die Differenzierung zwischen Forma und Materia bei Aristoteles stützt, prominent in Thomas von Aquins Charakterisierung Gottes als Actus purus formuliert und im 17. Jahrhundert in der Sub­stanzentrennung René Descartes’ in verändertem Kontext fortgeschrieben wird.18 Demgegenüber tritt die hermetische Vorstellung eines ubiquitären geistigen Vitalprinzips, das sich materialisiert, als omnipräsentes Leben manifestiert und dessen ewige Bewegung Ausdruck der Schöpferkraft des ubiquitären göttli-

16 Dabei impliziert die Vorstellung des Grundmythos ausdrücklich das Moment der Rezeption und Wirkungsgeschichte; Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 192. 17 Die Begriffe, die das Schaffen Gottes in der Genesis umschreiben, beschreiben entweder einen autonomen performativen Sprechakt oder entstammen dem Bereich des Handwerks bzw. der Technologie, womit die Genesis als expliziter Gegenmythos zur Mythenwelt des vorderorientalischen Raums erscheint, in der Gott die Welt zeugt, gebiert oder aus sich entstehen lässt. Die ontologische Trennung zwischen Gott und Welt, wie sie für die jüdisch-christliche Kultur prägend wurde, ist bereits hier festgeschrieben. John A. Philipps: Eva. Von der Göttin zur Dämonin. Stuttgart 1987 (Eve. History of an Idea. San Francisco 1984), S. 23. 18 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I, q3 a2 c; q14 a2, zit. n. Jean-Luc Marion: The Idea of God. In: The Cambridge History of Seventeenth Century Philosophy. Hg. v. Daniel Garber u. Michael Ayers. Bd. I. Cambridge 1998, S. 265–303. Der Jesuitenschüler Descartes führte Thomas’ Summa übrigens als einziges Buch neben der Bibel auf seinen Reisen immer mit sich (ebd., S. 266).



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chen Geistes ist (CH I, 6, 21, XI, 13, XII, 15 u. XIV, 10). Nicht nur Giovanni Pico della Mirandola identifiziert diesen Begriff des Lebens als Quintessenz hermetischen Denkens. Er wird für Anhänger der philosophischen wie der praktischen Hermetica ein Kristallisationspunkt der Kritik am Aristotelismus und Ausgangspunkt der Idee einer letztlichen Einheit der Welt, den in diesem Punkt so unterschiedliche Texte wie die pseudonymen alchemistischen Gedanken des ›Basilius Valentinus‹ zu Mikro- und Makrokosmos und die philosophischen Schriften Giordano Brunos teilen.19 Die Vorstellung der Geistdurchwirktheit auch der sinnlichen Welt fungiert darüber hinaus nicht nur als Folie für eine sukzessive Aufwertung des Diesseits, sie bildet auch die Grundlage für Vorstellungen über die Partizipation der materiellen Form am Ausdruck des göttlichen Geistes, wie sie in der Signaturenlehre, der Kabbala und anderen Formen magischer (Schöpfungs-)Hermeneutik konzipiert ist. Implizite Differenzen des Omnia-unum-Gedankens zum christlichen Sinnsystem bestehen in der vollständig abweichenden Interpretation des Todes und einem anderen Zeit- und Raumverständnis: Nach Hermes ist der individuelle Tod kein furchterregender »Sensenmann«, ebenso ist die Vorstellung eines »ewigen« Todes schlicht nicht existent, sondern der individuelle Tod, so erläutert er seinem Kind, ist nichts weniger als eine Illusion, eine perspektivische Täuschung angesichts des ewigen Werdens (CH XII, 16–20). In der ewigen Verwandlung seiner Teile ist der Kosmos als Ganzes dagegen so unsterblich wie die Seele, womit letztlich nichts verloren oder vernichtet werden kann. Analog zur platonischen Differenzierung zwischen dem Sein und dem Werden bietet diese Vorstellung nicht nur eine grundlegend andere Antwort als alle christlichen Kirchen auf eine der existenziellsten menschlichen Grundfragen, der nach der eigenen Sterblichkeit, sie tangiert auch die Grundfesten des christlichen Raum-Zeit-Kontinuums: Die Ideen eines Weltendes, eines Jüngsten Gerichts, Himmel und Hölle verblassen ebenso wie das wirksamste Disziplinierungsinstrument über Jahrhunderte, die Vorstellung der ewigen Höllenstrafen. Dieser Punkt, der in der Renaissance nicht nur von Giovanni Pico, sondern auch von Giordano Bruno als Befreiung von der Furcht bezeichnet wurde,20 wurde im Artikel 17 der Confessio Augustana (1530) explizit verworfen. Der Konflikt zwischen diesen konträren Deutungen entfaltete seine kulturgeschichtliche, spannungsgeladene Dynamik in der Origenis-

19 ›Basilius Valentius‹: De Microcosmo – De macrocosmo. In: Scherer (Hg.): Alchymia, S. 277– 306; Giordano Bruno: Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen. Hg. v. Paul Richard Blum. Hamburg 1993, S. 34 ff. 20 Giordano Bruno: Über das Unendliche, das Universum und die Welten. Hg. v. Christiane Schultz. Stuttgart 1994, S. 24.

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Debatte und im Streit um die Apokatástasis pánton, die das pietistische Ehepaar Johann Wilhelm (1649–1726) und Johanna Eleonora Petersen, geb. von und zu Merlau (1644–1724) ab dem Jahr 1699 – zunächst anonym – initiierte und die über Gottfried Wilhelm Leibniz literarisch in Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias (1748–1773), Christoph Martin Wielands Lehrgedicht Die Natur der Dinge (1751), Friedrich Hölderlins Hyperion (1797/1799) bis zu Goethes Faust II (1832) ihren Niederschlag fand.21 Auf Seiten der kirchlichen Argumentation dagegen ist die Argumentation des Kirchenvaters Augustinus von Hippo (354–430) zur körperlichen Auferstehung und zur ewigen Verdammnis auch nach über 1000 Jahren um 1700 nahezu unverändert gültig, wie nicht nur die Debatte um die Allversöhnung, sondern auch Colbergs Bekräftigung der augustinischen Autorität gegenüber Böhme zeigt.22 Augustin entfaltete seine Theorie über die Ewigkeit der Höllenstrafen in engem Verbund mit seiner diskursmächtig gewordenen Sichtung allen paganen Wissens, die auch bei der Häretisierung der hermetischen Texte entscheidendes Gewicht hatte. In De civitate Dei erklärt Augustinus eine Reihe an Topoi zur Häresie: die Ewigkeit und Anfangslosigkeit der Welt (da sie dann nicht mehr geschaffen wäre), die Ewigkeit der Seele, woran Colberg ausdrücklich wieder erinnert,23 die origenistische Weltschöpfungs- und Erlösungslehre, die philosophische Weltkreislauflehre sowie die Vorstellung von Weltzeitaltern.24 Diesen zyklischen Vorstellungen setzt Augustinus ein lineares Zeitkonzept entgegen: Die Welt wurde in einem performativen Sprechakt aus dem Nichts erschaffen, besteht seit 6000 Jahren, erlebte mit dem einmaligen Sterben Jesu für die sündige Menschheit eine weltgeschichtliche Zeitenwende und wird genau bis zum jüngsten Gericht, der Wiederkunft Christi in Person des Weltenrichters, bestehen.25 Dieses Ende ist nach der Offenbarung des Johannes als leibliche Auferstehung im Jüngsten Gericht perspektiviert, der eine ewige, leibliche Existenz entweder

21 Dieter Breuer: Origenes im 18.  Jahrhundert. In: Seminar 31 (1985), H.  1, S. 1–30; ders.: Der bekräfftigte Origenes – Das Ehepaar Petersen und die Leugnung der Ewigkeit der Höllenstrafen. In: Titzmann (Hg.): Heterodoxie in der Frühen Neuzeit, S. 413–424. 22 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum II, S. 156 ff. u. 159 ff.; Aurelius Augusti2 nus: Vom Gottesstaat. 2 Bde. Übersetzt von Wilhelm Thimme. München/Zürich 1978, S. XXI; zu Colbergs Böhmekritik auch Friedrich Vollhardt: Die Theosophie Jakob Böhmes und die orthodoxe Kritik. In: Härle/Mahlmann-Bauer (Hg.): Prädestination und Willensfreiheit, S. 167–178. 23 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum II, S. 159. 24 Augustinus: Vom Gottesstaat, XI,4 u. XII,11 25 Ebd., XII,14. Die Deutung der Zeitenwende fußt auf der paulinischen Geschichtstheologie von Gesetz und Evangelium, wie sie insbesondere im Brief an die Römer entfaltet ist (Röm 7,6). Siehe auch Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 585 ff.



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im Himmel oder in der Hölle folgt. Augustinus’ Motiv für sein hartnäckiges Verfechten einer einmaligen irdischen Existenz, an der ihm gegenüber Origenes so viel lag, dass er den Zweiflern an der Ewigkeit der Höllenstrafen sogar »falsches Mitleid« unterstellte,26 liegt in seiner Deutung der irdischen Existenz: Das irdische Leben malte Augustinus als so überschattet von der Last der Erbsünde, dass ihm die Vorstellung einer erneuten Geburt in die fehlbare Sterblichkeit unerträglich erschien, unerträglicher sogar als die Inkaufnahme einer ewigen Verdammnis der Sünder im Jenseits.27 Für die christliche Diskursgeschichte exemplarisch und folgenschwer überkreuzt seine Argumentation damit das Thema des natürlichen Todes mit dem ganzen Gewicht der Erbsünde: Sterblich und fehlbar durch Adams Fall, perpetuiert in der ›fleischlichen‹ Liebe der Sexualität, ist der Mensch vom Mutterleib an der Last der Sünde unterworfen;28 seine Sterblichkeit ist damit gerade nicht Ausdruck eines Naturgesetzes, geschweige denn, wie bei Hermes, eine Geburt zu neuem Werden, sondern der Tod (der irdische wie der ewige) ist die Strafe Gottes für Adams Geschlecht, die diesem aufgrund eigener Sündenschuld auferlegt wurde.29 Zwar kennen auch die hermetischen Texte den pessimistischen Blick auf den irdischen Körper und die diesseitige Welt (CH IV, 6 u. VI, 3), auch der hermetische Schöpfungsmythos erklärt die irdische Sterblichkeit als Folge des Falls, aber in

26 Augustinus: Vom Gottesstaat, XXI,17. 27 Ebd., XIX,4 u. XXI,14. Auch Colberg erinnert an den Schriftbeleg, dass gewisse Sünden in Ewigkeit nicht vergeben werden können (Mk 3,29); Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum II, S. 129. 28 Demgegenüber kennt das Corpus Hermeticum sogar die Vorstellung der Unschuld Neugeborener: CH X,15. 29 Augustinus: Vom Gottesstaat, XIII, bes. 6 u.15: »So ist es unter Christen, die am wahrhaft katholischen Glauben festhalten, eine ausgemachte Sache, daß auch der leibliche Tod dem Menschen nicht durch Naturgesetz auferlegt ist […], sondern auf Grund eigener Sündenschuld.« Augustins Erbsündenlehre, die neben der Interpretation des Todes als Strafe noch die Korruption des menschlichen Willens und die Zuspitzung der Sünde auf Sexualität beinhaltete, fußt auf einigen gegenüber dem Frühchristentum entscheidenden Akzentverschiebungen in der Exegese des Römerbriefs, die für die damalige Zeit historisch neu waren, für die weitere Ideengeschichte des Christentums jedoch in allen großen Konfessionen kanonisch geworden sind. Elaine Pagels: Die Natur der Natur. In: Dies.: Adam, Eva und die Schlange, S. 261–304. Zu Augustinus und Origenes bezüglich der Sterblichkeit auch Helmut Zander: Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute. Darmstadt 1999, S. 137 ff. Die mit der Durchsetzung von der ewigen Verdammnis einhergehende Häretisierung der Vorstellung einer Apokatástasis pánton, der endzeitlichen Allversöhnung, erforderte, gemessen an der Anzahl kirchlicher Bannsprüche, einen hohen Aufwand: Diese Position wurde nicht weniger als dreimal in den Jahren 400, 543 und 553 »verdammt« (Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit, S. 26).

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signifikanter Differenz zum biblischen Schöpfungsmythos ist dieser Umstand dort nicht mit dem Themenkomplex der Schuld bzw. Sünde konnotiert; die Vorstellung von ewiger Verdammnis ist unbekannt. Da sich der Fall in der hermetischen Schöpfungsgeschichte gerade mit dem Segen des Vaters ereignete (CH I, 13, 18), findet der ganze, für das Christentum identitätsstiftende Komplex der Übertretung eines göttlichen Gebots, Sünde, Zorn und Strafgerechtigkeit Gottes keine Grundlage.30 Was zunächst als graduelle Differenz erscheint, gewinnt in Bezug auf die Auslegungstradition eines religiösen Gründungsmythos kulturgeschichtlich prägendes Gewicht: Wo kein zorniger Gott versöhnt werden muss für den Fehler eines Einzelnen, der eine abgrundtiefe Versündigung des Menschengeschlechts nach sich zieht, entfällt die logische Grundlage für einen sühnenden Opfertod eines einzelnen, der als allein von der Erbsünde ausgenommener Gottessohn die Erlösung mit seinem Blut vom eigenen Vater zu erwirken vermochte.31 Diese Deutung des Kreuzestod Jesu allerdings ist der Kern der paulinischen Kreuzestheologie nach Röm 3,21–26 und Röm 5,9 und gleichzeitig zentrale Denkfigur in Luthers Rechtfertigungslehre.32

30 Assmann: Moses der Ägypter, S. 281 f. 31 Zur Wirkungsgeschichte dieses zentralen Motivs von den ›Heiligen Kriegen‹ des Mittelalters über die Kirche im dritten Reich bis zu christlichen Fundamentalismen der Gegenwart Herbert Koch: Der geopferte Jesus und die christliche Gewalt. Düsseldorf 2009. 32 Kulturgeschichtlich zeigt der im 17. Jahrhundert im Pietismus aufflammende Streit um den Origenismus die Sprengkraft, die der Zweifel am »zornigen« Gott und den ewigen Höllenstrafen – die gerade Augustinus trotz des Sühnopfers Jesu wieder ausführlich legitimiert – nach sich ziehen konnte: Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 573 ff.; Marcus Meier: Der bekräfftigte Origenes. Origenesrezeption im radikalen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 31 (2005), S. 137–151; Markus Matthias: Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahr 1692. Göttingen 1993; Daniel P. Walker: The Decline of Hell. London 1964. – Wie mächtig die Drohung der ewigen Höllenstrafen und des unversöhnlichen Gottes noch in kirchlichen Kreisen im späten 18. Jahrhundert ist, spiegelt Friedrich Nicolais satirischer Aufklärungsroman Sebaldus Nothanker (1773–1776), in dem eine abweichende Haltung von den symbolischen Büchern die Vernichtung der bürgerlichen Pfarrersexistenz nach sich zieht: »Stauzius fuhr ihn in unbeschreiblicher Wut an: ›Ob er die Ewigkeit der Höllenstrafen glaube?‹ Sebaldus antwortete ganz gelassen: ›Er glaube nicht, daß es Menschen gezieme, der Güte Gottes Maaß und Ziel zu setzen.‹ ›Sie sehen, meine Herren‹, redete der äusserst aufgebrachte Superintendent die anwesenden an, ›daß dieser gottlose Mann in den Grundlehren des Glaubens irrig ist, und schändlich umstürzende Irrthümer behauptet, ich trage also darauf an, daß er unverzüglich seines Amtes entsetzt werde, damit er die Seelen der ihm anvertrauten Herde nicht ferner in Gefahr bringe.‹« Friedrich Nicolai: Sebaldus Nothanker. Hg. v. Bernd Witte. Kritische Ausg. Stuttgart 1991, S. 34; weiterführend Marcus Twellmann: Klerikalmoden. Historische Dogmenkritik in F. Nicolais ›Sebaldus Nothanker‹. In: Das achtzehnte Jahrhundert 33 (2009), S. 60–78. Ähnlich spiegelt das Dilemma Johann Wolfgang Goethe: Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** (1772). In: Ders.: HA 12, S. 228–239, hier S. 230.



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Im Gegensatz zur christlichen Vorstellung eines einmaligen Weltendes deuten die hermetischen Texte Erlösung als individuell zu erbringende Umkehr, als Aufstieg, Selbsterkenntnis, Vergottung oder Wiedergeburt (CH I, 21 u. 26, X, 15 u. XIII). Keinem Topos wurde in der kulturellen Imagination des Hermetismus mehr Aufmerksamkeit zuteil als diesem, da er erstens dem biblischen Verbot des ›eritis sicut Deus‹ geradezu kontrapunktisch entgegengesetzt scheint und zweitens die komplexe Debatte um die Willensfreiheit tangiert.33 Während die Genesis-Erzählung das Streben nach Erkenntnis und Gottgleichheit zur Ursünde des Menschengeschlechts erklärt, bezeichnet der hermetische Schöpfungsmythos die Rückkehr in einen prälapsarischen Urzustand über den Weg der Selbsterkenntnis sogar als Ziel der menschlichen Existenz, wobei Gott Erkenntnis und Selbsterkenntnis, ja sogar die christliche Erzhäresie der »Vergottung« seinen Geschöpfen nicht nur nicht verbietet, sondern sie sogar ausdrücklich wünscht (CH I, 21, 26 u. 31). Allerdings weiß der hermetische Mythos, der keine Strafe Gottes kennt, auch nichts vom Heil ab extra ›ohne Verdienst‹ (Röm 3,24). Er akzentuiert damit ein voluntaristisches Konzept in der Frage nach Heil und betont gegenüber der erbsündlichen Korruption des Willens, die im Anschluss an Augustinus besonders in der Sola gratia Theologie Luthers zentral ist, in singulärer Weise die Eigenverantwortung und Mitgestaltung des Subjekts in der zentralen Frage nach dem Seelenheil. Dieses ist auch weder wie im Calvinismus durch Prädestination vorherbestimmt, noch wie im Katholizismus von einem mystischen Kirchenverständnis abhängig. Im Akzent auf der individuellen Rückkehr bieten die hermetischen Texte Schnittflächen für viele Formen der christlichen Mystik, unterlaufen jedoch jede Form von Stellvertretertum von der christologischen Doktrin des stellvertretenden Heilshandelns Christi (Röm 3,25–26 u. 5,18–19) bis zur katholischen Konzeption des Papstamtes. Dieses Heilskonzept, wie es im Corpus Hermeticum individualpsychologisch und in den alchemistischen Texten im Blick auf die Transformation der Welt konturiert ist, impliziert nichts weniger als die Perfektibilität von Mikro- und Makrokosmos, konzipiert allerdings nicht als innerweltlicher Fortschritt, sondern als Restitutio, als Rückschöpfung in den reinen Urzustand mit der Billigung Gottes. Ein letztes Spannungsfeld, das in Einzelanalysen ausgemessen werden soll, umfasst die Konsequenzen aus der Interpretation der Schöpfung als Selbstentäußerung Gottes in drei Aspekten, die in der Auslegungstradition topologisch verschränkt sind und bereits jeweils für sich eine Überschreitung christlicher

33 Womit sich Schnittpunkte zur Debatte um den Pelagianismus ergeben. Etwa Jens Wolff: Selbsttätigkeit und Freiheit bei Johann Georg Walch. In: Härle/Mahlmann-Bauer (Hg.): Prädestination und Willensfreiheit, S. 237–253, hier S. 247 f.

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Dogmenbestände darstellen, nämlich die ontologische Aufwertung der Natur, analog der Materie durch die polare, nicht dualistische Konzeption von Geist und Materie sowie damit einhergehend des Weiblichen bis hin zur Integration eines weiblichen Prinzips in Gott. Mit Ausnahme von Kempers kurzer Erwähnung der Zweigeschlechtlichkeit Gottes34 reflektiert noch kein Forschungsansatz zur Gegenstandsbestimmung des Hermetismus, wie sehr die Kristallisationspunkte der Schöpfungstheologie und der Trinitätslehre, die durch die Neubewertung der Natur und der Materie entstehen, um den Aspekt des Weiblichen ergänzt werden müssen. Nicht nur wird die Natur durch alle Jahrhunderte hinweg als weiblich personifiziert; die diskursmächtige jüdisch-christliche Kultur verschränkt auch seit den Tagen des Alten Testaments in identitätsstiftender Weise den Ausschluss der Verehrung göttlicher Kräfte in der Natur35 mit dem Ausschluss einer weiblichen Qualität in Gott,36 wobei die Konstitution jener Exklusionsidentität37 traditionsbildend für den Ausschluss von Frauen vom symbolischen Kapital dieser Kultur wurde.38 Hier eröffnet sich am Vollkommenheitsideal der Androgynie, wie es im hermetischen Schöpfungsmythos sowie im alchemistischen Lapis philoso-

34 Kemper: Deutsche Lyrik 4/1, S. 60. 35 Zur sprichwörtlichen Eifersucht Jahwes, die in der Metaphorik des »Ehebruchs« Israels versprachlicht wird und letztlich die Angst vor naturreligiösen Kulten beschreibt exemplarisch 5 Mos 12,2; Jer 3,6 u. 17,2–3; Hos 2,13; Am 5,26. Diskursmächtig im Neues Testament identifiziert der Apostel Paulus die Verehrung des Schöpfers im Geschöpf als heidnisch und als schuldhaftes Verkennen Gottes (Röm 1,18–26). Darin ist ihm die Auslegungstradition gefolgt. 36 Einsicht in die Motive des Volkes Israel für die Verehrung einer ›Himmelskönigin‹ und deren rigorose Ablehnung durch den Propheten bietet unvergleichlich Jer 44. Interessanterweise handelt es sich bei diesen Motiven um das von Frauen wie von Männern artikulierte Gefühl des Umsorgtwerdens durch gute Ernten und ein Leben in Frieden. Zum kulturgeschichtlichen Kontext und dem Fortleben ideengeschichtlicher Restbestände in der esoterischen Tradition der Kabbala 3 Raphael Patai: The Hebrew Goddess. Detroit 1990. 37 Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin 2006, S. 220. 38 Auf der Ebene der Symbolsprache und der Volksfrömmigkeit repräsentiert die Marienfigur natürlich die göttliche Mutter, doch ist sie dogmatisch sehr sorgfältig nicht als eigenmächtige göttliche Kraft konzipiert. Im Katholizismus wie im Protestantismus wird der göttliche MutterAspekt dagegen auf die Kirche übertragen. Hinzu kommt gerade im frühneuzeitlichen Protestantismus die radikale Einschränkung der Marienverehrung und die Transformation der spätmittelalterlichen Himmelskönigin in die Figur der gehorsamen Magd. Zur frühneuzeitlichen Wirkungsgeschichte Beth Kreitzer: Reforming Mary. Changing Images of the Virgin Mary in Lutheran Sermons of the sixteenth Century. Oxford 2004; Bridget Heal: The Cult of the Virgin Mary in Early Modern Germany. Protestant and Catholic Piety, 1500–1648. Cambridge 2007. Zu Kontext und Genese der Mariendogmen im katholischen Raum Christa Mulack: Maria. Die geheime Göttin im Christentum. Stuttgart 1985.



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phorum an zentralen Systemstellen gedacht ist, ein Deutungsmuster für Ausdifferenzierungen des prägenden christlichen Narrativs, die als machtkritisch und damit als häretisch wirken konnten. Vergleichbar zu platonischen Schöpfungsmythen39 schildert der hermetische Schöpfungsmythos den göttlichen Geist sowie den kosmischen Urmenschen als androgyn (CH I, 15), den Fall dagegen als Verlust der Androgynie. Die narrative Einbindung des Topos der Androgynie zur Schilderung von göttlicher Vollkommenheit eint verschiedenste esoterische Strömungen von der frühchristlichen Gnosis über die jüdische Kabbala bis zu Böhmes Theosophie, umgekehrt kennzeichnet die kanonisch gewordene Auslegungstradition eine einseitige Privilegierung des Männlichen. Mit der größten erzählerischen Sorgfalt kodiert insbesondere der zweite biblische Schöpfungsmythos (Gen 2,4b–3,24) in der Geschichte des Falls eine kulturprägend gewordene Hierarchie, nämlich eine Dominanz des männlichen Prinzips über das weibliche als gottgewollt, beginnend mit der reinen Maskulinität Gottes, »des Herrn«, über die in ihren Auswirkungen gar nicht zu überschätzende Stilisierung der Frau zum Einfallstor der Sünde bis hin zum göttlichen Fluch über die Erde. So sehr die Topoi des ersten Schöpfungsberichts der Gottebenbildlichkeit und der Schöpfung als Mann und Frau (Gen 1,27) auch Anschlusspunkte für die christliche Imagination darstellten, die diskursmächtige Auslegungstradition errichtete von den Apostelbriefen über die Kirchenväter bis zu den Theologen der Neuzeit auf der zweiten Erzählung die Grundfesten eines Theoriegebäudes, das die Interpretation von Schöpferkraft als Zusammenspiel polarer Prinzipien ausschloss und diese einseitig von der Natur zum »Herrn« und vom Weiblichen zum Männlichen verlagerte.40 Spiegelbildlich zur Konnotation des Männlichen mit dem Geistigen und Schöpferischen verengte sich der Sündenbegriff auf kulturprägende Weise auf die Sinnlichkeit,41 was von den Kirchenvätern bis zum Hexenhammer das Weibliche mit der Typologie des Sündigen, des »Fleischlichen«, also Sexuellen und Materiellen sowie des Teuflischen verband.42 Die Betonung der prälapsarischen Zweigeschlechtlichkeit Adams

39 Platon: Symposion, 189c–191d; Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 208 ff. 40 Zu den frühchristlichen Konfliktlinien, die anhand von Interpretationsdifferenzen der Genesis ausgetragen wurden Elaine Pagels: Gnostische Improvisationen über dem Buch der Schöpfung. In: Dies.: Adam, Eva und die Schlange, S. 133–169. 41 Bereits im 1. Jahrhundert in der platonisierenden Genesis-Allegorese Philo von Alexandriens; Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 223; Harry Austryn Wolfson: Philo. Foundations of Religious Philosophy in Judaism, Christianity and Islam. 2 Bde. Cambridge 1947. 42 Mit einer einschlägigen Aufzählung biblischer und patristischer »Autoritäten« Jakob Sprenger/Heinrich Institoris: Der Hexenhammer/Malleus maleficarum. Hg. v. J. W. R. Schmidt. Mün7 chen 1987, S. 98 f. Eine weitere Fülle an Belegen in Philipps: Eva, S. 61 ff.

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und die Deutung der Erschaffung Evas (Gen 2,22) als deren Verlust, wie sie etwa Jakob Böhme vornimmt, ist damit trotz Vorbilder in der patristischen Tradition so lange nicht als intellektuelle Leistung in einer spezifischen frühneuzeitlichen Problemkonstellation zu erkennen, so lange nicht das Gewicht berücksichtigt wird, das die diskursmächtige Tradition auf die reine Männlichkeit Adams und die explizit als naturwidrig gezeichnete, aus dem Mann abgeleitete Existenz Evas legt, die Luther treffend mit der Übersetzung »Männin« wiedergab.43 Der Mann ist seither »Gottes Bild und Abglanz; die Frau aber ist des Mannes Abglanz«, wie Paulus im ersten Korintherbrief bestimmt, »denn der Mann ist nicht von der Frau, sondern die Frau von dem Mann.« (1 Kor 11,7–8) Diese Festschreibung einer Hierarchie zwischen geschlechtlich kodierten Prinzipien aufgrund einer prononciert gegen alle natürlichen Schöpfungsgesetze konzipierten Kosmologie dient nicht nur zur Begründung der Überlegenheit des biblischen Gottes über alle anderen Götter, sie dient im ersten Thimotheusbrief folgerichtig auch zur Begründung des Schweigegebots für Frauen als gottgewollt (1 Tim 12–13). Die Deutung des Mikrokosmos aber spiegelt, auch kulturwissenschaftlich gesehen, die des Makrokosmos: Die Verengung des Einen auf das ausschließlich Transzendente und Geistige, das in rein männlicher Metaphorik versprachlicht wird, setzt sich in die Negierung eines weltimmanenten und/oder weiblichen Ausdrucks des Geistes fort. Sie manifestiert sich im Kampf gegen jede Form von Naturverehrung, die die Erde als mütterlichen Ausdruck des Geistes zu deuten vermag, wie gerade Augustinus in seiner Bestandsaufnahme des zu verwerfenden paganen Wissens ausführlich darlegt.44 Dieses Spannungsfeld kehrt in der frühen Neuzeit wieder, wenn im Zuge der Platonismusrezeption des Humanismus wieder das Konzept der Weltseele und im Zuge der Ars Hermetica der Alchemie auf Vorstellungen einer geistigen Prima materia oder sogar der Erde als großer Mutter, der Coincidentia Oppositorum oder der Vermählung von Rex und Regina im Opus magnum zurückgegriffen wird.45 Es wird damit exemplarisch nach der sprichwörtlichen Arbeit am Mythos zu fragen sein, und zwar spezifisch am Gründungsmythos der Genesis, die dieses Spannungsfeld spiegelt. In Teilen der christlichen Tradition lassen sich nämlich durchaus Anknüpfungspunkte für eine biblische Verankerung des Androgyniemotivs finden: Über Joh 1,1–3, Spr 8,22–30 und Sir 24,3–9 lässt sich traditionell

43 Von hebr. isch, – ischàh, Vulgata: vir, – virago 44 Augustinus: Vom Gottesstaat, VII, 23–26. 45 Allison Coudert: Der Stein der Weisen. Die geheime Kunst der Alchimisten. Bern/München 1982 (1980), S. 152; Joachim Telle: Sol und Luna. Literar- und alchemiegeschichtliche Studien zu einem altdeutschen Bildgedicht. Mit Text- und Bildanhang. Hürtgenwalt 1980.



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der Logos mit der Weisheit Gottes als Grund, in dem die Welt erschaffen wurde, engführen,46 womit auch die Begründung einer Androgynie Christi als des zweiten Adams biblisch herleitbar wird. Die Rede von der Weisheit als dem eingeborenen Sohn Gottes dient bei Augustinus z. B. der Verankerung des christlichen Trinitätsbegriffs im hebräischen Schöpfungsbericht47 und damit der Verklammerung von Neuem und Altem Testament. In traditioneller Rede verschwindet die Weisheit als Hypostase allerdings hinter der Männlichkeit des Sohns – so kennt z. B. einer der größten Sophien-Mystiker des Mittelalters, Heinrich Suso (Seuse) (1295–1366), die ewige Weisheit im Horologium Sapientiae vor allem als »Herr und Bruder«.48 Umso größer ist der Bruch, wenn in der spiritualistischen GenesisAllegorese zwischen dem göttlichen Sohn und der Sophia wieder differenziert wird, die hier nicht mehr die Erde ist, sondern eine eindeutig weiblich und personal gezeichnete göttliche Entität. Im Gegensatz zu Maria hat Sophia in den biblischen, und damit im protestantischen Kulturraum dogmatisch kanonischen Schriften eine Funktion in der Kosmogonie, die von der apersonalen Metaphorik des »Hauchs« oder »Spiegels« (Sap 7,25–26), die von Böhme aufgegriffen wurde, bis zum personalen Sein beim Herrn »von Anbeginn her« (Spr 8,22) reicht. Da die Weisheit in Spr 8,24 auch am Beginn der Schöpfung bereits über der »Tiefe« und den »Wassern« anwesend ist, ergibt sich eine weitere Verbindungsmöglichkeit zum Heiligen Geist nach Gen 1,2, dessen hebräischer Name ›ruach‹ dem grammatikalischen Geschlecht nach weiblich ist. Über die philologisch mögliche Engführung der Sophia mit dem Logos, der Weisheit mit dem Sohn, bildet sich eine Schnittfläche für Reintegrationsmöglichkeiten des verdrängten Weiblichen oder der Schöpferkraft der Natur in die Erzählung von der Schöpfung, die dann als androgyner Differenzierungsprozess lesbar wird, was zeitgenössischen Urteilen als ›hermetisch‹ oder ›gnostisch‹ zu identifizieren war.49 Das spezifisch Häretische lag aus diskurstheoretischer Sicht dabei nicht nur in der Gefahr des ›Naturalismus‹, der, in Bezug auf Spinozas Konzept der Natura naturans, als philosophische Form des Atheismus gefürchtet wurde,50 es lag auch in der Eröffnung einer Legitimationsgrundlage für weibliche Autorschaft und

46 Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 213. So ebenfalls bereits seit Philo von Alexandrien, einem Zeitgenossen Jesu, ebd., S. 221; Elisabeth Schüssler Fiorenza: Auf den Spuren der Weisheit. Weisheitstheologisches Urgestein. In: Auf den Spuren der Weisheit. Sophia – Wegweiserin für ein weiblichen Gottesbild. Hg. v. Verena Wodtke. Freiburg i. Br./Basel 1991, S. 24–40, hier S. 28. 47 Augustinus: Vom Gottesstaat, XI, 24. 48 Johanna Lanczkowski (Hg.): Mystische Texte des Mittelalters. Stuttgart 1999, S. 223. 49 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum II, S. 90. 50 Israel: Radical Enlightenment, S. 4.

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Umgehung des paulinischen Gebots im tabuisierten Bereich der Theologie. Deutlicher noch als in der Literatur des Humanismus, die aufgrund ihrer Verankerung in der Gelehrten- und Bildungskultur vorwiegend Männern vorbehalten war, zeigt die mystische und pietistische Literatur von Frauen die Beziehung zwischen der Legitimierung des eigenen Schreibens und der Rolle einer göttliche Instanz, die ihr Schreiben gegen das paulinische Schweigegebot autorisierte: So erbittet sich die größte Barock-Mystikerin deutscher Sprache, Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694), in den Geistlichen Sonnetten, Liedern und Gedichten (1652) Inspiration nicht durch die Musen, sondern durch die Weisheit: HErr gib mir die / durch die / die Welt und ich erbaut / die du selb selbsten bist die schönest’ aller schönen / die Seel=erhellend pflegt mit Ehrenglantz zukrönen: die sich schwingt in ein Herz / das deinem ist vertraut […] 51 Die Weisheit meyne ich / die keusche Hertzen=Braut

Die spiritualistische Dichterin Anna Ovena Hoyer(s) (1584–1655), die als Weigelia­ nerin verketzert wurde, bringt bereits die Inspiration durch den Geist in einen kritischen Gegensatz zum gelehrten Wissen. Im Eröffnungsgedicht ihrer Geistlichen und Weltlichen Poemata (1650) rechtfertigt sie ihr Schreiben mit folgenden Versen: Als darvon diß Buch zeugen kan / Das auch die Weißheit nicht zuholln / Von Welt-gelehrten vnd von Hohen-Schuln / Sondern vom Heyligen Geist allein Muß erbeten und gelernet sein / GOtt woll das sich niemand wol schämn 52 Von Frawn guth Exempel zu nehmn.

Die Autobiografie der größten Schriftstellerin und Theologin des Pietismus schließlich, Johanna Eleonora Petersens Leben, von ihr selbst mit eigener Hand aufgesetzet (1718), verschränkt die Topoi des Erhebens der eigenen Stimme mit der Androgynie des Gottesbild in einmaliger Dichte in ihrer Erzählung eines Traums: Im Traum steht die Ich-Erzählerin am Ende eines Einweihungswegs vor der letzten Tür eines Geheimnisses. Diese öffnet sich erst als sie sich entsinnt,

51 Catharina Regina von Greiffenberg: Geistliche Sonette, Lieder und Gedichte. Hg. v. Martin Bircher u. Friedhelm Kemp. Millwood 1983, S. 4. 52 Anna Ovena Hoyers: Geistliche und Weltliche Poemata. Hg. v. Barbara Becker-Cantarino. Tübingen 1986, S. 2. Zu Hoyers und Greiffenberg weiterführend Kemper: Deutsche Lyrik 3, S. 40 ff. u. 245 ff.



Kulturelle Narrative und frühneuzeitliche Konfliktfelder

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dass sie ihre Stimme »wie eine Nachtigall« erheben müsse: Das Geheimnis jedoch, das sich ihr daraufhin enthüllt, ist das Geheimnis der Trinität, allerdings als Einheit von Vater, Mutter und Sohn: […] denn dadurch ist das Geheimniß der heiligen Trinität des Vaters, des Sohnes, und des Heil. Geistes, der nach dem Hebräischen in den weiblichen Genero, als eine fruchtbare 53 Mutter und ausbrütende Taube ausgesprochen wird, in die Offenbahrung gekommen.

Hier bieten sich Anknüpfungspunkte für Bezüge zu den hermetischen Texten, die sich erst bei genauer Analyse der jeweiligen Rezeptionskontexte erschließen, wobei sich aus der Frage nach ihrer jeweiligen Sinngebung auch Antworten auf die Frage nach ihrem Beitrag zu Autonomisierung und Pluralisierung von Wissen ergibt. In Bezug auf den Topos der Androgynie ist diese Antwort schnell gefunden, denn es bleibt bei den Autorinnen nicht bei der Legitimierung der eigenen Stimme »als Nachtigall«, d.h. in vollkommener Verkündigung.54 Jede dieser Autorinnen deutet Elemente der christlichen Heilslehre für sich aus, die in unterschiedlicher Gewichtung über den historischen Stand der Rechtgläubigkeit hinausgehen.55 Das wiederum blieb nicht ohne theologische Reaktion, die die religiöse Devianz dieser Texte – unter topischem Rekurs auf die sündige Eva – präzise festhielt: Das einzigartige Dokument einer Ketzergeschichte allein gegen Autorinnen mystischer Texte, Johann Heinrich Feustkings Gynaeceum haeretico fanaticum (1704), gibt ausführlich Einblick in die zeitgenössische Zuordnung dieser Literatur zur »Schwärmerey« und in die Motivgeschichte ihrer Ausgrenzung: Lehre, Tun und Wesen dieser Texte zielen, so Feustking, auf »Aber-

53 Johanna Eleonora Petersen, geb. von und zu Merlau: Leben, von ihr selbst mit eigener Hand aufgesetzet. Hg. v. Prisca Guglielmetti. Leipzig 2003, S. 48. Weiterführend Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus. Göttingen 2005; Lucinda Martin: Women’s religious Speech and Activism in German Pietism. Diss. University of Texas 2002, S. 202–217, hier S. 215 f. 54 Guglielmetti: Kommentar. In: Petersen: Leben, S. 87; Barbara Becker-Cantarino: Pietismus und Autobiographie. Das ›Leben‹ der Johanna Eleonora Petersen (1644–1724). In: ›Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig.‹ Hg. v. James Hardin u. Jörg Jungmayr. 2 Bde. Bern 1992, S. 917– 936, hier S. 928. 55 Zur kulturgeschichtlichen Langzeitwirkung dieses Phänomens, das bis weit in den Zeitraum der Aufklärung hineinreicht, Lucinda Martin: Jakob Böhmes ›göttliche Sophia‹ und Emanzipationsansätze bei pietistischen Autorinnen. In: Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Friedrich Vollhardt. Berlin 2012 (Frühe Neuzeit 173), S. 241–257; Sarah Apetrei: Women, Feminism and Religion in Early Enlightenment England. Cambridge 2010.

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 Ansatz, Problemfelder und Methode

glauben und Neuerungen«,56 denn sie stellen nichts weniger als die traditionelle Diskursmacht in Frage: Daß eine Frau unter den Pietisten / Johann Eleonora Petersen sich unterstanden über das allerschwerste Buch der Offenbarung Johannis einen deutschen Commentarium zu schreiben / und eigenmächtig ohn alle Censur des Predigt=Ampts zu publiciren / dergleichen von 57 Anbeginn der Welt in der Kirchen GOTTes weder gesehen noch gehöret worden.

Innerhalb dieser großen Spannungsfelder ist im Folgenden nach den historischen Konkretisierungen und Dynamiken hermetischen Wissens spezifisch im Hinblick auf die spiritualistische Literatur der frühen Neuzeit zu fragen.

3. Zur Physiognomie des Hermetismus aus der Sicht seiner Gegner um 1700 Die profilierteste Gegenstandsbestimmung und die kenntnisreichste Dokumentation der diskursiven Verfugung von Hermetismus, Platonismus und Paracelsismus in ihren historisch lokalen Ausprägungen bietet, trotz aller polemischen Zuspitzung, die Literatur der philosophischen Gegner. Um 1700 entstanden im komplexen Zusammenspiel der Hellenisierungsthese des Christentums, der philologischen Kritik am christlichen Platonismus und dem Pietismusstreit einige

56 Johann Heinrich Feustking: Gynaeceum haeretico fanaticum, Oder Historie und Beschreibung der falschen Prophetinnen / Quäckerinnen / Schwärmerinnen / und andern sectirerischen und begeisterten Weibes=Personen. Frankfurt und Leipzig 1704. Hg. v. Elisabeth Gössmann. München 1998 (Archiv für Philosophie- und Theologiegeschichtliche Frauenforschung 7), S. 125. Zum topischen Rekurs auf Eva und den einschlägigen kirchlichen Autoritäten S. 20 ff., einschlägig auch die Konstruktion einer systematischen Verknüpfung von weiblicher Gelehrsamkeit und der Gefahr einer Rückkehr des »Heidentums« seit biblischen Tagen bis in die historische Gegenwart S. 26 ff. 57 Friedrich Christian Bücher, zit. n. Feustking: Gynaeceum haeretico fanaticum, S. 101. In Bezug auf Johanna Eleonora Petersen: Anleitung zu gründlicher Verständniß der Heiligen Offenbarung Jesu Christi welche Er seinem Knecht und Apostel Johanni Durch seinen Engel gesandt und gedeutet hat  / sofern Sie in ihrem eigentlichsten Letzten prophetischen Sinn und Zweck betrachtet wird / Und in ihrer völligen Erfüllung in den allerletzten Zeiten / denen wir nahe kommen sind/ grössten Theils noch bevorstehet. […] Frankfurt a.M./Leipzig 1696. In dieser Schrift hatte die Petersen die Liebe Gottes über den Zorn bzw. seine Strafgerechtigkeit gestellt, womit der Auftakt zur Origenes-Debatte gegeben war. Obwohl beide Petersens ihr gemeinsames Verständnis in der Deutung der für sie entscheidenden Bibelstellen betonten, gilt Johanna Eleonora als treibende Kraft beim »Zuende-Denken der chiliastischen Auslegung der Geheimen Offenbarung des Johannes.« (Breuer: Der Bekräfftigte Origenes, S. 414)



Zur Physiognomie des Hermetismus

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Analysen des Hermetismus, von denen Daniel Ehregott Colbergs Das platonischhermetisches Christenthum (1690/91) zwar die einschlägigste, aber nicht die einzige darstellt.58 Colberg erarbeitet unter Auswertung einer Fülle an heterodoxen Texten sowie den Schriften seiner orthodoxen Vorgänger einen detaillierten Überblick über alle maßgeblichen nicht orthodoxen Strömungen seit der Reformation, bemüht sich um eine Wiedergabe der jeweiligen Positionen und destilliert eine Reihe an Topoi aus dem Diskurs, die er als »Harmonie und Connexum aller und ieder Lehr=Puncte  / so wohl mit den Platonischen Erfindungen  / als untereinander«59 bestimmt, womit er nichts weniger als ein Profil des frühneuzeitlichen, mit dem Namen Hermes assoziierten Diskurses aus der Perspektive eines zeitgenössischen Kritikers erstellt.60 Colbergs These, dass sich unter dem schwärmerischen Diskurs eine nicht schriftgemäße, unzulässige Vermischung aus christlichen Lehren mit paganer Philosophie verberge,61 spitzt Friedrich Christian Bücher in einem Angriff auf den Pietismus zum Vorwurf zu, die religiöse Erneuerungsbewegung wolle unter dem Schein der Frömmigkeit pagane Philosophie restituieren. Diesem wurde von Balthasar Köpke (1646–1711), Philipp Jacob

58 Ralph Häfner: Jacob Thomasius und die Geschichte der Häresien. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. v. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 141–164; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Die philologische Zersetzung des christlichen Platonismus am Beispiel der Trinitätstheologie. In: Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher ›Philologie‹. Hg. v. Ralph Häfner. Tübingen 2001, S. 265– 302. Im Überblick Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie, S. 79 ff. v 59 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, Vorrede, )( )( 2 . 60 Zu Colberg umfassend Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung. Tübingen 2004; Hans Schneider: Das ›Platonischhermetische Christenthum‹ – Ehre Gott Daniel Colbergs Bild des frühneuzeitlichen Spiritualismus. In: Kaminsi (Hg.): Hermetik, S. 21–42; kürzer Christine Maillard: Eine Wissensform unter Heterodoxieverdacht: Die spekulative Alchimie nach 1600. In: Titzmann (Hg.): Heterodoxie in der Frühen Neuzeit, S. 267–289; Wilhelm Kühlmann: Das häretische Potential des Paracelsismus – gesehen im Licht seiner Gegner. In: Ebd., S. 217–242, hier S. 224 f.; Vollhardt: Die Theosophie Jacob Böhmes und die orthodoxe Kritik, S. 171; ders.: ›Pythagorische Lehrsätze‹. Schwärmerkritik und Konsensdenken bei Daniel Colberg, Heinrich Wilhelm Clemm und Friedrich Christoph Oetinger. In: Kühlmann/Vollhardt (Hg.): Offenbarung und Episteme, S. 363–383, hier S. 364 ff. r v r 61 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum  I, S. )( 2 ; )()( 2 –3 : Colbergs »Vorsatz ist  / den rechten Verstand  / den die Schwärmer unter dunckele  / unverständliche und zweydeutige Redens=Arten verstecken / ans Tages=Licht zulegen / und damit zuerweisen / daß die Fanatici eine weit andere Lehr führen / als sie äußerlich das Ansehen haben wollen / und wie sie die Christliche Religion mit dem Munde zwar bekennen / im Hertzen aber verwerffen und in lauter Mystisches Wesen verkehren / so daß sie mit dem Zauberer Simone den Valentinianern / Gnosticis und Manichæern mehr für Unchristen und Verläugner der Christlichen Wahrheit / als für wahre und rechtschaffene Christen zu halten seynd.«

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 Ansatz, Problemfelder und Methode

Spener (1635–1705) und Gottfried Arnold (1666–1714) in unterschiedlicher Intensität widersprochen.62 Büchers Anklageschriften jedoch geben ergänzend Einblick in die Langlebigkeit und Präsenz frühreformatorischer Texte und ihre diskursive Verflechtung mit hermetischer Literatur: Im Jahr 1699 erschien sein Plato Mysticus in Pietista Redivivus, Das ist: Pietistische Übereinstimmung Mit der Heydnischen Philosophia Platonis Und seiner Nachfolger sowie Haupt=Gründe des Fanaticismi, in der er die sogenannte hermetisch-platonisch-mystische Theologie als Urheberin der im Namen des Pietismus aufkommenden Neuerungen ausmacht, unter die der Chiliasmus als abweichende Deutung des Weltendes ebenso fällt wie das Konventikelwesen, das als Ecclesiola in ecclesia eine potenzielle Konkurrenz zum rechtgläubigen Gottesdienst darstelle. Kritisch gesehen wird auch das Plädoyer für die Notwendigkeit der guten Werke, die aus orthodoxer Sicht die Autorität der Symbolischen Bücher schmälerten. Auch Bücher verfolgt die diskursiven Stränge dieser – über den Pietismus in die Aufklärung wirkenden – Neuerungen bis zum Paracelsismus, zum Neuplatonismus der Renaissance (Ficino, Giovanni Pico), zu Agrippa von Nettesheim, den Antitrinitariern (Michael Servet) und Spiritualisten (Caspar von Schwenckfeld, Sebastian Franck), zur frühchristlichen Gnosis sowie zur platonischen und ägyptischen Philosophie.63 Im Jahr 1700 erschien Balthasar Köpkes Geschichte der mystischen Theologie Sapientia Dei, in Mysterio Crucis Christi Abscondita, der Spener ein langes Vorwort beifügte und insbesondere die mystische Theologie, die sowohl Colberg wie Bücher dem hermetischen Diskurs zugerechnet hatten, auf allein biblische Quellen zurückführte. Bücher jedoch konterte 1701 mit Lutherus Anti-Pietista, d.i. D. Martin Luthers Schrifftmäßiges Urtheil von dem Pietismo, in der er die Rückzugsmöglichkeit über die mystische Theologie abschnitt und diese als »Helena« und »trojanisches Pferd« enthüllte, über die dissidentes Gedankengut seit den Tagen der Reformation in die rechtgläubige Theologie eingesickert sei.64

62 Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte, S. 187 ff.; Verf.: Theologie als Theosophie, oder: Hermes Trismegistos und die Wiedergeburt im radikalen Pietismus um 1700. In: Pietismus und Neuzeit 34 (2009), S. 135–166. 63 Friedrich Christian Bücher: Haupt=Gründe des Fanaticismi, So in der Verführung unserer ersten Eltern / und der Schwärmer / zu der Apostel und Lutheri Zeiten / Aus der H. Schrifft und der Christl. Antiquität eröffnet. Dabey auch einige Streit=Fragen: Von dem tausend=jährigen Reiche Christi; von den einzelnen Zusammenkünfften; von der Autorität der Symbolischen Bücher; und von der Nothwendigkeit der guten Werke. Danzig 1699, S. 131 f. 64 Friedrich Christian Bücher: Lutherus Anti-Pietista, d.i. D.Martin Luthers Schrifftmäßiges Urtheil von dem Pietismo Aus seinen Schrifften / und denen von den Fanaticis treulich colligiret. Wittenberg 1701, S. 11; weiterführend ders.: Menses Pietistici: Die Tieffe des Sathans in dem Christenthum der Pietisten, Wittenberg 1705 ff.; siehe auch Gierl: Pietismus und Aufklärung, S. 399 f.



Zur Physiognomie des Hermetismus

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Wie analysieren die zeitgenössischen Kritiker nun das Profil des Gegenübers? Colberg geht nicht von einem autonomen Gegenstand Hermetismus aus, sondern er orientiert sich am theologischen Kriterium der Schriftgemäßheit65 und verfolgt kenntnis- und quellenreich die diskursive Verflechtung des gegnerischen Schrifttums, das bereits von seinen Autoren in wechselseitiger Auslegung zitiert wird. Hermes fungiert dabei entweder als identitätsstiftende Instanz, auf die sich die einzelnen Strömungen platonischer, weigelianischer, paracelsischer oder rosenkreuzerischer Provenienz eher lose berufen,66 oder aber Colberg erbringt unter Aufbietung seiner philologischen und philosophischen Expertise den Nachweis, dass auch Strömungen wie der Weigelianismus oder Böhmes Theosophie, die Hermes nicht namentlich anführen, »in dem Grunde mit ihnen einig«67 seien. So notiert er die Verschmelzung von Hermetismus und Paracelsismus,68 die Bezüge zur Alchemie69 und zur christlichen Gnosis und führt letztlich sämtliche heterodoxen Gruppierungen seit der Reformationszeit auf ihren Ursprung im Platonismus zurück: Aus diesem Platonischen Ey sind hervorgekrochen die Weigelianer, Rosenkreutzer / neuen Propheten  / Stifelianer, Methisten  / Hoburgianer, Böhmisten  / Wiedertauffer  / Quäcker  / Bourignisten, Quietisten, Septenisten, und wie das Geschmeis sonst immermehr Namen 70 haben mag.

65 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. )()( 3v; Schneider: Colbergs Bild des frühneuzeitlichen Spiritualismus, S. 28. 66 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum  I, S. 98: »Man lese Hermetem, Platonem, die Cabbalisten / die Allegoristen / Philonem, Judæum, Originem, Taulerum, da wird sichs handgreiflich geben: daß die neuen Meister von selbigen Scribenten ihre Lehr und Meynungen entlehnet haben.« Ebd., S. 92: »Fraget iemand: Was Mercurius Trismegistos für Lehren geführet habe? So geben wir zur Antwort / daß es eben die Platonischen und von den heutigen Schwärmgeistern wieder auffgewärmeten Pseudo-Philosophemata seyn.« 67 Ebd., S. 309; ebd., S. )()( 2r über die Weigelianer und Böhmisten: »[…] daß ihre gantze Theologia nichts anders als eine schnöde Vermengung des christlichen Glaubens mit der Platonischen und Hermetischen Philosophie in sich fasse« 68 So sieht er in Paracelsus eine Gründerfigur, denn Paracelsus wird »billich von dem ersten Anfänger / der heutigen Platonischen Theologie gehalten«, erstens weil Paracelsus mit seiner Lehre als erster »hervorgekrochen« sei und zweitens weil sich andere wie Weigel und die Rosenkreuzer auf ihn berufen. Paracelsus aber nahm seinerseits wieder die Schriften des Hermes, Pythagoras und Platons als Inspiration. (Ebd. I, 179 ff.) 69 Ebd., S. 89: »Es ist auch nicht zu vergessen / daß die Begierde den Grund der Chymie/ welche nach Ausspruch ihrer Liebhaber den rechten Grund und Wissenschafft / göttliche und natürliche Dinge zu ergründen und zuerkennen [sic] mittheilet / zu erforschen / viel Neulinge angetrieben habe / Hermes Trismegisti Schrifften zulesen.« 70 Ebd., S. 75.

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 Ansatz, Problemfelder und Methode

Hermetik ist in dieser Gegenstandsbestimmung eine Spielart des Platonismus, der sich in die komplementären Bereiche der Mystik und der magischen Naturphilosophie auffächert.71 Doch neben der naturmagischen Literatur legt Colberg sowohl bibliografisch wie analytisch großes Gewicht auf die Erfassung der christlichen, neuplatonischen Mystik und hier insbesondere auf die mittelalterlichen Predigten Johannes Taulers (1300–1361) sowie des anonymen Traktats der Theologia deutsch.72 Vom jungen Luther, Valentin Weigel und Johann Arndt neu herausgegeben, standen diese Texte Ende des 17. Jahrhunderts in der Mitte einer innertheologischen Kontroverse um den Status und die rechtgläubige Form von Mystik, die in Colbergs und Büchers Analysen eng mit der Hermetik verknüpft wird. Unter Berufung auf Luthers Sympathie für Tauler und die Theologia deutsch hatte selbst Philipp Jacob Speners (1635–1705) Programmschrift des Pietismus Pia desideria oder hertzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche (1675) diese Texte in reformerischer Absicht zitiert.73 Colberg reflektiert unter Auseinandersetzung mit seinen orthodoxen Vorläufern wie Nicolaus Hunnius (1585–1643)74 die Rolle der Mystiker als ambivalent. Er notiert, »daß die heutigen Libertiner, unterschiedlicher Mysticorum, namentlich Tauleri, Bücher hochhalten«75 und referiert Hunnius’ Analyse der Theologia-deutsch-Rezeption bei den Rosenkreuzern und Valentin Weigel, die eine unzulässige Vergottungstheologie aus dem Traktat ableiten, der noch dazu in deutscher Sprache geschrieben ist.76 Sein Vorwurf lautet also, diese Theologie führe zum Enthusiasmus,77 ein Vorwurf, den insbesondere Bücher gegen den Pietismus zuspitzt und dabei den ganzen Diskurszusammenhang von (Pseudo-)

71 Differenziert analysiert in Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte, S. 153 ff.; Schneider: Colbergs Bild des frühneuzeitlichen Spiritualismus, S. 35. 72 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 68 f. u. 77 ff.; Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte, S. 151 ff.; Vollhardt: ›Pythagorische Lehrsätze‹, S. 367 f. 73 Philipp Jacob Spener: Pia desideria. Reformprogramm des Pietismus. Hg. v. Erich Beyreuther. 5 Gießen 1995, S. 74. Spener analysierte den geistlichen Stand als verweltlicht und in der Streittheologie entfremdet von seiner eigentlichen Aufgabe. Dagegen verwies er auf Luthers Vorrede zum Römerbrief, nach der der Glaube als göttliches Werk den Menschen wandeln und zur neuen Geburt bringen solle (S. 30) sowie auf die Erleuchtung des Apostel Paulus durch den Heiligen Geist (S. 22). Diese Topoi fanden im Pietismus rege Fortschreibung: Martin Schmidt: Luthers Vorrede zum Römerbrief im Pietismus. In: Ders.: Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus. Witten 1969 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 2), S. 299–330. 74 Theodor Mahlmann: Art. »Hunnius, Nicolaus«. In: TRE 15 (1986), 707–709. 75 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 76. 76 Ebd., S. 77 f. 77 Ebd., S. 68 f.



Zur Physiognomie des Hermetismus

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Dionysios Areopagita über die Spiritualisten und Täufer der Reformation bis zu den radikalen Pietisten der historischen Gegenwart referiert.78 Der gemeinsame Grund von neuplatonischer Mystik und Hermetik, so lässt sich die orthodoxe Analyse zusammenfassen, ist ein mit der rechtgläubigen Form von Mystik nicht zu vereinbarendes gnostisches Element.79 Dieses diskursiv verflochtene Quellenkorpus spitzt Colberg analytisch auf eine Reihe an Topoi zu: Die hervorstechendsten Charakteristika sind nach ihm erstens das Streben nach Selbstvergottung bzw. Vergöttlichung, zweitens die Selbsterkenntnis und drittens der Weg zu diesen Zielen über die mystische Tresviae-Lehre, deren Fundament die platonische Kosmologie und Seelenlehre darstellt.80 Für diese Theoreme grundlegend und zusätzlich konstitutiv für sämtliche heterodoxen Lehren unterschiedlichster Couleur identifiziert er die platonische, trichotome Anthropologie nach Körper, Seele und Geist.81 Dem widersprach nun ausgerechnet Philipp Jacob Spener, nachdem Büchers Plato mysticus in Pietista redivivus mit Hilfe dieses Kriteriums den Pietismus analog als platonische Vereinigungstheologie zu diskreditieren versucht hatte und verwies zur Legitimierung dieser Denkfigur auf die Autorität Luthers.82 Streitpunkt in dieser Frage, die in der weiteren Analyse zu verfolgen sein wird, ist Colbergs Vorwurf der Verkleinerung der Erbsünde,83 der selbst Spener in Rechtfertigungsdruck bringt und zu dem bereits, gerade in Abgrenzung zu explizit hermetischen Texten, Weisungen oberster Kirchenbehörden vorliegen: »Die drey Ministeria zu Lübeck / Hamburg

78 Bücher: Lutherus Anti-Pietista, S. 13. 79 Breit gefächert zu Positionen der orthodoxen Theologie Theodor Mahlmann: Die Stellung der ›unio cum Christo‹ in der lutherischen Theologie des 17. Jahrhunderts. In: Unio. Gott und Mensch in der nachreformatorischen Theologie. Referate des Symposiums der finnischen Theologischen Literaturgesellschaft in Helsinki 15.–16. November 1994. Hg. v. Repo Matti u. Rainer Vinke. Helsinki 1996, S. 72–199. 80 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum  I, S. 4 ff.: »Der Zweck der Philosophie sey Gott gleich werden / oder in Gott verwandelt / und wie seine Schüler heut zu Tage reden / vergöttert werden.« (S. 4) 81 Ebd., S. 3. 82 Friedrich Christian Bücher: Plato mysticus in Pietista redivivus, Das ist: Pietistische Übereinstimmung Mit der Heydnischen Philosophia Platonis und seiner Nachfolger […]. Danzig 1699, S. 65. Zu diesem Text Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte, S. 187 ff.; Philipp Jacob Spener: Vorrede. In: Balthasar Köpke: Sapientia Dei, in Mysterio Crucis Christi Abscondita. Die wahre Theologia Mystica oder Ascetica, Aller Gläubigen A. und N. Test. Entgegen gesetzet Der r falschen aus der Heydnischen Philosophia Platonis und seiner Nachfolger. […] Halle 1700, S. B 2 , v 83 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. )()( 8 .

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 Ansatz, Problemfelder und Methode

und Lüneburg beweisen / daß dieser Lehr=Satz 1. unrichtig / verworren / und ihm selbst zuwider sey«.84 Das Spannungsfeld, das sich am scheinbar unverfänglichen Topos der Anthropologie auftut, umfasst aus kirchlicher Perspektive die Theoreme der Erbsünde und der körperlichen Auferstehung, ungeachtet dessen, dass er nach Colbergs eigenem Kriterium der Schriftgemäßheit nicht ausschließlich dem platonischhermetischen Diskurs zuzuordnen ist.85 Viel entscheidender ist aus der Perspektive der Orthodoxie die mit dem trichotomen Prinzip verbundene unorthodoxe Soteriologie: Ausgehend von der Vorstellung, dass die Seele ein in die Materie gefallener Teil des göttlichen Wesens sei, der aufgrund eigener Willensausrichtung die Einheit mit Gott verlassen habe, besteht die Erlösung nicht mehr im Glauben an einen stellvertretend handelnden Erlöser, sondern in der eigenen Umkehrung der Willensausrichtung, der inneren Einkehr und  – gnostischen  – Erkenntnis des eigenen göttlichen Wesenskerns.86 Als Prinzip des ganzen hermetisch-platonischen Diskurses profiliert Colberg entsprechend die zwei charakteristischen Topoi der Selbst- und Welterkenntnis bzw. des Mikro- wie des Makrokosmos, der menschlichen Seele wie des Buchs der Natur, die er mit dem Begriffen Cabala und Magie bezeichnet: Wir finden in ihren / der Platonischen Christen Schrifften ein zweyfaches Principium ihrer Lehr / die Erkäntnüß unser selbst / und die Erkäntnüß der Welt / Macrocosmum und Microcosmum, Cabalam und Magiam, die inwendige Offenbarung und das Buch der Natur oder der Lebendigen / mit einem Worte / die Erkäntnüß des allgemeinen Welt=Geistes in allen Dingen / beydes durch die inwendige Erleuchtung des innern Lichts / als des ewigen Worts / verbi fiat, und durch die Erkäntnüß der Signaturen oder Charakteren / so in dem Buch der Natur geschrieben sind / das ist / des inwendigen Lichts / wie es in den Creaturen verborgen lieget. Dieses wird bedeutet durch die inwendige Erkänntnüß / welche sie allein erheben / 87 und die äußere Wissenschaft verachten.

Der Begriff der Cabala bezieht sich in diesem Kontext nicht auf die jüdische Geheimlehre, sondern leitet sich aus paracelsischem Sprachgebrauch für eine inwendige Offenbarung her. Mystik und Magie bzw. die Synonyma Cabala und Theosophie bezeichnen hier die zwei möglichen Wege zu Selbst- und Welt­erkennt­ nis: das Streben nach innerer Erleuchtung und die esoterische Schöpfungs-

84 Ebd. II, S. 155; siehe auch das ganze Kapitel Vom Menschen vor und nach dem Fall, II, S. 137 ff. 85 1 Tess 5,23. 86 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 106; Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte, S. 159. 87 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 133 f.



Zur Physiognomie des Hermetismus

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exegese anhand der Signaturen der Dinge.88 Auf der Grundlage der platonischen Kosmologie und Seelenlehre sind das die Wege zur Restitution der Seele wie der Schöpfung in die prälapsarische Reinheit. In begriffsgeschichtlicher Hinsicht sind Colbergs Differenzierungen zum Magiebegriff aufschlussreich, da er auf unterschiedliche Semantiken im Sprachgebrauch aufmerksam macht. Während er selbst zwei Arten der Magie gelten lässt, die teuflische und die Magia naturalis, konstatiert er bei Autoren wie Julius Sperber (um 1540–1616) eine Unterscheidung nach göttlich-übernatürlicher Magie (Magia coelestis bzw. Divina sapientia), menschlicher Magia und abergläubischer [!] bzw. teuflischer Magie, unter die operative Zauberei, Abgötterei und Teufelsbeschwörungen fallen.89 In anderen Worten bestätigt Colberg den Glauben an schwarze Magie, die funktional als Schadenszauber in den Hexendiskurs eingebunden ist, klassifiziert aber weiße Magie als »Schwärmerey«, die, wiederum nach Sperber, einen Weg des Aufstiegs zu Gott darstelle. Nicht Magie an sich wird hier als mit der christlichen Rechtgläubigkeit unvereinbar dargestellt, sondern lediglich eine spezifische Form. Prinzipiell zielt die magische Naturphilosophie auf die Erkenntnis des Lumen internum aller Kreaturen, denen als Ausdruck des göttlichen Schöpfungsworts selbst Wortcharakter zugeschrieben wird: »Omnia facta sunt verbo, nam in verbo erat vita creaturarum«, so zitiert Colberg Robert Fludd (1574–1637) und identifiziert die Zeichenstruktur der Welt, die nach Foucault ja die »Ordnung der Dinge« in der frühen Neuzeit prägen soll, als spezifisch hermetisches Phänomen.90 Als Frucht der Magie bezeichnet er schließlich auch die Hochschätzung der Imagination, die sowohl die Vorliebe für den Sensus mysticus oder anagogicus in der Schriftexegese als auch den Glauben an persönliche Offenbarungen und Träume einschließt. Colberg moniert, die damit einhergehende Spekulationsfreude entziehe sich vollständig der intersubjektiven Nachprüfbarkeit oder der logischen Beweisführung, und an dieser Stelle bemüht er den Topos des Geheimnisses bzw. der dunklen Rede, der in modernen Gegenstandsbestimmungen so prominent

88 Ebd., S. 136; So auch Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte, S. 155; Schneider: Colbergs Bild des frühneuzeitlichen Spiritualismus, S. 30. 89 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 151 f. 90 Ebd., S. 154; Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 56 ff.

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 Ansatz, Problemfelder und Methode

genannt wird.91 Er bezieht ihn auf einen konkreten Konflikt, der sich als Konflikt um die Deutungshoheit der Heiligen Schrift entziffern lässt.92 Die sozialgeschichtliche und pragmatische Dimension dieses Konflikts verdeutlicht überdies Friedrich Christian Büchers Schrift Plato mysticus in Pietista redivivus: Neben einer ausgesprochen spekulativen Bibelauslegung bildete der platonisch-hermetische Glaube an die magischen Kräfte des Geistes im pietistischen Milieu das Deutungsmuster für einen signifikanten Anstieg des Prophetentums, also des Auftretens von Laien, die unter Berufung auf Joel 3,1–2 ihr Sprechen als endzeitliche Ausgießung des Geistes auch über Knechte und Mägde, also Laien und Frauen, deuteten und sich zum Sprachrohr eines umfassenden Krisenbewusstseins machten.93 Zusammenfassend lässt sich die Skizze des hermetischen Diskurses aus der Feder eines frühneuzeitlichen Kritikers mit dem modernen Problem der Widersprüchlichkeit der hermetischen Texte und der Schwierigkeit einer topischen Definition wie folgt reflektieren: Die monistischen und dualistischen Tendenzen, die das Corpus Hermeticum selbst, den christlichen wie den platonischhermetischen Diskurs auszeichnen, kristallisieren sich jeweils in verschiedenen Bereichen neu aus und geraten miteinander in Konflikt. Eine als nicht-christlich diskursivierte monistische Tendenz des hermetischen Diskurses zeigt sich nach Analyse der orthodoxen Kritiker da, wo die Allegorese des Buchs der Natur nach den Signaturen der Dinge durch die methodische Voraussetzung der Teilhabe am Weltgeist überhaupt erst denkbar ist, d.h. wo der Abstand und die ontologische Trennung zwischen Gott und Welt schwindet.94 Insbesondere Bücher bringt diese Aufhebung des Abstands in einem Michael Servet zugeschriebenen Zitat auf die Formel, die die Anschlussmöglichkeiten dieser Wissensfigur für die Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts augenfällig macht: »Aus GOttes Substanz und Wesen sey alles Geschöpff / daher alles voller Götter sey«.95 Es ist die Vorstellung einer weltimmanenten Geistigkeit, die bis zum All-Einheitsgedanken gesteigert werden kann, die als hermetisch wahrgenommen wird. Der Begriff

91 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 175: »Ein Zeichen der bösen Sache ist / daß die Schwarmgeister mit ihrer Meynung / nicht deutlich heraus wollen / sondern dieselbige unter zweydeutige und dunckle Redens=Arten verstecken / daß mancher ihre Schrifften so klug wieder wegleget / als er sie aufgeschlagen.« 92 Ebd., S. 173 ff. 93 Nach seiner Analyse der platonischen Anthropologie, in der er Colberg sehr nahe kommt, widmet Bücher nicht weniger als die Hälfte seines Buches dem Thema der pietistischen »Entzückungen« (Bücher: Plato mysticus, S. 87 ff.). 94 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 154 ff. 95 Bücher: Haupt=Gründe des Fanaticismi, S. 132



Zur Physiognomie des Hermetismus

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des Pantheismus greift, wie die Analyse der einzelnen Autoren zeigen wird, bei weitem zu kurz und liegt tief unter dem philosophischen Abstraktionsgrad der zu untersuchenden Texte, aber er zeigt die Tendenz, wo die Wahrer christlicher »Rechtgläubigkeit« Wissen als Anderes, eben als nicht-christliches abgrenzen. Die als nicht-christlich wahrgenommene dualistische Tendenz zeigt sich dagegen da, wo in Abgrenzung zu allem Äußerlichen und Körperlichen allein dem Geist als dem inneren Menschen Wahrheit zugesprochen wird und der Körper wie die äußere Welt abgelehnt wird. Grundlage dieser Differenzierung ist die paulinische Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Menschen,96 einer Wissensfigur, die zunächst beiden Diskursen vertraut ist, die aber im historischen Moment zum Konfliktfeld konkurrierender Deutungsansprüche wird. Die Akzentuierung des inneren Menschen als eigentlichem Menschen wird einerseits zum Deutungsmuster einer die orthodoxe Lehre überbietenden, autonomen Heilsaneignung, deren Kehrseite der Weltablehnung umgekehrt sich in unterschiedlicher Reichweite auf sämtliche Bereiche des bürgerlichen Lebens erstreckt. Damit kann die metaphysisch begründete Ablehnung des Diesseits sowohl soziale Kritik am Ständewesen sowie an merkantilen, martialischen oder höfischen Praktiken transportieren, sie kann sich jedoch auch bis zur Ablehnung der Adiaphora steigern, was in der Verachtung des Tanzens, Lachens und Aufbau einer weltlichen Existenz zu gipfeln vermag.97 Einen pragmatischen Grund für die Ausgrenzung dieser dualistischen Tendenz als nicht-christlich nennt Colberg in einer umfangreichen Liste an Kennzeichen der hermetischen Christen: Deren Abwertung des Körperlichen relativiert alle heilsvermittelnden Kulturpraktiken. Sie spiritualisiert sämtliche Sakramente und spricht dem Wort Gottes, dem Glauben, dem Abendmahl, der Rechtfertigung, dem Gebet – Colberg listet einen umfassenden Katalog auf 98  – jeweils ein geistiges Pendant zu, gegenüber dem das anschließend als äußerlich bezeichnete Sakrament eine Abwertung ins Sekundäre erfährt. Auch das ist einem christlichen, mit Diskursmacht versehenen Wissensfeld nicht tolerierbar.

96 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 108–116; vgl. auch Bücher: Plato mysticus in Pietista redivivus, S. 62 ff. 97 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 117. 98 Ebd., S. 108 ff.

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 Ansatz, Problemfelder und Methode

4. Hermetik, Mystik und Philologie Während die Konturierung der orthodoxen Beschreibungen des platonischhermetischen Christentums um 1700 zwar ein recht geschlossenes Bild eines hermetisch-platonischen »Systems« ergibt, das aus der Vielzahl an Texten herausdestilliert und mit aussagekräftigen Namen belegt wird, handelt es sich doch nichtsdestoweniger um das Ergebnis polemisch überspitzter Abgrenzungsbestrebungen, die ihrerseits wiederum von einer Beobachterposition aus angestellt werden, die nicht außerhalb des Diskurses steht. Diese Beobachterposition verortet sich im lutherisch orthodoxen Milieu und orientiert sich somit an Leitfragen und Systemstellen des lutherischen Denkgebäudes, die bereits in den Abgrenzungsdebatten gegenüber Katholiken und den sogenannten Schwärmern der Reformationszeit identitätsstiftend waren. In der theologisch-philosophischen Kritik am »Anderen der Orthodoxie« werden jedoch die Texte der philosophischen und der praktisch-magischen Hermetica, sowie der Mystik, Kabbala und Theosophie undifferenziert nebeneinandergestellt, da es ja gerade dem Argumentationsziel entspricht, den gemeinsamen, heterodoxen Kern unter der ganzen Breite des Diskurses freizulegen. Bei der Bewältigung der eindrucksvollen Stofffülle, die die orthodoxen Kritiker referieren und zitieren, kommt es dabei unweigerlich zu Kürzungen und lediglich partieller, kontextenthobener Rezeption der einzelnen Textpassagen. Dies führt angesichts der irreduziblen Komplexität und häufig paradoxalen Struktur gerade mystischer und hermetischer Texte zu einer verfremdenden Verflachung ihrer Aussagen und zur Generierung des bis in die Forschung des 21. Jahrhunderts nachwirkenden Nimbus einer undifferenzierten, irrational okkulten Strömung. Da darüber hinaus innerhalb des Diskurses die für christliche Theologen hochsensible Begrifflichkeit der Gotteserkenntnis, der Heiligung und Vergottung zentral ist, die in der historischen Erinnerung mit den gesellschaftlichen Unruhen der Reformationszeit verbunden ist, versteht sich gerade die orthodoxe Beobachterposition aus einem so empfundenen ›rechtgläubigen‹ Kampf gegen den gefährlichen Wahn von Allwissen und Allmachtsstreben.99 Damit allerdings werden die Differenzierungen, die Autoren des hermetisch-spiritualistischen Milieus sowohl untereinander als auch in den komplexen Fragen nach der Beziehung von Gott, Mensch und Kosmos vornehmen, nivelliert. Gleichzeitig wird eine Grenzziehung zu institutionalisierten

99 So noch Löscher: Praenotiones theologicae, S. 344, zit. n. Jörg Baur: Valentin Ernst Löschers Praenotiones theologicae. Die lutherische Spätorthodoxie im polemischen Diskurs mit den frühneuzeitlichen Heterodoxien. In: Titzmann (Hg.): Heterodoxie in der Frühen Neuzeit, S. 425–475, hier S. 467.



Hermetik, Mystik und Philologie

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For­men des Christentums betont, die dem Selbstverständnis der als heterodox bezeichneten Autoren zuwiderläuft, die sich ausnahmslos als Christen verstehen. Es gilt daher, ergänzend zur synchronen Nachzeichnung der polemisch-abgrenzenden Systembildung um 1700, exemplarisch diachronisch die Texte derjenigen Autoren zu befragen, bei denen sich eine Auseinandersetzung mit den Texten des Corpus Hermeticum nachweisen lässt. Die Ausgangsfrage, um die sich die folgenden Kapitel organisieren, ist daher zunächst denkbar einfach: Welche Texte zitierten die Autoren aus dem Corpus Hermeticum, und in welche Kontexte ließen sich diese Zitate so problemlos integrieren? Die bisherige Forschung konzentrierte sich vor allem auf die Inszenierung der Figur des Hermes in Bezug zu ihrer Datierung in Konkurrenz zu Moses, doch blendet diese Fragestellung noch den Komplex der inhaltlichen Auseinandersetzung der Autoren mit den jeweiligen Textausschnitten aus. Dieser Frage sind die folgenden Kapitel gewidmet. Sie verfolgen die konkrete, philologisch belegbare Rezeption der hermetischen Texte bei Autoren des mystischen Spiritualismus und radikalen, d.h. nicht kirchlichen Pietismus in einem Zeitraum zwischen den Jahren 1530 bis 1730. Doch gerade indem der Blick ›stur‹ auf die Quellen und die philologische Verflechtung von christlichen und hermetischen Quellen gerichtet bleibt, erschließt sich die komplexe, philologisch versierte und philosophisch kreative Integrationsarbeit der Autoren ebenso wie ihre kulturellen Kontexte, die an der Entstehung eines hermetischen Diskurses maßgeblich beteiligt waren. Jede dieser Einzelstudien berührt im Verlauf der Untersuchung den im Spiritualismus virulenten Komplex des unmittelbaren Geistwirkens bzw. der Mystik.100 Zwischen den Begriffen der Mystik, Erfahrung, Sprache und Theologie existiert ein wissenschaftlich vielfach ausgelotetes Spannungsfeld. 101 Im Kontext dieser Arbeit wird der Begriff der Mystik in zweifacher Weise verwendet: Erstens bezeichnet er in ganz traditionellem Sinn die Tradition der Theologia mystica seit den frühchristlichen Kirchenvätern, als deren Kenner und Rezipienten sich die untersuchten Autoren erweisen. Gerade der Ausgangspunkt der Studie in den Schriften der historischen Gegner um 1700 zeigt die Präsenz patristischer Autoren sowie die gar nicht zu überschätzende Rolle mittelalterlicher mystischer Traktate wie der Theologia deutsch und der Predigten Taulers, die das Rückgrat für die Interpretation und Integration hermetischer Texte in christliche Sinnhorizonte über 200 Jahre hinweg bilden. Zweitens bezieht sich der Begriff auf die Vorstel-

100 Leppin: Art. »Spiritualismus«, Sp. 1585. 101 Berndt Hamm: ›Gott berühren‹. Mystische Erfahrung im ausgehenden Mittelalter. Zugleich ein Beitrag zur Klärung des Mystikbegriffs. In: Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Hg. v. Berndt Hamm u. Volker Leppin. Tübingen 2007, S. 111–137.

Abb. 1 a und b: Arnold: Ein Denckmahl des Alten Christenthums […] (1699)

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 Ansatz, Problemfelder und Methode

lung des unmittelbaren Geistwirkens, die zeithistorisch vor allem mit dem Begriff der Erfahrung, nach Thomas von Aquins Definition der Cognitio Dei experimentalis, verbunden wird. Der Erfahrungsbegriff gehört neben dem Begriff der unio zu den klassischen Topoi der Mystik, wobei diese wiederum selbst sprachlich verfasst und Teil einer etablierten literarischen Tradition sind.102 Um 1700 jedoch entfaltet der Erfahrungsbegriff eine eigene, über innerliterarische Verweisungszusammenhänge hinausdeutende Valenz, die es zu reflektieren gilt. Im Fluchtpunkt des Konflikts um den Status der Theologia mystica um 1700 spiegelt sich, welches Konzept von mystischer Erfahrung an diesem historischen Punkt kritik- und damit diskussionswürdig wird: In Gottfried Arnolds Historie und Beschreibung der mystischen Theologie (1703), die in ihrer Erstpublikation den signifikanten lateinischen Untertitel historia et descriptio theologiae mysticae seu theosophiae arcanae (1702) trug, wird zwischen der Theologie als »bloß historische[r] Wissenschaft« und als wahrer Erkenntnis und Liebe zur unsichtbaren Gottheit differenziert.103 Synonyme für diese beiden Formen sind »Schultheologie« und »wahre« respektive »mystische« Theologie.104 Es deutet sich also ein Konkurrenzverhältnis an, insbesondere im Hinblick auf das von Arnold verteidigte Verständnis der Theologia mystica: »So stimmet die gantze gottselige Antiquität hierinne mit der H. Schrifft überein / daß nemlich zur wahren Theologie oder Gottesgelehrtheit auch eine wirckliche Erleuchtung / Lehr und Einfluß von Gott selbst gehöre.«105 Neben den bewusst mit der Autorität der Patristik legitimierten Begriff der Theologia mystica tritt hier sogar der Begriff der Erleuchtung. Im Jahr 1699 gab Arnold auch eine Übersetzung der Homilien des frühchristlichen Kirchenvaters Makarios des Ägypters (Symeon von Mesopotamien) unter dem Titel Ein Denckmahl des Alten Christenthums heraus.106 Diesem Druck ist ein Bild beigefügt, das im Hinblick auf die zeithistorische Verwendung des Mystik­ begriffs aussagekräftig ist. Zwei Gruppen an Menschen stehen vor sehr unterschiedlichen Landschaften. Sie repräsentieren das »Alte Christentum« und das »Neue Heiden- und Judenthum«. Während in der rechten Bildhälfte Kleriker aller Konfessionen von einer Schlange umkreist vor getrennten Gotteshäusern stehen, kommentieren Spruchbänder

102 Bernard McGinn: The Foundations of Mysticism. New York 1991, S. xiii-xx, hier S. xiv ff. 103 Gottfried Arnold: Historie und Beschreibung der mystischen Theologie. Stuttgart 1969 (Frankfurt a.M. 1703), Vorwort, unpag. 104 Arnold: Historie und Beschreibung der mystischen Theologie, S. 30 f. 105 Ebd., S. 7. 106 Gottfried Arnold: Ein Denckmahl des Alten Christenthums / Bestehend in des Heil. Macarii und anderer Hocherleuchteter Männer aus der Alten Kirche Höchsterbaulichen und Auserlesenen Schrifften. Goslar 1699.



Hermetik, Mystik und Philologie

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vor einem dunkel dräuenden Himmel: »Schein ohne Krafft, Wort ohne Safft, hat niemals Sieg und Heil gebracht.« Demgegenüber stehen auf der linken Bildhälfte die einfach gekleideten Vertreter des alten Christentums vor himmelwärts strebenden Bergen in hellem Sonnenlicht. Auf Spruchbändern ist zu lesen »Durch Tod und Pein, ohn Wort und Schein entflohen seyn, bringt Sieg allein.« Über der dynamisch bewegten Gruppe schwebt eine Taube im Strahlenkranz als Zeichen der Präsenz des Heiligen Geistes, und im Gegensatz zu den reich gekleideten Klerikern auf der rechten Bildhälfte schweben Heiligenscheine über den Köpfen der barfüßigen Frühchristen. Das Bild kontrastiert Hell und Dunkel, Dynamik und Erstarrung, himmlische Verbundenheit und irdische Separation, Erfahrung und Totheit. Damit ist die Aussage des Bildes im Hinblick auf die Valenz des Mystikbegriffs im spiritualistischen Milieu um 1700 deutlich: Sie verbindet die Referenz an die patristisch verbürgte Theologia mystica mit einem zeitgenössisch verstandenen frömmigkeitspraktischen Aspekt der Erfahrung des unmittelbaren Geistwirkens. Die Frage nach den frömmigkeitspraktischen Interessen schlägt eine Brücke zu den Forschungen, die sich mit den Texten des Corpus Hermeticum in ihrem spätantiken Entstehungskontext beschäftigen und bereits dort das Problem ihrer doktrinären Widersprüchlichkeiten reflektiert haben. Garth Fowden belegte, dass die theoretischen und praktischen hermetischen Texte bereits in der Spätantike als inhaltlich verwandtes Korpus wahrgenommen wurden und deutete die Widersprüche in den Texten des Corpus Hermeticum selbst als Versprachlichung verschiedener Perspektiven im philosophischen und praktisch-spirituellen Streben nach dem Einen.107 Indem Fowden diese Dimension der kontemplativen Praxis und ihrer erkenntnistheoretischen Implikationen berücksichtigte,108 erweiterte er die philosophischen Fragestellungen um eine kulturelle Perspektive auf diese Texte als Zeugnisse geistlicher Praxis, die philosophische Stringenz selbst als zweitrangig betrachtet haben dürften.109 Diese Perspektive bietet Anschluss-

107 Garth Fowden: The Egyptian Hermes. A Historical Approach to the late Pagan Mind. Cambridge 1986, S. xvi u. 95 f. Fowden problematisiert dabei bewusst die verbreitete wissenschaftliche Auffassung vom Corpus Hermeticum als einer willkürlichen Zusammenstellung arbiträrer Texte (ebd., S. 103). 108 Während die monistischen, Götter und Rituale thematisierenden Texte Anschluss an verbreitete Formen paganer Religiosität bieten, die Leser zu Beginn der seelischen Reise ansprechen, lassen sich die dualistischen Texte als Perspektive desjenigen deuten, der bereits aus der Angleichung an das transzendente Eine spricht. Fowden: The Egyptian Hermes, S. 94 ff., insbesondere S. 102 ff. u. 142 ff. 109 Jean Pierre Mahé: Der Weg zur Unsterblichkeit. In: Die Hermetische Gnosis im Lauf der Jahrhunderte. Hg. v. Gilles Quispel. Haarlem 2000, S. 27–53, hier S. 51 f.; Peter Kingsley: Poimandres.

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 Ansatz, Problemfelder und Methode

punkte für das Studium der Rezeption dieser Schriften 1000 Jahre nach ihrer Verschriftlichung im spiritualistischen Milieu der frühen Neuzeit, wo bestehende philologische Widersprüche ebenfalls nie thematisiert werden.

The Etymology of the Name and the Origins of the Hermetica. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 56 (1993), S. 1–24, hier S. 19 u. 24.

III. Pymander als Inneres Wort: Sebastian Franck (1499–1542) 1. Zu Quellenlage und Forschungsfragen Die orthodoxe Schwärmerkritik der Jahrhundertwende zum 18. Jahrhundert zieht in ihrer Kritik an den Erneuerungsbestrebungen des Pietismus die Verbindungslinien nicht nur zu Autoren, die bereits im Diskurs als Magier bezeichnet waren wie Agrippa, sondern vor allem auch zu den Schriftstellern des Reformationszeitalters, die dem mystischen Spiritualismus zugerechnet werden. Hier wird Sebastian Franck (1499–1542) als ein Autor erinnert, der eine Schlüsselrolle in der Übersetzung des Corpus Hermeticum und seiner Vermittlung in die deutschsprachige Literatur spielt. Franck hatte ein breites Werk in der Volkssprache hinterlassen, das noch von Lessing gelesen und von einschlägigen Autoren der spiritualistischen Tradition tradiert wurde: Valentin Weigel schließt viel und teilweise wörtlich an Franck an, in den Niederlanden fand sein Werk Interessenten, am prominentesten knüpft Gottfried Arnolds unparteiischer Blick auf die Ketzer an Franck an.1 Sebastian Franck hat ebenfalls die erste deutschsprachige, jedoch nie publizierte Übersetzung des Corpus Hermeticum angefertigt, da er im Jahr 1542, dem Jahr der Übersetzung, verstarb.2 Zwar war dieser Text der Öffentlich-

1 Siehe weiterführend Siegfried Wollgast: Einleitung. In: Sebastian Franck. Paradoxa. Hg. v. Siegfried Wollgast. Berlin 1995, S. vii-lxi, hier S. xxii f. Bereits Wollgast sieht die Fortführung und Radikalisierung der Ideen Francks schließlich bei Dippel (S. xxiii), allerdings ist seine Charakterisierung dieser Radikalisierung – Dippel propagiere eine klassenlose Gesellschaft ohne Staat und Privateigentum – eine marxistisch verengte Interpretation lediglich einer einzigen Schrift Dippels, die keine Grundlage im Gesamtwerk hat. Horst Weigelt: Sebastian Franck und die lutherische Reformation. Gütersloh 1972, S. 63–72, v. a. 69 ff. Zu Francks Nachwirkung in den Niederlanden siehe Guillaume von Gemert: Zur Funktionalisierung Franckschen Gedankenguts in den Niederlanden. Der Traktat ›Vat het Rycke Christi‹ (1611) und sein Stellenwert. In: Beiträge zum 500. Geburtstag von Sebastian Franck (1499–1542). Hg. v. Siegfried Wollgast. Berlin 1999, S. 209–248. Sowie Cornelis Augustijn und Theo Parmentier: Sebastian Franck in den nördlichen Niederlanden 1550–1600. In: Sebastian Franck (1499–1542). Hg. v. Jan-Dirk Müller. Wiesbaden 1993, S. 303–318. 2 Monika Neugebauer-Wölk: ›Denn dis ist müglich, lieber Sohn!‹ Zur esoterischen Übersetzungstradition des Corpus Hermeticum in der Frühen Neuzeit. In: Esotérisme, Gnoses & Imaginaire Symbolique: Mélanges offerts à Antoine Faivre. Hg. v. Richard Caron et al. Leuven 2001 (Gnostica 3), S. 131–144, hier S. 131. Francks handschriftliche Übersetzung des Corpus Hermeticum befindet sich in der Universitätsbibliothek Augsburg; Martin Mulsow: Ideologien der Anciennität, philologische Kritik und die Rolle der ›neuen‹ Naturphilosophie. In: Ders. (Hg.): Das Ende des Hermetismus, S. 1–13, hier S. 7. Sie ist einem Freund S.K. von Woerdt gewidmet, und Franck fügte eigene

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 Sebastian Franck (1499–1542)

keit nicht zugänglich, und daher nahm man lange an, dass Francks Übersetzung ohne eigenständige Wirkungsgeschichte geblieben ist. Jedoch belegen die Texte der orthodoxen Schwärmerkritik, dass Franck im kulturellen Wissen um 1700 als Vermittler des Corpus Hermeticum erinnert wird, dass seine Aussagen zu Hermes also präsent sind.3 Im Folgenden soll zunächst die Rede über Franck als Vermittler hermetischen Wissens um 1700 vorgestellt werden, da sie nicht ohne Folgen bis in die moderne Forschung hinein geblieben ist. Dies lässt sich vor allem am Komplex der Datierungsfrage exemplifizieren. Anschließend erscheint eine Bestandsaufnahme der tatsächlichen hermetischen Zitate in Francks Schriften sowie eine Vergegenwärtigung seines intellektuellen und kulturhistorischen Kontextes sinnvoll. Die philologische Analyse wird zeigen, wieso sich für Franck das Problem der Datierungsfrage, das orthodoxe Kritiker wie die moderne Forschung beschäftigt, gerade nicht stellt. Die unproblematische und von philologischen Authentizitätsfragen weitgehend unbehelligte Referenz an die Texte des Corpus Hermeticum ist ein Charakteristikum der Texte spiritualistischer Autoren vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Es wird zu zeigen sein, wie diese Referenz einerseits mittels des christlichen Logoswissens möglich ist und wie darüber andererseits abweichende Interpretationen der diskursprägenden Lesarten des christlichen Selbstverständnisses möglich werden, die zunehmends trotz der quantitativ geringen Menge an Zitaten als hermetisch, häretisch und später als ›esoterisch‹ diskursiviert werden. Am explizitesten zählt Friedrich Christian Büchers Haupt=Gründe des Fanaticismi (1699) die Schriften auf, in die Franck ausführliche, auf Deutsch übersetzte Zitate aus dem Corpus Hermeticum nach Ficinos Ausgabe, die 1532 in Basel gedruckt worden war, eingerückt hatte. Er zitiert zwei Werke Sebastian Francks, die Guldin Arch aus den Jahren 1538/39 und das Verbüthschiert Buch aus dem Jahr 1539. Dabei streicht er zwei Kritikpunkte an Franck heraus. Kritikwürdig ist ihm erstens Francks These, bereits die Heiden hätten Christus erkannt und insbesondere Hermes Trismegistos habe heller von Christus geschrieben als Moses.4

Textpassagen in die Übersetzung dazu. Carlos Gilly: The first German Translation of the Corpus Hermeticum in the Struggle for religious Tolerance. In: Marsilio Ficino e il ritorno di Ermete Trismegisto. Hermes Trismegistos and the Return of Hermes Trismegistos. Hg. v. Sebastiano Gentile u. Carlos Gilly. Firenze 1999, S. 287–289. 3 Grundlage der hiesigen Untersuchungen sind die Rezeptionsspuren des Corpus Hermeticum, die im Diskurs sichtbar waren und in der Tradition Spuren hinterlassen haben. Damit stützt sie sich auf die publizierten Werke Francks. 4 Bücher: Haupt=Gründe des Fanaticismi, S. 133 f.: »Wie hoch Sebastian Franck die Platonische / Hermetische / und heidnische Philosophie geschätzet / kan man an seiner Archen lesen / da er alle Grund=Lehren des Christlichen Glaubens / auch von Christo selbst / aus denen Schrifften



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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Zweitens verurteilt er Francks Hochschätzung einer allegorischen Sprache, seine Vorliebe für Parabeln und figürliches Sprechen, die er als geheime, esoterische Rede deutet.5 Bücher vergleicht Franck als Autor mit einer Hummel und Mistfliege, mit der der Teufel die rechtschaffenen Christen plage.6 Er rekurriert mit diesen Anspielungen teilweise wörtlich auf ein vernichtendes Urteil Luthers über Franck.7 Luther hatte, in erkennbarem Ärger über Francks literarische Erfolge, an Franck ebenfalls dessen Uneindeutigkeit kritisiert. Franck lege sich nie fest und gebe auch seinen Lesern keine klaren Anweisungen, was ein Christ glauben soll, hatte Luther kritisiert. Folglich hatte er bereits in den deutlichsten Worten davor gewarnt, Francks Bücher zu lesen und grenzte diese aus seinem Konzept spezifisch christlicher Literatur aus. Bereits in der Rezeptionslinie von Franck über Luther zu Bücher lässt sich nicht nur die Dynamik der Hermetisierung, sondern auch die der Verteufelung des Ausgegrenzten beobachten. Luthers Assoziation Francks mit einer Hummel wird bei Bücher zur Assoziation mit dem Fliegengott und gerinnt als Signum des »Schwärmertums« zum tertium comparationis, das den religiösen Individualismus Francks mit vermeintlich nicht-christlichen Positionen wie dem Corpus Hermeticum assoziiert und beides zusammen als teuflisch stigmatisiert. Franck hatte tatsächlich ins Deutsche übersetzte Zitate und Paraphrasen aus dem Corpus Hermeticum in verschiedene Texte eingefügt, die im Gegensatz zur handschriftlichen Übersetzung des Corpus Hermeticum in den Diskurs eingingen. Im Jahr 1534 finden sich in einem von Francks Hauptwerken, den Paradoxa, erste Hinweise und Anspielungen auf Hermes.8 In den Jahren 1538 und 1539 erscheint

der Philosophorum beweisen will. Unter andern schreibet er in dem versiegelten Buch: Hermes Trismegistum habe heller von Christo geschrieben / als Moses.« (Hervorh. im Orig.) 5 Ebd., S. 134. 6 Ebd., S. 130: »Solcher Fliegen einer ist dieser Sebastian Franck. […] Ich hätte wohl zwar viel ärgers wider den Franck zu schreiben Ursach gehabt / damit ich hülfe / jedermann zu warnen für dem Teuffel und seinen Hummeln / die beyde GOtt und Menschen feind sind / (ist das nicht eine schöne Beschreibung der Schwärmer /) und Schaden thun an Ehren / auch an Leib und Seele / und wo sie können: Christus unser Herr steure ihm / und zerstöre ihn / Amen« 7 Ebd., S. 130; Luther WA 54, S. 171–175. 8 Paradoxa ducenta octogina / das ist CCLXXX. Wunderred vnd gleichsam Rhäterschafft / aus der H. Schrifft / so vor allem flaisch vngläublich vnd vnwar sind / doch wider der gantzen Welt wahn vnd achtung / gewis vnd war. Item aller in Got Philosophierenden Christen rechte / Götliche Philosophei / vnd Teütsche Theologei / voller verborgener Wunderred vnd gehaimnüs / den verstandt / allerlay frag / vnd gemaine stell der H. Schrifft betreffende / Auch zur scherpffung des vrthails / überaus dienstlich / entdeckt / ausgefürt / vnd an den tag geben Durch Sebastianum v v Francken  / von Wörd, 1534, Bl. 3 u. 46 , (Zur leichteren Auffindbarkeit der Zitate werden die

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 Sebastian Franck (1499–1542)

Francks Guldin Arch, eine Blütenlese aus Stellen der Bibel, den Schriften der Kirchenväter und der antiken Philosophen.9 Hier finden sich lange Auszüge aus dem Corpus Hermeticum, die Franck übersetzt und in der Intention kommentiert, gelehrten wie ungelehrten Menschen Zugang zu den besten Stellen geistlicher Literatur zu verschaffen.10 In der Guldin Arch publiziert er den ganzen ersten Traktat des Corpus Hermeticum sowie längere Auszüge aus dem Asclepius-Dialog auf Deutsch. Darüber hinaus flicht er wiederholt Zitate und Paraphrasen aus den hermetischen Traktaten in den weiteren Textfluss ein.11 Im Jahr 1539 erscheint ebenso das Verbüthschiert, mit sieben Siegeln verschlossen Buch, in dem er Zitate aus der Bibel in scheinbarer Widersprüchlichkeit und paradoxer Verschränkung gegeneinander stellt. Die Apologie zum Verbüthschiert Buch enthält schließlich eine Stellungnahme zu seiner These aus der Guldin Arch, Hermes habe heller von Christus geschrieben als Moses, die auf offensichtlich erregten Widerspruch hin verfasst ist.12 Die Textstelle in der Guldin Arch wurde in der bisherigen Forschung jeweils nur kurz auf der Grundlage der Beobachtungen zur Datierung der Hermesfigur interpretiert.13 Angesichts von Francks Datierung des Hermes als Zeitgenossen Abrahams und damit noch vor Moses, was gegenüber Ficinos Fassung eine

Stellen im Folgenden noch in der modernen Leseausgabe der Paradoxa angegeben. Sebastian 2 Franck: Paradoxa. Herausgegeben und eingeleitet von Siegfried Wollgast. Berlin 1995, S. 25 u. 128). 9 Zur Differenzierung zwischen den beiden Ausgaben Ralph Häfner: Kompositionsprinzip und literarischer Sinngehalt von Sebastian Francks Florilegium ›Die Guldin Arch‹ (1538). In: Euphorion 97 (2003), S. 349–378, hier S. 356, Anm. 25. 10 Die Guldin Arch darein der kern und die besten hauptsprüch der Hayligen Schrift / alten Lerer und Vätter der Kirchen / Auch der erleüchten Hayden vnd Philosophen / für vnd für vber die gmayn stell der Schrifft (daran der hafft vnd satz vnserer säligkayt ligt / vnd darinn der Christen glauben als inn eine mangel geet) getragen / verfasset vnd eingeleybt sind / Ya viler männer vnd zeügen Gottes / gleyche eingehellige schrifftmässige ansag / vnd bayde für gelert und vngelert / so nicht alle bücher mügen haben / oder vor vnnütz nicht alles durchlesen / Gmayne librey vnd r Teütsche Theologey zusamen tragen / durch Sebastian Francken von Werd / MDXXXIX Bl. 41  ff. 11 Die bis heute nicht veraltete grundlegende Studie Heglers zu Franck notiert bereits Ende des 19. Jahrhunderts, dass Franck Hermes Trismegistos unter den antiken Schriftstellern besonders bevorzugt nennt: Alfred Hegler: Geist und Schrift bei Sebastian Franck. Eine Studie zur Geschichte des Spiritualismus und der Reformationszeit. Freiburg i. Br. 1892, S. 203, Anm. 7. 12 Sebastian Franck: Das verbüthschiert mit siben Sigeln verschlossen Buch das recht niemandt auffthun / verstehen / oder lesen kan / dann das lamb / vnd die mit dem Thaw bezaichnet […]. r O.O. 1539. Bl. 428 . 13 Auf die Figur des Hermes fokussieren jeweils kurze Analysen bei Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 115–118, und Barbara Bauer: Die Philosophie des Sprichworts bei Sebastian Franck. In: Müller (Hg.): Sebastian Franck, S. 181–221, hier S. 193 ff.; Neugebauer-Wölk:



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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deutliche Rückdatierung darstellt,14 tendierte man dazu, Francks ganze Darstellung im Deutungsmuster der Konkurrenz zwischen Hermes und Moses, also hermetischen und christlichen Wissens zu sehen. Nach Francks breit belegter Devianz von dem 1530 in der Confessio Augustana erstmals formulierten Konsens über die Grundgedanken der Reformation, die ihm das lutherische Verdikt des »Schwärmertums« einbrachte, erschienen Francks Äußerungen über Hermes als einen vorbiblischen Weisen, der darüber hinaus noch »deütlicher«15 von Christus geschrieben habe als Moses, als »radikal«16 und »dramatisch«.17 Dieses Forschungsparadigma führt nahtlos das von Bücher etablierte Deutungsmuster weiter. Eine detaillierte Analyse der Äußerungen Francks zu Hermes in ihren jeweiligen Kontexten zeigt jedoch, dass die Deutung einer zugespitzten Konkurrenz zwischen Hermes und Moses Francks Wortlaut nur bedingt trifft. Ausführlich zitiert lauten Francks Einschätzungen der hermetischen Schriften, die ihm in Form von Ficinos lateinischer Ausgabe des Corpus Hermeticum und des dem Apuleius zugeschriebenen Asclepius-Dialogs vorliegen, folgendermaßen: [Die beiden Bücher] hab ich mit verwuderung gelesen / vnd dergleich weder bei Pltaone [!] oder keinem Philosopho gefunden / Er hat doch alles inn sich was einem Christen zu wissen vonnöten ist / so maisterlich beschriben / als jendert Moses oder ein Prophet / hab darbey erfaren / das der vnparteyisch Got (der kein person ansihet / sonder wer vnder allen völckern recht thut / vnd Got förcht / das der jm angenem ist) auch der Heiden Got ist / vnd 18 alweg gewesen [ist].

Nach längeren Zitaten aus dem ersten Traktat schließt Franck mit einer Paraphrase des Schlussgebets und setzt Hermes als »Moses der Ägypter« neben den Moses der Hebräer: Daher saget ich [Hermes] dancksagendt / heylig ist der Gott / der vatter aller ding / Heylig ist der Gott / der seynen verwandten kundbar wirt / Heylig ist der / der durch sein wort alle ding hatt erschaffenn / Heylig ist der / des bildt ist alle natur / vnnaussprechlich / allain

›Denn dis ist müglich, lieber Sohn!‹, S. 137 f.; unter Aufarbeitung bereits der zeitgenössischen Diskussion Häfner: Kompositionsprinzip und literarischer Sinngehalt, S. 364 ff. 14 Vgl. Ficinos Vorrede, gedruckt in Ebeling: Das Geheimnis der Hermes Trismegistos, S. 91 f. r 15 Franck: Das verbüthschiert Buch, Bl. 428 . 16 Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 116 17 Neugebauer-Wölk: ›Denn dis ist müglich, lieber Sohn!‹, S. 137. r 18 Franck: Guldin Arch, Bl. 41 . Die Wendung »Die beiden Bücher« bezieht sich auf das gesamte Corpus Hermeticum und auf den Asclepius-Dialog. Ficinos lateinische Ausgabe fasst die hermetischen Dialoge unter dem Namen Pymander als erstes Buch zusammen. Der anschließend angeführte Asclepius-Dialog ist dann das »zweite Buch«. Siehe [Marsilio Ficino:] Mercurii Trismegisti Pymander: De potestate et sapientia Dei; Eiusdem Asclepius, de voluntate dei. Basel 1532.

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mitt schweigen zu verkunden  / Also hat diser Egyptisch Moses die Egypter unterwisen  / vnnd in Egypten geleucht / nitt anders / dann Plato der Griechen Moses / die Griechen hat erleücht / Moses die Hebreer

Nach diesem bemerkenswerten Urteil über Hermes, Moses und Platon gelangt Franck zur Einschätzung des Corpus Hermeticum: »[…] meiner acht / solt keiner on dis buch sein / der ein zeugen Gottes wolt hören vnnder den Heyden«.19 Diese Einschätzung blieb nicht ohne Widerspruch, daher präzisiert Franck im Verbüthschiert Buch: Zum andern hab ich in meiner Arch geschriben Hermes Trismegistos / so vor Mose zur zeyt Abrahe gelebt hat / hab heller von Christo geschriben dann Moses / ists anderst Hermetis das an vns kommen [sic] / ob ich hie gefälet habe / zeühe ich mich auff alle die Trismegisti zwen Dialogos gelesen haben  / ob er nit von wort  / vnnd anderen  / deütlicher von Christo schreib / dann Moses / so ampts halben nichts hell heraus solt sagen / damit dem figürlichen volck alles inn figur verdeckt widerfür / vnd erst durch Christum dis gehaymniß geoffenbart wurde. Lieber / was ist hie für ein grewel vnd kaetzerey / wo ist schrifft drumb / das eben Moses so hell vnd klaar als kayn anderer zu seiner zeyt von Christo geschriben hab: warumb haben dann die schrifftgelerten Christum nit erkent  / so Mosen nach dem haellen buchstaben wol wißten vnnd verstunden? […] Wer will Gotes Hand sperren / oder sein rath wissen / dz er durch sein gayst vil hohe erleüchte männer vnder allen völckern hab / Es folgt aber nit. Plotinus / Plato haben zu jrer zeit wol vnd hoch geschriben / darumb sind sie alleyn erleücht / oder die erleüchtesten gewesen. Es mag noch einer zu jrer zeyt nit geschriben haben / der so vil von Gott gewißt hat / als sie bayde / ja es volgt auch nicht das eben Hermes Trismegistus der erleüchtest auff erd sey gewesen  / darumb das er so hoch geschriben. […] Also wann ich gleich ein neben Mosem oder gleich für Mosem inn der außtrucktenn erkantnuß vnd erleüchtung setze / sihe ich nit / was für ein gotslesterung vnd 20 kaetzerey darhinter stecke.

Von dieser Position lässt Franck sich nicht abbringen. Unbeeindruckt von aller Kritik an der Datierungsfrage trägt selbst noch seine handschriftliche und unpublizierte Übersetzung des Corpus Hermeticum den Titel: Mercurij Trysmegisti, wellicher zurzeit Abrahe, vor der / Bibel gelebt, vnd […] vnnder den Heiden vor Mosis so hoch=/ding von Gott […] geschribenn hatt / Asclepius vnd pimander / 21 ietz erst an Ernhafften vnnd wolgeachten S. K. verdeutscht.

Im vollen Wortlaut zitiert lautet Francks Urteil über Hermes also nicht, dass dieser eine andere oder gar bessere Wahrheit vertreten habe als Moses, der auf-

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19 Franck: Guldin Arch, Bl. 41 . r 20 Franck: Das verbüthschiert Buch, Bl. 428 . 21 Zit. n. Neugebauer-Wölk: ›Denn dis ist müglich, lieber Sohn!‹, S. 138.



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grund seiner spezifischen Redesituation an eine bildhafte Sprache gebunden war, sondern dass Hermes sich klarer ausgedrückt habe, und zwar bezüglich derselben Wahrheit. Die bei Franck tatsächlich herausgehobene Stellung des Hermes als erster, ältester und damit bester Theologe bezieht sich bereits in der Guldin Arch nicht auf einen Vergleich mit Moses, sondern auf einen Vergleich mit den anderen vorchristlichen Theologen Orpheus, Aglaophemos, Pythagoras, Philolaus und Platon, einer Genealogie der ältesten Weisen, die Franck exakt aus Ficinos Vorwort übernimmt.22 In ihrer Darstellung des Hermes als Urheber der Theologie greifen Ficino und Franck darüber hinaus beide auf den Kirchenvater Laktanz zurück, der in den hermetischen Schriften bereits die zentralen christlichen Lehren vorformuliert sah und damit das wirkungsmächtige Rezeptionsmuster der Hermetik als Präludium zum Christentum maßgeblich mit formte.23 Franck zitiert Laktanz, dessen Werke in seiner Bibliothek vorhanden waren,24 wiederholt in der Guldin Arch gerade als jemanden, der nach derselben Methode wie er selbst arbeitet, indem er nämlich über Belege aus den Schriften des Orpheus, Pythagoras, Hermes Trismegistos’ und anderen die Einzigartigkeit Gottes beweisen will.25 Auch Laktanz kennt die bei Franck und Ficino formulierte Vorstellung, dass der jüngere Platon vom älteren Hermes gelernt haben soll, wobei der ältere sich stellenweise klarer ausgedrückt habe.26 Im Unterschied zu Francks Darstellung spricht Laktanz den beiden antiken Philosophen die tiefste Erkenntnis des christologischen Geheimnisses ab, trotzdem stellt er als patristische Autorität einen Interpretationsrahmen zur Verfügung, an den Francks Hochschätzung der philosophischen Klarheit der hermetischen Schriften anknüpfen konnte.

22 »Den haben etlich Mercurium genennt  / Er gieng in verstand heyligkeyt des lebens  / vn weißhait allen menschen vor. Ist auch der erst Theologus […] der von Gottes Maiestet vnd wort geschriben hat.« Es folgt eine Paraphrase von Ficinos Vorwort mit der Geneaologie der ältesten Weisen, die mit den Worten beschlossen wird »vnder wölchen Mercurius wie der erst / also der v  best ist.« (Franck: Guldin Arch, B. 41 f.) Eine deutsche Übersetzung von Ficinos Vorrede in: Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 92. 23 Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 66 ff. u. 93; detailliert zur HermetikRezeption bei Laktanz Andreas Löw: Hermes Trismegistos als Zeuge der Wahrheit. Christliche Hermetikrezeption von Athenagoras bis Laktanz. Berlin, Wien 2002. Einführend auch Roelof van den Broek: Hermes and Christ. Pagan Witnesses to the Truth of Christianity. In: From Poimandres to Jacob Böhme: Gnosis, Hermeticism and the Christian Tradition. Hg. v. Roelof van den Broek u. Cis van Heertum. Amsterdam 2000, S. 116–144. 24 A. Bruckner: Verzeichnis der hinterlassenen Bücher Sebastian Francks. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 54 (1937), S. 286–289, hier S. 288. r r 25 Franck: Guldin Arch, Bl. 42 u. 44 . 26 Löw: Hermes Trismegistos als Zeuge der Wahrheit, 125 ff.

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Francks Reverenz an Hermes erscheint in diesem Kontext weniger »radikal« als es eine singuläre Fokussierung auf die Rückdatierung der Hermesfigur zunächst glauben macht. Dennoch geht Franck über seine Vorlage in einer Art hinaus, die den Rahmen sowohl der Vorlage als auch den der zeitgenössischen Theologie sprengt. Diese charakterisiert er im Verbüthschiert Buch als geprägt vom Alleinvertretungsanspruch auf Wahrheit in jeder einzelnen religiösen Gruppierung: »Also narret man noch heüt  / das yede sect Gott zu sich reißt  / vnnd allayn will haben«27 Demgegenüber musste Francks These, dass Gott zu allen Zeiten und unter allen Völkern Menschen durch den Heiligen Geist erleuchtete, tatsächlich transgressiv wirken.

1.1. Zu Autor, Werk und Kontext Die diskutierten Texte Francks entstanden in den Jahren 1537 bis 1542. Im Jahr 1530 war die Confessio Augustana unterzeichnet worden, die für die reformatorische Bewegung als »Summa der lehr«28 zum Dokument identitätsstiftenden Wissens geworden ist. Darin bildet die Rechtfertigungslehre, die dem epidemischen Ämtermissbrauch in der katholischen Kirche den Boden entziehen sollte, einen theologischen Kern des Bekenntnisses (CA 4–6, 20). Der Glaube wird an Wort und Sakrament, also an die Verkündigung des Evangeliums und an die Sakramentsverwaltung gebunden, gleichzeitig distanziert sich die Confessio Augustana von radikalreformatorischem Chiliasmus und dem Streben eines innerweltlichen Reichs der Gerechten auf Erden, das eine Vernichtung der Gottlosen mit sich bringen sollte (CA 17).29 Die in Artikel 17 formulierte Verurteilung der Widertäufer richtet sich auch explizit gegen die origenistische Allversöhnungslehre und bekräftigte das augustinische Zeitkonzept einer Wiederkunft Christi zum jüngsten Gericht und der im Jenseits stattfindenden ewigen Seligkeit bzw. ewigen Höllenstrafen. Die Confessio Augustana trägt die Handschrift des humanistisch gesinnten Philipp Melanchthon, der den Konsens der reformatorischen Lehren mit weiten Teilen der kirchlichen Tradition zeitlebens betonte.30 Dennoch ließen sich die Spannungen zwischen den religiösen Parteien um die reine christliche Lehre und damit um verschiedene Systemstellen des christlichen Sinngebäu-

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27 Franck: Das verbüthschiert Buch, Bl. 428 . 28 Kaufmann: Geschiche der Reformation, S. 587 ff. 29 Ebd., S. 589 f. 30 Kemper: Deutsche Lyrik 1, S. 129 ff. u. bes. 134; auch Luise Schorn-Schütte: Die Reformation. 4 Vorgeschichte, Verlauf, Wirkung. München 2006, S. 24.



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des nicht aufhalten. In den Jahren 1524/25 bis 1536 entfalteten sich die Etappen des Abendmahlstreits, 1525 hatten Martin Luther und Desiderius Erasmus keine Einigkeit in der Frage nach der Willensfreiheit erzielt, 1534/35 entstand und fiel das Täuferreich in Münster.31 1534 trennte sich die englische Kirche von Rom, 1536 verabschiedeten die Zwinglianer ein eigenes Bekenntnis zum Abendmahl. Diese Spannungen wurden nicht nur durch gelehrte Kontroversen, sondern auch durch zahlreiche Pamphlete und gedruckte Flugblätter in alle Bevölkerungsschichten getragen. Der »literarische Glaubenskampf« wurde zum prägenden Paradigma für nahezu zwei Jahrhunderte.32 Bis Mitte der 30er  Jahre vollzog sich darüber hinaus in den lutherischen Gebieten eine Wandlung vom Gemeindechristentum zum Landeskirchentum, was die Basis eines weitgehend abgeschlossenen Lehrgebäudes voraussetzte, das eine Abgrenzung gegenüber dem alten Glauben aber auch gegenüber weiteren protestantischen Bewegungen erlaubte.33 In diesem Kontext hinterließ Sebastian Franck ein disziplinübergreifendes, vielschichtiges Werk in der Volkssprache, das vor allem als Zeugnis einer herausragenden und in seiner Zeit einzigartigen Toleranz gewürdigt worden ist.34 Francks Themen der religiösen Toleranz und der Gewissensfreiheit werden direkt oder vermittelt von Valentin Weigel, Jakob Böhme, Gottfried Arnold bis zu Lessing rezipiert. Gleichzeitig verdichtete sich die Wirkung der scharfen Ablehnung Francks durch Luther und Melanchthon35 zum Bild eines spiritualistischen Einzelgängers, der auch in der Forschung nicht mit derselben Aufmerksamkeit

31 Kaufmann: Geschichte der Reformation, S. 527 ff. u. 635 ff.; Bernd Moeller: Deutschland im 4 Zeitalter der Reformation. Göttingen 1999, S. 102 ff. 32 Kemper: Deutsche Lyrik 1 u. 2; ders.: Literarischer Glaubenskampf. In: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung. Späthumanismus und Barock. Hg. v. Harald Steinhagen. Reinbeck b. Hamburg 1985, S. 138–170. 33 Schorn-Schütte: Geschichte der Reformation, S. 75 f. 34 Lotte Blaschke: Der Toleranzgedanke bei Sebastian Franck. In: Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit. Hg. v. Heinrich Lutz. Darmstadt 1977, S. 42–63; Meinulf Barbers: Toleranz bei Sebastian Franck. Bonn 1964. 35 Die Schmähungen Luthers und Melachthons, die teilweise auf missgünstigem Klatsch gründen, referiert Eberhard Teufel: »Landräumig«. Sebastian Franck, ein Wanderer an Donau, Rhein und Neckar. Neustadt (Aisch) 1954, S. 103 ff. Siehe dort ebenfalls die gedruckten Auszüge des Schmalkaldischen Konvents (1540) gegen Franck und Schwenckfeld, die bis in die sprachlichen Wendungen hinein (»damnamus«) der katholischen Verdammung von sogenannten Irrlehren verhaftet bleiben S. 91 f. Emmet R. McLaughlin: Sebastian Franck and Caspar Schwenckfeld: Two Spiritualist Viae. In: Müller (Hg.): Sebastian Franck, S. 71–86; Patrick Hayden-Roy: The Inner Word and the Outer World: A Biography of Sebastian Franck. New York 1994, S. 51 f.

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wie die prominenten Autoren der Reformation bedacht wird.36 Dennoch wird Franck zugesprochen, »einer der Spitzenvertreter deutscher Renaissanceentwicklung« in einer »Mittler- und Verbindungsstellung von allgemeinster geistiger Bedeutung«37 zwischen Mittelalter und Neuzeit zu sein. Dieses Lob bedeutet für den einst als »Erzketzer und Schwärmer« geschmähten auch, nach seiner forschungsgeschichtlichen Wiederentdeckung von den unterschiedlichsten Parteien für sich vereinnahmt worden zu sein.38 Zu seinen Lebzeiten hat Franck sich weder einer Partei angeschlossen noch sich bemüht, eine eigene Anhängerschaft zu gewinnen. Sein breit gefächertes schriftstellerisches Werk, das sich von volkstümlichen, an eine breite Leserschaft gerichteten Werken bis zu den philologisch akribischen und philosophisch komplexen Hauptwerken reicht, bietet für viele Interpretationen Anknüpfungspunkte, entzieht sich aber hartnäckig einer eindeutigen Zuordnung. Schon die alte, lange maßgebliche Studie Alfred Heglers bemerkt, dass Francks Texte nicht mit den gängigen Schlagwörtern wie »Pantheismus« oder »Mystik« erschöpfend umschrieben werden können.39 Sebastian Francks Biografie40 ist eng mit den Entwicklungen des Reformationsgeschehens verbunden, durch die er Zensur und Repressalien an verschiedenen Orten erlebte und verschiedentlich ins Exil getrieben wurde. Als kritischer

36 Vgl. weiterführend die Sebastian-Franck-Bibliografie in: Wollgast (Hg.): Beiträge zum 500. Geburtstag von Sebastian Franck, S. 249–254; Christoph Dejung: Wahrheit und Häresie. Eine Untersuchung zur Geschichtsphilosophie Sebastian Francks. Diss. Universität Zürich 1979, S. 281– 289. 37 Joseph P. Strelka: Sebastian Francks ›Paradoxa‹. Zu ihrer geistesgeschichtlichen Stellung und Bedeutung. In: Virtus et Fortuna. Zur deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Hg. v. dems. u. Jörg Jungmayr. Bern 1983, S. 208–219, hier S. 218. 38 Dejung: Wahrheit und Häresie, S. V. Zu den promintesten Vereinnahmungen zählt die Reklamation des Spiritualisten Francks als Vorläufer eines marxistischen Materialismus. Siegfried Wollgast: Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert. Sebastian Franck und seine Wirkungen auf die Entwicklung der pantheistischen Philosophie in Deutschland. Berlin 1972 anknüpfend an Ludwig Büchners Referenz an Franck als Zeugen für seine These der »Unsterblichkeit des Stoffs« (ders.: Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. Leipzig 1867, S. 12 f., zit. n. Wollgast: Der deutsche Pantheismus, S. 91). Einen jüngeren konzisen Überblick über die Forschungsgeschichte zu Franck gibt Yvonne Dellsperger: Lebendige Historien und Erfahrungen. Studien zu Sebastian Francks ›Chronica Zeitbuoch vnnd Geschichtsbibell‹ (1531/1536). Berlin 2008, S. 15–23. 39 Hegler: Geist und Schrift bei Sebastian Franck, S. 274. Ungeachtet Heglers Reflexion behielt das Problemfeld »Pantheismus und Mystik« seinen Reiz. Einen einführenden Überblick gibt 2 Siegfried Wollgast: Einleitung. In: Sebastian Franck: Paradoxa. Hg. v. dems. Berlin 1995, S. 25 f. u. 40. Ebenso reflektiert er seine eigene Entwicklung im Verständnis dieser Begriffe (S. 29). 40 Ausführlich zu Francks Biografie Patrick Hayden-Roy: The Inner Word and the Outer World. A Biography of Sebastian Franck. New York 1994; Teufel: »Landräumig«; Will-Erich Peuckert: Sebastian Franck. Ein deutscher Sucher. München 1943.



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Geistlicher der katholischen Kirche wandte er sich mit der beginnenden Reformation bereits früh der neuen Lehre zu, machte aber auch in der neuen Konfession die Erfahrung, dass auch die reformatorische Lehre in ihrer gesellschaftlichen Durchsetzung zu Gewalt, Zensur und Intoleranz neigte. Die Publikation der Geschychtsbybell 1531, die die berühmte Ketzerchronik enthält, brachte den Autor ins Gefängnis und selbst den bewunderten Erasmus von Rotterdam gegen ihn auf.41 Das Unvermögen aller äußeren Konfessionen, zu einer konkreten Besserung der Menschen wirkungsvoll beizutragen, spielt in Francks Argumentation für ein inwendiges Christentum eine wichtige Rolle. Franck hielt sich von der Sammlung einer Anhängerschar, wie es Schwenckfeld tat, ebenso zurück wie von der politischen Praxis der Täuferbewegung, distanzierte sich vom gewaltbereiten politischen Handeln eines Thomas Müntzer genauso wie von fürstlichem Machtanspruch und Unterdrückung der Untertanen.42 Während er die Schwäche aller Lehren, auch der neuen, in ihrem Irrglauben des alleinigen Wahrheitsbesitzes ausmachte, blieb er trotz schärfer werdender Verfolgungen ein einsamer Mahner zur Toleranz. Dabei stellt seine scharfsinnige Analyse des Ketzerbegriffs, der maßgeblich durch die Beziehung einer Lehre oder Person zur entsprechenden religiösen Macht bestimmt wird, einen direkten Vorläufer zur Grundthese von Gottfried Arnolds Unpartheiischer Kirchen und Ketzerhistorie, zu Lessing, Thomasius und Kant dar.43

41 Christoph Dejung: Geschichte lehrt Gelassenheit. Über den Historiker Sebastian Franck. In: Wollgast (Hg.): Beiträge zum 500. Geburtstag Sebastian Francks, S. 89–126, hier S. 92 f. Franck hat wesentliche Anregungen von Erasmus erfahren u. a. in der Kritik am Zeremonienwesen, in der Frage der Willensfreiheit oder in der Schriftkritik. Rudolf Kommoß: Sebastian Franck und Erasmus von Rotterdam. Berlin 1934, S. 20 ff. Zu Erasmus prekärer Situation als Priestersohn und Kritiker Luthers, die ihn zu diplomatischem Auftreten nötigte Kemper: Deutsche Lyrik 1, S. 98 f.; allgemein Siegfried Wollgast: Erasmus von Rotterdam und Sebastian Franck  – Vertreter zweier Linien des Friedensgedankens im 16.  Jahrhundert. In: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 25 (1996) H. 2/3, S. 221–305. 42 Zur literarischen Kritik am Fürstentum siehe Wilhelm Kühlmann: »Aller verfolgung überauß gedültig« – Sebastian Franck und die Semantik der ›Laus Asini‹ im literaturgeschichtlichen Zusammenhang. In: Müller (Hg.): Sebastian Franck, S.153–180; sowie ders.: Staatsgefährdende Allegorese. Die Vorrede vom Adler in Sebastian Francks ›Geschichtsbibel‹ (1531). In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch (Berlin), NF 24 (1983) S. 51–76. 43 »Ketzerei ist, was nicht dasselbe heiligt, was die Welt heiligt und rechtfertigt.« Sebastian Franck: Vorrede auf die Chronik der römischen Ketzer (1531/36) aus: Chronica, Zeitbuch und Geschychtsbybell […]. Ulm 1536, fol. 81–84, abgedruckt in: Religiöse Toleranz. Hg. v. Hans R. Guggisberg. Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, S. 82–84, hier S. 83. Blaschke spricht von der Vorrede als »Dokument höchster Toleranz« und von einer »für ihre Zeit fast unbegreifliche Relativierung des Ketzerbegriffs« (dies.: Der Toleranzgedanke bei Sebastian Franck, S. 58 f.); auch Dejung: Geschichte lehrt Gelassenheit, S. 91.

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Francks Betonung eines rein innerlichen Christentums hat ihm Verfolgung von allen Seiten eingetragen. Doch aus der gleichmäßigen Distanz zu allen institutionalisierten Glaubensgemeinschaften reflektierte er das Treiben der Welt als »Fastnachtsspiel«,44 das mit den Augen des lachenden Democrit betrachtet reine Torheit spiegelt. Wer diese sache mit ernst ansihet, dem wäre nicht wunder, dass ihm sein herz zerbreche vor weinen. Sihet mans wie Democrit schimpflich an, sollt einer vor lachen zerknallen. So 45 gaukelt die welt. Wir sind alle gelächter, fabel und fastnachtsspiel vor Gott.

Gleichzeitig bedeutet die unbedingte Wendung in die mystische Innerlichkeit aber gerade keine Weltabkehr. Francks Texte sind zwar durchflochten von den leitmotivischen Gegensatzpaaren Innen und Außen, Geist und Welt, doch hat die Wendung nach Innen den zweimaligen Ehemann und mehrfachen Vater, der sich einmal als »von Kindern überfallen«46 beschrieb, nicht am Handeln in der Welt, z. B. am unermüdlichen Publizieren gehindert. Er vermied er allerdings, sich in die omnipräsente Polemik mehr als zur eigenen Verteidigung nötig mit hineinziehen zu lassen.47 Franck war erst katholischer, dann protestantischer Geistlicher, entschied sich schließlich für den Beruf des Schriftstellers, lebte zeitweise von der Seifensiederei, fand seinen eigentlichen Wirkungskreis jedoch neben der Schriftstellerei im Druckgewerbe, wo er seine Bücher auch selbst setzte – »eine Art Künstler in seinem Hauptberuf.«48 Neben der wirtschaftlichen Herausforderung einer wachsenden Familie sah er sich mit verschiedenen Neuanfängen in Nürnberg, Straßburg, Esslingen, Ulm und Basel konfrontiert,49 die er nicht nur beruflich, sondern

44 Sebastian Franck: Van het Rycke Christi. Gouda 1618, Bl. 13b, zit. n. Barbers: Toleranz bei Sebastian Franck, S. 56. r 45 Sebastian Franck: Weltbuch. Tübingen 1534, Bl. 163 , zit. n. Alexandre Koyré: Mystiques, Spirituels, Alchimistes. Schwenckfeld, Seb. Franck. Weigel, Paracelse. Paris 1955, S. 42. 46 Brief vom 22. Mai 1539, zit. n. Teufel: »Landräumig«, S. 86. 47 Seine eigene Arbeit orientiert Franck am Ziel, »unparteiisch« und »ohne Galle« zu schreiben (ders.: Vorrede auf die Chronik der römischen Ketzer, S. 82); Teufel zitiert exemplarisch die entsprechenden Primärtexte von Franck über Luther und Luther über Franck und macht auf die Diskrepanz zwischen Francks mystischer und Luthers polemischer Sprache aufmerksam (ders.: »Landräumig«, S. 42 ff. u. 104 ff.). Siehe auch André Séguenny: Le Spiritualisme de Sebastian Franck: Ses Rapports avec la Mystique, le Luthéranisme et l’Humanisme. In: Müller (Hg.): Sebastian Franck, S. 87–102. 48 Dejung: Geschichte lehrt Gelassenheit, S. 93. 49 Patrick Hayden-Roy: Sebastian Franck and the Reformation in Ulm. Heterodoxy, Tolerance and the Struggle for Reform. In: Wollgast (Hg.): Beiträge zum 500. Geburtstag Sebastian Francks,



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auch in der Verantwortung für seine schließlich siebenköpfige Familie zu meistern hatte  – den letzten Umzug von Ulm nach Basel trat er mit seiner kranken Frau, fünf Kindern, das jüngste ein Säugling von sieben Wochen, und zwei Wagen voller Habseligkeiten an.50 Hinzu kamen jahrelange Auseinandersetzungen mit feindseligen und missgünstigen Gegnern aus den Reihen der lutherischen Obrigkeit, die die Weltzugewandtheit seiner Bücher ex negativo mit Zensur, Verboten, Drangsalierungen aller Art und schließlich der Ausweisung aus Ulm bestätigten.51 Franck wehrte sich gegen die nicht nur geistige, sondern auch wirtschaftliche Einschränkung durch die Zensur mittels taktischer Schachzüge wie dem des auswärtigen Drucks der eigenen Bücher ebenso wie mittels engagierter, gelehrter Stellungnahmen, die seine herausragende Belesenheit und breite Kenntnis der Tradition bezeugen.52 Trotz der geistigen und wirtschaftlichen Behinderung durch die Zensur53 und des Bannstrahls der Schmalkaldischen Erklärung unter Melanchthons Federführung starb Franck als wohlhabender Bürger Basels. Seine Bücher erfreuten sich auch nach seinem Tod in Deutschland, den Niederlanden und England größerer Beliebtheit und verkauften sich so gut, dass sie die Kritiker und Zensoren bis hin zu Calvin (1509–1564) im 16. und Valentin Ernst Löscher (1673–1749) im 18. Jahrhundert weiter beschäftigten.54

S. 127–158; Klaus Deppermann: Sebastian Francks Straßburger Aufenthalt. In: Müller (Hg.): Sebastian Franck, S. 103–118. 50 Hayden-Roy:The Inner Word, S. 190. 51 Ausführlich mit Zitaten aus Briefen und Dokumenten Teufel: »Landräumig«, S. 76–89. 52 Francks »Deklaration« vom 3.  September 1535 enthält die Verteidigung der eigenen mystischen Position, als deren Gewährsmänner er u. a. Thomas von Aquin, Tauler, die Theologia deutsch, Meister Eckhart, Schwenckfeld, Luther, die Kirchenväter und – einmalig – Hermes Trismegistos kenntnisreich zitiert. Siehe bei Teufel: »Landräumig«, S. 65 ff.; weiterführend Alfred Hegler: Beiträge zur Geschichte der Mystik in der Reformationszeit. Hg. v. Walter Köhler. Berlin 1906 (Archiv für Reformationsgeschichte, Ergänzungsbd. 1) S. 140 ff. 53 So schreibt Franck über seinen Weggang aus Ulm: »Zum andern, das das Größt’ ist, daß man etwas zuviel lutherisch … bei uns ist, und die verordneten censores librorum keinen Gefallen an meinen Büchern haben, und mir weder meine ›Arch‹, noch mein ›Germaniam‹, noch jetzt mein ›Verschlossen Buch‹ zu drucken wöllen zulassen. […] Denn ich ein schön Druckerei hab: 10 Schrift mit allem Zugehör, die ich doch bis jetzt aus Urbrunst (Mißgunst) und eitler Forcht der Zensoren, wenig zu Ulm braucht hab, und … meine Bücher um ein Badgeld hab müssen verschleudern … und bleib also für und für ein Bettler, und mach andere zu Herren« (Brief vom 12. Mai 1539, zit. n. Teufel: »Landräumig«, S. 86). 54 Inventarverzeichnisse Frankfurter Buchhändler aus den Jahren 1565–1568 verzeichnen verschiedentlich größere Mengen an Francks Büchern. In der Fastenmesse 1565 verkauften sich 178 Exemplare, in der Herbstmesse 1566 noch einmal 40 Exemplare der Geschychtsbybell, ein Lagerbestand verzeichnet 364 Exemplare der Paradoxa, ein anderer vom 4. Oktober 1568 zählt 402 Exemplare der »Chronica francken« als Lager- und 89 Exemplare als Ladenbestand. Die Parado-

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Francks Werk umfasst u. a. die erste Geografie in deutscher Sprache, eine allein im 16. Jahrhundert siebenmal nachgedruckte Sprichwörtersammlung, die in Auszügen auch von Lessing neu herausgegeben wurde und komplexe Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen theologischen Fragen (Guldin Arch, Verbüthschiert Buch, Paradoxa). Zusätzlich ist er nicht nur der früheste bedeutende Geschichtsphilosoph (Chronica / Zeytbuch und Geschychtsbybell),55 sondern auch einer der ersten, herausragendsten und kompromisslosesten Sprecher für Toleranz und Geistesfreiheit gewesen (Kriegbüchlin des friedes).

1.2. Francks Texte und die Tradition der Theologia mystica Francks Guldin Arch präsentiert sich selbst als Zusammenstellung des Kerns und der Hauptsprüche der Heiligen Schrift, der Kirchenväter und der erleuchteten Heiden, deren Wissens insbesondere den Menschen vermittelt werden soll, die weder Gelegenheit noch Zeit haben, alle diese Werke selbst zu lesen. Diese werden in Kapiteln nach den zentralen Thesen des lutherischen Glaubensgebäudes gruppiert: Gott, Christus, Christus »ist einmal geopfert für alle«, ist »allein der Mittler und nothhelfer«;56 vom Fall des Teufels, von der Seele, von Fall und Wiederbringung sowie vom Wort Gottes, von Glauben und Werken. Die hermetischen Zitate stellen lediglich einen Bruchteil der zusammengetragenen Zitate unter dem Punkt der Zeugnisse der Heiden dar. Der Zitatreichtum des Textes beweist neben seiner intensiven Beschäftigung mit der Bibel eine breite Kenntnis der patristischen und antiken Traditionen. Neben den Kirchenvätern57 referiert Franck Platon, Aristoteles, Homer, Cicero, Ovid, die Sibyllen, Pythagoras, Boethius, Seneca und Sophokles; das Titelblatt ziert das Bild eines Schiffes, das

xa werden sowohl dem Titel nach als auch ihrer Hauptthese nach, dass die unsichtbare Kirche nicht an eine Konfession gebunden sei, im Werk des Holländers Dieryck Volckertsz Coornhert aufgegriffen und provozieren Calvin zu einer Stellungnahme, die die Verbindung zu Francks Werk deutlich thematisiert. Im Jahr 1570 schließlich untersagten die holländischen Auslandsgemeinden in England ihren Buchhändlern, die Werke Francks heimlich zu importieren und zu verkaufen. Dazu ausführlich Siegfried Wollgast: Grundlinien oppositionellen weltanschaulichphilosophischen Denkens in Deutschland zwischen 1550 und 1720. In: Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Hg. v. Günter Vogler. Weimar 1994, S. 337–367, hier S. 338 ff.; Horst Weigelt: Sebastian Franck und die lutherische Reformation. Gütersloh 1972, S. 67 ff. 55 Grundlegend Dellsperger: Lebendige Historien und Erfahrungen, S. 24 ff. v 56 Franck: Guldin Arch, Bl. 53 . 57 Zur Eruierung patristischer Einflüsse in der Guldin Arch Häfner: Kompositionsprinzip und literarischer Sinngehalt, S. 349–378.

Abb 2: Franck: Titelbild Die Guldin Arch (1538)

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ausdrücklich das Wissen der christlichen und der vorchristlichen Weisen trägt. Neben der Vermittlung von antikem Wissen hat Franck auch in der Eigenschaft als Herausgeber humanistische Texte wie Erasmus’ Lob der Torheit und Agrippa von Nettesheims Von der Heillosigkeit, Eitelkeit und Ungewissheit aller menschlichen Künste und Weisheit in den Vier Kronbüchlein neu publiziert.58 Die erhaltene Liste von Francks Bibliothek sowie die Fülle an Referenzen in seinen Werken verorten die hermetischen Zitate weniger im magischen, als vielmehr im mystisch-neuplatonischen Kontext.59 Neben den Referenzen an kanonische Theologen wie vorchristliche Philosophen und Dichter zitiert er auffallend häufig Texte der mittelalterlichen Theologia mystica, von denen die Predigten Johannes Taulers oder die anonyme Theologia deutsch allein quantitativ den herausragendsten Platz einnehmen.60 Diese Texte spielen in der gesamten mystischen Tradition der frühen Neuzeit, wie sie die Bibliografie in Gottfried Arnolds Historie und Beschreibung der mystischen Theologie (1702/03) dokumentiert, eine Schlüsselrolle.61 Beide Texte verdienen daher in Bezug auf Franck Aufmerksamkeit. Francks ausführliche Titelgebungen der Guldin Arch sowie der Paradoxa positionieren diese in die Tradition der »Teütsche[n] Theology«, die mit der »Götliche[n] Philosophy« ineins gesetzt wird.62 Franck übersetzte und paraphra-

58 Sebastian Franck: Die vier Kronbüchlein. Hg. v. Peter Klaus Knauer, Bonn 1992. Dazu Patrick Hayden-Roy: Orchestrating an Assault on Reason: Sebastian Francks ›Vier Kronbüchlein‹. In: Daphnis 36 (2007), S. 143–183. 59 Bruckner: Verzeichnis der hinterlassenen Bücher Sebastian Francks, S. 286–289; Christoph Dejung: Sebastian Francks nachgelassene Bibliothek. In: Zwingliana (Zürich) 16 (1984), S. 315– 336. 60 Die Theologia deutsch wird fast vollständig in die Guldin Arch übernommen, Taulers Predigten werden ausführlich und teilweise seitenweise zitiert. Siegfried Wollgast hat diese Zitatfülle quantitativ ausgewertet und die jeweiligen Stellen aufgelistet: Ders.: Sebastian Francks theologisch-philosophische Auffassungen. In: Ders. (Hg.): Beiträge zum 500. Geburtstag von Sebastian Franck, S. 15–87, hier S. 42. 61 Arnold referiert nach dem Vorbild der Unpartheiischen Kirchen- und Ketzerhistorie in der Historie und Beschreibung der mystischen Theologie eine nach Jahrhunderten und Autoren gegliederte Bibliograpie mystischer Literatur, die teilweise noch Summarien und Aspekte zur Druckgeschichte einschließt. Er belegt damit ergänzend, jedoch aus anderer Perspektive als Colberg, die Präsenz und das Interesse an mystischen Texten des Mittelalters noch im frühen 18. Jahrhundert. Gottfried Arnold: Historie und Beschreibung der mystischen Theologie. Faks. ND der Ausg. Frankfurt a.M. 1703. Stuttgart-Bad Cannstadt 1969. 62 Franck: Paradoxa dvcenta octoginta. Das ist  / CCLXXX Wunderred  / […] Item aller in Got Philosophierenden Christen rechte / Götliche Philosophei / vnd Teütsche Theologei / voller verborgner Wunderred / vnd gehaimüß / den verstandt allerlay fragen / vnd gemayne stell der H. Schrifft betreffende […] Sowie ders. Die Guldin Arch […] vnd bayde für gelert vnd vngelert / so



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sierte nicht nur als erster das Corpus Hermeticum ins Deutsche, er übersetzte und paraphrasierte ebenfalls die Theologia deutsch ins Lateinische und vermittelte sie neben anderen mystischen Traktaten an spiritualistische Gesinnungsgenossen in Holland.63 Ebenso wie er Hermes öffentlich zuspricht, am klarsten von allen antiken Autoren von Christus gesprochen zu haben, so hebt er die Theologia deutsch über alle christlichen alten und neuen Lehrer. Sie enthält für ihn die reine, von Gott offenbarte und direkt aus dem Himmel kommende Theologie und steht daher unmittelbar nach der Heiligen Schrift.64 Entsprechend ist sie ihm ein zentraler Referenztext – häufig erscheint im eigenen Schreibfluss der Hinweis »Davon lies das … Kapitel der Teutschen Theologie«.65 Der Inhalt des Traktats ist als »gnadenhafte Vergottung des Menschen im Lichte der vermittelnden Vorbildlichkeit des ›Christuslebens‹«66 geschildert worden. Im Hinblick auf Francks Rezeption ist festzuhalten, dass die Theologia deutsch Ideen enthält, die deutlich neuplatonischen Charakter haben und im kulturellen Kontext des ersten Drittels des 16. Jahrhunderts in einem strukturellen Gegensatz zur kanonisierten Satisfaktionslehre stehen. Darunter fallen Gedanken wie das Ungenügen aller kreatürlichen Werke sowie Gottes selbst außerhalb der eigenen Seele oder die Betonung, dass die Seligkeit erst mit der alleinigen Präsenz des Einen in der Seele erreicht wird, wobei der Weg dahin nicht über eine Orientierung an anderen Menschen, sondern über das Lassen des eigenen Selbst gezeichnet wird.67 Franck zitiert die Theologia deutsch auch als Kronzeugin gegen seine lutherischen Verfolger und beruft sich auf Luthers Lob in dessen Vorreden zu seinen eigenen Herausgeberschaften der Theologia deutsch.68 Luther hatte tatsächlich

nicht alle bücher mügen haben / […] Gmayne librey vnd Teütsche Theologey zusamen tragen / durch Sebastian Francken von Werd. 63 Alfred Hegler: Sebastian Francks lateinische Paraphrase der deutschen Theologie und seine holländisch erhaltenen Traktate. Tübingen 1901. 64 Ebd., S. 32. v v r 65 Franck: Paradoxa, Bl. 91 , 95 u. 123 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 234, 244 u. 312. 66 Alois M. Haas: Einleitung. In: ›Der Franckforter‹: Theologia deutsch, in neuhochdeutscher 2 Übersetzung hg. v. Alois M. Haas. Einsiedeln 1993, S. 13–25, hier S. 17. 67 Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 51 f.; im mittelhochdeutschen Original: ›Der Franckforter‹: Theologia deutsch. Kritische Textausgabe, Hg. v. Wolfgang von Hinten. München 1982, S. 81 f. (im Folgenden wird der Lesbarkeit zuliebe die neuhochdeutsche Übersetzung zitiert und auf das mittelhochdeutsche Original verwiesen). Zur Theologia deutsch vgl. die gründliche, neuere Untersuchung von Andreas Zecherle: Die ›Theologia deutsch‹. Ein spätmittelalterlicher mystischer Traktat. In: Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Hg. v. Berndt Hamm u. Volker Leppin unter Mitarb. v. Heidrun Munzert. Tübingen 2007, S. 1–95. 68 Teufel: »Landräumig«, S. 67; gleichzeitig liest er sie anders als Luther; vgl. Wollgast: Sebastian Francks theologisch-philosophische Auffassungen, S. 54.

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auf die programmatische Qualität der Theologia deutsch für eine angestrebte Renovatio Christianismi hingewiesen und – 1516 und 1518 noch selbst in der Rolle des Abweichenden – seine eigenen theologischen Neuerungen als Rückkehr zu jener alten, in der Gegenwart aber verdorbenen Theologie bezeichnet.69 Mit dieser Positionierung begegnete er dem Vorwurf einer unzulässigen Neuerung, da er die reformatorischen Thesen nun als Rückgriff auf eine alte, aber korrumpierte Tradition charakterisieren konnte. Ende der 1530er Jahre jedoch hatte sich nicht nur Luthers Haltung zur Mystik grundlegend gewandelt. Er hatte sich im Zuge der dramatischen Veränderungen der fortschreitenden Reformation von der Mystik auch als einem Denksystem distanziert, das gesellschaftlichen Aufruhr begünstige, nachdem mystische Vorstellungen in den Argumenten der Täufer prominent gewesen waren.70 Die Theologia deutsch erfuhr daraufhin deutliche Ablehnung durch das orthodoxe Luthertum, Calvinismus, Reformierte und Katholiken, die ihren deutlichsten Niederschlag in ihrer Indizierung durch Papst Paul V. im Jahr 1612 fand.71 Noch Colberg verzeichnet 1690 die Theologia deutsch als zentralen

69 Luther schreibt in der Vorrede zur Theologia deutsch: »Und das ich nach meynem alten narren rüme, ist myr nebst der Biblien und St. Augustino nit vorkummen eyn buch, dar aus ich mehr erlernet hab und will, was got, Christus, mensch und alle ding seyn. Und befinde nu aller erst, das war sey, das etlich hochgelerten von uns Wittenbergischen Theologen schimpflich reden, also wolten wir neu ding furnhemen, gleych als weren nit vorhyn und anderwo auch leut gewesen. […] Les dis Buchlein wer do will, unnd sag dann, ob die Theology bey uns new adder alt sey, dann dises Buch ist yhe nit new. Werden aber villeicht wie vormals sagen, Wyr seyen deutsch Theologen, das laßen wyr so seyn.« (Luther WA 1, S. 378 f.) 70 Siehe exemplarisch die Übersicht zu Luthers sich wandelnder Haltung zur Mystik Otto Langer: Inneres Wort und inwohnender Christus. Zum mystischen Spiritualismus Sebastian Francks und seinen Implikationen. In: Müller (Hg.): Sebastian Franck, S. 55–69. hier S. 61 f.; Kaufmann: Geschichte der Reformation, S. 95. Die breite Rezeption mystischer Theologie und ihre Weiterentwicklung bis zu sozialen und obrigkeitskritischen Konsequenzen zeigt sich exemplarisch bei Andreas Bodenstein, Caspar von Schwenckfeld, Sebastian Franck, Hans Denck und insbesondere Thomas Müntzer. Die scharfe Kritik des späten Luther verlängert sich in die diskursive Assoziation Valentin Weigels mit Karlstadt, Müntzer sowie Hermes Trismegistos bei Johannes Schelhammer (1621) und findet ihren Widerhall um 1700 in einer heftigen Polemik der Lutheraner, als Gottfried Arnold eine vorsichtige Rehabilitierung der Verketzerten versuchte. Vgl. Sigrid Looß: Alternatives Denken oder Außenseiterpositionen im Zeitalter von Reformation und Bauernkrieg. In: Vogler (Hg.): Wegscheiden der Reformation, S. 99–114, hier S. 103 ff.; Volkmar Joestel: Andreas Bodenstein genannt Karlstadt. Schwärmer oder Aufrührer? Wittenberg 2000; Stephan MeierOeser: Die Valentin Weigel-Rezeption. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Bd. 4,1: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Das heilige römische Reich deutscher Nation, Nord- und Mitteleuropa. Hg. v. Helmut Holzey et al. Basel 2001, S. 18–23, hier S. 23. 71 Vgl. Haas: Einleitung, In: Theologia deutsch, S. 13–25, hier S. 14; Hinten: Einführung. In: Theologia Deutsch, S. 1–61, hier S. 4.



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Referenztext unter seiner Bestandsaufnahme der Heterodoxien. Colberg bezeugt damit nur, dass sie ihre Popularität bei spiritualistischen und pietistischen Autoren von Weigel über Arndt bis zu Spener und Arnold behielt, die nun ihrerseits gerade unter Berufung auf Luther ihre Reformvorschläge als Rückkehr zu einer vermeintlich ursprünglichen, in der Gegenwart aber korrumpierten Theologie verstanden.72 Francks zweite, besonders bevorzugte Quelle sind die Predigten Johannes Taulers, wobei über Tauler hinaus auch an die Rezeption Meister Eckharts (Eckhart von Hohenheim; 1260–1328) zu denken ist. Nicht nur hat Tauler von seinem Lehrer Eckhart viel tradiert, beide Autoren sind auch publikationsgeschichtlich in der frühneuzeitlichen Rezeption in engsten Zusammenhang zu rücken: Der 1521 und 1522 in Basel erschienene Taulerdruck besteht zu einem Drittel aus Predigten Meister Eckharts.73 Auch verweist Tauler selbst in seinen Predigten auf Eckhart und wird so noch von Franck zitiert.74 Tauler setzt sprachlich andere Akzente als Eckhart,75 und es liegt nahe, dass er unter dem Eindruck des Schicksals Eckharts stand, der am Ende seines Lebens zum Ketzer wider Willen geworden war. Papst Johannes XXII. hatte 1329 Eckharts Lehre in der Bulle In agro dominico zur »Teufelssaat« erklärt, womit sein Name aus den offiziellen Handschriften weitgehend verschwand.76 Die

72 Vgl. auch die herausragend ausführliche Darstellung bei Arnold, Historie und Beschreibung der mystischen Theologie, S. 450–458. 73 Joannis Tauleri des seligen lerers Predig / fast fruchtbar zu eim recht christlichen leben. Gedruckt zu Basel Anno 1522 (Baseler Taulerdruck, abgekürzt BT, ND Frankfurt a.M. 1965). Zu einer Übersicht der Eckhart-Predigten im Basler Taulerdruck Josef Quint: Die Überlieferung der Deutschen Predigten Meister Eckeharts. Bonn 1932, S. 929 f. Siehe zum Druck selbst Winfried Zeller: Der Basler Taulerdruck von 1522 und die Reformation. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze. Hg. v. Bernd Jaspert. 2 Bde. Marburg 1971, Bd. 1, S. 32–38, hier S. 33. Auch Winfried Zeller fallen die zahlreichen Tauler-Referenzen in Francks Guldin Arch als besonders auf: Meister Eckhart bei Valentin Weigel  – Eine Untersuchung zur Frage nach der Bedeutung Meister Eckharts für die mystische Renaissance des 16. Jahrhunderts. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit 2, S. 55–88, hier S. 56, Anm. 8; siehe ebenfalls Hegler: Geist und Schrift bei Sebastian Franck, S. 283, Anm. 2. v 74 Franck: Paradoxa, Bl. 145 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 367. 75 Grundlegend zu Taulers Theologie und Philosophie Louise Gnädiger: Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre. München 1995; ebenso Dietrich M. Schlüter: Philosophische Grundlagen der Lehren Johannes Taulers. In: Johannes Tauler. Ein deutscher Mystiker. Essen 1961, S. 122–162; Bernward Dietsche: Über den Durchbruch bei Tauler. In: Ebd., S. 301–320. 76 Zu Eckharts Leben und Philosophie unter Aufarbeitung der älteren Forschung Kurt Flasch: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums. München 2010, zum Prozess S. 276 ff. Siehe ebenso mit Literatur Georg Steer/Irmgard Kampmann/Burkhard Mojsisch: Art. »Eckhart, Meister«.

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Tradierung des Texte Eckharts erfolgte damit anonym u. a. zu Nicolaus Cusanus (d.i. Nikolaus von Kues; 1401–1464) oder auch zu Sebastian Franck.77 Die jüngeren Forschungen zur sogenannten deutschen Mystik betonen die philosophische Kontextualisierung der Texte von der Gottesgeburt der Seele in der Rezeption der antiken Philosophie, so im Liber de Causis, in der aristotelischaverroistischen Philosophie, bei Proklos, in Boethius’ Trost der Philosophie, in der Seelenlehre des Aristoteles78 sowie – in hermetischen Texten: Das Liber 24 Philosophorum sowie der Asclepius-Dialog spielten bereits im lateinischen Mittelalter eine Rolle, wobei der Asclepius-Dialog in der Übersetzung des Bischofs von Karthago, Quodvultdeus, bekannt war, der irrtümlich für ein Werk des Augustinus gehalten wurde (bis ins 20. Jahrhundert) und auf diese Weise die diskursmächtige Kritik des großen Kirchenvaters in De civitate Dei wieder neutralisierte.79 Die erste These des Buchs der 24 Philosophen, Gott sei eine Monade, die eine weitere Monade hervorbringe, die sich in Liebe wieder auf den Ursprung zurückneige, spielt z. B. eine zentrale Rolle für Eckharts Trinitätsverständnis, das im Inquisitionsverfahren in einen häretisierten Gegensatz zum kanonisierten Trinitätsbegriff des 1323 heiliggesprochenen Thomas von Aquin geriet, der die personale Distinktheit der göttlichen Personen gelehrt hatte.80 Damit ist bereits im 14. Jahrhundert die Konfliktlinie angedeutet, die sich im 17. Jahrhundert um Jakob Böhmes modalen, nicht personalen Trinitätsbegriff wiederholte. Tauler kennt wie Eckhart die ekstatischen Schilderungen der Vereinigung der Seele mit Gott, die er in Formeln der Neuplatoniker Plotin, Proklos und (Pseudo-)

In: Literaturlexikon: Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Begr. von Walther Killy. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. Berlin 2009, hier Bd. 3 (2008), S. 182–189. 77 Die Rezeptionsforschung zu Eckhart in der frühen Neuzeit sieht sich bis heute mit dem Problem konfrontiert, dass Eckharts Name nach dem Inquisitionsverfahren gegen ihn aus den Handschriften verschwand und seine Schriften höchstens noch als Streugut in fremden Texten und meistens anonym überliefert wurden. Noch Gottfried Arnold musste in seiner Historie und Beschreibung der mystischen Theologie (Frankfurt a.M. 1702/03) auf eine Darstellung Eckharts verzichten, weil ihm nur fragmentarische Texte zugänglich waren; dazu Carlos Gilly: Die Überlieferung des ›Asclepius‹ im Mittelalter. In: From Poimandres to Jacob Böhme. Gnosis, Hermetism and the Christian Tradition. Hg. v. Roelof van den Broeck u. Cis van Heertum. Amsterdam 2000, S. 336–367, hier S. 355. 78 Kurt Flasch: Die Geburt der ›deutschen Mystik‹ aus dem Geist der arabischen Philosophie. München 2006. 79 Detailliert Gilly: Die Überlieferung des ›Asclepius‹ im Mittelalter, S. 336–367; einführend Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 79 ff. 80 Flasch: Meister Eckhart, S. 306; vertiefend Kurt Flasch: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen. Übersetzt u. kommentiert von dems. München 2011, S. 79 f.



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Dionysios Areopagita beschreibt.81 Obwohl er inhaltlich an Eckharts Gedanken von der Gottesgeburt in der Seele anknüpft und ganze Texte Eckharts in seine eigenen Predigten einfügt, betont er jedoch die Gefahr von Missverständnissen, zitiert den »minneclichen meister« anonym und versucht, den Formulierungen durch ihre Rückbindung an das Verdienst der Kirche und die Ordnung der Sakramente die Schärfe zu nehmen.82 Franck hat Tauler sehr geschätzt und oft zitiert,83 doch geht er selbst über Taulers Verkirchlichung der eckhartschen Thesen wieder hinaus. Francks Grundthese von der Innerlichkeit und konsequenterweise Ungebundenheit des wahren Christentums gegenüber jeder konfessionell-institutionalisierten Repräsentation ist ein Schluss, den Eckhart so nicht formulierte, der sich aber aus seinen Überlegungen zur Gleichgültigkeit der »wîse« auf dem Weg zur Gottesgeburt im Herzen bereits andeutet.84 Der Baseler Taulerdruck ist ein Schlüsseldokument für die Vermittlung der Gedanken Eckharts und Taulers an Franck. Der Druck aus dem Jahr 1522 enthält eine Anzahl von Glossen, die die Aktualität der mystischen Thesen für die zeithistorische Situation der frühen Reformationszeit akzentuieren. So wird z. B. ein Gedanke Eckharts in einer Randbemerkung zusammengefasst: »Laß gott gott in dir sein«.85 Diese Position vertraten die diskursmächtigen Vertreter des Luthertums um 1538, zur Zeit der Entstehung von Francks Guldin Arch, nicht mehr. Tauler wird 1521/22 auch zum Patron der Universalgültigkeit der Heiligen Schrift

81 Alois Maria Haas: Einführung. In: Johannes Tauler: Predigten. Übertragen und hg. v. Georg 3 Hofmann. 2 Bde. Einsiedeln 1987, Bd. 1, S. i-xix. 82 Haas: Einleitendes. In: Johannes Tauler: Predigten  I, S. 11; Tauler: Predigt 15a Clarifica me pater (Joh 17,5), Bd. I, S. 100–103; im Original: Ferdinand Vetter (Hg.): Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften. Berlin 1910, S. 69 (im Folgenden wird aus der neuhochdeutschen Übersetzung zitiert und auf die mittelhochdeutsche Standardausgabe verwiesen.) 83 Franck über Tauler und die Theologia deutsch: »[…] ich kann es mit worten nit genugsam erfolgen / was Christus ist/ sein leer vnnd leben ist gar verfallen. Die alten lerer haben laider wenig erkantnüß von Christo gehabt / Taulerus ist der best vnder jn / vnd die Teütsch Theologei / bezeüget auch ein rechten Christum / doch alles mit menschen gaiffer / nach der schwachheit v der zeit beschmaißt / sonderlich Taulerus.« (Franck: Paradoxa, Bl. 86 ; Franck: Paradoxa [Hg. Wollgast], S. 222) 84 So auch James F. Poag/Priscilla Hayden: Meister Eckhart und Sebastian Franck. Mystisches Wort / Soziopolitische Folgerungen im Mittelalter und in der Reformationszeit. In: Das Weiterleben des Mittelalters in der deutsche Literatur. Hg. v. dems. u. Gerhild Scholz-Williams. Königstein/Taunus 1983, S. 25–36. Ausführlich zur Nachwirkung Eckharts, die teils anonym, teils unter anderen Namen auch nach der Verbannung seiner Theologie weiterging Ingeborg Degenhardt: Studium zum Wandel des Eckhartbildes. Leiden 1967. 85 Zeller: Der Baseler Taulerdruck, S. 36. Siehe ausführlich Henrik Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Heidelberg 2003.

Abb. 3 a: Titelblatt Joannis Tauleri Predig (Basel 1521)



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und zum Gegner der Werkgerechtigkeit erklärt – wobei allerdings Eckharts Lehre vom »gerechten Menschen« Pate steht. Eckhart hatte den Homo iustus deutlich anders verstanden als Luther, nämlich nicht als Simul iustus et peccator, sondern als überformt in die Gerechtigkeit selbst.86 Tauler erscheint im Druck auch als Kronzeuge für die These, dass der Heilige Geist jeden Menschen zum allgemeinen Priestertum berufe (»Priesterlich ampt zympt geistlich mannen und frawen«) und dass das geistliche Amt unmittelbar als Wirkung des Heiligen Geistes auszufüllen sei.87 Auch das war um 1530 nach den Erfahrungen mit den Täufern und sozialen Protestbewegungen undenkbar geworden. Dieser Befund ist jedoch nicht allein ein Resultat einer historischen und sozialhistorischen Entwicklung: Die Auswertung der Randglossen verschiedener Leser des Taulerdrucks, u. a. Luthers, haben gezeigt, dass bereits im frühen 16. Jahrhundert die spekulativen Höhepunkte der Predigten Taulers, die Themen der Unio, der Einheit von Gottesgrund und Seelengrund auf der höchsten Stufe der mystischen Erfahrung kaum Benutzerspuren aufweisen, wohingegen unmittelbar vor und nach diesen Themen wieder viele Anmerkungen zu finden sind.88 Nach dem heutigen Stand der Forschung war es der Bußprediger, nicht der Anleiter zur Unio mystica, als der Tauler im breiten Strom der reformatorischen Theologie rezipiert wurde. Ganz anders dagegen lasen die Spiritualisten diese Predigten. Sie erinnerten an das Urteil des frühen Luther über Tauler, der dessen Theologie gegenüber der universitären Scholastik positiv gewürdigt hatte, und sie hoben nun gerade die Stellen an Tauler hervor, die vom Aufgang der Seele in Gott sprachen. Unterstreichungen und Benutzerspuren an einzelnen Exemplaren des Taulerdrucks aus dem Jahr 1521 zeigen durchaus, dass sich das Interesse der Leser sogar ganz explizit auf die Stellen der Vereinigungstheologie richten konnte. Diese wurde nun zusammen mit Luthers Urteil, in Tauler mehr echte Theologie als an allen Universitäten gefunden zu haben, als Quintessenz jener, vermeintlich ursprünglichen, aber korrumpierten christlichen Theologie tradiert. Noch weitgehend unerforscht ist das Phänomen, wie hier eine eigene Tradi­ tionslinie der Tauler-Rezeption entstehen konnte, in der es möglich war, jene strittigen Themen wie die Unio mit der Autorität Luthers zu verbinden. Der Baseler Taulerdruck enthält eine Vorrede mit einer fiktiven Geschichte des Lebens

86 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 6. DW I, in: Meister Eckhart: Werke. 2 Bde. Hg. v. Nikolaus Largier. Frankfurt a.M. 2008, Bd. 1, S. 78 ff.; Flasch: Meister Eckhart, S. 52 ff. 87 Zit. n. Zeller: Der Baseler Taulerdruck, S. 37. 88 So Otto: Vor- und frühreformatorische Taulerrezeption, S. 148 ff., bes. 152.

Abb. 3 b: Joannis Tauleri Predig (Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen) Handschriftlicher Kommentar: »Dr. Martin Luthers Urteil über Johannes Tauler, geschrieben im Jahr des Herrn 1518 […]. Und ich weiß, dass dieser Gelehrte gewissermaßen unbekannt ist in den Schulen der Theologen und daher sehr verachtet wird. Aber ich finde an ihm (wenn auch alles in der Volkssprache geschrieben ist), mehr an solider und handfester Theologie als bei allen scholastischen Gelehrten aller Universitäten je gefunden worden ist oder gefunden werden kann als in seinen Lehrsätzen«.

v

Abb. 3 c: Joannis Tauleri Predig (Bl. 34 ) Benutzerspuren heben u. a. folgende Stellen hervor: »Der sun gots do er uff hub seine augen in den himel / sprach er. Vatter mach klar dein sun. Dis werck lert vns / das wir vff sollen heben al vnser sinn/hende/krefft und gemüt / in die höhe / vnd betten in im / mitt im / vnd durch jn. […] Aber ich sag dir ein ding […] richte dein gemüt gantz uff in got / über alle creatur in den tieffen abgrund / darinn versenck deinen geist in gottes geist […] in einer waren vereinigung mit got innerlich in dem grund mit disem überkomestu alle wort vnd weis und übung […].«

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Taulers, dem während einer Predigt die Tränen kommen, sodass er nicht weitersprechen kann. Franck spielt auf diese Vorrede an.89 Diese Stelle zitiert noch Gottfried Arnold in der Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie,90 womit er ex negativo nicht nur die Wirkungsgeschichte dieses spezifischen Druckes belegt, sondern auch das Taulerbild dokumentiert, das nicht nur für Franck, sondern noch an der Wende zum 18. Jahrhundert im radikalpietistischen Milieu prägend wird: Das Bild des christlichen Mystikers als eines Erleuchteten durch den Heiligen Geist.91

2. Pymander als Inneres Wort:  Die Übersetzung des Corpus Hermeticum im Kontext mittelalterlicher Logosmystik 2.1. Narrative Struktur und mystisches Sprecher-Ich Franck besaß neben den Werken Plotins, Taulers, Laktanz’ und Origenes auch Ficinos lateinische Übersetzung des Corpus Hermeticum,92 auf der wiederum seine eigenen Exzerpte und Übersetzungen ins Deutsche basieren. Seine Bibliothek spiegelt nur geringes Interesse an praktischer Alchemie oder spekulativer Naturphilosophie, dagegen setzt sie die Texte der philosophischen Hermetica in einen Kontext patristischer, (neu-)platonischer und mystischer Literatur.93 Die ausführlichen Exzerpte aus dem Corpus Hermeticum und dem Asclepius-Dialog

r

89 Franck: Paradoxa, Bl. 29 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 84. 90 Joannis Tauleri des seligen lerers Predig / fast fruchtbar zu eim recht christlichen leben. Gedruckt zu Basel Anno 1521, c3r (die hiesige Arbeit zitiert den frühen Druck aus dem Jahr 1521); Gottfried Arnold: Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie. Ausgewählt und hg. v. Renate Riemeck. Leipzig 1975, S. 271: »Einmal aber ist er auf der Kanzel verstummt, hat zwei Jahre lang geschwiegen und auch viel leiden müssen.« 91 So trägt eine Neuauflage der Lebensgeschichte, die im Jahr 1692 in Frankfurt a.M. bei Philipp Fiebet erschien, den vielsagenden Titel Lebens-Beschreibung Des berühmten und hoch-erleuchten [!] Doctoris Joh. Tauleri Worinnen gar viel gute Lehren und Predigen begriffen seynd / Wie und aus was Ursachen er zu solchem seinen hochgeistlichen und erleuchteten Verstand / durch den und in dem er mit der Hülffe GOttes so viel Nutzen geschafft hat / gelanget seye / So daß er nicht unbillich etlichen der allerfürnehmsten Lehrern und Predigern der Christl. Kirchen verglichen werden mag. 92 Mercvrii Trismegisti Pymander, de Potestate et Sapientia Dei, eivsdem Asclepivs, de voluntate dei. Basel 1532. Im Jahr 1492 ist auch Ficinos Übersetzung von Plotins Enneaden erschienen. Zum Buchbesitz siehe Bruckner: Verzeichnis der hinterlassenen Bücher Francks, S. 289. 93 Von Agrippa besaß Franck bei seinem Tod nicht dessen magische Werke, sondern De vanitate scientiarum, Bruckner: Verzeichnis der hinterlassenen Bücher Francks, S. 289.



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erfüllen in Francks eigenen Texten die Funktion, Zeugnisse der Heiden94 zu sein. Im Kapitel Von Gott der Guldin Arch referiert Franck fast den gesamten ersten Traktat des Corpus Hermeticum. Dabei übersetzt er den Beginn des Traktats mit folgenden Worten: Nun diser Hermes schreibt / wie Gottes wort mit jm geredt (das er mentem dei oder Pymander nennt) hab jnnerlich vnd jn alles gelert […] vnd sagt zu jm / in jm. Dis liecht bin ich / ein gmüt / dein Got / elter dann die natur aber des liechts gepurt / plue vnd glantz ist Gottes sun / das in dir haret vnd sihet / ist das wort des Herrn / Das gemüt aber Got der vater / Dise haben kein vnderscheydt von einander / es ist ein leben vnd wesen / in disem liecht hab ich 95 das liecht gesehe onn end ein herschend beständig fewr […].

Bemerkenswert an der narrativen Struktur ist zunächst die beinahe nachgetragene Information zum Namen Pimander und zweitens die Ergänzung gegenüber dem lateinischen Text, Pimander sage »zu ihm/in ihm«. Diese doppelte Umschreibung mit dem Akzent auf der Innerlichkeit der Stimme ist an dieser Stelle eine Erfindung des Übersetzers, im Kontext des hermetischen Dialogs allerdings ist sie ein Rückgriff auf die Erzählsituation, die den Aufbau des ganzen Textes strukturiert. Die Rahmenhandlung des hermetischen Dialogs erzählt tatsächlich vom Schlaf des Körpers, der der Begegnung mit Pimander vorausging.96 Wenn Hermes am Ende des Dialogs feststellt, das Schließen der Augen sei zum wahren Sehen geworden,97 dann spielt er damit auf die etymologische Wurzel des Wortes Mystik an – das griechische myein, das die Grunderfahrung der mystischen Schau beschreibt.98 Rein narratologisch betrachtet entfaltet sich der Dialog zwischen Hermes und Pimander, der Hermes umfassendes Wissen um die Weltschöpfung und die Natur des Menschen offenbart, nach dem Absterben der sinnlichen Wahrnehmung. Indem Franck diese Erzählsituation prononciert hervorhebt, betont er den Offenbarungscharakter des hermetischen Textes. Noch bemerkenswerter allerdings ist Francks Erläuterung des Namens Pimander, die er in der Klammer für seine christlichen Leser anfügt: Pimander sei bei Hermes der Name für Gottes Geist oder Wort, und das heißt im christlichen Kontext: für den Logos. Indem Franck den hermetischen Pimander als Stimme

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94 Franck: Guldin Arch, Bl. 37 . r 95 Ebd., Bl. 41 (zur Seitenzählung: Die Angabe auf der Seite lautet LXI, 61, da sie aber dem Textfluss nach chronologisch richtig XLI, 41, heißen müsste, wird sie hier als S. 41 zitiert). Vgl. CH I, 2, 6 (CHD I, S. 10, 12). 96 CH I, 1 (CHD I, S. 10). 97 CH I, 30 (CHD I, S. 21). 98 Leppin: Die christliche Mystik, S. 8.

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des Logos interpretiert, erhält der ganze hermetische Dialog den Charakter einer inneren Offenbarung, die explizit auch an das christliche Sinnsystem Anschlussmöglichkeiten bietet: »Das gemüt aber Got / ein licht vnd leben / thet mit seinem wort ein ander gemüt geperen  / wöches ist ein fewr  / geyst und lufft«, fährt Franck fort, und die Randglosse vermerkt: »Christus von Heydenn erkannt«.99 Es folgt eine Paraphrase über die Schöpfung der Welt und des Menschen durch das Gemüt, das den Menschen als sein Ebenbild schafft und ein »frolocken mit jm« hat, anschließend die Erklärung über die zweifache Natur des Menschen als sterblich und unsterblich. Ohne ins Detail zu gehen geht Franck so weit zu behaupten, Hermes schildere die Schöpfung »gleich wie Moses«.100 Besonderen Raum erhalten dann die Ausführungen über die Selbsterkenntnis in CH I, 21, die Franck jedoch in der charakteristischen Wendung nach 2 Petr 1,4 als »Teilhabe an der göttlichen Natur« verdeutscht: Ja wer in sich selbs geet vnd sich selb kennet / der geet in Gott / vnd erkent Got / wie Gottes wort in mir leret […] so du nun ergreiffest / das du auß liecht und leben bist zusammen gefügt / so wirst du inn das selb liecht vnd leben versetzt. Dann Got / der selbs das liecht / leben vnd gemüt ist / hat gehaissen / das der mensch des götlichen gemüts teylhafftig wurd / vnd auff 101 sich selbs merkt / vnd in jm selbs ergriff / das leben / liecht / gemüt und Got.

Francks Übersetzung des ersten hermetischen Traktats suggeriert über die Identifikation des Pimander mit dem Logos und über die Schilderung der Selbsterkenntnis als Teilhabe am göttlichen »Gemüt« die nahtlose wechselseitige Ausl­egbarkeit der christlichen und hermetischen Offenbarung. Indem er den Offenbarungscharakter des hermetischen Dialogs betont, der von einer inneren Stimme übermittelt wird, die sich als Wort Gottes und gleichzeitig als das Gemüt des Erkennenden vorstellt, knüpft sie in Wortwahl und anthropologischen Bezügen an ein mystisches Wortfeld an, das in antiker, vor allem platonischer Philosophie, Patristik und auch in mittelalterlicher Mystik geläufig war, das aber um 1538 nicht mehr zum diskursmächtigen Wissen zählte. Im Gegenteil: 1536, zwei Jahre vor Francks Publikation der Guldin Arch, hatte Luther in seiner Disputatio de homine die Eckpunkte seiner Anthropologie noch einmal umrissen, die er bereits in De servo arbitrio (1525) gegenüber Erasmus formuliert hatte: Dazu gehörte die vollständige Korrumpierung der menschlichen Natur im Fall, ihre Unfähigkeit, von sich heraus Leben oder Gnade Gottes zu erlangen, die Ablehnung eines inneren Lichts, des freien Willens, einer Wahl zwischen Gut und Böse

r

99 Franck: Guldin Arch, Bl. 41 . v 100 Ebd., Bl. 4 . v 101 Ebd., Bl. 41 ; CH I, 21.



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und damit die vollständige Rechtfertigung durch den Glauben und die (fremde) Gnade.102

2.2. Übersetzung in Tradition und Kontext: Philologie und Anthropologie 2.2.1. Nous, Mens und Gemüt. Trichotome Anthropologie bei Tauler und Eckhart Franck bezeichnet Pimander nicht nur als Wort, sondern auch als Geist (»Mens«) Gottes. So hatte Ficino den griechischen »Nous« übersetzt, mit dem sich Pimander in CH I, 6 explizit identifiziert und vorstellt. Während neuhochdeutsche Übersetzungen für diesen Begriff die Übersetzung »Geist« wählen, entscheidet sich Franck für den bis ins 18. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff des »Gemüts«. Kritiker des 18. Jahrhunderts wollten an Francks These, Christus könne im Gemüt erkannt werden, das Verdikt der Schwärmerei festmachen, und auch die gegenwärtige Forschung assoziiert diesen Begriff zunächst mit dem theosophischen Milieu.103 Rein philologisch gesehen wählt Franck jedoch einen traditionellen Begriff aus der mittelalterlichen Logosmystik, der z. B. in den Predigten Meister Eckharts den innersten und höchsten Teil der Seele, das Seelenfünklein bezeichnen konnte. So schreibt Eckhart in der Predigt Renovamini spiritu (Ephes 4,23): »›Jr svnt ernuwet werden an vwerme geiste, der do mens heiset‹, das ist ein gemvte.«104

102 Luther WA 39/1, S. 175–177, bes. Satz 26–32, ebd., S. 176. 103 Vgl. Bücher: Haupt=Gründe des Fanaticismi, S. 134; ders.: Plato mysticus in Pietista redivivus, Das ist: Pietistische Übereinstimmung mit der Heydnischen Philosophia Platonis und seiner Nachfolger […]. Danzig 1699, S. 63. Die heutige Einschätzung des Begriffs als ›theosophisch‹ fußt auf der niederländischen Übersetzung des Corpus Hermeticum aus dem Jahr 1643, die ebenfalls nun unter Rückgriff auf Jakob Böhme den Begriff des »Gemüts« wählt. Aus der Sicht des Herausgebers Abraham Willemsz van Beyerland sollte diese Übersetzung des Corpus Hermeticum die Quellengrundlage der Werke Jakob Böhmes erschließen und stellt damit ein zentrales Verbindungsglied in der diskursiven Verflechtung von Hermetismus und Theosophie dar. Während die deutsche Übersetzung des Corpus Hermeticum von 1706 den Begriff des »Gemüts« übernahm, wählte der Aufklärer Tiedemann explizit in Abgrenzung vom theosophischen Sprachgebrauch die Begriffe »Vernunft« bzw. »Verstand«. Tiedemanns Übersetzung blieb bis zur wissenschaftlichen Übersetzung durch Jens Holzhausen und Carsten Colpe eine wichtige Übersetzung für den deutschen Sprachraum. Monika Neugebauer-Wölk: Nicolai  – Tiedemann  – Herder: Texte und Kontroversen zum hermetischen Denken in der Spätaufklärung. In: Trepp/Lehmann (Hg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis, S. 397–448, hier S. 412 f. 104 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 83. In: Ders.: Werke 2, S. 188; siehe auch Art. »Gemüt«. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 4/1, 2. Teil. Leipzig 1897, Sp. 3293– 3328, besonders mit Beispielen von Meister Eckhart und Franck Sp. 3296–3298.

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Damit bezieht Eckhart die von Franck benutzten Begriffe, lateinisch »mens«, Geist und Gemüt alle auf jenen innersten Seelenbereich. Dieses Innerste der Seele begründete bei Eckhart die Gleichheit zwischen Seele und Gott, sofern Gott darin im Sohn und im Heiligen Geist ausfließt.105 »[D]iu sêle hât an dem gemüete des geistes drîe krefte, die sint himelisch dar an, daz sie himelischiu werc vermügent. […] daz gemüete der sêle, daz ist diu eine houbetstat der sêle«.106 Das Gemüt als »houbetstat« und als Sitz der drei trinitätsanalogen Seelenkräfte Intellectus, Memoria und Voluntas bezeichnet damit das Innerste des Menschen. Als solches umfasst der Begriff von Eckhart bis hin zu Franck den Bereich des Verstandes (intellectus),107 aber er wird im Sprachgebrauch auch synonym mit dem Wortfeld Seele (Anima) und Herz gebraucht.108 In dieser Wortbedeutung des Gemüts als innerstem Wesenskern des Menschen übersetzt noch Luther: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.«109 Die Valenzen des Gemütbegriffs als innerster Wesenskern des Menschen sowie als Geist, Intellectus, Logos und Nous verbinden Franck mit einer langen, bis in die Patristik zurückreichenden logosmystischen Tradition, die erstens eine (neu-)platonische Anthropologie und Seelenvorstellung tradiert und zweitens das Wissen um die Einswerdung mit Gott über die innere Einkehr in den Seelengrund erinnert. Gerade die Predigten Taulers, die um das Thema der Unio mystica kreisen und diese Erfahrung für jeden einzelnen der Zuhörer eröffnen wollen, bezeichnen mit dem Wortfeld »gemuet« und »geist« den »grunt« der Seele, den Tauler auch als »abgrunt« bezeichnet. Von diesem Abgrund aus öffnet sich die Seele in den Abgrund Gottes.110 Kehre dich in Wahrheit von dir selber und allen geschaffenen Dingen ab, und richte deinen Geist [Gemüt, s.u.] gänzlich auf Gott über alle Geschöpfe (hinweg) in den tiefen Abgrund; da versenke deinen Geist in Gottes Geist, in wahrer Gelassenheit aller deiner oberen und

105 Nikolaus Largier: Kommentar zu Predigt 83, in: Meister Eckhart: Werke 2, S. 732. 106 Zit. n. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Sp. 3298. Vgl. ähnlich Tauler: Predigten I, S. 15 (V. 1, S. 9). 107 Grimm: Deutsches Wörterbuch, Sp. 3296. 108 Ebd., Sp. 3296, 3298 u. 3299; Beate Hennig: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Tübingen 1998, S. 105; Zedler, Großes vollständiges Universal=Lexicon. Bd. 2. Halle/Leipzig 1732, Sp. 339. 109 Mk 12,30. 110 Ausführlich und detaillliert zu Taulers Terminologie, der nach Anzahl und Breite der Zitate eine der wichtigsten Quellen Francks ist, Gnädiger: Johannes Tauler, S. 241 ff. Zentral auch Paul Wyser: Taulers Terminologie vom Seelengrund. In: Altdeutsche und altniederländische Mystik. Hg. v. Kurt Ruh. Darmstadt 1964, S. 324–352, besonders 341 f. u. 346.



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niederen Kräfte, über alle Sinne und Erkenntnis hinaus, in wahrer Vereinigung mit Gott, 111 innerlich in dem Grund.

Voraussetzung dieses Versinkens des geschaffenen Geists in den ungeschaffenen Geist Gottes ist bei Tauler noch die Idee einer zwar verborgenen, aber prinzipiell erfahrbaren göttlichen Präsenz im tiefsten Grunde der Seele oder des Herzens.112 Diese ist allen bewussten Seelenkräften und aller Geschaffenheit vorgängig und erschließt sich entsprechend nur über die völlige Entäußerung des eigenen Wesens, sofern dieses noch Züge einer personhaften Ichheit trägt. Tauler schildert diesen Vorgang als meditatives Einsinken in das eigene Innere, als »Rücklauf« und Konzentration aller Seelenkräfte auf den eigenen Seelengrund.113 Dabei stellt diese Einkehr die Gegenbewegung zur Zerstreuung der Kräfte in die Kreatürlichkeit dar und wird auch als Leerwerden beschrieben. In diesem Leerwerden gleicht der Mensch einem Gefäß, das erst von aller Ichheit, also der ganzen äußeren Persona samt ihrer Bilder und aller Form entleert werden muss. Diese Entleerung ist gleichsam die Bedingung zur Seligkeit, da erst ein leeres Gefäß – nach dem Gesetz des Horror vacui – auch vor Gott nicht leer bleiben kann: So füllt Gott selbst schließlich den sich in Demut entäußerten Menschen.114 Er wird in einem Augenblick in den liebenden Grund, aus dem alles ausgeflossen ist und in dem alles von Ewigkeit an gegenwärtig ist,115 gnadenhaft hineingerissen. Das Entscheidende in diesem Prozess ist, dass das Abschälen aller Kreatürlichkeit die Abgründigkeit der eigenen Seele freilegt, deren grundlose Tiefe die ewige grundlose Tiefe Gottes gleichsam anzieht, um mit ihr zu verschmelzen.116 Obwohl

111 Tauler: Predigten I, S. 101; im mittelhochdeutschen Original: »kere dich in der worheit von dir selber und von allen geschaffenen dingen und rihte din gemuete alzůmole uf in Got úber alle creaturen in daz tieffe abgrunde, darin versenke dinen geist in Gottes geist, in wore gelossenheit aller diner obersten und nidersten kreften, úber alle sinne und verstentnisse, in einer woren vereinigungen mit Gotte innerlichen in dem grunde.« (Vetter [Hg.]: Die Predigten Taulers, S. 67 f. [V. 15, S. 67 f.]) Oder: »[…] gebet ist nút anders wanne ein ufgang des gemuetes in Gotte.« (V. 3, S. 20); vgl. Gnädiger: Johannes Tauler, S. 184. 112 Wyser weist auf den synonymen Sprachgebrauch von grunt und herze bei Tauler hin (ders.: Taulers Terminologie vom Seelengrund, S. 328). 113 Tauler: Predigten I, S. 16 (V. 1, S. 9). 114 Ebd., S. 171 (V. 60e/25, S. 305); vgl. Gnädiger: Johannes Tauler, S. 189. 115 Tauler: Predigten I, S. 102 (V. 15, S. 68) 116 »Das ist das eine, das andere ist, daß der Mensch hierbei in sein grundloses Nichts fällt […]. Da versinkt das geschaffene Nichts in das ungeschaffene Nichts: aber das ist etwas, was man weder verstehen noch mit Worten auszusprechen vermag. Hier wird das Wort des Propheten wahr: ›Abyssus abyssum invocat – ein Abgrund ruft den anderen Abgrund in sich hinein.‹ Der geschaffene Abgrund ruft den ungeschaffenen Abgrund in sich hinein, und beide werden eins.« (Tauler: Predigten II, S. 314 f. [V. 41, S. 176])

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Tauler die Unterstützung dieses Prozesses durch die Kirche sehr betont, lässt er keinen Zweifel daran, dass der Weg zu Gott letztlich nur über die eigene Hinwendung ins Innere führt, ja dass der Kern des christlichen Lebens überhaupt gerade in dieser Einkehr in den Seelengrund besteht.117 Diesem Konzept liegt ein Modell der trichotomen Anthropologie zugrunde, das den Menschen in einen äußeren, inneren und innersten Menschen unterteilt und dieser Einteilung die Wahrnehmungsebenen der körperlichen Sinne, der Vernunft und der reinsten Seelensubstanz, der Geistseele zuordnet.118 Die unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen werfen unterschiedlich getrübte Bilder auf die Seele, die nach einer eckhartschen und plotinischen Metapher mit einem Spiegel verglichen wird. Erst in der Bilderlosigkeit und Leere, wenn die äußeren Wahrnehmungsebenen gelassen worden sind in der Versenkung in den Grund, spiegelt die innerste Seele als leerer Spiegel das Bild Gottes.119 Tauler schildert diesen Prozess in bewegten Bildern und starken Metaphern. Der Mensch wird in jenem Moment »überformt«, »vergottet«, »verliert« sich in Gott und »ertrinkt« buchstäblich im Meer ohne Grund. Trotz seiner poetischen und spekulativ anmutenden Sprache schildert Tauler jedoch auch ganz praktisch den Prozess einer grundlegenden Transformation des menschlichen Wesens. Die Gottesgeburt in der Seele führt nicht ins Nichts, sondern bedingt ein aus dem Wesenskern verwandeltes Leben. Die in Gott geborenen haben nichts weiter verloren als ihren »natürlichen Menschen«, also alle Aspekte der eigenen Selbstheit, sind dafür aber »wesentlich«120 geworden, liebevoll und gütig gegenüber anderen, ohne Gebrechen, voller Vertrauen und nicht mehr von Gott zu trennen. In diesem Sinn eines Zunichtewerdens alles Personalen zu einer Existenz im reinen Sein beschreibt Tauler diesen Prozess als »Vergottung«: Und jetzt wird der Mensch so vergottet, daß alles, was er ist und wirkt, Gott in ihm wirkt und ist; solch ein Mensch wird weit über seine natürliche Weise hinaufgetragen, daß er so recht von Gottes Gnade das wird, was Gottes Sein von Natur ist. In diesem Stand fühlt sich der Mensch wie verloren; er weiß, noch empfindet, noch fühlt er etwas von sich selbst; er 121 ist sich nur eines einfachen Seins bewußt.

117 Ebd.  I, S.173: »Solltest du aber dergleichen [ein Hindernis für den Heiligen Geist] bei dir finden, so mußt du damit nicht sogleich zu deinem Beichtvater laufen; nimm den Weg in dein eigen Selbst und damit zu Gott, und gib dich ihm von Grund auf schuldig.« (V. 60e/25, S. 307)  »Der Mensch, welcher je nach seinen Kräften nicht zum mindesten einmal am Tag sich in den Grund kehrt, der lebt nicht wie ein rechter Christ.« (Ebd. I, S. 42 [V. 6, S. 26]) 118 Ebd., S. 28; vgl. Gnädiger: Johannes Tauler, S. 147 ff. 119 Tauler: Predigten I, S. 41 (V. 6, S. 26). 120 Ebd. II, S. 315 (V. 41, S. 176). 121 Ebd.  I, S. 306 (V.  39, S. 162). Über die Terminologie der Vergottung leitet sich immer der Pantheismusverdacht her. Doch bereits Denifle macht darauf aufmerksam, dass »gegottet«



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Diese Aufstiegsbewegung deutet Tauler auch in der Metaphorik einer Bergbesteigung, die die Begriffe des Sohns und des Gemüts vielsagend in Beziehung setzt. In einer Allegorese der alttestametarischen Szene Gen 22,3–4, in der Abraham und Isaak auf den Berg Moria steigen, um Isaak zu opfern,122 deutet Tauler das Zurücklassen des Esels als Ablegen des unteren, animalischen Menschen, den Abschied vom Knecht, der den Berg hinaufführte, aber nicht mit zum Gipfel kam, als Zurücklassen des vernünftigen Menschen. Zum Gipfel der Gottesbegegnung kommt allein der Sohn mit: Und du sollst also die beiden da unterhalb zurücklassen und sollst allein mit dem Sohn aufsteigen, das heißt mit dem Gemüt in das Verborgene, in das Allerheiligste, und da dein 123 Opfer bringen.

Das Opfer besteht in der Aufgabe des animalischen und des vernünftigen Menschen, während das »verborgen gemuete« sich in die Verborgenheit des göttlichen Abgrunds birgt und dort in die Ungeschaffenheit des überzeitlichen Geistes gerissen wird: In dieser Verborgenheit wird der geschaffene Geist zurückgebracht in seine Ungeschaffenheit, dahin wo er ewiglich gewesen ist, ehe er geschaffen wurde. Und er erkennt sich als 124 Gott in Gott, aber dennoch sich selbst als Kreatur und erschaffen.

Taulers Bilder und Metaphern, vor allem aber das trichotome anthropologische Modell verbinden seine Texte mit denen Meister Eckharts. Tauler spricht tendenziell lieber vom Seelengrund als vom Seelenfunken in Bezug auf jenen innersten Seelenbereich, was als Reaktion auf den Inquisitionsprozess gegen Eckhart gedeutet worden ist.125 Dennoch denkt er wie Eckhart im geistigen Bereich Höhe

und »vergottet« die genauen althochdeutschen Übersetzungen des in der Patristik geläufigen lateinischen »deificatus« bzw. »deus effectus« darstellen und »gottvar«, gottförmig, die althochdeutsche Übersetzung des lateinischen »deiformis« ist. Heinrich Seuse Denifle: Die deutschen Mystiker des 14. Jahrhunderts. Beitrag zur Deutung ihrer Lehre. Hg. v. P. Otwin Spiess. Freiburg (CH) 1951, S. 135 f. 122 Ausführlich zu dieser Szene Gnädiger: Johannes Tauler, S. 243. 123 Im Original: »Und due solt dise beide do lossen do nideran und solt alleine mit dem sune uf gon, das ist mit dem gemuete in das heimliche, in das sancta sanctorum, und thun do din opfer.« (V. 65, S. 358) 124 Im Original: »In der verborgenheit wirt der geschaffen geist wider getragen in sin ungeschaffenheit, do er eweklichen gewesen ist e er geschaffen wúrde, und bekent sich Got in Gotte und doch an im selber creatur und geschaffen« (V. 65, S. 358). 125 Gnädiger belegt Taulers Gleichsetzung des Seelengrunds mit Eckharts Seelenfünklein (dies.: Johannes Tauler, S. 250). Ausführlich zum Begriffsfeld »Grund«, »Spitze« und »Funke«

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und Tiefe als eins.126 Taulers Modell des Seelengrunds ist eng mit Eckharts Idee des Seelenfünkleins verwandt, das als oberster Teil des »Gemüts« auch Träger der Gottebenbildlichkeit ist. So schreibt Eckhart: »Die Seele hat etwas in sich, ein Fünklein der Erkenntnisfähigkeit, das nimmer erlischt, und in dieses Fünklein als in das oberste Teil des Gemüts verlegt man das ›Bild‹ der Seele.«127 Auch Eckhart folgt anthropologisch dem trichotomen Modell des äußeren (körperlichen), inneren (geistigen) und innersten Menschen. Der innerste Mensch wird auf den Seelenfunken bezogen, der jenseits von Raum und Zeit in der Ewigkeit ruht. Eckhart ordnet der Seele ein oberes und ein unteres Antlitz zu, wobei das untere »die Sinne lenkt«, also auf den kreatürlichen Menschen gerichtet ist, das obere jedoch allzeit in die Ewigkeit schaut und nicht an die Körperlichkeit gebunden ist. So schildert er in einer Predigt, die auch im Baseler Taulerdruck enthalten ist: Die Meister sagen, die Seele habe zwei Antlitze: das obere Antlitz schaut allzeit Gott, und das niedere Antlitz sieht etwas nach unten und lenkt die Sinne; das obere Antlitz aber, welches das Höchste der Seele ist, steht in der Ewigkeit und hat nichts zu schaffen mit der Zeit und weiß nichts von der Zeit noch vom Leibe. Und ich habe zuweilen gesagt, in ihm liege so etwas wie ein Ursprung alles Guten verdeckt und wie ein leuchtendes Licht, das allzeit leuchtet, und wie ein brennender Brand, der allzeit brennt; und dieser Brand ist 128 nichts anderes als der Heilige Geist.

Hier unterscheidet sich Eckharts Seelenbegriff von der scholastischen, an Thomas von Aquin orientierten Seelenlehre, die Körper und Seele als Kompositum denkt und die Seele als Formprinzip dem kreatürlichen Bereich zurechnet.129

Peter Reiter: Der Seele Grund. Meister Eckhart und die Tradition der Seelenlehre. Würzburg 1993, S. 93 ff. Wyser weist darauf hin, dass Tauler nach Eckharts Inquisitionsprozess den Begriff des Fünkleins vermeidet (ders.: Taulers Terminologie vom Seelengrund, S. 348). Dennoch lassen sich beide Begriffe auf lat. »mens« und gr. »nous« beziehen. 126 Tauler: Predigten I, S. 306 (V. 39, S. 162). 127 Meister Eckhart: Predigt 76. DW II. In: Ders.: Werke  II, S. 129; im Original: »Diu sêle hât etwaz in ir, ein vünkelîn der redelicheit, daz niemer erlischet, und in diz vünkelîn setzet man daz bilde der sêle als in daz oberste teil des gemüetes.« (Ebd., S. 128) Die Predigt steht im Baseler Taulerdruck (ebd., S. 705). Siehe auch Otto Langer: Meister Eckharts Lehre vom Seelengrund. In: Grundfragen christlicher Mystik. Hg. v. Margot Schmidt u. Dieter R. Bauer. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 173–192; Reiter: Der Seele Grund, S. 283 ff. u. 308 f. 128 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 26. DW I. In: Ders.: Werke I, S. 289/299. Wieder wird die neuhochdeutsche Übersetzung zitiert, jedoch verweisen die Seitenangaben jeweils auf die mittelhochdeutsche und die neuhochdeutsche Textstelle. 129 Zur thomistischen Seelenlehre Langer: Eckharts Lehre vom Seelengrund, hier S. 175 ff.; Reiter: Der Seele Grund, S. 284.



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In aller Deutlichkeit hat die Seele nach Eckhart dagegen Anteil an etwas Ungeschaffenem, wobei er jedoch kein spezifisches Seelenorgan oder eine Seelenkraft damit benennt. In der zweiten Pariser Quaestio behandelt Eckhart im Kontext der Frage nach den Erkenntniskräften den »Nus der Seele«, womit er auf das dritte Buch von Aristoteles’ De anima anspielt.130 Aristoteles spricht vom Intellekt als unvermischtes, quasi-göttliches Prädikat, das Eckhart der Geistseele zueignet. In den deutschen Predigten beschreibt er den innersten Bereich ebenfalls als unvermischt, ungeschaffen und belegt ihn mit den Begriffen intellectus oder vernünfticheit, um ihn von der geschaffenen Vernunft zu unterscheiden. So heißt es in einer Predigt, die auch im Baseler Taulerdruck überliefert ist: [W]ie ich schon öfter gesagt habe, daß etwas in der Seele ist, das Gott so verwandt ist, daß es eins ist und nicht vereint. Es ist eins, es hat mit nichts etwas gemein, noch ist ihm irgend etwas von alledem gemein, was geschaffen ist. […] Wäre der Mensch ganz so geartet, er wäre völlig ungeschaffen und unerschaffbar; wäre alles das, was körperlich und bresthaft 131 ist, so in der Einheit begriffen, so wäre nichts anderes, als was die Einheit selbst ist. Diese Kraft nimmt Gott ganz entblößt in seinem wesenhaften Sein; sie ist eins in der Einheit, 132 nicht gleich in der Gleichheit.

Dieser innerste Bereich der Seele trägt viele Namen: Burgstädtchen, Funke, Seelenspitze, der stoizistischen Tradition nach scintilla animae, apex mentis, hegemonikón,133 und entzieht sich gleichzeitig jeder sprachlichen Benennung. Dieses Tiefste und Höchste jenseits der Zeit ist der ›Ort‹ der ewigen Logosgeburt des Vaters, wie Eckhart – ebenfalls im Baseler Taulerdruck zugänglich – erläutert: Ich habe bisweilen gesagt, es sei eine Kraft im Geiste, die sei allein frei. Bisweilen habe ich gesagt, es sei eine Hut des Geistes, bisweilen habe ich gesagt, es sei ein Licht des Geistes; bisweilen habe ich gesagt, es sei ein Fünklein. Nun aber sage ich, es ist weder dies noch das; trotzdem ist es ein Etwas […]. Es ist von allen Namen frei und aller Formen bloß, ganz ledig und frei, wie Gott ledig und frei ist in sich selbst. Es ist so völlig eins und einfaltig, wie Gott eins und einfaltig ist, so daß man mit keinerlei Weise dahinein zu lugen vermag. […] in dieser selben Kraft gebiert der Vater seinen eingeborenen Sohn so wahrhaft wie in sich 134 selbst.

130 Flasch: Meister Eckhart, S. 122; Aristoteles: De anima III, 4, 429a 18 bis 429b 25. 131 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 12. DW I. In: Ders.: Werke I, S. 146/147. 132 Ders.: Deutsche Predigt 13. DW I. In: Ders.: Werke  I, S. 158/159. Ausführlich zum Seelengrund, der sein Sein aus dem göttlichen Sein empfängt Langer: Eckharts Lehre vom Seelengrund, S. 186. 133 Ruh: Meister Eckhart, S. 146. 134 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 2. DW I. In: Ders.: Werke I, S. 32/33; weiterführend Kurt Ruh: Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker. München 1985, S. 144 ff.

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Den drei Seelenebenen entsprechen nach Eckhart drei verschiedene Stufen der Erkenntnis.135 Wie Tauler beschreibt sie Eckhart als körperlich-sinnenhafte, die zweite als seelisch-vernünftige, in der Gott als Sohn und Logos wahrgenommen werden kann, wie er in sich die Urbilder aller Kreaturen enthält. Die dritte Stufe transzendiert auch noch die Erkenntnis der Urbilder solange diese einen Gegenstand der Erkenntnis darstellen. Sie wird als objektloser Zustand des reinen lauteren Einsseins beschrieben, in der Sehender und Gesehenes eins sind: »Das Auge, in dem ich Gott sehe, ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Leben«.136 Das ist als Pantheismus gedeutet worden, wobei Eckhart sehr präzise darlegt, dass sich die Wesensgleichheit allein auf den Seelenfunken als Geistseele bezieht: »Mit dem Teile ist die Seele Gott gleich und sonst nicht.«137 Obwohl das Konzept des Seelenfunkens bereits zeitgenössisch als häretisch bezeichnet wurde,138 besagt Eckhart an keiner Stelle, dass der Mensch aufgrund seiner Anthropologie bereits göttlich sei. Vielmehr kreisen alle seine Predigten um die Rückkehr des kreatürlichen Menschen zu jenem Ort der innersten Teilhabe an der Ewigkeit in der Zeit. In einer für die frühneuhochdeutsche Rezeption folgenschweren Weise ist diese Rückkehr mit den signalträchtigen Wendungen der Gottessohnschaft und des inneren Worts verbunden. Gottes Bild, ja Gottes Sohn, so schreibt Eckhart mit einem Bild des Origenes im Traktat Vom edelen menschen, sei in der Seele Grund wie ein lebendiger

135 Reiter: Der Seele Grund, S. 333. 136 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 12. DW I. In: Ders.: Werke I, S. 148/149. 137 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 2. DW I. In: Ders.: Werke I, S. 36/37. 138 Zur »Gefahr« der Predigten Eckharts in deutscher Sprache und ihre Rezeption bei antihierarchisch ausgerichteten Laienbewegungen Degenhardt: Studien zu Wandel des Eckhartbildes, S. 28 f. Welche Sprengkraft bereits zu Eckharts Lebzeiten von diesem Konzept ausging, bezeugt – neben seinem eigenen Inquisitionsverfahren  – der höchstwahrscheinlich von Eckhart zu verfolgende Prozess gegen die Begine Marguerite Porete in Paris, der 1310 mit ihrem Tod auf dem Scheiterhaufen endete. Marguerite schrieb in ihrem Buch Der Spiegel der einfachen Seelen, dass die in ihrer äußeren Natur vernichtete Seele von der Substanz Gottes lebe, sündlos und damit frei sei. Die Wirkungsgeschichte des Werks spricht Bände: Zur Widerlegung einer Frau und Laiin [!] wurden 21 Theologen, teilweise Autoritäten höchsten Ranges bemüht, es wurde trotz Ächtung in vier Sprachen übersetzt, massenhaft gelesen, vom heiligen Bernhard wie von einer päpstlichen Untersuchungskommission verworfen und noch auf dem Basler Konzil 1439 thematisiert – allerdings ohne den Namen der Verfasserin zu erwähnen. Siehe Ruh: Meister Eckhart, S. 95 ff.; Leppin: Die christliche Mystik, S. 94 f. Zu den sozialgeschichtlichen Implikationen der verketzerten Lehren mit besonderem Blick auf die sogenannte Frauenfrage siehe Gottfried Koch: Frauenfrage und Ketzertum im Mittelalter. Die Frauenbewegung im Rahmen des Katharismus und des Waldensertums und ihre sozialen Wurzeln (12.–14. Jahrhundert). Berlin 1962.



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Brunnen.139 Dieser Brunnen ist von Erde bzw. von irdischem Begehren verschüttet und somit unkenntlich geworden, bleibt aber in sich selbst lebendig. Wenn man die von außen auf ihn geworfene Erde wegnimmt, so kommt er wieder zum Vorschein bzw. man wird sich der Quelle wieder gewahr. In dieser Anthropologie ist die Macht der Erbsünde, die für Luthers Anthropologie so prägend wurde, deutlich relativiert.140 In diesem Innersten findet die Sohngeburt des Vaters ewig statt.141 In dem Maße jedoch, in dem der Mensch über alle Geschaffenheit hinaussteigt, also die zeitunterworfenen Sinne und sich selbst gelassen hat, wird er der Sohnschaft teilhaftig. In einer Predigt, die im Baseler Taulerdruck verfügbar war, sind bereits die Wendungen geprägt, die für Francks Übersetzung des Corpus Hermeticum sinnstiftend werden sollten: Drei Dinge sind es, die uns hindern, so wir das ewige Wort nicht hören. Das erste ist Körperlichkeit, das zweite Vielheit, das dritte ist Zeitlichkeit. Wäre der Mensch über diese drei Dinge hinausgeschritten, so wohnte er in Ewigkeit und wohnte im Geiste und wohnte in der Einheit und in der Wüste, und dort würde er das ewige Wort hören. Nun spricht unser Herr: »Niemand hört mein Wort noch meine Lehre, er habe denn sich selbst gelassen.« (Luk. 14, 26) Denn wer Gottes Wort hören soll, der muss völlig gelassen sein. Das gleiche, was da hört, ist dasselbe, was da gehört wird im ewigen Worte. Alles das, was der ewige Vater lehrt, das ist sein Sein und seine Natur und seine ganze Gottheit; das offenbart er uns allzumal in 142 seinem eingeborenen Sohne und lehrt uns, daß wir derselbe Sohn seien.

Der gelassene Mensch, so Eckhart, hört das ewige Wort in sich. Was hört und was gehört wird wird dasselbe im ewigen Wort  – so wurden auch in Francks Übersetzung Hörer und Gehörtes terminologisch eins: ein Gemüt. In der tiefsten Einheit lernt der Mensch, dass er derselbe Sohn ist. Folgerichtig übersetzte Franck in Bezug auf Hermes, das Ziel der menschlichen Existenz sei, »des göttlichen Gemüts« – des Logos – »teilhafftig« zu werden. Unter dem Namen Taulers war im Baseler Druck auch zu lesen, dass in Eckharts Predigt diese Sohngeburt nichts weniger als das Telos der gesamten Schöpfung darstelle: Der Mensch, der da so ausgegangen wäre, daß er der eingeborene Sohn wäre, dem wäre eigen, was dem eingeborenen Sohn eigen ist. Was Gott wirkt und was er lehrt, das wirkt und

139 Meister Eckhart: Vom edlen Menschen. In: Ders.: Werke II, S. 314–333, hier S. 321. 140 Haas merkt an, dass das Konzept der Erbsünde bei Eckhart eine rein periphere, über Zitationen der Meister nicht hinausgehende Rolle spielt: Alois Maria Haas: Nim din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse. Freiburg (CH) 1971, S. 16. 141 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 2. DW I. In: Ders.: Werke I, S. 34 f. 142 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 12. DW I. In: Ders.: Werke I, S. 142 f.

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lehrt er alles in seinem eingeborenen Sohne. Gott wirkt alle seine Werke darum, daß wir der 143 eingeborene Sohn seien.

2.2.2. Seele und Gott in der Tradition. Von Augustin über Plotin zur Theologia deutsch Die Lehre von der Gottessohnschaft der Begnadeten ist durchaus neutestamentlich ableitbar (Röm 9,14 und 2 Petr 1,4). Wenn Paulus im Römerbrief schreibt, die Christen seien nicht Knechte, sondern Kinder Gottes, und die Vulgata die Teilhabe der Christen an der göttlichen Natur, von der 2 Petr 1,4 spricht, als Consortes divinae naturae übersetzt, dann umschreibt der Begriff der Gottessohnschaft bei Eckhart weder ein Analogie- noch ein Adoptivverhältnis, sondern eine substanziale Wirklichkeit: Kinder haben dieselbe Natur wie ihr Vater. Auch hat seine These, dass Gott Mensch wurde, damit der Mensch Gott werde, Vorbilder in der griechischen Patristik.144 Doch erhielt mit der Heiligsprechung des Thomas von Aquin 1323 dessen Verständnis der Gottessohnschaft als Ähnlichkeit, Similtudo, gegenüber dem Einheitsbegriff Eckharts Diskursmacht, indem es energisch durchgesetzt und Abweichungen vom Thomismus verfolgt wurden. Auch die Eckhart nahestehende These des Petrus Lombardus von der substanzialen Anwesenheit des Heiligen Geistes in der Seele der Gläubigen wurde im 16. Jahrhundert von niemandem mehr vertreten. Davon abweichend berufen sich jedoch Sebastian Franck und Tauler sowie der unter dessen Namen vermittelte Eckhart auf eine Tradition. Die von ihnen zitierten Autoren sind im Hinblick auf die jeweiligen Seelenbegriffe und auf die Vorstellung der Einswerdung, der sogenannten Gottesgeburt vielsagend, wie eine exemplarische Skizze zeigen kann.145 Die Lehre vom Seelengrund geht begrifflich und referentiell auf Augustinus’ Begriff des Abditum mentis146 zurück. Diesen tiefsten Grund des menschlichen Geistes bezeichnet Augustin als Animi sedes,147 Sitz des Geistes, wo

143 Ebd. 144 Hier und zum Folgenden Flasch: Meister Eckhart, S. 284 ff. 145 Nur verwiesen sei auf die ausführliche Erarbeitung der Quellen Eckharts: Loris Sturlese (Hg.): Studi sulle fonti di Meister Eckhart. Fribourg (CH) 2008. Mit vielen Quellenbelegen zur Logosgeburt im Herzen von der griechischen Patristik über die lateinische Theologie bis zu den mittelalterlichen Mystikern Hugo Rahner: Die Gottesgeburt. Die Lehre der Kirchenväter von der Geburt Christi im Herzen des Gläubigen. In: Zeitschrift für katholische Theologie 59 (1935), S. 333–418. 146 Wyser: Taulers Terminologie vom Seelengrund, S. 339 f. 147 Aurelius Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. Hg. v. Joseph Bernhart. München 1955, S. 544 (Buch X, 25, 36). Wyser macht auf aufmerksam, dass die – erst in der europäischen frühen Neuzeit z. B. bei Weigel als problematisch empfundene – Idee des Reich Gottes im Seelengrund



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der Geist sich selbst als konstante, unterbewusste Präsenz gegenwärtig ist. Wenn der Mensch in diesen göttlichen Grund bewusst einkehrt, dann wird er von ihm erleuchtet, versäumt er dies, so bleibt der Grund zwar verschüttet, dennoch verbleibt Gott unerkannt in der Seele. Augustin wiederum steht damit in der Tradition des Neuplatonismus, wenn er auch gegenüber seiner Quelle Plotin eine entscheidende Akzentverschiebung vornimmt: Anders als bei Plotin steht bei Augustin am Ende des mystischen Wegs nicht die Identität mit Gott, sondern die Erkenntnis kategorialer Andersheit, die von Gott gnadenhaft überbrückt wird; anstelle eines Ruhens in der Gottheit akzentuiert er den moment- und gnadenhaften Charakter am Ende des Aufstiegsprozesses.148 Rezeptionsgeschichtlich bedeutsam ist hierbei einerseits die Vertiefung und Überschreitung jener augustinischen Position bei Eckhart wiederum im plotinischen Sinne einer völligen Einheit von Seele und Gott in der unio und andererseits die Aktualisierung der augustinischen Deutung in protestantischer wie katholischer Theologie der frühen Neuzeit, die zunehmend kritisch gegenüber dieser denkbaren Idee der Einheit im Seelengrund eingestellt ist.149 Als weitere Quellen der Lehre vom Seelengrund in mittelalterlicher Mystik und Philosophie sind die Logoslehre der Stoa, die maßgeblich von Origenes ins Christentum überführt wurde sowie die (neu-)platonische Philosophie. Die Lehre eines Seelenfunkens, der individueller Logos und gleichzeitig Teil des AllLogos sein kann, wird im frühen Christentum zusammen mit den Seelenlehren des Proklos und Plotin rezipiert. Auch nach Proklos ist der Geist Ursprung und gleichzeitig Grund der Seele, der jenseits aller Gegensätze bleibt, die in der Seele entfaltet werden.150 Da der Seele zugrundeliegende Geist immer in der Einheit verbleibt, hat die Seele über ihn gleichzeitig am göttlichen Geist teil. Sie ist damit ewig ihrem Sein nach – Proklos nennt diese Geistnatur die »Seelenspitze« – und zeitlich ihrem Wirken nach. Dieses Modell wiederholt Eckhart fast wörtlich in der Predigt Beati pauperes spiritu, die auch im Taulerdruck überliefert ist.151

über Tauler und Eckhart auch auf diese Stelle bei Augustin zurückgeführt werden kann: In den Confessiones schreibt Augustin: »Tu [Deus] dedisti hanc dignationem memoria mea, ut maneas in ea / Du hast diese Ehre meinem Innern angetan, daß du wohnst darin« (Confessiones X, 25, 36). Tauler macht daraus: »[…] das ist im innersten grunde, do Got der selen naher und inwendiger ist verrer wan si ir selber ist.« Wyser: Taulers Terminologie vom Seelengrund, S. 340. 148 Ausführlich Hermann Häring: Art. »Eschatologie«. In: Augustin Handbuch. Hg. v. Volker Henning Decroll. Tübingen 2007, S. 540–547, hier S. 542 f. 149 Eckhart zitiert häufig Augustins »Noli foras ire, in te ipsum redi, in interiore homine habitat veritas«, zit. n. Rahner: Die Gottesgeburt, S. 389; siehe auch Reiter: Der Seele Grund, S. 199 f. 150 Werner Beierwaltes: Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik. Frankfurt a.M. 1965, S. 193. 151 »Jede teilhabbare Seele hat ein ewiges Sein, aber ein Wirken in der Zeit.« Zit. n. Beierwaltes: Proklos, S. 196; Meister Eckhart. Deutsche Predigt 52. DW I. In: Ders.: Werke I, S. 560/561. Zu einer

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Prominent formuliert findet sich diese Vorstellung bei Plotin, dessen Werke in Francks Buchbesitz nachgewiesen sind und in Francks Guldin Arch zitiert werden. Nach Plotins Seelenlehre existiert ebenfalls ein oberster Seelenteil, der immer in Gott bleibt, der aber dem in die Kreatürlichkeit ausfließenden Seelenteil unbewusst ist: […] auch unsere Seele ist nicht gänzlich hinabgesunken, sondern immer bleibt ein Teil ihres Wesens in der geistigen Welt; nur hat meist, was in der Sinnenwelt weilt, die Oberhand – richtiger: es wird selbst vergewaltigt von dem Wirrsal – und hindert so daß uns zu Bewusstsein kommt, was der oberste Seelenteil schaut. Denn das geistige Erleben der Seele tritt erst 152 dann in uns ein, wenn es herabsteigt und in das Bewußtsein kommt.

Jenen obersten Seelenteil beschreibt Plotin als jedem Ichbewusstsein und jeder Reflexion vorgängliches reines Gewahrsein, das als geistiger Grund jeder Individuierung der Einzelseelen zugrundeliegt. Genau wie in der unter Taulers Namen überlieferten Predigt Eckharts Beati pauperes spiritu betont Plotin, dass die Seele immer am geistig Erkennbaren teilhat, dass sie aufgrund ihrer Natur gar nicht von ihm abgeschnitten sein kann, auch wenn dies ihrer geistigen Aufmerksamkeit entgeht, solange sie in der Vielheit der Erscheinungen gefangen ist.153 Gleichzeitig identifiziert Plotin ähnlich wie Eckhart das wahre Ziel der Seele als Eingehen in jenes Licht, das nicht nur das des letzten Grundes, sondern zugleich auch ihr eigenes ursprüngliches Licht ist.154

differenzierten Interpretation Kurt Flasch: Predigt 52. ›Beati pauperes spiritu‹. In: Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet. Hg. v. Georg Steer u. Loris Sturlese. Stuttgart 1998, S. 168–199. Nach Flaschs Einschätzung bekäme kein Kandidat mit dieser Predigt an einem Priesterseminar der christlichen Welt das ›nihil obstat‹ (S. 185). 152 Enn. IV 8,6,40 (Plotin. Seele – Geist – Eines. Übersetzt v. Richard Harder. Hg. v. Klaus Kremer. Hamburg 1990, S. 21.) Vgl. zu Plotins philosophischer Mystik Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus. München 2004, bes. S. 49 ff.; Werner Beierwaltes: Plotins philosophische Mystik. In: Schmidt/Bauer (Hg.): Grundfragen christlicher Mystik, S. 39–49. Über Plotin wird gleichzeitig das Werk Platons vermittelt unter besonderer Berücksichtigung einer »neu«platonischen Perspektive. Seinem eigenen Selbstverständnis nach sah sich Plotin vor allem als Platon-Interpret und wurde von Franck auch so wahrgenommen – die Differenzierung zwischen »Platonismus« und »Neuplatonismus« ist ein Werk des 19. Jahrhunderts (Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, S. 12 ff.); ausführlich zu Plotin als prägendem Interpreten Platons Jens Halfwassen: 2 Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. München 2006. 153 Enn. VI 4,22,20; ebenso Enn. VI 9,9,5 ff. (Plotin: Ausgewählte Werke, S. 76.) 154 »Und das ist das wahrhafte Endziel für die Seele: Jenes Licht anzurühren und es kraft dieses Lichtes zu erschauen, nicht in einem fremden Licht, sondern in eben dem, durch welches sie überhaupt sieht. Denn das, wodurch sie erleuchtet wurde, ist eben das Licht, das es zu erschauen gilt.« (Enn. V 3,49,162 [Plotin: Seele – Geist – Eines, S. 127]) Vgl. weiterführend Klaus Kremer: Einleitung. In: Plotin: Seele – Geist – Eines, S. IX-XXXVII, bes. XIII ff.



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Die Seele erreicht dieses Ziel nur über ihre konsequente Abwendung von der Vielheit der Kreaturen und einer Hinwendung ins eigene Innere. Über die Konzentration des Bewusstseins in sich selbst – Plotin spricht hier ähnlich wie der Autor des hermetischen Traktats von myein, dem mystischen Schließen der Augen155  – eröffnet sich ein geistiges Sehen, das als intuitive Schau allein das Ganze in seiner Totalität wahrnehmen kann. Dieses innere Sehen transzendiert den Bereich des logisch-diskursiven Denkens, das auf ein Wissensobjekt bezogen bleibt. Vielmehr hat sich die Seele über jedes Wissen hinauszubewegen in ein »Gegenwärtigsein, das stärker als Wissen ist«.156 Über kontinuierliches Abschälen des Fremden157 gleicht sich die Seele als Erkennende immer mehr dem zu Erkennenden transzendenten Göttlichen an, bis sie schließlich mit ihm verschmilzt: Sehende und Gesehenes, Subjekt und Objekt sind dann eins in einem einzigen Sehakt.158 Oder anders: In der Schau der Seele sieht der Geist sich selbst. Bereits Plotin formuliert also die später als häretisch verurteilte Lehre der Erkenntnis durch Angleichung über eine völlige Transformation des Bewusstseins,159 die in der völligen Überformung bzw. Einheit von Erkennenden und Erkanntem gipfelt: [M]an muß zu dem Ursprung emporgestiegen sein, den man in sich selbst hat, und eins aus vielen geworden sein, um den Ursprung und das Eine zu Gesicht zu bekommen. Kurz, man 160 muß Geist werden, d.h. seine eigene Seele dem Geist anvertrauen. Dann braucht sie [die Seele] nichts anderes mehr; im Gegenteil muß sie alles andere ablegen und den ganzen Rest wegmeißeln, mit dem wir umgeben sind; […]. Und da ist es dann möglich, sowohl jenen als auch sich selbst zu sehen, in dem Sinne, wie Sehen hier gestattet ist: sich selbst, wie man im Glanz erstrahlt und voll geistigen Lichts oder vielmehr

155 Enn. I 6,1,25 ff. (Plotin: Ausgewählte Werke, S. 59). 156 Enn. VI 9,9,4 (Plotin: Ausgewählte Werke, S. 67). 157 Plotin kennt für die Abschälung alles Fremden unterschiedliche Bilder. »Tu alle Dinge fort« kann er lakonisch sagen (Enn. V 3,49,162; Plotin. Seele – Geist – Eines, S. 127), oder er vergleicht die Introspektion mit der Arbeit des Bildhauers: »verhalte dich wie ein Bildhauer, der von einer Statue, die schön werden soll, immer wieder etwas wegnimmt und abschabt« bis zur vollständigen Reinigung: »dir selbst ist innerlich nichts anderes mehr beigemischt, sondern du bist ganz du selbst, nichts als wahres Licht, das keinem Maß räumlicher Größe unterworfen ist.« (Enn. I 6,9,9/19; Plotin: Ausgewählte Schriften. Hg. v. Christian Tornau. Stuttgart 2001, S. 59). Hier ist die konzeptuelle Nähe zu Eckharts Brunnenmetapher auffallend. 158 Enn. I 6,1,54 (Plotin: Ausgewählte Werke, S. 60); weiterführend zu der Weiterentwicklung der plotinischen Schau in das Konzept der intellektuellen Anschauung bei Autoren des deutschen Idealismus Halfwassen: Plotin, S. 50 f. 159 Zu Plotins Deutung des Bewusstwerdungsmoments als Umwandlung der ganzen Existenz auch Werner Beierwaltes: Einführung. In: Plotin. Geist  – Ideen  – Freiheit. Hamburg 1990. XIXLVIII, hier S. XXV. 160 Plotin, Enn. VI, 9,9,20 f. (Plotin: Ausgewählte Schriften, S. 65.)

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das Licht selber ist, wie man rein, schwerelos, leicht ist, wie man Gott geworden, vielmehr 161 Gott ist – in diesem Moment entzündet, wenn man schwer wird, gleichsam erloschen.

Die Idee einer Vergottung als Eingehen der Seele in ihren Ursprung, an dem ein verborgener Seelenteil bereits teilhat, ist bei Plotin nicht einfach ein Aspekt seiner philosophischen Systembildung, sondern sie führt weit darüber hinaus auf das praktische Ziel des sogenannten Erwachens zu diesem göttlichen Zustand hin. Gerade im Hinblick auf die gemeinsame Rezeption der Texte Plotins und der philosophischen Hermetica in der frühen Neuzeit ist der Umstand nicht zu unterschätzen, dass Plotin aus der Verbindung seiner Philosophie mit der praktischen Erfahrung des Erwachens in ein so bezeichnetes wahres Selbst kein Geheimnis macht,162 womit seine Texte allein narrativ in unmittelbare Nähe zu den Erwachens- und Wiedergeburtserzählungen der hermetischen Traktate rücken. Ähnlich wie die hermetischen Texte kennt auch Plotin keine grundsätzliche Verknüpfung des mystischen Wegs mit Weltverachtung oder Selbstzerstörung. Die christliche Tradition rezipierte aus Plotin vorzugsweise die Stellen, die vom Einen und vom Streben nach Transzendenz sprechen und leitete aus Plotins Einschätzung der Materie als Mangel an Sein eine generelle Abwertung alles Materiellen ab.163 Doch ist diese Rezeption bereits im Kontext des christlichen Interesses an einer radikalen Trennung zwischen Gott und Welt erfolgt, die sich im Mittelalter zur Angst vor dem »Schreckgespenst des Averroismus« steigerte und bis in die Neuzeit für das christliche Sinnsystem identitätsstiftend blieb. Gegen diese Position hat sich Plotin übrigens selbst im Traktat Gegen die Gnostiker gewandt.

161 Plotin, Enn. VI, 9,9,50 ff. (Plotin: Ausgewählte Schriften, S. 78.) Vgl. die Korrespondenzen zur Deutung im christlichen Vokabular bei Eckhart: »Führwahr, sollen wir den Vater erkennen, so müssen wir Sohn sein.« Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate. Hg. v. Josef Quint. Zürich 1979, S. 385. 162 Die Kritik Plotins an bloßen Theoretikern im Vergleich zum Sprechen aus eigenen Erfahrungen der göttlichen Schau ist breit über sein Werk verstreut und ist unmissverständlich an seine eigenen Erlebnisse rückgebunden. Vgl. exemplarisch Gegen die Gnostiker. In: Plotin: Ausgewählte Schriften, S. 236–241. Besonders prominent Enn. IV, 8,1,1 ff.: »Immer wieder wenn ich aus dem Leib aufwache in mich selbst, lasse das andere hinter mir und trete ein in mein Selbst; sehe eine wunderbar gewaltige Schönheit und vertraue in solchem Augenblicke ganz eigentlich zum höheren Bereich zu gehören; verwirkliche höchstes Leben, bin in eins mit dem Göttlichen und auf seinem Fundament gegründet; denn ich bin gelangt zur höheren Wirksamkeit und habe meinen Stand errichtet hoch über allem was sonst geistig ist: nach diesem Stillestehen im Göttlichen, wenn ich da aus dem Geist herniedersteige in das Überlegen – immer wieder muss ich mich fragen: wie ist mein jetziges Herabsteigen denn möglich?« (Plotin: Seele – Geist – Eines, S. 3) 163 Damit lässt sich Plotin als Beispiel für den von Lovejoy thematisieren Gegensatz der PlatonRezeption durch die Philosophiegeschichte zitieren. Lovejoy: Die große Kette der Wesen, S. 37 ff.



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Seiner Interpretation nach, die er in unmissverständlicher Deutlichkeit an eine eigene Schau rückbindet, sind das Streben nach Transzendenz und die Erfahrung der Schöpfung als göttlich nicht zu trennen. Vielmehr stellt die mystische Erfahrung in der Transzendenz des Selbst geradezu die epistemologische Voraussetzung zur Erkenntnis des göttlichen Grundes in der Kreatur dar, wie sie auch in den hermetischen Traktaten formuliert wird. So unterscheidet Plotin diejenigen, die wahrhaft geschaut haben von denjenigen, die lediglich spekulieren, am Kriterium der Liebe zur Schöpfung, die erst der tiefen Erkenntnis entspringt, dass sowohl alle Kreaturen als auch das erkennende Ich selbst partielle Abspiegelungen des transzendenten Grundes sind: Wer Liebe für irgend etwas in sich hat, der hat ja auch das mit dem, was er liebt, Verwandte gern, und eben auch die Kinder, deren Vater er liebt. Und jede Seele ist ein Kind von jenem Vater, und in den obengenannten [Körpern] sind ebenfalls Seelen, die geistig erkennend und gut und in sehr viel engerer Berührung mit dem Dortigen sind als die unsrigen. Wie 164 würde denn diese Welt hier abgeschnitten von der dortigen bestehen können? Solche Fragen würde sich ein vernünftiger Mensch überhaupt nicht stellen, sondern nur jemand, der blind ist, keinerlei Wahrnehmungsvermögen und keinen Geist hat und weit entfernt davon ist, die geistig erkennbare Welt zu erblicken, da er schon diese hier nicht sieht. Welchen musikalisch gebildeten Menschen kann es denn geben, der die Harmonie im geistig Erkennbaren gesehen hat und beim Hören der Harmonie in den wahrnehmbaren Tönen nicht bewegt würde? Oder welchen Kenner der Geometrie und der Zahlen, der keine Freude empfinden würde, wenn er Symmetrie, Proportion und Regelmäßigkeit auch mit den Augen zu sehen bekommt? […] und kann jemand so schwer von Begriff und von nichts anderem anzuregen sein, daß er die gesamte im sinnlich Wahrnehmbaren vorhandene Schönheit, die gesamte Symmetrie und die große Wohlgeordnetheit hier sieht, die sich in den Sternen zeigende Form, so weit entfernt sie sind, und ihm trotzdem nicht in den Sinn kommt und Ehrfurcht ihn erfaßt, wie großartig es ist und wie großartig das, von dem es 165 kommt? So jemand hat weder das Hiesige verstanden noch das Dortige gesehen.

Die neuplatonische Seelenvorstellung wird zusammen mit der charakteristischen Erkenntnisform der Introspektion von frühchristlichen Kirchenvätern an

164 Enn. II 9,16,8 f. (Plotin: Gegen die Gnostiker, S 234.) 165 Enn. II 9,16,38 ff./50 ff. (Plotin: Ausgewählte Schriften, S. 236.) Vgl. entsprechend die Rede des Hermes im fünften hermetischen Traktat: »Wenn du ihn aber sehen willst, betrachte die Sonne, betrachte den Lauf des Mondes, betrachte die Ordnung der Sterne. Wer ist es, der ihrer Ordnung Bestand gibt? […] Niemals, mein Sohn, trenne die Werke von ihrem Schöpfer! […] Er selbst ist alles Seiende und alles Nicht-Seiende. Denn das Seiende ließ er sichtbar werden, das Nicht-Seiende birgt er in sich. […] er ist der Unsichtbare, und er ist der vollkommen Sichtbare. Er ist der, der durch den Geist zu erfassen ist, er ist der, der mit den Augen zu sehen ist. Er ist der Unkörperliche, er hat viele Körper, oder vielmehr alle Körper.« CH V, 3/8/9/10 (CHD I, S. 58,61)

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die christliche Theologie vermittelt, die wiederum wichtige Mittlerpositionen im Hinblick auf die für Franck relevanten mystischen Autoren des Mittelalters einnehmen. So übernimmt Gregor von Nyssa166 von Plotin eine Reihe charakteristischer Gleichnisse für das Verhältnis von Gott und Seele, wie das Gleichnis der Seele als Spiegel, das Gottes Bild aufnimmt, wenn sie selbst rein ist, die Augenmetapher, die Gott dann sieht, wenn es selbst klar ist sowie den Weg zu Gott als In-sich-selbst-schauen der Seele und »Ablegen alles Fremden«. Dieser Prozess der Introspektion als Rückkehr zur wahren, eigenen Natur der Seele wird nun christlich umgedeutet. Nach Gregor ist Christentum folglich »Gottähnlich-Werden«.167 Das göttliche Gut ist nicht außer unserer Natur, und entfernt von denen, die es suchen, sondern es ist in jedem von uns, verborgen und unbewußt, wenn es von den menschlichen 168 Leidenschaften verdeckt wird, aber erkannt, wenn sich unser Denken ihm zuwendet.

Gregor formuliert damit eine Position, die in der gesamten frühen Neuzeit von keiner einzigen christlichen Konfession mehr vertreten wurde und die als sicheres Kriterium für Heterodoxie galt. Bezüglich dieser Frage vertritt nun gerade einer der wirkmächtigsten Texte für die frühneuzeitliche Rezeption, die anonyme Theologia deutsch, eine ambivalente Position. Sie teilt mit den hermetischen Texten die Dialektik zwischen dem Einen Vollkommenen und dem Vielen bzw. der Kreatur. In der Seelenlehre folgt sie der platonischen Tradition, wenn sie das Gute bereits in der Seele verortet, das dieser aber unbekannt sei: Und soll der Mensch oder die Seele selig sein oder werden, so soll und muß das Eine allein in der Seele sein. Nun könnte man fragen: »Was ist aber das Eine?« Ich sage: es ist das Gute  – oder zum Guten gewordene  – und doch weder dies noch das, das man nennen, erkennen oder vorweisen kann, sondern es ist alles Gute und über allem Guten. Auch braucht das nicht in die Seele zu kommen, denn es ist bereits darin. Es ist aber unerkannt.

166 Zu Gregor von Nyssa Endre von Ivánka: Vom Platonismus zur Theorie der Mystik: Zur Erkenntnislehre Gregor von Nyssas. In: Altdeutsche und altniederländische Mystik. Hg. v. Kurt Ruh. Darmstadt 1964, S. 35–71; Michael Figura: Mystische Gotteserkenntnis bei Gregor von Nyssa. In: Schmidt/Bauer (Hg.): Grundfragen christlicher Mystik, S. 25–38; Igor Pochoshajew: Die Seele bei Plato, Plotin, Porphyr und Gregor von Nyssa. Frankfurt a.M. 2004; Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 225 ff. 167 Zit. n. Ivánka: Vom Platonismus zur Theorie der Mystik, S. 62. 168 Zit. n. ebd., S. 61. Zur Problematisierung dieser Auffassung im christlichen Horizont vgl. S. 63 ff.



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Wenn man sagt, man solle dazu kommen, dann heißt das, man soll es suchen, empfinden 169 und schmecken.

Hindernis dieser Erkenntnis des unbewussten Guten ist nach der Theologia deutsch die Ichheit, die mit dem alten Adam, mit Sünde und Ungehorsam gleichgesetzt wird und aus sich selbst heraus nichts Gutes vermag.170 Diese insbesondere für Luther anschlussfähige Betonung der Erbsünde ist im Hinblick auf Freigeister des 14. Jahrhunderts gedeutet worden, wie auch die Vorrede nahelegt,171 und entsprechend betont die Theologia deutsch das Angewiesensein des Menschen angesichts seiner eigenen Unvollkommenheit auf Gottes Gnade. Gleichzeitig aber umschreibt sie Gott mit neuplatonischen Wendungen als »Sein alles Seienden, Leben alles Lebendigen« wie es die Traktate des Corpus Hermeticum auch tun.172 Und sie betont die Notwendigkeit, den Fall zu überwinden, indem Gott in allen Menschen »vermenscht« und diese wiederum »vergottet« würden.173 Dieser Gedanke wurde für die frühneuzeitliche Opposition gegenüber der Rechtfertigungs- und Satisfaktionslehre anschlussfähig. Zwar zeichnet die Theologia deutsch die Überwindung des Falls als Aufgabe Gottes im Menschen, die Aufgabe des Menschen dagegen als vollständige Hingabe des eigenen Willens. Doch denkt der omnipräsente Topos der Überwindung des Eigenwillen/der Sünde/der Ichheit/des alten Menschen immer als philosophische Voraussetzung die Willensfreiheit mit. Diese Theorie geht von der Annahme aus, dass die Wesen von Gott gut erschaffen wurden, für ihren Fall aber selbst verantwortlich sind, indem

169 Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 52. Vgl. Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 81 f: »Vnd sal der mensche ader die sele selig seyn ader werden, ßo wil vnnd muß das eyn alleyn in der sele seyn. Nu mocht man fragen: Was ist aber das eyn? Ich sprich: Eß ist gut ader gut geworden, vnd doch wider diß gut noch das, das man genennen, bekennen ader geczeigen kan, sunder alle vnd vbir alle. Auch darff das nicht yn die sele kommen, wan es bereite dar jnne ist. Eß ist aber vnbekant. Wann man spricht, man sal dar czu kommen ader eß sal yn die sele kommen, das ist also vil, man sal eß suchen, empfinden vnd schmecken.« 170 Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 81; Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 105. 171 Theologia deutsch, Vorrede, weiterführend zum Kontext der ›freigeistigen‹ Laienbewegung Haas: Einleitung. In: Theologia deutsch, S. 15; zum Sündenverständnis Zecherle: Die ›Theolgia deutsch‹, S. 32 ff., zum Kontext der ›freien Geister‹ ebd., S. 69 ff. 172 Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 100; Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 121; CH II, 14 (CHD I, S. 34). Zecherle bezeichnet die Ontologie der Theologia deutsch als »panentheistisch« (Die ›Theologia deutsch‹, S. 24). 173 Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 42; Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 74: »Ich vormag seyn nicht an got vnd got sal ader enwel nicht an mich. Denne sal eß gescheen, so muß got auch yn mir vermenscht werden […]. Das got alle menschen an sich neme, die da synt, vnd yn en vormenscht wurde vnnd sie yn ym vorgotet, vnd gesche eß nicht yn mir, meyn fal vnd meyn abkeren wurde nummer gebessert, es gesche dann auch yn mir.«

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sie ihren Willen in die Selbstheit bzw. Ichheit einführten. Die Wendungen von der Überwindung der Ichheit, des Gehorsams oder des ›Sterben des alten Menschen‹ haben in diesem Kontext nichts mit Bußaufrufen, mit Kasteiungen oder gar mit körperlicher Vernichtung zu tun, sondern sie beziehen sich auf die Auslöschung der im Fall entstandenen, feindlich gesinnten Willensausrichtung, die nicht von Gott kommt, sondern aus dem Selbst bzw. der Ichheit. Damit zielen sie nicht auf das Beenden der Existenz, sondern auf die Überwindung der egoistischen Disposition, die die Existenz an die Gesetze der Vielheit, der Kreatur und der Sterblichkeit bindet. Für die Rezeption signifikant benennt die Theologia deutsch diesen Prozess mit den Begriffen der Wiedergeburt174 sowie des Christuslebens: Aber noch gibt es andere Wege zum Leben Christi […]. Wo und wann Gott und der Mensch vereingt worden sind, so daß man in der Wahrheit sagt – und die Wahrheit geht voraus –: Wahrer, vollkommener Gott und wahrer vollkommener Mensch ist Eines! Der Mensch tritt jedoch vor Gott so völlig zurück, daß da Gott selber der Mensch ist und doch Gott selber ist. Und dieses Eine wirkt stetiglich in Tun und Lassen ohne alles Ich, Mir, Mein und desglei175 chen. Sieh, da ist der wahre Christus und nirgendwo anders.

Man erkennt den göttlichen Menschen, so der anonyme Autor schließlich, an einem lebenspraktischen Kriterium, nämlich daran, dass er ein Liebender ist. Dieser Mensch trägt nach der neuen Geburt die göttliche Liebe rein und unvermischt in sich, liebt alle Dinge um ihrer selbst Willen und tut auch das Gute um seiner selbst Willen. Er kennt wie Jesus keine Feinde noch ist er zu Gefühlen wie Rache überhaupt fähig; er kann vielmehr nicht anders, als Böses mit Gutem zu vergelten, da nach dem Tod des alten Adam Gott selbst in ihm liebt.176 Die Schilderung des göttlichen Menschen beschreibt somit weder ein idealistisches Tugend­ ideal noch eine jenseitige Perspektive, sondern eine im irdischen Dasein substanziell transformierte Existenz, in der, nach den Worten des Apostel Paulus, nicht mehr das Ich, sondern Christus im Menschen lebt. Diese allumfassende Liebe ist damit keine Werkgerechtigkeit, sondern ein Seinszustand: der Ausdruck dieser grundlegend verwandelten Existenz.

174 Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 64; Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 90. 175 Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 77; Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 102: »Aber doch synt auch wege czu dem leben Cristi, […]. Wo vnd wanne got vnd mensch voreyniget wurden synt, also das man yn der warheit spricht vnd sine die warheit vorgehet, das eyns ist ware, volkommen got vnd ware, volkommen mensch vnd doch mensch got als gar entwichet, das got aldo selber ist der mensche, vnde got ist ioch alda selbst, vnd das selbe ein wircket stetiglichen vnd thut vnd leßet an alles ich, mir vnd meyne vnd des gleichen. Sich, do ist war Cristus vnd anders nyrgent.« Weiterführend Zecherle: Die ›Theologia deutsch‹, S. 40 ff. 176 Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 95 f.; Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 117 f.



Die Übersetzung des Corpus Hermeticum

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2.3. Hermetische Logosmystik: Pimander als Inneres Wort Zurück zur Guldin Arch und zu Francks Übersetzung des Corpus Hermeticum im Kreis einer breiten Auswahl an sogenannten Zeugen Gottes: Die Skizze der verschieden Autoren und ihrer jeweiligen Seelenlehren sollte deutlich gemacht haben, dass sich die Integration der hermetischen Traktate in den Kreis der Gotteszeugen weniger über ihre nur beiläufig erwähnte Rückdatierung vor die Zeit des Moses legitimiert als vielmehr über philologische und anthropologische Bezüge. Francks Menschenbild wurzelt in der paulinischen Unterscheidung zwischen dem alten und dem neuen Menschen, zwischen Adam und Christus,177 die mit der platonischen Differenzierung zwischen Erscheinung und Wesen verschmolzen wird. Es ist wie bei Tauler und Eckhart trichotomisch gezeichnet und differenziert erstens zwischen Körper und Seele und zweitens zwischen den höheren und niederen Kräften der Seele: Der äußere Mensch von Seele und Leib erscheint dabei als »bild / deck / vnd herberg des inneren«,178 wobei der innere Mensch mit dem »gemüt« identifiziert wird.179 Dieses Menschenbild wird gerade im Kapitel Von Christo mit Zitaten der antiken Philosophen Diogenes, Plotin und Pythagoras,180 sowie der Sibylle von Samia, Porphyrius, Orpheus und wiederholt mit Hermes Trismegistos belegt.181 Der Begriff des Gemüts bezeichnet bei Franck ebenfalls jenen innersten Grund des Menschen, der denen, die auf ihn zu hören vermögen, ein »oraculum« darstellt, also eine innere Quelle der Führung und der Offenbarung. Deutlich wird dies an Francks Übersetzung aus der Odyssee, da er neben den christlichen Autoritäten und den antiken Philosophen auch die Dichter als Zeugen Gottes zitiert. Franck übersetzt zunächst Homer mit folgenden Worten: »Item daselbs / das gemüt inn unserm jeden ist Got / Item Gott ist allenthalben vnd sihet alles«;182 anschließend kommentiert er: Daher diß sprichwort bey den alten fleüßt / Deum sequere / das ist / folge Gott / dem zug der vernunfft / gleich als ob es einem je ein oraculum vnd götlich anfang seyn soll / was jn

177 Röm 5,12–21; Eph 4,17–24. v 178 Franck: Guldin Arch, Bl. 44 . 179 Ebd.: »[Der] natürlich mensch  / von seel vnd leib zusammen gesetzt  / billicher von dem besten theil ein mensch genant wirdt / nemlich von dem gemüt / also das der eusser mensch nun ein bild / deck / vnd herberg des inneren ist / vnnd nun der inner mensch billich ein mensch zunenen / vnd nit der eusser biltlich.« 180 Ebd. v 181 Ebd., Bl. 61 f. r 182 Ebd., Bl. 38 .

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sein gwissen lert / vnd sein hertz sagt / dann Got ist inn eins jeden gemüt / ja das gemüt inn 183 einem jeden selbs / Davon liß Chiliades Erasmi / Deum sequere.

Der Begriff der »Vernunft« für das Seeleninnerste steht hier für die Ebene des intellectus, die bereits Eckhart gegenüber der geschaffenen Vernunft als »vernünfticheit« abgegrenzt hatte. Ebenso referiert Franck Platon in den Worten: »Es wirt auch got vnaußsprechlich / vnd allein mit dem gmüt zuvernemen genent.«184 In der Referenz an Platons Schöpfungsmythos steht der Begriff des Gemüts wiederum als Übersetzung für den Logos.185 Ein drittes Beispiel fächert den ganzen Traditionszusammenhang auf: Franck zitiert zunächst Tauler, referiert (Pseudo-) Dionysios Areopagita und stellt diesen neben Proklos, um schließlich die Aussage zu machen: solange »der mensch mit bildern umbgeet / so kan er zu dem gmüt / vnd zu dem, das in im ist / nit einkeren […] Kinder / jr müßt allen bildern vrlaub geben  / zu got einkeren in den grund der seelen  / sollet jr got finden.«186 Aus dem Asclepius-Dialog extrahiert Franck schließlich eine Stelle, die die Doppelnatur des Gemüts als individueller Geist und ursächlicher Grund des All-Geistes umschreibt: »Gott ist aigentlich kain gemüt / sonder damit du auch das gemüdtt seyest [!]  / ein ursach des gemüts  / Er ist kein liecht  / sonder ein ursach des liechts«187 Im Kontext dieser Bezüge gelesen, lässt sich der hermetischen Traktat begrifflich wie narratologisch nahtlos anschließen, denn er scheint nun geradezu exemplarisch zu demonstrieren, was bei einer »Einkehr ins Gemüt« geschehen kann: Wenn man, mit Tauler gesprochen, »allen Bildern Urlaub« gibt oder, wie Hermes es beschreibt, die Augen schließt zum wahren Sehen, dann eröffnet sich die innerseelische Teilhabe am Logos. Mit der wörtlich aus dem ersten hermetischen Traktat übersetzten Wendung »das in dir haret vnd sihet / ist das Wort des Herrn«188 lässt sich das verbum Dei ohne weitere Umdeutung in ein Seelenmodell integrieren, das der Geistseele, also dem inneren Menschen zuspricht, potenziell am Logos teilhaben und dies in kontemplativer Versenkung entsprechend erkennen zu können. Narratologisch erscheint der Dialog mit Pimander nun nicht wie in späteren Rezeptionsstufen als Dialog mit einem heidnischen Anderen, sondern als Zwiegespräch des Mystikers mit dem eigenen Seelengrund.

183 Ebd. v 184 Ebd., Bl. 38 . r 185 Ebd., Bl. 38 . v r 186 Ebd., Bl. 38 ; ders: Paradoxa, Bl 2 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 20 f. r 187 Franck: Guldin Arch, Bl. 42 . 188 CH I, 6 (CHD I, S. 12); vgl. Mercurii Trismegisti Pymander, S. 13.



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Gerade narratologisch assoziiert Franck den hermetischen Text mit dem christlichen Topos der mystischen Geburt Christi im Herzen des Gläubigen. Der Topos der Christusgeburt wird z. B. von Tauler in Auslegung der Mariensymbolik entfaltet, wie sie bereits Augustinus vorgenommen hatte. Die Reinheit der Gottesmutter wird nach Taulers Allegorese zum Typus für die Seele, die sich zur Gottesgeburt bereitet. Damit deutet die Marien-Symbolik letztlich an, dass der kreatürliche Teil der Seele vor der Geburt des göttlichen Worts in »mitternächtliche[r] Stille« zu verharren habe: »Denn soll Gott sprechen, so mußt du schweigen.«189 An anderer Stelle spricht Tauler vom Vollzug der Gottesgeburt in der Seele als großer Freude.190 Auch hier lässt sich die hermetische Erzählung anschließen, nach der der Logos aus dem Innersten der Seele spricht und das erzählende Ich dabei in beseligende Freude versetzt.191 Durch diese intertextuelle Einbettung wirkt die hermetische Erzählung als Erfüllung dessen, was die christliche Tradition ebenfalls erhofft: die Geburt Christi im Herzen derjenigen, die sich für die Begegnung zwischen der Seele und dem Verbum bereitet haben. Im Unterschied allerdings zur Lehre Augustins, die diese Geburt des Logos im Herzen als Beginn des inneren Aufstiegs deutet,192 erscheint die Logosgeburt in der hermetischen Erzählung als dessen Höhepunkt und Vollendung. Nach ihrer Plazierung in Francks Guldin Arch erscheint sie folgerichtig als narrative Ausgestaltung der Christusgeburt im Menschen – und zwar im Herzen eines »Heiden« lange vor der kirchlich angenommenen Zeitenwende durch Jesu Geburt. Pimander spricht nach dieser Darstellung in der Rolle des inneren Worts, als Logos selbst und Verbum Dei. Pimander als inneres Wort offenbart in dem Moment universelles Wissen um die Schöpfung, um Fall und Erlösung, als das erlebende Ich (Hermes) den äußeren Menschen gelassen hat, also, wie Tauler sagte, diesen in mitternächtliche Stille führte. Der namensgebende erste Dialog des Corpus Hermeticum erscheint somit als Zwiesprache des Mystikers, der bei Laktanz noch ein »Seher« genannt wird, mit seinem eigenen Seelengrund, der zugleich der Gottesgrund ist:

189 Tauler: Predigten I, S. 18 f., hier S. 19: »›Mitten in dem Schweigen der Nacht, da alles in tiefster Stille lag und die Nacht ihren Lauf vollendet hatte, da, Herr, kam dein allmächtiges Wort von dem königlichen Stuhl, das ewige aus dem väterlichen Herzen.‹ In diesem mitternächtlichen Schweigen, in dem alle Dinge in tiefster Stille verharren und vollkommene Ruhe herrscht, da hört man dieses Wort Gottes in Wahrheit.« Die Predigt endet mit dem Desiderat, geistige Mütter zu werden. Ebd., S. 20. (V. 1, S. 11, 12) Die Rede von der Geburt des Logos aus dem Herzen des Vaters geht bis auf die Logosphilosophie der frühen Patristik zurück. Rahner: Die Gottesgeburt, S. 336 f. u. 386 ff. 190 Tauler: Predigten II, S. 330 (V. 40, S. 168). 191 CH I 27, 30 (CHD I, S. 20 f.) 192 Rahner: Die Gottesgeburt, S. 389.

v.

Abb. 3 d: Joannis Tauleri Predig (Bl. 104 ) Benutzerspuren heben folgende Stellen hervor: »[…] also muß das inwendig aug bloß vnd lauter seyn / alles wollens vnd nit wollen s/ol es anders leüterlich vnd seligkliche sehen die ewigen ding gottes […]. Wann der mensch ist recht als ob er drey menschen sey / und ist doch nit mer dann ein mensch Der ein ist der auswendig vihisch synderlich mensch. Der ander ist der inwendig vernünfftig mensch mit seinen vernünfftigen krefftenn. Der drit mensch ist das gemüte / dz aller oberst teyl der seel.«

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[…] vnd diß alles on hilffe ainiches buchs / weil auch Moses noch nit geschriben het vnd kein buchstab der Bibel vorhanden was / allein vom heiligen geyst / wie er sich inn Gott 193 selbs rümpt […].

2.4. Christlicher Prätext: Die Geschichte von der Bekehrung Taulers (ca. 1357) Nimmt man die Erzählsituation ernst, die den hermetischen Pimander zum inneren Wort und Stimme Christi macht, dann erscheint die Offenbarung durch Pimander nicht als ein primär hermetisches Wissen um die Weltschöpfung und die Erlösung der Seele, wenn auch der Topos des Allwissens in der Rezeption – von Luther über Bücher bis zur modernen Esoterikforschung – üblicherweise als spezifisch hermetisches Konzept betrachtet wird. Der intertextuelle Kontext der Übersetzungsarbeit Francks zeigt dagegen, dass Franck für die Hermes-Übersetzung ein christliches Erzählmuster fruchtbar macht, das in der kulturellen Erinnerung seit der frühen Neuzeit mit dem Schwärmermilieu assoziiert wird: das Konzept der Erleuchtung durch den Heiligen Geist, die die Stimme Christi im Seeleninneren hörbar macht. Es ist in der Vorrede zum Baseler Taulerdruck prominent entfaltet, den Franck nachweislich benutzt hat,194 und es lässt sich belegen, dass Franck bei seinen wertschätzenden Aussagen über Tauler auf das dort vermittelte Taulerbild anspielt. Bereits in den Paradoxa schrieb Franck unter Berufung auf Tauler: Hieher dienet das in der vorred vnd histori Tauleri / von seinem leben stehet / Der mensch muß aller kunst / bild / annemung vnd auch sein selbs / ledig stehen / vnd sich in nichten selbs mainen / soll der maister zu uns kummen / der vns in einem augenblick mer lert / dann all eusserlich wort  / Predig  / vnd schrifft  / bis an Jüngsten tag. Dann ein gelassen mensch würdt in einem hui in Got verzuckt / vnd in das reich gottes versetzt / da eittel licht 195 inn ist / vnd alles auff einen augenblick gelert vnd gesehen würdt.

In der Referenz an die »Historie Taulers von seinem Leben« bezieht sich Franck konkret auf ein fiktives Erweckungserlebnis Taulers, das in der Vorrede zum Basler Taulerdruck geschildert ist. Bei dem Bericht handelt es sich um eine Tauler-Legende, das sogenannte Meisterbuch. Die Autorschaft ist unklar, doch wird sie den Gottesfreunden des näheren Umfelds Taulers, womöglich dem Straßbur-

r

193 Franck: Guldin Arch, Bl. 42 . 194 Zu Francks Benutzung des Basler Taulerdrucks Wollgast: Einleitung. In: Franck: Paradoxa, S. 7–61, hier S. 32 f. r 195 Franck: Paradoxa, Bl. 29 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 84.

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ger Rulman Merswin (1307–1382) zugeschrieben.196 Es behandelt die Bekehrungsgeschichte eines anonymen Meisters, den die Rezeption mit Tauler gleichsetzte, sodass sie zur Geschichte von der Bekehrung Taulers werden konnte. Jene Historie schildert den Wandel des bekannten Predigers vom Lesemeister zum Lebemeister, vom gelehrten Theologen zum wahrhaftigen Christen.197 Die Historie berichtet, dass der berühmte Prediger von einem Laien aufgesucht, nach seiner überaus gelehrten und philosophisch versierten Predigt jedoch für genau diese kritisiert wird: Er suche sich in den Worten nur selbst, so lautet der Vorwurf, kenne den Heiligen Geist noch nicht und verharre dementsprechend als »phariseus« am »Buchstaben«.198 Der Beweis: Er könne zwar gelehrt disputieren, aber nicht wirken; niemand würde durch seine Predigt bekehrt.199 Daraufhin bittet der Meister den Laien um Unterweisung und, in einer bemerkenswerten Umkehrung der klerikalen Hierarchie, wird willig des Laien Schüler, da er dessen spirituelle Reife als der eigenen überlegen erkennt. Dieser stellt ihm in Aussicht, eines Tages von Christus selbst gelehrt zu werden und erklärt in einer Formulierung, die Franck fast wörtlich in den Paradoxa wiederholt: »Vnd wißt / wen der selbig meister zu mir komet / so leert er mich mer in einer stund / dan ir vn alle die lerer / die von der zeit seind / biß an den iüngste tag ymer gethun möchten.«200 Der Prediger lässt sich vom Laien nun auf den Weg der wahren Buße führen. Er erlebt Jahre der Anfechtung, die harte Schule der Überwindung des Eigenwillen bis zum vollständigen Verlust seines Ansehens und Vermögens in der Welt. Der Laie unterweist ihn so in einem »sterbenden Leben« und im »weg zu der hoechsten beschowlichkeit«201 Vor allem soll der gelehrte Doktor in dieser Schule von der Vernunft ablassen, d.h. konkret, er möge nicht mehr anderen gute Ratschläge geben, sondern zunächst lernen sich selbst zu raten, also sein Kreuz aufzunehmen und Christus nachzufolgen.202 Dann werde Gott ihn zur rechten Zeit zu einem neuen Menschen in der Wiedergeburt machen und ihn läutern wie Gold im Feuer.

196 Ausführlich zur Bekehrungsgeschichte und ihrem Entstehungskontext Gnädiger: Johannes Tauler, S. 87 ff. Zur Vorrede auch Stephan Waldhoff: Judentum als Metapher. Biblische Hermeneutik und religiöse Toleranz bei Sebastian Franck. In: Wollgast (Hg.): Beiträge zum 500. Geburtstag von Sebastian Franck, S. 127­–208, hier S. 191 f. Ebenso Wollgast: Einleitung. In: Franck: Paradoxa, S. 84. 197 Joannis Tauleri des heiligen lerers Predig / fast fruchtbar zu eim recht christlichen Leben. v r Basel 1521, Bl. b2 –c3 . v 198 Ebd., Bl. b2 . r 199 Ebd., Bl. b3 . v 200 Ebd., Bl. b2 . v 201 Ebd., Bl. b5 . r 202 Ebd., Bl. b6 .



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In zwei Jahren härtester Anfechtung, die bis zum vollständigen Verlust seiner bürgerlichen Identität führen, in denen er seine Bücher versetzen muss und Mitbrüder sich von ihm abwenden, erlebt der Prediger jedoch tatsächlich zweimal eine tiefe, transformierende Begegnung mit dem Geist.203 An diesen Stellen der Historie sind die Parallelen zum hermetischen Traktat in Francks Übersetzung herausragend: Wie Hermes hört der christliche Prediger eine Stimme im Schlaf, verliert das Bewusstsein, und lernt schließlich in einer Stunde mehr als alles irdische Wissen je zu vermitteln vermochte. Die zweite transformierende Geistbegegnung erneuert seine Kraft und verwandelt sein Wesen, sodass er nun die Heilige Schrift im Licht des Heiligen Geistes verstehen und mit seinen Predigten Frucht bringen kann. Mit der Wiedergeburt des Predigers wird der Laie, der bis dahin den gelehrten Doktor unterwiesen hatte, nun wieder willig sein Schüler. Mit einer bemerkenswerten Formulierung nimmt er seine alte Rolle ein: Nun lieber herr / ist es nit mer not / das ich in lerender weyß mit eüch rede / als ich vor gethan hab / Wann ir habt nun den rechtschuldigen meister (des werckzeüg ich gewesen bin) dem losent zu vnd seyt im gehorsam / das rat ich euch vff all mein treü. Vnd ich beger 204 nun in aller goetlicher liebe von euch lere zu empfahen.

Es folgen noch verschiedene Szenen, u. a. die Tränen auf der Kanzel, die Gottfried Arnold erwähnt, aber nach seinem Tod erscheint der Prediger dem Laien noch einmal und bedankt sich für diese Lektion, die ihn zu Gott gebracht hat  – ein gutes Ende. In bemerkenswerter Weise subsummiert diese Erzählung sämliche Topoi, die im häresiologischen Diskurs der orthodoxen Abgrenzungsbestrebungen als Inbegriff der Ketzerei oder Schwärmerei diskursiviert werden: Die Topoi einer substanziellen Transformation, damit einhergehend die Etablierung einer inneren Autorität als inneres Wort oder innerer Christus, das Primat spiritueller Reife vor klerikalem Wissen sowie die Möglichkeit eines inneren Gelehrtwerdens durch den Heiligen Geist für jedermann. Deutlicher als die philosophischen und theologischen Traktate führt diese Erzählung das transgressive Potenzial jener Topoi konzentriert vor Augen: Sie implizieren die Infragestellung sozialer und wissenschaftlicher Hierarchien, und das obwohl die Erzählung den Laien ganz explizit in dem Moment wieder von seiner Lehrerfunktion zurücktreten lässt, in dem er seine Aufgabe erfüllt hat.205

v

r

r

203 Die entsprechenden Stellen in: Joannis Tauleri, Bl. b3 –b4 u. c2 . v 204 Ebd., Bl. c2 . 205 Historisch spiegelt sich in dieser Erzählung der Konflikt zwischen den Gottesfreunden und der Schultheologie im 14. Jahrhundert, zu dem auch der historische Tauler Stellung bezogen hat.

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Für Franck, der die Geschichte von der Bekehrung Taulers offensichtlich als historisch verbürgt aufnahm, stellen diese Motive geradezu den Prätext dar, über den die Texte des ebenfalls geschätzten Heiden Hermes Trismegistos rezipiert werden. Bei Tauler ist es der Heilige Geist, der ihn in einem Zustand der Gelassenheit in einem Augenblick »alles« lehrt und sehen lässt. Ihm als »Meister« im Inneren gilt es zuzuhören. Franck setzte unter das Titelkupfer seiner Guldin Arch, das acht christliche und acht vorchristliche Weisen in einem Schiff versammelt, die zwei Sätze: Ersucht die Schrifft  / inn wälcher jr das leben zuhaben vermarnt  / Sy ists  / die von mir zeuget / Johan.5 Die Hayligen Gottes leüt / haben geredt / getriben vom Hayligen Gayst.

Nach dem Vorbild Taulers muss daher auch der Heide Hermes  – wie übrigens ebenso Platon, Aristoteles, Pythagoras und die Sibyllen  – die innerseelische Offenbarung durch den Heiligen Geist erfahren haben. Im Hinblick auf die parallelen Erzählsituationen, die anthropologischen Kontinuitäten und die philologische Übereinstimmung ist es daher nur naheliegend, wenn Franck den hermetischen Pimander mit dem Verbum Dei identifiziert.

2.5. Inneres Wort und kosmischer Christus Mit dieser Interpretation befand sich Franck nicht mehr in Übereinstimmung mit der diskursmächtigen Position der lutherischen Kirche,206 allerdings hat er sich selbst ausdrücklich auf die Schrift und das Wort Gottes berufen. Seine Schriften wie die Guldin Arch und insbesondere das Verbüthschiert Buch pflegen einen ausgeprägten Biblizismus. Auch der Topos der Geistbelehrung, die dem irdisch gesinnten Menschen (noch) verschlossen ist, ist biblisch belegbar. In 1 Kor 2,13–16 etabliert der Apostel Paulus selbst den Gegensatz zwischen dem unwissenden, natürlichen Menschen und dem erkennenden, geistlichen Menschen, der den Geist Christi hat und durch diesen gelehrt werde. Die deutschen Begriffe des natürlichen bzw. fleischlichen und des geistlichen Menschen sind

Während letztere Dispute führten, so heißt es in seiner Predigt Beati oculi (V. 45), ob in der Gottesbeziehung die Liebe oder die Erkenntnis höher stehe, verwirklichen die ersteren das Eine, das Not täte, indem sie ihr eigenes Nichts erkennen und sich Gott überlassen (Gnädiger: Johannes Tauler, S. 91). 206 In Bezug auf die Rechtfertigungslehre, Kirchenverständnis und Schriftprinzip Weigelt: Sebastian Franck und die lutherische Reformation, S. 42.

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Übersetzungen für die griechischen Termini Psychikos anthropos und Pneumatikos anthropos, die wiederum den seelischen bzw. den geistlichen  / ›gemüt‹lichen Menschen beschreiben, denen Franck mit der Tradition präzise nach Paulus unterschiedliche Erkenntnisebenen zuordnet. Die Wegscheide zwischen der kanonisierten Theologie um 1538 und Francks Position liegt damit nicht in fehlender Korrespondenz der Thesen Francks mit der Bibel, sondern in unterschiedlichen Konzeptionen Christi. Im Prolog des Johannesevangliums, insbesondere Joh 1,3 und im Kolosserbrief ist Christus als Logos gezeichnet, als Erstgeborener vor aller Schöpfung, in dem und durch den Gott die Welt erschafft. Luther übersetzte Kol 1,16–17: »Denn in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist […]. Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm.« Mit der Etablierung des lutherischen Lehrsystems rückte jedoch nicht der präexistente Logos, sondern der menschgewordene, in der Geschichte erschienene Gott ins Zentrum der Theologie. Ebenso wurde der Topos der Geistbelehrung an die geschichtliche Person Christi gebunden und über die Predigt in den Raum innerhalb der Kirche gestellt. Franck jedoch versteht das Wort im Anschluss an den Kolosserbrief als Logos und kosmischen Christus, in dem alle Kreatur besteht. Im Kapitel Vom Wort Gottes in der Guldin Arch heißt es Vonn dem rechten  / wesenlichen  / waaren  / jmmer  / ewigen wort Gottes  / Das Gott vnd Christus selbs ist / vnnd inn vns wonet / das auch e dann Abraham vnd die schrifft selbs ist / vnnd ewig bleibt / wie das selb aller wesen wesen sey / alle creatur inn worte / erfüll / 207 vnd sie / wie erschaffe / also trage / ernoere / vnd erhalte

Zeugnisse für dieses Verständnis Christi findet Franck in Fülle bei den antiken Philosophen oder im Corpus Hermeticum. Im Kapitel Von Christo zitiert er den Christenkritiker Porphyrius kurzerhand als Philosophen des ewigen Worts, wobei das platonische Gute zum Vater wird und das Wort als »vnaußspraechlich gmüt« zur Ideenwelt, in der, der Zeit präexistent, alle Dinge ihrem Wesen nach bestehen.208 Im Corpus Hermeticum ist Franck insbesondere der erste Trakat mit der weltschöpferischen Rolle des Logos des Zitierens wert sowie die ewige Schwangerschaft und Schöpferkraft des göttlichen Worts: »Die natur des gemütlichen worts ist voller geburt / oder bärhafft / vnd mechtig zubauwen oder machen.«209 Mit dieser Betonung des kosmischen Christus, in dem die Welt erschaffen oder sogar geboren wird, unterläuft Franck nicht nur die diskursmächtige ontologi-

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207 Franck: Guldin Arch, Bl. 152 . r 208 Ebd., Bl. 62 . 209 Ebd.; vgl. auch CH V, 9; Asclepius-Dialog, 20 (CHD I, S. 280).

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sche Trennung zwischen Gott und Schöpfung, sondern er legitimiert auch eine gänzlich unlutherische – ebensowenig katholische oder calvinistische – Soteriologie. Bereits vier Jahre vor dem Erscheinen der Guldin Arch hatte Franck in den Paradoxa, die als sein philosophisches Hauptwerk gelten,210 formuliert, dass der neue Mensch Christus von Ewigkeit geschaffen sei, der kreatürliche Mensch diesen aber in der Zeit »anzuziehen« habe, indem er sich seiner im eigenen Inneren gewahr werde. Die Topoi der Introspektion, der Überzeitlichkeit und der Transformation sind auf das engste verknüpft, denn der Mensch »wird« in der Zeit das, was er von Ewigkeit an jenseits der Zeit ewig ist. Merck der zeitlos Gott macht nicht in der zeit / er hat vns alle von ewigkait erschaffen / von innen vnnd außen / Bey vns zeitlichen aber fähet es denn an / wenn wir diß werden. […] Vor Gott aber ist es alles von ewigkait / vnd bestehet immerzu / Er schafft nicht in der Zeit / das er heüt den / morgen jehnen beker / widergeborn oder zu Christen / vnd newen menschen mach / […] Der new mensch Christus ist von ewigkeit erschaffen. Wenn wir nun den anziehen / sein in vns gewar werden / vnd den für die handt nehmen / In disem augenblick würt der mensch vor vns in der zeit / auß gott geboren / vnd zum Christen worden sein / gesagt / der doch vor gott ewig ein Christ / eüsser vnd inner mensch aus nicht erschaffen / aber aus 211 gott geboren ward.

Diese Interpretation zeigt in nuce die charakteristische Abweichung vom lutherischen Verständnis des Christus pro nobis zum Christus in nobis, die sämtliche Bestandsaufnahmen der spiritualistischen Literatur Ende des 17. Jahrhunderts als Topos des Hermetismus und der Heterodoxie bezeichnen. Die Vorstellung eines »Anziehens« Christi verbindet sich im Diskurs mit der schwenckfeldischen Wendung vom »Essen« des himmlischen Leibs Christi212 und mit weiteren Metaphern, die grundsätzlich für eine wesensmäßige Wandlung des Gläubigen stehen. Doch nicht erst Franck, bereits die Schriften Eckharts oder die Theologia Deutsch kennen die Differenzierung zwischen Christus als übergeschichtlichem Prinzip, in dem Gott von Ewigkeit her die Welt erschafft und der Person Jesu, die nach traditionell christlicher Lehre die Inkarnation dieses Prinzips darstellt.213

210 Strelka: Sebastian Francks ›Paradoxa‹, S. 208. v 211 Franck: Paradoxa, Bl. 40 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 114 (Hervorh. d. Verf.). 212 Weiterführend André Séguenny: The Christology of Caspar Schwenckfeld. Spirit and Flesh in the Process of Life Transformation. Transl. by Peter C. Erb and Simone Nieuwolt. Lewiston 1987, S. 81 ff. 213 Sehr gut zu Franck und Eckhart Langer: Inneres Wort und inwohnender Christus, S. 63 ff.; auch Strelka: Sebastian Francks ›Paradoxa‹, S. 214; Poag/Hayden: Meister Eckhart und Sebastian Franck, S. 29.



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Bereits Eckhart hatte in seiner (lateinischen) Genesis-Auslegung die Einleitungsworte »in principio« (»in principio creavit deus caelum et terram«) nicht zeitlich interpretiert (»im Anfang«), sondern in Bezug auf den Johannesprolog als Prinzip und Verbum Dei, als zweite Person der Trinität: »Igitur creavit omnia in principio, id est in se ipso. Creavit enim omnia in esse, quod est principium, et est ipse deus.«214 Die �������������������������������������������������������������������� zugrundeliegende Differenzierung zwischen Christus als überzeitlichem Prinzip und der geschichtlichen Person ist platonischer Natur und unterscheidet sowohl zwischen dem Seienden und dem Werdenden als auch zwischen dem Wesen und der Erscheinung.215 Demnach haben alle Kreaturen ein zweifaches Sein, ein überzeitliches, ungeschaffenes Sein in Gott und ein zeitliches, geschaffenes Sein in der äußeren Wirklichkeit. Nach Eckhart sind alle Kreaturen nach der ersten Seinsform (»per modum identitatis«) in Gott gleich, da ihre Wirklichkeit in allen dieselbe ist, erst in der zweiten Seinsform (»per modum differentiae«) treten die Unterschiede der Kreatürlichkeit auf. Da die erste Seinsform (»esse in verbo dei«) ungeschaffen ist und noch vor der Entfaltung der Schöpfung in der Zeit liegt (»esse formale«), ist die Idee eines Geschöpfes identisch mit Gott selbst.216 Da Gott gleichzeitig Alpha und Omega, Anfang und Ende der Schöpfung ist, liegt in principio auch alle Zeit: »Igitur omne quod creavit praeteritum, creat ut praesens in principio; quod creat sive agit nunc ut in principio, simul creavit in praeterito perfecto.«217 Auch nach der Theologia deutsch sind alle Wesen wesensmäßig eines im vollkommenen Einen und sollten es folglich auch im Willen sein, da erst der an die Kreatürlichkeit gebundene Eigenwille zur Erfahrung der Widergöttlichkeit und der Vielheit führt.218 Wenn die Theologia deutsch den Begriff des Christuslebens verwendet, dann entspricht er nicht nur einem Synonym für den paulinischen Begriff des ›Neuen Menschen‹,219 sondern er beschreibt auch einen Zustand, in

214 Meister Eckhart: Prologus Generalis in Opus Tripartium. In: Ders.: Werke II, S. 478 f. 215 Dazu Langer: Inneres Wort und inwohnender Christus, S. 63. 216 Ebd., S. 64. 217 Meister Eckhart: Prologus Generalis in Opus Tripartitum. In: Ders.: Werke II., S. 482/483: »Was immer er also Vergangenes geschaffen hat, schafft er wie gegenwärtig im Anfang (=in principio); was er aber jetzt wie im Anfang schafft oder wirkt, hat er zugleich vollendeter Vergangenheit geschaffen.« 218 Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 123; Theologia Deutsch (Hg. von Hinten), S. 138. 219 Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 124: »Wer das Christusleben kennt und erkennt, der kennt und erkennt auch Christus, und hinwiederum, wer dieses Leben nicht kennt, der erkennt auch Christus nicht. […] Soviel Christusleben in einem Menschen ist, soviel ist auch Christus in ihm, und so wenig des einen, so wenig des andern. Denn wo Christusleben ist, da ist Christus; und wo sein Leben nicht ist, da ist auch nicht Christus. […] Wenn man spricht von Gehorsam, von einem neuen Menschen und vom wahren Lichte und von der wahren Liebe und vom Christusleben –

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dem der Eigenwille überwunden ist. Das Ausmaß des Christuslebens eines Menschen entspricht dem Ausmaß, in dem Christus, der göttliche Logos, in ihm ist, und dies wiederum entspricht dem Ausmaß eines Lebens ohne Ich-Anteile.220 Das Motiv der Aufgabe des eigenen Willens, das der Text breit entfaltet, ist nicht sozial oder psychologisch, sondern ontologisch bestimmt. Franck schließt mit seinem Christusverständnis als überzeitliches, ewiges Wort und Prinzip aller Schöpfung an diese Tradition an. Er ordnet die menschliche und die göttliche Natur Christi der zeitlichen und der überzeitlichen Ebene des Seins zu und belegt dies mit den Worten Jesu selbst aus dem Johannesevangelium: »Noch ehe Abraham wurde, bin ich.«221 Christus als Logos ist ihm gleichbedeutend mit dem »Wort« des alten Testaments, das sich hinter allen Offenbarungen und Erscheinungen Gottes offenbart. Nach seiner göttlichen Natur ist Christus keine Person, sondern ein überzeitliches Prinzip des Alles in allem.222 In dieser Charakterisierung ist Christus Vergangenheit, Gegenwart und Ewigkeit,223 reines Sein, das allem Raum-, Zeit- oder Formunterworfenen vorgänglich ist und ihm zugleich als innerste Essenz und göttliches Lebensprinzip zugrunde liegt. Nach der historischen Inkarnation dagegen war er Mensch, der lebte und starb. Nach dieser Interpretation erscheint der historische Jesus nach seiner menschlichen, zeitunterworfenen Natur als Christi Ausdruck und Form, der in seinem Leben und Wirken ein »Zeuge« der Wahrheit war gemäß des platonischen Grundsatzes, dass alles Äußere lediglich eine Spur, ein Schatten oder ein Hinweis auf das Wesentliche ist. Entgegen den diskursmächtigen theologischen Positionen, die im Auftreten in der Person Jesu eine geschichtliche Wende im Verhältnis zwischen Gott und den Menschen sehen, eine Öffnung des zuvor verschlossenen Himmels oder eine Versöhnung des vormals zornigen Gottes,224 formuliert Franck, dass im Zeugnis des historischen Christus lediglich das erkennbar, offenbart und vollendet wurde, was von Anfang der Welt an in den Herzen der Gelassenen existierte,225 in anderen Worten: im Seeleninnersten jener, die ihre Ichheit überwunden hatten. Als solches war diese Wahrheit aber, so wörtlich, ein

das ist alles eins.« Vgl. auch Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 138. 220 Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 140; Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 151. v 221 Joh 8,58; Franck: Paradoxa, Bl. 62 ; Franck: Paradoxa, (Hg. Wollgast), S. 166 r 222 Franck: Paradoxa, Bl. 79 . »Diser inwonend Christus ist alles in allen / ausser dir wirt er dir zwar nichts nützen / wie gehört. Der auswendig aber im flaisch / ist Christi des innern gaist / bild / vnnd ausdruck.« Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 206. v 223 Franck: Paradoxa, Bl. 62 : »Dann nach der einen natur der gothait / ist Christus gestern / heüt / morgen / vnd von ewigkait in die ewigkait.« Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 166. r v 224 Franck: Paradoxa, Bl. 44 –47 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 123–130. r 225 Franck: Paradoxa, B. 46 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 127.



Die Übersetzung des Corpus Hermeticum

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»Geheimnis«, war »verdeckt« und »unbewusst« und »nur wenigen« bekannt. Ins Bewusstsein kam diese Wahrheit erst durch das Zeugnis des historischen Jesus: Diß alles laut ihe / als sei es alles erst mit Christo kommen. Antwort / Es ist in Christo alles volendet / lautbrecht worden / geoffenbart / das vor gleich wol im gehaimnuß / von anbegin der welt war / in aller gelassen hertz / aber verdeckt / onbewißt […]. Darumb würt Christus recht wol der ausdruckt vnd geoffenbart will gottes genennet / der hat mit sich bracht / das die welt vorhin nit wißt / vnnd ob es wol war / vnd sie es auch in jr het / doch habend nit het / weil sie es nit wißt / braucht / noch anlegt / als ein schatz / den einer sein leben lang 226 onwissend hatt.

Sowohl die biblischen Anspielungen auf das Gleichnis vom Schatz im Acker und von Christi Aussprechen dessen, was seit der Schöpfung verborgen war227 als auch die üblicherweise mit Hermes assoziierte Rede eines nur wenigen bekannten Geheimnisses werden bei Franck im selben Sinn gedeutet: Sie beziehen sich nicht auf eine bestimmte Lehre, die Christus als erster verkündet habe, sondern auf das Gewahrwerden eines bislang unbewussten Zustands in der Folge der Hinwendung zum Principium essendi, das alle Kreatur in ihrem Grunde trägt. Entsprechend weist der geschichtliche Jesus lediglich äußerlich auf das hin, was Gottes Wort, also er selbst in seiner Natur als Christus-Logos, in jedem Herzen spricht, und zwar von Anbeginn der Welt an. Dabei dient die beliebte paulinische Metapher des Geistes, der auf die Tafeln des Herzens schreibt228 nicht nur dazu, die theologischen Debatten um die Beziehung des alten und des neuen Testaments zueinander zu relativieren, sondern sogar dazu, den geschichtlichen Exklusivitätsanspruch eines sich auf die äußere Form von Dogmen und Katechismen stützenden Christentums zu hinterfragen:229 »Also ist der inhalt / sinn / gaist vnnd warheit beider Testament eins / vnd in aller menschen hertz.«230 An dieser gedanklichen Stelle führt Franck als Beleg bereits in den Paradoxa Hermes Trismegistos als einen jener wenigen an, die dieser Wahrheit – nun in charakteristischer Weise – »teilhaftig« geworden sind:

226 Ebd. 227 Mt 13,35 u. 44. 228 Röm 2,15. v 229 Franck: Paradoxa, Bl. 45 : »Darumb ist das wort flaisch worden / das es sich selbs in vns verdunckelt / zaiget / Welchs man nit von aussen kann einschreien / sonder es muß in vns selbs gefunden / gelert / vnd entpfunden werden / erregt / getriben / vnd gelert vom heiligen Gaist. Es läßt sich auch weder reden noch schreiben / sonder es ist Gottes wort selbs. Christus hat vns diß allein eüsserlich überwisen / wie es innerlich im geist solt zugehen / vnnd vorgeschriben ist / wie er [als Christus-Logos] vor Israel die Taffel vnder augen hat gestelt / die doch vor in vnser hertz waren geschriben / Rom. 2.« Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 126. v 230 Franck: Paradoxa, Bl. 45 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 126.

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Christus hat mit seinem todt beide Testament (die im grund / sinn vnnd geist / eins sindt / wie fast sie im buchstaben streiten / vnnd eins das ander auffhebt) bestettiget / versigelt / vnd gewiß macht / damit aller argwohn des zorns / oder einiges onwilles Gottes / so inn vns vnd nitt inn Got war / weg würdt genommen / hat das gehaimnuß / das vor von anbeginn jm verborgen war / Eph. 1 Rom 16. selbs ausgerufft / vnd lassen ausrufen vor aller welt. Da da hats erst die auskert flaischlich welt gewar worden / die vor nit wißt / ob ein himel / vergebung der sünd / hailiger geist / glaub / Christus / oder gottes wort war / ausgenommen wenig einkert / gaistlich leüt / Als Abraham / Hermes Trismegistos / Job / Noah. Dann ye nur ein glaub / hailiger gaist / gnad / Christus / vnd weg zu got ist / wie auch nur 1 gott / so müssen sie eben durch denselben glauben / hailigen gaist / gnad / vnd Christum (des tag 231 sie mit Abraham in jrem hertzen gesehen haben) selig worden / wie wir.

Francks Aufzählung der alttestamentarischen Weisen gemeinsam mit Hermes Trismegistos ist angesichts des logosmystischen Kontextes nur konsequent: Hermes und die Patriarchen erscheinen nicht als Eingeweihte nach okkultem Sprachgebrauch, sondern kontextgebunden als Eingekehrte, die die zentrale Richtungsänderung vom Selbst zu Gott, die »weseliche kêr« der mittelaltlichen Mystik oder der »Umkehr« nach dem ersten hermetischen Traktat vollzogen und Gott im eigenen Herzen gefunden haben. Gleichzeitig heißt diese Interpretation bei Franck jedoch nicht, dass Hermes nach traditioneller Deutung das Kommen des historischen Christus prophezeit hätte, wie Francks reiche christliche Metaphorik des einen Himmels, Gottes, Gnade und Christus zunächst suggeriert und wie sie in der Rezeption oft verstanden wird. Noch Ficino hatte Hermes tatsächlich als Propheten mit märchenhaften Gaben skizziert, der die »Ankunft Christi« voraussagte.232 Franck jedoch geht gerade mit seiner unbekümmerten Rückdatierung der hermetischen Texte in die vormosaische Zeit einen Schritt über die Sicht auf die hermetische Offenbarung als Präludium zu der einen, sich erst im historischen Jesus offenbarenden Wahrheit hinaus. Dabei geht es ihm gar nicht um eine Entgegensetzung von christlicher und hermetischer Offenbarung. Somit verfehlt auch die Debatte über eine Konkurrenz um Anciennität zwischen Hermes und Moses die eigentliche Pointe von Francks Argumentation, die in den Topoi der Überzeitlichkeit des Logos sowie des innerseelischen Offenbarungscharakters liegt. Angesichts der biblisch ableitbaren Überzeitlichkeit Christi, der als kosmischer Christus der Logosmystik zugleich Grund allen Seins und damit dessen inneres Wort ist, verblasst die Frage nach dem Zeitpunkt der Verschriftlichung des Offenbarungswissens als sekundär.

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231 Franck: Paradoxa, Bl. 46 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 128 (Hervorh. d. Verf.). 232 Ficino: Vorrede, zit. n. Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 92.

Die Übersetzung des Corpus Hermeticum



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Die Datierungsfrage interessiert Franck konsequenterweise nur peripher, wie sein Kommentar über die verschiedenen »erleüchteten« der Geschichte im Verbüthschiert Buch zeigt, dagegen macht er das gesamte christliche Wortfeld des Himmels, des Glaubens, Christi und Gottes als Metaphern im Hinblick auf einen einzigen, soteriologischen Punkt bewusst, auf den hin er auch die antiken Autoren liest. In unzähligen Synonymen zu den beiden christlichen Kernbegriffen des »Glaubens« und »Christus« kreist seine Schilderung letztlich um die eine grundlegende wesensverändernde Umkehr zu diesem ewigen, die gesamte Schöpfung tragenden Wesensgrund, die verschiedene Namen trägt, welche jedoch als Äußerlichkeiten zweitrangig und kulturabhängig sind: Darumb ist allein  / vnd vor allen dingen die widergeburt vonnöten  / das man in Gott komm / Gott such / anhang / […] des Herren sein / im Herren wonen / in Christo bleiben / den tag des Herrn sehen / zu Christo kommen / Christum annehmen / in Christo sein und bleiben / des Vatters willen thun / mit gott frid haben / vnnd zu friden sein Job 22 Welches die schrifft  / sonder das new Testament mit einem namen glauben nennt  / Vnd das die alten gottes weyßheit / glantz / wort / krafft / liecht haben genent / das wirt in dem Newen Testament Christus geheissen / Es ist im grund eins / sindt nur andere vnd andere namen. Darumb sol man Christum / oder das Reich gottes nit an bestimmte wort binden. […] Summa / es halten es alle recht frummen miteinander / in aller welt / von einem geist vnd meister gelert / vnd haben einen grundt / wort / latin / vnd weg der säligket / als kinder einer schul / vor jn / vnd redt doch ein ieder auff ein sonder weyß von Gott / Der spricht / Christus mach in sälig / vnnd leer jn alles. Der ander / die weyßheit / Der dritt / das wort Gottes sey sein liecht. Der vierdt / will in gott gehen / vnd sälig werden […]. Seneca nent etwan gott die natur / vnd die vernunfft (wie auch Franciscus Petrarca) den geist gottes in vns / der vns über sich ziehe zu gutem / vnd göttlichen dingen. Andere anders. […] alles aus einem brunnen / wie man dann anders vnd anders offt von einem ding redt / also von gott / 233 seinem wort / Christo / vnd glauben.

In diesem Kontext wird erst die eigentliche Tragweite der franckschen Interpretation greifbar, die sich folgerichtig aus der Betrachtung im Kontext mystischer Literatur ergibt: Hermes ist bei ihm weder ein Esoteriker nach modernem Sprachgebrauch, der um eine geheime Lehre wüsste, noch ist er ein Statist in einem christlichen Drama der Weltgeschichte, der lediglich den Prolog spricht. Hermes hat nach Franck nicht die Ankunft der historischen Person Jesu Christi prophezeit, sondern er war historisch der erste Zeuge einer transhistorischen und transpersonalen Wahrheit, die dann die Person Jesu am vollkommensten sichtbar gemacht hat. Und diese transpersonale Wahrheit Christi, so impliziert die Darstellung, ist nicht nur in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich versprachlicht, sie ist auch im Seelengrund eines jeden Menschen verborgen.

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233 Franck: Paradoxa, Bl. 88 f.; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 226 f.

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3. Interpretationsdifferenzen und Spannungsfelder zu kanonisierten Deutungen 3.1. Religiöse Toleranz, Pluralität der Wege und die Deutung des Asclepius-Dialogs Francks Interpretation der (Heils-)Geschichte weicht trotz ihrer quellenreich dokumentierten Traditionsgebundenheit an Systemstellen von den christlichen Lehrgebäuden und Symbolsystemen seiner Zeit ab, die von den neu entstehenden Konfessionen jeweils mit dogmatischem Gewicht in Bekenntnisschriften und Katechismen festgeschrieben werden und die mit Michel Foucault als »Grenzziehung des Willens zum Wissen«234 gelten können. Francks deviante Position relativiert jedoch Dogmen und postulierte Deutungshoheiten dahingehend, dass er bereits parallel zur Entstehung der neuen Glaubenswahrheiten das Wissen des irdischen Menschen als »Stückwerck« bezeichnet, was es reflektierbar werden lässt, dass jeder sich Gott nach seinem eigenen Bilde schaffe bzw. »dichte.«235 Die eigene Konfession wie auch die anderen Religionen verlieren damit als Denksysteme und Dogmengebäude ihre konfessionell exklusiven Absolutheitsansprüche als jeweils alleinige Wege zum Seelenheil. Die noch junge lutherische Konfession befand sich um 1530 jedoch selbst unter massivem Druck und in Konkurrenz mit der katholischen Kirche, den Reformierten und Dissidenten in den eigenen Reihen um die »eine Wahrheit«. In der Confessio Augustana formulierte sie zwar die Eckpunkte ihres identitätsstiftenden Lehrsystems, doch ging in der alltäglichen Erfahrung der Kampf um »die« Wahrheit weiter. Wenn Franck als herausragender Vertreter der Toleranz erinnert wird – wie auch sein Umgang mit dem »Heiden« Hermes zeigt – dann ist die spezifische Leistung seiner Reflexion des religiös Anderen in der heilsgeschichtlichen Vergangenheit wie in seiner Gegenwart erst vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Stands der Debatte um Heilsexklusivität zu ermessen. In der Vorrede zur Guldin Arch und im Beschluss zum Verbüthschiert Buch skizziert Franck ein trostloses Bild der zeitgenössischen Situation, die von einer Kontingenz der Glaubenssätze und von erdrückender Intoleranz geprägt ist.236 Die Vorrede zur Guldin Arch ridikülisiert mit spitzen Worten die akademische Disputationspraxis als Ablenkung

234 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 14. r 235 Franck: Guldin Arch, Bl. 39 . 236 Ergänzend auch in weiteren Werken Dellsperger: Lebendige Historien, S. 114.



Interpretationsdifferenzen und Spannungsfelder

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vom Wesentlichen und den Großteil des theologischen Wissens als akademisch konstruierte Genealogie von Zufälligkeiten, die fast täglich neue Artikel erfindet, welche zur Seligkeit vermeintlich notwendig seien. Am Beispiel der Frage nach der erbsündefreien Geburt Mariens verfolgt Franck die Entstehung theologischen Wissens von seiner Erfindung durch einige Prediger über eine Flut an zugehörigen akademischen Publikationen bis zum Punkt, an dem an den Hauptuniversitäten des Landes niemand mehr mit abweichender Meinung promoviert werden darf.237 Die Menge der Kommentare zu Lehrentscheidungen und biblischen Büchern entspreche der Menge der Theologen, so Franck, die schier den Heiligen Geist selbst noch zum Schüler machen wollten. Er analysiert, wie die Schriften der Autoritäten und die Fülle der Kommentare aus dem Glauben eine Wissenschaft und Kunstform machen, die die Gläubigen angstvoll auf äußere Autoritäten und noch offene Lehrentscheidungen schielen lasse, sie dabei jedoch vom Wesentlichen, ihrem eigenen Glauben an Gott entfremde, den Franck ganz nach Luther als Einfalt und Vertrauen fasst.238 Angesichts jenes Wesentlichen, nämlich der gelebten Glaubenspraxis, reflektiert er die zeitgenössische Situation als verlorenes Gleichgewicht, als »verglassen«, als Ablenkung: Mit vntnützen fragen vnd künsten (die zur gotsäligkayt nicht thund  / Ya die mer verhindern / dann fürdern) werden wir vilfältig auffgehalten / das wir vns daran verglassen / vnnd müd lesen / schreyben vnd disputieren / Dieweyl vnderlassen wir die notstück / so Gott / damit niemand kayn außred hett / jnn die Tafel vnsers hertzen hat geschriben / vnd deren vnser gewissen tausent zeüg / vberzeügt / Nemlich das eingeschriben gesatz mit dem finger Gottes / glauben / lieb / hoffnung / forcht / gegen Gott und den menschen täglich zuüben 239 […].

In der Apologie des Verbüthschiert Buch äußert er seine tiefe Besorgnis über die omnipräsente Praxis des gegenseitigen Verdammens und die Unmöglichkeit der freien Rede sowie des vorurteilsfreien Prüfens von Glaubensfragen. Die Apologie ist ein einzigartiges Plädoyer für Geistesfreiheit und für interreligiöse, nicht nur innerchristliche, Toleranz, die ganz spezifisch nicht nur Heiden wie Hermes und antike Philosophen, sondern auch zeitgenössisch Juden und Muslime (»Türcken«) in diese Toleranzforderung einschließt.240 Der Tenor der Apologie lautet, dass

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237 Franck: Guldin Arch, Vorrede, Bl. iiii . r 238 Ebd., Vorrede, Bl. v . r/v 239 Ebd., Vorrede, Bl. iiii . 240 Wie sehr Franck mit dieser toleranten Haltung außerhalb der Hauptströmung des Diskurses stand, zeigt die Studie Thomas Kaufmann: ›Türckenbüchlein‹. Zur christlichen Wahrnehmung ›türkischer Religion‹ in Spätmittelalter und Reformation. Göttingen 2008 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 97).

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 Sebastian Franck (1499–1542)

Gott die seinen unter allen Völkern erkenne, dass der Mensch jedoch seine Mitmenschen nicht nach ihren Abweichungen von Glaubenssätzen, sondern an den Früchten ihres Tuns getreu Jesu Gebot erkennen möge.241 Sie bezeichnet das Verdammen anderer nach Abweichungen von Regeln als Unsitte und als Verarmung der Gemeinde Gottes, die davon lebe, dass jeder nicht blind übernommene Regeln, sondern seinen ureigensten Beitrag der Gemeinde frei zu Gute kommen lassen könne. Dieser möge dann frei geprüft werden zum Nutzen aller: dann ich erkenn vnd erfare vil hoher göttlicher gaaben / vil theürer träfflicher leut vnder allen völckeren  / also das ich mein Gott allenthalben spür  / das ich wol lernen muß  / niemand zuuerachten / vnnd von vnderschayd der person vnd völcker / mich vnpartheiisch gegen yederman zu halten / Obs aber den obgemelten Exempeln gemäß sey / alles auß ein fürgeschriben regel vnd auß andern / als auß dem Hayligen gaist schreyben / vnnd eben gefangen da inn eins andern verstand beruwen vnd versichert bleiben / vrthayl ein yeder selbs. […] Warumb wolt ich mich glaubens halben mit yemand balgen / der ein freye gaab 242 Gottes ist / vnnd nit yedermanns ding / sonder vom wind Gottes kompt […].

Eine solche Haltung impliziert eine deutliche Distanz zum Postulat alleinigen Wahrheitsbesitzes, die Franck sowohl in Bezug auf seine eigenen Texte einräumt (»Mein schrifft ist nit die haylig schrifft«243) als auch in Bezug auf die Autoritäten der christlichen Tradition. In einem nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Brief an Johannes Campanus aus dem Jahr 1531 hatte Franck bereits die These vertreten, dass die äußere Kirche mit den Aposteln zerstört worden sei. Er hatte dort in den schärfsten Worten die großen Kirchenlehrer Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und Gregorius sogar der Unchristlichkeit bezichtigt, da sie in Unkenntnis Christi in ihren Büchern Kriege, Eide, Militär und Gewalt legitimierten.244 Seines Glaubens nach, so Franck 1531, sei das Wort Gottes noch nirgendwo auf der Welt wirklich erkannt worden,245 und er weiß auch um die Brisanz solcher Aussagen: Am Schluss seiner Ausführungen bittet er seinen Briefpartner ausdrücklich im Bewusstsein ihrer Lebensgefährlichkeit um Diskretion: Abermal gute nacht, mein bruder, vnd laß doch diesen brieff nit für die hundt vnd säwe kommen, das du mir nit ein vnzeitlich creutz bereitest vnd machest ein vnzeitlich erndt

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241 Franck: Das verbüthschiert Buch, Bl. 427 . v 242 Ebd., Bl. 428 . r 243 Ebd., Bl. 429 . 244 Sebastian Franck an Johannes Campanus. In: Quellen zur Geschichte der Täufer. VII. Bd. Elsaß, I. Teil. Stadt Straßburg 1522–1532. Bearb. v. Manfred Krebs u. Hans Georg Rott. Gütersloh 1959, S. 301–325, hier S. 307 f. 245 Franck an Campanus, S. 320.



Interpretationsdifferenzen und Spannungsfelder

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aus mir. Denn vil durch ihr vnbesünnen vnd vnzeitlich schwetzen brengen sich selbst an 246 galgen.

Francks Kritik an der Konstitution einer christlichen Exklusionsidentität über ein bestimmtes Glaubenswissen ist historisch nicht neu, ebensowenig wie sein Kriterium des gelebten Lebens. Bereits Eckhart hatte mit einem vernehmbaren Seitenblick auf Zeitgenossen, die das Heil mit einer bestimmten Form des Glaubens – vorzugsweise ihrer eigenen – identifizierten, darauf insistiert, dass Gott das Heil nicht an eine bestimmte Weise gebunden habe. Er hatte in den Reden der Unterweisung geschrieben: Denn Gott hat der Menschen Heil nicht an irgendeine besondere Weise gebunden. Was eine Weise hat, das hat die andere nicht; das Leistungsvermögen aber hat Gott allen guten Weisen verliehen, und keiner guten Weise ist es versagt, denn ein Gutes ist nicht wider das andere. Und daran sollen die Leute bei sich merken, daß sie unrecht tun: wenn sie gelegentlich einen guten Menschen sehen oder von ihm sprechen hören, und er folgt dann nicht ihrer Weise, daß dann für sie gleich alles als verloren gilt. […] Man soll bei der Leute Weise mehr darauf achten, daß sie eine gute Meinung haben und niemandes Weise verachten. Nicht kann ein jeglicher nur eine Weise haben, noch kann ein Mensch alle Weisen noch 247 eines jeden Weise haben […].

Es geht bei Eckhart um die Anhaftung an Äußerlichkeiten und um die Verwechslung von Form und Inhalt. In seinem zeitgeschichtlichen Kontext war diese Warnung vor allem an Nonnen und Mönche gerichtet, die die »Tötung des Selbst« wörtlich nahmen und über selbstzerstörerische Askese, Geißelung und Selbstkasteiung die Unio erzwingen wollten.248 Seine Kritik am Exklusivitätsdenken impliziert keine Beliebigkeit, sondern ist im Gegenteil eine exakte Ableitung aus seiner holistischen Annahme, dass in einer guten Weise das Gute aller Weisen zu finden sei. In Abgrenzung dazu zeigt jedes Exklusivitätsdenken in Form von

246 Ebd., S. 324. Das lebensgefährliche Potenzial des Briefs liegt auch in Francks Äußerungen über Michael Servets Kritik am dogmatischen Trinitätsbegriff, ebd., S. 322. 247 Meister Eckhart: Reden der Unterweisung. In: Ders.: Werke  II, S. 386/387. Zugänglich im Taulerdruck war Predigt 5B, in der es heißt: »Denn wahrlich, wenn einer wähnt, in Innerlichkeit, Andacht, süßer Verzücktheit und in besonderer Begnadung Gottes mehr zu bekommen als beim Herdfeuer oder im Stalle, so tust du nicht anders, als ob du Gott nähmest, wändest ihm einen Mantel um das Haupt und schöbest ihn unter eine Bank. Denn wer Gott in einer bestimmten Weise sucht, der nimmt die Weise und verfehlt Gott, der in der Weise verborgen ist.« Meister Eckhart: Deutsche Predigt 5B. In: Ders.: Werke I, S. 70/71. Zur Pluralität der Wege bei Eckhart Otto Langer: Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit. München/Zürich 1987, S. 163 ff. 248 Ebd.Langer: Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie, S. 70 ff.

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Intoleranz, dass es noch nicht aus der Einheit, also nicht aus Gott ist. Der grundlegende Fehler besteht letztlich also darin, die Form mit dem Inhalt zu verwechseln. Was Eckhart in Bezug auf die Praxis der Kontemplation formuliert hatte, führt Franck im Hinblick auf die konfessionelle Konkurrenz um Wahrheit und hier insbesondere auf die Stellung der Zeremonien und Sakramente aus, die, wie er in der Vorrede zur Guldin Arch formuliert, dahingehend zur Heilsnotwendigkeit ›gemacht‹ werden das man täglich new gloß vnnd artickel findet / wie man zu letzt erst umb die zeyt Thome von Aquin / in einem Concilio den artickel vom Sacrament zu den vij stucken hat than / vnd zur seligkait / wie sie dann für gaben / von nöten geacht / vnd also viij artickel vnd stuck / 249 deß Christenn glaubens / ja seyd Christo het / von vj tausent gemacht […].

Im Kontext des Streits um die Frage nach den gültigen Praktiken des Glaubens in Form von Zeremonien und Sakramenten hatte Franck bereits in den Paradoxa seine Haltung mit der Metapher vom Wegweiser zum Wein im Keller skizziert. Wegweiser gewinnen ihre Nützlichkeit aus der Tatsache, dass sie nicht um ihrer selbst Willen, sondern in der Ausrichtung auf ein Ziel hin existieren. Da Gott reiner Geist ist, kann er nach dem Johannesevangelium nur im Geist angebetet werden. Alles Äußere hat nach Franck keinen Wert an sich, sondern gewinnt seinen Wert nur aus der Eigenschaft, als »Zeiger« zum »Wein im Keller« zu fungieren, womit bildlich gesprochen die Trunkenheit am göttlichen Wein gemeint ist – die in der Tiefe des Inneren vollzogene Unio. Darumb gott (der ein gaist ist / vnnd derhalb nichts eüsserlichs von vns sucht / oder begert) an jn kein gefallen hat / das ers alweg wolle gehalten haben / sonder so wir den zeiger verstehen / vnnd jm nach ein sind gangen / zum wein inn keller / fragt er nicht mer darnach / Ja will haben / das wir vns der warheit halten / vnd den zeiger faren lassen. Also geht Paulus durch Christum ein zum vatter vnd läßt auch Christum nach dem flaisch / als er durch jn den Vatter ergriff vnd erkant / als unerkant hinder jm. 2. Corinth.5. vnnd helt sich itzt des 250 göttlichen weins / in seiner gotheit ertruncken.

Für Gott, so besagt diese Metapher, ist die »Weise« des Weg-»Zeigers« zweitrangig, solange der Zeiger nicht auf sich selbst, sondern auf das Ziel in der Tiefe zeigt. Ist der Mensch erst beim Wein angelangt, so fragt Gott nicht mehr danach, welchen Weg er gekommen ist. Sakramente und Zeremonien werden hier nicht generell verworfen, ihnen wird nur lediglich die Vermittlungsexklusivität aberkannt, die

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249 Franck: Guldin Arch, Vorrede, Bl. v . v 250 Franck: Paradoxa, Bl. 45 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 126.



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ihnen im zeitgenössischen Diskurs aber als identitätsstiftend von allen Konfessionen zugesprochen wird. Diese ist nicht nur im Hinblick auf die symbolische Repräsentation des Glaubenswissens, sondern auch für die Konstitution einer Gruppenidentität notwendig. Die zunehmende Unversöhnlichkeit im Ringen um Fragen der symbolischen Repräsentation oder der sanktionierten Vermittlungswege lassen sich neben theologischen Interpretationsdifferenzen eben auch auf Konflikte in Machtfragen zurückführen, die zur Konstitution einer Gruppenidentität aber gestellt werden müssen.251 Francks Haltung zu den Sakramenten ist nicht rundheraus ablehnend; er betrachtet sie als hilfreich auf einer bestimmten Stufe des Wegs, die aber nicht die Erfüllung selbst ist. Mit dieser Haltung impliziert er ein Modell verschiedener Stufen der Gottesnähe, die verschiedene Formen des Gottesdienstes kennt, und in vielsagender Weise zitiert er bereits in den Paradoxa zur Illustration dieses Modells den hermetischen Asclepius-Dialog: Summa / Ceremoni sind der kinder Gotdienst / die bey den Römern Numa Pompilius dem groben vnuerstendigen volck zur übung auffsetzt […] Es ist aber nichts pestilentzischers / dann wenn man dis Dockenwerck  / kinderspill  / vnd Monstranz  / für das hailigthumb vnd rechten waren Gotsdienst hält. […] Christus leret vns Johan. 4. wie wir zu jm kommen sollen / […]. Si deus est animus / Ist Got ein gemüt / so ehre jn mit dem gemüt / mit dem das er ist. Ein visch will mit wasser / vnd ein yedes mit seiner natur geehrt werden. Daher hieß Plato in dem gotsdienst des höchsten Gottes / alle Ceremoni auffheben / vnd Hermes Trismegistus ad Asclepium / Das ist ein aberglaub / vnd gotsdiebstal / wenn du Gott bittest / vnd Weyrauch / oder Semelmel wilt anzünden. Dann nichts mangelt dem / der es alles ist / vnd in dem alles ist / sonder wir sollen mit danck anbetten / Folgend sagt er nach leng / wie 252 man Gott nicht mög geben / dann danck / ehr / lob etc.

Platon und Hermes Trismegistos erscheinen in diesem Zitat trotz ihrer kulturgeschichtlich vorchristlichen »Weise« als Zeugen Gottes. Franck integriert Hermes und Platon über das Tertium comparationis des mystischen Schweigens, des Sanctum silentium, in das Problemfeld seiner Gegenwart. Von Plotin bis zu Eckhart und Tauler problematisieren mystische Texte das Sprechen über dasjenige, was jenseits der Sprache liegt und betrachten das Schweigen als eigentli-

251 Weiterführend Hans-Jürgen Goertz: Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen. Göttingen 2007, insbesondere sein Plädoyer für ein kulturgeschichtliches Konzept von Radikalität S. 11 ff.; illustrierend der Sammelband Günter Vogler: Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18.  Jahrhundert. Weimar 1994; theoretisch grundlegend Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit, S. 17 ff. r/v 252 Franck: Paradoxa, Bl. 54 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 147; vgl. Asclepius-Dialog 41 (CHD I, S. 313 f.).

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ches und erhabenstes Ausdrucksmittel des Unsagbaren,253 worin ihnen die hermetischen Texte nicht nachstehen.254 Das Asclepius-Zitat ist besonders im Hinblick auf die Stelle bemerkenswert, die Franck aus dem Asclepius-Dialog als sinnstiftend zitiert, da seine Lektüre in einem signifikanten Gegensatz zu dessen zeitgenössischen Bewunderern wie Gegnern steht. Das aus christlicher Perspektive skandalträchtig »Heidnische« dieses Textes stellt  – neben einem für die abendländische Tradition einzigartigen Verständnis der körperlichen Liebe als heilig  – der Dialogabschnitt über die magische Theurgie dar, die Schilderung, wie der Mensch Götter in Statuen herabziehen könne und diese mit höheren Kräften beseele. Die Statuen-Szene des Asclepius-Dialogs wurde entsprechend von Agrippa über Kircher bis zu ihrer Kritik im 18. Jahrhundert als Höhepunkt menschlicher Kunst interpretiert und machte den Asclepius-Dialog zu einem der Urtexte astrologischer Bildmagie.255 Ebenso wirkte dieses plastische Motiv als Inspiration in der Literatur, so z. B. in William Shakespeares The Winter’s Tale, wo die totgeglaubte Königin mit dem sprechenden Namen Hermione vor ihrem Mann als Statue posiert, sodass dessen existenzielle Reue sie augenscheinlich mit dem Wunder neuen Lebens beschenkt.256 Umgekehrt hatte die Statuen-Szene in der frühchristlichen Tradition eine Schlüsselrolle in der Diskursivierung der hermetischen Texte als nichtchristliche Irrlehre gespielt: Augustinus hatte in seinem wirkmächtigen Buch De civitate Dei seine scharfe Kritik an den hermetischen Texten, die maßgeblich zu ihrer Stigmatisierung als »Götzendienst« und zur Verdrängung aus der Tradition führte, vor allem mit dieser Szene begründet.257 In der Verdammung durch Augustinus wie in der Bewunderung durch Agrippa hatte jedoch die genaue Erzählstruktur des kritisierten Textes keine Rolle gespielt, wohingegen Francks Verweis auf den Asclepius-Dialog das Wissen

253 Ausführlich Josef Quint: Mystik und Sprache. Ihr Verhältnis zueinander, insbesondere in der spekulativen Mystik Eckeharts. In: Ruh (Hg.): Altdeutsche und altniederländische Mystik, S. 113–151, hier S. 119 f. So auch zu Porphyrios Fowden: The Egyptian Hermes, S. 147. 254 CH XIII, 16: Hermes: »Denn das (alles) ist keine Sache lehrhafter Unterweisung, sondern wird in Schweigen verborgen.« (CHD I 183). 255 Weiterführend Robert Felfe: Verdammung, Kritik und Überbietung: Das Nachleben hermetischer Tradition in der Naturgeschichte Johann Jakob Scheuchzers (1672–1733). In: Trepp/Lehmann (Hg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis, S. 269–303, hier S. 284. 256 William Shakespeare: The Winter’s Tale, Akt 5, Szene 3. Weiterführend Mitsuru Kamachi: What’s in a name? Hermione and the Hermetic Tradition in the ›Winter’s Tale‹. In: Shakespeare Society of Japan 29 (1991), S. 21–36. 2 257 Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. Bd. 1. Übersetzt v. Wilhelm Thimme. Zürich 1978, S. 410–419.



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um diese Erzählstruktur gerade fruchtbar macht. Der Asclepius-Dialog besteht, narratologisch betrachtet, aus einem langen Dialog zwischen Hermes und seinen Schülern sowie einer kurzen Rahmenhandlung, die den Gottesdienst nach diesem Gespräch schildert. Das Gespräch selbst kreist an einem Punkt um die Erzählung der religiös, so wörtlich, »in die Irre« gegangenen Ahnen, die Statuen von Göttern selbst herstellten und Geister in sie bannten.258 Diese Götter stellen jedoch bereits den Ausführungen des Hermes nach irdische Helfer für praktische Aufgaben mit durchaus menschlichen Eigenschaften und Ansprüchen dar.259 Die Rahmenhandlung schließlich schildert den Gottesdienst, den Hermes selbst mit seinen Schülern feiert. Und hier weist Hermes das Ansinnen des Asclepius, Gott als dem Einen auch nur Weihrauch zu opfern, scharf zurück und erklärt in unmissverständlicher, aber oft übersehener Deutlichkeit, dass der Eine, der alles ist und in dem alles ist, nichts bedürfe, sondern allein im Dank angebetet werden kann.260 Diese Differenzierung zwischen einer exoterischen praktischen Frömmigkeit des Volkes, die durchaus Magie und Rituale kennt, und einer hohen Form des Gottesdiensts, die sich allein geistig vollzieht, ist damit bereits im ursprünglichen hermetischen Traktat so angelegt.261 Sebastian Franck hat als einer der wenigen Rezipienten den Schluss des Textes als dessen erzählerische Pointe stinnstiftend rezipiert und trotz des antiken kulturellen Kontextes die strukturelle Verwandtschaft des Textes zum frühneuzeitlich christlichen Zeitgeschehen thematisiert: Aus seiner Zusammenführung der christlich und der antik-hermetischen Literatur leitet er entsprechend keine Legitimation für magische Rituale ab, sondern formuliert eine scharfe Kritik am konfessionellen Streit um die rechte Form des Gottesdienstes. Machtkritisch ist dabei nur, dass die Sakramente mit der exoterischen Form des Gottesdienstes parallelisiert werden, was ihnen eine gewisse Vorläufigkeit zuschreibt und den Streit darüber, ob z. B. ein bestimmtes Verständnis des Abendmahls heilsentscheidend ist oder nicht, unterminiert.262 Francks Gebrauch des Asclepius-Zitats suggeriert dagegen verschiedene Stufen der spirituellen Reife, wobei ausnahmslos alle äußeren Zeremonien für Gläubige im »Kinderstadium« wichtig sind, wohingegen, so illustriert gerade das Zitat aus einem paganen Text, die Weisen Gott kulturübergreifend namenlos und im Geist vereh-

258 Asclepius 37 (CHD I, S. 309). 259 Ebd. (CHD I, S. 310). 260 Ebd., 41 (CHD I, S. 314). 261 Auch in der Forschung so gesehen von Fowden: The Egyptian Hermes, S. 143. 262 Kirchenhistorisch lässt sich hier die Relevanz und Sprengkraft der Idee der Unsichtbaren Kirche ableiten. Dellsperger: Lebendige Historien, S. 112 ff.

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ren. Die späteren Aufklärer leiten aus diesem Konzept Modelle der stufenhaften Kulturentwicklung oder eine »Erziehung des Menschengeschlechts« ab.263 Diese Denkfigur ist schließlich mit Francks zeitgeschichtlich fast singulärem Blick auf das religiös Andere verschränkt, das ihn einzigartig wohlwollende Worte über Heiden, Juden und Muslime finden ließ. Sein berühmter Zeitgenosse Martin Luther hatte unter dem Eindruck der zutiefst verunsichernden politischen Entwicklungen das religiös und politisch Andere in der Metaphorik der apokalyptischen Literatur der Bibel wahrgenommen. So deutete er die Türken als Horn des apokalyptischen Tiers aus der Vision des Propheten Daniel und als Gottes Strafe für christliche Sünden.264 Die Augen des Tiers parallelisierte er mit dem Koran, den Mund mit den Irrlehren des Islam. Das Papsttum galt Luther nach Dan 11 als Antichrist, die Juden als abgefallene Kinder Gottes unter seinem Zorn und die protestantischen Radikalen als falsche Propheten und Apostel. Demgegenüber abstrahiert sein Zeitgenosse Franck von den nominellen Differenzen zwischen den religiösen Gruppen und fokussiert allein auf das Ausmaß, in dem die Frommen dem inneren Wort Frucht bringen: Mir ist ein Papist / Lutheran Zwinglian / Täuffer / ja ein Türck / ein guter Bruder / der mich zu gut hat / vnd neben jm leyden kan / ob wir gleich nit aynerlay gesinnt / durchaus eben 265 sind / biß vns Gott einmal inn seiner schul zusammen hilfft / vnd eins sinns macht. Derhalb sind mir mit Petro on all ansehung der sect / person vnd völcker lieb von herzen alle frommen vnder allen völckern vnd secten / Er hayße mit namen ein papist / Luterisch / 266 Zwinglisch oder Paulisch.

Die Angehörigen anderer Religionen sind nicht verdammt. Ihre Identität ist aber auch nicht ausschließlich auf ihre Religion beschränkt, da sie wie die Christen ›zum Weinberg‹ berufen sind:

263 Auf der Suche nach Lessings Quellen finden sich entsprechend auch die radikalpietistischen Vermittler Francks ins 18. Jahrhundert Arnold und Dippel. Otto F. Best: Noch einmal: Vernunft und Offenbarung: Überlegungen zu Lessings ›Berührung‹ mit der Tradition des mystischen Spiritualismus. In: Lessing Yearbook XII (1980), S. 123–156, hier S. 143. 264 Luther: Heerpredigt wider den Türken (1529). In: WA 30/2, S. 160–197. Dan. 7, 2–8. Zeitgeschichtliche Hintergründe wie die militärische Expansion des Osmanischen Reiches, der Konflikt mit Rom, die Bauernkriege und eine scharfe theologische Streitkultur prägten Luthers Geschichtsdeutung zusehends ins Paradigma des Kampfes zwischen Gut und Böse sowie der Apokalypse. Mark U. Edwards: Luther’s Last Battles. Politics and Polemics, 1531–1546. Ithaca 4 1983, S. 97 ff. u. 115 ff.; Bernd Moeller: Deutschland im Zeitalter der Reformation. Göttingen 1999, S. 137 ff. v 265 Franck: Das verbüthschiert Buch, Bl. 427 . r 266 Ebd., Bl. 429 .



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Darumb ist mein hertz von niemand gesundert / gwiß das ich meine brüder noch vnder dem Türcken / bapstumb / Juden vnd allen secten vnd völckern habe / sie sind aber nit Türcken, Juden / Papisten / Rottisch oder werdens yhe nit biß zum end bleiben / sonder doch zur 267 vesperzeyt inn weinberg berufft / gleichen lon mit vns entpfahen […].

In der Apologie zum Verbüthschiert Buch entfaltet Franck das Ideal eines gemeinsamen, herrschaftsfreien Suchens nach Wahrheit, das im ruhigen Bewusstsein formuliert ist, dass diese bislang allen Diskutanten in ihrer Tiefe unbekannt ist. Angesichts der Tatsache, dass hier 1539 bereits ein von Stadt zu Stadt gezogener Glaubensflüchtling spricht, liest sich Francks Selbstverständnis und seine Rede von (Urteils-)Freiheit und Brüderlichkeit wie ein Ideal der Aufklärung: Allayn man lasse mir auch die freyhait vnd das vrtail […]. Dise all will ich für mein brüder halten / sie lieben vnd tragen / ob sie gleich inn vil stucken nicht / wie ich gsinnt weren / O wie vil lieber brüder hab ich auff erden / dero sinn ich nit all erraychen kan vnd villeicht auch sie mich nit verstehen / Es ist kayner mein knächt mir zu glauben / er glaubt / stehet / vnd fält seinem Herren / wer bin ich das ich jn urthayl / vnnd seines hertzens / gwissens vnd glaubens mayster begere zu sein / Also sey auch kayner meines glaubens meyster / vnd nöt mich nit das ich seins kopffes knächt sey / so sol er mein nechster / vnd nur ein lieber bruder seyn / ob er ein Jude oder Samarita were / will ich jhm liebs vnnd guts thumn / souil 268 mir müglich. / Ich werffe kayn hin / der mich nit hinwyrfft.

Diese Haltung ist keine Momentaufnahme und entspricht keiner öffentlichen Selbstinszenierung Francks. Bereits 1531 hatte er in seinem privaten Brief an Campanus geschrieben: Achte auch für deine brüder all türcken vnd heiden wo sie seien, die gott förchten vnd wircken gerechtigkeit, gelehrt vnd inwendig gezogen von gott, ob sie schon nimmer von dem tauff, iha von Christo selbst nimmer kein history oder schrifft gehort, sonder allein sein krafft durch das innerlich wort in sich vernommen vnd dasselbe fruchtbar gemacht 269 hatten.

3.2. »Fastnachtsspiel vor Gott«. Heilsgeschichte als Liebes-Drama 1530 wurden in der Confessio Augustana die Eckpunkte des lutherischen Lehrgebäudes festgehalten, worunter insbesondere die forensische Rechtfertigungslehre, die Bekräftigung der Erbsünde gerade gegen pelagianische Modelle sowie

267 Ebd. 268 Ebd. 269 Franck an Campanus, S. 317.

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die Einschränkung der Willensfreiheit auf den Bereich des natürlichen Menschen fallen. Ohne Gottes Gnade kann der Mensch Gott nicht gefallen (CA 18). Franck widmet diesen Themenfeldern der reformatorischen Theologie einzelne Kapitel in der Guldin Arch: Christus starb unserer Sünde wegen, er vertritt uns vor Gott, er ist einmal geopfert für alle, er ist allein Mittler und Nothelfer und Fundament seiner Kirche etc.270 Allerdings hatte er sich bereits in den Paradoxa breit dazu geäußert, wie er diese Axiome im Kontext der Theologia mystica selbst interpretierte, wobei er sein Bewusstsein um Perspektivität und Wahrnehmungsebenen an Aussagen Taulers und der Theologia deutsch anknüpft. Tauler hatte die Gefahr durch Missverständnisse in mystischer Rede reflektiert, die sich aus einem Verkennen der Tatsache ergebe, dass mystische Texte über zwei Ebenen des Seins sprechen, über die Ebene der Zeitlichkeit und die der Ewigkeit, die leicht verwechselt werden. Präsentes Beispiel ist für Tauler das Inquisitionsverfahren gegen Meister Eckhart. Dieser hatte aus der Perspektive der Ewigkeit von der Gottwerdung der Seele gesprochen, seine Kritiker hatten seine Aussagen jedoch zeitlich verstanden und ihm entsprechend Hybris vorgeworfen.271 Auch die Theologia deutsch thematisiert das Motiv eines mangelhaften Verstehens, das allein beim Erkennenden, nicht beim Erkannten zu suchen sei.272 Diese Differenzierung zwischen unterschiedlichen Ebenen des Wissens nach zeitlicher und überzeitlicher Perspektive greift Sebastian Franck auf und interpretiert auf ihrer Grundlage den erzählerischen Kern der christlichen Heilsgeschichte, die Lehre von Jesu Tod und Auferstehung, wobei er insbesondere im Gottesbild eigene Akzente setzt. Die Confessio Augustana hatte die  – für Katholiken und Reformierte nicht weniger geltende – augustinische Lehre von der Verdammnis der Sünder unter den ewigen Gotteszorn bekräftigt, so diese nicht an Christi Heilstat über die Taufe und die Wiedergeburt durch den Heiligen Geist teilhätten (CA 2–4). Franck dagegen nimmt Anstoß am Bild des zornigen und verdammenden Gottes. In der Theologia deutsch heißt es, Gottes wahre Natur sei Liebe, und so liebt Gott auch die Kreatur, wohingegen diese Gottes Liebe nur so weit empfangen kann, wie sie selbst in ihr ist.273 Dieses Motiv übernimmt Franck und postuliert, nicht Gott zürne dem Menschen, sondern dessen schlechtes Gewissen nach dem Fall täusche ihn mit dem Bild eines eifernden Gottes. Er spitzt diese perspektivische Umkehrung zu einem wahrhaft existenziellen Liebes-Drama zu, das nach dem Drehbuch des

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270 Franck: Guldin Arch, Bl. 50 , 51 , 51 u. 53 . 271 Tauler: Predigten 1, S. 103. (V. 15, S. 69). 272 Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 40; Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 72. 273 Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 67; Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 93.



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Gleichnisses vom verlorenen Sohn zu denken ist. Die philosophischen Prämissen des Dramas bestehen in der Freiwilligkeit des Abfalls von Gott, einer im Fall korrumpierten und der Zeitlichkeit verhafteten Wahrnehmung sowie der psychologischen Einsicht, dass Schuld gerne im Bewusstsein des Schuldigen verdrängt und auf andere projiziert wird. Bereits in den Paradoxa führt Franck aus: Der mensch hät sich von gott abkert zun creaturen in die sichtbare ding  / erlustiget vnd kürtzweilet darin  / die alsdenn sein Got würden  / weil er sie allain liebet  / suchet  / vnd anbettet / Daraus folgt ein böß gewissen / das Got alzeit fluhe / verachtet / vnd verleügnet / vnnd diese flucht vnd abfall von got / ist die schiedmaur zwischen vns vnd Got / Wiewol Got nit von vns geflohen ist / noch abkert / sonder wir syndt in vnserm gewissen wol tausend meil von jhm abkehrt / geflohen. Dann so wir jn in vnserm bösen gewissen nimmer sehen / so sprechen wir / er sey von vns auch geflohen / vnd wölle vnser nimmer / Aber warlich diß ist allain alles in vns ein verkert fürnemen. Als wenn ich ein böß stück an meinem vatter begangen / mit bösem gewissen aus dem haus lieff / gantz beredt inn mir selbs / er werde mich nimmer für ein kindt achten. Nun der vatter laufft mir nach / ergreüfft mich in weittem feld / im willen mich wider zu jm zu locken / vnd mit eittel lieb vnd güte von meiner flucht abzuwenden. Ich aber der sun / wird sein gewar / fliehe / das ich die schuhe möchte verzetten / gewis / wenn mich mein vatter ergreüfft / so werde er mich erhencken / Ist nit diese feindtschafft allein in mir / vnd der vatter ist itzt mir ein feindt / ob er wol an jhm selbs 274 nichts wenigers ist: Gerad also gehet es mit Got vnd vns.

Francks Interpretation impliziert einen grundlegenden Perspektivwechsel in der christlichen Metaerzählung vom kosmischen Drama um Fall und Gotteszorn: Sie leugnet nicht den Glauben an Schuld und Gericht per se, der im Diskurs der Zeit in aller Munde ist, nur verschiebt sie den Akzent von einer objektiv gegebenen letzten Wirklichkeit, wie sie in allen Bekenntnisschriften formuliert ist, zu einer subjektiven Erfahrung, die konstitutiv mit der korrumpierten Perspektive des Zustands der Gottesferne verbunden ist.275 Diese beschränkte Perspektive missinterpretiert alle Zeichen und projiziert die eigene Ablehnung auf Gott – Franck entfaltet nichts weniger als eine psychologische Erklärung für die Entstehung des Bildes vom zürnenden Gott. Dieses mag zwar angesichts der Erbsünde als kollektivem Zustand der Menschheit aus der Perspektive der Zeitlichkeit als plausibel wahrgenommen werden, nichtsdestoweniger erfasst es in der Perspektive der Ewigkeit Gottes Wirklichkeit gerade nicht. Mit dieser psychologischen Erklärung für die Entstehung eines prominent gewordenen Gottesbildes berührt Franck das Problemfeld einer ontologisch gedachten Strafgerechtigkeit Gottes und seines disziplinierenden Handelns im Diesseits wie im Jenseits. Das Bild eines stra-

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274 Franck: Paradoxa, Bl. 65 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 174. 275 Hier und zum Folgenden auch Koyré: Mystiques, Spirituels, Alchimistes, S. 32 ff.

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fenden Gottes, der durch ein Bekenntnis zur »falschen« Lehre beleidigt werden könne oder mit ewigen Höllenstrafen drohe, erscheint nach diesem Konzept als perspektivische Täuschung. Francks Gottesbild einer »freye[n] Krafft, die mit einem jeden hin und her schwebt« wird so entsprechend noch von Valentin Ernst Löscher an der Wende zum 18. Jahrhundert als Heterodoxiekriterium genannt.276 Aus seinem Zustand der Furcht heraus, so erklärt Franck weiter, flieht der Mensch die Liebe, die allein eine Brücke zwischen ihm und Gott wäre und lenkt seine psychischen Energien auf ein Kompensations- und Besänftigungsverhalten, das er als Beginn aller äußeren Kulte analysiert. Wenn nun das bös gewissen innen würt / das es an got zu einem schelmen worden ist / vnd got ein feindt verdenckt / die lieb ein haß / so will es vil hofierens mit gott anfahen / das es sich wider zu flick / aber es will nit hotten [vorwärtslaufen] / das bös gewissen / so vns 277 täglich fürreißt / die verachtung des höchsten guts / verdampt vns inn vns selbs.

Während sich nach zeitlicher Wahrnehmung mit dem Fall zwar alles geändert hat, hat sich aus der Perspektive der Ewigkeit aber nichts geändert. Philosophisch steht dieses Verständnis in der Tradition von Eckharts Gleichsetzung Gottes mit dem Sein (Deus est esse), das das Böse als Privation versteht und ihm kein reales Sein zuschreibt.278 Mit dem Eigenwillen können sich die Wesen zwar von Gott abwenden, aber, in signifikanter Differenz zu Augustins und Luthers Anthropologie, kann ihr Sein, die grundsätzliche Gutheit der Natur, nicht zerstört werden. Was aber keine eigene Substanz hat, kann auch keine realen Folgen haben, womit die Vorstellungen eines zornigen Gottes oder eine von ihm zu erwirkende Versöhnung hinfällig werden. Hier setzt nun Francks Deutung der Geschichte von Jesu Tod und Auferstehung und ihre Uminterpretation in ein göttliches Liebes-Drama ein. Nachdem sich aus der Perspektive der Ewigkeit nichts an Gottes Liebe geändert hat, der Mensch aber angesichts seines nun beschränkten Verständnishorizonts, der »nichts innerlichs sehen kan«,279 dies nicht mehr wahrnehmen kann, wählt Gott wie ein guter Regisseur Mittel und Zeichen, die auch dem kreatürlichen Menschen einsichtig sind. Und hier liegt nach Francks Interpretation der eigentliche Akzent bei der Heilserzählung von der Inkarnation des Logos. Nach den verschiedensten Zeichen der Versöhnung, von denen das Alte Testament berichtet,

276 Löscher: Praenotiones theologicae, S. 128, zit. n. Baur: Valentin Ernst Löschers Praenotiones theologicae, S. 465. v 277 Franck: Paradoxa, Bl. 65 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 174. 278 Koyré: Mystiques, Spirituels, Alchimistes, S. 36. v 279 Franck: Paradoxa, Bl. 65 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 175.



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sendet Gott schließlich seinen Sohn mit Fleisch bekleidet, damit seine Botschaft der unwandelbaren Liebe sichtbar werde. Christus weilt als Mensch, als »vnser aller bruder und Priester«,280 unter den Menschen, um die göttliche Liebe greifbar und erfahrbar zu machen. Nun disen betrübten vnd beängstigeten hat got sein allmächtigs wort gesendt / mit flaisch beklaidt / oder ins flaisch / damit er sein lieb gegen vns preiset / vnd sich zu vns thät / damit er vns gefangen ausfüret / Esaie 61. Das aber die krafft des worts / vns seiner lieb werck der welt bekannt würd (die nichts innerlichs sehen kann) würdt Gott darumb ein vnschuldigs flaisch zu einem angenemen opffer Gottes vnd versönt die welt durch Christum mit jm selbs. 281 2. Corinth. 5.

Seine menschliche Gestalt dient dabei als Verständnishilfe, Wegweiser und Tor zum Vater, der reiner Geist ist. Durch den Menschen Christus kann der geistige Vater auch für Menschen ergriffen werden, wie Paulus es erlebte, dabei ist die körperliche Gestalt Christi nur insoweit von Bedeutung, so lange der Mensch noch diese Verständnishilfe braucht. Sobald er in den Vater, ins Sancta Sanctorum, den »Wein im Keller« eingegangen ist, ist die Funktion des Wegweisers erfüllt.282 Die entscheidende Akzentverlagerung besteht nun darin, dass selbst die Geschichte des »Opfers« Christi als Höhepunkt eines Dramas gedeutet wird, das nicht für Gott, sondern für die Menschen gegeben wurde. In seiner ewigen Liebe will Gott die Menschen in ihrem kreatürlichen Verständnishorizont einfach davon überzeugen, dass er versöhnt sei, dass die Feindschaft nicht in ihm, sondern in ihren abgekehrten Herzen liege. Ausdrücklich heißt es, dass die Geschichte des »Opfers« Christi aus Gottes Perspektive eigentlich nicht nötig gewesen wäre, da er immer versöhnt war. Nur solange die entscheidende Voraussetzung im Menschen fehlte, um dies zu glauben und zu erfahren, musste er alle Mühen und Methoden anwenden, um sie zu überzeugen, ja, um sie zu »buhlen« und zu werben: Seit einmal die erkantnus Gottes vnser rechtfertigung / vnd ewigs leben ist / Hier. 9. Esa. 53. Sapient. 15. Joan. 15.1. 1. Cor. 1.3. So hat Gott so mancherley weis angefangen / das er vns in sein erkantnüs führet. […] Da wir in vns gar erloschen / vnd nichts mer götlichs in vns warnamen / oder verstunden / da ist Gott auch eüsserlich worden / ein mensch […]. Derhalben sendet Got seinen Sun / in dem er sich wolt sehen / hören / vnd greüffen lassen / vnd der welt sich zu erkennen geben […]. Dann in Christo erscheint alle art Gottes / Ja nichts / dann eyttel liebe / güte / trew / barmhertzigkait / wolthat / baide gegen freünd vnd feind / der nicht kommen war / yemandt zu richten / Joan 3. Luc. 9. Auch nit / das man jhm dienet / vnd hofieret / sonder das er allen menschen hülff / beystünd / vnd allen alles were. […] Gott

280 Ebd. 281 Ebd. r 282 Ebd., Bl. 66 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 175.

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schickt auch mancherlay opffer vorher / zum zeügnüs der verzeihung / Darauff sendet er sein sun zum opffer / das wir nur an seiner lieb / vnd guten willen gegen vns / nit zweiffeln / läßt vns ansagen / er sey schon zu frid / versönet vnd quittiert. Nicht das Got zuuor zürnet hab / dann er hat vns geliebt / dieweyl wir noch feindt waren / Rom.5. Joan.3. Sapient.11. Es hät auch auff seiner seitten keines versöners dörfft / wenn wir 283 es nur hetten könden glauben / vnd guts zu Gott versehen [von ihm erwarten].

Wirkungsästhetisch gedeutet verschiebt sich die Intention der Heilsgeschichte damit von Gott auf den Menschen. Sie besteht darin, die Menschen zu berühren und die abgekehrten Herzen, die als Sitz des Seeleninneren nicht nur existenziell, sondern auch epistemologisch als archimedischer Punkt der Anthropologie gelten, wieder für Gott zu gewinnen. In dem Maße, erklärt Franck, in dem die Liebe Christi die menschliche Furcht wegwäscht, kann sich das Herz von der Selbstheit ab- und Gott wieder zuwenden. Mit entsprechender Überwindung der Gottesferne wird es dann ganz natürlich des Geistes Gottes in sich gewahr. Korrespondierend zu seiner Interpretation der hermetischen Texte erinnert Franck daran, dass dieser Geist Gottes immer als Geheimnis im Herzen war, dass nur das »Sausen und Raunen der Kreatur« ihn für den Menschen in der Zeit seiner Gottesferne unhörbar gemacht und ihn entsprechend zum (Irr-)Glauben verleitet hatte, Gott sei nicht mehr in ihm.284 Aus Francks Deutung der Heilsgeschichte ergeben sich der Erzählstruktur nach logische Schlussfolgerungen zu den großen Themen der christlichen Sinnsysteme, die jedoch im zeitgenössischen Glaubensdiskurs nicht nur als Umdeutung kanonisierter Glaubenssätze, sondern auch als empfindliche Kritik an den sich etablierenden Machtstrukturen wahrgenommen werden mussten. Entgegen der kanonisierten Form der Rechtfertigungslehre kann Francks Interpretation von Christi Tod als göttliches Drama nicht mehr als stellvertretendes Opfer und göttliche Rettung gedeutet werden. Damit einher geht eine nun wirklich dramatisch zu nennende Aufwertung der menschlichen Eigenverantwortung im Geschehen um Fall und Erlösung: Da allein der Mensch sich von Gott abgewandt hat und nun im Zustand der Sünde lebt, so kann auch nur der Mensch sich wieder Gott zuwenden. Kein Stellvertreter kann ihm das abnehmen. Wenn ein Mensch einem anderen den Rücken zukehrt, so schreibt Franck in einem anschaulichen Bild, dann empfindet er die unterbrochene Verbindung und meint, der andere sei ihm feind, dabei muss lediglich er sich wieder umdrehen, um zu sehen, dass der andere, hier der unwandelbare, unbewegliche Gott, seine liebenden Augen

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283 Franck: Paradoxa, Bl. 70 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 184 f. v r 284 Ebd., Bl. 70 u. 71 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 186.



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nie von ihm genommen hatte.285 Diese Soteriologie schreibt dem menschlichen Willen zur Umkehr eine Rolle zu, die ihm die Confessio Augustana mit einem Zitat aus Augustinus’ Kritik an Pelagius gerade abgesprochen hatte (CA 18). Man fürchtete sich vor Pelagianismus und Synergismus, und Franck spezifiziert, dass die göttliche Gnade, die allem vorgehe, nicht geschmälert werde; es wird nur niemand gegen seinen Willen gerettet: Got ist der mann / schickt vns sein gnad für thür / klopfft / bult / vnd wirbt in vns vmb vns. Bey der braut stehets nur / ob sie den werbenden einlaß / vnd anneme zum mann / oder nit. Gottes gnad ist nit nötwein [Pflichtwein] / das ers dem vnwilligen mit gewalt aufsattel / vnd beim haer zu jm ziehe / sonder den hungerigen mitthail / Joan.1. Allain aber / die jn haben angenommen / hat er gewalt geben / gottes kinder zu werden. Er will / ehe wir wollen / er sucht vnd liebt vns / ehe wir jn suchen vnd lieben / wenn wir vns nur finden lassen / vnnd 286 die freihait annehmen / oder angebotten begeren.

Der Mensch ist frei, sich befreien oder verurteilen zu lassen, und in diesem Kontext gewinnt die Geschichte von Jesu Heilstat eine neue Bedeutung: sie wird zum Paradigma für die Auferstehung eines jeden, die allerdings die Notwendigkeit der Imitatio Christi durch Tod und Kreuz einschließt. Franck bestimmt den Glauben »in«  – nicht »an«  – Christus entsprechend als existenzielle Entscheidung zwischen Adam und Christus.287 Tod und Auferstehung werden somit nicht nur enthistorisiert, sondern auch internalisiert, psychologisiert und entsprechend individualisiert. In der Guldin Arch heißt es: […] so helt nun inn Christum glaubenn so vil inn sich / nemlich die buß vnnd nachfolg / das wir das Gottlos wesenn verleugnenn / hinwerffenn vnnd außziehenn / gelassen in vnd zu Christo kommen / vnser aygentum auffopffern / vns selbs urlaub geben / der welt / tod / sünd vnnd all vnnser lebenn / Dargegen das wir Christum nach seynem wort / ler / vnnd 288 lebenn annemenn / das ehr sein reich inn vns hab.

Die martialische Metaphorik des Todes, Opferns und sich selbst Lassens bezieht sich nicht auf die Vernichtung des physischen Körpers, sondern auf die adamitische Natur und damit auf einen psychischen Vorgang, wie er ganz traditionell in der Theologia deutsch und bei Tauler formuliert ist. Es geht um die Wendung nach

r/v

285 Ebd., Bl. 73 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 192. v 286 Ebd., Bl. 157 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 397. Zur Willensfreiheit und Francks Nähe zu Erasmus, dessen Auffassung von der ›Freiheit eines Christenmenschen‹ er in den Paradoxa in der Volkssprache verbreitet vgl. Wollgast: Sebastian Francks theologisch-philosophische Auffassungen, S. 74 ff.; Koyré: Mystiques, Spirituels, Alchimistes, S. 37. r 287 Franck: Guldin Arch, Bl. 56 . v 288 Ebd., Bl. 45 .

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innen zum tiefen Selbst, da die adamitische, sündige Natur in der Selbstheit der Kreatur wurzelt. Der Begriff der Sünde oder der adamitischen Natur bezieht sich nicht – genausowenig wie in der Theologia deutsch – auf die Sinnlichkeit oder die Sinneslust, wie es in weiten Teilen der christlichen Tradition prägend geworden ist, sondern auf den Egoismus. Diesen gilt es zu überwinden, was jedoch gerade nicht als selbstherrliche Selbsterlösung zu denken ist, sondern als »außziehen« und »ablassen« von der egozentrischen Disposition des Menschen bis hin zur völligen Gelassenheit im göttlichen Willen.289 Dieses Loslassen der adamitischen Natur verändert und verwandelt den Menschen bis hin zur sogenannten neuen Geburt oder Wiedergeburt. Diese Wendung beschreibt keine äußere zugesprochene Gerechtigkeit, sondern eine Wandlung im Inneren der Seele, die schließlich den ganzen Menschen transformiert. Diese lebenspraktische Konsequenz, die Franck lediglich im Anschluss an die Theologia deutsch bekräftigt, gilt um 1530 allerdings inzwischen als Kriterium für »Schwärmerey« und ist durch das Axiom des Christus pro nobis ersetzt. Gegen dieses Dogma der äußeren Gerechtigkeit formuliert Franck in unübersehbarer Kontextbezogenheit: […] soll sich auch kayner selbs betriegen / vn sich sein [d.h. Christi] rümen / wo nit ein verenderung alles seines willens / art / natur / lust / wesens / volgt / vnd inn summa ein gantznew leben volgt / Christus ist nicht ein schlaffende krafft inn vns / sonder ein ernewernde 290 krafft / die alles neu macht.

Sowie: Darumb darff ich frey sagen / Christus ist dir nicht nutze / auch sein leyden dir nit gnug / es werde dann inn dich gelayt / ja in dir volbracht. Philip. 1 […] was hylfft dich ein schatz / den du nit hast / Du mußt ein gesell sein seins leydens / vn diß taylhafftig werden. […] Also müssen wir inn Christo stehen vnd leben / soll er vns sein leyden / tod und leben einfliessen / vnd hilfft vns glat nicht ausser vnns / wie die welt maint vnd in von fern anbath / vnd 291 an in aber / nit inn in glaubt.

289 Vgl. Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 66: »Darum steht auch geschrieben: Je mehr Selbstheit und Ichheit, umso mehr Sünde und Bosheit; je geringer dieses, umso geringer jenes. Auch steht geschrieben: Je mehr mein ›Ich‹, d.h. Ichheit und Selbstheit, abnimmt, umso mehr nimmt Gottes ›Ich‹, das ist Gott selber, in mir zu.«; Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 92. Siehe auch Wollgast: Sebastian Francks theologisch-philosophische Auffassungen, S. 77. r 290 Franck: Guldin Arch, Bl. 56 . v 291 Ebd., Bl. 56 . Vgl. dazu Meister Eckhart: »Nun sagt ein Meister: Gott ist Mensch geworden, dadurch ist erhöht und geadelt das ganze Menschengeschlecht. Dessen mögen wir uns wohl freuen, daß Christus, unser Bruder, aus eigener Kraft aufgefahren ist über alle Chöre der Engel und sitzt zur Rechten des Vaters. Dieser Meister hat recht gesprochen, aber wahrlich, ich gäbe nicht viel darum. Was hülfe es mir, wenn ich einen Bruder hätte, der da ein reicher Mann wäre,



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Francks deviante Position bezüglich der Rechtfertigungslehre bezieht sich also nicht grundsätzlich auf den Wortlaut, dass der Glaube selig mache (Sola fide), sondern auf die Praxis eines Glaubens, die ein Vertrauen auf die Heilstat der historischen Person Jesu für ausreichend erachtet, aber keine Arbeit am eigenen Wesen nach sich zieht und damit die nach Francks Verständnis nun wirklich heilsentscheidende »verenderung alles seines willens« gerade verfehlt; mehr noch: die die philosophische Voraussetzung, nämlich die anthropologische Möglichkeit einer willentlichen Hinwendung zu Gott mit dogmatischem Gewicht leugnet. In dieser Differenzierung zwischen dem Glauben an das Heil durch die Erlösungstat der historischen Person Jesu und der psychologischen Verinnerlichung seines Wegs durch Kreuz und Auferstehung liegt für Franck eine der Fehlentwicklungen der Reformation, da es in der Praxis zu einer Haltung führe, auf die Zeche Jesu zu trinken bzw. unbekümmert zu sündigen. Entsprechend insistiert er in weiträumigen Ausführungen auf der Notwendigkeit der Imitatio Christi, auf dem eigenen Sterben, der Internalisierung von Christi Tod, der außerhalb des einzelnen Menschen nichts bewirke, solange er nicht im Innern, im innersten »hailigthum unsers herzen[s]«,292 ergriffen werde. Was sterben muss, ist anthropologisch gesehen jedoch nichts anderes als die Selbstheit, die im Fall überhaupt erst entstanden war. Aus diesem Kontext heraus wird verständlich, wieso Franck auch zu den Rezipienten des Corpus Hermeticum zu zählen ist, die nicht nur die positiven, sondern gerade auch die weltablehnenden Stellen zustimmend und für seine Argumentation sinnstiftend rezipieren konnte. In seinen ausführlichen Paraphrasen gerade des ersten Traktats referiert er Hermes auch als Philosophen, der vor den Gefahren der Weltverhaftetheit warnt:

und ich wäre dabei ein armer Mann? Was hülfe es mir, hätte ich einen Bruder, der da ein weiser Mann wäre, und ich wäre dabei ein Tor?« Meister Eckhart: Deutsche Predigt 5B. DW I. In: Ders.: Werke I, S. 66 f. Vgl. ebenfalls die Theologia deutsch: »Auch alle die Werke und Wunder, die Gott je gewirkt hat oder je noch wirken mag in oder durch alle Kreaturen oder Gott selber gar mit all seiner Güte, alsfern das außerhalb meiner ist und geschieht, so macht mich das nicht selig, sondern nur insoweit es in mir ist und geschieht und erkannt und liebgehabt, empfunden und geschmeckt wird.« Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 52; Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 82. r 292 Franck: Paradoxa, Bl. 71 : »Wenn nun der H. gaist das leiden Christi in vns nit also anleget / […] das wir got durch Christum erkennen / […]. Ist vns auch das leiden Christi ein todtes wesen / vnd todter buchstab / nit weniger / dann die histori Titi Livij. […] Darumb ist Christi leiden […] / nichts nütz ausser vns / vnd nit in vns volfürt /[…] dieweil der fürhang vnsers flaischs nicht weg würt thun / das also das leben / leiden vnd sterben Christi immerzu mit vns im schwang sollen gehen / damit das flaisch täglich durch vil trübsal purgiert / bis an sein grab gereiniget werde.« Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 186 f.

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 Sebastian Franck (1499–1542)

Aber ob wohl diß liecht / leben und gemüt in allen dingen ist / so besitzens vnd ergreiffens doch nit alle. Dann ich das gemüt / bin nu bey denen / die gut / got fromm / rein / heilig vnd geistlich seind / vnd mein gegenwertigkait thut jn hilff vn beystand / dz sy alle ding erkenen in dem vater dem erkener aller ding / auf das sy ein gnedigen versönten Got haben / dise verachten vn reuten auß die reitzung jrer sin  / weil sie klar wissen  / wie tödlich der sin affect vn anmut ist / Ja auch das gemüt selb / laßt die betriegenden sinn nicht zu jrem end kommen  / Dann er verzeünet alle schlupflöcher vnd zugeng  / Diser affect vnd tödtliche begird / ja lescht die prunst der sünd auß / Dargegen aber von den Gotlosen neydischen / 293 vnwissenden / boßhafftigen / wonet weit dz gemüt.

Hermes erscheint hier neben den christlichen Autoritäten wiederum nicht nur als Philosoph, sondern als Mahner zu einer lebenspraktischen Umkehr, die das ganze Sein des Menschen transformiert. Auch ist das Erreichen des Allwissens sowie die Einsicht in die ewige Versöhnung Gottes nach Hermes ebenfalls nicht über die sinnliche Wahrnehmung zugänglich – eine direkte Parallele zu Francks Deutung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn. Wenn Franck dennoch mit Luther den Glauben als Weg zum Heil benennt, dann unterscheidet sich das zugrundeliegende Glaubenskonzept zwar nicht semantisch, jedoch konzeptionell vom lutherischen Verständnis. Luther hatte den Glauben selbst tatsächlich weniger als Für-Wahr-Halten eines historischen Sachverhalts, sondern als Vertrauen in Gott verstanden. Die Verflachung zum positiven, in Katechismusschulen und Kirchenvisitationen abfragbaren Wissen, wie sie Franck kritisiert, ergibt sich dagegen aus der Etablierung eines auf Diskursmacht zielenden Lehrgebäudes, das den Glaubensbegriff mit einem positiv zu bestimmenden Wissensfeld sowie habitueller Sakramentsbefolgung verknüpft. Franck dagegen grenzt sich von diesem Glaubensbegriff deutlich ab und versteht den Gläubigen als »Gotts verwandte[n]«, der »yetz nit mer sein selbs ist  / sonder Gott ergeben«. Die ontologische Trennung zwischen Schöpfer und Geschöpf wird im Glauben überschritten: Nun ist und haißt ein gleubiger / der in vnd nit allayn an Christum glaubt / vnd zu guttem teütsch haißt ein gleubig man / ein Gotts verwandter / der yetz nit mer sein selbs ist / sonder Gott ergeben / vnd mit trew vnd pflicht Gott verwandt / Ja Gottes aigentum vnd aiger man / der yetz nit mer lebt / sonder in jm sein Herr Christus / Suma in dem Gott sein reich / werck / willen / vnnd volmechtigenn gwalt hatt / der Gott ein ewigen feyrtag helt / vnnd inn seiner 294 gelassenheit und ruw bleibt.

Allein nach dieser grundlegenden Wandlung im Geistigen wird der Mensch Gott nicht nur ähnlich, sondern wird seiner Natur teilhaftig und damit sein Verwand-

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293 Franck: Guldin Arch, Bl. 41 ; vgl. CH I, 22 (CHD I, S. 18). r 294 Franck: Guldin Arch, Bl. 45 .



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ter. Im Baseler Taulerdruck war in einer Predigt Eckharts vom »sunlich wesen«, dem sohnhaften Sein des Menschen zu lesen, das jedoch noch verborgen sei.295 Und bis in die sprachliche Formulierung hinein dokumentiert Franck diese Überzeugung, wenn er den Schlusshymnus des ersten hermetischen Traktats mit präzise den Worten übersetzt, die er für die Definition des Gläubigen verwendet. Während die neuhochdeutsche Version übersetzt, Gott wolle »von den Seinen erkannt« werden, schreibt Franck: »[…] heylig ist der Gott / der vatter aller ding / Heilig ist der Gott / der seinen verwandten [!] kundbar wirt.«296 Die Verwandtschaft mit Gott als Consortes divina naturae ist kein Bestandteil der reformatorischen Theologie, ebensowenig der katholischen oder reformierten. Im Zeitgeschehen impliziert dieser platonische Grundgedanke entweder eine als zutiefst heterodox empfundene Nähe zu sämtlichen als »Schwärmer« titulierten Protestbewegungen der Reformationszeit oder zu magischen Vorstellungen. Doch inwieweit Franck eine eigenständige Position innerhalb des hermetischen Diskurses ausfüllt, zeigt ein Vergleich mit anderen nicht-orthodoxen und ihm im Diskurs an die Seite gerückten Zeitgenossen. Während sich mystisches Vokabular im Lauf der Reformation immer wieder mit der Sehnsucht nach Befreiung aus sozialem Elend verbindet und einen Bauernkrieg sowie verschiedenste sich bekämpfende religiöse Bewegungen generiert, bleibt Franck, obwohl er selbst die Fluchtsituation kennt, jeder Verbindung von Mystik und politischem Aktionismus gegenüber vorsichtig. Seine Diagnose der Conditio humana als Situation eines existentiellen Unwissens im Zustand des »alten Adam«, also vor der Wiedergeburt, entzieht jeder Argumentation des Kampfes auf der Grundlage eines postulierten Wahrheitsbesitzes den Boden. Ohne existenzielle Wandlung des einzelnen deutet er allein die Fiktion des Wahrheitsbesitzes als eine Domäne der Selbstheit, wie die Zerstrittenheit der einzelnen Bewegungen im zeitgenössischen Kontext dokumentiert: Ein Täuffer aber grüßt vnnd beüt niemand kayn hand / er sey dann inn seinem Adem ein Täuffer / vnd zwaar diser thorecht eyfer vexiert yetzt yederman das wir parteisch glauben wie die Juden / Gott sey allayn vnser / sonst sey kein himmel / glaub / gayst / Christus / dann inn vnser sect vnd willen eyferig. […] Ein rechter täuffer redt kaum mit einem der nit 297 seins ordens ist.

295 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 76. DW II. In: Ders.: Werke II, S. 126/127. v 296 Franck: Guldin Arch, Bl. 41 ; vgl. CH I, 31 (CHD I, S. 22). v r r 297 Franck: Das verbüthschiert Buch, Bl. 427 u. 430 . Vgl. auch Franck: Paradoxa, Bl. 137 : »Ja vilmals zway betgenossen ains das ander verfolgt / vnd wir begeren gantz Europam ainhellig zu machen / das Evangelium auffzusatlen / vnd in ain glauben vnd stall zu treiben.« Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 349. Zu den Täufern auch Kaufmann: Geschichte der Reformation, S. 542 ff.

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 Sebastian Franck (1499–1542)

Während Franck vor allem die philosophischen Hermetica neben den christlichen Autoren als Zeugnisse für vorchristliche Offenbarungen des Heiligen Geistes zitiert, kennt auch Agrippa von Nettesheim viel prominenteres Jugendwerk De occulta philosophia (1510/1533) die Texte des Hermes,298 das in der kulturellen Erinnerung um 1700 schließlich Franck an die Seite gerückt wird. Francks Interesse am Corpus Hermeticum ist jedoch an keiner Stelle von magischen Interessen geprägt. Ihm geht es nicht um Weltbeherrschung, sondern um Weltüberwindung. Er überschreitet den Rubikon zur Heterodoxie an der Stelle, an der er die christliche Heilsexklusivität unterläuft und den aus der mittelalterlichen Mystik tradierten Topos des Christus in nobis dem kanonisierten Christus pro nobis gegenüberstellt. Agrippa dagegen interessiert sich ganz explizit für Magie.299 Neben einer Fülle an typologisch esoterisch zu nennenden Ausführungen über geheime Wissenschaften, magische Praktiken sowie okkultes Wissen Eingeweihter finden sich in Agrippas Werk bezüglich religiöser Fragen jedoch überraschend traditionelle Thesen zur Exklusivität des Christentums als allein von Gott gebilligt oder die Idee, Gott könne durch einen »verkehrten« Kultus beleidigt werden. Im Vergleich zu Francks konsequenter Eingemeindung des Hermes in die Gemeinde der wahren Christen nach dem Geist bleibt Agrippas Darstellung der Idee der Religionskonkurrenz verhaftet und inszeniert – aus Überzeugung oder aus politischer Vorsicht – das hermetische Wissen getreu des augustinischen Urteils als Kaleidoskop an Beschwörungskünsten und entsprechend als unchristlichen »Götzendienst«, vor dem es die »wahre« Religion zu schützen gelte.300 Im Schutz der respektvollen Reverenz an christliche Autoritäten, äußeren Gottesdienst und die »Mutter Kirche«301 erst entfaltet er eine Breite an esoterischem Wissen.

298 Zu Agrippa allgemein und zu seinem magischen Hauptwerk im Besonderen Wolf-Dieter Müller-Jahnke: Agrippa von Nettesheim. In: Philosophen der Renaissance: Eine Einführung. Hg. v. Paul Richard Blum. Darmstadt 1989, S. 111–117. Zur Kontextualisierung des Werks ders.: Von Ficino zu Agrippa: Der Magia-Begriff des Renaissance-Humanismus im Überblick. In: Faivre/Zimmermann (Hg.): Epochen der Naturmystik, S. 24–51. 299 Der volle Titel von Agrippas Werk lautet De occulta philosophia sive de magia. Vgl. MüllerJahnke: Von Ficino zu Agrippa, S. 26. 300 Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim: Die magischen Werke. Stuttgart 1855, Bd.  3, S. 30: »Da indes die alten Magier und die Urheber dieser Kunst bei den Alten Chaldäer, Ägyptier, Assyrer, Perser und Araber gewesen sind, deren ganze Religion verkehrt und durch Götzendienst befleckt war, so müssen wir uns sehr in acht nehmen, daß wir nicht ihre Irrtümer über unsere wahre Religion den Sieg davontragen lassen; denn dies wäre Blasphemie und ein fluchwürdiges Verbrechen, und ich würde mich derselben Sünde schuldig machen, wenn ich euch nicht deshalb warnte.« 301 Agrippa: Die magischen Werke, S. 28 ff.



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Die markanteste Differenz zwischen diesen Positionen, die die diskursmächtig gewordene kulturelle Erinnerung unter den Schlagworten »Heterodoxie«, »Hermetik« und »Schwärmertum« zusammengezogen hatte, dürfte damit nicht ihr jeweiliger Bezug zu den Texten des Hermes, sondern ihre Haltung zur Frage nach Autorität sein. Ob in politischen Versuchen, das Reich Gottes auf Erden zu errichten oder in esoterischen Vorstellungen eines nur Eingeweihten zugänglichen Wissens, immer bleibt das Gottesbild letztlich hierarchisch und exklusiv, das Menschenbild geht von einer Menge an Verworfenen und wenigen »Erwählten« aus, die über besonderes Wissen oder über eine besondere Haltung zur Erlangung des Heils verfügen. In diesen Punkten unterscheiden sich radikaler Chiliasmus und okkulte Philosophie nicht grundsätzlich, sondern nur in der Frage nach dem Wie der Erwählung von den großen Konfessionen der christlichen Tradition. Anders erscheint es dagegen, wenn Franck behauptet, nicht Gott erwähle einzelne zum Heil, sondern der Mensch habe die Wahl, sich Gottes Liebe und Gnade wieder zu öffnen, die nie versiegt sei. Der Unterschied im Menschen- und Gottesbild ist fundamental: Da Gott nach Franck nie verurteilt hat, sondern sein Kind als »verlorener Sohn« in die Ferne zog, ist die Entscheidung zur Rückkehr nach der Logik der Geschichte das Werk des Kindes selbst. Damit wird dem Bedürfnis nach äußerer Autorität jeder Boden entzogen, und die legitimierende Instanz wird von einer äußeren (Eingeweihte/Kleriker) zur inneren Autorität jedes einzelnen verlagert.302 Diese Haltung legt den Grund zu einer letztlichen »Demokratisierung« in der Frage nach Verantwortung auf dem Weg zum Heil, zu der Francks Texte einen wesentlichen Beitrag leisten wollen.

3.3. Geheime Rede? Poetik und spiritualistische Hermeneutik in Guldin Arch, Paradoxa und dem Verbüthschiert Buch An die Seite Agrippas hatte die Rezeption Franck nicht nur aufgrund des gemeinsamen Interesses für hermetische Texte, sondern auch aufgrund eines sprachlichen Kriteriums gerückt: die Vorliebe für eine metaphorische, allegorische, kurz: vermeintlich geheime Rede. Sebastian Francks Texte entsprechen in der Tat keinem modernen Literatur- und Autorschaftsverständnis, da seine Werke über weite Strecken Kompilationen und Übersetzungen aus anderen Schriften sind.303 Er tritt ganz explizit nicht als Autor seiner eigenen Texte auf,

302 Langer: Inneres Wort und inwohnender Christus, S. 58. 303 Zu Franck als Autor Jan-Dirk Müller: Zur Einführung. Sebastian Franck. Der Schreiber als

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allerdings hat dies ein Programm und zwar eines, das von Agrippas wie Büchers Konzept der ›Geheimnis-Worte‹ denkbar weit entfernt ist. Es baut vielmehr auf einer spezifischen Hermeneutik auf, die nicht nur für alle drei Hauptwerke wirkungsästhetisch bestimmend ist, sondern diese auch noch untereinander verklammert.304 Methodisch sind diese Schriften entweder als Kompendien verschiedener heiliger Schriften konzipiert wie die Guldin Arch, die biblische wie außerbiblische Zeugnisse zu einzelnen Themenkomplexen zusammenstellt. Oder sie positionieren Aussagen aus dem religiösen Diskurs und aus der Bibel in teilweise harter Fügung gegeneinander wie das Verbüthschiert Buch oder die Paradoxa.305 Alle drei Werke enthalten hermeneutische Reflexionen Francks, in denen er sich sogar explizit um Verständlichkeit gegenüber seinen Lesern bemüht. Kontext seiner poetologischen Reflexionen ist seine Besorgnis über die Verabsolutierung des Schriftprinzips, das ihm nach der zeitgenössischen Praxis als Verdinglichung und Veräußerlichung der Religion und damit als Aktualisierung katholischer Verhältnisse erscheint. Es bildete die theoretische Grundlage für eine neue Scholastik und weitere Ansätze zur Sektenbildung.306 Da sihet man wunder / sonderlich in disen letzten zeitten / wie man alles flicken / vnd mit schrifft verklügen  / trehen  / vnd beschönigen kann  / wie man will. Niemandt waiß seins thuns / glaubens / Sect / nit einen hauffen ursach / schrifft / vnd argument / davon er aim einen gantzen tag (wer jm nur zuloset) rechenschafft wißt zu thun. […] Vnd wie jhm ein yeder ein affect vnnd lauff fürnimpt / das verzwickt er etwa mit einer genötten Schrifft oder zwo / die sich ebenso vil darzu rheümen / als ein pfeyl zu einem polster / Vnangesehen / das die gantz 307 schrifft anderswo darwider streit / vnd wol tausent sprüch sonst dargegen sind.

Kompilator. In: Müller (Hg.): Sebastian Franck, S. 33–38; Barbara Bauer: Die Philosophie des Sprichworts bei Sebastian Franck. In: Ebd., S. 181–221. 304 Zu Interpretationen jeweils einzelner Werke siehe zu Francks Paradoxa v. a. aus text­ immanenter Perspektive Barbers: Toleranz bei Sebastian Franck, S. 145–150; Strelka: Sebastian Francks ›Paradoxa‹, S. 208–219; detailliert zum Verbüthschiert Buch Waldhoff: Judentum als Metapher, S. 159–208. 305 Häfner: Kompositionprinzip und literarischer Sinngehalt, S. 367; zum Verbüthschiert Buch als ›diskordanter Bibelkonkordanz‹ auch Christoph Dejung: Sebastian Franck. In: Bibliotheca Dissidentium. Répertoire des non-conformistes religieux des seizième et dix-septième siècles. Hg. von André Séguenny. Bd. 7. Baden-Baden 1986, S. 39–119, hier S. 85; Waldhoff: Judentum als Metapher, S. 160. 306 Hegler: Geist und Schrift bei Sebastian Franck, S. 255; Langer: Inneres Wort und inwohnender Christus, S. 57 ff. v 307 Franck: Paradoxa, Bl. 125 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 37 f.



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Die Guldin Arch und das Verbüthschiert Buch setzt Franck in den betreffenden Vorreden selbst in ein komplementäres Verhältnis: »Was ich aber glaub«, so schreibt er im Beschluss des Verbüthschiert Buch, »finstu nach dem buchstaben rechenschafft meins glaubens in meiner Arch […] hie [im Verbüthschiert Buch] prüff vnd üb ich meyn glauben / dort zeuge ich jn.«308 In den Einleitungen zur Guldin Arch, den Paradoxa und zum Verbüthschiert Buch finden sich nun programmatische Worte zu Francks Schreibintention und Hermeneutik. »Dise mein Arch«, beschreibt Franck seine Guldin Arch, sei sein »Einweiser« in die Heilige Schrift. Sie verfolge das Ziel, gerade über die scheinbaren Widersprüchlichkeiten der Schrift hinaus den Leser zu Gott, als den einzigen Interpreten und Dichter derselben zu führen.309 Die Schrift als Gottes tatsächliches Wort ist dem Wortlaut nach jedoch voller Widersprüche. Erst im Licht des Heiligen Geistes lasse sie sich verstehen.310 Angesichts der zeitgenössischen schultheologischen Kontroversen setzt sich Franck in der Guldin Arch zum Ziel, aus der Schrift und weiteren Wahrheitszeugnissen den Lesern einen »nothknopf« zur Seligkeit zusammenzustellen und gerade denen, die keine Zeit zur Verfolgung akademischer Debatten haben, genug heilsrelevantes Wissen zu vermitteln, dass sie selbst in Todesnöten noch bestehen könnten.311 Der Name Guldin Arch ist Programm und Metapher: Diese Blütenlese an Schriftbelegen und Zitaten der Kirchenväter wie der frommen Heiden versammelt nach dem Vorbild des alten Bundes alles, was »von außen«, also metaphorisch und nach der Materialität der Worte, gut und kostbar ist. Doch wie der alte Bund des Moses verweist die Arche nach dem Paradigma von Verheißung und Erfüllung über sich selbst hinaus auf Jesus Christus, der »golden«, d.h. voller Gnade ist. Vor ihm wird alles zu Metapher und Gleichnis, einschließlich des vorliegenden Buchs: Also hab ich der figur / vnd nit der warhayt nach /diß nit mein sonder der hayligen schrifft/ vätter / vnd zeügen Gotes buch / auch ein guldin arch woellen nennen von des hayltumbs wegen / so darinn ligt / vnd von der figurlichen gleichniß wegen / die es mit der figurlichen 312 arch hat / damit nicht mein / sonder des buchs / vnd deren so es ist / eer suchende.

Die Paradoxa nennt Franck gar seine Philosophie, wobei der Aspekt des Widersprüchlichen wie auch der Bezug auf die Schrift wiederkehrt: Ein Paradoxon defi-

v

308 Franck: Das Verbüthschiert Buch, Bl. 426 . r 309 Franck: Guldin Arch, Vorred, Bl. a2 . v 310 Ebd., Bl. a2 . v r 311 Ebd., Vorred, Bl. a4 –a5 . Zur Guldin Arch als geistlicher Apotheke auch Häfner: Kompositionsprinzip und literarischer Sinngehalt, S. 359 u. 367. v 312 Franck: Guldin Arch, Vorred, Bl. a3 .

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 Sebastian Franck (1499–1542)

niert Franck als Ausspruch, der je nach den Augen Gottes und den Augen der Welt gleichzeitig wahr und falsch ist.313 Da Welt und Gott als Gegensatz gedacht sind, bleibt die Heilige Schrift zwar Wort Gottes, aber gleichzeitig »ewige Allegorie, Wunderrede, Rätsel«.314 Dieses Schriftverständnis steht im Gegensatz zu Luthers Postulat von der Klarheit der Heiligen Schrift, das er in De servo arbitrio gegenüber Erasmus vertreten hatte,315 und es differenziert zwischen dem Bezeichneten (»Geist«) und dem Zeichen (»Buchstaben«). In ihrem Charakter als Zeugnis rückt die Schrift neben das Buch der Welt und der Geschichte, die ebenfalls – als »Geschychtsbybell«  – Spuren Gottes sind,316 jedoch ihrer Materialität nach, als Signifikant, ist sie nicht mit dem Signifikat identisch: Aus disem folgt / das der Buchstab vnd der Grammatisch sinn der Schrifft / auch nit der probstain / vnd goldtwag der gaister sein kann / sonder derselben gaist / sinn / auslegung / vnd verstandt ist allein / wie Gottes wort / also allein die prob der gaister. Der Buchstab aber dar gegen ain gewiß zeichen […]. Allain das frey / onsectisch / onpartheisch Christenthumb / das an der ding kains gebunden ist / sonder frey im gaist auff gottes wort steet/ vnd 317 mit glauben / vnd nit mit augen begriffen vnd gesehen kann werden / ist aus Gott.

Die ausführlichste hermeneutische Reflexion findet sich in der Vorrede zum Verbüthschiert, mit sieben Siegeln verschlossen Buch. Das mit sieben Siegeln ver­ schlossene Buch ist nach Off 5,1–2 die Bibel, die Franck wiederum in expliziter Antithese zum reformatorischen Postulat der Klarheit der Heiligen Schrift als allegorischen und verschlüsselten Text versteht, der die tiefste Wahrheit nur verborgen enthalte. Hier bildet die Zahlensymbolik der sieben Siegel, die Franck aus

313 »Paradoxon, lieben freund vnd brüder  / haißt bey den Griechen ain red  / die gleichwol gewiß vnd war ist / die aber die gantz welt / vnd was nach dem menschen lebt / nichts weniger dann für war hält. […] Nun hab ich dis mein Philosophey Paradoxa intituliert / vnd Paradoxum ein Wunderred / oder Wunderwort verteütscht / Weyl die Theologey / der recht sinn der Schrifft (so allain Gottes wort ist) nichts ist / dann ein ewig Paradoxon / wider allen wahn / scheyn / glauben / vnd achtung der gantzen welt / gewiß vnd war.« Franck: Paradoxa, Vorrede, nicht pag.; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 3 f.; Bauer: Philosophie des Sprichworts, S. 191. 314 «Darumb bleibt die schrifft ein ewig Allegori  / Wunderred /rhäterschafft  / verschlossen buch / tödtender Buchstab / vnnd ain vnuerstendigs Rotwelsch / allen gotlosen / vnnd sondere sprach der kinder gottes.« Franck: Paradoxa, Vorrede, nicht pag.; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 5. 315 Luther: Vom geknechten Willen, in: Leppin (Hg.): Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, S. 124 f. 316 In diesem Zusammenhang macht Müller auf die Breite des Metaphernfelds Spur, Zeugnis, Schatten, Bild, Figur, Ausdruck Gottes aufmerksam. Müller: Zur Einführung. Sebastian Franck. Der Schreiber als Kompilator, S. 34. 317 Franck: Paradoxa, Vorrede, nicht pag.; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 10.



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der Johannesoffenbarung übernimmt, ein höchst aussagekräftiges Tertium comparationis zum mystischen Wissen, wie es in den Predigten Taulers formuliert ist. Das Lamm, das als einziges die Siegel lösen kann, ist nach Off 5,9 der gekreuzigte Christus. Franck parallelisiert die sieben Siegel, die einem Leser für das rechte Schriftverständnis erst eröffnet werden müssen, mit einem mystischen Aufstiegsschema nach den sieben Gaben des Heiligen Geistes.318 Dieses ist explizit in Taulers Predigt Repleti sunt omnes spiritu sancto et ceperunt loqui entfaltet, und dort hat es wiederum ein Vorbild in Eckharts Traktat Vom edelen menschen.319 Auch Tauler hatte die sieben Gaben des Heiligen Geistes mit einem siebenstufigen Aufstiegsmodell verbunden, das auf der siebten Stufe wiederum im Sabbath, der bilderlosen Ruhe des Herrn gipfelte.320 Bei Tauler führen die sieben Gaben des Heiligen Geistes über die sukzessive Entselbstigung des Menschen in den göttlichen Abgrund, wo Gott sich selber erkennt, der Mensch jedoch alle Eigenheit aufgegeben hat und quasi ›gestorben‹ ist. Bezeichnenderweise steht bei Tauler das später als genuin hermetisch betrachtete Motiv einer Selbsterkenntnis Gottes im Menschen in einem christlichen Text. Franck bezeichnet die Gaben des Heiligen Geistes im Rückgriff auf Jes 11,2–3 als Gottesfurcht, Verstand, Rat, Stärke, Kunst, Weisheit, Stärke und Gottseligkeit. Die sieben Siegel dagegen, die von diesen Gaben gelöst werden sollen, benennt er als deren Gegenteil, nämlich »menschen forcht / rath / weißheit / sterck / kunst / verstand vnd gotloßheit«.321 Das mystische Narrativ erweist sich somit nicht nur als Tertium comparationis zwischen christlichem und hermetischem Wissen, es stellt auch in seinen generalisierbaren hermeneutischen Überlegungen den entscheidenden Aspekt dar: Nicht über eine hermeneutische Technik oder Wissenschaft erschließt sich nach Franck der Sinn der Heiligen Schrift, sondern über die Teilhabe am Geist, die so lange verhindert wird, so lange der Mensch noch den irdischen Schwächen verhaftet bleibt. Jene Schwächen sind aber nicht nur die anthropologischen, sondern auch die hermeneutischen »Siegel«, die den Menschen vom wahren Schriftverständnis und auch von seiner Seligkeit abhalten – nicht zufällig ist die letzte Gabe des Geistes, wenn das siebte Siegel gelöst ist, die Gottseligkeit.

v

318 Franck: Das Verbüthschiert Buch, Bl. a5 . 319 Vgl. Meister Eckhart: Vom edlen Menschen. In: Ders.: Werke II, S. 319 ff. u. 325. 320 Tauler: Predigten I, S. 177 ff. (V. 26, S. 103–110); ausführlich Waldhoff: Judentum als Metapher, S. 191 ff.; Gnädiger: Johannes Tauler, S. 302 ff. v r v 321 Franck: Das Verbüthschiert Buch, Bl. a5 , weiterführend Bl. a6 –b1 ; Waldhoff: Judentum als Metapher, S. 192, siehe dort auch zu geringen eigenen Akzentuierungen Francks gegenüber der biblischen Vorlage.

Abb. 4: Titelbild Das verbüthschiert mit siben Sigeln verschlossen Buch (1539)



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Auch die hermetischen Traktate lassen sich für eine solche Hermeneutik heranziehen. Trotz abweichender Zahlensymbolik kennen die hermetischen Texte ebenfalls eine mystische Aufstiegsbewegung, die über die sukzessive Ersetzung von Untugenden durch Tugenden in die Erkenntnis führt.322 Und gerade Hermes wird von Franck als Kronzeuge zitiert, dass Gott dem Menschen die Gottseligkeit nicht erst im Jenseits, sondern bereits im Erdenleben versprochen habe: Die eynig hut des menschens ist die Gotseligkeyt / dann einem gottseligen menschen kan keyn böser teufel / noch der todt schaden / vrsach / der Herr erlöst den gotseligen von allem vbel / dann die gottseligkeyt ist das eynig gut / das die menschenn hie auff erden haben 323 […].

Franck schreibt im Kontext der Spannungen um den exklusiven Wahrheitsanspruch der Sola-scriptura-Theologie, die Gottes Wort und die Heilige Schrift in eins setzt. Dagegen fasst er das göttliche Wort nach wie vor als Logos, und das heißt: als Geist. Gottes Wort, so heißt es in den Paradoxa, lasse sich nicht in eindeutige Aussagen fassen, sondern sei als Geist wie der Wind, der nach Joh 3,8 weht wo er will.324 Als solches lässt es sich nicht lehren, sondern bestenfalls lernen, und dieses nur über die eigene Einkehr ins Innere, die gerade in seinen hermeneutischen Reflexionen die zentrale Rolle spielt.325 Jenseits der unmittelbaren Teilhabe lässt sich vom Wort nach dem Vorbild Jesu nur in Parabeln und Allegorien sprechen.326 Die Bibel selbst wird Franck damit zu einer ewigen Allegorie,327 einer Wunderrede und eben einem Paradoxon, das die Wahrheit für diejenigen, die noch dem Irdischen verhaftet sind, lediglich verhüllt ausspricht. Hier gewinnt Francks paradoxale und allegorische Rede, die in der späteren Rezeption pauschal zur esoterischen Geheimlehre verkürzt wurde, ihre hermeneutische Reflektiertheit, die sich darüber hinaus gerade auf das Wissen um die hermetischen Texte stützen kann: Während zeitgenössisch der Religionsstreit um das rechte Bekenntnis und damit um die Deutungshoheit verschiedener Konzepte von ›Wahrheit‹ wogt, dekonstruieren Francks Schriften den Anspruch per se, Wahrheit als positiv formuliertes Wissen abschließend aussagen und danach für sich beanspruchen zu können. Alle Aussagen selbst aus der Bibel sind ihm gleichermaßen wahr und unwahr, so zeigt das Strukturprinzip im Verbüthschiert

322 CH XIII, 8–10 (CHD I, S. 180 f.). r 323 Franck: Guldin Arch, Bl. 62 . r/v 324 Franck: Paradoxa, Bl. 171 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 429. v 325 Ebd., Bl. 71 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 430. 326 Ebd., Vorrede, nicht pag.; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 5. 327 Ebd., Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 5.

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Buch; alle Aussagen sind abhängig von unterschiedlichen Ebenen des Verständnisses, so die Paradoxa. Entscheidend ist also nicht der Aussagegehalt eines Satzes an sich, sei er christlich oder vorchristlich, sondern die Disposition des Rezipienten. Dem adamitischen Menschen erscheint alles unwahr und widersprüchlich, der gelassene oder geistige Mensch dagegen, der teilhat an Gottes Wort, erkennt den einen Geist in und hinter seinen vielfältigen sprachlichen Manifestationen.328 Somit werden auch Francks literarische Kompositionsprinzipien wie die Kompilation in der Guldin Arch oder die Konfrontation im Verbüthschiert Buch auf ihre Wirkungsästhetik hin transparent: Im Gegensatz zu Luthers Programmatik der eindeutigen Aussagen steht hier gerade die Hinterfragung programmatischer Wahrheitskonzepte im Vordergrund. Dies geschieht weniger zugunsten einer alternativen Lehre oder eines positiv zu bestimmenden Geheimwissens, wie die spätere Rezeption vermutet, sondern zugunsten einer Weisung des Lesers über sich selbst und die eigenen Vernunftschranken hinaus auf das eigene Innere als den einzigen Ort, wo eine unmittelbare Begegnung mit dem Wort Gottes als Verbum internum stattfinden kann. Hier liegt nicht nur der philosophische, sondern auch der poetologische Grund der Selbstermächtigung des Lesers zur eigenen Hinwendung an Christus. Gerade über Francks Einbindung der hermetischen Texte lässt sich belegen, dass das Wort Gottes als ubiquitärer und überzeitlicher Geist nicht nach Christen und Heiden differenziert, wohl aber zwischen gelassenen und ungelassenen Menschen, im typologischen Sprachgebrauch der Zeit: zwischen Adam und Christus.329 Das Wort teilt sich den Gelassenen mit, da jede Seele und zu jeder Zeit in ihrem Grund an ihm teilhat, was auch den Leser einschließt. Dieser Gedanke, so fremd und unchristlich er dem gesamten häresiologischen Diskurs der frühen Neuzeit erschien, ist über Tauler bis zu Meister Eckharts Traktat Vom edelen Menschen zurückzuverfolgen, wo nicht nur das siebenstufige Aufstiegsschema der Seele zu Gott erläutert ist, sondern wo es auch heißt, jede Vermittlung sei Gott fremd.330 Franck zieht also nicht nur philosophisch, sondern auch poetologisch die Konsequenzen aus dem Wissen, das bereits im Inquisitionsverfahren gegen Eckhart aus dem christlichen Diskurs ausgegrenzt wurde.331 Seine Texte sind somit weder in einer geheimen Rede verfasst, die nur

328 Zur Durchgängigkeit dieses Gedankens auch in anderen Werken Francks siehe Hayden-Roy: Orchestrating an Assault on Reason: Sebastian Francks ›Vier Kronbüchlein‹, S. 166. 329 Langer: Inneres Wort und inwohnender Christus, S. 68: »Der inwohnende Christus ist kein Volks- oder Sektengott, sondern der göttliche Bruder aller Menschen.« 330 Vgl. Meister Eckhart: Vom edlen Menschen, S. 319 ff. u. 325. 331 In ihrer Analyse zu Eckhart und Franck argumentieren James Poag und Priscilla Hayden, dass Franck die Konsequenzen aus den Gedanken Eckharts formulierte, die dieser nicht offen



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von Eingeweihten zu lesen wäre, noch enthalten sie magische ›Geheimnis-Worte‹. Sie machen allerdings den bei Eckhart, bei Tauler und bei Hermes entwickelten Gedanken eines direkten, unvermittelten Zugangs der Seele zu Gott nicht nur philosophisch, sondern auch ästhetisch fruchtbar: Gerade über ihre teils dekonstruktivistischen, teils kompilatorischen Kompositionsformen weisen sie nicht nur über den Wortlaut des Bibeltextes, sondern letztlich auch über sich selbst hinaus auf eine Sprache und Schrift Gottes im Seelengrund, wo dieser, wie am Beispiel des Hermes gesehen und nach einer Metapher des Paulus interpretiert, nicht mit Tinte auf Papier, sondern als Geist auf die Tafeln des Herzens schreibt.332 Derhalben will ich dich mit diser meiner arbait nitt vonn der Schrifft auff der Väter Comment / menschenn Gloß / noch jrgentt mein oder eins andern buch gewisen habenn / sonder inn dich selbs zum Hailigen gaist  / das du gelassen vnnd einkert da losest vnnd 333 hörest / was Gott inn dir rede.

4. Zur Rezeption: Differenzierung der Wahrheit(en) 4.1. Kritik des konfessionellen Pragmatismus (Luther) Die Rezeption der Texte Francks stand lange unter dem einflussreichen Verdikt Luthers. Dieser fand für Franck sehr abschätzige Worte, die er besonders angesichts der Tatsache niederschrieb, dass Francks Bücher entgegen seinen Erwartungen »sonderlich gerne gelesen werden«,334 also als kritische Stimmen gegenüber den Konsolidierungstendenzen der Reformation publizistischen Erfolg hatten. Seine Kritik fasst noch einmal die entscheidenden Punkte zusammen, an denen sich die Wege des protestantischen Lehrsystems und des Spiritualisten trennen. Abstrahiert man von der seiner aggressiven Wortwahl gegenüber Franck, so bleibt als sachliche Kritik die Kritik an dessen Vieldeutigkeit zurück,

ausgesprochen hatte. Zum herrschaftskritischen Potenzial, das in der späteren Diskursivierung Francks als ›Ketzer‹ die entscheidende Rolle spielte Poag/Hayden: Meister Eckhart und Sebastian Franck, S. 33 f. Die sogenannten Irrtümer Eckharts werden bis heute in den katholischen Bekenntnisschriften unter eben dieser Bezeichnung abgedruckt. Heinrich Denziger: Kompendi37 um der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Freiburg 1991, S. 399 ff.; Ausführlich mit weiterer Literatur Gilly: Die Überlieferung des Asclepius im Mittelalter, S. 355. 332 2 Kor 3,3. r 333 Franck: Das verbüthschiert Buch, Bl. 401 . 334 Luther WA 54, S. 172.

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am paradoxalen Charakter seiner Schriften, die jedes geschriebene Wort hinterfragen, aber selbst keine eindeutige Position beziehen. Denn aus seinen Büchern wirstu nicht wol lernen, was ein Christ gleuben oder ein from Mann thun sol, er kan und wils auch nicht leren. Ja, das viel mehr ist, du wirst aus seinen 335 Buchern nicht wissen, was er doch selbs gleubet oder fur ein Man sey.«

Damit trifft Luther in der Tat den Kern von Francks Anliegen, allerdings alarmierte ihn gerade Francks Bemühen um Ermächtigung seiner Leser, ihrer eigenen Intuition zu vertrauen. Für Luther evozierte diese Rede zu direkt den Kontext der Bauernaufstände um Thomas Müntzer und der sozialen Unruhen, »da ein jeglicher sein selbs Meister ist«,336 als dass er das mindeste Verständnis für Francks Texte oder ihre Leser hätte aufbringen können. Gegenüber Francks dialektischer Methode der Wahrheitsfindung,337 die letztlich auf die Transzendenz der Vernunftschranken zielt, betonte Luther die Notwendigkeit einer eindeutigen Festlegung eines Lehrers, die Strafe und Polemik durchaus im Dienst der Frömmigkeit zur »Besserung« von Abweichlern mit einschließt. Es geht Luther um eindeutige Theologie, womit er übrigens in der Intention mit jener des päpstlichen Inquisitionsgerichts übereinstimmt, das 200 Jahre früher das Urteil über Eckhart gefällt hatte.338 Damit allerdings evoziert Luther, wenn auch in der Angst vor drohendem Chaos durch die Unterminierung der Sakramentenlehre, den Deutungshorizont der einst gegenüber dem Papsttum kritisierten Vorstellung eines eindeutigen Wahrheitsbesitzes. Er kann damit Francks These einer nicht kultur- oder religionsgebundenen grundlegenden Transformation des Menschen als Weg zu Christus nicht anders als pathologisierend (»truncken«339) oder entintellektualisierend (»Schwermer«/»Sakramentschender«340) interpretieren. Luthers Verdikt des »Schwärmertums« wurde, aufgeladen mit den Stereotypen des Unzuchtsvorwurfs und der Verteufelung,341 zum festen Begriff in den Abgrenzungsbemühungen des häresiologischen Diskurses. Interessanterweise spielt in Luthers Äußerungen über Franck dessen Vorliebe für pagane Literatur oder sogar für das Corpus Hermeticum keine Rolle. Die Stilisierung Francks zum

335 Ebd. 336 Ebd., S. 173. 337 Bauer: Die Philosophie des Sprichworts bei Sebastian Franck, S. 197–202. 338 Flasch: Meister Eckhart, S. 312. 339 Luther WA 54, S. 173. 340 Ebd. 341 Ebd., S. 174. Luthers Anklage, Franck sei eine »schendliche Fliege« bzw. »Arshummel« bezieht sich auf den »Fliegengott«, den Teufel – eine Konstante im häresiologischen Diskurs.



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hermetischen Autor geschieht damit erst im Diskurs. Doch lässt sich in Bezug auf die Hermetik-Rezeption das Moment der »geistigen Konkurrenz«342 oder der unterschiedlichen Sinngebung343 in der Dynamik der Binnendifferenzierung der protestantischen Position herausarbeiten. Luther spricht trotz seiner Schärfe der Wortwahl aus der Perspektive des politischen Pragmatismus, der die Geister, die er rief, auch zu bändigen und politisch zu integrieren hatte. Die grundlegende Lebenserfahrung der Zeit stand, und das nicht nur in den unmittelbaren Jahren der Reformation, »im Zeichen der Krise«,344 die sich theologisch-theoretisch vor allem über ihre Interpretation als Erfahrung der Gottesferne plausibel machen lässt. Entsprechend betonte Luther die Tiefe der Erbsünde als grundsätzlichem Abstand zwischen Mensch und Gott. In der Überzeugung, dass im Menschen nichts Gutes zu finden sei, hielt er sich an das Scriptum est des Verbum externum, das die Rechtfertigung der Sünder durch den Erlöser versprach. Die Rettung durch die zugesicherte Gnade Gottes, die im Kontext der vollständig korrumpiert gedachten menschlichen Natur allein ab extra noch denkbar war, erscheint angesichts eines solchen Menschenbilds als einziger und als existenzieller Trost. Francks deutlich abweichendes Menschenbild jedoch, seine epistemologischen und anthropologischen Schlüsse aus den Reden des Korintherbriefs vom seelischen und geistlichen Menschen sowie den Predigten Taulers unterminieren dabei konstitutiv die Bestrebungen um Konsolidierung der reformatorischen Bewegung, da sie sämtliche identitätskonstituierenden Kulturpraktiken (Sakramentenlehre, Schriftprinzip, Tradierung der Offenbarung) sowie alle identitätskonstituierenden Abgrenzungen (»Papstthum«, »Schwärmer«, »Ketzer«) auf die Vorläufigkeit ihrer materiellen Äußerlichkeit (des »Buchstabens«) reduzieren und diese noch dazu als Ausdruck eines unwiedergeborenen Geistes betrachten. Eine solche Theorie bedroht das Fundament jedes Lehrsystems.

4.2. Naturalisierung und Ethisierung der Heilsgeschichte Francks Überschreitung der theologischen Programmatik eindeutiger Aussagen in Form von paradoxer, allegorischer und figürlicher, kurz: literarischer Sprache zieht jedoch nicht nur eine Unterminierung des alleinigen Wahrheitsanspruchs

342 Neugebauer-Wölk: Esoterik und Christentum vor 1800, S. 154. Kemper: Deutsche Lyrik 4/1, S. 60. 343 Trepp: Hermetismus, S. 14. 344 Kontextualisierend siehe die Aufsätze in: Anne-Charlott Trepp und Hartmut Lehmann (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1999.

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eines theologischen Lehrsystems nach sich. Da das Wort nach Franck nie aufgehört hat sich zu offenbaren,345 öffnet diese Überschreitung sowohl ein Verständnis für Gott als einen »Dichter« der Bibel als auch für eine Sprache Gottes außerhalb der Bibel in der Geschichte sowie in den nicht-religiösen Texten aller Sprachen und Völker. Franck verfasste schließlich nicht nur eine umfangreiche Sprichwörtersammlung, die ähnlich wie die Guldin Arch die Funken der Urweisheit aus den Sprichwörtern aller Völker zusammenträgt,346 er verfasste auch mehrere historische Werke, darunter die explizit sogenannte Geschychtsbybell und das Weltbuch, auf denen sein Erfolg als Schriftsteller maßgeblich beruhte.347 Francks Anthropologie, die ein zwar verlorenes, aber im letzten Grund unzerstörtes göttliches Erbe des Menschen annimmt, bildet gegen Luthers Anthropologie die Grundlage für eine Theorie der Inspiration, die zwar vom inneren Wort ihren Ausgang nimmt, jedoch auch poetisch fruchtbar gemacht werden kann.348 Insbesondere jedoch bildet die Theologie des Verbum internum Anschlusspunkte für eine Unterminierung kanonisierter Wissensbestände und damit für eine in die spätere Aufklärung als sinnstiftend vermittelte Individualisierung, Ethisierung und Naturalisierung der Heilsgeschichte. Gegen dogmatische Wahrheitspostulate schreibt er: Gottes wort ist ain windt vnd gaist  / des hauchen man wol hört  / im grund der gelassenen stillen seelen / niemandt waiß aber woher / oder wohin / Es läßt sich nit maistern / fürdern / wehren oder in yemandt nöten / vnd ya weder reden / noch schreiben / sonder in jm selbs gelassen / vnd still hören / vnd empfinden / Sap. 81. Vnd erfordert eyttel schuler / finsternus / vnd zuhörer / aber kain maister / liecht / oder Lerer kan es leiden / sonder ain

345 »Es ist ein gemeine / doch vnuerstandne red / die niemand für ein Paradoxa / oder wunderred hat / nämlich Gottes wort bleibt ewig / Ist allweg gewesen / vnd würdt allweg sein. […] Vnd Gott spricht noch täglich dis wort […]. Vnd wenn got nit noch heüt dis wort spreche / damit er alle ding inn einem wesen helt / tregt / näret / vnd noch immerzu schaffet / so viel alle ding in einem augenblick wider in sein nicht. […] Dann das wort ist aller ding Ding / aller wesen Wesen / alles ist Ist / in dem alles mer bestehet / weset / ist / dann in jm selbs.« v v Franck: Paradoxa, Bl. 30 u. 31 f.; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 89 u. 92. 346 Bauer: Philosophie des Sprichworts, S. 188 ff. 347 Nicht nur Luther, auch Melanchthon beurteilte Franck als unliebsamen und gefährlichen Erfolgsautor, da er über das zunächst unverfängliche Thema der Geschichte, das jedermann interessiere, Zugang zu seinen Lesern erhalte und so seine theologischen Auffassungen verbreite. Dejung: Geschichte lehrt Gelassenheit, S. 89, siehe dort zu Francks Zuwendung zur Geschichtsschreibung dezidiert als Künstler S. 97, zur Schriftsteller- und Historikerexistenz als ›unparteiischem‹ Ausweg aus der theologischen Pattsituation S. 96. 348 Bereits Weigelt beschrieb das Innere Wort als nicht synonym mit der Vernunft oder dem Gewissen, die beide noch der menschlichen Sphäre zuzuordnen wären. Weigelt: Sebastian Franck und die lutherische Reformation, S. 43.



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willige / hungerige / zitternde seel / die ab Gottes erhaschet / sitzende zu den füssen des Herren / höre / was Got in jr rede / Esaie.66. Luce. 10. Deut. 33. Es ist gaist vnd leben / vnd kain Buchstab  / nit mit dintten  / oder griffel auff papyr  / pergamen  / oder steinin taffel geschriben vnnd gehawen / sonder mit dem finger Gottes in aller menschen hertz als ein 349 sigel eindrückt.

So wenig wie man den Wind einfangen kann, so wenig kann das Wort Gottes selbst auf Papier fixiert und von einer bestimmten Partei besessen werden, so Franck.350 Sobald dieses geschieht, spricht der dem Christentum den christlichen Charakter rundheraus ab: Dann sobald man das Christenthumb in Regel vnd in ain fürgeschriben gesatz vnd ordnung will verfassen / so hört es zu hand auff ain Christenthumb zu sein. Niemandt will verstehen / das die Christen dem hailigen gaist überlifert sein / vnd das das New Testament kain buch / schrifft / leer vnnd gesatz ist / sonder der hailig gaist. Wo nun der gaist gottes ist / da muß yhe freihait sein  / […]. Vnnd da ärgern vnd stossen sich noch heüt alle  / die nit verstehen wöllen / das das gesatzlos Christenthumb weitter vmb sich greüfft / dann das es von menschlichem gemüt / oder mit ainicherlay gesetzen mög verfangen / vnnd eingefaßt 351 werden.

Das Konzept der »unsichtbaren Kirche« gehört als Affront gegenüber den verfassten Konfessionen zu den sicheren Heterodoxiekriterien des Diskurses,352 jedoch bildet es in Francks Texten den Ausgangspunkt für die Reflexion einer noch zu vollendenden Humanität, die die Lehre von der Imitatio Christi naturalisiert und ethisiert. Adam und Christus, der alte und der neue Mensch werden bei Franck nicht mehr in Bezug zum Taufritus, sondern in Bezug zur Wiedergeburt und nach Joh 8, 35 korrespondierend zum Knecht und Sohn Gottes gesetzt.353 Der Knecht, nach Johannes derjenige in Sünde, ist bei Franck derjenige, der Gott nur um seiner Seligkeit Willen aus Angst vor Höllenstrafen und damit aus einer Lohnmentalität heraus dient.354 In dieser Reflexion wird der frömmigkeitspraktische Kontext von

v

349 Franck: Paradoxa, Bl. 171 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 429 f.; 2 Kor 3,3. 350 Ebd.; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 430. v 351 Franck: Paradoxa, Bl. 137 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 348. 352 Vgl. die umfangreichen Erörterungen in den Bekenntnisschriften zu Wiedergeburt und Bezug des Wiedergeborenen zum Gesetz. Konkordienformel, Art. 6, in: Unser Glaube, S. 807–810. r  353 Franck: Paradoxa, Bl. 116 f.; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 294 f. 354 »Es is jn vmb den himmel vnd hell zu thun / vnd sehen in all jrem thun auff sich selbs / eigensüchtig / mit eigener lieb besessen. Were eigener nutz / not / straff / oder das gebot nit / sie sehen gott vnd das gut nit an. […] Die arbeiten sich ängstlich / schmucken vnd vnd bucken sich / scharren vnd kratzen / wenn nur ein maus sich regt / so förchten sie / der Herr sey ob jn / vnd komm sie zu brüglen […] das taglon oder jhr eigener nutz ist jr end vnd ursach / darum sie wider

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Francks Reflexion sichtbar, der auch nach der Reformation in diesem Punkt als nicht grundlegend verändert wahrgenommen wird. Das Leben des alten Adam beschreibt eine von Gott und sich selbst entfremdete Existenz, die sich primär im Verhalten durch Angst, Unterwürfigkeit und Ausrichtung auf eine äußere Autorität auszeichnet. Im Anschluss an das Jesuswort in Joh 8,36, dass allein der »Sohn« wirklich befreien könne, kontrastiert Franck den letztlich innerlich unfreien religiösen Aktionismus der »Knechte« mit dem sinnerfüllten Arbeiten der »Kinder«. Er zeichnet das Leben der »Kinder« Gottes in leuchtenden Farben als Existenz im Einklang mit Gott, wobei ihre Arbeit sich nicht durch spezifische Inhalte, sondern allein durch die innere Haltung als Gottesdienst auszeichnet. Einzig ihr Bewusstsein, Kinder und damit »Verwandte Gottes« zu sein – Francks bekannte Definition des »Gläubigen«  – lässt ihr Handeln wie von selbst aus einem vollen Grund quellen und macht sie damit »frei«: Die kind aber / die mit freuden frei in des vatters haus schaffen / nicht vmbs erb willen / gewiß das sie vor aus der geburt / so sie aus gott haben / erben sindt / sonder das sie den Vatter lieben / vnd sein reich und gut wollen helffen meren […]. Diese singen wie die kinder im haus / sindt frei / frölich / vngenöt / gehen frey im haus vmb / kombt sie alles leicht an wissen selbs nit / das sie arbeiten/ Ja sindt also verglasst ab dem vatter das sie der arbeit nicht empfinden / die der Vatter selbs in jn anschafft vnd würckt / sie gehen nur feirendt 355 daher in dem willen des Vatters / willos / vnd erstorben.

Hinter dieser hoffnungsvollen Vision verbirgt sich kein religiöser Utopismus, sondern der unmittelbare Rekurs auf die Rede des Apostels Paulus von der Freiheit der Christen von Sünde und Gesetz nach Röm 6,6 und 8,2. Paulus selbst hatte die Liebe in 1 Kor 13,1–13 als Ende des Gesetzes beschrieben, was Franck lediglich wiederholt.356 Machtkritisch ist an dieser Rede lediglich Francks Aktualisierung dieser traditionellsten christlichen Topoi in der historischen Gegenwart, in der von einem solch »freien« Leben der Getauften wenig zu spüren war. Er weist damit dem status quo der Renovatio Christianismi, die auf reformatorischer Seite längst um Konsolidierung bemüht war, den Charakter der Vorläufigkeit und des

r/v

jhr hertz / jhre saure arbeit volbringen.« Franck: Paradoxa, Bl.116 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 295. Die Lohnmentalität ist auch Thema der Theologia deutsch: Theologia deutsch (Hg. Haas), S. 104; Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 124 f. r/v 355 Franck: Paradoxa, Bl. 116 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 295; Gal 4,7. 356 Entsprechend bleibt bei Franck die Liebe als einziges Gesetz, nachdem das Gesetz im Seinszustand überwunden ist: »Die lieb hat kein gesatz / sonder ist das gesatz selbs. Hierumb was lieb ist / das ist gut vnd recht. Die lieb sündet nit / vnd kann nit sünden / wenn gleich alle v Predig / Bücher / vnd Prophecei auffhöret. 1. Corinth. 13.« Franck: Paradoxa, Bl. 113 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 288.



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Unvollendeten zu. Diese Kritik an der historischen Gegenwart impliziert, dass die wahre Christlichkeit, die Franck unter Rekurs auf Paulus’ Rede vom »Leben im Geist« der »Kinder Gottes« (Röm 8,14–17) entfaltet, nicht in neuen Dogmatiken und Taufformeln, sondern in einem neuen Seinszustand liegt. Das Sein in Christus beschreibt letztlich nicht primär das Leben eines Getauften, sondern das Leben eines Menschen, der an der göttlichen »innerlich / inwohnend krafft / vnd wort gottes (so das New Testament Christum nennet)«357 teilhat. Damit verschiebt sich der Akzent von der Orientierung an äußerer Autorität auf eine innere und kontrastiert die zeitgenössische Verschränkung von Frömmigkeit, Lohnmentalität und Jenseitsorientierung mit einem Bild freier, unentfremdeter Menschlichkeit im Diesseits. Dieses Bild beschreibt die Conditio humana als vorläufigen, der Vollendung fähigen Seinszustand, dessen Ganzheit allerdings gerade davon abhängt, dass sich das Ich in Gott verliert.358 In dieser Vorstellung verschmilzt mittelalterliches Vergottungsdenken mit der Vorstellung einer zu entfaltenden Humanität, denn sie beschreibt nichts weniger als die psychologisch akzentuierte Imitatio Christi, die Aufgabe der Selbstheit. Jene egoistische Disposition, die Ausdruck des von Gott abgekehrten Willens ist, ist das Fundament allen Leids, das Menschen sich und anderen antun.359 Angesichts der Welle an körperlicher und seelischer Gewalt, die im Verlauf des Reformationsgeschehens jede einzelne Partei erleidet und ausübt, fließt Franck das vielsagende Stoßgebet in die Feder: »O Herr, nim mich mir / vnd gib mich gantz zu eigen dir / das ist / erlös vns von vns selbs.«360 Doch bezeichnenderweise ist dieser Vorgang nicht durch (Auto-)Aggression oder Askese gezeichnet, sondern als Selbstverleugnung und Selbstvergebung: »Daher ist auch die verleügnung vnd verzeihung sein selbs so hoch von nöten / das ein ieder jm selbs absag / sich selbs laß / sein Seel vnd leben haß.«361 Die Beschreibung des Wegs zur Erlangung der Gotteskindschaft enthält keine Hinweise auf christliche Kulturpraktiken wie die Taufe, sondern zeichnet diesen Weg als einen psychologisch konturierten anthropologischen Vorgang. Adam und Christus sind umfassend psychologisiert und damit gleichzeitig typisiert. Sie

v

357 Franck: Paradoxa, Bl. 71 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 187. 358 Auch Langer: Inneres Wort und inwohnender Christus, S. 67 f. 359 »Dann mit vns selbs sindt wir geplagt / vnd stellen vns selbs am hefftigsten nach.« Franck: v Paradoxa, Bl. 91 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 235 v 360 Franck: Paradoxa, Bl. 91 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 235. Er bezieht sich hier auf Nikolaus von Flüe (1417–1487) (Anm. Wollgast, S. 235). v 361 Franck: Paradoxa, Bl. 91 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 235.

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 Sebastian Franck (1499–1542)

sind ausdrücklich nicht mehr als zwei Personen gezeichnet,362 sondern als der gute und der schlechte Same in jedem Menschen, als psychische Disposition zum alten, adamitischen oder zum neuen, christlichen Seinszustand, zwischen denen sich jeder einzelne entscheiden muss und – entgegen der Confessio Augustana – entscheiden kann. Daraus folgt konsequenterweise, dass zu allen Zeiten und an allen Orten Menschen auch ohne Kenntnis der biblischen Geschichte im Zustand Adams oder Christi gewesen sein müssen oder nach diesen Prinzipien handeln konnten.363 Hier schließt sich der Kreis zur Frage nach dem Status der Zeugnisse von Heiden, Juden und »Türcken«. Die Heilige Schrift ist damit nicht entwertet. Ihr Status leitet sich für Franck jedoch daraus ab, dass ihre Geschichten in symbolischer und allegorischer Form diese universelle Dynamik immer wiederkehrender Vorgänge im Innern des Menschen schildern. Für diejenigen, die sie ihrem »geistigen« Sinn nach zu lesen verstehen, erzählt sie vom ewigen, existenziellen Pulsschlag des Menschengeschehens in Selbstwerdung und Selbstüberwindung, Sünde und Wiedergeburt, Fall und Auferstehung, »Adam und Christus«. In diesem Sinn verstanden enthält sie tatsächlich die tiefste Wahrheit und enthüllt dem, der sie entsprechend zu lesen vermag, das »Wort Gottes«.364 Francks Position geht über eine frühaufklärerisch wirkende Ethisierung der christlichen Lehre oder eine Historisierung ihrer Zeugnisse hinaus.365 Der archimedische Punkt in Francks Schriften ist und bleibt der logosmystische Verweis über die Materialität der Texte hinaus auf eine Tiefendimension des Seins, die die Vorläufigkeit aller historischen Zeugnisse überhaupt erst begründet. Diese jedoch ist ohne eine wesensverändernde Umkehr nicht nur soteriologisch, sondern auch hermeneutisch verschlossen und eröffnet sich dem einzelnen erst in der eigenen Nachfolge Christi, womit jeder Streit um Worte sinnlos erscheint: Denn ich weiß sehr wohl aus eigener Erfahrung, was es braucht, einem in geistlichen Dingen zu folgen. Über die Wahrheit in geistlichen Dingen kann niemand urteilen und 366 reden, außer er ist selber in der Wahrheit (1 Kor 2).

362 »Die histori von Adam vnd Christus sind nit Adam oder Christus.« Franck: Paradoxa, v Bl. 136 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 345. v 363 Franck: Paradoxa, Bl. 136 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 345; Poag/Hayden: Meister Eckhart und Sebastian Franck, S. 31; Barbers: Toleranz bei Sebastian Franck, S. 53. 364 Kommoß: Sebastian Franck und Erasmus von Rotterdam, S. 44 f. 365 Obwohl dies rezeptionshistorisch ein kaum zu überschätzender Beitrag ist, vgl. Wollgast: Sebastian Francks theologisch-philosophische Auffassungen, S. 87. 366 Franck: Vorrede auf die Chronik der römischen Ketzer, S. 84.



Differenzierung der Wahrheit(en)

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Von dieser Tiefendimension aus gesehen gewinnen die verschiedenen Textzeugnisse ihren Wert als »Wegweiser«, die über sich hinausdeuten, aber den Leser letztlich auf sich selbst und die Autorität im eigenen Inneren verweisen. Damit ermächtigen sie ihn zur eigenen Nachfolge, die sich im Rahmen ethischen Handelns und psychologischer Überwindung der egoistischen (adamitischen) Disposition zu vollziehen hat. Dieses Verständnis der Nachfolge stuft jedoch im historischen Moment den Konflikt verschiedener Religionsparteien um ›die‹ Wahrheit nicht nur auf den Status eines Zwists um Äußerlichkeiten zurück  – womit der Heterodoxievorwurf im häresiologischen Diskurs auf sein machtkritisches Potenzial hin transparent wird. Er überschreitet auch im Hinblick auf sein Verständnis vom Christ-Sein für das christliche Selbstverständnis aller Konfessionen grundlegendste identitätsstiftende Vorstellungen. Denn im Gegensatz zu den diskursmächtigen Positionen aller Parteien hält Franck am mystischen Topos fest, dass die Gottessohnschaft niemanden ausschließe, ja sogar, dass sie nicht Sache nur eines einzigen ist. Vier Jahre vor seinem freudigen Kommentar über die vermeintlich einnehmende Klarheit der hermetischen Schriften bezüglich der christlichen Wahrheit in der Guldin Arch formulierte Franck bereits in den Paradoxa eine bemerkenswerte Reflexion, die die Verschränkung einer Naturalisierung der Heilsgeschichte mit seiner Deutung des Corpus Hermeticum in nuce zusammenfasst: Nach Francks Lektüre wurde nicht nur der Jude Jesus von Nazareth, sondern auch der Ägypter Hermes Trismegistos zum Christus: Ich glaub mit den alten Lerern / das baide Christus vnd Adam des weibs samen / neben der schlangen samen / in aller menschen hertzen sey. Das gut vnd böß sämlein ligt schon im acker / zu welchem nur ainer still halt / das es in jm auffwachs / vnd frücht bring / nach dem würdt er genent Adam / oder Christus. Dann wie wöllen dise sonst Adam oder Christus sein gewesen / vor dem Judenthumb 3000 jar bis auff Mosen / ehe die Schrifft / eüsserlich wort / predig / gesatz / versamelten kirch / sonder die gantz welt Haiden war / vnd voller Abgötterey? Welcher das wort Gottes / das lamb Christum in jm predigen höret / vnnd dem wort frucht brecht / der würde durch die inwonend krafft Christi warlich Christus / vnd sehe in jm mit Abraham den Tag Christi / Als Abel / Seth / Noe / Loth / Job / Abraham / Hermes Trismegistos etc. Es hat jn nichts gefelet / dann der eüsserlichen historien erkantnus vnd 367 zeügnus / des versöners haben sie empfunden.

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367 Franck: Paradoxa, Bl. 137 ; Franck: Paradoxa (Hg. Wollgast), S. 346 (Hervorh. d. Verf.).

IV. Wiedergeburt und All-Einheit: Valentin Weigel (1533–1588) 1. Zu Quellenlage und Forschungsfragen Valentin Weigel (1533–1588), eine Generation jünger als Sebastian Franck, schließt in seinem Umgang mit dem Corpus Hermeticum teilweise wörtlich an Francks Texte an. Als Autor der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts jedoch stehen seine Schriften nicht nur in der Tradition reformatorischen Schrifttums und neuplatonischer Mystik, sondern ebenfalls im Kontext der paracelsischen Naturphilosophie. Diese ergänzt den dialektischen Wissensbegriff der mystischen Tradition und der dualistisch geprägten Traktate des Corpus Hermeticum, die die äußere Welt als illusionär betrachten, um den optimistischen Wissensbegriff des Paracelsus und die monistischen Traktate des Corpus Hermeticum, die von einer faktischen Offenbarung Gottes in der Schöpfung ausgehen. Mit explizitem Bezug auf die Namen Hermes (für die weltzugewandte Position) und Paracelsus (für die weltabgewandte Perspektive) reflektiert Valentin Weigel diese Dialektik der Trans­zendenz und Immanenz Gottes als zwei Perspektiven auf dieselbe Sache, die lediglich den Traditionen nach als getrennt erscheinen. Mit dieser Haltung nimmt Weigel eine zentrale Vermittlungsposition zwischen den Texten des mystischen Spiritualismus der frühen Reformation und der Theosophie Jakob Böhmes ein, die traditionell im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Haltungen zur »Leiblichkeit« Gottes, also zum Status der Natur und der Materie, differenziert werden. Mit der Eruierung der Rezeption hermetischer Traktate in Weigels Werk und der weiteren Ausgrenzung seiner Texte aus dem christlichen Diskurs lässt sich verfolgen, wie sich die bereits bei Franck begonnene Ethisierung und Naturalisierung christlicher Denkfiguren zu alternativen Weltdeutungsmodellen und Erzählungen verdichten, die prägende Wahrheitskonzepte der Zeit grundlegend in Frage stellen . Valentin Weigel lebte und starb als unauffälliger Pfarrer im sächsischen Zschopau. Seine erst postum veröffentlichten Texte entfalteten jedoch eine solche historische Sprengkraft, dass sein Name Ende des 17. Jahrhunderts geradezu als Synonym für eine »fanatische Theologie«1 stehen konnte, die bereits frühe gegnerische Schriften mit dem Eigennamen einer »weigelianischen«, also

1 Siehe den vollständigen Titel: Ehre Gott Daniel Colberg: Das Platonisch-hermetisches Christenthum /Begreiffend die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten/ Weigelianer  / Rosencreutzer  /

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 Valentin Weigel (1533–1588)

alternativen Theologie bedachten.2 Somit lässt sich einerseits die Konstruktion des Weigelianismus als eines »Anderen der Orthodoxie« an deren Abgrenzungsbestrebungen rückbinden, die den frühen Pietismus sogar als »Weigelianismus redivivus« bezeichnen konnten.3 Diese Publikationsoffensive, die allerdings erst 20 Jahre nach seinem Tod überhaupt erst einsetzt, trägt entscheidend zur ›Hermetisierung‹ Weigels im kulturellen Gedächtnis bei. Dagegen wurde die eigenständige philosophische, theologische und literarische Leistung Weigels, der als einer der Vorläufer des deutschen Idealismus gilt, bisher eher vereinzelt untersucht und gewürdigt.4 Kein Geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz rückte den

Quäcker / Böhmisten / Wiedertäuffer / Bourignisten / Labadisten / und Quietisten. Franckfurt a.M./Leipzig 1690 (2. Teil 1691). 2 Nicolaus Hunnius: Christliche Betrachtung der Newen Paracelsischen und Weigelinischen Theology. Wittenberg 1622. 3 August Israel: M. Valentin Weigels Leben und Schriften nach den Quellen dargestellt. Zschopau 1888, S. 32. Gilly spricht sogar von der »Erfindung« des Weigelianismus durch die Orthodoxie (Gilly: ›Theophrastia Sancta‹, S. 472). Übersichtlich zur Weigel-Rezeption Stephan Meier-Oeser: Die Valentin Weigel-Rezeption. In: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa. Hg. v. Helmut Holzhey, Wilhelm Schmidt-Biggemann unter Mitarbeit von Vilem Mudroch. Basel 2001 (Grundriss der Geschichte der Philosophie 4), S. 18 ff. 4 Die wegweisende Studie Opels nennt Weigel einen der »originellsten Denker«, dessen Auslassung aus der Geistesgeschichte bereits mit Hegel beginnt: Julius Otto Opel: Valentin Weigel. Ein Beitrag zur Literatur- und Culturgeschichte Deutschlands im 17. Jahrhundert. Leipzig 1864, S. 1. Wichtige exemplarische Stationen der Forschungsgeschichte zu Weigel sind die Arbeiten Winfried Zellers: Die Schriften Valentin Weigels. Eine literarkritische Untersuchung. Vaduz 1965 [Berlin 1940]; sowie eine Anzahl an Aufsätzen vorwiegend in ders.: Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze. Hg. v. Bernd Jaspert. 2  Bde. Marburg 1978. Grundlegend zur Textkritik sind die Arbeiten Horst Pfefferls: Die Überlieferung der Schriften Valentin Weigels (Teildruck). Marburg 1981. Dazu kommen die Einleitungen der kritischen Gesamtausgabe. Einen Schwerpunkt auf das naturphilosophische Werk legt Fritz Lieb: Valentin Weigels Kommentar zur Schöpfungsgeschichte und das Schrifttum seines Schülers Benedikt Biedermann. Zürich 1962. Aus ostdeutscher Perspektive widmet Siegfried Wollgast Weigel verschiedene Arbeiten als einem der »Vergessenen und Verkannten«. Er hat auch die ausführlich kommentierte Leseausgabe ausgewählter Werke Weigels herausgegeben: Valentin Weigel: Ausgewählte Werke. Hg. v. Siegfried Wollgast. Stuttgart/Berlin 1977. Siehe dort ders.: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte. In: Weigel: Ausgewählte Werke, S. 17–164; ders.: Valentin Weigel und seine Stellung in der deutschen Philosophie- und Geistesgeschichte. In: Vergessene und Verkannte. Zur Philosophie- und Geistesentwicklung in Deutschland zwischen Reformation und Frühaufklärung. Hg. v. dems. Berlin 1993, S. 229–253; ders.: Grundlinien oppositionellen weltanschaulich-philosophischen Denkens in Deutschland zwischen 1550 und 1720. In: Vogler (Hg.): Wegscheiden der Reformation, S. 337–368, bes. S. 347 ff. Als komprimierte Einführung siehe das Kapitel in Alexandre Koyré: Mystiques, Spirituels, Alchimistes. Schwenckfeld, Séb. Franck, Weigel, Paracelse. Paris 1955, S. 81–116. Eine gute Einführung in Weigels Werk und in die Forschungsfragen bietet die englische Studie Andrew Weeks: Valentin Weigel (1533–1588). German Religious Dissenter, Spe-



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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»geistvollen« Weigel neben Angelus Silesius (Johannes Scheffler).5 Eine Annäherung an das Werk Weigels hat dabei – mindestens – drei Problemkomplexe zu reflektieren, nämlich erstens das für Weigel-Texte grundlegende Problem ihrer Autorschaft und Überlieferungsgeschichte, zweitens den forschungsgeschichtlichen Fragekomplex nach Weigels Heterodoxie sowie drittens – hier – die Frage nach Gestalt und Auswirkungen hermetischer Einflüsse. Die Frage nach Weigels Autorschaft an den unter seinem Namen überlieferten Schriften ist bis heute schwierigstes Terrain. Die postume Veröffentlichung seiner Texte, deren teilweise kompilatorische Erscheinungsform, die enge Zusammenarbeit Weigels mit seinen Mitarbeitern sowie eine Fülle an nachweislich unechten Schriften, die unter seinem Namen erscheinen, lassen die »Echtheitsfrage« zu einem gordischen Knoten werden. Da die Übergänge zwischen »echt« und »unecht« fließend und philologische Studien noch längst nicht abgeschlossen sind, haftet jeder Auseinandersetzung mit dieser Frage etwas Vorläufiges an. Den Stand der philologischen Forschung zu Weigels Texten zeigt das Lebenswerk Horst Pfefferls, die sukzessiv erscheinende, ausführlich kommentierte historischkritische Ausgabe,6 die auf mehreren Vorstudien aufbauen kann.7 Die pseudoweigelianischen Schriften werden heute zunehmend als eigener Literaturkorpus eingeschätzt, der Fragen nach dem Einfluss und nach produktiver Fortschreibung der Ideen Weigels aufwirft.8 Im Rahmen der hiesigen Fragestellung ist zunächst wichtig, dass in der Fremdwahrnehmung mit dem Einsetzen der orthodoxen Gegenschriften nicht mehr zwischen Weigels Texten und (Pseudo-)Weigeliana unterschieden wird. Man könnte daher mit den diskurstheoretischen Überlegungen Foucaults Weigels

culative Theorist and Advocate of Tolerance. New York 2000; Gabriele Bosch: Reformatorisches Denken und frühneuzeitliches Philosophieren. Eine vergleichende Studie zu Martin Luther und Valentin Weigel. Marburg 2000. 5 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee. Hg. v. Morris Stockhammer. Hamburg 1968, S. 40. 6 Valentin Weigel: Sämtliche Werke. Hg. v. Horst Pfefferl. Stuttgart Bad-Cannstadt, 1996 ff. (Zur Zitierweise: Die Werke Weigels werden, soweit die Bände erschienen sind, nach der von Horst Pfefferl herausgegebenen historisch-kritischen Ausgabe mit dem Kürzel PW zitiert. Noch nicht erschienene Werke wie Vom Ort der Welt oder der Dialog über das Christentum werden nach der Ausgabe Ausgewählte Werke von Siegfried Wollgast mit dem Kürzel AW zitiert.) 7 Pfefferl: Die Überlieferung der Schriften Valentin Weigels. Weitere Untersuchungen zur Literarkritik Winfried Zeller: Die Schriften Valentin Weigels. Eine literarkritische Untersuchung. Vaduz 1965 [Berlin 1940]; ders.: Der frühe Weigelianismus. Zur Literarkritik der Pseudoweigeliana. In: Zeller: Theologie und Frömmigkeit 1, S. 51–84; Opel: Valentin Weigel, S. 88 ff.; Israel: M. Valentin Weigels Leben und Schriften, S. 38 ff. 8 So Weeks: Valentin Weigel, S. 175 ff.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

Autorennamen lediglich als Diskursindikator betrachten.9 Allerdings bestünde angesichts der nach wie vor existierenden Differenzen zwischen weigelschen und pseudo-weigelianischen Schriften die Gefahr, diese Differenzen in der Weite des Diskursbegriffs einzuebnen und ex negativo vergleichbare Unschärfen wie in Überlegungen des 19. Jahrhunderts zu produzieren, als man die Texte undifferenziert demselben »Gedankenkreis« zuordnete.10 Die (pseudo-)weigelianischen Schriften sind teilweise hoch spekulativ und umfassen ein weites Spektrum an Alchemie, Astrologie, Magie und Chiliasmus, das in den gesicherten WeigelSchriften nicht in dieser Dichte vorkommt. Die Differenzen lassen sich jedoch vor allem graduell, also quantitativ sowie stilistisch bestimmen.11 Es kann nicht von Interesse sein, die Differenzierungen sowohl innerhalb des weigelianischen Diskurses wie auch nach außen verschwimmen zu lassen, da er so mit den gesamten spekulativen Diskursen der frühen Neuzeit zu der Einheitsfront verschmelzen würde, wie sie um 1690 von Colberg wahrgenommen wird. Die vorliegende Studie fragt in ihrem Analyseteil nach konkreten Einflüssen von Texten auf Texte. Dabei liegt der Schwerpunkt zunächst pragmatisch auf den Schriften, die historisch als Weigels Texte wahrgenommen wurden. Somit hat die Frage ihrer Autorschaft nicht den Stellenwert, den sie bei den primär literarkritischen Studien hat, doch wird sie soweit möglich nach dem Stand des Wissens mit reflektiert.12 In der Forschung hat die Frage nach Weigels Ortho- oder Heterodoxie lange Zeit eine wichtige Rolle gespielt. Verschiedene Studien betonen entsprechend unterschiedliche Sichtweisen, sodass die Positionen zwischen dem Versuch einer Integration Weigels in die Frühgeschichte des Pietismus einerseits und

9 Foucault zieht sogar das Beispiel Hermes Trismegistos für seine Überlegungen zu Autorschaft und Diskursbegriff heran: Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hg. v. Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner u. Bernd Stiegler. Stuttgart 1996, S. 233–247, hier S. 237. 10 Ludolf Pertz: Beiträge zur Geschichte der mystischen und ascetischen Literatur. In: Zeitschrift für historische Theologie 1857 (N.F.), S. 29; Bosch: Reformatorisches Denken, S. 149. 11 Koyré: Mystiques, Spirituels, Alchimistes, S. 116. In einem Vergleich zwischen einer authentischen und einer nicht authentischen Predigt nennt Weeks als inhaltliche Kriterien für Weigels Autorschaft die thematische Betonung der Freiheit, Selbsterkenntnis und Verantwortung, die zeitlose Kontemplation von Gut und Böse sowie die klare, kohärente und ruhige Entwicklung der Gedankengänge. Dagegen ist der unechte Text durch den Gestus einer alarmierten prophetischen Rede sowie durch kriegerische Anspielungen und Chiliasmus gekennzeichnet (Weeks: Valentin Weigel, S. 143 ff.). 12 Ähnlich argumentieren zur Begründung wissenschaftlicher Analysen zum jetzigen Zeitpunkt auch Bosch: Reformatorisches Denken, S. 147; Ernst-Wilhelm Kämmerer: Das Leib-Seele-Geist Problem bei Paracelsus und einigen Autoren des 17. Jahrhunderts. Wiesbaden 1971, S. 122.



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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einer Betonung seines kritischen Einzelgängertums andererseits liegen.13 Eine Verortung seiner Texte in ihren intellektuellen Kontexten sowie eine Berücksichtigung der Genese des Weigel-Bildes in der späteren Geschichte zeigt zunächst ein komplexes Bild, das eindeutige Zuordnungen hinterfragt und nach Selbstund Fremdwahrnehmung auffächert. Werkgeschichtlich schöpft Weigel nicht nur aus antiken oder nicht-kanonischen Quellen (Hermes, Proklos, Paracelsus), sondern genauso aus der christlichen Tradition (Boethius, Augustinus, Luther, Tauler, Theologia deutsch, Cusanus).14 Historisch blieb er zeitlebens ein Anhänger der Reformation und vor allem des jungen Luther, der allerdings die mystischen Implikationen aus dessen früher Phase gegen die zerstrittenen protestantischen Parteien um 1570 betont.15 Der gelassene Ton seiner Schriften wird zusehends kritischer,16 und in seinem literarischen Hauptwerk, dem Dialog über das Christentum, artikuliert er eine scharfe Kritik an der zeitgenössischen Erscheinungsform des Christentums, nicht ohne jedoch in der Hauptfigur des Auditor – eines lutherischen Laienchristen – ein Gegenideal des mystischen, ›wahren‹ Christentums zu bekräftigen. Dieses Ideal enthält Züge, die über die diskursmächtigen Formulierungen dessen, was als »christlich« zu gelten habe, sowohl nach den protestantischen Bekenntnisschriften als auch dem katholischen tridentinischen Konzil weit hinausgehen.17 Die offen kirchenkritischen Tendenzen wie die Aufrufe, sich selbst ein Urteil zu

13 Zum Überblick über die Forschungslinien siehe Weeks: Valentin Weigel, S. XI ff. Gegen eine Häretisierung Weigels richten sich vorwiegend die Studien von Israel, Opel, Zeller, Pfefferl, in der jüngeren Pietismusforschung auch Brecht, wohingegen insbesondere Wollgast aber auch Koyré die Perspektive auf Weigel als kritischen Oppositionellen betonen. Die Arbeiten von Weeks und Bosch verzichten dagegen bewusst auf eine eindeutige Zuordnung. Dem liegt die – auf die vorliegende Studie übertragbare  – Problematisierung eines philosophischen »Product labelings« zugrunde, das Theorien auf einzelne Inhalte wie Humanismus oder Neuplatonismus reduziert und dabei nicht reflektiert, dass dieselben Inhalte oft unterschiedlichen Theorien zugeschrieben und anschließend anders bewertet werden können. Siehe dazu Weeks: Valentin Weigel, S. 27. 14 Zu einem einführenden Überblick über Weigels Quellen ebd., S. 43 ff. 15 Zur Bedeutung des jungen Luther (1517–1522) gerade für Weigels Selbstverständnis als Lutheraner siehe Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte, S. 94 ff. Er betont, dass Luther im Spiritualismus und radikalen Pietismus vor allem als Mystiker rezipiert wurde (S. 97), dessen Impulse aus den jungen Jahren nicht hoch genug eingeschätzt werden können (S. 94). Luther wirkte hier durch seine Thesen, die Herausgabe der Theologia deutsch, das Konzept der Gelassenheit, die Übersetzung der Bibel, und den Aufruf, diese selbst zu lesen. 16 Eine langsame Genese von Weigels oppositioneller Position gilt als sicher. Vgl. Winfried Zeller: Valentin Weigel und die Augsburgische Konfession. Zu einem neuen Weigel-Autograph. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit 1, S. 39–50. 17 Entsprechend lässt sich auch von einem häretischen Potenzial in Weigels Soteriologie sprechen. Kemper: Deutsche Lyrik 3, S. 53 ff.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

bilden oder die Nachfolge Christi nicht von äußerer Vermittlung abhängig zu machen sind der Selbstwahrnehmung nach als Rückgriff auf den frühen Luther konzipiert, allerdings im Bewusstsein artikuliert, dass diese Formulierungen in der Fremdwahrnehmung dem sicheren Verdammungsurteil als Heterodoxie anheimfallen mussten – was sie auch taten. Auch in der frühen historischen Rezeptionsgeschichte sind die Aussagen über Weigel, die die kulturelle Erinnerung geprägt haben, je nach Position des Sprechers äußerst unterschiedlich. Während orthodoxe Kritiker den systematischen Nachweis der Verflechtung weigelianischer Schriften in den heterodoxen und insbesondere hermetischen Diskurs zu erbringen suchen, gibt es aus den Reihen der Pietisten vielsagende Versuche einer Ehrenrettung: Gottfried Arnold reiht Weigel in die Reihe der Verketzerten in seiner Unpartheiischen Kirchen- und Ketzerhistorie mit ein und erstellt ein Verzeichnis der Druckschriften Weigels, das für weitere Verzeichnisse in den Unschuldigen Nachrichten und bei Zedler grundlegend wird.18 Der junge Dippel fordert dazu auf, Weigels Texte selbst zu lesen und sich ein eigenes Urteil über sie zu bilden, bevor man den öffentlichen Negativbildern Glauben schenke. Leibniz fertigt lange handschriftliche Exzerpte aus Weigels Schriften an und lobt ihn in der Theodizee.19 Das publizistische Interesse an weigelianischen Schriften ist um 1700 präsent. Nach einem Nachlassen der Drucke um die Mitte des 17. Jahrhunderts erscheinen von 1697 bis 1702 im Jahresabstand ein bis drei weigelianische und vor allem pseudoweigelianische Drucke.20 Die Unschuldigen Nachrichten, das Sprachrohr der Orthodoxie, publiziert 1702 eine Rezension zum 1701 in Amsterdam gedruckten Genesis-Kommentar21 sowie zwischen den Jahren 1713–1751 sechs weitere Artikel zu Weigel.22 Die Brüchigkeit der Ortho- oder Heterodoxiezuschreibungen zu Weigel sind entsprechend an divergierende Vorstellungen darüber gebunden, was als »christlich« zu gelten habe und welchen Stellenwert dem mystischen Konzept des inneren Christus bzw. des inneren Worts zukommt. Dieses Problemfeld wird noch komplexer durch Beispiele einer Ablösung einzelner Topoi von seinem Namen durch anonyme Rezeption im Diskurs, sodass sie in Texten kanonischer Autoren wieder auftauchen und nun in anderen Kontexten anders bewertet werden.

18 Pfefferl: Die Überlieferung der Schriften Valentin Weigels I, S. 37; Gottfried Arnold: Unpart2 heiische Kirchen= und Ketzerhistorie. Schaffhausen 1741, Bd. 2, S. 225. 19 Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte, S. 71. 20 Pfefferl: Die Überlieferung der Schriften Valentin Weigels II, Kapitel B, S. IV f. 21 Fritz Lieb: Valentin Weigels Kommentar zur Schöpfungsgeschichte und das Schrifttum seines Schülers Benedikt Biedermann. Zürich 1962, S. 43. 22 Bernard Gorceix: La Mystique de Valentin Weigel (1533–1588) et les Origines de la Théosophie allemande. Lille 1972, S. 27.



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Soweit es sich nachverfolgen lässt, entfalten sie eine oft unintendierte Produktivität und erfahren kreative Fortschreibungen, die konfessionelle Gruppierungen zu unterlaufen vermögen. So ist im Fall Weigels als prominenteste »Durchbrechung« der Ausgrenzungsstrategien die Übernahme einzelner Teile seines Gebetsbüchleins in Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum bekannt.23 Arndt sah sich zwar zu einer späteren Distanzierung von Weigel und zur glaubhaften Versicherung deutlicher Umarbeitungen genötigt, andererseits blieben zumindest wirkungsgeschichtlich die Berührungspunkte zwischen Arndts Vorstellung des »wahren« Christentums und mystischen Interessen der Spiritualisten so spürbar, dass sich zwei Rezeptionlinien, eine orthodoxe und eine spiritualistische von Arndts Werk durch das 17. Jahrhundert hindurch entwickelten.24 Über Arndts enorme Wirkungsgeschichte im Protestantismus fand dieses Gedankengut weite Verbreitung und – wiederum über einen anonymen Druck – sogar einen Weg bis in die Jesuitenbibliothek in Madrid, wo dieser nun anonyme Text als hervorragende asketische Literatur wertgeschätzt wurde.25 Eine vergleichbare unerwartete Nähe nominell konträrer Positionen deutet sich an, wenn in der protestantischen Theologie ein möglicher Einfluss weigelscher Schriften auf die Wiedereinführung der Unio cum Christo in der Orthodoxie erörtert wird.26 Dabei wird die konfessionsübergreifende Fortschreibung von Denkfiguren, die die orthodoxe Literatur als »weigelianisch« bezeichnet, auch über die Benutzung von Quellensammlungen insbesondere mystischer Literatur des Mittelalters ermöglicht. So ist für die Rückbindung des weigelschen Werks an die mittelalterliche Mystik der Baseler Taulerdruck aus dem Jahr 1522 maßgeblich, der zu einem

23 Detailliert Horst Pfefferl: Einleitung. In: Valentin Weigel: Gebetbuch (Büchlein vom Gebet). In: PW 4, S. XLVIII. Entsprechend wurde das Gebetbüchlein als Weigels wirkungsreichste Erbauungsschrift bezeichnet. Winfried Zeller: Der ferne Weg des Geistes. Zur Würdigung Valentin Weigels. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit 2, S. 89–102, hier S. 95. Weiterführend Gorceix: La Mystique de Valentin Weigel, S. 303 ff. 24 Zur Domestizierung der einstigen Programmschrift, die sogar Fakultäten entzürnte, zum privaten Erbauungsbuch u. a. durch die Publikation weiterer Bücher Geyer: Verborgene Weisheit I, Buch 2, S. 4; zur Integration Arndts neben Weigel in die Traditionslinie des Spiritualismus durch spätere Rezipienten ebd., Buch 1, S. 49 f. Vor dem Hintergrund dieser unklaren Zuordnung kann Weigel in der Pietismusforschung auch als Vorläufer des Pietismus gesehen werden: Martin Brecht: Der Beitrag des Spiritualismus der Reformationszeit zur Erneuerung der lutherischen Kirche im 17. Jahrhundert. In: Vogler (Hg.): Wegscheiden der Reformation, S. 369–380. 25 Hans Schneider: Johann Arndt als Paracelsist. In: Neue Beiträge zur Paracelsus-Forschung. Hg. v. Peter Dilg u. Hartmut Rudolph. Stuttgart 1995, S. 89–110, hier S. 89. 26 Theodor Mahlmann: Die Stellung der ›unio cum Christo‹ in der lutherischen Theologie des 17. Jahrhunderts. In: Repo/Virke (Hg.): Unio, S. 72–199.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

Drittel (anonyme) Eckhart-Predigten enthält.27 Einige Texte wie beispielsweise Meister Eckharts Predigt von der geistlichen Armut sind auch in Johannes Schefflers Der Cherubinische Wandersmann als Quelle benutzt worden.28 Die Heterodoxieurteile über inhaltlich eng verwandte Denkfiguren unterliegen dabei je nach Kontext eklatanten Unterschieden. Während beispielsweise die Idee, dass der Himmel im Menschen liege, in der Weigel-Rezeption zum Inbegriff der hermetischen Häresie wurde, erlangte dieselbe Idee bei Scheffler als poetischer Ausdruck mystischen Denkens das »nihil obstat« der katholischen Zensurbehörde und einen festen Platz in deutschen Literaturgeschichten.29 Jedoch schrieb der Konvertit Scheffler, der als Freund Abrahams von Franckenberg ebenfalls mit dem theosophischen Milieu verbunden war,30 auch in einem anderen Umfeld als Weigel: Während Weigel im späten 16. Jahrhundert durch diese Ideen in ein striktes Oppositionsverhältnis zu diskursmächtigen Vertretern seiner Konfession geriet, fungierte Scheffler Mitte des 17. Jahrhunderts nach seiner Konversion zum Katholizismus als willkommenes Werkzeug in den Händen der Vertreter seiner Konfession, die seine Texte wie seine Person politisch für eine offensiv betriebene Rekatholisierung Schlesiens einzusetzen wussten. Angesichts der angedeuteten Brüchigkeit fixer Heterodoxiekonzepte und entsprechenden Zuschreibungen differenziert der hiesige Ansatz explizit zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung in Weigels Texten. Dabei liegt der Akzent auf der philologischen Eruierung von Weigels Quellen und dem interpretierenden Nachvollzug des Rezeptionsprozesses hermetischer Texte. In teilweise klein-

27 Winfried Zeller: Der Baseler Taulerdruck von 1522 und die Reformation. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit 1, S. 32–38. Grundlegend zu Weigels Auseinandersetzung mit Eckhart Winfried Zeller: Meister Eckhart bei Valentin Weigel – Eine Untersuchung zur Frage der Bedeutung Meister Eckharts für die mystische Renaissance des 16. Jahrhunderts. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit 2, S. 55–88. 28 Zeller: Meister Eckhart bei Valentin Weigel, S. 64, Fn. 37. 29 »Christ mein wo lauffstu hin? der Himmel ist in dir. // Was suchstu jhn dann erst bey eines andern Thür?« Angelus Silesius (Johannes Scheffler): Cherubinischer Wandersmann. Hg. v. Luise Gnädiger. Stuttgart 1984, I, 298 (S. 70). Vgl. entsprechend Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum II, S. 127; vgl. ebenso Johannes Schelhammer: Widerlegung der vermeynten Postill Valentini Weigelij In welcher der Satan in diesem letzten Seculo, seine Hellische Gifft vnd Grundsuppe aller Lesterung vnd Lügen wider Christum […] ausgeschüttet hat. Leipzig 1621, S. 314. Zu Schefflers Leben, Wirken und deutlich konfessionstreuer Orientierung in späteren Lebensjahren Erich Haring: Leben und Werke des Angelus Silesius. In: Angelus Silesius. Aus dem Cherubinischen Wandersmann und anderen geistlichen Dichtungen. Stuttgart 1990; Kemper: Deutsche Lyrik 3, S. 208 ff. Siehe dort zur Spurenlese heterodoxer Einflüsse S. 216 ff. 30 Weiterführend Gnädiger: Nachwort. In: Cherubinischer Wandersmann, S. 365–414, hier S. 369.



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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schrittigen Analysen soll damit nachvollziehbar werden, wie die Rezeption und sinnstiftende Integration hermetischer Zitate funktioniert, insbesondere da es sich um philologisch nachprüfbare und nachvollziehbare Prozesse handelt und gerade nicht um textferne »Schwärmerei«. Damit allerdings wird das alte Heterodoxieurteil als produktiver und kreativer Akt der Neubestimmung alter Wissensbestände und auch als Akt der Transgression neu lesbar. Die Frage nach Heterodoxie und Transgression ist schließlich mit der Frage nach hermetischen Einflüssen in Weigels Schrifttum eng verwandt, wenn auch nicht deckungsgleich. Weigel wird nicht nur in der Fremdwahrnehmung als Hermetiker bezeichnet, er hat auch nachweislich hermetische Texte gelesen und arbeitet sie kreativ in seine Texte ein.31 Bezüglich der Fragen nach Heterodoxie und Hermetik gilt es, einerseits Weigels Selbstverständnis als Bewahrer eines christlichen Erbes, wie es die mystische Frühzeit der Reformation formuliert hatte, zu berücksichtigen.32 Andererseits heißt es aber auch, die Verketzerung seiner Texte gerade als hermetisch, heidnisch und teuflisch, die für die Ausgrenzung Weigels aus dem Kanon der christlichen Texte und für die Entstehung des Weigel-Bildes als Hermetiker um 1700 ausschlaggebend waren, nicht zu übersehen. Nicht ohne Grund hatte Weigel auf eine Publikation seiner Texte zu Lebzeiten verzichtet. In seinem Dialog über das Christentum findet sich eine literarische Reflexion der Motive, nämlich die Angst vor Zerstörung der bürgerlichen Existenz als milde, die konkrete Lebensgefahr angesichts des Ketzereiverdachts als harte Folge einer Publikation.33 Im Folgenden soll zunächst eine Bestandsaufnahme der tatsächlichen Zitate aus den hermetischen Schriften einerseits sowie eine Verfolgung der »Herme-

31 Trotz enger Verwandtschaft zu paracelsischen Texten fokussiert die vorliegende Fragestellung primär auf die hermetischen Texte im engeren Sinn, nämlich auf die nachverfolgbaren Zitate aus dem Corpus Hermeticum. Zu Weigels Rezeption paracelsischen Gedankenguts siehe Horst Pfefferl: Die Rezeption des paracelsischen Schrifttums bei Valentin Weigel. Probleme ihrer Erforschung am Beispiel der kompilatorischen Schrift ›Viererley Auslegung von der Schöpfung‹. In: Dilg/Rudolph (Hg.): Neue Beiträge zur Paracelsus-Forschung, S. 151–168; Carlos Gilly: Vom ägyptischen Hermes zum Trismegistos Germanos. Wandlungen des Hermetismus in der paracelsistischen und rosenkreuzerischen Literatur. In: Alt/Wels (Hg.): Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit, S. 71–131, hier S. 123 ff. 32 Insbesondere Weeks interpretiert die Intention in Weigels Werk als Versuch, Aspekte des lutherischen Geists gegen die Verhärtungen im Zuge der Institutionalisierung und Konfessionalisierung zu verteidigen (Weeks: Valentin Weigel, S. XIV). 33 Weigel: Dialog über das Christentum. In: AW, S. 503: »Denn wo man einen höret mucken vom inneren Wort oder Gehör, von der Eingebung des Geistes, von der unsichtbaren Kirche unter allen Völkern, so schreiet man ihn alsbald aus als einen Schwärmer, Ketzer, Verführer, Schwenckfeldianer, Wiedertäufer, himmlischen Propheten etc. und ist kaum sicher seines Lebens.«

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tisierung« im Sinne einer Stigmatisierung Weigels in der Fremdwahrnehmung andererseits erfolgen. Da namentliche Referenzen an das Corpus Hermeticum in Weigels Werk verhältnismäßig selten auftreten, die Texte aber topologisch und diskursiv eng mit mystischen Texten des Mittelalters, mit Franck, Cusanus,34 Luther und Paracelsus verflochten sind, lässt sich keine isolierte Untersuchung vornehmen. Vielmehr gilt es zu verfolgen, wie die hermetischen Zitate wie Puzzlestücke neben mystischen Denkfiguren in ein eigenes Denkgebäude zur wechselseitigen Bestätigung eingefügt werden. Tertium comparationis sind in Weigels Argumentation seine herausragenden Reflexionen zur Epistemologie,35 die auf der charakteristischen trichotomen Anthropologie basieren. Nebenbei lässt sich anhand der Anthropologie die Wandlung einer Denkfigur zum Häresiekennzeichen verfolgen und beobachten, wie die Aktualisierung eines Topos in verändertem Kontext dann als ketzerisch wahrgenommen wird, wenn er erstens auch mit Zitaten aus Texten des Paracelsus oder dem Corpus Hermeticum belegt wird und zweitens – und das dürfte das Entscheidende sein – wenn er abweichende Interpretationen von Systemstellen christlicher Dogmengebäude bzw. Metaerzählungen impliziert, die sich in der Kernfrage nach menschlicher Autonomie gegenüber kirchlichen Machtansprüchen bündeln lassen. Schließlich gilt es zu reflektieren, dass einige Referenzen an Hermes vermutlich nicht von Weigels Hand sind.36 Die genaue Überprüfung der Zitate ergibt

34 Auch Nikolaus von Kues gehört in der historischen Wahrnehmung zu den ambivalenten Figuren. Als Katholik und Christ gilt er aus christlicher Perspektive als christlicher Theoretiker der Coincidentia oppositorum. Dabei wurde Cusanus für diese Idee aus seinem Hauptwerk De docta ignorantia/Über die gelehrte Unwissenheit (1440), das darüber hinaus aus dem Asclepius-Dialog zitiert, mit dem klassischen Vorwurf des Pantheismus konfrontiert. Er gehört zu den wichtigen Vermittlern eckhartscher Theoreme wie der Differenzierung zwischen Ratio und Intellectus als unterschiedliche Seelenvermögen sowie den Gedanken der Nichtlokalität des Geistes. Da diese Theoreme bei Rezipienten der cusanischen Schriften als ›hermetisch‹ wahrgenommen wurden, erhält der Cusaner inzwischen auch einen festen Platz als hermetischer Theoretiker in jüngeren Studien. Siehe Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 84 ff.; Laqué: Hermetik und Dekonstruktion, S. 53 ff. 35 In einem ausführlichen Aufsatz widmet sich Heinz Längin bereits 1941 der Erkenntnislehre Weigels und bemerkt, dass sich Weigel als einer der ersten Philosophen der Erkenntnisfrage als »Grundfrage der deutschen Philosophie« zuwendet. Gegenüber anderen Mystikern zeichne ihn vor allem seine philosophische »wissenschaftliche Haltung« aus (ders.: Grundlinien der Erkenntnislehre Valentin Weigels. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 41 [1932], S. 435–478, hier S. 435 sowie 440). 36 Dies wäre zu vermuten in der nur teilweise authentischen Kirchen- oder Hauspostill sowie in der Schrift Vom Beten und Nichtbeten, die dem weigelschen Gebetbüchlein beigefügt ist und Hermes gleich dreimal hintereinander zitiert. In: PW 4, S. 225 ff.; vgl. zum Text Pfefferl: Einleitung. In: PW 4, S. LVI.



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dennoch, dass sie jeweils korrekt aus dem Corpus Hermeticum zitiert sind und größtenteils an Stellen eingefügt werden, die inhaltlich mit Weigels Gedankengängen übereinstimmen, sich allerdings durch größere Emotionalität oder Spekulationsfreude auszeichnen. Da auch diese Textstellen vielsagend für die übergeordnete Fragestellung sind, wann und wie die Texte des Hermes als sinnstiftend rezipiert worden sind, sollen sie nicht von der Analyse ausgeschlossen werden.

1.1. Zu Autor, Werk und Kontext Valentin Weigels Leben und Werk sind eng mit den sich zuspitzenden konfessionalistischen Spannungen im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts verbunden. Dies gilt insbesondere für die Diskrepanz zwischen seinem unauffälligen Leben und dem Sturm der Entrüstung, den seine fast durchweg in gelassenem Ton verfassten Texte bei ihrem Bekanntwerden 21 Jahre nach seinem Tod auszulösen vermochten. Weigel kam im Jahr 1533 in Hayn, dem heutigen Großenhain in Sachsen, zur Welt.37 In einem eigenhändig geschriebenen Lebenslauf berichtet er lakonisch von seinem Bildungsweg, der ihn zunächst sechs Jahre auf die Meißener Fürstenschule führte, bevor er anschließend mit der Unterstützung des Kurfürsten August neun Jahre die Universität Leipzig besuchen konnte. Nach dem Erwerb des Bakkalaureus und des Magisters erlaubte ihm die fortwährende Unterstützung des Kurfürsten ein weiteres vierjähriges Studium an der Universität Wittenberg, nach dem er zum Pfarrer in Zschopau berufen wurde.38 In Zschopau, wo er 1567 Pfarrer wurde, heiratete Weigel 1568 die Pfarrerstochter Katharina Beuche (Beich). Dem Paar wurden die drei Kinder Theodora (*1569), Nathanael (*1571) und Christian (*1573) geboren. Aus der Zeit seines Lebens als Pfarrer gibt es wenig gesichertes Wissen. Die einzige Predigt, die zu seinen Lebzeiten gedruckt wurde, ist eine Leichenpredigt für Martha von Rüxleben, der Frau des kurfürstlichen Oberjägermeisters.39 Es existieren Berichte über sein Talent zu predigen und über sein Engagement in der kirchlichen Armenfürsorge.40 Kursierende, aber historisch nicht mehr zu verifizierende Geschichten zeichnen das Bild eines von seiner

37 Weigels Leben skizzieren Opel: Valentin Weigel, S. 4 ff.: Israel: M. Valentin Weigels Leben und Schriften, S. 4 ff.; Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte, S. 33 ff.; Pfefferl: Die Überlieferung der Schriften Valentin Weigels (Teildruck), S. 5 ff.; Weeks: Valentin Weigel, S. 5 ff.; Bosch: Reformatorisches Denken, S. 143 ff. 38 Zit. n. Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte, S. 33 f. 39 Gedruckt in PW 9, S. 93 ff.; dazu Pfefferl: Einleitung, S. XXXI. 40 Bosch: Reformatorisches Denken, S. 145.

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Gemeinde für seine gewissenhafte Amtsführung und Menschlichkeit geschätzten Pfarrers. So habe Weigel ein Geldgeschenk des Kurfürsten an die Armen seiner Gemeinde verschenkt.41 Die Überprüfungen seiner Rechtgläubigkeit bei Visitationen sind in den meisten Fällen positiv. Dabei werden seine Bildung, die Predigten, die Amtsverwaltung und seine moralische Haltung von Gemeinde wie Visitatoren gerühmt. Dennoch geben die erhaltenen Akten Einblick in eine Atmosphäre von Kontrolle und Angst, dienten die Kirchenvisitationen schließlich der Überprüfung, inwieweit die Pfarrer in Sachsen der »reinen« Lehre treu blieben. Der Vorwurf der Abweichung konnte sich in diesem Zusammenhang zur existenziellen Gefahr ausweiten.42 So sah sich auch Weigel mit Denunziation und dem Vorwurf der Heterodoxie konfrontiert, was er 1572 mit einer Verteidungsschrift an den Chemnitzer Superintendenten auszuräumen suchte.43 Zwar konnte Weigel die zeittypischen Verdächtigungen der Häresie in diesem Fall zerstreuen. Dennoch dürfte die Gefahr, die von den Kirchenvisitationen und der präsenten Gedankenkontrolle ausging, dazu beigetragen haben, dass Weigel im Jahr 1577 seine Unterschrift unter die Konkordienformel setzte. In einer Passage des Dialogs über das Christentum findet sich eine Stelle, die als literarische Reflexion jener Situation und seiner Beweggründe gelesen werden kann. Sie widerlegt historische Spekulationen über eine vermeintliche Unaufrichtigkeit des Unterzeichnenden und lässt stattdessen als Beweggrund die pragmatische Entscheidung erkennen, seine »Freiheit des Geistes« durch eine Abstinenz von konfessionellen Streitigkeiten zu bewahren, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt aussichtslos erschienen. Auditor: Zudem war es [der Akt der Unterzeichnung] eine schnelle Überhuiung oder Übereilung, daß man nicht etliche Tage oder Wochen solche Dinge einem jeden insonderheit zu überlesen vergönnete, sondern [es] nur in einer Stunde dem ganzen Haufen vorgelesen

41 Israel: M. Valentin Weigels Leben und Schriften, S. 9. 42 Zu Stationen der Todesdrohungen für Häretiker siehe Weeks: Valentin Weigel, S. 21 f.: Ab 1530 forderten Luther und Melanchthon die Todesstrafe für Abweichler. Die Wittenberger Reformbewegung sah die Todesstrafe als legitimes Mittel auch gegen friedliche Häretiker. Im Jahr 1557 wies Sachsen ›falsche‹ Lehrer aus und verpflichtete alle Untertanen zum sonntäglichen Gottesdienst. Nun drohten Verweigerern Bußgelder, Konfiszierung des Eigentums, Exil und erzwungener Kirchenbesuch in Ketten. 43 Bosch: Reformatorisches Denken, S. 175; Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte, S. 39 f. Siehe insbesondere die Aktenauszüge zum ›Fall‹ Weigel S. 40: »M. Valentinus Weigel pfarrherr vff der Tschopa sol auf der Cantzel gesagett habben, R.P. Lutherus sey nicht rein in der lehre gewesen, als ich aber fragte, ob er auch seine wersleute hette, oder hette es selbst von ihnen (ihme?) gehöret, gab er zur antwortt, er hätte es von hören sagen, wüste keinen mitt namen zu nennen, von dem ers gehöret!«



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und darauf die Subskription gefordert [hat]. Zum dritten wollte mir armem Zuhörer nicht gebühren, dem Teufel ein Freudenmahl zu machen und anzurichten, daß der ganze Haufen geschrien hätte: Da, da, wir haben es wohl gewußt, er ist nicht unserer Lehre gemäß. Also hätte mein unbeweglicher apostolischer Grund müssen für eine verlogene Lehre gehalten werden, welches Gott nicht gefällig [ist], die »Perlen vor die Säue« zu schütten oder »das Heiligtum den Hunden zu geben«. Zum Lohn hätten sie mich zertreten und zerrissen, wäre mir billig geschehen, daß ich vor der Zeit mir mein Leben hätte abgekürzt. Mein Bekenntnis wäre keinem unter dem gemeinen Haufen nütze gewesen, nur ärgerlich. Keiner wäre von der falschen Lehre abgetreten, mir wäre geschadet worden und ihnen nichts geholfen, und viele Dinge wären dahinten geblieben durch mein unzeitiges Bekennen. Gott wird mich wohl heißen, wenn ich soll sprechen zu den hohen Schulen: Sie kennen Christus nicht. Wer unberufen läuft, der richtet nichts aus; [ich] mache mir also gar kein Gewissen mit diesem Unterschreiben. Ich bleibe, verharre und sterbe in diesem Grund, den ich euch erzählet habe. Die Welt mag von mir urteilen was sie will, dieweil ich eben damit meine Freiheit des Geistes bezeuget habe, daß ich sein konnte unter allen Sekten ohne Schiffbruch meines Glaubens, ohne Verletzung meines Gewissens. Mein Schatz liegt im Herzen, den kann mir keine 44 Sekte nehmen, es sei Papst, Luther, Zwingli oder wer da will.

Wenn diese literarische Figurenrede im Dialog über das Christentum die Situation des Autors Weigel reflektieren sollte, dann verdient auch die Überlegung Aufmerksamkeit, nicht durch unzeitiges Bekennen viele Dinge daran zu hindern, in die Welt zu kommen. Weigel hinterließ ein beachtliches Werk, das teilweise in enger Zusammenarbeit mit Freunden und Mitarbeitern wie dem Kantor Christoph Weickhart oder seinem Amtsnachfolger Benedikt Biedermann entstanden ist.45 Es ist darüber hinaus in größere Konstellationen oppositionellen Denkens gegenüber konfessionalistischer Machtpolitik verflochten, zu denen auch die Bewegung des Paracelsismus gehört. So bestand brieflicher Kontakt zwischen Zschopau und Görlitz, einer zeitgenössischen Hochburg des Paracelsismus bereits zu einer Zeit, als Jakob Böhme noch ein Kind war. Dieser Austausch hat

44 Weigel: Dialog über das Christentum. In: AW, S. 508 f. (Hervorh. d. Verf.). Gabriele Bosch kommentiert die Frage nach einer vermeintlichen Unaufrichtigkeit, sie bezeuge »wenig Einfühlungsvermögen« angesichts der kirchenpolitischen Oppression und erinnert daran, dass Weigel Familienvater und Autor nicht-kanonischer philosophischer Werke war, die in seinem Haus gefunden werden konnten. Bosch: Reformatorisches Denken, S. 145 f. Ab 1574 wurden Kirchenvisitationen halbjährlich durchgeführt. Wollgast referiert die Anleitung des Kurfürsten zu Kirchenvisitationen aus dem Jahr 1578, nach der nicht nur die Überzeugung des jeweiligen Pfarrer geprüft werden solle, ob er die Konkordienformel »von Herzen« bejahe, sondern wo auch sein Pfarrschrank nach »verdächtigen, vor allem calvinistischen bzw. melanchthonischen Büchern« durchsucht werden sollte. Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte, S. 31. Weigel lebte angesichts seines schriftstellerischen Schaffens nicht ungefährlich. 45 Zu beiden siehe Pfefferl: Die Überlieferung, S. 18 f.; Pfefferl: Christoph Weickhart als Paracelsist. Zu Leben und Persönlichkeit eines Kantors Valentin Weigels. In: Telle (Hg.): Analecta Paracelsica, S. 407–423; Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte, S. 41 ff.

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sich nachweislich in Weigels naturphilosophischen Werken niedergeschlagen46 und bezeugt eine charakteristische Auseinandersetzung mit einem vergleichbaren Problemüberhang, an dem auch die paracelsistischen Texte die Hauptrichtungen der aristotelischen und orthodoxen Rechtgläubigkeit verließen.47 Weigels Texte sind im Spannungsfeld konkurrierender Ansprüche um die ›rechte‹ Lehre innerhalb des Protestantismus entstanden. Nicht nur zwischen den Konfessionen, sondern auch innerhalb des Protestantismus herrschte zwischen einzelnen Gruppen über Jahrzehnte hinweg vollständige Zerstrittenheit in Glaubens- und damit »Wahrheits-«fragen, die sich nur kurzfristig in der gemeinsamen Abwehrfront gegen Andreas Osianders (1498–1552) Infragestellung der forensischen Imputationslehre durch die These einer Iustitia essentialis im Jahr 1550 unterbrechen ließ. Weigels Dialog über das Christentum reflektiert die Angst der Orthodoxie vor der osiandrischen These noch im Jahr 1584, nachdem sie 1577 in der Konkordienformel für häretisch erklärt worden war.48 Streitpunkte betrafen die Frage nach der Erbsünde und dem Grad des Verderbens der menschlichen Natur, die Frage nach einem freien Willen oder nach der physischen Präsenz Christi beim Abendmahl, wobei die theologischen Fragen mit handfesten Interessenskonflikten um politische Einflussbereiche verschränkt waren. Am Beispiel von Weigels Heimat Sachsen lässt sich die politische Dimension der Kämpfe zwischen den Flacianern, die sich als Gnesio-Lutheraner als rechtmäßige Nachfolger Luthers sahen und den Philippisten, die sich auf Melanchthon beriefen, verfolgen.

46 Der Kontakt ist durch einen Brief an Abraham Behem aus dem Jahr 1579 belegt, dessen paracelsischer Inhalt wiederum für Weigels naturphilosophische Schrift Viererley Auslegung von der Schöpfung bedeutsam werden sollte. Zum Kontakt nach Görlitz Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte, S. 44; Wollgast: Valentin Weigel und Jakob Böhme: Vertreter einer Entwicklungslinie progressiven Denkens in Deutschland. In: Protokollband Jakob-BöhmeSymposium in Görlitz am 15. und 16.11.1976, S. 67–86. Detailliert zu paracelsistischen Kreisen in Görlitz Ernst-Heinz Lemper: Voraussetzungen zur Beurteilung des Erfahrungs- und Schaffensumfelds Jakob Böhmes. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jakob Böhmes und seiner Rezeption. Hg. v. Jan Garewicz u. Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994, S. 41–69, zu Weigel S. 49. Zu weiteren Interferenzen Zeller: Der ferne Weg des Geistes, S. 98 f. 47 Wilhelm Kühlmann: Paracelsismus und Hermetismus: Doxographische und soziale Positionen alternativer Wissenschaft im postreformatorischen Deutschland. In: Trepp/Lehmann (Hg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis, S. 17–39, hier S. 22 u. 39. 48 Weigel: Dialog über das Christentum. In: AW, S. 484, zum ganzen Komplex der innerkonfessionellen Streitigkeiten Weeks: Valentin Weigel, S. 33 ff.; Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte, S. 28 ff.



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Die sächsischen Philippisten hatten sich längere Zeit des landesherrlichen Wohlwollens erfreut und sogar eine theologische Partei gebildet.49 Kurfürst August war politisch trotz des anderen Glaubensbekenntnisses den Habsburgern verbunden und reagierte alarmiert, als ein sächsischer Theologe einen Brief der Philippisten abfing, in dem sie offen mit den Kämpfen der Niederländer und Hugenotten sympathisierten. August fürchtete Konspiration der Theologen gegen seine eigene kaisertreue Territorialpolitik und ging 1573 hart gegen die sogenannten Kryptocalvinisten vor. Um den Einfluss melanchthonschen Gedankenguts auch unter den Pfarrern auszurotten und das Machtinstrument Landeskirche neu durchzusetzen, wurde ein neues, exaktes Bekenntnis gegen die »calvinistische Hydra« notwendig  – die Konkordienformel. Also verwarf eine 1576 gegründete Kommission Melanchthons Corpus doctrinae und seine Variata zur Confessio Augustana und formulierte in der Konkordienformel ein neues Glaubensbekenntnis, auf das alle Pfarrer unter Androhung des Verlusts ihrer Stelle verpflichtet wurden. In ganz Sachsen verweigerten nur ein Pfarrer, ein Lehrer und ein Küster ihre Unterschrift. Die Konkordienformel war in diesem Entstehungszusammenhang auch ein politisches Machtinstrument, dessen Einhaltung mit halbjährlich stattfindenden Kirchenvisitationen überprüft wurde. Theologisch war sie ein Kompromisskonstrukt, das seine Existenz letztlich dem Machtwort eines weltlichen Herrschers verdankte, nachdem auch die gelehrtesten Theologen weder über die Heilige Schrift noch im Dialog miteinander zu einer Einigung bezüglich der zentralen Glaubensfragen gekommen waren.50 Aus dieser Situation heraus sind Weigels grundlegende Reflexionen zur Erkenntniskritik und seine Hinwendung zur unabhängigen Wahrheitsinstanz des inneren Worts im Herzen zu verstehen. Eine seltene biografische Passage berichtet in wenigen Worten von seinem religiösen Schlüsselerlebnis, das ihm die Emanzipation von äußeren Ansprüchen bedeutete: Ehe ich zum anfange des waren glaubens kam, vnd auch noch mitt den andern, nicht gotte sondern der menge zu gefallen gleubete, war ich oft sehr bekummert vmb diesen vnd Jenen artickel, hette auch gerne gewisset, worauf ich beruwen solte. Jch nam fur mich vieler scribenten bucher, durchlase dieselbigen. Aber mir geschahe keine gnuge, mein Hertz war Jmmer vngewisser. Jch konte weder grundt noch warheitt finden. […] So viel glauben vnd seckten funde ich Jtztund alleine vnter denen, die da ihres dinges vnd grundes wolten gewiss sein vnd schutz aus der heyligen schrift zu haben vermeyneten. Jch sahe an wie ein verworren Babel es were bey vns. […] Wie ich aber also vngewis war vnd harte bekummert, mitt einem Jnnigen seuftzen zu gotte vnd sprach: Ach gott vnd warheitt, dir sey es geklagett

49 Hier und zum Folgenden Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte, S. 30 f. 50 Weeks: Valentin Weigel, S. 37.

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wie wandeln wir Jn der finsternis. […] Las mir leuchten dein Wort Herre […]. Wie ich also rief vnd betete zu dem Herren, wiederfhur mir gnade von oben herab, dann mir ward ein buch gezeigett, welches mich erfrewete vnd mein Hertz erleuchtete, das ich alle dinge sehen sehen vrteilen vnd erkennen konte […]. Jch danke dir gott du kraft meines lebens […] das du 51 mir das rechte buch zeigest Jn meynem hertzen.

Die Entdeckung der Wahrheitsinstanz in der Tiefe des eigenen Herzens geht mit Weigels innerer Emanzipation von konfessionellen Wahrheitskonzepten und seinem clandestinen Verfassen vieler Werke einher, die aus traditionellen mystischen Topoi eine zugespitzte Erkenntniskritik ableiten. Seine Schriften umfassen die Themenkomplexe der Seelsorge und Predigtliteratur (Büchlein vom Gebet, Bericht und Anleitung zur Teutschen Theologie, Predigtensammlung), immer wieder die Natur des Menschen und der Selbsterkenntnis (Gnothi seauton, Das ander Büechlein Von Erkchendtnuß sein selbst, Der güldene Griff), die Naturphilosophie (Vom Ort der Welt, Natürliche Auslegung von der Schöpfung, Viererley Auslegung von der Schöpfung) sowie sein literarischstes Werk, der Dialog über das Christentum, der über eine dramatische Handlung verfügt, die an die Moralitäten des Mittelalters erinnert.52 Dabei durchziehen die Topoi der mystischen Einkehr ins Innere und die anthropologische Schilderung des Menschen als Adam und Christus Weigels gesamtes Werk. Nach Weigels Tod mit 55 Jahren im Jahr 1588 wurde dieses Werk von Christoph Weickhart und Benedikt Biedermann gehütet, aber auch abgeschrieben, ergänzt und vervielfältigt. Die Handschriften waren weit verbreitet. Im Jahr 1602 schrieb der Apotheker Jac. Pistorius zwei Schriften Weigels in Hall am Inn ab. 1605 erhielt Johann Arndt in Eisleben eine Abschrift von Weigels Büchlein vom Gebet, dessen 34. Kapitel er in das zweiten Buch seiner Vier Bücher vom wahren Christentum anonym teils wörtlich, teils überarbeitet aufnahm. Oswald Croll, Leibarzt

51 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 88 ff. Siehe zur zitierten Stelle auch Weeks: Valentin Weigel, S. 13. Mit fast denselben Worten, der Eröffnung des Buchs im Herzen, wird Jakob Böhme auch sein Durchbruchserlebnis beschreiben. Vgl. Böhme: Theosophische Sendbriefe, 12:14: »Also habe ich nun geschrieben, nicht von Menschenlehre oder Wissenschaft aus Bücherlernen, sondern aus meinem eigenen Buche, das in mir eröffnet ward.« Über Johann Arndts Rezeption des Topos als Liber conscientiae, dem er eines der vier Bücher vom wahren Christentum widmet, findet das Herzensbuch rezeptionsgeschichtlich weitere Verbreitung: Geyer: Verborgene Weisheit I,2, S. 183 ff.; in Bezug zu Weigels Der güldene Griff ebd., S. 199 ff. Biblisch rückgebunden wird der Topos vom Herzensbuch an die paulinische Vorstellung der Tafeln des Herzens in 2 Kor 3,3. 52 Einen guten Überblick über Weigels Werke mit kurzen Vorstellungen des jeweiligen Inhalts bietet Bosch: Reformatorisches Denken, S. 152 ff. Sie stellt auch diejenigen Werke vor, die in der vorliegenden Arbeit nicht berücksichtigt wurden.



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des Fürsten Christian von Anhalt-Bernburg, gibt sich in der Vorrede seiner 1609 erschienenen Basilica Chymica als Kenner und Verehrer der Weigel-Manuskripte zu erkennen, von denen er hofft, das sie noch zahlreicher erscheinen würden.53 In Zschopau wurde jedoch 1598 bei einer Kirchenvisitation in Biedermanns Bibiothek, Weigels Amtsnachfolger, Schriften mit häretischem Inhalt, u. a. Weigels Informatorium gefunden. Biedermann wurde seines Amtes entlassen und nach Neckanitz strafversetzt, wo er 1621 starb.54 Von 1609 bis 1614 erschienen Weigels Schriften zunächst in Halle anonym, aber sorgfältig ediert in Druck. Nun setzt der theologische Kampf gegen sie ein, der wiederum in anonymen Herausgebervorworten mit bitterer Schärfe erwidert wird. Hauptkritikpunkt der Orthodoxie ist der Vorwurf, Weigel ziele auf die Aufhebung der Ordnung, der Stände und insbesondere des Predigtamtes. Die Beschuldigung des »Weigelianismus« wird zum Sammelbegriff, der undifferenziert auf alle möglichen kirchenkritischen und heterodoxen Positionen angewendet wird, wobei die so bezeichneten Weigelianer keine organisierte staatsfeindliche Gruppe darstellten.55

1.2. Historische Hermetisierung und Texte des Hermes in Weigels Werk Anders als bei Sebastian Franck lässt sich in Weigels Werk nicht an wenigen prominenten Stellen en detail die philologische Rezeption der hermetischen Texte analysieren, da die Zitate aus dem Corpus Hermeticum und die Referenzen an Hermes, der immer Mercurius genannt wird, über das gesamte Werk verstreut sind. Darüber hinaus zeigt die Rezeption der Texte Weigels, dass die postume Wahrnehmung Weigels als hermetischer Autor sich auch auf Texte stützt, die nicht von Weigel selbst geschrieben worden sind. Eine zunächst schlaglichtartige Verfolgung der Genese des Weigel-Bildes als »Hermetiker« um 1700 sowie eine rein quantitative Bestandsaufnahme der Präsenz hermetischer Zitate in Weigels Texten selbst ergibt folgendes Bild: Frühe orthodoxe Zeugnisse der Weigelkritik formulieren nicht notwendigerweise die Perspektive auf Weigel als hermetischen oder »fanatischen« Autor, wie Johann Gerhards (1582–1637) umfangreiche Dogmatik Loci Theologici aus den Jahren 1610–1622 zeigen. Das Hauptinteresse liegt zwar bereits bei Gerhard auf der

53 Israel: M. Valentin Weigels Leben und Werk, S. 27 f. 54 Wollgast: Valentin Weigel in der deutschen Philosophiegeschichte, S. 43. 55 Israel: M. Valentin Weigels Leben und Werk, S. 28 ff.; detailliert am Beispiel Nürnbergs Richard van Dülmen: Schwärmer und Separatisten in Nürnberg (1618–1648). Ein Beitrag zum Problem des ›Weigelianismus‹. In: Archiv für Kulturgeschichte 55 (1973), S. 107–137.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

Frage nach der Bedeutung der Schrift und der Offenbarung, die er durch Weigels Konzept des Lumen internum überschritten sieht. Anders als die späteren Theoretiker des Häresiediskurses bewertet Gerhard jedoch das Konzept des inneren Worts an sich nicht als häretisch. Unter Berufung auf Augustinus kann Gerhard die Illumination durch Introspektion sogar als eine der regulären Offenbarungsweisen Gottes bezeichnen,56 allerdings beschränkt er diese Offenbarungsform auf die Propheten und Apostel. Die Kritik an Weigel, die Gerhard mit Zitaten aus Weigels Der güldene Griff untermauert, betrifft demnach keine systematische Assoziation mit dem Heidentum, sondern die unzeitgemäße Verlängerung des Inspirationstopos in die Gegenwart hinein, die den Status der Schrift als alleinige Offenbarungsquelle bedrohe.57 Eine Linie von Hermes zu Weigel und den politisch Radikalen der Reformation ziehen dagegen die großen Polemiken gegen Weigel, die Widerlegung Der vermeynten Postill Valentini Weigelij von Johannes Schelhammer sowie Nicolaus Hunnius’ Christliche Betrachtung der Newen Paracelsischen und Weigelianischen Theology58 aus den Jahren 1621 und 1622. Während Schelhammer eine reine Polemik formuliert, die sich als einzige Quelle auf die weitgehend nicht von Weigel stammende Kirchen- oder Hauspostill stützt, setzt sich Hunnius gründlicher mit Weigels Texten auseinander.59 Als weitere Einflüsse der jetzt als Konglomerat behandelten heterodoxen Theologie referiert Hunnius Agrippa, Reuchlin, Ficino,60 erwähnt Tauler61 und die Theologia deutsch62 sowie Paracelsus, Schwenckfeld, Lautensack und Osiander.63 Hier lässt sich neben der diskursiven Abgrenzung auch die Verteufelung der Schriften als diskursives Ganzes be­obachten, die

56 Johann Gerhard: Theological Commonplaces on the Nature of Theology and Scripture. Translated from the Preuss Edition by Richard J. Dinda. St. Louis 2006, S. 34 f. 57 Gerhard: Loci theologici, S. 362 u. 445. 58 Schelhammer: Widerlegung der vermeynten Postill Valentini Weigelij, S. 12: »Von Hermete Mercurio Trismegisto vnd vielen anderen Zauberern so im Papsthumb  / sonderlich vnter den Minoriten gewesen / hat Paracelsus seine Kunst vnd Theologiam vnd Weigelius von ihnen allen gelernet.« Ein Anhang rückt Weigels und Thomas Müntzers Lehre nebeneinander, ebd., S. 597. Ebenso Nicolaus Hunnius: Christliche Betrachtung der Newen Paracelsischen und Weigelianischen Theology. Wittenberg 1622, S. 7: »Es gedenckt aber derer Weigelius selber / hin vnd wieder mit sonderbaren Ehren  / als von welchen er viel köstliche Lehr empfangen habe: vnd sindt  / Mercurius Trismegistus (postill 2 theil / p. 39…) Dionysios […] Thomas Müntzer.« 59 Siehe auch Bosch: Reformatorisches Denken, S. 148 f. 60 Hunnius: Christliche Betrachtung, S. 8. 61 Ebd., S. 13 u. 19. 62 Ebd., S. 19 ff. 63 Ebd., S. 31.



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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nun als »recht Teuffelische Bücher«64 und als »recht schädliche[s] Seelengifft«65 bezeichnet werden. Bei Schelhammer insbesondere lässt sich die Konstruktion eines Feindbildes über der Assoziation eines unliebsamen Autors mit verschwörungstheoretischen Anspielungen beobachten. Sein Hermes-Bild ist nicht mehr wie bei Franck das des Mystikers, sondern das des ägyptischen Zauberers. Schelhammer bezeichnet Hermes als »famosus magus«, und er gelangt zu dieser Einschätzung über die augustinische Interpretation der Statuenszene des AsclepiusDialogs, die Schelhammer aus De civitate Dei übernimmt.66 Dieser vorchristliche Zauberer sei nach Schelhammer bis in die Gegenwart »Meister und Præceptor«67 geheimer Gesellschaften (konkret: der Fraternität der Rosenkreuzer), der auch Weigel angehöre und die fantastisches wie bedrohliches Wissen besäßen wie z. B. das Gedankenlesen, geheime Medizin sowie magisches Reisen.68 Obwohl Schelhammer zwar polemisiert und Gerüchte streut, problematisiert er Weigels anthropologische Überlegungen nicht weiter. Im Gegensatz dazu tritt bei Hunnius dann die Verurteilung der trichotomen Anthropologie als systematisches Merkmal des Ausgegrenzten deutlich in Erscheinung. Dabei referiert Hunnius sogar noch die traditionelle Begrifflichkeit für die Ebenen der Seele, die Weigel ungebrochen aus der Literatur der mittelalterlichen Mystik übernimmt, die aber nun als fremd und unchristlich wahrgenommen wird.69 Während Hunnius noch auf der Ebene der namentlichen Aufzählung der als heterodox geltenden Autoren verbleibt, erbringt schließlich Colberg im Jahr 1690 den philologischen »Beweis« des hermetisch-platonischen Kerns als systematischem Zentrum unter dem heterodoxen Diskurs. Colberg streut keine vagen Gerüchte wie Schelhammer. Er referiert nicht nur ausführlich, was um 1700 von Weigels Schriften noch sichtbar war, sondern er fokussiert besonders auf die Textstellen, die einen Weigel zeigen sollen, der explizit Hermes zitiert, wie es im Güldenen Griff, der Kirchen- oder Hauspostill sowie den Auslegungen der Figuren

64 Ebd., S. 33 (über Paracelsus). 65 Ebd., S. 129 (über Weigel), so auch S. 95: »Darumb ist Weigelii Theologia / Lehr / vnnd Glauben nicht von Gott / sondern vom Geist der Finsternus.« 66 Schelhammer: Der vermeynten Postill, S. 12. 67 Ebd., S. 12. 68 Ebd., S. 11: »Es sind abner noch höhere Heiligen / vber die jetzt gemelten nemlich in tertio gradu perfectorum der gedachten Fraternitet die der andern meister vnd Lehrer sind / in deren zahl Weigel auch vermeynet zu seyn / die noch mehr vnd grösser Ding wissen« 69 Hunnius: Christliche Betrachtung, S. 545: 1. Gemüt / mens / intellectus, 2. Ratio / Vernunft, 3. Sinnlichkeit  / sensualitas, Vgl. dagegen das entsprechende Kapitel bei Schelhammer, ebd., S. 311 ff.

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Lautensacks der Fall ist.70 Die trichotome Anthropologie sowie das innere Wort haben sich in Colbergs Wahrnehmung völlig aus dem christlichen Kontext gelöst und werden eindeutig als »hermetisch« und damit als »heidnisch« identifiziert. Ironischerweise bemüht sich Colberg sogar, die trichotome Denkfigur, die eigentlich für die christlich mystischen Texte charakteristisch ist, aus den Texten des Corpus Hermeticum deutlicher herauszuarbeiten als sie dort selbst formuliert ist. Dabei stützt er sich rekurrierend auf die Parallelisierung der Christusvorstellung mit der Schilderung der Wiedergeburt aus dem 13. Traktat, wie sie in der Auslegung der Figuren Lautensacks zitiert ist, die allerdings gar nicht von Weigel geschrieben wurde.71 Verfolgt man die Zitate aus dem Corpus Hermeticum in Weigels Texten selbst, so stammen diese vorwiegend aus dem ersten, dem vierten und dem 13.  Traktat sowie aus dem Asclepius-Dialog. In direktem Anschluss an Francks Darstellung des Hermes als Mystiker zitiert Weigel die hermetischen Texte als Zeugnisse innerer Offenbarungen durch Pimander bzw. durch das innere Wort als Leben Christi: Jnn solchem sabath do alle dinge Jnn ein stilleschweigen kommen lest sich der Pimander hören in dem Mercurio, da wircket da Jnnere wort den wahren glauben vnnd das leben Christi welches nicht geschrieben noch gesprochenn mag werden, eß stehet alleine in dem 72 suessen befindenn vnnd schmecken.

Die Gleichung zwischen dem Wort, Pimander und Christus lässt sich auch an einer Stelle in der Kirchen- oder Hauspostill verfolgen, die die etymologische und intertextuelle Verbindung von Pimander und Christus jeweils als Menschenhirten plastisch macht, deren Botschaft die eindeutige Weisung des Menschen an die göttliche Instanz im eigenen Inneren ist: Was David vor etlichen Hundert Jahren zuuorn gesagt hat / von diesem guten Hirten aller Seelen / dasselbe hat auch der hocherleuchtete Mercurius in Ægypten gesagt vor zwey tausent Jahren  / David spricht Der HErr ist mein Hirte  / mir wird nichts mangeln […]. Mercurius schreibet / das Gottes Wort sey zu ihme kommen / vnd habe ihm alle dinge gelehret / vnd da er fragte wer bistu / sprach das Wort Gottes / ich bin Gottes Wort. Der Hirte aller Menschen /

70 Nach Pfefferl handelt es sich dabei lediglich bei Der güldene Griff um eine authentische Weigel-Schrift. Bei der Kirchen- oder Hauspostill handelt es sich wahrscheinlich um eine Kompilation authentischer und unauthentischer Texte; der Kommentar zu Lautensack ist mit Sicherheit nicht von Weigel selbst. Siehe Pfefferl: Die Überlieferung der Schriften Valentin Weigels, S. 378– 383; ders.: Einleitung. In: Valentin Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. XI-XLIX, hier S. XXXII. 71 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum II, S. 133; vgl. zu weiteren Assoziationen des Hermes als Gewährsmann für die Wiedergeburt Weigel: Gnothi seauton. In: PW 3, S. 187. 72 Weigel: Vom Leben Christi. In: PW 7, S. 121.



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ich weide alle dinge / höre mir zu ich will dich alle dinge lehren / wz nun auff erden bezeu73 get ist worden / das Christus solle d’Hirte seyn.

Neben dieser Integration der hermetischen Texte über die Denkfigur des inneren Worts treten bei Weigel auch Bezugspunkte über die Naturphilosophie auf: Insbesondere die Zahlentheorie des vierten Traktats, nachdem in der Eins als Monas alles enthalten ist, wird mit vergleichbaren Theoremen bei Nikolaus von Kues, Dionysios oder dem Mikrokosmos-/Makrokosmosgedanken des Paracelsus paral­le­lisiert.74 Der vierte Traktat bietet mit verschiedenen Themen Anschlusspunke an das Korpus der weigelschen Schriften über den Topos der Augen des Herzens, den Gedanken von Gott als Grund, die Ablehnung von Prozessionen und Verdienstdenken im Gottesdienst sowie eine Abwertung des Körpers. Des Weiteren findet sich in der Viererley Auslegung von der Schöpfung ein Zitat und eine Paraphrase jener Stelle des Asclepius-Dialogs, die über das Zitat in Picos Oratio in der Hermetismusforschung berühmt geworden ist: Der Mensch als »Animal honorandum et venerandum«,75 dem Göttlichen wie Irdischen verwandt und frei zu wählen, welchem er sich angleichen möchte. Neben der Lehre der zwei Naturen des Menschen wird auch die charakteristische trichotome Anthropologie sowie der paracelsische Mikrokosmosgedanke, nach dem der Mensch aus dem fünften Element gemacht wurde, mit dieser Stelle des Asclepius-Dialogs belegt.76 Auch ohne weitere explizite Nennung ist bei der Darstellung der Schöpfung als emanativer Scheidung des Sichtbaren aus dem Unsichtbaren neben Paracelsus der Asclepius-Dialog als Quelle nicht wegzudenken. Von besonderem Interesse sind schließlich noch einzelne Nennungen des Hermes in Verbindung mit weiteren Autoren, die Signalwirkung auf die Positionierung der hermetischen Schriften sowie der Texte, in denen sie zitiert werden,

73 Valentin Weigel: Kirchen oder Hauspostill. Newenstadt 1617, S. 39 (Hervorh. d. Verf.). Diese Stelle ist auch Schelhammer in der Polemik gegen Weigel aufgefallen. Schelhammer, der offensichtlich Casaubons Spätdatierung der hermetischen Texte aus dem Jahr 1614 zur Kenntnis genommen hat, moniert, dass Hermes als authentischer Autor zitiert würde. Schelhammer: Widerlegung der vermeynten Postill, S. 14. Zur möglichen Etymologie des Namens Pimander als Hirte der Menschen siehe Peter Kingsley: Poimandres. The Etymology of the Name and the Origins of the Hermetica. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 56 (1993), S. 1–24, hier S. 3. Die Bibelzitate Ps 23,1 und Joh 10,11 u. 21,15. 74 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 338. 75 Ebd., S. 276; vgl. Asclepius-Dialog 6 (CHD I, S. 259f); Giovanni Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen. Zürich 1996, S. 7. 76 Asclepius-Dialog 6 (CHD I, S. 260f); Paracelsus: Die große Astronomie oder die ganze Philosophia sagax der großen und kleinen Welt. In: Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus. Sämtliche Werke, 1. Abt., Bd. 12. Hg. v. Karl Sudhoff. München/Berlin 1929, S. 37.

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haben. In Vom Ort der Welt wird Hermes neben Eckhart zitiert, wobei beide als Referenzen für die Nichtlokalität des Geistes genannt werden.77 Dies wird insbesondere für die praktischen Konsequenzen von Weigels Seelenbegriff zentral sein. In Der güldene Griff erscheint Hermes neben Paracelsus im Kontext der Frage nach dem Verhältnis von Gottes Transzendenz und Immanenz. Weigel löst die dogmatischen Widersprüche als zwei Perspektiven auf dieselbe Sache auf: Er zitiert Paracelsus als Vertreter der neuplatonisch-mystischen Perspektive auf Gottes unwandelbares, jenseitiges Sein, und er erwähnt Hermes als Theoretiker der Perspektive auf Gottes ewig-gebärende Natur des innerweltlichen Wirkens.78 Die eine Perspektive entspricht der absoluten Erscheinung Gottes, die andere seiner Erscheinung vor der Welt. Die Stelle belegt einmal grundsätzlich das panentheistische Gottes- und Weltverständnis der mit Hermes assoziierten Tradition und zweitens die teilweise fließende Zuordnung von Referenzen innerhalb jener Tradition. Bereits Weigel thematisiert hier die vermeintliche Widersprüchlichkeit zwischen Dualismus und Monismus, Mystik und Naturphilosophie, die bereits an den Texten des Corpus Hermeticum selbst diskutiert wurde. Aussagekräftig bezüglich der Einschätzung hermetischen Wissens ist noch eine weitere Referenz an Hermes in Verbindung mit der Theologia deutsch. Im vierten Teil der Viererley Auslegung von der Schöpfung, nach dem narratologischen Aufbau des Textes also an dessen strukturellem Höhepunkt, werden Hermes und die Theologia deutsch als Autoritäten im Kontext der Vermittlung biblischer und philosophischer Schöpfungsmodelle zitiert.79 In dieser Konstellation und an dieser Stelle am Text sind beide Referenzen Namen mit hoher Signalwirkung. Die Viererley Auslegung von der Schöpfung unternimmt in ihrer viermaligen Exegese des ersten Genesis-Kapitels den Versuch, gegen das Beharren der akademischen Theologie auf der Schriftdeutung nach dem Sensus literalis eine eigene Interpretation mittels langsamer Steigerung und Vertiefung vorzulegen, die auch dem sinnlichen Menschen die subtilen Implikationen des Textes erschließen soll. Der sinnliche Mensch wird mit niemand Geringerem als mit dem Gefesselten in Platons Höhlengleichnis verglichen, und die Stoßrichtung des Textes zielt gegen die Wissensverbote der akademischen Theologie: Nicht erst

77 Weigel: Vom Ort der Welt. In: AW, S. 297. 78 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 69 f.: »Theophrastus saget, got brauchet nichts, wircket nichts, vbett nichts etc. So spricht der Mercurius got wirckett vbet, brauchet alle dinge. Diese seint nicht wieder ein ander, dan einer redet von gott wie er ist absolute, fur sich selbest verstanden. […]. Der ander redet von gotte, kegen der Creatur gehalten. […] Darumb kan man von eynem Dinge absolute nicht recht oder vnrecht reden, Dan wie man dauon saget, so ist es war oder nit war, nemlich darnach man ansihet vnd vrteylet.« 79 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 338.



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im Jenseits, in diesem Leben bereits gilt es zu verstehen, und der Text zielt auf die sukzessive Ermöglichung einer Einsicht in die Harmonie von biblischer und nicht-biblischer Offenbarung auch für interessierte Laien.80 Methodisch geht er von der bilderreichen Sprache des biblischen Schöpfungsberichts lediglich aus, um in der abstrakten platonisch-pythagoreisch-hermetischen Zahlenspekulation von Unitas und Alteritas, Einheit und Dualität zu gipfeln. An diesem Höhepunkt werden Hermes und die Theologia deutsch als Referenzen für die gemeinsame Fundierung dieser höchsten Einsicht in christlicher und vermeintlich vorchristlicher Literatur zitiert. Die Zitate sind korrekt. Mit beiden Texten lässt sich die Idee von der Eins als selbständigem Grund aller anderen Zahlen, die diese in sich enthält, und auch von der in ihrer Existenz von der Eins abhängigen Zwei verbinden. Eins und zwei, Einheit und Alterität stehen damit für den Schöpfer und für das Geschöpf.81 Man hätte diesen Höhepunkt der Argumentation auch mit kirchlich anerkannteren Autoren belegen können, beispielsweise mit Cusanus, der in früheren Schriften Weigels für genau diese Denkfigur zitiert wird.82 Indem jedoch Hermes an dieser prominenten Stelle an der Seite des einst auch von Luther mit höchster theologischer Anerkennung bedachten christlichen Traktats genannt wird, wird dem ägyptischen Weisen im Rahmen des Textes an dieser herausragenden Stelle vollständige geistliche Autorität zugesprochen. Trotz den zahlenmäßig seltenen Referenzen an das Corpus Hermeticum und trotz der Tatsache, dass es sich bei einzelnen Referenzen auch um spätere Ergänzungen handeln dürfte, lässt sich damit andeuten, dass das hermetische Wissen als Anspielungshorizont präsent ist. Das Hermes-Bild, das sich aus Weigels Texten selbst ableiten lässt, unterscheidet sich signifikant von demjenigen seiner Kritiker: Sein Hermes-Bild ist nicht wie bei Schelhammer das des ägyptischen Zauberers, sondern ähnlich wie bei Laktanz, Franck und Ficino primär das des vorchristlichen Theologen und Gottesgelehrten.83 Noch Gottfried Arnold schrieb über Weigel, dieser werde in den Polemiken sehr undifferenziert mit Hermes, Paracelsus und den Sibyllen assoziiert, wobei sich frühe Mutmaßungen über Weigels Lektüre im Lauf der Zeit zur

80 Ebd., S. 198–202. 81 Ebd., S. 338; CH IV, 10/11 (CHD I, S. 52); Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 71. 82 So in Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 31; vgl. weiterführend Pfefferl (ebd., Anm. 1); Wollgast in: Valentin Weigel: Ausgewählte Werke, S. 446, Anm. 11; Nikolaus von Kues. Mutmaßungen. Lat.-deutsch. Hg. v. Joseph Koch u. Winfried Happ. Hamburg 1971, S. 47–49. 83 Siehe weiterführend Brian Copenhaver: Hermes Theologus: The Sienese Mercury and Ficino’s Hermetic Demons. In: Humanity and Divinity in Renaissance and Reformation. Hg. v. John O. Malley et al. Leiden/New York 1993, S. 149–182.

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unhinterfragten Gewissheit steigere.84 Die Verflechtung der hermetischen Referenzen in den größeren Kontext mystischer und paracelsischer Theoreme einerseits und die prononcierte Umwertung des strukturbildenden Modells in Anthropologie und Seelenvorstellung in der Fremdwahrnehmung andererseits machen eine differenziertere Analyse sowohl nach der Kontextualisierung der hermetischen Verweise in Weigels Werk als auch nach einer grundsätzlichen oppositionellen Agenda seines Werks notwendig, die entsprechend dann als heterodox und als hermetisch wahrgenommen werden konnte.

1.3. Mystik und Naturphilosophie: Quellen und Traditionen zu Weigels Texten Valentin Weigels Texte positionieren sich ihrem Selbstverständnis nach in der Tradition der frühreformatorischen Ermächtigung des Christenmenschen, und hier gerade auch des Laienchristen, zu einer selbstverantworteten Beziehung zu Gott. Gleichzeitig geraten sie im späten 16. Jahrhundert mit präzise diesem Rekurs auf die frühe lutherische Position in einen strukturellen und im Machtgefüge äußerst häretisierten Gegensatz zum institutionalisierten Luthertum.85 Weigel verbindet mit Franck und nach ihm mit Böhme die Distanz zum institutionalisierten Wahrheitsbegriff der kirchlichen Orthodoxie, die im spiritualistischen Deutungsmuster der Rivalität zwischen »Geist« und »Buchstabe« artikuliert wird. Ihn unterscheidet von Franck seine Rezeption der paracelsischen Naturphilosophie und sein Interesse für die naturphilosophische Allegorese des mosaischen Schöpfungsberichts nach Gen 1–3, die bis zu Jakob Böhmes Mysterium Magnum stilbildend wirkt. Weigels Themen und Tropen sind in der Tradition präsent, neu ist jedoch seine Gestaltung der Themen im Kontext rivalisierender innerprotestantischer Parteien um Definitionsmacht der ›Wahrheit‹. Mystik und Naturphilosophie erinnern in Weigels Werk an die Wege zu Gott, die allen Menschen ungeachtet ihres Standes offenstehen; und in teilweise nachdrücklicher Distanzierung von streittheologischen Fragen nach Gottes ›Ort‹ oder seiner

84 Arnold: »Zum exempel: da Schelhammer nur muthmasset, dieser Weigel würde etwa in seines Vaters bibliothec den Hermetem Trismegistum, den Paracelsum, die Sibyllen und den Dionysium gefunden und gelesen haben, so sehens die andern als eine gantz gewisse historie: ›Er wäre über diesen büchern tag und nacht gelegen.‹« Zit. n. Israel: M. Valentin Weigels Leben und Schriften, S. 36. 85 Weigels nachdrücklicher Rekurs auf die Impulse des jungen Luther, die er gegenüber den institutionalisierten Verhärtungen der eigenen Konfession verteidigt betont vor allem Weeks: Valentin Weigel, S. xiv.



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Präsenz in Kirche und Sakrament gewinnt der Topos von Gottes Ubiquität immer größere Bedeutung. Die Topoi der Ubiquität Gottes als All in allem sowie die von späteren Kritikern als Inbegriff der Häresie verstandene Lehre von der Inwendigkeit des Himmels sind jedoch zunächst biblische Motive nach Lk 17,21 oder 1 Kor 12,6 und Kol 3,10–11.86 Das bei Weigel beliebte Trostbuch des im frühen Christentum seliggesprochenen Boethius, Trost der Philosophie, beschreibt die Ewigkeit Gottes als Zugleich von allem in ewig gegenwärtiger Präsenz, die Zeit dagegen als sukzessive Entfaltung der Ereignisse.87 Nikolaus von Kues’ De docta ignorantia tradiert dieses Motiv unter anderem von Eckhart und spitzt es dahingehend zu, dass Gott nicht nur in allem ist und alles in ihm, sondern dass folglich auch alles in allem sein muss.88 Von Nikolaus stammen auch die Begriffe der Einfaltung und Ausfaltung von allem, die wiederum mit der paracelsischen Schöpfungsvorstellung der Schöpfung als Scheidung in Weigels Vierfacher Auslegung von der Schöpfung enggeführt werden, einer Schrift, die wissensgeschichtlich eine wichtige Übergangsstellung zu Jakob Böhmes Konzept der Schöpfung als Creatio ex se im Mysterium Magnum innehat. Boethius gilt auch als wichtige Quelle für Weigels lateinischen Traktat De vita beata, der aus der Wechselhaftigkeit des irdischen Lebens die Sehnsucht nach Kontemplation des Ewigen zieht, das im Inneren des Gläubigen als verlorenes Vaterland gesucht wird.89 Neben Boethius, von dessen Trostbuch Weigel die Figur der Göttin Fortuna übernimmt, zitiert Weigel auch Seneca und Erasmus’ von Rotterdams Lob der Thorheit, als »sehr nützliche[s] büchlein« zur Illustrierung menschlicher Blindheit.90 Boethius formuliert ebenfalls bereits den Kerngedanken von Weigels Erkenntnistheorie, nach der das Wissen aus dem Subjekt, nicht aus dem Objekt kommt.91 Neu im historischen Moment ist Weigels Umgang mit dieser Theorie, die er angesichts des unversöhnlichen Theologenstreits auf die Bibelexegese überträgt und so die Unfähigkeit zur Einigkeit als epistemologisches, nicht als dogmatisches Problem behandelt. Weigels Theorie der Selbsterkenntnis sowie der drei ›Augen‹ ist bei Hugo von St. Viktor (1096–1141), bei Tauler und Eckhart vorgeprägt, den er sogar namentlich zitiert. Genau wie Sebastian Franck,

86 Hier und zum Folgenden Weeks: Valentin Weigel, S. 42 ff. 87 Anicius Manlius Severinus Boethius: Trost der Philosophie. Aus dem Lat. v. Eberhart Gotheim. Köln 2010, V,6 (S. 155). 88 Nicolaus of Cusa on Learned Ignorance. Edited and translated by Jasper Hopkins. Minneapolis 1981, S. 98 ff. 89 Weeks: Valentin Weigel, S. 44. 90 Weigel: Vom seligen Leben. In: PW 2, S. 150, ebenso S. 155. 91 Boethius: Trost der Philosophie, V,4 (S.147).

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dessen Schrift zum paradiesischen Baum des Wissens aus den Vier Kronbüchlein Weigel sogar an erster Stelle in einer Liste mit Buchempfehlungen nennt,92 zitiert Weigel Tauler nach dem Baseler Taulerdruck, Eckhart und die Theologia deutsch, die er 1571 zusammen mit einer Anleitung herausgab.93 Als wichtigen Vermittler platonischen Denkens in die christliche Tradition zitiert Weigel auch (Pseudo-) Dionysios Areopagita, dessen negative Theologie und Theorie des Aufstiegs der Seele durch Introspektion der großzügigen, aber anonymen Rezeption der Philosophie Plotins und Proklos’ geschuldet ist.94 Luther hatte Dionysios, dessen himmlische Hierarchie (De caelesti hierarchia) in der katholischen Tradition als Stütze und Abbild der kirchlichen Hierarchie galt, verworfen; für Weigel ist das Motiv der spirituellen Autonomie des Individuums im Geist, das Luther selbst im berühmten Eingangsparadox der Freiheit eines Christenmenschen begründet hatte, Kontext für seinen Rückgriff auf Autoren wie den frühchristlichen Mystiker. Im Kontext des theologischen Konflikts um das Buch der Bücher, der zwischen Gneseolutheranern, Philippisten, Krypocalvinisten, Fürsten, Theologen und Laien wogte, gewinnt neben der Seele, metaphorisch das ›Buch des Herzens‹, auch das Buch der Natur an Gewicht. Zwischen den Jahren 1540 und 1543 wurden die Ergebnisse des Kopernikus veröffentlicht, die das Ende des geozentrischen Weltbildes einläuteten, 1576 schreib Weigel, der neben Theologie auch Astronomie studiert hatte, seinen Traktat Vom Ort der Welt, der nicht nur in der geografischen Beschreibung der verschiedenen Erdteile auf Sebastian Francks Weltbuch verweist, sondern auch die Erdkugel freischwebend in unendliche Tiefe setzt. Zwar ist Weigels Buch im Vergleich zu Böhmes Aurora noch kein Werk des Heliozentrismus, doch ›übersetzt‹ Vom Ort der Welt bereits den mystischen Raumbegriff vom Seelenkonzept in die Naturphilosophie. Die sichtbare Welt erscheint analog zum anthropologischen Begriff des äußeren Menschen als auswendiger Teil einer unendlichen Tiefe des Geistes.95 Während das heliozentrische Weltbild den klerikalen Anspruch auf die Kongruenz von Natur- und Heilsordnung durch die Revolution am Himmel erschütterte,96 unter-

92 Weigel: Informatorium. In: PW 11, S. 133; Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 244. Sebastian Franck: Von dem Bawm des wissens guts und böses […]. In: Sebastian Franck: Die vier Kronbüchlein, Hg. v. Peter Klaus Knauer. Berlin/Bern 1992. 93 Bosch: Reformatorisches Denken, S. 160. 94 Adolf Martin Ritter: Einleitung. In: (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Über die mystische Theologie und Briefe. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen vers. v. dems. Stuttgart 1994 (Bibliothek der griechischen Literatur 40), S. 10; Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 109 ff. 95 Weigel: Vom Ort der Welt. In: AW, S. 263. 96 Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt a.M. 1975.



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läuft Weigels Vom Ort der Welt das aristotelische Weltbild, das die Erde in Kristallschalen eingeschlossen vom Himmel getrennt denkt, durch den mystischen Raumbegriff, der auf der Nichtlokalität des Himmels insistiert und über das Ineinsfallen von Höhe und Tiefe im All reflektiert. Das Problem, auf das naturphilosophisch zu antworten war, ist zunächst ein theologisches und eminent menschliches: Wie konnte der transzendente Gott, der Deus absconditus, der weit entfernt ›im Himmel‹ war und nur Kraft des Heiligen Geistes regierte, wie konnte der trotzdem nahe sein? Und wie konnte sein Sohn, der ›zur Rechten des Vaters‹ saß und über dessen Realpräsenz im Abendmahl bereits Lutheraner und Calvinisten zerstritten waren, Trost spenden? Weigels Ausdehnung des »Himmelreiches« nach Lk 17, 21 vom Inneren der Seele in eine geistige Tiefendimension der Natur ist genau wie bei Jakob Böhme als Antwort auf diese im Theologenstreit nicht gelöste Frage konzipiert.97 Weigels Naturphilosophie greift in vielen Konzepten auf Paracelsus zurück. So wie Luther die Bibel den Laien zugänglich gemacht hatte, so wollte Paracelsus das Wissen der Natur eröffnen. Er argumentiert mit der Autorität der Natur gegen wissenschaftliche Autoritäten und spricht den streitenden Konfessionsparteien das Glaubensmonopol ab.98 Dazu vertritt er eine überaus optimistische Einstellung gegenüber irdischem Wissen, das medizinisch, künstlerisch und zur Betrachtung der Werke Gottes fruchtbar gemacht werden soll.99 Paracelsus rückt das Buch der Natur als das Buch, das Gott selbst geschrieben hat, ins Zentrum

97 »Desgleichen ihr Theologen – die ihr mutwillig dem Antichrist dienet – werdet ihr erkennen euren Irrtum: wie das Himmelreich weder an Ort, Personen, Gebärden oder äußerliche Zeremonien kann gebunden sein, sondern es steht frei im Geist und Glauben, nicht gebunden hier noch dort, Lk 17« (Weigel: Vom Ort der Welt. In: AW, S. 264). Vgl. ganz ähnlich Jakob Böhme: Aurora oder Morgenröte im Aufgang, 19,3/23/24: »Es haben die Menschen je und allweg gemeinet, der Himmel sei viel hundert oder tausend Meilen von diesem Erdenboden und Gott wohne allein in demselben Himmel. Es haben wohl auch etliche Physici sich unterstanden, dieselbe Höhe zu messen, und gar seltsame Dinge herfürbracht. […] Nun merke: Wenn du deine Gedanken von dem Himmel fassest, was der sei oder wo der sei, so darfst du deine Gedanken nicht viel tausend Meilen von hinnen schwingen. [….] Denn der rechte Himmel ist allenthalben, auch an dem Orte wo du stehest und gehest.« Vgl. auch Wollgast: Valentin Weigel und seine Stellung in der deutschen Geistesgeschichte, S. 240. 98 Gilly: Theoprastia Sancta, S. 428; ebenso Philippus Theophrastus Paracelsus: Die große Astronomie oder die ganze scharfsinnige Philosophie (Philosophia sagax) der großen und kleinen Welt. In: Ders.: Sämtliche Werke nach der zehnbändigen Huserschen Gesamtausgabe (1589– 1591) in neuzeitliches Deutsch übersetzt. Hg. v. Bernhard Aschner. Bd. 4, Jena 1931, S. 413 u. 424. 99 Paracelsus: Buch über die Nymphen, Sylphen, Salamander und die übrigen Geister. In: Ebd., S. 42: »Denn es ist Aufgabe des Menschen, die Dinge zu erfahren und nicht blind darin zu sein. Denn darum ist er geschaffen, daß er von den Wunderwerken Gottes rede und darüber berichte.«

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seines durchaus religiösen Wissenschaftsverständnisses.100 Paracelsus’ Astronomia magna (1537/38), die noch vor dem Erscheinen der Huserausgabe gedruckt wurde,101 vermittelt die Theorie der zwei Lichter sowie das Theorem des Adam Mikrokosmos, der aus einem Auszug (›Quinta essentia‹) der anderen Elemente gemacht wurde.102 Dieses Bild des Adam als Epitome der Schöpfung nach Paracelsus’ Astronomia magna zitiert Weigel bereits in Gnothi seauton und überträgt das Motiv des Alls in allem von Gott auf den Menschen: Auch der Mensch trägt die Welt in sich.103 Mit den paracelsischen Prinzipien Sal, Sulphur und Mercurius wird die Dreierstruktur, die in den mystischen Texten auf die Anthropologie beschränkt war, auf die Gesamtheit der Natur ausgedehnt. Das Interesse an der Naturphilosophie und die Rezeption paracelsischer Texte lässt die Schöpfungstheologie zu einem Konfliktfeld werden, das die Problemfelder, die Augustins diskursmächtige Scheidung des Wissens in christliches und paganes insbesondere im Hinblick auf die Stellung der Natur vorgenommen hatte, mit Macht zurückbringt. In den Jahren 1535 und 1545 hatte Luther seine Vorlesung über die Genesis gehalten, die noch dem geozentrischen Weltbild verpflichtet war und das Theorem der Creatio ex nihilo diskursmächtig festschrieb. Nach Luther war die Welt ohne vorhandene Materie allein durch das Wort aus dem Nichts erschaffen worden (»ex nihilo factum coelum et terram«).104 Sie ist das Werk eines gütigen, allmächtig herrschenden, transzendenten Vatergottes. Demgegenüber entwickelt die pseudo-paracelsistische Schrift Philosophia ad Athenienses das für Weigel und später für Böhme zentrale Konzept des Mysterium Magnum, das sie ungerührt rekurrierend »ein mutter aller creaturen, ent­ pfintlichen und unentpfintlichen« nennt.105 Die Schrift Philosophia ad Athenienses entfaltet das im theologischen Konflikt als eminent häretisch wahrgenommene Konzept einer geistigen Urmaterie, aus der Gott durch Scheidung die Welt her

100 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1981, S. 69. 101 Hanns-Peter Neumann: Natura sagax. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Mystik in der frühen Neuzeit am Beispiel Johann Arndts. Tübingen 2004, S. 32. 102 Paracelsus: Die große Philosophie. In: Ders.: Sämtliche Werke 4, S. 431. 103 Weigel: Gnothi seauton. In: PW 3, S. 60. 104 Luther WA 42, S. 15; dazu Johannes Schwanke: Creatio ex nihilo. Luthers Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts in der großen Genesisvorlesung (1535–1545). Berlin/New York 2004, S. 106 f. 105 (Pseudo-)Paracelsus: Philosophia ad Athenienses. In: Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Medizinische naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. Hg. v. Karl Sudhoff. 13. Bd. München/Berlin 1931, S. 388–423, hier S. 390.



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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vorgebracht habe.106 Zudem bringt diese Schrift, die in der Forschung bislang vor allem für die Häresie der Urmaterie Aufmerksamkeit erhielt, die ebenso als häretisch verdrängte weibliche Metaphorik in der Frage nach dem »ersten Anfang« zurück: […] dis mysterium magnum ist ein muter gewesen aller elementen und gleich in solchen auch ein großmuter aller stern, beumen und der creaturen des fleischs. dan aus dem, wie von einer muter kinder geboren werden, also auch vom mysterio magno geboren seind alle geschöpf von entpfintlichen und unentpfintlichen und aller andern gleichförmig. und ist mysterium magnum ein einige muter aller tötlichen ding, und haben ir ursprung in ir genomen, nicht nach ein ander, sondern in einer schöpfung, substanz, materi, form, 107 wesen, natur und inclinirung gegeben seind.

Während in Luthers Genesisvorlesung die Sterne als Kugeln am Firmament »befestigt« werden,108 wird ihre Entstehung in der pseudo-paracelsistischen Schrift mit einer kosmischen Geburtsmetaphorik erklärt, die die ontologische Trennung zwischen Schöpfer und Geschöpf auf ein Verwandtschaftsverhältnis hin überschreitet. Es dürfte sich mit diesem Konzept u. a. auch um die Rationalisierung vorchristlicher Religiosität handeln,109 die im Zuge der vielfach von Nichtakademikern getragenen paracelsistischen Bewegung in den christlichen Diskurs vermittelt wurde. Der Bericht des Römers Publius Cornelius Tacitus über die vorchristlichen Germanen, Germania, notiert verschiedentlich die Verehrung einer großen Muttergöttin und anderer Gottheiten, die darüber hinaus in der Natur, »nicht in Wänden« eingeschlossen stattfand.110 Paracelsus’ Liber de nymphis, eine Bestandsaufnahme des volkssprachlichen Glaubens an Naturgeister im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, entfaltet ein Kaleidoskop des Wissens über personale Wesen in der Natur, die zwar nicht göttlich sind, aber doch als unsichtbare Personen in den Elementen, im Wasser, im (Venus-)Berg und in der Luft wohnen. Die Philosophia ad Athenienses führt scholastisches und volkssprachliches Wissen zusammen, wenn sie die vier aristotelischen Elemente,

106 Gilly: Das Bekenntnis zur Gnosis von Paracelsus bis auf die Schüler Jakob Böhmes, S. 393; Walter Pagel: Paracelsus als ›Naturmystiker‹. In: Faivre/Zimmermann (Hg.): Epochen der Naturmystik, S. 52–104, hier S. 67 ff. 107 (Pseudo-)Paracelsus: Philosophia ad Athenienses, S. 390. 108 Luther WA 42, S. 31: »[…] tanquam globos esse affixos firmamento, ut luceant noctu singulae secundum suum donum et creationem suam.« 109 Geyer spricht in seiner Studie zum intellektuellen Kontext Johann Arndts vom (domestizierten) Fortleben paganer Religiosität: Geyer: Verborgene Weisheit 2,3, S. 268. 110 Publius Cornelius Tacitus: Germania. Übersetzung, Erläuterung und Nachwort v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1971, S. 8 f. u. 28.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

Feuer, Wasser, Luft und Erde zu vier geistigen »Müttern« spiritualisiert, die als geistige Entitäten analog zu Seelen wiederum die sichtbaren Dinge tragen.111 Dieses naturphilosophische Wissen ist in Weigels Viererley Auslegung von der Schöpfung präsent und spiegelt sich im Wissen von den Naturgeistern über die Annahme einer dreigestuften Struktur in Seele und Natur bis hin zur Geistleiblichkeit aller Kreaturen und eines weiblichen Prinzips in Gott. In diesem Kosmos des Wissens findet die Auseinandersetzung mit den Traktaten des Corpus Hermeticum schließlich statt, die philologisch gesehen eher sparsam nachweisbar ist. Dennoch ermöglicht sie an Systemstellen Zuspitzungen der Theoreme, die die orthodoxen Kritiker als heterodox marginalisierten.

2. Nosce teipsum: Häretisierung und Hermetisierung des Denkens der Selbsterkenntnis 2.1. Christlicher Kontext: Zur Korruption der menschlichen Natur Das Motiv der Selbsterkenntnis spielt in Weigels Werk und Leben eine Hauptrolle. Er widmet diesem Thema mehrere Bücher,112 und noch der Epitaph auf seinem Grabstein schließt mit den Worten »summa summarum. / o mensch lerne dich sel-/ber erkennen vnd gott / so hastv gnvngk hie vnd dort.«113 In der Kontroverse um den ›Güldenen Griff‹ findet sich eine Selbstdeutung anhand seines Namens, den Weigel zu seiner selbstgesteckten Lebensaufgabe in Beziehung setzt: Mein Name ist Wigellus, Conueniunt rebus nomina sæpe suis, der name kommet vberein mitt der that, das ich aufwege vnd aufwiegle die dinge die in mir vnd Jn euch verborgen liegen. Nemlich durch mein informiren fhure ich zum auge Jn vns selber vnd steubere auf das Jn vns ist. O wie wenig vnter vns hetten es gekennet one dis mein aufwiegeln, Ja wir hetten kaumpt gewisset das zwiefache weisheitt Jn vns verborgen lege, oder das wir mitt vnserm eigen auge sehen solten. Nichts newes bringe ich fur. Jch fhure nur zu deme / das 114 zuvor Jn vns liegett, Nemlich zum Jnstrument zum auge zum Iudicio Jn vns.

111 (Pseudo-)Paracelsus: Philosophia ad Athenienses, S. 404. 112 Als Hauptschriften gelten Gnothi seauton (1571) und Der güldene Griff (1578), die von Winfried Zeller als »bahnbrechend« bezüglich des Erkenntnisproblems bezeichnet werden: Naturmystik und spiritualistische Theologie bei Valentin Weigel. In: Faivre/Zimmermann (Hg.): Epochen der Naturmystik, S. 105–124, hier S. 112. 113 Zit. n. Pfefferl: Die Überlieferung der Schriften Valentin Weigels, S. 15. 114 Kontroverse um den ›Güldenen Griff‹. In: PW 8, S. 114.



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Weigel schrieb dies zu einer Zeit, als der Topos der Selbsterkenntnis fest mit dem Interpretationsmodell einer Erkenntnis der menschlichen Gottesferne und Sündhaftigkeit verbunden wurde.115 Anthropologisch ging diese Deutung mit einer Verkürzung des trichotomen Modells auf ein dichotomisches einher, nach dem das Bewusstsein um die Erbsünde und das vollkommene Angewiesensein des Sünders auf Gottes Gnade Gegenstand des letzten Erkenntnisschritts war. Die 1577 verfasste Confessio Augustana betont das Theorem des Sündenfalls als Korrumpierung der menschlichen Natur bis in ihr Innerstes.116 Die Frage nach der Natur des Menschen entwickelt sich in den frühneuzeitlichen Debatten zu einer Systemstelle, an der sich konkurrierende Semantisierungsprozesse nachzeichnen lassen, die in Verbindung mit den diskursmächtigen Deutungsinstanzen der Bekenntnisschriften zu konkurrierenden ›Wahrheiten‹ werden. Bereits die Confessio Augustana (1530) hatte gegen die Wiedertäufer und Spiritualisten der Reformation die Erbsünde und die Unfreiheit des Willens betont. Nach kanonisierter kirchlicher Lehre wurde der Mensch in Sünde empfangen und geboren, war vom Mutterleib an voll böser Lust und Neigung und hatte im Fall alle Fähigkeiten einer Verbindung zu Gott aus eigener Kraft bis hin zur Liebe verloren.117 An alten Übersetzungen der Bekenntnisschriften lässt sich noch deutlich ablesen, wie explizit die kanonisierte und damit diskursmächtige Fassung der neuen Konfession in Abgrenzung gegen die zeitgenössischen mystischen Wendungen formuliert worden ist, die in den sozialen Unruhen sowie der Täuferbewegung als Berufungsinstanz eine wichtige Rolle gespielt hatten: In einer alten Übersetzung der Apologie des Augsburger Bekenntnisses (1531) heißt es, Adam verlor im Fall nicht nur seine Gotteserkenntnis und die Liebe zu Gott, sondern auch »das Licht im Herzen«.118 Hier wird die Vorstellung einer inneren Instanz regelrecht verschlossen, die als inneres Licht oder Wort eine innerseelische Verbindung zu Gott und damit eine vom Verbum externum unabhängige Instanz dargestellt hatte. Mit dieser Entwicklung einher geht eine stetige Abwertung des

115 Die christliche Tradition geht traditionell bei der Deutung der delphischen Formel Gnothi seauton von einer Erkenntnis der Sündhaftigkeit aus; so z. B. Haas: Nim din selbes war. Im Anschluss an Thomas von Kempens De imitatione Christi gelangt die Deutung der Selbsterkenntnis in Sünde zu Calvin und Luther. Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Hg. v. Ernst Kähler. Stuttgart 1962, S. 145. Kritisch dazu Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit, S. 46. 116 Konkordienformel, Art. 1. In: Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-luthe5 rischen Kirche. Gütersloh 2004, S. 779. 117 Confessio Augustana, Art. 2 118 Apologie der Augsburgischen Konfession. In: Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Göttingen 1930, Bd. I, S. 151.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

menschlichen Herzens und ein signifikanter Austausch biblischer Referenzstellen. Während für Sebastian Franck noch das Paulus-Wort vom Geist Referenz war, der »auf die Tafeln des Herzens« schrieb (2 Kor 3,3), rekurriert die Konkordienformel, die im Jahr vor Weigels Fertigstellung des Güldenen Griffs entstand, auf Mt 15,19 sowie 1 Mos 8,21;6,5: »[…] das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.«; »Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken.«119 Diese Festschreibung des Sitzes der menschlichen Seele als böse und unfähig zum Guten gewinnt in der Konkordienformel, die einen Konsens zwischen den zerstrittenen Positionen innerhalb des Luthertums herstellen sollte, eine diskursbestimmende Position. Über die Konkordienformel und die symbolischen Bücher leiteten sich nicht nur die Kriterien für Rechtgläubigkeit ab, sondern sie wurden als Dokumente, auf die Pfarrer vereidigt und nach denen Abweichler beurteilt wurden, auch Grundlage der Sozialdisziplinierung. Die Konkordienformel verbindet mit dem Begriff der menschlichen Natur das Konzept der vollständigen Verderbnis, die bis ins Innerste des Menschen reicht: Denn die Erbsünde ist nicht eine Sünde, die man tut, sondern sie steckt in der Natur, Substanz und im Wesen des Menschen. [Das ist] so [gemeint]: Wenn auch kein böser Gedanke mehr im Herzen des verderbten Menschen aufsteigen würde, kein unnützes Wort geredet würde noch eine böse Tat geschähe: so ist doch die Natur durch die Erbsünde verderbt, die uns durch den durch Sünde verderbten Samen (corrupti seminis) angeboren wird und ein 120 Brunnquell aller anderen Tatsünden ist, wie böse Gedanken, Worte und Werke.

Diese zunächst Trost-lose Perspektive auf die menschliche Natur, die durch die Heilstat Christi wieder aufgehoben wird, bietet zwar einerseits ein Erklärungsmuster für die politische, soziale und wirtschaftliche Zerrissenheit der Zeit, doch deutet die Aufmerksamkeit, die alle Bekenntnisschriften der Widerlegung abweichender Positionen widmen, ex negativo auf die häretische Attraktivität von Sinnangeboten hin, die eine andere Perspektive auf die menschliche Existenz einnehmen. Bereits Sebastian Francks Übersetzung des Corpus Hermeticum hatte ein gänzlich abweichendes Bild von der Selbsterkenntnis und der menschlichen Natur gezeichnet: »Ja, wer in sich selbs geet vnd sich selbs kenet  / der geet in Gott / vnd erkenet Got / wie Gottes wort in mir leret / das liecht vnd leben ist Gott der vater / auß dem der mensch geporn ist.«121

119 Konkordienformel, Art. 1. In: Unser Glaube, S. 783. 120 Ebd. Dazu Mt 15,19 u. 1 Mos 8,21; 6,5. v 121 Franck: Guldin Arch, Bl. 41 ; CH I, 21 (CHD I, 17f). Zu weiteren Aussagen über die soteriologische Bedeutung der Erkenntnis CH I, 26, IX, 4, X, 15 u. XIII, 10.



Häretisierung und Hermetisierung

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Diese Formulierung hatte bei Franck zunächst nichts mit einem neuzeitlichen Bild des Menschen als einem »wunderbaren Beherrscher der Wirklichkeiten«122 gemein, sondern bezog sich auf die Kontextualisierung hermetischer Texte in christlicher und neuplatonisch geprägter Literatur sowie den Konzepten von Seelenfunken und Seelengrund. Weigel verbindet mit Franck dieselbe kritische Distanz zum konfessionspolitischen Streit um Fragen des richtigen Bekenntnisses, gegenüber denen er einen vollständig verinnerlichten Christus als Ausgangsgrund aller Bekenntnisse und Zeremonien betont. Vergleichbar zu Luthers Insistieren auf der Priorität Christi gegenüber dem katholischen Zeremonienwesen setzt Weigel Christus und den Glauben, Kern- und Kampfbegriffe des lutherischen Denkens, zum Maßstab aller klerikalen Handlungen; im Unterschied zu Luther allerdings verortet Weigel Christus und Gesetz inwendig im Menschen.123 Die Betonung des inneren Christus, wie sie bereits bei Franck im Anschluss an die Logosmystik stattgefunden hatte, ist bei Weigel in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sichtbar in Abgrenzung zu den rivalisierenden theologischen Positionen und den streitenden Fraktionen formuliert. So betont er, Gott kenne weder Auserwählte noch Lieblingskinder, sondern liebe alle seine Kinder gleich und gebe seinen Geist allen, die ihn darum bitten.124 Auch aktualisiert er die positiven Konnotationen der Herzensmetapher: Christus ist das Gesetz Gottes, das den Menschen ins Herz geschrieben wurde.125 Damit unterläuft er jedoch die dogmatische Akzentuierung einer vollständig korrumpierten menschlichen Natur und gerät so in ein Spannungsverhältnis zur Orthodoxie. In diesem Konfliktfeld, das zunächst innerchristlich als Konflikt um die Unmittelbarkeit oder Vermittlungsnotwendigkeit der Präsenz Christi ausgetragen wurde, erwächst aus wenigen Anspielungen Weigels an hermetische Traktate im Diskurs die Umschmelzung seiner Theologie in eine häretische und hermetische Position. Zur Vermittlung zwischen christlichen und hermetischen Texten spielt bei Weigel die trichotome Anthropologie, die in den Texten Francks lediglich als Anspielungshorizont präsent war, eine

122 So Stuckrad: Was ist Esoterik, S. 98 f., in Bezug auf Giovanni Pico della Mirandolas Oratio (»Rede über die Würde des Menschen«). Ähnlich wie die historische Kontextualisierung bei Giovanni Pico eine konzeptionellen Differenz zwischen Weltbeherrschung und Weltüberwindung eruierte, lässt sich diese Spannung auch bei Franck und Weigel feststellen. Weiterführend Brian Copenhaver: Magie und die Würde des Menschen: Picos ›Oratio‹ vor und nach Kant. In: Mahlmann-Bauer (Hg.): Scientiae et Artes 1, S. 65–97. 123 Weigel: Gnothi seauton. In: PW 3, S. 29: »Darumb ist Christus das Geseze selbst in vns, Ja Gott ist Christus vnd das geseze in vnß, vnd seind Moyses vnd Christus mit nichte widereinander im geiste, aber woll im buchstaben.« 124 Ebd., S. 139. 125 Ebd., S. 121.

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extrapolierte Hauptrolle. Sie wird mit einer erkenntniskritischen Haltung verbunden, die Weigel ausdrücklich für Laien formuliert auf Deutsch an seine Leser weitergibt.

2.2. Zur Aktualisierung der trichotomen Anthropologie Nach Weigels Gnothi seauton, dem Ander Büechlein Von Erkchendtnus sein selbst sowie Der güldene Griff 126 bezieht sich der Topos der Selbsterkenntnis auf den zu erkennenden Umstand, dass der Mensch nach Paracelsus einen Mikrokosmos darstellt, der die ganze Welt in sich enthält: Gnothi seauton. Nosce te ipsum. Erkenne dich selbst. Zeiget vnd weiset dahin  / daß der Mensch sey ein Microcosmus, das gröste Werck Gottes / vndter dem Himmel / Er sey die kleine Welt / vnd tregt alles in jhme / was da funden wird /in Himmel vnd Erden / vnd auch 127 darüber.

So lautet der volle Titel des ersten Buches. Diese zentrale These wird im Folgenden entfaltet: Das Wesen des Menschen ist in drei Ebenen hierarchisch abgestufter Tiefe bzw. Geistigkeit gedacht, von denen jeweils eine Ebene die andere transzendiert und einschließt.128 Dies wird ikonografisch in konzentrischen Kreisen dargestellt,129 wobei Weigel an den bereits von Tauler formulierten Grundsatz anschließt, Höhe und Tiefe als räumliche Metaphern für das Nichträumliche, den Geist, ineinsfallen zu lassen.130 Die »Höhe« ist daher nicht ausschließlich gleichzusetzen mit dem »Oben« des lokalen Himmels, sondern bezieht sich

126 Die Verfasserfrage bei diesen zentralen Texten ist nicht ganz eindeutig. Ganze Passagen aus dem früheren Gnothi seauton (1571) sind in den späteren Der güldene Griff (1578) eingefügt. Eine neu entdeckte Handschrift des Güldene[n] Griff[s] ergibt dahingehend einen Einblick in die »Weigelsche Literaturwerkstatt in Zschopau« (Pfefferl), dass ganze Kapitel in unregelmäßigen Abständen abwechselnd von Weigels und Biedermanns Hand verfasst worden sind. Das lässt auch unabhängig von der puristischen Verfasserfrage auf eine große inhaltliche Nähe zwischen beiden schließen. Stilistisch sind beide Texte trotz der deutlicheren Kirchenkritik in Der güldene Griff in der klaren und ruhigen Diktion verfasst, die für Weigels Texte charakteristisch ist. Entsprechend entscheidet Pfefferl, Gnothi seauton als Werk Weigels zu zählen, bei dem eine Mitarbeit Biedermanns nicht auszuschließen ist. Ebenso betrachtet er Der güldene Griff als Werk Weigels. Vgl. Pfefferl: Einleitung. In: PW 3, S. XXIV ff., und Pfefferl: Einleitung. In: PW 8, S. XXXV. 127 Weigel: Gnothi seauton. In: PW 3, S. 151. 128 Grundlegend Kämmerer: Das Leib-Seele-Geist Problem, S. 70 ff. Übersichtlich auch Koyré: Mystiques, Spirituels, Alchimistes, S. 103 ff. 129 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 28. 130 Tauler: Predigten I, S. 306 / V. 39; S. 162, Z.18.



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vor allem auf das »Innen« des Geistes. Weigel verortet sich hier im traditionell mystischen Kontext, wenn er in der Charakterisierung der Erkenntniskräfte die höchste Erkenntniskraft gleichzeitig als die innerste beschreibt und die unterste als äußerste charakterisiert: »Je Jnwendiger, Je geistlicher vnnd edtler, vnnd Je auswendiger, Je grober vnnd schwacher.«131 Auf der physikalischen Ebene verortet sich im Modell der Körper, die mittlere Ebene ist die Ebene des siderischen Geistes, die feinstofflich gedachte Lebenskraft aller Wesen unterhalb »des Gestirns« und die höchste (geistige) Ebene ist der Bereich der Seele. Jede der drei Ebenen entspricht einer Sphäre in der äußeren Welt, aus der der entsprechende Teil stammt und in den er nach dem Tod auch wieder zurückkehrt.132 Während der Körper und der siderische Geist sterblich sind, ist die Seele unsterblich: sie »ist Jn Gott, vnd Gott ist in Jhr«, erläutert Weigel in einer eckhartschen Formulierung.133 Damit hat der Mensch sowohl am Irdischen wie am Göttlichen Teil; während die Seele in Gott ist und Gott in ihr weilt, ist der Mensch seinem irdischen Teil nach in der Welt und die Welt ist in ihm. Zugrunde liegt die paracelsische Vorstellung, dass der Mensch ein »Khurzer begriff« aller Kreaturen sei, da Gott ihn am Ende des Schöpfungsvorgangs aus dem fünften Element, dem Limus terrae oder auch dem »Erdenkloß«, geschaffen habe.134 Der Begriff des Erdenkloßes ist nicht zu verwechseln mit der konkreten Erde, wie Weigel sich gegen das wortwörtliche Verständnis der akademischen Theologie abgrenzt, sondern der Begriff bezeichnet die gesamte Schöpfung im Zustand der reinen Potenzialität: Der mythologischen Schöpfungsvorstellung nach lag Adam vor der Erschaffung des Menschen in der Schöpfung, in allen Kreaturen verborgen, so betont Paracelsus, worin ihm Weigel folgt. Gott machte im letzten Schritt aus der gesamten bisher erschaffenen Schöpfung (Gestirne, Wasser, Pflanzen, Tiere) einen »Auszug«, das fünfte Element, das den Kern und

131 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 27, ebd., zur Charakterisierung der Erkenntniskräfte: »Das 1. ist das Jnnerste vnnd hochste auge […]. Das 2. ist das mittelste […]. Das 3. ist das vnterste grobeste eusserste.« 132 Weigel: Gnothi seauton. In: PW 3, 56: »Darumb dieweil der Erden Kloß ist dise ganze welt, alß nach einfeltiger rede, so wirdt ein Jedes Theil durch den todt geschiden an seinen ort daher es kommen ist, als der Leib wirdt begraben in die Erden vnnd faulet, der Geist, auß der Natur wird verzert vom firmament, auß welichen er ist, die Seel gehet zum Herren.« Koyré: Mystiques, Spirituels, Alchimistes, S. 104. 133 Weigel: Gnothi seauton. In: PW 3, S. 60. 134 Ebd.; Paracelsus: Astronomia magna, S. 31 ff.; zum Vergleich der Anthropologie bei Paracelsus und Weigel Kämmerer: Das Leib-Seele-Geist Problem, S. 70.

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das Wesen der ganzen Welt als ihr gesamtes Potenzial enthielt, und aus diesem Material schuf er den natürlichen Teil des Menschen.135 Der Mensch ist also als doppelte Natur gedacht: Er hat über den Körper und den siderischen Geist am Irdischen und über seine unsterbliche Seele am Göttlichen Teil. Die doppelte Natur des Menschen widerspricht dem trichotomen Denkprinzip nicht, sondern sie ist in ihm aufgehoben: Der irdischen Natur werden die sterblichen Ebenen des physikalischen Körpers und der Lebenskraft zugerechnet, der ewigen Natur die Ebene der Seele. Entsprechend seiner doppelten Natur hat der Mensch zweierlei Weisheiten in sich, eine natürliche zum zeitlichen Leben und eine göttliche ewige.136 Die natürliche Weisheit entspricht dem Licht der Natur; sie kommt aus dem siderischen Geist und ist die Quelle aller Künste und Wissenschaften. Die göttliche Weisheit ist ein Geschenk Gottes. Entsprechend dieser doppelten Natur geht der Mensch durch zwei Geburten: erstens durch die Geburt durch Vater und Mutter in die Existenz des »natürlichen« Menschen, und zweitens durch die geistige Geburt in den Himmel bzw. in die geistige Existenz als Sohn Gottes.137 Wie bereits in der Tradition vorgeprägt, benennt Weigel die beiden Existenzweisen mit den Namen Adam und Christus. Anknüpfend an die bereits bei Franck vorgenommene Naturalisierung der paulinischen Begriffe beschreibt Weigel mit ihnen weniger historische Personen, als vielmehr zwei Pole der menschlichen Existenz, die sich auch mit den Begriffen des Eigenwillen und des göttlichen Willen, des Abfalls und der Rückkehr, der Blindheit und der Erkenntnis, aber auch mit dem zeitgenössischen Gegensatzpaar des Buchstabens und des Geistes korrelieren lassen.138 Entgegen der Interpretation des zeitgenössischen wörtli-

135 Paracelsus: Astronomia magna, S. 36 f. 136 Weigel: Gnothi seauton. In: PW 3, S. 53. 137 »Disen geist der welt nent der apostl [Paulus] den Natierlichen Menschen, vnd ob schon Adam auß den Natierlichen vnd vber Natierlichen ist zusammen gesezt vnd in das Parateis gestelt, dennoch durch seinen vngehorsam, ist er ganz Natierlich zu Rechnen vnd so lang fur einen Natierlichen menschen zue achten biß er wider durch die gnade trete in die newe gebuert, vnd ein Sohn Gottes geboren werde durch Christum. Hierauß folget daß wri nun zweymal mesßen geboren werden, einmal vom Vatter, vnd Muetter, in diese sichtbare welt vnd zum andern mal, durch Christum in Himel. so wenig nun ain Mensch ohne Natierliche schöpffung oder gebuert, mag kommen in das Natierliche löben disßer weld, eben so wenig mag einer ohne die neüe, oder widergebuert khomen in daß vbernatierliche löben in den Himel, wie solches Christus selbst bezeuget.« Weigel: Gnothi seauton. In: PW 3, S. 53. 138 Im Zweiten Buch des Gnothi seauton listet Weigel eine lange Reihe an Begriffen zu den Polen Adam und Christus auf. So steht Adam für Ungehorsam, Unglauben, den Natürlichen Menschen, den Buchstaben, den Tod, die Finsternis, die Blindheit, das Gesetz, die Übertretung des Gesetzes, die Ungerechtigkeit, die alte Geburt, den Eigenwillen und die Gefangenschaft im Tode. Dem-



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chen Bibelverständnisses verortet Weigel nicht nur Adam und Christus, sondern auch die beiden Bäume des Paradieses, den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sowie den Baum des Lebens im Menschen.139 Damit greift Weigel explizit auf Sebastian Francks Von dem Bawm deß wißens Gutz vnd bös zurück, einen der Texte in Francks Vier Kronbüchlein, der in Weigels »Bücherverzeichnis«, einer Liste mit Lektüreempfehlungen, an erster Stelle genannt ist.140 Damit wird nicht nur der Sündenfall, sondern auch das Himmelreich letztlich psychologisiert, was Weigel mit Lk 17,21 belegt: »Das Reich Gottes ist inwendig in euch.« Im zweiten Buch des Gnothi Seauton fügt Weigel einen langen Auszug aus einer Predigt Meister Eckharts zu genau diesem Thema der Inwendigkeit des Reiches Gottes ein, das dem Menschen näher ist als dieser sich selbst.141 Die biblischen Gleichnisse vom Schatz im Acker, von der Perle und vom Senfkorn werden alle auf die verborgene Präsenz Gottes im Seelengrund eines jeden Menschen bezogen, die so lange unerkannt bleibt und vergeblich im Außen gesucht wird, als der Mensch

gegenüber steht Christus für den Gehorsam, den Glauben, den übernatürlichen Menschen, den Geist, das Leben, das Licht, die wahre Erkenntnis, das Evangelium, die Gnade, die Erfüllung, die Gerechtigkeit, die Neue Geburt, den göttlichen Willen und die Freiheit zum Leben. Weigel: Das Ander Büechlein Von Erkchendtnus sein selbst. In: PW 3, S. 99. 139 »Die da die schrifft nach dem buhstaben handeln vnnd Christum von aussßen an suchen möhten gedenkhen, wie reimbt sich Adam vnd Christus, zum Gnothi seauton, dieweil Adam für 4640 Jaren gestorben ist […] vnd Christus fur 1500 vnndt 38 Jahren zu Jerusallem gecreiziget […] nun ihm Himel wohnet, oder wie mögen soliche Paumbe ihm Menschen sthehen? Aber wir muessßen vnnd nicht bekumern lassßen die grossße einfalt der buechstabischen, Sundern es gebueret den Christen, Vill mehr zu sehen auf den Sinn vnnd verstandt der schrifft […] darumb faaren wir fort durch Göttlichen verstand zubeweisen, daß Adam in vnns sey, vnnd daß Christus in vns sey, auch also daß beide Samen vnd baume in vns sein, dann so soliche ding ausser vnns wehren, brehten sie vnns gewißlich weder nuz noch schaden.« Weigel: Das ander Büechlein. In: PW 3, S. 104. 140 Weigel: Informatorium. In: PW 11, S. 133. Franck betrachtet alle biblischen Erzählmotive als nichtig, solange sie nicht auf ihren Seelenaspekt hin interpretiert werden. Der Baum der Erkenntnis ist daher ein Symbol oder eine »Figur« für den Eigenwillen. Entsprechend handelt es sich im »Fall« auch nicht um einen einmaligen Apfelbiss, sondern um eine perpetuierte Existenz in Gottesferne, die je nach Verhalten der Menschen aufrecht erhalten oder überwunden werden kann. Vgl. Franck: Von dem Bawm des wissens guts und böses […]. In: Ders.: Die vier Kronbüchlein, S. 189. 141 Weigel: Das Ander Büechlein. In: PW 3, S. 115 ff. Weigel arbeitet mit dem Baseler Taulerdruck aus dem Jahr 1522 und mit den darin enthaltenden Eckhart-Predigten. Winfried Zeller wies nach, dass Weigel Eckhart namentlich zitiert und zweimal lange Eckhart-Predigten einfügt, nämlich Euge serve bone et fidelis sowie Beati pauperes spiritu, die Eckharts Gedanken zu Gott und Seele in äußerster Dichte zusammenführt. Obwohl Weigel Tauler sehr schätzt und diesen namentlich oft anführt, sieht Zeller ihn in den entscheidenden Punkten von Eckhart inspiriert. Zeller: Meister Eckhart bei Valentin Weigel, S. 66, S. 85 f.

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der kreatürlichen Wahrnehmung der fünf Sinne und seinem Eigenwillen verhaftet bleibt.142 In wörtlicher Anlehnung an Francks Paradoxa setzt Weigel die Selbsterkenntnis mit der Erlösung von sich selbst gleich, wobei das »Selbst« sich auf den adamitischen Pol der menschlichen Existenz bezieht: Der Seligmachende glaube erlöset Vnns reht Vom vbel, das ist Vonn vnns selber, dann Er löset den Menschen nit mehr sein selbst eigen sein, sondern Er mueß deß sein, an dem Er glaubet. Wer sich nun selber Erkönnet, der bettet mit Brueder Niclaß in schweitz also, Herr Jesu Christe, nim mich mier, Vnd gib mich ganz zu eigen dier, daß ist Erlöse mich von 143 vbel.

Die skizzierte Anthropologie darf als Schnittstelle verschiedenster Einflüsse gelten und ist insbesondere aus Weigels Perspektive nicht per se als unchristlich zu bezeichnen. Prominente Prätexte für die Topoi der doppelten Natur des Menschen, der trichotomen Anthropologie und insbesondere der Adam-Christus Typologie sind neben Paulus die taulerschen Predigten und die Theologia deutsch, die Luther als Autorität für die protestantische Theologie quasi geadelt hatte.144 Dennoch wird die trichotome Anthropologie nicht nur bei protestantischen Kritikern Weigels, sondern konfessionsübergreifend zum Häresiemerkmal.145 Valentin Weigel verbindet mit diesem anthropologischen Modell in Gnothi seauton (1571) und Der güldene Griff (1578) eine auf Deutsch verfasste Erkenntnistheorie, die im historischen Moment konkurrierender Wahrheitsansprüche auch den Laien Orientierung ermöglichen soll.

2.3. Trichotome Epistemologie:  Subjektzentrierte Erkenntnis, Perspektivität und Lumen internum Die trichotome Anthropologie ist mit einem korrespondierenden dreistufigen Modell der Erkenntniskräfte korreliert, das grundlegend für weitere Argumentati-

142 Weigel: Das ander Büechlein. In: PW 3, S. 116 ff. Vgl. die Anmerkungen in Bezug auf Parallelen zu Eckhart; weiterführend Koyré: Mystiques, Spirituels, Alchimistes, S. 98. 143 Weigel: Das ander Büechlein. In: PW 3, S. 111. 144 Als biblische Referenzstelle gilt 1 Tess 5,23. 145 Nach der Identifikation der trichotomen Anthropologie mit einer Häresiemarkierung durch Hunnius wurde 1624 bereits ein Pfarrer für sein Menschenbild aus dem Pfarramt entlassen. Weeks: Valentin Weigel, S. 182, sowie Opel: Valentin Weigel, S. 361. Auch im Katholizismus wurde das trichotome Menschenbild vom Lehramt rekurrierend als »falsch« verworfen: Art. »Trichotomismus«. In: Kleines theologisches Wörterbuch Hg. v. Karl Rahner u. Herbert Vorgrimler, 10 Freiburg 1976, S. 420.



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onsfiguren im Diskurs bis hin zum radikalen Pietismus ist. Das dreistufige Modell der Erkenntniskräfte ist ebenfalls mit einem zweifachen Modell der Erkenntnisbereiche bzw.  -objekte verschränkt, dem »Auge« als Erkenntnissubjekt und dem »Gegenwurf« als Erkenntnisobjekt.146 Im Bereich des Objekts unterscheidet Weigel zwei Bereiche, einen sogenannten zweifachen Gegenwurf: Der erste ist endlich, geschöpflich und begeifbar, der zweite Bereich ist unendlich, geistig und prädiskursiv.147 Der erste bezieht sich auf den Bereich der Kreatur, der zweite auf den Bereich Gottes. Im Menschen befinden sich ebenfalls zwei diesen Bereichen entsprechende Weisheiten, die natürliche und die übernatürliche Weisheit. Weigel assoziiert sie mit der Philosophie und der Theologie, womit der Theologie zunächst der Formulierung nach ganz lutherisch die überlegenere Position zufällt.148 Allerdings grenzt Weigel beide Erkenntnisweisen nicht wie Luther strikt gegeneinander ab, sondern rückt sie in ein graduelles Verhältnis.149 Darüber hinaus impliziert sein Verständnis der Theologie als übernatürliche Weisheit eine konzeptionell andere Rede von Gott als der akademische Diskurs: Während die Lehre vom inneren Christus aus dem Wahrheitskonzept der orthodoxen Theologie ausgeklammert wurde, definiert Weigel das Ziel der Theologie explizit in der Lehre von Adam und Christus »in vns selber, vnnd ausser vns«.150 Als entscheidenden erkenntnistheoretischen Umstand denkt Weigel die natürliche Erkenntnis als aktiv vom Menschen ausgehend, die übernatürliche Erkenntnis dagegen als passiv, sodass sie der Mensch nur in einem meditativen Moment der absoluten Gedankenstille empfangen kann. Nemlich eine naturliche erkentnis durch eigene kreffte vndt schwindigkeit, do sich der mensche wircklich helt, mitt speculiren, phantasiren, betrachten, erforschen etc. vnnd

146 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 15 ff. Siehe zum Folgenden auch Längin: Grundlehren der Erkenntnislehre Valentin Weigels, S. 442 ff. 147 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 19. »Es ist aber ein zwiefacher kegenwurf (dann es seint zwey wesen, als gott vnd die Creatur) bei begreiflicher, endlicher vnd beschliesslicher kegenwurf, als da ist die Creatur, sie sey sichtig oder vnsichtig, dann alles was gott geschaffen hatt, mag der verstandt begreifen. Der ander kegenwurf ist vnendlich vnausmeßlich vnd vnbegreiflich, als gott, der da nicht mag begriefen werden durch menschen verstandt, alleine von fernen wird er erkant.« 148 So z. B. Luther: Disputatio de Homine, In: WA 39/1, S. 175 f., § 11 u. 20. 149 Bosch: Reformatorisches Denken, S. 251. 150 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 20. »Die vbernaturliche weisheit oder theologey leret vns erkennen was adam vnnd Christus sey in vns selber, vnnd ausser vns, wirdt begriffen in den schrifften der propheten vnnd aposteln, dienet zum ewigen vnd himlischen leben. Aber die naturliche weisheit oder philosophey, leret erkennen die gantze natur des sichtbaren vnnd vnsichtbarn lichts, dienet auf das zeittliche kurtze Leben vnnd horet auf mit der Welt.«

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eine vber naturliche erkentnis oder Weisheitt, do der mensch nicht den kegenwurff wircket, sondern viel mehr in leidlicher weise seine erkentnis erwartet vnnd empfehet von dem vnbegreifflichen kegenwurffe, von gotte selber, der sich in dem leidtlichen auge ergeusset, vnnd also wircket der mensche nichts in dieser erkentniis, er stehet still, mitt allen seinen 151 gedancken vndt ist gleich todt.

Beide Weisheiten können nicht gegeneinander ausgespielt werden, vielmehr gehören sie zusammen, »Es gibet eine der andern die handt«152 und nur im Zu­ sam­ menspiel, »ohne vnordentliche vermengung« führen sie zu Christus, und so »erkennet man alle geheymnisse der naturlichen vnnd vbernaturlichen dingen«.153 Im Kontext lässt sich die Kritik an der Verabsolutierung des Schriftprinzips eruieren. Diesen zwei Ebenen der Erkenntnis werden drei Erkenntniskräfte, metaphorisch »Augen« genannt, zugeordnet, die analog zu den drei anthropologischen Ebenen des materiellen Körpers, des (siderischen) Geistes und der Seele gedacht werden. Das Motiv der drei Augen ist bei Hugo von St. Viktor, bei Eckhart und Tauler vorgeprägt. Weigel bezeichnet sie als sinnliches/fleischliches Auge (Oculus carnis), vernünftiges Auge (Oculus rationis) und als Auge des Verstandes (Oculus mentis seu intellectus).154 Jedes der Augen bzw. jede der Erkenntniskräfte enthält die nächst untere in sich und übertrifft sie gleichzeitig. Das sinnliche und das vernünftige Auge, also die Erkenntniskräfte der Sinne (hier wird auch die Imagination verortet) und der Vernunft werden dem Bereich der natürlichen Weisheit zugeordnet, d.h. sie werden als aktiv gedacht. Damit kann Weigel sein erkenntnistheoretisches, in der Tradition erst mit Kant assoziierte Grundaxiom formulieren, dass Erkenntnis im Raum der Natur immer vom Subjekt, nie vom Objekt ausgeht: Alle natürliche Erkenntnis fließt aus dem Auge, dem Beobachter, nicht aus dem Gegenwurf, dem Objekt.155 Alle Wahrnehmung wird daher als aktiver Vorgang verstanden, der im Bereich der natürlichen Erkenntnis unhintergehbar bleibt. Kronzeuge von zeitgeschichtlich hoher Brisanz für dieses erkenntnistheoretische Grundaxiom ist nach Weigel der unlösbare Konflikt der Theologen über die endgültige Botschaft der Heiligen Schrift. Damit wird aus der Aktualisierung traditioneller Wissenselemente im historischen Moment eine erkenntniskritische Reflexion über die Grenzen des Wissens. Während die Theorie der drei Augen

151 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 23. 152 Ebd., S. 21. 153 Ebd. 154 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 25. 155 Ebd., S. 36. Siehe auch Längin: Grundlehren der Erkenntnislehre Valentin Weigels, S. 444,



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von Hugo von St. Viktor stammt, reflektiert Platons Dialog Theaitet den produktiven Charakter der Geistseele und differenziert zwischen Wissen und Wahrnehmung.156 Als wichtige Quelle spezifiziert Boethius’ Trost der Philosophie, dass Erkanntes nicht mittels einer ihm innewohnenden Kraft, sondern nur »gemäß der Fähigkeit des Erkennenden« erkannt wird.157 Von Boethius übernimmt Weigel auch das Konzept der sich umfassenden Erkenntniskräfte nach den Ebenen der Sinnlichkeit, der Einbildungskraft, der Vernunft und dem »Auge« der Intelligenz.158 Dieses Wissen überträgt Weigel nun mit anschaulichen Beispielen in deutscher Sprache auf die Bibelexegese. Damit behandelt er den zeitgeschichtlich unlösbaren Konflikt der Schultheologen um eine einheitliche Lesart der Heiligen Schrift, die nach Luther ja in klaren Worten verfasst sein sollte,159 als erkenntnistheoretisches Dilemma, das auf der Ebene der Vernunft tatsächlich nicht zu lösen ist. Käme Erkenntnis aus dem Objekt, also der Heiligen Schrift, dann müsste sich eine einheitliche Theologie formulieren lassen, und sie wäre allen Menschen einsichtig: Ein exempel: Die biblia ist ein vnbeweglicher kegenwurff oder obiectum aller naturlichen theologen. Solte nun in der naturlichen erkentnis, der Verstandt fliessen vom kegenwurff (wie vermeynett wirdt), vnnd nit vom auge selber, so muste gewiß die biblia oder der vngespaltene kegenwurff allen theologen eine gleichformige auslegung oder vngespaltene erkentnis bringen, So wir doch das wiederspiel erfharen mitt grossem Jammer. Nemlich daß nicht vom kegenwurfe das ist aus der biblia, sondern vom auge selber, das ist aus dem leser vnnd menschen die erkentnis fliesse, dieweil ein Jeder leser erkennet vnnd vrteylet die 160 schrifft, nach deme er ein auge ist vnnd bringet.«

Die Tatsache der Unmöglichkeit, aus der Bibel eine einheitliche und vor allem allen Menschen einsichtige Theologie abzuleiten beweist dagegen das Gegenteil: Die Erkenntniskräfte der natürlichen Weisheit verfahren aktiv, sie konstruieren gemäß der Beobachterposition des Subjekts, und damit sind sie perspektivgebunden: Eyn iedes obiectum ist eim Jeden, wie er selbest ist, das ist die erkentnis kommet aus dem auge, vnnd nicht aus dem kegenwurffe, darnach einer ein ding sihet vnnd vrteylet, darnach 161 ist es ihme. Wie dein auge ist also ist auch deine erkentnis.

156 Platon: Theaitet, 184–186. 157 Boethius: Trost der Philosophie, V,4. 158 Ebd., V,4. 159 Nach Weeks war die Unfähigkeit der besten Theologen, sich trotz guten Willens auf eine einheitliche Lesart zu einigen, schlimmer als alle säkulare Kritik (Weeks: Valentin Weigel, S. 37). 160 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 50. 161 Ebd., S. 35.

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Dann nach art und eigenschaft der augen wird volbracht das sehen oder erkennen Jn einem einigen kegenwurffe, das einer also vrteilet, der ander also. Dann das von einem einigen kegenwurffe so manigfeltige opiniones vnndt Judicia oder vrteil gefallen, ist nicht des 162 kegenwurfs schuldt, sondern derer, so es ansehen, mit vielfeltigen augen.

Abb. 5: Illustration »Urtheil vnd die Erkentnis fliesse vom Aug in das objectum« (Weigel: Der güldene Griff )

Hier formuliert Weigel das erkenntnistheoretische Fundament des epochalen Konflikts zwischen den polemisch sogenannten Schwärmern und den »Buchstabentheologen«. Deren heftiger Widerstand (und in diesem Punkt schnelle Einigkeit gegenüber ihren Kritikern) speist sich aus einer viel grundsätzlicheren Infragestellung des theologischen Wahrheitsanspruchs durch Weigels Epistemologie als es abweichende Interpretationen der Schrift in Einzelfragen je vermocht hätten. Die Vorstellungen einer unhintergehbaren Subjektivität und Gebundenheit aller Aussagen über entsprechende Konzepte von »Wahrheit« an einen aktiven Sehakt ist dem theologischen Konzept einer vollkommenen und

162 Ebd., S. 38.



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abgeschlossenen Offenbarung von »Wahrheit« in der Schrift diametral entgegengesetzt. Dogmatische Literatur wie etwa Johann Gerhards Loci theologici bemüht sich in Aufbau und Form um die systematische Darstellung des als »wahr« tradierten Wissens unter Heranziehung langer Beleglisten an Bibelzitaten. Das Streben nach Sicherung jenes Sinn- und Sicherheit stiftenden Fundaments eines abgeschlossenen Kanons führt bei Gerhard zur noch gänzlich unpolemischen Abwehr aller konkurrierenden Offenbarungen und verleitet sogar zur Aussage, Christus selbst habe den Kanon ausgewählt.163 Dieses Motiv der Tradierung einer absoluten und unwandelbaren »Wahrheit« leitet sich aus einem alle Konfessionen prägenden Wissenskonzept ab, das in Anlehnung an 2 Tim 6,20 von der Bewahrung und Tradierung des von den Aposteln einmal formulierten und hinterlegten Glaubens ausgeht, dem bis in die Gegenwart so bezeichneten Konzept des Depositum fidei.164 Dieses Wissenskonzept wird durch Weigels Theorie der subjektgebundenen Erkenntnis radikal in Frage gestellt, und gleichzeitig eröffnet diese den Denkraum für eine in die Aufklärung und Moderne verweisende Pluralität der Perspektiven auf »Wahrheit«. Bei Weigel wird an keiner Stelle die Existenz einer absoluten Wahrheit an sich geleugnet, noch wird die Existenzberechtigung einer auf sie verweisenden Theologie bestritten. »Wahrheit« wird lediglich in einem Raum jenseits aller perspektivgebundenen Rede von ihr verortet, während die zerstrittene Schultheologie mit dieser Rede assoziiert wird. Weigels Erkenntnistheorie unterläuft damit nicht den Gedanken einer christlichen »Wahrheit«, sondern sie bezweifelt im historischen Moment die Legitimität des Auslegungsmonopols einer privilegierten Gruppe, womit sie auf die Priesterkritik des jungen Luther rekurriert und diese gegen das zerstrittene Luthertum Ende des 16. Jahrhunderts wendet. Im historischen Moment bedeutet Weigels Aktualisierung des Topos vom Christus in nobis und seine elaborierten Ausführungen zu Anthropologie, Epistemologie und Selbsterkenntnis eine Ermächtigung des Einzelnen gegenüber der akademischen Theologie. Diese Intention steht in der Tradition von Sebastian Francks Guldin Arch, ebenso wie die Theorie, dass die Verbindung zum Geist auf profunde Weise den einzelnen Menschen zugänglich bleibt, weil er eine anthro-

163 Gerhard: Loci theologici, S. 89; zur Abgeschlossenheit der Offenbarung und der Schrift als Norm aller Wahrheit S. 37 ff.; zur göttlichen Autorität S. 67 ff. 164 Ebd., S. 56. Gerhard zitiert zum Apostelbild den Kirchenvater Irenäus, einen der großen Konstrukteure des evangelikalen Kanons. Zu Irenäus und zum Werden des Konzepts eines Depositum fidei Elaine Pagels: Kaiser Konstantin und die Geburt der katholischen Kirche. In: Dies.: Das Geheimnis des fünften Evangeliums, S. 146–187, hier S. 157.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

pologische Mitgift darstellt. Dem Bereich des Geistes ist der Mensch nicht über eine irdische Instanz, sondern über die eigene Seele und hier entsprechend über die dritte Erkenntniskraft, das Auge des Verstandes bzw. des Gemüts (oculus mentis seu intellectus) verbunden. Weigel skizziert die Bereiche der drei Erkenntniskräfte übersichtlich in einer Tabelle:165 1. Verstandt/Gemüth

Mens seu intellectus ist englisch geistlich göttlich, von wegen des geistes gottes

das hochste Jnwendigste

2. Vernunfft

Ratio ist menschlich vnnd englisch von wegen des einleuchtenden Verstandes

das Jnnere mittelste

3. Jmaginatio sehen horen richen schmecken fulen

Jst Vihisch vnd menschlich von wegen der einleuchtenden Vernunfft

das vnterste eusserste

Weigels Begrifflichkeit für die dritte Kraft (Oculus mentis seu intellectus) verweist auf denselben intellektuellen Kontext, aus dem bereits Sebastian Franck schöpfte: auf die Differenzierung des Vernunftbegriffs in einen wirkenden und einen leidenden, einen vermischten und einen unvermischten Teil aus Aristoteles’ De anima,166 die davon inspirierte Intellekttheorie Eckharts sowie das augustinische Konzept des Abditum mentis als verborgener, logoshafter Teil der Seele. Das Wissen um jenen innersten Seelenteil hatte bereits Franck aus einer Fülle an Quellen zusammengetragen. Mit Luthers Anthropologie jedoch war die Vernunft ausschließlich als außenorientiertes Seelenvermögen gefasst und nicht mehr als Haupt der Seele.167 Demgegenüber transportiert Eckharts Predigt Euge serve bone et fidelis aus dem Baseler Taulerdruck, aus der Weigel im Anderen Buch der Erkenntnis sein selbst zitiert, das Konzept der Vernunft als »vernünfticheit« d.h. als Intellekt: »Diu vröide des herren daz ist der herre selber und kein ander, und der herre ist ein lebende, wesende, istige vernünfticheit, diu sich selber verstât und ist und lebet selber in ir selber und ist daz selbe.«168 Eckharts Predigt lässt keinen Zweifel daran, wo diese Freude des Herrn zu finden ist: in der Introspek-

165 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 34. 166 Aristoteles: De anima III, 430a 167 Luther: Disputatio de Homine. In: WA 39/1, S. 175, §10: »Tamen talem sese Maiestatem esse, nec ea ipsa ratio novit a priore, sed tantum a posteriore.« 168 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 66. DW II. In: Ders.: Werke 2, S. 20/21.



Häretisierung und Hermetisierung

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tion, und dort ist sie bereits nach Eckhart ausdrücklich jedermann, auch Laien zugänglich.169 Weigels Augenmetaphorik aktualisiert also lediglich das Konzept eines innersten Seelenteils, der logoshaft, aber den niederen Erkenntniskräften verborgen ist. Im Gegensatz zur Aktivität der äußeren, an den Bereich der Natur gebundenen Erkenntniskräfte denkt Weigel das oberste, innerste Auge als passiv: Um mit dem innersten Auge ›sehen‹ zu können, müssen die unteren, aktiv Informationen verarbeitenden Augen/Erkenntniskräfte schweigen. Die höchste Erkenntnis, die er ganz lutherisch Theologie nennt, ist damit nicht auf der Ebene der aktiv und diskursiv verfahrenden Ratio, sondern auf der Ebene der spirituellen Empfänglichkeit meditativer Versenkung angesiedelt. Wer alle eussere sinne sampt der imagination vnnd vernunfft kan stille halten, vnnd sich hinein keren in den Jnwendigsten grundt der seelen, in stiller gelassenheit auf gott warten in ihm selber, vnnd in ein Vergessen kommen seiner selbest vnnd aller dinge, der wirdt in seynem Verstande erleuchtet von got, vnnd das heisset von gotte lernen, vom Vatter horen, 170 dem Zuge des Vatters raum geben. Solches mag ein Jeder in ihm selbst erfharen.

Abb. 6: Illustration Unitas und Alteritas (Weigel: Der güldene Griff )

Erkenntnistheoretisch liegt dieser Denkfigur die völlig anders geartete Natur des zweiten Gegenwurfes, nämlich Gottes zugrunde. Gott ist kein Erkenntnisobjekt im Sinne eines zu erkennenden Gegenübers, sondern er erscheint als aller Erkenntnis vorausgehender und alle Erkenntnis überhaupt erst ermöglichender,

169 Ebd., S. 18/19. 170 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 30.

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geistiger Grund. Licht und Finsternis, Gott und Creatürlichkeit zeichnet Weigel mit einer cusanischen Illustration als Unitas und Alteritas, Einheit und Vielheit, Licht und Schatten.171 Die aktiven Erkenntniskräfte der Sinne und der Vernunft sind an den Bereich der Alteritas gebunden. An anderer Stelle bezeichnet Weigel den Bereich der Kreatur, der Alteritas, auch als den Bereich der zwei, also der Dualität. Der Bereich des Lichts, Gottes oder der Unitas ist dagegen eins, und entsprechend ist er den Erkenntniskräften, die an den Bereich der Dualität gebunden sind, unsichtbar. Erst nachdem die Aktivität der unteren/äußeren Erkenntniskräfte zum Stillstand kommt, der Mensch also »zu nichts« wird, wird er damit dem gleich, das er bisher nur als »Nichts« wahrnehmen konnte. Erst dann kann dieses vermeintliche Nichts, der bislang unsichtbare Gott, alles in ihm werden: Also sol das oberste auge, als der Verstandt, ein vnsichtiges ding erkennen vnnd sehen, so muß die Vernunft stille stehen. Sol das oberste auge erleuchtet werden, so muß es nichts wircken, nichts sehen, nichts wissen, es muß im Sabath ruwen auf gott warten, das ist sol got als der ware erleuchter leren vnnd wircken, so muß der Verstandt herhalten vnnd leiden. Ach wer so selig were, daß er sich gewenete in die ruwe zu sitzen vnter gott, er durffte fur kunste vnndt weisheit nicht sorgen, er lernete alle ding ohne muhe vnnd arbeyt. Aber es ist dem Naturlichen Menschen schwer, daß er solle sterben vnnd nicht alleit wircken, mit 172 phantasiren, discurriren, imaginiren, sehen, horen etc.

An dieser Stelle findet eine völlige Umkehrung des Verhältnisses von Aktivität und Passivität im Vergleich zum Bereich der natürlichen Erkenntniskräfte statt: Im Bereich der übernatürlichen Erkenntnis wird nun gerade die Passivität des erkennenden Subjekts (des innersten ›Auges‹) zur epistemologischen Voraussetzung der Wahrnehmung des göttlichen Wirkens als aktivem »Gegenwurf.« Und da dieser »Gegenwurf« kein Gegenüber ist und nicht von außen kommen kann, sondern die Seele dem anthropologischen Modell nach an ihm als ihrem innersten geistigen Grund bereits teilhat, wird sich der geistige Grund seiner selbst bewusst: Im Moment der übernatürlichen Erkenntnis fallen nach Weigel Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis ineins.

171 Ebd., S. 31. 172 Ebd., S. 33 f. Bezeichnend ist an dieser Stelle auch bei Weigel wiederum das Bild des Democritos in einem spezifisch erkenntnistheoretischen Sinn gedeutet: »Wir lernen auch hie, ob gleich das oberste auge So hoch vnnd edel ist, daß es ohne hulfffe der vntern wircken konne, So mag es doch von den vntersten aufgehalten vnnd verhindert werden. Darumb lesen wir von Jenem philosopho, daß er ihm ließ die augen ausstechen, auf daß sein Jnwendiges auge nicht mochte von der wahrheit aufgehalten werden.«



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Ob gleich solche vbernaturliche erkentnis vom obiecto kommet, so kommet sie doch nicht von aussen, dan gotts geist vnd wort ist in vns, vnnd also fleusset die erkentnis von Jnnen heraus, vnnd Nicht von aussen hinein. […] Die teutsche theologia I. Cap. sagt das volkommene vnbegreiffliche gutt, mag nicht ehe kommen vnnd erkent werden, es sey dan daß da aufhore das stuckwerck. Creatur mit aller ihrer wirckung, kunst, schwindigkeit, muß stille stehen, vnd zu nichts werden an ihr selber, als dan kommet das volkommene, als dan wirdt erkennet das vnbegreiffliche obiectum, nemlich gott, Ja viel mehr, gott sihet sich selber 173 durch sich selber, vnd erkennet sich selber durch sich selber.

Weigels Seelen- und Erkenntnismodell benennt den Moment des wechselseitigen Erkennens von Mensch und Gott mit traditionellen Begriffen als »seligmachende übernatürliche Erkenntnis«,174 als »wahrer Glaube aus dem Geist«175 und als »Wiedergeburt«,176 da nach Paulus nicht mehr das Selbst in seiner Eigenheit, sondern Christus im Menschen lebe. Während im Bereich der natürlichen Erkenntnis der Mensch selbst als das Auge bezeichnet wird, muss im Bereich der übernatürlichen Erkenntnis das Wort bzw. Gott das Auge sein, der sich durch den – gelassenen – Menschen selbst erfährt.177 Dieser Moment wird nicht nur für den Menschen, sondern auch für Gott als höchste Freude beschrieben, ja es heißt sogar, Gott selbst suche diese Erkenntnis im Menschen und damit »vnser hochste vnnd ewige seligkeit.«178 So also ist nach Valentin Weigel das Konzept des Gnothi seauton konturiert, und es ist nach seinem Selbstverständnis in einem genuin christlichen, sogar lutherischen Kontext situiert. Es schließt an die theologische Klage über die Verderbnis der irdischen Natur des Menschen an, überschreitet sie aber gleichzeitig mit der Erinnerung an die trichotome Anthropologie und den verborgenen Seelengrund, der als Innerstes des Menschen gerade nicht verdorben ist. Damit bietet es verschiedene Anschlussstellen für einen Text, der von Weigel zunächst

173 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 49; vgl. Theologia deutsch (Hg. von Hinten), S. 72. 174 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 54. 175 Ebd., S. 55. 176 Ebd. 177 »Droben ist bewisen worden, daß in der naturlichen erkentnis der mensche das auge selber sey, Aber allhiert in der vbernaturlichen erkentnis ist der mensche nicht selber die erkentnis noch das auge, sondern gott ist selber das auge im menschen vnnd durch den menschen, […] so got in der gnaden wircken, so muß der mensche stille stehen vnd Sabath halten, auf got warten in ihm selber, dan der ware glaube aus dem geiste, das ist die wiedergeburt lesset den menschen nit sein selbest bleiben, sondern er muß des sein, an den er gleubet.« Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, 55. Vgl. dazu Eckhart: »Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.« Meister Eckhart: Deutsche Predigt 12. DW 1. In: Ders.: Werke 1, S. 148 f. 178 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 55.

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nur en passant als Beispiel zitiert wird: für den 13. Traktat aus dem Corpus Hermeticum, den Traktat über die Wiedergeburt.

3. Wiedergeburt und All-Einheit: Selbsterkenntnis und der 13. hermetische Traktat 3.1. Weigels Rezeption des Trakats von der Wiedergeburt Der große Weigel-Kritiker Nicolaus Hunnius bemängelte angesichts Weigels Konzept der Wiedergeburt, das sich aus der dreigestuften Anthropologie ableitet, sie »geschihet nicht durch Tauffe oder andere sichtbare Zeichen«179 und bezöge sich irritierenderweise auf das gesamte Wesen der Person: Sie geschehe »leiblich / substantialiter / und wesentlich.«180 In diesem Punkt schließt Weigels Konzept an die bereits bei Franck und dessen Quellen beobachtete Forderung einer substanziellen Transformation des Menschen im Erlösungsgeschehen an. Dieses Ziel der wesenhaften Transformation benennt auch Colberg als erstes formales Kriterium im Katalog der Heterodoxien mit dem Begriff der »Vergötterung«.181 Das genuin lutherische Konzept des Heils durch Glauben wird zwar sprachlich beibehalten, jedoch inhaltlich umgeprägt: Der Glaube erscheint nicht mehr als lutherische Zuversicht auf etwas, das man – extra nos – erhofft, sondern als substanz- und wesenhafter Zustand, als »wesentlich Ding«, wie Colberg kritisiert.182 Sprach- und ideengeschichtlich ist diese Differenzierung in der mystischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts jedoch keineswegs so sauber getrennt wie sie in der orthodoxen Schwärmerkritik Ende des 17. Jahrhunderts erscheint. Die Idee einer Transformation des Menschen in Gott wurde traditionell an 1 Kor 15,51 oder an 2 Kor 3, 18 rückgebunden. Die Vulgata benutzt für die Schlüsselstelle in 2 Kor 3,18 das Wort »transformare«, und Johannes Schefflers Cherubinischer Wandersmann (1675) übersetzt diesen Vers, der Mensch werde »verwandelt« in das Bild Gottes.183 Die Rede Jesu an Nikodemus in Joh 3,3–5, dass niemand ohne neue Geburt das Reich

179 Hunnius: Christliche Betrachtung, S. 579. 180 Ebd., S. 581. 181 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 4. 182 Ebd. II, S. 459. Weiterführend Geyer: Verborgene Weisheit I,1, S. 413 ff. 183 Angelus Silesius/Johannes Scheffler: Cherubinischer Wandersmann. Hg. v. Luise Gnädiger. Stuttgart 1984, S. 9: »Wir alle die wir mit aufgedecktem Angesichte die Herrligkeit des HErren anschauen / werden verwandelt in dasselbige Bild von Klarheit in Klarheit / als vom Geiste des HErren. 2. Cor. III, 18.« Die Lutherübersetzung spricht in 2 Kor 3,18 dagegen von ›Verklärung‹. Die



Selbsterkenntnis und der 13. hermetische Traktat

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Gottes sehen könne, galt ebenso als biblische Referenzstelle wie Jesu Gebet für die Gläubigen in Joh 17,20–23, sie mögen in ihm eins sein, so wie er und der Vater eins sind. In Weigels Schrift Vom seligen Leben (1575), einer freien Übersetzung der lateinischen, sich stark an Boethius orientierenden Frühschrift De vita beata (1570), ist die Vergottungsthematik nicht nur mit Jesu Gebet aus Joh 17,21, sondern auch mit dem Begriff der Wiedergeburt verbunden. Sie steht in der bereits bei Eckhart problematisierten Tradition der Gottessohnschaft der Begnadeten: Ja eben das ist der vnwandelbare wille gottes, das wir dem einen anhangen, vnd alle eins werden in dem einen, 1. Cor. 6, Ioh. 1, Iohan. 17. Haben wir das eine, so haben wir alle ding, kennen wir das eine, so kennen wir alle dinge, nicht von aussen zu mit der welt, sondern in vns selbst, auf das vatter vnd sohn eins sein in vns, vnd nicht ausser vns. […] wie der psalm sagt: Jch habe gesaget ihr seid götter. Dan ob schon ein gott ist von natur in ewigkeit, so konnen doch viel götter sein participatione et regeneratione, nicht von Natur, sondern von gnaden in Christo. gott ist mensche geboren in vns, auf das wir auch kinder gottes geboren 184 werden, aus ihme, aus vnvergenglichen samen gezeuget.

Mit dem 13. Traktat des Corpus Hermeticum, der sogar den Begriff der Wiedergeburt explizit im Titel trägt, ist ein Text in der Tradition präsent, der im Rahmen einer dialogisch aufgebauten Erzählung einen Eindruck von einem Wiedergeburtsgeschehen vermittelt, das die Topoi der neuen Geburt, der All-Einheit und sogar des Logos in einmaliger Dichte engführt. Weigels Schriften weisen rekurrierend auf diesen Text zustimmend hin. Es muss sich um den 13. Traktat handeln, wenn es im Ander Büchlein / Vom Erkändtnus sein selbst zur »Newegeburt« heißt: Wo Creatur also vffhöret  / vnd stirbet  / da fehet Gott an zuleben  / vnd zuherrschen  / Er bekompt sein Reich / da wird der Sohn Gottes empfangen vnd geboren / da wird Gott der Mensch wie zuvor / vnd das heisset Christus. Solche Newegeburt beschrieben Mercurius ad

Stelle lautet auf lateinisch: »Nos vero omnes revelata facie gloriam Domini speculantes, in eandem imaginem transformamur a claritate in claritatem tamquam a Domini Spiritu.« 184 Weigel: Vom seligen Leben. In: PW 2, S. 160 f. (Hervorh. im Orig.). Nach Pfefferl handelt es sich um authentische Schriften. De vita beata stellt eine Frühschrift Weigels dar, in der er in Auseinandersetzung mit tradierten Autoritäten seine eigene philosophische und literarische Position zu finden versucht. Sie stellt ein bedeutendes Zeugnis der nachreformatorischen BoethiusRezeption dar. Bereits die Vorrede betont einen Grundgedanken des weigelschen Denkens, nämlich dass Gott, als höchstes Gut und höchstes Glück seit Anbeginn, in jedes menschliche Herz gepflanzt ist: »Hæc foelicitas seu vita beata Devs ipse est Summum bonum intra nos ipsos quod omnes expectimus, quod omnes desideramus atque inquirimus, naturali enim ductu eo remeare contendimus a quo sumus orti.« Weigel: De vita beata. In: PW 2, S. 4; Horst Pfefferl: Einleitung. In: PW 2, S. XIII-XLVIII; ergänzend auch Weeks: Valentin Weigel, S. 83 ff.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

Tatium, vnd hat sie mit Proculo vnd andern Heyden besser erkennet / als viel vnter denen / 185 so sich hohe Theologos schelten lassen.

Auf den 13. Traktat zielt ebenfalls Weigels Anspielung auf die Nichtlokalität des Geistes in Vom Ort der Welt, die er mit Hermes und Meister Eckhart belegt: Aus dem lernen wir, daß einem Geist remotio und propinquitat locorum ein Ding ist, das ist: Nahe und weit gilt ihm gleich, ist ihm eben eines – wie denn Mercurius und Eckhart bezeugen, daß meiner Seele ein Ding bei 2000 Meilen über dem Meer ebenso nahe ist wie 186 der Leib, darin sie wohnet.

Drittens erörtert Weigels Schrift Von der Seligmachenden Erkenntnis Gottes (1574) in einem ganzen Kapitel »Daß die widergeburt aus dem geiste, denn menschen Verendere, vnd Vernewere, in dem die unitas verdecket vnd verschluckt ihre alteritatem« diese Vorstellung mit ausführlichen Erläuterungen aus dem 13. hermetischen Traktat.187 Die interpretatorische Engführung zwischen dem spiritualistischen Wiedergeburtskonzept und dem hermetischen Text wird durch Korrespondenzen in Anthropologie und Epistemologie ermöglicht. Korrespondierend zu Weigels Ausführungen zum dritten Auge kennen auch die Traktate des Corpus Hermeticum das Motiv der Augen des Herzens oder des Geistes, die allein das Göttliche wahrnehmen bzw. den Suchenden führen können.188 Im Traktat von der Wiedergeburt heißt es sogar im abschließenden Dankgebet an den Schöpfer des Alls: »Dieser ist das Auge des Geistes«.189 In der hermetischen Erzählung bezeichnet Hermes die

185 Weigel: Das Ander Büechlein. In: PW 3, S. 187. Der 13. Traktat ist szenisch aufgebaut und enthält ein Gespräch zwischen Hermes und Tat. Zunächst wird die Wiedergeburt gedanklich erörtert, dann durchlebt sie Tat selbst und kommentiert sein Erleben fortwährend, sodass der Leser das Geschehen mitvollziehen kann. 186 Weigel: Vom Ort der Welt. In: AW, S. 297. 187 Weigel: Von der Seligmachenden Erkenntnis Gottes. In: PW 9, S. 50 ff.; zur anzunehmenden Autorschaft Weigels Pfefferl: Einleitung, S. XXIXf. 188 CH IV, 10 (CHD I S. 53): »Wenn du es genau anschaust und mit den Augen des Herzens begreifst, glaube mir, mein Sohn, dann wirst du den Weg nach oben finden. Mehr noch, das Abbild selbst wird dich den Weg führen.«; CH VII, 2 (CHD I, S. 75): »Denn ihn kann man nicht hören, nicht nennen, nicht mit den Augen sehen, sondern nur mit dem Geist und dem Herzen.« Vgl. dazu die sprachliche Nähe zu 1 Kor 2,9. 189 CH XIII, 17 (CHD I, S. 185). Imselben Traktat findet sich an frührer Stelle ein expliziter Hinweis, dass die körperlichen Augen und das körperliche Sehvermögen im Sehen geistiger Dinge blind sind. CH XIII, 3 (CHD I, S. 176 f.).



Selbsterkenntnis und der 13. hermetische Traktat

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Wiedergeburt als Voraussetzung zur Errettung,190 und auf die neugierigen Fragen seines Kindes präzisiert er die Wiedergeburt als Geburt aus dem Mutterschoß der Weisheit191  – Sapientia bzw. Sophia192  – und dem väterlichen Samen des göttlichen Willens. Auch im hermetischen Text wird der Wiedergeborene als göttlich, als Kind Gottes und als Allwesen bezeichnet.193 Zu Beginn der Erzählung wird der Vater Hermes – so wörtlich – »im Geist geboren«194 und erscheint danach sehr plastisch als »nicht mehr der, der er war«.195 Er überschreitet seinen dreidimensionalen Körper und tritt in einen »unsterblichen Körper«196 ein, den sein Sohn mit den Augen des körperlichen Sehvermögens nicht mehr wahrnehmen kann. Hier ergeben sich begriffliche Parallelen zur paulinischen Differenzierung zwischen dem »natürlichen Leib« und dem »geistlichen / pneumatischen Leib«.197 Die verständnislosen Fragen des Kindes zu Beginn des Dialogs verdeutlichen narratologisch die Unbegreiflichkeit des Geschehens für die körperlichen Augen wie für das rationale Verständnisvermögen. Doch als Tat die Geburt im Geist schließlich selbst erlebt und dieses Geschehen für den Leser nachvollziehbar fortwährend kommentiert, illustriert dieses Geschehen förmlich Weigels Erkenntnistheorie: Vom Zuspruch seines Vaters ermutigt, die körperlichen (aktiven) Wahrnehmungen hinter sich zu lassen und sich dem gnadenhaften Werden der Geburt (passiv) hinzugeben, erfährt Tat eine momenthafte Verschmelzung mit dem Kosmos, die er als geistige Ubiquitätserfahrung erlebt: Tat: Unerschütterlich bin ich geworden, Vater, und durch Gott habe ich eine Vision nicht mit der Sehkraft meiner Augen, sondern durch die geistige Energie, die von den Kräften stammt. Im Himmel bin ich, in der Erde, im Wasser, in der Luft; in den Tieren bin ich, in den 198 Pflanzen; im Mutterleib, vor der Empfängnis, nach der Geburt, überall.

190 CH XIII, 1 (CHD I, S. 174). 191 Ebd. (CHD I, S. 175). 192  Als christliche Referenz gilt auch (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Die Namen Gottes, S. 80: »Die herrlichste Erkenntnis über Gott ist wiederum jene, welche gemäß der Einung jenseits des Intellekts durch Unkenntnis gewonnen wird, im Falle daß der Intellekt von allem Seienden zurücktritt, hierauf auch sich selbst verläßt und dadurch mit den überhellen Strahlen geeint wird, während er von dorther und dort mit der unerforschlichen Tiefe der Weisheit beleuchtet wird.« 193 CH XIII, 2 (CHD I, S. 175). 194 CH XIII, 3 (CHD I, S. 176). 195 Ebd. 196 Ebd. 197 1 Kor 15,44; biblisch zu den Augen des Herzens Eph 1,18. 198 CH XIII, 11 (CHD I, S. 181).

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 Valentin Weigel (1533–1588)

Die Wiedergeburt fällt ineins mit einem Zustand der Auflösung der Subjekt-/ Objekttrennung, in dem das Ich nicht länger als Subjekt auf das All als Objekt sieht, sondern sich als eins mit dem All erfährt. Dies geschieht mit demjenigen Wahrnehmungsorgan, das Subjekt und Objekt gleichermaßen transzendiert und einschließt, mit dem Auge des Geistes, das an anderer Stelle mit Gott selbst ineins gesetzt wird: »Vater, das All sehe ich und mich selbst im Geist,« jubelt Tat und formuliert damit, was in der orthodoxen Fremdwahrnehmung als Inbegriff der Unchristlichkeit erscheint:199 das Ineinsfallen der Wiedergeburt mit der Selbstund Gotteserkenntnis als Moment unermesslicher Freude. So kommentiert Hermes die Wiedergeburt seines Sohnes: Wenn also einer dank der Gnade Gottes die vergöttlichende Geburt erlangt und die sinnliche Wahrnehmung hinter sich gelassen hat, erkennt er sich selbst, nun aus diesen Kräften 200 bestehend, und ist voller Freude. Es kam zu uns die Gotteserkenntnis, und mit ihrem Kommen, mein Sohn, wurde die Unwis201 senheit vertrieben. Es kam zu uns die Freude über die Erkenntnis […].

Nach dieser Erfahrung stimmen Hermes und Tat ein hymnisches Dankgebet an. Tat als Sprecher-Ich formuliert nicht mehr aktiv, sondern wird zum Sprachrohr der göttlichen Kraft in ihm, die durch ihn singt.202 Für christliche Rezipienten höchst anschlussfähig wird diese Kraft, die nach dem Verstummen des Ich frei strömt, mit dem Logos identifiziert. Im Wiedergeborenen, also im verwandelten Menschen nach der Transzendenz des äußeren Menschen, besingt sich der Logos selbst: Ihr Kräfte, die in mir seid, besingt das Eine und das All; singt zusammen mit meinem Willen, all ihr Kräfte in mir. Heilige Erkenntnis, erleuchtet von dir, besinge ich durch dich das geistige Licht und freue mich an der Freude des Geistes. […] meine Gerechtigkeit, besinge das Gerechte durch mich; mein Gemeinsinn, besinge das All durch mich, besinge, Wahrheit, die Wahrheit; das Gute (in mir), besinge das Gute;

199 Diese Stellen werden als heterodox von Colberg zitiert. Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 97. 200 CH XIII, 10 (CHD I, S. 181). 201 CH XIII, 8 (CHD I, 180) Auch diese Stelle wird als heterodox zitiert. Colberg: Das platonischhermetisches Christenthum I, S. 96. 202 CH XVIII 1–8 (CHD I, S. 222–227).



Selbsterkenntnis und der 13. hermetische Traktat

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Leben und Licht, von euch kommt, zu euch geht der Lobpreis. Ich danke dir, Vater, Energie der Kräfte, Ich danke dir, Gott, Kraft meiner Energien. 203 Dein Logos besingt dich durch mich.

Der Vers über »Leben und Licht« als (aktive) Quelle und Adressat des Gesangs, die durch den Wiedergeborenen frei fließt, erinnert an die Identifikation von »Leben und Licht« mit »Vater und Sohn« in Gott im ersten hermetischen Traktat.204 Dort skizzierte auch Pimander die Selbsterkenntnis als Mittel der Rückkehr zu Gott, wobei der Inhalt der Erkenntnis nicht nach dem christlichen Modell in der Sündhaftigkeit, sondern in der Herkunft des Menschen aus »Leben und Licht« besteht.205 Das Bild des Logos, der nach dem Verstummen des alten Menschen anhebt zu singen, lässt sich im christlichen Kontext aber auch ohne Weiteres auf das Paulus-Wort »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir«206 beziehen. Dies ist exakt Weigels Referenzpunkt, wenn er im Ander Büchlein / Vom Erkändtnus sein selbst die Erzählung des Hermes als treffendere Beschreibung der neuen Geburt charakterisiert als sie das zeitgenössische Schulwissen zeichnet: »Wo Creatur also vffhöret / [….] da fehet Gott an zuleben / […] da wird der Sohn Gottes empfangen vnd geboren / da wird Gott der Mensch wie zuvor / vnd das heisset Christus.«207 Auch über den paulinischen Topos des kosmischen Christus wird Tats All-Einheitserfahrung christologisch ausdeutbar. Nach Kol 1,17 besteht alles in Christus, da alles in ihm erschaffen wurde. Tats ekstatischer Gesang nach seiner Ubiquitätserfahrung preist unter anderem das »All, das in uns ist«208 und bejubelt das All und das Eine.209 Die Perspektive des Wiedergeborenen auf ein »All in uns« ist der Erzählung nach zwar von einem Menschen artikuliert, entspricht aber nach christlichem Referenzhorizont allein der Perspektive Christi. Nach Weigels Modell der trichotomen Epistemologie, nach dem jede Erkenntniskraft die nächst materiellere umfasst und transzendiert, ist Tats Ubiquitätserfahrung damit auch anthropologisch unter Bezugnahme auf den inneren Christus deutbar: Wer im Geist alles transzendiert, der schließt alles ein.

203 CH XIII, 18 (CHD I, S. 185). 204 CH I, 6 (CHD I, S. 12). 205 CH I, 21 (CHD I, S. 18). 206 Gal 2,20. 207 Weigel: Das Ander Büechlein. In: PW 3, S 187. 208 CH XIII, 19 (CHD I, S. 186). 209 CH XIII, 18 (CHD I, S. 185).

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 Valentin Weigel (1533–1588)

3.2. Das All in allem: Hermetische Ubiquitätserfahrung als ›Auswicklung‹ des Menschen Weigels Interpretation der hermetischen Wiedergeburtserzählung als christliche Logosgeburt kann sich auf philologische Bezüge stützen. Sie ist nicht spekulativ in dem Sinn, dass ihr eine philologische oder philosophische Basis zum Beleg dieser Ineinssetzung fehlen würde, sie ist lediglich außerhalb der traditionellen Christusbilder aller Konfessionen und damit außerhalb diskursmächtiger Wahrheitskonzepte. Die Wissensfiguren, die die Bezüge ermöglichen, sind weder neu noch unbiblisch. Das Besondere an der Präsenz des 13. hermetischen Traktat im Kontext christlicher Debatten ist lediglich, dass dieser Text Schlüsselmotive der christlichen Erlösungserzählung als anders gedeutete, aber konkrete Ereignisse vor Augen zu führen schien und sie durch die Erzählsituation zusätzlich mit der suggerierten Authentizität des Erlebnisberichts versah.210 Das Gebet Jesu für die Gläubigen in Joh 17,21, sie mögen in ihm eins sein, erhält durch die Illustration als eine kosmische Einheitserfahrung, die sogar als Wiedergeburt und Teilhabe am Logos verbalisiert wird, eine neue Bedeutung. Für die paulinische Adam-Christus Typologie sowie für die Rede vom fleischlichen und geistlichen Menschen, vom Psychicos anthropos und Pneumaticos anthropos, bot der 13. Traktat offenbar genug Referenzpunkte, um auf sie hinzuweisen. Zu Boethius’ Rede vom Nunc aeternitatis, die Weigel entsprechend übernimmt,211 verhält sich Tats Vision wie ein Beispiel zur Theorie. Wer sich nach der philosophischen Lektüre des Trosts der Philosophie fragte, wie das Zugleich von allem in der ewigen Gegenwart Gottes jenseits der Zeit zu denken sei, der konnte in Tats momenthafter Erfahrung zeitlicher wie räumlicher Unendlichkeit einen Anhaltspunkt finden. An dieser Stelle lag jedoch auch die Gefahr der Überschreitung christlicher Rechtgläubigkeit begründet. Gerade indem die paulinische Begrifflichkeit, die sich traditionell auf die Auferstehung am Ende der Zeiten bezieht (der natürliche/ verwesliche und der geistliche/unverwesliche Leib, die plötzliche Verwandlung, das Anziehen der Unverweslichkeit)212 in der hermetischen Erzählung ebenfalls Anhaltspunkte finden, sich dort aber auf eine All-Einheitserfahrung im Zuge einer kontemplativen Übung beziehen, lassen sich die im Christentum traditionell auf das Jenseits gedeuteten Aussagen plötzlich auf die Möglichkeit einer Verwandlung im Hier und Jetzt beziehen. Das Ende der historischen Zeit, wie sie

210 Die philologische Echtheitsfrage der hermetischen Texte, die für die humanistische Rezeption entscheidend wurde, spielt für Weigel an keiner Stelle eine Rolle. 211 Boethius: Trost der Philosophie, V,6; Bosch: Reformatorisches Denken, S. 163. 212 1 Kor 15,44; 15,51–52; 15,53; 2 Kor 3,18.



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traditionell in die Bildlichkeit der Apokalypse gefasst wird, wird ausdeutbar zu einer momenthaften Transzendenz der personalen Zeit. Hinzu kommt ein Weiteres: Während es sich bei dem von Weigel geschätzten Boethius zwar um einen Philosophen der platonischen Tradition, aber doch um einen im Frühchristentum seliggesprochenen Christen handelt, ist Tats Vision einem Heidenkind in den Mund gelegt. Tat erlebt die Wiedergeburt, ohne dass eine Taufe, die nach traditionellem christlichen Verständnis die Wiedergeburt bewirkt, auch nur erwähnt würde. Das kurze Zitat, das Weigel in Von der Seligmachenden Erkenntnis Gottes noch aus dem 13. Traktat übernimmt, bezieht sich auf die Beschreibung des Wegs zur Wiedergeburt, der nämlich darin bestünde, die Untugenden als Züchtigungen der körperlichen Existenz zu überwinden.213 Die Überwindung von Untugenden ist jedoch ein ethisches und, im Kontext platonischer Anthropologie, ein anthropologisches Kriterium, das sich zwar in den christlichen Diskurs um Buße und Umkehr integrieren lässt, jedoch die Bedeutung des Taufritus, die im historischen Kontext bereits mit den Wiedertäufern hitzig debattiert worden war, weiter schwächte. Entsprechend wurde Weigel auch von seinen Kritikern wie dem Calvinisten Christian Beckmann präzise für die These angegriffen, auch in Hermes wäre Christus gewesen. Beckmann reihte Weigel damit neben Robert Fludd in die Reihe jener alten Gnostiker ein, gegen die bereits die Kirchenväter gekämpft hatten.214 Die Entwicklung der Hermetisierung des Wiedergeburtskonzepts unter Weigels Namen lässt sich ausgehend von dessen spärlichen Hinweisen auf den 13. Traktat in der weiteren Tradition verfolgen, wobei sie gleichzeitig zur Schnittstelle von Theoremen wird, die unter dem Namen des Hermetismus subsummiert werden. Die Schrift Auslegung der Figuren Lautensacks im Sammeldruck Offenbahrung Jesu Christi (1619), die mit Sicherheit nicht von Weigel stammt, schreibt die Verschmelzung aus All-Einheitsdenken und Christologie unter Weigels Namen fort. […] kennestu den [Christus]  / so kennestu alle ding  / bistu in dem  / so bistu in allen dingen / vnd must mit dem Tatio bei dem Mercurio Trismegisto billich sprechen: Video me in omnibus & et omnia in me; Ego sum in inferno & infernus in me; Ego sum in mari & mare in me; Ego sum in terra & terra in me; Ego sum in Arboribus & Arbores in me, das geschach

213 Weigel: Von der Seligmachenden Erkenntnis Gottes. In: PW 9, S. 50 f.: »Solche selbrecher ode einwohnenden Feinde des menschen werden Erzehlet von dem hocherleuchten Mercurio, alß 1. Ignorantia. 2. Tristitia. 3. Inconstantia. 4. Cupiditas. 5. Injustitia. 6. Luxuries. 7. Decptio. 8. Invidia. 9. Fraus. 10. Ira. 11. Temeritas. 12. Malitia.« Die Stelle bezieht sich auf CH XIII, 7 (CHD I, S. 179). 214 Gilly: Das Bekenntnis zur Gnosis von Paracelsus bis auf die Schüler Jakob Böhmes, S. 404.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

dem Tatio, da ihn sein Vatter Hermes auff den Berg führet / vnd die Regenerationem sui eröffnen wollte / das ein jeder Mensch zum andernmahl muesse gebohren werden / darumb 215 ließ weiter inn Pimandro lib. 13.«

Allerdings schließt die Auslegung der Figuren Lautensacks zwar an Weigels Assoziation von Joh 17 mit Tats Wiedergeburtserlebnis an,216 verbindet aber den Topos der Cognitio Dei mit allerlei zahlen- und zeichenspekulativen Elementen sowie apokalyptischen Figuren aus der Offenbarung des Johannes.217 Außerdem verfehlt der anonym bleibende Autor Weigels All-Einheitsdenken in einem entscheidenden Punkt. Bereits 1570 skizzierte Weigel in der Widmungsvorrede zu De vita beata, inspiriert vom Trost der Philosophie (»parvo isto libello, quem ex Boetio potissimum collegi«), seine Vision einer Einheit in Christus, die über die Verschmelzung mit der eigenen Tiefe gedacht ist.218 Weigels Vorstellung vom »abyss« in der eigenen Seele schließt an Taulers »Abgrund« an und stellt eine Verbindung zu Böhmes »Ungrund« dar. Der Autor der Figuren Lautensacks jedoch tritt von genau dieser Vorstellung des Abyss wieder zurück und richtet seine Spekulation weder auf die Tiefe des Geistes noch auf den »Circumferentia der Creatur«,

215 (Pseudo-)Weigel: Andrer Theil  / Darinn begrieffen die Erklehrung mit Figuren vnd Sprüchen Heyliger Schrifft vber vorgehende Bücherlein Pauli Lautensacci / einen liechteren vnd völligern Verstandt in gemeldten Büchern vuerreichen  / gestellet von M. V. Weigelio gewesenen Pfarherren zu Zschopaw. Franckfurt am Mayn 1619, In: Offenbahrung Jesu Christi: Das ist: Ein Beweiß durch den Titul vber das Creutz Jesu Christi / vnd die drey Alphabet / als Hebreisch / Graegisch / vnd Lateinisch / wie auch etliche wunderbahre Figuren […]. Durch den Gottsäligen Paulum Lautensack Mahleren vnd Organisten weilandt in Nürnberg. Vber welche vmb völligers Verstandts willen die Außlegung M.V. Weigelij herzu gesetzt worden. […] Franckfurt am Mayn bey Lucas Jennis zu finden. Jm Jahr 1619. Die zitierte Stelle schließt eng an die Erkenntnis- und an die Einheitsthematik in Christus an: »Vnd dieweil der Mensch ist Quinarius Numerus darein alle Creaturen fliessen / als in jr centrum, begriff vnd beschluß aller Creaturen / Extra Christum nihil, Intra Christum omnia, nihil maius Christo, in quo sunt omnia & nihil nimus Christo, qui est in omnibus nimirum [!] Diuina omnia semper sunt maiora maximis externis & sunt minora minimis internis / kennestu den / so kennestu alle ding…«, S. 5. Der Druck Die Offenbahrung Jesu Christi ist ein Sammeldruck, der mehrere z.T. äußerst spekulative Texte enthält. Eine detaillierte Beschreibung des Drucks enthält Pfefferl: Die Überlieferung der Schriften Valentin Weigels, Teil II.B, S. 164–191; eine kritische Besprechung der einzelnen Schriften samt weiterer Erwähnungen in der Forschungsliteratur ebd., Teil 3, S. 44 ff., 64 f., 83 ff., 162 f., 221, 240 f., 306 f., 313, 319 u. 335 ff. 216 (Pseudo-)Weigel: Auslegung der Figuren Lautensacks, S. 3. 217 Ebd., S. 7. 218 Weigel: De vita beata. In: PW 2, S. 5: »[…] conferas te ad vitam contemplativam, et tandem omnia creata supergressus, praecipites te ex amore divino in fontem abyssi, ut Vnum fias in ipso Uno, in quo omnia sunt Vnum, et haec est VITA AETERNA, Vale«.



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sondern auf den menschgewordenen Christus.219 Damit bewegt er sich einerseits näher an die Kreuzestheologie lutherischer Rechtgläubigkeit heran, muss aber andererseits zur Einbindung von Tats Vision umfangreichere Spekulationen über die Trinität und das Tier der Apokalypse bemühen. Die Rezeption schenkte solchen autorspezifischen Differenzierungen jedoch wenig Beachtung. Colberg hebt das All-Einheitstheorem aus der Auslegung der Figuren Lautensacks hervor und reiht Weigel nach einer ausführlichen eigenen Analyse des 13. Traktats ohne weitere Differenzierung in die Reihe der hermetischen »Fanatici« ein.220 Das All-Einheitsdenken des 13. Traktats bildet in der Rezeption durch Weigel und Biedermann jedoch tatsächlich einen Brennpunkt, in den sich weitere Theoreme wie die paracelsische Mikrokosmos/Makrokosmos Analogie, die platonische Vorstellung von der Verschmelzung mit der Weltseele oder auch die Idee von Gott als All in allem, die über Eckhart und Nikolaus von Kues tradiert worden war, sinnstiftend spiegeln ließen. Dabei überträgt sich der Bezug von Gott als All in allem zusehends auf den Menschen.221 Nach der paracelsischen Mikrokosmos/ Makrokosmos Analogie ist der Mensch als kleine Welt gedacht, die als jüngste Schöpfung Gottes im Schöpfungsprozess aus einem »Auszug« der ganzen Schöpfung, des Limus terrae, gebildet wurde.222 Der Mensch ist damit als »Begriff« der ganzen Schöpfung vorgestellt, wobei das Wort »Begriff« im Sinne von »Inbegriff« und »Umschließung« gebraucht ist.223 Paracelsus’ Mikrokosmos-Konzept geht über ein reines Analogiedenken hinaus. Da der Stoff, aus dem der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen wurde, den Grund aller Wesen und die Eigenschaften der Welt in sich enthält, ist der Mensch nicht aus Nichts, sondern aus der Fülle der ganzen Schöpfung geschaffen, die er als Mikrokosmos ihrer Potenzialität nach in sich trägt: »Also ist der Mensch die kleine Welt, das heißt alle Eigenschaften der

219 (Pseudo-)Weigel: Auslegung der Figuren Lautensacks, S. 4. 220 Colberg: Das hermetisch-platonische Christenthum 1, S. 90 f. 221 (Pseudo-)Weigel: Auslegung der Figuren Lautensacks, S. 3: »Erkenne dich selber / so erkennestu darauß du bist kommen / vnd lernest eben das / darauß du bist genommen vnd geschaffen / das ist alle ding / denn du bist alle ding in dir / nit weniger als Gott / ja du bist ein Kindt Gottes / seines Reichs / kennestu dich selber / so hastu so viel als Gott (nuhr die erkendtnus macht den Menschen perfect) du bist ein mitterb mit Christo / Christus aber ist der wahre Gott / ein König vnnd Fürst vff Erden / ein haupt aller Völcker / Heyden vnd sprachen / kennestu dich selber / so kennestu Jesum Christum / Gott vnnd Menschen. 222 Weigel: Gnothi Seauton. In: PW 3, S. 60. Weigel rekurriert dabei auf Paracelsus, der von Epitome bzw. von Auszug spricht. Paracelsus: Astronomia Magna, S. 33 f. 223 Dietrich Mahnke: Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt: Beiträge zur Genealogie der Mathematischen Mystik. Halle 1937, S. 122. Gleiches gilt für den Begriff »Beschluss«.

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Welt hat der Mensch in sich«.224 Es ist diese Ausprägung des Imago-Dei- Konzepts, mit dem Weigel seine Schrift über die Selbsterkenntnis Gnothi seauton eröffnet.225 Auch die platonische Tradition kennt das Theorem des Alls im Einzelnen in Verbindung mit dem Topos der Weltseele. Plotin hatte an der Weltseele ihre rein geistige Ubiquität und Simultaneität betont, die nicht nur innerhalb der Welt, sondern auch in jedem ihrer Teile ganz ist. Diese Ganzheit ist dem Bereich körperlicher Formen vorgänglich, kann aber über Teilhabe erfahren werden.226 Dass Tats Ubiquitätserfahrung im 13. Traktat als platonische Verschmelzung mit der Weltseele gedeutet werden konnte, zeigt deutlicher noch als Weigel selbst wiederum der orthodoxe Kritiker Colberg; er kommentiert diese Stelle im hermetischen Dialog erst kenntnisreich als »Effekt der Erleuchtung« und erklärt sie anschließend zur Häresie.227 Am deutlichsten ist das Omnia-in-omnibus-Theorem über Eckhart und über Nikolaus von Kues’ De docta ignorantia zu Weigel gelangt. Nach Nikolaus lassen sich Gott und das All, die Fülle der gesamten Schöpfung, als dialektisches Ineinander denken: So wie jedes Ding im Universum, so ist auch das Universum zusammengefaltet in jedem Ding zu denken.228 Verschiedene Wei-

224 Paracelsus: Astronomia Magna, S. 431; John D. North: Macrocosm and Microcosm in Paracelsus. In: Dilg/Rudolph (Hg.): Neue Beiträge zur Paracelsus-Forschung, S. 41–58. 225 Weigel: Gnothi seauton. In: PW 3, S. 151. 226 Enn. VI,4,13: »Und woher kommt dann die Ausdehnung [der Seele] über den ganzen Himmel und alle Lebewesen? Nun, sie ist eben nicht ausgedehnt. […] Die rationale Überlegung aber sagt, daß nicht sie sich ausgedehnt hat und so hier- und dorthin gelangt ist, sondern umgekehrt das hier- und dorthin Ausgedehnte sämtlich an einem und demselben teilhat, das selber ohne Abstände ist. […] Wenn somit das im Raum Verstreute […] überhaupt an etwas anderem teilhaben soll, dann darf das, woran es teilhat, weder verstreut noch ausgedehnt noch überhaupt etwas Quantitatives sein. Darauf folgt: Das, was bei ihm sein soll, muß überall bei ihm ganz sein, weil es unteilbar ist.« (Plotin: Ausgewählte Schriften, S. 119 f.) 227 Colberg kommentiert in seiner Auseinandersetzung mit dem 13. Traktat des Corpus Hermeticum die Ubiquitätserfahrung nicht nur als »Effekt der Erleuchtung«, sondern erläutert auch die philosophische Grundlage, den Gedanken des Weltgeists: »O Pater; non oculorum aspectu imaginor, ast intelligibili facultatum efficacia in cælo sum, interra, in aqua, in aere, in animalibus sum, in utero, ante uterum, post uterum, ubique &c. (En illuminationis fictæ effectum, innitentem sentientiæ de spiritu universi:) Omnia video o Pater, & in mente meipsum.« Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum  I, S. 97. Die Hervorhebungen und Ergänzungen in Klammern sind Colbergs durchaus kenntnisreiche Erläuterungen. 228 Nicolaus of Cusa on Learned Ignorance. Edited and translated by Jasper Hopkins. Minneapolis 1981, S. 98 ff. »The following very deep truths are apprehended clearly by an acute intellect: that God is, without difference, in all things because each thing is in each thing and that all things are in God because all things are in all things. But since the universe is in each thing in such a way that each thing is in it: in each thing the universe is, contractedly, that which this thing is contractedly; and in the universe each thing is the universe, nontheless, the universe



Selbsterkenntnis und der 13. hermetische Traktat

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gel-Schriften von Gnothi Seauton 1571 über das Informatorium 1576 bis zu Natürliche Auslegung von der Schöpfung 1577229 kommen rekurrierend auf das Theorem Omnia sunt occultata in omnibus230 zurück und beziehen es über den Vergleich mit einer Nuss oder einer Eichel auf den Menschen. So wie die Eichel als eingewickelter, zusammengefalteter Baum zu denken ist, so erscheint der Baum als ausgewickelte Eichel.231 Alles wächst aus Samen, erklärt Weigel, die bereits alles in sich enthalten und dieses lediglich entfalten, indem sie durch eine Transformation ihrer selbst gehen.232 Anthropologisch gedeutet wird die Metapher der Nuss oder der Eichel auf den Menschen bezogen, der zunächst nur potenziell, quasi zusammengewickelt, die ganze Welt in sich enthält.233 Christlich gedeutet bezieht sich die Metapher der Nuss auf den Zustand nach dem Fall. Die Transformation wird in der Rezeption nun auf die zweite Geburt, die Christusgeburt oder Wiedergeburt, bezogen. In diesem Kontext schließlich gibt die Erzählung von Tats Wiedergeburt und Ubiquitätserfahrung der Überlegung, wie der Mensch in ›ausgewickeltem‹ Zustand zu denken ist, eine mögliche konkrete Gestalt: Ein Mensch, der wie Tat nach einer anthropologischen Deutung diese Tranformation durchlaufen hat, oder in dem, nach christlicher Deutung, der Logos geboren ist, erfährt das »All, das in uns ist.«234 Damit lässt sich die hermetische Erzählung von Tats AllEinheitserfahrung als ›Auswicklung‹ und als momenthafte Realisierung dessen, was potenziell – eben ›samenhaft‹ – im Menschen angelegt ist, lesen, sofern sich dieser dem Logos – Christus – öffnet. Im dem Moment, in dem nach mystischer

is in each thing in one way, and each thing is in the universe in another way.« Auch Nikolaus von Kues hat von den Texten des Hermes profitiert und zitiert ihn zum Hinweis auf Gottes »Einfaltung« der beiden Geschlechter in sich. Ebd., S. 82. Weiterführend Hopkins: Introduction. In: Ebd., S. 1–43. Zu Nikolaus als möglicher Quelle Weigels siehe Pfefferl: Einleitung. In: PW 8, S. XXXIV ff., und Weeks: Valentin Weigel, S. 46. 229 Zur Verfasserschaft Weigels und zum Entstehungsdatum siehe Pfefferl: Einleitung. In: PW 11, S. LXXXII, der von ihr als »kleine[s], aber bedeutsame[s] Werk« spricht (S. LXXXIII). 230 Weigel: Natürliche Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 148. Weigel beruft sich hier auf die »mystici philosophi« Nikolaus von Kues und Dionysios; ebenso ders.: Informatorium. In: PW 11, S. 71; ders.: Gnothi Seauton. In: PW 3, S. 61. 231 Weigel: Informatorium. In: PW 11, S. 71–74. 232 Weigel: Gnothi Seauton. In: PW 3, S. 61. 233 Weigel: Natürliche Auslegung. In: PW 11, S. 149: »Also ist der Mensch in der Welt, vndt tregt die Welt in Jhme vndt alle Elementirte geschöpffe, vndt darzu auch die Englische Weisheit. Siehe ahn einen Nusbaum, der Samen ist ein anfang des baums, vndt ist auch der beschlus des baums wie auch in allen kreutern der anfang vndt das Ende ist.« 234 CH XIII, 19 (CHD I, S. 186).

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Vorstellung die Ichheit überwunden ist, eröffnet sich das Bewusstsein einer Teilhabe am All. Diese Deutung lässt sich philosophisch schlüssig aus dem Theorem Omnia sunt occultata in omnibus ableiten sowie im Deutungshorizont spiritualistischer Bibellektüre verorten. Doch genau damit überschreitet sie im frühneuzeitlichen Kontext das Postulat christlicher Heilsexklusivität, ebenso wie sie sich disziplinierenden Magievorwürfen entzieht. Die Deutung von Tats All-Einheitserfahrung als Logosgeburt umschreibt im Vokabular der christlichen Erlösungslehre einen zwar nicht alltäglichen, aber doch als natürlich gezeichneten Prozess einer Transformation der Existenz. Da diese Erzählung in einem Text steht, der – unabhängig von Datierungsfragen – keinem christlichen Entstehungshorizont zugeordnet werden konnte, ließ sich hier der Gedanke einer Natürlichkeit jener Transformation nahelegen, von der auch die Bibel im Bild des neuen Adam spricht. Mehr noch: Gespiegelt im Motiv von Christus als alles in allen im Kolosserbrief (Kol. 3,11) lässt sich die hermetische Erzählung von Tats Erfahrung des Alls in allem auch als Hinweis auf ein All in allen deuten, auf eine unbewusste, aber zu realisierende anthropologische Universalie, die an keine Kulturschranken gebunden ist. Umgekehrt erfüllt diese Deutung volkstümliche Vorstellungen über Magie, Zauberei und Vergottungsstreben, wie sie sich in kirchlicher Polemik gegenüber allem vermeintlich Nicht-Christlichen niedergeschlagen haben, gerade nicht. Die zeitnah entstandene frühe Faust-Erzählung Historia von D. Johann Fausten (1587), die protestantische Polemik wie volkstümliche Zauberliteratur gleichermaßen literarisch spiegelt, zeichnet ein deutlich anderes Bild von der Phänomenologie des ›Anderen‹, das auch hier im charakteristischen Traditionszusammenhang der Prisca theologia als »pagan« und »nicht-christlich« markiert wird.235 Die Faust-Erzählung selbst präsentiert sich als eindringliche Warnung vor menschlichen Höhenflügen in Gestalt der Wissenslust, die seit Augustinus’ Verdikt gegenüber der Curiositas mit der Sünde der Superbia assoziiert ist.236 Im Rahmen der Erzählung, die Fausts Fragen nach den letzten Dingen an verschie-

235 Historia von D. Johann Fausten. Mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Hg. v. Stephan Füssel u. Hans-Joachim Kreutzer. Stuttgart 1988, S. 14. Bezeichnend ist die Stimme des Erzählers, der kommentierend stark präsent ist. So erfährt der Leser umgehend, dass Christentum und »Zauberei« unvereinbar sind (S. 7, S. 14) und dass pagane Philosophen (hier: Zoroaster) vom Teufel verführt worden seien (S. 10). 236 Ebd., S. 5 ff.; Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Hg. v. Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Stuttgart 1986, V,54/ 55 (S. 290 f.). Vgl. insgesamt Barbara Könneker: Faust-Konzeptionen und Teufelspakt im Volksbuch von 1587. In: Festschrift für Gottfried Weber. Hg. v. Heinz-Otto Burger u. Klaus von See. Frankfurt a.M. 1967; Heidrun Opitz: Die ›Historia von D. Johann Fausten‹ von 1587. In: Einführung in die deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts. Hg. v. Winfried Barner



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denen Stellen als primäre Motivation für sein ganzes Handeln herausstreicht,237 werden menschlich hochfliegende Aspirationen im Bild der konkret zu denkenden Sternfahrt versinnbildlicht. Dieses Bild der Himmelfahrt gründet in einer bis zu Augustinus verfolgbaren Umwertung und Usurpation des platonischen Topos der Sternfahrt, wie sie in Platons Dialog Phaidros geschildert ist. Sprach Platon lediglich metaphorisch bezüglich der Seele von einem Wagengespann mit geflügelten Pferden,238 erscheint nach Augustinus’ diskursmächtiger Kritik239 in der Faust-Erzählung eine konkrete Himmelsreise an ein lokal gedachtes »Oben«, zu dessen Zweck eine von Würmern und Drachen gezogene Kutsche benutzt wird.240 Ebenso evoziert die Erzählung die Vorstellung eines geheimen und sündigen Wissens mittels eines reichen Inventars an Beschwörungs-, Teufels- und Verdammungsszenen. Obwohl der Zauberei- und Magiediskurs zum frühneuzeitlichen Hermetismus gehört, findet sich diese Bildlichkeit weder in den Texten des Corpus Hermeticum noch in denen Weigels wieder, weder magische Praktiken noch eine bildlich zu denkende Sternfahrt. Auch wird das Geschehen im Corpus Hermeticum nicht als

u. a. Bd. III. Opladen 1981, S. 236–258. Problemgeschichtlich zur Curiositas Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Frankfurt a.M. 1980. 237 Historia von D. Johann Fausten, S. 15, 22, 42, 46 u. 57. Die Historia von D. Johann Fausten, deren Hauptfigur maßgeblich gerade durch ihr Interesse an den letzten Dingen in die Arme des Teufels gerät, ist im Diskurs für ihre Inszenierung alternativer Sinnangebote vielsagend. So gibt der literarische Mephisto auf Fausts Fragen absichtlich falsche [!] Antworten über die Ewigkeit der Welt (S. 48), wie sie beispielsweise im 1584 erschienen Werk Giordano Brunos Über das Unendliche, das Universum und die Welten (hg. v. Christiane Schultz. Stuttgart 1994, S. 24 f.) formuliert sind 238 Platon: Phaidros, Kap. 23 (246b)/Platon: Sämtliche Dialoge. Hg. v. Otto Apelt. Bd. II. Hamburg 1993, S. 58. 239 Augustinus: Bekenntnisse, V,5 (S. 119f). Die in den Bekenntnissen festgehaltene Kritik fand bereits 1336 ein literarisches Echo in Petrarcas schlechtem Gewissen nach seiner Bewunderung der Welt vom Gipelblick des Mt. Ventoux in Südfrankreich aus. Vgl. weiterführend Jochen 2 Schmidt: Goethes Faust. Erster und zweiter Teil. München 2001, S. 17 f. 240 Historia von D. Johann Fausten, S. 56 f.; vgl. zur Sternfahrt als dämonisches Merkmal der Zauberkunst Andreas Hondorff: Promptvarivm Exemplorvm. In: Ebd. (Quellentexte), S. 284. Das Motiv der von Schlangen gezogenen Kutsche wertet erstens das platonische Motiv der Seelenrosse um und weist zweitens auf Wissen aus der zeitgenössischen Hexenverfolgung hin, wo man sich das »Fliegen« der Hexen ebenfalls auf Tieren und Besen in der Luft, also in einem lokalen »Oben« vorstellte. Zur kulturellen und symbolgeschichtlichen Umkodierung der Schlange Vera Zingsem: Lebenswasser und Weisheitsquelle  – Die Schlangen- und Drachensymbolik im 3 Vergleich verschiedener Kulturen. In: Dies.: Lilith. Adams erste Frau. Leipzig 2005 S. 159–180. Zum Motiv der Sternreise zu extramundanen Lokalitäten wie Himmel und Hölle, das noch bis zu Klopstocks Messias existiert Kemper: Deutsche Lyrik 3, S. 54.

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Ergebnis irgendeiner spezifischen Lehre dargestellt. Explizit im 13. Traktat heißt es, die Wiedergeburt sei keine Sache einer lehrhaften Unterweisung.241 Sie verlange eine willentliche Ausrichtung auf Gott, doch sei das Geschehen selbst das Wirken von Gottes Barmherzigkeit. Aus spiritualistischer Perspektive lässt sich in diesem Zweischritt die Ausrichtung auf Christus und das Anvertrauen an die Gnade spiegeln. Die wenigen Hinweise in den hermetischen Texten auf einen möglichen Weg zur Wiedergeburt weisen signifikante Differenzen zu den populären Konzepten von magischem Allwissen auf, wie sie die Zauberliteratur oder die Verteufelungen orthodoxer Kritiker kennen, obwohl sie deutlich machen, dass sich Göttliches nur über Angleichung erkennen lasse.242 Diese Angleichung wird aber nicht als körperliche Expansion der persönlichen Sphäre in ein »Oben« des lokal gedachten Himmels gezeichnet, sondern als Transzendenz und Integration aller raumzeitlichen Eindrücke im Denken: »Werde höher als alle Höhe, niedriger als jede Tiefe«,243 heißt es bezüglich der angestrebten Angleichung im Corpus Hermeticum, und der anderweitig auch von Weigel zitierte zehnte Traktat spezifiziert, dass dieses ohne die Erde zu verlassen geschieht: [D]enke, überall zugleich zu sein: auf der Erde, im Meer, im Himmel, vor der Geburt, im Mutterleib, ein junger Mann, ein alter Mensch, tot und nach dem Tode; und wenn du dies alles zugleich denken kannst: Zeiten, Räume, Dinge, Qualitäten, Quantitäten, kannst du 244 Gott erkennen. Befiel ihr [deiner Seele], in den Himmel hinaufzufliegen, und sie wird keine Flügel benöti245 gen.« [!]

Eine zeitgleiche Ausdehnung in Höhe und Tiefe ist in einem Lektürekontext, der über Tauler, Eckhart und Cusanus mit der Denkfigur des Zusammenfalls von

241 CH XIII, 2 (CHD I, S. 176). Hermes erklärt an verschiedenen Stellen, zum Erleben der Wiedergeburt sei eine willentliche Entscheidung nötig und ein anschließendes Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit. CH XIII, 2, 7 u. 8 (CHD I, S. 176, 179 u. 180). 242 CH XI, 20 (CHD I, S. 134): »Wenn du dich Gott nicht gleichmachst, kannst du Gott nicht erkennen.« Korrespondierend zu Weigel Längin: Grundlinien der Erkenntnislehre Valentin Weigels, S. 460 f. 243 CH XI, 20 (CHD I, S. 135). 244 CH X, 25 (CHD I, S. 113). Die zitiert Stelle lässt sich im Zusammenspiel der hermetischen Texte wie eine konkrete Hinführung auf Tats schließlich realisierte Ubiquitätserfahrung beziehen. Damit erhält die Erzählung noch deutlicher den Charakter einer konkreten spirituellen Übung. Auf den zehnten Traktat wird in Gnothi seauton angespielt. Weigel: Gnothi seauton. In: PW 3, S. 163. 245 CH XI, 19 (CHD I, S. 134).



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Höhe und Tiefe im Geist vertraut war, überhaupt nur als zunehmende Vergeistigung rezipierbar. Dies bestätigt insbesondere Weigels Kontextualisierung einer Referenz an Hermes, die an einer Stelle angeführt wird, an der es explizit gerade um den Zusammenfall des Großen und Kleinen im Geist geht.246 In einer signifikanten Parallelisierung führt Weigel Hermes als Referenz neben Meister Eckhart an. A-Lokalität und Nicht-Temporalität sind auch bei Eckhart zentrale Aspekte sowohl des »Himmels« als auch seiner Seelenfunkenlehre.247 Nach Eckhart hat der Mensch über sein Seeleninnerstes Anteil an der Ewigkeit im »ewigen Nun.« In diesem innersten Seelengrund außerhalb der kreatürlichen Sphäre fallen nicht nur die zeitlichen, sondern auch die räumlichen Kategorien des Höchsten und Tiefsten als des schlechthin Innersten zusammen. In diesem »Weltinnenraum« hat die Seele teil an der ganzen Fülle der göttlichen Schöpfung, die der Vater als Ganzes in ihr gebiert: Und wenn ich sage »das Innerste«, so meine ich das Höchste; und wenn ich sage »das Höchste«, so meine ich das Innerste der Seele. […] Dort wo niemals Zeit eindrang, niemals ein Bild hineinleuchtete: Im Innersten und im Höchsten der Seele erschafft Gott die ganze Welt. Alles, was Gott erschuf vor sechstausend Jahren, und alles, was Gott noch nach tausend Jahren erschaffen wird […] das erschafft Gott im Innersten und im Höchsten der Seele. Alles, was vergangen ist, und alles, was gegenwärtig ist, alles, was zukünftig ist, das erschafft Gott im Innersten der Seele und gebiert dich mit seinem eingeborenen Sohne als nicht geringer. Soll ich Sohn sein, so muß ich in demselben Sohn sein, in dem er Sohn ist, 248 und in keinem anderen.«

246 »Aus dem lernen wir, daß einem Geist remotio und propinquitas locorum [Ortsnähe und  -ferne] ein Ding ist, das ist: Nahe und weit gilt im gleich, ist ihm eben eines  – wie denn Mercurius und Eckhart bezeugen, daß meiner Seele ein Ding bei 2000 Meilen über [dem] Meer ebenso nahe ist wie der Leib, darin sie wohnet.« Weigel: Vom Ort der Welt. In: AW, S. 297. vgl. CH XI, 19 (CHD I, S. 134): »Befiel deiner Seele nach Indien zu reisen, und schneller als dein Befehl wird sie dort sein.« Meister Eckhart, Deutsche Predigt 42. DW I. In: Ders.: Werke I, S. 452/453: »Jerusalem ist meiner Seele so nahe wie die Stätte, wo ich jetzt stehe. Ja, in voller Wahrheit: selbst was über tausend Meilen weiter ist als Jerusalem, das ist meiner Seele so nahe wie mein eigener Leib.«« Die Predigt war im Taulerdruck enthalten. Die A-Lokalität des erdumspannenden Geistes wird Weigel sogar zu einem Erklärungsansatz für die Tatsache, dass die Bewohner der südlichen Erdhalbkugel nicht nach »unten« fallen können. Weigel: Vom Ort der Welt, S. 287. Weigel rekurriert hier ebenso auf Nikolaus von Kusa: De Docta Ignorantia, S. 53. Siehe ebenso Wollgast: Anmerkungen zu Vom Ort der Welt, S. 358; Mahnke: Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt, S. 126. 247 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 68. DW 2. In: Ders.: Werke II, S. 36/37–38/39: »Der Himmel ist weiterhin an allen Orten gleich fern von der Erde. […] Zeit und Raum sind Stücke, Gott aber ist Eines. Soll daher die Seele Gott erkennen, so muss sie ihn oberhalb von Zeit und Raum erkennen.« 248 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 30. DW II. In: Ders.: Werke I, S. 338/339–340/341.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

Im Kontext der Engführung einer Hermes- und einer Eckhart-Lektüre wirkt Weigels Anspielung auf Tats Ubiquitätserfahrung noch weniger auf das polemische Bild eines magischen Himmelsritts beziehbar. Tats Wiedergeburt erscheint vielmehr als momenthaftes Eintauchen in den innersten seelischen Bereich jenseits von Raum und Zeit bzw. als plötzliche Realisierung dessen, was der sinnlichen Wahrnehmung, die auch bei Eckhart das »untere Antlitz«249 heißt, verborgen war. Eine Eckhart-Predigt spezifiziert sogar die auch von Weigel angeführte Entrückung des Apostel Paulus in den dritten Himmel als Durchbruch nach innen, nicht nach »oben.«250 Weigels Interesse an Eckhart gerade unter einer erkenntnistheoretischen Fragestellung belegt die fast vollständige Integration der Eckhart-Predigt Euge serve bone et fidelis in sein zweites Buch über die Selbsterkenntnis und sein ausführliches Referat über Eckharts Deutung des Gesprächs Jesu mit der Samariterin am Brunnen. Eckhart deutet die fünf Männer der Samariterin als ihre fünf Sinne, die diese lassen musste um geisterfüllt zu werden – ein Thema, das sich in Weigels Epistemologie nahtlos einfügt.251 Weigel interessiert an Eckhart der Gedanke, dass Gott dem Menschen näher ist als dieser sich selbst, womit Gottes Reich ebenfalls nicht in der Zukunft am Ende eines linear gedachten Zeitstrahls gezeichnet ist, sondern nach Lk 17,21 »inwendig in euch«,252 und zwar vollkommen präsentisch und ganz: »Ich sage: Im Reiche der Himmel ist alles in allem und alles eins und alles unser.«253 Das Eintauchen in jenen innersten Bereich als Raum- und Zeit transzendierende Verwandlungserfahrung rückt die hermetische Erzählung von der Wiedergeburt und das christliche Wissen um die »Sohn«Geburt des Menschen nach Eckhart in ein reziprokes Verhältnis, nach der Tats

249 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 26. DW II. In: Ders.: Werke I, S. 298/299. 250 »Als er [Paulus] in den dritten Himmel entrückt war, in die Kundgabe Gottes, und alle Dinge geschaut hatte, da hatte er, als er wieder kam, nichts vergessen; es lag ihm (aber) so tief drinnen im Grunde, daß seine Vernunft nicht dahin gelangen konnte; es war ihm verdeckt. Darum mußte er ihm nachlaufen und es in sich, nicht außer sich erreichen. Es ist gänzlich innen, nicht außen, sondern völlig innen.« Meister Eckehart: Predigten und Traktate, S. 422. 251 Weigel: Das Ander Büechlein Von Erkchendtnus sein selbst. In: PW 3, 115–119; Meister Eckhart: Deutsche Predigt 66. DW II. In: Ders.: Werke  II, S. 10–21 (Joh 4,1–26). Dazu grundlegend Zeller: Meister Eckhart bei Valentin Weigel, S. 74. 252 Eckhart im Zitat bei Weigel, Das Ander Büechlein. In: PW 3, S. 119: »[V]nd darumb sprach ich erschreket nicht, das Himmelreich ist inwendig in eüch, vnd eüch vill neher den daß Jr euch selber seit, wo Ir nur weißlich suchet.« Vgl. Meister Eckhart: Deutsche Predigt 66. DW II. In: Ders.: Werke II, S. 14/15. 253 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 76. DW II. In: Ders.: Werke II, S. 130/131. Die Predigt stand im Taulerdruck. Siehe auch Reiter: Der Seele Grund, S. 507 ff.; Koyré: Mystiques, Spirituels, Alchimistes, S. 99.



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Ubiquitätserfahrung an Eckharts theoretische Ausführungen anzuschließen scheint: Und in diesem Leben wird der Mensch als Gottes Sohn und zum ewigen Leben geboren; und dieses Erkennen ist ohne Zeit und Raum, ohne »Hier« und ohne »Nun«. In diesem Leben 254 sind alle Dinge eins, alle Dinge miteinander und alles in allem und ganz geeint.

Neben dem häretisierten Eckhart bildet (Pseudo-)Dionysios Areopagita für die Vorstellungen der Nichtlokalität eines letzten, alles transzendierenden Grundes sowie für das strukturbildende dreistufige Prinzip in Kosmologie und Epistemologie eine wichtige Referenz. Weigels Hinweis bereits 1571 in Gnothi Seauton auf die Autorität der erleuchteten Theologen, die von drei oder sogar von neun Himmeln geschrieben haben, spielt unverkennbar auf Dionysios an.255 Auch nach Dionysios’ Über die himmlische Hierarchie ist die jenseitige Welt hierarchisch konzipiert und um ein triadisches Strukturprinzip gruppiert, das er wiederum von Proklos und Plotin übernommen hatte. Ebenfalls Dionysios’ Über die mystische Theologie schildert den letzten Grund als lichtlokal,256 als Ineinsfallen der Gegensätze im »überlichten Dunkel«.257 Trotz Differenzen in Details schildert auch Dionysios den Aufstieg von der Konkretheit der Formen der diesseitigen Welt zum Abstraktum des Jenseitigen als Entäußerung von sich selbst und aller Dinge, da das Absolute nur in der Einung mit ihm erfahren werden könne.258 Nachdem die Reformatoren unter Berufung auf das reine Schriftprinzip allerdings die kirchliche Tradition als Berufungsinstanz ausgeschlossen hatten, um damit die päpstlich-kirchliche Hierarchie umzustoßen, hatten sie gleichzeitig auch das metaphysische Korrelat zur institutionellen Hierarchie, nämlich die geistigen Hierarchien problematisiert, die die christliche Tradition unter Berufung auf Dionysios bis zu Dante Alighieris Divina commedia oder im Platonismus der Renaissance vertreten hatte.259 Die Problematisierung verschärfte sich bis zur Schwärmerdebatte um 1700 zu einer rigiden Ablehnung. Während der Gedanke

254 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 76. DW II. In: Ders.: Werke II, S. 128 f. (Hervorh. im Orig.). 255 Weigel: Gnothi seauton. In: PW 3, S. 83. 256 (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Über die Mystische Theologie und Briefe. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Adolf Martin Ritter, Stuttgart 1994, S. 78 f.; zur Beziehung des (Pseudo-)Dionysios zu Proklos Ritter: Einleitung, S. 1–73, hier S. 10. 257 (Pseudo-)Dionysios: Über die Mystische Theologie, S. 74. 258 Ebd. 259 Andrew Weeks: Valentin Weigel and the ›Fourfold Interpretation of the Creation‹. An obscure Compilation or Weigel’s Crowning Attempt at Reconciliation of Natural and Spiritual Knowledge? In: Daphnis 34 (2005), S. 1–22, hier S. 7.

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der Nichtlokalität des Geistes von Jakob Böhme bekräftigt wird,260 der ähnlich wie Weigel eine entsprechende Ubiquität des göttlichen Geistes annimmt, lehnen Bücher und Colberg Ende des 17. Jahrhunderts sowohl die Vorstellung geistiger Hierarchien bzw. eines geistigen Ineinanders verschiedener Welten ab, und zwar unter dem expliziten Hinweis auf die Assoziierbarkeit Böhmes mit dem 13. hermetischen Traktat, wie er in der Offenbahrung Jesu Christi unter Weigels Namen als »falsche« und »fanatische« Lehre zitiert wird.261 Innerhalb dieses Ausdifferenzierungsprozesses inszeniert sich Weigels Integration hermetischer und christlicher Texte, philosophischer und theologischer Autoritäten über die Denkfigur der geistigen Stufung, die er darüber hinaus an die Bibel rückzubinden sucht,262 als Rückführung des Verworfenen. Der Hinweis auf die Entrückung des Apostels Paulus in den dritten Himmel, wo dieser unaussprechliche, also das logisch-diskursive Sprachvermögen übersteigende Offenbarungen erfuhr, erscheint als Geste des traditionsverbundenen Lutheraners.263 Allerdings hatte sich der Interpretationskontext für Erzählungen von mystischen Erfahrungen gründlich verändert: Während Weigel die hermetische Wiedergeburtserzählung noch im Anschluss an Eckhart als Logosgeburt und spirituelle All-Einheitserfahrung deuten konnte, assoziierte die Polemik Schelhammers Weigels Texte selbst nun unter dem Gesichtspunkt eines vermeintlich magischen Reisens mit dem Geheimwissen der Rosenkreuzer, da diese – ganz faustisch – »in weniger kurtzer zeit an ferne Orter kommen« können.264

260 Böhme: Aurora, 11:71 »Hierinnen siehet nun der Geist bis in die Tiefe der Gottheit, denn in Gott ist Nahe und Weit ein Ding.« 261 Colberg: Das platonisch=hermetisches Christenthum II, S. 133. 262 Weigel interpretiert die Gen 1 in Bezug auf die dreigestufte Welt: Gott (als Grund) schafft Himmel (die unsichtbaren Welten) und Erde (die sichtbaren Welten). Weigel: Gnothi seauton. In: PW 3, S. 83. 263 2 Kor 12,2. Weigel: Gnothi Seauton. In: PW 3, S. 83. Über das Motiv der Entrückung des Paulus in Augustinus’ Genesis-Interpretation De Genesi ad litteram libri duodecim konnte das Paradigma der dreistufigen Epistemologie ursprünglich innerhalb der christlichen Tradition etabliert werden. Weeks: Valentin Weigel and the ›Fourfold Interpretation of the Creation‹, S. 7. 264 Schelhammer: Der vermeynten Postill, S. 11.



Mystik, Dekonstruktion und ›geist-reiche‹ Kritik

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4. Zur Unterminierung großer Erzählungen: Mystik, Dekonstruktion und ›geist-reiche‹ Kritik 4.1. Die geistliche Übung als Tertium comparationis: Stille und Herzenssabbath Neben der philologischen und philosophischen Argumentation besteht ein nicht zu unterschätzendes Argument für die inhaltliche Plausibilität von Weigels Integration hermetischer und christlich-mystischer Texte in der frömmigkeitsgeschichtlichen Kontinuität, die über eine spezifische Praxis des Gebets Weigels gesamtes Schrifttum mit der Tradition neuplatonischer Mystik verklammert. Diese lässt sich auf christlicher Seite bis zu (Pseudo-)Dionysios Areopagita zurückführen, der seinerseits tief in der platonischen Gedankenwelt verwurzelt ist und im Mittelalter als hohe Autorität geschätzt wurde. Wenn sich in Weigels Dialog über das Christentum ein Konflikt zwischen dem orthodoxen Geistlichen und dem Laienchristen darüber entspinnt, inwieweit die wesentliche Einwohnung Christi aufgrund der Einheit aller Dinge nun christlich zu nennen ist oder nicht,265 dann spiegelt der Text literarisch eine zeitgleiche Ausdifferenzierung um die Vorstellung dessen, was als »christlich« zu gelten habe, innerhalb des konfessionalistischen Kontextes. Während der orthodoxe Diskutant die Vorstellung der Einwohnung Christi als Ketzerei Osianders verdammt266 und sich auf dogmatische Literatur beruft, bezieht sich der Laienchrist ganz lutherisch allein auf die Bibel, die »Wort für Wort« diese Vorstellung vertrete.267 Eine zentrale Referenzstelle ist dabei die Rede vom Reich Gottes inwendig im Menschen: »Es braucht auch der Heilige Geist nicht vom Himmel zu kommen, er ist schon längst im Himmel, das ist: in uns.«268 Allerdings ist dieses himmlische Reich seit dem Sündenfall verschlossen, wie Weigel unter Hinweis auf eine Deutung des Falls nach der Theologia deutsch erklärt. Im Fall manifestiert sich die Verselbstigung der Kreatur, die sich wie Gott auf sich selbst neigen wollte und dabei als »Böses« ihre eigene Substanzlosigkeit erfuhr. Als Bildnis bzw. als Schatten, der auf die göttliche (Licht-)Quelle existenziell angewiesen ist, erlebt die Kreatur nach der Erfahrung der Einheit den Fall als Existenz in der Gespaltenheit, in der sie noch aus dem göttlichen Gut, aber vor allem dem eigenen Nichts

265 Weigel: Dialog über das Christentum. In: AW, S. 479. 266 Ebd., S. 482. 267 Ebd., S. 480. Der Prediger beruft sich auf die Confessio Augustana, die Loci Philippi und die Formula concordiae, wobei die Szene gerade dadurch eine spitze Note erhält, dass der Laie kenntnisreich aus der Bibel zitiert, S. 482 f. 268 Ebd., S. 495; Lk 17,21. Im Dialog provoziert diese These die ganze Schärfe des Ketzereivorwurfs; im Kontext der trichotomen Anthropologie nach Eckhart lässt sie sich stimmig verorten.

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besteht.269 Aus der Perspektive einer praktischen Frömmigkeit liegt nun alles daran, den Zustand der Einheit wieder zu erreichen, und dies geschieht mittels einer geistlichen Übung, die den Eigen-Sinn zunichte machen soll: das Erreichen völliger Leere und Stille.270 Als Basso continuo zieht sich das Plädoyer für die Einkehr in den sogenannten Sabbath des Herzens durch Weigels ganzes Werk. Dieser ist konkret als das Erreichen der Stille als Ermöglichungsgrund für die Gottesgeburt gezeichnet, und er wird terminologisch mit dem »Reich Gottes« verbunden, das nach der ursprünglichen Lutherübersetzung tatsächlich noch »inwendig im« Menschen gedacht ist.271 Zum ewigen Jnwendigen schatze komet niemandt, als durch die gelassenheit, gehorsam des glaubens, oder Sabath in schweigen stille sein, Esa. 30. […] Wer das nicht thut er sey gelert 272 oder vngelert, der kommt nicht zum reiche gottes in die ruwe. Bitten aber heisset im geiste vnnd Jn der Warheit auf gotte warten, vom Vatter horen, vom heyligen geiste lernen, wie die vbernaturliche erkentnis erfordert. […] Nemlich vom geiste mussen wir es horen vnd lernen in eynem stillen Sabath. Zur ruwe oder zum Sabath seint wir geschaffen, die ruwe ist die ewigkeit, die bleibet vnd nit vergehet. Aber die Zeitt horet 273 schnelle auf vnd vergehet. Wie man durch ein inbrünstiges gebet komen mag zu göttlicher finsternuß, darinnen gott 274 wohnet, Nemlich in das Reich gottes Jnwendig in vns.

Eine reiche, durchaus traditionelle Metaphorik umkreist den zentralen Gedanken des Zunichtewerdens der geistigen Persona in Gelassenheit und völliger Stille: Über Eckhart leitet sich die traditionelle Deutung des Seeleninnersten als Tempel ab, in den Christus einkehrt, sobald die Händler verschwunden sind.275 Von

269 Weigel: Informatorium. In: PW 11, S. 111 ff. 270 Die Bedeutung des praktischen Gebets für Weigels Anstreben der Wiedergeburt als »Ablegen der alten, menschlich-unvollkommenen Natur durch völlige Entselbstung und das Erlangen einer neuen, göttlich-vollkommenen Natur« sieht auch Längin. Auch ohne Untersuchung hermetischer Einflüsse leitet sich seine Analyse über Weigels Kurtzer Bericht und Anleitung zur Teutschen Theologey her, womit die Schlüsselstelle der auch von Luther legitimierten Theologia deutsch für die Reintegration neuplatonischer Topoi noch einmal deutlich wird. Längin: Grundlinien der Erkenntnislehre Valentin Weigels, S. 456 f. 271 Sowohl die revidierte Lutherübersetzung wie auch die Einheitsübersetzung sprechen inzwischen in der Übersetzung von Lk 17,21 vom Reich Gottes »mitten unter« euch. 272 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 97 u. 99. 273 Ebd., S. 101. 274 Weigel: Vom Gebet. In: PW 4, S. 213. 275 Valentin Weigel: Handschriftliche Predigtensammlung (1573–1574). Hg. v. Winfried Zeller



Mystik, Dekonstruktion und ›geist-reiche‹ Kritik

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Tauler wie auch von Eckhart übernimmt Weigel die Rede vom Nicht-Wissen, NichtSehen, Nicht-Erkennen als Vorstufe der Einung sowie die Deutung Augustins zu Paulus Entrückung, erst dessen Nicht-Sehen eröffne ihm ein Sehen aller Dinge in ihm,276 eine Wendung, an die sich Tats Erfahrung in der hermetischen Erzählung anschließen ließ. Weigels Informatorium, oder kurtzer Vnterricht / welcher Gestalt man durch drey Mittel den schmalen Weg zu Christi sich führen kan lassen erläutert in der Metaphorik der »Leiter Jakobs« oder des »Schlüssel Davids«277 verschiedene Wege des Gebets, die der religiösen Praxis nach als Beschreibungen der Meditation gelten können. Es handelt sich zunächst um traditionell biblische Metaphern: Die Leiter, die Jakob im Traum sieht, reicht bis zum Himmel (1 Mos 28,12), und der Schlüssel zum Haus Davids liegt nach der Prophezeihung des Jesaja in den Händen des Palastvorstehers Eljakim (Jes 22,22). Weigel bezieht das Motiv der Jakobsleiter in wörtlichem Anschluss an (Pseudo-)Dionysios Areopagita auf ein Führen des Gemüts über sich selbst und alle Dinge zu Gott.278 Den Schlüssel Davids bezieht er, vergleichbar wie vor ihm bereits Sebastian Francks Verbüthschiert Buch,279 auf das Finden des Reiches Christi – Jesus galt nach Mt. 1,1 als Sohn Davids  – im Seeleninneren, dessen verborgene Anwesenheit wiederum in der biblischen Metaphorik des Schatzes im irdischen Gefäß, des verschlossenen Gartens oder des verschütteten Brunnens geschildert wird.280 Weigel greift hierin sowohl auf Eckhart zurück, der sich seinerseits wiederum explizit auf Dionysios bezieht,281 ebenso zitiert er Dionysios direkt, wenn er vom Aufstieg über die Namen Gottes spricht.282 Ähnliches lässt sich in Weigels Gebetbüchlein beobachten, wo Weigel aus (Pseudo-)Dionysios’ Briefen an Timotheus zitiert, die

unter Mitarbeit von Horst Pfefferl und Martin Quiring. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 187. Vgl. Meister Eckhart: Deutsche Predigt 1. DW I, S. 10/11–12/13. 276 Weigel: Vom Gebet. In: PW 4, S. 209 ff. 277 Weigel: Informatorium, oder kurtzer Vnterricht / welcher Gestalt man durch drey Mittel den schmalen Weg zu Christo sich führen kan lassen. In: PW 11. – Bei den drei Wegen handelt es sich um Gebet und Meditation, die das Gemüt über sich führen sollen (S. 23 ff. u. 84 ff.). Das Informatorium wird zwar Weigel zugerechnet, gilt aber als Gemeinschaftwerk mit Biedermann Pfefferl: Einleitung. In: PW 11, S. XIX-LXXIII, hier S. LXXI. 278 Weigel: Infomatorium. In: PW 11, S. 23 ff. u. 84 ff.; Dionysios: Über die Mystische Theologie, S. 74. 279 Waldhoff: Judentum als Metapher, S. 189. 280 Weigel: Informatorium. In: PW 11, S. 84 ff. In Anlehnung an Franck bezeichnet Weigel den Menschen wie die Schrift als mit sieben Siegeln verschlossen. 281 Meister Eckehart: Predigten und Traktate, S. 420 f. 282 Weigel: Informatorium. In: PW 11, S. 53 ff.

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ebenfalls über Eckharts Predigten zu ihm gelangten.283 Sowohl Eckhart wie Dionysios schildern diesen praktischen Aspekt der Einkehr ins Innere nicht nur als Beruhigung aller körperlichen Aktivität, sondern darüber hinaus als Erreichen völliger Gedankenstille. Erst in diesem höchsten Nichtwissen, dem Verstummen der aktiv raisonnierenden Persona, kann sich die Erkenntnis durch Einung ereignen. Dionysios spricht ganz konkret von der »Privation alles Seienden«, die die Vereinigung mit der Ursache alles Seienden überhaupt erst ermögliche.284 Für Weigel entspricht das Eingehen in die Stille der Überwindung des Eigenwillen in der ganzen Begriffsvielfalt der Abtötung des adamitischen Leibes, der Selbstverleugnung oder des Selbsthasses, die die Wiedergeburt, hier verstanden als Rechtfertigung durch Christus, vorbereiten sollen.285 Im Hinblick auf die anthropologische Vorstellung einer verborgenen Einheit von Gott und Seelengrund ist das Zunichtewerden der Person in der Ruhe die Erweckung des Verschütteten – und somit eben der »Schatz Jm Jrdischen gefeß«, der »Schatz im Acker« oder der »versigelte Brunn«,286 den es bezeichnenderweise nicht neu zu graben, sondern freizulegen gilt.287 Weigels enger Anschluss an Dionysios ist signifikant auch für die HermetikRezeption, da Dionysios in der Genese und Konstruktion der christlichen Tradition 1000 Jahre vor Weigel eine zentrale Schnittstelle zwischen der jüdisch-frühchristlichen und der neuplatonischen Tradition innehält und sein Name somit ein Schlaglicht auf die diskursive Konstruktion christlicher wie nicht-christlicher Traditionen werfen kann. Rezeptionsgeschichtlich stellte (Pseudo-)Dionysios für mittelalterliche Autoren eine Autorität ersten Ranges dar, doch wurde sein Werk in der frühen Neuzeit über philologische Kritik wie theologische Neube-

283 Weigel: Vom Gebet. In: PW 4, S. 214. Siehe dort Pfefferl, Fußnoten 1–4 zum sehr engen Anschluss, teilweise wörtlichen Übereinstimmung von Dionysios über Meister Eckhart bis zu Weigel. Thematisch handelt es sich neben der Entrückung des Paulus in den dritten Himmel um eine ähnliche Anleitung zum »Aufschwung« wie ein »Adler« über Geschöpflichkeit, Ort und Zeit, wie sie auch aus den hermetischen Traktaten abzuleiten wäre. Ebd., S. 214. 284 (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Die Namen Gottes. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Beate Regina Suchla. Stuttgart 1988, S. 26. Zur Gedankenstille auch Meister Eckhart: Deutsche Predigt 60. DW I. In: Ders.: Werke 1, S. 638/639. 285 Weigel: Vom Gebet. In: PW 4, S. 198; Weigel: Informatorium. In: PW 11, S. 115. 286 Weigel: Vom Gebet. In: PW 4, S. 87; Weigel: Informatorium. In: PW 11, S. 85. 287 »Ach, ewiger gott vnd vater Du hst Jn vns Eingegraben vnd gegossen den lebendigen Brunnen, vnd vns gepflantzet zu deinem Lustgarten […] Eröffne Herr disen Garten, welchen wir durch vnsere sundt selber haben verschlossen. Reinige den Brunnen Jn vns«; Weigel: Informatorium. In: PW 11, S. 86. Vgl. denselben Topos in verändertem Kontext bei Scheffler: »Du darffst zu GOtt nicht schreyn / der Brunnquell ist in dir: // Stopffst du den Außgang nicht / er flüsse für und für.« (Cherubinischer Wandersmann, S. 35)



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wertung aus den diskursmächtigen Konzepten der christlichen Rechtgläubigkeit bis zu dem Ausmaß ausgegrenzt, dass sein Name in den orthodoxen Heterodoxieanalysen um 1700 unterschiedslos neben Hermes stehen konnte.288 (Pseudo-) Dionysios selbst schrieb im fünften Jahrhundert nach Christus aus einer zutiefst dem Neuplatonismus proklischer Prägung verpflichteten Position heraus. Über die sorgfältig inszenierte literarische Fiktion, ein Zeitgenosse des Paulus sowie des Evangelisten Johannes zu sein, dem er zum Beispiel einen freundlichen Brief schrieb und ihm vermeintlich prophetisch das baldige Ende von dessen Verbannung auf Patmos ankündigte,289 konnte (Pseudo-)Dionysios erstens neuplatonische Kerngedanken in den imaginierten Anfang der sich konstituierenden christlichen Tradition implantieren – selbstverständlich nur, indem er sie als christlich ausgab und damit das vermeintlich Heidnische zumindest seinem Selbstverständnis nach »überwand.«290 Zweitens erlaubte die erst durch philologische

288 Weiterführend zur enormen Breitenwirkung des Corpus Dionysiacum in Mittelalter und Früher Neuzeit Adolf Martin Ritter: Einleitung. In: (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Über die mystische Theologie und Briefe, S. 1–73. Ebenso mit weiterer Literatur Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 382 ff. Als Eckpunkte der Rezeption sind seine Verehrung in St. Denis bei Paris zu nennen, das im Mittelalter zum Nationalheiligtum Frankreichs wurde und, angeregt von der dionysischen Lichtmetaphysik, zum Ausgangspunkt der Gotik. Dionysios’ Texte werden an der Domschule in Chartres wie im Chorherrenstift St. Viktor bei Paris geschätzt und gehören an der Sorbonne ab dem 13.  Jahrhundert zur Pflichtlektüre. Sie spielen eine zenrale Rolle für Seuse, Tauler, Eckhart, van Ruysbroek. Nikolaus von Kues, Marcilio Ficino und Pico della Mirandola übernehmen aus diesen Texten, die sie gemäß der fiktiven Verfasseridentität als apostolisch und dem Neuplatonismus vorgänglich lesen, ihre Modelle für die Integration von Platonismus und Christentum. Erst mit der Reformation entzündete sich die Kritik an Dionysios’ Verschränkung von geistiger und kirchlicher Hierarchie. Luther kritisiert seine Autorität in Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche (1520), weil mit ihm die sieben Sakramente begründet wurden, dagegen beriefen sich katholische Kontroverstheologen wie Johannes Eck gerade in der Ablehnung von Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum auf die dionysischen Hierarchien, die die weltliche Praxis von ständischer Über- und Unterordnung geistig legitimierte. Die protestantische Historiographie um 1700 schreibt das lutherische Verdikt gegen Dionysios fort. Vgl. Bücher: Lutherus Anti-Pietista, S. 13 u. 23. 289 (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Über die Mystische Theologie und Briefe, S. 116 f.: »Man kann mir völlig vertrauen, (da ich lediglich weitersage,) was ich von Gott erfuhr, nachdem er es Dich längst hat wissen lassen: Du wirst aus dem Gefängnis in Patmos befreit werden und nach Kleinasien zurückkehren. Und dort wird Dein Handeln die Werke des guten Gottes nachahmen, und Du wirst es denen überliefern, die nach Dir kommen.« – Der Kirchenhistoriker Euseb hatte unter Berufung auf Clemens von Alexandrien festgehalten, dass Johannes unter Trajan aus der Verbannung zurückgekehrt sei und in Asien eine Gemeinde leitete – wie man im fünften Jahrhundert inzwischen wusste. Siehe ebd., S. 142, Anm. 221. 290 Das Konfliktpotenzial dieser Umdeutung und philosophischen Umbesetzung im Namen der neuen Religion spiegelt sich im siebten Brief des Dionysios: »Du aber weißt zu berichten, der

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Kritik dekonstruierte fiktive Identität des Dionysios als Paulus-Schüler für knapp 1000 Jahre, über die Texte des Corpus Dionysiacum die Wissensfigur der Gottesgeburt durch Leerwerden als christlich innerhalb der christlichen Tradition zu verorten. Dionysios selbst spricht in diesem Zusammenhang teilweise eine deutlich esoterischere Sprache als die frühneuzeitlichen Spiritualisten. Er bedient sich einer ausgeprägten Rhetorik des Geheimnisses, indem er suggestiv von geheimer Überlieferung und Mysterien spricht, die nur Eingeweihten zugänglich seien.291 Allerdings verortet er diese entsprechend seiner Konstruktion einer christlichen Tradition ausschließlich bei biblischen Schriftstellern und in priesterlicher Rede.292 Auch übernimmt er Kernstücke der neuplatonischen Begrifflichkeit für das Heilige, wie z. B. den Begriff Logia, mit dem traditionell die Chaldäischen Orakel benannt wurden, und verwendet sie nun exklusiv in Bezug auf die Heilige Schrift.293 Die praktische Methode jedoch, über die sich dieses Wissen auch nach seiner Darstellung den Eingeweihten erschließt, ist wie bei Proklos und Plotin das Überschreiten allen Wissens im höchsten Nichtwissen durch »Beenden jeder

Sophist Apollophanes schmähe mich und nenne mich einen ›Vatermörder‹, weil ich von den Errungenschaften der Heiden unfairen Gebrauch mache, um sie wider die Heiden zu nutzen. Nun, es käme der Wahrheit bedeutend näher, wenn wir ihnen entgegenhielten: es sind Heiden, die sich in unfairer Weise der göttlichen Gaben als Waffen wider das Göttliche bedienen, indem sie nämlich die Weisheit, (die doch) von Gott (kommt), zu dem Versuch benutzen, die Ehrfurcht gegenüber Gott auszutreiben.« (Pseudo-)Dionysios betreibt eine systematische Verchristlichung der platonischen Metaphysik durch die Aneignung, Umdeutung und Umbesetzung ihrer Terminologie. Vgl. Beate Regina Suchla: Einleitung. In: Die Namen Gottes, S. 18. Seine Verchristlichung neuplatonischer Sprach- und Denkfiguren steht dabei in Bezug auf die philosophische Einbettung und kulturgeschichtliche Ausgestaltung der Selbstdeutung des Christentums außer Frage, lediglich im praktischen Weg zur Gotteserfahrung über die negative Theologie ist (Pseudo-)Dionysios nicht originell. Zu einer differenzierten Interpretation Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 110 ff., zur Gnoseologie S. 385 ff. 291 (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Die Namen Gottes, S. 24 u. 28; ders.: Über die mystische Theologie, S. 74. Gegen diese Rhetorik des Geheimnisses, Theorien über geheime Traditionen oder Vorstellungen von esoterischen Jesusworten nur für Auserwählte wird sich insbesondere die lutherische Bibelhermeneutik strikt abgrenzen. Vgl. Gerhard: Loci theologici, S. 37 u. 367, unter Berufung auf Luthers Annahme von der Klarheit der Heiligen Schrift in De servo arbitrio ebd., S. 385. 292 (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Die Namen Gottes, S. 24 u. 26. Die wörtlichen Parallelen und identischen Metaphern im Vergleich zu platonischen Texten werden nicht mehr erwähnt. Vgl. z. B. zur Metaphorik der Seele als Statue, die aus einem Stein gemeißelt wird bei Dionysios und Plotin (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Über die mystische Theologie, S. 76; Enn. I 6,9,9 (Plotin: Ausgewählte Schriften, S. 59). 293 (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Über die Mystische Theologie, S. 74 u. 81, Anm. 5.



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gedanklichen Tätigkeit.«294 Und den Zustand, in den die Seele nach dem Erreichen dieser Ruhe überformt wird, bezeichnet Dionysios nun explizit als »christusähnlich«, »engelgleich«295 und als »Einung der vergotteten Vernunftwesen«,296 womit er ein Vokabular für dieses Phänomen des nun christlich genannten Mysteriums einführt, das in der frühen Neuzeit von Ficino bis zu Johann Arndt wieder aufgegriffen und breit rezipiert wird.297 Deutliche Differenzen zu den frühneuzeitlichen Autoren generiert die Rezeptionsgeschichte durch die kommunikativen Kontexte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Während sich über (Pseudo-)Dionysios dieses Phänomen gerade durch dessen prominente Einbindung der kirchlichen Hierarchie als christliches Mysterium interpretieren ließ, wurde es im Milieu frühneuzeitlicher innerprotestantischer Dissidenz, dem auch Weigel angehörte, als individualpsychologisches Sinnangebot lesbar, hinter dem die kirchliche, realpolitische Verfasstheit zurückblieb, womit es entsprechend unter Häresieverdacht fiel. Die deutliche Ablehnung jener Begrifflichkeit ist für das kulturelle Gedächtnis des Luthertums Mitte der 1570er Jahre mit den Erinnerungen an die politischen und sozialen Unruhen der 20er und 30er  Jahre assoziiert und mit Luthers Verdikt gegenüber den »himmlischen Propheten« verbunden. Die mystische Begrifflichkeit der Imitatio Christi in der Deutung einer Christwerdung des Einzelnen, des inneren Worts oder des Herzenssabbaths hatte sich in der Täuferbewegung, bei Andreas Bodenstein von Karlstadt sowie Thomas Müntzer mit einer dezidiert obrigkeitskritischen und politisch handlungsbereiten Agenda verbunden. Dabei

294 Ders.: Die Namen Gottes, S. 25; vgl. ebenso ders.: Über die mystische Theologie, S. 76 u. 74: »Du aber, lieber Timotheus, laß nicht ab, Dich den geheimnisvollen Betrachtungen hinzugeben. Den Sinneswahrnehmungen gib (auf diese Weise) ebenso den Abschied wie den Regungen des Verstandes. […] Denn nur wenn Du Dich bedingungslos und uneingeschränkt Deiner selbst wie aller Dinge entäußerst, wirst Du in Reinheit zum überseienden Strahl göttlichen Dunkels emporgetragen, alles loslassend, von allem losgelöst.« Vgl. dazu EnnVI, 8,21,186 (Plotin: Geist – Ideen – Freiheit, S. 87): »Vielmehr tu alle andern Dinge fort, wenn du Ihn aussagen oder Seiner innewerden willst. Wenn du nun alles fortgetan und nur Ihn selber belassen hast, dann suche nicht danach, was du Ihm beilegen könntest, sondern danach, ob du vielleicht etwas noch nicht von ihm fortgetan hast in deinem Denken.« 295 (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Die Namen Gottes, S. 24: »Dereinst aber, wenn wir unvergänglich und unsterblich geworden und zur christusähnlichen und allerseligsten Ruhe gelangt sind, ›werden wir‹, wie die Schrift sagt, immerdar mit dem Herrn sein [1 Tess 4,18] […]. Im göttlicheren Nachvollzug der überhimmlischen Vernunftwesen werden wir ›nämlich engelgleich sein‹, wie die Wahrheit der Schrift sagt, ›und Söhne Gottes, weil Söhne der Auferstehung.‹ [Lk 20,36]« (Hervorh. im Orig.). 296 (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Über die göttlichen Namen, S. 25. 297 Weiterführend siehe Geyer: Verborgene Weisheit, Buch II, S. 185 ff.

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hatte sich insbesondere bei Müntzer am Vorabend des Bauernkriegs 1525 die Vergottungsrhetorik mit dem Postulat des Kampfes der mit Gott Vereinigten gegen die Gottlosen verbunden, worauf Luther sowohl theologisch (Wider die himmlischen Propheten von Bildern und Sakrament, 1524) als auch politisch mit dem Ruf zum Schwert (Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern, 1525) reagiert hatte.298 Obwohl Müntzer unter dem Eindruck der sozialen Brennpunkte gerade in seiner Kampfrhetorik ex negativo dem traditionellen Konzept eines »Wahrheits-«besitzes folgte, die es gegenüber »anderen« zu verteidigen galt, wurde die Vergottungsrhetorik im diskursmächtigen Strang der kulturellen Erinnerung mit seinem Namen, mit Karlstadt und Osiander verbunden und entsprechend mit einer für die junge Konfession identitätsbedrohenden Separationsangst und sozialen Unruhen assoziiert. In diesem Kontext sind die klaren Abgrenzungen in der Konkordienformel von 1577 gegenüber den Wiedertäufern und den Schwenckfeldern sowie die Festschreibung des Heils ab extra zu verorten. Es werden damit explizit Interpretationsansätze als unchristlich ausgegrenzt, die die Rechtfertigung als innere Heiligung deuten.299 In diesem kommunikationsgeschichtlichen Kontext konterkariert gerade Weigels Postulat einer frömmigkeitsgeschichtlichen Tradition der Christusgeburt im Einzelnen die diskursmächtige soteriologische Vorstellung des Heils durch Zurechnung ab extra über die einmalige historische Erlösungstat Jesu. Je ausschließlicher das Dogma von der stellvertretenden Gerechtigkeit festgeschrieben wurde, desto deutlicher erhalten die philologisch korrekten Rückgriffe Weigels auf die mystische Tradition sowie auf die platonischen Philosophen als erleuchtete Heiden die Rolle eines Korrektivs der christlichen Praxis, insbesondere da Weigel im Unterschied zu Dionysios das Wissen um eine verborgene Präsenz Gottes im Seelengrund nicht auf die christliche Tradition eingeschränkt sah. Das Gebetbüchlein spricht beispielsweise Proklos zu, das Himmelreich in sich gefunden zu haben300 oder deutet auf Platon, Sokrates und Hermes, die den »Schatz im

298 Luise Schorn-Schütte: Die Reformation. Vorgeschichte  – Verlauf  – Wirkung. München 4 2006, S. 50; Volkmar Joestel: Andreas Bodenstein genannt Karlstadt. Schwärmer und Aufrührer? Wittenberg 2000, S. 35. 299 Konkordienformel, Art. 12. In: Unser Glaube, S. 840 ff. Das Echo dieser Konfrontation findet sich bei Weigel im Dialog über das Christentum. Der orthodoxe Geistliche verbindet die Lehre vom inneren Wort verschiedentlich mit Schwenckfeld und Müntzer, zitiert Luthers Verdikt gegen die himmlischen Propheten und wiederholt die Flugmetaphorik im Verbot, in den Himmel »flattern« zu wollen. Weigel: Dialog über das Christentum. In: AW, S. 474, 502 f. 300 Weigel: Vom Gebet. In: PW 4, S. 216.



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Acker«, die verborgene Präsenz Gottes im Inneren, zu finden wussten, womit sich jedesmal eine Kritik an Weigels Zeitgenossen verbindet.301 Die Praxis eines meditativen Eintauchens in die Stille wird somit aus einer frömmigkeitspraktischen als auch einer rezeptionsgeschichtlichen Perspektive zum Tertium comparationis, um die christliche Tradition mit den hermetischen Texten zu verbinden. Die – korrekt zitierte – entsprechende Referenz nennt dann der Text Vom Beten und Nichtbeten, der in verschiedene Drucke des Gebetbuchs eingefügt ist: Es sagt der Mercurius: Eius cognitio silentium diuinum et omnium intenta applicatio etc. Gottes erkantnuß ist ein gottliches stilschweigen. Was ist Silentium diuinum? Siehe an, Was machen die Engel im Himmell, oder was thut Gott? Nichts. Gott wird nicht erkandt, noch gesehen von Jrgent einer Creatur als Creatur, sie muß gestorben sein, gantz vnd gahr, sol sie Gott schawen. Dieweil wier von Gott reden, so kennen wier Jhn noch nicht, vnd dieweil wier Jhn angstlich nachlauffen Erhaschen wier Jhn nicht, vnd seind noch zu Jhm nicht kommen. 302 Es gehoret ein Sabbath, ein stillschweigen, ein warten, vnd feyren hierzu.

4.2. Augen-Metaphorik, Erkenntniskritik und Dekonstruktion Begriffe von »Wahrheit« sind grundlegend für eine Haltung gegenüber der Welt, sowohl in Bezug auf das vorherrschende »Wahrheits«-Konzept des eigenen Kulturkreises als auch in Bezug auf konkurrierende Entwürfe. Die charakteristische Lehre von den drei »Augen« bzw. Erkenntniskräften, die bei Weigel eine zentrale Rolle spielt, ist zwar historisch nicht neu, doch lässt sich am Beispiel seiner Texte verfolgen, wie sie im konfessionalistischen Problemkontext eine solche kirchenund autoritätskritische Stoßrichtung entfaltet, dass sie in den Augen der Orthodoxie zum Heterodoxiemerkmal werden konnte. Erstens erlaubte sie, unter Einbindung hermetischer und platonischer Quellen die Idee einer Einheit von Gott und Seelengrund auch in die frühe Neuzeit zu tradieren und entsprechend die Christusgeburt als mystische All-Einheitserfahrung des wiedergeborenen Subjekts zu deuten. Zweitens ermöglichen ihre erkenntniskritischen Implikationen eine skeptische und geradezu dekonstruktivistische Haltung gegenüber traditionellen

301 Ebd., S. 87. 302 Weigel: Vom Beten und Nichtbeten. In: PW 4, S. 236. Der Text zitiert CH X, 5 (CHD I, S. 103). Der kurze Text Vom Beten und Nichtbeten ist als »Appendix vom Gebet« überschrieben und in verschiedene Drucke des Gebetbüchleins eingefügt. Die verhältnismäßig häufige Nennung des Hermes sowie eine emotional formulierte Ablehnung des »Antichrist« deuten nicht auf Weigel selbst, sondern auf einen Autor in seinem Umkreis hin. Pfefferl: Einleitung. In: PW 4, S. LVIf.

Abb. 7: Titelbild Der güldene Griff (1616)



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Wahrheitskonzepten, beginnend mit dem Fundament der christlichen großen Erzählung, der Idee einer abgeschlossenen Offenbarung, die in Form der Heiligen Schrift vorliegt. Die Genese einer kritischen, in die Aufklärung verweisenden Hinterfragung tradierter Wahrheitskonzepte durch die Aktualisierung alten epistemologischen Wissens im historischen Moment um 1575 erschließt sich plastisch aus Weigels zweiter erkenntnistheoretischer Hauptschrift Der güldene Griff. Der güldene Griff (1578) spitzt die Thesen über die äußere, konstruierende Wahrnehmung und die innerpsychische, passiv empfängliche Erkenntniskraft aus Gnothi seauton im zeithistorischen Kontext zu. Das Erkenntnismodell und seine Implikationen sind zunächst aus der Tradition geschöpft: Bereits der AugustinerChorherr Hugo von St. Viktor entwarf eine trichotome Erkenntnislehre, die sich bis zur Bezeichnung der verschiedenen »Augen« hinein mit dem weigelschen Entwurf deckt. Da Hugo mit Augustinus eine Illuminatio als Zentrum der Erkenntnislehre annahm303 und die Vernunft unter der Erbsünde versehrt sah, verortete er die Erkenntnis Gottes in einem über-vernünftigen Auge der Schau. Das Wissen der vernunftorientierten Theologie des Schulbetriebs dagegen verortete bereits Viktor lediglich auf der zweiten Stufe der Erkenntnis.304 Diese Verknüpfung der Epistemologie mit einer Metaphorik aus dem Bereich der Optik kennen auch Tauler und Meister Eckhart, wobei Weigel das Bild von dreierlei gefärbten Gläsern für die verschiedenen Erkenntnismöglichkeiten des Menschen aus einer Predigt Taulers übernimmt.305 Tauler verwendet das Bild dreifach gefärbter Gläser, um die Abhängigkeit verschiedenster Erkenntnisstufen von den jeweiligen Erkenntnisorganen zu illustrieren.306 Entsprechend der verschiedenen Farbfilter wird das Licht gebrochen, und erst auf der obersten Ebene, die als weiß, also ohne eigene Farbe geschildert wird, strahlt das Licht bzw. der Geist ganz aus sich. Weigel hatte sich 1570 eine Kompilation von Taulers Texten zusammengestellt307 und übernimmt Taulers Bild in seine erkenntnistheoretischen Reflexionen in Der güldene Griff.308

303 Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse, Hg. v. Joseph Bernhart. München 1966, S. 165. (IV, 11 u. 17) 304 Leppin: Die christliche Mystik, S. 73 ff. 305 Zu Details des Rezeptionsprozesses Zeller: Meister Eckhart bei Valentin Weigel, S. 61 ff. 306 Tauler: Predigten I, S. 28 f. 307 Zwene nützliche Tractat / Der Erste / Von der Bekehrung des Menschen / der ander / Von Armut des Geistes: oder waarer Gelassenheit. Zusammengezogen vnd geschrieben von Valentino Weigel. ao. 1570. Siehe Zeller: Meister Eckhart bei Valentin Weigel, S. 62. Als Vorlage hat Weigel den Taulerdruck aus dem Jahr 1522 benutzt, der Eckharts Predigt Beati pauperes spiritu  / Von geistlicher Armut enthält. Zeller: Der Baseler Taulerdruck von 1522, S. 33. 308 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 59. Siehe auch Zeller: Meister Eckhart bei Valentin Weigel, S. 61.

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Im Anschluss an Tauler thematisiert Franck, dessen Schriften im weigelianischen Schrifttum verschiedentlich genannt sind,309 bereits deutlich mittels einer weiteren Metapher aus dem Bereich der Sehkraft die erkenntnis-, rationalitätsund autoritätskritischen Implikationen. Franck verwendet die Metapher von der Brille des Wahrnehmenden, die alles Wissen im diesseitigen Raum an das Erkenntnisvermögen und an die Perspektivgebundenheit des Wahrnehmenden rückbindet. Das Bewusstsein um die grundlegende Perspektivgebundenheit jeder Aussage relativiert bereits nach Franck alle dogmatisch formulierten Sätze.310 Und bereits vor Weigel kennt Sebastian Franck die Gleichung zwischen einem postulierten Wahrheitsbesitz, der sich aus der Autorität anderer oder sogar der eigenen Vernunft abzuleiten meint und der Täuschung durch einen noch nicht überwundenen Eigenwillen. Franck leitet hieraus ein unbedingtes Plädoyer für die alleinige Verpflichtung auf eine innere Autorität ab, da diese allein im Heiligen Geist wurzele. Unter Berufung auf Gal 5,18 kann er aus dem Vertrauen auf die Führung durch den Geist ein frühes Postulat für Denkfreiheit postulieren.311 An dieses Postulat schließt Weigel an, indem er die Augen-/Brillen-Metaphorik einerseits übernimmt, andererseits aber viel nachdrücklicher als seine Vorgänger betont, dass die beiden äußeren Erkenntniskräfte, Vernunft und Sinnlichkeit, als aktiv vom Menschen ausgehend zu denken sind. Zugespitzter noch als in Taulers Reflexion verschiedener Wahrnehmungsebenen betont Weigel die konstitutive epistemologische Differenz zwischen der passiven Wahrnehmung des innersten »Auges« und dem aktiven Sehakt der beiden äußeren »Augen« Vernunft und Sinnlichkeit. Ganz explizit hat die Vernunft nach Weigels Modell keinen Zugriff auf die Dinge selbst, sondern bringt in jenem aktiven Sehakt lediglich subjektive Eindrücke von Dingen hervor.312 Alle Wahrnehmung im natürlichen Bereich damit ist unhintergehbar vorläufig und perspektivisch bedingt; alles Wissen wird in einem aktiven Wahrnehmungsprozess vom Subjekt konstruiert. Das Neue bei Weigel ist jedoch, dass er dieses Modell mit anschaulichen Beispielen illustriert und explizit auf die Auslegung der Heiligen Schrift bezieht.

309 Weigel: Natürliche Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 157; Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 244. 310 »Ist es aber recht / so sihe das dus auch durch recht parillen ansehest. Dann wie alle speiß nach vnserem mund ist gericht / vnd dem fiebrigen auch das honig vnd zucker gallen ist / also ist vnd kompt dem letzen auch das recht letz / wie die parillen auff der nasen also erscheint / das r man dardurch siehet.« Franck: Das verbüthschiert Buch, Bl. 430 . 311 »Wo der Hailig gaist / das ist freihait / so ist das frei Wort an nicht angebunden.« Franck: Die vier Kronbüchlein, S. 253; Hayden-Roy: Orchestrating an Assault on Reason, S. 172. 312 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 36 ff., 41 ff. u. 44 ff.



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Nim ein exempel: Die Biblia ist ein eyniger vnbeweglicher kegenwurff (wie bis an her solchs offt gemeldet). Nun seint 100 leser vorhanden, vnd Nimpt ein Jeder draus nach seinem kopffe den Verstandt. Jch sage ein Jeder aus seynem kopffe, das ist aus seynem auge, vnd nit aus dem kegenwurffe. Solte nun vom kegenwurff das vrteyl oder die erkentnis herkommen, vnd nit aus dem erleuchteten, gleubigen auge oder leser, gewißlich es wurden alle 100 leser einen gleichformigen vngespaltenen verstandt, aller artickel aus dem kegenwurffe oder obiecto nemen oder empfahen, das noch nicht ist. Sondern es gehet vielmehr: Quot 313 homines tot sensus, so viel menschen, so viel kopfe.

Im Gegensatz zur rationalistischen Kritik der späteren Aufklärer leitet Weigel seine Kritik am Absolutheitsanspruch konfessioneller Wahrheitskonzepte nicht aus ihrer Unterwerfung unter eine Kritik durch Vernunft ab, sondern aus einer dezidiert spiritualistischen, quasi »geist-reichen« Hermeneutik, die die Intellekt­ theorie Eckharts und Taulers beerbt. Die begriffliche Äquivalenz von Intellectus und Mens zur Bezeichnung des dritten ›Auges‹ deutet einerseits auf eine anthro­ pologische Konstante, andererseits jedoch auch auf eine sprachgeschichtliche Entwicklung hin: Die dritte Erkenntniskraft ist in deutscher Terminologie nicht mehr der Intellekt oder die ›vernünfticheit‹, sondern der Geist. Diese für den Spiritualismus identitätsstiftende Begrifflichkeit findet in der paulinischen Rede vom geisterfüllten Sprechen, das den fleischlichen Menschen unverständlich und verschlossen bleibt,314 ihr Paradigma zur Artikulation von Kritik. Die Autorität der Heiligen Schrift steht für Weigel außer Frage, doch entzieht er mit diesem hermeneutischen Modell den streitenden theologischen Parteien und Fakultäten insofern ihre Autorität, als er – präzise mit Paulus – den Streit an sich als Ausdruck der fleischlichen, irdischen, und damit christusfernen Existenz deutet.315 Weigels Kriterium für die Erkenntnis aus dem Geist, die nach lateinischer Begrifflichkeit der Erkenntnis aus dem Intellekt oder dem Verstand entspricht, ist wiederum nach Paulus keine nominelle Übereinstimmung der Inhalte, sondern der Frieden, den die Erkennenden erreichen: Gleich wie Jn naturlicher erkentnis, von einem einigen obiecto eine widerwertige zwispaltige meinung entspringett vnter den menschen, vnd mogen nicht friede noch einigkeitt haben, wie offenbar ist in der helle vnnd auf erden in der menschen kirche, aus Vrsache das sich das auge, oder die erkentnis helt wircklichen vnd das darzu ein iegliches auge so vielfeltiger weyse vnterschieden ist. […] gleich wie in der naturlichen erkentnis (sage ich) vneinigkeitt ist vber die masse, also eben im kegenteil, wird Jn der vbernaturlichen erkentnis eine löbliche eynigkeit gehalten, von wegen des, das sich alle augen mussen nicht

313 Ebd., S. 85. 314 1 Kor 2,10–3,4. 315 1 Kor 3,3.

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wircklich sondern leidlich halten vnd das obiectum welches eynig ist, sich selber in alle 316 solche gelassene augen ergeußset.

Der güldene Griff wurde im Jahr 1578, im Jahr nach dem Beschluss der Konkordienformel, verfasst und kontextualisiert das traditionelle Wissen um die drei Erkenntniskräfte durch Anspielungen auf das Zeitgeschehen. Im Vergleich zum ruhigen Ton der früheren Schriften enthält Der güldene Griff signifikant deutlichere Worte gegen die Orthodoxie und die theologischen Fakultäten einschließlich Anspielungen auf von jenen ausgehende Denk- und Wissensverbote.317 Der Text enthält seine intellektuelle Biografie vom lutheranischen Pfarrer zum Spiritualisten, dem die Instanz des inneren Worts als jungem Menschen einen Ausweg aus dem »Babel« des doktrinären Theologenstreits bedeutet hatte.318 Der vollständige Titel der Schrift lautet: Der guldene Griff Alle dinge ohne Jrthumb zuerkennen, allen hohen schulen vnbekant, vnndt doch allen menschen notwendig zuwissen. Der Titel ist als Anspielung auf Matthias Flacius’ Text Clavis Scripturae Sacrae interpretiert worden, der im Jahr 1567 die Autorität der Heiligen Schrift dogmatisch festschrieb, was 1577 in der Konkordienformel bestätigt wurde.319 Gegen ein Wissensmodell, das autoritativ gesetzt und abschließend formuliert sein soll, bringt Der güldene Griff nachdrücklich die Bedingtheit des Wissens, in heutigem Vokabular: die diskursive Verfasstheit jenes »Wahrheits«-Modells zu Bewusstsein, indem er paradigmatisch reflektiert, »[w]ie alle naturliche erkentnis sich ändere oder manchfeltig mache, aus art der augen vnd nicht aus art des kegenwurfs«.320 In diesem Kontext erinnert Der güldene Griff daran, dass das Wissen der Schrift jedem einzelnen Gläubigen offen steht, der das Herz [!] zu öffnen versteht.321 Die Weisung des Menschen an eine innerste Instanz der Urteilskraft, das innerste Auge oder das »Judicio im Menschen«,322 ist in diesem Kontext nicht als spezifische Neuheit und noch weniger als hermetisches Wissen konzipiert, wie Weigels Gegner kritisieren, sondern stellt sich als bewusster Rückgriff auf altes Wissen dar, das jedoch in einer als oppressiv empfundenen Situation nicht länger zurückgehalten werden sollte: »Es ist Zeitt die Wahrheitt nicht

316 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 57; vgl. ebd., das ganze Kapitel Das vnter den frommen eynigkeitt vnd friede sey, von wegen des eynigen willen gottes, den sie leiden vnd tragen, Jm Himmel vnnd erden; auch 1 Kor 3,5–9. 317 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 7. 318 Weeks: Valentin Weigel, S. 116. 319 Diese Interpretation des Titels schlägt Weeks mit überzeugenden Argumenten vor (Valentin Weigel, S. 121). 320 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 41. 321 Weeks: Valentin Weigel, S. 121. 322 Weigel: Vom judicio im Menschen. In: PW 8, S. 141 ff.



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lenger zu verhalten, sondern offentlich zu schreiben, vnnd solche warheitt ist in euch.«323 Prononciert in diesem Kontext ist die Intention, auch die »einfeltigen« mit den Grundlagen der Epistemologie vertraut zu machen und ihnen somit einen nicht-hierarchischen Zugang zum Wissen zu ermöglichen. Als Motivation nennt der Text den Wunsch nach Frieden und verrät einen ausgeprägt pädagogischaufklärerischen Impuls avant la lettre.324 Er fordert dazu auf, die eigene Wahrnehmung ernst zu nehmen. Gerade gegen das jüngst wieder kanonisch fixierte Wahrheitskonzept, das den Glaubenskanon als abgeschlossen und das Hören des Predigtworts als hinreichende Bedingung auf dem Weg zu Seligkeit erachtet, führt Weigel seine Erkenntnisschrift folgendermaßen ein: Dempfet den geist nicht, pruffett aber vnnd sehet was er rede. Kommet vnnd sehett doch mit ewern eigenen auge, vnnd nicht mitt anderer leut augen. Kommet vnnd horett doch, mitt ewern eigenen ohren, vnd gleubet nicht was andere gehortt haben, kommet vnnd schmecket mitt ewer eigen Zungen, so werdet ihr verstendig klug vnnd weise werden, vnnd aus aller finsternis vnnd Jrthumb erlediget. Dan hinfurt sollet ihr nicht auf gutt bereden 325 gleuben, was andere sagen, sondern selbest sehen, das warheitt warheit sey.

Hörbar ist die Kritik an der Praxis, auf Gläubige Druck auszuüben: »Jhr werdet selber Zeugen vnnd Niemandt mehr zu gefallen gleuben.«326 Ausdrücklich kritisiert er das Vorgehen, Gläubige mit einer Vertröstung auf das Jenseits im Diesseits an die menschliche Autorität der Schultheologie zu binden.327 Und unverkennbar ist die Verbindung des Aufrufs zur Entdeckung der Wahrheit im Inneren mit einem aufklärerischen Impetus zur Mündigkeit: »Sich selber aber kennen vnndt gott, treybet aus alle finsternis, vnnd machet den menschen gewiß, das ihm kein ander moge verfhuren.«328 Der Aufruf zur Mündigkeit impliziert schließlich die radikale Hinterfragung aller zeitgeschichtlich als heilsnotwendig erachteter Wahrheitsinstanzen wie Predigt, Bibel oder Zeremonien, die zwar in ihrem Zeugnischarakter oder als Anleitung zur eigenen geistlichen Übung nicht abgelehnt werden, die aber die notwendige eigene Einkehr nicht ersetzen können. »[K]einer kan sich fromb oder

323 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 8. 324 »Jn den Namen vnsers Herren Jesu Christi schreibe ich dis buchlein, darinne auch die einfeltigen so weytt im Verstande gebracht mogen werden, das sie vberwinden, vnd ein treiben konnen, alle hohe doctores vnnd Welt gelerten.« Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 7. 325 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 7 f.; vgl. 1 Tess 5,21. 326 Ebd., S. 8. 327 Ebd., S. 100. 328 Ebd., S. 8.

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geschickt lesen,«329 kommentiert Weigel die zeitgenössische Identifikation der Schrift mit der »Wahrheit«, solange es den Menschen vom eigenen Streben nach Transzendenz abhält: »So oft sich eyner mitt ernst von der eussern Hindernis entschlegett vnd einkerett zu gotte, in ihm selber, so findet er lichtes vnd erkentnis gnungsam, vnd weis mehr als alle bucher.«330 Die topische Gleichsetzung der Einkehr in Gott mit der Einkehr ins eigene Innere zeigt, inwieweit Weigels Erkenntniskritik an die Anthropologie rückgebunden ist und wie sich im zeitgeschichtlichen Kontext mystische und hermetische Referenzen zu einer fundamentalen Opposition nicht zu nominell christlichen, sondern zu klerikalen Wahrheitsansprüchen verdichten konnten. Dabei war nicht die explizite Referenz an Hermes entscheidend, sondern eher die Aktualisierung der These Eckharts aus der Predigt Euge serve bone et fidelis, dass auch noch der »Grobsinnigste und Geringste« Gott empfangen könne, noch ehe seine Predigt überhaupt zu Ende gesprochen ist: Denn, so Eckhart: »Erschrecket nicht! Diese Freude ist euch nicht fern, wollt ihr sie nur weislich suchen.«331 Im Gedanken vom inwendigen Reich Gottes liegt einerseits ein großes Trostund Sinnpotenzial in Zeiten zermürbender Religionskonflikte, das vor allem die einzelnen und einfachen Gläubigen ermächtigt, und andererseits legt es nahe, wieso selbst unverfängliche Gattungen wie Weigels Predigten oder sein Gebetbuch, das noch Johann Arndt in Bedrängnis brachte, zeithistorisch den Status subversiver Literatur erhalten konnten. Das von den orthodoxen Kritikern als ›hermetisch‹ bezeichnete Wissen ist in Weigels Fall gerade kein exklusives Wissen Eingeweihter, wie es durchaus auch in der frühneuzeitlichen Tradition existieren konnte, sondern der Versuch, den Schlüssel zum Reich Gottes als einem inwendigen Reich mit Hinweisen auf einen hermetischen Schlüsseltext in die Hände der Gläubigen und theologischen Laien zu legen. Als gott ist selber der wille vnd der wille gottes ist das vnwandelbare gesetze gottes im menschen, mitt gottes finger ins Hertze geschrieben. Doraus folgett das gottes gottes gesetze, gottes wort, gottes wille, gottes same gottes sinn bildnis Christus geist finger, gottes reich 332 etc ein ding sey, vnd sey Jn allen Menschen.

329 Ebd., S. 67. 330 Ebd., S. 68. 331 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 66. DW II, S. 18 f. 332 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 92; die Namensvielfalt für das Namenlose wird von Colberg noch so als Häresiemerkmal zitiert. Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 108.



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Wirkungsästhetisch und rezeptionsgeschichtlich eröffnet Weigels Erkenntniskritik Anschlusspunkte nicht nur für eine grundlegende Infragestellung dogmatisch legitimierter Wissenssysteme, sondern auch für eine individuelle Aneignung und Fortschreibung individueller »Wahrheits«-Entwürfe. Hier dürfte erstens ein Erklärungsansatz für die Ausdifferenzierungs- und Diffusionsphänomene im weigelianischen, paracelsischen und letztlich hermetischen Diskurs zu suchen sein, die sich in der unübersichtlichen Druck- und Rezeptionsgeschichte manifestieren. Zweitens liegt hier ein Erklärungsansatz für die generationenübergreifende Ablehnung durch Kritiker, die in Polemiken, systematischen Widerlegungen und der Diskursivierung jener Literatur als »Schwärmerei« eine Aufmerksamkeit widmen, die ex negativo ihr subversives Potenzial dokumentiert.333

4.3. Selbsterkenntnis und Epistemologie im Vergleich bei Ignatius von Loyola Die inhaltlichen Anschlusspunkte dieser spiritualistischen Erkenntniskritik für eine dekonstruierende Infragestellung konfessioneller Wahrheitskonzepte wird insbesondere dann deutlich, wenn Weigels Ansatz mit einem Gegenbeispiel geistlicher Literatur verglichen wird, das im 16. Jahrhundert eine grundlegend andere Wirkungsgeschichte erfuhr. Wenn dazu das Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola (1491–1556) herangezogen wird, dann geschieht dies nicht aus Überlegungen zu historischen Berührungen oder Einflüssen heraus, sondern im ausschließlichen Interesse an den Positionen zu Anthropologie und Erkenntniskritik. Das Exerzitienbuch des Ignatius entstand zwischen den Jahren 1521 bis 1541 und entfaltete literatur- und kulturgeschichtlich eine breite Wirkung, die sogar bis in den Protestantismus hineinreicht.334 Auch greifen die ignatianischen Exerzitien ähnlich wie Weigels Der güldene Griff anthropologische Konzepte des

333 Vgl. auch Kühlmann: Paracelsismus und Hermetismus, S. 39: »Die Gegner der Paracelsisten und Hermetiker haben diese Erbschaft der europäischen Renaissance sofort sachkundig interpretiert und folgerichtig immer wieder nach dem Eingreifen der Obrigkeit gerufen.« 334 Zur Wirkungsgeschichte Louis L. Martz: The Poetry of Meditation. A Study in English Re2 ligious Literature of the Seventeenth Century. New Haven (NY) 1962. Zur literaturgeschichtlichen und konfessionsübergreifenden Gattungsbeschreibung Klára Erdei: Auf dem Wege zu sich selbst. Die Meditation im 16.  Jahrhundert. Eine funktionsanalytische Gattungsbeschreibung. Wiesbaden 1990. Zur Rezeption katholischer Meditationsliteratur auch im Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts Paul Althaus d.Ä: Forschungen zur Evangelischen Gebetsliteratur. Gütersloh 1927, S. 59–66; Udo Sträter: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1995, S. 2 f. Zum kulturgeschichtlichen Überblick zu Ignatius und dem Wirken des Jesuitenordens Kemper: Deutsche Lyrik 2, S. 127 ff.

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Mittelalters auf und schöpfen aus mystischen Quellen, allerdings handelt es sich dabei um Texte der augustinisch-bernhardinischen Mystik,335 die im Gegensatz zum Ansatz Eckharts die Konzepte der Gottesferne und der Sünde betonen.336 Ignatius’ Funktionalisierung des Sensus imaginationis in der Meditation hat Vorbilder in der katholischen Bewegung der Devotio moderna, etwa in Gerhart Grootes Traktat De quatuor generibus meditationum.337 Die beachtliche frömmigkeitsgeschichtliche Prägekraft des Exerzitienbuches, die von führenden Theologen wie Literaten getragen wurde,338 ist dem Nimbus der Untergrundspiritualität, der um den Druck und die Verbreitung der weigelschen Texte besteht, geradezu entgegengesetzt. Ein möglicher Erklärungsansatz eröffnet sich im Vergleich der jeweiligen Haltungen zu Anthropologie, Erkenntniskritik und der daraus ableitbaren Stellung zur kirchlichen Institution. Die Gegensätze zwischen beiden Texten beginnen mit der Anthropologie. Zwar kennt Ignatius auch die von Augustinus abgeleiteten drei trinitätsanalogen Seelenkräfte Memoria, Intellectus und Voluntas, im Gegensatz zur Anthropologie Weigels oder Taulers bestimmt Ignatius den Menschen jedoch als dichotomes Wesen aus Leib und Seele.339 Damit betont er die grundlegende Trennung von Mensch und Gott, wie sie auch für den späten Luther und die orthodoxen Tendenzen des Protestantismus kennzeichnend ist. Ignatius fokussiert weniger auf Selbsterkenntnis denn auf Selbstprüfung,340 und entsprechend bezieht sich sein Bemühen auf die Erkenntnis der Sündenverfallenheit des Menschen.341 Tiefe

335 Dabei teilt sich Ignatius mit Luther sogar einen Referenzautor, nämlich Zerbold von Zutphen; Leppin: Die christliche Mystik, S. 112; zur theologischen Reflexion des Exerzitienbuchs vgl. Stefan Kiechle: Kreuzesnachfolge. Eine theologisch-anthropologische Studie zur ignatianischen Spiritualität. Würzburg 1996. 336 Leppin: Die christliche Mystik, S. 63. 337 Günter Butzer: Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur. München 2008, S. 169 f. 338 Ausführlich zur Rezeption Erdei: Auf dem Wege zu sich selbst, S. 158 ff. 339 Ignacio de Loyola: Die Exerzitien und aus dem Tagebuch. München 1978, S. 84. 340 Ziel ist nicht nur, sich selbst zu erkennen, sondern über sich selbst zu siegen. Vgl. weiterführend Erdei: Auf dem Wege zu sich selbst, S. 106. Siehe dort S. 52 ff. zur Bewegung der Devotio moderna im 15. Jahrhundert, wo bereits der Topos der Selbsterkenntnis gegenüber dem der Selbstprüfung selten vorkommt (S. 58). 341 Vgl. die Erkenntnisziele des Ignatius im Vergleich zu Weigels und Hermes’ Ziel der (Selbst-) Erkenntnis: »Erstens, daß ich eine innere Erkenntnis meiner Sünden und einen Abscheu gegen sie bekomme; zweitens, daß ich die Verkehrtheit meiner Handlungen einsehe, damit ich sie verabscheue, mich bessere und in die rechte Ordnung bringe; drittens, daß ich mir Erkenntnis der Welt erbitte, um sie zu verabscheuen und die weltlichen und eitlen Dinge von mir zu entfernen.« Ignacio: Exerzitien, S. 89 f. Trotz konfessioneller Differenzen entspricht dieses Ziel dem Konzept der Selbsterkenntnis auch bei Weigels orthodoxen Kritikern. Ganz genauso spezifiert Schelham-



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Scham, Höllenvisionen und Furcht vor Strafe sind die Konsequenz, die in der Praxis zu Ignatius’ berühmt gewordenen Meditationsanleitungen führt. Hier eröffnet sich eine weitere signifikante Differenz: Nicht im Entleeren der Seele von allen Bildern, sondern im Gegenteil in gezielter Aktivierung des inneren Auges liegt das Ziel der geistlichen Übung. Dabei gilt es, sich über die Einbildungskraft mit allen Sinnen die eigene Höllenqual zu vergegenwärtigen und die Furcht vor Strafe bis ins Extrem zu steigern.342 Deutliche Formen der Selbstbestrafung wie Schlaf- und Nahrungsentzug bis hin zur körperlichen Selbstgeißelung werden angewandt, um Gott Genugtuung für begangene Sünden zu geben oder auch, um von Gott eine Gnade bzw. eine Gabe zu erlangen.343 Die Überwindung des Selbst bzw. des äußeren Menschen, die sich bei den Spiritualisten, bei Tauler oder Eckhart auf den Eigenwillen, gedacht als die geistige Person, bezog, bezieht sich bei Ignatius viel stärker auf die körperliche Verfasstheit des Menschen. Ignatius versteht beispielsweise den Aufruf zum Wachen wörtlich und körperlich als Schlafentzug. In einem paracelsischen Text findet sich eine pointierte Gegendarstellung, indem nämlich in Abgrenzung von den Karthäusermönchen das Wachen als Nüchternheit und Mäßigung, also als Aufmerksamkeit, gefasst wird  – unter gleichzeitiger Annahme des Schlafs als Geschenk, das Gott für den Menschen erschaffen habe.344 Ähnliches gilt für die praktische Ausgestaltung der geistlichen Übung. Ignatius’ Meditationsverständnis enthält konkrete Angaben zum Nachvollzug und zielt unter Zuhilfenahme körperlicher Züchtigung und Beschäftigung der Imagination auf eine fortwährende Aktivität des Büßenden zur Schaffung von Sündenbewusstsein. Weigels Texte dagegen enthalten wenig konkrete praktische Instruktionen, zielen aber gerade umgekehrt auf die sowohl körperliche wie geistige Stille.345 Während die Texte von Franck und Weigel zwar ebenfalls einen radikalen Dualismus bezüg-

mer gegen Weigels Konzept der Selbsterkenntnis: »1. Mensch verlohrn vnd verdammet. 2. Christus der das selig machet.« Schelhammer: Widerlegung der vermeynten Postill, S. 342. 342 Dabei folgt der Psychologie des Ignatius entsprechend die Furcht vor Strafe der Strafprävention: »Bitte um das, was ich zu erlangen wünsche: Hier ein recht lebendiges Gefühl der Strafe, welche die Verdammten leiden, damit, wenn ich je wegen meiner Mängel und Fehler der Liebe meines ewigen Herrn vergesse, doch wenigstens die Furcht vor Strafe mich unterstütze, daß ich in keine Sünde gerate.« Ignacio: Exerzitien, S. 91. 343 Ebd., S. 96 f. Der Aspekt der Werkgerechtigkeit, der aus protestantischer Perspektive an dieser Stelle kritisch bemerkt wird, ist problematisiert bei Kiechle: Kreuzesnachfolge, S. 70. 344 Über die geheime Theologie des Theophrastus Paracelsus. In: Paracelsus: Sämtliche Werke 4, S. 315 f. 345 Zur Problematisierung von Transrationalismus, Irrationalismus und »Nur-Gefühls- und Willensmystik« Längin: Grundlinien der Erkenntnislehre Valentin Weigels, S. 475.

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lich der diesseitigen Welt pflegen, eint sie anthropologisch der Glaube an eine wie auch immer verschüttete Rückbindung jedes einzelnen Menschen an Gott, der der pessimistischen Anthropologie der ignatianischen Meditationen fremd ist.346 Während Weigels Texte auf eine Verbreitung eines Wissens zielen, wie die verschüttete Rückbindung freigelegt und die erfahrene Gottesferne der irdischen Existenz individuell überwunden werden kann, zielt Ignatius auf die Universalisierung des Schuldbewusstseins,347 das nur von Gott, also ebenfalls: ab extra aufgehoben werden kann. In diesen fundamental unterschiedlichen anthropologischen Voraussetzungen verorten sich nun ebenso unterschiedliche Haltungen gegenüber Epistemologie, Diskursmacht und dem jeweils Anderen. Die Haltlosigkeit im existentiellen Schuldgefühl des Ignatius führt konsequenterweise zu einem ausgeprägt hierarchischen Bewusstsein im gesellschaftspolitischen Sinn. Der Topos von der Überwindung des Eigenwillen, den Weigel, Franck, Tauler oder Eckhart in Bezug auf eine Vernichtung und ein Aufgehen des Selbst im göttlichen Willen interpretieren, deutet Ignatius nun gesellschaftspolitisch in Bezug auf eine Unterwerfung des Selbst unter die »hierarchische Kirche.« Dies gilt im Besonderen in Bezug auf die eigene Urteilskraft: Erste Regel: Jedes Urteil müssen wir beiseite setzen und die Seele bereit und willig halten, in allem zu gehorchen der wahren Braut Christi unseres Herrn, die da ist unsere heilige Mutter, 348 die hierarchische Kirche.

In weiteren Ausführungen wird innerkirchliche Kritik explizit tabuisiert, Gefolgschaft gefordert und (auf diese Weise unterdrückte) Aggression nach außen zur Bekämpfung von sogenannten ›falschen‹ Lehren umgeleitet.349 Hinter dieser völligen Unterwerfung unter eine hierarchische Struktur deutet sich bezeichnenderweise das Bedürfnis nach Sicherheit an, und zwar insbesondere in Bezug auf

346 Hier ist auch trotz der konfessionellen Differenz Luthers Ansatz nicht fern. Vgl. Erdei: Auf dem Wege zu sich selbst, S. 76 ff. Weiterführend rezeptionsgeschichtlich Winfried Zeller: Luthertum und Mystik. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit 2, S. 35–54. 347 »Es ist guten Seelen eigen, da eine Schuld zu erkennen, wo keine Schuld ist.« Ignacio: Exerzitien, S. 184. – Vgl. dazu auch Luthers Umdeutung des Sündengefühls vom Zeugnis der Gottesferne zur Bedingung des Heils. Erdei: Auf dem Wege zu sich selbst, S. 78. 348 Ignacio: Exerzitien, S. 185. 349 »Man heiße endlich gut alle Gebote der Kirche und sei bereit, zu deren Verteidigung Gründe zu suchen, keineswegs aber zum Angriff.« Ignacio: Exerzitien, S. 187. Bezeichnenderweise zeichnet den von Ignatius gegründeten Orden eine strikte Gehorsamspyramide und absolute Gefolgschaftstreue aus, womit er zur Speerspitze der Gegenreformation und zur Stütze des Papsttums werden konnte. Kemper: Deutsche Lyrik 2, S. 138 ff.



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die Frage nach »Wahrheit«: In exaktem Kontrast zu Weigels Aufruf, mit eigenen Augen zu sehen und den unabschließbaren Prozess der Entfaltung von Wissen zu verfolgen, zieht sich Ignatius gerade in der Epistemologie auf die Position eines Befehlsempfängers zurück: Dreizehnte Regel: Damit wir in allen Stücken sicher gehen, müssen wir immer festhalten: das, was unseren Augen weiß erscheint, sei schwarz, sobald die hierarchische Kirche dies 350 so entscheidet.

In der Frage nach »Wahrheit« wird nicht nur die eigene Urteilskraft an eine äußere Autorität delegiert, es existiert auch keine theoretische Reflexion über anthropologische oder epistemologische Bedingungen von Wahrnehmung und Wissen. In der ausschließlichen Orientierung an einer äußeren Autorität (hier: dem Papst), wird nicht die eigene Position in Frage gestellt, sondern grundsätzlich die des Gegenübers. Entsprechend kennt Ignatius auch das (religiös) Andere nur als Feind bzw. als Ungläubigen, den es zu bekämpfen und zu unterwerfen gilt. Bereits der Umgang mit Protestanten konnte im Folgenden daher als todeswürdige Sünde eingestuft werden, aus der allein die Rückkehr in die katholische Kirche zu retten vermochte. Sein Christusbild ist im Gegensatz zu Francks oder Weigels unbestimmbarer Allgegenwart des mystischen Christus, die auch im (religiös) Anderen aufscheinen kann und daher Toleranz erfordert, fest umrissen. Er denkt Christus bildhaft ganz soldatisch als ewigen König, der die Welt und alle Feinde »unterwerfen« will und für eine entsprechende Beteiligung an diesem Projekt eine Belohnung im Jenseits auslobt.351 Historisch gesehen stehen diese Eckpunkte in Anthropologie, Epistemologie und Christusbild in den Exerzitien einerseits sowie in Weigels Schriften andererseits jeweils für konträre Konzepte von »Wahrheit«, die sich unabhängig von späteren diskursiven Zuschreibungen unterschiedlich manifestieren. Während das ignatianische Modell konfessionsübergreifend gerade im Hinblick auf seine

350 Ignacio: Exerzitien, S. 188. Siehe ebenso Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit, S. 30. 351 Ignacio: Exerzitien, S. 99. Entsprechend seiner eigenen soldatischen Prägung sah Ignatius vor diesem Christusbild den Krieg auch als probates Mittel, um katholische Interessen politisch durchzusetzen. Seine Anhänger hatten als Beichtväter und geistliche Berater an adeligen Höfen bei fast jedem Konfessionskampf in Westeuropa ihre Hände mit im Spiel, sei es in den Hugenottenkriegen (1562–1598) in Frankreich, dem niederländischen Freiheitskampf (bis 1648) oder den Rekatholisierungsversuchen Schottlands und Englands (durch Maria Stuart). Ebenso bestimmten sie als Beichtväter an katholischen Residenzen bis zum Kaiserhof das politische Geschick während des Dreißigjährigen Kriegs mit. Die Protestanten fielen in ihrer Perspektive pauschal unter das Verdikt der zu bekämpfenden »Ketzer«. Ausführlich Kemper: Deutsche Lyrik 2, S. 139 ff.

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diskurspolitische Einbettung erfolgreich war, hinterließ es dennoch überall dort seine Spuren, wo es um die unverrückbare Identifikation einer fest umrissenen eigenen Position als »wahr« und gleichzeitiger Abwertung eines »anderen« als »falsch« ging  – bis hin zu den bekannten frühneuzeitlichen Manifestationen der Inquisition (gegenüber dem religiös Anderen), den Hexenprozessen (dem geschlechtlich Anderen) sowie den Genoziden an indigenen Völkern (dem kulturell Anderen). Weigels Modell verblasste zwar im kulturellen Gedächtnis unter dem entintellektualisierenden Etikett des »Schwärmertums«. Auch die historische Erinnerung der Moderne, die Weigels Epistemologie zu ihren Vorläufern zählen kann, reicht angesichts deren mystischer Konnotationen meistens nicht weiter zurück als bis zu Kant. Doch zeitgenössisch war der pazifistische Impuls, der sich aus Weigels Modell ableiten ließ, durchaus erkennbar. Bezeichnenderweise lag der herausragende Höhepunkt der anonymen und postumen Publikation weigelianischer Schriften ausgerechnet im Jahr 1618 – zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs.352

4.4. Von der Deutung der Selbsterkenntnis zur Demokratisierung des Heilswissens Nicht die geistliche Introspektion oder die Suche nach Selbsterkenntnis per se wird als unchristlich wahrgenommen, sondern die Positionierung dieser Topoi im Kommunikationsgefüge entscheidet darüber, inwieweit sie als häretische, hermetische oder christliche Motive erinnert werden. Damit wird die kulturgeschichtliche Verschränkung von Hermetik und Häresie, die Toleranz oder Bekämpfung von geistlichen Übungen auf ihren Machtaspekt hin transparent. In einem Fall ist der Topos der Selbsterkenntnis mit einem Bedürfnis nach klarer Definition, Abgrenzung und autoritativer Legitimation einer ›Wahrheit‹ verbunden, die trotz unterschiedlicher inhaltlicher Ausgestaltung in den einzelnen orthodoxen Konzepten der Selbsterkenntnis wiederkehrt. Demgegenüber wird im anderen Fall die Akzentuierung der Erkenntnis eines (zwar verdunkelten) göttlichen Grundes im Menschen mit Vieldeutigkeit, Unabschließbarkeit und vor allen Dingen einer Individualisierung entsprechender Wahrheitskonzepte und Kritik an vorgegebenem Wissen assoziiert.353 Theoretisch und kulturwissenschaftlich

352 Pfefferl: Die Überlieferung, Teil II, B, S. III; Weeks: Valentin Weigel, S. 181 f.; weiterführend Opel: Valentin Weigel, S. 298 ff. 353 Im Gegensatz zur Legitimation durch akademische oder theologische Autorität ist Weigels Selbstinszenierung als Lehrer äußerst bescheiden: »Die da sagen was wilstu mich leren oder was



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gesehen spiegeln sich in diesen Ansätzen charakteristische Positionen vom Zentrum und von den Rändern eines kulturellen Raums.354 ›Hermetisch‹ im Sinn von ›häretisch‹ wird das Theorem des Allanblicks erst über die soteriologischen und antiklerikalen Implikationen, die über die wechselseitige Verfugung des christlichen Wiedergeburtskonzepts mit einer hermetischen Erzählung möglich werden. Als dagegen der Konvertit Johannes Scheffler präzise nach dem Corpus Hermeticum formulierte, »Wer GOtt sol schaun  / muß alles sein«, nahm daran niemand Anstoß.355 Weigels Texte jedoch sind in einen größeren Kontext der Konfessionalisierung eingebunden, der die Institutionalisierung von Religion und Staat durch gegenseitige Indienstnahme miteinander verschränkte. In diesen Kontext erst lässt sich die Hermetisierung und Häretisierung der theologischen, naturphilosophischen und literarischen Schriften Weigels einordnen. Der Konfessionalisierungsprozess ist nicht nur als religiös-kirchlicher, sondern auch als sozialgeschichtlicher Veränderungsvorgang beschrieben worden, der die konfessionalisierte Religion in den Dienst der Herrschaftslegitimierung stellte.356 Die Aushandlung doktrinärer Differenzen zwischen den Konfessionen im Allgemeinen und den innerprotestantischen Fraktionen im Besonderen, die Fixierung von Lehre und Bekenntniskultur und die regulative Funktion, die Religion durch den Staatsbezug der Konfessionalisierung vor allem in der Alltagskultur erhielt, sind als Hintergrund für das Interesse des Pfarrers Weigel am Thema der Ubiquität des Geistes nicht wegzudenken, das ihm als philosophischer Bezugspunkt für die Begründung spiritueller Autonomie diente. Rekurrierend formulieren seine Texte Kritik daran, Gott an bestimmte Orte, Zeiten oder Ceremonien zu »binden«.357 Kritiker wie Hunnius interpretierten dies als Destruktion

kanstu schreiben, das ich von dir erst lernen solte? Anttwort nichts newes kan ich dich lernen, sondern nur das Jenige das in dir ist, das du in dir tregst, das du noch nicht gewissett hast, welches dich verwundern muß.« Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 8. 354 Wenn ein kultureller Raum als semiotischer Raum definiert wird, dann werden die kulturellen Normen und tragenden Diskurse jeweils im Zentrum produziert und arbeiten gleichzeitig gegen eine zu große Diversität an den Rändern. Yuri Lotman: Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture. London 1990, hier S. 128. 355 »Wer selbst nicht alles ist / der ist noch zu geringe / daß er dich sehen soll / Mein Gott und alle Dinge.« Vgl. auch: »Mensch allererst wenn du bist alle Dinge worden / so stehstu in dem Wort / und in der Götter Orden.« (Cherubinischer Wandersmann I, 191 u. 192 [S. 55]) 356 Johannes Burkhardt: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617. Stuttgart 2002, S. 13. Hans-Jürgen Goertz: Deutschland 1500–1648. Eine zertrennte Welt. Paderborn 2004, S. 218. 357 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 54; Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 244.

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des Christentums als solchem,358 überhöhten dabei allerdings Weigels Kritik an kirchlich-institutionellen Missständen zu einer Kritik an Gott selbst,359 was die Argumentation Weigels weit verfehlt. 1572 hatte in Paris die Bartolomäusnacht stattgefunden (24. August), 1574 wurden die Kryptocalvinisten in Sachsen wie Kriminelle verfolgt, 1577 erblickte die Konkordienformel nach langem innerprotestantischem Ringen das Licht der Welt. Parallel zu diesen theologischen Determinismen entfaltet Weigel die These von der Ubiquität und Unräumlichkeit des Geistes sowohl erkenntnistheoretisch als auch kosmologisch in Der güldene Griff und in Vom Ort der Welt. Die Fragen, die Weigel nun naturphilosophisch zu beantworten sucht, sind aus dem Diskurs der Verarbeitung des ›heliozentrischen Schocks‹ bekannt, und sie lassen sich, neben einem genuinen geografischen Interesse, auch als Reflex auf die zunehmende Brüchigkeit institutionalisierter, sich bekämpfender Wahrheitskonzepte lesen: Wo liegt nun das wahre Vaterland? Wo liegen Himmel und Hölle? Wo das Reich Christi?360 Der Begriff der »Tiefe«, der in den frühen Schriften dem »Abyss« im Inneren der Seele verbunden war, wird in Vom Ort der Welt auf die Natur ausgedehnt. Obwohl die Welt noch geozentrisch gedacht ist, schwebt sie nach Weigel in einer unendlichen Tiefe, in der bezeichnenderweise Höhe und Tiefe zusammenfallen361 – dieses Paradox jedoch ist ein Merkmal des Geistes. Die sichtbare Welt ist, anschließend an Paracelsus, damit als »Auswurf« des Unsichtbaren gedacht, die aus Nichts gemacht ist und ins Nichts zurückkehren wird.362 Obwohl die Wortwahl der dogmatischen Schöpfungsvorstellung verpflichtet ist, lässt sich Weigels Konzept einer Creatio ex nihilo über Paracelsus und Hermes mit einer Creatio ex spiritu engführen, die zwar in Sprache und Bildlichkeit dem christlichen und paracelsischen Wissenshorizont verpflichtet ist, jedoch konzeptuell über die platonische Vorstellung des unwandelbaren Seins und des ewigen Werdens ebenfalls mit dem Corpus Hermeticum assoziiert werden kann.363 Es findet ein konstanter Fluss vom Geistigen ins Körperliche statt, wobei die sichtbare Materialität der Dinge lediglich den ›auswendigen Teil‹ der Schöpfung darstellt.364 Dabei ist Weigels Hinwendung zu paracelsischem Schöpfungswissen von traditionellen mathematischen und astronomischen Erläuterungen flankiert, die der Cosmogra-

358 Hunnius: Christliche Betrachtung, S. 429. 359 Ebd., S. 307. 360 Weigel: Vom Ort der Welt. In: AW, S. 292. 361 Ebd., S. 296 f. 362 Ebd., S. 299; vgl. (Pseudo-)Paracelsus: Philosophia ad Athenienses, S. 419 f. 363 CH V, 10; CH XVIV, 5. 364 Weigel: Vom Ort der Welt. In: AW, S. 263; Weeks: Valentin Weigel, S. 110; Zeller: Naturmystik und spiritualistische Theologie bei Valentin Weigel, S. 118.



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phicus Liber des Petrus Apianus (1495–1552) entnommen sind, einer im 16. Jahrhundert weit verbreiteten Schrift.365 Dieses naturphilosophische Wissen jedoch beantwortet die Frage nach dem wahren Vaterland, die letztlich eine existenzielle Frage nach Trost und Orien­tierung in einer »zertrennten Welt«366 ist, nicht anders als Weigels theologische Schriften: Also ist das Paradies oder Christus oder das Reich Gottes nicht außerhalb von uns, sondern in uns. Darum dürfen wir den Himmel nicht hier oder da suchen. […] Gott begreifet alle Dinge, und alle Orte sind vor ihm ein einziger Ort, und er ist bei uns allezeit – ja in uns. Er ist unser Paradies, unser Himmel und Seligkeit, nicht außer uns, sondern in uns, darum an keine gewisse Stelle, Ort, Zeremonien, Gebärden noch Personen gebunden – wie etliche lehren wider Gott, es sei an die Zeremonien geknüpfet –, aber es ist in uns im inwendigen 367 Grund der Seele, im Geist stehet das Reich Gottes und nicht im Leibe.

Weigels Texten entfalten das mystische und naturmystische Wissen, das sie zunächst traditionsorientiert von Eckhart, Cusanus, Tauler und Paracelsus übernehmen, im Kontext eines ›demokratisierenden‹ Impulses, der sie mit der Priesterkritik der jungen Luther verbindet und sie gleichzeitig von Cusanus’ De docta ignorantia unterscheidet, dem Weigel philosophisch dennoch viel verdankte. Cusanus umging mögliche Kritik, indem er  – ähnlich wie (Pseudo-) Dionysios Areopagita  – in seine philosophischen Ausführungen ein idealisiert gezeichnetes Bild der Kirche als Ecclesia triumphans integrierte.368 Dies unterscheidet Cusanus von Eckhart, der das Theorem des All in allem auf den Bereich des Geistes beschränkt sah, und es unterscheidet ihn von Weigel, der angesichts der erbitterten klerikalen Kämpfe seiner Gegenwart dieses Wissen nun behutsam in deutscher Sprache gerade gegen das kirchliche Selbstbild popularisiert und auf das Reich der Natur ausdehnt. Das ›demokratisierende‹ Potenzial der Theoreme von der Ubiquität des Geistes bzw. des Alls in allem liegt bei Weigel letztlich darin, dass er gegen das Dogma des Heils ab extra und gegen das in der Konkordienformel aktualisierte Theorem der substanzhaften Schwere der Erbsünde daran erinnert, dass Gottes Gaben nach wie vor noch vorhanden sind, und dass das Reich Gottes als das wahre Vaterland prinzipiell allen offen stünde, die nach Selbsterkenntnis durch das Einsinken in den inwendigen geistigen Grund streben würden.369 Im historischen Moment findet durch diese Aktualisierung mystischen

365 Wollgast: Anmerkungen zu: Vom Ort der Welt. In: AW, S. 352, Anm. 5. Auch Weeks weist auf die Gelehrsamkeit des Werks hin, das für gebildete Leser verfasst ist (Valentin Weigel, S. 114). 366 Goertz: Deutschland 1500–1648, S. 11. 367 Weigel: Vom Ort der Welt. In: AW, S. 303. 368 Nicolaus of Cusa on Learned Ignorance, S. 156. 369 Weigel: Vom Ort der Welt. In: AW, S. 318.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

Wissens jedoch eine spirituelle Ermächtigung des Einzelnen und damit eine diskursmächtige Umdeutung der identitätsstiftenden christlichen Soteriologie statt. Weigels Konzept vom Reich Gottes im Seelengrund370 anstelle eines zeitlich und lokal gedachten Jenseits entkonkretisiert nicht nur die traditionelle Vorstellung von Himmel und Hölle zu Seelenzuständen, sondern verschiebt auch den soteriologischen Akzent vom stellvertretenden Handeln Jesu zur Bereitschaft der Menschen, sich dem zuzuwenden, was zumindest potenziell bereits in ihnen ist.371 Die punktuelle Vergangenheitsorientierung kanonischer Lesarten mit ihrem Fokus auf der einmaligen historischen Inkarnation Christi einerseits und einer eschatologischen Perspektive auf das Jenseits andererseits verschiebt sich unter dieser Perspektive radikal in die Gegenwart und öffnet sich neuen Deutungsmöglichkeiten. Bereits bei Eckhart galt: Wenn die Seele nach ihrem innersten Teil im ewigen Nun am gesamten Schöpfungsgeschehen jenseits seiner Entfaltung in Raum und Zeit bereits teilhat, dann gibt es für sie im Bereich der Kreatur kein neues Wissen zu erwerben. Vielmehr »hat« die Seele im sprichwörtlichen Sinne bereits Teil an der gesamten Schöpfung, allerdings ist es ihrem personhaften kreatürlichen Anteil, dem »unteren Antlitz«, nicht bewusst. Was die Seele von jener tiefen, jeder sinnlichen Wahrnehmung vorgänglichen Teilhabe trennt, ist nicht die Unkenntnis einer spezifischen Lehre, sondern die eigene Persona, die mittels des Eigenwillens in die Körperlichkeit eines kreatürlichen Menschen verflochten ist und nach ihren körperlichen Sinnen von der Mannigfaltigkeit der Kreatur gefangen ist. Gemäß des platonischen Anspielungshorizonts,372 nach dem jede tiefe Erkenntnis ein Wiedererinnern ist373 bzw. dass alles Wissen bereits in der Seele ist,374 predigt Eckhart nichts so nachdrücklich wie das Lassen des Selbst, die Gelassenheit oder die Einkehr in die Ruhe. An diese Theorie schließt Weigel an; sie ist gleichsam der archimedische Punkt, der die naturphilosophischen Texte mit seinen theologischen Schriften und auch der praktischen Gebetsliteratur verbindet.

370 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 53; weiterführend Geyer: Verborgene Weisheit  I, S. 229 ff. 371 Weigel: Gnothi seauton. In: PW 3, 119: »Es seind alle Natierliche vnd vbernatierliche güetter zuuor Jm Menschen, aber dennoch bekommet sie keiner, er Bette den darumb, suche vnnd klopffe ahn. Wir seind auch alle gleich begabet von vnnserm schöpffer, vnnd hat einer souiel als ein ander, daß wier aber so vngleich in denselben erscheinnen auf Erden Jst die Vrsach, daß wir Gott nicht gleich lieben.« 372 Eckhart kennt Platon als »großen Pfaffen«. Meister Eckhart: Predigt 28. DW I. In: Ders.: Werke 1, S. 322/323. 373 Platon: Phaidon, 75e 374 Platon: Menon, 85b–86c.



Mystik, Dekonstruktion und ›geist-reiche‹ Kritik

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Die Schrifft Saget daß tausend Jahr vor gotts seind, wie der tag der gestern vergieng. [Ps 90,4] Solches müßten die Einfeltigen geleüben, aber die gottsgelehrten wissen es, der tag der in der Zeit vor 6000 Jahren vergieng ist der Ewigkeit also nahe vnd gegenwertig alß diß punct, do ich ietzund schreib. Den dem Ewigen gott mag keine zeit vergehen, Jn der Ewigkeit ist alle Zeit im gegenwertigen Nun, in der Ewigkeit ist tag vnd Nacht ein ding, vnd das ist gottes tag. […] der Himel wird viel weniger an einem orth sein, dieweil dise leibliche sichtbare welt an keinem orth stehet, darumb werden wir in ienem leben Gott nit sehen, an einem gewissen orth hie oder da etc. Sondern in vnß. dan gott ist in vnß, das Himelreich ist in vnß, der Himel ist in vns, das Paradeiß ist in vnß. Niemant aber kommet gegen Himel dan der vom Himel kommen ist, nemlich des menschen Sohn der im Himmel ist, das ist keine kompt zu gott oder in das Himelreich, den der da auß Gott geboren ist, durch den glauben ann Christum, Derselbe kompt mit Christo zum Vatter in Himmel. Wir fahren in Himmel vnd Christus sietzet zur rechten des Vatters nit nach dem ort gerechnet, den im Himmel ist kein orth, vnd ist weder oben noch vnden, weder fornen noch hinden, weder zur rechen noch zur lincken, scil ratione Locj. Aber ratione dignitatis ordinis aut Excellentiae ist Gott oben vnd die Engel vnden. Gott spricht durch die Propheten, der Himmel ist mein Stuel vnd die Erde ist mein fußschemel. Solches muß ein einfeltiger glauben, aber die gelerten wissen es auch. Dieweill nun von dem Ewigen gott, alle Zeiten ein Zeit seind, vnd alle Zeit oder örter ein Orth, So machstu auch vngehindert tag vnd Nach zu ihm kommen. So fern du dich durch dein eigen fleisch vnd blut nit selber hinderst. Möchtestu deiner vergessen, ein geist vnd Natur von innen vnd von aussen, vnd in ganzer demütiger gelassenheit in dich einkehren, vnd auf gott warten, in dir selber, im Himel so were dir gott also bereit alß einem Engel im Himmel den 375 er gibt allen gleich aber sie empfahen nit alle gleich.

Mit dieser Spiritualisierung des ›Himmels‹ rücken Weigels Texte in eine folgenschwere Distanz zu zeitgenössischen naturphilosophischen Fragen nach dem ›Ort‹ Gottes oder den klerikalen Disputen über die sakramentale Heilsvermittlung. Ausgehend von Taulers Bild der dreifach gefärbten Gläser stellt sich bei Weigel nicht mehr die Frage, wen Gott wann nach welchem Bekenntnis erlöse, sondern wer sich dem immer präsenten, doch verdunkelten göttlichen Licht in der Nachfolge Christi öffnen könne. Die Sonne scheint immer und unparteiisch auf Gute wie Böse, so erklärt er in einem anschaulichen Beispiel, nur fällt ihr Licht durch weißes Fensterglas besser als durch schwarzes. Im Fall des schwarzen Glases ist nicht die Sonne zu beschuldigen, wenn es drinnen dunkel ist, sondern das verschmutzte Glas behindert sich selbst.376 Auf Christus und die Frage nach der Erlösung übertragen erklärt Weigel mit einem Zitat aus Paracelsus’ De fundamento sapientiae:

375 Weigel: Vom Gebet. In: PW 4, S. 186 f.; siehe zur naturphilosophischen Reflexion Weigel: Vom Ort der Welt. In: AW, 263 ff. 376 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 59; siehe Zeller: Meister Eckhart bei Valentin Weigel, S. 61.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

Die weisheit ist gnungsam bey allen menschen, denn sie erben alle die weisheitt, vnd keiner mag sprechen, er habe mehr dann der ander. Dann als wenig ein mensche ein gliedmasse von gott weniger geschaffen hatt dann der ander als wenig ist er auch der weisheitt beraubett. Dann wie der keyser also der pawr, wie Christus also der mensche. Darumb wisset, so also der leib ist ein ding in allen vnd niemandts ist Jm selbigen arm oder reich, sondern alle gleich das keiner kan sprechen, Er sey am leibe mehr gegliedett dann der ander, Also auch Jn der weisheitt mag keiner sprechen er sey der weisheitt beraubet vnd einfeltig elendigklich begabett etc. alles nichts, sondern das ists das wir durch faulheitt zur weisheitt nicht 377 wollen erweckett werden vnd das angeborne erbeil nicht suchen.

Mit dem paracelsischen Zitat wird die sozialhistorische Brisanz dieser Soteriologie sichtbar, die eng mit der Ermächtigung der einzelnen Menschen verbunden ist. Die Weisheit/das Reich Gottes ist hier als Potenzial gedacht, das bei allen Menschen gleich ist. Nach Paracelsus ist die Weisheit das göttliche Erbe, das – konträr zum Menschenbild der Konkordienformel – »bei allen ganz ist und nit zerbrochen«.378 Es ist nicht nach sozialen Kriterien verteilt und unabhängig von klerikaler Autorität, es will jedoch entfaltet und realisiert werden und erschließt sich als Erbe nur insofern, als der einzelne damit, ganz nach Jesu Gleichnis vom anvertrauten Geld, »wuchert«.379 Bereits Paracelsus verbindet dieses Wissen mit lebensnahen, aus dem bäuerlichen Milieu gegriffenen Beispielen und einer einprägsamen Metaphorik des Schlafens und Wachens: Wer Autorität nur im Außen sucht, der verkennt und verschläft sprichwörtlich sein Erbe.380

377 Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 64 f. Siehe auch Pfefferl, Anmerkungen S. 64, Anm. 7; zur Synonymie der Weisheit mit dem Wort / Reich Gottes / innerem Christus und dem Buch im Herzen vgl. Weigel: Der güldene Griff. In: PW 8, S. 92; Paracelsus: De Fundamento Scientiarum Sapientiaeque. In: Theophrast von Hohenheim. gen. Paracelsus. Sämtliche Werke. 1. Abt. Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. Hg. v. Karl Sudhoff. 13. Bd. München 1931, S. 294. 378 Paracelsus: De fundamento, S. 296. 379 Ebd., S. 294 f.: »dan alle haben ein erb, das ist die weisheit; aus der weisheit erben wir alle gleich. einer aber wuchert mit seinem erb, der ander nicht, […] und also nach dem und wir das erb anlegen, üben und brauchen, darnach haben wir vil oder wenig und habens doch alle und ist in uns.« Vgl. Lk 19,11–27. 380 Ebd., S. 294: »Ist es nicht also, so ein gemein zusamen kompt, so kan niemant nichts und alle menschen sind einfeltig, bis an einen, der gibt den rat und wegweisung. und so er das den bauren hat fürgelegt, so sagen sie alle, ja bei got er ist recht daran. […] so nun diser rat und anweisung nicht als wol in dir wer gelegen als in ime, wie könntest du im kuntschaft geben, das er recht daran wer? […] darumb hast du die selbige wiz in dir auch […] du aber hast gefelt und dich nicht gemanet daran […] ietzt bist du ein zeug dein selbs, das du geschlafen hast in dem erb, das du hast.« Pagel parallelisiert Paracelsus’ Perspektive auf die Bauern mit der Rolle des Narren oder der Idiota-Figur gnostischer Literatur, der der Weg zur Weisheit zufällt. Pagel, Paracelsus als Naturmystiker, S. 98.



Mystik, Dekonstruktion und ›geist-reiche‹ Kritik

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Dieser aufmunternde und aufklärerische Impuls liegt Weigels individualpsychologischer Umdeutung der traditionellen Motive der christlichen Erlösungsvorstellung wie Kreuzigung, Tod und Auferstehung zugrunde. Um das göttliche Erbe anzutreten muss das Selbst, die Persona, der Eigenwille, die Ichheit sterben. Darin erfüllt sich die in der Tradition und in Weigels Werken omnipräsente Begrifflichkeit der Imitatio Christi, wenn das Ich »gekreuzigt« wird, »ersterben« oder »in den Tod gehen« muss, damit die »Wiedergeburt« geschehen kann. Wie die zustimmende Rezeption des hermetischen Traktats zeigt, beschreibt die Wiedergeburt in diesem Kontext den Moment der Realisation dessen, was vorher lediglich als Potenzial vorhanden war, und das ist gleichbedeutend mit der vollständigen Ichtranszendenz in der Verschmelzung mit dem alles transzendierenden und durchdringenden Logos.381 In der Wiedergeburt erlebt der Mensch die Aufhebung der Erfahrung seiner kreatürlichen Gespaltenheit (Alteritas) in der Erfahrung der Einheit Gottes (Unitas), und entsprechend wird er transformiert, erneuert und selbst zum »Sohn Gottes«.382 Gottes Reich ist in diesem Zusammenhang nicht als physisches und lokales Reich am Ende der Zeit gedacht, sondern als Zustand der Gnade, den der Mensch in der Transformation berührt.383 Es ist das Transzendieren der Zeit in den Bereich der Zeitlosigkeit, der jenen in ewiger Gegenwärtigkeit – im »ewigen Nun« – enthält und überhaupt erst hervorbringt. Auch dieser Gedanke lässt sich von Weigel bis zu Eckhart zurückverfolgen, wenn Eckhart die Botschaft von Mk 1,15, das Reich Gottes sei »nahe«, nicht im Erzählmuster einer Königsherrschaft des menschlichen Christus schildert, sondern vielmehr ein individualpsychologisches Gewahrwerden dessen betont, was immer da war.384 Die Wiedergeburt als Tod des alten Adam und Geburt Christi ist in dieser Deutung weder mit Aspekten körperlicher Vernichtung gleichzusetzen (wie Deu-

381 Längin: Grundlinien der Erkenntnislehre Valentin Weigels, S. 457. 382 Mit ausführlichen Referenzen an den 13. hermetischen Traktat erläutert Weigel die Überformung der Gespaltenheit durch die Einheit in der Wiedergeburt: »Alßo wird der mensche auß dem Einen, welches Gott ist geboren ein sohn Gottes götlicher art, vernewert vnd verendert am geiste vnd gemüete, daß er nicht mehr sein selbst ist, sondern Gottes.« Weigel: Von der Seligmachenden Erkenntnis. In: PW 9, S. 53; weiterführend zu Weigel Längin: Grundlinien der Erkenntnislehre Valentin Weigels, S. 461; zur Sohn-Werdung bei Eckhart Langer: Inneres Wort und inwohnender Christus, S.63 ff., bes. 66. 383 Wieder unter Berufung auf Lk 17,21 und Jesu Worte, man könne nicht sagen, das Reich Gottes sei hier oder dort. 384 Meister Eckhart: Predigt 68. DW 2. In: Ders.: Werke II, S. 34/35: »Nicht dadurch ist er selig, daß Gott in ihm ist und ihm so ›nahe‹ ist und daß er Gott hat, sondern dadurch, daß er erkennt, wie ›nahe‹ Gott ihm ist und daß er um Gott ›wisse‹. […] Wer weiß und erkennt, wie ›nahe‹ ihm ›Gottes Reich‹ ist, der kann mit Jakob sagen: ›Gott ist an dieser Stätte, und ich wußte es nicht.‹ (1 Mos. 28, 16); nun aber weiß ich’s.«

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 Valentin Weigel (1533–1588)

tungen als physischer Tod oder als Selbstgeißelung implizieren), noch führt sie zu dauerhafter Weltabkehr als Mönch oder Enthusiast. Sie hat gleichfalls weder etwas mit einem Übermenschentum nietzscheanischer Prägung oder messianischem Weltreformatorentum nach Quirinius Kuhlmann (1651–1689) zu tun.385 Vielmehr bedeutet sie für Weigel, sich nun gerade als »ein Christ«, also als neuer Mensch der Aufgabe zu stellen, beide Welten der Unitas und Alteritas, Einheit und Vielheit, »Himmel« und »Erde« in sich zu höherer Einheit zu verbinden und dann in der Welt zu wirken.386 Nach dem Tod des Eigenwillen in der Wiedergeburt, gefasst nicht als Unterwerfung unter eine hierarchische Struktur, sondern als Verlöschen des Eigenwillen in Gottes Willen, wird der Mensch zum Mittler, durch den Gott wirken kann wie im Vorbild Jesu: »Der hatte den allerfreiesten Willen und ließ den Vater wollen und sein dadurch alle Dinge.«387 Die Wiedergeburt ist – wie die Lektüre des hermetischen Traktats in diesem Kontext andeutet  – zunächst eine punktuelle Erfahrung der Einheit aller Dinge: die Unitas »verschluckt ihre alteritatem«.388 Jenes Bewusstsein der Einheit (Unitas) muss nicht erst im Jenseits, sondern bereits im Diesseits ins Leben (Alteritas) integriert werden, was wiederum das Leben zu verwandeln und zu vergeistigen vermag: der geistige Mensch »bleibet auch in der Einigkeit vnnd vberwindet alteritatem.«389 Aus jener Perspektive des Wiedergeborenen bzw. aus jenem nun substanziell realisierten Bewusstsein der Einheit heraus erfährt der Wiedergeborene schließlich die Einheit des Seins in der Myriade seiner Manifestationen: Die Welt der Alteritas wird zur vielfältigen Offenbarung der sie hervorbringenden Unitas.390 Diese Denkfigur ist vom Erzählmuster einer stellvertretenden Erlösung zu einem Leben in einem jenseitigen »Himmel« denkbar weit entfernt. Doch lassen sich an sie nicht nur die hermetischen Traktate, sondern auch Jakob Böhmes theosophische Lehre vom Ungrund bis zur Leiblichkeit Gottes anschließen. Wenn in Weigels Argumentation die Wiedergeburt ausgerechnet mit Hinweisen auf den gleichnamigen hermetischen Traktat erläutert wird, die er wie Puzzlestücke in den Traditionsstrang der christlichen neuplatonischen Mystik einfügt, dann deutet er das Wissen um die Möglichkeit dieser Transformationserfahrung

385 Nach Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Frankfurt a.M. 1994, S. 14; zu Kuhlmann Kemper: Deutsche Lyrik 3, S. 279 ff. 386 Längin: Grundlinien der Erkenntnislehre Valentin Weigels, S. 476. Längin interpretiert sogar Weigels öffentliches Wirken in diesem Sinn. Siehe ebenso Israel: Valentin Weigels Leben, S. 135. 387 Weigel: Vom Ort der Welt. In: AW, S. 341. 388 Weigel: Von der Seligmachenden Erkenntnis. In: PW 9, S. 50. 389 Ebd., S. 54. Von hier aus eröffnen sich vielfältige Anknüpfungspunkte für das Wirken der frühneuzeitlichen Alchemisten. 390 Längin: Grundlinien der Erkenntnislehre Valentin Weigels, S. 478.



Mystik, Dekonstruktion und ›geist-reiche‹ Kritik

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als zeit- und kulturunabhängiges soteriologisches Wissen. Über die Integration der Logosgeburt des vermeintlich vorchristlichen Tat in den zeitgeschichtlichen Kontext lässt sich die Bezeichnung des »Christ«-seins neu interpretieren: Das »Christ«-sein löst sich von der Frage nach der »richtigen« Konfessionszugehörigkeit und dem »wahren« Glauben in Form eines bestimmten Bekenntnisses und verbindet sich mit der Frage nach der Realisation des inneren Potenzials als den »Früchen« der Friedfertigkeit und Gelassenheit, an denen man den »Christ« erkennt. Diese Einschätzung liegt nicht nur der Umdeutung des diskursmächtigen Menschen- und Christusbilds zugrunde, sie bildet gleichzeitig ein verbindendes Glied zwischen Weigel und seinen historischen Vorgängern in Mystik und Spiritualismus sowie seinen historischen Nachfolgern im radikalen Pietismus. Selbst noch nach der Abschwächung der radikalen mystischen Implikationen reflektiert Weigels Modell die Praxis, Menschen mithilfe eines Katechismus oder eines Glaubenssatzes in Christen und Heiden, Protestanten und Katholiken, Rechtgläubige und »Schwärmer« einzuteilen kritisch. Es bietet Anschlusspunkte, Differenzen bis hin zu großen kulturellen Weltdeutungsmustern anthropologisch und epistemologisch als verschiedene Perspektiven und Ausdrucksweisen einer, transrationalen Wahrheit zu interpretieren. Verliert das Kriterium der Differenzierung nach Glaubenssätzen an Gewicht, gewinnt in diesem Denksystem das Kriterium des praktischen Ausmaßes an Bedeutung, nach dem Menschen das Potenzial der Weisheit, nach diesem Modell: ihr wesenhaftes Erbe, im Leben realisiert haben – unabhängig von ihrer Konfessions- oder Religionszugehörigkeit. Diese Realisierung ist als prozessuale Überwindung des Eigenwillen und damit als Transformation des Menschen gezeichnet, die sich in zunehmender gelebter Gelassenheit, Menschenliebe und Toleranz manifestiert – eine Ethik, die bis zu Lessings Nathan als Basso continuo der religiösen Dissidenz in der frühen Neuzeit weiter tradiert wird.391

391 Gerade die Ringparabel, die diesen Gedanken nun für das kulturelle Gedächtnis als Quintessenz der Aufklärung formulierte, war im clandestinen Milieu des 17. und 18. Jahrhundert lange populär. Vgl. Martin Mulsow: Die drei Ringe: Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin Veyssière La Croze (1661–1739). Tübingen 2001.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

5. Theologie und Literatur: Weigel und Faust. Von der Häresie zur psychologischen Figurenzeichnung Inwieweit Weigel mit seinen Texten in diesem Kontext tatsächlich »aufwiegeln« und wirken konnte, spiegelt seine literarischste Schrift, der Dialog über das Christentum aus dem Jahr 1584, den er im vollen Gewahrsein um die zu erwartende Verketzerung sein »Bekenntnis« nennt.392 In der Frage nach der Modernität von Weigels Texten oder ihrer Anschlussfähigkeit für aufklärerische Prozesse liegt das Augenmerk hier nur auf einem schlaglichtartigen Vergleich, die ein für Weigel zentraler Topos einmal im theologischen und einmal im literarischen Diskurs spielt, ohne dass eine direkte Verbindung zwischen den zeitgleichen Erscheinungen postuliert würde. In diesem Fall handelt es sich um den zentralen Topos der Nichtlokalität von Himmel und Hölle, die zu Seelenzuständen psychologisiert werden. Die drei Hauptcharaktere des szenischen Dialogs über das Christentum sind Auditor, eine Idiota-Figur und Verkörperung des Laienchristen, Concionator, ein orthodoxer Prediger sowie der Tod, der mit der Stimme Christi spricht.393 Im ersten Teil des Dialogs werden zwischen ihnen alle zeitgenössisch strittigen Fragen diskutiert, einschließlich der Fragen der Zensur, der Bekämpfung Andersgläubiger sowie der Pragmatik einer Unterschrift unter die Konkordienformel. Im zweiten Teil schließlich sterben zunächst der Prediger und anschließend der Auditor. Dabei inszeniert Weigel überdeutlich die zeitgeschichtliche Verschränkung theologischer Deutungsmuster mit kirchenpolitischen Machtfragen und praktisch gelebter Frömmigkeit, die im existenziellen Kristallisationspunkt der menschlichen Angst vor dem Tod einen dramatischen Höhepunkt erlebt. Während der Kleriker ruhig und ohne Buße im Zutrauen auf die stellvertretende Gerechtsprechung stirbt und in Ehren begraben wird, stirbt der Laie ohne Priester und Sakrament und wird als Andersdenkender und Ketzer auf dem Feld verscharrt. Seine letzten Stunden sind angsterfüllt, da ihm das psychologische Entlastungsmoment der priesterlichen Absolution und stellvertretenden Gerechtsprechung fehlt. Doch ist es paradoxerweise gerade die dadurch bis zur Verzweiflung intensivierte, tatsächlich gelebte Reue in der Todesstunde, die dem Auditor die ewige

392 Weigel: Dialog über das Christentum. In: AW, S. 576. 393 Ebd., S. 521: »Concionator: Hebe dich hinweg von uns, du hast keinen Teil am Menschen. Christus, der teure Heiland, hat dich überwunden.« »Mors: Kenntest du Christus, deinen Erlöser, so würdest du auch mich kennen und nicht vor mir erschrecken dürfen. Denn er hat mich gesandt, ich bin mit ihm eins.«; S. 529: »Mors: Wer sich vor mir fürchtet, der hat Christus noch nie gesehen, erkannt noch geschmeckt durch den Glauben, denn ich und Christus sind eins.«



Theologie und Literatur

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Ruhe erwirbt. Der Tod selbst tröstet nach seinem Hinscheiden dessen trauernde Freunde und erinnert sie daran, dass jeder Mensch die Gemeinschaft aller himmlischen Güter in sich selber habe, zu denen die institutionalisierte Kirche weder etwas hinfügen noch wegnehmen könne.394 Allein im Eingehen der Selbstheit in den Tod, wie beim Auditor geschehen, wird der Tod die Tür zum ewigen Leben und der Mensch erwacht in Christus.395 Zur Bekräftigung dieser Worte erscheint der Concionator aus dem Jenseits, um seine Fehler – einschließlich der Zensur – zu betrauern und nicht ohne den überraschten Zuschauern seine Erscheinung mit der naturphilosophischen Erklärung des Ineinanders der verschiedenen Welten plausibel zu machen. In der Rückschau fügt sich der zentrale Streitpunkt zwischen dem Laien und dem Kleriker, der Status des inneren Worts, in seinen zeitgeschichtlichen Kontext ein: Während der Kleriker das Denkverbot des inneren Worts mit Müntzer und sozialen Unruhen begründet hatte, was ihn gleich um die kirchliche Institution fürchten ließ – eine Sorge, die der Auditor explizit nicht bestätigt  – bezeichnet er seine Reden postmortal als schlimmen Fehler: Sein kontinuierliches Leugnen des inneren Worts ließ es ihn vollständig vergessen, womit er unbewusst in Sünde gegen den Heiligen Geist – der Stimme Gottes im Inneren – verschied. Im Dialog über das Christentum findet die Psychologisierung der Räume des Himmels und der Hölle zu Seelenzuständen eine literarische Ausgestaltung als kleines Drama. Der Dialog gewinnt seine Dramatik aus der Unkenntnis der Figuren über die wahre Gestalt von Himmel und Hölle, ohne dass diese ›Räume‹ zu einer Vorstellung der individuellen Einbildungskraft säkularisiert werden. Diese Räume sind real, und sie durchdringen, wie das Wiedergängermotiv zeigt, die Welt des physischen Lebens ebenso wie die Welt des Todes. Diesseits und Jenseits, Geistiges und Körperliches werden nicht im körperlichen Sinne als getrennt voneinander dargestellt, sondern als Licht und Dunkel des geistigen Raums, der die körperliche Welt trägt. In dieser Denkfigur ist der Kerngedanke von Jakob Böhmes Zwei-Prinzipienlehre bereits präsent. Über seine Seele hat der Mensch entsprechend an Himmel und Hölle als nicht-lokalen, weltimmanenten Räumen Anteil.396 Weder das Reich des Teufels als Dimension der konkreten Sünden wie Hass, Neid und Zorn, noch das Reich Christi als das Gute sowie  – ganz lutherisch – der Glaube sind hier außerhalb des Menschen zu finden, sondern allein

394 Ebd., S. 566. 395 Ebd., S. 522: »Mors: Ich bin die Tür zum Leben sowohl wie Christus, mein Herr, der mich gesandt hat. Ohne mich kann kein Mensch Christus in sich haben noch in die Seligkeit kommen.« 396 Diese Denkfigur gilt als Vermischung von Gott und Kreatur damit unvereinbar mit der Confessio Augustana. Weigel: Dialog über das Christentum. In: AW, S. 486.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

in ihm.397 Entsprechend liegt die Verantwortung für die eigene Seele auch ausschließlich beim Menschen selbst: »ein jeder muß für sich [ein]stehen, keiner fährt für den anderen in die Hölle oder in den Himmel.«398 Theologisch wurde diese Sicht noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts als »Atheismus« und Schwärmerei identifziert.399 Was die Umdeutung der endzeitlichen Räume von Himmel und Hölle in Seelenzustände jenseits innertheologischer Diskussionen kulturgeschichtlich bedeuten konnte, spiegelt sich literarisch in den zeitnahen Ausgestaltungen des Faust-Mythos, die als Genese eines der größten Mythen des Abendlandes gelten können. Die beiden Bearbeitungen des Faust-Mythos wurden in Frankfurt 1587 anonym und in London 1588/89 von Christopher Marlowe (1564–1593) verfasst. Die deutschsprachige Historia von D. Johann Fausten ist als kirchliches Lehrstück geschrieben und steht der orthodoxen Position nahe. Marlowes Doctor Faustus ist der deutschen Historia in der Erzählstruktur eng verbunden, enthält aber an einigen Stellen signifikante Umarbeitungen, die das Drama als Übergangswerk zwischen den mittelalterlichen Moralitäten und den psychologischen Charakteren der Dramen Shakespeares positioniert. Marlowes Akzentsetzungen betreffen die psychologische Vertiefung des Mythos vom Teufelspakt sowie die Verdiesseitigung der Figur des Mephistopheles,400 und bezeichnenderweise spielt dabei die Schilderung der Hölle eine ähnliche Rolle wie in Weigels Dialog. In der Faust-Erzählung wie im Faust-Drama gibt es parallele Szenen, in denen Fausts Unkenntnis über die Natur der Hölle problematisiert wird. Beide Male ist Fausts verhängnisvolles Handeln dadurch motiviert, dass er aus einer vermeintlich aufgeklärten Haltung heraus nicht mehr an den Teufel oder an eine

397 Ebd., S. 489: »Auditor: Denn der Glaube ist Christus in uns, Christi Reich ist in uns, so wir in ihm wandeln, und wir sind in seinem Reich. […] Wäre der Himmel nicht in uns, nimmermehr könnten wir in den Himmel kommen. Gott ist unser Himmel – wie oben gemeldet –, wir sind sein Himmel.« 398 Ebd., S. 485. 399 So Colberg in Bezug auf Böhme, der in diesem Punkt Weigel sehr nahe steht, es sei ein »närrischer« Wahn, »daß Himmel und Hölle sey allenthalben/ ja in allen Menschen / und daß / wenn iemand stirbt […] nicht an einen andern Ort geführet werde / sondern da bleibe / nur daß bey den Gottlosen das erste Principium, welches ist der finsteren Welt erwache / bey den Frommen aber das andere Principium in der Licht=Welt.« Die Motivation für diese Ablehung ist ihm die Angst vor Atheismus: »Warlich eine schöne Theologie, die endlich zum Atheismo und Verläugnung des Himmels und der Hölen führet« Colberg: Das platonisch-hermetisches Christentum II, S. 127 f. 400 Peter Paul Schnierer: Entdämonisierung und Verteufelung: Studien zur Darstellungs- und Funktionsgeschichte des Diabolischen in der englischen Literatur seit der Renaissance. Tübingen 2005, S. 61, zu einem Überblick über die ältere Forschungsliteratur S. 57 ff.



Theologie und Literatur

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Hölle glaubt.401 »Fabeln« und »Altweibermärchen«, lacht Faust, als Mephisto ihm von Luzifers Fall erzählt.402 Die Faust-Figur ist damit nicht einfach schematisch nach dem Konzept des christlichen Sünders gezeichnet, sondern sie spiegelt den frühneuzeitlichen Problemhorizont der neuen Wissenschaft, deren Erkenntnisse die traditionellen Weltdeutungsmuster radikal in Frage stellen. Auf diese Infragestellung reagiert nun die Mephisto-Figur der deutschen Faust-Erzählung mit einer Bekräftigung des traditionellen Höllenbildes: Die Hölle sei ein konkreter Ort am Ende der Zeit, der eine anschaulich geschilderte Folterausstattung enthalte. Gegen mögliche origenistische Vorstellungen wird ausdrücklich bekräftigt, dass die Qual der Verdammten ewig währe und Gott keine Gnade kenne, weder für die Insassen, noch für die Teufel.403 Das englische Drama dagegen greift trotz der grundsätzlichen Treue zum Erzählschema vom Teufelspakt bis zum Höllensturz das Konzept der Hölle als nicht-lokalem Raum und Seelenzustand auf, das dem weigelschen Konzept frappierend ähnelt.404 Der englische Mephisto kann auf Fausts spöttische Frage, wie dieser denn verdammt in der Hölle sein könne, obwohl er sichtbar vor ihm stehe, antworten »Ich bin nicht außerhalb, dies hier ist Hölle.«405 Als erste Teufelsgestalt in der Geschichte des Faust-Mythos erhält der Mephisto Marlowes Ansätze einer in die Moderne weisenden psychologischen Komplexität und Tiefe und zwar insbesondere in den Szenen mit den Höllenschilderungen. Gerade weil die Hölle hier nicht mehr als endzeitliche Folterwerkstatt, sondern als Seelenzustand gezeichnet ist, unter dem selbst der Leibhaftige leidet, entfalten die

401 Historia von D. Johann Fausten, S. 27; Christopher Marlowe: Dr. Faustus, A-Text, I, 3 (In: Christopher Marlowe: Doctor Faustus and other plays. Hg. v. David Bevington and Eric Rasmussen. Oxford 1995, S. 147; in deutscher Übersetzung: Christopher Marlowe: Die tragische Historie vom Doktor Faustus. Hg. v. Adolf Seebass. Stuttgart 1964, S. 14). 402 Marlowe: Dr. Faustus, II, 5. 403 Historia von D. Johann Fausten, S. 36 ff. 404 Marlowe: Doktor Faustus, II, 5: »Faustus: Sag an, wo liegt das, was wir Hölle nennen? Mephistopheles: Unter dem Himmel. Faustus: Freilich! Aber wo? Mephistopheles: Im Eingeweide tief der Elemente, die quälend uns für immerdar umgeben. Die Höll’ ist unbegrenzt und nicht gebunden an einen Raum, denn wo wir sind, ist Hölle, und wo die Höll’ ist, müssen stets auch wir sein.« (Die tragische Historie vom Doktor Faustus, S. 24). Vgl. dazu Weigel: Dialog über das Christentum. In: AW, S. 572f: »Mors: Jene Welt ist in dieser sichtbaren Welt, geteilet in Licht und Finsternis, in Ruhe und Unruhe. Die in der Finsternis sind können zu denen nicht kommen, die da sind im Licht, wegen der großen Kluft. […] Keiner kommet in die Finsternis, er habe denn auf Erden in der Finsternis gelebet, und keiner kommet in das Licht, er sei denn auf Erden im Licht gewandelt, das ist: in Christus. Die Seligen haben den Himmel in sich und sind im Himmel. Die Verdammten haben die Hölle in sich und sind in der Hölle.« 405 Marlowe: Doktor Faustus, I, 3; Die tragische Historie von D. Johann Fausten, S. 15.

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Szenen eine dramaturgische Komplexität, die die dogmatisch korrekten Drohungen des Mephisto in der deutschsprachigen Historia an Intensität übertreffen. Gegenüber Fausts selbstsicherer und materialistischer Blindheit kann ausgerechnet Mephistopheles die eigene Verdammtheit als Teilhabe am Bösen, als Gottesferne und vor allem als reales Leid reflektieren. Diese Psychologisierung der Verdammnis als Seelenqual spitzt sich schließlich in einer Inversion der Rollen von Faust und Mephistopheles zu: Aus dem Wissen um sein reales Leiden lässt sich Mephistopheles sogar zu einer Warnung vor Fausts Wunsch nach dem Pakt hinreißen, womit er kurzfristig aus der Position heraus spricht, die nach der traditionellen Rollenverteilung unter den Dramatis personae eigentlich dem Guten Engel zukäme. Umgekehrt quittiert Faust den tatsächlich gut gemeinten Rat des Mephistopheles mit der höhnischen Aufforderung, sich von ihm männlicheres Verhalten lehren zu lassen, womit er selbst die Position der vollständigen Hybris und (traditionell teuflischen) Gefühllosigkeit vertritt.406 Die Dramatik der Szene und die Tragik des weiteren Verlaufs entwickeln sich in Marlowes Drama gerade aus Fausts Verkennen einer Realität des Bösen, die er zwar in Form der antiquierten Höllengeschichte als kirchliches »Ammenmärchen« verlachen, doch weder in seinem Gegenüber noch bei sich selbst in der Gestalt der psychischen Korruption wahrnehmen kann. Die literarische Entwicklung der Mephisto-Figur von der anonymen deutschen Erzählung zu Marlowes Drama wirft im Vergleich zu Weigels zeitgleichen Texten noch ein Schlaglicht auf die Kontextabhängigkeit der historischen Einschätzungen von Denkfiguren wie der eines nichtlokalen Weltinnenraums. Während die Vorstellung eines Ineinanders verschiedener Welten, wie sie von Weigel und später Jakob Böhme formuliert worden ist, im kirchlichen Diskurs noch bis ins späte 17. Jahrhundert als häretisch und »falsch« verurteilt wurde, erscheint sie zeitgleich im literarischen Diskurs auf der elisabethanischen Bühne als wegweisendes Element der Psychologisierung und der Traditionsablösung, das sich in der Rezeption vom Faust-Drama Marlowes bis zur psychologischen Charakterzeichung Shakespeares und später Goethes entwickeln konnte.

406 Marlowe: Doktor Faustus, I, 3: »Mephistopheles: Glaubst du, daß ich, der Gottes Antlitz sah und ewige Himmelsfreuden kostete, nun ich sie ewig missen muß, nicht stets von tausend Höllen bin umgeben? O Faust, hör auf mit solchen frewlen Fragen, die mein verzagend Herz mit Schrecken schlagen! Faust: Wie? Wird so wild erregt ein großer Teufel, weil ihm des Himmels Lust genommen ist? Lern Mannestapferkeit vom Faust!«



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6. Naturphilosophie und weltschöpferischer Synkretismus 6.1. Die Viererley Auslegung von der Schöpfung. Text, textuelle Strategien und Organisationsformen für christliches und hermetisches Wissen Die Verschränkung von Hermetik, Mystik und Naturphilosophie ist für die frühneuzeitliche nicht-kanonische Literatur charakteristisch. Die weigelianischen und postweigelianischen Schriften sind neben den Texten des Corpus Paracelsisticum und den späteren Schriften Jakob Böhmes zu einem schwer zu entflechtenden Diskurs verschmolzen, der immer wieder mit dem Namen Hermes assoziiert worden ist.407 Weigels Beiträge zu diesem Komplex, seine Schriften Vom Ort der Welt, Natürliche Auslegung von der Schöpfung sowie seine vierfache Interpretation der Genesis sind lediglich kleine Bausteine dieser Tradition. Dennoch bieten sie gerade über ihre Verschränkung von naturphilosophischen Lehren, allegorischer Bibelexegese und der erkenntnistheoretischen Reflexion, dass die Welt von verschiedenen Stufen der Wahrnehmung unterschiedlich aussieht, eine exemplarische Möglichkeit, ihre Kontext- und Traditionsverbundenheit ebenso wie die Integration alternativer Sinnangebote in den christlichen Deutungshorizont philologisch zu verfolgen. Insbesondere die Viererley Auslegung von der Schöpfung gilt dabei als »work of considerable importance«408 im Übergang vom mystischen Spiritualismus zur Naturphilosophie Jakob Böhmes. Die Frage nach der Autorschaft Weigels an diesem Text wird noch erörtert.409 Einerseits sind weite Teile mit anderen Texten

407 Das ungemein breite Feld des Paracelsismus, das an anderen Stellen bereits aufgearbeitet wird, sei hier lediglich exemplarisch berührt, wobei weiterführend auf die inzwischen rege Forschung verwiesen wird. Siehe Gilly: Vom ägyptischen Hermes zum Trismegistos Germanos. In: Alt/Wels (Hg.): Konzepte des Hermetismus, S. 71–131; die ausführlichen Einleitungen in: Wilhelm Kühlmann/Joachim Telle (Hg.): Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Tübingen 2001 ff. Übersichtlich noch immer Walter Pagel: Paracelsus als Naturmystiker. In: Faivre/Zimmermann (Hg.): Epochen der Naturmystik, S. 52–104. Grundlegend zur Verbindung von Weigelianismus und Paracelsismus Gilly: ›Theophrastia Sancta.‹ Der Paracelsismus als Religion im Streit mit den offiziellen Kirchen. In: Telle (Hg.): Analecta Paracelsica, S. 425–488. Zur Verbindung von paracelsischer Naturphilosophie, Alchemie und Mystik siehe exemplarisch Maximilian Bergengruen: Nachfolge Christi  – Nachahmung der Natur. Himmlische und Natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen). Hamburg 2007; Hanns-Peter Neumann: Natura sagax: Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Mystik in der frühen Neuzeit am Beispiel Johann Arndts. Tübingen 2004. 408 Weeks: Valentin Weigel, S. 159. 409 Winfried Zeller ordnete den Text dem weigelschen Schriftkorpus zu. Zeller: Die Schriften Valentin Weigels. Eine literarkritische Untersuchung, S. 66 f. Auch Fritz Lieb sprach Weigel die

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wie der Natürliche[n] Auslegung von der Schöpfung identisch, andererseits ist unsicher, welche Rolle die erste bis dritte Auslegung im Vergleich zur vierten Auslegung spielen.410 Wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich werden Differenzierungen weiter verunklart, da die vierte Auslegung dem einzigen Druck des Textes nicht beigefügt wurde.411 Im Jahr 1701 wurden die erste bis dritte Auslegung unter dem Namen Das Geheimnis der Schöpfung in Amsterdam gedruckt. Im Jahr 1702 wurde dieser Druck in der orthodoxen Zeitschrift Unschuldige Nachrichten rezensiert. Der Druck enthält neben den ersten drei Auslegungen die Schrift Vom Judicio im Menschen unter Weigels Namen sowie einen pseudo-paracelsistischen Text über die Heimlichkeit der Schöpfung.412 Nicht nur der anonyme Rezensent in den Unschuldigen Nachrichten im Jahr 1702, auch Johann Salomo Semler rezipierte diesen Druck 1786 als weigelianisch und paracelsisch.413 Der tatsächlich stark paracelsisch geprägte Text gilt in jüngster Forschung unstrittig als hermetisch,414 wobei die wiederum spärlichen wörtlichen Referenzen an das Corpus Hermeticum zur Erörterung des Konzepts der noch ungeschiedenen »Tiefe« aus Gen 1,2 angeführt werden. Damit allerdings dienen sie – rein philologisch gesehen – der Erläuterung eines Theorems, das bis in die sprachlichen Wendungen hinein einem sehr kanonischen Prätext entnommen ist,

Autorschaft zu: Fritz Lieb: Valentin Weigels Kommentar zur Schöpfungsgeschichte und das Schrifttum seines Schülers Benedikt Biedermann. Zürich 1962, S. 41. Demgegenüber äußerte Horst Pfefferl unter Hervorhebung der inhaltlichen Brüche und stilistischen Differenzen Bedenken: Horst Pfefferl: Die Rezeption des paracelsischen Schrifttums bei Valentin Weigel. Probleme ihrer Erforschung am Beispiel der kompilatorischen Schrift ›Viererlei Auslegung von der Schöpfung‹. In: Dilg/Rudolph (Hg.): Neue Beiträge zur Paracelsusforschung, 151–168, hier S. 159 ff., sowie Horst Pfefferl: Einleitung. In: PW 11, S. XIX-CXXXI, hier S. XCII ff. Andrew Weeks wiederum argumentiert für die Autorschaft Weigels an dem als Kompilation vorliegenden Projekt, das eine Mitarbeit Biedermanns nicht ausschließe (Valentin Weigel, S. 157 ff.); ders.: Valentin Weigel and the ›Fourfold Interpretation of the Creation.‹ An obscure Compilation or Weigel’s Crowning Attempt at Reconciliation of Natural and Spiritual Knowledge? In: Daphnis 34 (2005), S. 1–22. 410 Pfefferl vermutet auf der Grundlage verschiedener handschriftlicher Exemplare, die Brüche, Passagen mangelnder Ausarbeitung und handschriftliche Ergänzungen deutlich sichtbar machen, dass es sich allein bei der vierten Auslegung um Weigels Gedankenskizze handele. Pfefferl: Die Rezeption paracelsischen Schrifttums, S. 156 ff. Infolge dieser Einschätzung interpretiert Bosch lediglich die vierte Auslegung in ihrer Studie zu Weigel. Bosch: Reformatorisches Denken, S. 183 ff. 411 Pfefferl: Einleitung, in: PW 11, S. LVI u. XCII ff. 412 Ebd., S. LVI; Lieb: Valentin Weigels Kommentar zur Schöpfunggeschichte, S. 43 f. 413 Lieb: Weigels Kommentar zur Schöpfungsgeschichte, S. 44. 414 Gilly: Vom ägyptischen Hermes zum Trismegistos Germanos, S. 126. Gilly rückt Weigel und Biedermann unter dem Gesichtspunkt des Hermetismus wiederum nebeneinander.



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nämlich Luthers Genesisvorlesung.415 Vor einer (allzu) glatten Zuordnung des Textes zu einzelnen Traditionen ist daher zunächst exemplarisch nach seiner philologischen Kontextualisierung und nach dem Zusammenspiel von Quellen und ihrer Neuorganisation im Text zu fragen. Erst daraus wird der Entstehungsprozess derjenigen Topoi ersichtlich, die heute typologisch als ›hermetisch‹ gelten. Im Kontext dieser Fragestellung sind das die Topoi der Creatio ex nihilo/ex spiritu, die Rolle einer geistleiblichen Urmaterie, aus der die Schöpfung nicht geschaffen, sondern geschieden wird und die bei Luther tatsächlich nicht existierende Assoziation mit einem weiblichen Prinzip in Gott. Obwohl die Viererley Auslegung von der Schöpfung lediglich als Kompilation vorliegt und die Frage nach der Autorschaft offen bleiben muss, entspricht das naturphilosophische Projekt einer Interpretation der Schöpfungsgeschichte doch einem lang geplanten Vorhaben Weigels.416 Der mosaische Schöpfungsbericht ist ihm ein zentraler und für alle weiteren biblischen Bücher grundlegender Text.417 Als Motivation zur Abfassung der Viererley Auslegung nennt der Sprecher explizit, dass er keine Lust dabei empfände, die Arbeit der theologischen Kollegen zu kritisieren, sondern dass er nicht länger zu den gelehrten Kommentaren und Auslegungen schweigen wolle, die seiner Ansicht nach das Fundament der Bibel verfehlten. Aus dieser Klage lassen sich Rückschlüsse über den Ort des Textes im Diskurs ziehen: Luther hatte gesagt, dass die Bibel als Gottes Wort erstens dem Literalsinn nach und zweitens auch von Laien verstanden werden könne. Ähnlich wie in Der güldene Griff oder in Vom Ort der Welt lässt der Sprecher eine antiautoritäre Stoßrichtung erkennen, die an das Auftreten des frühen Luther erinnert: Er zielt mit seinem Werk auf die Ermächtigung des einzelnen Lesers, sich unparteiisch und unabhängig von Autoritäten selbst ein Urteil über jenen grundlegenden Bibeltext zu bilden.418 Mit ihrer mystischen und allegorischen Interpretation bewahrt die Viererley Auslegung von der Schöpfung die Autorität des Bibeltextes, grenzt sich jedoch von den »Commentarien«-Verfassern als »buchstabischen Theologen« ab und aktualisiert damit das lutherische Konzept des Laienpriestertums im Übergang von der Theologie zur Naturphilosophie.419

415 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 366 f. u. 377 f.; Luther WA 42, S. 18 f. 416 Weeks: Valentin Weigel and the Fourfold Interpretation, S. 6. 417 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 218 f. 418 Ebd., S. 19: »Ein ieder Leser wolte vnpartheisch sein, vnd sich an keinen menschen hangen, demselben zuglauben, sondern alleine wol erwegen, ob dann die Jenigen, so man für liechter helt, grundlich vber den Genesin geschrieben haben, oder nicht, vnd so die warheit gefunden wirdt, dieselbige annehmen, die lügen aber fahren lassen, es schreib es wer das wolle.« 419 So Weeks: Valentin Weigel, S. 159.

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Die Einleitung enthält eine erkenntniskritische Reflexion, die die verschiedenen Deutungen der Genesis mit verschiedenen Stufen der Erkenntnis korreliert, womit sie eine hervorragende textuelle Strategie entwickelt, um unterschiedlichste Traditionen in das Schöpfungswissen zu integrieren und alles mit allem zu vergleichen. Selbst wenn diese Einleitung nicht von Weigel selbst stammen sollte,420 ist sie doch der hermeneutische Schlüssel, nach dem der Text dem eigenen Selbstverständnis nach aufgebaut ist und der die Integration unterschiedlichster Quellen organisiert. Zu diesen unterschiedlichen Einflüssen gehören u. a. der mosaische Schöpfungsbericht als organisierender Prätext, Luthers lateinische Genesisvorlesung, die passagenweise wörtlich zitiert wird, apokryphe Weisheitsliteratur, paracelsische und pseudo-paracelsische Naturphilosophie sowie antike Texte wie Ovids Metamorphosen. Trotz des kompilatorischen Erscheinungsbilds der Viererley Auslegung von der Schöpfung korrespondiert die erkenntniskritische Reflexion der Einleitung mit Weigels Epistemologie, die er an anderen Stellen in Gnothi seauton und in Der güldene Griff geäußert hat.421 Darüber hinaus erinnert sie an die traditionelle Schriftexegese nach dem vierfachen Schriftsinn. Erst Luther hatte diese Tradition zurückgewiesen und das Primat des Sensus literalis für die Exegese festgeschrieben, doch stellte die Allegorese nach dem vierfachen Schriftsinn vor der reformatorischen Einschränkung eine traditionsreiche hermeneutische Praxis dar. Die Spötteleien im Text über die Absurditäten, die die Beschränkung auf den Sensus literalis in der konkreten Exegese mit sich bringt, spielen unverkennbar auf diesen hermeneutischen Konflikt an.422 Der Problemhorizont, in den die naturphilosophischen Schriften wie Vom Ort der Welt, Natürliche Auslegung von der Schöpfung sowie die Viererley Auslegung von der Schöpfung situiert sind, ist damit wiederum der theologische Konflikt um eine abschließende Deutung eines kanonischen Textes, den auch das lutheranische Primat des Sensus literalis nicht hatte lösen können. Nach Weigels erkenntnistheoretischer Argumentation erscheint eine ausschließliche Welt- und Bibelbetrachtung nach dem Sensus literalis dem niedersten Erkenntnisorgan verhaftet,

420 So Pfefferl: Die Rezeption paracelsischen Schrifttums, S. 162. 421 Vgl. nochmals Der güldene Griff: »Theophrastus saget, got brauchet nichts, wircket nichts, vbett nichts etc. So spricht der Mercurius got wirckett vbet, brauchet alle dinge. Diese seint nicht wieder ein ander, dan einer redet von gott wie er ist absolute, fur sich selbest verstanden. […]. Der ander redet von gotte, kegen der Creatur gehalten. […] Darumb kan man von eynem Dinge absolute nicht recht oder vnrecht reden. Dan wie man dauon saget, so ist es war oder nit war, nemlich darnach man ansihet vnd vrteylet.« (PW 8, S. 69 f.) 422 Weeks interpretiert die vier Kapitel der Viererley Auslegung von der Schöpfung entsprechend nach dem vierfachen Schriftsinn (Valentin Weigel and the Fourfold Interpretation, S. 17 f.); kritisch evaluiert dies Pfefferl: Einleitung. In: PW 11, S. XCII.



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das auf die sinnliche Oberflächenstruktur der Welt begrenzt ist und epistemologisch die geistige Wirklichkeit gar nicht wahrnehmen kann. Entsprechend sarkastisch werden zu Beginn der Viererley Auslegung zeitgenössische theologische Diskussionen ridikülisiert, die um Fragen kreisen wie die, ob die Welt wohl im Herbst erschaffen worden sei, da die Paradiesgeschichte schließlich von einem Apfel berichte,423 oder inwieweit Gott die Welt in sieben Erdentagen erschaffen haben mag, wo es doch zu Beginn der Schöpfung noch gar keine Zeit gab. Die Frage nach der temporalen Struktur des Siebentagewerks hatte bereits die Tradition bis zu Augustinus beschäftigt, Luther jedoch hatte sie als scholastische Spitzfindigkeit zurückgewiesen und sich für ein wörtliches Verständnis der sechs Tage ausgesprochen.424 Die Korrekturvorschläge der Viererley Auslegung greifen unter expliziter Ableitung aus Bibelzitaten auf allegorische Deutungen zurück. So wird z. B. in der Frage nach den Schöpfungstagen die Vorstellung der »Schöpfung ans Licht« als Schöpfung ins Wesenhafte aufgelöst und die Schöpfung »aus dem Nichts« als »aus dem Verborgenen« interpretiert.425 Gegen die wörtliche Vorstellung eines Tages als 24-stündiger Zeiteinheit interpretiert der Text mit dem Epheserbrief den »Tag« als dasjenige, was offenbar wird und die »Nacht« als dasjenge, was verborgen bleibt.426 Damit wird die kurze biblische Schöpfungsgeschichte auf eine symbolische Ebene hin lesbar, die über ihre Annahme verschiedener Schöpfungsphasen (»Tage«) unproblematisch ausgegrenztes Gedankengut integrieren und sich trotzdem mit der Autorität des Apostels methodisch gegenüber anderen Deutungen nach dem Sensus literalis behaupten kann. Zusätzlich sekundiert naturwissenschaftliches und erkenntnistheoretisches Wissen die Kritik an den gängigen Genesis-Auslegungen: Das naturwissenschaftliche Wissen um den Stand von Sonne und Erde, um den Gegensatz zwischen dem ewigen Licht der

423 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 210. 424 Luther WA 42, S. 4. 425 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 256, unter Berufung auf Eph 5,13 und in Absetzung der auch von Luther problematisierten Vorstellung, Gott habe eine Arbeitswoche wie ein Handwerker. Siehe ebd., S. 202 ff.; Zu Luther Weeks: Valentin Weigel and the Fourfold Interpretation, S. 13. In Weigels Vermittlung zwischen den Schöpfungsvorstellungen »aus Nichts« bzw. aus dem »Was nicht ist / Tohuwabohu« spiegelt sich der Konflikt zwischen unterschiedlichen Übersetzungstraditionen von Gen 1, der in der frühen Neuzeit in Jakob Böhmes Vorstellung vom »Ungrund« und entsprechenden Häresiediskursen kulminiert. Die Vorstellung einer Creatio ex nihilo ist nicht biblisch, sondern eine lateinische Fehlübersetzung des griechischen Worts für das Nichtseiende. Nach der hebräischen und kabbalistischen Tradition ist das Nichts als höchste Fülle gedacht, nach den kirchlichen Traditionen allerdings zunehmend als privatives Nichts im Sinn der platonischen Philosophie. Siehe weiterführend Gerschom Scholem: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a.M. 1970, S. 60 ff. 426 Eph 5,13.

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Sonne und dem temporären Erleben dieses Lichts nach den Zyklen von Tag und Nacht auf der Erde unterstreicht Weigels Grundthesen von der Perspektivgebundenheit aller Aussagen im Raum der Natur427 und der Notwendigkeit der Kontemplation mit dem Auge des Verstandes, gerade auch über dem zentralen Text der mosaischen Schöpfungsgeschichte.428 Wenige Texte des christlichen Kulturraums erfüllen das Kriterium eines Grundmythos nach Hans Blumenberg oder einer fundierenden Geschichte im kulturellen Gedächtnis nach Jan Assmann so vollständig wie der mosaische Schöpfungsmythos.429 Interpretatorische Neuakzentuierungen der Genesis beinhalten daher eine große Tragweite: Philologisch gesehen handelt es sich bei der Viererley Auslegung um die Erweiterung des kanonischen und identitätsstiftenden Schöpfungsberichts der Christenheit durch die Integration weiteren Schöpfungswissens. Der Argumentationsfigur nach aber geht es in der Viererley Auslegung von der Schöpfung um die Organisation vorhandenen Wissens gemäß der epistemologischen Grundannahme, dass die Welt von jeder Stufe des Erkennens anders aussieht und entsprechend anders beschrieben wird.430 Damit lässt sich die traditionelle jüdisch-christliche Schöpfungserzählung nach dem Ersten Buch Mose sukzessiv auf die neuplatonisch-hermetischpythagoreisch akzentuierte Deutung von Schöpfer und Schöpfung als Einheit und Vielheit, Unitas und Alteritas, abbilden. Erst in den vertiefenden Schichten der Interpretation werden die naturphilosophischen Topoi der ausgegrenzten Traditionen verortet, von der Reintegration der Erzählung von Luzifers Fall, der Weisheit als weiblichem Prinzip in der Gottheit oder der Schöpfung als Schei-

427 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 272. 428 Ebd., S. 223 f. 429 Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 194; Assmann: Was ist das kulturelle Gedächtnis? München 2007, S. 11–44, hier S. 33. Die kulturelle Prägekraft der Genesis-Erzählung ist dabei keineswegs auf die abendländische Naturphilosophie bis ins 18. Jahrhundert beschränkt. Ein spätes Echo dieser sprichwörtlich kulturprägenden Geschichte scheint noch im 21.  Jahrhundert auf, wenn die Bewegung des Kreationismus dafür streitet, astronomisches Wissen über die Entstehung der Welt dem Siebentagewerk unterzuordnen. 430 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 198. »Dieweill nun souill grundes inn diesem Capitell verborgenn lieget, vonn Vhrsprung vnndt Herkommen aller dinngen, vnndt es nicht woll müglich ist, einn solch Capitell auf ein mall zuerklerenn, so neme ich durch gottes Hülfe für mich solches zueröfnen, durch vierley außlegung, do Jmmer eine wird gründlicher vnnd höher seinn alß die andere, die letzte soll die wahrhafftigste seinn, die denn grund beschliessenn wird. Solches aber wird darumb gethan, daß man die einfeltigenn vom Kleinern zum grössern brinnge, vnnd von den leiblichen sichbaren dingen aufführe zue denn geistlichenn vnsichtbaren, welche für denn leiblichen seinnd herganngenn.« Auch Pfefferl: Einleitung. In: PW 11, S. XCIII.



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dung aus dem Ur-Chaos der Prima materia. Diese Denkfiguren erscheinen der Organisation des Textes nach nicht als spekulative Einschübe aus den Texten des Paracelsus, Hermes oder der Kirchenväter. Ausgehend vom Vergleich des sinnlichen Menschen mit dem Gefesselten in Platons Höhlengleichnis erscheinen die paracelsischen Topoi vielmehr als Sicht auf die Wirklichkeit, die sich erst mit dem »inwendigen Auge« der vertiefenden Interpretationsstufen eröffnet, dann allerdings völlig natürlich sei.431 Mit dieser textuellen Strategie wird das lutherische Schriftprinzip bestätigt und gleichzeitig epistemologisch unterlaufen, da die vermeintlich häretischen Konzepte nicht als nominell »fremde« oder pagane Lehren, sondern als Einsichten von tieferen Stufen der Erkenntnis behandelt werden, die sich ausgehend von traditionell christlichen Erzählmustern entfalten. Die Rückbindung aller Einsichten an die Bibel, das zentrale Kriterium lutherischer Rechtgläubigkeit, bleibt nominell gewahrt. Doch wirkungsgeschichtlich eröffnen sich sowohl im Hinblick auf zustimmende Rezipienten wie auf orthodoxe Kritiker zwei charakteristische Anschlusspunkte, die das Phänomen der diffusen Rezeption einerseits wie die schneidende Kritik andererseits vorbereiten: Auf Seiten der Rezipienten erleichtert diese epistemologische Haltung das produktive und spekulative Fortschreiben der weigelschen Thesen, wie sie sich im Literaturkorpus der (Pseudo-)Weigeliana manifestieren. Auf orthodoxer Seite verstärkte diese Haltung dagegen erst recht die Kritik, da diese Haltung den kanonischen Bibelauslegungen nun den Status eines lediglich unerleuchteten Wissens, einer exoterischen Wahrnehmung im Gegensatz zur inwendigen Erkenntnis, zusprach und traditionelle akademische wie pastorale Autoritätsansprüche zurückweisen konnte. Dieser nominell ›esoterische‹ Topos eines »Geheimnisses« jedoch spielt erst in der Publikation des Textes 1701 unter dem Titel Geheimnis der Schöpfung und in der zugehörigen orthodoxen Rezension eine Rolle.432 Er steht in der Vorrede der Viererley Auslegung von der Schöpfung noch in einem geradezu konträren Kontext. Anschließend an Luther selbst, der sich in der Vorrede zu seiner Genesisvorlesung über die jüdische Praxis mokiert hatte, niemanden vor dem 30. Lebensjahr den Schöpfungsbericht lesen zu lassen, macht Weigel der Schultheologie seiner Gegenwart den Vorwurf, den Gläubigen ein Verständnis für das Erste Buch Mose

431 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 223 f. 432 Vgl. die Rezeptionsstufen vom Namen der Viererley Auslegung von der Schöpfung bis zum Druck im Sammelband Geheimnis der Schöpfung und der orthodoxen Rezension, in der der Rezensent kommentiert: »Abermals ein so genanndtes neues Geheimnüß! welches aber in etlichen alten aus denen manuscriptis edierten Tractätgen besteht.« Rezension. Unschuldige Nachrichten (1702), S. 605 f., zit. n. Lieb: Valentin Weigels Kommentar zur Schöpfungsgeschichte, S. 44.

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abzusprechen und daraus letztlich ein akademisches »Geheimnis« zu machen, das sich erst im Jenseits lüften werde. Seine wiederum ›geistreiche‹ Kritik ist daher das genaue Gegenteil von Geheimniskrämerei, sondern lässt einen genuin aufklärerischen Impetus erkennen: Es wird vonn denn Buchstabischenn Theologenn vermeinett vnnd gehalltenn, diß erste Capitell vonn der Schöpffung sey dem menschen vnmöglich zuuerstehenn, sonderlich dieweil sie lesenn das ihre Præceptores bekennen, sie verstehenn es nicht, wollenns derwegenn sparenn ad æternam Academiam, da werdenn sie es lernenn. O, wie nein. Jnn Jenem lebenn ist keine hohe Schule, kein Professor, noch außleger der Schrifft, auch kein buch, denn alle geschöpffe seinnd verbrunnen sambt denn Büchern. Für dieses lebenn hat Moyses das Capitell beschriebenn, hie mussenn wirs verstehenn lernenn, Jnn dieser Zeitt ist 433 es noth, daß mans erklert vnndt außlege, dort wird nichts drauß.

6.2. Arbeit am Mythos als Integration des Anderen: Luzifer, Emanation und Gott-Mutter Die Viererley Auslegung von der Schöpfung gilt als Teil einer gewundenen Linie von Luther zu Jakob Böhme.434 Unabhängig von der Frage nach ihrer Autorschaft ist sie Teil einer genuin protestantischen Auslegungskultur, die einerseits die Autorität des Laienpriesters betont und andererseits die Kunst der Exegese an fundierte Bibelkenntnisse rückbindet. Die hiesige Lektüre deutet die erweiternden Auslegungsschichten der Genesis, die typologisch als ›hermetisch‹ und als Teil eines undurchschaubaren Diskurses gelten, daher zunächst als kreative, aber biblizistische Fortschreibungen, die zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift außerhalb der Auslegungstradition und diskursmächtiger Positionen stehen. Dabei zielt die Viererley Auslegung auf die Restitution eines Wissens, das ihr teilweise bereits mit der frühen Reformation, teilweise jedoch auch erst in der zeithistorischen Gegenwart u. a. durch die Fixierung auf den Sensus literalis verloren zu gehen schien. Luthers Genesisvorlesung wird ausführlich, teilweise wörtlich und mit großem Respekt zitiert, und Luthers Autorität wird gegen die Aporien der wörtli-

433 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 199 f.; auch Weeks: Valentin Weigel and the Fourfold Interpretation of Creation, S. 11. 434 Weeks: Valentin Weigel, S. 159.



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chen Auslegungen ins Feld geführt.435 Luthers Deutung des Schöpfungsberichts brach jedoch auch mit verschiedenen theologischen Auslegungstraditionen, die die Viererley Auslegung unter Hinweisen auf die »alten Theologen und Philosophen« wieder einführt.436 Die Rückführung des Verworfenen, die nun außerhalb des stratifizierenden Einflusses der theologisch-akademischen Fakultäten stattfand, deutet ein Bedürfnis nach narrativer Sinngebung in Verbindung mit einer wachsenden Spannung zu den Fakultäten an. Ein großer Themenkomplex, den Luther als unnütze Spekulation aus der Genesis-Auslegung ausgeschlossen hatte, war die Erschaffung der Engelwelt und der Sturz Luzifers, der in mittelalterlichen Auslegungen als Frage nach Gottes Wirken vor dem Einsetzen des mosaischen Schöpfungsberichts spekulative Aufmerksamkeit erfuhr. Nach Luther ließ sich über Gottes Wirken vor der Schöpfung schlicht keine Aussage treffen.437 Die Viererley Auslegung von der Schöpfung jedoch führt diesen Themenkomplex in der vierten Auslegung wieder ein, um sich dem Problem der Entstehung des Bösen zuzuwenden. Das Bedürfnis nach Sinngebung, wie das Böse aus der Schöpfung eines guten Gottes entstehen konnte, bewog den Autor der Viererley Auslegung, auf klassische Motive der mittelalterlichen und patristischen Auslegungstraditionen zurückzugreifen, wie z. B. die Deutung des ersten Lichts als Engelwelt oder die wüste Leere der Erde als Resultat von Luzifers Fall.438 Im Anschluss an Eckharts Expositio Libri Sapientiae deutete er das Böse als privativ und als Eigenwillen, im Anschluss an Origenes den Fall des Engels als Ursache für die Weltschöpfung.439 Damit bereitete die Vierte Auslegung geradezu den Boden für Jakob Böhmes dramatischen Engelsturz im Mysterium Magnum, und sie reflektierte, wieso Gott nur Gleiches schaffen konnte, aber die gut geschaffenen Kreaturen ohne Gottes Schuld böse werden konnten.440 Im Unterschied zu Luthers und zu Böhmes Auslegungen der Genesis spielt in der Viererley Auslegung allein das Siebentagewerk eine Rolle, wohingegen die Erschaffung des Menschen nicht mehr erwähnt wird. Die vier Auslegun-

435 Mit ausführlichen Zitaten und Vergleichen Weeks: Valentin Weigel and the Fourfold Interpretation of Genesis, S. 13 ff. 436 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 229. Horst Pfefferl hat in einem detaillierten Anmerkungsapparat die einzelnen Quellenbezüge eruiert. 437 Luther WA 42, S. 9. 438 Weeks: Valentin Weigels and the Fourfold Interpretation of Creation, S. 15. Zu Luthers expliziter Distanzierung von diesen Themen als Spekulation Luther WA 42, S. 15. 439 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 349 u. 357; Pfefferl: Anm. 1. 440 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 346 u. 350.

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gen haben, trotz ihres repetitiven Charakters, jeweils eigene Schwerpunkte.441 Die erste Auslegung arbeitet die Erklärungslücken der wörtlichen Bibelexegese heraus, die zweite plädiert für ein allegorisches Verständnis der biblischen Metaphern, das eine Realität des Unsichtbaren jenseits der konkreten Dingbezüge wie Gottes ›Stuhl‹ oder seiner ›Wohnung im Himmel‹ annimmt. In diesem Kontext führt die zweite Auslegung die Topoi der Ubiquität des Geistes und der dreifach gestuften Welt nach einer irdischen, einer englischen und einer göttlichen Sphäre ein, die das epistemologische und anthropologische Dreierprinzip mit einem kosmologischen korreliert. Dieses Paradigma der Korrespondenz hatte jedoch bereits Augustins De Genesi ad litteram libri duodecim in der Verbindung aus der GenesisAuslegung mit Paulus’ Entrückung in den dritten Himmel (2 Kor 12,2) etabliert.442 Die zweite Auslegung führt ebenfalls das alttestamentliche Motiv der Weisheit als Wort, als Erstgeborene der Kreaturen, als weibliches Prinzip und als hermeneutischer Schlüssel für die Schriftdeutung ein. Ausgehend vom biblischen Prätext nach Sir 24 schillert die Wortwahl jedoch zwischen der traditionsorientierten Identifikation der Weisheit mit Christus und derjenigen mit einer mütterlichen Qualität in Gott, teilweise changiert sie sogar zwischen den Personalpronomina ›er‹ und ›sie‹. Die dritte Auslegung setzt mit der Schaffung der Engelwelt ein und widmet paracelsischem Schöpfungswissen aus der Philosophia ad Athenienses viel Raum. Dabei wird insbesondere das paracelsische Konzept der Schöpfung als Scheidung aus der reinen Potenzialität in die Aktualität des Sichtbaren mit dem alternativen Konzept einer Erschaffung von Körpern aus fremdem Stoff kontrastiert. Die dritte Auslegung führt auch den pulsierenden Animismus des (pseudo-) paracelsistischen Texts mit dem biblischen Prätext zusammen.443 Das Wirken astralischer ›Samen‹, die geistleibliche Verfasstheit aller Dinge und die Personalisierung der vier Elemente zu vier ›Müttern‹ aller Geschöpfe und Seelen der Dinge bewirken eine ultimative Verlebendigung der Kreation. Die vierte Auslegung schließlich enthält unter Hinweisen auf Hermes und die Theologia deutsch die Zahlenspekulation von eins und zwei, Einheit und Vielheit und widmet sich Luzifers Fall, der Entstehung des Bösen sowie der Frage, wie aus Nichts etwas werden konnte. In Anlehnung an Boethius und mit Formulierungen, die Böhme weiterführen wird, erläutert sie, wie Gott in sich selbst ruht, sein gesprochenes Wort jedoch sich »verleibet« zur ebenbildlichen Kreatur.444

441 Pfefferl: Einleitung. In: PW 11, S. XCIV ff. 442 Weeks: Valentin Weigel and the Fourfold Interpretation of Creation, S. 7. 443 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 322 ff. 444 Ebd., S. 344.



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Die Stoßrichtung der Argumentation richtet sich eindeutig gegen ein materialistisches Schöpfungskonzept, das Gottes Wirken in der Metaphorik eines Handwerkers und Wortschmieds denkt.445 Ausgehend vom biblischen Prätext selbst transzendiert die Viererley Auslegung wörtliche Lesarten als reduktionistisch und insistiert unter Rückgriffen auf die Tradition auf einer Realität des Unsichtbaren. Andrew Weeks machte auf die Verbindung dieses Unterfangens mit dem Kernsatz lutherischer Theologie, des Heils Sola fide aufmerksam:446 Nach Hebr  11,1 richtet sich der Glaube auf das, was den Augen nicht sichtbar ist. »Fides est non apparentium« heißt es in der Vulgata. Im Zentrum der theoretischen Anstrengung der Viererley Auslegung liegt die Anerkennung, Kontemplation und Erforschung der Dinge, die den Augen unsichtbar sind, auf die sich jedoch der Glaube richtet. Dieses Projekt erhielt durch die theologische Zerstrittenheit eine ganz eigene Dringlichkeit: So kontextualisieren verstreute Anspielungen an anonymisierte theologische Zeitgenossen, die Gott und den »vnendlichen Christus« nicht in dieser oder jener Kirche »einsperren« könnten, den Text in einem eindeutigen Sinnhorizont.447 Die (pseudo-)dionysischen Hierarchien, die in vorreformatorischer Zeit den Raum des Unsichtbaren strukturierten, werden in philologisch bedächtiger Auseinandersetzung mit (Pseudo-)Dionysios aktualisiert und mit den biblischen Topoi wie den himmlischen Wassern oder dem himmlischen Jerusalem abgeglichen.448 Im Unterschied zu (Pseudo-)Dionysios jedoch ist nach der Viererley Auslegung der Himmel, die Dreifaltigkeit, Lux inaccessa und das Empyreum nicht mehr korrespondierend zu einer klerikalen Hierarchie in einem lokalen ›Oben‹, sondern im ›Innen‹ des Geistes gedacht. Damit spiritualisiert die Viererley Auslegung letztlich die Gesamtheit der Schöpfung, die nun nicht mehr als korpuskulares, handwerkliches Meisterstück eines Schöpfers als des ganz Anderen, sondern als sinnlicher Ausdruck des göttlichen Waltens lesbar wird. Ausgehend von Weigels umfassender Spiritualisierung der Kreation, seiner Internalisierung des Geistes und seiner Integration der paracelsischen Elementarkräfte ist es zu Böhmes Prinzipien- und Qualitätenlehre sowie zu dessen Ungrunds- und Trinitätskonzept nur noch ein kleiner Schritt. Unabhängig davon, ob Weigel allein oder gemeinsam mit anderen die Viererley Auslegung verfasst hat, erfüllt sie ihrem methodischen Selbstverständnis nach

445 Die Ablehnung der Handwerkermetaphorik kennt schon Paracelsus. Paracelsus: Liber meteorum Philippi Theophrasti Paracelsi. In: Hohenheim. Sämtliche Werke 13, S. 125–206, hier S. 138. 446 Hier und zum Folgenden Weeks: Valentin Weigel and the Fourfold Interpretation of Genesis, S. 4. 447 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 241. 448 Ebd., S. 375 f.

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einen genuin lutherischen Anspruch, nämlich ausgehend vom Schriftprinzip, hier: den Schöpfungsberichten nach dem Ersten Buch Mose und Jesus Sirach, die Verbindung zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt zu deuten und das Primat des Geistes zu betonen. Inwieweit dieses Projekt in der Fremdwahrnehmung trotzdem zu einem ›hermetischen‹ werden konnte, wird in der Genese derjenigen Topoi sichtbar, die zu philosophischen Ärgernissen der dogmatischen Theologie nicht nur im Luthertum, sondern in allen Konfessionen geworden sind: die Hinterfragung der Trennung zwischen Schöpfer und Schöpfung, zwischen Geist und Materie, wie sie durch die paracelsischen Schriften vorbereitet wurde,449 sowie die angedeutete Androgynie in Gott.

6.3. Biblische Fantasie: Sophia, göttliche Eva und die »Mutter aller Dinge« Im Jahr 1571 schrieb Thomas Erastus mit dem scharfen Blick des Kritikers über die Paracelsus zugeschriebene Schrift Philosophia ad Athenienses: Wobei er [Paracelsus] sogar behauptet, daß in seinem Mysterium, was er als ungeschaffenes mit höchst deutlichen lateinischen und deutschen Worten mehrfach hervorhebt, alle Dinge im Verborgenen enthalten gewesen und durch den Vorgang durch Scheidung ans Licht gekommen sind. […] Aber er läßt es nicht zu, anderes darunter zu verstehen als Materie, teils weil er sie selbst gerade so auffaßt, teils weil er sie so häufig ›Mutter der Dinge‹ 450 nennt.

Erastus fasst die theologische Grenzziehung zu nicht-christlichem Schöpfungswissen als Differenz zwischen Creatio und Separatio zusammen. Die Schöpfung aus dem Ununterschiedenen oder aus dem Chaos ist in der Tat ein Topos aus Platons Timaios oder aus Hesiods Theogonie, wobei Hesiod als erste schöpferische Individuation nicht den Göttervater Zeus, sondern die »breitbrüstige Gaia« nennt.451 Im paracelsischen Diskurs der frühen Neuzeit war der Topos der Schöpfung als Scheidung sowie die Engführung zwischen einer geistigen Urmaterie,

449 Pfefferl: Die Rezeption des paracelsischen Schrifttums, S. 163 ff. Zum größeren Kontext des Paracelsismus Kühlmann: Der vermaledeite Prometheus: Die antiparacelsistische Lyrik des Andreas Libavius und ihr historischer Kontext. In: Scientia Poetica 4 (2000), S. 31–61, hier S. 35 ff. 450 Thomas Erastus: Disputationes De Medicina Nova Philipppi Paracelsi. Teil 1. Basel 1571, S. 4, zit. n. Kühlmann/Telle: Einleitung. In: Corpus Paracelsisticum 1, S. 1–39, hier S. 12. Dort auch zur Forschungsdiskussion über die paracelsische Materietheorie. Vgl. auch (Pseudo-)Paracelsus: Philosophia ad Athenienses, S. 390. 451 Platon: Timaios, 30a; Hesiod: Theogonie. Übersetzt und hg. v. Otto Schönberger. Stuttgart 1999, S. 13.



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einer Urmutter und den geistig-elementaren Urwassern als ›hermetisch‹ markiert.452 Anhand der Viererley Auslegung lässt sich jedoch analysieren, wie diese Topoi im kulturellen Kontext zwischen Kontroverstheologie, »sinnlich blindem« naturphilosophischem Aristotelismus453 und Luthers eigenem Verbot paganer Mythologien und nicht-christlicher Weltanschauungen454 kreative und transformierende Fortschreibungen von traditionellen Motiven sind. Diese nehmen bezeichnenderweise Luthers Impulse auf, den mosaischen Schöpfungsbericht verständlich auszulegen. Das Motivs eines göttlich Weiblichen in seiner spezifisch kosmologischen Ausprägung lässt sich im Kontext von Luthers strikter Beschneidung der Marienverehrung als transformierte Rückkehr des Verdrängten deuten. Die Marien- und Annenverehrung hatte am Vorabend der Reformation eine einzigartige Verbreitung erreicht, die die »Universalität der Deutungs- und Hilfsangebote«455 einer mütterlichen Qualität im Göttlichen spiegelte. Ein zeithistorisch berühmtes Dokument, Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit (1515), listet im Kaleidoskop der Narrheiten seiner Zeitgenossen auf, dass das einfache Volk der Gottesmutter fast mehr zutraue als ihrem Sohn.456 Auch wurden Maria kosmologische Züge zugeschrieben, auf die die Geschichte der katholischen Mariendogmen bis ins 20. Jahrhundert reagierte. Im Luthertum dagegen fand die Rückstufung Marias von der Königin der Barmherzigkeit zur »Magd des Herrn« konsequenterweise als explizite Abwehr eines latenten Heidentums statt, das unter der Marienverehrung vermutet wurde.457 Die spekulative Rückkehr der mütterlichen Qualität im Gött-

452 Gilly: Vom ägyptischen Hermes zum Trismegistos Germanos, S. 121; Kemper: Deutsche Lyrik 4/1, S. 60; Kühlmann/Telle: Einleitung. In: Corpus Paracelsisticum 1, S. 12. 453 Ebd., S. 17 454 Zum Verbot nicht-christlicher Religionen und paganer Mythologie weiterführend Kemper: Deutsche Lyrik 4/1, S. 37 ff. Sie konnte sich bis zur Assoziation eines dichterischen Musenanrufs mit einer Teufelsbeschwörung steigern. Volkhard Wels: ›Verborgene Theologie‹, Enthusiasmus und Andacht bei Martin Opitz. In: Daphnis 36 (2007) S. 223–294, hier S. 264. 455 Kaufmann: Geschichte der Reformation, S. 85. 456 Desiderius Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit. Übersetzt v. Alfred Hartmann. Hg. v. Emil Major. Basel o.J, S. 84. 457 Siehe weiterführend Stephen Benko: The Virgin Goddess. Studies in the Pagan and Christian Roots of Mariology. Leiden 1993, S. 1 ff. u. 196 ff.; zur Kontextualisierung der jungfräulichen Mutterschaft Mariens ebd., S. 196; zur Zuschreibung der Qualität der Erdgöttin an Maria, wie sie sich in den schwarzen Madonnen zeigt, ebd., S. 206; zur differenzierten Analyse der Mariologie Luthers, der die Wertschätzung Mariens nicht ablehnt, jede Verehrung aber ausschließlich auf Christus konzentriert Horst Gorski: Die Niedrigkeit seiner Magd. Darstellung und theologische Analyse der Mariologie Martin Luthers als Beitrag zum gegenwärtigen lutherisch/römisch-katholischen Gespräch. Frankfurt a.M. 1987, S. 60 ff. Luther problematisierte z. B. das Fest Mariä

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lichen über die Figur der Sophia, die nun über die alttestamentliche Weisheitsliteratur in die kosmologischen Fragekomplexe der Genesis-Auslegung Eingang fand, spiegelt ihr Sinngebungspotenzial im Kontext einer nun genuin protestantischen Kultur. Über das Buch der Weisheit Salomos, das Buch Jesus Sirach, die Sprüche Salomos und im Anschluss an patristische Autoren wie Philo von Alexandrien oder (Pseudo-)Dionysios ließ sich so im Einklang mit dem Schriftprinzip (Sola scriptura) die semantische Leerstelle wieder füllen. Die Motive der Urmaterie und der Scheidung sind paradoxerweise schon in Luthers Auslegung von Gen 1,1 und 4 angelegt und beziehen sich auf die erstgeschaffene, noch ungeschiedene Materie aus Himmel und Erde, die Luther allerdings als ungeformte Masse von Gott ex nihilo geschaffen sah.458 Auch nach Luther wurde diese dann in Himmel und Erde, Licht und Finsternis »geschieden« (Gen 1,4). Luther selbst hatte wenig Interesse an scholastischen Debatten seiner Vorgänger bezüglich eines platonischen Materiekonzepts; er entledigte sich der Diskussion mit der Statuierung der Creatio ex nihilo, um sich anschließend jedoch ausführlich mit anschaulichen Beispielen (»mihi placent, quae simplicissima sunt et a rudioribus possunt intelligi«)459 dem mosaischen Text zuzuwenden. Im Zuge seiner Ausführungen kommt die finstere, noch ungeformte Materie einfach als Motiv unter anderen zur Sprache. Die echten paracelsischen Schriften erklären die Schöpfung der Dinge ebenfalls aus einer prae-kreationalen ersten Materie, die allerdings wie der Logos im Anfang ›bei Gott‹ war. Nicht ihre Erschaffung wird erzählt, sondern die Erschaffung der Dinge aus ihr.460 Erst die pseudoparacelsische Schrift Philosophia ad Athenienses widmet dem Scheidungsprozess aus der Prima materia so viel Raum, dass der Schöpfergott kaum noch erwähnt wird. Es heißt lediglich, die Prima materia sei ungeschaffen vom höchsten Künstler zubereitet.461 Dabei wird das Konzept des ersten Künstlers weder verworfen noch diffamiert, er ist lediglich nicht Gegenstand des Textes. Die Quellentexte zur Viererley Auslegung von der Schöpfung behandeln also die Frage nach der Schöpfung als Creatio oder als Separatio noch nicht als dogmati-

Lichtmess als Verbindung zwischen dem Gedächtnis Mariens und dem heidnischen Lichterfest (ebd., S. 72); zum protestantischen Diskurs vgl. Beth Kreitzer: Reforming Mary. Changing Images of the Virgin Mary in Lutheran Sermons of the sixteenth Century. Oxford 2004; Bridget Heal: The Cult of the Virgin Mary in Early Modern Germany. Protestant and Catholic Piety, 1500–1648. Cambridge 2007; zur katholischen Geschichte und kulturhistorischen Kontextualisierung der Mariendogmen vgl. Christa Mulack: Maria. Die geheime Göttin im Christentum. Stuttgart 1985. 458 Luther WA 42, S. 8: »Deum ex nihilo condidisse coelum et terram quasi rudem massam« 459 Ebd., S. 9. 460 Pagel: Paracelsus als Naturmystiker, S. 68. 461 (Pseudo-)Paracelsus: Philosophia ad Athenienses, S. 390.



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sche Ausschließlichkeit, sondern nuancieren unterschiedliche Aspekte derselben Geschichte. Innerhalb dieser Akzentuierungen positioniert sich die Viererley Auslegung mit ihrem methodischen Kunstgriff, der die Integration unterschiedlichen Wissens als vertiefende Einsichten erlaubt, als synkretistischer Schmelztiegel. In der zweiten Auslegung führt der Text nun die göttliche Entität ein, die – sogar im Unterschied zu Maria – nach Spr 8,22–24 von sich sagen konnte: »Der Herr hat mich gehabt im Anfang seiner Wege; ehe er etwas schuf war ich da. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit, von Anfang, vor der Erde. Da die Tiefen noch nicht waren, da war ich schon geboren.« Traditionell lässt sich diese Stimme der Erstgeborenen entweder mit dem Logos, also Christus, identifizieren oder mit dem Heiligen Geist Gottes, der nach Gen 1,2 über den Wassern der finsteren Tiefe schwebt.462 Der Autor der Viererley Auslegung identifiziert nun Sophia in vernehmbarer Emotionalität mit Gott-Mutter: Sie ist vnser aller mutter, in ihrem leibe hatt sie vnß all getragen, sie hat durch ihr crefftiges wort alle ding auß den wassern herfür geruffen. Ohne sie hatt Gott nichts gemacht, was er gemacht hat, vnd hie möchte hergezogen werden: Juno est conthoralis omniparens, soror et coniunx Jovis, sine qua omniparente nihil unquam vixit. Et soror et coniunx una Deitas, una aeternitas cum ipso. Es lautet wol heidnisch, vnd den weltgelerten zu hardt. Aber die aus gott seindt, verachten die warheit nicht. Sie wirdt vnsere mutter bleiben, wir ihre kinder, gott vnser Vatter, Christus vnser bruder, der heilige geist vnser erleüchter. Die Buchstabischen mögen sehen, wo sie bleiben, sie seint knechte, nicht kinder, gehören nicht 463 ins Erbtheil, sie können ihre Mutter nicht etc.

Bemerkenswert ist nicht nur die Identifikation der göttlichen Sophia mit der Allmutter (Omniparens), sondern auch das Bewusstsein um die Diskursivierung jener Worte als »heidnisch«, das prononciert an eine unwissende, biblisch: »knechtische« Perspektive rückgebunden wird (Joh 8,35). Demgegenüber impli-

462 Zur Problematik der daraus resultierenden Engführung von Christologie und Sophiologie Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 322. Bereits im Humanismus konnte die Weisheitsfigur literarisch adaptiert werden, etwa als Lehrerin in Brandts Narrenschiff (1494): Sebastian Brandt: Das Narrenschiff. Hg. v. Hans Joachim Mähl. Stuttgart 1964, S. 84 ff. Zum latent transgressiven Potenzial bereits hier Kemper: Deutsche Lyrik 1, S. 74 ff. Die Überschreitung in die Häresie nach der zeitgenössischen Wahrnehmung findet sich in jenen Bereichen, in denen man über die Weisheitsfigur das Dogma der Trinität in Frage gestellt sah, was sich spätestens in den Kontroversen um Jakob Böhmes Sophiologie manifestierte. Vgl. Jacob Böhme: Libri Apologetici, oder Schutzschriften wider Balthasar Tilken 1621. Hg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, S. 121. 463 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 243; ebenso in: Weigel: Natürliche Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 157; siehe dazu auch Weeks: Valentin Weigel, S. 167 ff.

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ziert die Vision aus »kindlicher«, also wiedergeborener Perspektive das Bild einer göttlichen Familie, die Mensch und Gott zusammenführt, Geist/»Himmel« und Natur/»Erde« verbindet, Männliches und Weibliches in Ausgleich bringt und sogar die christliche Erlöserfigur zu integrieren vermag. Anthropologisch gesehen ist die Vision dieser Familie über die prinzipielle Gleichheit in der Natur aller »Kinder« denkbar geworden, wobei Christus analog zu den anthropologischen Reflexionen als älterer Bruder der Menschen erscheint. Mit der kosmologischen Aktualisierung der Sophiologie stellt sich der Text in eine Tradition, die einerseits auf patristische Vorbilder verweisen konnte, andererseits aber seit Philo von Alexandrien das vorchristliche Erbe, das die SophienFigur ähnlich wie die Marienfigur aufgenommen hatte,464 philologisch domestizieren musste. Die Viererley Auslegung von der Schöpfung weicht nach Luthers diskursmächtiger Rückstufung Mariens nicht nur auf die Sophien-Figur aus, sie greift mit der Anspielung an das Motiv einer kosmologischen Geschwister-Ehe in Gott auch innerhalb der sophiologischen Tradition auf präzise deren grenzgängerisches Potenzial zurück. Bereits im alexandrinischen Judentum stellte sich die Frage nach Sophias Rolle entweder als gleichgestellter Gefährtin Jahwes vor aller Schöpfung oder als Hypostase, die ihm lediglich helfend zugeordnet wird.465 Während der Autor der Sprüche Salomos dogmatisch vorsichtig die Weisheit als Gottes erstes Geschöpf eingeführt hatte (Spr 8,30), kennt Philo von Alexandrien die vorschöpferische, himmlische Gemeinschaft zwischen Jahwe und Sophia als

464 Kulturgeschichtlich ist die Sophien-Figur der im hellenistischen Alexandria verfassten Weisheitsliteratur von ägyptischen Göttinnen inspiriert. Das Motiv der androgynen Einheit und geistigen »Ehe«, das die Viererley Auslegung als »soror et coniunx Jovis« fasst, geht auf eine jüdisch-christliche Aneignung des Motivs der göttlichen Geschwister-Ehe Isis und Osiris zurück. Gleiches gilt für das Motiv der jungfräulichen Mutterschaft. Die biblische Weisheitsfigur weist Bezüge zur Weisheitsgöttin Maat auf, die das Weltgesetz symbolisiert und in späthellenistischer Zeit mit der Allgöttin Isis gleichgesetzt wurde. Zum Motiv der himmlischen Ehe in der Theologie des alexandrinischen Judentums Ernst Benz: Gottfried Arnolds ›Geheimnis der göttlichen Sophia‹ und seine Stellung in der christlichen Sophienlehre. In: Jahrbuch der hessischen kirchengeschichtlichen Vereinigung 18 (1967), S. 51–82, hier S. 63. Zur kulturgeschichtlichen Kontextualisierung und insbesondere auch als Quellensammlung Vera Zingsem: »Der Himmel ist mein, die Erde ist mein«: Göttinnen großer Kulturen im Wandel der Zeiten. Schalksmühle 2008, S. 343 ff. Zu Sophia und Maat jüngst sogar in der katholischen Theologie Otmar Keel: Gott weiblich. Eine verborgene Seite des biblischen Gottes. Gütersloh 2008, S. 50 ff. 465 Hier und zum Folgenden, dazu grundlegend zur Sophien-Tradition Benz: Gottfried Arnolds ›Geheimnis der göttlichen Sophia‹ und seine Stellung in der christlichen Sophienlehre, S. 60 ff. Zur Sophiologie und Philos Schöpfungskonzept auch Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 213 ff. Eine Zusammenstellung der Zitate zur Sophia in der patristischen Tradition bietet Thomas Schipflinger: Sophia – Maria. Eine ganzheitliche Vision der Schöpfung. München Zürich 1988 (Koinonia. Schriftreihe des Ostkirchlichen Instituts Regensburg VII), S. 36 ff.



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Gott Vater und Gott Mutter, ihre gemeinsame Elternschaft für den Logos wie für die Welt sowie die ewige Jungfräulichkeit der Sophia bei ihrer gleichzeitigen universalen Mutterschaft.466 Sophia erhält in dieser Metaphorik die Rolle einer rein geistigen, ewigen »Natur« in Gott, die vor Gott alle Zeit »spielt« (Spr 8,31) und die Fülle der Möglichkeiten einer Schöpfung aus der rein geistigen Potenzialität in die Aktualität ermöglicht.467 Die Vulgata lässt die dogmatische Vorsicht fallen und übersetzt Spr 8,30 »Cum eo eram cuncta componens et delectabar per singulos dies […].« Dies übersetzte Luther jedoch als »Da war ich der Werkmeister bei ihm und hatte meine Lust täglich […].«468 Nicht nur wird in Luthers Übersetzung die Weiblichkeit Sophiens fallengelassen, es verschwindet auch ihre Einheit mit Gott. Die Viererley Auslegung von der Schöpfung jedoch führt nicht nur die universelle Mutterschaft Sophiens emphatisch wieder ein, sie überblendet sie auch naturphilosophisch sowie in der geistlichen Praxis mit dem Christus-Logos:469 Es »wird Euch eure mutter lehren, wie ihr Gott im Himmel dienen sollt.«470 Die Lehre jener »Mutter« Weisheit entstammt (Pseudo-)Dionysios Areopagitas’ Die Namen Gottes und beschreibt den klassisch mystischen Weg der Introspektion als Aufstieg über die Namen Gottes über das eigene Selbst bis zur Transzendenz der Kreatürlichkeit. Da nach Dionysios alle Namen Gottes wesentlich er selbst sind, so hatte Weigel bereits im Informatorium erörtert, lässt sich die Einheit Gottes mit der Weisheit wieder begründen.471 Nach der Vierten Auslegung »verleibt« sich das gesprochene Wort zur ebenbildlichen Kreatur, die sowohl mit der noch ungeschiedenen Materie (»Himmel und Erde«) aus Gen 1,1 als englische Kreatur als auch mit Zitaten aus Weish 7,25–26 und Sir 24,4–5 als Gottes »vnbefleckter Spiegel« und vorschöpferische Primordial­ natur erscheint.472 Im paracelsischen Diskurs lässt sich dieses Konzept nun mit

466 Benz: Gottfried Arnolds ›Geheimnis der göttlichen Sophia‹, S. 63 f. 467 Ebd., S. 61. 468 Die revidierte Lutherübersetzung spricht an dieser Stelle heute von »Liebling«, die Einheitsübersetzung von »Kind«. Über die Begrifflichkeit des Werkmeisters eröffnet sich wieder eine philologische Nähe zur platonischen und hermetischen Tradition, die die Motive der Androgynität in Gott und der Schöpfung mit Hilfe eines Demiurgen kennt. 469 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöfpung. In: PW 11, S. 225, 242 f. u. 346. 470 Ebd., S. 244. 471 Ebd., S. 245: Vgl. (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Die Namen Gottes. Stuttgart 1988. Besonders das Kapitel zur Weisheit S. 76 ff.; Weigel: Informatorium. In: PW 11, S. 61–63. 472 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 346 f.; Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie, S. 265 ff. (Kapitel III. 3: Welche Natur wird nachgeahmt? Beobachtungen zur Erscheinung der Natur in der barocken Literatur).

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dem Konzept des Mysterium Magnum korrelieren, das alle Züge einer vorchristlichen Creatrix trägt und sich damit zum theologischen Ärgernis verdichtet: Die Primordialnatur als Mysterium Magnum ist in der Philosophia ad Athenienses die »muter […] aller elemente[ ]«,473 eine »großmuter aller stern, beumen und der creaturen des fleischs«, die gebiert, »wie von einer muter kinder geboren werden«.474 In sie sind vom höchsten Künstler alle schöpferischen und formgebenden Urpotenzen gelegt, die damit analog zu Platons Ideenwelt oder Philos Primordialgründen ungeschaffen sind und die Schöpfung in ihrer reinen Potenzialität bereits in sich enthalten.475 Im Unterschied allerdings zur sprachlichen Abstraktion der Philosophen bemüht der Autor der Philosophia ad Athenienses eine überaus lebensbezogene Bildlichkeit der Geburt und der Scheidung, um die Entstehung des Vielen aus dem Einen zu erläutern: »Am anfang aller gebirung ist gewesen die gebirerin und erzeugerin separatio«.476 Vom klassischen Griechisch der kanonischen Philosophen unterscheidet ihn darüber hinaus die sprachliche Unbefangenheit, die Geheimnisse der Schöpfung mit Beispielen des täglichen Lebens, mit Milch, Käse und Essig zu erläutern477 – ein sichtbares Zeichen für die Positionierung des Textes im Diskurs, der sich nicht nur den theologischen Laien öffnet, sondern der auch die kanonische, konterintuitive Assoziation der lebensspendenden Schöpferkraft mit der exklusiven Männlichkeit und Andersartigkeit des trinitarischen Gottes unterläuft. Während im paracelsischen Diskurs das Mysterium Magnum als »Mutter aller Dinge« zum Begriff wird,478 drängt sich aus Sicht der theologischen Kritiker der Verdacht des Materialismus auf.479 Doch ist es nicht die geschaffene Materie, aus der sich die Schöpfung entfaltet: Die Philosophia ad Athenienses fasst das Mysterium Magnum auch in der Metapher des Rauches, aus dem sich die Einzelwesen verkörpern und in den sie wieder eingehen, um zu erklären, dass alles Sichtbare aus dem Unsichtbaren kommt.480 Philologisch jedoch lässt sich die Metapher des »spiritus fumosus« oder »Rauchgeistes« als freie Übersetzung des Primordialgrundkonzeptes ins Deutsche deuten, insbesondere dann, wenn in der Viererley Auslegung die

473 (Pseudo-)Paracelsus: Philosophia ad Athenienses, S. 390. 474 Ebd., S. 390. 475 Pagel: Paracelsus als Naturmystiker, S. 69; Walter Pagel: Paracelsus and the Neoplatonic and Gnostic Tradition. In: Ambix 8 (1960), S. 125–166. 476 (Pseudo-)Paracelsus: Philosophia ad Athenienses, S. 303. 477 Ebd., S. 391, 393. 478 Geyer: Verborgene Weisheit II, S. 85 ff.; Zitat Michael Sendivogius ebd., S. 93. 479 Thomas Erastus: Disputationes De Medicina Nova Philipppi Paracelsi. Teil 1. Basel 1571, S. 4, zit. n. Kühlmann/Telle: Einleitung. In: Der Frühparacelsismus 1, S. 12. 480 (Pseudo-)Paracelsus: Philosophia ad Athenienses, S. 420: »Also auch in iedlicher corpus oder substanz, das do greiflich, ist nichts anders, dan alein ein rauch der do coagulirt ist.«



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erstgeborene, ebenbildliche Kreatur über Sir 24,4–5 mit Gottes Wort und Weisheit identifiziert wird, die über der ganzen Erde schwebt – wie es nach Gen 1,2 der Geist Gottes, hebr.: »ruach« (fem.) tat!481 Die Konzepte der Creatio ex nihilo und der Creatio ex spiritu sind so in krea­ tiver Anwendung des Schriftprinzips harmonisiert. In der nun ermöglichten Denkfigur der Verkörperung aller geschaffenen Dinge aus dem Heiligen Geist jedoch wird das mosaische Schöpfungsmodell um die im Diskurs als platonisch und gnostisch geltenden Ideen einer Schöpfung durch Emanation sowie durch ein Zusammenspiel männlicher und weiblicher Qualitäten in Gott ergänzt. Diese Erweiterungen waren seit der Kritik des Kirchenvaters Irenäus von Lyon an den Gnostikern, die ebenfalls die Rolle einer Mutter aller Dinge in die Deutung des mosaischen Schöpfungsberichts integrierten, als unchristlich und häretisch festgeschrieben worden. Irenäus hatte in seiner Kritik am System der Valentinianer eine methodisch vergleichbare philologische Argumentation verworfen, nämlich den Ansatz, über das grammatische Geschlecht des griechischen Worts »arche« (»im Anfang«, Gen 1,1.) die Idee einer göttlichen Mutter als Quelle kosmischer Elemente in die Erzählung der Genesis zu integrieren.482 Weigels Integration des paracelsischen Konzepts eines Mysterium Magnum argumentiert zwar im Detail anders, doch deutet die hermeneutische Anstrengung des Textes auf einen bestehenden Problemüberhang hin, der sich z. B. auch in der mystischen Tradition des Judentums spiegelt: Auch das kabbalistische Buch Sohar integriert über die Idee des Sephirotsbaums die Vorstellung eines emanativen Ausfließens und kennt das Motiv einer oberen und einer unteren »Mutter«483 Im weigelianischen Diskurs stellt das Konzept des Mysterium Magnum einen Kristallisationspunkt der Fortschreibungen dar, dessen spekulative Dichte über

481 Vgl. dazu die parallele Bildlichkeit der Wolke in Sir 24,4–5 und Philosophia ad Athenienses, S. 419: Sirach: »Ich bin vom Munde des Höchsten ausgegangen und schwebte über der ganzen Erde wie die Wolken.« (Pseudo-)Paracelsus: »aber die forme und substanz der verstandnen und unverstandnen kompt aus dem selbigen spiritus fumi, nicht anderst wie aus einem gewülk ein hagel oder stral, der ist corporalisch, und die materien daraus er worden ist, die selbige bleibt unsichtbar.« 482 Irenäus: Adversus Haereses. Ed. by W. W. Harvey. Cambridge 1857, 1.18.2, zit. n. Elaine Pagels: What became of God the Mother? Conflicting Images of God in Early Christianity. In: Signs 2 (1976), No. 2 (Winter), S. 293–303, hier S. 295 (auf Deutsch: Dies.: Gott der Vater, Gott die Mutter. In: Versuchung durch Erkenntnis. Die gnostischen Evangelien. Frankfurt a.M. 1987 [= The Gnostic Gospels. New York 1979] S. 94–119). Zu Irenäus und Valentin weiterführend Christoph 2 Markschies: Die Gnosis. München 2006, S. 35 u. 89; Elaine Pagels: Gottes Wort oder Menschenworte? In: Dies.: Das Geheimnis des fünften Evangeliums, S. 80–117, hier S. 114 ff. 483 Der Sohar. Das heilige Buch der Kabbala. Aus dem Urtext ausgewählt, übertragen und hg. v. 6 Ernst Müller. München 1993, S. 141.

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die Viererley Auslegung hinausgeht. Bereits im paracelsischen Diskurs ist der Topos der Prima materia mit den Konzepten der Urwasser, des Iliaster, des Chaos, des Elementum aquae oder der Natura humida verbunden. In einem der wenigen direkten Verweise auf das Corpus Hermeticum identifziert die Viererley Auslegung dieses Motiv mit der »feuchten Natur« aus dem ersten hermetischen Traktat.484 Auch setzt sie es mit dem primordialen Chaos aus Ovids Metamorphosen oder mit dem ungestaltenen Wesen aus Weish 11,17 gleich, aus dem die Welt geschaffen wird.485 Das Konzept der Natura humida jedoch ist zunächst ein durchaus kanonisches Konzept, auf das Luthers Genesisvorlesung ausführlich eingeht: Luther selbst entwickelte zur Erklärung des Konzepts der ungeformten Materie als wässriger Natur die sprachliche Verständnishilfe, dass die hebräischen Begriffe »schamajim« (›Himmel‹) und »majim« (›Wasser‹) etymologisch auseinander abgeleitet sind und somit das Wasser bereits sprachlich im Wort für Himmel enthalten sei.486 Die erste Materie deutete Luther ausgehend von der hebräischen Begrifflichkeit als Nebel und als feuchte Masse, die wie der Himmel die Regenwolke und damit das Wasser in sich enthielt – es ist dasselbe Wolkenbeispiel, das die Philosophia ad Athenienses zur Illustrierung der Prima materia als »Rauch« zitiert, aus dem sich alles durch Scheidung verkörpert. In der Auslegung von Gen 1,7, der Scheidung der Wasser in die Wasser ober- und unterhalb des Firmaments, grenzt sich Luther wiederum von traditionellen, scholastischen Spekulationen ab und bekennt offen, in der Deutung der oberen Wasser überfragt zu sein.487 Die Viererley Auslegung greift Luthers sprachliche Erläuterungen zum Himmel als Natura humida zunächst auf, die als dunkle, unsichtbare Materie Tag und Nacht, Geist und Materie samenhaft und ungeschieden in sich enthält. Da sie allerdings im Unterschied zu Luther Luzifers Fall narratologisch in der Vierten Auslegung wieder einführt, kann sie das Ur-Chaos der feuchten Natur als Luzifers ehemalige Stätte und damit bereits als Resultat des ersten Falls deuten.

484 Pagel: Paracelsus als Naturmystiker, S. 67; Gilly: Vom ägyptischen Hermes zum Trismegistos Germanus, S. 121; CH I, 6; Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 377. 485 Ebd., S. 378. 486 Luther WA 42, S. 18 f. Die Tragweite von Luthers geradezu pädagogisch konzipierter, hermeneutischer Verständnishilfe über die hebräischen Begriffe lässt sich kaum übersehen: Dieses Motiv wird im spiritualistischen und theosophischen Diskurs über Weigel, Böhme, Georg von Welling und Samuel Richter bis weit ins 18. Jahrhundert tradiert, wo es im Umfeld der hermetischen Phase des jungen Goethe wieder auftaucht. Es ist auch in der Naturlehre der Spätrosenkreuzer (1762–1787) nachweisbar, steht dann allerdings in ›geheimer‹ und ›esoterischer‹ Literatur. Rolf-Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. 2 Bde. München 1979, Bd. 1, S. 381 u. 383. 487 Luther WA 42, S. 23 f.



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Damit impliziert sie eine Binnendifferenzierung innerhalb der prae-kreationalen Primordialnatur.488 Das Motiv der Scheidung der Wasser (Gen 1,7), das Luther selbst nicht mit einer abschließenden Deutung versah, bietet im weigelianischen Diskurs anschließend den Raum für Fortschreibungen, die in der Viererley Auslegung angelegt sind, sie jedoch an Kühnheit weit übertreffen. Eine wahrscheinliche Quelle für Weigels Text, ein 1579 geschriebener Brief des Görlitzers Abraham Behem, der aus einem paracelsistischen Kreis an Weigel schreibt, personalisiert die oberen »Wasser« zu einem Motiv, das in der Fremdwahrnehmung zum Topos des Weigelianismus und daraus abgeleitet des Hermetismus wird: das Motiv einer »himmlischen Jungfrau«, die als »himmlische Eva« sogar »Gott selbst« ist.489 Colbergs Platonisch-hermetisches Christenthum vermerkt diesen Topos als Ausdruck der Androgynie in Gott und damit als Kriterium für Hermetismus und Häresie. Dabei bezieht er sich auf den rezeptionsgeschichtlich wirkmächtigsten Text unter Weigels Namen, die nur teilweise authentische Kirchen- oder Hauspostill.490 Darin findet sich – korrespondierend zur Stelle über Gott-Mutter in der Viererley Auslegung – folgende Ausführung über eine irdische und eine göttliche Eva: Die himmlische Eva ist Gott selber / diese beyde ein Gott / ein Geist Gottes / vnd ward die erst geborne für allen Creaturen / Christus die Weisheit durch welchen Himmel und Erden seind worden / diese himlische Eva hat den Sohn Gottes geboren von Ewigkeit in der Trinitet / diese Weisheit / die da ist das Wort Gottes / ist eine Jungfraw geborn leiblich / hat uns Christum leiblich auff die Welt geborn / im Himlischen seind sie eins / im Irdischen seyn sie 491 geschieden / wie Mutter und Sohn

Die himmlische Eva erfüllt die Rolle, die der Sophia oder Christus als Erst­gebo­ rener/m zugesprochen wird. Zwar fehlt der Figur einer himmlischen Eva eine

488 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 364. 489 Der Brief Abraham Behems ist im Wortlaut abgedruckt in: Lieb: Valentin Weigels Kommentar zur Schöpfungsgeschichte, S. 161 f.; ebenso bei Zeller, Naturmystik und spiritualistische Theologie bei Valentin Weigel, S. 120 ff. 490 Vgl. weiterführend zur Kirchen- oder Hauspostill Weeks: Valentin Weigel, S. 143 ff. Colberg sieht hier die Ketzerei gnostischen Gedankenguts, wenn er schreibt, es bestünde »nicht geringe Verwandtschafft in der Lehr / von dem göttlichen Wesen, welches die Schwärmer auch den Ungrund / stille / ja gar nichts nennen. Sie machen GOtt zum Mann und Weibe / reden von der himmlischen Eva / vom himmlischen Menschen / von der Mutter Christi / und bestätigen damit der Valentinianer Ehen in GOtt.« Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum II, S. 90. 491  Kirchen Oder Hauspostill Uber die Sontags und fürnembsten Fest Evangelien durchs ganze Jahr / aus dem rechten Catholischen und Apostolischen Grunde und Brunnen Israelis vorgetragen und geprediget. Durch Valentinum VVeigelium, damals Pfarherrn zu Zschopan [!] in Meissen. In den angehenden letzten Seculo Spiritus Sancti zum zeugnüs in Druck gegeben. Newenstatt 1617, S. 286.

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dogmatische Legitimation, doch kann sie nach Luthers diskursmächtiger Rückstufung der Marienfigur erstens die mariologischen Topoi der jungfräulichen Mutterschaft und der Gottesgebärerin neu verkörpern,492 zweitens besitzt sie ein naturphilosophisches Erklärungspotenzial, das eng mit dem Konzept des Mysterium Magnum verbunden ist: Bereits der Brief des Abraham Behem schlägt für die Deutung der oberen und unteren »Wasser« vor, diese sowohl mit der Primordialnatur als auch mit dem Ur-Chaos zu identifizieren: Vnd wird vns durch die Schrifft durch das Oberwasser vber der Festen nichts ander fürgebildet denn die Mutter der neuen Geburtt, die eine himmlische Jungfraw, so allein auß Gott Ihre ankhunfft, die vom Creatore selbst vnd nicht von Creato Ihren Vrsprungt. Also auch das Vnterwasser vnter dem Firmament, die Irdische Mutter, die Evam, so auß dem opaco Limo eine Creatur geschaffen: So doch die Himmlische auß Gotte geboren, Vnd nicht wie 493 die Irrdische Vntere geschaffen worden.

Indem die himmlische Jungfrau hier mit einer Eva und gleichzeitig mit den himmlischen Wassern über dem Firmament gleichgesetzt wird, erschließt sich erstens das naturphilosophische Sinngebungspotenzial, das die Vorstellung eines Zusammenspiels männlicher und weiblicher Kräfte im Schöpfungsgeschehen zumindest außerhalb des theologischen Lehrbetriebs nach wie vor hatte. Zweitens lässt sich die Überblendung der Sophia mit einer Evafigur methodisch wiederum als kreative Handhabung des Schriftprinzips deuten: Da bereits die irdische Eva biblisch als »Mutter aller Lebendigen« bezeichnet wird (Gen 3,20), lässt sich die makrokosmische »Mutter aller Lebendigen« entsprechend als göttliche Eva verstehen. Diese entspricht im naturphilosophischen Modell der Primordialnatur, allerdings spielt ihre Personifikation terminologisch an die personale, schöpferische Potenz der vorchristlichen Creatrix an, die über Luthers Darstellung der biblischen Sophien-Figur, die dieser in der Genesisvorlesung lediglich marginal als Gottes »Gehilfin« gestreift hatte (»ubi scribit sapientiam divinam fuisse quasi administram creationis«),494 weit hinausgeht. Bei Behem wird die schöpfungstheologische Deutung der himmlischen Jungfrau sogar um eine eschatologische Konnotation ergänzt, indem die oberen

492 Diese waren bereits auf die christliche Maria von der vorchristlichen Isis mit dem Horusknaben übertragen worden. Christliche Theologen wie Cyrill aus Alexandrien, dem Ort der Verschriftlichung auch des alttestamentlichen Buchs der Weisheit, unterstützten die dogmatische Verankerung der Bezeichnung »Gottesgebärerin« für die christliche Maria auf dem Konzil von Ephesus im Jahr 431 n. Chr. Zingsem: Der Himmel ist mein, S. 449; Benko: The Virgin Goddess, S. 196 ff. 493 Brief Behems, zit. n. Zeller: Naturmystik und spiritualistische Theologie, S. 120. 494 Luther WA 42, S. 16.



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»Wasser« (Gen 1, 7) mit den Wassermotiven des kristallenen Meers und der Wasser des Lebens aus der Offenbarung des Johannes (Offb 4,6 u. 22,1) korreliert werden.495 Damit erhält die »himmlische Jungfrau« die Qualität einer »Mutter der neuen Geburt« – womit diese Jungfrau und Mutter schließlich sogar eine soteriologische Rolle spielt, die der Jungfrau Maria im Luthertum gerade abgesprochen worden war. Doch ist die Rolle der göttlichen Jungfrau bei Behem anders konturiert als die Rolle der Maria im Katholizismus. Gemäß eines zentralen Topos der spiritualistischen Tradition, der »Wiedergeburt aus Wasser und Geist« (Joh 3,5), ist ihre Rolle mit der Restitutio des »himmlischen Fleisches« verbunden,496 der Überwindung des Sündenfalls in der Wiedergeburt zur prälapsarischen, engelgleichen Existenz: Also sind auch ferner die Geburtten vnd Kinder dieser beeder Mütter durch die Festen unterschieden. Denn ein ander Wasser ist der Neugeborene Himmlische Mensch, vnd ein anders der irdische. […]Hatt sich aber auß Rath des Ewigen baltt wieder die restitution des menschen, so aus dem Obern Crystallen Wasser der Himmlischen Jungfrauen, der Mutter der Neuen geburtt (wie auß göttlicher Versehung in principio angestifftet worden) getröstet vnd darüber gentzlichen frolocket vnd schwebet also der Geist vnd Spiraculum vitae über dem Crystallenen Wasser, Ihme [dem Menschen] darauß (dieweill das Irdische kleidt ihme durch den fall bemackelt vnd vntrüglich worden) wiederumb ein gantz rein weiß sauberes kleidt zu schöpffen, ein ander new himlisch fleisch vnd leib anzunehmen, auff daß er nicht nur ein Geist vnd Spiraculum bleibe, sondern seiner praedestination nach alß ein Cherubim im 497 fleisch vnd Blutte, so Gotte vnd Ihme gemeß, Gotte beywohne.

Schöpfungstheologisch, naturphilosophisch und nicht zuletzt soteriologisch entwickeln die Fortschreibungen der Genesis ein transgressives Potenzial, das sich auf die soziale Praxis und die Glaubenspraktiken auswirkt. In variierender Deutlichkeit unterlaufen die Überblendungen der Creatio ex nihilo durch eine Creatio ex spiritu das Sakramentenwesen insbesondere im Ritus der Taufe, da sich das Taufwasser, das schließlich die Wiedergeburt nach traditioneller christlicher Lehre bewirken soll, nun vom materiellen Wasser der kirchlichen Zeremonie

495 Auch die Viererley Auslegung assoziiert die unteren »Wasser« mit der Prima materia der sichtbaren Welt und die oberen »Wasser« sowohl mit dem kristallenen Meer als auch mit der Ewigkeit der geistigen Primordialwelt. Im Unterschied zu Behem fehlt in der Viererley Auslegung ihre Personalisierung zur göttlichen Eva. Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 369 ff. 496 Der Topos des »himmlischen Fleisches« gilt als heterodoxe Denkfigur der protestantischen Dissidenz. Hans-Joachim Schoeps: Vom himmlischen Fleisch Christi. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung. Tübingen 1951; zu Weigel S. 56 ff. 497 Brief Behems, zit. n. Zeller: Naturmystik und spiritualistische Theologie bei Valentin Weigel, S. 120 f.

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differenzieren lässt. Anhänger wie Gegner der Spiritualisten thematisieren die Aushöhlung des Sakraments durch das Motiv der geistlichen Wasser, durch das Taufe als substanzielle Wiedergeburt zum neuen Menschen einerseits möglich sein soll, sich aber andererseits nicht mehr zeremoniell vermitteln lässt.498 Damit wird die Heilssuche individualisiert und von der Vermittlung einer institutionell verankerten (männlichen) Priesterschaft entkoppelt. Über die Integration des Emanationsmotivs und des Motivs der Jungfräulichkeit werden darüber hinaus die individualmenschliche und die kosmische Schöpfung und Erlösung miteinander verbunden: Die Qualität der Jungfräulichkeit, die die Figur der Sophia kosmologisch verkörpert, schrieb Meister Eckhart einem Seelenzustand zu: dem Zustand der Seele ohne Ich-Bindung, der dem prälapsarischen Sein entspricht.499 Der Begriff der Jungfräulichkeit bezieht sich in diesem Diskurs nicht auf einen körperlich biologischen Sachverhalt, sondern auf die prae-kreationale Reinheit der ersten Schöpfung, die in der Wiedergeburt restituiert werden soll. Diese Metaphorik überspannt sogar konfessionelle Grenzziehungen innerhalb der Diskurse frühneuzeitlicher Dissidenz. Der Katholik Paracelsus, der Behems Konzept einer himmlischen Jungfrau als Sophia/Eva beeinflusst haben dürfte, integriert das Konzept einer Partnerin Gottes und damit einer androgynen Qualität im Schöpfungsprozess über die Figur der Maria.500 Im Protestantismus schreiben Jakob Böhmes Ausführungen über die Jungfrau Sophia als »Leiblichkeit« des göttlichen Geistes einerseits und als prälapsarischer Gefährtin Adams andererseits diese Topoi traditionsbildend fort. Böhmes Deutung des Falls als Verlust der Androgynie

498 Die kirchenkritische Implikation reflektiert sich in Argumenten über die Taufe bei den Diskutanten beider Seiten. Spiritualisten oder auch Jakob Böhme betonen unter Berufung auf dieses Modell die Notwendigkeit einer Taufe mit »innerem« (da geistigem) Wasser zur Wiedergeburt aus »Wasser und Geist«. Sie beziehen sich auf eine vollständige Richtungsänderung aller Lebenskräfte, die auch mit der Begrifflichkeit der alchemischen »Tingierung« verbunden wird. So z. B. Paracelsus: Vom Licht der Natur und des Geistes. Hg. v. Kurt Goldammer. Stuttgart 1960, S. 596: »[…] also bistu geschickt zum tauffen / vnd anders nicht / du tauffest sonst nur mit Wasser der eussern Welt / aber der rechte Magus tauffet mit eussern vnd jnnern Wasser.« Colberg bemerkt die Rückstufung der kirchlichen Taufzeremonie und des materiellen Wassers auf den Status eines schlichten Zeichens und bestätigt damit trotz seiner Missbilligung die inhaltliche Korrespondenz zwischen geistigem (Tauf-)Wasser und göttlich-wässriger Qualität im naturphilosophischen Modell, wenn er schreibt, dass die Seele im Modell der ›Schwärmer‹ »mit dem geistlichen Himmlischen Wasser / mit dem spiritu universi, tingieret und abgewaschen wird«. Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 110. 499 Meister Eckhart: Deutsche Predigt 2. DW 1. In: Ders.: Werke I, S. 24/25. 500 Vgl. Paracelsus: Vom Licht der Natur und des Geistes, S. 187 f.: »Gott der Vater hat ein Weib gehabt vor allen Dingen. Wenn er kein Weib gehabt hätt, so hätt er den Sohn nicht gehabt. […] Da merk daß Maria ist ein Königin der Himmel, Ursach daß sie die erst bei Gott gewesen ist.«



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und Jungfräulichkeit sowie seine Konzeption der Wiedergeburt als Rückkehr in den Stand einer »männlichen Jungfrau«501 beschreiben in der Sprache des frühneuzeitlichen Diskurses ein Modell der Emanation und der Restitution. Noch im Jahr 1700 kann Arnolds Das Geheimnis der göttlichen Sophia das Ziel der menschlichen Existenz als Wiedergeburt des seelischen zu einem geistlichen Menschen bestimmen, die bezeichnenderweise durch die göttlich-mütterliche Hilfe der Jungfrau Sophia stattfindet.502 Alle diese Bilder verbindet trotz unterschiedlicher Namen der Topos einer primordialen Natur, deren ursprüngliche Reinheit als Anfang und Ziel der Existenz des Kosmos und der Seele gilt. Schöpfungsmythen sagen als Geschichten wenig über tatsächliche kosmische Geschehen aus, jedoch viel über diejenigen, die sie erzählen. So lassen sich die narratologischen Erweiterungen des mosaischen Schöpfungsberichts als Reflexionen eines Problemüberhangs deuten, den der universitäre Aristotelismus nicht lösen konnte: Die Integration der Qualitäten der Geistleiblichkeit und der Androgynie ins Schöpfungsgeschehen mildert die ontologische Trennung zwischen Gott als Vater und seiner Schöpfung. Zwar denkt sie Gott in seinem Vater-Aspekt nach wie vor als ewiges Eins, das anfangslos und transzendent in sich selbst ruht, doch wird die Distanz zwischen dem Absoluten und dem Geschaffenen, dem Einen und den Vielen über eine weltzugewandte, ewig schöpferische Entität überbrückt. Die Vorstellung einer göttlichen Matrix oder materia503 ist im Gegensatz zum Materiemodell des Aristotelismus nicht als toter Stoff konzipiert, sondern als geistiger Seminalgrund aller Dinge, aus dem die geschaffene Welt kommt und in den sie zurückkehren wird.504 Schöpfung ist damit nicht als einmaliger performativer Sprechakt gezeichnet, der Schöpfer und Geschöpf auf Distanz hält, sondern sie ist als emanative Creatio continua entworfen, die aus der Matrix der reinen Potenzialität zunächst die geistigen und anschließend die materiellen Körper aller Dinge hervorgehen lässt.505

501 Böhme: Von der Menschwerdung Jesu Christi, Teil 1, 9:25. 502 Gottfried Arnold: Das Geheimnis der göttlichen Sophia. Leipzig 1700 (Faksimileausg. Stuttgart-Bad Cannstadt 1963), S. 101; weiterführend Benz: Gottfried Arnolds ›Geheimnis der göttlichen Sophia‹ und seine Stellung in der christlichen Sophienlehre, S. 53 ff. 503 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 363. 504 Mit langen Paracelsus-Zitaten werden in der vierten Auslegung – nach der Logik des Textes der spirituellsten Auslegung – die Ungeschaffenheit, Unzerstörbarkeit und Ewigkeit jener oberen Wasser betont, die den physischen Augen unsichtbar sind. Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 70 f. Zu den Paracelsus-Bezügen siehe Pfefferl: Fn. 1–3. Weiterführend zum Seminalgrund Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie, S. 273. 505 Weigel: Viererely Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 371; Off 4,6; Koyré: Mystiques, Spirituels, Alchimistes, S. 103 f.

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Dieses Modell löst nach Paracelsus und Weigel das logische Problem, das die Metapher des Handwerkers aufgeworfen hatte, die Gott aus fremdem Stoff Körper bilden ließ, in die er nachträglich seinen Geist blasen sollte. Schöpfung ist ebenfalls nicht mehr als ausschließlich männlicher, intellektueller Akt und Sprachspiel gezeichnet. Die vorsichtige Reintegration der im jüdisch-christlichen Diskurs als heidnisch markierten Metaphorik der Weiblichkeit und Mütterlichkeit zur Beschreibung lebensspendender Kraft naturalisiert den biblischen Schöpfungsbericht trotz ihrer spekulativen Dichte und rückt den Mythos näher an den Raum lebensweltlicher Erfahrung. Die Personifikation der Primordialnatur zur göttlichen Eva erscheint dabei – im historischen Weitwinkelobjektiv – als Rückkehr des Verdrängten, das bereits mit der Abfassung des mosaischen Schöpfungsberichts zum Anderen des Schöpfungswissens wurde.506

6.4. Außerbiblische Kontexte: Natura und Weltseele Trotz der methodisch kreativ gehandhabten Biblizität der Viererley Auslegung von der Schöpfung steht der Text in einem weiteren Kontext des späten 16. Jahrhunderts. Die spekulative Dichte, die sich aus einer Engführung der Topoi der Androgynie und der Schöpfung als Emanation ergibt, lässt sich mit zeitgenössischen

506 Wie die kulturwissenschaftliche Forschung des 20. Jahrhunderts eruierte, ist das primordiale Chaos der Natura humida über den hebräischen Begriff des »tohu wa bohu« etymologisch und ideengeschichtlich mit dem Begriff der »Tiefe« (hebr. tehom) und darüber hinaus mit dem Namen einer Urgöttin Tiamat aus einer mesopotamischen Schöpfungslegende verwandt. Diese Göttin wurde von einem Gott bekämpft und erschlagen, der anschließend aus ihrem Körper die Welt formte. Kulturhistorisch steht der mosaische Schöpfungbericht im Kontext von verschiedenen Mythenkreisen, die die Schöpfung sowohl noch vorpatriarchalisch als kosmischen Geburtsvorgang als auch – wie er selbst – aus der Perspektive einer zunehmend patriarchal organisierten Gesellschaft erklärten, die sie entsprechend legitimieren wollten. Die Abgrenzungsenergien, die die Assoziation von Schöpferkraft mit der Natur über Jahrhunderte auszulösen vermochten, werden unter Berücksichtigung ihres sozialhistorischen Kontextes plausibel. Die Rückkehr des Topos einer göttlichen Eva als »Mutter aller Dinge« im Weigelianismus unterläuft das Machtverhältnis, das der hebräische Schöpfungsmythos mit der Rückstufung dieser Figur zur geschaffenen Menschenfrau, die darüber hinaus noch die Sünde in die Welt brachte, etabliert hatte. Auch für die christliche Tradition ist es identitätsstiftend, dass die Tiefe der Urflut, die motivisch an das Verdrängte erinnert, ex nihilo geschaffen wurde. John A. Philipps: Eva. Von der Göttin zur Dämonin. Stuttgart 1987 (Eve. History of an Idea. New York 1985), S. 13 ff.



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Personifikationen der Natur engführen, die als ›hermetisch‹, zumindest aber als nicht orthodox gelten konnten.507 Der hermetische Schöpfungsmythos des Pimander, der in der vierten Interpretation der Viererley Auslegung belegend für die Folge von »Licht«, »Finsternis«, »feuchter Natur«, über der ein »Rauch« liegt, zitiert wird,508 kennt das Motiv des lichten Logos, der in die weibliche Natur eingeht.509 Im Gegensatz zum christlichen Schöpfungsmythos gebiert Gott nicht nur die Schöpfung, sondern auch den Menschen aus sich selbst.510 Dabei ist Gott selbst wie auch sein Kind, der erste Mensch, explizit androgyn gedacht. Im griechischen Text wird die Androgynität Gottes, die rekurrierend benannt ist, noch durch das grammatische Geschlecht der göttlichen Aspekte Licht (männlich) und Leben (weiblich), Logos (männlich) und Wille (weiblich) hervorgehoben.511 Die Natur, die nicht nur den Logos, sondern auch den ersten Menschen lächelnd empfängt, trägt ihrer personalen Beschreibung nach noch Züge einer Göttin.512 Auch der hermetische Referenztext der paracelsistisch-alchemischen Tradition, die Tabula Smaragdina, kennt Schöpfung als väterlich-mütterliches Zusammenspiel, personifiziert in den Kräften von Sonne und Mond.513 Im Gegensatz zur mosaischen Deutung des Sündenfalls als Gesetzesverstoß schildert der Pimander die Entfernung des Menschen aus der Primordialwelt als kosmisch-erotische Liebesgeschichte zwischen dem primordialen Adam und der Natur, die sich bezeichnenderweise mit dem Segen des Vaters entfaltet und sieben göttliche, ebenfalls androgyne Kinder hervorbringt. Auch

507 Quellenreich zur frühneuzeitlichen Metaphorik der Natur als weiblich und zur Kritik an dieser Vorstellung Carolyn Merchant: Der Tod der Natur: Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft. München 1987 (San Francisco 1980). 508 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 228 u. 377. 509 CH I, 4 (CHD I, S. 11); vgl. Weish 24,3; CH I, 8, 9 (CHD I, S. 13 f.). 510 CH I, 4, 12 (CHD I, S. 11, 14). 511 Jonathan Peste: The Poimandres Group in Corpus Hermeticum: Myth, Mysticism and Gnosis in late Antiquity. Göteborg 2002, S. 45. 512 CH I, 14 (CHD I; S. 14 f.); Peste: The Poimandres Group, S. 55. – Im hermetischen Text Kore Kosmu, der in den Fragmenten des Stobaeus überliefert wurde, erscheint die Natur sogar explizit als göttlich Weibliches (Peste: The Poimandres Group, S. 57). Man könnte ähnlich wie bei Platon vermuten, dass an diesen Stellen ältere Volksmythen rezipiert worden sind. Zu Platon am Beispiel der – analogen – Bildlichkeit von Weltseele und Lebendigkeit der Welt in seinem Dialog Timaios Marian Kurdzialek: Der Mensch als Abbild des Kosmos. In: Der Begriff der ›repraesentatio‹ im Mittelalter: Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild. Hg. v. Albert Zimmermann. Berlin/ New York 1971, S. 35–75, hier S. 38. 513 »Die Sonne ist sein Vatter  / vnd der Mond ist sein Mutter.« Tabula Smaragdina. In: Von der Hermetischenn Philosophia  […], S. 41. Zu Corpus Hermeticum und Tabula Smaragdina als den beiden Referenztexten für zwei Traditionsstränge vgl. Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 89.

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nach der Auflösung der Androgynie in der irdischen Existenz verdammt Gott weder die Menschen noch verflucht er die Erde. Im Gegensatz zum ontologischen Bruch des christlichen Sinnsystems, symbolisiert in den mosaischen Bildern des zornigen Gottes und des verschlossenen Paradieses, beschreibt der hermetische Mythos einen graduellen Prozess der Schöpfung als göttlich begleitete Materialisierung und Individuierung, in dem die personifizierte Natur eine aktive Rolle spielt. Wenn die Viererley Auslegung die Verbindung von Jahwe und Sophia mit einem Vergleich zu Jupiter und der Allmutter Juno erklärt, die als Gattin und Schwester gleich ewig ist wie er, dann integriert sie sogar explizit die Personifikation der Natur ins christliche Schöpfungsmodell. In Sir 24,9 und in Spr 8,24 bezeichnet sich die göttliche Weisheit selbst als Erstgeborene. Damit eröffnet sich die philologische Möglichkeit, die jüdisch-christliche Sophien-Figur mit einem der berühmtesten antiken Portraits der Allmutter Natur zu assoziieren, der Isiserscheinung in Apuleius’ Roman Der goldene Esel. Der Roman wurde im 16. Jahrhundert mehrfach aufgelegt.514 Nicht nur bezeichnet sich die Figur der Allmutter auch in Apuleius’ Roman als Erstgeborene, sie artikuliert ebenfalls ein gelassenes Bewusstsein um die verschiedenen kulturellen Ausprägungen und Namen ein und derselben göttlichen Entität. Ich, Allmutter Natur, Beherrscherin der Elemente, erstgeborenes Kind der Zeit, Höchste der Gottheiten, Königin der Geister, Erste der Himmlischen; […]. Die alleinige Gottheit, welche unter so mancherlei Gestalt, so verschiedenen Bräuchen und vielerlei Namen der ganze Erdkreis ehrt: mich nennen die Erstgeborenen aller Menschen, die Phrygier, pessinuntische Göttermutter; ich heiße den Athenern […] kekropische Minerva, den eiländischen Kypriern paphische Venus […] den dreizüngigen Siziliern stygische Proserpina, den Eleusiniern Altgöttin Ceres. Andere nennen mich Juno, andere Bellona, andere Hekate, Rhammusia andere. Sie aber, welche die aufgehende Sonne mit ihren ersten Strahlen beleuchtet, die […] Besitzer der ältesten Weisheit, die Ägypter, mit den angemessensten eigensten Gebräuchen 515 mich verehrend, geben meinen wahren Namen mir: Königin Isis.

Verschiedene Namen oder kulturelle Narrative sind aus der Perspektive des antiken Textes kein Hindernis dafür, dieselbe göttliche Qualität in unterschied-

514 Der Roman des Apuleius erfuhr im deutschsprachigen 16. Jahrhundert eine rege Wirkungsgeschiche; Birgit Plank: Johann Siedlers Übersetzung des ›Goldenen Esels‹ und die frühe deutschsprachige ›Metamorphosen‹ Rezeption. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Apuleius’ Roman. Tübingen 2004; zur europäischen Wirkungsgeschichte Franziska Küenzlen: Verwandlungen eines Esels. Apuleius’ ›Metamorphoses‹ im frühen 16.  Jahrhundert. Heidelberg 2005; Ralph Häfner: Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736). Tübingen 2003, S. 8 ff. 515 Lucius Apuleius: Der goldene Esel. Frankfurt a.M. 1992, S. 303.



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lichsten Kontexten zu identifizieren. Die Assoziation der Sophia mit der Allmutter Juno / Isis erwidert also lediglich diese signifikant tolerante Haltung mit demselben Bewusstsein von christlicher Seite aus, auch wenn sie erkennen lässt, dass diese Haltung im Diskurs als ›heidnisch‹ diskursiviert wird. Indem nämlich die im theologischen Diskurs als passive »Gehilfin« Gottes gezeichnete SophienFigur mit der selbstbewussten Figur der höchst schöpferischen und eigenständig Erlösung spendenden Figur der Natura assoziiert wird, gewinnt das Motiv einer weiblichen und naturhaften Qualität des Göttlichen ein eigenes Profil, das die dogmatischen Grenzen sophiologischer Passivität und Naturferne überschreitet. Die Assoziation der Sophia mit der Allmutter Natur verortet die Viererely Auslegung auch im Kontext neuplatonischen oder paracelsistischen Interesses an der Natur, das sich in den Begriffen der Weltseele und des Lebens kristallisiert. Paracelsus’ Misstrauen gegenüber akademischem Wissen und sein Aufruf zum Lernen aus dem Buch der Natur fand in der alchemo-paracelsistischen Bewegung ein breites Echo, deren Interesse dem Studium der Lebenskräfte galt. »Dann was ist auch das leben anders dann […] ein geystlich ding«,516 fragt der paracelsische Text De natura rerum (1586) und definiert das Leben als geistige Trägersubstanz aller Körper, deren Funktion exakt dem entspricht, was die vierte Auslegung der Viererley Auslegung als Aufgabe der himmlischen Wasser über der Feste beschreibt, nämlich als geistige Matrix und »Seele« aller Dinge diese hervorzubringen und zu beleben.517 Das Lebendige an sich ist dabei nicht identisch mit seiner materiellen Manifestation gedacht, sondern entspricht einer jenseits von dieser liegenden geistigen Wirklichkeit. Dieser Topos ist sowohl mit der stoizistischen Vorstellung von geistigen Samen als auch mit der platonischen Idee der Weltseele vereinbar, die in frühneuzeitlicher Neuplatonismusrezeption als junge Frau darstellt wurde.518 Die Vorstellungskreise der platonischen Weltseele oder eines immateriellen Lebensgeistes sind unauflöslich mit den Topoi der Allbelebtheit und einer animistischen Beseeltheit aller Dinge verbunden, von der auch die Erde selbst durchdrungen ist. In diesen Motivfeldern werden antike wie hermetische Vorstel-

516 De natura rerum, ix Bücher, Ph. Theophrasti von Hohenheim / genant Paracelsi / Jesunder aus dem Original Corrigiert vnd mit zweyen büchern gemehret / so vorhin nie getruckt. Durch Lucam Bathodium Fürstlichen Pfalzgräffischen Veldenzischen Medicum zu Pfalzburg. Gedruckt r zu Straßburg / bey Bernhart Jobin Anno 1586, Bl. 21 . Der paracelsische Text De natura rerum erscheint in einem Druck von 1586 gemeinsam mit Von der hermetischenn Philosophia und bezeugt die Überschneidungen zwischen der alchemo-paracelsischen und hermetischen Tradition. v 517 Paracelsus: De natura rerum, Bl. 21 ; Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 371. 518 Merchant: Der Tod der Natur, S. 36.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

lungen der Erde als Allmutter, als Amme oder als Göttin ineinander geblendet und in neuem Kontext fruchtbar gemacht.519 So spricht Paracelsus von der Erde als Mutter des natürlichen Menschen, die durch den immateriellen Lebensgeist/samen befruchtet wird und nach dem Tod, der Lösung des Lebensgeists aus dem Körper, diesen wieder in ihren mütterlichen Leib aufnimmt.520 Ein vergleichbares dyadisches Motivfeld von den immateriellen Samen der Kreaturen und der Erdmutter, die ihre Kinder in Liebe gebiert und umarmt, ist sogar in Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum gelangt.521 Die Personifikation der Natur mit den antiken Namen Isis, Ceres, Diana und Proserpina ist auch ein Topos in Humanismus und Renaissanceplatonismus. Giordano Bruno benennt die Erde als Lebewesen mit ebendiesen Namen,522 ebenso zeichnet Athanasius Kirchers’ Oedipus Aegypticus (1625) Natura als Mutter-Göttin Isis, deren Attribute Wasser, Ähren und Mond mit der Schilderung der Isis aus Apuleius’ Der goldene Esel übereinstimmen.523 Diese literarischen Personifikationen reflektieren letztlich auch außerliterarische Vorstellungskreise von der Lebenskraft in der Natur. Leonardo da Vinci kennt die Vorstellung der Welt als Organismus, die die Gewässer der Erde in Analogie zum Adernsystem des menschlichen Körpers setzt.524 Weit verbreitet nicht nur bei Alchemisten ist auch die Vorstellung vom pflanzenähnlichen ›Wachsen‹ der Metalle im mütterlichen ›Schoß‹ der Erde, die mit dem Aufkommen des Bergbaus zu heftigem Streit über normative Handlungshemmungen gegenüber der ›Mutter‹ Erde führte.525 Dieser hat sich z. B. in einer allegorischen Erzählung über einen himmlischen Prozess zwischen einem Bergmann und der Erde niedergeschlagen, die diesen des Muttermords anklagt, und er wird 1530 von Agrippas De Incertitudine et Vanitate Scientiarum et Artium aufgegriffen.526 Letztlich werden in diesen Vorstellungen alte, vorchristliche Verehrungsformen der

519 Vgl. Lukrez: De rerum natura/Welt aus Atomen. Hg. v. Karl Büchner. Stuttgart 1973, S. 371 u. 409; Platon: Timaios, 30a,c (Platon, Sämtliche Werke. Bd. 4. Hg. v. Ursula Wolf. Hamburg 1994, S. 29), Tabula Smaragdina. In: Von der Hermetischenn Philosophia, S. 41; Mechthild Modersohn: Natura als Göttin im Mittelalter. Ikonographische Studien zu Darstellungen der personifizierten Natur. Berlin 1997. r v  520 Paracelsus: De natura rerum, Bl. 22 u. 24 f. 521 Geyer: Verborgene Weisheit 2, S. 38, 43 ff. u. 50. 522 Giordano Bruno: Über das Unendliche, das Universum und die Welten. Hg. v. Christiane Schulz. Stuttgart 1994, S. 110. 523 Abgebildet in Merchant: Der Tod der Natur, S. 27. 524 Ebd., S. 36, ausführlich S. 17–53. 525 Ebd., S. 41 ff. 526 Niavis Paulus: [Dr. Paul Schneevogel.] Judicium Jovis oder Das Gericht der Götter über den Bergbau. Berlin 1953. Schneevogel war von 1490 bis 1495 Professor in Leipzig; zit. n. Merchant: Der Tod der Natur, S. 44, 283.



Naturphilosophie und weltschöpferischer Synkretismus

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göttlichen Lebenskraft in der Natur rezipiert und transformiert, die sich ex negativo aus Volksbräuchen oder aus dem Gespür aufmerksamer Kirchenmänner für »Heidnisches« erschließen. Anhand klerikaler Verbote lässt sich bis ins 16. Jahrhundert hinein die Praxis verfolgen, über das Umziehen eines Pfluges oder eines Schiffes zu Karneval um ein fruchtbares Jahr zu bitten.527 Diese Bräuche haben in einer weitgehend vom Ackerbau geprägten, auf die Natur angewiesenen Kultur ihren sinngebenden Ort. Diese Praxis wurde allerdings bereits von Tacitus als Isiskult in deutschen Gebieten beschrieben und wird noch in Sebastian Francks Weltbuch erwähnt, das auch zu Weigels Lektüren gehörte.528 Diese Vorstellungskreise sind im Diskurs Ende des 16. Jahrhunderts präsent, doch werden sie dann problematisch, zur ›Häresie‹ einerseits sowie zum ›Geheimnis‹ andererseits, wenn sie nicht mehr im diskursmächtigen kulturellen Sinnsystem eingeholt werden können. Dieser Differenzierungsprozess wird exemplarisch in der Vorrede der Viererley Auslegung von der Schöpfung reflektiert, die einerseits Wissensverbote thematisiert und semantische Leerstellen verspottet, andererseits aber unter hermeneutischem Aufwand konkurrierende Wissenssysteme so miteinander zu harmonisieren sucht, dass sie zusehends komplexer werden. Einer der komplexesten ›hermetischen‹ Texte der frühen Neuzeit, Jakob Böhmes Mysterium Magnum, greift viele Motive der Viererley Auslegung auf und ergänzt sie um weitere Topoi wie die göttlichen Prinzipien und Qualitäten, nur verzichtet er auf die hierarchische Strukturierung des Wissens zugunsten einer einzigen, sprachlich und philosophisch hochkomplexen Textur. Diese Genesis-Auslegungen lassen sich damit auch als philologisch kenntnisreiche und philosophisch innovative Ajustierung einer identitätsstiftenden (großen) Erzählung an zeitgenössische Fragen und Problemkreise interpretieren, die nicht-kanonisches, z. B. paracelsistisches, Wissen integrieren. Dabei kommt der textuellen Strategie der verschiedenen Erkenntnisebenen eine Schlüsselstellung zu, da sie einerseits nach der Poetik des Textes die Integration neuen Wissens in den Grundmythos erlaubt und sich andererseits gegen Kritik immunisiert, da sie über diese Strategie signalisiert, dass jene Topoi Wissen von tieferen Stufen der Erkenntnis darstellen. Grundsätzlich dient die Genesis-Auslegung dem Ziel, den Lesern Orientierung in der Welt zu bieten und die lebenspraktische Frage nach dem ›wahren Vaterland‹ zu beantworten, die zunächst nicht als nur wenigen zugängliches

527 Zingsem: Der Himmel ist mein, S. 451 ff. Überlebt hat der Brauch in der Vorstellung des Narrenschiffs. 528 Ebd., S. 453; Jakob Grimm: Deutsche Mythologie, 3 Bde. Wiesbaden 1992, hier Bd. III, S. 86. Weigel zitiert Francks Weltbuch in: Weigel: Vom Ort der Welt. In: AW, S. 277.

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 Valentin Weigel (1533–1588)

›Geheimnis‹ formuliert ist, jedoch zum zeithistorischen Stand des dogmatischen und naturphilophischen Wissens Stellung nimmt. Ein genuines Motiv für ihr Unterfangen liegt in der biblizistischen, traditionsgeschichtlichen und naturphilosophischen Begründung eines Menschenbildes, das sich vom Menschenbild der Konkordienformel signifikant unterscheidet. Gegen das Dogma der vollständigen Korruption der menschlichen Natur endet das große Unterfangen der Viererley Auslegung von der Schöpfung mit der Erinnerung an das paracelsische Bild vom Menschen als Mikrokosmos und quintum esse, nach dem der Körper des Menschen zwar sterblich, die Seele jedoch unsterblich ist und der Geist aus einer ewigen Heimat stammt: »Denn die Seele stirbet nicht, ist himlisch Bluth vnd Fleisch, hat in Jhr ein Natürlich angeboren Liecht. Vnd den geist auß gott, der über dem Waßer geschwebet hat.«529 Obwohl die theologischen Kritiker diese Integrationsleistung als Überfremdung und Hermetisierung verworfen haben, legt der Text selbst Wert auf seine Positionierung innerhalb eines Sinnsystems, für das sowohl christliche als auch vorchristliche Autoren zitiert werden. Wenn der Text in der vierten Auslegung das Corpus Hermeticum neben der Theologia deutsch nennt, um aus beiden Texten in den Zahlen eins und zwei ein universales, den mythologischen und kulturellen Narrativen vorgängliches Symbol für die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf abzuleiten,530 dann stellt er sich ausdrücklich auch in die Tradition des Christentums. Allerdings unterscheidet sich sein christliches Selbstverständnis von den identitätsstiftenden Glaubenssätzen, die in den kirchlichen Bekenntnisschriften aller Konfessionen niedergelegt sind. Es zeigt Ansätze für eine Überblendung der traditionellen Konzepte von Weltschöpfung, Auferstehung und jüngstem Gericht mit Vorstellungen von weltschöpferischer Verselbstigung und welttranszendierender Entselbstigung. Dabei stellt die Wiedergeburt als Moment der Sohn-Werdung des einzelnen das zentrale soteriologische Moment dar, das die Seele nach ihrem Gang durch die Natur in die Einheit mit Gott zurückbringt. Dort wird sie wieder mit sich selbst und ihrem Grund eins, da sie, wie die vierte Auslegung unter Hinweisen auf Meister Eckhart und die Theologia deutsch formuliert, dort ewig zwischen Zeit und Ewigkeit im Aevum weilt, oder, nun wieder nach biblisch-mythologischer Bildlichkeit, bei den »Wassern über der Feste«, im vorschöpferischen, vorzeitlichen, nichtlokalen und jungfräulichen ›Raum‹ der Weisheit.531

529 Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 387. 530 Ebd., S. 338. 531 Ebd., S. 340 f.: »Vnsere Seele kan nicht stehen in der Ewigkeit auch die Engel nicht, so kan sie auch nicht stehen in der Zeit, sondern sie gehöret zu den Wassern Vber der Festen do das aevum ist, do wohl ein anfang ist, aber kein Ende.«

V. Hermetik und Theosophie: Jakob Böhme (1575–1624) 1. Zur diskursiven Verfugung von Hermetik und Theosophie in der Rezeption Die Frage nach den Gründen für eine ungebrochene Faszination für das Corpus Hermeticum auch nach der Spätdatierung der hermetischen Texte durch Isaac Casaubon im Jahr 1614 ist auf das engste mit der Rezeptionsgeschichte der Theosophie Jakob Böhmes (1575–1624) verbunden, die um 1700 im radikalen Pietismus populär war und über pietistische Autoren bis in die Romantik, in den deutschen Idealismus und weiter bis zu Schopenhauer vermittelt wurde.1 Die philologische Entzauberung des Anciennitätsmythos durch die Spätdatierung des Corpus Hermeticum führte in humanistischen Kreisen zwar zu einer freieren, literarischen Adaptation hermetischer Topoi oder zu einem langsamen »Ende des Hermetismus«.2 In religiöser, mystisch geprägter Literatur jedoch lässt sich eine kaum gebrochene Kontinuität des Interesses für die Figur des Hermes und für spekulative Fortschreibungen des Schöpfungswissens beobachten. Diese Kontinuität ist mit einem Fokus auf die ausschließliche Rezeption des Corpus Hermeticum schwer zu erfassen. Sie wird jedoch in ihrer Virulenz greifbar, wenn die strukturelle und diskursive Verflechtung des Hermetismus mit der Theosophie Jakob Böhmes und zeitgenössischen Interessenlagen berücksichtigt wird.3 Zwar sind Böhmes Texte nicht in sichtbarer Auseinandersetzung mit den Schriften des Corpus Hermeticum entstanden, doch werden seine Schriften, die nach seinem

1 Vgl. im Überblick Art. »Spiritualismus und Mystik« (§ 1. Hermetisch-platonische Naturphilosophie, § 2. Jakob Böhme und seine Anhänger), in: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation Nord und Ostmitteleuropa, Hg. v. Helmut Holzhey et al. Basel 2001, S. 3–102. 2 Siehe die Aufsätze im Sammelband Alt/Wels (Hg.): Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit sowie die Aufsätze im Sammelband Mulsow: Das Ende des Hermetismus. Übersichtlich mit Literatur zu Casaubon Wels: ›Verborgene Theologie‹, S. 250 ff. 3 Zu »Hermes’ extended Renaissance family« zählt Böhme bereits bei Ingrid Merkel: Aurora; or, The Rising Sun of Allegory: Hermetic Imagery in the Work of Jakob Böhme. In: Hermeticism and the Renaissance: Intellectual History and the Occult in Early Modern Europe. Hg. v. Ingrid Merkel and Allen G. Debus. Washington (DC)/London 1988, S. 302–310. Detailliert zum historischen Kommunikationsgefüge in Görlitz, Kontakten Böhmes zu Paracelsisten, Schwenckfeldianern und Spiritualisten Ernst Heinz Lemper: Voraussetzungen zur Beurteilung des Erfahrungsund Schaffensumfelds Jakob Böhmes. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jakob Böhmes und seiner Rezeption. Wiesbaden 1994, S. 41–69.

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 Jakob Böhme (1575–1624)

eigenen Selbstverständnis wie nach dem Verständnis seiner Anhänger auf einer Reihe konkreter Erlebnisse der Schau beruhen,4 gemeinsam mit den Texten des Hermes gelesen. Die Korrespondenzen zwischen beiden Textkorpora wirkten offensichtlich auf ihre Rezipienten unter Spiritualisten, Philadelphiern und radikalen Pietisten noch für viele Jahrzehnte überzeugender als die philologische Dekonstruktion des hermetischen Anciennitätsmythos. Die hiesigen Ausführungen zu Böhme zielen nicht auf eine erschöpfende Behandlung von Böhmes Theosophie, sondern vielmehr auf eine Skizze der diskursiven und topologischen Integration seiner Texte in den im weiteren Sinne hermetischen Diskurs der frühen Neuzeit.5 Ohne eine Berücksichtigung Böhmes bleibt nämlich das Interesse für die hermetischen Texte im Kontext der Frühaufklärung und des Pietismus unvollständig. Böhmes Schriften boten nicht nur über das Motiv der Schau als Quelle seiner Lehre Anknüpfungspunkte für eine gemeinsame Rezeption mit den Texten des Corpus Hermeticum, die spätestens mit Francks Übersetzung ebenfalls als Zeugnisse der Schau eines vorchristlichen Mystikers gelesen werden konnten. Sie lassen sich auch über die Topoi der Seelenlehre, der Soteriologie sowie über die Arbeit am Schöpfungsmythos der Genesis, wie sie bereits bei Valentin Weigel eingesetzt hatte, in die Tradition integrieren. Die enge diskursive Verflechtung von Hermetik und Theosophie, die sich in gelassener Geringschätzung der Spätdatierung Casaubons entwickelte, zeigt sich zunächst in der Druckgeschichte der entsprechenden Quellenkorpora: Im Jahr 1643 erschien in Amsterdam eine holländische Übersetzung des Corpus Hermeticum sowie die erste, nahezu vollständige Ausgabe der Werke Jakob Böhmes, die der Geschäftsmann und Privatgelehrte Abraham Willemszoon van Beyerland (1587–1648) herausgegeben hatte.6 Beyerland hatte ebenfalls über Jahre hinweg

4 Abraham von Frankenberg: De vita et scriptis, oder Historischer Bericht Von dem Leben und Schrifften Jacob Böhmens. In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Hg. v. Will-Erich Peuckert. Bd. 10, S. 5–31, hier S. 10 f.; Sibylle Rusterholz: Jakob Böhmes spirituelle Erfahrung als ›Grund‹ seiner schriftstellerischen Existenz. In: Die Morgenröte bricht an. Jakob Böhme  – naturnaher Mystiker und Theosoph. Hg. v. der evangelischen Akademie Baden. Karlsruhe 1999, S. 100–120. 5 Etwa nach Wilhelm Kühlmann: Der ›Hermetismus‹ als literarische Formation. Grundzüge seiner Rezeption in Deutschland. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 145–161; Kemper: Deutsche Lyrik 4/1, S. 56 ff., u. Bd. 3, S. 136 ff. Zu einer historisch subtilen Kontextualisierung Böhmes und seiner Schriften in ihrer Zeit Andrew Weeks: Boehme. An Intellectual Biography of the SeventeenthCentury Philosopher and Mystic. New York 1991 sowie Alexandre Koyré: La philosophie de Jacob Boehme. New York 1968 (Paris 1929). 6 [Abraham Willemszoon van Beyerland:] Sesthien Boecken van den Voortreffelijcken Ouden Philosooph, Hermes Trismegistus […]. Amsterdam 1643; dazu Neugebauer-Wölk: ›Denn dis ist müglich, lieber Sohn!‹, S. 134; differenziert und ausführlich zur Editions- und Druckgeschichte von Böhmes Schriften, dazu zu seiner Wirkungsgeschichte v. a. in Deutschland und den Nieder-



Zur diskursiven Verfugung von Hermetik und Theosophies

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alle Werke und Manuskripte Böhmes aufgekauft und hatte im Jahr 1641 sogar Böhmes 1613 beschlagnahmtes Erstlingswerk Morgenröte im Aufgang erwerben können. Er ließ es übersetzen und drucken, sodass damit im Jahr 1643 ebenfalls eine fast vollständige Ausgabe der Werke Böhmes auf Holländisch vorlag.7 Diese beiden Werkausgaben stehen nach Beyerland in einem direkten und vielsagenden Zusammenhang, wobei die niederdeutsche Übersetzung des Corpus Hermeticum einen ganz bestimmten Zweck erfüllen sollte: Es ging Beyerland darum, mit dem Corpus Hermeticum die vermeintlich uralten und heiligen Quellen des böhmeschen Werks zugänglich zu machen, wie seine ausführlichen Kommentare am Rand des Textes beweisen – knapp 30 Jahre nach der Entzauberung des Anciennitätsmythos im Jahr 1614!8 Auch die weiteren Editionsgeschichten der beiden Textkorpora belegen ein ungebrochenes Interesse, thematische Nähe und wenig Berücksichtigung des Namens Casaubon. Nach dem Erscheinen der ersten holländischen Böhme-Ausgabe durch Beyerland im Jahr 1643 erschien im Jahr 1662 eine vollständige englische Werkausgabe und 1682 die deutsche Gesamtausgabe der Werke Böhmes, herausgegeben von Johann Georg Gichtel (1638–1710), wiederum im Amsterdam. Friedrich Brecklings (1629–1711) Verteidigung Jakob Böhmes im Anticalovius (1688) reflektiert dessen diskursive Nähe zu Hermes, indem er nicht nur davor warnt, Böhmes Schriften als Grundlage einer neuen Sekte zu missbrauchen, sondern sie auch in den Kontext anderer ›Zeugen der Wahrheit‹ und ›Theodidacti‹ sowie an die Seite des Hermes Trismegistos stellt.9 Die holländische Ausgabe des Corpus Hermeticum aus dem Jahr 1643 erfuhr im Jahr 1652 eine unveränderte Neuauflage und bildete die philologische Grund-

landen die Aufsätze in Theodor Harmsen (Hg.): Jakob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Amsterdam 2007 (Pimander. Texts and Studies published by the Bibliotheca Philosophica Hermetica 16). 7 Sibylle Rusterholz: Art. »Jakob Böhme und seine Anhänger«. In: Die Philosophie des 17. Jahr­ hunderts, S. 61–102, hier S. 83; Joost R. Ritman: Die Vision des Jakob Böhme. In: Harmsen (Hg.): Jakob Böhmes Weg in die Welt, S. 21–38. 8 Siehe mit weiterer Literatur Neugebauer-Wölk: ›Denn dis ist müglich, lieber Sohn!‹, S. 134, sowie Bruckner: J.A.W. van Beyerland’s Hermes Translation. In: The Modern Language Review 63 (1968), S. 10–13. 9 Friedrich Breckling: Anti-calovius sive Calovius cum Asseclis suis prostratus, Jacob Bohmius r cum aliis testibus veritatis defensus. O. O. 1688, Bl. d5 : »[Medici und Chymisten] finden mehr in J. Böhmen Schrifften, als ihnen bisher durch alle Chymisten und Rosen-Creutzer Bücher je geoffenbahret ist, nach dem Hermete Trismegisto, und wissen sich dessen wohl zu gebrauchen, ja viel besser als die Carthesiani sich ihres Carthesii spitzfündige Gedanken und Schrifften mißbrauchen.« Zit. n. Carlos Gilly: Zur Geschichte und Überlieferung der Handschriften Jacob Böhmes. In: Harmsen (Hg.): Jacob Böhmes Weg in die Welt, S. 39–98, hier S. 46.

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 Jakob Böhme (1575–1624)

lage für die hochdeutsche Übersetzung des Corpus Hermeticum im Jahr 1706, die unter dem Pseudonym Alethophilus – Liebhaber der Weisheit – in Hamburg erschien.10 Die Hamburger Übersetzung enthält nicht nur die Tabula Smaragdina sowie eine ungebrochene mythologische Genealogie des Wissens, sie stellt nun auch Hermes Trismegistos als einen Gottesgelehrten dar, der Gott aus der Natur erkennt. So lautet bereits ihr Titel Hermetis Trismegisti Erkäntnüß der Natur Und Des darin sich offenbahrenden Grossen Gottes.11 Damit transformiert sie nicht nur das Hermes-Bild in das eines Philosophen der Natur und des Lebendigen, sie stellt die hermetischen Texte auch an die Seite einer frühaufklärerischen Entdeckung eines Eigenwerts der Natur, der zunehmend an die Seite oder sogar an die Stelle von Schrift und Tradition tritt. Diese herausgehobene Rolle, die die Hamburger Ausgabe der Natur als primärer Quelle der Gotteserkenntnis zuspricht, relativiert die Tragweite der Datierungsfrage des Corpus Hermeticum noch weiter. Auch die Zeugnisse der Gegner registrieren diese diskursiven Verschränkungen aufmerksam. Theologisch einschlägig und mit wachem Auge für die zeitgenössischen Lektürevorlieben plädiert Colbergs Platonisch-hermetisches Christen­ thum für die Integration Böhmes in den hermetisch-platonischen Diskurs, und zwar »weil er in dem Grunde mit ihnen einig  / und eben dieselbe Schwärmerey treibet.«12 Der Hamburger Orientalist und Theologe Abraham Hinckelmann (1652–1695) leitet in der Detectio Fundamenti Böhmiani (1693), die im Kontext der Kontroverse um den Hamburger Revers entstand, die zeitgenössischen Heterodoxien aus chaldäischen, ägyptischen und persischen Quellen ab.13 Noch 40 Jahre später im Jahr 1733 zeigt ein anonymes Gedicht aus der Schweiz den Diskurszusammenhang zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ Ketzern sowie die Verschwisterung von Hermetik, Gnosis und Theosophie aus der Sicht theologischer Kritiker. Im sogenannten Lied vom Bärentanz heißt es:

10 Neugebauer-Wölk: ›Denn dis ist müglich, lieber Sohn!‹, S. 132; Frans A. Janssen: Dutch Translations of the Corpus Hermeticum. In: Theatrum orbis librorum. Utrecht 1989, S. 230–241. 11 Alethophilus: Hermetis Trismegisti Erkäntnüß der Natur und des sich darin offenhbarenden Grossen Gottes. Hamburg 1706. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich Wolf Freiherr von Metternich. Die Neuausgabe mit ihrer Betonung der Offenbarung Gottes in der Natur ist im Kontext erbittertster theologischer Kämpfe erschienen. Zum Kontext Kemper: Deutsche Lyrik 5/1, S. 108 f.; zum Text selbst Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 157 f. 12 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 309. 13 Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, S. 89–123, hier S. 100.



Zur diskursiven Verfugung von Hermetik und Theosophies

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Bleib du bey deiner Banck, und deinem Beil und Hobel, Das theosophisch Zeug ist zu subtil und nobel Für dich und dein Gesind. Was Plato ausgeheckt, Was Dionysios in finstrer Schrifft verdeckt, Was Hermes aufgewärmt, die Gnostici geschrieben, Durch Theophrasti Helm und Hirn=Kolb wurd getrieben, Was Weigel, Stiefel, Böhm und Daut hat laborirt, Klein, Dippel, Gichtel, Brill, mit falscher Brill geschmiert, 14 Und Tennhard ausgeheckt, wie soltst du das verstehen?

2. Gemeinsamer Kontext: Antiklerikalismus und Autonomiestreben Diese ineinandergreifenden Diskurse und Abgrenzungsbewegungen sind zunächst im religions- und sozialhistorischen Kontext der frühen Neuzeit situiert. Böhmes Hauptschriften entstehen in den Anfangsjahren des Dreißigjährigen Krieges von 1618–1624 im oberlausitzschen Görlitz. Sie entstanden im Umfeld eines intellektuellen Kreises, zu dem Paracelsisten und Schwenckfelder gehörten, die Böhmes erste Patrone wurden, wo ab 1609 die Schriften Weigels rezipiert wurden und wo über persönliche Bekanntschaften Kontakte zu Weigel, zu Croll, zu Martin Moller d.J. und zu Johann Valentin An­dreae bestanden.15 Nach einer Phase relativer religöser Toleranz in den mittleren Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts war die Oberlausitz Refugium für Glaubensflüchtlinge aus den angrenzenden Territorien geworden. Ab 1591 begannen die kursächsischen Behörden, rigoros gegen den Kryptocalvinismus vorzugehen. 1602 mussten sich Görlitzer Geistliche und Lehrer, zu denen Böhmes Pfarrer Martin Moller sowie dessen Amtsnachfolger, Böhmes späterer Gegner Gregor Richter gehörte, einem Verhör in Bautzen unterziehen, nachdem Moller vom Dekan der theologischen Fakultät in Wittenberg der kryptocalvinistischen

14 Zit. n. Johann Conrad Dippel: Poetischer Wiederhall Aus Teutschland, Auf den zierlichen Bären=Tantz, welchen ein Schweitzer=Poet und D. Medicinae in Bern, die sogenannte Pietisten zu schrecken, neulich auf dem Theatro (Schaubühne) derer Gelehrten cantando (singend) praesentiret hat. Der Ober= und Nieder=Sächsischen Parnassus-Assemblé (Poeten=Versammlung) zur Zensur und Probe vorgeleget, und, ehe noch derer videtur (Urtheil) und Approbation (Gutachten) eingelauffen, aus hochwichtigen Ursachen durch dem Druck dem Publico publiciret, von Christiano Democrito. 1733, in: Johann Conrad Dippel: Eröffneter Weg zum Frieden mit Gott und allen Creaturen […]. 3 Bde. Berleburg 1747, Bd. III, 379–398, hier S. 383. 15 Hier und zum Folgenden Lemper: Voraussetzungen zur Beurteilung des Erfahrungs- und Schaffensumfelds Jakob Böhmes, S. 46 ff.; Weeks: Boehme, S. 13 ff.

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 Jakob Böhme (1575–1624)

Kanzellehre angezeigt worden war.16 1613 geriet eine Abschrift von Böhmes Erstlingswerk Aurora in die Hände des Pastors Gregor Richter, der daraufhin gegen Böhme Anzeige erstattete. 1615 endete mit dem Tod des toleranten Universalgelehrten Bartholomäus Scultetus (1540–1614) und dem Ende der Rektoratszeit des Caspar Dornau (1577–1632), der noch in Basel Medizin studiert hatte, eine relativ tolerante, späthumanistische Phase in Görlitz. Im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts und insbesondere nach Kriegsbeginn befand sich die lutherische Kirche in der Lausitz in einer angespannten Situation im Kampf nach außen gegen Katholizismus und Calvinismus wie nach innen gegen Kryptocalvinisten, Schwenckfeld- und Weigel-Anhänger sowie Bewegungen um charismatische Einzelpersonen wie Ezechiel Meth († 1640) und Esaias Stiefel (1561–1627). Umgekehrt stellte sich angesichts der Glaubensflüchtlinge, Verhöre und Verfolgungen die Frage nach den eigentlichen Leistungen der Reformation. Die Auswirkungen der Politik des »cuius regio, eius religio«, die sich vertiefende Kluft zwischen Laienchristen und Schultheologie, zwischen Bibel und Wissenschaft, auch angesichts der sich verbreitenden Kenntnisse des Kopernikus sind Schlüsselkomplexe zur Kontextualisierung von Böhmes Werk im kulturhistorischen Kontext spiritualistischer und antiklerikaler Dissidenz. Böhme schließt an Weigels reflektierte Rückwendung auf Luthers Ermächtigung des Laienchristen an und wendet diese gegen die akademische Theologie seiner Zeit. Die Verschränkung der Themenkreise des Antiklerikalismus und der Theologenkritik, der Autorisierung des eigenen Sprechens und der Betrachtung des Schöpfers in der Schöpfung sind bei Böhme seit seinem Erstlingswerk der Aurora präsent: Hierauf gebet [ihr Theologen] richtige und gründliche Antwort, und beweiset das und lasset von eurem Wortzank ab! Wo ihr nun aus euren vorigen Schriften könnt erweisen, daß ihr den rechten und einigen GOtt kennt […] und könnet beweisen, daß nicht in Sternen, Elementen, Erden, Steinen, Menschen, Tieren, Würmern, in Laub, Kraut und Gras, in Himmel und Erden GOtt sei, und daß dieses alles nicht GOtt selber sei, und daß mein Geist falsch sei, so will ich der erste sein und mein Buch im Feuer verbrennen und alles dasjenige, was ich geschrieben habe, widerrufen und verfluchen, und will mich gehorsamlich unterweisen lassen. […] Nun wirst du sagen: Es gezieme mir nicht also zu fragen, denn die GOttheit sei ein Geheimnis, die niemand erforschen kann. Höre, geziemet mir nicht zu fragen, so geziemet dir auch nicht, daß du mich richtest. Rühmest du dich aber der Erkenntnis des Lichtes und einen Leiter der Blinden und bist selber blind, wie willst du dann dem Blinden den Weg weisen? […] Willst du aber nun sagen: Wir sind nicht blind […], warum zankt ihr dann um

16 Lemper: Voraussetzungen zur Beurteilung des Erfahrungs- und Schaffensumfelds Jakob Böhmes, S. 51 f.



Antiklerikalismus und Autonomiestreben

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den Weg des Lichtes, den doch keiner recht siehet? […] Oder vermeinet ihr, daß es Sünde sei, 17 so einer nach dem Wege frage?

Wie Paracelsus grenzt sich Böhme von der akademischen Theologie ab und beruft sich allein auf die Lehrmeisterin Natura und den Geist Gottes.18 Er nimmt Stellung zu theologischen Sachfragen wie zur Creatio ex nihilo, Calvins Auferstehungslehre19 und der Willensfreiheit, und er kritisiert durch alle seine Schriften hindurch die schultheologische Kontroverstheologie, die aus dem heiligen Licht Gottes »nur eine Historia und Wissenschaft« gemacht habe.20 Dabei verbannt er die gesamte »äußerliche Begreiflichkeit« unter das »Zornfeuer Gottes«21 und kritisiert die konfessionelle Spaltung als Werk des Teufels, den Streit um die Sakramente als Entgottung der christlichen Heilslehre und die Kanzelrede als Buchstabengelehrsamkeit. Seine eigenen Texte dagegen beschreiben den Geist Gottes nicht als traditionsvermitteltes Wissen, sondern als unsichtbare, lebendige Realität, die in der Natur und in der menschlichen Seele erfahrbar ist. Dabei geht es ihm, dem theologischen Laien, nicht um die Begründung einer neuen Lehre. Bereits sein Erstlingswerk Aurora zeichnet das Verhältnis von Theologie, Philosophie und Wissenschaft in der Metapher eines Baumes, der alles aus derselben Wurzel wachsen lässt.22 Auch haben die im Diskurs als ›hermetisch‹ geltenden Topoi seiner Schriften – die Rolle der Imagination in Fall und Erlösung, die sieben Quellgeister, der androgyne Adam als Bräutigam der Sophia und die Erschaffung der irdischen Eva, die Signaturenlehre – Vorbilder in den Texten des Paracelsus, Weigels, der Kabbala und der Patristik, z. B. bei Gregor von Nyssa oder Philo von Alexandrien.23 Doch formt Böhme diese Topoi im Kontext der politischen Polarisierungen der späten Reformationszeit und der ersten Kriegsjahre dahingehend um, dass seine Texte in ein empfindliches Spannungsverhältnis zum diskursmächtigen theologischen

17 Böhme: Aurora, 22:40–44. 18 Ebd., 22:11: »Denn ich brauche nicht ihrer Formula und Art, sintemal ichs von ihnen nicht gelernet habe, sondern von einen andern Lehrmeister, welcher ist die ganze Natura.« 19 Ebd., 19:55, 20:76–80. 20 Ebd., 20:14. 21 Ebd., 17:28. 22 Ebd., Vorrede: 1. 23 Etwa Paracelsus: Liber de Imaginibus; ders.: Fragment über die Verstoßung Luzifers und Adams, in: Ders.: Sämtliche Werke 13, S. 260 f. u. 359 ff.; Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 217 ff. u. 296 ff.; Andrew Weeks: Böhme, Paracelsus und die Quellen der Metaphysik des Willens. In: Philosophien des Willens. Böhme, Schelling, Schopenhauer. Hg. v. Günther Bonheim u. Thomas Regehly. Görlitz 2008 (Böhme-Studien 2), S. 19–30; Sibylle Rusterholz: Elemente der Kabbala bei Jakob Böhme. In: Mystik und Schriftkommentierung. Hg. v. Günther Bonheim u. Petra Kattner. Berlin 2007 (Böhme Studien 1), S. 15–46.

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(Bekenntnis-)Wissen geraten, das sich ja nach dem Selbstverständnis von Dogmatiken und Bekenntnisschriften als ›rechtgläubig christliches‹ Wissen versteht. Böhmes Texte positionieren sich wie diejenigen Weigels im Fragenkreis nach dem ›wahren Vaterland‹ und dem Weg zum Heil, und er beantwortet sie wiederum ab dem Erstlingswerk der Aurora mit noch elaborierteren Ausführungen zur Ubiquität des Himmels, der sich menschlichen Vorstellungen entzieht und sich nur über die neue Geburt erschließt. Böhmes Überzeugung von der Omnipräsenz des göttlichen Geistes, dessen ›ausgesprochenes Wort‹ sich in der ganzen Schöpfung manifestiert, schließt an Franck, Paracelsus und Weigel an und unterläuft klerikale, akademische und weltliche Hierarchien ebenso wie das aristotelische Weltbild. Sein Begriff der Transzendenz, die gegenüber der manifesten Welt immer Priorität hat, ist an die Tiefe des »Weltinnenraums« gebunden: Die Natur wird zur zweiten Offenbarung, durch die Gott unmittelbar spricht. Damit unterläuft Böhme jeden Anspruch auf Vermittlungsexklusivität, die er den streitenden Positionen der Schultheologie rundheraus abspricht24 und legt die Verantwortung für das Seelenheil in die Hände der einzelnen Menschen: »Denn du darfst nicht sagen: Wo ist GOtt? Höre, du blinder Mensch, du lebest in GOtt und GOtt ist in dir.«25 Obwohl sich Böhme immer als Christ verstand, assoziiert ihn diese Haltung auch mit der spiritualistischen Tradition der Toleranz, die Juden, Muslime (Türken) und Heiden nicht vom Heil ausgeschlossen sah.26 In diesem Kontext entsteht ein überaus sprachmächtiges Schriftkorpus, das Böhme in seinen letzten Lebensjahren verfasst, nachdem er sich jahrelang an das klerikale Schreibverbot nach der Konfiszierung der Aurora gehalten hatte. Es zielt auf nichts weniger als auf die Deutung der Tiefe des Göttlichen Wesens und der gesamten Schöpfung mitsamt aller unsichtbaren, lebendigen, pulsierenden und widerstreitenden Kräfte. Dafür macht Böhme biblisches, paracelsisches, alchemistisches und mystisches Wissen sowie sprachlich eine Fülle an Tropen aus den biblischen Büchern fruchtbar. Trotz ihrer barocken, teilweise überbordenden, teilweise unzugänglichen und in jedem Fall kreativen Sprache zielen Böhmes Texte ähnlich wie die Weigels darauf, abseits der als blind kritisierten Fakultäten den interessierten Laien Orientierung zu bieten: Böhmes Korrespondenz richtet sich fast ausschließlich an Laien und an Bürger, und wenn er darum

24 Böhme: Aurora, 19:2: »Es haben sich auch die Gelehrten darum gekratzet mit vielen seltsamen Schreiben, und sind einander in die Haare gefallen mit Schmähen und Schänden, dadurch dann der hl. Name GOttes ist geschändet und seine Glieder verwundet und sein Tempel zerstöret und der hl. Himmel mit diesem Lästern und Anfeinden entheiligt worden.« 25 Ebd., 22:46. 26 Günther Bonheim: Der Spötter Ismael und seine Kinder. Jacob Böhmes Auseinandersetzung mit dem Islam. In: Bonheim/Kattner (Hg.): Mystik und Schriftkommentierung, S. 47–69.



Antiklerikalismus und Autonomiestreben

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bittet, seinen Namen nicht zu nennen, insbesondere nicht vor Gelehrten, dann ist dies im Kontext der Spannungen zur Schultheologie als Reflexion einer fehlenden gemeinsamen Sprache geäußert und nicht als Ausdruck von Geheimniskrämerei.27 Seine teils kompilatorischen, teils hochkomplexen Ausführungen zu Gott, Mensch und Kosmos stellen eine kreative Fortschreibung traditioneller Topoi dar, die sich allerdings mit den hermetischen Texten in den Themenkreisen der Weltschöpfung, der Anthropologie und der Erlösung, hier: der Wiedergeburt in einer Weise engführen lassen, die ihre gemeinsame Rezeption bedingt.

3. Kontinuität und Variation des Schöpfungswissens: Von der spiritualistischen Genesis-Allegorese zur Selbstbeschaulichkeit Gottes in der Schöpfung Böhme fokussiert nicht mehr nur auf die individualpsychologische Wiedergeburt, sondern er verbindet das Einzelschicksal der Seele mit dem Schicksal des Kosmos: Auch »die Erde wird wieder lebendig werden.«28 Schöpfung und Erlösung schließen die ganze Natur mit ein. Die beiden Pole von Gottes Transzendenz und Immanenz, die Weigel noch unter Hinweis auf Hermes und Paracelsus als zwei Perspektiven auf dieselbe Sache wertete, werden bei Böhme in einem umfassenden, in sich gestuften und dynamischen System aufgehoben, das verschiedene umstrittene Topoi wie die Figur der göttlichen Sophia, die Geburt der Schöpfung aus der Dynamik der Gegensätzlichkeit bereits in der göttlichen Natur sowie das Konzept einer Leiblichkeit des Geistes zu integrieren sucht. Die materielle Natur selbst erscheint als ›Ausgeburt‹ der sie durchziehenden, gegensätzlichen geistigen Reiche, die immerfort miteinander in Konflikt stehen. Aus diesem Konzept leitet Böhme einerseits eine Erklärung für die lebensweltlich zu erfahrende »Widerwärtigkeit« ab, andererseits erläutert er damit, wieso die Natur selbst nicht anbetungswürdig ist, sondern vielmehr selbst nach Licht hungert. In Böhmes Anthropologie ergibt sich eine direkte Kontinuität zu Weigel, mit dem sich Böhme auch auseinandersetzte.29 Auch Böhme begreift die charakteris-

27 Böhme: Theosophische Sendbriefe, 7:7 u. 10:34. 28 Böhme: Aurora, 19:64. 29 Böhme hat über Weigel freundlich geurteilt. Er kritisierte zwar Weigels Vorstellung der Jungfräulichkeit Mariens, attestiert ihm aber dennoch, »von der neuen Geburt und der Einigung der Menschheit in Christo mit uns gar schön« geschrieben zu haben. Auch sieht er Weigels Konzept der Wiedergeburt den eigenen Ideen als eng verwandt an. Böhme: Theosophische Sendbriefe, 12:59/60.

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tische Lehre von den drei Ebenen oder Leben des Menschen als konstitutiv, verortet den Himmel im Menschen und zeichnet den Weg dorthin als Wiedergeburt nach dem Vorbild Christi durch Kreuz und Tod des Ich.30 Wieder ist im Gegensatz zum Menschenbild der Konkordienformel die Korruption der menschlichen Natur dahingehend gemildert, dass der Mensch nicht ontologisch getrennt von der Einheit Gottes gedacht ist. Die einzelnen Menschen stellen vielmehr einen Aspekt der Vielheit dar, in die das Eine sich entfaltet. Böhme zeichnet das Verhältnis von Einheit und Vielheit als dialektisches, in dem Gott in der Vielheit der »Ichheit(en)« sich selbst anschaulich wird, und damit skizziert er eine Begründung für die Frage, wieso Schöpfung überhaupt stattgefunden hat. »[D]as Alles bedarf des Ichtes nicht, das Ichts ist nur sein Spiel, damit das Alles spielet, und damit ihm das Ganze, als das Alles selber offenbar werde, so führets seinen Willen in Eigenschaften ein. So wollen wir als eine Creatur von den Eigenschaften schreiben, als von dem geoffenbarten GOtt: Wie sich das Alles, als der ungründliche ewige Verstand, offenbare. […] 31 Dann wenn alles nur Eines wäre, so wäre ihm das Eine nicht selber offenbar.«

Demnach ist der Mensch weder als einfaches Geschöpf noch als separates Abbild Gottes gedacht, sondern wird nach Böhme aus dem Wesen aller Wesen und damit aus allen drei Welten geboren.32 Er spricht der Seele drei trinitätsanaloge Regimente zu, erstens das dunkle Zorn- oder Vater-Prinzip, zweitens das helle Liebe- oder ›Sohn‹ Prinzip und schließlich den Geist der äußeren Welt.33 Das Motiv der Trinitätsanalogie ist anders konturiert als bei Augustin oder Ignatius und findet sich so nicht bei Weigel. Damit beschreibt Böhme jedoch die göttliche Herkunft der Seele ebenso wie ihre Verflochtenheit in die postlapsarische Existenz. Und wie Eckhart, Tauler, Franck und Weigel differenziert auch Böhme anthropologisch zwischen einem personhaften, Raum und Zeit unterworfenen

30 Böhme: Mysterium Magnum, 15:28; Böhme: De triplici vita hominis oder Hohe und tiefe Gründung von dem Dreyfachen Leben des Menschen, 1:3–5; Böhme: Psychologia Vera, oder 40 Fragen von der Seelen, 1:154. Siehe auch Susanne Edel: Die individuelle Substanz bei Leibniz und Böhme. Die Kabbala als Tertium Comparationis für eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung. Stuttgart 1995, S. 29 ff. u. 134. 31 Böhme: Mysterium Magnum, 3:21. 32 Böhme: Theosophische Briefe, 11:31; ders.: Psychologia Vera, 2:1: »Ihre Essentien sind aus’m Centro Naturæ, aus dem Feuer, mit allen Gestalten der Natur, es liegen alle 3 Principia darinnen: Alles was GOtt hat und vermag, und was GOtt in seiner Drey=Zahl ist, das ist die Seele in ihrer Essentz.« Zur Anthropologie auch Rusterholz: Jakob Böhme und seine Anhänger, S. 78 ff. 33 Jakob Böhme: Psychologia vera, 2:1; Jakob Böhme: De triplici vita hominis, oder Vom dreifachen Leben des Menschen, 18:4; Böhmes Vom dreifachen Leben des Menschen sowie die 40 Fragen von der Seelen entstehen beide 1620. Ausführlich zu diesen Texten Koyré: La philosophie de Jacob Boehme, S. 237 ff.; Weeks: Boehme. An Intellectual Biography, S. 142 ff.



Kontinuität und Variation des Schöpfungswissens

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Ich und einem alterslosen, wissenden Grund in der Essenz der Seele. In diesem, jeder Individuierung vorgänglichen Grund sieht Böhme das ganze Wissen um die Weltschöpfung ewig präsent, womit er seine Texte selbst auch ohne explizite Referenz an das Corpus Hermeticum in einen strukturellen Zusammenhang zu den hermetischen Texten und ihren spiritualistischen Lektüren setzt, wie sie durch Franck und Weigel stattgefunden haben. Ähnlich wie Hermes in Francks Übersetzung das Wissen über die Weltschöpfung aus der Tiefe der eigenen Seele offenbart wird, so wird Böhme nach seiner eigenen Deutung seines Schauerlebnisses das Wissen der Ewigkeit in ihm selbst »eröffnet«.34 Diese Eröffnung des Wissens ist bei Böhme genau wie bei Eckhart und Hermes an die Transzendenz des Ich gebunden, sodass er auf einen Vorwurf, er maße sich Aussagen über die Weltschöpfung an, ohne dabei gewesen zu sein, antworten kann: So sagen wir allhie auf magische Art nach Recht der Ewigkeit, daß wir wahrhaftig sind darbey gewesen, und dis gesehen: Aber Ich, der ich der Ich bin, habe es nicht gesehen. Denn ich war noch nicht eine Creatur; aber wir habens in der Essenz der Seelen, welche GOtt dem Adam einblies, gesehen. So nun GOtt in derselben Essenz wohnet, und von Ewigkeit gewohnet hat, und sich in seinem Spiegel offenbaret und zurück sieht durch die seelische Essenz in den Anfang aller Wesen, was hat mich denn die Vernunft zu tadeln, um daß 35 sie daran blind ist?

Die Rückkehr der bereits im Jahr 555 zur origenistischen Häresie erklärten Idee von der Präexistenz der Seele36 wird bei Böhme im Kontext eines vernehmbaren Autoritätskonflikts um die Legitimation seines religiösen Sprechens geäußert: Hinter seiner Anspielung an die ›Vernunft‹ lässt sich die Kritik der Schultheologie vernehmen, gegenüber der sich Böhme auf die Authentizität seiner Offenbarung beruft. Gleichzeitig unterläuft sein anthropologisches Konzept die Deutungs­ hoheit der theologischen Autoritäten, da er nun den Menschen selbst als das Buch bezeichnet, in dem alle Geheimnisse der Schöpfung verzeichnet sind und

34 Böhme: Theosophische Sendbriefe, 12:8: »Denn ich sah und erkannte das Wesen aller Wesen, den Grund und Ungrund; item die Geburt der Hl. Dreifaltigkeit, das Herkommen und den Urstand dieser Welt und aller Kreaturen durch die göttliche Weisheit. Ich erkannte und sah in mir selber alle drei Welten, als (1.) die göttliche englische oder paradeisische, und dann (2.) die finstere Welt als den Urstand der Natur zum Feuer, und zum (3.) diese äußere sichtbare Welt als ein Geschöpf und Ausgeburt oder als ein ausgesprochen Wesen aus den beiden inneren geistlichen Welten.« 35 Böhme: Mysterium Magnum, 9:1. 36 Heinrich Denzinger: Kompendien der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentschei37 dungen. Hg. v. Peter Hünermann. Freiburg i. Br. 1991, S. 189 ff.

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das der göttliche Geist in der Introspektion aufschließen kann.37 Soteriologisch führt der Weg der Seele damit wie bei Weigel zur Einkehr in sich selbst, was Böhme genau wie seine Zeitgenossen die neue Geburt oder Wiedergeburt nennt.38 Neben der Seele erhält bei Böhme die ganze Welt den Charakter eines Aushauchs aus dem göttlichen Gemüt, das sich in ihr als in einem Spiegel in der Zeitlichkeit selbst schaut und mit sich selber spielt.39 Die Erzählung von Fall und Erlösung umfasst bei ihm eine Theogonie und eine Kosmologie, die in ihren Ausführungen über den göttlichen Anfang und seine Ausfaltung bis in die Schöpfung die weigelianische Viererley Auslegung von der Schöpfung an Komplexität noch übertrifft, allerdings nach wie vor im Erzählmuster der Genesis-Auslegung konzipiert ist, die als »dynamisches System der Sinnstiftung«40 ihre Funktion als christlicher Grundlagentext frühneuzeitlicher Weltdeutung beibehält. Andererseits ergeben sich in eher praxisorientierten Aspekten wie in der Frage nach Willensfreiheit, Wiedergeburt und Toleranz Korrespondenzen zu spiritualistischen Autoren, die in der Frühaufklärung nicht nur Böhmes Gegnern, sondern insbesondere auch von interessierten Lesern als verwandt, verwandt auch mit den hermetischen Texten aufgegriffen wurden. Böhmes Ausgestaltung des Schöpfungsmythos ist hier insoweit von Interesse, als sie Fall und Auferstehung von Mensch und Natur schildert, wie sie dann für die frühaufklärerische Diskussion um den Status der Geistleiblichkeit in Abgrenzung zum Mechanismus maßgeblich wird. Das göttliche Gemüt oder Ungrund wird in Böhmes letzter vollendeter Schrift, dem Mysterium Magnum, als »das Eine gegen alle Creatur als ein ewig Nichts«41 bezeichnet. Terminologisch findet auch hier eine Schöpfung aus Nichts statt, die jedoch konzeptionell eine Schöpfung aus nichts als Gott ist, eine Creatio ex se. Trotz Böhmes Auslegung des biblischen Prätextes der Genesis nähert sich das Konzept an das sprachlich deutlich anders gehaltene hermetische Konzept

37 Böhme: Theosophische Sendbriefe, 20:3: »Denn das Buch, da alle Heimlichkeit innen lieget, ist der Mensch selber. Er ist selber das Buch des Wesens aller Wesen, dieweilen er die Gleichheit der Gottheit ist. Das große Arcanum lieget in ihm. Allein das Offenbaren gehöret dem Geiste GOttes.« 38 Böhme: De triplici vita hominis, S. 7: »[…] so müssen wir mit unseren Seelen, ein ieder für sich selber ins Leben Christi zu GOtt eindringen in die neue Wiedergeburt«. 39 Böhme: Mysterium Magnum, 7:19: »Also ist auch das ganze Gestirne anders nichts, als ausgehauchte Kräfte aus der innern feurischen, finstern und Licht=Welt, aus dem grossen Gemüthe Göttlicher Offenbarung, und ist nur ein geformet Model, darinnen sich das grosse Gemüthe Göttlicher Offenbarung in einer Zeit schauet, und mit ihme selber spielet.« 40 Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 198. 41 Böhme: Mysterium Magnum, 1:2. Nach Rusterholz unterscheidet Böhmes Fassung des Ungrunds als Willen sein Konzept des schlechthin Einen vom Konzept der Gottheit (Deitas) der mittelalterlichen Mystiker sowie vom plotinischen Begriff des Einen (Jakob Böhme und seine Anhänger, S. 74).



Kontinuität und Variation des Schöpfungswissens

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einer Geburt aus Gott an. Bei Böhme drängt in diesem Nichts ein ständiger Wille zur Offenbarung in der Selbstentäußerung, da es als tiefste Einheit gleichzeitig potenziell die ganze Fülle des Seins enthält.42 In zwei Phasen an Selbstfassungen fasst sich das Eine in einem modal, nicht temporal verstandenen Prozess an Selbstentäußerungen zunächst als Dreieiniges, das im Unterschied zur kirchlichen Lehre von der Trinität nicht personal, sondern modal als drei Aspekte Gottes verstanden wird.43 Es ist ein eigener Ansatz zur Deutung des christlichen Trinitätsdogmas, das sowohl das theologische Konzept mit der volkstümlichen Vorstellung von einem zornigen ›Vater‹ und einem versöhnenden ›Sohn‹ ›im Himmel‹ und den naturphilosophischen Dreierstrukturen der paracelsischen Naturphilosophie verbindet.44 Der dreieinige, noch verborgene Gott gelangt im Spiegel der Weisheit zur eigenen Beschaulichkeit bzw. Bewusstheit. Aufgehoben in den Prozess der trinitarischen Gebärung bzw. Fassung ist die (noch innergöttliche) Entfaltung in die »Schiedlichkeit« der sieben Qualitäten als die rein geistige »ewige Natur« Gottes, die noch nichts mit der kreatürlichen, sinnlich wahrnehmbaren Natur zu tun hat.45 Die sieben Qualitäten oder Geister Gottes stehen für die zur Offenbarung notwendigen Kräfte der Gegensätzlichkeit, wobei den kontrahierenden Kräften Herbheit, Bitterkeit und Angst (1.–3. Qualität) die expandierenden Kräfte des Feuers/ Geists, des Liebe-Lichts und des Halls/ Worts (4.–6. Qualität) entgegenstehen. Die siebte Qualität verkörpert als »Wesen« oder »Gehäuse« die »Leiblichkeit« des Geistes, in dem der Geist wirken und mit sich selbst spielen kann.46 Auch sie wird als Weisheit bezeichnet. Jenes Konzept einer

42 Zum Überblick über Böhmes äußerst komplexe Theogonie siehe ebd., S. 74 ff.; komprimiert Rusterholz: Elemente der Kabbala bei Jakob Böhme, S. 32 ff.; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Das Geheimnis des Anfangs: Einige spekulative Betrachtungen im Hinblick auf Jakob Böhme. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jakob Böhmes und seiner Rezeption. Hg. v. Jan Garewicz u. Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994, S. 113–128; Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 188 ff.; Vollhardt: Ungrund, S. 105 ff. 43 Böhme: Mysterium Magnum, 7:11: »Allhie kann man mit keinem Grunde sagen, daß GOtt drey Personen sey, sondern er ist dreyfaltig in seiner ewigen Gebärung: Er gebäret sich in Dreyfaltigkeit, und ist in dieser ewigen Gebärung zu verstehen, weder Vater, Sohn noch Geist; sondern das einige, ewige Leben oder Gut.« 44 Zur Wahrnehmung von Gott-Vater und Gott-Sohn nach 1600 im lutherischen Frömmigkeitslied, also in religiösen Gebrauchstexten Kemper: Deutsche Lyrik 2, S. 227 ff. (Kapitel: Rettung vor dem Vater: Christus als Zentrum der Frömmigkeit). 45 Böhme: Mysterium Magnum, 3:20. 46 Ebd., 7:24: »Eine iede Eigenschaft ist für sich selber wesentlich, und hat in ihrem Wesen auch der andern 6 Gestälte Wesen, und machet der andern Gestalte Wesen, in ihrem eigenen Wesen, wesentlich.« Zur ewigen Natur als Leib Gottes auch Pierre Deghaye: Die Natur als Leib Gottes in Jakob Böhmes Theosophie. In: Garewicz/Haas (Hg.): Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jakob

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Geistleiblichkeit der ewigen Natur Gottes führt wiederum über die dogmatische Trennung von Gott und Welt hinaus und ist wie die Idee der drei und sieben Qualitäten Gottes durch Anregungen aus der jüdischen Kabbala inspiriert.47 Diese sieben Qualitäten sind in Weigels Viererley Auslegung von der Schöpfung so noch nicht erwähnt, doch lässt sich Böhmes Konzept der Geistleiblichkeit der ewigen Natur Gottes, deren »Leiblichkeit« die gesamte Fülle des Geistes in seiner Potenzialität in sich enthält, als Weiterentwicklung von Weigels Konzept der Primordialnatur deuten. Dies gilt insbesondere für Böhmes topische Assoziation jener Leiblichkeit mit dem Motiv des himmlischen Wassers und gläsernen Meers, das wiederum für die erste Kreation der englischen Welt sowie für die endzeitliche Restitution der Schöpfung steht.48 Böhme sieht mitten in der innergöttlichen Selbstentfaltung die Scheidung der zwei »Reiche« oder »Prinzipien« Licht und Finsternis, Gottes Liebe und Zorn, die einander nicht »begreifen« und doch als aus einem Ursprung kommend aneinander »hangen«.49 Es ist also die Dialektik der Gegensätze noch in Gottes ewiger Natur, die die Dynamik der »ewigen Gebärung« überhaupt möglich macht. Jene Kräfte der Kontraktion oder des Dunklen sind als Qualitäten der ewigen Natur nicht moralisch konnotiert. Sie sind vielmehr wesentlich für Gottes werdende »Empfindlichkeit«, und damit sind sie ex negativo als Ermöglichungsgrund

Böhmes, S. 71–112, hier S. 73 ff. Weiterführend zur ›Leiblichkeit‹ Christian Bendrath: Leibhaftigkeit. Jakob Böhmes Inkarnationsmorphologie. Berlin 1999 47 Böhme hat sein metaphysisches System relativ unabhängig entwickelt, greift jedoch zur sprachlichen Präzisierung kabbalistisches Denken auf und denkt es produktiv weiter. Es lassen sich deutliche Analogien und Berührungspunkte, jedoch keine Abhängigkeit feststellen. Rusterholz: Elemente der Kabbala bei Jakob Böhme, S. 44 f.; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Jakob Böhme und die Kabbala. In: Ders.: Christliche Kabbala. Ostfildern 2003, S. 157–181. 48 Böhme: De triplici vita hominis, 5:10–14; Böhme: Der Weg zu Christo, 1:7; Weigel: Viererley Auslegung von der Schöpfung. In: PW 11, S. 251 ff. Üblicherweise werden Böhme und Weigel über das Kriterium der unterschiedlichen Wertung der Leiblichkeit voneinander abgegrenzt; etwa Sibylle Rusterholz: Zum Verhältnis von ›Liber Naturae‹ und ›Liber Scripturae‹ bei Jakob Böhme. In: Garewicz/Haas (Hg.): Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jakob Böhmes und seiner Rezeption, S. 129–146, hier S. 146, Anm. 55. Grundsätzlich beziehen sich Böhmes positive Aussagen zur Leiblichkeit auf die geistleibliche Qualität der »ewigen Natur« – die auch er die Weisheit nennt. Er differenziert diese Qualität gegenüber dem Pantheismusvorwurf von der geschaffenen Natur, die ihrer Materialität nach nichts ist, solange sie nicht als Spiegel der inneren, geistigen Welt erkannt wird (Böhme: Mysterium Magnum, 10:1–3). Jenes Unterscheidungskriterium ließe sich dahingehend präzisieren, dass Böhme unter Hinzuziehung des Konzepts der sieben Qualitäten den Topos der Geistleiblichkeit weiter differenziert, der aber grundsätzlich schon in Weigels Viererley Auslegung von der Schöpfung präsent ist. 49 Böhme: Mysterium Magnum, 4:1.



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von Leben überhaupt konstitutiv für den Schöpfungsprozess.50 Die Metaphysik des Bösen und die der ewigen Natur Gottes entspringende spannungsgeladene Dynamik der Gegensätze erstreckt sich analog auf alle Ebenen der geschaffenen Welt, sodass nach Böhme ein »Contrarium der eigentschaften«, die Potenz zum Guten oder zum Bösen, in jedem Ding liegt.51 Die geschaffene Welt bezeichnet Böhme nun als Ausgeburt oder Aushauch der beiden ewigen Prinzipien in Raum und Zeit. Er entwickelt dabei Weigels nichttemporales Verständnis der sieben Schöpfungstage weiter, die er als symbolischen Ausdruck der sieben Qualitäten interpretiert, die astrologisch wiederum von den sieben Planeten repräsentiert werden. Auch bei Böhme ist die Ewigkeit Gottes nicht temporal vor der Zeit, sondern ontologisch jenseits von Zeit und Schöpfung gedacht, die aus ihr geboren werden und ihr Spiegel sind. Damit erscheint Gott einerseits transzendent, andererseits jedoch als »nichts fremdes«, da alle Dinge in ihm leben, weben und sind:52 Dementsprechend ist Gottes Präsenz auch ubiquitär gedacht, nicht in einem lokalen Oben »über den Sternen« als alleiniger Regent der Welt, sondern: »Die pure Gottheit ist überall gantz gegenwärtig allen Orten und Enden.«53 Nicht, dass die materielle Welt damit pantheistisch mit Gott ineins gesetzt würde; sie erscheint vielmehr als kontinuierliche Ausgeburt des Kräftespiels in den geistigen Dimensionen, die durch das Schöpfungswort des ewig wirkenden »Verbum fiat« ins Sein gebracht wird. Über diese Schöpfungsvorstellung kann sich Böhmes Weltentwurf in den größeren Horizont frühneuzeitlicher allegorischer und emblematischer Weltdeutungen und ihrer Vorliebe für das Spiel mit Verweisungszusammenhängen einreihen. Hier situiert er die Signaturenlehre, nach der alles Äußere ein Gleichnis und Spiegel des Inneren ist und dieses nach seiner Eigenschaft »bezeichnet«.54 Der

50 Rusterholz: Elemente der Kabbala bei Jakob Böhme, S. 32. 51 Böhme: Von der Gnadenwahl, 8:8; Sibylle Rusterholz: Jacob Böhmes Deutung des Bösen im Spannungsfeld von Tradition und Innovation. In: Contemplata aliis tradere: Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Hg. v. Claudia Brinker et. al. Bern 1995, S. 225–240; Andrew Weeks: Historische Finsternis und poetisches Licht im Werke Jakob Böhmes. In: Erkenntnis und Wissenschaft Jakob Böhme (1575–1624). Internationales Jakob-Böhme-Symposium Görlitz 2000. Hg. v. der Oberlausitzschen Gesellschaft der Wissenschaften e.V. Görlitz 2001, S. 9–20, hier S. 18 f. 52 Böhme: Mysterium Magnum, 11:33. 53 Böhme: De triplici vita hominis, 1:50/51. 54 Böhme: De signatura rerum, In: Jakob Böhme: Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Frankfurt a.M. 1997 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 6), S. 621; Böhme: Mysterium Magnum,1:1: »Wenn wir betrachten die sichtbare Welt mit ihren Wesen und betrachten das Leben der Creaturen: So finden daran das Gleichnis der unsichtbaren geistlichen Welt, welche in der sichtbaren Welt verborgen ist, wie die Seele im Leibe, und sehen daran, daß der verborgene GOtt allem nahe und

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Gleichnischarakter des Außen gegenüber dem Innen bei Böhme korrespondiert mit dem hermetischen Prinzip Wie oben, so unten aus der Tabula Smaragdina. Für Böhme, der auf jenen Topos wörtlich anspielt, ist dieses Verweisungsprinzip keine kontextenthobene Lehre eines fremden paganen Wissens, sondern einfach der Ausdruck des Alles in allem. Damit spiritualisiert er die Gesamtheit der Schöpfung in umfassender Weise, da sich ausgehend von den unscheinbarsten Gegenständen an jedem beliebigen Ort der Welt die Tiefe und Gesamtheit der Schöpfung eröffnen kann. Was das Obere ist, das ist auch das Untere, und alle Creaturen dieser Welt sind dasselbe. […] Wann ich einen Stein oder Erden=Klumpfen aufhebe und ansehe, so sehe ich das Obere und das Untere, ja die ganze Welt darinnen, nur daß an einem ieden Dinge etwan eine Eigenschaft die größte ist, darnach es auch genennet wird. Die andere Eigenschaften liegen alle miteinander auch darinnen, allein in unterschiedliche Graden und Centris, und sind doch Grad und Centra nur ein einiges Centrum: Es ist nur eine einige Wurzel 55 daraus alles herkommt, es scheidet sich nur in der Compaction, da es coaguliret wird«

Diese theoretische Reflexion im Mysterium Magnum, das als Genesis-Kommentar mit großem, weltdeutendem Anspruch verfasst ist, lässt sich philosophiehistorisch als ein Verbindungsglied zwischen der lurianischen Kabbala und der Monadenlehre des Gottfried Wilhelm Leibniz deuten.56 Werkgeschichtlich steht sie jedoch auch in der Kontinuität zu Böhmes Erstlingswerk Aurora, die an Weigels Reflexion zur Ubiquität Gottes anschließt.57 Der Topos des Ineinanders aller Qualitäten Gottes in jeder Kreatur in jedem Moment ist mehr als ein spekulatives Zitat aus der Kabbala. Dieser Gedanke ist für den Praxisbezug von Böhmes Weltentwurf grundlegend, für seine Deutung von Fall und Erlösung sowie seiner Anleitung zum Handeln auch im postlapsarischen Zustand in der Welt. Bereits der Pfarrer Weigel kontextualisierte diesen Topos im Kontext der praktischen Fragen der Gläubigen: Wie kann man in Christus beten? An welchem Ort findet man Gott? Bei Moses auf dem Sinai, bei Christus auf dem Berg Tabor – oder im Tempel

durch alles ist, und dem sichtbaren Wesen doch ganz verborgen« Weiterführend zur Signaturenlehre Ferdinand van Ingen: Jakob Böhme und die Natursprache. Eine Idee und ihre Wirkung. In: Erkenntnis und Wissenschaft, S. 115–127. Günther Bonheim: Zeichendeutung und Natursprache. Ein Versuch über Jacob Böhme. Würzburg 1992. 55 Böhme: Mysterium Magnum, 2:6. 56 Edel: Die individuelle Substanz bei Leibniz und Böhme, S. 37 ff. u. 77. 57 Böhme: Aurora, Vorrede: 104/105: »Es ist aber das Geschehene, Gegenwärtige und Zukünftige, sowohl die Weite, Tiefe und Höhe in Gott als ein Ding, eine Begreiflichkeit. Und die heilige Seele des Menschen sieht solches auch, aber in dieser Welt nur stückweise. […] Auf eine solche Weise, in solcher Erkenntnis des Geistes will ich in diesem Buch von Gott unserem Vater sprechen, in dem alles ist und der selber alles ist.«



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bei den Schriftgelehrten? Ist man vor dem Teufel sicher, wenn man seine Kammertür abschließt? In diesem Kontext entfaltet Weigel fast wortgleich das auch von Böhme dargelegte Axiom, dass in Gott alle Zeit und alle Orte sind. Wenn das helle und das dunkle Reich innere Reiche sind (bereits bei Weigel!), dann ist kein Ort seliger oder verdammter, und man kann Gott – ebenso wie den Antichristen – in der Kirche, aber eben auch in der Kammer oder auf dem Feld finden. Dies alles sind lokale Orte außerhalb des Ich und daher sekundär, entscheidend ist allein, an welchem inneren Reich der Mensch über das Gebet Anteil hat.58 Für Böhme ergibt sich aus dieser grundlegenden Einsicht nicht nur eine lebenspraktische Hilfestellung, sondern diese ist auch mit der großen Erzählung von Fall und Erlösung sowie einer Theorie für Magie und Transmutation verbunden. Während im Geistigen alle möglichen Zustände gleichzeitig potenziell existieren, kann ein Ding in die Verfestigung eintreten und sich zu einer bestimmten körperlichen Realität verdichten (»coagulieren«), wenn eine Eigenschaft oder Qualität prominent wird.59 Da alle anderen Eigenschaften jedoch latent vorhanden bleiben, kann sich die Form auch wieder auflösen oder verwandeln. Den Fall Luzifers wie den Fall Adams erklärt Böhme mit der Imagination in das dunkle Prinzip bzw. in die Gegensätzlichkeit von Gut und Böse. Indem Luzifer seinen Willen in die Selbstheit einführte, begannen die Eigenschaften des dunklen Prinzips in ihm zu »qualifizieren«, also zu quellen und sich einzuprägen (»impressieren«).60 In einer vielsagenden Ausschmückung der mythologischen Erzählung notiert Böhme, dass Luzifers Fall nicht Gottes Grimm, sondern Luzifers eigener Wille gewesen sei, und zwar weil er das Wissen um das Dunkle nur in der »Wissenschaft«, nicht in der »Empfindlichkeit« hatte. Der Fall schafft also das reine Wissen aus der Potentialität in die Aktualität der Erfahrung; und indem die dunkle Seite zu qualifizieren, also schaffend zu wirken beginnt, wird die Dynamik des Dunklen, der Kontraktion oder des »Bösen« zum Ermöglichungsgrund von allem weiteren Sein.61 Ähnlich bei Adam: Der als vollkommenes, androgynes Ebenbild Gottes geschaffene Adam verspürt während seiner reinen Schau Gottes irgendwann Interesse, die Ungleichheit von Gut und Böse zu erfahren, und zwar weil er von der Unterschiedlichkeit des geoffenbarten Worts in den verschiedenen Kräften nun selbst zur Offenbarung der Eigenschaften angeregt worden ist. Er »vergaffete sich an der Creation des geformbten worttes / in seiner

58 Weigel: Informatorium. In: PW 11, S. 14 f. 59 Böhme: Mysterium Magnum, 6:22. 60 Ebd., 9:6–12. 61 Rusterholz: Jakob Böhme und seine Anhänger, S. 77.

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schiedligkeit«,62 und, da das Ebenbild um seine gleiche Macht wie die Quelle weiß, erhub sich »lust zur schidligkeit«.63 Über die Verlagerung der Imagination als schaffender Aufmerksamkeit fällt Adam »aus der Temperatur«, d.h. er entschläft der Einheit des göttlichen Lichts und fällt in die kreatürliche Welt der Gegensätzlichkeit und Zeitlichkeit, wo die Gottebenbildlichkeit bis zu Unkenntlichkeit verblasst. Sichtbarer Ausdruck des Falls in die Gegensätzlichkeit ist der Verlust der Androgynie und die Entstehung der Zweigeschlechtlichkeit mit der Erschaffung Evas. Schließlich verwandelt sich noch sein subtiler, himmlischer Leib, ursprünglich geschaffen aus der reinen Quinta essentia, in einen grobstofflichen Körper, der Krankheit und Tod unterworfen ist. Im Gegensatz zum traditionellen Konzept von Gottes »Fluch« über Mensch und Erde erscheint bei Böhme der »Fluch« nun als ein »Fliehen«,64 als Sterben an Gott im Verblassen des zweiten, lichten Prinzips (des »Sohnes«) und eine Existenz unter dem prominenten Eindruck (sprichwörtlich: der »Impression«) des ersten, feurigen Angst- oder »Vater«-Prinzips. Bei Luzifer wie bei Adam vollzieht sich der Fall in der Kreatur, nicht außerhalb von ihr.65 In der Interpretation des Falls als immediate Überschattung anstelle einer lokalen Vertreibung folgt Böhme den Positionen aus Weigels Dialog über das Christentum und Paracelsus’ Fragment über die Verstoßung Luzifers und Adams. Paracelsus betont die Nichtlokalität des Falls sowohl Luzifers wie Adams, die nicht aus einem konkreten Paradiesgarten vertrieben wurden, sondern an ihrem Ort blieben, wobei sich das Paradies jedoch unter ihren Füßen in die vergängliche Welt voller Krankheit und sterblicher Körper verwandelte.66 Böhme dynamisiert diese Vorstellung des Falls lediglich dahingehend, dass er sie mit der Qualitätenlehre und der zur Prinzipienlehre umgedeuteten christlichen Trinitätslehre verbindet. Entscheidend und im Hinblick auf Böhmes Rezeption in der

62 Böhme: Von der Gnadenwahl, 6:33; Böhme: Von der Menschwerdung Jesu Christi, 6:2. 63 Böhme: Von der Gnadenwahl, 6:33; Böhme: Mysterium Magnum, 18: 31. 64 Böhme: De signatura rerum, S. 580. 65 Böhme: Mysterium Magnum, 9:9/10: »Die Finsterniß wolte auch gerne creatürlich seyn, die zog ihren Spielmann der grossen Feuers=Kraft, den Luzifer, zwar nicht ausser ihme, sondern in seiner selbst=feurischen und finstern Essentz Eigenschaft und Willen. Der Fall entstund in der Creatur, und nicht ausser der Creatur, gleichwie auch in Adam dergleichen. Sprichst du, was verursachete ihn in ihm selber? Seiner grosse Schöne; Daß sich der freye Wille im Feuer=Spiegel besahe, was er wäre: dieser Glantz machte ihn beweglich, daß er sich nach den Eigenschaften des Centri bewegte, welche zuhand anfingen zu qualificiren. Denn die herbe strenge Begierde, als die erste Gestalt oder Eigenschaft, impressete sich, und erweckte den Stachel und die Angst=Begierde: Also überschattete dieser schöne Stern sein Licht, und machte sein Wesen gantz herbe, rauhe und strenge; und ward seine Sanftmuth und recht Englische Eigenschaft in ein gantz strenge, rauhe, finster Wesen verwandelt.« 66 Theophrast von Hohenheim. gen. Paracelsus: Sämtliche Werke 13, S. 260 f.



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Aufklärung zentral ist daher die Betonung der Freiwilligkeit des Falls. Gott hat mit der menschlichen und weltlichen Erfahrung der Dunkelheit nichts zu tun, da sie keine »Strafe« Gottes ist, sondern die natürliche Konsequenz der Imagination, die hier als verlagerte schöpferische Aufmerksamkeit verstanden wird.67 Die Seele hat die Freiheit wie auch die Fähigkeit, die Imagination auf Gut wie auf Böse zu richten, womit sie einerseits die Verantwortung für den Fall selbst trägt, andererseits aber auch nach dem Fall keinem Determinismus des dunklen Prinzips unterliegt.68 In einer weiteren signifikanten Parallele, die Böhme zu einer zentralen Vermittlungsinstanz zwischen der Mystik Eckharts und der frühaufklärerischen Diskussion um die Willensfreiheit macht, ist die Rolle des Eigenwillens in seiner Deutung von Fall und Erlösung. Die Imagination ins dunkle Prinzip wird bei Luzifer wie bei Adam als Übergang vom einigen Willen zum eigenen Willen beschrieben.69 Mit der Ablösung aus der Gelassenheit (Selbstlosigkeit) unter dem einigen Willen Gottes entsteht der eigene Wille Luzifers wie Adams (die Selbstheit) und initiiert ein »Qualifizieren« der dunklen Eigenschaften. Damit trifft der Fall als die Überdeckung des Lichtleibs durch den »Zornquall«70 sowohl Mensch als auch Natur, da die Natur schließlich die Ausgeburt des Kräftespiels im Geist ist. Diese Beobachtung setzt Böhme trotz eigener Akzentsetzungen und sprachlicher Ausgestaltung in Verbindung mit Weigels hermetisch-spiritualistischen Bestimmungen der Nichtlokalität und Überzeitlichkeit des Verlorenen: Auch Böhme sieht die himmlische Eigenschaft nicht als zerstört an, sondern er sieht sie im Menschen in die Unbewusstheit versunken.71 Ebenso kann er schließen, das Paradies existiere »überall« in dieser Welt, sei jedoch den menschlichen Augen verborgen.72 In einer augenfälligen Parallele zu Weigels

67 Vgl. zur weltverändernden Kraft der Imagination Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus: Liber de Imaginibus. In: Ders.: Sämtliche Werke 13, S. 359–386, hier S. 384. 68 Böhme: Von der Gnadenwahl, 6:31: »Vnd Nicht sagen / thue ich edwas Böses / so mus ichs thun / den ich bin der bösen neigligkeit / so sol Er wissen / das der Seelen Szientz / welche sich hat können ins böse fassen / sich auch hat können eben ins gutte fassen / vnd das Gott keine vrsache an des Menschen / noch teuffels val ist« 69 Böhme: Mysterium Magnum, 9:11 u. 20:32. 70 Böhme: De signatura rerum, S. 581. 71 Böhme: Mysterium Magnum, 20:28: »Nicht zu verstehen daß des Menschen himmlisch Ens sey ein Nichts worden, es ist im Menschen blieben: Aber dem Menschen in seinem Leben als ein Nichts, denn es stund in GOtt verborgen, und dem Menschen unbegreiflich ohne Leben. In GOtt stirbet nichts, aber im menschlichen Leben verblich das heilige Ens.« 72 Böhme: Psychologia Vera, 39:1: »Es ist nur unsern Augen und unserer Qual entzogen; sonst wann unsere Augen offen wären, so sähen wir das.« – Böhme: De triplici vita hominis, 5:125: »Denn das Paradeis, darein der heiligen Kinder Seelen einfahren, wann der Leib zerbricht, ist auf der Stelle, da der Leib zerbricht; es ist auch in der Erden, es ist in allen vier Elementen, nicht zerteilet, sodern gantz überall.« (Böhme: Aurora, 19:48)

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Augenmetaphorik umschreibt Böhme den Fall auch als Verlust des Sehens,73 das Versinken in Unbewusstheit als Ohnmacht des Schlafs, der ebenso den Beginn der Zeit markiert und die Ewigkeit dem Blick entzieht.74 Der jüngste Tag ist ihm eine Erweckung des Eingeschlafenen und Eingeschlossenen75 – eben der verdeckten Lichtgestalt, und zwar in der ganzen Natur. Da die Lichtgestalt angesichts des Ineinanders aller potenziellen Zustände (Qualitäten) noch latent vorhanden, jedoch der Erfahrung verborgen ist, hängt ihre Erweckung entscheidend vom eigenen Willen ab, der spiegelbildlich zum Fall nun abgelegt und in den einigen Willen Gottes eingeführt werden muss.76 Die Rückkehr ins Paradies wird somit ebenfalls nicht durch eine Ortsveränderung oder ein Weggehen stattfinden, so prophezeit Böhme, sondern durch ein ›Heimgehen‹ in ein anderes Prinzip, das als andere »Qual« in quellendem, schöpferischem Hervorbringen die alte Erde in jene himmlische, durchscheinende Wesenheit zurückverwandeln wird, die mit der traditionellen biblischen Metapher des kristallenen Meers der Johannesoffenbarung symbolisiert wird.77 An diesem Transformationsgeschehen mitzuwirken sieht Böhme nun als menschliche Aufgabe im Heilsgeschehen, die sowohl in alchemistischer Metaphorik als Hervorbringung des Steins der Weisen als auch in spiritualistischem Vokabular als Wiedergeburt in Christus oder als wahre Taufe durch Wasser und Geist geschildert wird. Grundsätzlich gilt es, das Lichtprinzip, Gottes eingeschlossenes »Liebefewer« unter dem Fluch wieder zu erwecken und die an Gott gestorbene Seele wieder mit Gottes Liebe zu »tingieren«, sodass ihre neu entzündete »Begierde« im Lichtprinzip zu quellen und schöpferisch tätig zu werden beginnt.78 Als Beispiel verweist Böhme auf die Wunder der Krankenheilung im Leben Jesu und findet mit dieser Denkfigur eine quasi natürliche, jedoch auf den qualifizierenden Kräften beruhende Erklärung für das, was menschlichen

73 Böhme: Mysterium Magnum, 18:34. 74 Ebd., 19:4: »Alda sanck er zu hand nieder in Unmacht in Schlaff, als in eine Unvermögenheit, welches den Tod andeutet: Denn das Bilde GOttes, welches unverrücklich ist, schläffet nicht; Was ewig ist, in deme ist keine Zeit, mit dem Schlaff aber ward im Menschen die Zeit offenbar, denn er schlieff ein der englischen Welt, und wachte auf der äußern Welt.« Ebenso Böhme: Von der Menschwerdung Jesu Christi, 6:6. Weiterführend zum Schlaf Adams auch Ernst Benz: Der vollkommene Mensch nach Jakob Böhme. Stuttgart 1937, S. 59 ff. 75 Böhme: De tribus vita hominis, 5:129. 76 Böhme: Theosophische Sendbriefe, 1:13; Edel: Die individuelle Substanz bei Leibniz und Böhme, S. 143 f. 77 Böhme: Psychologia Vera, 40:2; Off. 22,1. 78 Böhme: De signatura rerum, S. 582 f. Zu Böhmes Gleichsetzung von Wiedergeburt und alchemistischem Prozess vgl. Rusterholz: Zum Verhältnis von ›Liber Naturae‹ und ›Liber Scripturae‹ bei Jakob Böhme, S. 137 ff.



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Augen als Wunder erscheint. Jesus habe sich mit der fehlgeleiteten formierenden Kraft, alchemistisch Mercurius oder Werkmeister genannt, in den Kranken verbunden und diese mit seinem eigenen, lebendigen »Mercurius Göttlicher Eigenschaft« dahingehend (um-)geprägt (»tingiert«), dass diese nun selbst im Hunger nach Leben und Gesundheit entbrennen.79 Diese »Begierde« als schöpferisches Sehnen der nun aufgeweckten Seele lässt schließlich auch den Körper nach der neuen Eigenschaft »figurieren«, sich gestaltend verändern – seine Heilung wird von Jesus dann zurecht als »dein Glaube hat dir geholfen« kommentiert. Die Heilung besteht aber, genau betrachtet, in einer Transmutation des dunklen Prinzips ins helle, des »Angstqualls« in den »Lichtquall«, und diese Transmutation ist nicht nur das Handeln Christi, sondern auch das Handeln jedes wahren Magus.80 Böhmes Transmutations- und Magiekonzept ist von traditionellen Zaubereivorstellungen so weit entfernt wie seine Deutung des Heilshandelns Christi von einer zugerechneten Gerechtsprechung durch Christi Verdienst in der Konkordienformel. Da der Fall innerhalb der Kreatur stattfand, muss dasselbe auch für die Erlösung bzw. die Wiedergeburt gelten: Da in der Seele prinzipiell alle Eigenschaften liegen, entscheidet die willentliche Ausrichtung der Imagination, welche Eigenschaften erweckt werden. Je mehr der eigene Wille sich in Ausrichtung auf das Lichtprinzip selbst überwindet, also transparent wird für die Liebe Gottes, desto größere Wunder können durch ihn geschehen,81 da Gleiches auf Gleiches wirkt.82 Diesen Prozess nennt Böhme auch »Glauben«, wobei dieser Glaubensbegriff ähnlich wie derjenige Weigels in vernehmbarer Abgrenzung zum Konzept einer intellektuellen Überzeugung oder eines abfragbaren Katechismuswissens gezeichnet ist. Demgegenüber beschreibt Böhme Glauben als Wesensverwandlung, die er mit einer reichen Metaphorik des Essens von Gottes Wesen oder der Hervorbringung des Steins der Weisen ineins setzt.83 Christus erscheint als Typus für die Wiedergeburt und als wahrer Magus, den Böhme auch den »Durchbrecher« nennt, da er die Macht des Angstprinzips bricht84 und im Heilshandeln jene entscheidende Umprägung der seelischen Essenz veranlasst, die alle Veränderung der äußeren Form nach sich zieht (»figuriert«).

79 Böhme: De signatura rerum, S. 622 f. 80 Ebd., S. 587. 81 Böhme: Psychologia vera, 2:5; Böhme: Theosophische Sendbriefe, 11:7/8; zur Rolle der Imagination und entsprechenden poetologischen Konsequenzen auch Kemper: Deutsche Lyrik 3, S. 143. 82 Böhme: Mysterium Magnum, 11:10–13. 83 Böhme: Von der Menschwerdung Jesu Christi, 11:8; Böhme: De signatura rerum, S. 588. 84 Böhme: De signatura rerum, S. 584.

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Auf jene Neuausrichtung der schöpferischen Aufmerksamkeit, der Imagination, kann sich jedoch nur jeder Gläubige selbst einlassen. Hier reiht sich Böhme in die Reihe der spiritualistischen Kritiker an der Lehre von Christi Stellvertretertum ein.85 Jeder Mensch muss nach Böhme selbst in Christus »imaginieren«, ihn dadurch »anziehen« und damit die Christusgeburt im Inneren ermöglichen. Hier ergibt sich eine strukturelle Analogie zwischen Böhmes und Weigels Ausdeutungen der Geschichte von Fall und Erlösung, die sich beide auch auf die logosmystische Interpretation der hermetischen Erzählung von der Wiedergeburt beziehen lassen: Die Wiedergeburt als Rückkehr ins Licht-Prinzip stellt sich auch bei Böhme nach dem Modell der Gottessohnschaft der Begnadeten als Christuswerdung eines jeden dar.86 Ebenso schildert Böhme den Durchbruch in den inneren Himmel, der in der materiellen Welt verborgen liegt, als eine Transzendenz des personalen Erlebens. Mit Worten, die an die Ubiquitätserfahrung des Tat aus der hermetischen Wiedergeburtserzählung erinnern, die Böhme übrigens nie erwähnt, beschreibt er diesen Durchbruch bereits in der Aurora als eine kosmische Einheitserfahrung: Wenn nun dieses geschieht [der Durchbruch durch den Himmel ins Herz Gottes] so bist du wie der ganze GOtt ist, der da selber Himmel, Erde, Sternen und Elementa ist, und hast auch ein solch Regiment in dir und bist auch eine solche Person, wie der ganze GOtt im Loco 87 dieser Welt ist.

Ähnlich wie Weigel bestimmt Böhme die Differenz zwischen mystischer Erfahrung und alltäglichem Erleben als Bewusstwerdung der Relativität des Raum-

85 Böhme: Theosophische Sendbriefe, 20:7: »Denn es gilt nicht eine zugerechnete Gerechtigkeit, sondern eine eingeborene Gerechtigkeit aus GOttes Wesenheit als aus GOttes Wasser und Geist, wie uns Christus saget.« 86 Böhme: Von der Menschwerdung Jesu Christi, 12:17: »Setze deine Begierde in Christi Leben, Geist, Fleisch und Blut, imaginiere darein, als du hast in die irdische Sucht imaginieret, so wirst du Christus in deinem Leibe, in deinem Fleisch und Blut anziehen. Du wirst Christus werden; seine Menschwerdung wird sich zuhand in dir erregen, und wirst in Christus neugeboren werden.« 87 Böhme: Aurora, 23:13. Notierenswert ist, dass Böhme diese Erfahrung explizit gegen jeden Pantheismus abgrenzt: »Nun wirst du sagen, ich schreibe heidnisch. Höre und siehe und merke den Unterschied, wie dieses alles sei, denn ich schreibe nicht heidnisch, sondern philosophisch. […] Wenn du ansiehest die Tiefe, die Sternen, die Elementa, die Erde, so begreifst du mit deinen Augen nicht die helle und klare Gottheit. Und ob sie wohl allda und darinnen ist, sondern du siehest und begreifest erstlich mit deinen Augen den Tod, danach den Zorn Gottes und das höllische Feuer.« Böhme: Aurora, 23:10/11. Zur Differenzierung zwischen Pantheismus und Panentheismus bei Böhme auch Deghaye: Die Natur als Leib Gottes in Jakob Böhmes Theosophie, S. 72.



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Zeit-Kontinuums, was wiederum die hermetische Erzählung von Tats Ubiquitätserfahrung anschlussfähig macht: Es ist aber das Geschehene, Gegenwärtige und Zukünftige, sowohl die Weite, Tiefe und Höhe, nahe und weit in GOtt als ein Ding, eine Begreiflichkeit. Und die heilige Seele des 88 Menschen sieht solches auch, aber in der Welt nur stückweise.

Böhmes Deutung von Falls und Erlösung entfernt sich zusehends von den prominenten Lesarten der Person Jesu und des Heilshandelns Christi und übertrifft an Deutlichkeit selbst Weigels Deutung der Wiedergeburt. Böhme spricht vom »Prozess Christi« und umschreibt damit das Gehen aus der Ewigkeit in die Zeit und aus der Zeit in die Ewigkeit, um »der Zeit wunder in die Ewigkeit ein[zu] führen / vnd das Perlein offentlich dar[zu]stellen.«89 Die Perle, zentrale Metapher für das Reich Gottes im Seelengrund bereits bei Franck, symbolisiert auch bei Böhme noch die Überwindung des Todes,90 nicht als körperliche Auferstehung, sondern als ein Absterben der Zeitlichkeit, der der Zeit unterworfenen Persona, und die (Wieder-)Erweckung des Unvergänglichen. Damit koinzidiert die Aufhebung der Geschlechtlichkeit und grobstofflichen Körperlichkeit sowie die Wiedergewinnung der Androgynie und Geistleiblichkeit.91 In jener Wiedergeburt fließt das Erbe der Zeitlichkeit, »der Zeit wunder« als Erfahrung in die Ewigkeit zurück. Dieser Prozess ist entgegen der offiziellen kirchlichen Deutung kein Einzelschicksal der historischen Person Jesu, sondern das tiefe Ziel einer jeden Seele. Trotz seiner eigenwilligen metaphernreichen Sprache, die von der klaren Diktion der meisten weigelschen Texte ebenso weit entfernt ist wie vom philosophischen Dialogstil der hermetischen Traktate, entwirft Böhme damit ein in sich konsistentes, Zeit und Ewigkeit überspannendes Modell von Fall und Erlösung, das in entscheidenden Punkten mit den hermetischen und spiritualistischen Lesarten korrespondiert. Die wichtigsten Eckpunkte, die sich miteinander in Beziehung setzen lassen, bestehen in der weltgeschichtlichen Dynamik der Verselbstigung und Entselbstigung und dem mystischen Paradox, dass gerade in der Hingabe des eigenen Willens der Weg zur Wiedergeburt in Christus/dem Logos/ dem »Lichtprinzip« liegt. Zugespitzter im Vergleich zu Weigel, der in seinen schöpfungstheologischen Ausführungen die Paradiesgeschichte (Gen 2,4b ff.) ausspart, schildert Böhme die Dramatik des Falls. Für die Rezeption im späteren Pietismus maßgeblich dif-

88 Böhme: Aurora, Vorrede: 104. 89 Böhme: De signatura rerum, S. 585 f. 90 Ebd., S. 590. 91 Benz: Der vollkommene Mensch, S. 121 ff.; Kemper: Deutsche Lyrik 3, S. 144.

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ferenziert Böhme zwischen einem ersten und zweiten Fall Adams (Adams Schlaf sowie dem »Apfelbiss«) und verbindet die Geschichte von Fall und Erlösung mit dem Verlust und der Wiedergewinnung der Androgynie. Die Geschichte des Falls ist nach Böhme auch die Geschichte des Verlusts der keuschen, d.h. rein geistigen Einheit mit der göttlichen Sophia in androgyner Vollkommenheit, die durch die Begegnung mit der irdischen Eva ersetzt wird. Der Topos der verlorenen Androgynie jedoch ist neben Böhmes Genesis-Interpretation ebenfalls konstitutiv für den hermetischen Schöpfungsmythos im ersten Traktat des Corpus Hermeticum, womit sich wiederum ein augenscheinlicher Anknüpfungspunkt für die gemeinsame Rezeption ergibt. Ebenso lässt sich Böhmes Topos der Wiedergewinnung des himmlischen, prälapsarischen Leibs in Christus92 mit Hermes’ Schilderung seines »unsterblichen Körpers« in Beziehung setzen, in dem er im 13. Traktat die Wiedergeburt erlebt.93 Die Topoi der Wiedergeburt und des neuen Leibs in Christus/im Logos sind in verschiedenen Begrifflichkeiten wie das himmlische Fleisch (Schwenckfeld), der himmlische Leib (Weigel)94 oder der Kraftleib (Böhme) so konstitutiv für den spiritualistischen Diskurs, dass sich die Szene des 13.  Traktats, in der Hermes während seiner Geburt im Geist in einen nicht-stofflichen Körper eintritt, in diesen Diskurs integrieren lässt. Dabei zeigt die Rezeption im radikalen Pietismus, dass die topologischen und sprachlichen Korrespondenzen (auch bei Hermes bezieht sich die Begrifflichkeit des neuen Leibs weder auf die Eucharistie noch auf eine Kirche) wesentlich stärker ins Gewicht fallen als Datierungsfragen des hermetischen Textes. Eine weitere augenscheinliche topologische Korrespondenz zwischen den Schöpfungsmythen Böhmes und des Corpus Hermeticum besteht in der Metaphorik des Schlafen und Wachens, die die Dynamik der Ver- und Entselbstigung in der Sprache der Bewusstseinsphilosophie beschreibbar macht. In beiden Schöpfungsmythen ist der erste Mensch androgyn und kennt keinen Schlaf; in beiden Schöpfungsmythen korrespondiert der »Fall« mit einem tiefen Schlaf, einem Symbol für Unbewusstheit und dem Fall in die eigene »fantasey«.95 Diese Metaphorik des Schlafens und des Wachens kennt Weigel zwar in dieser Form nicht, jedoch lässt sie sich in der Rezeption mit dessen mystischer Augenmetaphorik assoziieren, dem Schließen der irdischen und Öffnen der geistigen Augen in der Wiedergeburt, zu dessen Illustration er bezeichnenderweise auf den 13. hermeti-

92 Böhme: Psychologia Vera, 33:12; Benz: Der vollkommene Mensch, S. 122 f. 93 CH XIII, 3, 14 (CHD I, S. 176, 182). 94 Weigel: Informatorium. In: PW 11, S. 121. 95 CH I, 15, 27 (CHD I, S. 15, 20); Böhme: Von der Gnadenwahl, 6:41/42; Benz: Der vollkommene Mensch, S. 40 f.



Kontinuität und Variation des Schöpfungswissens

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schen Traktat verweist. Böhmes Formulierungen zum Prozess Adams und Christi stellen also lediglich eine Zuspitzung gegenüber den spiritualistischen Texten und den hermetischen Trakaten dar: Während die Seele im Prozess Adams in einen tiefen Schlaf fällt, also symbolisch gesprochen unbewusst wird, wird sie von Christus wieder zu ihrer ursprünglichen Gestalt erweckt, womit der Prozess Christi für das Aufwecken oder Erwachen der Schlafenden, einem Symbol für Bewusstwerdung steht. Allhie ist er [Adam] nun in der Temperatur der götlichen welt ein geschlaffen / aus disem schlaffe mus ihn Nun Christus auff wecken […] führe Christum in Adam Ein / das Christus Adam in sich Neu gebähre vnd mit der liebe Tingire / das Er aus dem tiffen schlaffe auff wache / so hastu den gantzen process Adam vnd Christj / Den Adam ist das aus gesprochene geformbte Creaturliche wortt / vnd Christus ist das heilige ewige sprechende wortt / so wirstu die zeit in die ewigkeit ein führen / vnd wirst mehr sehen / als du in allen Büchern 96 der Menschen lernen magst.

Umfassender als in der rein spiritualistischen Literatur wie etwa bei Sebastian Franck bezieht dieser Prozess bei Böhme nicht nur die Läuterung der Seele, sondern die Reintegration der ganzen Schöpfung mit ein, da nicht nur im Menschen, sondern in der ganzen Natur das Lichtprinzip verborgen wurde und befreit werden will. Die Frage nach dem Sinn dieser Prozesse zwischen Zeit und Ewigkeit deutet Böhme ebenfalls analog zur hermetischen und mystischen Tradition in einer sprachlichen Wendung, die später über Goethes Faust II im literarisch-ästhetischen Diskurs zum Topos geworden ist: Alles Vergängliche ist (nur) ein »Gleichnis« und »Spiegel« des Ewigen.97 Erst im »Spiel« der Schöpfung kann sich das Eine erkennen und wird sich so schließlich seiner selbst bewusst: Sein Geist geht von Ihme aus, und entgegnet allen denen, die ihn suchen. Er ist Gottes Sucht, in der GOtt der Menschheit begehret, denn sie ist sein Bilde, das Er nach allem seinem Wesen geschaffen, in deme er sich selber sehen und erkennen will, und er wohnet auch im Menschen. […] Wir waren vor den Zeiten der Welt in seiner Weisheit erkant, und er 98 schuf uns ins Wesen, auf daß ein Spiel in Ihme sey.

96 Böhme: Von der Gnadenwahl, 6:44/45. Zum Motiv der verlorenen und wiederzugewinnenden Temperatur Rusterholz: Zum Verhältnis von ›Liber Naturae‹ und ›Liber Scripturae‹ bei Jacob Böhme, S. 140. 97 Böhme: Von der Menschwerdung Jesu Christi 3, 7:1: »[…] die göttliche Wesenheit begehret des Spiegels oder Gleichnis. Denn diese Welt ist ein Gleichnis nach Gottes Wesen, und ist Gott in einem irdischen Gleichnis offenbar.« 98 Böhme: De triplici vita hominis, 11:106.

VI. Die Geheimnisse der Mystici mit den Augen der Vernunft einsehen: Johann Conrad Dippel (1673–1734) 1. Zu Quellenlage und Forschungsfragen Die spiritualistische Kirchenkritik, die sich im Zuge der Konfessionalisierung des 17. Jahrhunderts zusehends verschärft hatte, findet im englischen Philadelphiertum und im deutschen Pietismus um 1700, insbesondere in seinem radikalen, separatistischen Flügel, ihre Fortsetzung und ihren Höhepunkt, der mit der beginnenden Frühaufklärung koinzidiert. Dieser Höhepunkt ist eng mit sozialhistorischen und damit lebenspraktischen Ängsten und Hoffnungen verbunden, die bereits in Friedrich Christian Büchers (polemischer) Analyse des Pietismus als platonisch-hermetischer Heterodoxie thematisiert werden: das pietistische Interesse für platonische und theosophische Schriften, die Praxis von Privatzusammenkünften, die neben oder sogar anstelle des Gottesdienstes stattfanden, und schließlich die Hinterfragung der Autorität der Amtskirche sowie die der symbolischen Bücher. Umgekehrt äußerte sich die Sehnsucht nach geistlicher und gesellschaftlicher Erneuerung in harscher Kritik an klerikalen und weltlichen Hierarchien sowie in chiliastisch-apokalyptischen Erwartungen zur Jahrhundertwende, die sich sehr explizit mit der Hoffnung auf das Ende der als ›Babel‹ verachteten Amtskirche verbanden.1 In diesem Kontext ist die letzte Analyse der Rezeptionsgeschichte der hermetischen Texte am Beispiel der Schriften des radikalpietistischen Freidenkers, Arzts und Alchemisten Johann Conrad Dippel (1673–1734) situiert. Dabei soll es wiederum nicht um eine vollständige Bestandsaufnahme des Gesamtkorpus

1 Friedrich Christian Bücher: Plato Mysticus in Pietista Redivivus, Das ist: Pietistische Übereinstimmung Mit der Heydnischen Philosophia Platonis Und seiner Nachfolger / Besonders in der Lehre von denen so genandten Himmlischen Entzuckungen / Alle und jede / Welche die wahre Gottseligkeit lieben  / für der Tiefe des Sathans zu warnen  / In einem Augenscheinlichen Parallelismo Richtig gezeiget / Schrifftmäßig erörtert / und dem Urtheil der Evangelischen Kirche übergeben. […] Danzig 1699; ders.: Lutherus Anti-Pietista, d.i. D. Martin Luthers Schrifftmäßiges Urtheil von dem Pietismo […]. Wittenberg 1701; ders.: Haupt=Gründe des Fanaticismi So in der Verführung unserer ersten Eltern / und der Schwärmer / zu der Apostel und Lutheri Zeiten Aus der H. Schrifft und der Christl. Antiquität eröffnet. Danzig 1699. Grundlegend zum kirchengeschichtlichen und sozialhistorischen Kontext Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht. Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus 1), S. 391–438.

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seiner Schriften gehen, sondern um die exemplarische Analyse der Texte und Themenkomplexe, in denen die sichtbare Auseinandersetzung mit den hermetischen Schriften philologisch nachweisbar ist. Dippels Texte bestehen zu einem Großteil aus Streitschriften. Anhand dieses Schriftkorpus lässt sich die situative Einbettung eines Interesses an den Schriften Weigels, Böhmes aber auch des Hermes Trismegistos im Kontext der innerlutheranischen Kontroversen verfolgen, die neben und in Auseinandersetzung mit Autoren der kirchlichen Tradition, der Patristik, aber auch den frühaufklärerischen Naturphilosophien erfolgte. Zu Dippels Gegnern in theologischen Kontroversen zählen im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts Theologen wie der Offenbacher Hofprediger Conrad Bröske, der Superintendent von Wernigerode Heinrich Georg Neuß (1654–1716), der Rostocker Professor Albert Joachim von Krakevitz (Krackewitz; 1674–1732) und – etwas später – sein Greifwalder Kollege, der Pietistengegner Johann Friedrich Mayer (1719–1798). In seinen späten Lebensjahren treten neben dem Hamburger Pastor Erdmann Neumeister (1671–1756) und dem Hallenser Theologen Joachim Lange (1670–1744) noch Vertreter des theologischen Wolffianismus wie der holsteinische Hofprediger und Konsistorialrat Peter Hansen oder der Inspektor von Nauen und spätere Hauptpastor der Michaeliskirche in Hamburg Friedrich Wagner (1693–1760) hinzu.2 Allerdings weist das Themenspektrum, das sich größtenteils auf theologische Sachfragen wie Taufe, Rechtfertigungslehre, Willensfreiheit, Sündenbegriff, Bekenntniszwang oder Verständnis Christi konzentriert, im Lauf der Jahrzehnte eine gewisse Kontinuität auf. Neben exemplarischen Analysen, die sich vor allem auf Dippels frühe Texte konzentrieren, liegt ein weiterer Schwerpunkt daher auf der ›hermetisierenden‹ Rezeptionsgeschiche des Freidenkers in der kulturellen Erinnerung, die bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts reicht.

2 Einige dieser Dispute sind aufgearbeitet; siehe Douglas H. Shantz: Between Sardis and Philadelphia. The Life and World of Pietist Court Preacher Conrad Bröske. Leiden/Boston 2008 (Studies in Medieval and Reformation Traditions 133), S. 187–219 (zum Disput mit Bröske); WolfFriedrich Schäufele: Taufe und Wiedergeburt bei Johann Conrad Dippel. In: Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005. Hg. v. Udo Sträter et al. Tübingen 2009, S. 219–228; Theodor Mahlmann: ›Die Rechtfertigungslehre ist der Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt.‹ Neue Erkenntnisse zur Geschichte einer aktuellen Formel. In: Zur Rechtfertigungslehre in der Lutherischen Orthodoxie. Hg. v. Udo Sträter. Leipzig 2005, S. 167–271 (zum Disput mit Krakevitz S. 171–176); Walther Rustmeier: Johann Conrad Dippel in Schleswig Holstein. I. Dippels Eingreifen in die Kontroverse Dassow-Muhlius. In: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte. 2. Reihe, 14. Bd. (1956), S. 36–50; Walther Rustmeier: Johann Conrad Dippel in Schleswig-Holstein. III. Dippels Kontroverse mit Petrus Hansen in Plön. In: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte. 2. Reihe, 16. Bd. (1958), S. 147–169.



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Vor einer Annäherung an die Texte Dippels sind einige Problembereiche zu reflektieren, nämlich erstens die kontroverse Rezeptionsgeschichte seines Werks und seiner Person, zweitens – als erste literaturwissenschaftliche Arbeit über Dippel – die Verbindung der Texte des streitbaren Theologen zur Literatur der Aufklärung sowie drittens die Bedeutung hermetischer Referenzen in seinem Werk. Im Gegensatz zum unauffälligen Leben und Sterben Weigels lebte Dippel ein Leben wie aus einem Roman, in dem er sich viele, auch diskursmächtige Feinde schuf. Der zu reflektierende Problembereich betrifft also weniger die Unsichtbarkeit seines Werks, sondern die teilweise extrem divergierende, tendenziöse historische Erinnerung an seine Person, die zu nicht unerheblichen Anteilen von der Historiografie seiner Gegner geprägt wurde und sich bis in die Forschungsliteratur des 20. Jahrhunderts eingeschrieben hat. Eine Biografie des 18. Jahrhunderts resümiert über Dippel: »Seine Schicksale sind merkwürdig, ein erheblicher Beytrag zur Geschichte der Denkungsart in Religionssachen seiner Zeiten, und ein redender Beweis von dem Unheil, welches Mangel der Duldung unter christlichen Menschen anrichtet.«3 Dieser »Mangel der Duldung« ist im Hinblick auf die Verschriftlichung der historischen Erinnerung an einen Querdenker mit zu reflektieren. Die Schriften Johann Conrad Dippels spielen für die Rezeption und Transformation hermetischen Wissens ins 18. Jahrhundert eine Schlüsselrolle, da sie einerseits Topoi der spiritualistischen Tradition beerben und diese andererseits im Kontext des frühaufklärerischen Problemhorizonts restrukturieren, rationalisieren und neu positionieren. Das knapp 3 000 Druckseiten umfassende Werk, das zeitgenössisch eine weite Verbreitung, mehrere Auflagen und eine Rezeptionsgeschichte bis zu Reimarus, Lessing und Schleiermacher aufweist, entstand im historischen Moment der frühen Aufklärung und der Hochphase des radikalen, die spiritualistische Tradition beerbenden Pietismus. Es spiegelt die epistemischen Transformationen aus den theologischen, philosophischen und naturphilosophischen Debatten um 1700. Nach Dippels Selbstverständnis sollen seine Texte dazu dienen, »die Geheimnisse der Religion, die sonst bei Mysticis in gantz einem andern Habit zum Vorschein kommen, in ihrem natürlichen Zusammenhang auch mit den Augen der Vernunfft einiger massen einzusehen.«4 Sie bieten sich für ein exemplarisches Studium der Rolle hermetischer Texte am histori-

3 Johann Christian Gottlieb Ackermann: Das Leben Johann Conrad Dippels. Leipzig 1781, S. 8. 4 Johann Conrad Dippel: Vorrede des Auctoris. In: Ders.: Eröffneter Weg zum Frieden mit GOtt und allen Creaturen Durch die Publication der sämtlichen Schrifften Christiani Democriti, […]. Hg. v. r Johann Conrad Canz. 3 Bde. Berleburg 1747, Bd. I, Bl. a2 (zur Zitierweise: Im Folgenden werden die Schriften Dippels alle nach dieser Ausgabe unter Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert).

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schen Endpunkt der spiritualistischen Tradition auch deshalb an, weil Dippel als eigenständiger Kopf und vielseitig belesener Autor gleichzeitig Außenseiter war, der keinerlei Konzessionen an den jeweiligen Zeitgeist machte.5 Dippels Texte weisen darüber hinaus eine beachtliche Wirkungsgeschichte bis in die Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf. Lessing beschäftigte sich im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Spinoza mit dessen Kritikern und resümierte, dass niemand Spinoza tiefer verstanden hätte als Dippel.6 Er besaß Dippels Schrift über die Willensfreiheit Fatum fatuum (Amsterdam 1708), eine umfassende Zusammenschau und Kritik frühaufklärerischer und traditioneller, hier: hermetischer Naturphilosophie, die für sein eigenes Bekenntnis zum Spinozismus in der charakteristisch hermetischen Formel ›Hen kai Pan‹ anstelle des spinozistischen ›Deus sive Natura‹ nicht unwesentlich gewesen sein dürfte.7 Johann Kaspar Lavater (1741–1801) urteilte über Dippel, »wirklich ein philosophischer Kopf« gewesen zu sein, der in vielen Dingen, für die er verurteilt worden war, »so gar Unrecht nicht« gehabt hätte.8 Auch Herder, der auf die konfessionell geprägten Kämpfe zu Beginn des Jahrhunderts aus gebührendem Abstand zurückblicken konnte, behauptete, dass Dippel, »der freche Dippel«, dem Luthertum sogar »nützlich« gewesen sei, um das Christentum von konfessioneller Engstirnigkeit, päpstlichen Verhärtungen und Ketzerverfolgungen zu befreien.9 Der Artikel über Dippel in Johann Anton Trinius’ Freydenker=Lexicon (1759), das dieser dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze widmete, ist der mit Abstand längste Artikel im ganzen Lexikon, neben dem sich die – aus heutiger Sicht – ›großen‹ Philosophen der Aufklärung geradezu bescheiden ausnehmen. Er enthält eine bis heute nicht überholte Bibliografie der Schriften Dippels, seiner Gegner, Rezensionen und ein Verzeichnis seiner Freunde und Anhänger. Allerdings charakterisiert der Artikel Dippel nicht untendenziös als »grobe[n] Indifferentist[en] und fanatische[en] Freygeist«.10 Hermann Samuel Reimarus

5 Stefan Lorenz: De mundo optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791). Stuttgart 1997, S. 135. 6 Richard Daunicht (Hg.): Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München 1971, S. 171. 7 Im Hinblick auf Lessings ›Hen kai Pan‹ und Cudworths ›True Intellectual System of the Universe‹ Jan Assmann: ›Hen kai Pan‹. Ralph Cudworth und die Rehabilitierung der hermetischen Tradition. In: Aufklärung und Esoterik. Hg. v. Monika Neugebauer-Wölk. Hamburg 1999, S. 38–52. 8 Johann Kaspar Lavater: Reisetagebücher. Hg. v. Horst Weigelt. Teil 1: Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 & 1764. Göttingen 1997, S. 126. 9 Johann Gottfried Herder: Adrastea, 3. Bd. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Bd. XXIII, Hildesheim 1967, S. 494. 10 Johann Anton Trinius: Freydenker=Lexicon, oder Einleitung in die Geschichte der neuern



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(1694–1768) übernahm in seiner Apologie der vernünftigen Verehrer Gottes sogar fast wörtlich Dippels Argumente gegen die Rechtfertigungslehre, ohne allerdings diesen namentlich zu nennen. Ein Fragment seiner religionsphilosophischen Arbeiten, Gedanken von der Freyheit eines vernünftigen Gottesdiensts, entstand in Auseinandersetzung mit einem literarischen Schlagabtausch zwischen Dippel und Friedrich Wagner aus den Jahren 1731 und 1732. Reimarus verfasste ein Kapitel Untersuchung der Schlüsse des Herrn Friedrich Wagners, welche derselbe bey Gelegenheit der Widerlegung des Democritus von dieser Materie angebracht hat. Zur Veröffentlichung kam es allerdings nicht, da Wagner 1743 nicht nur Senior des Geistlichen Ministeriums in Hamburg, sondern damit auch Reimarus’ Vorgesetzter geworden war.11 Dippels Texte haben sowohl in den religiösen wie in den naturphilosophischen Diskursen des 18. Jahrhunderts ein nicht zu unterschätzendes Echo gefunden, das mit der Vermittlung, Rationalisierung und Pragmatisierung hermetischer Literatur verbunden ist. Die Forschung hat für die unproblematisierte Lektüre der Texte des Corpus Hermeticum nach dem Jahr 1614 den Begriff des »reaktionären Hermetismus« geprägt,12 der sich einerseits auf fehlendes philologisches Bewusstsein bezieht, andererseits jedoch in Bezug auf eine undifferenzierte Anwendung auf radikalpietistische, von Böhmes Theosophie geprägte

Freygeister ihrer Schriften und deren Widerlegungen. Leipzig und Bernburg 1759, Sp. 182–235. Goldschmidt macht auf die Artikellänge als Indikator des Gewichts, das Dippel zugemessen wurde, aufmerksam. Während Dippels Artikel ganze 60 Seiten umfasst, ist der zweitlängste Artikel nur halb so lang. Spinoza sind 27, Hobbes neun und Hume nur vier Seiten gewidmet. Stephan Goldschmidt: Johann Konrad Dippel und die Aufklärung. In: Aufklärung in Hessen. Facetten ihrer Geschichte. Hg. v. Bernd Heidenreich. Wiesbaden 1999, S. 95–106, hier S. 96. 11 Gerhard Alexander: Spinoza und Dippel. In: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Hg. v. Karlfried Gründer und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Heidelberg 1984 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 12), S. 93–110, hier S. 93. In Bezug auf die Ausführungen zu Dippel und Spinoza ist Alexanders Analyse jedoch problematisch. Reimarus greift Dippels zentrale These, den Tod Christi nicht länger als Sühnopfer zu deuten, auf. Für Dippel war sie eng mit der Vorstellung verbunden, dass Gott nichts bedarf und daher vom Menschen auch nicht beleidigt werden konnte. Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. v. Gerhard Alexander. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1972. Hier Bd. 2, S. 475 ff.; zu Reimarus’ Auseinandersetzung mit Dippel Bd. 1, S. 23. Siehe auch Hans-Werner Müsing: Speners Pia Desideria und ihre Bezüge zur deutschen Aufklärung. In: Pietismus und Neuzeit 3 (1976) S. 32–70, hier S. 55. 12 Der Begriff des »reaktionären Hermetismus« stammt von Frances A. Yates: Giordano Bruno and the Hermetic Tradition. Chicago 1964, S. 398–455. Aufgenommen und fortgeführt wird er von Martin Mulsow: Ideologien der Anciennität, philologische Kritik und die Rolle der ›neuen‹ Naturphilosophie. In: Mulsow: Das Ende des Hermetismus, S. 1–13, hier S. 4; ebenso ders.: Reaktionärer Hermetismus vor 1600? Zum Kontext der venezianischen Debatte über die Datierung von Hermes Trismegistos. In: Ebd., S. 161–185; sowie Wels: ›Verborgene Theologie‹, S. 257.

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Texte nach 1700 nicht unproblematisch ist. Dippels Texte sind tatsächlich ein Beispiel für eine Lektüre des Corpus Hermeticum als Schriften eines historischen Autors Hermes noch bis ins Jahr 1727, und zwar trotz des Wissens um die Spätdatierung der hermetischen Texte durch Isaac Casaubon. Die vermeintliche philologische Nachlässigkeit steht allerdings in scharfem Kontrast zu einer philologisch sehr bewussten, teilweise geradezu dekonstruktivistischen Herangehensweise an Texte der christlichen Autoritäten von Luther bis Augustinus, die Dippel für die gesamte Rezeptionsgeschichte das Prädikat des »radikalen« – Pietisten, Freidenkers  – eingebracht hat.13 Die scheinbare Begriffsparadoxie aus »reaktionärem« Hermetismus (ohne philologisches Bewusstsein) und »radikalem« Pietismus (mit philologischem Bewusstsein) in Personalunion löst sich auf, wenn sie im historischen Kontext auf das zentrale Anliegen der »Radikal«-Pietisten zurückgeführt wird, nämlich das Christentums durch die Rückwendung auf die Urkirche – die Wurzel – zu erneuern. Im Zuge dieses Anliegens bleiben die Texte des vermeintlich ältesten Weisen einer kulturell anderen Tradition interessant, wobei das bereits durch Sebastian Franck etablierte Deutungsmuster des Hermes als Mystikers diesen für die Rezeption anschlussfähig macht. Die scheinbar nur partiell ausgeprägte philologische Sensibilität ist bei Dippel kein Einzelfall, sondern zeigt sich zeitgleich im Werk Gottfried Arnolds.14 Dippel liest das Corpus Herme-

13 Bereits 1982 hat Hans Schneider eine Reflexion des Radikalitätsbegriffs vorgeschlagen, die auch außerhalb der Pietismusforschung Aufmerksamkeit verdient. »Radikal« leitet sich demnach zunächst etymologisch von »wurzelhaft« her und entspricht den Synonymen »entschieden« und »konsequent«. Begriffsgeschichtlich trat erst mit den revolutionären Bestrebungen des 19. Jahrhunderts die Bedeutung »extrem eingestellt« hinzu, die dem Komplementärbegriff »konservativ« gegenübersteht. Hans Schneider: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), S. 15–42, hier S. 20. Umfassend zum Begriff und zur Sinnhaftigkeit seiner Verwendung auch Ariel Hessayon/David Finnegan: Introduction. Reappraising Early Modern Radicals and Radicalisms. In: Varieties of Seventeenth- and early Eighteenth-Century English Radicalism in Context. Ed. by Ariel Hessayon and David Finnegan. Surrey/Burlington 2011, S. 1–29. 14 Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung. Tübingen 2004, S. 303. Beide Gelehrte verbindet in diesem historischen Kontext das Projekt einer Neudeutung der eigenen Geschichte (siehe Arnolds Unpartheyische Kirchen= und Ketzerhistorie sowie Die erste Liebe der Gemeinen Jesu Christi), in dem diese partielle philologische Sensibilität weder »reaktionär« noch »radikal«, sondern einfach als textuelle Strategie erscheinen kann. Zum Hermetismus bei Arnold Rudolph Schlögl: Hermetismus als Sprache der ›Unsichtbaren Kirche‹. Luther, Paracelsus und die Neutralisten in der Kirchenund Ketzerhistorie Gottfried Arnolds. In: Trepp/Lehmann (Hg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis, S. 165–188. Zum strategischen Schreiben über häretische Themen Verf.: Theologie als Theosophie. Hermes Trismegistos und die Wiedergeburt im radikalen Pietismus um 1700. In: Pietismus und Neuzeit (34). 2009, S. 135–166.



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ticum als praktischer Naturforscher und als Theologe und nennt in seiner Hermeslektüre nun gerade den ersten und den 13. Traktat des Corpus Hermeticum als besonders sinnstiftend, also genau die Texte, die bereits für Franck und Weigel maßgeblich waren, womit er eine Kontinuität der Hermes-Rezeption innerhalb der spiritualistischen Literatur bezeugt. Neben die Lektüre des Corpus Hermeticum tritt bei Dippel eine lebenslange, durchaus auch kritische Wertschätzung Jakob Böhmes.15 Dippels Texte erregten bisher vor allem wissenschaftliches Interesse von Seiten der Theologie,16 wobei sich das Interesse in der Frage nach seiner Stellung zwischen Pietismus und Aufklärung verdichtete. Dabei lautet eine prominente These, dass Dippels radikalpietistische Polemik gegen die lutherische Orthodoxie noch vor jedem Kontakt mit den Schriften der europäischen Frühaufklärung gleichsam einer Aufklärung avant la lettre den Weg bereitet habe.17 Ohne eigene Untersuchung ist bisher die Rolle, die Dippels Interesse an den Texten des hermetischen Diskurses in der Gemengelage von Pietismus und Aufklärung gespielt hat.18 Hier dürfte ein Ansatzpunkt liegen, um die Ambiguität des Dippel-

15 Bereits 1951 wünschte Emanuel Hirsch (1888–1972) eine genauere Darstellung über Dippel, fügte aber hinzu, eine gründliche Kenntnis Böhmes sei die »Voraussetzung« zu einer befriedigenden Darstellung von Dippels Theologie. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. 5 Bde. Gütersloh 1949 ff., hier Bd. 2 (1951), S. 277. 16 Eine überaus akribisch recherchierte und übersichtliche Darstellung der gesamten Dippelforschung vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart bietet Stephan Goldschmidt: Johann Konrad Dippel (1673–1734). Seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung. Göttingen 2001, S. 16–32. 17 Die These liegt der Arbeit Wilhelm Benders zugrunde: Johann Konrad Dippel. Ein Freigeist aus dem Pietismus. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Aufklärung. Bonn 1882. Lange vor Wolffs Philosophie oder einer Rezeption deistischer Literatur aus England habe Dippel alle wesentlichen Ideen der deutschen Aufklärung aus pietistischen Postulaten heraus entwickelt (S. 30). Erweitert ist die These bei Stephan Goldschmidt: Johann Konrad Dippel und die Aufklärung. In: Aufklärung in Hessen. Facetten ihrer Geschichte. Hg. v. Bernd Heidenreich. Wiesbaden 1999, S. 95–106. Maßgeblich siehe ebenso Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie 2, S. 277–298; Heinz Laag: Der Pietismus ein Bahnbrecher der deutschen Aufklärung. In: Theologische Blätter 12 (1924), S. 269–277; Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendland. Frankfurt a.M. 1989 (Stuttgart 1920–1923), Bd. III, S. 180 ff.; Erich Seeberg: Gottfried Arnold und die Mystik seiner Zeit. Meerane 1923, S. 560 f.; W. Klose: Johann Konrad Dippel und Antoinette Bourignon nach Leben und Lehre dargestellt. In: Zeitschrift für historische Theologie 13 (1851), S. 467–510. 18 Bereits Siegmund Jacob Baumgarten rückt Dippel neben Böhme als Theosophen neben die Gnostiker: Untersuchung theologischer Streitigkeiten. Hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1762, S. 119. Die Verbindung zu Böhme greift Hirsch auf: Geschichte der neuern evangelischen Theologie 2, S. 281 ff. Dippels naturphilosophisch alchemistische Phase verfolgt Bender: Johann

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Bildes, das vor allem von der frühen theologischen Forschung entworfen wurde, zu erklären. Irritiert durch Dippels aufklärerische Religionskritik und medizinische Empirie einerseits sowie seine Orientierung an Mystik und Alchemie andererseits lag in der älteren Forschung der Schluss nahe, ihm »keine geschlossene Weltanschauung«19 zuzusprechen und, rekurrierend auf die spätaufklärerische Historiografie nach Johann Christoph Adelungs Geschichte der menschlichen Narrheit (1785), Dippel der vagen Kategorie des »Schwärmers« oder sogar des »Phantasten« zuzuweisen.20 Hatte die Heftigkeit der zeitgenössischen theologischen Polemiken gegen Dippel diesen zumindest noch als ebenbürtigen Gegner gezeigt,21 tendierte das Prädikat des Schwärmertums nun dazu, den habilitierten Theologen und promovierten Mediziner im kulturellen Gedächtnis zu einem Kuri-

Konrad Dippel, S. 80–100; Kemper eruiert Bezüge zum Hermetismus: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. 2 Bde. Tübingen 1981, Bd. 1, S. 227–238, u. Bd. 2, S. 259–266. Als fundierteste neue Arbeiten zu Dippel deuten Goldschmidts Arbeiten lediglich auf den Hermetismus hin, betonen jedoch, dass dieser ohne Einfluss auf Dippels Theologie geblieben sei. Goldschmidt: Johann Konrad Dippel und die Aufklärung, S. 101; Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 271. 19 Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. Bonn 1884, S. 334. 20 So beispielhaft ebd., Bd.  2, S. 335. Siehe auch Johann Christoph Adelung: Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen= und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager und anderer philosophischer Unholden. Leipzig 1785. Teil 1, S. 314–347, hier S. 314 f., und Samuel Baur: Johann Konrad Dippel. Theolog und Arzt, Schwärmer und Theosoph. In: Ders.: Interessante Lebensgemälde der denkwürdigsten Personen des achtzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. Leipzig 1803, S. 290–309 (im Absatz Schwärmer und Narren). Hier wiederum konnte zurückgegriffen werden auf Walch, der Dippel als »Haupt der neuen Schwärmer und Indifferentisten« ausmachte: Johann Georg Walch: Historische und Theologische Einleitung in die Religionsstreitigkeiten der Evangelisch-lutherischen Kirche. Bd. 2. Jena 1733 (Stuttgart 1972), S. 718. 21 Bedenklich, aber in diesem Kontext erwähnenswert sind Forschungsbeiträge noch aus der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts, die das adelungsche Dippel-Bild unreflektiert fortschreiben. Hatte Adelung Dippels angeblich fehlendes System als »Gemisch« unzusammenhängender Sätze aus dessen fehlendem »Charakter« abgeleitet (Adelung: Geschichte der menschlichen Narrheit 1, S. 314) und in ihm daher einen »Raufbold« ausgemacht (S. 322), urteilt noch im Jahr 1984 ein Aufsatz, der »ausgesprochene[ ] Raufbold« Dippel lebe »seine Zügellosigkeit in seinen Schriften« aus (Alexander: Spinoza und Dippel, S. 101). Dieses Urteil lässt sich aus dem langen Fortleben eines Topos aus dem frühen Lebens=Lauff Dippels (1698) ableiten, den dieser im Zuge seiner Hinwendung zum Pietismus verfasst hatte. Dippels betont bußfertige Schilderung seiner jugendlichen Untaten (z. B. eine Prügelei als Student) weist deutliche Bezüge zum klassisch pietistischen Narrativ der Abwendung vom »alten Adam« auf, wird aber über Adelung bis zu Alexander undifferenziert auf die Gesamtheit seines Lebens und Werks ausgedehnt – womit das Bild eines nun philosophischen »Raufbolds« konstruiert wird.



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osum der Geistesgeschichte zu entintellektualisieren, was in dem Maße geschah, in dem der komplexe, interdisziplinäre Kontext der dippelschen Schriften verblasste. Erinnert wird er bis in die Gegenwart als »eine der schillerndsten Figuren der Zeit um 1700.«22 Die Kategorie des Schillernden, die abgewandelt auch in medizinhistorischer Forschung für Dippels medizinisches Konzept und seine Naturphilosophie zitiert wird,23 lässt sich ebenso aus den extrem divergierenden, teilweise emotionalen und tendenziösen Zeugnissen der Zeitgenossen ableiten wie aus dem forschungsleitenden Aufklärungsbegriff langer Jahre, der sich am Konzept einer »Durchsetzung der Vernunft«24 orientierte. Dieser übernahm zwar nicht Adelungs Häme, aber doch seine Orientierung an einem auf die Moderne verweisenden Vernunftbegriff, dem der frühneuzeitliche Wissenshorizont, vor dem Dippel argumentierte, fremd erschien. Im Hinblick auf Dippels Werk allerdings verstellt das Prädikat des Schillernden den Blick für die konzeptionelle Geschlossenheit und jahrzehntelange Konstanz der entscheidenden Eckpunkte in Dippels Theologie und Naturphilosophie, die – abgesehen von Nuancen in Disputen mit wechselnden Gegnern – über weite Strecken hinweg unverändert bleiben.25 Was sich in der Tat ändert sind die intellektuellen Kontexte und Debatten, in denen Dippel sich zu Wort meldet. Während Dippel zeitlebens unter Rückgriff auf spiritualistische Theoreme eine vehemente Dogmen- und Institutionskritik formulierte, setzte er sich ab dem ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts kritisch mit den

22 Ernst Fischer/Udo Roth: Art. »Dippel«. In: Literaturlexikon 3 (2008), S. 42–44, hier S. 42. Die Begrifflichkeit des Artikels orientiert sich an einer über ein Jahrhundert fortgeschriebenen Deutungstradition zu Dippel als »eine der merkwürdigsten Erscheinungen des vorigen Jahrhunderts. Fast alle glaubensfeindlichen Elemente seiner Zeit vereinigen sich unbeschadet der zwischen ihnen selbst waltenden Gegensätze.« So Max Grundwald: Spinoza in Deutschland. Berlin 1897, S. 67. 23 Irmtraud Sahmland: Das medizinische Konzept Johann Conrad Dippels im Kontext geistesgeschichtlicher Tendenzen um 1700. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. v. Udo Sträter et al. 2 Bde. Tübingen 2005. Bd. 2, S. 597–610, hier S. 610. Dippel vertrat ein eigenständiges, in sich schlüssiges medizinisches Konzept, das aber außerhalb der prägenden Entwickungen und der kulturellen Erinnerung der Medizingeschichte geblieben ist. Irmtraud Sahmland: Pietistische AnatomieKritik. In: Alter Adam und neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Hg. v. Udo Sträter et. al. 2 Bde. Tübingen 2009, Bd. 2, S. 795–808, hier S. 808. 24 Werner Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990, S. 20 f. 25 Auch Goldschmidt betont wiederholt, dass sich Dippels Theologie nach Papismus Protestantium vapulans (1698) nicht mehr grundlegend ändert. Dippel ist beim Erscheinen der Schrift 25 Jahre alt. Goldschmidt: Johann Konrad Dippel und die Aufklärung, S. 101.

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Hauptvertretern der europäischen Frühaufklärung auseinander. In den 1720er und 30er  Jahren spottete er über die moderne Philosophie von Leibniz, Wolff und Descartes sowie über die protestantische Theologie, die sich dem Wolffianismus geöffnet hatte. Doch auch gegenüber pietistischer Gemeindebildung ging er auf Distanz und konterkarierte nicht zuletzt das inzwischen naheliegende Bild eines bärbeißigen Ewiggestrigen durch eine differenzierte Position gegenüber der Alchemie sowie einer aufklärerisch gehaltenen Kritik an den vermeintlich prophetischen Aussprachen der Inspirierten.26 Aus der Perspektive eines modernen Vernunftbegriffs oder einer am Fortschrittsgedanken orientierten Historiografie musste allein diese Quellenlage »schillernd« erscheinen. Dippels Texte liegen in der weitgehend vollständigen Gesamtausgabe seiner Schriften vor, die unter dem Namen Eröffneter Weg zum Frieden mit GOtt im Jahr 1747 in Berleburg von Johann Conrad Canz (1680–1764) herausgegeben und im Verlag Johann Friedrich Haugs (1680–1753) gedruckt worden war.27 Daneben existieren verschiedene (Pseudo-)Dippel-Schriften, die den publikumsträchtigen Namen Dippels für eigene Anliegen in Anspruch nahmen und dadurch nicht unerheblich zum Bild des Schillernden um seine Person im kulturellen Gedächtnis beitrugen. Diese (Pseudo-)Dippel-Schriften wurden bereits im 18. Jahrhundert undifferenziert unter Dippels Namen rezipiert, wie die Aufzählung radikalpietistischer Literatur in Luise Adelgunde Gottscheds Komödie Die Pietisterey im Fischbein-Rocke zeigt, die gleich mit einem (pseudo-)dippelschen Text einsetzt: Christianus Democritus redivivus, das ist: der zwar gestorbene, in seinen Schrifften

26 Dippel: Christiani Democriti Bedencken über das heutige mit extraordinairen Concussionen oder Bewegungen des Leibes verknüpffte Inspirations-Werck (1731), Bd. III, S. 595–602. Weiterführend Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten. Göttingen 1995. 27  Es fehlt lediglich eine anonyme, satirische Schrift Glückwünschender Zuruff An die Würdige und andächtige Gerichts=Diener der Stadt Altona, nachdem dieselbe ohnlängst in denen passirten excessiv=heissen Hunds=Tagen dieses 1718. Jahres, Vom jetzigen Hrn, Probsten und dann dem gewesenen Vice=Praesidenten erwähnter Stadt, Hrn. Lang-Reuther, ordentlich zu Mit=Gehülfen an den heiligen Sacramenten sind installiret worden, Und den ersten Tauff=Actum den 16. August An zweyen den Eltern mit Gewalt entzogenen Kindern executive verrichten helffen. In voller Hoffnung, Auch bald unter die Sacramenten=Diener mit auffgenommen zu werden, Ausgeschüttet und gesungen Von dem Scharff=Richter erwähnter Stadt. Siehe Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, S. 189. Weitere Dokumente in Walter Rustmeier: Konrad Dippel in Schleswig Holstein IV. Drei Dokumente. In: Schriften des Vereins für SchleswigHolsteinische Kirchengeschichte. 2. Reihe. Bd. 17 (1959/60), S. 69–76. Zur Auflistung der bekannten Schriften und zur Quellenkritik allgemein siehe die Kapitel bei Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 279–287 u. 291–302, sowie Karl Ludwig Voss: Christianus Democritus. Das Menschenbild bei Johann Conrad Dippel. Leiden 1970, S. 118–120.



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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noch lebende und nimmer sterbende Königl. Dänische Cantzeley-Rath Dippel.28 Ein anonymer Autor spätböhmistischer Schriften wird bereits zu Dippels Lebzeiten mit Dippel assoziiert, sodass dieser sich gezwungen sah, sich 1733 von der ihm zugeschriebenen Schrift Microcosmische Vorspiele zu einem neuen Himmel und einer neuen Erde zu distanzieren.29 Mit Christiani Democriti / Redivivi / Umständliche Erzehlung / Wie es mit seinem vermeinten Tode zugegangen sey (1736) setzt der Anonymus zwei Jahre nach Dippels Tod die für die Rezeption folgenschwere These in die Welt, Dippel sei gar nicht gestorben, sondern habe einen anderen an seiner Stelle beerdigen lassen und lebe nun an einem geheimen Ort in einer geheimen Gesellschaft.30 Hinter diesem Anonymus verbirgt sich der Utopist Johann Friedrich Bachstrom (1686–1742),31 ebenso wie hinter der Schrift Christiani Democriti redivivi / Mystisches Paradies.32 Während der Autor Dippel damit durchaus nach Foucault zu einer »Diskursformation« wird, sind von dieser Diskursformation die historischen DippelSchriften zu differenzieren, wozu die vorliegenden Gesamtausgaben eine wertvolle Hilfestellung geben. Die beiden Gesamtausgaben der dippelschen Werke zeichnen sich dadurch aus, dass sie sorgfältig erstellt wurden. Dippel selbst schreibt in der Vorrede des Auctoris der Ausgabe von 1709, dass er seine Schriften alle unverändert übernommen habe,33 und dass er es den Lesern überlasse zu wählen, was diesen zur »inneren Führung und Reinigung der Herzen unmittelbar

28 Christianus Democritus redivivus, das ist: der zwar gestorbene, in seinen Schrifften noch lebende und nimmer sterbende Königl. Dänische Cantzeley-Rath Dippel; in einem summarischen Auszuge seiner ehemaligen und letzteren Theologischen Schrifften, deren Liebhabern der unpartheyischen Wahrheit mitgetheilet von einem ungenannten Freunde derselben. Friedrichsstadt 1736; Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, S. 102 f. Siehe dazu den Kommentar von Dippels Herausgeber Canz in Bd. III, S. 693. 29 Dippel: Christianus Democritus ein Aufrichtiger Protestant gegen Ein in verwichener Leipziger Jubilate=Messe ihm fälschlich zugeschriebenes Scriptum […] (1733), Bd. III, S. 399–466. Der Text ist interessant in Bezug auf Dippels Selbstpositionierung innerhalb des alchimistischen Diskurses. Während er die Nützlichkeit der praktischen Alchemie betont, distanziert er sich von ihrer Überhöhung zum Heilsweg. 30 Christiani Democriti  / Redivivi  / Umständliche Erzehlung  / Wie es mit seinem vermeinten Tode / zugegangen sey / Und / Wie er nebst seiner neuen Gesellschaft ietzt in der Einsamkeit / Den Fall Adams / Und / / Ursprung der Sünde / Und Alles Bösen / Gantz anders und besser als vormahls eingesehen. Gedruckt auf dem Johannis=Berge / in der Wüsten 1736. Siehe dazu Götz Müller: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur. Stuttgart 1989, S. 91 ff. 31 So auch von Canz identifiziert, der die Geschichte als »frei erfunden« bezeichnet. Dippelii Personalia III, S. 747 f. 32 Müller: Gegenwelten, S. 93. 33 Dippel: Vorrede des Auctoris über seine sämtliche Schrifften, so viel deren bis Anno 1709 zum r Vorschein kommen, Bd. I, a2 .

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

dienen« kann. Dabei bleibt nicht unerwähnt, dass er auf seinem Werdegang »alle Thorheit und Præjudicia der Sectirer und sogenannten Gelehrten durchwandert« habe, sodass die versammelten Schriften seine Entwicklung spiegeln. Ausdrücklich reagiert Dippel mit dieser Sammlung auf ein drängendes Publikumsinteresse, da die Verleger schon nach dieser »längst verlangte[n] Edition« angemahnt worden waren.34 Dabei sind bei ihm Konzessionen weder an das Publikum noch an kirchliche Erwartungen zu befürchten: In der Vorrede betont er ausdrücklich, das Urteil über sein Schreiben dem »erleuchteten und unpartheyischen Leser[ ]«35 anheimzustellen, ohne den Anspruch zu erheben, »daß jemand sich nach meiner Conduite richte«.36 Die Gesamtausgabe in drei Bänden aus dem Jahr 1747 erschien 13 Jahre nach Dippels Tod und ist ein Zeugnis für den publikumsträchtigen Bekanntheitsgrad seiner Werke auch noch über seinen Tod hinaus. Zu seinen Lebzeiten hatten seine Schriften mehrere Auflagen und Übersetzungen gefunden, die ein weites Echo in Rezensionen fanden37 und teilweise trotz ausdrücklichen Verbots unter die Druckpresse gelangten.38 Nun wurden sie vom Mediziner Johann Conrad Canz gesammelt, dem Bruder des Israel Gottlieb Canz (1690–1753), Vertreter des theologischen Wolffianismus an der Universität Tübingen.39 Gedruckt wurde sie im Verlag Haugs, der »früheste deutsche Spezialverlag für kirchlich beargwöhnte Erbauungsliteratur«.40 Die Gesamtausgabe der Schriften Dippels wurde zu einer Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs als Großprojekt geplant, an das nichts

r

34 Ebd., a1 . 35 Ebd. r 36 Ebd., a2 . 37 Ausführlich mit Beispielen zu den einzelnen Schriften und ihren Auflagen Goldschmidt: Johann Conrad Dippel und die Aufklärung, S. 95 f. u. 104. 38 Zur Umgehung des Druckverbots und der »Kühnheit« einer zweiten Auflage von Dippels Wein und Öl in die Wunden des gestäupten Papstthums vgl. Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt im radikalen Pietismus, S. 137 f. 39 Ironischerweise verkörperten die beiden Brüder Canz exemplarisch die konträren Positionen der Dippel-Rezeption: Während Israel Gottlieb 1735 Dippel mit einer Gegenschrift zu widerlegen suchte, widmete sich Johann Conrad mit viel Sorgfalt der Herausgabe des dippelschen Œuvres und nahm Dippel im Anhang Dippelii Personalia gegen eine Vielzahl an Verleumdungen in Schutz. Siehe Lorenz: De mundo optimo, S. 149, und Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt, S. 101 ff. 40 Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt, S. 163 f. Siehe dort ausführlich mit weiteren Quellen zu Druckgeschichte und Protagonisten der Gesamtausgabe S. 101–106 sowie 416–418. Unter der Leitung Haugs entstand in den Jahren 1726–1742 auch die achtbändige Berleburger Bibel, das Großprojekt des deutschen Philadelphiertums. Ausführlich Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus 2), S. 107–197, hier S. 160 ff.



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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weniger als die Hoffnung für das wirtschaftliche Überleben des Verlags geknüpft war.41 Der Herausgeber Johann Conrad Canz hat Dippel gekannt und fertigte bereits zu Dippels Lebzeiten ein Exzerpt der Hauptlehren Dippels an, das dieser anerkannte und für seine Deutlichkeit lobte.42 Canz bemühte sich noch mehr als Dippel selbst, der nie Interesse an einer Anhängerschaft hatte, die Texte einem breiten Publikum zugänglich zu machen, indem er nicht nur den lateinischen Traktaten, sondern ausnahmslos allen lateinischen Fremdwörtern im Text eine deutsche Übersetzung beifügte. Und dies geschah ausdrücklich »auf inständiges Verlangen vieler unstudirten und fremder Sprachen ganz unkundigen Liebhaber dieser Schrifften«.43 Mit seinem Vorgehen, so erklärt Canz, erschließen sich die Texte allen Leserschichten, denn »dem Unstudirten, wie auch den gemeinen Leuten, wird dadurch geholffen, daß sie Dinge verstehen lernen, die ihnen zu wissen ebenso nützlich, ja auch nöthig sind, als den Allergelehrtesten.«44 Ausdrücklich unter Verweis auf die Nachfragen von Interessenten ergänzt Canz im Kapitel Einige zu spät zu Handen gekommene Stücke noch sehr frühe Schriften Dippels wie seine Magisterdisputation De nihilo aus dem Jahr 1693, die universitäre Habilitationsdisputation Von den Kräfften der menschlichen Seele, die Verteidigung Arnolds, die poetischen Berlinischen Arrest-Gedanken und einige Briefe.45 Aus den ebenfalls beigefügten Dippelii Personalia geht das persönliche Anliegen Canzens hervor, angesichts kursierender verzerrender Darstellungen

41 Siehe hierzu und im Folgenden Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt, S. 236 f. 42 Haupt=Summa Derer theologischen Grund=Lehren Christiani Democriti von Einem unpartheyischen Liebhaber der Wahrheit aus Dessen Schrifften extrahiret, von dem Auctore aber selbst approbiret und für die seine erkannt; Sammt Dessen kurtzen Vorbericht, Bd. III, S. 570–583. Zur Identifikation der Autorschaft Canzens Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt, S. 101. Nach Schrader ist Canz auch als Autor der dippelschen Medizinallehren im Senckenbergarchiv in Frankfurt a.M. anzusehen (ebd., S. 417). Schrader notiert darüber hinaus in Canzens späteren editorischen Arbeiten zur Historie der Wiedergeborenen eine spezifisch an Dippel und Poiret orientierte Einstellung. Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt, S. 105. Dippel schrieb über Canzens Arbeit: »Es erkennet dann Democritus das hier enthaltende nicht nur vor seine richtige Concepten in der Sache selbst, sondern findet diese Piece (Vorstellung) auch so deutlich und stringent abgefasset, daß er sich selbst nicht besser würde haben entwerffen können.« Haupt-Summa III, S. 571. 43 [Johann Conrad Canz:] Vorrede des Herausgebers. So auch anstatt einer Vertheidigung dieser r Schrifften dienen kan. Bd. I, g 3 . v 44 Canz, Vorrede, g 3 . r v 45 Ebd., g 3 , siehe auch g 2 den Hinweis auf das Leserinteresse noch bereits zu Dippels Lebzeiten an einer Neuauflage der gedruckten und noch ungedruckten Schriften: »so hat man endlich nach vielen Hindernissen, die das Werck verzögert, solchem Verlangen ein Genüge thun, und hiermit dem Publico seine sämtlichen Schrifften, die er von Anno 1696 bis 1734 innerhalb von 37 Jahren heraus gegeben, überliefern wollen.«

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

und Verleumdungen sein eigenes Zeugnis über Vorgänge in Berleburg um Dippel abzulegen und insbesondere die Darstellungen Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs (1700–1760) und Johann Friedrich Struensees (1737–1772) als tendenziös und unvereinbar mit ihren damaligen Äußerungen zurückzuweisen. Dieses Zeugnis ist umso beachtenswerter, als auch Zinzendorf das Gerücht von Dippels angeblicher Revokation zu seinen Gunsten verbreitete.46 Sowohl die persönlichen Verbindungen wie die wirtschaftliche Zwangslage des Verlags sprechen für eine sorgfältige Konzeption der Gesamtausgabe. Erstens bestand begründete Hoffnung, das weit verbreitete Interesse an den Werken Dippels gewinnbringend nutzen zu können und zweitens hätte eine negative Aufnahme des kostspieligen Großprojekts den endgültigen finanziellen Ruin bedeutet. Zwischen der Ankündigung des Werkes und dem Erscheinen liegen fünf Jahre. Ab 1742 waren die Quartbände zur Pränumeration angegeben, 1747 lagen sie vor, und 1748 kommentieren orthodoxe Rezensenten in den Unschuldigen Nachrichten, dass Haug das Interesse an den »Schriften des schwärmenden

46 Zinzendorf entfaltet innerhalb eines fiktiven Gesprächs aus dem Jahr 1739 eine längere Ausführung zur Frage »Aber was ist das vor ein Ding, ein Dippelianer?«. In betont christlichem Duktus werden Dippel und mögliche Anhänger ridikülisiert: Ein Dippelianer sei »ein wunderlich Ding«, Dippel selbst werden märchenhafte Attribute zugeschrieben (»Er sahe aus wie ein Löwe, und alle Thiere hatten Ehrfurcht vor ihm.«). Von seiner Lehre aber gelte: »Ums Jahr 1730 gingen ihm die Augen auf, und er war im Begrif seinen Verstos nicht nur zu erkennen, sondern auch selbst zu corrigiren. […] Aber seine Lehre, die er selber vor unrichtig erkennet, breitet sich aus, und es meynet ietzt ein ieder Ungelehriger, wenn er Dippels Principia habe oder vorgebe, so sey er ein grosser GOttes=Gelehrter« In: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Sonderbare Gespräche (»Der Passagier«). Hg. v. Hans Schneider. Leipzig 2005, S. 81 f. In zwei langen Ausführungen versucht Canz, Zinzendorfs Darstellung Punkt für Punkt zu widerlegen (Bd. III, S. 642–653 direkt zu Zinzendorfs Text S. 751 ff.). Offen spricht Canz auch die politische Dimension der Zinzendorfschen Schilderung an: Dippel, dessen Anhänger laut Zinzendorf »Legion« seien, habe für die gemeinsame Sache geworben werden sollen. Als aber Dippel nicht »unter dem Herrenhutischen Regiment hätte wollen Dienste nehmen« (S. 645) und sich gegen die Einführung Herrnhutischer Satzungen in Berleburg aussprach (S. 646 f.), darüber hinaus noch die »herrschenden protestantischen Parteien« auf die Kontakte zwischen Dippel und Zinzendorf aufmerksam wurden, musste sich Zinzendorf politisch distanzieren. Auch spätere Äußerungen Zinzendorfs, der noch 1745 angab, in Dippel einen »Haereticum confessum und convictum« gefunden zu haben, kommentiert Canz als eine »einem ehrlichen Manne […] höchst unanständige Unwahrheit.« (S. 652). Forschungsgeschichtlich wird Zinzendorfs Abwendung vom einst umworbenen Dippel als seine Wandlung zum »selbständigen Theologen« bezeichnet. Dietrich Meyer: Zinzendorf und Herrnhut. In: Brecht/Deppermann (Hg.): Der Pietismus im 18. Jahrhundert, S. 5–106, hier S. 33. Zinzendorfs Schilderung über die »Legion« der Dippelanhänger in Deutschland in: Büdingische Sammlung Einiger in die Kirchen-Historie Einschlagender Sonderlich neuer Schrifften. 3  Bde. Büdingen 1742–45. Bd. 1, S. 305 f.



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Dippels« wohl zu nutzen verstehe: »Wir glauben aber, daß eine solche Auflage ihn nicht gereuen werde, indem die Auflage durch die Dippelianer guten Abgang haben wird.«47  – Diese dreibändige Gesamtausgabe ist auch die Grundlage für das folgende Kapitel.

1.1. Zu Autor, Werk und Kontext Ähnlich wie die Texte Weigels entstanden die Schriften Dippels im Spannungsfeld theologischer Kontroversen um die »rechte Lehre«, die durch die frühaufklärerischen Debatten um Philosophie und Naturwissenschaft flankiert werden. Sie entstanden im kirchen-, sozial- und kulturhistorischen Milieu des radikalen Pietismus, der die spiritualistische Kirchenkritik beerbte und bis zur öffentlichen Infragestellung der Vereinbarkeit von ›wahrem Christentum‹ und Ämterwesen zuspitzte.48 Als sozialpsychologische Erklärung gelten gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Umschichtungen, die zu tiefsitzenden Verunsicherungen und Daseinsangst führten und in apokalyptischen Wirklichkeitsdeutungen artikuliert wurden.49 Das Vordringen der Türken bis Wien und der folgende Türkenkrieg (1683–1699) ließen sich ebenso als endzeitliches Erstarken des Antichristen deuten wie die katholische Hugenottenverfolgung nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) in Frankreich. Die militärische Besetzung und Verwüstung der Pfalz im pfälzischen Erbfolgekrieg (1688–1697) sowie die Zerstörung Heidelbergs in der Folge der Reunionspolitik Ludwigs XIV. wurden vom Radikalpietisten Johann Heinrich Horch (1652–1729) als göttliches Strafgericht beschrieben, und vergleichbar deuteten Johann Jakob Schütz (1640–1690) und Johann Jakob Zimmermann (1644–1693) die Kometenerscheinungen im Winter 1680/81. Unter den radikalen Pietisten fanden sich viele Angehörige der gesellschaftlichen Gruppen, die von sozialen Umschichtungen besonders betroffen waren wie die Handwerker, die sich auf das Aufkommen der Manufakturen einstellen mussten oder (verarmte) Adlige, die auf der Suche nach neuen sozialen Funktionen waren. Im Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende steigerte sich das Krisenbewusstsein, das die Amtskirche vielerorts nicht mehr auffangen konnte, zu einer

47 Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen […]. Auf das Jahr 1748 [= Unschuldige Nachrichten 48] 2. Stück, S. 275–299, hier S. 276. Siehe ebenso eine Rezension in: Nachrichten von einer Hallischen Bibliothek. Eilftes Stück. Im November 1748, S. 415–441. Ebenso Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt, S. 236 f. u. 482. 48 Hier und zum Folgenden Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 392 ff. 49 Ebd., S. 394 ff.

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

drängenden Naherwartung des Tausendjährigen Reiches, in deren Kontext vernichtende Kritik am institutionell verfassten Klerus verübt wurde. Im Zuge der Hoffnung auf das baldige Kommen des Reichs Christi kam es zu Aufsehen erregenden Amtsentlassungen einerseits und Amtsniederlegungen andererseits, die maßgeblich von der Rezeption philadelphischen Schrifttums beeinflusst waren. 1694 entwickelte das Ehepaar Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen die Lehre von der Allversöhnung und widersprach damit dem Glauben an die Ewigkeit der Höllenstrafen.50 Inspiriert wurden sie durch die englische Philadelphierin Jane Leade (1623–1704), die wiederum dem Kreis der englischen Böhmisten um John Pordage (1607–1681), Thomas Bromley (1629–1691) und Francis Lee angehörte. Im Jahr 1694 wurden die Schriften Jane Leades vom pietistischen Schulmeister Loth Fischer übersetzt und in Amsterdam gedruckt, 1698 und 1699 erschienen deutsche Ausgaben der Schriften Pordages. Diese heizten die endzeitliche Geschichtsdeutung weiter an, indem sie aus einer allegorischen Deutung der sieben Sendschreiben aus der Offenbarung des Johannes sieben Epochen der Kirchengeschichte ableiteten. Dabei zählten sie die existierende, nachreformatorische Epoche zur ›sardischen‹ Zeit des ›toten‹ Christentums und richteten ihre Hoffnung auf die bald zu erwartende ›philadelphische‹ Zeit, die die wahren Kinder Gottes zur Brautgemeinde des Lammes versammeln sollte. Unter der apokalyptischen Begrifflichkeit verbarg sich die Sehnsucht nach einer Zeit der ›unparteiischen‹ Bruderliebe in einer Gemeinschaft ›wahrer Christen‹, die den intoleranten, das Zusammenleben korrumpierenden Streit der theologischen Lehr-›Meinungen‹ beenden würde. Im Zuge dieser philadelphischen Orientierung entwickelten sich – quasi in erwartungsfroher Vorwegnahme – Formen des gesellschaftlichen Nonkonformismus, die in ihrer Unterminierung von Standeskonventionen und traditionellen Machtverhältnissen der Aufklärung an die Seite traten. Es bildete sich das charakteristische Konventikelwesen aus, das religiöse Zusammenkünfte auch unabhängig vom Gottesdienst ermöglichte. Dort konnte man sich primär als Bruder oder Schwester in Christus begegnen, was Standesbezeichnungen und akademische Grade relativierte. Auffällig ist die herausragende Rolle, die Frauen in diesen Kreisen gespielt haben, die als geistliche Schriftstellerinnen oder sogar als Leiterinnen von philadelphischen Gemeinschaften auftraten. Unstandesgemäße Ehen, insbesondere zwischen adeligen Damen und Bürgerlichen, unterliefen ebenso das System der Sozialkontrolle wie das Phänomen der sogenannten begeisterten Mägde und Schuhmacherpropheten, denen als Angehörigen der Unterschicht zumindest zeitweise gesellschaftliche Aufmerk-

50 Ebd., S. 404 ff.



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samkeit als Sprachrohre der vom Propheten Joel angekündigten endzeitlichen Ausgießung des Geistes auf Knechte und Mägde (Joel 3,1–2) gewährt wurde. In diese Zeit wurde Johann Conrad Dippel 1673 als Pfarrerssohn auf Burg Frankenstein an der Bergstraße geboren, wohin die Familie kurzzeitig in Kriegs­ angst geflohen war. Er schlug als begabter Schüler getreu der Familientradition den geistlichen Weg ein.51 Dazu absolvierte er ein orthodoxes Theologiestudium in Gießen und Straßburg, um, so die ursprüngliche Intention, ein »geistlicher General« und christlicher »Herkules«52 wider die Pietisten zu werden. Doch schwere Zweifel, Kritik an den Zuständen der Kirche sowie Kontakte zu Pietisten, namentlich zu Gottfried Arnold, wandeln ihn schließlich selbst zum Pietisten. Ab 1697 beginnt er in Streitschriften eine äußerst scharfzüngige Kirchenkritik zu formulieren, die sich an der landesüblichen Praxis des Religionseids entzündet. Die Kritik am Religionszwang bildet forthin den Generalbass in unzähligen Streitschriften und publizistischen Fehden mit mächtigen Gegnern. Noch im Hinblick auf eine akademische Laufbahn verfasste er die erkenntnistheoretische Habilitationsschrift Über die Kräffte der menschlichen Seele, fand sich jedoch als frisch habilitierter Theologe aufgrund seiner Streitschriften in den Jahren 1697/98 in der Mitte eines Prozesses wieder, der ihn mit Hausarrest und Schreibverbot belegte, was er beides ignorierte. Erhaltene Dokumente von Aussagen seines Vaters, der anstelle des Sohnes vor dem Konsistorium in Darmstadt zur Aussage erschien, geben bis heute Einblick in die Fassungslosigkeit und vorübergehende familiäre Zerrüttung, die das Abweichen des Sohnes von der familiär und gesellschaftlich vorgegebenen Einstellung auszulösen vermochte. Man erfährt, dass der 25-jährige Dippel seine Wandlung zum Pietisten unter großer psychischer Anspannung durchlebte, seine Texte heimlich verfasste und sie nachts unter dem Kopfkissen verbarg. Seine öffentliche Kritik bedeutete das Ende seiner akademischen Karriere und eine große Enttäuschung für seine Eltern.53 Die Zeit seiner Wandlung koinzidiert mit dem halben Jahr, in dem Gottfried Arnold seine Pro-

51 Biografisch ist Dippels Leben recht ausführlich dokumentiert: Ausgewogen und differenziert Karl Buchner: Johann Konrad Dippel. In: Historisches Taschenbuch. Hg. v. Friedrich von Raumer. Leipzig 1858, S. 209–355; Bender: Johann Konrad Dippel. Ein Freigeist aus dem Pietismus. Bonn 1882; Voss: Christianus Democritus. Das Menschenbild bei Johann Conrad Dippel. Leiden 1970; sehr detailliert zu Dippels Jugendjahren Goldschmidt: Johann Konrad Dippel. Göttingen 2001. Siehe dort auch die kommentierte Auflistung gedruckter Quellen zu autobiografischen Zeugnissen sowie zu Angaben von Zeitgenossen S. 294–302. 52 Dippel: Quo moriture, ruis, Peter Hansen!, Bd. III, S. 550. 53 Wilhelm Diehl: Neue Beiträge zur Geschichte Johann Konrad Dippels in der theologischen Periode seines Lebens. In: Beiträge zur Hessischen Kirchengeschichte. 3. Bd. 2. Heft, Darmstadt 1906, S. 137–184, hier S. 157.

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

fessur in Gießen innehatte, deren Niederlegung er später mit dem Zwang zum Religionseid begründete, dem beherrschenden Thema auch von Dippels erster großer Streitschrift Papismus Protestantium vapulans (1698). Heute ist bekannt, dass Arnold zu dieser Zeit ebenfalls bereits heimlich an seiner Unpartheyischen Kirchen= und Ketzerhistorie arbeitete.54 Beginnend mit der Zeit des Hausarrests 1698 widmet sich Dippel der Alchemie, reüssiert den eigenen Angaben nach einmal bei der Herstellung einer Tinktur zur Goldgewinnung, erlangt jedoch bleibenden Ruhm mit der Erfindung des »Berliner Blaus« sowie des dippelschen Öls, das noch am Ende des 18. Jahrhunderts als wirksames Medikament bezeugt ist. Im Jahr 1704 übersiedelt Dippel nach Berlin, wo er nicht nur günstige Bedingungen für weitere alchemistische Forschung traf, sondern wo auch eine freundliche Begegnung mit Philipp Jakob Spener stattfand, der mit Bedauern die Entfremdung zwischen der Kirche und einem ihrer klügsten Köpfe registrierte.55 Von Berlin aus führte Dippel eine publizistische Fehde mit dem Greifswalder Professor und Generalsuperintendenten der schwedischen Gebiete Johann Friedrich Mayer (1650–1712) und dessen scharfer antipietistischer Religionspolitik.56 Mayer hatte aus Angst vor weiterer Zersplitterung des Protestantismus den schwedischen König Karl XII zu einer Ausweisung aller Pietisten aus den schwedischen Gebieten zu bewegen versucht und erreicht, dass dieser im Jahr 1706 tatsächlich ein Edikt wider den Pietismus erließ. Mayer war ebenso beteiligt an der Ausweisung von Speners Schwager Horb aus Hamburg und der dortigen systematischen Verfolgung von Pietisten. Auf Mayers 1706 anonym publizierten Traktat Eines schwed. Theologi kurtzer Bericht von Pietisten antwortete Dippel mit einer im Habitus aufklärerisch formulierten Replik Unpartheyische Gedancken  / Uber eines so genannten Schwedischen Theologi Kurtzen Bericht von Pietisten, die Mayers Vorwürfe Punkt für Punkt widerlegt und einen für seine Streitschriften geradezu programmatischen Untertitel trägt: Nebst einer kurtzen Digression Von der Brutalität und Illegalität des Religions=Zwangs.57

54 Komplementär zu Dippels Wandlung siehe detailliert zu Arnold Hans Schneider: Gottfried Arnold in Gießen. In: Gottfried Arnold. Hg. v. Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, S. 267–299. 55 Philipp Jakob Spener: Letzte Theologische Bedencken und andere Brieffliche Antworten 1711. In: Philipp Jakob Spener: Sämtliche Schriften. Hg. v. Erich Beyreuther. Bd. XV. Teilbd. 1 u. 2. Eingeleitet von Dietrich Blaufuß und Peter Schicketanz. Hildesheim 1987, S. 93–98; Teilbd. 3. Hildesheim 1987, S. 417–422. 56 Zu Mayer Dietrich Blaufuß: Der Theologe Johann Friedrich Mayer (1650–1712). Fromme Orthodoxie und Gelehrsamkeit im Luthertum. In: Pommern in der Frühen Neuzeit. Literatur und Kultur in Stadt und Region. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer. Tübingen 1994, S. 319–347. 57 Im Habitus aufklärerisch erscheint Dippels Text deswegen, weil er nicht nur seine eigenen



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1707 wird Dippel, vermutlich auf das Betreiben Mayers, verhaftet, kommt jedoch nach einer Woche frei und kann in schwedischer Offiziersuniform fliehen. Die Legende will es, dass er auf seiner Durchreise durch Jena für den schwedischen König gehalten wurde.58 Anschließend übersiedelt Dippel nach Holland, wo er das Bürgerrecht in Amsterdam und im Jahr 1711 einen medizinischen Doktortitel an der Universität Leiden erwirbt. In die Jahre in Holland fallen nicht nur Kontakte zu spiritualistischen Kreisen, namentlich zu Pierre Poiret (1646–1719), sondern vor allem auch eine medizinische und naturphilosophische Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus. An der Universität Leiden lehren Hermann Boerhaave (1668–1738), Lehrer Albrecht von Hallers, sowie der Anatom Bernhard Albinus (Weiß; 1653– 1721), bei dem Dippel promoviert. Die Leidener Boerhaave-Schule trug maßgeblich zur Durchsetzung des cartesianischen Menschenbilds in der Medizin des 18. Jahrhunderts bei, das zwar von pietistischen Ärzten wie Georg Ernst Stahl (1659–1734) und seinen Nachfolgern an der Universität Halle deutlichen Widerspruch erfuhr, sich jedoch medizinhistorisch als das erfolgreichere erwies.59 Auch Dippels medizinische Dissertation ist eine umfassende Auseinandersetzung mit dem philosophischen Mechanismus, der Rolle der Mathematik und der cartesianischen Anthropologie. Sie stellt nicht nur eine heftige Kritik an den modernen, technomorphen Konzepten des Lebendigen dar, sondern ist gleichzeitig ein vielsagendes Zeugnis für den Kontext, in dem ein Rückgriff auf die hermetischen Schriften in den naturphilosophischen Fragestellungen der Frühaufklärung wieder sinnstiftend werden konnte. Im Jahr 1714 verlässt Dippel Holland und geht nach Altona, wo er sich gegen politische und juristische Unregelmäßigkeiten in der Rechtspflege engagiert.60 Da sich allerdings seine Kritik an Rechtsbeugung, Folter »auf Arth der Spanisch inquisition«, Zeugenbeeinflussung und Nötigung ausgerechnet gegen seine Gönner, den Grafen und die Gräfin von Reventlow richtet, wird aus dem Ankläger bald ein Angeklagter, und nach einem Prozess, der selbst sichtbare Spuren

Argumente, sondern auch Mayers Thesen abdruckt. Es geht ihm gerade nicht um reine Polemik, sondern, bei aller Schärfe und Satire im Ton, um Transparenz. Zum Konflikt mit Mayer vgl. Voss: Christianus Democritus, S. 44 ff.; zum weiteren Umfeld des Religionskonflikts in Hamburg Hermann Rückleben: Die Niederwerfung der Hamburger Ratsgewalt. Kirchliche Bewegungen und bürgerlicher Unruhen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Hamburg 1970. 58 Buchner: Johann Konrad Dippel, S. 271. 59 Richard Toellner: Medizin und Pharmazie. In: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004 (Geschichte des Pietismus 4), S. 332–356. 60 Stefan Winkle: Die heimlichen Spinozisten in Altona und der Spinozastreit. Hamburg 1988, S. 19 ff.

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

juristischer Unregelmäßigkeiten trägt, wird Dippel im Jahr 1719 zu lebenslanger Haft auf der Insel Bornholm verurteilt.61 Dippel fügt sich mit einer Gelassenheit in sein Schicksal, die in den wenigen erhaltenen Zeugnissen eine zutiefst ethische Signatur erkennen lässt. Noch im Gefängnis arbeitet Dippel als Arzt, stellt Medikamente her und erwirbt sich auf der Insel einen Ruf als kompetenter Mediziner. Übereinstimmend berichten Besucher von seiner Hilfsbereitschaft, Dienstwilligkeit und Konfliktfreiheit, sogar »Vergnügtheit« mit seinem Schicksal.62 Dippel scheint die in seinen Schriften omnipräsente Forderung nach Orthopraxie anstelle von Orthodoxie auf die eigene Situation bezogen zu haben. Um seine Freilassung bemüht er sich nicht, sondern er kommt im Jahr 1726 nach Bittschreiben des Grafen August von Sayn-Wittgenstein und Fürbitten der dänischen Königin an den dänischen König frei. Eine kurze Notiz, die er in seiner Kammer im Gefängnis am Tag seiner Entlassung hinterließ, gibt Einblick in ein selten thematisiertes Gelassenheitsideal stoizistischer oder spiritualistischer Provenienz als Kehrseite seiner sonst so scharfzüngigen und kämpferischen Schriften. Claudianus Peragit tranquilla potestas Quod violenta nequit. Cicero in Epist. ad Trebatium ex Eurip: Med: Qui Sibi patiens prodesse nequit, nequicquam Sapit.

J.C. Dippel 7.et quod excurrit 63 annorum captivus, Ao 1726. 30. Jun.

61 Walther Rustmeier: Johann Conrad Dippel in Schleswig-Holstein. II. Der Prozeß gegen Dippel in Altona. In: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte 2. Reihe. Bd. 15 (1957), S. 91–116, hier S. 100 ff. Auch Manfred Jakuboswki-Tiessen: Der frühe Pietismus in Schleswig-Holstein. Entstehung, Entwicklung und Struktur. Göttingen 1983, S. 134. 62 So referiert Buchner: »So müßten die Fremden, die mit Erlaubnis der höhern Offiziere ihn gesprochen, einhellig gestehen, daß man ihn niemals unaufgeräumt oder verdrießlich, sondern allzeit freudig und mit seinem Schicksal von Herzen vergnügt, anbei willig und geneigt, einem Jeden mit Rath und That, soviel seine jetzigen Umstände verstatteten, zu dienen, antraf.« Zit. n. Buchner: Johann Konrad Dippel, S. 291. 63 Zit. n. Rustmeier: Johann Konrad Dippel in Schleswig-Holstein. IV. Drei Dokumente, S. 72. Übersetzung: Claudianus (370–404): »Die ruhige Kraft vollendet, was die Gewalt nicht vermag.« – Cicero (Epistula ad Trebatium [Epistula ad Familiares, VII, 6]; im Original: »Qui [ipse] sibi sapiens prodesse non potest, nequicquam sapit« (›Wer sich [selbst] als Weiser nicht helfen kann, der ist umsonst weise.‹) Hier abgeändert zu]: »Wer sich als Erduldender nicht zu helfen weiß, der ist umsonst weise.«



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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Auf Einladung von Freunden verbringt Dippel das nächste Jahr in Schweden, wo er sich zunächst ruhig verhält und freundlich aufgenommen wird. Briefe aus der Stockholmer Zeit erzählen von großem Interesse an seiner Person und seinen Schriften. Er zählt 500 Visiten in sechs Wochen, darunter beim Königspaar selbst. Seine Schriften werden abgeschrieben, übersetzt und begierig gelesen, und mit einem amüsierten Seitenblick auf den halleschen Pietismus teilt Dippel mit, die halleschen Pietisten hätten es nun ihm zu verdanken, dass auch ihre Schriften inzwischen offen verkauft werden dürften.64 Der Frieden allerdings war brüchig und das Interesse an seiner Person an bestehende Konfliktlinien zwischen Adel und Klerus geknüpft. Um die Fronten zu klären, positioniert sich Dippel mit einer Schrift Der helle Glanz des Evangeliums Jesu Christi, einem Entwurf der Heilsordnung in 153 Fragen, der im Wesentlichen seine bekannten Thesen über eine Ersetzung der Rechtfertigungslehre durch die Wiedergeburt, eine Historisierung der mosaischen Gesetze sowie eine Ersetzung von Gottes Strafgerechtigkeit durch die Liebe wiederholt.65 Sie führt zu einer Machtprobe zwischen Adel und Klerus um Dippels Person, die mit seiner Ausweisung im Dezember 1727 endet.66 Während aus diesem Konflikt eine Spaltung des schwedischen Pietismus in einen halleschen und einen radikalen Flügel hervorging,67 reiste Dippel zunächst nach Kopenhagen, wo er eine Einladung, zu bleiben und diesmal sogar königlicher Leibarzt zu werden, dankend ablehnte und weiter nach Deutschland fuhr. Über verschiedene Stationen in Norddeutschland, wo er für sich alchemistische und medizinische Studien betrieb, gelangte er im Dezember 1729 nach Berleburg, einer Hochburg radikalpietistischer Kreise unter der toleranten Religionspolitik des Grafen von Sayn-Wittgenstein. In die letzten Jahre in Berleburg fallen noch einmal umfangreiche alchemistische Experimente und innerpietistische Spannungen, die von Dippels kühler Reaktion auf die Inspirierten oder einer Entzwei-

64 Dippel: Brief vom 30. Februar 1727 aus Stockholm, Bd. III, S. 627. 65 Siehe Dippels eigenen Bericht über die Zeit in Schweden in: Vera Demonstratio Evangelica II, S. 635 ff.; Buchner: Johann Konrad Dippel, S. 302 ff. 66 Vera Demonstratio Evangelica II, S. 649 ff.; Brief vom 20. Oktober 1727, III, S. 629 f.; Buchner: Johann Konrad Dippel, S. 314. 67 Im Überblick Hilding Pleijel: Der schwedische Pietismus in seinen Beziehungen zu Deutschland. Eine kirchengeschichtliche Untersuchung. Lund 1935, S. 170–199; Walther Rustmeier: Nachwirkungen des deutschen Pietismus in Schweden. Diss. masch. Kiel 1954, S. 176 ff. Dippels Brief aus Liedenburg vom 7. September 1729 erzählt rückblickend, wie der schwedische Klerus nach der Ausweisung mit dem Volkszorn zu kämpfen hatte und dadurch unfreiwillig Dippels Ideen noch populärer machte. Dippel: Anhang einiger noch die gedruckten Sachen III, S. 632.

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

ung mit Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf geprägt waren, nachdem er sich nicht für die herrenhutische Bewegung hatte werben lassen.68 Ins Jahr 1732 fällt aber auch der Beginn einer Freundschaft mit dem Frankfurter Arzt Johann Christian Senckenberg (1707–1772), dem Pionier des Frankfurter Gesundheitswesens und Stifter der Dr. Senckenbergischen Stiftung, deren Nachfolgerin bis heute in der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft und im gleichnamigen naturkundlichen Museum besteht.69 Senckenberg, der Mitte des 18. Jahrhunderts als erfolgreicher und besonnener Stadtphysicus sein gesamtes Vermögen in die Gründung einer Stiftung mit Bürgerhospital, medizinischem Garten und anatomischem Theater investierte und sein Engagement geradezu in nuce aus einem pietistisch-aufklärerischen Selbstverständnis heraus ableitete,70 fand als junger, noch unsicherer Mensch in Dippel offenbar einen väterlichen Freund. Mit ihm korrespondierte Dippel über dessen Dissertationsthema und inspirierte den Jüngeren insbesondere in Glaubensfragen zu einer ähnlichen, von orthodoxen Positionen unabhängigen, ethisch geprägten Haltung gegenüber Gott und Mitmenschen.71 Senckenberg nannte Dippel seinen besten Freund und bewahrte sein Andenken, indem er Dippels Portrait im Stiftungsgebäude auf einen Ehrenplatz hängte, womit er nebenbei gegenüber der lutherischen Reichsstadt seine individuelle Position in Glaubensfragen kundtat.72

68 Canz berichtet detailliert von den politischen Untertönen der Verstimmung. Fußnote des Herausgebers in: Anhang einiger noch nie gedruckter Sachen III, S. 642 ff.; auch Buchner: Johann Konrad Dippel, S. 322 ff. Ebenso ridikülisiert Canz genüßlich die prophetische Aussprache Friedrich Rocks gegen Dippel, der diesem in einer Vision den baldigen Tod vorgehersagt hatte. Dippelii Personalia III, S. 764 ff. (Canz). Dippels eigene Worte über Zinzendorf verraten eine deutliche Wut und das Gefühl des Hintergangenseins: »Alles, was hier der Graf von mir gesagt hat, sind pure Lügen, wie gantz Berleburg weiß. Hätte er gesagt, daß ich von seiner und der Hallenser Busse und Glauben nie nichts erfahren hätte, auch mein Lebtag nicht zu erfahren gedächte, so könnte es die Wahrheit seyn. Ich bin die Tage meines Lebens noch nie in solcher Boßheit gestanden, als diese geistliche Maschine, die gantze Tage und Nächte von GOtt plaudern kan, in diesen recht atheistischen Lügen an sich zeiget. […] Der heuchlerische Tropf hatte in Berleburg nicht das geringste von dieser Materie mit mir gesprochen, ich war sein Bruder hinten und vornen, er küßte mir, zum Eckel und Verdruß, bey jeder Rencontre Mund und Hände.« (Anhang einer noch nie gedruckter Sachen III, S. 641) 69 Ausführlich Thomas Bauer: Johann Christian Senckenberg (1707–1772). Frankfurt a.M. 2007. 70 Senckenberg: De pietate medici. Akademische Rede im Anschluss an die Disputation, zit. n. Bauer: Johann Christian Senckenberg, S. 76 f. 71 Ebd., S. 65 u. 67: Senckenberg schreibt »mein Geist ist durch die mannigfache Hilfe Dippels ausgeglichen und zu Gott geneigt« (S. 65). 72 Ebd., S. 58 f.



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Als Arzt und Alchemist nahm Dippel im zeitgenössischen Diskurs eine differenzierte Position ein: Einerseits distanzierte er sich von einer Überhöhung der Alchemie zu einem vom Christentum unabhängigen Heilsweg durch eine Reduktion der Heilshoffnung auf die materielle Gestalt des Lapis philosophorum.73

Abb. 8: Johann Conrad Dippel aus Eröffneter Weg zum Frieden mit Gott (1747)

Andererseits wies er auf die Entdeckung nützlicher Dinge wie das Porcellan durch Alchemisten hin und nutzte sie nicht nur in pharmazeutischen Zwecken zum

73 Eine differenzierte Stellungnahme zum zeitgenössischen alchemistischen Diskurs ist Dippels Kommentar zu dem ihm fälschlicherweise zugeschriebenen Buch Microcosmische Vorspiele in Dippel: Christianus Democritus ein Aufrichtiger Protestant III, S. 399–466. Darin seine Kritik an der Überschätzung des Lapis philosophorum: »Nichts, oder die Tinctur, sprichst du, ist Suchens wert, / Phantast! selbst die Tinctur ist nichts, und eitle Erd.« ( Ebd., S. 407)

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Broterwerb: In einem mit dem Landgrafen Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt geschlossenen Vertrag aus dem Jahr 1732 sah er offenbar die Chance, für die Lieferung eines Arcanums für sich und seine Geschwister finanzielle Sicherheit zu erlangen und forderte im Gegenzug das Schloss Frankenstein an der Bergstraße, seinen einstigen Geburtsort.74 Aus dem Geschäft wurde jedoch nichts. Im Jahr 1734 starb Dippel in Berleburg und wurde in allen Ehren in Laasphe begraben. Persönliche Worte zu seiner Person sind im umfangreichen Gesamtwerk Dippels eher selten, doch lassen die wenigen Kommentare seine pietistische und zunächst innerlutheranische Kirchenkritik auf den aufklärerischen Habitus der Kritik und Selbstkritik hin transparent werden. Über seine Studienzeit notiert er, dass er »ohne Raison nichts wollte annehmen«, dass er sich nicht auf die Autorität von Büchern stütze, sondern dass seine Argumente als »Pfeile aus meinem eigenen Köcher kämen.«75 Auch die problembewusste Auseinandersetzung mit den philosophischen Größen der Zeit Descartes, Leibniz und Spinoza bezeichnet er als »Früchte von meinem eigenen Acker und keine gestohlenen Rhapsodien.«76 Noch der alte Dippel ist stolz darauf, nicht Autoritäten zu zitieren, obwohl er sie sichtbar gelesen hat, sondern alles selbst zu durchdenken.77 Er habe die Theologie viel besser durchgründet, so Dippel im Rückblick, weil er sie viel freier geprüft habe.78 Dem Habitus nach ist dies eine aufklärerische Haltung,79 auch wenn er inhaltlich dem philosophischen Vernunftprimat distanziert gegenüber stand. Er sei »gewiß kein Feind der Prediger«, so Dippel über sich selbst, habe viele Freunde unter ihnen und könne die geistvollen mit Tränen in den Augen anhören,80 doch fühle er sich berufen, gegen den theologischen Eigendünkel zu zeugen, und zwar ohne Ansehen der Person.81 Für dieses Selbstverständnis, das er offen als seinen »Beruf« bezeichnet,82 steht vor allem sein selbstgewähltes

74 Diehl: Neue Beiträge, S. 162 ff.; dort auch zu weiteren Beobachtungen bezüglich der Familienverbundenheit des Junggesellen, der nach seinem Weggang nach Berlin in seiner hessischen Heimat nicht wieder sesshaft geworden ist. Der Vertrag ist abgedruckt ebd., S. 183 f. Der heute noch sogenannte Dippelshof wird mit seinem Bruder, Johann Albert Dippel, in Verbindung gebracht (ebd., S. 163 f.). 75 Dippel: Entdeckung der Gewissen=losen Verdrehung […] Christophilus Wohlgemuth III, S. 18. 76 Dippel: Analysis Cramatis Harmonica Hyper- Metaphysico- Logico- Mathematica II, S. 838– 930, hier S. 929. 77 Dippel: Entdeckung der Gewissen=losen Verdrehung III, S. 172 f. 78 Ebd., S. 18. 79 Werner Schneiders: Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. Freiburg i. Br./München 1974, S. 9. 80 Dippel: Entdeckung der Gewissen=losen Verdrehung III, S. 19, ebenso S. 165. 81 Ebd., S. 19. 82 Ebd., S. 168



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Pseudonym Christianus Democritus. Mit der Wahl dieses Namens stellt er sich einerseits in die Tradition des lachenden Philosophen angesichts der Torheit der Welt. Andererseits steht Democrit in der spiritualistischen Deutungstradition für den Philosophen, der sich selbst die Augen ausstach, um besser (mit dem inneren Auge) sehen zu können. Dippel wendet diese Konnotation ins Politische und bezieht sie auf das Verhalten, ohne Ansehen der Person für das einzutreten, was er als Wahrheit erkennt. Dabei berührt er bis in die sprachliche Lichtmetaphorik hinein das Selbstverständnis des Aufklärers, wenn er sein Vorhaben beschreibt, dass er »den Weg durchbreche, einmahl in eine menschliche und vernünfftige Freyheit zu gelangen. […] Wir können keinen Menschen zu gefallen Licht Finsterniß nennen, und suchen keinen Beyfall, als wo das Gewissen überzeuget ist.«83 Diese Haltung manifestiert sich in einer Fülle an Streitschriften, die mit spitzer Feder verfasst sind, jedoch kein Patent auf die Wahrheit mehr anmelden. So fasst es eine briefliche Selbsteinschätzung des alten Dippel zusammen: »[…] in welcher Entdeckung (d.i. Thorheiten) ich vor keiner Secte, ja vor keinem einigen Menschen, Respect habe, sondern die blosse Wahrheit schreibe, solte solche zuweilen auch mich selbst treffen, dann da ich der wesentlichen Wahrheit nicht allezeit so unterthan bin, wie es seyn solte; so will ich doch aufs mindeste in deren Bekänntnis GOtt diese Treu beweisen, daß ich nach meiner Erkänntnis heraus gehe, und weder mir selbst noch andern 84 Frommen, oder fromm seyn wollenden, schmeichle.«

1.2. »Witz und Landessprache sind die Mistbeete, in denen der Same der Rebellion reifet.«85  Dippels Texte als theologische Streitliteratur Dippels Werk wurde in der Vergangenheit entweder aus theologischer oder aus medizinhistorischer Perspektive86 betrachtet. Naheliegende Interpretationskategorien waren dabei Fragen nach Ortho- und Heterodoxie, Modernität und Okkul-

83 Ebd., S. 19. 84 Ebd., S. 640. 85 Gotthold Ephraim Lessing: Anti-Goeze V. In: Ders.: Werke und Briefe in 12 Bänden. Hg. v. Wilfried Barner u. a. Frankfurt a.M. 1989 ff., hier Bd. 9, Hg. v. Arno Schilson. Frankfurt a.M. 1993, S. 201. 86 Zur theologischen Forschung siehe die Zusammenfassung bei Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 16 ff. Zur Medizingeschichte auch Christa Habrich: Alchemie und Chemie in der pietistischen Tradition. In: Goethe und der Pietismus. Hg. v. Hans-Georg Kemper u. Hans Schneider. Tübingen 2001, S. 45–77; Christa Habrich: Mediziner und Medizinisches am Hofe des Grafen Casimir zu Sayn-Wittgenstein. (1687–1741). In: Beiträge zur Geschichte der Pharmazie 35 (1983), S. 138–144; Johanna Geyer-Kordesch: Die Nachtseite der Naturwissenschaft. Die ›okkulte‹ Vor-

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tismus. Mit Hilfe dieser dichotomen Interpretationskategorien sind Dippels Texte auf ihre Eigenständigkeit hin untersucht worden, z. B. wenn  – durchaus anerkennend – über ihn resümiert wird, in der Entwicklung seiner eigenen Theologie sei es ihm »gelungen, schlechthin in jedem einzelnen Lehrartikel heterodox zu sein.«87 Diese Kategorien bedürfen jedoch in zwei Punkten einer fortlaufenden Reflexion. Erstens tendiert die singuläre Fokussierung auf Dippels – positiv oder negativ zu wertende – Heterodoxien dazu, ihn zu einem Solitär ohne Vorgänger zu stilisieren, obwohl Dippels theologische Orientierung an Autoren der spiritualistischen Tradition sowie Jakob Böhme bekannt sind.88 Zweitens sind neben dem rein inhaltlichen Aspekt der Heterodoxie die formalen und situativen Aspekte der Texte als Bestandteile einer theologischen Streitliteratur noch nicht berücksichtigt, die die Perspektive auf Dippel als Schriftsteller ermöglicht. Sie sind trotz großer inhaltlicher Kontinuitäten gerade im Bereich der Hermetik-Rezeption Teil einer literarischen Kultur theologischen Streitens, die um die Wende zum 18. Jahrhundert Pietismus und Aufklärung miteinander verbindet.89 Anders als die spiritualistische Literatur des 16. Jahrhunderts, die entweder anonym erscheint, sich an einen engen Kreis von Gesinnungsgenossen wendet oder überhaupt erst nach dem Ableben des Autors unter die Druckpresse gelangt, erscheinen Dippels Texte in rascher Folge als Äußerungen eines sich namentlich nennenden Individuums, das ohne Ansehen institutioneller Empfindlichkeiten theologische und naturphilosophische Sachfragen öffentlich zur Diskussion stellt. Ein Großteil seiner Texte sind Streitschriften, eingebunden in spezifische Kontroversen mit ausgesuchten Gegnern, die unter reger Anteilnahme einer lesenden Öffentlichkeit entstehen. Diesen Texten ist ein beachtenswerter publizistischer Erfolg beschieden. Sie erschienen in mehreren Auflagen und teilweise auch Übersetzungen; darüber hinaus spiegelt sich ihr Echo in einer Vielzahl an Rezensionen in theologischen Zeitschriften wie den Unschuldigen Nachrichten. Als einer der

geschichte zu Franz Anton Mesmer. In: Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus. Hg. v. Heinz Schott. Stuttgart 1985, S. 13–30. 87 Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie 2, S. 281. Ähnlich Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 2005, S. 165. 88 So formuliert noch Wallmann vorsichtig von »heterodoxen Sonderlehren« bei Dippel (Wallmann: Der Pietismus, S. 168), während Hirsch bereits Dippels Theologie mit derjenigen Jakob Böhmes vergleicht (Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie 2, S. 281 ff.). 89 Grundlegend Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, bes. S. 93 ff. Zu Aufklärung als »Kampf«-Idee, wenn auch hier in Abgrenzung zu den sogenannten Schwärmern Norbert Hinske: Die Aufklärung und die Schwärmer – Sinn und Funktionen einer Kampfidee. Einleitung. In: Aufklärung 3 (1988), H. 1, S. 3–6.



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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»meistgelesenen radikalpietistischen Autoren des 18. Jahrhunderts«90 wird Dippel bezeichnet, dessen Werke zusammen mit denen Arnolds oder Reitz’ Historie der Wiedergeborenen zu den »Bestsellern des 18. Jahrhunderts«91 zu zählen sind. Er wurde sogar »der erste deutsche Schriftsteller, welcher ernste theologische Fragen in einem freien Tone behandelt hat« genannt und verdiene, so Emanuel Hirsch, »in der Geschichte deutscher Publizistik vor Lessing einen Ehrenplatz.«92 Dies ist keine ausschließliche Einschätzung des 20. Jahrhunderts: Bereits Trinius FreydenkerLexikon erwähnt 1759, dass Dippel »auch ein Schriftsteller« sei.93 Als Streitschriften stehen diese Texte in einer literarischen Kultur, deren Problemhorizont ein aufklärerischer ist. Die Parallele von Lessing zu Dippel wurde bereits im 18. Jahrhundert von Johann Melchior Goeze auf der Höhe des Fragmentenstreits gezogen,94 und sie bezog sich auf die Öffnung des theologischen Fachdiskurses gegenüber einem breiten Publikum, was als Teil des Strukturwandels der Öffentlichkeit im Zuge der Aufklärung beschrieben worden ist.95 Trotz einer langen Tradition literarischen Glaubenskampfes in der Frühen Neuzeit ist der publizistische Streit um theologische Fachfragen in deutscher Sprache im 18. Jahrhundert Teil einer sukzessiven Veränderung des Kommunikationsgefüges, das sowohl Voraussetzung als auch Teil des Säkularisierungsprozesses ist. Die Praxis der Kritik, der sich nach Kant alles unterwerfen muss, ist nicht erst die Signatur der Spät-, sondern bereits der Frühaufklärung.96 Der Lexikonartikel zur Streittheologie in Zedlers großem Universallexikon bindet religionskritische Äußerungen dezidiert an die lateinische Sprache sowie an einen akademischen Kontext,97 und noch Goeze ruft gegenüber Lessings religionskritischen Äußerun-

90 Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, S. 156. 91 Ebd., S. 169. 92 Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie 2, S. 278. 93 Trinius: Freydenker=Lexicon, S. 182. Noch Wallmann spricht von Dippel als »Literat[en], der mit der »Feder des Publizisten« kämpfte (Der Pietismus, S. 166). 94 Lessing: Werke und Briefe  9, S 139. Zu einer weiteren Parallelisierung ebd., S. 360. Weiterführend Harald Schultze: Lessings Toleranzbegriff. Eine theologische Studie. Göttingen 1969, S. 13, 83, u. 111. 95 Gierl: Pietismus und Aufklärung, S. 265; Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1990; Peter-André Alt: Aufklärung. Stuttgart 2001, S. 45 ff. 96 Jonathan Israel: Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity and the Emancipation of Man 1650–1752. Oxford 2006, S. viii. 97 Art. »Streit=Schrifften«. In: Großes vollständiges Universal-Lexikon. Hg. v. Johann Heinrich Zedler. Bd. 40. Leipzig Halle 1744, Sp. 920–925, hier Sp. 925: »[…] entweder zuerst in Lateinischer Sprache nur geschehe, oder wenn uns andre Umstände zur allgemeinen Sprache Anlaß geben, daß es doch also geschehe, daß es niemand als Gelehrte verstehen können.«

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gen in deutscher Sprache nach dem Einschreiten der Obrigkeit.98 Auch Reimarus, dessen Texte den Disput zwischen Lessing und Goeze bekanntlich ausgelöst hatten, hatte nicht gewagt, diese überhaupt zu Lebzeiten zu veröffentlichen.99 Dabei waren sie u. a. von Dippels Schrift Vera Demonstratio Evangelica inspiriert, die Dippel bereits 1729 in Druck gegeben hatte.100 Dippels Texte erschienen ab dem Jahr 1697 auf Deutsch, orts- und zeitnah zu Gottfried Arnolds Publikationen ebenfalls in der Muttersprache, »damit nicht nur Schulgelehrte«101 sie lesen können, wie es in der Vorrede zur Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie heißt. Zeitnah auch zu Thomasius’ deutschsprachigen Monatsgesprächen im pietistisch gärenden Leipzig. Als ursprünglich die Professorenlaufbahn anstrebender Theologe besaß Dippel die akademische Ausbildung, um den Konstruktionscharakter zentraler Dogmen zu diskutieren oder mit philologischer Akribie theologische Größen wie Luther und Augustinus des ungenauen Übersetzens zu bezichtigen. Solche Überlegungen in der Volkssprache zu publizieren bedeutete selbst zu Hochzeiten radikalpietistischer Publizistik einen Akt der Transgression, der als Konsequenz prompt eine starke publizistische Opposition provozierte. Noch Adelung hat Dippel vorgeworfen, er habe sich nach seinem Ausscheiden aus der Universität mit dem »Pöbel« gemein gemacht.102 Unter funktionalen und literatursoziologischen Aspekten gesehen sind Dippels Texte Teil einer literarischen Praxis theologischen Streitens, die trotz inhaltlicher Rückbezüge auf die spiritualistische Tradition als Teil einer sich in

98 Johann Melchior Goeze: Etwas Vorläufiges […]. In: Lessing: Werke und Briefe 9, S. 36: »Nur müsste solches nicht, ohne besonders wichtige Ursachen, in einer anderen Sprache, als in der Sprache der Gelehrten geschehen, und der angreifende Teil müßte die Freiheit nicht haben, die heiligen Männer Gottes, von welchen die ganze Christenheit glaubt, daß sie geredet und geschrieben haben, getrieben von dem heiligen Geiste, als Dummköpfe, als Bösewichter, als Leichenräuber zu lästern.« 99 Zur Schilderung von Reimarus’ Situation, die ihn zur Wahrung des eigenen Inkognito bewogen hatte siehe Lessing: Von Duldung der Deisten. Fragment eines Ungenannten. In: Lessing: Werke und Briefe. Bd. 8. Hg. v. Arno Schilson. Frankfurt a.M. 1989, S. 119: »Die Herren Prediger mögen gewiß glauben, daß ein ehrlicher Mann seinem Gemüte keine geringe Qual antun muß, wenn er sich sein ganzes Leben hindurch stellen und verstellen muß.« 100 Hans-Werner Müsing: Speners ›Pia Desideria‹ und ihre Bezüge zur deutschen Aufklärung. In: Pietismus und Neuzeit 3 (1976), S. 32–70, hier S. 55. 101 Gottfried Arnold: Vorrede. Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie vom Anfang des Neuen Testaments bis auf das Jahr Christi 1688. Frankfurt a.M. 1729. b2 v. Siehe ebenfalls Arnold: »Bishero ist genug Lateinisch hievon geschrieben worden / und wenigen andern zu gute kommen.« Gottfried Arnold: Die erste Liebe der Gemeinen JESU Christi. Hg. v. Hans Schneider. Leipzig 2002 (Frankfurt a.M. 1686), S. 28. 102 Adelung: Geschichte der menschlichen Narrheit, S. 322.



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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die Aufklärung öffnenden Debattenkultur erscheint. Sie sind ihrer Form nach – weniger dem Inhalt – sogar wenig repräsentativ für die »Gattungen und Leistungen der pietistischen Literatur«,103 wenn diese im 18. Jahrhundert vor allem in der Erbauungsliteratur, der geistlichen Lyrik, sowie in psychozentrischer Literatur wie Seelentagebüchern, Autobiografien und Briefliteratur gesehen werden. Dippels Schriften widmen sich nicht der Seelenerforschung, sondern dem theologischen Disput, der sie bis in die Rationalität der Argumentation und die Schärfe der Wortwahl auch sprachlich prägt.104 Seine Texte kennzeichnet ein unverkennbarer Duktus, der im Diskurs seiner Zeit wie in der Rezeption immer wieder thematisiert und in unmittelbare Nähe zu den inhaltlichen Heterodoxien gebracht wird; die Abweichung im Inhalt wird scheinbar bestätigt durch die Abweichung in der Form und umgekehrt.105 Es geht dabei um mehr als lediglich um die Abweichung von der Norm eines traditionellen, an aristotelischer Logik orientierten Traktats. Als besonderes Ärgernis wird von Dippels Kritikern immer wieder auf den Erfolg der Texte bei den Lesern hingewiesen, wozu gerade die »freche Schreibart« maßgeblich beitrage.106 Dippels Schriften erscheinen unter satirischen Titeln und verbinden theologische Sachfragen mit einer sich »rückhaltlos aussprechenden Subjektivität«.107 Dazu bemühen sie sich um Leserfreundlichkeit, indem hin und wieder Gedichte die komplexen theologischen Streitfragen poetisch zusammenfassen. Die Reime sollen die theologisch weitläufigen Erörterungen »einer ieden christlichen Seel […] kurz vor das Gedächtnis und die Augen […] mahlen.«108 Rhetorisch und poe-

103 Hans-Jürgen Schrader: Die Literatur des Pietismus – Pietistische Impulse zur Literaturgeschichte. Ein Überblick. In: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004 (Geschichte des Pietismus 4), S. 387–403. 104 Der Topos von Dippels scharfer Zunge gehört zum festen Bestandteil der Forschungsliteratur über ihn. Ergänzenswert sind hier die Beobachtungen Gierls zu den (auch sprachlichen) Ritualen des literarischen Streitens, die Dippels spitze Feder in einen spezifischen zeitgenössischen Kontext einbettet. Dieser Kontext ist bei allen Beteiligten durch die Intention, »dem Gegner das Maul zu stopfen« (in dieser Metapher!) gekennzeichnet. Gierl: Pietismus und Aufklärung, S. 114 ff. 105 So der Rezensent zu: Christiani Democriti Papismus Protestantium vapulans, in: Altes und Neues aus dem Schatz theologischer Wissenschaften, 1701, S. 64–69, hier S. 65: »Seine intention ist / die Seelen der bisherigen Orthodoxorum zu confundiren p.11. über die sämtliche Evangelische Religion / als ein Democritus oder vielmehr Lucianus, zu lachen und zu spotten / daher auch die ganze Schreib=Art spöttisch/ liederlich  / und so ärgerlich ist  / daß ein Christliches Gemüth sich darüber entsetzen muß; Ordnung und Einleitung darff man hier nicht suchen«: 106 Ausgehend von der zitierten Rezension siehe Trinius: Freydenker=Lexikon, S. 182. 107 Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie 2, S. 278. 108 Dippel: Wein und Öl in die Wunden des gestäupten Papstthums I, S. 338.

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tologisch befindet sich Dippel damit auf der Höhe seiner Zeit, nachdem Christian Weise 1692 die Poesie als Dienerin der Beredsamkeit bestimmt und ihr die Funktion der Verbesserung politischer und theologischer Reden zugewiesen hatte.109 Vor allen Dingen jedoch verstand sich Dippel auf die Kunst der Satire und wusste sie im theologischen Streit einzusetzen. Auch unter diesem Gesichtspunkt trifft sich seine Praxis theologischen Streitens mit der Literatur der Aufklärung, insbesondere in einem Kommunikationsgefüge, in dem die Verbindung von theologischen Sachfragen und Humor an sich bereits als transgressiv betrachtet wurde.110 Hatte Dippel an der akademischen Theologie die Pedanterie bemängelt, die sich im reinen Zitieren erschöpfe und nichts Eigenständiges darstelle,111 zieht er selbst alle Register ironischer Verfremdung gegnerischer Schriften, sarkastischer Kommentare und treffsicherer Pointen, die bei aller Schärfe auch die Selbstironie kennen und seine Texte im Korpus pietistischer Institutionenkritik unverwechselbar machen.112 Die Nähe zwischen Satire in theologischer Streitliteratur und Satire als theologische Streitliteratur wird im Vergleich zwischen Dippels Streitschriften und Christian Ludwig Liscov (1701–1760) aufklärerischen Satiren, etwa Über die Unnötigkeit der guten Werke zur Seligkeit deutlich. Liscovs literarische Inszenierung einer Polemik gegen die guten Werke durch die Figur eines Pfarrers mit dem sprechenden Namen Sebastian Zänker findet in Dippel ein außerliterarisches Vorbild, wenn dieser im theologischen Gefecht in die Rolle des orthodoxen Gegners schlüpft und ironisch gegen die Pietisten wettert, oder

109 »Und also ist die Poeterey nichts anders als eine Dienerin der Beredsamkeit / weil sie einen jungen Menschen so wol anführet  / daß er seine concepte nicht nur deutlich  / sondern auch lieblich und etlicher massen admirable vorbringen lernet. […] Der also genandte äußerliche Nutz gehet dahin / daß man in Reden derer sich ein Theologus und ein Politicus bedienen muß / eine angenehme Manier bekömmt.« Christian Weise: Curiöse Gedancken von Deutschen Versen / welcher gestalt Ein Studierender in dem galantesten Theile des Beredsamkeit was anständiges und practicables finden soll […]. In: Poetik des Barock. Hg. v. Marian Szyrocki. Stuttgart 1977, S. 235. 110 Chauncey David Ensign: Radical German Pietism (c. 1675–1760). Ann Arbor 1955 (Doctoral Dissertation Series Publication 12, 296), S. 166: »Yet his witty style, which was so offensive then, would recommend him to modern readers. The manner of writing in the Germany of his day was so »altvaterisch pedantisch« that Dippel’s style was felt to cast an unfavorable light on his character. It was a breech of good taste to write about religion in a way that betrayed a sense of humor. One can see how his enemies might cringe before his satire.« So auch Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, S. 278. 111 Dippel: Abgenöthigter Grund=Riß der Academischen Gottes=Gelehrtheit I, S. 753. Der klassische Konflikt, der in den Antagonisten Faust und Wagner literarische Form gewann. 112 Zu Dippels Selbstironie auch Buchner: Johann Konrad Dippel, S. 222. Zu Dippels »formkräftiger Individualsprache« Hans-Jürgen Schrader: Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologien und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung. In: Lehmann (Hg.): Glaubenswelt und Lebenswelten (Geschichte des Pietismus 4), S. 404–427, hier S. 416.



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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wenn er eine fiktive Leichenrede auf einen ehebrüchigen Priester hält und dabei bibelfest nach Hos 1,2 »Geh hin, nimm ein Hurenweib und zeuge Hurenkinder« die Verhältnismäßigkeit von wörtlichem Bibelglauben und guten Werken nicht minder spitz als der Literat Liscov thematisiert.113 Diese Öffnung zur Literatur der Aufklärung ist insbesondere deshalb beachtenswert, weil sich Dippels weitgehende sprachliche Abstinenz von pietistischer Sonderterminologie sowie seine rationalen Argumente mit einer vermeintlich unzeitgemäßen Kontinuität im Bereich der Hermetik-Rezeption gegenüber den spiritualistischen Autoren des 16. Jahrhunderts treffen.

1.3. Zur Rezeption und Neudeutung des Corpus Hermeticum Nach Casaubons Destruktion des hermetischen Anciennitätsmythos verschwand der Name des Hermes zunehmend aus dem gelehrten Diskurs oder wurde in Paracelsismus, Theosophie und Spiritualismus zur Chiffre für verschiedene Inhalte, die sich von der philologischen Grundlage des Corpus Hermeticum vollständig lösten. In Dippels Texten dagegen lässt sich exemplarisch beobachten, inwieweit das Corpus Hermeticum bis ins 18. Jahrhundert hinein trotz des Wissens um die Kritik Casaubons hinein als authentische Quelle eines historischen Autors rezipiert und neu gedeutet werden konnte. Die früheste, ausführliche Referenz an Hermes findet sich in Dippels Reflexion über die Ursachen des zermürbenden Religionsstreits Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie aus dem Jahr 1699. Dippel zitiert den ersten und den 13. Traktat, also genau die Texte, die auch für Franck und Weigel entscheidend waren und die den Inspirationsgedanken, die Schöpfungslehre sowie die Erzählung von der Wiedergeburt enthalten. In ungebrochener Tradition seit Francks Übersetzung des ersten Traktats erscheint Hermes als Kronzeuge einer Offenbarung Gottes auch bei den Heiden: Und eben darum finden wir, daß diejenige Heyden, welche diese Wahrheit in Ungerechtigkeit nicht aufgehalten, sondern derselben einfältiglich gefolget, nicht allein in ihren Wandel die heylsame Worte Jesu Christi vor vielen Christen ausgedruckt und erfüllet, sondern auch in ihren Schrifften solche documenta des Geistes der Wahrheit hinterlassen, die weder Vernunfft noch menschlicher Unterricht in sie hat bringen können. Wem es gegeben, und wer Augen zu sehen hat, der lese nur aus vielen andern die zwey Büchlein Mercurii Trismegisti, de Rerum Natura und de Regeneratione (welche Marsilius Ficinus, so viel ihm wegen

113 Dippel: Unpartheyische Gedancken über eines so genannten Schwedischen Theologi Kurtzen Bericht von Pietisten I, S. 1215 f.; Christian Ludwig Liscov: Ueber die Unnöthigkeit der guten

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Tieffe der Geheimnissen möglich gewesen aus dem Griechischen in das Latein übersetzt, und deren stilus uns genug versichert, daß sie von keinem geschrieben, welcher etwan die Bibel, oder sonst Christliche Bücher gelesen, und also keine scripta suppositia sind, wie etwan die Oracula Sybillina, deren Auctor sich an seiner Schreibart genug verräth). So wird er solche Geheimnisse so wohl von dem Werck der Erschöpfung als auch von dem Fall und der Wiederbringung antreffen, die weder von Augustino noch von Thoma Aquinate zu hoffen sind. Wiewohl dieser Auctor, weilen er seine Lehre nicht von Menschen und aus dem Buchstaben gehabt, die Geheimniß der Christlichen Religion und der Heil. Schrifft, gantz mit andern Namen ausgedruckt, aber nichts destoweniger einerley Sach mit Paulo und andern Scriptoribus ϑεοπνεύςοις (von Gottes Geist getriebenen Bücher=Schreibern) erreichet. Und wer seiner Lehr, unter den Heyden nachfolget, der wird des rechten Wegs zum ewigen Leben nicht verfehlen. Dieser Mercurius soll mehr als tausend Jahr vor Christi Geburt gelebt haben, und also zu solcher Zeit, da der Weg zur Heiligung noch nicht im ordentlichen Maaß offenbahret war, welchen er doch aus dem Licht GOttes genau eingesehen, und uns einen Beweiß gegeben, daß GOtt in seiner Lieb und Gnadenreichen Würckungen an keine Zeit und Umstände der Personen gebunden, und sich auch nach dem Maaß der überschwenglichen Gnade, auf vielerley Weise offenbahre, wann und wie er will, und wo er ein tüchtiges Gefäß findet, welches die Schätze seiner Liebe nicht von sich stosset, sondern in Glaubens=Gehorsam ihn allein suchet und ehret, hingegen sich selbst, die Welt 114 samt ihren Lüsten gering achtet.

Vieles in Dippels Worten widerspricht selbst dem gegenwärtigen Bild der Forschung, insbesondere im Hinblick auf die Frage nach einem »Ende« des Hermetismus um 1700: Hermes wird sogar unter Zurückweisung der Kritik Casaubons eindeutig als historischer Autor gelesen, und zwar in ungebrochenem Bezug auf Ficinos Übersetzung. Nicht zufällig sind es die bereits bei Franck und Weigel etablierten Deutungsmuster des inneren Worts sowie der Wiedergeburt, die das hermetische Wissen auch über die philologische Hinterfragung der Quellentexte hinaus zitierbar machen. Beide Deutungsmuster verbindet das Motiv des unmittelbaren Geistwirkens, im ersten Traktat als Belehrung durch den Geist im Topos des inneren Worts und im 13. Traktat als Transformation zum neuen Menschen durch die Wiedergeburt. Es sind diese Topoi, die die hermetischen Schriften nicht nur gegenüber Casaubons philologischer Spätdatierung, sondern sogar gegenüber einer reinen Literarisierung weiterhin als authentische religiöse Zeugnisse lesbar machen, wie die Parallelisierung mit Paulus zeigt. Eine Rezension in den Unschuldigen Nachrichten zeigt das zeitgenössisch Anstößige an dieser Paral-

Werke zur Seligkeit. In: Christian Ludwig Liscov’s Schriften. Hg. v. Carl Müchler. 3 Bde. Berlin 1806 [Frankfurt a.M. 1972], Bd. I, S. 3–104. 114 Dippel: Anfang, Mittel und Ende der Ortho-und Heterodoxie oder kurzer theosophischer Entwurff, aus was Ursachen das verworrene Religions=Gezänk in der Christenheit entsprungen, durch was Mittel es fortgeführt, und auf was Art es endlich zernichtet möge werden. 1699, Bd. I, S. 405–444, hier S. 429.



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lele: »Die ungeheure [!] Schlüsse des Democriti aber sind gottloß«, schreibt der anonyme Rezensent und belegt sein Urteil mit obigem Zitat: Ein Heyd könne die Wahrheit annehmen / ob er gleich das was wir Christum nennen nicht weiß  / oder demselben einen andern NAHMEN zueignet. […] Hermes Trismegistos soll einerley Sache (in negotio salutis) mit Paulo erreichet haben / und wer seiner Lehre unter 115 den Heiden nachfolge / der werde des rechten Wegs zum ewigen Leben nicht verfehlen.

Traditionsgeschichtlich leitet sich Dippels Einschätzung des Hermes stringent aus Denkfiguren der spiritualistischen Tradition ab: Wenn Dippel schreibt, Hermes stimme in der Sache mit Paulus überein, obwohl er sich dem Wortlaut nach anders ausdrücke, macht er die in der Tradition präsente Adam-Christus Typologie fruchtbar. Im Gegensatz zum Rezensenten versteht Dippel Adam und Christus hier genau wie Weigel und Franck nicht historisch und personal, sondern typologisch, als Bezeichnungen für den alten und den neuen, den wiedergeborenen Menschen. Zweitens versteht er die hermetischen Texte nach spiritualistischem Verständnis als Ausdruck einer Erkenntnis der Teilhabe, die historischem Wissen vorgänglich ist.116 Indem er die seit Franck existierende Idee der Ubiquität und Überzeitlichkeit des Geistes bekräftigt, dessen Wissen nicht an die Genealogie des Wissens im christlichen Kulturraum gebunden ist, überschreitet er wiederum das theologische Deutungsmuster der Abgeschlossenheit und zeitlichen Begrenztheit der Offenbarung, nicht aber ohne ein anderes Deutungsmuster ganz auszuschöpfen: Das Motiv der Erleuchtung als Tertium comparationis zwischen Paulus und Hermes stützt sich auf die Rede von Paulus als Erleuchtetem nach 1 Kor 2,4, wie sie beispielsweise in Speners Pia Desideria (1675) bemüht wird, nach der der Apostel nicht aus seiner eigenen Kraft, sondern aus der Erleuchtung durch den Heiligen Geist spricht.117 Jenes Sprechen des Geistes durch den Apostel korreliert Dippel offensichtlich mit dem Singen des Logos durch den Wiedergeborenen im 13. hermetischen Traktat, womit Hermes und Paulus jeweils zum »tüchtigen Gefäß«, also zu Mystikern werden. Die Privilegierung der hermetischen Texte noch vor den höchsten kirchengeschichtlichen Autoritäten Thomas von Aquin und Augustinus perspektiviert zudem christliches Wissen als ein Wissen, das verschiedene Namen und kulturgeschichtliche Formen des Ausdrucks kennt und

115 Rezension zu Christ. Democriti Anfang / Mittel und Ende der Orthodoxie und Heterodoxie. In: Unschuldige Nachrichten 1712, S. 931–933, hier S. 932 f. 116 Zeitgleich zu Dippel argumentiert Arnold ähnlich. Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte, S. 297. 5 117 Philipp Jacob Spener: Pia Desideria. Hg. v. Erich Beyreuther. Gießen 1995, S. 22.

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das, wie ausgerechnet das Beispiel des Heiden Hermes zeigt, allein über einen heiligen Lebenswandel, nicht über positives Bekenntniswissen verfügbar wird. Durch Dippels gesamtes Werk bleibt die Hochschätzung der hermetischen Texte sowie des Hermes Trismegistos als realer Person erhalten, die gerade nicht weiter erklärt oder auf ihre vermeintliche Unhistorizität problematisiert werden muss, sondern die zu kurzen selbstverständlichen Referenzen an die älteste Weisheit aus Ägypten gerinnt.118 Eine dezidierte Auseinandersetzung mit den hermetischen Texten findet in Dippels naturphilosophischem Hauptwerk Anderer Theil des Weg=Weisers zum Licht und Recht in der äussern Natur statt, wo er sogar mit naturphilosophischer Akribie Jakob Böhme durch Hermes Trismegistos korrigiert und damit geradezu exemplarisch die zeitgenössische Verflechtung der hermetischen, paracelsischen und theosophischen Diskurse belegt.119 In der naturphilosophischen Auseinandersetzung mit den frühaufklärerischen Philosophen bleibt Hermes eine wichtige Referenz, und er bleibt eingebettet in den Referenzzusammenhang der Philosophia perennis (Zoroaster, die Kabbalisten, Platon), der Kirchenväter (Origenes, Tertullian), Paracelsus und Böhme. In dieser Ahnenreihe erscheint Hermes in Dippels medizinischer Dissertation aus dem Jahr 1711,120 allerdings hat das ägyptische Wissen einen vielsagenden Bedeutungswandel durchlaufen: Es fungiert nun als Referenz für eine Philosophie des Lebens und der Natur, die Dippel explizit gegen die neuzeitlichen mechanistischen Tendenzen entwirft. Noch 1733, ein Jahr vor seinem Tod, beruft sich Dippel gerade auf Hermes als einen Philosophen des Lebendigen.121 So unerschütterlich hält er am Glauben an Hermes als eine reale Person fest, dass er sogar im Jahr 1725, als er um die Einschätzung eines archäologischen Funds auf Bornholm gebeten wird,

118 Dippel: Des thierischen Lebens Kranckheit und Artzney  II, S. 124–373, hier S. 342; ders.: Analytis Cramatis Harmonici II, S. 838–930, hier S. 890; ders.: Verteidigung des Traktats Vera Demonstratio Evangelica II, S. 932–1100, hier S. 966, hier über die »vernünftigen Heiden« Mark Aurel, die Stoiker, Pythagoräer und Platoniker und die »noch übrigen Dokumenten der Egyptischen Weisen, von welchen ohnedem die Griechen und Römer das Gute, was sie haben, eingesogen und fortgepflanzet.« 119 Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers zum Licht und Recht in der äussern Natur, Oder Entdecktes Geheimnüs Des Segens und des Fluch in denen Natürlichen Cörpern, zum wahrhafften Grund der Artzney=Kunst in Liebe mitgetheilet, Bd. I, S. 920–1028, hier S. 1015. 120 Dippel: Des thierischen Lebens Kranckheit und Artzney II, S. 336. 121 Dippel: Quo moriture ruis, Peter Hanssen! […] Das ist: Abgezwungene […] Abfertigung der absurden Prahlerey […]. 1733, Bd. III, S. 467–569, hier S. 507: »Sein [Gottes] Geist und Leben ist unendlich […], er ist, wie ihn Hermes Trismegistos nennet, Pater immensae foecunditatis, ein Vater von einer unendlichen Fruchtbarkeit«



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in den goldenen Bildern aus vorchristlicher Zeit Hermes Trismegistos in seiner dreifachen Funktion als Priester, Philosoph und König zu erkennen glaubt.122 Dippels Texte belegen damit weniger ein »Ende des Hermetismus« um 1700 als vielmehr eine Reorganisation und Neudeutung hermetischen Wissens, die gerade im historisch veränderten Kontext der Frühaufklärung das sinnstiftende Potenzial der hermetischen Texte bekräftigt und diese so ins spätere 18. Jahrhundert vermittelt. Dieser Prozess lässt sich en detail an der Neudeutung des Hermes vom alchemistischen »Vater aller Philosophorum« zum Vertreter einer »vernünfftige[n] Lehre« von der Willensfreiheit verfolgen, die Dippel im Jahr 1708 auf der Höhe der naturphilosophischen Auseinandersetzung mit der neuen Zeit vornimmt und diese gerade gegen die vermeintliche Unvernunft des philosophischen Rationalismus ins Feld führt.123 Das Bild des Hermes als Vaters aller Philosophen ist den Wissensgenealogien des Alchemo-Paracelsismus entlehnt und wird im alchemistischen Sammeldruck Von der Hermetischenn Philosophia (1586) angeführt, der sich höchstwahrscheinlich hinter einer Lektüreangabe in Dippels Fata Chymica (1704), dem Bericht über seine eigene Tätigkeit als Alchemist, verbirgt.124 Dieser Sammeldruck enthält eine deutsche Übersetzung der Tabula Smaragdina durch Bernardus Trevisanus (1406–1490),125 eine märchenhafte Rezeptur für den Stein der Weisen und lange Ausführungen zu einer Genealogie arkanen Wissens, wie sie für die paracelsistische Tradition charakteristisch ist. Trevisanus referiert dabei eine mythologische Ahnenreihe, nach der das vorsintflutli-

122 Dippel: Des Democriti Gedanken wegen der auf Bornholm gefundenen güldenen Bildnisse II, S. 617–628. 123 Dippel: Fatum Fatuum, das ist Die thörige Notwendigkeit […] die Freyheit des Willens zu disputieren […]. Amsterdam 1708, Bd. II, 1–122, hier S. 22 f. 124 Dippel spricht von einer Anthologie, die unter anderem die Fata und Practica des italienischen Grafen von Travise, die Sprüche des Alanus und die zwölf Schlüssel des Valentinus enthalte. Der Sammeldruck Von der Hermetischenn Philosophia wird dem Grafen von Travise zugeschrieben und enthält ebenfalls die Dicta Alani. Vgl. Dippel: Fata Chymica I, S. 920; ders.: Von der Hermetischenn Philosophia. Zwar enthält der Druck von 1586 nicht die zwölf Schlüssel des Basilius Valentinus, andererseits verfasst Dippel die Fata Chymica im Rückblick auf das Jahr 1698. Er ist in seinem gesamten Werk trotz seiner enormen Belesenheit kein Freund exakter Literaturangaben, da er diesen Habitus der Gelehrsamkeit gegenüber der – durchaus aufklärerischen – Praxis des Selberdenkens und empirisch Erforschens als überkommen empfindet. Ob es sich um den identischen Druck handelt, muss daher offen bleiben, auffällig ist trotzdem die wörtliche Übereinstimmung des Zitats zu Hermes. 125 Florian Ebeling: Das Ägyptenbild des Alchemo-Paracelsismus im 17. Jahrhundert. Beiträge zur intellektuellen Physiognomie des frühneuzeitlichen Hermetismus. Diss. Heidelberg 2001, S. 146 ff. Zum Autor Joachim Telle: Art. »Bernardus Trevisanus«. In: Lexikon des Mittelalters I, Sp. 2005 f.

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che Wissen zunächst von Hermes auf der Tabula Smaragdina festgehalten wurde, anschließend auf seinen Schüler Pythagoras überging und von diesem wiederum in der Turba Philosophorum verschriftlicht wurde.126 Nach dieser Genealogie erscheint Hermes wörtlich als erster Alchemist und Übervater aller Philosophen: »Derhalben er denn als ein anheber und vnd erfinder der Kunst pater Philosophorum genent wirdt / wie die Turba saget / daß er vor dem Pythagora gewesen sey«.127 Die alchemo-paracelsische Traditionslinie der hermetischen Tradition, die sich nicht primär auf das Corpus Hermeticum, sondern auf die Tabula Smaradgina sowie auf alchemische, anwendungsorientierte Literatur stützte, blieb von Casaubons Spätdatierung des Corpus Hermeticum zunächst unbeeinflusst und erinnerte Hermes weiterhin als ältesten Alchemisten und Wissenden.128 Hieraus entlehnt Dippel das Motiv des Hermes als Vater aller Philosophen und Vorgänger des Pythagoras und verbindet das Motiv im Kontext der Kritik am frühaufklärerischen Mechanismus mit neuen Konnotationen, indem er Hermes zum Fürsprecher einer, jetzt zeitgemäß formuliert, »vernünftigen« Lehre von der Willensfreiheit und zum ältesten Kenner der Moralphilosophie macht: Wie diese vernünfftige Lehre [der Willensfreiheit] bey dem Vater aller Philosophorum, Mercurio Trismegisto, wunderlich wol ausgeführet, und von seinen Nachfolgern, den Pythagoräern & Platonicis, allzeit zum Grund geleget, die Moral-Philosophie, und die aus solcher fliessende gute Gesetze unter den Menschen in einer societät oder Republique, gegen allen 129 Irrthum der Atheistischen Grillenfänger zu maintenieren.

Dippels Neudeutung hermetischen Wissens zur »alten, vernünfftigen Philo­ sophie«,130 die sich im neuen Sinnhorizont unbekümmert über Casaubons philologische Kritik am Corpus Hermeticum hinwegsetzte, stützt sich damit auf

126 Die Turba Philosophorum wird sowohl im fünften Band von Lazarus Zetzners Theatrum Chemicum (1602) als auch in J.J. Mangets Bibliotheca chemica curiosa (1702) tradiert und gilt als einer der wichtigsten Texte der Hermesverehrung. Vgl. Ebeling: Das Ägyptenbild des AlchemoParacelsismus, S. 147, Anm. 523, sowie Peter Kingsley: From Pythagoras to the Turba Philosophorum. Egypt and Pythagorean Tradition. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 57 (1994), S. 1–13. 127 Von der Hermetischenn Philosophia, S. 35 (Hervorh. im Orig.). 128 Florian Ebeling hat gezeigt, dass Casaubons Spätdatierung des Corpus Hermeticum die Autoren des Alchemo-Paracelsismus lange nicht tangiert hat, da ihr Schlüsseltext erstens die Tabula Smaragdina war und zweitens die beiden Traditionsstränge sich relativ selbstständig nebeneinander entwickelten. Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, S. 124 f. u. 132. Die Tabula Smaragdina wird nicht nur der Legitimationslegende nach im Grab des Hermes gefunden, sie wird ebenfalls Hermes als Autor zugeschrieben. Von der Hermetischenn Philosophia, S. 41. 129 Dippel: Fatum fatuum II, S. 22 f. 130 Dippel: Analytis Cramatis Harmonici II, S. 861.



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zwei Argumente: erstens auf die Rationalisierung des Hermes-Bilds aus der alchemo-paracelsischen Tradition, die von Casaubons Kritik unberührt blieb und der Dippel über seine praktische und erfolgreiche Tätigkeit als Alchemist ohnehin verbunden war, sowie auf die Interpretation des Corpus Hermeticum als Zeugnis eines Mystikers, was wiederum philologische Fragen sekundär erscheinen lässt. Ein Brief Dippels aus dem Jahr 1725 fasst als spätestes Zeugnis über das Corpus Hermeticum sein Urteil über diese Texte zusammen. Dieses Urteil steht nicht nur in ungebrochener Linie zu seinem frühesten Kommentar im Jahr 1699, es steht auch in beinahe wörtlicher Kontinuität zur frühesten Einschätzung dieser Texte durch Sebastian Franck knapp 200 Jahre früher. Es sind dieselben Denkfiguren, die bereits für Francks Übersetzung des Corpus Hermeticum und für die philologische Integration der antiken und christlichen Texte in eine gemeinsame Heilsgeschichte maßgeblich waren, die in Dippels Urteil wiederkehren: die Logostheologie, das Konzept des inneren Worts, das anthropologisch, nicht historisch begründet ist sowie die Ablehnung christlicher Heilsexklusivität. Wie Franck einst die vermeintlich ältesten Offenbarungen als inspirierte Zeugnisse Gottes bei den Heiden in das christliche Deutungsmuster integriert hatte, so verlängert Dippel deren Gültigkeit auch über alle philologische Kritik hinaus und macht sie für eine aufklärerische Rezeption anschlussfähig: Nach der Schrift Zeugniß ist die Liebe Gottes und deren Wirckung gegen alle Creaturen gemein; die heilsame Gnade ist allen Menschen erschienen. Christus ein Licht, welches erleuchtet einen jeglichen Menschen, der in diese Welt komt, dieses allgemeine Licht oder λόγος, Wort Gottes, scheint überall in der Finsterniß, ob schon nicht von allen admittiret und begriffen wird. Die es annehmen und seinen Leitungen folgen, werden allein Gottes Kinder. […] Das einzige Büchlein, so wir noch von des Mercurii Trismegisti Schriften übrig haben, und an deßen genuität und Alterthum kein vernünftiger Criticus etwas auszusetzen hat, Poemander oder Pastor genandt, welches voller Göttlicher und erleuchteter Penséen ist, und mit dem besten Buch der heiligen Schrift, meines Erachtens, die Wagschale hält, kan uns genug zeigen, daß Gott nicht nur der Juden, sondern auch der Heyden Gott gewesen, 131 und daß seine Liebe und seeligmachende Gnade an keine Secte gebunden.

131 Dippelii Schreiben an M. Craatz über die Frage, ob ein taub und stumm gebohrener eine Cognition von Christo habe, 1725, in: Rustmeier: Konrad Dippel in Schleswig-Holstein, IV. Drei Dokumente, S. 75. Der Brief Dippels, den er mit Bleistift im Gefängnis auf Bornholm verfasste, würde auch im Hinblick auf die aufklärerische Debatte der Taubstummenproblematik Aufmerksamkeit verdienen. Jahre vor Diderot befasste sich Dippel mit dem Erkenntnisvermögen von Menschen, die an körperlichen Behinderungen der Sinnesorgane leiden und vertrat die These, dass diese dennoch eine vollständige Erkenntnis Christi haben können – und zwar über das innere Wort.

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1.4. Patristik, Radikalpietismus und neue Naturphilosophie. Dippels Texte im Diskurs um 1700 Die jüngere Dippel-Forschung hat die These vertreten, Dippel habe seine Theologie entwickelt, bevor er von Böhme oder den hermetischen Schriften hätte beinflusst werden können und habe seine Position anschließend nicht mehr verändert.132 Sehr lange wurde darüber hinaus in der älteren Forschung die Ansicht geäußert, Dippels Umdeutung der Lehre von der Rechtfertigung und Erlösung sei völlig neu.133 Dippel hat tatsächlich noch spät auf sein frühestes großes Werk, Papismus Protestantium vapulans (1697), als gültige Ausformulierung seines »Systems« verwiesen, das sowohl vor seiner Kenntnis Antoinette Bourignons (1616–1680) oder Pierre Poirets als auch vor der alchemistischen Phase 1698 entstand, in der eine Auseinandersetzung mit hermetischer und alchemistischer Literatur stattfand.134 Dennoch ist Dippels Auseinandersetzung mit der hermetischen Tradition kein spätes, isoliertes oder unwichtiges Element, da allein die hermetischen Texte für Dippel von 1699 bis zu seinem Tod, also 35 Jahre lang, wichtige und geschätzte Referenzen waren und blieben. Die Frage nach der Bedeutung der hermetische Tradition für Dippels Schriften muss daher die enge diskursive und topologische Verschränkung zwischen hermetischen, theosophischen, mystischen und patristischen Texten im Diskurs um 1700 berücksichtigen. Ein im Diskurs als genuin hermetisch wahrgenommener Topos, die Idee der Geistleiblichkeit, lernt Dippel selbst noch in seiner Wandlung zum Pietismus und lange vor der Lektüre hermetischer Texte kennen. Bereits in der Studienzeit in Straßburg 1693/94, in der er sich rückblickend als orthodoxer »Libertiner« bezeichnet,135 verfasste er eine von ihm selbst als heterodox bezeichnete Disputation Daß alle erschaffene Geister ihrem Wesen nach, in gewissem Unterscheid materialisch

132 Goldschmidts gewichtige Studie resümiert im Schlusssatz: »Hermetische Literatur, Paracelsus, beide van Helmonts und Böhme hat Dippel erst zu einem Zeitpunkt zur Kenntnis genommen, als er seine theologische Position bereits gefunden hatte.« Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 271. Ein späterer Aufsatz deutet mögliche Einflüsse des Hermetismus an, die jedoch nicht weiter verfolgt werden. Goldschmidt: Johann Konrad Dippel und die Aufklärung, S. 101. 133 Ensign: Radical German Pietism, S. 161; Rustmeier: Nachwirkungen des deutschen Pietismus in Schweden, S. 191. 134 Dippel: Verteidigung des Traktats ›Vera Demonstratio Evangelica‹ II, S. 1081: »… wer nicht siehet, daß in dem zweyten Theil des Papismi vapulantis schon alles lieget, was bis hieher von mir weiter ausgeführet, und distincter (deutlicher) erörtert worden, der muß eine stumpfe Nase haben.« 135 Dippel: Lebens=Lauff I, S. 385.



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wären.136 Als Quellen für die üblicherweise als hermetisch oder paracelsisch wahrgenommene Vorstellung einer feinstofflichen Körperlichkeit des Geistes gelten die Schriften der Kirchenväter Makarios, Gennadius und Tertullian, die im Diskurs um 1700 präsent waren.137 Insbesondere die Schriften des Kirchenvaters Makarios sind im Kommunikationsgefüge vielsagend. Die historische Erinnerung an den frühchristlichen Kirchenvater Makarios der Ägypter bzw. Symeon von Mesopotamien oszilliert zwischen dem Bild eines Ketzers und eines frühchristlichen Lehrers der Innerlichkeit, der sogar ein Heiliger des Pietismus genannt wurde.138 Unter seinem Namen werden 50 geistliche Homilien überliefert, die sowohl in katholischer wie protestantischer Theologie, u. a. in Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum rezipiert worden sind.139 Im Jahr 1696 übersetzte Gottfried Arnold sie auf Deutsch, 1699 erschien unter dem Titel Ein Denckmahl Des Alten Christenthums die zweite Auflage, weitere Auflagen folgten in den Jahren 1702 und 1716.140 Die Worte des Kirchenvaters in der Übersetzung Gottfried Arnolds vertreten die These einer feinstofflichen Körperlichkeit der Geister, wie sie ebenso von einem Paracelsisten formuliert sein könnte: Da sonsten GOtt unendlich  / unzugänglich und unerschaffen ist  / so hat er nach seiner unendlichen Güte einen Leib angenommen und so zu reden sich verringert […] damit er sich mit seinen sichtbaren Creaturen vereinigen könte / nehmlich mit den Seelen der Heiligen und Engel: auf daß sie also des Göttlichen Lebens theilhafftig werden könten. Denn ein jedes unter 141 diesen ist nach seiner Natur ein Leib / es sey ein Engel oder eine Seele / oder ein Teuffel.

136 Die Disputation selbst ist verschollen, dürfte jedoch mit der ersten These seines Andern Theil des Weg=Weisers zum verlohrnen Licht und Recht verwandt sein. Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, 98 ff. u. 124 ff. 137 Detailliert zur Rolle der Kirchenväter für Dippel Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 124 ff. 138 Bereits in der frühchristlichen historischen Erinnerung wandelte sich die Deutung eines Hangs zur Innerlichkeit in die Wahrnehmung als Ketzerei. Zum historischen Phänomen Klaus Fitschen: Messalianismus und Antimessalianismus. Ein Beispiel ostkirchlicher Ketzergeschichte. Göttingen 1998. Ausführlich zur Rezeption insbesondere im radikalen Pietismus Ernst Benz: Die protestantische Thebais. Zur Nachwirkung Makarios des Ägypters im Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa und Amerika. Mainz 1963. 139 Detailliert zu Rezeptionszeugnissen im frühen Protestantismus und zu Spuren in Arndts Vier Büchern vom wahren Christentum Hans Schneider: Johann Arndt und die makarischen Homilien. In: Ders.: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555– 1621). Göttingen 2006, S. 9–42. 140 Schneider: Johann Arndt und die makarischen Homilien, S. 10; ebenso zu Arnold und Makarios Hermann Dörries: Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold. Göttingen 1963, S. 148 ff. 141 Gottfried Arnold: Ein Denckmahl des Alten Christenthums / Bestehend in des Heil. Macarii […] Schrifften. Goslar 1699, S. 43 f. Vgl. zur Analyse der Denkfigur als heterodox Colberg: Das hermetisch-platonisches Christenthum I, S. 33 u. 112.

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Bis zu seinem Lebensende zitiert Dippel diese Denkfigur unter Berufung auf Makarios dezidiert als christliches Wissen, ab dem Jahr 1699 erst treten die Belege durch Hermes und Jakob Böhme hinzu. Dabei ist dieser Topos um die Jahrhundertwende zum 18. Jahrhundert grundsätzlich und nicht nur im religiösen Diskurs präsent, sondern hat sein wohl prominentestes Echo nur drei Jahre nach Arnolds Makarios-Übersetzung in Christian Thomasius’ Versuch vom Wesen des Geistes (1699) gefunden. Thomasius, bei dem wiederum der Hamburger Dichter Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) in den Jahren 1700–1702 studierte, reagierte mit dieser Schrift auf den naturphilosophischen Problemhorizont der Frühaufklärung.142 Die neue Philosophie des Cartesianismus, Spinozismus und Bekkerianismus laufe Gefahr, alles zur Materie zu machen und das geistige Wesen überhaupt zu leugnen, klagte er.143 Um dem zu begegnen erarbeitete er einen naturphilosophischen Weltentwurf, der mithilfe topischer Rekurse auf das Konzept einer Geisterhierarchie, dienstbarer Mittelgeister oder des Einflusses zweigeschlechtlicher Licht- und Luft-›Geister‹ auf die Materie das Zusammenspiel von Geist und Materie zu erläutern suchte. Dabei entwarf Thomasius ein Bild der Natur, das in deutlicher Anlehnung an das Konzept der Kette der Wesen von den Sternen bis zu den Steinen von Geist in unterschiedlichen Mischverhältnissen belebt wird.144 Thomasius insistierte auf der Biblizität und damit Christlichkeit seiner Geisterlehre, die nichtsdestoweniger eine hermeneutische Hilfe zum Verständnis der namentlich aufgeführten Autoren Böhme, Weigel, Fludd und Christian Hoburg (1607–1675) biete.145 Diesem Selbstverständnis widersprachen jedoch sowohl theologische Kritiker wie der Leipziger Prediger Albrecht Christian Roth oder der Tübinger Medizinprofessor Elias Camerarius (1641–1695) auf das Schärfste.146 In diesem Problemhorizont boten die makarischen Homilien nicht nur eine dezidiert christliche Referenz für das Konzept der Geistleiblichkeit, sie legitimierten auch mit dem Gewicht patristischer Autorität die Hoffnung auf die Wiederher-

142 Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung 1, S. 248 ff.; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Pietismus, Platonismus und Aufklärung. Christian Thomasius’ Versuch von Wesen des Geistes. In: Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Hg. v. Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1998, S. 83–98. 143 Christian Thomasius: Versuch vom Wesen des Geistes oder Grund-Lehren so wohl zur natürlichen Wissenschaft als der Sitten-Lehre (Halle 1699). Hg. v. Kay Zenker. Hildesheim 2004, S. 119 f. 144 Ebd., S. 138 ff. 145 Ebd., S. 128. 146 Detailliert zu Kontextualisierung und Rezeption Kay Zenker: Vorwort. In: Thomasius: Versuch vom Wesen des Geistes, S. V-L, zu Rezeption und Kritik S. XXXIII ff.



Zu Quellenlage und Forschungsfragen

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stellung der verlorenen Gottebenbildlichkeit und interpretierten das Werk Christi als das Wirken des Geistes, das die strebende Seele aus ihrem postlapsarischen Zustand führt.147 Diese Thesen werden von Gegnern des Diskurses ebenfalls als Inbegriff des Hermetismus gewertet.148 Nach Makarios richtet sich die Sehnsucht der Seele darauf, den alten Menschen im Zustand der Sünde abzulegen und in den neuen, himmlischen Menschen verwandelt zu werden, dessen verblichenes Bild sie bereits während ihrer Erdenreise in sich trägt. In einer Ausdeutung der Thronwagenvision des Propheten Ezechiel schildert Makarios in traditionell mystischer Bildlichkeit, wie die Seele von göttlichem Licht durchflutet und »voller geistlicher Augen des Lichtes«149 wird. Die makarischen Homilien kennen auch die verketzerte These, der Mensch werde nach der Abkehr von der Sünde vergöttert und Gottes Sohn.150 Innere Offenbarung und Erleuchtung werden als natürliche Prozesse geschildert.151 Bei Makarios »wird« der Mensch erst zum Christen durch die himmlische Salbung,152 womit der Kirchenvater in eine vergleichbare Opposition zur orthodoxen Rechtfertigungslehre gerät wie die spiritualistischen Autoren. Mehr noch: Makarios betont, dass diese Lehre »nicht leere gesprochene Worte« seien, sondern »vielmehr eine Tatsache geistigen Lebens, eine Tatsache der Wirklichkeit, die sich in der würdigen und gläubigen Seele vollzieht«.153 Im Kommunikationsgefüge war mit Makarios eine kirchengeschichtliche Autorität des frühen Christentums präsent, die den Topos der Wiedergewinnung der Gott­ ebenbildlichkeit in einer Unio-Erfahrung ähnlich wie das Corpus Hermeticum beschrieb. Die von Arnold publizierten Texte des Makarios passten damit in die geschichtstheologische Dekadenztheorie, die Arnold selbst im Opus magnum der Unpartheyischen Kirchen= und Ketzerhistorie (1699/1700) vertrat. Mit einer

147 Klaus Fitschen: Einleitung. In: (Pseudo-)Makarios. Reden und Briefe. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Klaus Fitschen. Stuttgart 2000, S. 1–33; Ephrem A. Davids: Das Bild vom neuen Menschen. Ein Beitrag zum Verständnis des Corpus Macarianum. Salzburg 1968; Joseph Stoffels: Die mystische Theologie Makarius des Aegypters und die ältesten Ansätze christlicher Mystik. Bonn 1908. 148 Colberg: Das hermetisch-platonisches Christenthum I, S. 4, zur Geistleiblichkeit, S. 33. 149 Makarios (Hg. Arnold): Ein Denckmahl, S. 3; Hes 10,12. So auch von Arnold in anderen Schriften verbreitet: Arnold: Die erste Liebe (Hg. Schneider), S. 35 u. 38 f. 150 Makarios (Hg. Arnold): Ein Denckmahl, S. 205; siehe weiterführend Martin Schmidt: Teilhabe an der göttlichen Natur. In: Ders.: Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus. Witten 1969, S. 238–298, hier S. 260; Schneider: Johann Arndt und die makarischen Homilien, S. 35. 151  Makarios (Hg. Arnold): Ein Denckmahl, S. 95. 152 Ebd., S. 242. 153 Des heiligen Makarius des Ägypters fünfzig geistliche Homilien. Aus dem Griechischen übersetzt v. Dionys Stiefenhofer. München 1913, S. 10 f.

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beachtlichen Fülle an frühchristlicher und frühneuzeitlicher Literatur hatte Arnold die These untermauert, die ersten Christen hätten  – oft zusammen mit den erleuchteten Heiden – die reine christliche Wahrheit besessen, wohingegen der konfessionelle Dauerzwist der historischen Gegenwart als Verfallserscheinung lesbar wurde. Aus diesem geschichtsphilosophischen Modell zog Dippel schließlich die Legitimation zu umfassender Kritik an den zeitgenössisch wahrgenommenen Missständen. Literarisch nachweisbare Anstöße zur Abwendung von seiner frühen orthodoxen Orientierung erfuhr Dippel nach seiner Habilitation durch Texte Caspar von Schwenckfelds, der zeitgenössisch noch als Quelle der Heterodoxie galt.154 Wie präsent die Schriften Schwenckfelds im spiritualistischen Untergrund des 17. Jahrhunderts waren, dokumentiert ein langes Gedicht der Dichterin Anna Ovena Hoyer(s) aus dem Jahr 1650, die in Johann Heinrich Feustkings Gynaeceum haeretico fanaticum (1704), dem misogynen Gegenentwurf zu Arnolds Unpartheyischer Kirchen= und Ketzerhistorie, sowie in Adelungs Geschichte der menschlichen Narrheit als Weigelianerin, Schwärmerin und  – wenn auch abwertend  – als Poetin erinnert wird.155 Anna Ovena Hoyers rezipierte selbst die Schriften Schwenckfelds, Weigels, Arndts sowie David Joris und bot verfolgten Dissidenten Zuflucht, bevor sie selbst 1632 nach Stockholm emigrierte. Ihr umfangreicher Lyrikband Geistliche und weltliche Poemata erschien 1650 in Amsterdam, und es heißt über die Präsenz von Schwenckfelds Texten Mitte des 17. Jahrhunderts: Caspar Schvvenckfeld von Ossig ist Der Wahrheit zeug / ein Frommer Christ; Hat Gottes Wort bey seiner zeit Durch red und schreiben ausgebreitt/ Und umb deßwillen viel gelitten Weil Satan wieder ihn gestritten […] Sein Bücher gehn / Satan zum trotz / Durch Stät und Land / sind vielen nütz /

154 Bücher spricht von ihm über weite Strecken abfällig als »Stenckefeld«. Bücher: Lutherus Anti-Pietista, S. 18 f. Zu Schwenckfeld selbst Emmet R. McLaughlin: The Freedom of Spirit, social Priviledge and Religious Dissent. Caspar Schwenckfeld and the Schwenkfelders. Baden-Baden 1996. 155 Johann Heinrich Feustking: Gynaeceum Haeretico Fanaticum, oder Historie und Beschreibung der falschen Prophetinnen / Quäckerinnen / Schwärmerinnen / und andern sectirischen und begeisterten Weibs=Personen. Frankfurt a.M./Leipzig 1704. Hg. v. Elisabeth Gössmann. München 1998, S. 356 ff. Feustking zählt Anna Ovena Hoyers zu den herausragenden Gegenspielerinnen der Männer, die das »Weigelianische Unkraut beyzeiten zu dämpfen« versuchten, da sie sogar die Feder gegen das Predigtamt spitzte (S. 357) und glaubte, »es stehe einem jedem Christen / und also auch einem Weibe frey zu predigen und andere zu lehren« (S. 359).



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Auch kommen Gott sey lob zu mir / Viel gutes ich darinnen spühr / Des waren Wortes Eigenschafft / Sein lebendige würcklich krafft / Sein wesen her von Ewigkeit / 156 Wird uns hierin klar angedeut.

Dippels erste große Streitschriften, Orcodoxia orthodoxorum (1697) sowie Papismus Protestantium vapulans (1698), entstehen in der Auseinandersetzung mit einer antipietistischen Polemik, die ihm über ausführliche Schwenckfeld-Zitate die Theologie des inneren Worts vermittelt.157 Neben Schwenckfeld kennt Dippel ab 1698 auch Valentin Weigel, zu dessen Schriften er sich selbst in ›unpartheiischer‹ bzw. aufklärerischer Haltung stellt und schreibt, jeder möge die Schriften Weigels und Schwenckfelds selbst lesen und ohne eigene Lektüre keinem orthodoxen Urteil über sie Glauben schenken.158 In die zweite Jahreshälfte des Jahrs 1698 fällt Dippels Begegnung mit Gottfried Arnold, der im Wintersemester 1697/98 eine Professur an der Universität Gießen innehatte und zusammen mit zwei Freunden Dippel die entscheidende Hilfe für seine Wandlung zum Pietisten gewährte.159 Dippel nennt ihn im Rückblick einen Führer seiner wankenden Seele.160 Arnold hatte bereits in seinem ersten Monumentalwerk, Die erste Liebe der Gemeinen JESU Christi (1696), die Wiedergeburt ins Zentrum des christlichen Lebens gestellt und das Christentum recht unorthodox als »Herwiederbringung des verlohrnen göttlichen Ebenbilds« charakterisiert.161 Das Konzept der Wiedergeburt, zu dem Arnold auf das cha-

156 Anna Ovena Hoyers: Geistliche und weltliche Poemata. Hg. v. Barbara Becker-Centarino. Tübingen 1986 (Amsterdam 1650), S. 163. Zu Anna Ovena Hoyers weiterführend mit Literatur Becker-Centarino: Nachwort, ebd., S. 3*ff.: Gisela Brinker-Gabler: Deutsche Dichterinnen vom 16. Jahrhundert bis heute. Köln 2007, S. 87–95. Kemper: Deutsche Lyrik 3, S. 40 ff. 157 Ausführlich mit langen Paraphrasen der Texte des orthodoxen Pfarrers Lentzer siehe Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 162 ff. 158 »Dann daß sie [die Orthodoxie] sagen, Schwenckfeld oder Weigel / welche ich doch nicht in allen Dingen entschuldigen will, gleichwie ich sie nicht als Kätzer verdammen kann, haben das geoffenbahrte Wort GOttes verworffen, und in allem ihre eigenen Träume vor die Stimme des H. Geistes in ihnen ausgegeben, ist im Grund erlogen: Ein ieder Christ, der es kan, lese nur ein einig Blat aus solchen Menschen, so wird er alsobald das Gegentheil finden; der sie aber nicht gelesen oder lesen kan, der glaube den Orthodoxis nicht: dann der kein Christ ist und sie lieset, dem werden sie wohl vergifft vorkommen, weilen sie dem alten Adam ein Gifft und Pestilenz sind«; Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 106. 159 Dippel: Lebens=Lauff I, S. 393; ausführlich Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 184 ff. 160 Dippel: Lebens=Lauff I, S. 393; so auch Bender: Johann Konrad Dippel, S. 45. 161 Gottfried Arnold: Die erste Liebe der Gemeinen JESU Christi / Das ist: wahre Abbildung der

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rakteristische trichotome Modell des Menschen zurückgreift, bleibt das Zentrum seiner Soteriologie bis zu den späten Schriften.162 Im Herbst / Winter 1697 arbeiteten Dippel und Arnold beide, ohne gegenüber Kollegen etwas anzudeuten,163 an zwei Werken, die bei ihrem Erscheinen ein gewaltiges Echo auslösten: Arnolds Unpartheyische Kirchen= und Ketzerhistorie und Dippels Papismus Protestantium vapulans, das seinen Bruch mit der Kirche initiierte. Beide standen in freundschaftlichem Kontakt sowohl während der Gießener Zeit als auch noch nach Arnolds Weggang. Dippel druckt in seiner Nachfolgeschrift, Wein und Öl in die Wunden des gestäupten Papstthums der Protestierenden (1698), Gottfried Arnolds vernichtende poetische Kirchenkritik, Babels Grablied 164 aus dem Darmstädter Gesangbuch, und verteidigt ihn gegen Angriffe nach der Publikation der Unpartheyischen Kirchen= und Ketzerhistorie.165 Gleichzeitig beschäftigen Dippel nun Themen, die auch Arnold umtreiben: die Umdeutung der Rolle Jesu Christi, die radikale Hinterfragung des traditionellen Ketzerbegriffs sowie das Verständnis der wahren Kirche als die der Verfolgten. Dippel und Arnold verbindet die strukturelle Verknüpfung der Topoi einer notwendigen inneren Erleuchtung als Wiederbringung des verlorenen Ebenbilds mit der Umwertung des Ketzerbegriffs sowie der kompromisslosen Akzentuierung einer gelebten christlichen Praxis gegenüber akademischen Debatten. Arnold entfaltet diese Themen in Rückbindung an die Sophien-Mystik (Das Geheimnis der göttlichen Sophia, 1700), Dippel jedoch bleibt an Christus orientiert.166 Arnold

ersten Christen / nach Jhrem lebendigen Glauben Und heiligen Leben […]. Frankfurt a.M. 1700, S. 131; weiterführend: »Das Christentum ist die Nachfolge der göttlichen Natur […]. Wir bemühen uns mit allen Fleiß und Mühe / so viel uns möglich / GOtt gleich zu werden.« Siehe allgemein Kapitel 1, 3, 4 u. 19; einführend Hans Schneider: Nachwort. In: Gottfried Arnold. Die Erste Liebe. Hg. v. Hans Schneider. Leipzig 2002, S. 187–208. 162 Zur Wiedergeburt als Zentrum von Arnolds Anthropologie sowie der Anthropologie als Zentrum der Soteriologie bereits in Die erste Liebe Jürgen Büchsel: Gottfried Arnold. Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt. Witten 1970, S. 47; zur trichotomen Anthropologie ebd., S. 49 ff. Zur Konstanz dieses Gedankens trotz seiner vieldiskutierten Wandlung Jürgen Büchsel: Vom Wort zur Tat: Die Wandlungen des radikalen Arnold. Ein Beispiel des radikalen Pietismus. In: Gottfried Arnold (1666–1714) Hg. v. Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, S. 145–164. 163 Dippel: Lebens=Lauf I, S. 395. Sehr detailliert zu Arnold Hans Schneider: Gottfried Arnold in Gießen. In: Blaufuß/Niewöhner (Hg.): Gottfried Arnold, S. 267–300. 164 Dippel: Wein und Öl in die Wunden des gestäupten Papstthums I, S. 377. 165 Dippel: Christiani Democriti aufrichtig Christliche Antwort auf das so genannte Christ=brüderliche Sendschreiben eines wohlbekannten Freundes […], Bd. I, S. 570. 166 Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte, S. 266 ff.; zu einem Vergleich zwischen Arnold und Dippel Erich Seeberg: Gottfried Arnold und die Mystik seiner Zeit. Meerane 1923, S. 551 ff.



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versucht ab der Jahrhundertwende, die Wogen der Kritik zu glätten und nimmt in seiner Historie und Beschreibung der mystischen Theologie (1702/03) anstößige philosophische Referenzen zurück, hält aber unbeirrt am Konzept der Wiedergeburt als notwendiger Transformation des Menschen fest. Über den Untertitel der lateinischen Erstausgabe der Historia et descriptio theologiae mysticae seu theosophiae arcanae (1702) lässt sich erschließen, dass für Arnold die Theologia mystica eine »theosophia arcana«, übersetzt: eine »geheime Gottesgelehrtheit« bleibt.167 Entsprechend formuliert es Dippel in seinem umfangreichen Weg=Weiser zum verlohrnen Licht und Recht in der äussern Natur (1704), im Unterschied zu Arnold allerdings publiziert Dippel diese These in aller Offenheit.168 Noch im Jahr 1711 referiert Dippel Arnolds Historie und Beschreibung der mystischen Theologie zum Beleg der Zeitlosigkeit der mystischen Theologie, die von Theologen wie Köpke, Spener und Francke geschätzt wurde und nicht als Enthusiasmus verdammt werden dürfe.169 Neben Arnold schätzt Dippel den französischen Mystiker Pierre Poiret (1646– 1719), der, vom Cartesianismus kommend, seinerseits die Schriften Böhmes produktiv rezipiert hatte und einen bedeutenden Teil seines Lebens in Begleitung der verketzerten Mystikerin und Quietistin Antoinette Bourignon verbrachte, deren Texte er edierte und bis 1686 herausgab.170 Poiret ist neben Arnold eine Schlüsselfigur in der Vermittlung deutscher und romanischer Mystik ins 18. Jahrhundert. Er veröffentlichte neben einem Abriss der Theologie Böhmes im Jahr 1687 auch die edierten Werke der ebenfalls verfolgten Jeanne Marie Guyon und gab Übersetzungen der mittelalterlichen Mystiker Tauler, a Kempis und der Theologia deutsch heraus, die in den Jahren 1676 und 1700 unter dem Namen La Théologie Réelle erschienen.171 Seine eigenen Werke spiegeln eine Entwicklung vom Cartesianismus zur Mystik und üben ähnlich wie diejenigen Dippels eine pneumatische Kritik am Primat der Vernunft bei den Philosophen der Aufklärung John

167 Geyer: Verborgene Weisheit, Bd. 1, Buch 1, S. 294. 168 Dippel: Weg=Weiser zum verlohrnen Licht und Recht, Teil 1, Bd.  I, S. 791: »Erstlich werden wir unterrichtet zum Christenthum in dem Reich der Gnaden, oder unser Unsterbliches wird zu seinem Zweck, das ist zum verlohrnen Goettlichen Bild, worzu wir erschaffen, wiederum tuechtig gemacht. Diese Erudition wollen wir heissen theologiam, oder theosophiam, Gottes=Gelehrtheit.« 169 Dippel: Freye und freywillige Replic auf die […] Antwort  / eines zeitlichen Ministerii  II, S. 486. 170 Zum Folgenden Gustav Krieg: Der Mystische Kreis. Wesen und Werden der Theologie Pierre Poirets. Göttingen 1979; Marjolaine Chevallier: Introduction. In: Pierre Poiret: La Paix des bonnes Ames. Hg. v. Marjolaine Chevallier. Genf 1998, S. 7–23. 171 Krieg: Der mystische Kreis, S. 17 u. 44.

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Locke und Spinoza.172 Bereit die Cogitationes Rationales (1677 und 1685) vertreten die heterodoxen Gedanken des Ausflusses und der Rückkehr der Seele zu Gott, einer trichotomen Struktur der Seele analog zur trinitarischen, nicht personal verstandenen Entfaltung Gottes sowie der Fähigkeit des freien Willens, in der Ausrichtung auf Gott die Erleuchtung der Seele vorzubereiten.173 Poirets Hauptwerk, Oeconomie divine, erschien 1687, 1705 auf Latein, 1711 unvollständig auf Deutsch und 1737 vollständig auf Deutsch in Berleburg, wo auch die Gesamtausgabe des dippelschen Werks gedruckt wurde. Sie stellt einen Entwurf der göttlichen Heilsordnung dar, der zwar in bewusste Auseinandersetzung mit Descartes tritt, aber ungebrochen die taulersche Bildlichkeit vom göttlichen Abgrund oder Seelengrund sowie ein tief von Böhme inspiriertes Gottes-, Seelen- und Sündenkonzept vertritt.174 Dippel, der Poiret 1711 in Leiden getroffen und mit ihm seine medizinische Dissertation besprochen hatte,175 gibt freimütig zu, weder Poirets Oeconomie divine noch die Schriften der Bourignon ganz gelesen zu haben, da sie ihm zu »weitläufig« gewesen seien.176 Auch Poirets quietistisches Trostbuch für die zum katholischen Gottesdienst gezwungenen Hugenotten in Frankreich, La Paix des bonnes Ames (1687) war Dippel zu zahm, obwohl er mit Poiret die These einer generellen Beliebigkeit der Konfessionszugehörigkeit teilt.177 Dagegen schätzt Dippel ausdrücklich Poirets Buch von der dreifachen Bildung, De Eruditione solida, superficiaria & falsa libri tres178 als »fürtrefflich, und allen Schul=Gelehrten höchst nützlich zu lesen.«179 Erschienen 1692 in Amsterdam, erfuhr der Traktat zwei Neuauflagen durch Christian Thomasius, der ihn im Jahr 1694 zustimmend und im Jahr 1708 noch einmal mit einem kritischen Vorwort herausgab. Poiret vertritt in diesem Werk analog zu Weigels Der güldene Griff das Konzept der tri-

172 Ebd., S. 47. 173 Ebd., S. 97 ff. 174 Ebd., S. 107, 120 u. 124. 175 Dippel: Entdeckung der Gewissens=losen Verdrehung […] Christophilus Wohlgemuth III, S. 15. 176 Dippel: Verteidigung des Traktats ›Vera Demonstratio Evangelica‹ II, S. 1081. Dennoch zu einem Vergleich W. Klose: Johann Konrad Dippel und Antoinette Bourignon nach Leben und Lehre dargestellt. In: Zeitschrift für historische Theologie 13 (1851), S. 467–510. 177 Poiret: La Paix des bonnes Ames, S. 30. 178 Krieg: Der mystische Kreis, S. 148 ff.; Ralph Häfner: Das Erkenntnisproblem in der Philologie um 1700. Zum Verhältnis von Polymathie und Aporetik bei Jacob Friedrich Reimmann, Christian Thomasius und Johann Albert Fabricius. In: Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher ›Philologie‹. Hg. v. Ralph Häfner. Tübingen 2001, S. 95–128, hier S. 104 ff. 179 Dippel: Weg=Weiser zum verlohrnen Licht und Recht I, S. 787.



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chotomisch gestuften Erkenntniskräfte, das er nun im neuen intellektuellen Kontext des Cartesianismus und dessen Glauben an die Letztbegründung allen Wissens durch Mathematik aktualisiert. Poiret verfasste sein Buch von der dreifachen Bildung ausdrücklich aus dem irenischen Wunsch heraus, den unfruchtbaren Theologenstreit um die rechte Auslegung der »reinen Lehre« zu beenden und erinnert daher an die trichotome Erkenntnislehre und ihre charakteristische Differenz zwischen der passiven und den aktiven, der rezeptiven und den an einen konstruierenden Sehakt gebundenen Erkenntnisformen. Frieden, so Poiret, ermöglicht allein die Gotteserkenntnis über den passiven Intellekt im Seeleninneren, den er noch in traditioneller Begrifflichkeit »Intellectus purus« und geistiges »Auge« nennt.180 Allein diese Erkenntniskraft ist nach Poiret zu einer wahrhaften Erkenntnis Gottes fähig. De facto beschreibt dies eine mystische Erkenntnis und entspricht dem zeitgenössischen Konzept der Theosophia arcana oder geheimen Gottes=Gelehrtheit bei Arnold und Dippel. Demgegenüber beschreibt Poiret die Vernunft als aktiven Intellekt, der keinen Zugriff auf die Dinge selbst hat und entsprechend anfällig für Ungewissheiten und Irrtümer ist. Als dritte und schwächste Form der Gelehrsamkeit betrachtet er die traditionelle Orientierung an Überlieferung und Autorität. Die Lehre Lockes im Essay concerning human understanding, nach der Erkenntnis in den Sinneserfahrungen gründet, lehnt Poiret ab. Die trichotome Erkenntnislehre stellt damit das erkenntnistheoretische Bindeglied nicht nur zwischen Dippel, Poiret und Arnold, sondern auch zu Weigel und dessen erkenntniskritischen Reflexionen dar. Sie behält ihr dekonstruktivistisches und damit kritisches Potenzial in einem nur oberflächlich veränderten Problemhorizont. Die charakteristische Einschätzung der Vernunft als aktives und damit subjektgebundenes und fehlbares Erkenntnisorgan wird erst in der historischen Erinnerung als »gegenaufklärerisch« wahrgenommen. Im Kommunikationsgefüge selbst stellt sie eine fundierte Kritik an Unfehlbarkeitspostulaten und darauf aufbauenden Machtansprüchen dar, gleichgültig ob diese aus einem Wissenssystem abgeleitet werden, das sich auf die Autorität der Schrift sowie auf aristotelische Logik  – Vernunftschlüsse  – stützt oder auf die frühaufklärerische Letztbegründung aller Dinge durch Mathematik. Dippel baut bis in die Spätschriften hinein auf die Vorstellung einer trichotomen Anthropologie, wie sie von Christen, Platonikern und Hermetikern vertreten wird181 und für die er sogar noch die tra-

180 Petri Poiret De Eruditione solida, superficiaria et falsa libri tres. Amsterdam 1692, S. 25 f.; weiterführend Häfner: Das Erkenntnisproblem in der Philologie, S. 104 ff. 181 Dippel: Analysis Cramatis Harmonici II, S. 878 f. Dippel ist sich der hermetischen Konnotationen bewusst, wenn er schreibt, die jüdischen Kabbalisten, die Platoniker und Pythagoräer

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ditionelle Begrifflichkeit verwendet, nämlich Leib, Seele und Gemüt bzw. Mens oder der innere Mensch.182 Allerdings zeigt die Ausführlichkeit seiner späten Erläuterungen zur Begrifflichkeit, dass diese Wissensfigur in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts erklärungsbedürftig wird  – der Wissenshorizont wird im Zuge der frühaufklärerischen Debatten ein anderer. Mit dieser Anthropologie ist die Soteriologie als Wiedergeburt oder Transformation zur Teilhabe an der göttlichen Natur verbunden, unabhängig davon, ob sie aus patristischen, platonischen oder hermetischen Quellen abgeleitet wird. Diese bildet ab Dippels erster großer Streitschrift Papismus Protestantium vapulans das Zentrum seiner Theologie. Zusammenfassend und leserfreundlich beschreibt Dippel den Zirkel des Ausflusses und der Rückkehr der Kreatur zu Gott in Versen in der Frühschrift Wein und Öl in die Wunden des gestäupten Papst­ thums der Protestierenden (1698). Bereits hier ist die orthodoxe Vorstellung einer stellvertretenden Rechtfertigung der Soteriologie einer wesentlichen Vereinigung mit dem inneren Christus gewichen, ein Jahr bevor der Name Hermes Trismegistos in Dippels Texten das erste Mal fällt: Schau deinen Ursprung an, und jene Seligkeit, Worzu der Liebe Macht dich aus dem Nichts erhoben: Da du in höchster Wonn, ohn alle Sorg und Streit, Sollt’st leben ewiglich, und deinen Schöpfer loben. Diß war das göttlich Bild: durch Licht und Lieb allein War GOtt in dir verklärt; dein Alles war das Ein; Nun aber, da die Macht der Finsternis erweckt Durch Lust in Irrthums=Wahn/ so lern dein Elend kennen. Das wahre Gut ist hin, dein Heyl bleibt dir verdeckt: Es hilfft kein Eigen=Will, kein Wircken und kein Rennen, Bis wieder in dich dringt das Licht und Lebens=Wort/ Und durch des Todes Tod dich führt an ersten Ort. So lerne nun den Weg: Weil du durch Lust verlohrn Das Leben, so aus Gott, so führt dich Christi Leben Durch einen Tod zurück: Du wirst nicht neu gebohrn, Bis daß dein Eigen=Sinn sich an das Creuz gegeben, Und, da in Gottes Zorn verschlungen und verzehrt, der Liebe machet Raum, die alles trägt und nährt. […] Drum, so du seine Stimm und Trieb in dir vermerckst, so laß dein eigen Werck, fang an in Ihn zu dringen,

hätten »aus Egypten alles was sie Gutes haben, geholet« (S. 879). 182 Dippel: Entdeckung der Gewissen=losen Verdrehung III, S. 67 f.



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Bitt, schrey: Ich laß dich nicht / bis du mich wieder stärckst / Und in dir machest reich. Dis ist des Glaubens Ringen Der JEsum siehet an / und von sich gehet aus / Bis daß er funden hat, sein erstes Freuden=Haus. So wird dann Christus selbst, in dir / dir alles seyn; Weißheit/ Gerechtigkeit/ Erlösung/ Heyl und Leben: Er wird dich lehren und von Sünden waschen rein. So viel du nur verlangst, so viel kan er dir geben. Doch muß dein alter Mensch zuvor in seinen Tod, Eh in den Tempel sein sich gantz verkläret GOtt. Drum laß der Liebe Macht dich gänzlich opffern auf, Laß von Dir Blut und Krafft, und alle Geister fliessen. Zur süssen Himmels=Ruh wird dir kein ander Lauff, Als den dir Christus selbst aus Liebe vorgewiesen. Das Leben / so den Tod hat auf die Welt gebracht, Muß wieder fahren hin in seine Todes=Nacht. So wächset aus dem Tod der Lebens Baum herfür, Davon in Ewigkeit der freye Geist sich weidet. Das Grab der eiteln Lust schleußt auf die Himmels=Thür/ Vor welcher sich das Bös vom Guten völlig scheidet. Hier hat dein Heyland treu die Feinde überwunden, 183 Und das erwünschte End den Anfang wieder funden.

2. Streitbare Irenik: Anthropologie, Religionskritik und Toleranzfrage 2.1. Trennung der Wege: Der Konflikt um Papismus Protestantium vapulans Dippels zweite große Streitschrift Papismus Protestantium vapulans184 markiert sowohl nach Dippels eigenen Kommentaren wie auch nach den Reaktionen seiner Gegner den Beginn seines Auftretens als eigenständiger, institutionsunabhängiger Theologe und gleichzeitig den Bruch mit der Kirche. Dippel selbst beruft

183 Dippel: Wein und Öl in die Wunden des gestäupten Papstthums  I, S. 338 f. (Hervorh. im Orig.). 184 Dippel: Papismus Protestantium vapulans, Oder: Das gestäupte Papstthum / an den blinden Verfechtern der dürfftigen Menschen=Satzungen in Protestierender Kirch / Worbey zugleich die jüngst in etwas entdeckte Orcodoxia Orthodoxorum wider etlicher Zunfftbrüder des Demetrii Act. 19,24. recht orthodoxische Scarteque sub Titulo Der immer lachende / ietzo aber kläglich zu verlachende neue Pietastrische Democritus &c.weiter illustrirt und gerettet wird. [Gießen] 1698.

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sich in späteren Schriften unverändert auf die hier dargestellten Grundthesen,185 während orthodoxe Rezensionen den endgültigen Schritt in die sogenannte Heterodoxie deutlich spiegeln: Während die Vorgängerschrift Orcodoxia orthodoxorum trotz ihres provokanten Titels noch 1712 als »etwas besser als andere Dippelsche Schrifften gerathen«186 rezensiert wird, wird Papismus Protestantium vapulans als eine der bisher radikalsten pietistischen Schriften überhaupt wahrgenommen.187 Darüber hinaus rief sie zusammen mit der Folgeschrift Wein und Öl in die Wunden des gestäupten Papstthums starke öffentliche Reaktionen hervor. Es wird von der Kanzel gegen sie gepredigt, die Bevölkerung Gießens reagiert entsprechend aufgewiegelt gegen den Autor,188 elaborierte Unternehmungen zur Dämpfung der Kontroverse finden durch Unterdrückung von Gegenschriften statt, zwei Prozesse werden gegen den Autor angestrengt, Dippel wird unter Hausarrest gestellt und sein Vater sagt sich vorübergehend von seinem Sohn los.189 Spener berichtet, die Lektüre habe ihn »niedergeschlagen«, da er einerseits den »scharffen natürlichen verstand und judicium« des Autors sowie seine Kritik partiell anerkennen musste, andererseits aber auch die Grenze zu einer gemeinsamen Basis innerhalb der Kirche überschritten sah: »Dergleichen einer person gaben aber zu verlieren und unbrauchbar zu werden  / der kirchen gewißlich ein betaurlicher verlust ist.«190

185 So z. B. 1703 in Abgenöthigter Grund=Riß der Academischen Gottes=Gelehrtheit  I, S. 793. Auch Goldschmidt betrachtet Dippels theologische Entwicklung mit Papismus Protestantium vapulans für »abgeschlossen«. Goldschmidt: Johann Konrad Dippel und die Aufklärung, S. 101. 186 Das ausführliche Zitat lautet: »Gegenwärtige Orcodoxie ist sonst / so viel die Lehre betrifft / etwas besser als andere Dippelsche Schrifften gerathen / daher sie der A. nach einigen Jahren nicht mehr gebilliget.« Altes und Neues aus dem Schatz theologischer Wissenschaften 1712, S. 929–931, hier S. 930. 187 »Es stehet diese böse Brut oben an / unter denen fanatischen Schrifften / so bishero unter dem Nahmen der Pietät den Zeug [!] GOttes gelästert haben.« Altes und Neues aus dem Schatz theologischer Wissenschaften 1701, S. 64–69, hier S. 64. 188 Dippel selbst kommentiert ironisch die Hetze von den Kanzeln: »[…] wodurch denen Zuhörern so viel evangelisch=rein=Lutherische Wahrheit in die Hertzen geflösset worden, daß ich kaum zwischen meinen 4 Mauren sicher bleiben können.« Dippel: Haupt=Grund der verkehrten Theologie des alten Adam I, S. 246; Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 416. 189 Die ausführliche Schilderung der Umstände ist quellennah dokumentiert bei Buchner: Johann Konrad Dippel, S. 243–257; Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 234–251; Bender: Johann Konrad Dippel, S. 36 ff.; Diehl: Neue Beiträge zur Geschichte Johann Konrad Dippels, S. 135–184. Siehe dort vor allem die abgedruckten Quellen zu den Prozessen wie u. a. Dippels Briefe an das Konsistorium, das Protokoll zu seiner Vernehmung und den Bericht von Dippels Vater (zit. im Text, S. 157 f.). 190 Philipp Jakob Spener: Letzte theologische Bedencken. Teil 3, S. 417 (28.1.1699). In: Ders.: Letzte Theologische Bedencken und andere Brieffliche Antworten 1711. Hg. v. Dietrich Blaufuß u.



Anthropologie, Religionskritik und Toleranzfrage

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Entstehungsgeschichtlich ist der Text Teil einer sich verschärfenden Kontroverse mit einem orthodoxen Pfarrer Johannes Lentzer, der den Pietismus als schwenckfeldische Häresie kritisiert hatte. Ermuntert von den Gießener Professoren verfasste der frisch habilitierte Dippel seine erste antiorthodoxe Streitschrift Orcodoxia orthodoxorum, die ›orthodoxe Höllenlehre‹, in der er als Pietist die Pietisten verteidigte. Lentzer wiederum antwortete darauf mit einer weiteren Schrift,191 in der er Dippel endgültig parallele Gedanken zu Schwenckfeld nachweisen will und ihn damit, da für ihn Schwenckfeld und Häresie austauschbare Begriffe sind, der Heterodoxie zu überführen sucht. Methodisch entspricht dieses Vorgehen den orthodoxen Kritiken Colbergs und Büchers. Die Gegenschrift Dippels lässt zunächst auf sich warten, doch zieht dann unter dem scharfen Titel Papismus Protestantium vapulans weite Kreise in der Öffentlichkeit, die Lentzer neben anderen wiederum zu einer Antwortschrift ermuntern, die nun das Bild einer Bedrohung der Kirche in dramatisch-apokalyptischem Vokabular evoziert.192 Um den Konflikt zu entschärfen wurde versucht, diese noch unter der Druckpresse abzufangen und zu konfiszieren. Einige bereits gedruckte Bögen gelangten dennoch in Umlauf, erreichten zusammen mit einer weiteren Gegenschrift Dippels Hände und provozierten seine polemische Antwort namens Wein und Öl in die Wunden des gestäupten Papstthums,193 auf deren letzten Seiten er

Peter Schicketanz. Hildesheim 1987. Vgl. Ebenso Spener: Letzte Theologische Bedencken. Teil 1, S. 95: »Dippelius wird schwerlich verlangen vor den unsrigen mehr angesehen zu werden / und würden wir vergebens die Evangelische warheit bey ihm suchen« Über die ansonsten freundliche Begegnung zwischen Dippel und Spener, dessen Votum für einen geduldigen Umgang mit dem Freidenker auch als Apologie gelesen wurde, um den jüngeren nach der Wut über Papismus Protestantium vapulans zu schützen, berichtet Dippel: Verteidigung des Traktats ›Vera Demonstratio Evangelica‹ II, S. 1092–1094, und Dippel: Entdeckung der Gewissenlosen Verdrehung III, S. 29 f. Siehe ebenso Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, S. 153 u. 188. 191 [Johannes Lentzer:] Der immer lachende itzo aber kläglich zu verlachende neuer pietrastrische Democritus &c.Entgegen gesetzt einer unbesonnenen pasquinischen Läster-Schrifft  / Orcodoxia Orthodoxorum genannt. Von P.J.L.W. (=Pastor Johannes Lentzer, Weitershausen), o.O. 1698. Eine Zusammenfassung der Hauptthesen findet sich bei Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 202 ff. Siehe dort auch zu einer vergleichenden Analyse der Schriften und der gegenseitigen Missverständnisse. 192 Der Titel der dritten Lentzerschrift lautete in Anspielung auf Apk 9,2–3: Widerstand eines aus dem Abgrund Offenbarung 9 aufgestiegenen pietastrischen Heusprungs. Zu den Details des Konflikts um die Schrift und dem tatsächlich erfolgten Druck einer weiteren Gegenschrift siehe Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 237 ff. 193 Die polemische Einbindung ergibt sich allein aus dem vollen Titel: Wein und Oel in die Wunden des gestäupten Papstthums der Protestierenden. Oder Christiani Democriti offenhertzige / christliche / fernere Erklärung / Beweis und Entschuldigung gegen alle Richter des Buchs Papismus Protestantium vapulans genannt. Wobey in specie Herrn Doctoris Schwartzenau / von

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anonym Arnolds Gedicht Babels Grablied anfügt. Diese Schrift überspannte die Geduld der bis dahin gegenüber Dippel verhältnismäßig verhalten reagierenden Konsistorien in Gießen und Darmstadt: Er wurde unter Hausarrest gestellt, und man untersagte ihm strikt die Herausgabe weiterer Texte.194 Betrachtet man die einzelnen Schriften, von denen Papismus Protestantium vapulans die herausragendste ist, unter der Perspektive philosophischer Pragmatik, so fällt zunächst auf, dass ihre prominentesten Thesen wie die Reflexion der Gewissensfreiheit nicht nur, aber auch das Resultat eines sich radikalisierenden Kommunikationsprozesses sind. Die Radikalität195 erscheint dabei als ein Ergebnis einer sich verselbständigenden Debatte, deren Wirkungen nur teilweise intendiert gewesen sein dürften. Dies trifft besonders für die Seite des Johannes Lentzers zu, dessen erster Stich gegen den Pietismus ursprünglich zur eigenen Rehabilitation vor den Augen seiner orthodoxen Arbeitgeber dienen sollte, nachdem er aufgrund eines Unzuchtvorwurfes aus dem Pfarrberuf entlassen worden war.196 Für Dippel wiederum, der sich von den Gießener Professoren zur ersten Gegenschrift ermuntern ließ, bedeutet die Kontroverse spätestens mit dem Einsetzen der gerichtlichen Prozesse die Entstehung, Vertiefung und Festschreibung einer Differenz zwischen seiner Position und der lutherischen Kirche. Vielsagend ist es zu beobachten, wie Dippel sich anfangs noch zu Unrecht verfolgt und missverstanden fühlt. So schreibt er an das Darmstädter Konsistorium am 26. März 1699, er sei versichert, dass »die unveranthwortliche[n] proceduren, wordurch man mich zu beugen sucht, vielmehr anderer Absichten zu befördern abzielen, als daß dardurch meine Bücher und die in denselben enthaltene Wahrheit solte untersucht und erörtert werden«.197 Andererseits lässt sich konstatieren,

Marpurg  / abgenöthigte christliche Verantwortung und Herrn Pfarrer Lönitzers  / von Weitershausen bey Marpurg / so genannter Widerstand eines auß dem Abgrund Apoc. 9 aufgestiegenen pietastrischen Heusprungs / mit gehöriger Censur abgefertigt / und diese Handlung mit einer hertzlichen Ermahnung an alle / die die Warheit und ihr Heyl in Jesu Christo suchen und erkennen / beschlossen wird. […] Philadelphia [=Offenbach] 1699, Bd. I, S. 253–396. 194 Übersichtlich hierzu Diehl: Neue Beiträge, S. 151 ff. Siehe dort auch die Schilderung der Wirkungslosigkeit der gegen Dippel verhängten Sanktionen. Ebenso Johann Georg Walch: Der Historischen und Theologischen Einleitung In die Religions=Streitigkeien der Evangelisch=Lutherischen Kirche Anderer Theil. Jena 1733, S. 722 ff. 195 Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung und kulturgeschichtlichen Reflexion des Konzepts der »Radikalität« Hans-Jürgen Goertz: Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen. Göttingen 2007, S. 11–22, S. 119 ff.; ebenso Mulsow, Moderne aus dem Untergrund, S. 7. 196 Dies legt Dippel süffisant zu Beginn der Vorgängerschrift Orcodoxia orthodoxorum dar. Dippel: Orcodoxia orthodoxorum I, S. 41–44. 197 Schreiben Dippels an das Darmstädter Konsistorium vom 26. März 1699, zit. n. Diehl: Neue Beiträge, S. 175.



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wie Dippel in den Gegenschriften ab dem Erscheinen von Papismus Protestantium vapulans mit den stereotypen Bezeichnungen des häresiologischen Diskurses bedacht wird, indem man ihn einen »Weigelianische[n] Schwärmer«198 oder sozianischen, quäckerischen, papistischen, calvinistischen »Ketzer«199 tituliert, ebenso wie der Topos des plötzlich feststellbaren ›schlechten Charakters‹200 auftaucht. Als besonders beunruhigend wird das positive Echo wahrgenommen, das Dippels Texte bei pietistischen und philadelphischen Glaubensgenossen auslöst, die darüber hinaus noch für deren weitere Verbreitung sorgen.201 Als schließlich der große Systematiker in der Kontroverse um die vermeintlich heidnischen Wurzeln des Pietismus, Christian Friedrich Bücher, 1701 Dippels Wein und Öl in die Wunden des gestäupten Papstthums aufgreift und ihn im Paralleldruck neben Spener und einer breiten Auswahl an heterodoxer Literatur als Beispiel für einen »Fanaticus«202 zitiert, ist damit die diskursive Integration Dippels in das Bild einer geschlossenen Front pietistischer »Heterodoxie« aus der Perspektive orthodoxer Polemik vollendet. Aber auch Dippel selbst bestätigt die Grenzziehung, nachdem er die hier gewonnene Distanz zur Amtskirche nie mehr revidiert. Dippels Papismus Protestantium vapulans, zu deutsch: Das gestäupte (=geohrfeigte) Papsttum der Protestanten, das ursprünglich in eine Kontroverse um die Konformität des Pietismus mit den symbolischen Büchern (Confessio Augustana, Konkordienformel) eingebunden war, überschreitet die Verteidigung des Pietismus entlang polemischer Grenzziehungen hin zu einer grundlegenden Reflexion der Begriffe Ketzertum und Rechtgläubigkeit. Die Schrift ist unterteilt in vier Kapitel und einer anschließenden ausführlichen Widerlegung der Schrift Lentzers, gerahmt ist sie von zwei Gedichten. Die einzelnen Kapitel widmen sich der Frage, was unter einem Lutheraner überhaupt zu verstehen sei, was die Absicht der symbolischen Bücher ursprünglich gewesen sei und wie sie zu einem Mittel der Gewissensbeherrschung geworden sind. Sie schließen eine grundlegende

198 Samuel Schröern: M. Anti-Dippelius, das ist Auffrichtige Vertheidigung der Ehre Symbolischer Glaubens=Bücher / Christ=Lutherischer Kirchen / wieder die Schändliche Lästerungen / so der Christianus Democritus sonst Dippel genant / durch eine unchristliche Schrifft / welche Titul Papismus Protestantium vapulans & c. Christlichen Hertzen zum grossen Aergernüs ausgeschüttet hat. Wittenberg 1701. Vorrede, unpag. 199 Rezension zu Papismus Protestantium vapulans in: Unschuldige Nachrichten (1701), S. 64– 69, hier S. 68. 200 Ebd., S. 69; ebenso Schröern: Anti-Dippelius: »…daß dieser Dippel eines liederlichen Gemüthes seyn müsse.« Zur Zuschreibung ethisch verwerflicher Verhaltensweisen als Topos im häresiologischen Diskurs vgl. Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit, S. 11. 201 Schröern: Anti-Dippelius, unpag. Vorrede. 202 Bücher: Lutherus Anti-Pietista, S. 103, 108 ff., 111 f., 138 u. 142 ff.

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

Reflexion der Problematik des Religionseids an und erörtern die Kennzeichen der wahren Kirche sowie des Ketzertums. Die Widerlegung Lentzers problematisiert den Vorwurf des Schwenckfeldianismus, reflektiert die Praxis der Kindstaufe und problematisiert unter Zuhilfenahme philologischer Detailarbeit den Artikel von der Rechtfertigung. Dabei zielen die langen philologischen Ausführungen auf latein und deutsch auf den Nachweis, dass das Wissen um Übersetzungsvarianten für das lateinische »justificari«, das neben die kanonische Bedeutung der »Rechtfertigung« die nichtkanonische der »Wiedergeburt« treten lässt, den für das Luthertum identitätsstiftenden Artikel von der Rechtfertigung, den »Articulum stantis et cadentis Ecclesiae« hinterfragt.203 Die langen, teils emotionalen, teils in theologisches Detailwissen verbissenen Ausführungen, die noch sehr von der polemischen Kommunikationssituation geprägt sind, enden in einer klaren poetischen Ansprache an die Leser, die die zentralen Konfliktpunkte in Reimen zusammenfasst. Schließliche Ansprache, an die zu harten Urtheilen vielleicht nicht ungeneigte Leser. Wird mancher großer Mann, gleich von mir ausgelacht, Ein reiner Pfarrer gar den Kätzern gleich geacht, So hab ich doch nichts aus bloßem Spott geschrieben, Auch hat die Tadelsucht mich gar nicht angetrieben. Democritus hat zwar ietzt überlaut gelacht; Hört aber selbst, was ihn dazu hat aufgebracht! Die Menschen werden noch bey uns zu hoch geschätzet; Ihr Ansehn wird beinah’ der Bibel gleich gesetzet. Der gröste Haufe will allein im Glauben rein / Und, weil er mächtig ist, die wahre Kirche seyn. Doch herrscht der Irrthum nur: die Wahrheit muß sich schmiegen, So lange, bis wir einst gantz andre Zeiten kriegen. Bishero hat sie noch ein kleines Regiment, Weil man sehr wenige bewährte Christen kennt. Wer ihren Geist nicht hat zum Führer angenommen, Wird aus den Büchern nie zum rechten Glauben kommen. Und wann er noch so gut meynt, orthodox zu seyn, So blendet ihn doch nur der todte Meynungs=Schein.

203 Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 205 ff. Walch resümiert in seiner Einleitung in die Religions=Streitigkeiten (1733) über Papismus Protestantium vapulans: »In diesem Werck befinden sich die allerwichtigsten Irrthümer und die gröbsten Spöttereyen über die Lutherische Kirche, da man unter andern meynet, die Heyden könnten ohne Christo seelig werden; die Kinder sollte man nicht tauffen; Christus sey nicht an unserer Statt gestorben, die Rechtfertigung werde nicht durch das Verdienst Christi erlanget.« (Walch: Einführung in die Religions=Streitigkeiten, S. 724)



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Kein blinder Aberglaub / der gern beim Alten bleibet, Kein bloßes Formular / das man vom Glauben schreibet, Vielwen’ger Fleisches=Lust / noch Kätzermacherey, Macht unsern Glauben gut, und von dem Irrthum frey. Man lieset, wie bekannt, von Dornen keine Feigen; Wie kann dann Satans Knecht den Weg zur Wahrheit zeigen? Man trifft dies Heiligthum nie außer Christo an. So wenig, als die Nacht sich selbst erleuchten kan, So wenig weiß auch der, der Christo nicht will hören, Die Bibel nach dem Sinn des Geistes / zu erklären. Ein Kätzer ist demnach, wer Kätzermachen liebt, Und, als ein blinder Papst, Gewissens=Zwang ausübt; Hingegen, wider wen sich solche Päpste brüsten, 204 Den nenn ich orthodox, und einen guten Christen.

Die Aufmerksamkeit der hiesigen Analyse gilt weder Bezügen zwischen dem Text und dem streitbaren »Charakter« des Autors noch ihrer an anderer Stelle erörterten Abhängigkeiten,205 sondern dem Stichwort des »Gewissens=Zwangs« des drittletzten Verses sowie dessen Kontextualisierung im Diskurs der Entstehungssituation. Die Streitschrift entstand an der Universität Gießen im Herbst / Winter des Jahres 1697, und dieser historische Ort ist in der Forschung zu Gottfried Arnold detailliert rekonstruiert worden.206 Arnold, der im Wintersemester die Geschichtsprofessur in Gießen inne hatte, ist Dippels Unterstützer in seiner Wandlung zum Pietismus in ebendieser Zeit gewesen, was ein Vertrauensverhältnis zwischen beiden nahelegt.207 Nach nur einem halben Jahr im Amt gab Arnold in einem spektakulären Schritt seine Professur an immerhin der ersten, von den Pietisten quasi ›eroberten‹ lutherischen Universität im deutschsprachigen Raum auf. Er rechtfertigte seine Amtsniederlegung in einem Offenherzigen Bekenntnis, das seinen »eckel vor dem hochtrabenden, ruhmsüchtigen vernunft-wesen des akademischen lebens«208 darlegte und auch die Unerträglichkeit der professoralen Verpflichtung auf die Bestimmungen des Religionsreverses und die Universitätsstatuten thematisierte.

204 Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 236 (Hervorh. im Orig.). 205 Dazu das Kapitel bei Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 202 ff. 206 Detail- und quellenreich, mit weiterer Literatur dazu Schneider: Gottfried Arnold in Gießen, S. 267–300. 207 Dippel: Lebens=Lauff I, S. 393. 208 Zit. n. Schneider: Gottfried Arnold in Gießen, S. 284. Diese Klagen über den desolaten Zustand der Christenheit im Allgemeinen und über das akademische Leben im Besonderen sind aus demselben Jahr auch von Professor Johann Henrich May (1653–1719) bezeugt (ebd., S. 285).

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So kann ich demnach nicht bergen / wie es mich hertzlich betrübet habe / daß auf denen Universiteten ausser denen eintzigen lehren und regeln Christi JEsu / so viele menschliche satzungen / einfälle und statuten von denen vorigen zancksüchtigen zeiten her übrig […]: Daß auch über die gewissen ohne unterscheid an solche eidlich gebunden und zu einem vor erleuchtete und durch Christum frey-gemachte gemüther unerträglichen joch gemacht 209 werden.

Arnold bezieht sich auf den bei der Amtseinsetzung zu beeidenden Gießener Religionsrevers, ein bemerkenswertes und in der Dippelforschung bisher nicht berücksichtigtes Dokument, das sich wie eine Negativfolie zu Dippels Streitschrift liest.210 Es verlangte, bei Verlust des Seelenheils den Kanon heiliger (Bekenntnis-) Schriften zu beeiden,211 auch nur die Möglichkeit uneigentlichen Sprechens als Spott gegenüber Gott und Obrigkeit zu verwerfen, absolute Bekenntnistreue in Rede, Schrift und Lehre zu beschwören und sich auf eine Anzeigenpflicht von Andersgläubigen, insbesondere von Kollegen im Schul- und Kirchendienst zu verpflichten. Die schiere Möglichkeit, in Zukunft die eigene Meinung je zu ändern, wird mit dem drohenden Bild der Verstoßung durch den ewigen Gott verknüpft. Dippels flammende Kritik am sogenannten Papsttum der Protestanten weist viele Bezüge zu eben diesen Themenkomplexen auf. Sie widmet der grundsätzlichen Problematik eines »Religions=Eyds« ein ganzes Kapitel und geißelt die Verpflichtung auf einen lebenslangen Meinungskonformismus in den schärfsten Worten: Niemand, der nach Wahrheit sucht oder »nur unter Leuten wandelt, die keine Küh sind, welcher nicht bey wachsender Erfahrung und weiterer Erkenntnis seine vorige Meynung, so sie bloß menschlich gewesen, müsse retractiren und corrigiren.«212 Vielsagend ist die Selbstpositionierung des noch jungen Autors, der die Pragmatik religionskritischer Rede ungewöhnlich offen reflektiert: Ich bin ledig und frey, kan hingehen, wo der Himmel nicht auf mich fällt. Ich habe auch noch nicht auf ihre Satzungen geschworen, und kan deswegen kein Schelm werden, wann ich sage, es sey nicht allemal wahr, was sie setzen; darum kan und will ichs im Namen GOttes getrost wagen, zu schreiben und zu thun, was mein Heiland und seine Ehre erfor213 dert.

209 Arnold: Offenherziges Bekenntnis, § 20, zit. n. Schneider: Gottfried Arnold in Gießen, S. 285 f. 210 Der Text ist im Wortlaut abgedruckt in ebd., S. 297 ff. 211 Sie umfassten die Confessio Augustana invariata, die Apologie, die Wittenberger Konkordie, die schmalkaldischen Artikel und Luthers Katechismen, nicht aber die in Hessen nicht angenommene Konkordienformel. 212 Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 125. 213 Ebd., S. 115. Siehe auch die Beobachtung Mulsows, dass die Texte junger, noch institutions­ unabhängiger Autoren den Modernisierungsprozess oftmals entschiedener vorantreiben als diejenigen verbeamteter Professoren. Mulsow: Moderne aus dem Untergrund, S. 6.



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Im Hinblick auf die Konstruktion des negativen Dippel-Bildes in der kulturellen Erinnerung ist es erwähnenswert, dass spätere Rezensenten aus dieser Stelle, an der Dippel offen bekennt, selbst noch unwiedergeboren und damit nicht vor Fehlern gefeit zu sein, auf seinen schlechten Charakter schließen,214 in einem Fall nicht ohne einen verallgemeinernden Hinweis auf »die schädliche Neugierigkeit«, die die Menschen zur individualistisch geprägten Frömmigkeit des Pietismus treibe.215 Die obligatorische Verpflichtung auf den Religionseid bei Berufseintritt stellt jedoch lediglich einen Eckpunkt des Diskurses radikalpietistischer Kirchenkritik dar, ein anderer ist das Auftreten radikalpietistischer Prophetie im Kontext eschatologischer Naherwartung. In den Jahren 1697/98 war es in der reformierten Nachbarschaft Gießens zu drei Aufsehen erregenden Amtsenthebungen von Pietisten gekommen, nämlich des Hofpredigers Johann Henrich Reitz (1665–1720) in der Grafschaft Solms-Braunfels, des Theologieprofessors Heinrich Horch in Herborn und des Pfarrers Philipp Jacob Dilthey in Haiger bei Herborn. Ausgelöst waren diese Vorgänge teilweise über die bekundete Solidarität mit dem solms-braunfeldischen Registrator Balthasar Klopfer (1659–1703), der mit radikaler Kirchenkritik hervorgetreten war und sich geweigert hatte, sein Kind taufen zu lassen, was zu seiner Inhaftierung geführt hatte.216 Seit November 1697 lebte der aus der Haft entlassene und aus seiner Heimat ausgewiesene Klopfer ebenfalls in Gießen. Kennzeichnend für diese radikalpietistischen Stimmen ist nicht nur eine stark spiritualistisch geprägte Kirchen- und Sakramentskritik in apokalyptischen Deutungsmustern (die Kirche als »Hure« und »Braut des Teufels«), sondern auch ein ausgesprochen prophetisches Sendungsbewusstsein, das unverkennbar auf einer eigenen Deutung des Axioms von der Christus-Werdung eines jeden beruht. So gab Klopfer in den Verhören in seiner Gefangenschaft über das eigene Selbstverständnis zu Protokoll:

214 Vgl. Anon.: Rez. zu Papismus Protestantium vapulans, S. 69, und Schröern: Anti-Dippelius, unpag. Vorrede. 215 Schröern: Anti-Dippelius, unpag. Vorrede. Im Kontext weiterer Ausführungen, die missbilligend Dippels Genugtuung über die Verbreitung seiner Schriften konstatiert, heißt es: »Eben das ists / die schädliche Neugierigkeit bringet die meisten zum Pietisten wesen / nicht aber der Eyfer zur wahren Gottseligkeit«. Zu Dippels Einräumung eigener Fehler Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 97. Zur Rolle der Curiositas im frühneuzeitlichen häresiologischen Diskurs auch Titzmann: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit, S. 43 ff. 216  Schneider: Gottfried Arnold in Gießen, S. 286 f. Spezifisch zu Horch und Klopfer mit weiterer Literatur auch Willi Temme: Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700. Göttingen 1998, S. 88 ff.

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

[…] er sey mit gott vnd Christo vereiniget, Ja er sey der sohn gottes, er sey Christus, vnd er sey schon würcklig im ewigen leben. Ja er sey unsterblig, vnd sein leib werde die verwesung 217 nicht sehen.

Klopfer wie auch der sich ähnlich äußernde Horch218 verstanden unter diesen Worten jedoch keine Erfahrung der All-Einheit im Logos, wie sich über Weigels Anspielungen an den 13. hermetischen Traktat hätte ableiten lassen. Sie artikulierten vielmehr ausgehend von dieser Denkfigur ein geradezu schmerzhaft empfundenes Entfremdungsgefühl von der Amtskirche. Aus ihren Worten lässt sich das gewandelte sozialpsychologische Sinnangebot des Topos von der Gottessohnschaft der Begnadeten erschließen, das im Kreis radikalpietistischer Vertreter schärfste Kritik am Sakramentenwesen und an der als ›Babel‹ gesehenen Amtskirche legitimierte. Das Sprechen aus der Rolle des Gottessohnes heraus, aus den Rollen verschiedener Inkarnationen der göttlichen Trinität (etwa in der Sozietät der Eva von Buttlar)219 oder nur der eines Propheten ist nicht nur Ausdruck eines in chiliastischer Naherwartung geäußerten Krisenbewusstseins, sondern auch eine rhetorische Strategie zur Begründung sprachlicher Autorität im Kontext eines irdischen Machtkonflikts. Das Motiv des prophetischen Sendungsbewusstseins ist Dippels Texten fremd. Im Gegenteil: Bei aller Emotionalität der Kritik zielt Papismus Protestantium vapulans darauf, Definitionen zu hinterfragen,220 und seine Methode ist nicht die inspirierte Rede, sondern der philologische, gelehrte Aufwand. Dem Selbstverständnis nach argumentiert Dippel zunächst als Lutheraner, der im Anschluss an die Priesterkritik des jungen Luther die historische Gegenwart als Abfall vom lutherischen Glauben analysiert.221 Mit dieser Selbstpositionierung reiht sich Dippel methodisch in die Tradition der spiritualistischen Autoren ein, wobei die Kritik am Religionseid als Gewissenszwang eine tragende Rolle spielt. Dabei geht seine grundlegende Reflexion des Religionseids über eine zeitgebundene Polemik oder über eine punktuelle Kritik an einem lutherischen Ritus hinaus. Die eigentliche Problematik liegt nach Dippels Analyse nicht in der lutherischen Konfession, sondern sie besitzt eine anthropologische Tiefendimension, die über

217 Zit. n. Temme: Krise der Leiblichkeit, S. 90. 218 Ebd., S. 91. 219 Zur Selbstdarstellung der Eva von Buttlar, Justus Gottfried Winter und Johann Georg Appenzeller als personale Darstellung der Trinität Temme: Krise der Leiblichkeit, S. 255. Auch jenseits der pietistischen Bewegung sind solche Inkarnationsvorstellungen anzutreffen, so z. B. bei Quirinius Kuhlmann. Kemper: Deutsche Lyrik 3, S. 279 ff. 220 Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 101. 221 Ebd., S. 101.



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ihre Rückbindung an einen spiritualistischen Wissensbegriff zu einer scharfen Waffe gegenüber der Autorität des orthodoxen Lehrgebäudes wird. Bereits in der Habilitationsdisputation Von den Kräfften der menschlichen Seele (1697), die Dippel noch im Hinblick auf eine akademische Karriere verfasst hatte, hatte er die These von der Schwäche der Vernunft im postlapsarischen Stand vertreten, hier noch im Hinblick auf eine kritische Relativierung der Erkenntnisansprüche der Mathematik oder der Philologien, deren Wirkungskreis auf den Bereich der sichtbaren und sinnlich wahrnehmbaren Welt (»Schaalen der Sachen«) eingeschränkt wird.222 Während jedoch die Erkenntniskräfte des Menschen in Bezug auf theoretisches, mathematisches und metaphysisches Wissen sehr verhalten eingeschätzt werden, spricht die Disputation dem Menschen die vollständige Erkenntnis praktischer Wahrheiten, »die unmittelbar aufs Thun und Lassen der Menschen gehen« auch im postlapsarischen Stand zu.223 Damit findet bereits hier eine erkenntnistheoretisch reflektierte Akzentverlagerung von der Theorie zur Praxis statt, die die Legitimierung von Wissen allein durch akademische Autorität hinterfragbar macht. Kritisch evaluiert die Disputation dann die Hoffnung auf letztgültige Erkenntnisse aus der Wissenschaft heiliger Sprachen, sei es durch akademisches Studium der biblischen Sprachen oder durch kabbalistische Sprachspekulationen und konstrastiert dieses umfassende Verständnis von Philologie mit einer Sprache, die nach Eph 1,18 mit erleuchteten Augen und Ohren des Herzens vernommen wird.224 Dieser Topos einer innerpsychischen Wahrheitsinstanz wird ab Papismus Protestantium vapulans mit dem Topos des inneren Worts ineinsgesetzt, der konkret über Caspar von Schwenckfeld vermittelt wurde

222 Dippel: 12 philosophische Grund=Sätze von den Kräfften der menschlichen Seele  III, S. 608–613, hier §§ 4–6, § 10, S. 612 f. 223 Dippel: Von den Kräfften der menschlichen Seele III, S. 612, § 7: »Was Wahrheiten sind, die unmittelbar aufs Thun und Lassen der Menschen gehen, davon glauben wir, daß uns, durch ganz besondere Gnade GOttes, nach dem Fall nicht nur das Vermögen, dieselbe einzusehen, sondern ihnen auch als Wahrheiten beyzupflichten, übrig gelassen sey; damit man ja erkenne, der Mensch sey mehr zum Thun, als zum Betrachten und Bilder machen gebohren. Wann aber gefragt werden solte: Ob dieses Vermögen sich so weit erstrecke, das man sagen könte, ein Mensch könne durch dasselbe, ohne gehabte Handleitung und Hilffe, selbst dergleichen practische Wahrheiten erfinden? so zweiffeln wir billig dran, ja wir verneinen lieber die Frage.« 224 Ebd., S. 613, § 11: »Noch weniger verdient die Erkänntnis der Sprachen diesen Namen, wann das göttliche Licht fehlt; auch ist keine Sprache heiliger als die andere, es sey dann, daß sie mit einem heiligen Munde geredet, mit erleuchteten Augen gelesen, und mit den Ohren des Herzens gefasset werde. Wiewohl wir denen Sprachen, darein der Heilige Geist sein Wort hat aufzeichnen wollen, einen Vorzug bey der Kirche, und eine äusserliche Würde im gemeinen Leben beylegen, wann wir uns nur dabey von den thörichten Tändeleyen der Cabalisten, und ihrem schändlichen Zeit=Verderb, zu enthalten wissen.«

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

und der im pietistischen Umfeld Dippels auf fruchtbaren Boden gefallen war.225 Schwenckfelds Konzept des inneren Worts als innerseelischer Wahrheitsinstanz wird Dippel zur Grundlage der Emanzipation zunächst von Schwenckfeld selbst,226 um sich dann gerade nicht prophetisch, sondern philologisch detailliert Übersetzungstraditionen zuzuwenden. Der Topos der innerseelischen Verbindung des einzelnen zu Gott wird zum archimedischen Punkt, aus dem sich eine umfassende Sakraments- und Traditionskritik entfaltet. Allerdings schließt der philologische und theologische Aufwand, mit dem diese betrieben wird, an die eigene Forderung nach Öffentlichkeit und argumentativem Austausch an, auf die sich jede Erkenntnisform, einschließlich der Offenbarungen, verpflichten lassen muss: Die Pflicht eines Philosophen ist, alle Wahrheiten, er habe sie woher er wolle, aus der Vernunft und Empfindung der Sinnen, oder aus dem geoffenbahrten Wort, zu lehren, und nicht mit blossem Ansehen der Gelehrten, sondern mit bündigen Gründen zu erklären, weiter zu 227 beweisen, und gegen Einwürffe der Wiedersprecher, d.i. der Irrenden, zu behaupten.

Für diese öffentliche Darlegung seiner Einsprüche gegen Lehrtraditionen scheut Dippel keine Mühe: Philologisch genau werden Übersetzungsvarianten für den Satz des Apostels »So kommt der Glaube aus dem Gehör / das Hören aber durch das Wort GOttes«228 gesucht: Neben die kanonische Deutung der Konkordienformel »Der Glaube kommt aus der Predigt« tritt die Übersetzungsmöglichkeit bei David: »Ich will hören, was der HErr in mir redet.«229 Damit soll nicht die Predigt per se verworfen, sondern zunächst die Biblizität der Aussage begründet werden, es sei Aufgabe

225 Zum Kontext mit weiteren Beispielen Hans-Jürgen Schrader: Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort. ›Poetische‹ Aspekte der pietistischen Christologie. In: Pietismus und Neuzeit (1994), S. 55–74. Spezifisch zur Schwenckfeld-Rezeption bei Dippel Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 231 ff. Zu Schwenckfelds Verständnis des inneren Worts Caspar von Schwenckfeld: Deütsche Theologia: Für die Gotsförchtigen Laien / Vom Herren Christo/ vnnd von der Christlichen r  lere der Gottseligkeit. Auff Frag und Antwort gestellet. O.O. 1562, S. XII f.: »Das rechte lebendige Evangelium sag ich / ist nicht die histori von Christo / stim / laut / noch buchstabe / es ist nach seinem gruntlichen wesen auch nicht ein eusserlich wort / so wenig das mundtliche Evangelium Gottes krafft / oder Gott ist / sonder es ist ein innerlich wort des glaubens / das lebendige wort Gottes / das wort der warheit / der ewige vnuerruckliche samen der kinder Gottes / allein durch dasselbige werden wir widergeboren zum leben / wie es den ein lebendig machende krafft Gottes ist.« 226 Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 159: »[…] habe auch meine heterodoxie nicht aus dem Schwenckfeld, sondern aus dem Wort Gottes durch den Geist der Wahrheit gefasset«. 227 Dippel: Von den Kräfften der menschlichen Seele III, S. 613, § 12. 228 Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 194; Röm. 10,17. 229 Ebd., S. 194; Konkordienformel, Art. 2. In: Unser Glaube, S. 785.



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der Predigt, jeden Menschen zur Hören des inneren Worts im eigenen Inneren zu führen  – eine in der Tat unorthodoxe These. Denn, so Dippel, »GOtt redet weder Hebräisch, noch Griechisch, noch Latein, noch Teutsch, sondern göttlich, durch die innerliche Überzeugung seines Geistes zu der Seelen.«230 Vergleichbar werden die Sakramente wie Taufe und Abendmahl auf ihren historischen und kulturgeschichtlichen Entstehungsort zurückgeführt und anschließend als Symbole innerer Wandlung, nicht als Medium der Wandlung selbst gedeutet.231 Neben die Sakramentskritik tritt eine umfangreiche philologische und theologische Hinterfragung der kanonischen Deutung des Artikels von der Rechtfertigung, die in Dippels lebenslang nicht mehr revidierter Deutung gipfelt, dass Christus nicht stellvertretend, sondern als Vorbild das Gesetz erfüllte, dass entsprechend nicht Gott mit den Menschen, sondern die Menschen mit Gott versöhnt werden müssten.232 Diese Deutungen beruhen auf einem dynamischen Wissensmodell, das dem Menschen Entwicklungspotenzial auf Gott hin zuspricht und die Frage nach Wissen mit der Frage nach dem spirituellen Entwicklungsweg verbindet. An dieser Stelle entzündet sich der Konflikt um den Religionseid. Die vollständige Erkenntnis der Heiligen Schrift ist nach Dippel auch hermeneutisch an die Wiedergeburt gebunden, und damit rückt anstelle einer verbindlichen Verpflichtung auf ein dogmatisch umrissenes Wissensgebäude die Anerkennung einer sukzessiven Entfaltung von Wissen: »Denn wie sollte GOtt einen Gefallen haben an einerley Wort=Bekenntnis, unter welchem die Hertzen auf tausenderley Wege unterschieden sind?«233 Während dem inneren Mensch Entwicklungspotenzial auf Gott hin zugesprochen wird, unterliegt der äußere Mensch den beschränkten Erkennntismöglichkeiten des postlapsarischen Zustands, und diese sind nach den Thesen der Habilitationsdisputation sehr eingeschränkt. Somit wird im ersten Punkt die Statik eines Eides zum Problem, im zweiten seine Normativität. Unter Berufung auf Augustinus argumentiert Dippel mit einem Modell des siebenstufigen Aufstiegs, das zwar in der Schilderung einzelner Stufen von Francks siebenstufigem Weg oder zeitgenössisch von Gottfried Arnolds Ausführungen zu einem siebenstufigen Modell in der Sophien-Schrift abweicht, im Hinblick auf die oberste Stufe jedoch die alte These vertritt, dass die vollständige Erkenntnis erst im Zustand vollständiger Wiedergeburt, hier: im »Auge des Herzens« eintritt.234

230 Dippel, Papismus Protestantium vapulans I, S. 193. 231 Ebd., S. 196 ff. u. 204. 232 Ebd., S. 205 ff. u. 220. 233 Ebd., S. 124. 234 Ebd., S. 148. Zeitnah entwickelt Arnold im Zuge der Sophiologie ein prozesshaftes Aufstiegsmodell, bei dem sich sieben Stufen unterscheiden lassen. Gottfried Arnold: Das Geheimnis der

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

Bis zur vollständigen Erkenntnis, die bei Dippel im Grunde traditionell an die vollständige Transformation und an ein – auch im Corpus Hermeticum so genanntes – »Auge des Herzens«235 gebunden bleibt, verbieten sich im postlapsarischen Zustand absolute Aussagen, und in diesem Punkt unterscheidet sich Dippel von allen Formen prophetischer Rede unter seinen pietistischen Zeitgenossen. Allerdings trifft ein Wissensmodell, das von einer unabschließbaren Entfaltung von Wissen analog zu menschlichen Entwicklungsprozessen ausgeht, mit äußerster Härte auf einen Religionseid, der den Verzicht auf mögliche Meinungsänderungen sogar beeidet sehen will und Zuwiderhandlungen mit dem Verlust des Seelenheils bedroht. Hiergegen richtet sich Dippels Protest: […] willt du ein Christ seyn, willt du Lutherisch seyn, willt du nur ein Mensch oder vernünfftiger Heyd seyn, so zwinge keinen wider sein Gewissen etwas anzunehmen, welches 236 er anders erkennet als du, der du es nicht erkennen kanst.

Im Interpretationshorizont eines als heilsnotwendig gedachten Entwicklungswegs zu Gott hin, der nicht bereits von Christus als ›erledigt‹ angesehen wird, erscheint die Festlegung des Menschen auf eine historisch fixierte Norm nicht nur als sinnlos, sondern sogar als »Sünde«.237 Damit stehen sich Dippels Deutung der »Sünde« als aktive Verhinderung des menschlichen Entwicklungswegs und die Deutung der Sünde als Nicht-Glauben, nicht Für-Wahr-Halten des Wissens um die Erlösungstat diametral gegenüber und schließen sich in ihrer

göttlichen Sophia. Leipzig 1700 (ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1963), S. 84 ff.; Temme: Krise der Leiblichkeit, S. 365 f. 235 CH IV, 11 (CHD I, S. 53). Der Topos des Auge des Herzens ist an dieser Stelle zwar von Augustinus abgeleitet, galt im zeitgenössischen Sprachgebrauch jedoch als klassisch spiritualistisch bzw. hermetisch: Vgl. aus orthodoxer Perspektive Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 108 mit einer Fülle an Belegen; Auch die makarischen Homilien kennen das Motiv des Herzensauges (H 11,20). Schließlich das Corpus Hermeticum VI, 11 (CHD I, S. 53). Allgemein zur Verbreitung dieses Motivs im pietistischen Sprachgebrauch August Langen: Art. »Auge der Seele / Auge des Geistes – Geistesauge / Auge des Gemüts – Gemütsauge«. In: Ders.: Der Wort2 schatz des deutschen Pietismus. Tübingen 1968, S. 368 f. 236 Dippel: Papismus Protestantium vapulans  I, S. 120; Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 230. 237 Die dynamisch zu denkende Wachstumsimplikation ergibt sich aus der auch bei Schwenckfeld gebräuchlichen Samenmetaphorik: »Die widergeburt ist ein lebendigwerdung vor Gott / ein auffwachsen vnnd zunemmen im leben das aus Gott / vnnd Gott selbs ist.« (Schwenckfeld: Dev ütsche Theologia, Bl. XVI )



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theoretischen Einbettung in soteriologische Konzepte gegenseitig aus.238 Die Schärfe, mit der der Konflikt auf beiden Seiten ausgetragen wird, dürfte hier begründet sein. Ebenso dürfte hier der geradezu iconoclastische Furor wurzeln, mit dem Papismus Protestantium vapulans die formalen Attibute akademischer und theologischer Wissenslegitimation zerstört, jedoch – und diese Differenzierung ist vielsagend – nicht ohne leidenschaftliche Kritik mit Momenten der persönlichen Trauer über die Notwendigkeit, diesen Konflikt austragen zu müssen, zu unterbrechen.239 Dippels zentrale These schließlich von der Unmöglichkeit eines normativen Eides, der dem Entwicklungspotenzial des Menschen entgegensteht, ist im polemischen Kontext des theologischen Elenchus noch nicht mit dem Begriff »Aufklärung« verbunden, jedoch nimmt sie die Argumentation in Kants berühmter Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) vorweg, die lediglich unter Verzicht auf das Bildfeld vom inneren Wort und Auge des Herzens festhält: Aber auf eine beharrliche, von niemandem öffentlich zu bezweifelnde Religionsverfassung auch nur binnen der Lebensdauer eines Menschen sich zu einigen und dadurch einen Zeitraum in dem Fortgange der Menschheit zur Verbesserung gleichsam zu vernichten und fruchtlos, dadurch aber wohl gar der Nachkommenschaft nachteilig zu machen, ist schlech240 terdings unerlaubt.

Die formalen Aspekte der oft pauschal als »radikal« titulierten Kritik Dippels sind bislang noch nie thematisiert worden, aber es ist vielsagend, sie im Hinblick auf ihre Position zwischen theologischer Schulliteratur und radikalpietistischer Prophetie zu vergegenwärtigen. Eines der grundlegenden formalen Mittel frühneu-

238 Das Konzept eines gestaffelten oder sich in Graden vollziehenden Entwicklungswegs ist ein zeitgenössisches Heterodoxiekriterium. Bücher: Lutherus Anti-Pietista, S. 30. 239 Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 150: »Jedoch wir wollen ein Ende machen. Denn weder ich kan vor Thränen mehr schreiben, noch der Orthodoxus vor Zorn und Grimm weiter lesen. Der HErr unser Gott erbarme sich beyder, und gebe sich allen in seinem Licht handgreiflich zu erkennen, damit doch endlich das unselige Wort=Gezänck möge ein End nehmen.« Über diese Stelle stolpert auch der Rezensent in den Unschuldigen Nachrichten. Offensichtlich noch ungeübt in der »gemischten Empfindung«, die erst die Dramentheorie des 18. Jahrhunderts erfinden sollte, kann er hierin lediglich eine weitere Abweichung von der Norm erkennen: »Uber dieses ist das gantze Buch voller absurditäten / da er zuweilen / als ein Democritus, mitten unter den [!] Spotten weinen will.« Anon.: Rez. Papismus Protestantium vapulans, S. 68 f. 240 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Berlinische Monatsschrift Dezember 1784, S. 418–494) In: Ders.: Ausgewählte kleine Schriften. Hamburg, 1969, S. 1–9, hier S. 6.

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zeitlicher akademischer Wissenslegitimation ist der Syllogismus nach aristotelischer Logik:241 Major. Ein ieder Eydschwur der die Leute verbindet zu einer sündlichen und unmöglichen Sach, der ist sündlich und nicht zu halten. Minus. Aller Religions=Eyd, er mag Namen haben und so gut seyn wie er will, verbindet die Leute zu einer sündlichen, und zugleich ohnmöglichen Sach, welche nicht in des Schwörenden Willkühr oder Gewalt stehet. Conclusio. Ergo &c. 242 Darum ist aller Religions=Eyd sündlich und nicht zu halten.

So spricht kein Prophet, sondern jemand, der in den formalen Künsten der Streittheologie ausgebildet ist und diese nun gegen sich selbst kehrt. Literaturwissenschaftlich spricht man in diesem Fall der Grenzüberschreitung von Parodie, wobei das aus theologischer Perspektive Normabweichende literaturwissenschaftlich gerade das Neue ist, das sich unter den Stichworten Individualität, Emotionalität und Literarizität von der bedächtig argumentierenden, systemorientierten lateinischen Schulliteratur abhebt.243 Papismus Protestantium vapulans zitiert und usurpiert sprachlich die Form des akademischen Lehrgesprächs, ridikülisiert formallogische Strukturen, konterkariert deren Wahrheitsanspruch durch Implantation gegenteiliger Inhalte und lässt die Argumentation in der poetischen Inversion der Begriffe von Orthodoxie und Ketzerei gipfeln. Diese satirische Unterminierung gelehrter Autorität lässt sich exemplarisch en detail beobachten, wenn Dippel seinen Gegnern »aus ihren eigenen Principiis zeigen werde, wo die wahre Kirch, und wo die Kätzer stecken«.244 Formal orientiert sich die Argumentation am traditionellen Aufbau aus Frage und Antwort (Quaestio/Probatio) einer Schuldogmatik,245 setzt aber anstelle einer kommentarlosen

241 Zeitgenössisch bekräftigt bei Bücher: Lutherus Anti-Pietista, S. 40. 242 Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 123. 243 Schrader: Die Literatur des Pietismus, S. 392. Dabei konnte die Geringschätzung akademischer Gelehrsamkeit neben einer kunstfeindlichen Tendenz zu einem Topos pietistischer Literatur werden. Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tübingen 1989, S. 50 ff.; Art. »Pietismus«. In: Zedlers Universallexicon, Bd. 28 (1741), Sp. 121. 244 Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 141. 245 Vgl. den systematischen Aufbau von David Hollaz: Examinis Theologici Acroamatici Univers. Theologiam. Thet. Polem. Complectentis. commod. cand. theol. destin. et ad Normam Script. S. Concinn. Lucidoque ordine digesti. […] Cum praefatione Alberti Joachimi de Krakevitz […]. In Qua quid de responsis academicis sentiendum sit, modeste ac cordate exponitur. Holmiae et Lipsiae 1735.



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Reihung der Sätze ein lebhaftes und sympathielenkendes Sprecher-Ich zwischen die einzelnen Antworten. Damit öffnet sich die traditionelle, affirmativ und systemorientierte dialogische Struktur aus Quaestio und Probatio hin zu einer trialogischen Gesprächsstruktur: So fragen wir dann nun: Wo ist die wahre Kirch?: Antwort aus der Orthodoxie: Wo das Wort GOttes lauter und rein geprediget wird. Wo aber wird das Wort GOttes lauter und rein geprediget? Antwort aus der Heterodoxie (gegenteilige Lehre)  / doch daß ein ieder, der Augen und eine nur natürlich gesunde Vernunfft hat, wird müssen Beyfall geben: Wann das Wort GOttes rein predigen so viel heisset als die Bibel in ihrem gantzen Begriff rein predigen / so 246 ist kein Ort und Kirch in der Welt / da das Wort GOttes lauter und rein geprediget wird.

Die Argumentation stützt sich auf die spiritualistische Wissensfigur einer unmöglichen Konkordanz in der Theorie aufgrund der unvollkommenen Erkenntnis des nicht wiedergeborenen Menschen und postuliert als wahre Predigt nur das Sprechen in der liebenden Erkenntnis Christi. Sie fährt fort: Wo ist dann nun die wahre Kirch? Antwort ex hypothesi orthodoxa […]: Wo Lehrer sind / die das Wort GOttes / Christum / oder das Evangelium rein predigen. Wo sind aber solche Prediger? Antwort aus der Erfahrung: Das weiß der liebe GOtt / der die seinen kennet / und weiß / welchen er als seinen Knecht gesandt hat. Die Zuhörer könnens so fern auch wissen / wann sie nach dem Unterricht des liebsten Heylandes die falsche und wahre Propheten an ihren Früchten erkennen lernen. Probatum est. […] So ist folglich keine Secte die wahre Kirch / weder die Lutherische noch Papistische / noch Reformierte / noch sonst eine / weilen in keiner überall solche Prediger sind / die das Wort GOttes lauter und rein können vortragen 247 […]? Antwort: dieses folget nothwendig ex ipsis orthodoxiae principiis.«

Aus dem gelehrt akademischen Dialog wird in Dippels Bearbeitung ein parodistisches Streitgespräch mit mehreren Diskutanten, die als Orthodoxie, Heterodoxie und Erfahrung von einem vorwitzig kommentierenden Sprecher-Ich die Rollen zugewiesen bekommen, das darüber hinaus noch die Zuhörer an ihre eigene Urteilskraft erinnert. Die lateinischen Wendungen (»Probetur«/»probatum est«248) bleiben strukturbildendes Element der ganzen Passage und führen den somit zitierten Gestus akademischer Wahrheitsfindung rhetorisch ad absurdum. Die rhetorische Struktur der Prätexte weicht der Inszenierung verschiedener Positionen, die allerdings eine deutlich akzentuierte, genau gegenläufige Sympa-

246 Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 141. 247 Ebd., S. 142. 248 Ebd., S. 141 ff. Dippel inszeniert die ganze Argumentation als ›Antwort‹ auf ein orthodoxes Verlangen nach Beweisen für Dippels Thesen (›probetur, probetur‹) und rhythmisiert seine Ausführungen mit dem traditionellen ›probatum est‹.

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thielenkung unterstützen. Der Verlust akademischer Gravität wird ersetzt durch ein lebhaftes Zwiegespräch mit dem Leser, das diesen verschwörerisch in die Argumentation einbindet: Wer ist dann nun eigentlich ein Kätzer? Antwort: Weilen ich nicht gern Kätzer mache / soll dich dieses abermal die Orthodoxie lehren / als wie sie dich aus ihren Principiis unterrichtet hat / wer die wahre Kirch seye. Ein Kätzer ist ein böses vergifftetes Thier / welches entweder in dem Grund der Glaubens irret / oder etwas boshafftiger weis / wär es auch das geringste wider die H. Schrifft / verthädiget / und sich nicht will weisen lassen / wann die Orthodoxie spricht / es seye nicht recht. Weissest du nun wer ein Kätzer ist? an vero dubias? (oder zweiffelst du daran?) Ich höre zwar die Wort in abstracto […] / aber ich mögte doch auch gern in concreto […] wissen / wer diejenigen seyen so wider den Grund des Glaubens irren […]. Dann ich kan mir nicht einbilden / daß ein solcher Kätzer auff der Welt seye / der wider sein Gewissen etwas werde lehren […]. Antwort: Ich mercke / daß du auch schon willt ein Kätzer werden / und der Orthodoxie nicht glauben […]. Erstlich, spricht die Orthodoxie, ist ein Kätzer, der in dem Grund des Glaubens irret. Wer ist ein solcher? Ein ieder Unwiedergeborener, welcher JEsum, den Weg, die Wahrheit und das Licht, noch nicht angezogen und erkannt, und darum nothwendig im Grund des Glaubens und in der Lehr so zum Heyl nöthig irren muß. Probatum est supra. E. omnis Orthodoxus epicureus est haereticus; errat & non potest non errare, tam in fundamento fidei essentiali Christo, quam dogmatico, seu in doctrina ad salutem necessaria, 249 quam, quia est Spiritus Dei, homo animalis & irregenitus non introspicit.

Dippels Pointe ist im Kontext spiritualistischer Kirchenkritik betrachtet inhaltlich nicht neu und nur die exakte Umsetzung des traditionellen Axioms spiritualistischer Hermeneutik, nach der das vollständige Verständnis der heiligen Schrift an die Wiedergeburt geknüpft wird. Die Kühnheit liegt vielmehr in der rhetorischen Glätte, mit der die Inversion von Ketzertum und Orthodoxie vollzogen wird. Gottfried Arnolds Unpartheiische Kirchen= und Ketzerhistorie fragt viel bedächtiger [o]b nicht (wenn gleich gerne zugestanden wird, daß einige solche leute [Ketzer] wirklich geirret, oder sonst zu viel geredet oder gethan, das sie nicht verantworten können) dennoch

249 Ebd., S. 144 f. Canz übersetzt in einer Fußnote die lateinische Passage: »Dannenhero ist ein ieder fleischlich gesinnter Orthodoxus ein Kätzer, dann er irret und kan unmöglich anders als irren, so wol in dem wesendlichen Grund des Glaubens, nämlich Christo, als auch in dem Lehrgrund, oder in der Lehre, die zur Seligkeit zu wissen nöthig ist, deren Erkenntnis, weil sie von dem Geist GOttes muß kommen, ein natürlicher und unwiedergebohrner Mensch nicht fassen kan.«



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insgeheim sie alle anders anzusehen und zu beschreiben wären, als wohl bishero von ihren 250 anklägern geschehen?

Und doch umfasst Dippels Kritik mehr als gelehrten Nonsense und entfaltet eine andere Wirkungsästhetik als die Bußrufe zeitgenössischer prophetischer Rede, da sie mit suggestiver Stringenz Argumentationsstrukturen traditioneller Wissenslegitimation aus der eigenen Systemlogik heraus ad absurdum führt. Im Sprachgebrauch zeitgenössischer Universitätsdogmatiken wird der Häretiker vom Christen dahingehend unterschieden, dass ihm aufgrund eigener Interpretationsversuche der Schriftsinn verschlossen bleibt, weshalb er im Grund des Glaubens, »in fundamentum fidei«, irre.251 Im Gegensatz zu diesem werde der sich fügende Christ vom Heiligen Geist unterrichtet, der damit wahrer Christ ist im Gegensatz zum Scheinchristen, der als vom Teufel verführt angesehen wurde.252 Dippel zitiert Motiv für Motiv und wendet das Spiel mit Interpretationsdifferenzen gegen sich selbst: In der koketten Zurückhaltung, eine eigene Definition des Ketzertums aufzustellen, inszeniert er die Umsetzung des spiritualistischen Glaubens, dass man den Wiedergeborenen an seinen Früchten der »unpartheiischen« Liebe erkenne, den Unwiedergeborenen aber gerade an seiner Parteilichkeit und Ketzermacherei. Damit präsentiert sich die zitierte Erläuterung über die Ketzer ipso facto als Schilderung aus unwiedergeborener Perspektive und akzentuiert gegenüber den evozierten Theorien der Abgrenzung die ethische Praxis des religiösen Miteinander. Der Akt des Fragens und Bezweifelns selbst wird in Szene gesetzt und ins Positive umgedeutet. Dabei hält die Argumentation nicht bei einem sokratisch reflexiven Nichtwissen inne, sondern usurpiert unverkennbar das rhetorische Instrumentarium zur Inszenierung eines theologischen Wahrheitsanspruchs, womit sie genau dieses zur Sichtbarkeit verfremdet. Gerade indem Dippel die

250  Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie. Vom Anfang des Neuen Testaments Bis auf das Jahr Christi 1688. Frankfurt a.M. 1699/1700. Reprint der Ausg. 1729, Hildesheim 1967. I, Allg. Anmerkungen, S. 4. 251 Z.B. Hollaz: Examinis Theologici Acroamatici, S. 15: »Haeretici considerantur vel reduplicative, quatenus sunt Haeretici, vel errantes in fundameno fidei; hactenus sensum Scripturae inferunt, non ex ea efferunt: non capiunt sensum, quem verba Scripturae ex se fedunt, sed alienum, non analogum textui biblico affingunt: vel iidem spectantur specificative; quatenus sunt dociles & verum sensum Scripturae aliquando eruunt; ita qua Spiritus S. gratiam quasi paedagogice illuminantem ipsis non denegat« 252 Die Verbindung der Motive Häresie, Scheinchristentum und Teufelsverführung wird auch zitiert bei Johann Friedrich König: Theologia positiva acroamatica (Rostock 1664). Hg. v. Andreas Stegmann. Tübingen 2006, S. 16 f.: »§ 10: Die Theologie der vom Teufel verführten Menschen ist heidnisch, jüdisch, samaritisch, mohammedanisch oder vorgeblich christlich. Die Zweige der letzteren sind die häretische, schismatische, synkretistische und skeptische Irrlehre.«

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Signalworte der seligmachenden Lehre, des notwendigen Irrtums oder des Gelehrtwerdens durch den Heiligen Geist benutzt, verbleibt seine Argumentation ex negativo im usurpierten Muster und bricht es gleichzeitig von innen her auf, indem sie die Bezüge der traditionellen Begriffe neu setzt: Der Bezug der seligmachenden Lehre wird von der traditionellen Bedeutung als Schrift253 zur praktisch pneumatischen Belehrung von Gott verschoben, der Grund des Glaubens, »fundamentum fidei«, bezeichnet nicht mehr die glaubende Annahme der Rechtfertigung, sondern die praktische Nachfolge Christi in einer individuell zu leistenden inneren Wandlung.254 Angesichts dieser Neudeutung werden ganze Bereiche akademisch theoretischer Differenzierungsbemühungen gegenüber einer Praxis des religiösen Miteinanders »unpartheiischer Christen« fortgewischt. Bereits im Eröffnungsgedicht hatte Dippel dies eingängig formuliert: Wer sich verläugnen kan, dem hat GOtt beygeleget Das rechte Symbolum und wahrer Kindschafft Lob. Es mag mit großem Grimm der Orthodoxus schreyen: Er ist ein Schwärmers=Kopff, ein Quäcker, ein Papist, Ein Calvinist, Phantast, doch will ich mich nicht scheuen, 255 Zu sagen, daß er mir in Christo Bruder ist.

Die Berufung auf Gal 3,28 in der Betonung der Bruderschaft in Christus gegenüber konfessionellen Spaltungen greift ein als »radikal« markiertes Moment der Refor-

253 Siehe so noch König: Theologia positiva acroamatica, § 67: »Das sie [die christliche Religion] bestimmende Prinzip ist allein Gottes Wort, und zwar – da heute die kanonischen Schriften vollständig vorliegen – ausschließlich das geschriebene.« (S. 27), § 75: »Die Summe der wahren Religion ist in den Bekenntnissen enthalten, die den christlichen Glauben zur Sprache bringen.« (S. 29) 254 Vgl. zur Kunstfertigkeit der sprachlichen Fortschreibung einen Prätext bei König: Theologia positiva acroamatica, S. 44 f.: »§ 151: Die in Lehrsätzen formulierte Grundlage des Glaubens sind also die gerade dargelegten Artikel, die zusammengenommen dieses Dogma ergeben [  / Fundamentum itaque dogmaticum constituunt recensiti modo articuli, qui simul sumti hoc conficiunt dogma]: Gott will aus reiner Gnade, daß alle und jeder einzelne gefallene Mensch gerettet werde durch den einzigen Mittler Christus der, vom Vater in die Welt gesandt, um für alle und jeden Gefallenen der göttlichen Gerechtigkeit vollauf genugzutun, für alle und jeden die Gnade und das ewige Leben verdient hat. Und dieses Verdienst des Sohnes beabsichtigt Gott fest, allen zuzueignen; allen und jedem will er den Glauben geben, durch den jenes Verdienst zugeeignet werden kann. […] Und dieses Dogma ist der ursprüngliche Glaubensgrund und der nächste und unmittelbare Ursprung, aus dem der Heilsglaube hervorgeht. [/ Atque hoc dogma genuinum fidei fundamentum, ac proximum & immediatum generandae fidei salvificae principium est.]« 255 Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 94 (Hervorh. im Orig.).



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mationszeit auf, das nicht nur in Dippels Texten als pietistisch erkannt wurde.256 In der gedanklichen Konsequenz dieser Umsetzung der Brüderlichkeit bei gleichzeitiger Überwindung der Begrenzungen des ›äußeren Menschen‹ im »Anziehen« Christi zur neuen Kreatur liegt dann die konkret zu denkende Seligkeit. Eine nicht zu übersehende Ironie liegt in Dippels Umdeutung der »seligmachenden« Lehre als konkrete Praxis und ihrer Konnotation mit der Vorstellung einer Orthodoxie, also Recht-Gläubigkeit. Die bereits im Eröffnungs- und Abschlussgedicht zitierte Umkehrung der Orthodoxie zur Orthopraxis ist hiermit komplett. Ein Kätzer ist demnach, wer Kätzermachen liebt, und als ein blinder Papst, Gewissens=Zwang ausübt; Hingegen, wider wen sich solche Päpste brüsten, Den nenn ich orthodox, und einen guten Christen.

2.2. »Homo hæreticus«: Zur Systematik der Häresiekonzepte und zur Dekonstruktion des Religionszwangs ( Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie) Dippels Texte entstanden zu großen Teilen aus zeitgenössischen Debatten heraus und spiegeln die entsprechende Streitkultur mit ihren zeitbezogenen Themen wie dem Pietismusstreit, der Platonisierungsthese und der grundsätzlich damit verbundenen Ketzerproblematik. Neben den Streitschriften entstanden abseits der Dispute Texte, die die Fragen der Konfliktschauplätze systematisch reflektierten. Sie vermitteln jenseits aller Polemik Einblick in die klare Systematik von Dippels Reflexionen, deren Kernthesen sich auch über Jahre und wechselnde Kampfplätze hinweg nicht verändern. Eine solche Kernproblematik ist neben der Kritik am Religionszwang die Reflexion des religiös Anderen. Die grundlegenden Reflexionen zur Häresieproblematik sind konzentriert und sprachlich prägnant in einer bislang kaum beachteten frühen Schrift entwickelt, die im Jahr 1699, parallel zu Arnolds ersten beiden Teilen der Kirchen= und Ketzerhistorie erschien. Es handelt sich um eine »theosophische Meditation von dem Ursprung der Secten«, wie Dippel sein Werk in einem Brief an das Darmstädter Konsistorium 1699 charakterisiert,257 und sie lautet mit vollem Titel Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie, oder kurzer theosophischer Entwurff, aus was

256 Zur Kritik an der »Bruderschaft in Christus« als pietistisch siehe Gierl: Pietismus und Aufklärung, S. 214; zur Radikalität des Motivs der Brüderlichkeit Goertz: Radikalität der Reformation, S. 216 ff. 257 Diehl: Neue Beiträge zur Geschichte Johann Konrad Dippels, S. 170.

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Ursachen das verworrene Religions=Gezänk in der Christenheit entsprungen, durch was Mittel es fortgeführt, und auf was Art es endlich zernichtet möge werden.258 Es handelt sich um denselben Text, der die ausführliche Referenz an die Texte des Corpus Hermeticum, als vorchristliche Offenbarungen enthält und den »zwey Büchlein Mercurii Trismegisti« ein tieferes Wissen um christliche Geheimnisse zuschreibt als Augustinus und Thomas von Aquin. Was Arnold in der Kirchen= und Ketzerhistorie auf hunderten von Seiten historisch entfaltet, erörtert Dippel systematisch auf ganzen 40 Folioseiten, die noch einmal poetisch in einem Eröffnungsgedicht zusammengefasst sind. Die frühere emotionale Auseinandersetzung um die Rechtgläubigkeit anhand der lutherischen Bekenntnisschriften ist einer ruhigeren, anthropologisch fundierten Reflexion gewichen, ebenso wie die scharfe Abrechnung mit dem gelehrten Habitus einem flüssigen, leicht verständlichen Stil Platz macht, der jedoch umso zugänglicher gelehrtes Wissen seinen traditionellen Deutungen entkleidet. Die Schrift entstand während Dippels Zeit im Hausarrest nach der Publikation von Papismus Protestantium vapulans und unterläuft zusammen mit drei anderen Texten das auferlegte Publikationsverbot. Dippel ließ sie beim Drucker Bonaventura de Launoy im isenburgischen Offenburg drucken, einem der Spezialverlage für heterodoxe Literatur, der auch Texte von Jane Leade, Gottfried Arnold und Johann Henrich Reitz verlegte.259 Noch bis zu seinem Tod Mitte der 30er Jahre des 18. Jahrhunderts kehren diese Thesen zur Religionstoleranz und zur Kritik am Konfessionszwang unverändert wieder.260 Poetisch und lesefreundlich zusammengefasst lauten diese Thesen folgendermaßen:

Summarischer Inhalt:

Es wird entdeckt der Grund, worauf das Babel stehet, Und Meynung, Müh und Angst zu seiner Schutz=Wehr macht, Worinn der alte Mensch gantz ungebunden gehet, Und allen Gottes=Rath zur wahren Ruh veracht. Es soll der Wahrheit Licht durch Lehren, Hören, Wehren, Von aussen fliessen ein, so lang Vernunft regiert,

258 Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 405–444. Erwähnt hat sie bisher vor allem Rustmeier: Johann Conrad Dippel in Schleswig-Holstein I, S. 42 f. 259 Diehl: Neue Beiträge zur Geschichte Johann Konrad Dippels, S. 156; Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt, S. 137 u. 141 ff.; ebenso Shantz: Between Sardis and Philadelphia, S. 195 f. – Bonaventura de Launoy entstammte einer Hugenottenfamilie und unterhielt eine der bedeutendsten radikalpietistischen Druckereien; Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 395. 260 Dippel: Etwas Neues, oder Retirade der Lutherischen Orthodoxie (1732), Bd. III, S. 342 ff.



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Und Lust und Eigen Lieb durch wiederigs Begehren Den Heiland von sich treibt, der uns zum Leben führt. Ach merck es tolle Welt! Laß Meynung, Zanken, Fragen; Der Ketzer sitzt in dir, den magst du greiffen an, Und wann du ihn getödt, und in das Grab getragen, So sollst du haben recht, vor Gott und jedermann, Verlangest du mit Ernst der Wahrheit Glanz zu haben, So gaff nicht weit herum, das Wort ist auch in dir, Der Weg ist klar gebahnt; Nimm an die Gnaden=Gaben, Die dir dein Führer schenckt, der klopfft vor deiner Tür: Dem folge wie Er will, so wird der Irr=Geist weichen Aus seinem festen Schloß, genannt, der Eigen Will, Und alle Ketzers=Bruth wird in dem Tod verbleichen; Du wirst der Wahrheits=Frucht geniessen in der Still. Und sehen mit Verdruß, wie der verirrte Haufen Sich immer mehr verwirrt durch Schrift und Gleißnerey. Wie die Concilia vom Weg des Friedens lauffen, So lang die Patres nicht von ihrem Ketzer frey. Wie alles sey vergifft der Welt, was Christi Leben An einem Christen sucht, und falschen Schein veracht, Wodurch das Babel Volck vermeint die Ehr zu geben, Dem, der im Himmel wohnt, und ihrer Thorheit lacht. Wie keine Einigkeit der Wahrheit könne stehen In einem Secten=Bild, durch Meynung aufgericht. Und wie des Herren Wind diß alles wird verwehen, Wann Zion steigt empor, und Babel gantz zerbricht.

Die Thesen sind in ihrem Wissensbegriff vom Erbe der spiritualistischen Tradition gezeichnet und durchaus charakteristisch für radikalpietistische Kirchenkritik. Topologisch verweist das Gedicht an mehreren Stellen auf Böhme: Die Polarität zwischen innen und außen (V. 5), dem alten und dem neuen Adam (V. 3), der Welt/»Babel« und »Zion« (V. 1, 31), die Kritik am Zustand der Kirche als einer Politik mit der Angst sowie die Erinnerung des Lesers an das innere Wort auch in ihm selbst (V. 14) sind Charakteristika der spiritualistischen Tradition, wie sie bereits Böhme, Weigel oder Franck formuliert haben. Auch Böhmes Vom dreifachen Leben des Menschen (1620) kennt die Topoi, dass Christus nicht im Meinungsstreit und Disput, sondern allein in der inneren Einkehr und im »Ernst« des Suchens gefunden werde (V. 13), ebenso teilt Dippel Böhmes nüchternen Blick auf die Konzilien als »Betrug«.261 Den Wunsch, den Theologenstreit zu überwinden (V. 29/30) teilt Dippel mit Arnold, der in der Vorrede der Kirchen- und Ketzerhistorie die Diskrepanz zwischen Wahrheit und Vorurteilen (»vorgefassten Mey-

261 Böhme: De triplici vita hominis, 7:11/12 sowie 3:67.

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nungen«) sowie die Dynamik der Verketzerung vergleichbar reflektiert.262 Seine Analyse weist sogar eine Reihe topologischer Berührungspunkte mit Philipp Jakob Speners Reformprogramm der Pia Desideria (1675) auf, wie etwa die Kon­ trastierung von rechtem Wissen und rechtem Tun bzw. gelehrtem Theologenstreit und praktischem Handeln am Nächsten, die Orientierung am heiligen Leben der ersten Christen sowie die auf Luthers Vorrede zum Römerbrief zurückgehende Annahme des den ganzen Menschen verwandelnden Glaubens.263 Soweit verortet sich der Text im pietistischen Diskurs, allerdings führt Dippels Interesse an Böhme weder in eine quietistische Innerlichkeit noch in eine erotische Brautmystik, sondern in eine rationale Analyse der psychologischen Dynamik unter der Häresieproblematik als eines fortlaufenden Konstruktionsprozesses des religiös Anderen. Das Fundament jener Analyse ist die charakteristische trichotome Anthropologie und Epistemologie. Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie widmet sich in einzelnen Kapiteln der Frage nach Wahrheit und Irrtum, analysiert Vernunft und Eigenliebe als Ketzer in jedem Menschen und wendet sich historisch wie systematisch dem Begriff und der Dynamik der Häresie zu. Sie erörtert schließlich die Fragen, ob Menschen wegen eines rechten oder irrigen Glaubens (»Meynung«) von göttlichen Dingen selig oder verdammt werden können und inwieweit die Einigkeit in Christus auf einhelliger »Meynung und Redarthen« beruhen könne. Die Argumentation entfaltet sich vor dem anthropologischen Horizont des aus dem Zentrum gefallenen Menschen, der jedoch das verblichene göttliche Ebenbild unter dem Fluch nicht gänzlich verloren hat. Charakteristischerweise ist es nach Dippel nicht Gott, der verdammt, sondern die Menschen, die in unterschiedlichen Stadien des Verderbens gefangen sind und sich an der neuen Geburt selbst behindern.264 Diesen grundlegenden Unterschied zum lutherischen Gottes- und Menschenbild (ebenso zum calvinistischen oder katholischen) verbindet Dippel mit der spiritualistischen und hermetischen Tradition. Gleiches gilt für das charakteristische Wissensmodell, das Dippel in seiner Analyse des Ketzerproblems fruchtbar macht. Es gebe nur zwei Ketzer und diese dafür in jedem Menschen, postuliert Dippel, und das seien die Eigenliebe und die Vernunft. Die Eigenliebe entspricht

262 Arnold: Vorrede, unpag. In: Unpartheyische Kirchen= und Ketzerhistorie. Frankfurt a.M. 1729. 263 Spener: Pia Desideria, S. 12 f., 30 u. 46. Auch Spener stand im Diskurs um Böhme, vermied aber über die Beteuerung seiner Verständnisschwierigkeiten ein eigenes Urteil über ihn. Ausführlich Helmut Obst: Jakob Böhme im Urteil Philipp Jakob Speners. In: Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte 23 (1971) S. 22–39. 264 Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 407.



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dem mystischen Konzept der Selbstheit oder Ichheit, dem Prinzip der Verselbstigung; die Vernunft definiert er als aktive, und damit Bilder produzierende »würckende Einbildungs=Krafft«.265 Dies ist kein aufklärerischer Vernunftbegriff, sondern entspricht einem Vernunftbegriff in Anlehnung an Weigels Der güldene Griff, an Böhmes Theosophische Sendbriefe oder an Poirets Traktat von der dreifachen Bildung. Ähnlich wie Weigel oder zeitgenössisch Poiret differenziert Dippel zwischen den verschiedenen Ebenen des Wissens, die entweder passiv empfänglich (Mens) oder aktiv konstruierend (Ratio) verfahren. Dabei wird die Vernunft (Ratio) ebenso wie die auf Vernunft gegründete Disputationspraxis und ihre Abgrenzungsenergien dem äußeren Menschen zugerechnet, der sich in der Welt, und damit im Unwesentlichen verstricke: »Es soll der Wahrheit Licht durch Lehren, Hören, Wehren / von aussen fließen ein, so lang Vernunft regiert.« (V. 5/6) Dippels Vernunftbegriff ist hier nicht in Abgrenzung zum Vernunftbegriff der frühaufklärerischen Philosophen wie Descartes oder Nicolas Malebranche (1638–1715) definiert, die er erst im Jahr 1708 in Fatum fatuum zitiert, sondern in Abgrenzung zum Vernunftbegriff des universitären Umfelds, dem er selbst noch bis vor einem Jahr angehört hatte. Vernunft und aristotelische Logik gelten in den Schuldogmatiken der Zeit als geeignete Mittel, um die Richtigkeit des Wortes Gottes zu beweisen und die »Feinde Christi« zu widerlegen. Dabei war die Frage nach dem rechten Glauben zu einer nach positivem Wissen geworden,266 das je nach Bekenntnis entweder wahr/christlich oder falsch/heidnisch/vorgeblich christlich/häretisch/synkretistisch sein konnte.267 Jene Logik wird grundlegend unterminiert, sobald vernunftbasiertes Wissen als Produkt einer aktiv konstruierenden Vernunft eingeschätzt wird, und darin besteht die eigentlich aufklärerische Pointe in Dippels spiritualistischer Argumentation. Gleichzeitig ist es die strategische Betonung dieses »psychologischen« Arguments, das Dippels Kritik an Tradition und autoritativen Wissensgebäuden von einer rein philologischen Kritik unterscheidet.268

265 Ebd., S. 411. Sie ist weiter charakterisiert durch »vieles Speculieren, Bilder machen und tichten, sich selbst zu rathen.« 266 Vgl. etwa die Dogmatik Johann Friedrich Königs (1664, Neuaufl. 1719): »§ 75. Die Summe der wahren Religion ist in den Bekenntnissen enthalten, die den christlichen Glauben zur Sprache bringen.« (Theologia positiva acroamatica, S. 29) 267 Noch einmal nach König: »§ 10. Die Theologie der vom Teufel verführten Menschen ist heidnisch, jüdisch, samaritisch, mohammedanisch oder vorgeblich christlich. Die Zweige der letzteren sind die häretische, schismatische, synkretistische und skeptische Irrlehre.« (Theologia positiva acroamatica, S. 17) 268 Die philologische Kritik – wie hier: am Trinitätsdogma – hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange Tradition. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Die philologische Zersetzung des christli-

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

Die Heilige Schrift wird nicht verworfen, nur wird sie uminterpretiert von einer Norm in der Beurteilung theologischer Streitfragen zu einer Norm im Werk der Bekehrung.269 Während sie im ersten Fall zum Bezugspunkt für die Vernunft und damit für die konstruierenden, Streit generierenden Kräfte wird, wird sie im zweiten Fall zum Bezugspunkt und zur Stütze des Willens, nicht die anderen, sondern sich selbst und damit die Anhaftung an die Welt zu überwinden. Allerdings, so argumentiert Dippel in einem weiteren Schritt, weiß die Eigenliebe um die Notwendigkeit ihres eigenen Sterbens, wenn die Distanz zu Gott aufgehoben werden soll (»Dem folge, wie Er will«, V. 17). So verführt sie den Menschen in die Illusion, es gebe einen alternativen Weg zum Heil, der sich über die Vernunft ebenfalls aus der Heiligen Schrift ableiten lasse.270 Diese »Einbildung, daß ausser dem Weg der Verleugnung und der Nachfolge Christi«271 ein eigener Weg zum Heil existiere musste nach Dippel notwendig zum Rückzug auf die »eigenen Begriffe« führen, der wiederum den Missbrauch der Schriften, Meinungsstreit und Bindung des Heils an Sakramente nach sich zog. In Anlehnung an Gottfried Arnolds geschichtstheologische Dekadenzthese aus Die erste Liebe oder der Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie erscheint die Konstantinische Wende als Wendepunkt vom wahren Christentum zum Sektenwesen, da mit dem Wegfall der Verfolgung die Christen den Weg der Selbstüberwindung aufgaben und die inneren Ketzer das »Scepter der Orthodoxie« für sich beanspruchten. Sie deuteten die Heilige Schrift nicht mehr aus der Fülle des Geistes, sondern nach den eigenen Begriffen und drängten diese Deutungen anderen bei Verlust der Seligkeit auf. Dippels These vom Konstruktionscharakter allen gelehrt theologischen Wissens wurzelt in Weigels epistemologischen Ausführungen, geht aber in ihren Schlussfolgerungen weit über dessen Beobachtungen zur Perspektivgebundenheit aller Bibellektüre hinaus. Ein kurzer gelehrter Abriss zur Genese des Athanasianischen Glaubensbekenntnisses, auf das sich sowohl die Konkordienformel, die Confessio Augustana sowie zeitgenössische Dogmatiken (und alle Konfessionen bis heute) berufen, zeichnet mit nur ein paar Strichen das Bild einer Genealogie der grundlegenden Bekenntnisschriften sowie der diskursbestimmenden Heterodoxiekriterien aus der Geschichte des Christentums als zutiefst vom Moment der Kontingenz geprägt. So wird die Konstruktion des Arianismus als Ergebnis

chen Platonismus im Beispiel der Trinitätstheologie. In: Häfner (Hg.): Philologie und Erkenntnis, S. 265–301. 269 Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 414. 270 Ebd., S. 415. 271 Ebd., S. 418.



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eines Prozesses theologischer Machtkämpfe und zunehmender Verstrickung in Widersprüche bei allen Beteiligten geschildert, dessen Problembewusstsein in diesem Punkt für Reflexionen zu Digression, Kontingenz und kulturellen Narrativen in moderner Geschichtsforschung anschlussfähig ist.272 Dippel schrieb dies ein Jahr nachdem Gottfried Arnold seine Professur in Gießen niedergelegt hatte, da er den Eid auf den Religionsrevers als Gewissenszwang ablehnte. Imselben Jahr erschien der erste Teil seiner Unpartheiischen Kirchen- und Ketzerhistorie, die nicht nur Hergang des Konzils von Nicäa (Nicaea) mitsamt allen Machtkonflikten detailliert darlegt, sondern auch spezifisch die Bedeutung des Gewissenszwangs in der Durchsetzung der mächtigeren Position und der Entstehung des Arianismus betont.273 Bis zum Jahr 1699 war der Heterodoxievorwurf des Arianismus über Jahrhunderte ein fester Bestandteil orthodoxer Ketzerdiskurse und Argumentationsgrundlage für Todesurteile gewesen, wie z. B. gegen Michael Servet, der auf Calvins Scheiterhaufen starb, nachdem er der katholischen Inquisition glücklich nach Genf entronnen war, wie Dippel zehn Jahre später in einer eigenen Schrift erinnert.274 Dieses mächtige Heterodoxiekriterium entmystifiziert Dippel als Geburt aus dem Chaos unzähliger Konzilien und gegenseitiger Verketzerungen, während derer der Anspruch auf Orthodoxie zwischen den Parteien schwankte und in 30 Jahren nicht weniger als neun unterschiedliche Konkordienformeln hervor brachte.275 Dippel zitiert einen ausführlichen Kommentar des

272 Ebd., S. 123 f.: »Dadurch es dann geschehen das die mit grosser Müh und Unkosten zusammen gebrachte Glaubens=Regel alsobald von den Orthodoxis selbst wieder aufgehoben und durch neuerregtes disputieren zerrissen worden. Der Kayser Constantinus, der, so lang er bey den Bischöfen auf dem consilio war, überaus Orthodox sich erzeigte, war nach der Hand, als Er den Arius selbst gehört, gut Arianisch, verjagte den sehr Orthodoxen Athanasianum, und setzte den Arium wieder in sein Ampt.« Zu Disgression und kulturellen Narrativen Mulsow: Den »heydnischen Saurteig« mit dem »Israelitischen Süßteig« vermengt. 273 Auch Arnolds Darstellung ist scharf: »Das allergefährlichste war hierbei der grausame Gewissenszwang, den Konstantin auf Anstiften der Klerisei vornahm. […] Denn zu geschweigen, daß man da – andern zur Nachfolge – neue Glaubensformeln auf die Bahn brachte, so hatten sie mit ihren neuen Schriften und Finten den armen Kaiser auch bezaubert, als wenn Gott selber alles getan und geredet hätte, was das Konzil abfaßte, wie die Autoren sich nicht scheuen zu bekennen. Er jagte nicht allein viele aus dem Land, die die Klerisei nicht leiden wollte, sondern drohte auch den andern, die sich nicht in allem bequemen würden, mit scharfen Expressionen die Landesverweisung und andere schwere Strafen an.« (Gottfried Arnold: Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie. Ausgewählt und hg. v. Renate Riemeck. Leipzig 1975, S. 95–109, hier S. 104) 274 Dippel: Wahrhafte Historie von Johanne Calvino wie er mit Michael Serveto & anderen verfahren  II, S. 489–510. Zum Problemkomplex der Antitrinitarier im Allgemeinen und Servet im Besonderen Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit, S. 23. 275 Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 423 f.

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

Bischofs Hilarius von Poitiers (315–367), Zeitgenosse des Konzils von Nicäa, der den Lesern die eigene Gegenwart über den Spiegel der historischen Distanz zur Sichtbarkeit entfremdet vorführt. Nach dem Nicenischen Concilio schreiben wir (Orthodoxi) nichts anders als Glau­ bens=Formuln. Indem wir zancken über den Wörtern, […] indem einer den andern verflucht und verdammt, so ist schier keiner mehr unter uns, der Christum angehöre. Wie offt ist der Glaube, der vorm Jahr gemacht, geändert worden? […] In Summa es ist so weit kommen, daß weder von uns, noch von denen die vor uns gewesen, etwas kan geordnet und gelehret werden, welches nicht wieder geändert und umgestossen wird. Auf ein Jahr, oder auf einen Monath machen wir Glaubens=Formuln. Wann sie gemacht, so reuet es uns wieder, und die, welche es reuet, verthädigen wir, und die, welche wir alleweil verthädiget haben, verfluchen wir bald wiederum, und verdammen also an den Unsrigen was wir an andern solten verdammen, oder verdammen an andern, was wir selbst an uns haben. Und indem 276 wir einander so beissen und fressen, sind wir bey nahe verzehret.

Das Athanasianische Glaubensbekenntnis wird so als Produkt der Kontingenz, als »Gewirr der Vernunft«277 und des Eigenwillen lesbar, das jedoch nach seiner Gerinnung zum identitätsstiftenden Dogma des Christentums von allen bei Verlust der Seligkeit als »Wahrheit« zu akzeptieren gewesen war. Dabei lenkt Dippel die Aufmerksamkeit nicht zufällig auf die Drohung des »Verlusts der Seligkeit« im Konstruktionsprozess von »Wahrheit«, da genau diese Drohung auch im Gießener Religionsrevers sowie in den Argumentationen der Confessio Augustana und der Konkordienformel präsent ist. Was also ist ein Ketzer? Dippel nähert sich diesem zentralen Problemkomplex wieder zunächst historisch und anschließend anthropologisch. Er vergleicht verschiedene Übersetzungen von Paulus, Luther und Erasmus der Heiligen Schrift, wobei insbesondere Luthers Gedanke für Dippel wichtig ist, dass derjenige, der über andere nach Meinungen richtet, sich selbst verurteilt.278 In signifikanter Differenz zum Häresiediskurs der Orthodoxie, die Ketzerei nach inhaltlichen Kriterien bestimmt, definiert Dippel den Homo hæreticus nicht nach inhaltlichen, sondern nach einem formalen Kriterium: Ein Ketzer ist, wer aus eigener Gottesferne heraus andere verurteilt und sich damit selbst verdammt, unabhängig davon, ob er dem positiven Wissen nach Teile der Wahrheit kennt oder nicht:

276 Ebd., S. 424 f. 277 Ebd., S. 419: »Dannoch durffte der Autor des so genannten Symboli Athanasiani (Athanasianischen Glaubens=Bekänntnisses) welches ein rechtes Chaos (Gewirre) der Vernunfft ist, so unverschämt seyn, und seine Meynungen andern bey Verlust der Seligkeit aufzubürden.« 278 Ebd., S. 425; Röm 2,1.



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»[S]o ist ein Ketzer ein Mensch der noch von Christo und seinem Gnaden=Reich entfernet, sich eine analogiam fidei nach der Vernunfft aus dem Buchstaben der Schrift erfindet, und dieselbe andern, als seligmachende Wahrheit will aufdringen, auch diejenige die nicht seiner Meynung seynd von seiner Secte, die er allein vor die wahre Kirche hält, ausschliesset. […] Ist also nicht nötig zur Ketzerey, daß alles was der Ketzer lehret irrig müsse seyn […], sondern das Formale der Ketzerey bestehet in dem, daß der homo hæreticus, der keinen Geist hat, um Meinungen und Satzungen willen, sie seyen nun wahr oder falsch, sich, und seinen Anhang selig preiset, und andere, die nicht seiner Secte seynd, von Christo 279 ausschließet.«

Dippels Definition des Häretikers wird im Horizont der trichotomen Anthropologie und Epistemologie transparent: Ein sogenannter Ketzer wäre jemand, der »nach der Vernunfft«, also nach der aktiv räsonnierenden Einbildungskraft in seinen eigenen Konstrukten gefangen ist und die dadurch aufrecht erhaltene Gottesferne mit einem Netz an Verurteilungen anderer kompensiert. Der Umkehrschluss dieser Dynamik führt zum zentralen Begriff des »seligmachenden Glaubens«, der wieder nicht nach Inhalten, sondern nach einer Lebenshaltung definiert wird. Da alle Glaubensinhalte an Begriffe gebunden sind, also notwendig im Bereich der konstruierenden Seelenvermögen verbleiben, besteht der seligmachende Glaube nach Dippel in der Überwindung des Eigenwillen und aller damit verbundenen Konstrukte in der Hingabe an Christus, der traditionell logostheologisch als Wort in der Tiefe der Seele verstanden wird: Der seligmachende Glaube, durch welchen wir Christum ergreiffen, und er in uns wohnet, bestehet nicht in Meynungen, sondern in einem einfältigen Gehorsam und Übergab aller 280 Kräfften der Seelen, welche dem Wort des Lebens in ihr Beyfall giebt.

Aus dieser dann erfahrenen Fülle des Geistes heraus verstummt die Verurteilung anderer und öffnet sich für eine Anerkennung anderer Ausdrücke des einen Geistes auch in anderer Form und Begrifflichkeit. Dieser bewusst so genannte »seligmachende Glaube« transzendiert den Streit um Begriffe auf die Tiefendimension der menschlichen Seele hin, in der Gottes Liebe ewig präsent gedacht ist, jedoch nur nach dem Wegfall aller eigenen Konstrukte erfahren werden kann.281 Da dieser Weg der Selbstüberwindung zwar vom Wissen um die Heilige

279 Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 426. 280 Ebd., S. 427 f. 281 »Gewißlich, solte Christus nicht zu uns kommen, Wohnung bey uns machen, und das Werck der Wiederbringung in uns vollführen, bis wir einen richtigen Begriff von ihm und seinen Wercken hätten, so blieben wir in Ewigkeit von ihm getrennt. […] Unsere irrige Meynung hebt GOttes Liebe und Treue nicht auf.« Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 427 f.

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

Schrift befördert, aber nicht von ihr abhängig ist, spricht Dippel wohlüberlegt allen Menschen, Juden, Muslimen (Türken) und Heiden, die diesen Weg zu gehen bereit sind, den »seligmachenden Glauben« zu: Und diesen seligmachenden Glauben samt Christo können alle die, vor welche Christus gestorben, Heyden, Juden und Türcken haben, ob sie schon von dem Verdienst Christi, von der Imputation (Zurechnung) und von den seligmachenden Meynungen des Symboli Atha282 nasiani so wenig verstehen und wissen als eine Kuh.

Diese These in ihrer charakteristischen Formulierung trug als Skandalon über Rezensionen, Gegenschriften und Geschichtsschreibung maßgeblich zu Dippels Ruf als Spötter bei. Die Unschuldigen Nachrichten bezeichneten sie als »gottloß« (1712),283 Valentin Ernst Löscher protestiert im Timotheus Verinus dagegen (1711),284 das Schweizer Lied zum Bärentanz erinnert sich ihrer in den 30er Jahren (1733),285 und Johann Georg Walchs Der Historischen und Theologischen Einleitung In die Religions=Streitigkeiten analysiert sie 1733 als »groben Indifferentismum«,286 was Trinius’ Freydenker=Lexicon in exakt dieser Formulierung zusammen mit Dippels Satz über die Kuh im Jahr 1759 wiederholt.287 Die Empörung über diese These richtet sich nicht nur gegen Dippels Dekonstruktion der identitätsstiftenden Topoi der kirchlichen Lehre als historische Konstrukte, sondern auch gegen sein Beispiel für einen gelungenen Weg eines Heiden zu Christus: Dippel zitiert dafür ausgerechnet Hermes Trismegistos nach dem ersten und 13. Traktat des Corpus Hermeticum. Er zitiert ihn – wie oben gezeigt – als historischen vorchristlichen Autor und Kronzeugen für die »vielerley Weise« der göttlichen Offenbarung, die nicht »an Zeit und Umstände der Personen gebunden« ist, sondern sich danach

282 Ebd., S. 428. 283 Anon.: Rez. zu Christ. Democriti Anfang / Mittel und Ende der Orthodoxie und Heterodoxie. In: Unschuldige Nachrichten (1712), S. 931–933, hier S. 932. 284 Valentin Ernst Löscher: Timotheus Verinus. In: Unschuldige Nachrichten (1711), S. 689: »Ja, Dippel schreibet ungescheuet tugendhafften Heyden den Geist Gottes zu.« 285 Das Gedicht aus Bern ist nebenbei ein Zeugnis für den Wirkungsradius der dippelschen Schriften. Dippel wird in diesem poetischen Panorama alter und neuer »Ketzer« nicht nur dreimal, öfter als jeder andere lebende Autor, namentlich genannt, sondern es lässt sich auch an der charakteristischen Formulierung aus Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie belegen, dass dem anonymen Autor spezifisch diese Schrift vorgelegen haben muss, über die er sich noch 30  Jahre später entzürnt: »Der innre Christus ist in Jud, Heyd, Türck zu sehen  / die mehr vom äußern nicht als eine Kuh verstehen.« (Zit. n Dippel: Poetischer Wiederhall Aus Teutschland III, 379–398, hier S. 384) 286 Walch: Der Historischen und Theologischen Einleitung In die Religions=Streitereien  2, S. 727. 287 Art. »Johann Conrad Dippel«. In: Trinius: Freydenker=Lexicon, Sp. 181–235, hier Sp. 189.



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richtet, »wo er [Gott] ein tüchtiges Gefäß findet, welches die Schätze seiner Liebe nicht von sich stosset, sondern in Glaubens=Gehorsam ihn allein suchet und ehret, hingegen sich selbst, die Welt samt ihren Lüsten gering achtet.«288 Dippel zitiert Hermes als »tüchtiges Gefäß«, also als Mystiker, und er dürfte sich konkret auf jene Stellen im 13. hermetischen Traktat beziehen, in denen von der erforderlichen Distanz zur Welt, der Unmöglichkeit, die Wiedergeburt zu lehren bzw. sie in (eigene) Begriffe zu fassen und der vollständigen Hingabe an Gott die Rede ist.289 Sie entsprechen seinen Kategorien der Überwindung von Eigenliebe und Vernunft, die den Weg zur Wiedergeburt/Logosgeburt ermöglichen. Damit ist dies für Dippel ein anthropologischer Vorgang, keine theologische Lehre, und entsprechend sind ihm Namen zweitrangig. Ganz ähnlich wie bereits Valentin Weigel eine Namensvielfalt für das Namenlose, den Logosfunken im Seelengrund, zulassen wollte, so gesteht auch Dippel selbst Heiden unumwunden ihre eigene Begrifflichkeit zu: [W]arum solte es ungereimt lauten, wo man sagen wolte, es könne auch ein Heyd […] dennoch diese Wahrheit mit Sanfftmuth annehmen, der Welt und ihren Lüsten absterben, und durch Gedult in guten Wercken unvergängliches Wesen suchen, ob er schon unterdessen nicht weiß, wer in ihm mächtig sey, und das was wir Gnade, Christum, und das Licht von oben heissen, Vernunfft, Gesetz der Natur, rückständiges Ebenbild GOttes nennet, oder 290 demselben einen andern Namen zueignet.

So wird ihm nun gerade die hermetische Erzählung von der Wiedergeburt, die Dippel paradoxerweise zwar falsch datiert, aber über das Tertium comparationis der Logostheologie auch philologisch schlüssig in das soteriologische Narrativ des Spiritualismus integriert, zum »Beweis«, dass »die Wahrheit in Christo in keinen Meynungen, sondern allein in der neuen Creatur und deren Vollendung bestehe«.291 Dies hat weit reichende praktische Konsequenzen im Kontext der zeitgenössischen Häresiedebatte. Sie sind allesamt lebhaft formuliert und beziehen sich auf das formale Kriterium der Ketzerdebatte, das Dippel noch einmal zuspitzt als schriftwidrige Begrenzung der ewigen Liebe Gottes auf einen »Meinungs Circul«, was den anschließenden Ausschluss anderer von der Gemeinschaft mit Christus aufgrund anderer Ansichten bewirkt:

288 Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 429. 289 CH XIII, 1–3, 7 (CHD I, S. 174–177, 179). 290 Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 428. 291 Ebd., S. 430.

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So ist es ja eine übernatürliche Thorheit, wann wir einen Menschen, der sonst in seinem Wandel darthut, daß Christus in ihm wohne, wegen anderer Meynung, die wir ihm doch 292 nicht nehmen können, von der Bruder=Lieb und Gemeinschaft in Christo ausschliessen.

Es sei eine weitere »Torheit«, sich aufgrund einer reinen Übereinstimmung im Bekenntnis Glaubensgenossen zu nennen, »Bosheit«, andere wegen abweichender Meinung von der Liebe auszuschließen, und, mit einem Blick auf die Pragmatik der Glaubensbekenntnisse: Teuflische Wut ist es endlich, wo man gar mit äusserlicher Gewalt und Verfolgung seine Meynungen den andern beyzubringen, oder durch Soldaten und Henckers=Knechte die Orthodoxie auszubreiten trachtet; in welchen Handlungen alle Göttliche und Weltliche 293 Rechte, ja alles Zeugnis der gesunden Vernunft oder des Gewissens übergangen wird.

Die gesamte Dynamik des Religionsstreits seit den frühen Zeiten des Christentums liegt nach Dippel in dieser Begrenzung der unbegrenzten Gnade Gottes auf rationale Konstrukte, die aus dem (empfundenen) Verlust der spirituellen Verbindung zu Gott durch die Eigenliebe entstehen und jenen Verlust kompensieren sollen. Als Geburten der Eigenliebe trieben diese Konstrukte bereits die Kirchenväter in Konkurrenz zueinander, was ein Kaleidoskop an Ketzereien generierte.294 (»Wie die Concilia vom Weg des Friedens lauffen / So lang die Patres nicht von ihrem Ketzer frey« V. 23/24). Diese Argumentation ist zutiefst verwandt mit Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie. Von dieser Position aus hinterfragt Dippel einen weiteren Kampfbegriff der orthodoxen Rhetorik, den Begriff des Synkretismus. Er bezieht sich im zeitgenössischen Kontext auf Versuche einzelner Theologen, den Religionsstreit durch Abgleich strittiger Positionen zwischen den einzelnen Parteien zu besänftigen, was wiederum von strenggläubigen Kollegen als »Synkretismus« abgelehnt wird.295 Dippel macht zunächst die Begriffsgeschichte und die Entstehung der negativen Konnotationen durch den Wortgebrauch des Paulus bekannt. Anschließend definiert er den so historisch kontextualisierten Begriff des Synkretismus als »eine Einigkeit, so nicht in dem wahren Einen gegründet ist«296 und kehrt ihn über den spiritualistischen Wissensbegriff vollständig gegen sich selbst. Da eine Einigkeit, die auf ein historisch gewachsenes Konstrukt wie ein Glaubensbekenntnis gebaut ist, notwendig im diskursiven Bereich der sich wan-

292 Ebd. 293 Ebd. 294 Ebd., S. 431 ff. 295 König: Theologia positiva acroamatica, S. 17. 296 Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 438.



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delnden Formen verbleibt, muss das Kriterium des Synkretismus die orthodoxe Lehre selbst betreffen. Dagegen gründet die wahre Einheit nach Dippel allein in Christus, und sie besteht in einem neuen Leben in der Buße, verstanden als Überwindung der Ichzentriertheit, unabhängig von dessen äußerer Form.297 Ein leuchtendes Beispiel dafür sind nach Dippel die Apostel, die selbst untereinander nicht immer über die Schrift einig waren, sich sogar völlig unterschiedlich ausdrückten und doch über ihre Verbundenheit untereinander sowie mit dem Geist Christi diese Einigkeit im praktischen Leben lebten. Nach dieser Dekonstruktion aller identitätsstiftenden Dogmen durch ihre Historisierung und Pragmatisierung bleibt für Dippel als Fundament aller christlichen Lehre, in dem sich überdies alle Völker der Welt einig seien, das praktische Gebot der Gottes- und Nächstenliebe nach 1 Joh 4,16b: GOtt ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in GOtt und GOtt in ihm. Keines ist möglich, so lang wir in uns selbst bleiben. Wir bleiben aber in uns selbst, und leben uns selbst, so lang nicht Christus in uns lebet, und wir uns ihm in Glaubens=Gehorsam 298 unterworffen.

2.3. Dippels Reflexion des religiös Anderen zwischen Frühaufklärung und Theosophie (Christian Thomasius und Jakob Böhme) Dippels Reflexionen stehen an einer Schnittstelle zwischen dem Diskurs der Frühaufklärung und theosophischer Literatur. Verbindet sie mit ersterem vor allem die kirchen- und autoritätskritischen Topoi, positioniert sie die Analyse der psychologischen Dynamik sowie der Untertitel in Bezug zu Jakob Böhme. Darüber hinaus entstehen sie in einem spezifischen radikalpietistischen Umfeld. Nirgends zitiert Dippel außer der Bibel und den Kirchenvätern zeitgenössische Autoritäten direkt, was zur Vermutung geführt hat, er kenne zu diesem Zeitpunkt noch keine der maßgeblichen Schriften der Frühaufklärer.299 Wenn auch die Frage nach direkten Einflüssen offen bleiben muss, lässt sich Dippels Reflexion des religiös Anderen dennoch im Diskurs gut kontextualisieren. In enger zeitlicher Nähe, im Jahr 1697, beschäftigt sich Christian Thomasius juristisch und philosophisch mit dem Problem der Ketzerei. Die in seinem Auftrag von Johannes Christoph Rube verfassten Dissertationen Ob Ketzerei ein strafbares

297 Ebd., S. 438 f. 298 Ebd., S. 440; 1 Joh 4,16b. 299 Bender: Johann Konrad Dippel, S. 66; Goldschmidt: Johann Konrad Dippel und die Aufklärung, S. 102 f.

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

Laster sei und Vom Recht evangelischer Fürsten gegen die Ketzer 300 betrachten das Phänomen der Ketzerei aus religiöser und juristischer Perspektive und provozierten einen Sturm der Entrüstung, da sie de facto staatliche Unterstützung für eine allgemeine Glaubensfreiheit forderten.301 Trotz unterschiedlicher Akzentuierungen ist die Nähe zwischen den streckenweise fast parallel verlaufenden Argumentationen bezüglich der Häresieproblematik signifikant, abgesehen davon, dass auch Thomasius den Begriff und das Konzept eines lutherischen »Papsttums« einzusetzen wusste.302 Auch Thomasius schlüsselt das Ketzerkonzept auf seinen Machtaspekt hin auf.303 Ebenso entwickelt er wie Dippel die Entstehung des Häresiekonzepts von der Bibel bis zu Luthers Rede vom Ketzer als Ketzer­macher.304 Auffällig sind die parallele Problematisierung der Kontingenz vermeintlicher Grundartikel des Glaubens und ihre Exemplifizierung am Athanasianischen Glaubensbekenntnis, einschließlich der Referenz an die resignierten Äußerungen des frühchristlichen Bischofs Hilarius.305 Die Einschätzung eines Menschen als rechtgläubig oder als Ketzer bestimmt auch nach Thomasius nicht seine sich ändernde Überzeugung, sondern das sich ändernde Glaubensbekenntnis. Damit wird nicht nur der gesamte theologische Dogmenbestand, sondern auch die Ausgrenzung bestimmter Lehren wie z. B. die strittige Apokatástasis-Vorstellung umfassend historisiert und entdogmatisiert.306 Die historischen Konzilien seit dem Konzil

300 Christian Thomasius/Johannes Christoph Rube: An haeresis sit crimen (1697), dt. Ob Ketzerei ein strafbares Laster sei (1705), sowie dies.: De jure principis circa haereticos (1697), dt. Vom Recht evangelischer Fürsten gegen die Ketzer (1705). In: Christian Thomasius: Auserlesene deutsche Schriften. Erster Teil. Hg. v. Werner Schneiders. Hildesheim 1994, S. 211–353. Beide Texte sind unter Thomasius’ Namen publiziert und werden hier entsprechend so zitiert. 301 Werner Schneiders: Vorwort. In: Thomasius: Auserlesene deutsche Schriften, S. V-IX, hier S. VII. Zum Komplex mit weiterer Literatur Klaus Garber: Die Gemeinschaft der Guten. Urgeschichtliche Paradigmen im Ursprung der Aufklärung: Arnold – Leibniz – Thomasius. In: Ders.: Literatur und Kultur in der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien. München 2009, S. 607–657; Martin Pott: Thomasius’ philosophischer Glaube. In: Christian Thomasius 1655–1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hg. v. Werner Schneiders. Hamburg 1989, S. 223–247. 302 Garber: Die Gemeinschaft der Guten, S. 638. 303 Thomasius: Vom Recht evangelischer Fürsten, S. 310: »§ 33.34. Mit zwey Worten: Ketzerey ist eine widrige Meinung von der im Lande herrschenden Religion. § 35: Im gegentheil / die Rechtgläubigkeit ist die herrschende Religion.«; ausführlich S. 329 f. Thomasius differenziert explizit zwischen der mehrheitlichen und der herrschenden Religion innerhalb eines Landes, wobei als entscheidendes Kriterium die angestrebte Herrschaft der Geistlichen über das Gewissen gilt, die von weltlicher Obrigkeit gestützt wird. (§ 37). 304 Thomasius: Ob Ketzerei ein strafbares Laster sei, S. 263. 305 Ebd., S. 243; ders.: Vom Recht evangelischer Fürsten, S. 327. 306 Thomasius: Ob Ketzerey ein strafbares Laster sei, S. 203; ders.: Vom Recht evangelischer Fürsten, S. 327.



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von Nicäa bis zur zeitgenössischen Praktik des Religionseids, Ausgangspunkt des Protests auch für Dippel und Arnold, gründet Thomasius im Machtwillen einzelner Geistlicher, die die weltliche Obrigkeit instrumentalisierten und die Praxis der Verketzerungen damit überhaupt erst hervorriefen.307 Diese zunächst historische Nähe wird von anthropologischen Bezügen flankiert. Anthropologisch differenziert Thomasius zwischen dem Verstand und dem Willen und gelangt im Problemkomplex des Glaubens zu einer bis in die Begriffe ähnlichen Differenzierung zwischen einem Glauben des Verstandes und einer Ausrichtung des Willens, der mit den Affekten, dem Herzen und der Liebe verbunden ist. Der umkämpfte Begriff des seligmachenden Glaubens wird bei Thomasius wie bei Dippel als bloßer Hirnglaube analysiert, als Werk des Verstandes und nicht des Willens. Die auch bei Dippel problematisierten Begriffe der Orthound Heterodoxie übersetzt Thomasius als Meinung oder sogar als Einbildung, womit die vermeintliche Rechtgläubigkeit als zu glaubende »Einbildungen des Verstandes«308 charakterisiert wird. Dippel und Thomasius verbindet damit das Wortfeld der »rechten Meinung« als deutsche Übersetzung der »Ortho-doxie«, das in spielerische Opposition zur Orthopraxie, des rechten Tuns gebracht wird. Genau wie Dippel desavouiert Thomasius den Anspruch des Athanasianischen Glaubensbekenntnisses, die ewige Seligkeit an ein positives Bekenntnis zur Dreifaltigkeit zu binden, da es sich bei diesem Bekenntnis um eine Sentenz des Verstandes handelt und folglich das Gehirn betrifft, nicht das Herz.309 Demgegenüber setzt Thomasius auf die zentrale Bedeutung der Ausrichtung des Willens als der praktischen Gestaltung des Lebens. Thomasius’ Einleitung zur Sittenlehre und die Ausübung der Sittenlehre waren bereits 1692 und 1696 erschienen und hatten das Wesen des Menschen weniger in der Vernunft als im Willen bzw. in der Liebe verortet und den Weg zur Gottesliebe über den Weg der Menschenliebe

307 Thomasius: Vom Recht evangelischer Fürsten, S. 333 u. 350. Ausführlicher als Dippel verfolgt Thomasius die politischen Verflechtungen zwischen weltlicher und geistlicher Obrigkeit sowie die machtpolitischen Implikationen in der Stilisierung der Ketzerei zum Teufelsbund und zum todeswürdigen Verbrechen. (Thomasius: Vom Recht evangelischer Fürsten, S. 348 ff.). Im Jahr 1701 disputierte dann Johann Jacob Reich unter Thomasius über De crimine magiae/Über die Hexenprozesse, die jenen ›Spezialfall‹ der Ketzerei unter Rückgriff auf Friedrich von Spees Cautio Criminalis zu beenden hilft. Ausführlich zu Bezügen und Differenzierungen zwischen Thomasius’ Eruierung des Ketzer- und Hexenproblems Rolf Lieberwirth: Einleitung. In: Christian Thomasius: Über die Hexenprozesse Hg. v. Rolf Lieberwirth, Weimar 1967, S. 13–30, hier S. 17 f. 308 Thomasius: Ob Ketzerei ein strafbares Laster sei, S. 242. Vgl. parallel dazu Dippels Definition der Vernunft als »würckende Einbildungskraft«: Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 411. 309 Thomasius: Ob Ketzerei ein strafbares Laster sei, S. 243; vgl. Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 419.

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

gezeichnet.310 Diese Aufwertung der ethischen Praxis wird in den Ketzereidiskurs zu einem Beharren auf der alleinigen Bedeutung des rechten Tuns verlängert, neben dem das konfessionelle oder religiöse Bekenntnis sekundäre Bedeutung erhält. De facto trifft sich Thomasius’ Ethik mit Dippels Primat des christlichen Liebesgebots in ihrer gemeinsamen Desavouierung der Konzepte von Ortho- und Heterodoxie bzw. Rechtgläubigkeit und Ketzerei. Thomasius’ Argumentation unterscheidet sich von Dippels in ihrer Abstinenz von mystischen Denkfiguren wie dem inneren Wort oder der Überwindung des Eigenwillen, auch ist ihr Dippels Christus-Zentriertheit fremd; an deren Stelle tritt dagegen bei Thomasius das Naturrecht. Dennoch reagieren beide, Dippel wie Thomasius, auf dasselbe gegnerische Argumentationsmuster, das den (rechten) Glauben vor der Liebe privilegiert.311 Beide Analysen treffen sich im Schluss, dass eine solche Argumentation die Dynamik des Religionsstreits lediglich befeuert. Auch im Hinblick auf den zeitgenössischen pietistischen Diskurs über Mission und Bekehrung treffen sich Dippels wie Thomasius’ These vom Primat des Liebesgebots vor äußerer Bekehrung.312 Maßgeblich für den pietistischen Diskurs hatte Philipp Jakob Speners epochal wirkendes Reformprogramm Pia desideria (1675) die Hoffnung auf Besserung der Kirche mit dem Gedanken einer möglichen Bekehrung der Juden und Heiden sowie dem Fall des päpstlichen Roms verbunden.313 Im Zuge der chiliastischen Naherwartung gewann unter Pietisten die Erwartung einer Bekehrung der Juden, des Falls des Katholizismus und die Mission von Heiden und Türken zusehends drängende, nämlich endzeitliche

310 Werner Schneiders: Vorwort. In: Christian Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre. Hg. v. dems. Hildesheim 1995, S. V-XI, hier S. IX; Pott: Thomasius’ philosophischer Glaube, S. 235; umfassend Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim/New York 1971. 311 Der Streit um Liebe versus Glauben ist ein zeitgenössischer Topos im Kampf gegen den Spiritualismus. Vgl. Bücher: Lutherus Anti-Pietista, 32: »Der Glaube / nicht die Liebe ergreiffet Christum. […] Wiedertäuffer und andere Rotten=Geister preisen hoch die Liebe und zerstören den Glauben.« Dagegen bespricht auch Thomasius das Reizthema der konfessionalistischen Debatten, die Frage nach der unsichtbaren Kirche, positiv (Ob Ketzerei ein strafbares Laster sei, S. 228). 312 Ebd., S. 244. Am Beispiel eines Konvertiten spezifiziert er: »Er ändert sein Leben nicht im geringsten / sondern er ändert nur die Formul und Bekäntnis seines Mundes.« Vgl. dazu Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 439: »[…] die auf den Weg des Friedens in Jesu Christo erfunden werden, und in wahrer Buß und Verleugnung stehen, werden wohl einander verstehen und einig bleiben, in dem Einen, ohne vorgeschriebene Form. Der übrige Haufe kommt durch die neue Form nicht in ein neu Leben.« 313 Spener: Pia Desideria, S. 40 f.



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Relevanz.314 Die Haltung gegenüber Andersgläubigen differierte zwar zwischen Vertretern der Orthodoxie und Pietismus, doch gaben beide Seiten den Anspruch auf Wahrheitsexklusivität weitgehend nicht auf: Während die Spätorthodoxie auf die Bekämpfung von Ketzern und die Unterdrückung der Juden setzte, hoffte Spener auf die Bekehrung von Juden und Heiden und die Überwindung der konfessionellen Spaltung durch den Fall des Katholizismus vor dem jüngsten Tag.315 Einzelne, tatsächlich erfolgte Konversionen zum Christentum regten die Textproduktion weiter an, die eine Bekehrung von »Türken«, Heiden und »Moren« als Zeichen für das kommende Gottesreich deuteten. So beschrieb etwa der offenburgische Hofprediger Conrad Bröske (1660–1713), der um die Jahrhundertwende auch Dippels Gegner in einer literarischen Fehde werden sollte, die Taufe eines türkischen Mädchens in Offenbach 1694 als eschatologisch bedeutsames Anzeichen für die nun eintretende Bekehrung der Heiden.316 In diesem innerlutheranischen Kontext steht Dippels Analyse des Gewaltpotenzials von Zwangsbekehrungen direkt neben Thomasius’ aufklärerischem Blick auf deren machtpolitische Einbettung und theologische Unsinnigkeit: Wenn einer vom Pabstthum / vom Jüdenthum / oder vom Türckischen Glauben zu uns übergehet / so heißet er ein Bekehrter. Er ändert sein Leben nicht im Geringsten / sondern er ändert nur die Formul und Bekäntnis des Mundes. Oeffters verstehen solche Leute nicht einmal die Wort nach der Grammatica (ich rede aus eigener Erfahrung) die sie auswendig gelernet. Und doch schämet man sich nicht / auff öffentlicher Cantzel Gott zu danken / daß

314 Ein Überblick über die Haltung der Pietisten zu Vertretern anderer Religionen in Johannes Wallmann: Der alte und der neue Bund. Die Haltung des Pietismus gegenüber den Juden. In: Lehmann (Hg.): Glaubenswelt und Lebenswelten, S. 143–165; Hermann Wellenreuther: Pietismus und Mission. Vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Ebd., S. 168–193. 315 Wallmann: Der alte und der neue Bund, S. 144 u. 146. Weiterführend zu pietistischem Chiliasmus Heike Krauter-Dierolf: Die Eschatologie Philipp Jakob Speners. Der Streit mit der lutherischen Orthodoxie um die ›Hoffnung besserer Zeiten‹. Tübingen 2005, S. 145 ff.; Johannes Wallmann: Pietismus und Chiliasmus. Zur Kontroverse um Philipp Jakob Speners ›Hoffnung besserer Zeiten‹. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Tübingen 1995, S. 390–421; zur langen Vorgeschichte der Verbindung von Chiliasmus, Judenbekehrung und der Deutung des Islam als apokalyptischer Erscheinung der Endzeit ders.: Die Eigenart der Straßburger lutherischen Orthodoxie im 17.  Jahrhundert. Apokalyptisches Endzeitbewußtsein und konfessionelle Polemik bei Johann Conrad Dannhauer. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, S. 87–104. 316 Conrad Bröske: Hochgräfl. Hofprediger zu Offenbach am Mayn, In einer Predigt […] Vorgestellt […] zum Theil erfüllete und noch zu erfüllen bevorstehende Bekehrung der Heyden, samt einer ausführlichen Erzehlung der am selbigen Tage zu Offenbach einer Türcken-Taufe, als einer gebohrnen Türkin, die Hl. Taufe mitgetheilet worden. Offenbach 1694. Ausführlich mit Schilderung des Hergangs und der publizierten Schriften Shantz: Between Sardis and Philadelphia, S. 93 ff.

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er einen ungläubigen oder Ketzerischen Menschen zum seligmachenden Glauben bekeh317 ret.

Inwieweit sich Dippel und Thomasius bis zum Jahr 1699 tatsächlich zur Kenntnis genommen haben und ob sich entsprechend von Einflüssen sprechen oder lediglich ein Diskurs konstatieren lässt, muss angesichts fehlender namentlicher Verweise offen bleiben. Namentlich belegen lässt sich jedoch die zeitnahe gemeinsame Hochschätzung eines Dritten, der die spiritualistische Problematisierung des Vernunftglaubens als Einbildung ins 18. Jahrhundert tradiert: Pierre Poiret. Während Poirets Buch von der dreifachen Bildung für Thomasius’ Differenzierung von Herz- und Hirnglaube eine wichtige Inspiration gewesen ist und noch in der Dissertation über Ketzerei zitiert wird,318 empfielt Dippel fünf Jahre später seinen Lesern Thomasius’ Ausgabe von Poirets Buch in den wärmsten Worten zur Lektüre.319 Was Dippels Ansatz trotz der Parallelen zu Thomasius vom aufklärerischen Diskurs unterscheidet, ist die starke Akzentuierung einer verallgemeinerten, geradezu typologisch durchdachten psychologischen Dynamik unter den Verketzerungsdiskursen in Frühchristentum und Früher Neuzeit. Auch argumentiert Dippel im Gegensatz zu Thomasius wesentlich polemischer: Das Konzept des Juden- und Heidentums ist in anderen Schriften aus demselben Jahr 1699 durchaus noch präsent, nur bezieht es sich dort auf Vertreter der Amtskirche.320 Mit der über Weigel oder Poiret ermöglichten Dekonstruktion des dogmatisch verfassten Lehrwissens als »Einbildung« des Verstandes unterminierte Dippel zwar den kirchlichen Anspruch auf Heilsexklusivität auf eine ähnlich radikale Weise wie Spinoza im Theologisch-politischen Traktat die Singularität der Juden als Volk Gottes in Frage gestellt hatte.321 Allerdings gelangt er nicht zu einer grundlegenden Trennung von Offenbarung und Vernunft außer in Bezug auf die historische Rede von Offenbarungen. Damit weist seine Argumentation ein Bewusstsein um die unterschiedliche Enkulturation religiösen Offenbarungswissens auf, das sich direkt an sein Verständnis der Texte des Hermes Trismegistos und Jakob Böhmes rückbinden lässt.

317 Thomasius: Ob Ketzerei ein strafbares Laster sey, S. 244. 318 Ebd., S. 220. Spezifisch zu Poirets Buch von der dreifachen Bildung und der Dissertation über Ketzerei Pott: Thomasius philosophischer Glaube, S. 236 f. 319 Dippel: Weg=Weiser zum verlorenen Licht und Recht I, S. 787. 320 Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 252. 321 Baruch de Spinoza: Theologisch-politischer Traktat. Hg. v. Günther Gawlick. Hamburg 1994, S. 49 ff.



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Dippels Reflexion zur Entstehung von Ortho- und Heterodoxie versteht sich selbst als »theosophischer Entwurff«, und sie weist gerade in ihrer Analyse der psychologischen Dynamik unter der Konstruktion des religiös Anderen deutliche Bezüge zu Böhmes Reflexionen des Religionsstreits auf, wie sie u. a. in den Theosophischen Sendbriefen (1619–24) dargelegt sind. Böhmes Texte kennzeichnet ein komplexes Verhältnis zwischen Welt und Selbst, das über eine von seinen Nachfolgern vielfach praktizierte reine Weltablehnung hinausgeht.322 Nach Böhme macht erst das eigene Selbstverhältnis die Welt gut oder schlecht. Sie selbst erscheint mal als Fremde, wo der Mensch nicht daheim ist, mal als Ort der Offenbarung Gottes in jedem Stein und jeder Pflanze.323 Böhme reflektiert diese Differenz nicht wie Weigel mittels theoretischer Reflexionen als abhängig von der Rolle des Betrachters, doch lassen sich seine Schilderungen des eigenen Durchbruchserlebnisses aus den Theosophischen Sendbriefen mit Weigels theoretischer Reflexion in Verbindung bringen.324 Nach Böhme ist entscheidend, ob der Mensch aus seinem eigenen beschränkten Erkenntnisvermögen oder aus der Teilhabe am Geist Gottes heraus auf sie schaut.325 Entsprechend muss nicht die Welt bekämpft, sondern das eigene Selbst gelassen werden, da dieses dem dunklen Angst- bzw. Kontraktionsprinzip unterliegt. Die Vernunft ist nach Böhme diesem Selbst und damit dem Bereich des äußeren Menschen zugeordnet.326 Hier findet sich das Vorbild für Dippels Assoziation der Vernunft mit dem Eigenwillen und der Sphäre des ewigen Konflikts. Nach Böhme richtet die Vernunft nach Menschenurteil und ist beeinflussbar vom Ansehen der Welt, erfasst aber nicht den Sinn Gottes, denn, so Böhme, »er ist nicht in ihr.«327 Der Sinn erschließt sich nur von einem tieferen Ort jenseits der Gegensätze, den Böhme mit dem Begriff des Geistes umschreibt. Im Geist vermag der Mensch alle Dinge zu erkennen, bezeichnenderweise weiß dann aber nicht mehr er selbst, sondern

322 Zu einer nuancierten Differenzierung zwischen Böhme, Abraham von Franckenberg und Georg Gichtel Sibylle Rusterholz: Jakob Böhme und seine Anhänger. In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Hg. v. Helmut Holzhey et al. Basel 2001, S. 61–102, bes. S. 91 u. 100. 323 Böhme: Psychologia Vera, 39:1; De triplici vita hominis, 1:1; Mysterium Magnum, 2:6/7. 324 Böhme: Theosophische Sendbriefe, 12:7–11. 325 Böhme: Aurora, Vorrede: 98–104, 16:70 f. 326 Böhme: Theosophische Sendbriefe; 12:24. »[…] da die Vernunft nicht zur Thüre Christi durch Christi Geist in die Gelassenheit zu GOtt eindringet, sondern sie dringet aus sich selber, aus eigener Macht und Hoffart in einen andern Menschen«; Edel: Die individuelle Substanz, S. 129. 327 Böhme: Theosophische Sendbriefe, 12:22.

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

der Geist in ihm.328 Böhme evoziert hier ein klassisches Narrativ der Teilhabe, das Erkenntnis nicht an ein bestimmtes positives Wissen, sondern an ein Verstummen der Selbstheit bindet. Ein wesentliches Merkmal der Erkenntnis aus dem Geist ist nach Böhme die Erkenntnis der Mannigfaltigkeit göttlicher Offenbarungen, die jedem einzelnen »nach seinen Gaben«329 offenbart werden. Dieser Gedanke spielt bereits bei Böhme eine zentrale Rolle im praktischen Hinblick auf den Religionsstreit: Von Anfang der Welt her haben alle Propheten von Christo geweissaget, einer so, der ander anderst. Sie haben nicht alle einerley Rede in einerlei Forma geführet, sondern ein ieder, wie ihm der Geist GOttes in seiner seelischen, ewigen Constellation eröffnet hat, aber aus Einem Centro haben sie alle geredet. Also geschieht es noch heute. Die Kinder GOttes reden 330 alle aus Eröffnung des Geistes Christi, welcher ist GOttes, ein ieder nach seinem Begriff.

Mit diesen Worten bereitete Böhme geradezu die Folie, mit der die Texte des Hermes auch nach ihrer philologischen Spätdatierung als authentische religiöse Zeugnisse gelesen werden können. Gleichzeitig erlaubt die Differenzierung zwischen dem einen Geist und den vielfältigen »Begriffen« eine große Toleranz gegenüber formalen Differenzen. Denn GOtt führet keinen neuen oder fremden Geist in uns, sondern Er eröffnet mit seinem Geist unsern Geist als das Verborgene der Weisheit GOttes, welche in iedem Menschen lieget 331 nach dem Maß und auf die Art seiner innerlichen verborgenen Constellation. Ich richte niemand, und ist das Verdammen ein falsches Geschwätz. Der Geist GOttes richtet selber alle Dinge. […] Ich erfreue mich vielmehr der Gaben meiner Brüder. Ist es aber, daß 332 sie eine andere Gabe auszusprechen gehabt haben als ich, soll ich sie darum richten?

Die Erkenntnis aus dem Geist zeichnet sich nach Böhme gerade nicht durch faktische und rhetorische Gleichheit, sondern vielmehr durch eine wesentliche Übereinstimmung aus, die paradoxerweise jedem einzelnen eine individuelle Perspektive auf die eine Erkenntnis gewährt, die diesem jedoch nur dann zuteil wird, wenn er sich selbst in Gott verliert. Während die Vernunft Gleichheit über die

328 Ebd., 12:11, 12:17–19: »Noch war die äußere Vernunft immer das Contrarium, als nur zu Zeiten, wann der Morgenstern aufging [ein Durchbruchserlebnis stattfand], da ward die Vernunft mit entzündet und tanzte mit, als hätte es sie ergriffen.« »[…] und ich kann mir in Wahrheit nichts zuweisen, daß meine Ichheit etwas wäre oder verstände«. 329 Ebd., 12:11. 330 Ebd., 12:33. 331 Ebd., 12:26. 332 Ebd., 12:35.



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Identifikation mit der Form von Glaubensaussagen sucht, ermöglicht der Geist die Erfahrung einer Einheit im Sein, unabhängig von äußerer Form. Umgekehrt bedeutet weder Diversität noch Einheit der Form automatisch Teilhabe am Geist. Diese bleibt an Kriterien gebunden wie ein demütiges Herz, Selbstlosigkeit, Sorglosigkeit, vollständigen Frieden, und  – in einer bemerkenswerten Elaboration der Gott-Mutter Metaphorik – eine vollständige Hingabe an den Geist Christi als den Geist einer Mutter.333 Der Geist der Mutter ist im Sprachgebrauch der Zeit die Sophia, und noch Dippel zitiert in diesem Punkt den Satz aus dem apokryphen Buch der Weisheit, die Weisheit sei einig, mache jedoch ihre Werke mannigfaltig.334 Die friedvolle Ergebenheit in Gott ist nach Böhme die Frucht, an der man nach Lk 6,44 den Christen erkennen möge, da mit dem Wegfall des Selbst zugleich der Streit mit der Welt endet. Damit werden Zeremonien und Kulthandlungen in Bezug auf ihre identitätsstiftende Bedeutung relativiert: Es lieget nicht daran, was einer für Zeremonien und Gebärde gebrauche. Ein ieder arbeitet in seinem Werke und Gaben aus seiner Constellation und Eigenschaft, aber alle aus einem Geiste getrieben und geführet, sonst wäre GOtt endlich und meßlich, wenn die Gaben einerlei wären. Aber Er ist ein eitel Wunder. Wer ihn ergreifet, der geht in seinen Wundern 335 einher.

In Böhmes Argumentation sind die entscheidenden Punkte von Dippels Reflexion der Ortho- und Heterodoxie bereits vorhanden. Auch die Ansätze zur Veror-

333 Ebd., 12:37–45. Die Mutter-Metaphorik ist schillernd. Einerseits verwendet Böhme sie in einem traditionellen Vergleich zwischen der Ergebenheit in Gott mit der Bindung eines Kindes an die Mutter. Andererseits evozieren seine charakteristischen Ausführungen die Sophien-Metaphorik in ihrem Oszillieren zwischen Christus und Sophia. »Wir müssen aus aller Vernunft wieder in die Gelassenheit in unserer Mutter Schoß eingehen und alles Disputieren fahren lassen, auch unsere Vernunft ganz wie tot machen, auf daß der Mutter Geist eine Gestalt in uns bekomme und in uns das göttliche Leben aufblase, daß wir uns in der Mutter Geist in der Wiege finden, wollen wir von Gott gelehret und getrieben sein. […] Ein wahrer Christ hat mit niemand Streit, denn er stirbet in der Gelassenheit in Christo allem Streit ab. Er sorget nicht mehr für den Weg zu Gott, sondern er ergiebet sich in die Mutter als in Christi Geist, was der immer in ihm machet, das gilt ihm gleich.« (Böhme: Theosophische Sendbriefe, 12:39/44) Vergleichbar spricht Gottfried Arnold nur ein Jahr nach Dippels Schrift zur Ortho- und Heterodoxie über die göttliche Sophia: Gottfried Arnold: Das Geheimnis der göttlichen Sophia. Leipzig 1700 (ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1963), S. 99. Weiterführend zur Sophien-Thematik bei Böhme Ferdinand van Ingen: Die Jungfrau Sophia und die Jungfrau Maria bei Jakob Böhme. In: Garewicz/Haas (Hg.): Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jakob Böhmes, S. 147–164; sowie Roland Pietsch: Jacob Böhmes Lehre von der göttlichen Weisheit und von der himmlischen Jungfrau Sophia. In: Oberlausitzsche Gesellschaft (Hg.): Erkenntnis und Wissenschaft bei Jakob Böhme, S. 35–51. 334 Ws. 7, 27; Dippel: Fatum fatuum II, S. 74. 335 Böhme: Theosophische Sendbriefe, 11:41.

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tung des Hermes in seiner Argumentation konnte Dippel bei Böhme finden. Da Böhme wie bereits Eckhart und Weigel Gott jenseits der sich sukzessiv entfaltenden Zeit denkt, ist Erkenntnis prinzipiell zu jedem Zeitpunkt gleich nahe,336 und damit wird die Hinterfragung des dogmatisch sanktionierten Narrativs einer historischen und lokalen Ausschließlichkeit der biblischen Offenbarungen denkbar. Wenn die Seele in ihrer Tiefe immer in Gott und Gott in der Seele weilt,337 dann ist zum Christsein nicht ein bestimmtes historisches Wissen vonnöten, sondern die anthropologische Transformation in der Wiedergeburt, und während der Heide Hermes nach Dippels Verständnis ersteres nicht besitzen konnte, hatte er das zweite in bemerkenswerter Übereinstimmung zu Böhme beschrieben. Auch die praktischen Konsequenzen im Hinblick auf das Heil Andersgläubiger hat Böhme vor Dippel sehr ähnlich geschildert. In den 40 Fragen von der Seelen nennt Böhme die These, Juden, Türken und Heiden seien ohne Taufe von Gott verstoßen, auch wenn sie sich um Gottes Liebe bemühen sollten, eine interessengebundene Fiktion (»Phantasey und Babelisch geredet«).338 In Vom dreifachen Leben des Menschen rechnet Böhme mit der Bindung des Glaubens an »Meynungen« ab, die in der Konstellation der Topoi Dippels Argumentation vorzuprägen scheint und die in eine für Böhme ungewöhnlich deutliche und scharfe Sprache gekleidet ist: Ein frommer Heide könne ebenso selig werden wie ein Christ, nichts liege an Meinungen (Bekenntnissen), Glaube bestehe nicht in der Überzeugung von einem Sachverhalt (einer »Meinung«), sondern in der Ergebenheit in Gott. Diejenigen, die aus der Sünde ausgehen und ihre Seelenkräfte in Gott setzen, die sind nach Böhme in Christus, »und ob sie Türcken sind«. Vor Gott gilt kein Ansehen der Person, des Namens oder der Meinung, da er allein den Abgrund des Herzens suche.339 In Bezug auf Böhme gelesen erscheint Dippels Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie als Schrift einer Tradition, deren charakteristische Wis-

336 Ebd., 8:12: »Auch ist das Alte vor tausend Jahren im Lichte so nahe und leicht zu erkennen, als es heute geschiehet. Denn vor GOtt ist tausend Jahr kaum als für uns eine Minute oder Augenblick. Darum ist seinem Geiste alles nahe und offenbar, beides das Geschehene und das Zukünftige.« (Nach Ps. 90,4) 337 Böhme: Theosophische Sendbriefe, 4:6/7: »So wir dann wissen, daß GOtt wahrhafftig in uns ist und doch unserem irdischen Leben verborgen, so wissen wir, daß unsere Seele in GOtt ist und grünet in GOtt und der Leib im Regiment der Sterne und Elemente nach dem Quall dieser Welt. […] Sollen wir uns denn nicht freuen? Wer will uns von GOtt scheiden, so die Seele in GOtt stehet, da kein Tod noch Zerbrechen ist?« 338 Böhme: Psychologia Vera, 15:11; weiterführend Bonheim: Der Spötter Ismael und seine Kinder, S. 68. 339 Böhme: De triplici vita hominis, 11:82–91.



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sensfiguren sprachlich rationalisiert und publizistisch ästhetisiert, aber vor allem überhaupt im öffentlichen Disput fruchtbar gemacht werden.340 Im Kontext einer Böhmelektüre gewinnt Dippels Eröffnungsgedicht, die poetisierte Summe seiner ganzen Erörterungen, eine Komplexität, die gegenüber zeitgenössischen pietistischen Reformbestrebungen ebenso eine eigene Nuance formuliert wie gegenüber einer aufklärerischen Kritik am Ketzerbegriff. Ach merk es tolle Welt! Laß Meynung, Zanken, Fragen; Der Ketzer sitzt in dir, den magst du greiffen an und wann du ihn getödt, und in das Grab getragen so sollst du haben recht, vor Gott und jedermann. (V. 9–12)

Dippels Inversion des Häresiekonzepts geht über eine historische und diskursive Relativierung des Ketzerbegriffs hinaus, wie sie etwa Thomasius vornahm. Sie wendet auch die These von einer notwendigen Überformung des Anderen ins Eigene, wie sie noch in pietistischen Konzepten zur Juden- und Heidenbekehrung anklingt, in ihr Gegenteil. Der Ketzer ist in diesem Gedicht nicht mehr der Andere, weder der Schwärmer, noch der Türke oder Heide. Der Ketzer ist nicht einmal mehr der politische Gegner als Orthodoxer oder Ketzermacher, wie Dippel noch im Schlussgedicht zu Papismus Protestantium vapulans süffisant resümiert hatte.341 Der Begriff des Ketzers bezeichnet dagegen in Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie den äußeren Menschen, und zwar in jedermann. Aus dieser Psychologisierung des Ketzerbegriffs speist sich die grundsätzliche Relativierung jeder Form von Rechtgläubigkeit, da jede Lehre, ob ortho- oder heterodox, notwendig an das begrenzte Wissen des äußeren Menschen gebunden ist. Der Bezug zwischen dem Tod des inneren Ketzers und dem Rechtbekommen vor Gott und Menschen spiegelt eine vergleichbare Dynamik zwischen Selbstverhältnis und Welt wie sie auch Böhme kennt: Die Dynamik der Verketzerungen bzw. des Wunsches nach Rechthaben in der »Welt« steht in direktem Bezug zum psychologischen Treiben des Eigenwillen als Selbstbezogenheit oder, nach Böhme, zur Imagination ins dunkle Zorn- und Kontraktionsprinzip, das auch er als eigenen Willen im Gegensatz zum einigen Willen des Licht- und Liebeprinzips sieht. Dies ist der ›innere Ketzer‹, denn solange der Bezug zwischen der Selbstbezogenheit und dem Konflikt in der Welt nicht erkannt ist, so lange wird der Konflikt allein dadurch befeuert, dass alle Parteien unter dem Einfluss des Kontraktionsprinzips um Wahrheit dort kämpfen, wo sie nicht zu finden ist: in historisch

340 Böhme selbst bat nach seinen Erfahrungen mit Druckverbot und Anfeindungen dagegen noch um Anonymität und Diskretion (Theosophische Sendbriefe, 7:7/8). 341 Dippel: Papismus Protestantium vapulans I, S. 236.

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gewachsenen Dogmen, die als identitätsstiftende Sätze gedeutet werden. Indem jedoch der innere Ketzer, die Selbstbezogenheit, im mystischen Tod des Eigenwillen transzendiert wird, entfällt automatisch der Kampf mit der Welt: Nach dem Tod des Eigenwillen hat der Mensch vor Gott und Menschen »Recht« nicht weil er im Bereich der Glaubensbekenntnisse nun mit mehr Positionen übereinstimmen würde, sondern weil er seine Identität aus einer tieferen Ebene begründet erfährt als aus dem Bereich äußerer Besonderungen. »Du wirst der Wahrheits=Frucht genießen in der Still.« (V. 20) Das Motiv der Stille nimmt die alte Wendung des Sabbaths im Herzen auf, der Tranquillitas animi, deren vollkommene Ruhe erst die Stimme des inneren Christus bzw. inneren Wortes hörbar macht. Ebenso evoziert die Rede vom Genuss der Wahrheitsfrucht das traditionell mystische Wortfeld vom sinnlichen Schmecken göttlicher Freuden. Wie keine Einigkeit der Wahrheit könne stehen In einem Secten=Bild, durch Meynung aufgericht. Und wie des Herren Wind diß alles wird verwehen, Wann Zion steigt empor, und Babel gantz zerbricht. (V. 29–32)

Die parallel gefügten eschatologischen »Orte« Zion und Babel des letzten Verses beerben ebenfalls ein Konzept Böhmes und pragmatisieren es im Kontext des radikalpietistischen Diskurses um 1700 in einer Art, die wiederum eine eigenständige Nuance verrät. Dippels Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie entstand im Jahr 1699 im Kontext chiliastischer Hoffnungen auf das Kommen des Tausendjährigen Reichs im Jahr 1700,342 von denen er sich vorübergehend anstecken ließ.343 Er hatte Kontakt zu radikalen Pietisten wie Johann Heinrich Horch, Hochmann von Hochenau, Samuel König, Carl Anton Püntiner, Johann Wilhelm Petersen und über den Drucker Bonaventura de Launoy in Offenburg

342 Ausführlich und detailliert Hans Scheider: Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus um 1700. In: Jahrhundertwenden. End- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. v. Manfred Jakubowski-Tiessen et al. Göttingen 1999, S. 187–212; Shantz: Between Sardis and Philadelphia, S. 117 ff.; spezifisch zu Dippel Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 250 ff.; weiterführend Schmidt-Biggemann: Apokalyptik und Philologie, S. 141 ff. 343 Sein Vater berichtet im Verfahren vor dem Frankfurter Konsistorium am 2. März 1699, sein Sohn erwarte das Millennium für das kommende Jahr. Vgl. Diehl: Neue Beiträge, S. 158. Die Jahresangaben auf früheren Schriften Dippels wie Orcodoxia Orthodoxorum (1696) und Der vor dem Thron der Warheit angeklagte […] Beicht=Vater (1699) deuten ebenfalls auf die Erwartung einer kritischen Wendezeit um das »Wunder-Jahr« 1699 hin. Schneider: Die unerfüllte Zukunft, S. 187; ebenso Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 406.



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zum Hofprediger Conrad Bröske.344 Bröske hatte sich über die Visionen der englischen Philadelphierin Jane Leade, die Predigten Thomas Beverleys sowie seine eigene Lektüre biblisch apokalyptischer Literatur zu umfassenden Berechnungen anregen lassen, die das Kommen des endzeitlichen Gottesreichs zum Ende des 17. Jahrhunderts prognostizierten.345 In diesem Diskurs galt Babel als Synonym für die verdorbene Kirche, wobei Spener unter dem Begriff noch die katholische Kirche verstanden wissen wollte,346 die Radikalpietisten allerdings die protestantische Amtskirche. Zion dagegegen stand für die Sammlung der Frommen, und so konnte z. B. Hochmann von Hochenau die Stadt Frankfurt, Ort einer größeren Separatistengemeinde, als Zion sehen.347 Doch während die Pragmatisierung apokalyptischer Deutungsmuster im letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhundert einen eigenen Diskurs hervorbrachte, in dem biblische Motive wie der Fall Babels oder die Lokalisierung Zions auf zeitgenössische Ereignisse und Erwartungen übertragen wurden,348 hatte der Begriff »Zion« bei Böhme noch eine andere Bedeutung. Böhmes Theosophische Sendbriefe kommentieren das Beispiel jener, die all ihre Habe verkaufen, um nach »Zion« zu ziehen, in folgenden Worten: Anlangend etliche Personen eurer Nachbarschaft, davon ihr meldet, welche alles zu Geld machen und dem vermeineten Zion zulauffen, hielt ich es für rathsamer, sie blieben daheim, dann Zion muß in uns geboren werden. […] Das muß durch ernste Buße und herzliches Einergeben geschehen. Das können sie wol daheimen und an ihren Orten tun. Deme 349 sie gedencken zu entfliehen, darein werden sie lauffen.

Böhme selbst distanziert sich von endzeitlichen Zukunftsprognosen, bestimmt aber Zion paradoxerweise als bereits existent. »Zion« steht bei Böhme für das zeitliche Paradox einer bereits vergangenen Zukunft, die nicht durch Ortsveränderung erreicht, sondern durch Introspektion gefunden wird.

344 Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 250 f.; Shantz: Between Sardis and Philadelphia, S. 190 u. 195 f. Bröske hatte als Zensor Dippels Wein und Öl erst mit ein paar Korrekturvorschlägen zum Druck akzeptiert und anschließend auf Druck des Konsistoriums in Darmstadt das Publikationsverbot für Dippel umzusetzen versucht. 345 Johann Hermann Bröske: Das Ende der Welt, Oder Daniels Zeit-Register von Cores an biß auff das herrliche Reich Christi in dem Neuen Jerusalem. Auß der Zeit-Rechnung eines Englischen Gottes-Gelehrten zusammen gezogen. Offenbach 1693; zit. n. Shantz: Between Sardis and Philadelphia, S. 136. Weiterführend ebd., S. 138 ff. 346 Krauter-Dierolf: Die Eschatologie Philipp Jakob Speners, S. 228 f. 347 Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 251; Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 419; zu Hochmann ebd., S. 418; Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, S. 124 ff. 348 Krauter-Dierolf: Eschatologie Philipp Jakob Speners, S. 145 ff. 349 Böhme: Theosophische Sendbriefe, 12:47/48

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Daß aber der Hl. Geist in der Gläubigen Herzen werde in Zion sein, bekenne ich und weiß es, denn Zion wird nicht von außen sein, sondern im neuen Menschen. Es ist schon geboren. Wer das suchen mag, der suche sich nur selber und gehe von dem alten Adam aus in ein neu Leben, er wirds finden, ob Jesus in ihm geboren sei. Findet er das nicht, so gehe er nur in sich, so wird er Babel und ihre Wirkungen in sich finden. Die muß er zerbrechen und in GOttes Bund treten. So wird Zion ihm offenbar werden und wird mit Christo im finstern Stalle geboren werden, nicht in Jerusalem, wie die Vernunft gerne wollte. […] Daß aber in den vierhundert Jahren werden güldene Wesen sein, davon weiß ich nichts, ist mir nicht 350 offenbaret.

Böhmes Psychologisierung der Konzepte Zion und Babel liest sich wie ein Prätext zu Dippels Eröffnungsgedicht von Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie. Zwar kennt auch Böhme den Begriff »Babel« für die innerkirchlichen Streitereien, doch bezeichnet der Begriff hier den innerpsychischen Aspekt des Menschen, der am Bereich der zwei gegensätzlichen »Reiche« Gottes, dem ewigen Streit widersprüchlicher Qualitäten, teilhat, in den der äußere Bereich der Seele ebenso hineinverflochten ist wie die Gesamtheit der sichtbaren Welt. Die Erfahrung dieses Bereichs der Widersprüche ist nach Böhmes Kosmologie Kennzeichen des Sündenfalls,351 und nur so erklärt sich seine Skepsis gegenüber der Möglichkeit, »Zion« physisch entgegenzuziehen oder letztgültige Wahrheiten im ephemeren Bereich sich historisch wandelnder Formen zu finden, der überhaupt erst als Ausdruck der Aktivität des dunklen Zorn- oder Kontraktionsprinzips entstand. Nach Böhmes Kosmologie wird aller Streit auch in Glaubensdingen als Ausdruck des Spiels konträrer Kräfte lesbar, an dem der Mensch nach dem äußeren oder adamitischen Menschen teilhat. Deshalb kann »Babel« nach seiner Einschätzung weder durch Flucht noch durch äußeren Kampf, sondern charakteristischerweise nur im Innern überwunden werden. Auch »Zion« beschreibt bei Böhme weder eine zeitliche noch eine endzeitliche Stadt, sondern ein innerpsychisches Geschehen, das dem »Zerbrechen Babels« folgt: Die Metapher der Geburt Christi im finsteren Stall bzw. das Finden der vergangenen Zukunft deutet auf das alte Ziel der Gottesgeburt im Herzen, die für einen wiedergeborenen oder transformierten Seelenzustand steht, der sich u. a. darin manifestiert, dass er den Bereich der widersprüchlichen Qualitäten (»Babel«) transzendiert und damit konfliktfrei ist. Neben Böhme beschreibt ein weiterer von Dippel zitierter Text die dimensionale Differenz zwischen einer konflikthaften Unbeständigkeit der Formen und der Einheit des Seins: Der hermetische Traktat von der Wiedergeburt teilt mit Böhmes »Zion« nicht nur die Motive der A-Lokalität und das Paradox der Zeit,

350 Ebd., 8:25/26, weiterführend 8:27–59. 351 Böhme: Mysterium Magnum, 18:31.



Anthropologie, Religionskritik und Toleranzfrage

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sondern er schildert auch analog zu Böhmes »Zerbrechen Babels« den Transformationsvorgang als Durchschreiten einer Sphäre negativer Seelenkräfte, deren Überwindung schließlich in der Wiedergeburt gipfelt.352 Im hermetischen Text wird diese Sphäre an den Tierkreis gebunden, und auch Dippel bestimmt in den Eingangsworten zu Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie die zeitgeschichtlichen Kämpfe als Resultat des Falls, den er als Abweichung der menschlichen Natur »aus ihrem centro« und als »Einfluß der Elementen, und Kräfften der Sternen« beschreibt.353 Das Zentrum oder der Ursprung, in dem sich Anfang und Ende wieder finden,354 bezeichnet dagegen eine Sphäre der Einheit jenseits »des Gestirns«, die in einer dimensionalen Differenz paradoxerweise im Seelengrund jedes einzelnen Menschen immer (unerkannt) präsent, jedoch ohne Wiedergeburt des Einzelnen unverfügbar bleibt. Dippels Analyse der Dynamik von Ortho- und Heterodoxien besitzt in ihrem Anschluss an Böhme und die hermetischen Texte eine eigenständige Nuance im pietistisch-chiliastischen Diskurs. Sie ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit des Ausdrucks im Glauben nach dem Vorbild der Apostel, und hierin ist sie kompromisslos gegenüber orthodoxen Normvorstellungen.355 Die Schrift endet mit einem Aufruf zum Auszug aus »Babel« in charakteristisch oszillierender Begrifflichkeit. Der Auszug aus Babel ist einerseits unverkennbar auf die als reformresistent wahrgenommene Amtskirche bezogen, andererseits gilt »Babel« aber auch als Teil der eigenen Seele, dem nicht einfach zu entfliehen ist. Die poetische Leseransprache ist daher nur konsequent: Nicht auf sich selbst oder auf eine alternative Heilsordnung will der Text die Aufmerksamkeit der Leser lenken, sondern auf Christus als inneren Führer in einem jeden (»Das Wort ist auch in dir«, V. 14).356

352 CH XIII, 7–10. (CHD I, S. 178 ff.). 353 CH XIII, 12 (CHD I, S. 181); Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 407. 354 Dippel: Wein und Öl in die Wunden des gestäupten Papstthums I, S. 339. In der Tradition des spiritualistischen Wortgebrauchs belegt Dippel diesen »Ort« mit dem Begriff des Reiches Gottes: »GOTT in dem Reich seiner Gnade […] welches inwendig in uns ist …« (S. 345). 355 Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 442: »Auch folgte keiner des andern Schreibart nach […]. Und wann Paulus seinem Timotheo befiehlet, daß er bei der Form der gesunden Lehr […] bleiben soll, so will er eben nicht haben, daß er ihm, wie ein Papagey, einerley Wort soll nachschwätzen, sondern er soll den Schatz des Evangelii, durch andere unnütze Fragen, nicht verdunckeln«. 356 Ausführlicher Dippel: Anfang, Mittel und Ende I, S. 442: »Von solchem Babel […,] sondert euch ab und gehet aus […]. Aber bittet dabey euern Heyland, daß er euch den rechten Weg führen wolle […,] damit ihr nicht, wann ihr vermeinet ausgegangen zu seyn, das schlimmste Babel noch in euch selbst mit herumtraget«.

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

Aus diesem spiritualistischen Wissenshorizont heraus entwickelt Dippel eine Reflexion des Anderen und des Eigenen, die für die Aufklärung anschlussfähig ist. Von Franck und Weigel über Böhme zu Dippel und über diesen hinaus entfaltet sich ein Bewusstsein um die kulturelle Spezifizität religiöser Begrifflichkeit und damit um die unterschiedliche Enkulturation religiösen Wissens. Böhmes Seelenbegriff bietet Dippel die Folie, um religiöse Diversität zu denken, die nicht in einen orthodoxen Wahrheitsbegriff münden muss. Das Beispiel des Heiden Hermes Trismegistos zeigt, dass es unterschiedliche Wege zum Heil gibt, da Gott sich vielfältig offenbart. Im Jahr 1723 musste Christian Wolff (1679–1754) auf Druck der Pietisten seinen Lehrstuhl in Halle bei Strafe des Strangs verlassen, nachdem er in einer Vorlesung über die Chinesen die These vertreten hatte, dass auch Heiden tugendhaft sein könnten. In der Aufklärungsforschung gilt dieses Ereignis als ein markantes Datum.357 In Bezug auf dieses Ereignis dürfte es signifikant sein, wie bereits 1699 aus einem radikalpietistischen, hermetisch geprägten Verständnishorizont heraus Juden, Muslimen und Heiden nicht nur Tugend, sondern sogar der seligmachende Glaube zugesprochen wird, wenn diese – ohne Konversion! – ihre eigenen geistlichen Wege im Sinne einer Hingabe an das verfolgen würden, was das spätere 18. Jahrhundert dann die unsichtbare Religion genannt hat.358

3. Sozialkritik und Utopie: An­dreaes Christianopolis (1619), Dippels Christen= Stadt auf Erden (1699) und Ein Hirt und eine Heerde (1705) Jede Dekonstruktion von »Wahrheit« sowie jede Kritik an Tradition und singulärer Deutungshoheit reflektiert ab einem bestimmten Punkt die Frage nach geistlichen und weltlichen Hierarchien. Dieses Nachdenken über gesellschaftliche Hierarchien, die Berechtigung der Ständeordnung und die prinzipielle Gleichheit aller Menschen sind Themen der philosophischen Aufklärung, insbesondere in ihrem radikalen, spinozistisch geprägten Flügel.359 Die Infragestellung der biblischen Offenbarung impliziert die Hinterfragung göttlich legitimierter Gesetze

357 Gerhard Sauder: Vollkommenheit. Christian Wolffs Rede über die Sittenlehre der Sineser. In: Aufklärung als praktische Philosophie. Hg. v. Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1998, S. 317–334. 358 Historisch Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München Wien 1998; theoretisch Jan Assmann: Unsichtbare Religion und kulturelles Gedächtnis. In: 3 Ders.: Religion und kulturelles Gedächtnis. München 2007, S. 45–61. 359 Israel: Enlightenment Contested, S. VIff.; ders.: Radical Enlightenment, S. 6 u. 157 ff.



Sozialkritik und Utopie

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und Institutionen, die Forderung nach Ausrichtung der Politik auf das Leben im Diesseits unterminiert Ansprüche auf geistliche Vermittlungshoheiten, und die Entdeckung einer als göttlich empfundenen Wahrheitsinstanz in der eigenen Seele lässt den Glauben an die Erbsünde und institutionell verfasste Heilsexklusivität verblassen.360 Diese Hinterfragung von Autoritäten in Kirche und Staat gilt auch als eines der Differenzierungskriterien zwischen gemäßigtem und radikalem Pietismus.361 Dippel gehört zu den offensten Kritikern unter den Pietisten, der mit einer geradezu schmerzhaften Direktheit und ›Radikalität‹ die strukturellen Problemkreise um die Verflechtung von Glauben und Institutionen adressiert. Im Unterschied allerdings zu den Autoren der Radikalaufklärung speist sich Dippels frühe Kritik methodisch noch aus einem versierten Biblizismus. Dippel hat vor allem in zwei Texten direkt zum Problem der kirchlichen und weltlichen Hierarchien Stellung genommen, in Die Christen=Stadt auf Erden 362 (1699), die noch im Kontext der chiliastischen Bewegung entstand, sowie in Ein Hirt und eine Heerde363 (1705), die als Fortführung der Reflexion aus Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie zur Debatte um die Möglichkeit konfessioneller Einigkeit praktisch Stellung nimmt. Beide Texte machen die Umdeutung des christlichen Narrativs im Hinblick auf praktische gesellschaftliche Fragen fruchtbar. Dippels Christen=Stadt entstand in Abgrenzung zu Speners Der Klagen über das verdorbene Christenthum Mißbrauch und rechter Gebrauch, gegen dessen ausgleichende Position in der ›Ämterfrage‹ sich Dippel, trotz seines Respekts für Speners Person, abgrenzte.364 Seine Grenzziehung beruhte auf der Beobachtung, dass Spener bei Menschen, die über sein frommes Leben noch gelästert hatten, nun selbst zum »Papst« und »oraculum« wurde, sobald sich dadurch eigene Pfründe sichern ließen.365 Entsprechend nimmt die Erörterung einer Vereinbarkeit von ›wahrem Christentum‹ und besoldetem Amt in Dippels Christen=Stadt breiten Raum ein. In ihrer tabulosen Direktheit bildete sie den Ausgangspunkt

360 So besorgt konstatiert von einem Gegner der spinozistischen Radikalaufklärung, Freiherr Veit Ludwig von Seckendorff (1626–92): Christen=Staat. 2 Bde. Leipzig 1693, Bd. I, S. 12, zit. n. Israel: Radical Enlightenment, S. 5. 361 Johannes Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. Tübingen 1993, S. 143. 362  Dippel: Christen=Stadt auf Erden ohne gewöhnlichen Lehr=, Wehr= und Nehr=Stand (1699), Bd. I, S. 515–555. 363 Dippel: Ein Hirt und eine Heerde: oder Unfehlbare Methode Alle Secten und Religionen zur einigen wahren Kirch und Religion zu bringen und ohne einigen Syncretismo beständig zu vereinigen […], Bd. I, S. 1061–1101. 364 Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 551 ff. 365 Ebd., S. 553.

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einer fast zweijährigen publizistischen Fehde mit Conrad Bröske. Dippels Ein Hirt und eine Heerde entstand sechs Jahre später in Berlin, nachdem der preußische König Friedrich I. den Pietisten weitgehend Gewissensfreiheit zugesichert hatte. Dippel verfasste sie als Reaktion auf das Schreiben des zum Katholizismus konvertierten Pietisten Johannes Baptist Grophius (1700), der nicht nur Dippel rekurrierend für Positionen zitierte, die dieser nie vertreten hatte, sondern den Religionsstreit auch dadurch lösen wollte, indem er die Pietisten einlud, zum Katholizismus zu konvertieren. Dippel parierte den Vorschlag des Neubekehrten, »der nicht weis, wo er zu Haus ist« und der seiner Ansicht nach »mit Ketzereyen wacker um sich blitzte«366 mit einem eigenen Vorschlag zur Befriedung der Konfessionen, der den Widerspruch des Theologieprofessors Albert Joachim von Krakevitz hervorrief, auf den Dippel wiederum schriftlich antwortete.367 Die Schrift brachte Dippel auch in der Forschung den Ruf ein, einer der ersten Kirchenverbesserer mit weitreichenden praktischen Zielen zu sein und ist als eine seiner besten überhaupt bezeichnet worden.368 Die Christen=Stadt auf Erden ist in der jüngeren theologischen Forschung dagegen »geradezu als eine Verfassung des Tausendjährigen Reiches« 369 gedeutet worden, die eine »Theokratie«370 unter Christus anstrebe. Richtig ist, dass beide Texte zeithistorisch konkrete politische Schlussfolgerungen aus der antiklerikalen Ausrichtung der spiritualistischen Tradition ziehen und dass insbesondere die Christen=Stadt auf Erden im Kontext der radikalpietistischen Naherwartung einer Wiederkunft Christi für die Jahrhundertwende um 1700 entstanden ist. Sie thematisiert in vier Kapiteln Fragen nach dem Verhalten des Christen gegenüber der Obrigkeit, nach der Rechtmäßigkeit von Majestäten, nach Rolle und Aussehen von Arbeit und Besitz und nach der Rolle des Gebets. Um zur Gattung »Verfassung« gezählt zu werden fehlt ihr jedoch etwas Entscheidendes, nämlich eine eigene staatstheoretische Reflexion oder auch nur eine literarische Vision für

366 Dippel, Ein Hirt und eine Heerde I, S. 1066. Er bezieht sich auf die Schrift Wahrhafftiger und gründlicher Bericht, von der unter den Lutheranern neu entstandenen Secte, welcher der Pietismus, oder die Pietisterey insgemein genennet wird, aufgesetzt von einem vormals eiffrigen Lutheranern und Pietisten, jetzo durch die Gnade Gottes der ewigen Wahrheit herzlich ergebenen Catholischen Priester, Joh. Bapt. Grophio, a Kayserstieg, Comire Palatino Caesareo (Wien 1700). 367 Dippel: Schild der Wahrheit, Gegen die nichtige Auflagen Hrn. Alberti Joachimi von Krackevitz I, S. 1135–1198; dazu Mahlmann: ›Die Rechtfertigungslehre ist der Artikel mit dem die Kirche steht und fällt‹, S. 171 ff. 368 Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 2, S. 279; Bender: Johann Konrad Dippel, S. 102. 369 Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 256. 370 Ebd., S. 254.



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zukünftige Formen des Zusammenlebens. Bis auf einen Aufruf zum Gebet bleibt sie unspezifisch in Handlungsanleitungen, akribisch jedoch in der Aufzählung zeithistorischer kirchenpolitischer Missstände und schonungslos in ihrer Reflexion der Verflechtung von weltlicher und geistlicher Macht. Es wäre demnach in einer erneuten Lektüre zu fragen, inwieweit die gesellschaftliche und politische Kritik der Christen=Stadt auf Erden gerade in ihrem apokalyptischen Referenzhorizont auch hermetisches Wissen fruchtbar macht, das wiederum in rationalisierter Form in die praktisch orientierten Vorschläge in Ein Hirt und eine Heerde überführt wird, wo es mit dem aufklärerischen Diskurs verschmilzt. Die Christen=Stadt auf Erden ist bislang vor allem theologisch als chiliastische Überspannung der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre gedeutet worden.371 Ihrer Titelgebung nach lässt sie sich jedoch auch kulturgeschichtlich in Bezug zur Utopietradition lesen, obwohl sie kein fiktionaler Text ist.372 Sie hat über die Dippelforschung hinaus vereinzelt Aufmerksamkeit aus der Utopieforschung erhalten:373 Ihr Titel erscheint als Pragmatisierung von Johann Valentin An­dreaes Christianopolis (1619), und sie entsteht im Kontext weiterer verschriftlichter Utopien und utopischer Lebensentwürfe im radikalen Pietismus um 1700.374 Die hiesige These lautet, dass sich von An­dreaes Christianopolis zu Dippels Christen=Stadt eine Pragmatisierung des Wissens um die Transformation der Seele beobachten lässt, in der der Wegfall der Fiktionalisierung sogar konstitutiv für das Praktisch-Werden dieses Wissens im Kontext konkreter, chiliastischer Hoffnungen ist. Dieses Wissen wird in Ein Hirt und eine Heerde nach dem Abklang

371 Ebd., S. 252 ff. 372 Zu gattungstheoretischen Definitionen und literarischer Utopietradition Götz Müller: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur. Stuttgart 1989, S. 7 ff.; Wolfgang Biesterfeld: 2 Die literarische Utopie. Stuttgart 1982. 373 Barbara Hoffmann: ›… daß es süße Träume und Versuchungen seyen‹. Geschriebene und gelebte Utopien im radikalen Pietismus. In: Lehmann/Trepp (Hg.): Im Zeichen der Krise, S. 101–127; Thomas Baumann: Zwischen Weltveränderung und Weltflucht. Zum Wandel der pie­tistischen Utopie im 17. und 18. Jahrhundert. Lahr-Dinglingen 1991, S. 131 ff. Zu Kontext und Fortschreibung durch Johann Friedrich Bachstrom als Christianus Democritus Redividus auch Müller: Gegenwelten, S. 90 ff. 374 Weitere pietistische Utopien um 1700 sind die anonyme Beschreibung eines verbesserten Fürsten=Staats (1699) sowie Die Stadt Gottes (1700). Baumann: Zwischen Weltveränderung und Weltflucht, S 69 ff. Zu gelebten Utopien und sozialen Experimenten, die gesellschaftliche Hierarchien wie Geschlechtergrenzen ignorierten Hoffmann: »…daß es süße Träume und Versuchungen seyen«, S. 115 ff.; dies.: Radikalpietismus um 1700. Der Streit um das Recht auf eine neue Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1996; allgemein zum pietistischen Chiliasmus Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 417; zur Christen=Stadt auf Erden ebd., S. 394 ff.; zu Chiliasmus und Endzeiterwartung im pietistischen Diskurs ebd., S. 400 ff.

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apokalyptischer Erwartungen in die weithin rationalisierten, politischen Vorschläge zur Kirchenverbesserung durch eine bewusste Personalpolitik überführt. Dippels Christen=Stadt auf Erden entwirft keine utopische Vision eines kommenden Gottesreichs, sondern sie reflektiert die Frage nach dem Ideal christlichen Lebens in einer rationalen und sprachlich nüchternen Analyse von Macht, Herrschaftsstrukturen und zeitspezifischen Missständen, die angesichts der – durchaus geteilten – religiösen Hoffnung auf eine Änderung der Zustände einschließlich eines Endes der Orthodoxie öffentlich diskutierbar werden.375 Inwieweit Dippels Analyse der Verflechtung von religiöser, politischer und wirtschaftlicher Macht dennoch einem »Absinken« hermetischer Wissensbestände geschuldet ist, die aus dem Bereich der fiktionalen Utopie in die konkrete Unmittelbarkeit der zeitgeschichtlichen Gegenwart geholt werden, zeigt die gattungsübergreifende Kontinuität der Kritikpunkte von An­ dreaes Christianopolis zu Dippels Christen=Stadt auf Erden ebenso wie ein vollständig gewandelter Zugriff auf ein und dieselben Texte der Tradition. Johann Valentin An­dreaes Christianopolis, die als »gattungsbildend« für die pietistische Utopie beschrieben worden ist,376 entstand nur fünf Jahre nach An­dreaes Rosenkreuzerschriften Fama Fraternitatis (1614) und Confessio Fraternitatis (1615) sowie drei Jahre nach der alchemistischen Erzählung Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreuz (1616) und damit in enger Nähe zu den hochfliegendsten Hoffnungen auf Erneuerung, die vom hermetischen Diskurs inspiriert worden sind. Erzählten die Rosenkreuzerschriften von der Existenz einer geheimen Bruderschaft zur Generalreformation der ganzen Welt, widmete sich die Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreuz der alchemistisch-allegorischen Schilderung eines Einweihungswegs.377 Im Vorwort der Christianopolis (1619) jedoch

375 Die Analyse der Christen=Stadt als Verfassung bzw. als ausführlicher Entwurf des Millenniums wurde insbesondere von Goldschmidt vertreten (Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 252 ff.) und von Shantz fortgeschrieben (Shantz: Between Sardis and Philadelphia, S. 190). Diese These ist leider in dem Punkt problematisch, als die Christen=Stadt auf Erden Weltveränderung nicht auf politischem Weg, sondern auf dem Weg der seelischen Transformation durch das Gebet sucht. Auch enthält sie keinen positiven Zukunftsentwurf, sondern kritisiert das Bestehende. 376 Baumann: Zwischen Weltveränderung und Weltflucht, S. 37 ff. 377 Weiterführend Sibylle Rusterholz: Alchemie und Dichtung. Johann Valentin An­dreaes ›Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz. Anno 1459‹. In: Morgen-Glantz 17 (2007), S. 85–114; Carlos Gilly: Johann Valentin An­dreae 1586–1986. Die Manifeste der Rosenkreuzerbruderschaft. Katalog einer Ausstellung in der Bibliotheca Philosophica Hermetica. Amsterdam 1986; ders.: Die Rosenkreuzer als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert. Hg. v. der Bibliotheca Philosophica Hermetica. Amsterdam 2002; Frances A. Yates: Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes. Stuttgart 1975.



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bezeichnete An­dreae, der von 1614 bis 1620 seine erste Pfarrstelle in Vaihingen an der Enz angetreten hatte, seine hermetisch geprägten Thesen der Fama Fraternitatis nun als »irreführenden Scherz« und die Rosenkreuzer als »Pestbeulen der Wissenschaft«.378 Obwohl die Christianopolis Zeit- und Religionskritik nach wie vor thematisiert, inszenierte An­dreaes literarische Utopie nun die Vision einer besseren Welt, indem sie sie sorgfältig durch mehrere Schichten der Fiktionalisierung schützte.379 Die Christianopolis steht gattungsgeschichtlich fest in der Tradition der literarischen Utopien von Thomas Morus’ Utopia (1516), Tommaso Campanellas La città del Sole (Der Sonnenstaat; 1623, ab 1612 als Manuskript in Deutschland) und Francis Bacons Nova Atlantis (Das neue Atlantis; 1624).380 Nur noch angedeutet wird, dass sich im Unterschied etwa zu Bacons Nova Atlantis die traditionelle Reiseallegorie, die Reise auf dem »Schiff der Phantasie« zur fiktiven Stadt auch noch auf den meditativen Reiseweg ins Innere der Seele beziehen lässt, für aufmerksame Leser also die en detail imaginierte ideale Stadt auch auf einen innerpsychischen Eu-topos abbildbar wird.381 Hermetik und Theosophie sind im Wissenshorizont der imaginierten Stadt präsent: Neben einem umfassenden Bildungsangebot in Mathematik, Naturwissenschaften und den freien Künsten existiert auch das Wissen der Kabbala und der geheimen Zahlen, um mit dem noch unverändert »Schlüssel Davids« die Ausmaße der Gottheit zu erschließen.382 Neben elaborierten Schilderungen zur Theologie als Königin der Dinge und »Herrin der Philosophie«383 existiert auch die Theosophie und eine stark are-

378 Johann Valentin An­dreae: Christianopolis. Hg. v. Wolfgang Biesterfeld. Stuttgart 1975, S. 11 u. 22; zur Biografie Martin Brecht: Johann Valentin An­dreae 1586–1654. Göttingen 2008. Zur Entwicklung von den Rosenkreuzern zu Christianopolis Roland Edighofer: Johann Valentin An­ dreae. Vom Rosenkreuz zur Pantopie. In: Daphnis 10 (1981), S. 211–239; Richard van Dülmen: Die Utopie einer christlichen Gesellschaft. Johann Valentin An­dreae (1586–1654). Teil 1. StuttgartBad Cannstatt 1978. 379 Dazu die Interpretation in Peter Kuon: Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung. Studien zum Gattungswandel der literarischen Utopie zwischen Humanismus und Frühaufklärung. Heidelberg 1986, S. 199 ff.; ergänzend Wolfgang Braungart: Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung. Stuttgart 1990, S. 16 ff. 380 Baumann: Zwischen Weltveränderung und Weltflucht, S. 45. Als solche ist sie als Übersetzung eines inneren Frömmigkeitsideals in die Öffentlichkeit gedeutet worden, wobei das Frömmigkeitsideal Johann Arndts Vier Bücher[n] vom wahren Christenthum entstammt. Ebd., S. 46; weiterführend Dülmen: Utopie einer christlichen Gesellschaft, S. 167. 381 An­dreae: Christianopolis, S. 13: »Denn da andere Leute sich gar nicht tadeln lassen und es mir selbst ebenso geht, habe ich mir selbst eine Stadt erbaut, in der ich die Herrschaft ausübe. Und wenn du meinen schwachen Körper für diesen Staat hältst, rätst du nicht allzuweit von der Wahrheit fort.« Weiterführend Biesterfeld: Nachwort. In: Ebd., S. 153–165, hier S. 163. 382 An­dreae: Christianopolis, S. 90. 383 Ebd., S. 107.

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opagitisch geprägte Metaphysik, die die Christianopolitaner lehrt, »sich selbst zu verlassen« und zu »Gott emporzusteigen«, der allerdings – in signifikanter Differenz etwa zu Weigel – den »Heiden unbekannt« gewesen sein soll.384 Durch die feste Einbindung hermetischen Wissens in das System der Wissenschaften, die deutliche Privilegierung des christlichen Wissenssystems sowie die Bevorzugung der Theologie vor der Philosophie achtet der Erzähler sorgfältig darauf, jeden Konflikt zwischen Wissenssystemen sowie zwischen Christentum und Curiositas überhaupt zu vermeiden.385 Doch ex negativo erschließen sich aus der Fiktion der idealen Gegenwelt auch Kritik am Faktischen und Ideen, die in der Aufklärung virulent werden: Herrschaftsstrukturen werden dahingehend analysiert, Kriminalität, Ausbeutung und Hexentum überhaupt erst hervorzubringen.386 Anstelle einer ausgeprägten gesellschaftlichen Hierarchie praktizieren die Christianopolitaner ein System der gegenseitigen Verpflichtungen zur Brüderlichkeit, das nicht nur die Beziehungen zwischen verschiedenen sozialen Schichten, sondern in signifikanter Differenz zu Bacons Nova Atlantis auch die Beziehungen zwischen Frauen und Männern sowie zwischen Mensch und Natur prägt.387 In der im Original auf Latein verfassten Erzählung lässt sich das Ideal einer Gesellschaft mit sinnstiftender Arbeit ohne herausgehobene Rolle privaten Besitzes und Geldes imaginieren, Kritik am Kriegsgeschäft formulieren sowie eine elaborierte Bildungspolitik entwerfen, in der nicht nur das Desiderat einer kindgerechten Pädagogik, sondern bereits auch das einer gleichberechtigten Jungen- und Mädchenbildung formuliert wird.388 Die Insel, auf die der Reisende nach seinem Schiffbruch auf dem »Akademischen Meer« gelangt, trägt sinnigerweise den hebräischen Namen Capharsalama – Dorf des Friedens (1 Makk  7,31),389 wodurch sich die literarische Welt unschwer auf eine außerliterarische Friedenssehnsucht hin deuten lässt. Der Umstand, dass alle namentlich genannten Christianopolitaner ausschließlich biblische Patriarchennamen tragen, deutet das Mittel an, diese Friedenssehnsucht umzusetzten, nämlich durch die Rückwendung auf das Urchristentum als ›wahres‹ Christentum. So hatte es Johann Arndt, dem An­dreae die Christianopolis sogar widmete, in den Vier Büchern vom wahren Christenthum beschrieben, und aus diesem Impuls heraus, den Arndt selbst als Wiederherstellung der verschütteteten Theologie

384 Ebd., S. 185 ff., Zitate S. 186. 385 So auch Götz: Gegenwelten, S. 56; Dülmen: Die Utopie einer christlichen Gesellschaft, S. 191. 386 An­dreae: Christianopolis, S. 38 f. u. 40 f. 387 Ebd., S. 32, 40 f., 69, 99 u. 124 ff. 388 Ebd., S. 35, 65 u. 78 ff. 389 Ebd., S. 20, Biesterfeld: Anm. 13, S. 143.



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beschrieb, entfaltete sich die Bewegung des Pietismus.390 Das Zusammenleben in Christianopolis funktioniert deshalb so reibungslos, so erfährt der Reisende, weil die Christianopolitaner die von der Welt ausgestoßenen Anhänger der heimatlos gewordenen Religion sind, die jenseits des Meeres eine neue Siedlung gegründet haben.391 In An­dreaes poetischer Imagination also finden die Mitglieder der unter alle Religionen verstreuten ›unsichtbaren Kirche‹ eine neue Heimat. Da das Meer der Erzählung nicht nur in concreto auf die hohe See, sondern auch in abstracto auf das »Akademische Meer« bezogen wird,392 lässt sich der imaginierte Ort sowohl auf eine Seelenreise als auch auf eine lokale Sammlung der Frommen beziehen, die die Stürme des akademischen Theologenstreits hinter sich gelassen und einen gesellschaftlichen Neuanfang gewagt haben. Genau diese Hoffnung kennzeichnet auch die pietistische Naherwartung sowie ihre Aufrufe zum Auszug aus Babel um 1700, die 80 Jahre später den Kontext für Dippels Christen=Stadt auf Erden bilden.393 Dippels Christen=Stadt auf Erden zeichnet in ihrer umfassenden zeithistorischen Kritik das Kontrastbild zu An­dreaes poetischer Imagination einer Christianopolis, gerade weil sich die einzelnen Topoi ex negativo aufeinander abbilden lassen. Insbesondere durch das Fehlen jeder Fiktionalisierung tritt dabei der Konflikt zwischen idealisierter Imagination und faktisch beobachteter Wirklichkeit einer christlichen Sozietät offen zutage. Nicht zufällig thematisiert Dippel erneuet seine Unabhängigkeit von einer Institution, womit er sich im Schreiben und Publizieren allein seinem Gewissen verpflichtet sieht.394 Der Text entsteht in einem Kontext, in dem die Missstände der historischen Gegenwart als Ausdruck der nahenden Endzeit interpretiert wurden. Topische Anspielungen auf die Kirche als »Hure Babylon«, den zu erwartenden »Fall Babels« oder die Sehnsucht nach einem »neuen Jerusalem« bilden keine innerliterarischen Verweisungszusammenhänge mehr, sondern besitzen eine immediate politische Konnotation. Der Topos des »Auszugs aus Babel« beinhaltete, sichere Arbeitsverhältnisse aufzugeben, äußere Zeichen der Kirchenzugehörigkeit (Taufe, Abendmahl) zu verweigern und uneingeschränkt Kritik an weltlicher wie kirchlicher Obrigkeit zu üben.395 Auf diesen Referenzhorizont spielt die Christen=Stadt auf Erden an, wenn sie z. B. die Unentschlos-

390 Hermann Geyer, der Arndt umfassend in spiritualistischer und hermetischer Literatur kontextualisiert, spricht vom Pietismus nicht nur traditionell als ›Frömmigkeitsbewegung‹, sondern auch als profiliertem theologischen Aufbruch. Geyer: Verborgene Weisheit 1,1, S. 216. 391 An­dreae: Christianopolis, S. 21. 392 Ebd., S. 19. 393 Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 417. 394 Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 554. 395 Schneider: Die unerfüllte Zukunft, S. 207.

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senheit der Zeitgenossen thematisiert, in einem als repressiv empfundenen System in ein Arbeitsverhältnis zu treten396 oder wenn sie die zeitgenössischen Konflikte um Gehorsam und Kindstaufe referiert.397 Dippels Christen=Stadt versteht sich in ihrer ausführlichen Erörterung der Gründe für diese Entfremdung von Kirche und Gläubigen bewusst als Reflexion über eine christliche Sozietät »auf Erden«, die angesichts der Zeichen der Zeit über eine Gesellschaft »ohne gewöhnlichen Lehr-, Wehr- und Nährstand«, so die volle Überschrift, nachdenkt.398 Im Gegensatz zu An­dreaes Christianopolis spielt in Dippels Christen=Stadt keinerlei topisches esoterisches Wissen wie kabbalistische Zahlenmystik oder areopagitische Metaphysik eine Rolle. Dagegen wird das gesellschaftliche Ständesystem mit einer eigenen Deutung der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre in Verbindung gebracht, die insbesondere im Hinblick auf den Topos der Wiedergeburt, verstanden als vollständige Transformation der Seele, eine gesellschaftsbezogene Sprengkraft entfaltet: Wär Lust und Eigenheit aus GOttes Reich verbannt, So wär die Liebe gleich, und brennten keine Flammen Des Grimms: Es bliebe nur der wahre Königs=Stand, Da ohn Gesetz und Furcht die Christen sind beysammen. In Babel hat der Zorn die Stände eingeführt, 399 Und hebt sich wieder auf, wann Licht und Lieb regiert […].

Die existierende Ständeordnung wird zunächst traditionell aus dem postlapsarischen Zustand des Menschen abgeleitet. Sollte die Zwei-Reiche-Lehre nach Luther aber dem Menschen noch die Möglichkeit geben, in beiden Reichen zu leben,400 implizierte Dippels Deutung, dass Missstände im Reich der Natur als

396 Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 553 f. 397 Ebd., S. 520, über die Antwort eines inhaftierten Reformierten (Klopfer?): »Weil es die Obrigkeit so geordnet und haben wolte, so wolle er sein Kind tauffen lassen. Dieses wäre nicht im Namen GOttes des Vatters, des Sohnes und des Heiligen Geistes getaufft. Aber weil das Ministerium nur Gehorsam forderte, so waren sie mit dieser Antwort wohl zufrieden.« Ausführlich mit weiteren Beispielen der sozialen Verunsicherungen unter Radikalpietisten Schneider: Die unerfüllte Zukunft, S. 207. 398 Vor diesem Hintergrund ist sie bereits als »Realutopie« bezeichnet worden, da sie das Reich Christi weder in Bezug zu einer fiktionalen noch zu einer zukünftigen Ferne, sondern in Bezug zur unmittelbaren historischen Gegenwart setzt. Hoffmann: ›Daß es süße Träume und Versuchungen seyen‹, S. 103. 399 Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 550. 400 Luther: Von weltlicher Oberkeit. In: WA 11, 255; Bernhard Lohse: Dogma und Bekenntnis in der Reformation. Von Luther bis zum Konkordienbuch. In: Handbuch der Dogmengeschichte. Bd. 2. Hg. v. Carl Andresen. Göttingen 1988, S. 1–164, hier S. 30 f.



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Verfallserscheinung (»Babel«) lesbar und damit nach den Zeichen der Zeit als veränderbar diskutierbar werden.401 Entsprechend nimmt die Erörterung der Beziehungen eines Christen zu institutioneller Macht breiten Raum ein, sowohl in Bezug auf das scharf kritisierte Kirchenwesen (»Menschen Tand«402) wie gegenüber weltlicher Obrigkeit. Die weltliche Obrigkeit wird zwar nicht in ihrer Existenzberechtigung hinterfragt, da auch das Leben im Reich der Natur einer gewissen Pragmatik unterliegt. Dennoch stellt Dippel offen die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Majestäten ebenso wie nach den Loyalitätspflichten eines Christen gegenüber einer schlechten Obrigkeit.403 Einer solchen Obrigkeit spricht die Christen=Stadt auf Erden ihren Status als göttliche Ordnung schlichtweg ab, nicht ohne jedoch politischen Widerstand noch als »eigenwilliges Rächen« und Verstoß gegen die Gesetze Christi zu werten.404 Diese Argumentation verbindet gesellschaftstheoretische mit religiösen Überlegungen, die ihren Fluchtpunkt im Konzept der Wiedergeburt finden. In ihr kehren Motive wieder, die bereits in An­dreaes Christianopolis eine Rolle gespielt hatten, die jedoch bei Dippel auf konkrete Ereignisse einer außerliterarischen Wirklichkeit hin lesbar werden. So bezieht sich seine Kritik u. a. auf das Paradox eines christlichen Kriegs­­geschäfts im Allgemeinen sowie auf das öffentliche Beten um einen Sieg christlicher Waffen im Besonderen.405 Kein wirklicher Christ könne nach Dippel je Krieg führen.406 Hatte er in Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie die Genealogie und damit Historizität des Trinitätsdogmas dargelegt, so zeigt die Christen=Stadt auf Erden im Anschluss an Arnolds historische Arbeiten die histo-

401 Dippel: Christen=Stadt auf Erden  I, S. 525. Die einzelnen Kapitel sind mit ausführlichen Überschriften versehen, die die Fragekomplexe thesenhaft zusammenfassen. So thematisieren die ersten beiden Kapitel Daß der heutige Lehr=Stand nicht in das Reich Christi gehöre: Und wie sich einer, dem GOtt die Augen geöffnet, und der nach Göttlicher dispensation noch darinnen stehet, verhalten solle, dem Willen GOttes nachzukommen sowie Daß der Regenten=Stand nicht ins Reich Christi gehöre, welcher doch eine Ordnung GOttes im Reich der Natur ist. Ob ein gnädiger Herr könne ein Glied, oder gar ein Bischoff der Kirchen Christi seyn, als ein gnädiger Herr? Wie weit ein Christ könne im Regenten=Stand stehen? Und wie weit die Glieder Christi gehalten sind, um Christi willen der weltlichen Obrigkeit unterthänig zu seyn? Wie sich endlich eine Christliche Obrigkeit bey heutigen Conjuncturen müsse verhalten, wann sie Christo nicht will zuwider seyn? 402 Dippel, Christen=Stadt auf Erden I, S. 521. 403 Ebd., S. 530–534. 404 Ebd., S. 532 f. 405 Ebd., S. 526 u. 548 f. 406 Ebd. »Dann es ist, zum Exempel schlechter Dings unmöglich, daß ein Gemüth, in welchem Christus die völlige Herrschaft hat, solte einwilligen können in Krieg und Blutvergießen und andere dergleichen affairen; ob sie schon unter dem Reich der Natur und des Gesetzes oder Zorns Ordnungen GOttes sind.«

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risch späte Verbindung von Christentum und Staatsmacht auf.407 Diese wird nicht wie bei An­dreae als harmonisches Miteinander wenigstens in Utopia visualisiert, sondern auf ihr Scheitern im Vergleich zum Ideal christlichen Lebens hin befragt. Die Verfolgung der ersten Christen erklärt Dippel damit, dass ihre Lehre einer allgemeinen Gleichheit staatsgefährdend gewesen sei. Christus hatte die Kinder Gottes zur Freiheit berufen, doch wie sollten sie sich gegenüber unerleuchteten Amtleuten verhalten? Dippel zitiert Jesu Gebot, dem Kaiser zu geben was des Kaisers ist, doch er erinnert auch daran, dass sich die Apostel selbst nur an die Gebote der äußeren Ordnung hielten, soweit sie sie vor ihrem Gewissen vertreten konnten. Scharfe Kritik erntet entsprechend der Lebenswandel der Priester. Dippel kontrastiert kirchliche Vetternwirtschaft um Ämter in klaren Worten mit der Organisationsform der ersten Gemeinden, die ihre Gemeindevorsteher nach dem Kriterium spiritueller Reife und durch die Praxis des Losens bestimmten.408 Diese Vorbildfunktion eines (imaginierten) historischen Anfangs, die An­dreaes Christianopolis literarisch spiegelt, übernimmt Dippel aus Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzergeschichtsschreibung. Arnolds erstes großes Geschichtswerk Die erste Liebe der Gemeinen JESU Christi  / Das ist: Wahre Abbildung der Ersten Christen nach ihrem lebendigen Glauben und heiligen Leben (1696) zeichnete ein Bild des ersten und damit nach seinem Verständnis »wahren« Christentums, das wenig Wert auf Institutionen, dafür aber umso mehr auf ein geistliches Leben legte, das wenig vom Kriegsgeschäft hielt und charakteristischerweise weder Laien noch Frauen, für deren Ausbildung sich bereits An­dreae ausgesprochen hatte, ausgrenzte.409 Das Ideal einer vertraulichen Bruderliebe bzw. sogar Schwesternliebe bei Arnold410 galt bei beiden als Kennzeichen der »lebendigen Glieder Christi« und zeichnete das Zusammenleben der Christianopolitaner bzw. der ersten Christen aus. Bei Dippel wird dieses Ideal zur Folie, vor der die Entfremdung der Herrschenden von Christus manifest wird. Seine detailreich beschriebenen Schilderungen unheiliger Allianzen zwischen weltlicher Macht und korrupten Priestern

407 Ebd., S. 525. 408 Ebd., S. 518 ff. 409 Arnold: Die erste Liebe (Hg. Schneider): Zur Vorbildfunktion der ersten Gemeinden als der wahren Christen S. 16 ff.; ebenso das Kapitel Von denen Christlichen Weibs=Personen in den ersten Gemeinen, S. 84 ff. In der ihm eigenen wissenschaftlichen Sprache des Historikers zeichnet Arnold eine quellenreich belegte Genealogie des Ausschlusses von Frauen und Laien mit der Formierung des Christentums, die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren hat und bereits im Jahr 1696 das Verdikt des Paulus gegen Äußerungen von Frauen in der Gemeinde (1 Kor 34) anzweifelt (S. 95). Zum Kriegsgeschäft: Kapitel 5. 4: Was sie von dem Kriege und Soldaten=Leben gehalten. 410 Arnold: Die erste Liebe (Hg. Schneider), S. 87.



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lassen das Ideal einer christlichen Gemeinschaft bzw. die Superiorität eines rein christlichen Wissenssystems, wie es zumindest in der Utopie noch denkbar war, so brüchig erscheinen, dass die Legitimität dieses christlichen Wissenssystems aus seinen eigenen moralisch-ethischen Statuten hinterfragbar wird. Daher kann Dippel unverhüllt einen heidnischen Regenten, der die Gewissensfreiheit respektiert, einem nur nominell christlichen überlegen nennen.411 Die biblischen Referenzen an das Buch der Weisheit haben sich in den Argumentationsstrukturen von An­dreae zu Dippel signifikant gewandelt, gleich bleibt dagegen die Berufung auf die biblische Autorität des sophiologischen Wissens. An­dreaes Christianopolis verortet die Theosophie durchaus innerhalb des komplexen Systems der Wissenschaften, spricht ihr jedoch einen Ort abseits menschlicher Forschung allein bei Gott zu. Unter Berufung auf das siebte Kapitel des Buchs der Weisheit zeichnet An­dreae sie als klassisches Einweihungswissen, nämlich getreu Weish 7,17–21 als Erkenntnis aller Dinge, die allerdings allein in der Schule des Gehorsams, der Demut und der Ruhe zu suchen sind.412 Dippels Christen=Stadt auf Erden dagegen beruft sich auf das sechste Kapitel des Buchs der Weisheit (Weish 6,1–21) und leitet aus dieser Belegstelle die Legitimation ab, angesichts wahrgenommener Missstände die eigene Stimme zu erheben und die Autorität der göttlichen Weisheit im historischen Hier und Jetzt zur Kritik an weltlichen Herrschern in Anspruch zu nehmen: Darum fasset zu Hertzen die nachdrückliche Anrede der ewigen Weisheit, die schon längst euch ihren Willen schrifftlich Sap. 6. hinterlassen. ›Ungerechtigkeit verwüstet alle Lande […]. So höret nun, ihr Könige, und mercket, lernet, ihr Richter auf Erden. […] Dann euch ist die Obrigkeit gegeben vom HErrn […,] welcher wird fragen, wie ihr handelt […]: Dann ihr seid seines Reichs Amt=Leute (und keine eigenwilligen Richter) aber ihr führet euer Amt nicht fein, und haltet kein Recht, und thut nicht nach dem, das der HErr geordnet hat. […] Wolt ihr nun, ihr Tyrannen im Volck, gern Könige und Fürsten seyn, so haltet die Weisheit in Ehren, auff daß ihr ewiglich herrschet.‹ Dieses nehmet an, ihr Herren auf Erden, und vergreifft euch nicht an dem Geringen und Verachteten, der im Namen seines Königs dieses 413 Zeugnis an euch hat müssen ergehen lassen.

Auch die Rolle von Arbeit und Besitz wird in der Christen=Stadt unter den Gesichtspunkten des Besitzstrebens, des Mammons und der Frage nach einer Gütergemeinschaft diskutiert, die Motive aus der Christianopolis wieder aufnimmt

411 Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 535. 412 An­dreae: Christianopolis, S. 87. 413 Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 536.

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und im Diskurs um die frühchristlichen Gemeinden bekannt ist.414 Während die ideale christliche Gemeinschaft in An­dreaes Christianopolis leichte Formen einer Gütergemeinschaft und durchgängig Formen sinnstiftender Arbeit lebt, erörtert Dippels Christen=Stadt Spielräume dieser Ideen auf Erden. Besitzstreben und Arbeit aus Besitzstreben werden als Dienst am Mammon kritisiert und erscheinen als unvereinbar mit dem Verbot Christi, um das leibliche Wohl zu sorgen.415 Eine Fülle an Beispielen für ökonomische Zwänge und luzide beobachteten frühkapitalistischen Strukturen wird daraufhin perspektiviert, inwieweit sie zur Förderung des Seelenheils oder zur Entfaltung der vollen Menschlichkeit dienlich sind oder dieser entgegenstehen. Dabei wird Arbeit als ebenso akzeptabel gezeichnet wie ein Umgang mit Gütern, der an ein bestimmtes Selbstverständnis, nämlich das eines Verwalters, nicht eines Besitzers von Gütern gekoppelt ist.416 Wieder finden Dippels Erörterungen ihren gemeinsamen Fluchtpunkt in der Idee der Wiedergeburt. Das entscheidende Kriterium in der Frage nach Arbeit und Besitz ist nicht ihre prinzipielle Fragwürdigkeit, sondern das Selbstverhältnis, aus dem heraus sie betrachtet werden, in Dippels Worten: ob das Herz in Bezug auf irdische Güter nichts mehr »in Eigenheit« besitze.417 Es handelt sich hierbei um ein psychologisches, kein ökonomisches oder staatstheoretisches Argument, und es bildet den archimedischen Punkt in Dippels ganzer Stellungnahme.418

414 Ebd., S. 536 ff., nach der Kapitelüberschrift Alle Sorge der Nahrung hat zum Grund den Unglauben, oder den Abfall von GOtt; warum der Mensch nach dem Fall müsse arbeiten? Unterschiedene Art der äußerlichen Arbeit. Schätze sammlen ist dem Christenthum zuwieder. Der Unterschied der possessionen oder die peculia sind aus Babel. Warum Christus die irrdischen Güter, wie sie unterschiedlich besessen werden, den Mammon der Ungerechtigkeit nenne? Wie sich ein wahrer Christ, der dieser Welt Güter besitzt, unter dem heutigen Babel müsse verhalten? Ob und wie die heutige wahre Christen alles gemein sollen haben? Vgl. An­dreae: Christianopolis, S. 34 ff.; vgl. ebenfalls in Arnolds Die erste Liebe das Kapitel 3.8: Von der Gemeinschafft der Güter bey den ersten Gemeinen. 415 Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 537. 416 Ebd., S. 540. 417 Ebd., S. 544. 418 Dippels Thesen sind bisher als Plädoyer für ein arbeitsfreies Leben im Millennium gelesen und entsprechend als »etwas unklar« bezeichnet worden. Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 256, nach Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 541: »Wenn ein Christ sich von diesem Mammon-Dienst [die Arbeit] freimacht, nicht mehr arbeitet, so ist er kein Faulenzer, sondern tut mehr Gutes als ganz Babel zusammen […].« Dieses Urteil berücksichtigt nicht, dass Dippel den Menschen sehr wohl Grund zur Arbeit zuspricht, und zwar erstens zur Verhinderung des Müßiggangs, zweitens zur wirtschaftlichen Selbsterhaltung und drittens zur Unterstützung Bedürftiger sowie zur Mitarbeit am Werk der neuen Kreatur (Bd. I, S. 539 f.). Vgl. fast identisch Dippel: Summarische und aufrichtige Glaubens=Bekänntnis I, S. 488–514 (1700), hier S. 513, Art. 13: Vom Nehr=Stand und Arbeiten.



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Dieser Akzentuierung der Eigenheit wächst insbesondere im Hinblick auf das in der Forschung etwas ratlos aufgenommene Schlusskapitel der Christen=Stadt Bedeutung zu, in dem der Text auf jeden konkreten Entwurf eines kommenden Gottesreiches verzichtet und stattdessen vor allem die Bedeutung des Gebets betont.419 Was genau versteht Dippel unter dem Reich Christi, und inwieweit handelt es sich bei der einzigen »Handlungsanleitung«420 des Textes um eine performative Evokation des Kommenden oder um ein »Herbeibeten« der »Theokratie« eines ständelosen Tausendjährigen Reichs?421 In welcher Beziehung steht Dippels Vorstellung vom Reich Christi damit zum zeitgenössischen Konzept des Millenniums nach Off 20,1–6? Trotz der Hoffnung auf das baldige Ende der Orthodoxie ist Dippels Entwurf des Reichs Christi zunächst traditionell nach Luthers Bibelübersetzung definiert: Das Reich Christi ist »inwendig im« Menschen gedacht, wo Christus in den Seelen herrscht und dort allein Zwang, Richter und äußere Gesetze überflüssig macht. Das Reich Christi ist, wie die Heilige Schrifft bezeuget, nicht von dieser Welt, sondern nach dem Geist, oder unsichtbahren Menschen, inwendig in uns, und bestehet in Gerechtigkeit, 422 Friede und Freude im Heiligen Geist.

Der Gedanke der Inwendigkeit ist prinzipiell schon in Luthers Freiheitsschrift angelegt,423 allerdings setzt die Christen=Stadt auf Erden das Reich der Gnade in eine Beziehung zum Reich der Natur, die über Luther hinausgeht und die Wiedergeburtsidee in ihrer hermetischen Prägung fruchtbar macht. Im Gegensatz zu Luthers Zwei-Reiche Lehre sind die zwei Reiche in der Christen=Stadt nicht nacheinander oder nebeneinander, sondern ineinander gedacht.424 Diese psychologische Deutung des Reichs Christi schließt an die mystische, theosophische oder hermetische Vorstellung einer prinzipiellen Erreichbarkeit des eigenen Seelengrunds bereits im diesseitigen Leben an und kann damit die endzeitliche ReichChristi-Idee auf die irdische Gegenwart umdeuten, ohne dass damit eine – real-

419 Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 545; vgl.noch einmal die Thesen in der Kapitelüberschrift Das gewöhnliche Gebet für die drey Haupt=Stände der Christenheit, kan nicht geschehen im Namen Christi. Was das Gebet, Fürbitt und Dancksagung insgemein sey. Was sey im Namen Christi beten. Was man im Namen Christi bitten könne, und wer im Namen Christi beten könne. Dieser Wahrheit application auf die gewöhnliche Gebets=Formuln in Babel. 420 Hoffmann: ›…daß es süße Träume und Versuchungen seyen‹, S. 103. 421 So Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 258. 422 Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 524. Das schließt für Dippel ebenfalls ein, dem Kaiser zu geben was des Kaisers ist. 423 Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen. In: WA 7, 21. 424 So auch Hoffmann: ›…daß es süße Träume und Versuchungen seyen‹, S. 125.

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politisch entworfene – Staatsform der Theokratie impliziert wäre. Gerade nach dem Corpus Hermeticum beschreibt das Konzept der Wiedergeburt weder ein politisches Handeln noch die Konstruktion einer endzeitlichen Stadt Gottes, sondern ausschließlich einen Transformationsprozess der Seele, durch den jedoch der Wiedergeborene seine Einheit mit dem Logos  – Christus  – realisiert. Dippels Deutung des Millenniumskonzepts wird damit als Vision einer Gemeinschaft der Wiedergeborenen lesbar, die in naher Zukunft für denkbar gehalten wird; nicht mehr, aber auch nicht weniger. An dieser Stelle verortet sich die herausgehobene Aufmerksamkeit für das psychologische Moment des Eigenwillens und die verhaltene Kritik an weltflüchtigen Tendenzen im zeitgenössischen chiliastischen Diskurs.425 Nirgends im Text ist die Vorstellung einer körperlichen Wiederkunft Christi als Weltenrichter angesprochen, sondern Dippel formuliert die Gleichung, dass das Reich Christi desto eher »durchbrechen« werde, je mehr auf Erden dafür gebetet werde.426 Was jedoch heißt »Gebet« in der Christen=Stadt genau? Gebet ist für Dippel nichts, was Gott zu etwas bewegt, sondern etwas, was den Betenden selbst Gott annähert, ihn zu einem »leeren und gelassenen Gefäß« macht, in dem der Wille Gottes wirken kann.427 In diesem Konzept des Gebets beerbt Dippel die spiritualistische Tradition: Er schildert Worte und Bilder als äußere Mittel, die der Seele noch wichtig sein können, die jedoch im Hinblick auf Gott irrelevant sind, der nur den Herzensgrund sieht. Nicht nur wird in diesen Worten jede bekenntnispolitisch gebundene Gebetsform relativiert, das Gebet um das Reich Christi wird auch auf die traditionelle Hingabe des Eigenwillen hin perspektiviert.428 Diese Vorstellung allerdings impliziert, dass in der Verschmelzung der betenden Seele mit Christus magische Kräfte liegen, die auch in Fürbitten fruchtbar gemacht werden können. Dippel beschreibt die Fürbitte als »ein höherer Grad im Christenthum« und exemplifiziert:

425 Im Hinblick auf pietistische Zeitgenossen heißt es, wenn diese mit Dingen konfrontiert würden, »so ihnen nicht angenehm zu hören […] so sprechen sie alsobald: ihr geht zu weit und habt noch keine Erfahrung, oder theologische Klugheit, ja wo sie auch selbst erkennen müssen […], daß es wahr ist, so hat die Schlange in der Vernunfft gegen die Überzeugung des Geistes Christi noch ein ander refugium, und wanns nicht ist gegangen zu weit, so ist es noch nicht Zeit; man muß warten, biß Christus in dem tausendjährigen Reich, oder in den bessern Zeiten sichtbarlich erscheinet. […] So kommen wir in der praxi nimmer weiter, und können nichts als pia desideria an Tag legen.« (Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 553) 426 Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 547. 427 Ebd., S. 546. 428 Ebd.: »Dann welche Seel nicht also betet, die hat GOtt ihren Willen noch nicht übergeben, und in solcher kan GOtt das Heyl in Jesu Christo nicht vollführen.«



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Wann die von der Liebe GOttes durchdrungene Seel, sich vor GOttes Angesicht vor ihre Brüder, und alle Creaturen aufopffert, aus dem Brunnen des Lichts und der Liebe Kräffte in sich ziehet, und dieselbe durch die Magie (Würckung und Ausfluß) des Geistes, und Gemeinschaft der innern Willen Kräften, so wahrhafftig und thätig in die Seele, vor welche sie bittet, einführet, sie seye auch dem Ort nach nahe oder ferne, so wahrhafftig ein Brenn=Spiegel durch die Strahlen der Sonnen, so er in sich gefasset und concentrieret 429 (vereinigt) hat, Krafft und Macht hat die ihm vorgesetzte Materie anzuzünden.

Dippels Konzept des Gebets spiegelt das magisch-hermetische Attraktionsgesetz, und es ist zutiefst geprägt von Böhmes Lehre über die Rolle der Imagination bzw. der Ausrichtung des Willens in dessen Deutung des Mythos vom Sündenfall bzw. der Restitution. Nicht zufällig verwendet Dippel den Begriff des »Durchbruchs« für das Kommen des Reiches Christi. In dieser Bedeutung lässt sich der Begriff von Böhme bis zu Eckhart zurückverfolgen.430 Das Reich Christi liegt in dieser Deutung nicht chronologisch »nach« der Schwelle des jüngsten Gerichts, sondern jenseits eines Wandlungsprozesses, der aus der Seelentiefe kommt und in die Gegenwart zielt. Dieser Prozess erst kann das »Reich Christi« aus der Verborgenheit des Seelengrunds in die Aktualität der historischen Gegenwart bringen, und zwar nicht als Theokratie unter einem weltlichen König Christus, sondern als Prozess einer kollektiven Wiedergeburt wie ihn einzelne, u. a. das Heidenkind Tat und sein Vater Hermes Trismegistos der hermetischen Erzählung nach, bereits erlebt haben sollen. Das Gebet ist deshalb als verbindendes Glied und transformierende Kraft zwischen den zwei Reichen gezeichnet, weil es als höchste Konzentration der sonst zerstreuten Seelenkräfte und damit als Ermöglichungsgrund für Gottes Handeln am Menschen verstanden wird, der Verwandlung zu stiften vermag.431 In diesem Sinn kann Dippels Christen=Stadt auf Erden zwar nicht als »Verfassung«, aber doch als »Realutopie« und als performative Evokation des Kommenden interpretiert werden, die in der Tat wirklichkeitsstiftende Kraft entfalten will.432 Die utopische Qualität der Christen=Stadt speist sich jedoch zunächst weder aus einem fiktionalen Gegenentwurf zur existierenden Gesellschaft (An­ dreae) noch aus der Kontrastierung einer idealen Vergangenheit mit einer verdor-

429 Ebd., S. 546. Ein sicheres Indiz für das transgressive Potenzial dieses Konzepts ist die Rezension in den Unschuldigen Nachrichten und ihre Kritik, dass Dippel dem Gebet magische Fähigkeiten zuschreibe. Rez. zur Christen=Stadt auf Erden. In: Altes und Neues aus dem Schatz der theologischen Wissenschaften 1 (1701), S. 255–263; so auch Goldschmidt: Johann Konrad Dippel, S. 255, Anm. 43. 430 Alois Maria Haas: Erfahrung und Sprache in Böhmes Aurora. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jakob Böhmes und seiner Rezeption, S. 1–22, hier S. 13. 431 Dippel: Christen=Stadt auf Erden I, S. 545. 432 Hoffmann: ›… daß es süße Träume und Versuchungen seyen‹, S. 103 u. 126.

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benen Gegenwart (Arnold), noch aus einem philadelphischen Zukunftsentwurf zur Theokratie unter Christus. Sie speist sich zunächst aus einer Umdeutung der traditionellen Zwei-Reiche-Lehre mittels der hermetischen Wiedergeburtsidee, aus der die Hoffnung auf einen Verwandlungsprozess geschöpft wird, der im historischen Jetzt beginnt und im Ziel einer tatsächlichen Weltverwandlung durch Menschenverwandlung endet.433 Sechs Jahre später und ohne dass das Millennium im Jahr 1700 angebrochen wäre434 verfasste Dippel eine weitere Schrift zur gesellschaftlichen Frage der Religionspolitik, Ein Hirt und eine Heerde (Berlin 1705), in der sich die weitere Pragmatisierung dieser Hoffnung beobachten lässt. Die Schrift schließt an Reflexionen aus Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie sowie an Dippels eigene Standortbestimmung, den zweibändigen Weg=Weiser zum verlohrnen Licht und Recht (1704) an und nimmt zu zeitgenössischen Vorschlägen Stellung, eine Religionsvereinigung über das Mittel der Konversion zu erreichen, z. B. durch einen Übertritt der Pietisten zum Katholizismus.435 Ein Hirt und eine Heerde führt die Pragmatisierung des Transformationsgedankens bis zu dem Punkt fort, an dem einerseits jede nominelle Referenz an einen hermetischen Wissenshorizont verblasst und andererseits das Praktisch-Werden dieser Wissensfiguration in Thesen zu einer aufklärerischen Religionspolitik mündet.436 Ausgehend von seiner Analyse zur Genese von Ortho- und Heterodoxie lautet Dippels Vorschlag zur Religionsvereinigung kurz gefasst, Einigung nicht über Konversionen oder einen Abgleich von Dogmen und Zeremonien, sondern über die praktische Umsetzung der ethisch-moralischen Verhaltenslehren Jesu zu suchen. Jede Einheitspolitik, die ihr Ziel in einem Beitritt der anderen zur eigenen Konfession als einzig irrtumsfreie Möglichkeit sieht, verwirft er als Illusion des Glaubens an den alleinigen Wahrheitsbesitz wie er für orthodoxe Positionen innerhalb aller Konfessionen charakteristisch ist.437 Dippels Vorschlag

433 Ebd., S. 125. 434 Zu Abklang und Transformation der Endzeiterwartungen nach 1700 Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, S. 107 ff. 435 Dippel: Ein Hirt und eine Heerde I, S. 1063–1066. 436 Hirsch schreibt über Ein Hirt und eine Heerde: »Ersetzt man die mystisch-pietistische Bestimmung der Aufgabe der Prediger durch die in bestimmter Fassung kaum davon unterscheidbare, die Menschen zu einem Leben in Andacht und Gehorsam gegen Gott, in Frömmigkeit und Rechtschaffenheit überhaupt, zu erziehn, dann hat man das Kirchenprogramm der eigentlichen Aufklärung.« (Geschichte der neuern evangelischen Theologie, S. 280 f.) 437 Dippel: Ein Hirt und eine Heerde I, S. 1073 f. Vgl. auch die Auseinandersetzung mit der Kritik von Krackevitz’, der die Beitrittspolitik auf protestantischer Seite vertrat Dippel: Schild der Wahrheit I, S. 1192 ff.



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orientiert sich so ausgeprägt an der Praxis, dass sie an die Seite der Aufklärung, verstanden als praktische Philosophie und einer »generellen Praxisorientierung in theoretischer wie in normativer Hinsicht«438 tritt. Dippel befragt die im Diskurs diskutierten Mittel zur Religionsvereinigung vor allem daraufhin, ob sie in der Praxis Gutes stiften, was er verneint; Fluchtpunkt seiner Argumentation ist keine diesseitige oder jenseitige Reich-Gottes-Vorstellung mehr, sondern das bürgerliche Leben sowie der rechte Weg zu Wahrheit und Glückseligkeit, »auch noch in diesem Leben«.439 Für dieses diesseitige bürgerliche Leben nennt Dippel den Religionshass, der durch den Diskurs um dogmatischen Synkretismus noch verstärkt wird, als höchst schädlich, wohingegen er Religionsfreiheit als politisch nützlich für den Staat bezeichnet.440 Neu an seiner Argumentation ist, dass er die Regenten nicht länger als nicht geschickt zum Reich Gottes betrachtet, sondern sie in den Prozess einer Befriedung der Gesellschaft durch Befriedung der Religionsstreitigkeiten einbinden will. Dazu gehört erstens ein gottgefälliges Leben nach christlichen Grundsätzen als Vorbildfunktion für das Volk und zweitens eine bewusste Personalpolitik in ihrer Funktion als Landesherren. Der König möge das Konfliktpotenzial der streitenden Kirchen dadurch entschärfen, indem er als oberster Bischof nur noch überparteiliche Bischöfe, Pfarrer und Lehrer beruft, die sich nicht durch streittheologisches Detailwissen qualifizieren (»Buchstabenfuchser«), sondern durch ein christuszentriertes neues Leben.441 Eine vergleichbare Differenzierung zwischen Religion und Konfessionen sowie eine Erörterung politischer Spielräume für die Fürsten kennen auch die weltlichen Aufklärer.442 Unter dem Stichwort Vorbilder statt Symbole schlägt Dippel gegenüber der Bekehrungslogik einen neuen Ton an, der zwar die Abschaffung der Satzungen für praktisch unmöglich, jedoch bei entsprechenden Früchten der Personalpolitik in Zukunft für denkbar hält.443 Ziel ist es, eine Gemeinschaft mit Gott aktiv

438 Frank Grunert/Friedrich Vollhardt: Vorwort. In: Dies.: Aufklärung als praktische Philosophie. Tübingen 1998, S. IX f. 439 Dippel: Ein Hirt und eine Heerde I, S. 1069 u. 1079. 440 Ebd., S. 1090 f. Auch Hans Schneider: Konfessionalität und Toleranz im protestantischen Deutschland des 18. Jahrhunderts. In: Konfessionalisierung vom 16–19. Jahrhundert. Kirche und Traditionspflege. Neustadt/Aisch 1989, S. 87–106, hier S. 95 ff. 441 Dippel: Ein Hirt und eine Heerde I, S. 1097. 442 Horst Dreitzel: Christliche Aufklärung durch fürstlichen Absolutismus. Thomasius und die Destruktion des frühneuzeitlichen Konfessionsstaates. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. v. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 17–50. 443 Dippel: Ein Hirt und eine Heerde I, S. 1099. Zum schwach ausgeprägten Problembewusstsein bei Dippel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, S. 281.

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im Diesseits, nicht erst im Jenseits zu leben, die die Differenz und Diversität der Wege anerkennt, doch auf dem Primat des guten Willens besteht  – worin sich pietistischer und frühaufklärerischer Impetus treffen. Ausdrücklich nennt Dippel diese Haltung nicht nur gottgefällig, sondern auch vernünftig: In seiner Verteidigungsschrift gegenüber Albert Joachim von Krackevitz sind diese Thesen bis zur Vorformulierung von Lessings Ringparabel zugespitzt wenn es heißt, jeder möge Gott auf seine Weise dienen und versuchen, darauf zu verzichten, andere nach dem eigenen Begriff zu richten und zu überstimmen.444 Im Vergleich zur Christen=Stadt auf Erden hat in Ein Hirt und eine Heerde eine deutliche Zurücknahme der christlich perspektivierten Erwartung einer neuen Zeit stattgefunden und wurde durch konkrete politische, weltlich orientierte und im Hinblick auf die Staatsmacht pragmatische Vorschläge ersetzt. Soweit hat eine Pragmatisierung und Säkularisierung der Erneuerungshoffnung stattgefunden. Dennoch wurzeln diese Vorschläge in einem Glauben an eine menschliche Fähigkeit zur Einigkeit, die zwar nicht mehr mit der expliziten Referenz an hermetische Texte versehen ist, die aber strukturell noch von der alten Transformationsidee geprägt ist. Dippels eigener Vorschlag zur Religionsvereinigung lautet folgendermaßen: Darum dencket doch einmahl wiederum an die allererste Wege des wahren Christenthums […] suchet eure Religions=Vereinigung in nichts, als in der Gemeinschaft mit Christo, und seinem Geist […] lasset der Erkenntnüß der Wahrheit ihren freyen Lauff, nach dem Maaß, daß der Geist Gottes in seiner Erleuchtung selbst giebet, wie es von Anfang war […] heisset 445 die Leute nicht glauben, wovon sie in GOTT keine Gewißheit haben.

Ein solcher Vorschlag erschien bereits Zeitgenossen wie Professor von Krackevitz als Verflachung des christlichen Wahrheitsanspruchs in einen rein aufklärerischen Tugendbegriff, womit Dippel sich gezwungen sah, sein Verständnis einer Gemeinschaft mit Christus in Schild der Wahrheit (1706), der Erwiderungsschrift an Krackevitz, so zu spezifizieren, dass seine Verbindung zum alten Transformationsgedanken wieder sichtbar wird: Grund der Einigkeit könne nach Dippel kein Tugendkodex und keine »aus natürlichen Kräften fließende Moralität«

444 Dippel: Schild der Wahrheit  I, S. 1152: »Du Lutheraner, was urtheilest du deinen Bruder, der sich Reformiret oder Catholisch nennet, wegen dieser oder jener Meynung, Gebräuch und Ceremonien? glaubest du nicht, daß ihn GOtt so wohl könne aufnehmen, und selig machen, als dich? […] glaube ein jeder, was er nicht lassen kan; nur seye er gewiß, daß ers GOttes thue, und ihm hierin zu gefallen suche, richte dabei einen anderen nicht, der seinem Begriff nicht kan nachkommen, so thut ihr was vernünftig ist, und was GOtt von euch fordert.« 445 Dippel: Ein Hirt und eine Heerde I, S. 1100.



Sozialkritik und Utopie

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sein, sondern nur die »wesentliche Einwohnung Christi«.446 Die wesentliche Einwohnung Christi jedoch identifizierte bereits Colberg als Synonym für die Geburt Christi im Inneren und als Durchbruch eines göttlichen Wesenskerns im Menschen,447 und nichts anderes verstand Dippel in der Christen=Stadt auf Erden auch unter dem Reich Christi. Die sprachliche Säkularisierung der Millenniumsidee und die pragmatischen Erörterungen zu Religionstoleranz und gesellschaftlichem Frieden gehen damit über eine reine Friedensethik oder eine Sittenlehre hinaus und bleiben strukturell auf eine Transformationsidee bezogen, die den Menschen erst zu Christus oder zur vollständig entfalteten Humanität gelangen lässt

4. Umdeutungen in Theologie und Menschenbild Von dieser Position ist Dippel in seinem weiteren, von vielen Streitschriften und publizistischen Fehden geprägten Leben nicht mehr grundsätzlich abgewichen. Seine Theologie bleibt sich von seinem frühen Glaubens=Bekänntnis (1700) bis zur Haupt=Summa Derer theologischen Grund=Lehren Christiani Democriti (1733) in ihren Grundzügen treu.448 Mit der Idee von der Wiedergewinnung des göttlichen Ebenbilds als Ziel der menschlichen Existenz, die er aus patristischen, mystischen, aber auch hermetischen und theosophischen Quellen übernommen hatte, stand Dippel lebenslang in Konflikt mit dem zentralen protestantischen Dogma der Rechtfertigungs- und Satisfaktionslehre. Dippels Kritik an der topischen Zuversicht auf Christi Verdienst rekurriert auf Argumentationsfiguren, die in der frühen Reformationszeit bereits ähnlich von Sebastian Franck geäußert worden sind, nämlich dass diese so verstandene Zuversicht auf Christi Stellvertretertum zur Nachlässigkeit gegenüber dem eigenen, aktiven Streben nach Heil verleite. Demgegenüber entwickelt Dippel ein Verständnis des Menschen, das diesem ein grundsätzliches Potenzial zur Entfaltung des in ihm selbst liegenden Guten nicht nur zuspricht, sondern ihm auch die Verantwortung dafür überträgt. Dieses Menschenbild korrespondiert mit signifikanten Umdeutungen im Gottes- und Christusbild. Die angstbesetzte Vorstellung eines zornigen Gottes, der durch das Sühnopfer seines eigenen Sohnes versöhnt werden musste und nur so

446 Dippel: Schild der Wahrheit I, S. 1186. 447 Colberg: Das platonisch-hermetisches Christenthum I, S. 109. 448 Dippel: Summarische und aufrichtige Glauben=Bekänntnis I, S. 488–514; ders.: Haupt= Summa Derer theologischen Grund=Lehren Christiani Democriti III, S. 570–583. Beide Texte sind zum ersten Mal aufgrund eines großen Leserinteresses gedruckt worden.

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sich den unter die Erbsünde gefallenen Menschen zuwenden konnte, wird durch das Bild eines liebenden Gottes ersetzt, der in sich selbst selig ist und von seinen Geschöpfen nichts bedarf. Damit transformiert sich gleichzeitig das Verständnis der Sünde und verlagert die psychischen Energien, die zuvor auf die Versöhnung des potenziell zürnenden Gottes gerichtet waren, auf die Versöhnung des Menschen selbst. Der Sündenbegriff ist in frühen Texten zunächst schöpfungstheologisch als Abweichung in die Kreatur gefasst, wodurch Gott aber nichts verliert.449 Hier wird auf Böhmes Umdeutung des Schöpfungsmythos der Genesis zurück gegriffen, wonach Gott die Schöpfung nicht aktiv verflucht, die Erbsünde somit keine ontologische Realität besitzt, sondern erst von den Geschöpfen nach einer »Abkehr des Gemüts«, die überdies freiwillig stattfand, subjektiv erfahren wird.450 Die Rolle Jesu Christi bleibt in Dippels Theologie durchaus die eines Mittlers, die aber im Vergleich zur orthodoxen Deutung ebenfalls uminterpretiert wird: Da in Dippels Theologie nicht Gott mit den Menschen, sondern die Menschen mit Gott versöhnt werden müssen, versteht er Jesus als Vorbild für diesen Versöhnungsprozess, der von jedem einzelnen durchlaufen werden muss. Traditionsverbunden bleibt auch Dippels Begriff für diesen Prozess: die »Tötung des alten Adam«.451 Aus einem alchemistischen Verständnishorizont heraus nennt er Jesus auch eine Tinktur, deren Wirken den Menschen zum verlorenen göttlichen Ebenbild heranwachsen lässt. Dem zugrunde liegt die ebenfalls bereits bei Böhme geäußerte Vorstellung, dass der Fall in der Kreatur stattgefunden hat und entsprechend dort auch überwunden werden muss. Da Christus und die Menschen gemeinsam in die Vorstellung eines Entwicklungs- und Transformationsprozesses von Seele und Welt einbezogen werden, verbinden sich damit weit reichende ethische und anthropologische Implikationen. Die menschliche Seele ist nach Dippels Theologie prinzipiell gottfähig, da sie aus dem Bereich des Göttlichen stammt und wieder zum verlorenen göttlichen Bild heranwachsen kann,452 allerdings hat sie dabei selbst aktiv zu werden. Keine vermittelnde Instanz kann ihr abnehmen, diese Gottfähigkeit im traditionell sogenannten Glauben auszubilden.453 »Glaube« heißt bei Dippel Anverwandlung, sich nach dem Beispiel Christi der Liebe Gottes in die Arme zu werfen und die eigene Selbstbezogenheit sukzessiv zu überwinden, was sich in tugendhaftem Handeln manifestieren muss. Neben diesem tugendhaften Handeln ist alles Wissen, sei es

449 Haupt=Summa III, S. 572. 450 Ebd., S. 579. 451 Dippel: Glaubens=Bekenntnis I, S. 495; Haupt=Summa I, S. 576. 452 Haupt=Summa III, S. 576. 453 Dippel: Glaubens=Bekänntnis I, S. 498.



Umdeutungen in Theologie und Menschenbild

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aus der Bibel, der Tradition oder der Überlieferung zweitrangig. Dagegen eröffnet sich ein in gradueller Steigerung gedachter Weg der Nachfolge, an deren Ziel die Heiligung und die Beseligung ineins fallen. Dippel löst damit nicht nur den Glaubensbegriff von allem Bekenntniswissen, sondern er setzt auch Mensch und Christus in ein ähnliches Verhältnis, wie es bereits Valentin Weigel mit dem Bild von Christus als Bruder der Menschen getan hatte. Diese Umdeutungen gegenüber den dogmatisch verankerten Topoi von menschlicher Erbschuld, christlichem Sühnopfer und göttlichem Zorn haben unter den Stichworten Historisierung, Ethisierung und Säkularisierung ein vielgestaltiges Echo in der Theologie und der Literatur der Aufklärung gefunden. Während die Kontinuität insbesondere im Hinblick auf Lessings Nathan der Weise auf der Hand liegt, finden sie auch einen detaillierten literarischen Spiegel in Goethes Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** oder in seinem Portrait der Schönen Seele in Wilhelm Meisters Lehrjahre.454 Mit der Identifikation Gottes mit Liebe, einem Bekenntnis zur Toleranz, zur Pluralität der Wege und Religionen, einer Kritik an der Verabsolutierung historisch gewachsener Formeln und der Vorstellung des unsterblichen Seelenfunkens in allen Menschen überführt Dippel spiritualistische Topoi in das Denken der Aufklärung. Aufklärerisch dürfte auch sein publizistischer Widerspruchsgeist genannt werden, der sich von keiner theologischen Autorität mehr einschüchtern lässt. In der publizistischen Fehde, die sich nach der Publikation der Christen=Stadt auf Erden entspann, bringt er dieses Selbstbewusstsein gegenüber einem Anonymus zum Ausdruck, der sich als sein philosophischer Bruder Heraclit inszeniert und ihn, den lachenden Democrit, tränenreich zu Liebe und Maßhaltung im Ton gemahnt hatte. In Christo Brüder seyn, erfordert seyn gebohren Aus GOtt in diesem Sohn: Und diese GOttes=Art Führt ein die reine Lieb, in welcher wird verlohren Vernunfft und Eigen Lieb, und was zuvor war hart. Gott ist und bleibt die Lieb, so Brüder muß verbinden; Wo der nicht unser Ziel, und in uns selber liebt, So können wir zwar Wort und Schein der Liebe finden, Doch ists der Schlangen Art, die sich die Ehre giebt, Zu reden von der Lieb, wann sie sich selbst will rächen, Wann Hoffnung, Furcht und Lieb das Irrdische bezielt, So will die heilig Schlang aus Liebe den erstechen, 455 Der sie gegriffen an, wo sies am meisten fühlt.

454 Zu Dippel und Goethe Andreas B. Wachsmuth: Goethe und die Magie. In: Ders.: Geeinte Zwienatur. Aufsätze zu Goethes naturwissenschaftlichem Denken. Berlin 1966, S. 26–56. 455 Dippel: Christliche Antwort auf das so genannte Christ=brüderliche Send=Schreiben […]

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5. Naturphilosophie zwischen Genesis und Frühaufklärung Fragt man nach den Gründen für das Fortbestehen eines Interesses an den hermetischen Texten im 18. Jahrhundert, dann sind Dippels naturphilosophische und medizinische Schriften aussagekräftige Quellen, da sie im frühaufklärerischen Diskurs um den philosophischen und medizinischen Cartesianismus einen reflektierten Rückgriff auf die Texte der im weiteren Sinne hermetischen Tradition tätigen und diese in Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit rationalisieren und transformieren. Im Folgenden werden zunächst die wichtigsten Texte in ihren Kontexten vorgestellt, anschließend werden Eckpunkte der Naturphilosophie anhand des Andern Theils des Weg=Weisers zum verlorenen Licht und Recht der äußeren Natur, Dippels naturphilosophischem Hauptwerk, skizziert, da hier zunächst die Traditionsverbundenheit im theosophischen, alchemistischen und paracelsischen Diskurs deutlich wird. Ein dritter Schritt fokussiert auf Dippels Entwicklung einer Philosophie des Lebendigen in Abgrenzung zum zeitgenössischen Cartesianismus wie Spinozismus, die auf einer Rationalisierung der alten Denkfiguren beruht.

5.1. Texte und Kontexte zu Dippels Naturphilosophie Als Arzt und Alchemist hinterließ Dippel wissenschaftshistorische Spuren: Er ist der Entdecker des Berliner Blaus, eines Farbstoffes, mit dem die preußische Armee ihre Uniformen färbte, und er entwickelte ein wirksames Medikament, das dippelsche Öl, das noch in Johann Heinrich Jung-Stillings Lebensgeschichte 1777 erwähnt wird.456 Neben Georg Ernst Stahl und den halleschen Psychomedi-

Heracliti Philadelphi I, S. 556; Shantz: Between Sardis and Philadelphia, S. 197. 456 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte. Hg. v. Wolfgang Pfeiffer-Belli. München 1968, S. 231 f.: »Auf dem Weg nach Hause dachte er hin und her, was er dem Kinde wohl Nützliches verordnen könnte, endlich fiel ihm ein, daß Herr Spielmann Dippels thierisches Öl als ein Mittel gegen Zuckungen gerühmt hätte; dies Medikament war ihm desto lieber, denn er glaubte sicher, daß es keiner von den Ärzten bisher würde gebraucht haben, weil es außer Mode gekommen sei; er blieb also dabei und sobald er nach Hause kam, verschrieb er ein Säftchen, von welchem jenes Öl die Basis war, die Frau kam, und holte es ab. Kaum waren zwo Stunden verflossen, so kam ein Bote, welcher Stillingen schleunig zu seinem Patienten abrief. Er lief fort; sowie er zur Tür hineintrat, sah er den Knaben froh, munter und gesund im Bett sitzen, und man erzählte ihm, das Kind habe kaum ein Zuckerlöffelchen von dem Säftchen hinuntergeschluckt, so habe es die Augen geöffnet, sei erwacht, habe Essen gefordert, und der Arm sei ruhig, und grad so geworden wie der andere.«



Naturphilosophie zwischen Genesis und Frühaufklärung

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zinern gehört er zu den theoretischen und praktischen Begründern einer sanften Medizin unter den pietistischen Ärzten.457 Unabhängig von Stahl und seinen Schülern vertrat Dippel gegen den herrschenden Mechanismus die Auffassung eines synergetischen Zusammenwirkens von Körper und Seele und akzentuierte das Primat der Seele in der therapeutischen Arbeit.458 Die bedeutendste zeitgenössische Schrift zu diesem Kontext ist Stahls Theoria medica vera (Halle 1708), deren Thesen von seinen Schülern wie Johann Juncker (1679–1759), Michael Alberti (1682–1757), Johann Samuel Carl (1676–1757), Christian Friedrich Richter (1676–1711) popularisiert und in deutscher Sprache verbreitet worden sind.459 Stahl gründete seine medizinische Theorie auf die Kategorie der ärztlichen Erfahrung und vertrat die Theorie eines immateriellen Lebens- und Bewegungsprinzips in der Natur sowie einen ganzheitlichen, leibseelischen Organismusbegriff, der von Vertretern der neuen Philosophie und Naturwissenschaft, am prominentesten von Leibniz, kritisiert wurde. Leibniz kritisierte an Stahls Theorie eines Influxus physicus, eines Einwirkens der immateriellen Substanz der Seele auf die

457 Zum Überblick siehe Johanna Geyer-Kordesch: Psychomedizin – die Entwicklung von Medizin und Naturanschauung in der Frühaufklärung. In: Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Hg. v. Carsten Zelle. Tübingen 2001, S. 25–47; detaillierter, sogar zu Beziehungen Stahls und Dippels, dies.: Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls. Tübingen 2000; Axel Bauer: Georg Ernst Stahl (1659–1734). In: Klassiker der Medizin. Bd. 1. Hg. v. Dietrich von Engelhardt u. Fritz Hartmann. München 1991, S. 190–201; ebenso die Beiträge in Richard Toellner (Hg.): Die Geburt einer sanften Medizin. Die Franckeschen Stiftungen zu Halle als Begegnungsstätte von Medizin und Pietismus im frühen 18.  Jahrhundert. Halle 2004; kurz auch Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992, S. 337 ff. 458 Eine Stellungnahme Dippels zu Stahl lässt das Verhältnis beider zueinander relativ genau bestimmen. Stahl gehört zu den ganz wenigen Personen, über die sich Dippel sehr anerkennend äußert. Er hörte zum ersten Mal von Stahl durch den Arzt Christian Maximilian Spener, dem Sohn Philipp Jakob Speners, als er jenen 1704 in Berlin am Krankenbett besuchte. Er ging dem Hinweis auf Stahl jedoch nicht nach und verfasste 1711 die eigene medizinische Dissertation, ohne sich mit Stahl auseinandergesetzt zu haben. Hätte er ihn gekannt, so Dippel später, so hätte er ihn erwähnt. Damit kommen beide unabhängig voneinander zu einer ähnlichen medizinischen Haltung gegenüber dem Mechanismus, differieren jedoch in ihrer unterschiedlichen Einschätzung des helmontischen Archaeus-Konzepts. [Dippel:] Eines bekannten Doctoris Medicinae Unpartheyische doch bescheidene Reflexiones uber […] Pathologien III, S. 669–692, hier S. 675 ff. Ausführlich zitiert auch in Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung, S. 194 ff. 459 Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung, S. 96 ff. u. 140 ff. Im Überblick auch Christa Habrich: Alchemie und Chemie in der pietistischen Tradition. In: Schneider/Kemper: Goethe und der Pietismus, S. 45–77.

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materielle Substanz des Körpers, dass sie logisch unmöglich sei.460 Dippel steht in den sich entzweienden Diskurssträngen zwischen philosophischen Rationalisten und pietistischen Psychomedizinern trotz seiner Ferne zu halleschen Kreisen ganz auf der Seite der Psychomedizin. Er stimmt mit Stahl in der Annahme immaterieller Lebensprinzipien, eines holistischen Organismusbegriffs sowie der Annahme einer Wechselwirkung von Körper und Seele überein, wobei er sich wie Stahl weniger auf medizinische Autoritäten als vielmehr auf seine praktische Erfahrung als Arzt am Krankenbett beruft. Der Konflikt zwischen organischem und mechanischem Naturverständnis prägte die philosophischen Debatten der Frühaufklärung, und Dippel setzte sich mit einer ähnlich spitzen Feder mit Hobbes, Descartes, Malebranche, Spinoza, Bekker, Wilhelm Deurhoff (1650–1717), Leibniz und Wolff auseinander wie er sie auch in theologischen Debatten zu führen pflegte. Dippels naturphilosophische Texte sind im Vergleich zu den theologischen quantitativ in der Minderheit, jedoch sind Theologie und Naturphilosophie so eng miteinander verschränkt, dass seine Medizin nicht als eigenständige Disziplin erscheint.461 Seine Schriften spiegeln die philosophischen Debatten vom späten 17. bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dahingehend, dass sie die frühen Thesen zur Naturphilosophie noch aus einem rein innerkonfessionellen Disput heraus entwickeln und diese anschließend in den philosophischen Debatten der Frühaufklärung um Mechanismus, Atomismus, Substanzmonismus bzw. -dualismus und nicht zuletzt um den Anspruch der neuen Philosophie, die Theologie als Leitdisziplin abzulösen, fruchtbar machen.462 Dippels Schriften thematisieren naturphilosophische Themen ab dem Jahr 1701 zunächst als schöpfungstheologische Fragen. Das Glaubens=Bekänntnis aus dem Jahr 1700 enthält ein klares Bekenntnis zur spiritualistischen Logostheologie sowie zur Trinitätslehre nach Jakob Böhme, nach der die Trinität nicht personal, sondern modal als drei Ausflüsse aus der Gottheit verstanden wird,463 widmet sonst aber der Schöpfungstheologie keine weiteren Gedanken. Diese sind zum

460 Toellner: Medizin und Pharmazie, S. 342, 461 So auch Sahmland: Das medizinische Konzept Johann Conrad Dippels, S. 601. 462 Der Begriff des Spinozismus bezieht sich auf den ganzen Diskurs der Radikalaufklärung von der Ablehnung göttlicher Offenbarung, Vorhersehung und Wunder und weniger auf ein Bekenntnis zu Spinozas System an sich. Israel: Radical Enlightenment, S. 13. Ein öffentliches Bekenntnis zu Spinoza war in Deutschland nicht ungefährlich und daher noch bis ins späte 18. Jahrhundert selten. Winfried Schröder: Spinoza in der deutschen Frühaufklärung. Würzburg 1987. 463 Dippel: Summarisches und aufrichtiges Glaubens=Bekänntnis I, S. 490 u. 492; vgl. Böhme: Mysterium Magnum, 7:11.



Naturphilosophie zwischen Genesis und Frühaufklärung

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ersten Mal in der sich anschließenden publizistischen Fehde mit Conrad Bröske niedergelegt. Das Christlich=gesinntes Send=Schreiben an Herrn Conrad Brüsken (1700) lehnt die orthodoxe Schöpfungslehre einer Creatio ex nihilo ab und zitiert damit einen Topos, der im Kontext der Zeit sowohl als stoizistisch wie auch als spinozistisch gelten konnte.464 Spinoza oder andere frühaufklärerische Philosophen spielen jedoch in der Argumentationsstruktur keine Rolle, statt dessen stützt sie sich auf Topoi der alchemistisch und theosophisch geprägten Tradition der Genesis-Exegese, wie sie von Böhmes Mysterium Magnum über Weigels Viererley Auslegung von der Schöpfung bis zu Paracelsus zurückreicht. Nicht nur referentiell über Hebr 11,3, Jakob Böhme, Antoinette Bourignon, Pierre Poiret und van Helmont d. J., sondern auch topologisch über den Topos einer Schöpfung nicht aus Nichts, sondern aus dem Unsichtbaren schließt Dippel an den naturphilosophisch geprägten Zweig der hermetischen Tradition an. Der Diskussionsrahmen ist zunächst rein theologisch: Es geht um Bröskes These, dass ein zorniger Gott sich am Menschen rächen und diesen plötzlich vernichten könne, was Dippel in den Bereich einer theologischen Politik mit der Angst verweist und dabei sein signifikant abweichendes Gottes- und Naturbild vertritt: Gott als die sich ewig mitteilende Liebe könne seine Geschöpfe so wenig vernichten wie er sich selbst vernichten kann; das Werden und Vergehen der körperlich sichtbaren Dinge komme damit nicht aus Nichts, sondern aus einem Unsichtbaren, das hier noch traditionell Mysterium Magnum genannt wird.465 Ganze Passagen des Sendschreibens sind in die grundlegendste und ausführlichste naturphilosophische Schrift seines Lebenswerks, Anderer Theil des Weg=Weisers zum Licht und Recht in der äussern Natur, Oder Entdecktes Geheimnüs des Segens und des Fluch in denen Natürlichen Cörpern, zum wahrhafften Grund der Artzney=Kunst in Liebe mitgetheilet (Berlin, 1704) übernommen.466 Diese Schrift, die darüber hinaus im Vorbericht Dippels Erzählung seiner alchemistischen Phase samt einer Lektüreliste beinhaltet,467 enthält einen vollständigen Entwurf zur Schöpfungstheologie, der sich von Jakob Böhme beeinflusst zeigt und Hermes Trismegistos voller Respekt als Referenz nennt. Der Andere Theil des Weg=Weisers führt im frühen 18. Jahrhundert noch einmal sämtliche hermetische, theosophische, spiritualistische, auch iatrochemische und alchemistische Topoi der frühneuzeitli-

464 Dippel: Send=Schreiben an Conrad Brüßken I, S. 602–629, hier S. 608; vgl. zum Argument in spinozistischem Kontext Israel: Radical Enlightenment, S. 201. 465 Dippel: Send=Schreiben an Conrad Brüßken I, S. 608. 466 Vgl. ebd., S. 608 ff.; Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers, I, 920–1028, hier S. 934 ff. – Zu Anderer Theil des Weg=Weisers auch Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung, Bd. 1, S. 228 ff. u. Bd. 2, S. 261. 467 Dippel: Fata chymica I, S. 920–930.

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chen hermetischen Tradition in einem großen Panorama der Schöpfungstheologie zusammen, das sich trotz großer philosophischer und narrativer Erweiterungen noch am mythologischen Narrativ der Genesis orientiert. Gleichzeitig soll über diese naturphilosophische Beschreibung des Wirkens Gottes in der Natur die Heilige Schrift wie die Naturforschung von »Vorurteilen« und »Absurditäten« aus der Tradition gereinigt werden.468 Gegen die Etablierung der Mathematik zur neuen Leitwissenschaft in der Philosophie betont sie das Primat der (Al-)Chemie, allerdings nicht als esoterische Geheimlehre, sondern als Wissenschaft des empirischen und erfahrungsbezogenen Forschens, insbesondere im Hinblick auf die Medizin. Der empirische Zugang zur Philosophie der Natur reflektiert lediglich auf einer anderen Ebene Dippels Abneigung gegen die ›tintenkleksende‹ Schulwissenschaft und ihre Lehrautorität Aristoteles, die im ersten Band des Weg=Weisers schon einmal mit dem Osterhasen und ihre Schlüsse mit »philosophischen Haasen=Eyern« verglichen werden können.469 Dieses Primat der Empirie und die topische Rückbindung an den Traditionsbestand der Genesis-Auslegung unterscheidet Dippels Anderen Theil des Weg=Weisers auch von Christian Thomasius’ zeitnah publiziertem Versuch vom Wesen des Geistes (1699), der sich demselben Fragenkomplex, der Wechselwirkung von Geist und Materie, deutlich philosophischer orientiert zuwendet und auf paracelsistische Topoi wie den der Gott-Mutter verzichtet.470 Trotz seines Bekenntnisses zur Alchemie pflegt Dippel jedoch keinen unkritischen oder pauschalen Umgang mit der hermetischen Tradition. Während er Jakob Böhme, Hermes Trismegistos, die philosophischen Ärzte Paracelsus sowie insbesondere Jan Baptist van Helmont (1580–1644) voller Respekt nennt, verwirft er die Kabbala im Allgemeinen und das kabbalistisch-pansophische Zauberbuch Clavicula Salomonis im Besonderen und begründet dieses Urteil mit einem traditionellen Kriterium, nämlich der Überschätzung des Eigenwillens in den kabbalistischen Texten.471

468 Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers  I, S. 934: »[…] daß man weder heiliger Schrifft, noch der Natur Gewalt anlege, sondern vielmehr einen richtigen Grund setze, beydes die heilige Schrifft, und die Erkänntnüs der Natur aus vielen präjudiciis and absurdis zu befreyen«. 469 Dippel: Weg=Weiser zum verlohrnen Licht und Recht I, S. 799: »So hat Aristoteles auch in der Logic und Metaphysic Philosophische Haasen=Eyer gelegt, und geglaubt, die Leute würden es niemals erfahren, daß auch ein lepus lipes, oder zweyfüßiger Haas in den Philosophischen Garten kommen.« 470 Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung 2, S. 291; ders.: Norddeutsche Frühaufklärung. Poesie als Medium einer natürlichen Religion. In: Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. Hg. v. Karlfried Gründer u. Karl Heinrich Renstorf. Heidelberg 1989, S. 79–99, hier S. 97. 471 Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers I, 948; zur Schrift Clavicula Salominis, gedruckt



Naturphilosophie zwischen Genesis und Frühaufklärung

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Was in Dippels Naturphilosophie als schöpfungstheologische Emanzipation von der akademischen Schultheologie begann, wird nur vier Jahre später im Jahr 1708 in die naturphilosophische Auseinandersetzung mit den frühaufklärerischen Philosophen überführt. Die systematische Auseinandersetzung mit Hobbes, Descartes, Spinoza, Bekker, Deurhoff und Malebranche entzündet sich an der Frage der Willensfreiheit, die mit der Verbreitung cartesianischer und spinozistischer Philosophie von den theologischen in die philosophischen Debatten wanderte. Dippels Fatum fatuum, das ist, Die thörige Nothwendigkeit / oder Augenscheinlicher Beweiß / Daß alle / die in der GOttes=Gelehrtheit und Sitten=Lehre der vernünfftigen Creatur die Freyheit des Willens disputieren, durch offenbare Folgen gehalten sind, die Freyheit in dem Wesen GOttes selbst aufzuheben, oder des Spinozae Atheismum vest zu setzen (Amsterdam, 1708) zielt nicht auf nuancenreiche Differenzierungen im philosophischen Detail, sondern bündelt die gesamte neuere philosophische Entwicklung unter einigen Kernaspekten und Leitfragen wie die Freiheit Gottes und des Menschen, die Wechselwirkungen zwischen Geist und Körper und Fragen der Ethik.472 Der offene Abgleich zwischen den aufklärerischen Philosophen und Namen wie Hermes Trismegistos, Paracelsus und Jakob Böhme macht das Erklärungspotenzial sichtbar, das diese Namen in einzelnen Fragekomplexen, hier: nach Bewegungsvorgängen, nach dem Organismusverständnis und nach der Rolle der nicht-rationalen Erkenntniskräfte auch in der Frühaufklärung noch haben. Erkennbar ist auch, dass zentrale Anliegen im Vergleich zwischen den philosophischen und theologischen Konfliktpunkten dieselben bleiben: Hatte Dippel die Willensfreiheit theologisch gegenüber der Idee der postlapsarischen Korruption des Willens, wie sie in der Konkordienformel formuliert ist, verteidigt, lehnt er nun unter denselben Begründungen die philosophische Idee des Determinismus ab, wie sie in der mechanistischen Philosophie cartesianischer oder spinozistischer Prägung auftritt. Die medizinische Dissertation Vitae animalis morbus et medicina aus dem Jahr 1711473 stellt neben dem Andern Theil des Weg=Weisers die umfassendste für sich stehende Darlegung seiner Naturphilosophie dar, die einerseits eine Widerlegung des mechanistischen Menschenbilds beinhaltet, andererseits aber selbst eine Schwerpunktverlagerung innerhalb der Naturphilosophie dar-

1686 im pietistisch-heterodoxen Verlag Andreas Luppius in Frankfurt a.M.; zum literaturhistorischen Einfluss von Dippels Weg=Weiser bis zu Goethes Faust Hans-Jürgen Schrader: Salomonis Schlüssel für die ›halbe Höllenbrut‹. Radikalpietistisch tingierte ›Geist=Kunst‹ im Faustschen ›Studierzimmer‹. In: Schneider/Kemper: Goethe und der Pietismus, S. 231–256. 472 Lorenz: De mundo optimo, S. 134. 473 Sie erschien unter dem Titel Des thierischen Lebens Kranckheit und Artzney 1713 in Frankfurt a.M., 1730 in Hamburg, 1736 in Leipzig und Frankfurt a.M., 1747 in der Gesamtausgabe.

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stellt. Dippel promovierte mit dieser Arbeit am 17. April 1711 an der Universität Leiden bei dem Anatomen Bernardus Albinus (Weiß).474 Die Anatomie hatte seit Andreas Vesals (1514–1564) De humani corporis fabrica libri septem (1543) eine Entwicklung zur medizinischen Leitwissenschaft durchlaufen, die so fundamentale Revisionen traditionellen Wissens wie die Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey 1628 ermöglichte.475 In Leiden, wo Boerhaave nach dem Vorbild von Descartes die Medizin mittels einfacher und klarer Prinzipien neu begründen wollte und die Ansicht vertrat, dass sich die Medizin auf die Erforschung des Körpers als Res extensa beschränken könne, konnte die Anatomie von Albinus sogar als Gottesbeweis und als Ausgangspunkt erbaulicher Reflexionen zur Selbsterkenntnis eingesetzt werden.476 Anatomie, Physiologie (Tierversuche) und Autopsie wurden anstelle der traditionellen Humoralpathologie zu medizinischen Leitwissenschaften, die das neue mechanistische Weltbild als Grundlage der Theorien vom Körper, von Gesundheit und Krankheit in der Praxis ergänzten. Im Anschluss an Descartes L’Homme (1633), De la description du corps humain (1648, postum 1662 u. 1664) sowie Les passions de l’âme (1649) entstand das Konzept des Körpers als eines nach mechanischen und hydraulischen Prinzipien funktionierenden Automaten. Die Iatromechanik versuchte, lebende Organismen nach den Gesetzmäßigkeiten mechanisch-physikalischer Kategorien zu beschreiben und betrachtete den Körper als weitgehend von der Seele autonom funktionierende Maschine, deren Bewegungen durch Anstoß und Berührung mit ihrerseits bewegter Materie hervorgerufen werden.477 Der Körper als lebende Materie bedarf damit der Seele nicht mehr, während die Seele als Res cogitans auf verschiedene Arten des Denkvermögens reduziert wird. Krankheit und Heilung werden als Störungen eines Körper-Mechanismus beschreibbar, die strikt von seelischen Befindlichkeiten getrennt verlaufen.478 Während die mechanistische

474 Voss: Christianus Democritus, S. 49. – Dippel hatte sich lediglich zwei Wochen vor seiner Promotion immatrikuliert, erwähnt jedoch im Vorwort der Dissertation, dass er seit zwölf Jahren praktische Studien betrieben habe. Bernhard Siegfried Albinus galt als einer der herausragendsten Anatomen seiner Zeit. 475 Hier und zum folgenden Sahmland: Pietistische Anatomie-Kritik, S. 795 ff. 476 Sahmland: Pietistische Anatomie-Kritik, S. 797 f. 477 Prägnant formuliert in Zedlers Universal-Lexicon: »Mechanisch (Mechanice) philosophieren diejenigen, welche die Würckungen oder Veränderungen der natürlichen Cörper aus ihrer Struktur vermöge der veränderlichen Gesetze der Bewegung auf eine verständliche Art erklären, und folglich die Cörper als Maschinen ansehen. Denn, da alle Cörper zusammen gesetzet sind, ihre Veränderungen auch nach gewissen Regeln der Bewegung geschehen; so ist ein jeder Cörper eine Maschine.« Johann Heinrich Zedler: Grosses und vollständiges Univesal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 69 Bde. Halle Leipzig 1732–1754, hier Bd. 20 (1739), S. 22. 478 Sahmland: Das medizinische Konzept Johann Conrad Dippels, S. 602.



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Medizin damit einerseits im Bereich Anatomie und Chirurgie ihre methodologischen Erkenntnismöglichkeiten weit ausdehnte, verschärfte sich der Konflikt um anthropologische Deutungen. Der strikte Substanzdualismus schloss jede Wechselwirkung zwischen Körper und Seele aus und stufte die körperlichen Bewegungskräfte als nicht intelligente, stoffliche Reize der Muskeln oder der Nerven ein. Auch spaltete die Reduktion der Seele auf das Denkvermögen den ganzen Bereich der Gefühle, der Sinnlichkeit und der Intuition ab und konstruierte eine Opposition zwischen der Ratio und den »dunklen« Erkenntniskräften, die bis in die spezifischen Ausprägungen der Ästhetikdebatten im späteren 18. Jahrhundert und in das forschungsleitende Konzept einer »Nachtseite der Aufklärung« diskursprägend wurde. Dippels Dissertation setzt sich äußerst kritisch mit den Fragen auseinander, die der Siegeszug des Cartesianismus in der Medizin aufwirft. Die Arbeit widmet sich in einzelnen Kapiteln der Natur des Lebens, der Bedeutung der Leidenschaften für die Entstehung von Krankheiten und Genesung und einer grundlegenden Widerlegung der mechanistischen Philosophie. Sie kreist um die semantischen Leerstellen und Erklärungslücken des mechanistischen Menschenbilds wie die Frage nach dem Zusammenhang von Geist und Materie, der Frage nach dem Motus naturae sowie nach dem Status der Tiere, die im cartesianischen System ebenfalls auf den Status von Maschinen reduziert werden.479 Ähnlich wie Stahl argumentiert Dippel mit seiner praktischen Erfahrung als Arzt am Krankenbett, wenn er den Substanzdualismus mit Hilfe eines empirisch beobachteten Wechselspiels zwischen dem Gemütszustand seiner Patienten und ihrer körperlichen Verfassung problematisiert, und ähnlich wie Stahl akzentuiert er das Vertrauen, das der Arzt den Patienten einflößen kann, als äußerst wichtigen Faktor für den Heilerfolg. Krankheit und Heilung werden damit nicht als mechanische Defekte, sondern als Verlust und Wiedergewinnung einer Balance in einem Organismus verstanden, der sowohl Körper wie Seele umfasst, wobei der Seele und insbesondere den Gefühlen eine machtvolle Position zukommt. In diesem medizinischen Kontext sieht Dippels Dissertation wiederum Erklärungspotenzial in den Texten der hermetischen und paracelsischen Tradition und postuliert nicht mechanische Kräfte, sondern ein ubiquitäres geistiges Prinzip als Ursache aller Bewegung und damit allen Lebens. Er verbindet das alte Konzept der trichotomen Anthropologie mit dem Archäuskonzept aus Jan Baptist van Helmonts Aufgang der Artzney-

479 Zum cartesianischen Konzept der Tier-»maschine« René Descartes: Discours de la méthode. französisch-deutsch. Hg. v. Lüder Gäbe, Hamburg 1990, S. 91 ff. Ausführlich diskutiert bei Alex Sutter: Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes, Leibniz, La Mettrie und Kant. Frankfurt a.M. 1988, S. 64–80.

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Kunst, um die unsterbliche Seele von einem vegetativen Mittelleben zu differenzieren, das sowohl für die Bewegung der Körper, wie auch für die Empfindung und damit für Gesundheit und Krankheit verantwortlich sein kann.480 In einer ausgesprochen aufklärerisch gehaltenen Vorrede unterrichtet Dippel seine Leser von seinem Werdegang und seiner Motivation und berichtet, dass er zum Zeitpunkt seiner Promotion bereits zwölf Jahre lang empirische Studien betrieben hatte. Während er das Theologiestudium auf den Rat seiner Eltern absolviert hatte, erwuchsen die Studien der Natur seinem eigenen Interesse. Das Ideal des Arztes zeichnet er als jemanden, der gerade nicht nur »vorgeschriebenen Meynungen und Recepten« folge, sondern der sein Wissen aus »kluger Nachforschung der natürlichen Wahrheiten« erwerbe und sich von der »Hand der lebendigen Erfahrung« leiten lasse.481 Seine Neuorientierung im Lebensweg, die Wahl des Berufs eines (selbständigen) Arztes anstelle eines Theologen im öffentlichen Amt, begründet Dippel mit der Gedankenfreiheit des Naturforschers, der sich nicht mehr vor Autoritäten verstellen müsse.482 Nach einer offenherzigen

480 Dippel: Des thierischen Lebens Kranckheit und Artzney II, S. 124–373, hier S. 201. Jan Baptist van Helmont ist medizinhistorisch für Dippel eine der wichtigsten Quellen und Vorbilder gewesen. Er sah sich selbst als Neuerer und Vater der Medizin, verwarf Bücher und Wortglauben als Quelle der Heilkunst und berief sich wie Dippel auf Gott als wahren Lehrer. 1625 wurde er von der Inquisition verurteilt. Sein Hauptwerk Ortus medicinae gab erst sein Sohn Franciscus Mercurius heraus. Im Jahr 1683 wurde es von Christian Knorr von Rosenroth am Sulzbacher Hof übersetzt und als Aufgang der Artzney=Kunst gedruckt. Heinrich Schipperges: Jan Baptist van Helmont (1579–1644). In: Engelhardt/Hartmann (Hg.): Klassiker der Medizin 1, S. 145–153. Zum Archäuskonzept Christian Knorr von Rosenroth: Aufgang der Artzney-Kunst. Hg. v. Martin Bircher und Friedhelm Kemp. München 1971 (Deutsche Barock-Literatur I), S. 40 ff. 481 Dippel: Des thierischen Lebens Kranckheit und Artzney II, S. 124–373, hier S. 129. Siehe auch Buchner: Johann Konrad Dippel, S. 273 ff. 482 Dippel: Des thierischen Lebens Kranckheit und Artzney II, S. 128 f.: »Denn die Artzney=Kunst, nebst der ihr zu Dienste stehenden Naturwissenschaft haben zu unsern Zeiten unter den Gelehrten fast allein das glückselige Verhängnis, daß sie mit einem ieden, der darinnen erfahren, ohne Verstellung reden, und ihre Verrichtungen ohne Gefahr äussern, auch, ohne sich an iemandes Reguln oder Worte zu binden, sich derjenige Freyheit gebrauchen dörffen, welche einem rechtschaffenen Menschen anständig, und einem fleissigen Forscher der Wahrheit und Jünger der wahren Weißheit einzig und allein den Weg zu etwas bessers und höhers eröffnet. Und obgleich hie und da einige wenig noch bis diese Stunde nicht wol darauf zu sprechen sind, daß ihnen ihre angemaßte Autorität entrissen worden; auch um eitler Ehre und schnöden Gewinnstes willen sich nicht wenig bemühen, die Freyheit derjenigen, welche die Wahrheit und das gemeine Beste aufrichtig suchen, in engere Schrancken einzuschliessen; so hat doch diese von ihnen erfundene, und andern angemuthete Sclaverey bishero bey Leuten von Ansehen weder Beyfall noch Schutz gefunden, […] weil überall einem ieden daran gelegen, einen solchen Artzt anzutreffen, der nicht etwan bloß durch Erlernung der vorgemahlten Sätze und Recept=Formuln, sondern vielmehr durch geschickte Untersuchung der natürlichen Wahrheiten / und durch Anleitung der



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Selbstkritik seiner eigenen Vergangenheit als Gelehrter (»nach abgelegter lärer Einbildung«)483 fühlt er sich nun dazu berufen, mit seinen Fähigkeiten dem Gemeinwesen zu dienen und über die Erforschung der Natur sowohl ergötzen als nützen zu können. Dabei geht es ihm, dem bekennenden Alchemisten, gerade nicht um das Wuchern mit ›Geheimnissen‹, sondern im Gegenteil darum, nach seinen Fähigkeiten das von Vorurteilen unbelastete Wissen der empirischen Naturforschung den interessierten Lesern zugänglich zu machen: […] wenn ich freywillig die Gelegenheit ergreiffe, dasjenige zum allgemeinen Nutzen desto freyer zu eröffnen, welches mir meines Erachtens blos zu diesem Ende anvertrauet worden. Dieserwegen habe ich gleich anfangs eine […] höchst nützliche Materie erwählet, damit ich, weil es die ietzigen Umstände doch also erfordern, von dem was ich gelernet einiges Probestück ablegen, und zugleich dem Wahrheit begierigen Leser nach meinem wenigen Vermögen Nutzen schaffen, auch selbigem zu den Geheimnissen der Natur einen ebenen 484 und geraden Weg bahnen möge.

Dieses aufklärerische Selbstverständnis ist von einer ausgesprochen leserorientierten, dialogisch geprägten Haltung flankiert, die in Abgrenzung zu den »schulfüchsischen Abstraktionen«485 der Fakultäten inszeniert ist: Die Leser mögen seine Gedanken, die für sie ausführlich erklärt würden, aufmerksam lesen und »unpartheisch« prüfen. Dem Autor gehe es weder darum, seine Gelehrsamkeit zur Schau zu stellen noch den »Neuerungs=Kitzel« zu bedienen. Er will allerdings angesichts des sich verbreitenden Cartesianismus auf die Gefahren der neuen Korpuskulartheorien hinweisen. Ihnen gegenüber verteidigt er das Konzept einer traditionellen Lehre der All-Einheit, die er unter topischem Rekurs auf die Weisheit als sinnstiftend in der Frage nach der Natur des Lebens charakterisiert: Es mögen demnach diejenigen, welche lange genug, von iedem Winde und Lüfftgen gedruckt, in den unordentlich bewegten particulgen herumgeschwärmet, nunmehro mit gutem Willen die sich selbst bewegende und vor sich selbst lebende Dinge wieder vest gestellet sehen, und, wenn es ihnen beliebet, mit mir alda vesten Fuß setzen, allwo die nie versiegende Quelle des unbeweglichen Lebens die nach ihr Durstende dergestalt labet und erquicket, daß alle Begierde etwas mehrers zu wissen und zu kosten weichen muß, indem daselbst alle Linien des gantzen Circuls der Vollkommenheit aus dem Umkreyse der geschaffenen Dinge dergestalt in einem einzigen Mittelpunkt zusammen lauffen und gegen-

lebendigen Erfahrung / als der einigen Lehrmeisterin sowohl der Klugen als der Thoren, zum Artzt geworden, welche Untersuchung und Erfahrung dann beyderseits weder durch Vorurtheile, noch durch das Ansehen der Person geblendet werden können.« Auch Sahmland: Pietistische Anatomie-Kritik, S. 806. 483 Dippel: Des thierischen Lebens Kranckheit und Artzney II, S. 130. 484 Ebd., S. 131. 485 Ebd., S. 132.

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wärtig sind, daß ein aufrichtiger Liebhaber der Weisheit Eines in allem, und alles in Einem 486 beschauen kann.

Dippels Vorrede umreißt damit nicht nur trotz, sondern gerade in ihrer Aktualisierung des traditionellen Gedankens der All-Einheit Kernaspekte der frühen Aufklärung und erlaubt einen Einblick in die individuellen wie zeittypischen Motive einer Wende von der Theorie zur Empirie, vom Primat der Schriftkenntnis zum Faszinosum Naturstudien und von der Traditionsorientierung zur Vorurteilskritik.487 Obwohl die Dissertation übersetzt wurde und mehrere Auflagen erlebte, blieb ihr jedoch eine wissenschaftliche Rezeption verwehrt, wie Dippel selbst noch im Jahr 1732 berichtet, da weder die Vertreter des Aristotelismus noch des Mechanismus an den Universitäten an seine Thesen anschließen konnten. Eine angefügte Anekdote deutet die getrennten Denk- und Kommunikationskulturen zwischen der medizinischen Fakultät und Dippels medizinischer Position an: Der 1711 noch in Rheinsburg bei Leiden wohnende Pierre Poiret las Dippels Dissertation und prognostizierte ihm das Unverständnis der Professoren. Als Dippel einwandte, jeder »Käsemacher« könne seine Arbeit verstehen, antwortete Poiret, das sei zweifellos der Fall, aber Gelehrte könnten eingefahrene Bahnen nun einmal schlecht verlassen.488 Die Themen und Argumentationsfiguren der Dissertation variieren in den späteren Schriften nach seinem Gefängnisaufenthalt, der für seine medizinische Tätigkeit keine Unterbrechung darstellte, je nach Diskussionspartner, bleiben jedoch weitgehend den einmal entwickelten Grundpositionen treu.489 Das Neue in den Schriften ab 1728 besteht darin, dass erstens mit Leibniz und Wolff neue Philosophen in den Blick geraten und dass zweitens die Amtskirche nun gerade mit Hilfe jener Philosophen, insbesondere mit Christian Wolff, ihren Lehrbestand zu retten versuchte.490 Wolff hatte seine Karriere mit Vorlesungen über Mathema-

486 Ebd., S. 138. 487 Richard Toellner bezeichnet die Frage nach den Motiven, die eine auffallend große Zahl von Pietisten, insbesondere Radikalpietisten, zum Medizinstudium reizte, als noch völlig unerforscht. Die Liste an Namen reicht von den Gründervätern Johann Arndt, der in Basel durch Theodor Zwinger (1533–1588) mit dem Paracelsismus in Berührung kam, bis zu Philipp Jakob Spener (1635–1705), der durch das Studium der verbreiteten »Institutiones physica« (Wittenberg 1635) des Wittenberger Medizinprofessors Johannes Sperling (1603–1658) einen »Eckel an Aristoteles« bekannte. Toellner: Medizin und Pharmazie, S. 338. 488 Dippel: Entdeckung der Gewissen=losen Verdrehung […] III, S. 1–185, hier S. 15. 489 Sowohl in den späten philosophischen wie theologischen Debatten weist Dippel stets auf die Dissertation zurück. Bd.  II, S. 929, Bd.  III, S. 263. Auch Buchner: Johann Konrad Dippel, S. 288 f. 490 Lorenz: De mundo optimo, S. 145.



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tik und Logik an der Universität Halle begonnen und wollte nach dem Beispiel der neuen Naturwissenschaft die Philosophie als exakte und evidente Wissenschaft aufbauen, die mit Hilfe der mathematischen Methode, richtiger Schlüsse und klarer Begriffe alles Wissen in einem einzigen System vereinigen konnte. Damit wurde das Postulat endgültigen Wissens aus den Bereich der Offenbarung an den Bereich der menschlichen Vernunft weitergereicht, was sich in den Titelgebungen von Wolffs Werken spiegelt: 1713 erschien seine Logik Vernünfftige Gedanken von den Kräfften des menschlichen Verstandes, 1719 die deutsche Metaphysik Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen und 1720 die deutsche Ethik Vernünfftige Gedanken von des Menschen Thun und Lassen, die hohe Auflagenzahlen erreichten und zur Grundlage für die prägende Stellung des Rationalismus in der Aufklärungsphilosophie im deutschen Sprachraum wurden.491 Auch Wolff definierte den Körper cartesianisch mittels der zeitgenössischen Maschinenmetapher als »ein aus Materie zusammengesetztes Ding, das eine bewegende Krafft in sich hat«492 und sprach der Vernunft das alleinige und unumschränkte Erkenntnisvermögen zu, wobei er unter Vernunft eine abstrakt und wissenschaftlich denkende, systemorientierte Verstandestätigkeit verstand und sie der menschlichen Erfahrung gegenüberstellte, die er wiederum als fehleranfällig begriff.493 Damit bekräftigte er nicht nur den cartesianischen Dualismus, er schrieb auch die psychologische und erkenntnistheoretische Abwertung der Gefühle und des Seelenlebens als »Dunkles« mit Hilfe der Logik und damit folgenreich als »wissenschaftlich« fest.494 Dippel dagegen vertrat anthropologisch, theologisch und naturphilosophisch in diesen Punkten die exakten Gegenpositionen und protestierte auf das Entschiedenste gegen die nun philosophisch begründete Apotheose der Ver-

491 Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, S. 126 ff. Als »epochemachend« werden auch seine lateinischen Lehrbücher aus den 1730er Jahren bezeichnet, Psychologia empirica (1732) und Psychologia rationalis (1734), die jedoch nach Dippels Gegenschriften erschienen sind. Weiterführend Wolfgang Riedel: Erster Psychologismus. Umbau des Seelenbegriffs in der deutschen Spätaufklärung. In: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. v. Jörn Garber u. Heinz Thoma. Tübingen 2004, S. 1–17, hier S. 5 ff. 492 Christian Wolff: Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, 5 auch aller Dinge überhaupt […]. Frankfurt a.M./Leipzig 1733 (1. Aufl. 1720), S. 383, ebenso S. 380: »Daraus kan man begreiffen […] daß die Cörper lauter Maschinen sind.« Siehe den ausführlichen Überblick zu Wolffs Anthropologie bei Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung, S. 231 ff. 493 Wolff: Vernünfftige Gedanken, S. 471; Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung, S. 235. 494 Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung, S. 240 f.

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nunft. Sie konnte vor dem Hintergrund des trichotomen Erkenntnismodells, das er aus der mystischen Tradition übernommen hatte, schließlich nichts anderes bedeuteten, als dass letztgültige Erkenntnisse ausgerechnet von der Erkenntniskraft erwartet wurden, die allein an den menschlichen Bereich gebunden war, während die intuitive, mit dem Bereich Gottes verbundene Erkenntniskraft des Gemüts, die sich gerade in affektiven Regungen und Empfindungen äußerte, pathologisiert wurde. Diese Haltung entspricht keiner grundsätzlichen Abwertung der Vernunft, sondern einer Kritik an Zuspitzungen des philosophischen Rationalismus. Sein Einspruch ist unter dem satirischen Titel Analysis Cramatis Harmonici Hyper-Metaphysico-Logico-Mathematica, Das ist: Chymischer Versuch zu destillieren […]. Die drey harmonischen Systemata der heutigen Philosophie, nemlich des Cartesii, Spinozae und Leibnitzens, aus welcher sowohl die Bauern als die allersubtilsten Ontologi & Mathematici, […] erkennen können, wo sie zu Hause sind, welches gewißlich nichts geringes ist […] (1728) publiziert und problematisiert die Monadenlehre unter dem Stichwort des Atomismus,495 die Idee der prästabilisierten Harmonie sowie den metaphysischen Optimismus Wolffs unter dem Aspekt des Determinismus und warnt vor der Abschaffung der Verantwortlichkeit des Menschen mit allen gefährlichen gesellschaftlichen Konsequenzen. In Etwas Neues, oder Retirade der Lutherischen Orthodoxie, in eine neue von etlichen Leibnitzianischen Ingenieurs aufgeworffene Schantze […] (1732) werden diese philosophischen Fragen noch einmal in einer theologischen Arena mit dem holsteinischen Superintendenten Peter Hansen und dem Inspektor aus Nauen Friedrich Wagner ausgefochten. Die Schrift ist in eine längere Kontroverse eingebettet, die sich um Dippels Vera Demonstratio Evangelica (1729) entspann und den bekannten Themenkreis um das Mittleramt Jesu Christi wieder aufnahm.496 Hansen und Wagner gehörten zu einer neuen Generation orthodoxer Theologen, die sich der wolffschen Philosophie geöffnet hatten und aus ihr Argumente für die theologische Auseinandersetzung zogen. Hansen hatte sogar bei Wolff studiert und unternahm mit Hilfe philosophischer Logik den Versuch, die lutherische Lehre nun More geometrico gegenüber Dippels Kritik wissenschaftlich zu

495 Da Monaden, nach Leibniz berühmter Definition, »keine Fenster« haben, subsummiert Dippel sie unter das Konzept Atom. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie und andere Schriften. Hg. v. Ulrich Johannes Schneider. Hamburg 2002, S. 113. Die Auseinandersetzung um die Monadenlehre geschieht in Bezug auf deren Popularität durch das Mikroskop des Lewenhoeck, der Samen im Tiersperma entdeckte und annahm, Millionen an Kälberseelen zu sehen. Dippel: Analysis Cramatis Harmonici II, S. 856. 496 Zu einer detaillierten Aufarbeitung der Debatte siehe Walther Rustmeier: Johann Conrad Dippel in Schleswig-Holstein. III. Dippels Kontroverse mit Petrus Hansen in Plön. In: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte. 2. Reihe, 16. Bd. (1958), S. 147–169.



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beweisen.497 Dippel allerdings zeigte sich wenig beeindruckt von mathematischer Methode und wissenschaftlichem Habitus und überschüttete Hansen förmlich mit Spott.498 Stattdessen suchte er das Motiv für die Verbindung aus Wolffianismus und Orthodoxie in politischen Interessen zu entdecken. Indem nämlich der Rationalismus cartesianischer oder wolffscher Prägung philosophisch erlaubte, jede Wirkung des Geistes auf die Materie auszuschließen, bot er die wirksamste Waffe gegen die alten Kritiker, die »Schwärmer«, und bestätigte das Sola fide der Rechtfertigungslehre gegen alle Modelle, die eine reelle Mitteilung Christi an die Gläubigen oder eine (Rück-)Verwandlung des Materiellen ins Geistige annahmen.499 Dippels Panpsychismus und seine vitalistische Naturphilosophie sind dagegen eng mit einem anthropologischen Modell verschränkt, das die dogmatischen Glaubensaussagen über die Christologie und das Lehramt der Kirche auf das Empfindlichste hinterfragt. Dippels Schrift Vera Demonstratio Evangelica, die den Ausgangspunkt der späten naturphilosophischen Kontroversen bildet und als »grundlegendster Ausdruck der systematisch-theologischen Kritik« Dippels bezeichnet worden ist,500 macht den theologischen Konflikt hinter der naturphilosophischen Frage zum Verhältnis von Körper und Seele sichtbar. In einer Reihe an eingängigen medizinischen Metaphern von Christus als Arzt insistiert Dippel auf der individuellen Verantwortung des einzelnen zur Lösung aus der Sünde gegen die forensische Rechtfertigungslehre: Kein Arzt könne Kranke stellvertretend heilen, indem er an ihrer Stelle gesund sei oder Medizin einnimmt, so Dippel, und die Annahme von Christi stellvertretendem Leiden führe nur zur (späten) Einsicht, dass dieser auch stellvertretend in die Seligkeit eingegangen sei.501 Wenn aber Heilung bedeuten soll, dass der Patient bzw. der Sünder selbst die Medizin einnimmt bzw. sich aktiv selbst auf die Nachfolge Christi als Lösung

497 Dippel: Etwas Neues III, S. 240. Für die Theologen aus der Schule Wolffs rückten die Schrift und die Vernunft (nicht mehr die Bekenntnisse) an die höchste Stelle der Wahrheitsfindung in Glaubensdingen. Man ging davon aus, dass die Theologia naturalis die Theologia revelata darin bestätige, dass es keine logischen Widersprüche in der kirchlichen Lehre gebe. Damit bot die wolffsche Philosophie der Orthodoxie die Waffen in Form von Logik und Naturtheologie im Kampf gegen die aufkommende Moderne. Rustmeier: Johann Conrad Dippel in Schleswig Holstein, Bd. III, S. 154 f. 498 Im Jahr 1733 mit der Streitschrift Quo moriture, ruis, Peter Hansen III, S. 467–569. 499 Dippel: Etwas Neues III, S. 265. 500 Rustmeier: Johann Conrad Dippel in Schleswig Holstein III, S. 148. 501 Vera Demonstratio Evangelica II, S. 633–692, hier S. 677 u. 681. Diese Kritik ist als »gefährlichster Angriff auf das Zentrum ihres [der Kirche] Lehrgebäudes« beschrieben worden. Rustmeier: Johann Conrad Dippel in Schleswig Holstein III, S. 147.

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von der Sünde einlässt,502 dann ist an einen Prozess der Verähnlichung mit Gott als der ewigen Liebe zu denken, der sich auch im irdischen Leben als Heiligung und Beseligung, verstanden als eine reale Mitteilung Christi manifestiert. Ein solches Modell ist erstens stark individualistisch geprägt und entzieht sich zweitens religiösen, philosophischen und auch staatlichen Interessen an einem Menschen- und Naturbild auf der Grundlage von geordneten Begriffen. Indem es die Unterwerfung der Natur wie des Menschen unter eine rational erschließbare Ordnung ablehnt und grundsätzlich skeptisch ist gegenüber Reglementierungen durch den Verstand, bestimmt es keine klar identifizierbare Autorität. In der Akzentuierung einer innerpsychischen Wahrheitsinstanz ist ihm die Idee der Unterordnung unter gesellschaftliche Hierarchien, die unhinterfragte Anerkennung eines Machtanspruchs geschlossener Wissenssysteme oder die Bevormundung durch Gesetze der »Natur« fremd. In Bezug auf diese Kriterien ist das Primat der Vernunft nach der Systemphilosophie Wolffs anschlussfähiger, da sie ein wirksames Mittel gegen das Problem unkontrollierbarer Ausdrücke von Individualität, gegen Kritik im Namen einer nur individuell vernommenen höheren Autorität (»Enthusiasmus«) oder gegen das Unberechenbare in der Natur darstellte und damit das sozialgeschichtliche Interesse an gesellschaftlicher Stabilität ideengeschichtlich besser zu stützen vermochte.503 Die situative Verortung der dippelschen Texte zwischen ihrer doppelten Frontstellung gegenüber kirchlicher Orthodoxie und neuer Naturwissenschaft einerseits und einem nicht zu leugnenden Publikumserfolg andererseits spiegelt sich in einer Illustration aus der ihm postum zugeschriebenen pseudonymen Schrift mit dem Titel Christiani Democriti Redivivi umständliche Erzehlung, Wie es mit seinem vermeinten Tode zugegangen sey (1736). Sie stammt von Johann Friedrich Bachstrom und gibt als Druckort den »Johannis=Berge in der Wüsten« an, was an sich bereits eine Positionsbestimmung in der Arena weltanschaulicher Kontroversen bedeutet. Im Bild feuern ein Kanonier sowie ein feuerspeiender Drache, dessen Schwanz ebenfalls als Kanonenrohr fungiert, auf eine Zielscheibe, auf der sich der Name Christianus Democritus um ein kleines Herz wölbt. Die Inschriften charakterisieren den Drachen als Orthodoxie und den Kanonier

502 »Erlösung« ist als Befreiung von den Banden des Verderbens definiert; vgl. Vera Demonstratio Evangelica II, S. 676. Die medizinische Metaphorik und die für Dippels Soteriologie charakteristische Erklärung des Leids als Medizin und Ansporn zur Läuterung ist übrigens auch ein hermetischer Gedanke: CH XII 3 (CHD I, S. 147). 503 Zur Analyse der Spiegelungen von Sozial- und Ideengeschichte speziell bei Wolff GeyerKordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung, S. 218 u. 241; ausgreifend zur Verbindung von Mechanismus, Macht und Ordnungsdenken im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert Merchant: Der Tod der Natur, S. 177 ff., 192 ff. u. 220 ff.



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als Mathematiker, die jedoch in ihren Angriffen auf Dippel gründlich vorbeischießen. »Zu hoch. Zu niedrig« ist auf einer Fahne zu lesen, die eine fröhlich wirkende Figur im Hintergrund in die Höhe hält. Demgegenüber strebt eine Engelsfigur am linken Bildrand, deren Flügel mit den Worten Theologia vera et Irenica bezeichnet sind, mit einem kleinen Kind himmelwärts auf einen Berg, der über dem Kampfgeschehen der Kontroversen liegt. Als historisches Rezeptionszeugnis ist das Bild insofern vielsagend, als es zwei Jahre nach Dippels Tod noch einmal die situative Einbettung seiner Schriften in die literarische Streitkultur vergegenwärtigt, die auf vielen Wissensfeldern, theologisch, naturphilosophisch und in Bezug auf die Stellung des Individuums zwischen Selbstbestimmung und Autorität, zu einer letztlich aufklärerisch wirkenden Pluralisierung der Positionen geführt hat.

Abb. 9: Christiani Democriti Umständliche Erzehlung wie es mit seinem vermeinten Tode zugegangen sey […] (1736)

5.2. Skizze der Naturphilosophie nach dem Andern Theil des Weg=Weisers Dippels Andern Theil des Weg=Weisers (1704) entstand zur Zeit von Dippels Tätigkeit als Alchemist in Berlin unter der Protektion des Grafen August von Wittgenstein,504 d.h. nach einer bereits vierjährigen praktischen Beschäftigung

504 Bender: Johann Konrad Dippel, S. 84.

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mit Alchemie und Transmutationsvorgängen in der Materie, die allerdings von Anfang an in kritischer Distanz zur älteren spekulativen Alchemie und entsprechender alchemistischer Rätselsprache stattfand. Dippel schöpft sichtbar aus hermetischen Quellen und zeichnet die Schöpfung nach Böhme, Weigel, van Helmont d.Ä. und Hermes als kosmisches Drama zwischen Sündenfall und Erlösung. Dabei ist das biblische Narrativ der Genesis zwar noch als schöpfungstheologisches Wissen präsent, allerdings hat es seinen Status als strukturprägendes Erzählgerüst eingebüßt. Eine weitaus größere Rolle als die schriftgemäße Exegese spielen die im Lauf der Deutungstradition hinzugetretenen Erzählelemente wie die Topoi vom zweifachen Sündenfall, die theosophische Zwei-Prinzipien-Lehre, eine alchemistische Elementenlehre sowie die aus der paracelsischen Tradition übernommenen Archaeusvorstellungen. Keine Rolle spielt dagegen die minutiöse Ausdeutung der einzelnen Schöpfungstage, die für Weigel und Böhme noch wichtig gewesen war und die Böhmes Mysterium Magnum mit den sieben »Qualitäten« Gottes identifiziert hatte. In wesentlichen Punkten schließt das naturphilosophische Modell des Anderen Theil des Weg=Weisers an Böhmes Mysterium Magnum an.505 Zu diesen Punkten gehört das Motiv eines zweiphasigen, nun aber temporal verstandenen Schöpfungsprozesses, nach dem Gott in der ersten Schöpfung sich in einer Lichtund Feuergestalt offenbart. Diese Phase endet mit der Trennung der zwei Aspekte des Lichts und des Feuers, analog zu Böhmes zwei Reichen der Liebe und des Zorns und mit dem ersten Fall ins Chaos.506 Die zweite Schöpfung aus dem Chaos entspricht dann der Erzählung der Genesis als Schöpfung des Menschen und der Natur, die wiederum mit einem Sündenfall endet und die Welt in der nun alchemistisch irdisch und wässrig gedachten Materie hervorbringt. Diese Geschichte der Schöpfung als eines zweifachen Falls beschreibt eine Bewegung aus der Welt des reinen Geistes in die Materie, in der die Trennung von zwei dualen Prinzipien eine strukturprägende Rolle spielt und die gegenüber den traditionellen Dualismen (Gott/Welt, Nichts/Stoff) eine innergöttliche Zwischenstufe annimmt, die als Chaos, als Prima materia oder »Unsichtbares« mit einer geistleiblichen Qualität versehen wird. Aus ihr entsteht schließlich die sichtbare Welt, und Dippel gibt sich Mühe, diese Differenz zu betonen: Die Vorstellung einer Schöpfung aus

505 Präzisierend muss gesagt werden, dass Dippel im Gegensatz zur Tradition der alchemotheologischen Genesis-Exegese des 17. Jahrhunderts die Grenzen des Wissens sowohl nach der Autorität des Moses als auch nach den so bezeichneten Offenbarungen des Hermes oder Böhme reflektiert. Aussagen über einen Zustand vor der Schöpfung sind kategorisch unbeweisbar, sowohl von Atomisten wie von Hermetikern. Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers I, S. 931 f. 506 Ebd., S. 999 u. 1005; Böhme: Mysterium Magnum, 4:1.



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dem Nichts, vertreten von Orthodoxie wie Mechanismus, sei »absurd«, vielmehr schaffe Gott die Welt »aus sich selbst«.507 Dieser Prozess der Schöpfung ist umkehrbar gedacht und beschreibt dann den Prozess der Erlösung. Nach dem »Fall« wurde das uranfängliche Feuer im Innern der Materie eingeschlossen, wo es nun latent präsent gedacht ist. Vor diesem Verständnishorizont bedeutet Erlösung für Dippel nichts anderes als eine sukzessive Läuterung der Welt zur ursprünglichen Feuers- und Lichtgestalt. Diese alchemistische Idee stützt sich auf Beobachtungen zu verschiedenen Aggregatzuständen der Materie und damit auf einem »empirischen« Begründungszusammenhang,508 der im kommunikativen Kontext gegen praxisferne Theorien und abstrakte, auf mathematische Berechnungen gestützte Beweisführungen gleichermaßen verteidigt wird. Das im Titel genannte »Licht und Recht in der äußeren Natur«, zu dem Dippels Naturphilosophie ein »Weg=Weiser« sein will, ist nichts anderes als jene aus der grobstofflichen Materie extrahierte (»ausgezogene«) Feuers- und Licht­gestalt, von deren Existenz Dippel aufgrund eigener Experimente überzeugt war.509 Es ist noch einmal vielsagend zu notieren, dass jene endzeitliche Feuersund Lichtgestalt mit den Begriffen des neuen Jerusalem oder des lebendigen Wassers aus Off 21,10 und 22,1 umschrieben wird, dass also die biblischen Topoi somit einerseits gegen pietistisch-chiliastische Vorstellungen einer endzeitlichen Stadt metaphorisch gedeutet sind, andererseits die Überzeugung von einer Möglichkeit zur Transformation der physischen Welt nach wie vor wörtlich gemeint ist – und das unverändert vier Jahre nach dem Scheitern der pietistischen Millenniumshoffnungen für das Jahr 1700.510 Wesentliche Aussagen dieses Schöpfungsmodells sind erstens die Einheit von Gottes Transzendenz und Immanenz, von Geist und Materie, im Bild des von der Materie umschlossenen Feuers sogar als Ineinander von beiden dargestellt, sowie die Vorstellung von Wechselwirkungen bis hin zu Übergängen zwischen beiden.511 Damit verbietet sich zweitens die Vorstellung einer Trennung Gottes von seiner Schöpfung ebenso wie eine materialistische Gleichsetzung mit ihr. Im Gegenteil: Ausgehend von diesem Modell leitet Dippel die durch sämtliche

507 Dippel, Anderer Theil des Weg=Weisers I, S. 923. 508 Ebd., S. 935. 509 Ebd., S. 1017. 510 Ebd., S. 995; Im Jahr 1733 berichtet Dippel rückblickend von seiner Begegnung mit dem Grafen Caetano in Berlin, den er als Quacksalber wahrnimmt. Dippel: Ein aufrichtiger Protestant III, S. 424 f. Das Motiv eines in der Materie eingeschlossenen Lichts ist neben den Texten der praktischen Alchemie ein Topos von der Stoa bis zur Literatur der Romantik. Detlev Kremer: Romantik. Stuttgart 2001, S. 67. 511 Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers I, S. 933 u. 1001.

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Kontroversen hindurch lebenslang verfochtene These von einem geistigen Grund allen Lebens ab. Die Schriftgemäßheit dieses Bildes wird erstens mit Apg 17,27 »Denn in ihm leben, weben und sind wir« sowie mit dem Paulus-Wort »Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge« belegt.512 Eine substanzielle Trennung der Geschöpfe von Gott ist in diesem Bild undenkbar, da jede Kreatur auch noch im postlapsarischen Zustand im Wesen Gottes selbst  – im Geist-Funken in der Materie  – wurzelt513 und die Schöpfung nach dem Bild der großen Kette des Seins als stufenweise aus dem Wesen Gottes aufgebaut gedacht ist.514 Dieses Feuer ist auch als geistige Kraft der Bewegung gezeichnet.515 Theologisch werden damit Denkmodelle obsolet, die mit dem Gedanken einer substanziellen Trennung Topoi wie »ewige« Höllenstrafen oder Gottes Zorn verbinden. Vernichtung, wie Conrad Bröskes Drohszenario suggeriert hatte, ist nach dieser Naturphilosophie ontologisch unmöglich (»so wenig GOtt sich selbst vernichten kann«).516 Dippels Gottesbild kennt keinen Hass, keine Drohgebärden und vor allem kein Konzept des Beleidigtseins gegenüber den Kreaturen, die ihrem Status nach Ausflüsse aus Gottes sich in 1 000 Gestalten selbst zerteilenden Liebe sind. Das Problem des Bösen erklärt Dippel dagegen im Anschluss an Böhmes Metaphysik des Bösen mythologisch als Auswirkung von Luzifers Fall (erster Fall) und naturphilosophisch mit der daraus resultierenden uranfänglichen Prinzipientrennung vor dem zweiten Fall. Die ganze Natur mit allen Geschöpfen ist demnach durchzogen von den Kräften der Liebe und des Hasses,

512 Röm 11,36; vgl. Dippel: Christlich=gesinntes Sendschreiben an Herrn Conrad Brüsken  I, S. 608; Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers I, S. 932 u. 966. Zur weiteren Popularität bei pietistischen Autoren Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung, S. 192. 513 Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers  I, S. 934: »[…] daß GOtt also die Welt durch sein Wort zugerichtet, daß die sichtbaren Creaturen, aus den unsichtbaren, und nicht aus dem blossen Nichts geworden sind. Demezufolge, wird freylich einer jeden Creatur Wesen seine ewige Wurtzel in dem Wesen Gottes selbst haben, auch die fortgeführte Erhaltung der Creatur in ihrer Art gleichfalls von dem Wort und Wesen GOttes so dependiren, daß alle Dinge, nach dem Zeugnüs der Schrifft, von ihm getragen, und beständig in ihrem natürlichen Seyn gleichsam beseelet werden.« Ders.: Christlich=gesinntes Send=Schreiben I, S. 608. 514 Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers I, S. 936. 515 Ebd., S. 933: »Weil alle natürliche Cörper so beschaffen, daß sie durch den motum (Bewegung) des Feuers in tausenderley Figuren können versetzt und verwandelt werden«. Die feurige Natur des Geistes ist eine hermetische Vorstellung (CH X, 17 f.), die in den theologischen Debatten auch als eine solche aus dem Corpus Hermeticum zitiert wird. Colberg: Das platonischhermetisches Christenthum I, S. 93. 516 Dippel: Send=Schreiben an Conrad Brüsken I, S. 608.



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der Kontraktion und Expansion,517 und fast analog zu Böhme schildert Dippel die praktischen Implikationen dieser Vorstellung vom Konzept der weißen und schwarzen Magie bis zur naturphilosophischen »Erklärung« für die Krankenheilungen Jesu.518 Damit verbunden ist ein weiterer zentraler Gedanke: die Schöpfung per Imagination,519 die den Gedanken der Freiwilligkeit des Falls impliziert. Der »Fall« fand erst mit der freiwilligen Abkehr der Geschöpfe vom inneren Lichtreich und der Ausrichtung ihrer Imagination auf das Prinzip der Selbstheit/ Kontraktion statt, und in signifikanter Differenz zur orthodoxen Lehre behauptet Dippel, dass die Wahlfreiheit zur Ausrichtung der Imagination nach dem Fall immer noch besteht. Das Böse erklärt er als Erfahrung des dunklen Prinzips, und entsprechend trägt die Sünde die Strafe bereits in sich, ohne dass Gott als Rächer dargestellt werden muss. Somit entsteht eine Philosophie der Natur, die in teils mythologischer, teils in sehr konkreter Bildlichkeit von körperlichen Prozessen nicht nur die Einheit von Geist und Materie, sondern auch das Primat des Geistes in Bewegungsvorgängen vor allen rein materiellen oder korpuskularen Gesetzmäßigkeiten betont. Sie zeichnet ein von geistigen Kräften und Lebensvorgängen pulsierendes Bild der Natur und verbindet alle Bewegungsvorgänge mit den geistigen Prinzipien der Sympathie und Antipathie. Die Verwandlung natürlicher Körper wird durch die Vorstellung einer Bewegung des »Feuers« erklärt, das, vom »Licht« abgesondert, nun »begehrend« und »ungesättigt« ist.520 Die Begrifflichkeit des Hungerns und Begehrens für Transmutationsvorgänge in der Materie ist durchaus wörtlich gemeint.521 Sie beschreibt beobachtbare chemische und mineralische Veränderungen in der Materie, deren prozesshafte Veränderung sie auf geistige Aktivitäten, nicht mechanische Gesetzmäßigkeiten zurückführt. Das Hungern als zielgerichtetes Wirken eines Geistes wird mit dem inneren Prinzip des »Feuers« in Verbindung gebracht. Weiß man um Dippels Herleitung des »Feuer«-Prinzips aus Böhmes dunklem »Vater«-Prinzip, das kosmologisch das Prinzip der Selbstheit,

517 Dippel: Fatum fatuum II, S. 10 f.: »und daß diese geistliche passiones / der Liebe und des Hasses, der Sympathie und Antipathie / durch alle phænomena der äussern Natur, sowohl im Fluch als in dem Segen das Ruder führten, die Bewegung sowohl in ihrer Ordnung als Unordnung zu determinieren.« 518 Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers I, S. 950. 519 Ebd., S. 934: »[…] so begreiffen wir doch die creation in so fern unter dem Bilde unserer eigenen Imagination.« 520 Ebd., S. 933; ders.: Fatum fatuum II, S.10. Mit den Prinzipien des ›Lichts‹ und des ›Feuers‹ orientiert sich Dippel traditionell an Böhme – ein weiterer Unterschied zu Thomasius und dessen Konzept vom ›Licht‹- und ›Luft‹-Geist. 521 Geyer-Kordesch: Die Nachtseite der Naturwissenschaft, S. 24.

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also der Kontraktion symbolisiert, dann wird hinter der konkreten körperlichen Bildlichkeit ein stringentes philosophisches Konzept und eine identifizierbare Tradition sichtbar.522 Die ältere paracelsische Tradition pflegte geistige Kräfte in der Natur als personifizierte Elementargeister (Sylphen, Nymphen, Gnome, Salamander) zu denken, was Dippel nicht mehr tut.523 Doch spricht er vom Wirken geistiger Kräfte unter Rekurs auf Jan Baptist van Helmonts Vorstellung der Lebensgeister. Van Helmont vertrat neben der Vorstellung eines universellen Lebensprinzips die Idee individueller Lebensprinzipien in jedem Organismus, die er Lebensgeist, samenhafter Geist, innerer Werkmeister oder »Gas« genannt hatte.524 Er verstand unter diesem Konzept den Träger der Entelechie eines Wesens, ein verborgenes vitales Prinzip als die wirkende Ursache in der Zeugung und Bewegung eines Organismus, das in jedem Lebewesen das Bindeglied zwischen Geist und Körper darstellte und auch auf andere Körper wirken konnte.525 Dieses geistige vitale Prinzip enthält ein geistiges Bild eines Dinges, auch Fermentum genannt, als geistige Prägung, nach der sich der lebende Organismus entwickelt.526 Dippel lehnt zwar den Begriff des »Gases« als schwer verständlich ab, übernimmt aber das Konzept der geistigen Prägekraft, womit wiederum Lebensprozesse als abhängig von einer direktiv wirkenden geistigen Entität beschrieben werden können.

522 Dippel: Fatum fatuum  II, S. 10. Bei Böhme beschreibt die Begrifflichkeit des »Hungerns« und »Begehrens« nichts weniger als den ersten Impuls zur Selbstbeschaulichkeit des ewigen Ungrunds. Böhme: Mysterium Magnum, 3:4–7. Damit wird das ›Treiben‹, die ewige Veränderung in der Natur, nicht an (von außen kommende) mechanische Stoßkräfte gebunden, sondern an den ersten Impuls zur Selbstdifferenzierung Gottes, der den noch prä-kreationalen Ermöglichungsgrund der gesamten Schöpfung darstellt. Das Begehren des Willens zur Offenbarung wird jedoch stets vom zweiten Willen zur Rückkehr in die Einheit überwunden (Böhme: Mysterium Magnum, 3:15). Ihre widerstreitende Einheit reflektiert sich in der ganzen Natur, und Transmutationsvorgänge sind entsprechend Ausdruck dieses göttlichen »Begehrens«. 523 Geyer-Kordesch: Die Nachtseite der Naturwissenschaft, S. 24. 524 Schipperges: Jan Baptist van Helmont, S. 149; Helmont: Aufgang der Artzney=Kunst, S. 40 ff.; Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers I, S. 941. 525 Helmont: Aufgang der Artzney=Kunst, S. 40: »Diß Bild in der lebenden Lufft des Archei ist der wahre Samen; also daß dieser sämliche Geist bestehet / und zusammen gesetzet ist / aus einer lebendigen Lufft / oder gewissen Lebens=Geistern / die in ihm gleichsam die Materie sind; und aus dem sämlichen Bilde / welches der inwendige geistliche Samen oder Kern ist / der die Fruchtbarkeit des Samens in sich begreiffet: Der sichtbare Samen aber ist nur gleichsam wie die Hülse und Schale.« 526 Ebd.: »Ich sage / dieser Werckmeister hat das Bild seines Vorfahren in sich / wie das Gezeugte werden soll / nach dessen Anleitung füget er sich selbst / und ordnet alles was gethan werden muss.« Vgl. Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers I, S. 944 f. Ein berühmtes Echo fand diese Vorstellung in Goethes Satz von der »geprägten Form, die lebend sich entwickelt«.



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Somit erscheint ein Bild der Natur als ein in sich nach zunehmender Geistigkeit hierarchisch und holografisch gestuftes Modell, das keine Brüche zwischen Geist und Materie, Ratio und »Stoff« kennt und im Prozess ewiger zirkulärer Verwandlung begriffen ist, die gleichzeitig eine fortwährende Vergeistigung impliziert. Diese auf- und absteigende Zirkulation der Geschöpfe erklärt nach Dippel einmal den Prozess der Fortpflanzung und zweitens nichts weniger als den Endzweck der Schöpfung, nämlich die in in ewiger Verwandlung begriffene sichtbare Natur wieder in die unsichtbare einzuführen, aus der sie ursprünglich ausgeflossen ist.527

5.3. Lebensgeist, Gott-Mutter und Descartes. Von der Theologie des Wortes zur Philosophie des Lebens in der Frühaufklärung Die Entwicklung der Naturphilosophie vom Anderen Theil des Weg=Weisers zum verlohrnen Licht und Recht in der äußeren Natur (1704) über Fatum fatuum (1708) zur medizinischen Dissertation Des thierischen Lebens Kranckheit und Arztney (1711) zeigt die Genealogie einer Philosophie des Lebens, die die traditionellen Dualismen von Geist und Körper, männlich und weiblich, Geist und Materie überwindet und die Konzepte der Allbelebtheit und des Panpsychismus, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als »neu« und als Gegenbewegung zum Rationalismus entworfen wurden, auf ihre hermetischen Quellen hin kontextualisiert. In der Auseinandersetzung mit den neuen Leitfragen des philosophischen Diskurses zwischen Spinozas Substanzmonismus und Descartes’ Substanzdualismus stellen sich Fragen nach der Vermittlung zwischen Geist und Körper, nach Gottes Transzendenz und (möglicher) Immanenz sowie nach Beschreibungsmodellen für die Dynamik des Lebendigen neu. Dippel profiliert in Bezug auf diese Fragen Elemente der hermetisch geprägten Logostheologie und entwirft eine Philosophie des Lebens, die für eine prinzipielle Einheit des Lebendigen argumentiert, jedoch gleichzeitig das Primat des Geistes gegenüber Korpuskulartheorien verteidigt. Gegen die orthodoxe Lehre der Creatio ex nihilo sowie gegen das entsprechende Drohszenario einer möglichen Vernichtung der Geschöpfe durch einen zornigen Gott postuliert er,

527 Ebd., S. 966: »Diesen Circul, aus GOtt, durch GOtt, zu GOtt, müssen wir in Betrachtung der äußern Natur nimmer aus den Augen lassen, wann wir nicht kluger wollen seyn als GOtt selbst.«

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daß alles, was man siehet, ex non apparentibus aus den unsichtbaren Dingen urstände, Hebr. 11. v.3. Gott, als ein ewig überfliessendes und fruchtbares Wesen, das sich in seiner Liebe ausbreitet und mittheilet, hat durch das allmächtige Wort in und aus sich selbst aller Creaturen Wesen gefasset, Rom. 11. v. ultim. und mit der Zeit in eine äusserliche Selbständigkeit und individualität eingeführet. Und darum ist der wesendliche Character der Gottheit in allen Creaturen, die als Creaturen auch mitten in dem Fall, annoch in der Central=Wurtzel ihres Wesens in Gott selbst stehen, und dahero unmöglich können vernichtet werden, sowenig GOtt sich selbst vernichten kan; wohl aber aus dem Sichtbaren wieder in das Unsichtbare oder in das Mysterium Magnum eingeführet, auch, ihrer jetzigen individualität nach, von dem Wesen Gottes verschlungen werden. Gleichwie nun alle Creaturen, ihrem Wesen nach, ein Ausfluß der ewigen Liebe GOttes sind, die sich in so viel tausenderley Gestalten selbst zertheilet und in unendlicher Fruchtbarkeit mitgetheilet hat, so ist es auch ohnmöglich, daß eine einige Creatur als Creatur, von GOtt könne gehasset, vielweniger vernichtet und vertilget werden, nach dem gemeinen Begriff des Nichts, sondern GOtt muß die Creatur als Creatur lieben, wie er sich selbst von Ewigkeit zu Ewigkeit liebet, 528 und lieben muß.

Dieses Konzept des Wortes als geistiger Grund aller Existenz hatte Dippel in einem theologischen Problemhorizont gegen die ausschließliche Gleichsetzung des Wortes mit der Heiligen Schrift profiliert und das Wort als »kräfftig, durchdringend, allwissend und allgegenwärtig« bestimmt, als Principium essendi aller Kreaturen.529 Noch 1706 erklärt er gegen Johann Friedrich Mayer: »GOttes Wort erstreckt sich so weit als GOtt selbst. Er trägt alle Dinge mit seinem Wort. Er überzeugt auch alle Menschen in ihrem Gewissen durch sein allsehendes Wort.«530 Theologisch wie naturphilosophisch wird hier die These einer ontologischen Trennung zwischen Gott und Kreatur negiert.

528 Dippel: Send=Schreiben an Herrn Conrad Brüsken  I, S. 608. Vgl. etwas knapper dagegen in Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers I, S. 934: »[…] daß GOtt also die Welt durch sein Wort zugerichtet, daß die sichtbaren Creaturen, aus den unsichtbaren, und nicht aus dem blossen Nichts geworden sind. Demezufolge, wird freylich einer jeden Creatur Wesen seine ewige Wurtzel in dem Wesen Gottes selbst haben, auch die fortgeführte Erhaltung der Creatur in ihrer Art gleichfalls von dem Wort und Wesen GOttes so dependiren, daß alle Dinge, nach dem Zeugnüs der Schrifft, von ihm getragen, und beständig in ihrem natürlichen Seyn gleichsam beseelet werden.« 529 So in der Kontroverse mit dem Superintendenten in Wernigerode, Heinrich Georg Neuß, im Jahr 1702; Dippel: Entdecktes Falsches Maaß der Prüffung an Herrn D. Neussens I, S. 676–735, hier S. 686. In Replik auf Neuß: Probatio spiritus et doctrinae Democriti […]. Halberstadt 1701, S. 11: »GOttes Wort und heil. Schrifft ist eins.« 530 Dippel: Unpartheyische Gedancken / Uber eines so genannten Schwedischen Theologi Kurtzen Bericht von Pietisten […]. 1706, Bd. I, S. 1199–1266, hier S. 1220; zum Bezug auf Mayers Vorwurf S. 1217.



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Diesem Haupt=Irrwahn [der mechanistischen Uhrwerksmetapher] zu begegnen, wollen wir kurtz sagen, daß alle Creaturen, Geistliche und Leibliche, Sichtbare und Unsichtbare, wie sie nun von GOtt in ihre Individualität heraus gesetzt sind, auf gewisse Art alle geistlich, und auch leiblich sind. […] Und so dependiret alles, per gradus intermedios von dem geistlichen Wesen GOttes selbst, welches in allen Creaturen ist und bleibet, auch in allen mittel531 bar, oder unmittelbar würcket was zu würcken ist.

Die Frage nach der Vermittlung zwischen Geist und Körper beantwortet Dippel im Rückgriff auf den Gedanken der Geistleiblichkeit, den er explizit mit den Kirchenvätern von Makarios dem Ägypter bis zu Tertullian und Origenes belegt. Im theologischen Kommunikationsgefüge ist es Dippel wichtig zu problematisieren, dass die Kirchenväter selbst von den »alten Ketzermachern« niemals für diese These einer feinstofflichen Körperlichkeit angegriffen worden waren, dass also die Verketzerung dieses Gedankens eine historisch jüngere Entwicklung, ein Konstrukt im Prozess der Dogmatisierung historischer Wissensbestände darstellt.532 So erklärt er ohne Furcht der Ketzerey, daß das Sichtbare im Unsichtbaren sein Wesen und seine Krafft habe; daß die Leiber und Geister der äussern Natur den freyen Geistern der unsichtbaren Welt unterworffen sind; daß diese freye Geister ohne darzu kommendes Mittel, durch ihr eigen Wesen, die äusserliche und sichtbare Cörper bewegen können, und als subtile Cörper, in die gröbere würcken; daß endlich das unendliche geistliche Wesen, GOtt selbst, als die Mutter aller, noch alle Geschöpfe trage und beseele, und alle grobe wiederum endlich zu subtilen und geistlichen Cörpern machen könne, wie sie vor dem Fall gewesen, ehe die Finsternüs und der Fluch offenbar worden. Dieses legen wir zum Grund, den Nexum und die Verbindung aller causarum und würckenden Kräfften in der Natur recht zu erkennen, und alles wiederum, wie es dann in der That ist, in den geistlichen Ursprung hinein zu leiten, wo alles ursprünglich hergeflossen, und von GOtt und von der Natur, von geist= und irrdischen Leibern, eine solche Idee zu fassen, die uns, wie eines von dem andern dependire, und durch das andere beweget werde, allzeit erinnere, und GOtt niemals so abgesondert ausser der Natur anstehe, daß die geringste Creatur ohne das Wesen GOttes selbst, 533 einen Augenblick bestehen könte«

Die Charakterisierung einer göttlichen Qualität als Mutter, die im Prozess der Creatio continua alle Geschöpfe trägt und beseelt, bezeugt die Langlebigkeit des topischen Schöpfungswissens aus der Weisheitstradition, dem Paracelsismus und der spiritualistischen Genesis-Exegese, dem im Kontext der Cartesianismusdebatte neues naturphilosophisches Erklärungspotenzial zugesprochen wird.

531 Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers I, S. 936. 532 Ebd., S. 937. 533 Ebd., S. 937; auch Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung 1, S. 229.

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Zwar kennt Dippel keine elaborierte Sophiologie wie Gottfried Arnold, doch schreibt er der mütterlichen Qualität Gottes Züge zu, die dem paracelsistischen Konzept des Mysterium Magnum, der Figuration der »ewigen Natur« oder der Primordialnatur entsprechen. Dippel schrieb dies zu einer Zeit, in der der Topos der göttlichen Mutter im Anschluss an Böhmes und Gichtels Sophiologie eine differenzierte Fortschreibung im radikalpietistischen Diskurs erfuhr. Individualpsychologisch und naturphilosophisch war die Figur der Sophia, die Jakob Böhme als Spiegel Gottes im dialektischen Ausdifferenzierungsprozess der Schöpfung sowie als Braut des primordialen Adam beschrieben hatte, im radikalpietistischen Schrifttum äußerst präsent. Die Schriften der englischen Philadelphierin Jane Leade, die sich drei Jahrzehnte lang von Sophia geführt glaubte, in London eine religiöse Gemeinschaft leitete und rege in der Nachfolge Böhmes publizierte, wurden um 1700 übersetzt und breit rezipiert.534 Gleiches galt für die Texte ihres Freundes John Pordage (1608–1681). In ihrem geistlichen Tagebuch Ein Garten=Brunn, gewässert durch die Ströhme der göttlichen Lustbarkeit (übersetzt 1697 in Amsterdam), beschrieb Jane Leade Sophia mit allen personalen Zügen einer göttlichen Mutter und jungfräulichen Königin, die der Autorin selbstbewusst anbietet, einen »Bund« mit ihr zu schließen, kraft dessen dieser die »neuen Schöpfungs-Gesetze« geoffenbart werden sollten.535 Diese Schöpfungsgesetze beziehen sich auf nichts weniger als auf die Verwandlung des gefallenen Menschen zur neuen, endzeitlichen Kreatur. Im Jahr 1700 publizierte Gottfried Arnold Das Geheimnis der göttlichen Sophia, in dem er der Sophia ebenfalls eine aktive Rolle in der Soteriologie zusprach und sie in den brautmystischen Gedichten des Göttlichen Liebesfunken als geistliche Braut, Geliebte und Heilsmittlerin besang. Arnolds Interesse an der SophienFigur ist zunächst theologisch, weniger naturphilosophisch motiviert, doch entfaltet er unter Aufbietung einer gelehrten Fülle an Schriftverweisen zunächst im theologischen Denkhorizont die Möglichkeit, Sophia sowohl mit Christus ineins zu setzen  – wofür er sogar Hermes Trismegistos zitiert  – um sie dann aber als

534 Julie Hirst: Jane Leade. Biography of a Seventeenth Century Mystic. Aldershot 2005. Zu Übersetzungen und zur literarischen Rezeption in Deutschland vgl. Dohm: Poetische Alchimie, S. 153 ff.; Cersowski: Magie und Dichtung, S. 204 ff.; Marcus Meier: Der ›neue Mensch‹ nach Jane Leade. Anthropologie zwischen Böhme und Frühaufklärung. In: Sträter (Hg.): Alter Adam und neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie 1, S. 137–149. 535 Jane Leade: Ein Garten=Brunn Gewässert durch die Ströhme der göttlichen Lustbarkeit  / und hervorbringend in mannichfaltigem Unterschiede geistlicher Pflantzen: die durch den reinen Aushauch zu einem Paradiese aufgeblasen / und nunmehro ihren anmuthig süssen Geschmack und starken Geruch zur Seelen=Erquickung von sich geben. Amsterdam 1697, S. 15 f.



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»geistliches sebst=ständiges Göttliches und himmlisches wesen« zu denken.536 Damit knüpfte Arnold im Anschluss an Böhme und Weigel – dessen Gleichsetzung Sophias mit einer göttlichen Eva er übrigens in der Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie ausführlich referiert hatte537 – an das Motiv eines mit unzähligen Zitaten belegten und explizit sogenannten mütterlichen Prinzips sowie an die Vorstellung eines partnerschaftlichen Zusammenspiels zwischen Gott-Vater und Sophia-Mutter im Werk der Wiederbringung des verlorenen Ebenbilds an.538 Der kreatürliche Bereich der geschaffenen Welt ist nach Arnolds Darstellung damit gerade nicht von Gott getrennt, sondern wird von der Sophia als wirkender Kraft in den Kreaturen geordnet und getragen: Deswegen auch gewiß ist / daß sie nach der schöpffung nicht auffgehöret habe / in denen creaturen nach eines jeglichen bedürffniß zu wircken / ordnen und anzuweisen. Sie erkante alle dinge / ehe sie noch waren / und erkennet / durchschauet / regieret sie noch alle weislich und heiliglich. Sie theilet alles nützlich ein / und reichet von einem ende zum andern gewaltiglich / als der geheime rath Gottes / und eine angeberin seiner wercke. Weish. 7/31, 539 8/3.

Lag das Hauptaugenmerk von Arnolds Sophien-Schrift noch auf einer theologischen und damit individual-psychologischen Fragestellung zur Soteriologie, schreibt die spiritualistische Tradition der Genesis-Interpretation, die im radikalen Pietismus rezipiert wird, der mütterlichen Qualität in Gott eine kosmologische Rolle in der Schöpfungstheologie zu. Neben den Texten Böhmes waren im radikalpietistischen Milieu auch Neuauflagen der pseudo-weigelianischen Schriften Kirchen- und Hauspostill (1699/1700) sowie des Studium Universale (1698) auf dem Buchmarkt greifbar, die den Topos der Gott-Mutter aus der Viererley Auslegung von der Schöpfung weiter ausschmücken. Diese setzten die Sophien-Figur nicht nur mit Christus, sondern ganz explizit auch mit dem Topos der göttlichen Eva als naturphilosophischer Mutter aller Lebendigen gleich. Dieses Zusammenspiel zwischen Gott- »Vater, Mutter und Sohn« gerade im kosmologischen und damit im naturphilosophischen Kontext beschreibt die anonyme, pseudo-weigeliani-

536 Arnold: Das Geheimnis der göttlichen Sophia, S. 32 f.; Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte, S. 272 ff. u. 275. 537 Temme: Krise der Leiblichkeit, S. 324. 538 Arnold: Das Geheimnis der göttlichen Sophia, S. 100: »Dahero ein alter weiser mann Gott den Vater der Welt (und also vielmehr der neuen welt oder schöpffung) nennet / die Sophiam aber die mutter.« 539 Arnold: Das Geheimnis der göttlichen Sophia, S. 181; weiterführend Dohm: Poetische Alchimie, S. 187 ff.

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sche Schrift Studium Universale, die die schöpfungstheologische Rolle der göttlichen Mutter selbstbewusst für unverzichtbar erklärt: Der Erstgeborene vor allen Creaturen ist Christus / die Weißheit / das Wort / und ist Gott […]. Gott ist das Wort / […] ein Gott / aber getheilet nach der Persönlichkeit / das ist Gott und sein Gemahl / seine Weißheit / ein vollkommener Gott und Schöpffer: Gleich wie Adam mit seiner Eva ein vollkommener ward. Diese himmlische Eva hat im Anfang GOtt zum GOtte gemacht / zum Schöpffer / sie ist die Mutter aller Lebendigen / durch sie kömmet alles an den Tag / ohne sie wäre kein GOtt  / keine Creatur  / nur Ewigkeit ohne Zeit. Darumb hat sich die ewige unbegreiffliche Gottheit  / aus ihrer ewigen Verborgenheit herfür gethan  / sich offenbaret durch die himmlische Evam. Im Anfang und vor aller Creaturen Anfang war 540 sie.

Naturphilosophisch spielt Sophia/Christus die Rolle einer kosmologischen »Mutter aller Lebendigen«, als kosmisches Analogon zur menschlichen Eva, weil sie die »ewige unbegreiffliche Gottheit« sich durch sich offenbaren lässt. Trotz der mythologischen Bildlichkeit, die vor allem im Hinblick auf ihre sozialhistorischen Implikationen im Rezeptionskontext ›häretisch‹ war, ist dieser Gedanke zunächst philosophisch in das Modell eines sich dialektisch entfaltenden Schöpfungs- und innergöttlichen Differenzierungsprozesses eingebunden: Da Sophia biblisch nach Weish 7,26 als Gottes »Spiegel« gilt, tritt mit ihr als erstem Gegenüber das zunächst schlechthin undifferenzierte Eine aus seiner Verborgenheit in den Prozess der Differenzierung und damit in den der Schöpfung. Da das Eine durch jenen Prozess überhaupt erst »zum Schöpfer« wird, wird sie zur »Mutter aller Lebendigen« und macht in dieser Hinsicht erst »GOtt zum GOtte«. Als reines Eines, Nichts oder Ungrund käme tatsächlich nichts »an den Tag«, und ohne ein erstes Gegenüber wäre »kein GOtt / keine Creatur / nur Ewigkeit ohne Zeit.«541 Jakob Böhme führt diesen schöpfungstheologischen Gedanken fort, wenn er die Weisheit häufig als »Spiegel« und vor allem als »Leiblichkeit« des Geistes –

540 (Pseudo-)Weigel: Studium Universale, Kap. 4, ohne Pag. Zum kulturhistorischen Deutungspotenzial dieser Stelle, gerade im Hinblick auf die radikalpietistische Sozietät der Eva von Buttlar Temme: Krise der Leiblichkeit, S. 324 f. 541 An dieser Stelle reflektieren theologische Studien bis heute über »mangelnde Logik« und Häresie. Temme: Krise der Leiblichkeit, S. 325, unter Hinweis auf Hans Joachim Schoeps: Vom himmlischen Fleisch Christi. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung. Tübingen 1951, S. 59. Kulturwissenschaftlich gesehen ist diese Denkfigur in der Tat dahingehend häretisch, als sie machtkritisch ist. Unlogisch ist sie jedoch nur bedingt: In dieser Beschreibung kommt eine dialektische Wissensfiguration zum Ausdruck, die Meister Eckhart in seiner vom historischen Weigel geschätzten Predigt Beati pauperes spiritu, die heute zum Kanon mystischer Literatur gehört, sehr ähnlich formuliert: »Wäre aber ich nicht, so wäre auch ›Gott‹ nicht: daß Gott ›Gott‹ ist, dafür bin ich die Ursache.« Meister Eckhart: Werke 1, S. 561 f.



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nicht grobstoffliche Materialität – bezeichnet, in der sich Gott offenbart, während die Welt wiederum als Ausdruck und »Figur aus seiner Weisheit« erscheint.542 Den der Ewige Wille fasset sich in der einigen krafft  / da alle verborgenheit Inne liget  / vnd hauchet sich durch die krafft aus in die beschaulichkeit / vnd dieselbe weisheit oder 543 beschaulichkeit ist der anfang des ewigen gemüttes / als die blickung seiner selber. Dann Sie [die Weisheit] ist des Geistes Wesenheit, welche der Geist GOttes an sich führet, als ein Kleid, mit welchem Er sich offenbaret, sonst würde seine Gestalt nicht erkant, denn 544 Sie ist des Geistes Leiblichkeit.

Die Aspekte »Leiblichkeit« und »Selbstbeschaulichkeit« beschreiben eine Entität im naturphilosophischen Modell, die das schöpferische Potenzial des Geistes aufnimmt und gestaltet, sodass es sich in diesem Prozess selbst »erblicken«, also bewusst werden kann. Geist und Körperlichkeit, die Böhme auch »Wesenheit« nennt, sind im Prozess der Schöpfung nicht zu trennen, sondern stellen beide Ableitungen des ewigen Einen dar. Plastisch formuliert ist dies im Bild der sieben Qualitäten in der ewigen Natur Gottes, die die ganze Fülle des Geistes in reiner Potenzialität enthalten, deren siebter jedoch wiederum der Leib des Geistes ist, in dem dieser in die Offenbarung tritt und erst dadurch mit sich selbst spielt.545 Diese mythologischen Narrative umschreiben in ihrer philosophischen Komplexität, die sich nie auf sprachliche oder logische Eindeutigkeiten hin auflösen lässt, die sichtbare Welt als Ausgeburt aus einem dynamischen geistigen Kräftespiel, das gegenüber der menschlichen Sprache und dem rationalen Verstand zu einem Teil unbestimmbar bleibt und von dem sich nur paradox, symbolisch

542 Böhme: De triplici vita hominis, 5:80/81. Auch Böhme kennt die Metaphorik der Mutter in Bezug auf göttliche Entitäten, doch ist sie weder auf die Weisheit beschränkt, noch sonst annähernd systematisch verwendet. Die Unschärfe und Vieldeutigkeit der Bezüge scheinen als mystisches Sprechen rationale Konzepte und Begrifflichkeiten bewusst überbieten zu wollen. Bezeichnenderweise kennt Böhme die Muttermetaphorik jedoch in Bezug auf die ewige Natur (Böhme, Aurora, 2:15) und in Bezug auf den Gottessohn, der selbst weiblich und als »Mutter der Gebärerin« erscheinen kann (Böhme, De triplici vita hominis, 3:3). So auch gesehen von Kemper: Deutsche Lyrik 3, S. 138 ff. Darüber hinaus kann Böhme die Selbstfassung des Vaters zum Zentrum als »ewige Mutter der Gebärerin des Wesens aller Wesen« bezeichnen (Böhme, De triplici vita hominis, 3:2) oder er nennt die sieben Naturgeister bzw. Qualitäten in der ewigen Natur Gottes sieben ewige Mütter (Böhme, Von der Menschwerdung Jesu Christi, Teil 2, 4:4); Deghaye: Die Natur als Leib Gottes in Jakob Böhmes Theosophie, S. 73. 543 Böhme: Von der Gnadenwahl, 2:8. 544 Böhme: De triplici vita hominis, 5:50. Zur Weisheit als empfangender Kraft auch Pietsch: Jacob Böhmes Lehre von der göttlichen Weisheit, hier S. 38 545 Böhme: Mysterium Magnum, 6:20.

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oder mythologisch sprechen lässt. Sie überschreiten die Dualismen Schöpfer/ Geschöpf und Nichts/Welt hin auf Modelle einer fortwährenden Ausdifferenzierung des Einen in verschiedenen Stufen der Geistigkeit, Geistleiblichkeit und Körperlichkeit, die somit keinen Bruch zwischen Geist und Materie kennen und in der Gott sowohl transzendent sein als auch weltimmanent die Schöpfung in einer Creatio continua erhalten, nach Dippel »alle Geschöpfe tragen und beseelen« kann. Dieser weltimmanenten Qualität Gottes kommt nach dem zeitgenössischen, schöpfungstheologischen Diskurs damit die Rolle eines weiblichen Prinzips zu, das im Vergleich zur Vorstellung einer Creatio ex nihilo die Leerstelle zwischen Geist und Materie zu überbrücken vermag, ohne selbst materiell gedacht zu sein.546 Die spiritualistischen Texte der christlichen Tradition bemühen sich trotz ihrer philosophischen Kreativität immer um eine – teilweise gewagte – sprachliche Rückbindung ihrer Motive an die kanonischen Bibeltexte. In anderer, nämlich platonischer Sprache ist im Corpus Hermeticum ein Schöpfungsmodell skizziert, das sich unter den Aspekten der Einheit von Sichtbarem und Unsichtbarem (in strukturell vergleichbarem Gegensatz zu einem reinen Nichts) sowie unter dem Aspekt der ewigen Bewegung als ewiges Werden mit den theosophischen Texten vergleichen lässt und zudem die Frage nach dem individuellen Tod und persönlicher Vernichtung, über die Dippel mit Conrad Bröske gestritten hatte, ähnlich perspektiviert: Man sagt, daß die Veränderung (deshalb) Tod bedeute, weil der Körper sich auflöse, das Leben aber ins Unsichtbare verschwinde. Das, was sich diesen Worten zufolge auflöst, mein teuerster Hermes, und der Kosmos […] verändern sich nach meiner Auffassung lediglich deshalb, weil täglich ein Teil von ihm unsichtbar wird, sich aber niemals auflöst. Und das ist es, was mit dem Kosmos geschieht: Drehungen und Prozesse des Verschwindens. Die 547 Drehung bedeutet Umwendung, das Verschwinden aber Erneuerung. Tat: »Sterben also nicht, mein Vater, die Lebewesen in ihm [im Kosmos], die doch Teile von ihm sind?« Hermes: »Schweig […], mein Sohn; du lässt dich durch den Begriff des Werdens irreführen. Denn die Lebewesen sterben nicht, mein Sohn, sondern als zusammengesetzte Körper lösen sie sich auf. Ihre Auflösung aber ist kein Tod, sondern die Trennung einer Verbindung. Sie lösen sich aber nicht auf, um zugrunde zu gehen, sondern um von neuem zu werden. Denn worin besteht die Kraft des Lebens? Nicht in der Bewegung? Und was ist im Kosmos unbewegt? Nichts, mein Sohn. […]

546 Weiterführend mit weiteren Beispielen und Literatur zum Topos Sophia/Eva anhand der Rezeption Guillaume Postels durch Johann Wilhelm Petersen um 1700, aber auch mit dem Hinweis auf diese grundsätzliche Forschungslücke Temme: Krise der Leiblichkeit, S. 330 ff. 547 CH XI, 15 (CHD I, S. 132).



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Wisse also ganz allgemein, mein Sohn, daß alles, was im Kosmos ist, sich bewegt, entweder indem es abnimmt, oder größer wird. Was sich aber bewegt, lebt auch, und notwendigerweise kann ein Lebewesen nicht in jeder Hinsicht dasselbe bleiben. Denn der gesamte Kosmos ist zusammengenommen unveränderlich, mein Sohn, aber alle seine Teile sind veränderlich, und nichts ist vergänglich oder geht zugrunde, sondern nur der Wortgebrauch verwirrt die Menschen. Denn nicht das Werden, sondern das Bewußtsein ist Leben, nicht 548 die Veränderung, sondern der Verlust des Bewußtseins ist Tod.«

Diese Frage nach der Bewegung als »Kraft des Lebens« und nach der Einheit von Sichtbarem und Unsichtbarem beantwortet Dippels Anderer Theil des Weg=Weisers zum verlohrnen Licht und Recht in der äußern Natur nun unter – philologisch korrekter – Berufung auf hermetische und theosophische Quellen entschieden damit, erstens die Trennung zwischen Geist und Materie unter Berufung auf das Motiv der Geistleiblichkeit zu leugnen, zweitens einen über die menschlichen Erkenntniskräfte hinausgehenden »Raum« des Unsichtbaren anzunehmen und drittens die bewegende Kraft dem Logos als dem lebendigen Wort und damit dem Geist zuzuschreiben. »[…] daß alle natürliche Bewegung, in ihrem circulo ursprünglich geistlich sey, und daß das Gröbere von dem Subtileren, durch vielerley auffsteigende Gradus der geistlichen Geschöpfen so geführet und regieret werde, daß in diesem nexu causarum naturalium endlich das Wesen GOttes selbst, als primum und ultimum movens, Anfang und Ende aller Bewegung 549 verbleibe, worin sich alles concentriren und richten muß.«

Nur ein paar Jahre später wird diese Frage nach der Bewegung als Kraft des Lebens zum zentralen Ansatzpunkt für eine Philosophie des Lebendigen, die angesichts der leitenden Maschinen- und Uhrwerksmetaphern in den frühaufklärerischen Naturphilosophien Bewegung erstens nicht auf das mechanisch Messbare einer Atom-, Partikel oder Korpuskulärtheorie reduzieren will und die zweitens gegen die Perpetuierung der theologisch begründeten Trennung von Gott und Kreatur in die naturphilosophisch abgeleitete Trennung von Geist und Materie entschieden Einspruch erhebt.550 René Descartes (1596–1650) hatte mit der Bestimmung des Geistes als Res cogitans, als Denken, und der Körper als Res extensa, als Ausdehnung eine substanzielle Trennung zwischen Geist und Materie angenommen und die Natur der materiellen Substanzen als rein quantitative Größen bestimmt. Bewegt von seiner Frage nach Erkenntnisgewissheit glaubte er in der Mathematik den

548 CH XII, 16/18 (CHD I, S. 155 f.). 549 Dippel: Anderer Theil des Weg=Weisers I, S. 938. 550 Geyer-Kordesch: Die Nachtseite der Naturwissenschaft, S. 24 f.

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Schlüssel zu Intelligibilität der Welt und zu gültigem Wissen zu finden.551 Dieser Gedanke wurde für die mechanistische Philosophie von Descartes selbst, Marin Mersenne (1588–1648), Pierre Gassendi (1592–1655), aber auch Thomas Hobbes (1588–1679) im Anschluss an die antiken Atomisten grundlegend. Bewegung ist nicht mehr etwas, was von der Seele oder einer geistigen Ursache ausgeht, sondern was allein im Körper stattfindet und von mechanischen Gesetzmäßigkeiten – symbolisiert in den leitenden Metaphern des Uhrwerks, des Automaten oder der Maschine für den Körper – regiert wird.552 Thomas Hobbes hatte die Universalisierung des mechanischen Ordnungsdenkens in Bezug auf das Leben in Mensch und Natur in der Einleitung seines Leviathan (1651) prägnant formuliert: Denn da Leben doch nichts anderes ist als eine Bewegung der Glieder, die sich innerlich auf irgendeinen vorzüglichen Teil im Körper gründet – warum sollte man nicht sagen können, daß alle Automaten oder Maschinen, welche wie z. B. die Uhren durch Federn oder durch ein im Innern angebrachtes Räderwerk in Bewegung gesetzt werden, gleichfalls ein künstliches Leben haben? Ist das Herz nicht als Springfeder anzusehen? Sind nicht die Nerven ein Netzwerk und der Gliederbau eine Menge von Rädern, die im Körper diejenigen Bewegun553 gen hervorbringen, welche der Künstler beabsichtigte?

Die Maschinenmetapher beschreibt Bewegung als reaktive Gesetzmäßigkeit und postuliert, Körper über die Analyse kausaler Zusammenhänge in der Materie und über die Zusammensetzung ihrer kleinster Teile (Atome) analysieren zu können. Damit ist sie per se seelenlos. Während Hobbes das Herz mit einer Springfeder vergleicht, nimmt Descartes in Les passions de l’âme (1649) in exakter Umkehrung des van-helmontischen Lebensgeistkonzeptes an, dass nicht Körper von beseelten Entitäten bewegt werden, sondern dass Lebensgeister überhaupt erst vom Gehirn hervorgebracht werden, also selbst lediglich Körper sind, die von Körpern »produziert« werden.554

551 Descartes: Meditationen, 5:6. 552 Descartes: Über die Leidenschaften der Seele, Art. 4–6; ders.: Meditationen, 6:17. 553 Thomas Hobbes: Leviathan. Übersetzt v. Jacob Peter Mayer. Nachw. v. Malte Diesselhorst. Stuttgart 1970, S. 5; weiterführend Christine Chwaszcza: Anthropologie und Moralphilosophie im ersten Teil des ›Leviathan‹. In: Thomas Hobbes. Leviathan. Hg. v. Wolfgang Kersting. Berlin 1996, S. 83–107. 554 Descartes: Über die Leidenschaften der Seele, Art. 10 (S. 376): »Denn was ich hier ›Geister‹ nenne, sind nur Körper, und sie haben keine andere Eigentümlichkeit, als daß sie sehr kleine Körper sind, die sich sehr schnell bewegen […]. Deshalb bleiben sie nirgends haften, und sobald einige von ihnen in Zwischenräume des Hirns dringen, so dringen auch einige andere durch die Poren, die in seiner Substanz sind. Diese Poren führen sie in die Nerven und von da in die Muskeln, mittels deren sie den Körper in all den verschiedenen Weisen bewegen, denen gemäß er sich bewegen kann.«



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Dippels Dissertation Des thierischen Lebens Kranckheit und Artzney insistiert auf den Erklärungslücken einer solchen Auffassung in Bezug auf Prozesse dynamischer Veränderung wie Wachstum, Altern oder Fortpflanzung. Kein Uhrwerk könne ein anderes Uhrwerk hervorbringen,555 d. h. allein die Schilderung primärer Phänomene wie Geburt und Tod ist mit der Beschreibung rein körperlicher, additiver Veränderungen nicht erschöpft. Dippel statuiert dagegen daß nicht einmal eine einzige fühlbare oder tastliche Eigenschafft des Cörpers, z. E. die Schwere, Leichtheit, Vestigkeit, Flüssigkeit, Härte und Weiche nebst denen daraus entstehenden Bezeigungen, durch die Meßkunst gefunden & demonstriret werden könne. Daß also diese sogenannte Philosophi mit dem großen Verrath ihrer verschiedenen mechanischen Werckzeuge die Augen vielmehr mit einem eitlen Gauckelwerck verblenden, als die wahre Beschaffenheit der natürlichen Bewegungen an den Tag geben, folglich es nicht anders machen, als die hinter dem Fürhange versteckte Marionetten=Spieler, welche mit ihren erdichteten und gemahlten Püppgen den umstehenden und gleichsam ein lebendiges Bild bewundernden Kindern einen blauen Dunst vormahlen, indem sie ihnen zwar die bewegten Werckzeuge zeigen, den Beweger aber, oder die erste Bewegungs=Ursache, hinter 556 der gardine verborgen halten.

Die Metaphern des Marionettenspiels und des Vorhangs bzw. Schleiers über der Wirklichkeit werden im literarischen Diskurs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Heinrich von Kleist über Novalis bis zu Friedrich Schlegel zum festen Bestandteil der Kritik am Mechanismus. Dippels Dissertation problematisiert bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus einem zutiefst aufklärerischen Selbstverständnis heraus, dass die reine Beschreibung der Anatomie einer Marionette oder die Enthüllung eines Uhrwerks zwar Aussagen über die materielle Beschaffenheit eines Körpers zu treffen vermag, jedoch blind gegenüber der Frage bleibt, warum ein Körper sich so oder anders verhält oder wie sich zielgerichtete Bewegung wie Wachstum oder qualitative Veränderung wie Krankheit und Gesundung damit beschreiben lassen. Die Bewegungsursachen »hinter dem Vorhang« bleiben ausgeblendet. Die Frage nach Ursachen in einer unsichtbaren Tiefenstruktur des Seins als Grund aller Lebensvorgänge ist in diesem Kontext keine esoterische, sondern eine lebensphilosophische Frage.557

555 Dippel: Des thierischen Lebens II, S. 156. 556 Ebd., S. 135 f.; dazu Geyer-Kordesch: Die Nachtseite der Naturwissenschaft, S. 26; zum weiteren Kontext dies.: Pietismus, Medizin und Aufklärung, S. 180 ff. 557 In dieser wichtigen Differenzierung betont Geyer-Kordesch die kulturhistorischen Umdeutungen in der Annahme eines den menschlichen Erkenntniskräften vorgänglichen »Raums« des Unsichtbaren. Sie macht auf die Umdeutung des Unsichtbaren ins Okkulte, »Esoterische« oder sogar Dämonische aufmerksam, die erst mit der epochalen Durchsetzung des Cartesianismus in Medizin und Philosophie stattfand. Während Dippels Naturphilosophie noch ein ganzheitli-

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Dippels eigener Vorschlag zur Beantwortung der Frage nach der Natur des Lebens und der Bewegung greift dagegen auf die Idee einer geistdurchwirkten Natur zurück, deren sichtbare Anteile von den unsichtbaren nicht getrennt und gemeinsam in einem Prozess der ewigen Transformation begriffen sind. Seine Definition des Lebens lautet daß das Leben, an und vor sich selbst betrachtet, nichts anders sey, als ein Actus einer unzerstörlichen, und in ihrem Wesen von der Struktur des mathematischen Coerpers nicht dependirenden Substantz, welche immediatè, und ohne Imagination der ihr zum Vorwurff dargestellten Theile, sowohl in sich selbst empfindend, auch durch ein in sich selbst gekehrtes wirckliches Dencken sich selbst innigst präsent, als durch die Vorwürffe der äusseren Sinnen empfindlich zu machen ist: wannenhero es auch weder in noch aus sich selbst dem Tode oder der natürlichen Aufflösung unterworffen, obgleich die cörperliche machine, welche von diesem lebendigen Wesen beweget wird, so bald das Leben in seinen Verrichtungen irre gemacht, und zum Weichen gezwungen wird, in seine Anfänge zurück gehet, 558 welche Aufflösung ich dann allein den Tod zu nennen mich befugt halte.

Bis in die Formulierung hinein spiegelt Dippels medizinische Definition des Lebens das hermetische Konzept einer Natur in ewiger Verwandlung, die »aus Gott durch Gott zu Gott« fließt und deren Kennzeichen die ewige Bewegung und Transformation der natürlichen Körper durch den »Tod« als temporäre Auflösung ist. Im Vergleich zu den frühen theologischen Texten hat lediglich eine vielsagende begriffliche Schwerpunktverlagerung stattgefunden: Aus dem ursprünglich theologisch begründeten Leben des Geistes wird naturphilosophisch der empirisch nachweisbare Geist des Lebens. Als bewegte und bewegende Substanz begreift Dippel nun das empfindende und verstandesbegabte Leben als Anfang und Ende aller sichtbaren Dinge und damit gerade nicht als von mechanischen

ches, Natur und Geist integrierendes Modell entwirft, in dem das Unsichtbare als Grund dynamischer Lebenszusammenhänge erscheint, führt das Postulat einer lückenlosen Erklärbarkeit der Wirklichkeit mittels Logik und mechanistischen Prinzipien zu Abspaltungen zwischen Geist und Materie, Ratio und Leidenschaften. Der Topos des Geheimen wird so erst zur Chiffre für die Rückprojektion des Abgespaltenen aus der historischen Gegenwart des frühen 19. Jahrhunderts. Zurecht betont sie, dass in Dippels Texten die Alchemie kein Zauber, sondern Beschreibung von Transformationsvorgängen der Materie ist, die sich auf empirische Beobachtungen beruft. Ebenso, so lässt sich hinzufügen, verwendet er hermetische Literatur nicht als Quelle höheren Wissens, sondern als eine Philosophie unter anderen (Die Nachtseite der Naturwissenschaft, S. 18 ff.); ebenso allgemeiner Christoph Meinel: Okkulte und exakte Wissenschaften. In: Die okkulten Wissenschaften in der Renaissance. Hg. v. August Buck. Wiesbaden 1992, S. 21–44, hier 30. Vgl. zu den diskursiven Umständen entsprechender Werturteile ebd., S. 43: »Die Differenz von Okkult und Exakt ist jedenfalls nicht Bestandteil des Objektbereichs der Naturwissenschaft, sondern Ergebnis sozialer Prozesse der Ab- und Ausgrenzung.« 558 Dippel: Des thierischen Lebens II, S. 133 f.



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Gesetzmäßigkeiten abhängiges Phänomen.559 Das Leben als schaffendes und aktives Prinzip korrespondiert so mit der belebenden Funktion des Geistes. Folgerichtig erscheint der Geist als physikalische, in der Materie selbst wirkende Kraft, die die Körper für die Zeit ihres Bestehens aus den Partikeln zusammenfügt und diese darüber hinaus mit ihrer Quelle im unsichtbaren Bereich der Welt verbindet.560 Alles, was demnach beweget wird, das wird durch einen lebhafften, entweder mit dem zu bewegenden Wesen unmittelbar vereinigten, und demselben eigenthümlich zustehenden Actum, oder aber durch den gewaltsamen Anfall anderer und stärkerer lebendigen Kräfften, mit welchen es durch die darzwischen kommende Werckzeuge verbunden wird, beweget. Hergegen werden alle diese Leben verknüpffet, und mit den Gesetzen ihrer Wircksamkeit versehen, von dem einigen Hauptleben  / welches an und vor sich allezeit höchst=selig  / wegen der unzählbaren Menge so vieler erschaffener […] Dinge unendlich weise und verständig: wegen Verleihung und Erhaltung der Kräffte aller Dinge, unendlich gütig: wegen beständig fortgesetzter Ordnung aller Dinge, und derer ersterer Schöpfung unendlich mächtig: auch dahero alles Lobes und aller Verehrung würdig, und von dem Verlangen aller Leben, wo sie anderst ewig selig seyn wollen, eiferigst und sehnlichst zu suchen und zu 561 begehren ist.

Das Leben erhält in dieser Formulierung präzise alle Eigenschaften, die im theologischen Kontext dem göttlichen Wort zugesprochen werden. Mit dieser Definition des Lebens naturalisiert Dippel nicht nur das hermetisch-spiritualistische Bild der Creatio continua aus einem ewig überfließenden göttlichen Geist, er spiritualisiert auch die im Cartesianismus abgetrennt und tot gedachte Materie zu einer holistisch gefassten Biologie im wörtlichen Sinne: Zum ›logos‹ vom ›bios‹, wobei das Leben direkt dem Schöpfungswort entströmt und wiederum auf dieses zurück verweist. Diese Naturphilosophie als eine Philosophie des Lebendigen beantwortet nicht nur die Frage nach dem Motus naturae anders als die mechanistische

559 Ebd., S. 148. Zur expliziten Rückbindung der Darstellung an das Paulus-Zitat, das bereits in den frühen theologischen Debatten eine Schlüsselrolle spielte, ebd., S. 334. Zu Dippels Verständnis von Lebensgeist und Motus naturae auch Sahmland: Das medizinische Konzept Johann Conrad Dippels, S. 602 f. 560 Dippel: Des thierischen Leben II, S. 145–147. 561 Ebd.  II, S. 185 f. (Hervorh. im Orig.). Zu Quellen des Bilds vom Leben in der Materie vgl. Böhme: Aurora, 19:65; ebenso CH XII, 21, 22. Zur Diskussion um die Annahme eines immateriellen Prinzips in der Materie Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992, S. 348 ff.; zu deren Wurzeln in terminologischen und philosophischen Varianten bis zum 18.  Jahrhundert Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, S. 11 ff.

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Uhrwerksmetapher, sie enthält auch eine frühe Kritik an deren ethischen Implikationen, wie sie angesichts der Naturzerstörung kommender Jahrhunderte tatsächlich virulent geworden sind. In der Definition des Geistes als reines Denken klammerte Descartes nicht nur den Geist aus der Natur aus, sondern er reduzierte die Tätigkeit des Geistes auch auf die reine Verstandestätigkeit und wertete damit den ganzen Bereich des Gefühls und der Empfindung gegenüber der Vernunft ab. Dippels Kritik an der mechanistischen Philosophie wird als frühe Problematisierung der Kosten lesbar, die die cartesianische Reduktion des Geistbegriffs auf die Ratio verursachte, und zwar im Namen ihres Erklärungsdefizits im Hinblick auf die Mitgeschöpfe der Tiere und Pflanzen. Im Discours de la méthode (1635/36) hatte Descartes Vernunft und Sprachvermögen zu Unterscheidungsmerkmalen zwischen Mensch und Tier bestimmt und damit eine folgenschwere Differenzierung zwischen dem Menschen als vernünftigem Geschöpf und dem Tier als zwar göttlich konstruierter, aber dennoch bloßer Maschine vorgenommen.562 Indem er den Tieren jede Art von Verstand absprach563 und Vernunft sowie eine unsterbliche Seele allein in einer vom Körper unabhängigen Rationalität suchte, legitimierte seine Philosophie die theoretische wie praktische Betrachtung der Natur als des ganz Anderen zum Menschen ebenso wie deren Interpretation als seelenloser Objektbereich ohne Eigenwert in sich selbst, der allein unter Nützlichkeitsaspekten für den Menschen seinen Wert erhält. Auch der von Dippel seit dem Jahr 1698 mit leidenschaftlicher Antipathie zitierte Thomas Hobbes sprach im Leviathan unvernünftigen Geschöpfen, namentlich Tieren, Pflanzen und, so wörtlich, »Gottesleugnern« die Bürgerschaft im Reich Gottes ab, womit er den Kreis der vernünftigen Geschöpfe noch weiter auf eine bestimmte Personengruppe einschränkte und alle anderen, ebenfalls wörtlich, zu »Feinden« erklärte.564 Diese systematische Abwertung der Natur zur bloßen Materie analysiert der Theologe Dippel, der die Natur in ihrer Gesamtheit als Schöpfung Gottes verstand, als theoretisch verschränkt mit der Reduktion des Geistbegriffs auf bloßes Denken, die gegenüber der Weite des Logosbegriffs oder der Universalität des

562 Descartes: Discours de la Méthode, 5:9–11 (S. 164 ff.): »Wenn es Maschinen mit den Organen und der Gestalt eines Affen oder eines anderen vernunftlosen Tieres gäbe, so hätten wir gar kein Mittel, das uns den geringsten Unterschied erkennen ließe zwischen dem Mechanismus dieser Maschinen und dem Lebensprinzip dieser Tiere; gäbe es dagegen Maschinen, die unseren Leibern ähnelten und unsere Handlungen insoweit nachahmten, wie dies für Maschinen wahrscheinlich möglich ist, so hätten wir immer zwei ganz sichere Mittel zu der Erkenntnis, daß sie deswegen keineswegs wahre Menschen sind.« (5:10, S. 165 f.) Zur Debatte um die Tierseelen auch Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 193. 563 Descartes: Discours de la Méthode, 5:11 (S. 167). 564 Hobbes: Leviathan, S. 296.



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Lebensprinzips sowohl ethisch wie logisch an Grenzen stößt. Die Definition des Geistes als reines Denken, so Dippel bereits in Fatum Fatuum (1708), verwechsele eine Tätigkeit des Geistes mit dem Geist selbst und entspräche etwa der Definition eines Rauchers als Substantia fumans.565 In essayistischer und humoristischer Sprache umkreist er das Problem im Hinblick auf die Differenz zwischen Mensch und Tier: Wenn Tieren und Pflanzen Geist nach cartesianischer Definition als denkende Substanz zugesprochen würde, so Dippel, dann stellt sich die Frage nach der Differenz bzw. dann könnten sie alle »folglich Cartesianische Philosophi […] werden«.566 Also sei Descartes nun, um Tieren und Pflanzen nicht pauschal Vernunft zusprechen zu müssen, »wider die gantze Natur«567 gezwungen gewesen, den Tieren auch das Gefühl abzusprechen und sie somit auf die Rolle von Automaten zu reduzieren. Das Problem einer solchen Gleichsetzung von Geist und rationaler Tätigkeit liegt nach Dippels Analyse jedoch darin, dass diese Thesen die Aspekte der Sinnlichkeit und der Empfindung, namentlich des »lebendigen Gefühls« als Aspekte des Geistes weder einzuholen noch positiv zu reflektieren vermögen. Dippel reflektiert diese Frage dagegen als ein Problem unterschiedlicher Ebenen bei einer gleichzeitigen Einheit des Seins, die auf dem holistischen Geist- bzw. Lebensbegriff fußt und innerhalb dieser Einheit zwischen Sinnlichkeit und Vernunft differenziert. Diese Annahme ist vor dem Hintergrund des kulturellen Wissens einer trichotomen Anthropologie oder eines hierarchisch gestuften Kosmos in der hermetischen Tradition naheliegend. Unter dem Hinweis auf die empirisch beobachtbare Tatsache, dass Tiere und Pflanzen unter natürlichen Umständen in größerem Einklang mit ihrem Lebensumfeld leben als die vernunftbegabten Menschen postuliert er erstens, dass sie ebenfalls eine Form von Geist, in diesem Fall sinnliche bzw. emotionale Intelligenz besitzen, und zweitens verschiebt er die Bestimmung der Differenz zwischen Mensch und Tier vom reinen Vernunftbesitz hin zum Kriterium der Freiheit, sich entweder in den Willen Gottes oder diesem entgegenzustellen. Der Topos der Freiheit spielt in den Schöpfungsmythen sowohl des Corpus Hermeticum als auch Jakob Böhmes eine zentrale Rolle, ebenso wie das Modell der verschiedenen Ebenen an das Motiv der großen Kette der Wesen anschließt. Dieses Moment der Freiheit hatte Dippel schon in Fatum fatuum als Differenzierungskriterium gegenüber der cartesianischen Automatenmetapher herausgestrichen:

565 Dippel: Fatum fatuum II, S. 73. 566 Ebd., S. 74. 567 Ebd.; ebenso Dippel: Des thierischen Lebens II, S. 157–162.

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Hätte Renatus desCartes in dieser Freyheit, die Begierlichkeiten des lebendigen Geistes zu dem irdischen oder zu dem ewigen Vergnügen aus dem Lichte GOttes dirigiren zu können, den wesentlichen Unterscheid zwischen dem Geist eines Menschen und dem Geist eines Beestes (Thiers) gesucht, so hätte er die Sach besser getroffen, und nicht nöthig gehabt zu förchten, daß sein Hund, wann er ihm das Gefühl würde einraumen, auch ein Philosophus 568 könte werden.

In Des thierischen Lebens Kranckheit und Arztnei geht er so weit zu vertreten, dass die Tiere »in den Augen GOttes so unvernünfftig nicht sind«,569 da sich Gott in der Bibel selbst in Tiermetaphern beschreibe. Diese Argumentation macht das von Menschen an Tieren verübte Unrecht als Unrecht beschreibbar und gipfelt in der These, dass die von diesem Wissen entfremdeten Menschen einst wegen ihrer an Tieren begangenen Gewalt würden Rechenschaft ablegen müssen. Dippels Kritik und sein Plädoyer für eine theoretische und naturphilosophische Begründung einer Einheit der Schöpfung richtet sich jedoch nicht nur gegen Descartes, sondern setzt sich auch mit Spinoza auseinander, dessen Ethik, in geometrischer Methode dargestellt (1677) die geschlossenste Philosophie einer Einheit des Seins in der Frühaufklärung ist. Baruch de Spinoza (1632–1677) ist der einzige der frühaufklärerischen Philosophen, über den Dippel ein differenziertes Urteil fällt, das sowohl Kritik als auch Anerkennung beinhaltet.570 Die Frage, unter der er Spinozas Substanzmonismus problematisiert, ist die aus der Ethik abgeleitete und von späteren Spinozisten aufgegriffene These der naturgesetzlichen Notwendigkeit aller Dinge, die Dippel als Determinismus versteht und damit den Aspekt der Freiheit Gottes wie der Geschöpfe problematisiert. Mit der theoretischen Eliminierung von Kontingenz stellt sich die Frage nach der Natur des Bösen, des Fehlers oder des Unvollkommenen in der Natur.

568 Dippel: Fatum fatuum II, S. 75. 569 Dippel: Des thierischen Lebens II, S. 162. 570 Dippel: Fatum fatuum II, S. 77 ff. u. 81. – Zu Spinozas Ethik und ihrer Kontextualisierung und Wirkungsgeschichte in der Aufklärung Israel: Radical Enlightenment, S. 230 ff.; Wolfgang Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen. Hamburg 1992. Kurz zu Dippels Auseinandersetzung mit Spinoza Goldschmidt: Johann Konrad Dippel und die Aufklärung, S. 99 ff. Ebenfalls kurz, jedoch bezüglich der Einordnung Dippels unsicher Grunwald: Spinoza in Deutschland, S. 67 ff. Wissenschaftlich nicht haltbar ist der Artikel von Gerhard Alexander: Spinoza und Dippel. In: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Hg. v. Karlfried Gründer und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Heidelberg 1984, S. 93–110, da hier ohne fundierte Kenntnisse der Texte Dippels äußerst spekulativ und moralisch wertend gearbeitet wird. Auch Goldschmidt bezeichnet den Artikel als »methodisch unzureichend« (Johann Konrad Dippel, S. 12, Anm. 4).



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Spinoza hatte wie wenige vor ihm die anthropomorphen Gottesbilder als psychische Projektionen entmystifiziert, den Willen Gottes mit den Naturgesetzen gleichgesetzt und damit das Gottesbild eines unumschränkten Herrschers und Richters der Welt in die stille, immanente Notwendigkeit des Naturgeschehens transformiert.571 Im frühaufklärerischen Kommunikationsgefüge wurde Spino­ zas Schritt zur schärfsten Waffe gegen das kirchliche Gottesbild sowie gegen den Wunderglauben, mit der Spinoza selbst im Theologisch-politische[n] Traktat (1670) die Grundlage der Offenbarungsreligion in Frage stellte und sämtliche darauf basierenden Überlieferungs- und Machtstrukturen umfassend historisierte. Im Zuge dessen hatte er ebenso die (bis heute gültigen) Grundlagen der historisch-kritischen Bibelanalyse gelegt und nach diesem philosophischen Erdrutsch für Gedankenfreiheit und die Freiheit zu philosophieren plädiert.572 Spinoza hatte im Gegensatz zu Hobbes den Zweck des Staates in der Ermöglichung der Freiheit gerade in Abgrenzung vom Automatentum gesehen und hatte die Zusammenhänge zwischen Unmündigkeit, Unterwerfung und Gewalt bereits 1670 dahingehend analysiert, dass er die Demokratie als naturnahste Staatsform bezeichnen konnte.573 Dippel, den trotz aller Kritik mehr mit Spinoza verband als seine teilweise verkürzende Polemik gegen den Philosophen suggeriert, interessiert an Spinoza das naturphilosophische Problem der verlorenen Freiheit, die er in Frage gestellt sieht, wenn die gesamte Gott-Natur den Gesetzen mathematischer Notwendigkeit unterliegen soll bzw. wenn die einzelnen Geschöpfe lediglich als Modifikationen eines sich nach Naturgesetzlichkeiten entfaltenden Einen verstanden werden.574 Insbesondere Spinozas geometrische Methode, mit der dieser auch sprachlich das Postulat prinzipieller Evidenz und Intelligibilität der Natur gegenüber klerikalen Wissensverboten und forschungsfeindlicher Ablehnung der Curiositas unterstri-

571 Baruch de Spinoza: Ethik, in geometrischer Methode dargestellt. Hg. v. Wolfgang Bartuschat. Hamburg 1999, I, Prop. 32: »Folgesatz 1: Hieraus folgt erstens, daß Gott nicht aus Freiheit des Willens etwas bewirkt« (S. 67); I, Prop. 33: »Doch will ich ihnen zuliebe doch zeigen, daß, selbst wenn eingeräumt wird, zu Gottes Essenz gehöre ein Wille, aus seiner Vollkommenheit gleichwohl folgen würde, daß die Dinge auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von ihm hätten erschaffen werden können.« Weiterführend Israel: Radical Enlightenment, S. 231. 572 Baruch de Spinoza: Theologisch-politischer Traktat, Hg. v. Günther Gawlick. Hamburg 1994, Kap. 4: Vom göttlichen Gesetz (S. 65 ff.) u. Kap. 6: Von den Wundern (S. 93 ff.). 573 Spinoza: Theologisch-politischer Traktat, S. 307 u. 301: »Es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen, sondern vielmehr zu bewirken, daß ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, daß sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen und daß sie nicht mit Zorn, Haß und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander gesinnt sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.« 574 Dippel: Fatum fatuum II, S. 77 ff.

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chen hatte, erschien Dippel wiederum im Kontext der eigenen Auseinandersetzung mit der mechanistischen Philosophie als Subsummierung der lebendigen Komplexität der Welt unter mathematische Gesetze und damit als Apotheose des Maschinendenkens. Sein Einspruch gegen die Eliminierung des freien Willens in den Geschöpfen und in Gott ist damit theologischer Natur und richtet sich im weiteren Sinne gegen die nivellierte Differenz zwischen Gut und Böse, mit der er die gesamte ethische Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft unterminiert sieht.575 Sein eigener Lösungsvorschlag greift auf die Schöpfungsmythen nach Jakob Böhme sowie des Corpus Hermeticum zurück und betont damit den Topos der Freiwilligkeit der Schöpfung durch Gott, der Freiwilligkeit des Falls und einer entsprechenden Freiwilligkeit der Umkehr.576 Diese Freiheit, an der Dippel auch in der theologischen Kritik an der Rechtfertigungslehre alles lag, ist im Kontext seiner Naturphilosophie mit dem Prinzip der Kontrarietät verbunden, das in Böhmes Theosophie zentral ist, in Spinozas Philosophie jedoch keine Rolle spielt. Dippels Naturphilosophie, die nach Böhme noch die Trennung von zwei Prinzipien, des »Lichts« und des »Feuers« als konstitutiv für die Selbstentfaltung Gottes angenommen hatte, spricht allen, durch das Prinzip der Kontraktion überhaupt erst ermöglichten Individuationen »Willen« bzw. eine »Begierde des Geistes« zu, die sie von rein reaktiven, mathematisch erfassbaren und damit determinierbaren Gesetzmäßigkeiten unterscheidet, sie aber gerade dadurch als lebende Entitäten auszeichnet.577 Das Phänomen einer »Begierde des Geistes« (im weitesten Sinne verstanden als Lebensäußerungen von Antipathie und Sympathie) leitet sich bei Dippel aus Böhmes Konzept einer Schöpfung per Imagination ab, das die Freiheit beinhaltet, den Willen in sich selbst (Prinzip der Kontraktion) oder in etwas außer sich (Prinzip der Expansion) zu setzen, und diese Freiheit gilt Dippel als Erbe und Siegel der Gottebenbildlichkeit, die auch nach dem Fall bestehen bleibt.578 Damit wird die Gültigkeit von Naturgesetzen nicht negiert, jedoch wird der Raum ihrer Gültigkeit eingeschränkt auf den ›äußeren‹ Bereich der sichtbaren Welt. Die »Sünde«, an der Dippel selbst noch in seiner Dissertation im traditionell mythologischen Narrativ des Falls festhält, beinhaltet zwar die »Captivierung des freyen Geistes unter die Vergnüglichkeit der äussern Natur«.579 Das Innerste der

575 Dippel: Fatum fatuum II, S. 3 u. 78; Des thierischen Lebens II, S. 356 ff. Diese Angst angesichts der ethischen Konsequenzen ist es auch, die laut Dippels eigener Aussage seine emotionalen Reaktionen und polemischen Ausfälle erklärt, wobei er immerhin die Begrenztheit auch seiner eigenen Erkenntnis einräumt. Dippel: Des thierischen Lebens II, S. 361 ff. 576 Dippel: Fatum fatuum II, S. 3; CH I, 13 (CHD I, S. 14); Böhme: Mysterium Magnum, 9:7. 577 Geyer-Kordesch: Die Nachtseite der Naturwissenschaft, S. 25. 578 Dippel: Fatum fatuum II, S. 11–13. 579 Ebd., S. 23.



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Seele jedoch ist nicht determiniert, und entsprechend verortet Dippel hier die Möglichkeit, durch richtigen Gebrauch der dort bewahrten Freiheit im Raum der Natur, der von den Kräften der Liebe und des Hasses durchwaltet ist, Entscheidungen zu treffen. Dippels Argumentation scheint Spinozas staatstheoretische Erörterungen zur Freiheit nicht zur Kenntnis genommen zu haben, sondern ist in ihrer teilweise rigiden Dringlichkeit allein aus dem eigenen theologischen Verständnishorizont heraus entwickelt, da sie das Zentrum seiner Theologie betrifft: die selbstverantwortliche Entscheidung zur »Nachfolge Christi«.580 Dieser Topos der Freiheit zur Ausrichtung des Geistes hat bei Dippel nicht nur eine naturphilosophische, sondern gleichzeitig eine schöpfungstheologische und eine soteriologische Implikation. In Abgrenzung zu jeder Form von philosophischem Determinismus verortet Dippel diese Freiheit nicht nur bei Menschen, sondern sieht sie als Kennzeichen aller, von Gott in Freiheit erschaffenen Geister, also auch bei geistigen Wesen wie Engel oder Lebensgeister. Dieses Konzept der Lebensgeister bzw. Werkmeister, das er aus Jan Baptist van Helmonts Aufgang der Artzneykunst übernommen hatte, schlägt Dippel nicht nur als Antwort auf die Theodizeefrage, sondern auch zur Erklärung des »Bösen« bzw. Fehlers in der Medizin, hier: zur Beschreibung von Gesundheit und Krankheit vor. Zwar denkt er alle lebenden Wesen mit einem Hauptleben verbunden, spricht aber jedem einzelnen Wesen zu, den eigenen Willen in anerschaffener Freiheit so auszurichten, dass ein Leben in Einklang oder in Dissonanz mit der göttlichen Ordnung dieses einen Lebens möglich wird.581 Die aus der Wahl entstehenden Affekte der Vergnügtheit oder der Leidenschaften beeinflussen wiederum den Körper und haben, so Dippel als empirisch arbeitender Arzt, im Gegensatz zur reinen Vernunft die Kraft, den Körper zu schädigen oder ihn im ungekehrten Fall zu heilen. Damit wird Dippel zu einem der frühesten Theoretiker für psychosomatische Medizin und für eine Erweiterung des ärztlichen Blicks von der Behandlung des Körpers zur Therapie der Seele.582 Das Konzept der Lebensgeister ergänzt in Dippels Naturphilosophie die gegenüber Descartes postulierte Einheit des Seins um den gegenüber Spinoza unterstrichenen Aspekt der unendlichen Fülle unterschiedlicher Willensäußerungen und deren Schöpfungen. Die Differenz gegenüber beiden und damit die Eigenständigkeit Dippels ist signifikant: Die sichtbare Welt wird nicht von einem einzigen Willen nach ewigen Gesetzen still hervorgebracht, sondern sie

580 Ebd., S. 26 ff. 581 Dippel: Des thierischen Lebens II, S. 186; Sahmland: Das medizinische Konzept Johann Conrad Dippels, S. 607. 582 Dippel: Des thierischen Lebens II, S. 194 ff.

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wird von einer Polyphonie an Willensäußerungen lebendiger Entitäten quasi ko-kreativ gestaltet, wobei deren Freiheit zur Wahl zwischen Einklang und Dissonanz mit dem Einen, zwischen Liebe und Hass, Expansion und Kontraktion sogar dem Willen des Einen entspricht und dessen Erbe ausmacht. Die empirisch beobachtbaren Transmutationen in der Materie, verschiedene Aggregatzustände eines und desselben Stoffs, Wachstumsprozesse und das Phänomen der Fortpflanzung werden damit nicht als Ergebnis rein korpuskularer Veränderungen durch mechanische Stoßkräfte, sondern im Gegenteil als körperlicher Ausdruck lebendiger Kräfte lesbar, die ihrer Substanz nach jedoch geistig sind und in einem göttlichen Grund aufgehoben sind. Dies impliziert einige praktische Stellungnahmen zu Themen der Zeit wie die Entdämonisierung der Sexualität oder die Frage des Teufelsglaubens. Eines der wirkmächtigsten Werke gegen den Teufelsglauben und für die später sogenannte Entzauberung der Welt ist das vierbändige Werk des Cartesianers Balthasar Bekker Betoverde Weereld (Amsterdam 1691–1693), in dem Bekker gemäß der cartesianischen Substanzentrennung dem Teufel und Geistern jeden Einfluss auf die Welt des Körperlichen abspricht. Bekker ging es jedoch nicht nur darum, in einer aufwändigen Recherche Magie, Geisterglaube und Satansangst einer langen Geschichte des Aberglaubens zuzuweisen, er zielte auch auf nichts Geringeres als auf den Nachweis der Illegitimität der Hexenprozesse. Dafür rekonstruierte er den Zusammenhang zwischen geringem Bildungsstandard der Bevölkerung, Florieren des Geisterglaubens und klerikalen Interessen an genau diesem Zustand.583 Dippel hatte wenig Verständnis für Bekkers Destruktion des Teufelsglaubens, da er dessen cartesianische Vorannahme ablehnte.584 Allerdings defininierte seine eigene Naturphilosophie Hölle nach Weigel und Böhme ebenfalls nicht traditionell als Ort, sondern als Konsequenz der Wendung des freien Geistes in sich selbst und damit als Hingabe an das Prinzip der Kontraktion, das per se eine Trennung vom Liebes- und Lichtprinzip impliziert.585 »Hölle« bzw. das »Böse« ist damit etwas, was der Geist sich selbst erschafft. Es hat bei Dippel damit durchaus einen Ort im philosophischen System, allerdings ist dieser nicht lokal, sondern modal verstanden und damit immer schon säkularisiert. Ähnliches gilt für die Betrachtung der Sexualität, die explizit vom Begriff der Sünde differenziert wird. Die Begriffe der Sünde, Sexualität und Körperlichkeit sind in den Hauptströmungen des christlichen Denkens der frühen Neuzeit eng verschränkt. Doch nach

583 Ausführlich zu Bekker, zum Inhalt der Betoverde Weereld (›Bezauberte Welt‹) und zur kontroversen Rezeption des Werks Israel: Radical Enlightenment, S. 377 ff. 584 Dippel: Fatum fatuum II, S. 83. 585 Ebd., S. 13.



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Dippel zeigt die Beobachtung der Tiere und die Natürlichkeit ihrer Fortpflanzung, dass Sexualität nicht per se an Sünde und Scham gebunden sein kann.586 Sünde meint bei Dippel ganz traditionell Perpetuierung der Selbstheit, d.h. Existenz unter dem Prinzip der Kontraktion und ist damit nicht pauschal auf die Welt der Materie oder des Körpers bezogen. Die mit körperlicher Liebe verbundenen Schamgefühle, deren prominentester Zeuge Aristoteles war, interpretiert er vielmehr nach Böhmes Metaphysik der Scham als unbewusste Erinnerung an die prälapsarische geistige Fortpflanzung. Dippels Dissertation enthält schließlich einen eigenen Vorschlag zur Frage nach einem »Systema aller Bewegung« in der Natur, das er als »Handbuch« zwischen der »Skylla« des Mechanismus und der »Charybdis« des Spinozismus, hier: des Determinismus versteht.587 Es beinhaltet eine theoretische Begründung der Einheit alles Lebendigen bei gleichzeitiger Autonomie der freien Geister und sucht nicht nur die Frage nach dem Sinn der Schöpfung zu beantworten, sondern zeigt auch exemplarisch, wo die alten Texte der hermetischen Philosophie lange nach Casaubon eine »Schnittstelle frühneuzeitlicher Sinngebung«588 blieben. Wichtig für seine Argumentation ist die Reflexion einer Leerstelle in zeitgenössischen Geistbegriffen, die entweder als naturferne Rationalität oder als reines Wirken (Actus purus) gefasst sind. Unter Berufung auf die ganze Ahnenreihe der hermetischen Tradition von Zoroaster über Hermes, die Kabbalisten, Platon, Origenes, Tertullian, Robert Fludd, Paracelsus und Jakob Böhme postuliert Dippel dagegen die theoretische Notwendigkeit eines »Principium passivum« in der Gottheit als eines leidenden Anfangsgrunds im göttlichen Geist selbst, der die Wirkungen des ersten bewegenden Wesens aufnimmt, beschränkt und sich so empfindlich wird.589 Mit einer großzügigen Vielfalt an Begriffen nennt Dippel dieses Principium passivum den »Cörper der ewigen Gottheit«, von der die Bibel als »Feuer« und »Licht« spricht, die »urältesten Weisen« aber als »ewige unzerstörliche Natur«.590 Konzeptionell beschreibt es ein unsichtbares Samenbehältnis, aus dem in der Zeit durch Gottes Wirken alles Sichtbare und die Welt der Körper hervorgegangen ist. Es fällt nicht schwer, an dieser strukturell herausragenden Stelle den alten Topos des Mysterium Magnum, der Primordialnatur oder eben der göttlichen Mutter in neuem Gewand zu erkennen. Es sind die Aspekte der Sinnlichkeit und der Selbstreflexivität des Geistes, die Jakob Böhme im Bild

586 Ebd., S. 24. 587 Dippel: Des thierischen Lebens II, S. 335 ff., Einschätzung S. 355. 588 Trepp: Hermetismus oder zur Pluralisierung von Religions- und Wissensformen, S. 14. 589 Dippel: Des thierischen Lebens II, S. 335. 590 Ebd., S. 336.

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der göttlichen Sophia beschrieben hatte. Böhme hatte sogar auf den Häresievorwurf hin, er nehme nach seiner Sophiologie eine Quaternio in Gott an, die Rolle der Sophia in einer Weise spezifiziert, die Dippels Ausführungen vorzuprägen scheint: Sie, »des Geistes Leiblichkeit«,591 so schrieb er gegen Balthasar Tilken, sei »nicht das Göttliche Principium, […] sondern die Mutter, darinnen der Vater wircket.«592 In anderem Kontext, jedoch in charakteristisch androgyner Bildlichkeit, preist der hermetische Asclepius-Dialog den »Vater« als »Leben des Lebens«, aus dessen/deren »Schoß« die ganze Natur hervorgeht.593 Dieser Aspekt des Sich-Selbst-Empfindlich-Werdens durch Wirken beschreibt den Geist nicht als naturfreies Denken, sondern als ein Sich-selbst-bewusst-Werden in der lebendigen, bewegten Kreation. Dem Geistbegriff mechanistischer und  – nach Dippels Verständnis  – deterministischer Philosophie fehlt dieses Moment der Selbstreflexivität, das auch nicht einfach als rationaler Akt, sondern viel umfassener als ›Empfindlich‹-, also Bewusstwerdung verstanden wird, was Denken, Fühlen, Vegetieren oder reines Existieren einschließt. Der Geistbegriff, von dem Dippel spricht, ist von der Natur nicht zu trennen, auch wenn sein Ursprung die reine Transzendenz ist, da er eine sinnliche ›Außenseite‹ besitzt, aus der die materielle Natur gleichsam in ewig schöpferischem Wirken hervorgeht. Hier begründet sich das Konzept der Allbelebtheit, das auch die Erde selbst und alle Bereiche des Seins einschließt, auch diejenigen, die menschlichen Sinnen entzogen sind. Der Glaube an eine prinzipielle Lebendigkeit vom Gestein bis zu den Sternen ist bei Dippel jedoch weniger eine esoterische Aussage im Sinne eines okkulten, nur Eingeweihten zugänglichen Wissens, sondern vielmehr eine bewusstseinsphilosophische Reflexion, die gegen die rationalistische Annahme einer vollständigen Intelligibilität der Welt durch mathematische Gesetze Stellung nimmt. Dieser Glaube erscheint ihm als optische Täuschung, wie er am Beispiel einer Laus exemplifiziert, die auf dem Rücken eines Elephanten lebt und den Elefantenrücken ihrer eigenen beschränkten Wahrnehmung nach bereits für die ganze Welt hält.594 Naturphilosophisch kommt dieser Differenz der Geistbegriffe im Hinblick auf das Telos der Schöpfung eine existenzielle Rolle zu, das Dippel in engem Anschluss an Böhme und Hermes folgendermaßen schildert: Da also GOtt als das höchste Gut, die Schätze seiner höchsten Weißheit und Liebe bekant machen wollen, ist er durch das Werck der Schöpfung gleichsam aus sich selbst heraus

591 Böhme: De triplici vita hominis, 5:50. 592 Böhme: Zweyte Schutz-Schrift wider Balthasar Tilken, 2:65. 593 Asclepius 41 (CHD I, S. 315). 594 Dippel: Etwas Neues, oder Retirade der Lutherischen Orthodoxie III, S. 336 f.



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gegangen, und hat in sich selbst, vermittelst der Zusammenfassung seiner allmächtigen 595 Imaginations=Krafft, andere Geister conzipiret […].

Diese erste Schöpfung ist sein Ebenbild, das nach Hermes zur ganzen Natur wurde,596 Gottes »Sohn«, dessen Freiheit zur Abweichung in die Kreatur ihren Ort hat: […] ja es würde auf diese Art [ohne Freiheit zur Abweichung] GOtt selbst des letzten Endzwecks der Schöpffung verfehlet haben, nach welchem er durch seine vermannigfachende Liebe in den Creaturen sein selbsteigenes Ebenbild schauen, und sich zugleich der Creatur nach dem Maaß ihrer Fähigkeit in allen zu erkennen geben und zu lieben darstellen 597 wollte.

Die Natur als Spiegelbild des Geistes im Prozess der Selbst-Bewusst-Werdung Gottes ist das genaue Gegenbild zur cartesianischen Vorstellung einer Welt als Uhrwerk unter mathematischen Gesetzen, die einer körperlosen und abstrakten Ratio gegenübersteht und aus der, wie Dippel ironisch kommentiert, Gott nach der Schöpfung »gleichsam davon gesprungen« ist.598 Es ist ebenfalls ein Gegenbild zu Hobbes’ materialistisch gefärbter Reich-Gottes-Vorstellung nach dem Muster einer irdischen Theokratie, in der vor allem die Fähigkeit, Befehle eines göttlichen Herrschers zu empfangen, zur Mitgliedschaft qualifiziert. Dippels Geist- und Naturbegriff dagegen impliziert, dass sich Geist in seinen vielfältigen Ausdrucksformen in der Natur als mineralisches, vegetabilisches, animalisches, rationales oder intellektuelles Leben selbst bewusst werden kann und will. Dabei ist die Freiheit zum »Abfall« oder zur Selbstbeschränkung strukturell in die Naturphilosophie eingebunden, da sie überhaupt erst die Voraussetzung zur Differenzierung des Einen in die Vielen schuf. Die Gesamtheit der sichtbaren Welt sowie alle Geschöpfe ›haben‹ demnach nicht einfach Leben, das für den Zeitraum einer Lebensspanne an das Funktionieren einer Körper-›Maschine‹ gebunden ist; sie sind Leben, Leben, das sich in seiner unendlichen Ausdifferenzierung selbst anschaulich und sich damit seiner eigenen Fülle – und Liebesfähigkeit – bewusst wird.

595 Dippel: Des thierischen Lebens II, S. 339. 596 CH I, 31 (CHD I, S. 22). 597 Dippel: Des thierischen Lebens II, S. 354. 598 Dippel: Fatum fatuum II, S. 71.

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6. Vom Freidenker zum Frankenstein. Zur Hermetisierung des Dippel-Bildes in der kulturellen Erinnerung Naturphilosophisch stand Dippel außerhalb der diskursmächtigen Strömungen seiner Zeit, auch wenn seine Kritik am Rationalismus und am Substanzdualismus wesentliche Themenkreise des Sturm und Drang, der Romantik und des deutschen Idealismus vorwegnahm. Theologisch erfreuten sich seine Schriften zwar innerhalb des radikalpietistischen Milieus großer Beliebtheit, wie die Konzeption der Gesamtausgabe seiner Werke zeigt, doch ließ das Interesse an ihnen, die als Streitschriften überwiegend situativ eingebettet waren, in kommenden Generationen nach. Dippels Biograf Johann Christian Gottlieb Ackermann schrieb 1781, dass seine Texte es wert seien »der Vergessenheit entrissen zu werden; sie sind, als die ersten Bemühungen eines Reformators der lutherischen Kirche, ehrwürdig.«599 Während das historische Wissen um die Texte des Freidenkers verblasste, erfuhr die Fortschreibung der kulturellen Erinnerung an den Freidenker und Alchemisten eine solche Zuspitzung, dass sie in einer Arbeit zur Rezeption hermetischer Texte nicht fehlen darf. Ein  – von der Forschung bislang übersehenes  – literarisches Zeugnis aus dem Jahr 1733 spiegelt bereits die Irrationalität, unter der das Dippel-Bild schon zu seinen Lebzeiten konstruiert wurde. Es stammt vom »deutschen Swift«, dem Satiriker Liscov, der selbst in jungen Jahren nach religionskritischen Satiren Gefängnis, Verbannung und anschließendes literarisches Verstummen erfuhr. Dieser zeichnet schmunzelnd folgende Szene, die ausführlich zitiert sein soll: Der Saame, den er [Magister Sievers] ausstreuet, fällt auf ein gutes Land. Man redet nunmehre in St. Annen Kloster nicht mehr von Kleinigkeiten und gemeinen Dingen. Man spricht von Gnosticis, Valentinianern, Marcioniten, Donatisten, Novatianern, Sabellianern, Photinianern, Arrianern, Nestorianern, von den tribus Capitulis, […] Rosenkreuzern, Wiedertäufern, Quäkern, und, mit einem Worte, von allen alten und neuen Ketzern. Man stellt sich vor, wie artig es wohl gelassen habe, als Simon der Zauberer den Hals gebrochen, und eine alte Badstube dem Cerinthus über den Kopf gefallen sey, und also die Kirche von diesen Buben befreyet habe. Man schilt den Grotius, eifert wider Thomasius, flucht Gerhard und Dippeln, und läßt keinem Schwärmer für einen Heller Ehre. So groß ist die Einsicht und der Eifer dieser andächtigen Personen: und das ist kein Wunder; denn der Herr Magister Sievers predigt gewaltig. Die Frau, mit welcher ich redete, versicherte mich, daß sie öfters, wann sie aus des Herrn Magister Sievers Predigten käme, wider Dippeln insonderheit so erbittert wäre, daß sie oft wünsche, den Buben vor sich zu haben, um ihm die Augen auszukratzen. Sie sagte mir ferner, daß dergleichen Gemüthsbewegungen in den Zuhörern des Herrn Magister Sievers

599 Ackermann: Das Leben Johann Conrad Dippels, S. 114.



Zur Hermetisierung des Dippel-Bildes

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nichts seltenes wären. Sehen Sie wohl, mein Herr, sprach sie, den Mann mit dem blauen Auge? Und indem sie dieses sagte, wiese sie mir einen wohlgekleideten Bürger, der unter dem Haufen stand. Dieser Mann, fuhr sie fort, hat eine Frau, die des Herrn Magister Sievers Predigten, die er zu St. Annen hält, fleißig besuchet, und aus selbigen einen so grossen Haß gegen die Ketzer, insbesonderheit gegen Dippeln, geschöpfet, daß sie, wo sie gehet und stehet, auf ihn flucht. Weil sie nun beständig mit so christlichen Gedanken umgehet: so muß es ihr neulich im Traume vorkommen, als zanke sie sich mit Dippeln; sie fängt also im Schlafe mit greßlicher Stimme an zu schreyen: O du schädlicher Unflat der höllischen Schmeißfliegen! schlägt um sich, und trifft ihren Mann auf das rechte Auge, daß es ihm 600 braun und blau geworden ist.

Die kulturelle Erinnerung, so legt diese Momentaufnahme nahe, wird maßgeblich von den Stimmen der historischen ›Sieger‹ geprägt, und diese basieren nicht immer auf Faktenwissen. Eine weitere literarische Stimme des 18. Jahrhunderts, Johann Gottfried Herder, kommentierte in Bezug auf Dippel das Publikationsorgan, das den kritischen Stimmen über Dippel ein breites Forum bot und über Jahrzehnte mit emotionalen und tendenziösen Beiträgen an der Bildung eines Negativbilds mitwirkte: die Unschuldigen Nachrichten als Zeitschrift der lutherischen Orthodoxie. Herder schreibt: Schämet man sich nicht und erstaunet, wenn man hier, da und dort das heimtückische, arrogante Betragen ganzer protestantischer Ministerien damaliger Zeit lieset? Kleine und kleinliche Päpste! Um so giftiger, weil ihnen zum Verfolgen nicht nur die Macht, sondern auch das Recht fehlte: denn der Protestantismus duldet keine Ketzerverfolgungen! […] Die so genannten ›Unschuldigen Nachrichten‹ sind von diesen Schleichgängen aus ältern und neueren Zeiten, gegen ihre Absicht, treue Zeugen. Von 1701 haben sie bis über die Mitte des 601 Jahrhunderts fort gedauert. […] Der Censorgeist darinnen war selten Luthers Geist.

Auch andere Stimmen des späten 18. Jahrhunderts spiegeln, wie die kulturelle Erinnerung an einen unbequemen Autor, der wissensgeschichtlich quer zu den Tendenzen der Zeit stand, im Positiven wie im Negativen stereotypisiert wird. In Johann Heinrich Jung-Stillings Roman Theobald oder die Schwärmer tritt der »weltbekannte« Dippel sogar als Romanfigur auf, wobei der Erzähler die Dis-

600 [Christian Ludwig Liscov:] Der sich selbst entdeckende X.Y.Z. Oder L-e-s- H-rm-n B-ckm-strs, Rev. Minist. Candidati, aufrichtige Anzeige der Ursachen, die ihn bewegen, die Geschichte von der Zerstöhrung der Stadt Jerusalem mit kurzen Anmerkungen zu erläutern […]. Leipzig 1733. In: Christian Ludwig Liscov’s Schriften. Hg. v. Carl Müchler. Berlin 1806 [Frankfurt a.M. 1972], Bd. 1, S. 274 ff. Zu Liscov als Aufklärer und »Swift der Deutschen« sowie zum historischen Vorbild des Magister Sievers vgl. Müchler: Vorrede. In: Ebd., S. 3–38; Thomas P. Saine: Von der Kopernikanischen bis zur Französischen Revolution. Die Auseinandersetzung der deutschen Frühauklärung mit der neuen Zeit. Berlin 1987, S. 228 ff. 601 Herder: Adrastea, S. 494.

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krepanz der Urteile über Dippel zusammenfasst: Galt er den einen als »Haupttriebfeder der Schwärmerei«, erscheint er anderen als ein Vertreter »des wahren Christenthums in Deutschland.«602 Während Jung-Stilling das theologische Urteil über Dippel als »Triebfeder der Schwärmerei« referierte, spiegelt das DippelBild aus Johann Christoph Adelungs Geschichte der menschlichen Narrheit die rationalistische Perspektive der aufklärerischen Historiografie. Dippels spiritualistisch geprägte Vernunftkritik erschien Adelung als unbegreifliche Verirrung eines Genies, und Dippels turbulente Biografie betrachtete Adelung als Rache der Vernunft an ihren Verleugnern. Er rechnete ihn unter die »philosophischen Unholde«, ein Prädikat, das als rationalistische Transformation des alten Begriffs für den Hexenmeister des 17. Jahrhunderts gelten kann.603 Wie sehr die historische Erinnerung an Dippel bereits im 18. Jahrhundert verschwimmt, lässt sich an der Charakterisierung der Romanfigur Dippel in JungStillings Roman Theobald oder die Schwärmer. Eine wahre Geschichte nachweisen. Der Roman ist weitgehend um eine differenzierte Schilderung der religiösen Situation bemüht und zeichnet ein kurzes, aber prägnantes Bild von Dippel als kompetentem Arzt. Doch die Details in der Inszenierung der Dippelfigur bezeugen das Faszinosum eines großen Namens, der aus der Perspektive des frühen 19. Jahrhunderts mit dem Milieu des Okkulten assoziiert wird. Entgegen der historischen Zeugnisse, die Dippels Bescheidenheit in Kleidung und Lebensführung betonen,604 tritt die Romanfigur Dippel in Gold und Scharlach gekleidet auf.605

602 Johann Heinrich Jung-Stilling: Theobald oder die Schwärmer. Eine wahre Geschichte. In: Johann Heinrich Jung’s, genannt Stilling, sämmtliche Werke. Bd.  6. Stuttgart 1837, S. 24. Zum Bekanntheitsgrad Dippels sei auch auf den Tagebucheintrag des Casimir von Sayn-Wittgenstein hingewiesen, der über Dippel am 13. November 1729 notiert: »Sonst ist nichts Sonderliches passiert, als daß der weltberühmte Dr. Dippelius, der unter dem Nahmen Christianus Democritus den Gelehrten bekannt ist […,] hierher gekommen ist, mit welchem ich also auch bekannt geworden bin. Er ist im Umgange ein artiger, humaner, gelehrter und geschickter Mensch.« (Zit. n. Buchner: Johann Konrad Dippel, S. 318) 603 Adelung: Geschichte der menschlichen Narrheit, Bd. 1, S. 314–347, bes. S. 318 u. 345. – Zu Adelungs Geschichte der menschlichen Narrheit als »Ketzerhistorie im Sinne des wolffschen Rationalismus« vgl. Wilhelm Kühlmann: Biographische Methode und aufgeklärte Revision der Geschichte – Johann Christoph Adelungs Paracelsusbiographie. In: Telle (Hg.): Analecta Paracelsica, S. 541–556. 604 So Canz im Anhang zur Gesamtausgabe Dippelii Personalia (III, S. 743–768). Dippel kleide sich reinlich, aber nicht prächtig (S. 749), sei mit wenig zufrieden und lebte die letzten Jahre in einem einfachen Zimmer (S. 750). 605  Jung-Stilling: Theobald oder die Schwärmer, S. 112. Zu einer nuancierten Interpretation der literarischen Figur im Spannungsfeld zwischen den Schriften des historischen Dippel und der veränderten Wahrnehmung der Alchemie im späten 18.  Jahrhundert vgl. Geyer-Kordesch: Die Nachtseite der Naturwissenschaft, S. 13–30.



Zur Hermetisierung des Dippel-Bildes

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Nennenswert ist das Detail von Dippels rotem Mantel. Es entstammt einem äußerst tendenziösen Bericht von Dippels Verhaftung und Verbrennung seiner Schriften in Altona, der 1719 in den Unschuldigen Nachrichten erschien.606 Im Roman wird er zur Chiffre der respektgebietenden Erscheinung, wobei sich die Romanfigur neben der bekannten, vom historischen Dippel bezeugten Scharfsinnigkeit auch durch erwähnenswert gutes Aussehen auszeichnet.607 Doch während Dippel einerseits als »weltbekannt« eingeführt wird, ist andererseits bereits sein korrekter Vorname vergessen.608 Falsch ist auch die Aussage, er sei russischer Leibarzt gewesen. Hier lässt sich der Konstruktionsprozess historischer Erinnerung en detail beobachten: Während die Umrisse der historischen Person und ihrer Schriften verblassen, wird das erinnerte und imaginierte Bild mit Zügen eines kulturellen Topos (hier: des Alchemisten) überschrieben. Flankiert wird dies durch die Erzählungen über Dippels Tod. Ungeachtet des Wissens um Dippels friedliches Entschlafen in seinem Bett und ungeachtet eines Obduk­tionsgutachtens, das als Todesursache einen Schlagfluss (Schlaganfall) feststellte, will es die Legende hartnäckig, der Teufel habe seine Seele geholt, und zwar selbstverständlich in seinem alchemistischen Labor oder zumindest im Schlosskeller. Sein lebloser Körper sei versehrt und aufgedunsen gefunden worden, was auf einen Kampf mit dem Teufel schließen ließe. Auch hier wird das historische Zeugnis, das von einem Gespräch Dippels mit einem Freund am letzten Abend berichtet609 mit dem kulturellen Topos des verworfenen Alchemisten überschrieben  – nicht Dippel,

606 Vgl. den Bericht von Dippels Verhaftung und Verbrennung seiner Schriften: Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen theologischen Sachen. 1719, S. 879–885. Der Bericht stellt mit teilweise kaum verhohlener Genugtuung den Vorgang als göttliche Strafe für den Spötter Dippel dar (S. 879 f. u. 885) und erwähnt in dieser Schilderung des »Kriminalfalls« mehrfach dessen roten Mantel (S. 881 u. 883). Buchner wiederum weist darauf hin, dass spätere Interpreten diesen Mantel zu Unrecht als Zeichen für sein Ketzertum deuteten (Buchner: Johann Konrad Dippel, S. 352). Erwähnt werden muss auch, dass der Prozess gegen Dippel zunächst politischer, nicht theologischer Natur war (ausführlich ebd., S. 282 ff.). Zu einer kriminalistischen Aufarbeitung des Prozesses, der deutliche Anzeichen massiver politischer Einflussnahme aufweist, Dippel als unbequemen Kritiker zum Schweigen zu bringen, vgl. Rustmeier: Johann Conrad Dippel in Schleswig-Holstein II, S. 91–116. Zum strafrechtlichen Ritual der Bücherverbrennung als Inszenierung einer stellvertretenden Hinrichtung vgl. Hermann Rafetseder: Buchhinrichtungen. Öffentliche Schriftenverbrennungen durch Henkershand als Extremfälle der Zensur. In: ›Unmoralisch an sich…‹. Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. v. Herbert G. Göpfert u. Erdmann Weyrauch. Wiesbaden 1988, S. 89–103, bes. S. 92: »Bücherverbrenner […] haben üblicherweise Angst vor besonders schwer zu bekämpfenden Gegnern.« 607 Buchner: Johann Konrad Dippel, S. 30–34, hier S. 32. 608 Ebd., S. 24. 609 Ebd., S. 328.

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 Johann Conrad Dippel (1673–1734)

sondern Faust starb in den frühen Versionen des Mythos in seinem Labor, wo er vom Teufel zerrissen wurde! Eine weitere Schicht der Legendenbildung, die die historische Person verschleiert, stellen die Schriften Bachstroms dar, der mit Christiani Democriti  / Redivivi / Umständliche Erzehlung / Wie es mit seinem vermeinten Tode zugegangen sey (1736) zwei Jahre nach Dippels Tod die für die Rezeption folgenschwere These erfindet, Dippel lebe noch immer an einem geheimen Ort in einer geheimen Gesellschaft, nachdem er einen anderen an seiner Stelle habe beerdigen lassen.610 Johann Conrad Canz, der Herausgeber der Gesamtausgabe, überliefert die Situation, die nicht nur die Entstehung, sondern vor allem auch die unkritische Zuschreibung der (Pseudo-)Dippel-Schriften zu Dippels Namen in der Rezeption entscheidend begünstigt haben mag: Auf die laut Dippel ab 1712 von der Orthodoxie jährlich gestreuten Gerüchte, er sei gestorben, habe alle seine Irrtümer auf dem Totenbett widerrufen und sei dennoch unter Verzweiflung verschieden,611 setzte sich Dippel mit der gleichen Waffe zur Wehr, bei der er sich, wie Canz berichtet, selbst das Lachen verbeißen musste:612 Er veröffentlichte 1733 ein Manifest, in dem er die Gerüchte um seinen »von denen Orthodoxen so sehnlich erwarteten und gehofften Tod«613 öffentlich anspricht und bekannt gibt, er habe aus der jenseitigen Welt die Versicherung, der Democritus werde nicht eher sterben, bis alle Parteien ihre Orthodoxie abgelegt hätten und die konfessionellen Streitigkeiten überwunden seien. Angesichts der gegenwärtigen Situation sei

610 [Johann Friedrich Bachstrom:] Christiani Democriti / Redivivi / Umständliche Erzehlung / Wie es mit seinem vermeinten Tode / zugegangen sey / Und / Wie er nebst seiner neuen Gesellschaft ietzt in der Einsamkeit / Den Fall Adams / Und // Ursprung der Sünde / Und Alles Bösen / Gantz anders und besser als vormahls eingesehen. Gedruckt auf dem Johannis=Berge / in der Wüsten 1736. Siehe dazu Müller: Gegenwelten, S. 91 ff. Canz bezeichnet die Geschichte als »frei erfunden« (Dippelii Personalia III, S. 747 f.). 611 Hinter diesem aus heutiger Sicht skurrilen Instrument der Negativpropaganda verbirgt sich zeitgenössisch schweres Geschütz. Hier soll das öffentliche Dippel-Bild mit der schwersten Sünde assoziiert werden, die nach Jesu Worten in Mt 12,31 nicht mehr vergeben werden kann und die sich in der Desperatio in der Todesstunde manifestiert: die Sünde wider den Heiligen Geist. Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Erfahrung der äußersten Anfechtung. Die Sünde wider den Heiligen Geist (Mt 12:31) in literarischen Reflexen. In: ›Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget‹ Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Hg. v. Christian Soboth et al. Halle 2012 (Hallesche Forschungen 33/1), S. 185–207. 612 Dippelii Personalia  III, S. 748 (Canz). Von gestreuten Gerüchten über den Tod eines unliebsamen Kritikers als Kampfinstrument der Orthodoxie berichtet auch Johann Christian Edelmann: Walter Grossmann: Johann Christian Edelmann. From Orthodoxy to Enlightenment. Mouton 1976, S. 160. 613 Dippel: Deren Gelehrten Zeitungen von Gelehrten Zeitungen Erstes Stück III, S. 377 f.



Zur Hermetisierung des Dippel-Bildes

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damit jedes Gerücht über seinen Tod vor dem Jahr 1808 notwendig erfunden.614 Die von Dippel selbst mit Heiterkeit verfolgte weitere Entwicklung beruhte jedoch auf einem Missverständnis bezüglich seines Pseudonyms Democritus. Während Dippel ihn als Abstraktum verstand, bezogen ihn andere auf seine Person. Während Dippel davon ausging, erst mit der Überwindung des konfessionellen Streits würden keine Menschen mehr als Richter des Volkes, also übersetzt: als Democriti mehr auftreten, womit das Geschäft des Democritus gleichsam sterben würde, interpretierten seine Gegner, er selbst wolle so lange leben. Trotz der humoristischen Formulierung in jener Schrift bot diese Aussage zusammen mit Dippels Ruf als Alchemisten einen Ausgangspunkt zur Verselbstständigung des Dippel-Bildes, das sich von seinen Schriften vollständig löst. Begünstigt von überspitzten Dippel-Bildern historischer Polemik einerseits sowie der Konstruktion einer Gedächtnisgeschichte des Okkulten andererseits, die den Alchemisten Dippel für sich entdeckte, gipfelt dieser Prozess knapp 300 Jahre später in der Entstehung des Mythos vom Monster auf Burg Frankenstein an der Bergstraße, das nun der vermeintlich herumgeisternde Alchemist Dippel sein soll. Die Populärkultur des späten 20. Jahrhunderts überblendete die inzwischen diffuse Erinnerung an den auf Burg Frankenstein geborenen Alchemisten mit der berühmten Romanfigur aus Mary Shelleys Roman sowie der aus Amerika importierten Halloweentradition. Damit schuf sie im 21. Jahrhundert einen neuen Mythos, der in Dippel nun »den ›echten‹ Frankenstein«615 [sic!] entdeckt haben will. Sogar in wissenschaftlichem Habitus wird unter Verweisen auf »verschiedene Veröffentlichungen«,616 »verbrannte Kirchenbücher«617 und »lange verschollene Berichte«618 das ganze Panorama an Motiven aus der Welt der Schauerromane auf Dippel projeziert und unbekümmert fortgeschrieben: So soll Johann Conrad gar nicht der Sohn seines Vaters, des bürgerlichen Pfarrers, sondern illegitimer Spross des Adeligen Konrad von Frankenstein sein, mit dem Dippels Mutter eine Affaire gehabt haben soll. Kaum erwachsen, habe sich der Filius in die schwarze Kunst gestürzt, wobei er sogar einmal versehentlich den Pulverturm der Burg Frankenstein in die Luft gesprengt habe. Auch darf ein weiteres dämonisierendes Motiv nicht fehlen, das auf historische Gerüchte aus der Zeit von Dippels Hausarrest zurückgeführt wird: Dippel habe zur Herstellung seiner Tinkturen angeb-

614 Ebd.; siehe dazu die Kommentare von Canz (Dippelii Personalia  III, S. 478 u.  568) sowie Buchner: Johann Konrad Dippel, S. 326 f. 615 So Walter Scheele: Burg Frankenstein. Mythos, Wahrheit, Legende. Frankfurt a.M. 2001, S. 86. 616 Ebd., S. 117, Anm. 29. 617 Ebd., S. 118, Anm. 33. 618 Ebd., S. 91.

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lich Jungfrauenblut und Leichenteile verwendet, die er nachts auf dem Friedhof ausgegraben haben soll.619 Bezeichnenderweise spielt Dippels eigener Bericht über seine alchemistische Phase, die eher nüchtern gehaltene Fata Chymica, in dieser neuesten Fortschreibung der kulturellen Erinnerung an ihn keine Rolle. Ebenso wenig interessiert die gut dokumentierte theologische Konfliktsituation der frühen Aufklärung bei der Fortschreibung des Dippel-Bildes, hinter dem der historische Alchemist und Freidenker Dippel ebenso wie Mary Shelleys Romanfigur verschwindet.620 Ex negativo jedoch bestätigt selbst noch die Monstrosität der medienwirksam verbreiteten Gruselgeschichten die Sprengkraft der alten Kritik des historischen Freidenkers Johann Conrad Dippel.

619  Scheele: Burg Frankenstein, S. 86–92. 620 Sehr akribisch recherchiert dagegen zur Emergenz des Mythos um Burg Frankenstein, spukende Alchemisten und Mary Shelleys Roman Michael Müller: Any Monsters at Home? Die Burg Frankenstein an der Bergstraße und der Roman von Mary Shelley. In: Archiv für Hessische Geschichte 67 (2009), S. 367–396.

VII. Rückblick Im Rückblick auf die Analysen sollen nicht alle Einzelergebnisse wiederholt, sondern der Blick noch einmal auf die Ausgangsfragen gerichtet werden: auf die Fragen nach dem Beitrag der untersuchten Autoren und spezifisch ihrer Auseinandersetzung mit dem Corpus Hermeticum zu den historischen Wandlungen innerhalb der frühneuzeitlichen Wissenskultur, die sich Ende des 17. Jahrhunderts in den Prozess der Aufklärung verdichteten. Die Einzelanalysen zeigen, dass diese Fragen nicht ohne genaue philologische Analysen der jeweiligen Rezeptionsprozesse und ohne Unterscheidung zwischen der Fremdwahrnehmung und der Motivation der jeweiligen Autoren differenziert beantwortet werden können. Sie lassen sich ebenfalls nicht ohne Berücksichtigung zeithistorischer Wissensfelder und Machtkonstellationen beantworten. Vieles, was einer Perspektive des 21. Jahrhunderts fremd oder ›esoterisch‹ erscheint, zeigt sich als Ergebnis jahrhundertelanger Aus- und Abgrenzungsprozesse, im Zuge derer gerade die Traditionsverbundenheit und philologische Bodenständigkeit der untersuchten Autoren sowohl von überzeichneten Umsturzvorwürfen als auch von der Verkürzung ihrer Texte zu spekulativen Geheimlehren überdeckt worden waren. Die Einzelanalysen zeigen auch, dass die als häretisch inkriminierte Religiosität zu einem ganz wesentlichen Teil aus frühchristlichen und mittelalterlich mystischen Quellen abgeleitet und mit der Autorität der Kirchenväter und der Theologia deutsch begründet wird, wobei hinter der autoritätsgebietenden Referenz an den mittelalterlichen Traktat der Impuls des jungen Luther zu einer grundlegenden Reform des Christentums mitzudenken ist. Luther schuf mit seinem Bezug auf die Theologia deutsch als alte und ›wahre‹ Theologie, die seine Kritik am Klerus legitimierte, sogar selbst das Paradigma für die spiritualistische Kritik, deren Kehrseite die Hoffnung auf eine Vollendung der Renovatio Christianismi bildet, die mit der protestantischen Reformation zwar als begonnen galt, deren Vollendung aber noch erhofft wurde. Dieses Motiv kehrt in verschiedenen Rezeptionsstufen wieder, etwa bei Weigel oder wenn sie Johann Arndt 1597 im Herausgebervorwort als Beitrag zur ›Wiederherstellung der verschütteten, richtigen Theologie‹ versteht,1 eine Vorstellung, die noch bis zu Gottfried Arnolds Historie und Beschreibung der mystischen Theologie im Jahr 1703 nachwirkt. In diesen Kontexten wird das Corpus Hermeticum jeweils als eine Quelle unter vielen zitiert, die Aufschlüsse über den Inhalt jener vermeintlich ›richtigen‹ Theologie geben sollen. Hier aber setzt auch die christliche Verfolgungsgeschichte ein, die gegenüber den spiritualistischen Autoren darauf bestand, dass es sich bei ihrer

1  Zit. n. Geyer: Verborgene Weisheit I,1, S. 216.

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Vorstellung der ›richtigen‹ Theologie oder des ›wahren‹ Christentums um eine dezidiert nicht-christliche Lehre, um Schwärmerei, Heterodoxie und Ketzerei handele. Im Rückblick lassen sich nun quasi im historischen Weitwinkelobjektiv die Einzeluntersuchungen als Beispiele für die Genese und die historischen Transformationsstufen des hermetischen Diskurses in der Tradition des frühneuzeitlichen Spiritualismus deuten. Bei Sebastian Franck, dem ersten Übersetzer des Corpus Hermeticum ins Deutsche und Übersetzer der Theologia deutsch ins Lateinische, fällt zunächst die Unbekümmertheit auf, mit der er das antike Textkorpus rezipiert. Diese lässt sich, so wurde gezeigt, durch Francks Kenntnis der Theologia mystica und der dort tradierten Seelenlehre erklären. Indem Franck den Traktat Poimandres im konkreten Spiegel der Theologia deutsch sowie den im Baseler Taulerdruck tradierten Predigten Johannes Taulers und Meister Eckharts liest, wird die platonische Anthropologie zum Tertium comparationis, die einerseits die unproblematische Integration der hermetischen Texte in einen christlichen Wissenshorizont erlaubt und andererseits Eckpunkte der Philosophie Eckharts  – unter dem Namen Taulers – in die frühe Neuzeit vermittelt. Bereits auf dieser frühen Stufe lässt sich die fundamentale Irritation der Schultheologie durch die Universalisierung der Motive der inneren Offenbarung oder der universellen Gottessohnschaft der Begnadeten erkennen. Francks Darstellung schien nahezulegen, dass nichtchristliche Philosophen die tiefsten christlichen Geheimnisse auf natürlichem Wege erkannt hatten, womit jene nicht länger als christliches Exklusivwissen, sondern als uralter Menschheitsbesitz erscheinen konnten. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bei Valentin Weigel findet die Auseinandersetzung mit dem Corpus Hermeticum nicht nur im Kontext der neuplatonischen Mystik, sondern auch der paracelsischen Naturphilosophie statt. Die mit dem 13. hermetischen Traktat erläuterte Wiedergeburt stellte diese nicht nur als konkret zu denkende mystische All-Einheitserfahrung dar, sondern überblendete sie zudem mit dem paracelsischen Mikrokosmos-Gedanken und band sie über das pseudo-dionysische Aufstiegsschema sowie die biblischen Motive von der Entrückung des Paulus und des kosmischen Christus ins christliche Narrativ ein, wo sie als vorchristliche Darstellung der christlichen Erlösungshoffnung nach der ›wahren‹ Theologie lesbar wurde. Über diese – philologisch völlig korrekte – Integrationsleistung verblasste allerdings jegliches Stellvertreterdenken (nicht nur in der protestantischen Theologie), ebenso erfuhr die Person Jesu Christi sowie die christliche Soteriologie eine signifikante Umdeutung, die von allen diskursmächtigen Seiten als unchristlich verurteilt wurde. Naturphilosophisch verbindet sich der hermetische Androgynietopos in der spiritualistischen Genesis-Allegorese mit dem Motiv der göttlichen Sophia. Diese steht nun als Erbin vorchristlicher Religiosität, die die Schöpferkraft noch weiblich konnotierte, in ihrer schöpfungstheo-



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logischen Funktion für die göttlichen Primordialgründe und wird soteriologisch mit dem Topos der ›Wasser über der Feste‹ überblendet. Diese Engführung von hermetischem Topos und naturphilosophisch gedeuteter Sophien-Mystik steht zunächst in der Tradition der Genesis-Allegorese, die mit Luthers Genesisvorlesung beginnt, mit Weigels Viererlei Auslegung von der Schöpfung fortgeführt wird und mit Böhmes Mysterium Magnum noch lange nicht endet. Sie wird jedoch ab dem Punkt zur hermetischen Häresie, ab dem sie das Dogma der Creatio ex nihilo im Sinne einer Creatio ex se überschreitet und auch soteriologisch über das nun polare, nicht länger dualistische Verhältnis von Geist und Materie eine Transmutation der Schöpfung im Sinne einer Rückschöpfung in den geistigen Urzustand als Erlösung denkbar werden lässt. Ebenso wirkt das Motiv der Androgynie als Ausdruck der Vollkommenheit auf allen Ebenen des Seins transgressiv, da es die männlich gedachte christliche Dreifaltigkeit um einen weiblichen Aspekt ergänzt, wobei die neuen Akzente im Gottesbild nicht ohne Auswirkungen auf das Zusammenleben der Geschlechter auf Erden geblieben sind. Im frühen 17. Jahrhundert bilden die Schriften Jakob Böhmes eine zentrale Vermittlerfunktion, auch wenn Böhme ohne Referenz an das Corpus Hermeticum schreibt. Jedoch bezog die spiritualistische Rezeption nicht nur die Texte Böhmes, das Corpus Hermeticum und die paracelsische Naturphilosophie in wechselseitiger Auslegung aufeinander, sie bildete damit auch eine Brücke über die philologische Dekonstruktion des hermetischen Anciennitätsmythos hinweg, deren Wirkung damit im spiritualistischen Milieu begrenzt blieb. Davon abgesehen schürte Böhmes Vorstellung von einer herannahenden »Lilienzeit« die Hoffnung auf eine Vollendung der Reformation. Seine Texte knüpften vielfach an die als hermetisch geltenden Topoi der trichotomen Anthropologie, der Transformation in der Wiedergeburt, der All-Einheit und der Androgynie in Gott an und aktualisierten sie im Kontext seiner vermeintlich eigenen Erfahrung des göttlichen Mysteriums in der Tiefe des eigenen Selbst. An der Wende zum 18. Jahrhundert schließlich zeigt die Rezeption der hermetischen Texte in das Werk Conrad Dippels einerseits eine bemerkenswerte Konstanz des Interesses am ersten und 13.  Traktat, mithin am hermetischen Verständnis von Schöpfungstheologie und Soteriologie/Wiedergeburt. Sie zeigt aber auch die Rationalisierung und Transformation der hermetischen Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit den Naturphilosophen der Frühaufklärung. Während das Frühwerk noch auf Topoi der traditionellen Genesis-Allegorese zur Begründung einer letztlichen Einheit der Schöpfung zurückgreift, rationalisiert das medizinische Werk die traditionelle Logostheologie zu einer Philosophie des Lebendigen, die jedoch gerade dadurch die behauptete Einheit und, daraus abgeleitet, die Annahme von Wechselwirkungen zwischen Geist und Materie, Seele und Körper bewahrt. Die traditionellen Topoi des inneren Christus und der Wie-

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dergeburt spielen, beginnend mit dem Konflikt um den Gießener Religionsrevers, eine tragende Rolle, um an der Institution Kirche sogenannten unchristlichen Gewissenszwang zu kritisieren und dies mit einem  – lebenslang buchstäblich verfochtenen – Plädoyer für Geistesfreiheit und Toleranz zu verbinden. Trotz einer Zeitspanne von gut 200 Jahren, in der die untersuchten Autoren lebten und schrieben, verbindet sie der sozial- und kulturgeschichtliche Kontext der kontinuierlichen Religionskonflikte, beginnend mit der biografisch noch miterlebten frühen Reformation (Franck), den verhärteten Fronten im Konfessionalismus (Weigel), dem Vorabend und Beginn des Dreißigjährigen Krieges (Böhme) und schließlich dem radikalen Pietismus an der Schwelle zum 18. Jahrhundert (Dippel). In diesem kulturhistorischen Kontext befinden sich alle mehr oder weniger offen in Positionen der innerprotestantischen antiklerikalen Dissidenz. In allen Lebensläufen spielen Konflikterfahrungen mit der Amtskirche eine Rolle, gleichzeitig eint alle Autoren ein zeithistorisch relativ untypisches irenisches Bewusstsein gegenüber den Vertretern anderer Religionen. Die rekurrierenden respektvollen Aussagen explizit über Juden, Muslime und »Heiden« sind im zeithistorischen Spiegel von frühneuzeitlicher Judenverachtung und Türkenangst bemerkenswert. In diesem Kontext lässt sich die Beschäftigung mit hermetischen und mystischen Texten auf ihre Funktion in jenen Differenzierungs-, Autonomisierungsund Pluralisierungsprozessen befragen, die in die Aufklärung führen. So zeichnet sich auf der Kehrseite des Interesses an der hermetisch geprägten Theologia mystica eine massive Kritik ab, die die Fokussierung der Amtskirche auf Kontroverstheologie als insuffizient begreift, zunehmend auf klerikale Autorität und Hierarchie an sich zielt und schließlich Kernbestände des christlichen Dogmenbestands ins Reich der historisch gewachsenen Spekulation verweist. Angesichts des Scheiterns der Theologen, Antworten auf ihre dogmatischen Konflikte zu finden, steht die spiritualistische Kritik, das Interesse an hermetischer Literatur und das Bestreben um die Restitutio einer verschütteten ›wahren‹ Theologie im Zeichen der Ermächtigung und Selbstermächtigung von Laien. Damit erfüllt das Interesse am Corpus Hermeticum eine signifikant andere Rolle, als ihm typischerweise als arkanes und damit exklusives Geheimwissen zugeschrieben wird. Alle untersuchten Autoren verfassen ihre Texte in Abgrenzung zu zeitgenössischen Stimmen, Gott sei nur in dieser oder jener Kirche zu finden, er sei nur hier oder dort oder im fernen Himmel ›über‹ der Welt. Mit der trichotomen Anthropologie aus der mystischen Theologie ließ sich begründen und mit dem Corpus Hermeticum ließ sich philologisch ›belegen‹, dass Gott überall und zu allen Zeiten war und ist, und dass jede Seele in ihrem Grund an ihm teilhat. Daraus ergeben sich weit reichende Konsequenzen. Aus diesem Gottes-, Seelen- und Naturverständnis ließ sich der Gedanke einer prinzipiellen Gleich-



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heit aller Menschen ableiten. Kriterien wie Race, Class and Gender, in diesem Zusammenhang vor allem, von Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit, erfuhren als Attribute des äußeren Menschen eine deutliche Relativierung. Sie blieben wichtig in der Welt, doch verringert sich ihre identitätsstiftende Funktion angesichts der Universalität der Gotteskindschaft, die als verlorenes, aber zu restituierendes göttliches Ebenbild in jeder Seele schlummert. Ebenso verändert diese Annahme die Legitimierung von Autorität im Reden von, über und mit Gott, da neben ihre Herleitung aus Amt und Tradition nun das Kriterium der spirituellen Reife tritt. Daraus leitet sich eine der kulturgeschichtlich folgenschwersten Konsequenzen ab: Indem diese Annahme jedes Postulat von Vermittlungsexklusivität zum Heil umging, legte sie die Verantwortung für die Nachfolge Christi in die Hände der Individuen. Die spekulativen Diffusionserscheinungen des hermetischen und paracelsischen Diskurses in der frühen Neuzeit, die sich bis heute nicht auf einen Begriff bringen lassen, lassen sich in diesem Licht auch als Effekte einer Bejahung der Frage deuten, ob sich Laien zu theologischen und naturphilosophischen Fragen äußern dürfen. Die hieraus resultierenden Ausdifferenzierungsprozesse religiösen und naturphilosophischen Wissens überschreiten die auf Tradition und klerikale Hierarchie gegründeten Bestimmungen des ›wahren‹ Christentums ebenso wie diejenigen einer vielfach auf Latein kommunizierenden Gelehrtenkultur. Zudem griffen sie auf alle Lebensbereiche aus: Gerade die überwiegend von Laien getragene Bewegung des Pietismus zeigt die sozialen und kulturellen Implikationen jener Bejahung in Form von Gruppenbildungen ›Wiedergeborener‹, in denen Laien und Frauen religiöse Führungsrollen übernehmen konnten, von experimentellen Formen des Zusammenlebens, die die patriarchal geprägte Institution der Ehe aufweichten sowie von ständeübergreifenden Verbindungen im Sinne einer Bruderschaft in Christus, die ein spätes Echo noch in Goethes Begriff der Wahlverwandtschaften finden. Nicht zuletzt entfaltet sich aus dieser Konstellation auch die Autonomisierung von Literatur und Poesie zu einem von theologischer Deutungsmacht unabhängigen Organ der Weltdeutung. Das aus diesen Ausdifferenzierungsprozessen erwachsende Konkurrenzverhältnis um die Beantwortung existenzieller Fragen wirkte als treibende Kraft sowohl zur Erstellung von Bekenntnisschriften und Glaubensformeln als Abgrenzung und Bestimmung des ›wahren‹ Christentums auf Seiten der christlichen Kirchen, als auch zur Behauptung eines ›wahren‹ – mystischen und hermetisch grundierten  – Christentums auf Seiten verschiedenster Gruppen an Dissidenten. Doch produzierte diese geistige Konkurrenzsituation nicht nur den Jahrhunderte überdauernden Glaubensstreit, sondern auch die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den jeweils anderen Positionen. Angesichts dieser konkurrierenden Wahrheitsansprüche wird das Individuum auf sich selbst und auf seine Fähigkeit zum kritischen Prüfen und Reflektieren zurückgeworfen. Es ist

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diese Haltung, die im 17. Jahrhundert unter vielen Hinweisen auf das paulinische »Alles prüfet, das Gute behaltet« praktiziert wird und im 18. Jahrhundert dann als genuin aufklärerische Haltung gilt. Eine weitere aufklärerische Einsicht, die sich sogar direkt aus der als hermetisch genannten trichotomen Anthropologie ergibt, ist die erkenntnistheoretische Begründung der Historisierung allen normativen Wissens einschließlich der Bibel. Hier ist die Abwertung der Ratio, die die ältere Forschung mit dem Begriff des Irrationalismus verband und als Gegenteil zur Aufklärung verstand, im Licht der Rolle der dreigestuften Epistemologie neu zu interpretieren. Indem Weigel im Güldenen Griff gerade für Laien das Wissen von der aktiv konstruierenden Rolle der irdischen Erkenntniskräfte popularisierte, schuf er damit eine Grundlage für die Einsicht in das Gewordensein aller normativen Geltungsansprüche und die grundsätzliche Perspektivgebundenheit von Wissen, wobei erst die spätere Rezeption diese Schlüsse in ihrer Radikalität zog. Gleiches lässt sich in Bezug auf die Entfaltung eines Bewusstseins um die kulturelle Spezifizität religiöser Begrifflichkeit beobachten und damit um eine unterschiedliche Enkulturation religiösen Wissens. Das durchgängig bei allen untersuchten Autoren vorhandene Bewusstsein, dass die Bezeichnung für den göttlichen Funken im Seelengrund nur bei Christen als innerer Christus oder inneres Wort versprachlicht wurde, in anderen Kulturen jedoch dasselbe Wissen anders heißen musste, dokumentiert eine im Blick auf die Aufklärung gar nicht zu überschätzende Präsenz irenischen Denkens im von Religionskonflikten zerrissenen deutschsprachigen Kulturraum der frühen Neuzeit sowie ein frühes Bewusstsein um die Pluralität der Begriffe im Reden von Gott. Integraler Bestandteil der spiritualistischen Epistemologie ist jedoch auch die Annahme eines innersten, passiven Erkenntnisorgans, das dem unmittelbaren Wirken des Heiligen Geistes vorbehalten bleibt. Diese Denkfigur schuf den Begründungszusammenhang für eine theologische Kritik, die sich als legitime Äußerung ›geist=reichen‹, d.h. geisterfüllten Sprechens verstehen konnte, das denjenigen zukommt, die sich in der Nachfolge Christi der unmittelbaren Führung durch den Heiligen Geist anvertrauen. Dies ist gerade kein Merkmal weltflüchtiger ›Irrationalität‹. Die historischen Abgrenzungsenergien, die diese Wissensfigur auf sich zog, weisen im Gegenteil gerade auf ein weltzugewandtes, aber autoritätskritisches Potenzial hin, das am historischen Ort der zermürbenden Religionskonflikte nicht nur klerikale Autorität wirksam in Frage zu stellen vermochte, sondern auch den einzelnen auf einen ›Weg zu Christo‹ – so ein vielsagender Titel Böhmes – weisen konnte, den ihm kein Religionskonflikt versperren konnte: Den Weg über die Versenkung ins eigene Innere in den unzerstörbaren Tempel des Herzens. Die spiritualistische Epistemologie mit ihren Prämissen einer über Kontemplation und Meditation zu erreichenden Verbindung zum Heili-



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gen Geist in der eigenen Seele, einer unhintergehbaren Subjektivität im irdischen Bereich und einer Abhängigkeit aller Aussagen über ›Wahrheit‹ von einer aktiv konstruierenden Beobachterrolle enthalten damit auch erstaunlich moderne Prämissen, die philosophiehistorisch erst mit der Transzendentalphilosophie Kants virulent werden und ihre volle Wirkung sogar erst im 20. Jahrhundert entfalten. Doch ging es den frühneuzeitlichen Autoren nicht um Modernität, ebenso erweisen sich die Historisierung des christlichen Glaubenswissens und die Autonomisierung des Individuums in ihren frühneuzeitlichen Problemhorizonten als Sekundäreffekte im Konflikt um die ihnen zentrale Frage, und das war in allen untersuchten Texten die Frage nach dem Weg zum Heil und nach dem ›wahren‹ Christentum. Ziel dieses ›wahren Christentums‹, das Gottfried Arnold in der sinnigen Parallelisierung als Theologia mystica seu theosophia arcana beschrieb, ist die Wiederbringung des verlorenen göttlichen Ebenbilds im Menschen. Keiner der untersuchten Autoren verstand dieses Ziel im Sinne eines selbsternannten Messianismus oder Weltreformatorentums, auch wenn sich in der Geschichte des Pietismus, religiöser Erweckungsbewegungen oder charismatischer Einzelgänger wie etwa bei Quirinius Kuhlmann Beispiele für diese Deutungen finden lassen. Die Wiederbringung des göttlichen Ebenbildes in Mensch und Schöpfung bedeutet im Verständnis der untersuchten Autoren vielmehr die Überwindung der postlapsarischen, an Körper und Tod gebundenen Existenz durch die Rückkehr in die Einheit des Geistes, aus dem die Schöpfung mit dem Eintritt in die »Selbstheit« (Franck), »Alterität« (Weigel) oder der polaren Dynamik der Prinzipien (Böhme) hervorgegangen ist. Dies erscheint nach dem Verständnis der Autoren nicht nur als Kern der Lehre des Hermes Trismegistos, angesichts derer die philosophischen Widersprüche in den einzelnen Texten zum Problem der Philologen verblassen, sondern auch als tiefste Offenbarung in Person, Leben und Lehre Jesu Christi. Deshalb werden die biblischen Erzählungen von der Jakobsleiter, dem Schlüssel Davids, den sieben Siegeln oder dem Reich Zion allesamt als Metaphern für jene allgegenwärtige, zeitlose, jedoch dem gefallenen Bewusstsein verschüttete göttliche Essenz in der Tiefe der Seele und der Natur gedeutet, von der Jesus als dem »Himmelreich« gesprochen hatte, das »inwendig in euch« ist. Anknüpfend an Jesu Rede im Johannesevangelium von der zu erkennenden Einheit von ihm, dem Vater und seinen Jüngern wird der Akzent seines Heilshandelns in signifikanter Weise neu gedeutet. Jesus Christus erscheint weder als stellvertretend handelnder Erlöser noch als Weltenrichter mit irdischen Stellvertretern bis zu seiner Wiederkehr am Ende der Zeit, sondern, nach Francks und Weigels Worten, als göttlicher »Bruder«, dessen Tod und Auferstehung als Paradigma für die Wiedergeburt jedes einzelnen fungiert. Sein Leben und Handeln bleiben erlösend, weil sie den Weg zu jenem, nach Arnold, verlorenen ›wahren Vaterland‹ ermöglichen, das nicht ›nach‹ dem Ende der Zeit anbricht, sondern jenseits von ihr in

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ewiger Präsenz existiert. Diese Deutung geht über das Verständnis der Rolle Jesu als eines vorbildlichen Menschen, wie sie in rationalistischen Kontexten formuliert wurde, hinaus, da sie von der Notwendigkeit einer radikalen Transformation ausgeht, die nicht einfach mit gutem Handeln zu erreichen ist, sondern die vielmehr die Voraussetzung für einen in ethischem Handeln realisierten Liebesuniversalismus ist. Das omnipräsente spiritualistische Wortfeld der »Tötung des alten Adams«, des »Absterbens«, des »Aufnehmen des Kreuzes« oder der Imitatio Christi bezieht sich in nur leichten Variationen auf die Überwindung des egozentrischen Prinzips in der menschlichen Seele. Damit zielt es nicht auf eine Bekämpfung des ›Bösen‹ oder der ›Anderen‹, sondern auf eine Überwindung der Polarität bzw., in den Worten Jesu, der »Welt«. Implizite Denkvoraussetzung für diese Deutung bildet ein Verständnis von Gott und Mensch, von Schöpfer und Schöpfung, nicht als ontologisch getrennte Entitäten, sondern als zwei Pole derselben Realität. Sie ist nicht in dem Sinne geheim oder esoterisch, als sie nur einer Gruppe Eingeweihter zugänglich wäre, sondern insofern, als sie die Wiedergeburt, verstanden als fundamentale Transformation des postlapsarischen Bewusstseins, nicht nur als soteriologisches, sondern auch als hermeneutisches Zentrum der Argumentation begreift. Ohne innere Wandlung oder, in Böhmes Worten, ohne Adams Erwachen bleibt die tiefste Wahrheit unerkennbar. Der ewige Religionsstreit erscheint geradezu als Ausdruck dieses Mangels. Diese enthüllt sich erst in der Transformation der körpergebundenen Existenz und Wahrnehmung. Wie sie zu denken ist, scheint der hermetische Traktat von der Wiedergeburt anzudeuten: als eine Transzendenz des körpergebundenen Bewusstseins im Verschmelzen mit jenem Geist, der die Gesamtheit der Realität und der Zeit enthält. Dann allerdings offenbart sich die Einheit des Seins in der Myriade seiner Formen; dann offenbaren sich die zuvor verborgenen Zusammenhänge zwischen Oberfläche und Tiefe der Existenz; dann erscheinen auch Inkarnation und Gottessohnschaft Jesu als historische Vergegenwärtigung eines universellen, urewigen Geschehens. Die Beobachtung eines anonym bleibenden Autors aus dem Kreis der Gegner Jakob Böhmes Ende des 17. Jahrhunderts, dass durch diese spiritualistische Frömmigkeit ein »Zaun« eingerissen werde, der »um den Weinberg der christlichen Kirchen« gezogen ist,2 spiegelt die Erosionskraft dieser Philosophie. Die Grenzziehungen der christlichen Theologen gegenüber jenem hermetisch grundierten

2  Anonymus [E.I.H.M.D.]: Der entlarvete Jacob Böhme (1693), S. 18, zit. n. Sibylle Rusterholz: Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger. Die zentralen Argumente der Streitschriften von ihren Anfängen zu Lebzeiten Jacob Böhmes bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. In: Kühlmann/ Vollhardt (Hg.): Offenbarung und Episteme, S. 7–32, hier S. 25.



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Christentum erfolgten daher nicht einfach in Bezug auf einige Ideen oder Topoi, die sich – auch – mit dem Corpus Hermeticum belegen ließen, sondern im Hinblick auf die theologischen, sozialen und kulturellen Implikationen, die diese Ideen an Systemstellen der christlichen großen Erzählung legitimierten. Die Rede von Wiedergeburt, von Wiederherstellung des verlorenen göttlichen Ebenbilds, vom inneren Christus, von der Geburt des göttlichen Worts in der Seele, ja von Erleuchtung und Erwachen trafen ins Gravitationszentrum christlichen Selbstverständnisses aller verfassten Konfessionen und vieler Erweckungsbewegungen. Sie vermochten sich auf die Bibel zu stützen, aber sie erklärten die Grundfesten des christlichen Dogmenbestandes sowie der klerikalen Hierarchie zur Makulatur. Aus Sicht nicht nur der lutherischen Kirche erfüllten daher die frühneuzeitlichen Theologen, die diese Ideen als Häresie verurteilten und als geistige Konkurrenz bekämpften, nur gewissenhaft ihre Pflicht. Doch aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts besteht kein Grund mehr, die Texte des frühneuzeitlichen Spiritualismus unter den Begriffen der Schwärmerei oder Heterodoxie aus der historischen Erinnerung zu verdrängen. Jenseits der teilweise bis heute nachwirkenden Tabus entfaltet sich eine kulturelle und spirituelle Vielfalt, die nicht in einen orthodoxen Wahrheitsbegriff münden muss und die gleichzeitig vielen kulturellen Entwicklungen bis ins späte 18. Jahrhundert hinein einen fermentartigen Boden bereitet hat. Ihre Impulse reichen von einer Flut an pietistischen Seelentagebüchern, in denen sich theologische Laien, Frauen wie Männer, Adelige, Dienstboten und Handwerker, über den Stand ihrer Entwicklung zur Wiedergeburt Rechenschaft gaben und damit  – auch  – dem aufklärerischen Interesse an Seelenlehre und Psychologie Vorschub leisteten. Sie spiegeln sich in Lessings Antwort an Johann Melchior Goeze im Fragmentenstreit, die Absicht des Christentums bestünde in der Seligkeit vermittelst unserer Erleuchtung sowie in seiner anschließenden poetischen Gestaltung der Ringparabel in Nathan der Weise. Sie leben in der Privatreligion des jungen Goethe sowie in der poetischen Naturreligiosität und All-Einheitsphilosophie bei Lessing, Herder, Goethe und Moritz fort, denen die Losung Hen kai pan als ein zentral wichtiger Baustein einer neuen Ästhetik galt. Sie reichen bis zur Neudeutung Jakob Böhmes als Dichter, und zwar spezifisch als Dichter der Natur, durch Ludwig Tieck, Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schlegel in der frühen Romantik. Nicht zuletzt finden sie ihr Echo in Arnolds Sophien-Mystik und in Hardenbergs poetischer Verklärung der irdischen Sophie in den Hymnen an die Nacht bzw. im Motiv der inneren himmlischen Mutter im Klingsohr-Märchen des Heinrich von Ofterdingen. Dabei spiegelt die Vielfalt der kulturellen und literarischen Aneignungen die ursprüngliche Vieldeutigkeit der hermetischen Texte. In der produktiven Spannung zwischen Heilshoffnung und Häresie, zwischen verborgener Weisheit und Demokratisierung des Heilswissens verdankt die frühneuzeitliche

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 Rückblick

Kulturgeschichte dem Erbe jener Erzählungen von den Geheimnissen der religiösen Bräuche Ägyptens – wenn man die Worte des eingangs zitierten Anonymus und Verfassers der Asclepius-Dialogs noch einmal aufgreifen möchte – eine kaum zu überschätzende Fülle an religiösen, kulturellen und poetischen Impulsen.

VIII. Bibliografie 1. Quellen Ackermann, Johann Christian Gottlieb: Das Leben Johann Conrad Dippels. Leipzig 1781. Adelung, Johann Christoph: Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen= und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager und anderer philosophischer Unholden. 7 Bde. Leipzig 1785–1789. Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius: Die magischen Werke. Stuttgart 1855. Alethophilus [d.i. Wolf Freiherr von Metternich]: Hermetis Trismegisti Erkäntnüß der Natur und des sich darin offenbarenden Grossen Gottes. Hamburg 1706. An­dreae, Johann Valentin: Christianopolis. Hg. v. Wolfgang Biesterfeld. Stuttgart 1975. Angelus Silesius (Johannes Scheffler): Cherubinischer Wandersmann. Hg. v. Luise Gnädiger. Stuttgart 1984. Anon.: Lebens-Beschreibung Des berühmten und hoch-erleuchten [!] Doctoris Joh. Tauleri Worinnen gar viel gute Lehren und Predigen begriffen seynd / Wie und aus was Ursachen er zu solchem seinen hochgeistlichen und erleuchteten Verstand / durch den und in dem er mit der Hülffe GOttes so viel Nutzen geschafft hat / gelanget seye / So daß er nicht unbillich etlichen der allerfürnehmsten Lehrern und Predigern der Christl. Kirchen verglichen werden mag. Frankfurt a.M. 1692. Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden. Hamburg 1995. Arnold, Gottfried: Die erste Liebe der Gemeinen JESU Christi. Hg. v. Hans Schneider. Leipzig 2002 (Frankfurt a.M. 1696). – Die erste Liebe der Gemeinen JESU Christi / Das ist: wahre Abbildung der ersten Christen / nach Jhrem lebendigen Glauben Und heiligen Leben / Aus der ältesten und bewährtesten Kirchen=Scribenten eigenen Zeugnissen / Exempeln und Reden / Nach der Wahrheit der Ersten einigen Christlichen Religion […]. Treulich und unparteyisch entworffen […]. Frankfurt a.M. 1700. – Historie und Beschreibung der mystischen Theologie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1969 (Frankfurt a.M. 1703). – Das Geheimnis der göttlichen Sophia. Stuttgart-Bad Cannstatt 1963 (Leipzig 1700). 2 – Unpartheiische Kirchen= und Ketzerhistorie. Schaffhausen 1741. – Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie vom Anfang des Neuen Testaments bis auf das Jahr Christi 1688. Frankfurt a.M. 1729. – Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie. Ausgewählt und herausgegeben von Renate Riemeck. Leipzig 1975. – Ein Denckmahl des Alten Christenthums / Bestehend in des Heil. Macarii und anderer Hocherleuchteter Männer aus der Alten Kirche Höchsterbaulichen und Auserlesenen Schrifften. Goslar 1699. Art. »Streit=Schrifften«. In: Großes vollständiges Universal-Lexikon. Hg. v. Johann Heinrich Zedler. Bd. 40. Leipzig Halle 1744. Sp. 920–925. Augustinus, Aurelius: Vom Gottesstaat. 2 Bde. Übersetzt von Wilhelm Thimme. München Zürich 2 1978. – Confessiones/Bekenntnisse. Hg. v. Joseph Bernhart. München 1955. – Bekenntnisse. Hg. v. Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Stuttgart 1986.

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 Bibliografie

›Basilius Valentius‹: De Microcosmo – De Macrocosmo. In: Alchymia. Die Jungfrau im blauen Gewande. Alchimistische Texte des 16. und 17. Jahrhunderts. Hg. v. Richard Scherer. Mössingen-Talheim 1988, S. 277–306 (Leipzig 1602). Baumgarten, Siegmund Jacob: Untersuchung theologischer Streitigkeiten. Hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1762. Baur, Samuel: Johann Konrad Dippel, Theolog und Arzt, Schwärmer und Theosoph. In: Ders.: Interessante Lebensgemälde der denkwürdigsten Personen des achtzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. Leipzig 1803, S. 290–309. Boethius, Anicius Manlius Severinus: Trost der Philosophie. Aus dem Lateinischen von Eberhart Gotheim. Hg. v. Marie Luise Gotheim. Köln 2010 (Berlin 1932). Böhme, Jakob: Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen. Frankfurt a.M. 1997 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 6). Böhme, Jakob: Sämtliche Schriften. Faksimile Neudruck der Ausgabe von 1730 in 11 Bänden. Neu herausgegeben von Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1942 ff. – Bd. 1: Aurora oder Morgenröte im Aufgang. Stuttgart Bad Cannstatt 1955. – Bd. 2: Beschreibung der drey Principien göttlichen Wesens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1942. – Bd. 3: De triplici vita hominis oder vom Dreyfachen Leben des Menschen. 40 Fragen von der Seelen. Das umgewandte Auge, von der Seelen und ihrem Bildnis. Stuttgart-Bad Cannstatt 1942. – Bd. 4: De Incarnatione Verbi, oder von der Menschwerdung Jesu Christi. Stuttgart-Bad Cannstatt 1957. – Bd. 5: Libri Apologetici, oder Schutz-Schrift wider Balthasar Tilken. Stuttgart-Bad Cannstatt 1960. – Bd. 7: Mysterium Magnum, oder Erklärung über das Erste Buch Mosis. Stuttgart-Bad Cannstatt 1958. – Bd. 10: De Vita et Scriptis Jacob Böhmii oder Historischer Bericht von dem Leben und Schriften Jakob Böhmens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1961. – Bd. 21: Epistolae Theosophiae oder Theosophische Sendbriefe. Bearb. v. Johann Georg Gichtel, Hg. v. Johann Wilhelm Überfeld. Leiden 1730 (Theosophia Revelata 21). – Theosophische Sendbriefe. Hg. v. Gerhard Wehr. Frankfurt a.M. 1996. – Von der Gnadenwahl. Hg. v. Roland Pietsch. Stuttgart 1988. Brant, Sebastian: Das Narrenschiff. Hg. v. Hans Joachim Mähl. Stuttgart 1964. Bruno, Giordano: Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen. Hg. v. Paul Richard Blum. Hamburg 1993. – Über das Unendliche, das Universum und die Welten. Hg. v. Christiane Schultz. Stuttgart 1994. Bücher, Friedrich Christian: Menses Pietistici. Die Tieffe des Sathans in dem Christenthum der Pietisten. Wittenberg 1705 ff. – Lutherus Anti-Pietista, d.i. D.Martin Luthers Schrifftmäßiges Urtheil von dem Pietismo Aus seinen Schrifften / und denen von den Fanaticis treulich colligiret. Wittenberg 1701. – Plato Mysticus in Pietista Redivivus, Das ist: Pietistische Übereinstimmung Mit der Heydnischen Philosophia Platonis Und seiner Nachfolger / Besonders in der Lehre von denen so genandten Himmlischen Entzuckungen / Alle und jede / Welche die wahre Gottseligkeit lieben / für der Tiefe des Sathans zu warnen / In einem Augenscheinlichen Parallelismo Richtig gezeiget / Schrifftmäßig erörtert / und dem Urtheil der Evangelischen



Quellen

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Kirche übergeben: Dabey auch dem Praeposito zu Nauen H. Balthasar Köpken / Beyläuffig geantwortet wird / Danzig 1699. – Haupt=Gründe des Fanaticismi, So in der Verführung unserer ersten Eltern / und der Schwärmer / zu der Apostel und Lutheri Zeiten / Aus der H. Schrifft und der Christl. Antiquität eröffnet. Dabey auch einige Streit=Fragen: Von dem tausend=jährigen Reiche Christi; von den einzelnen Zusammenkünfften; von der Autorität der Symbolischen Bücher; und von der Nothwendigkeit der guten Werke. Danzig 1699. Büdingische Sammlung Einiger in die Kirchen-Historie Einschlagender Sonderlich neuer Schrifften. 3 Bde. Büdingen 1742–45. Colberg, Ehre Gott Daniel: Das Platonisch-hermetisches Christenthum / Begreiffend die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten/ Weigelianer / Rosencreutzer / Quäcker / Böhmisten / Wiedertäuffer / Bourignisten / Labadisten / und Quietisten. Franckfurt und Leipzig 1690 (2. Teil 1691). Corpus Hermeticum Deutsch. 3 Bde. Hg. v. Carsten Colpe und Jens Holzhausen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997 ff. Daunicht, Richard (Hg.): Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München 1971. De natura rerum, ix Bücher, Ph. Theophrasti von Hohenheim / genant Paracelsi / Jesunder aus dem Original Corrigiert vnd mit zweyen büchern gemehret / so vorhin nie getruckt. Durch Lucam Bathodium Fürstlichen Pfalzgräffischen Veldenzischen Medicum zu Pfalzburg. Gedruckt zu Straßburg / bey Bernhart Jobin Anno 1586. Denzinger, Heinrich: Kompendien der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrent37 scheidungen. Hg. v. Peter Hünermann. Freiburg i. Br. 1991. Descartes, René: Discours de la méthode. französisch-deutsch. Hg. v. Lüder Gäbe, Hamburg 1990. – Werke. Ausgewählt v. Stephan Meier-Oeser. München 1997. Dippel, Johann Conrad: Eröffneter Weg zum Frieden mit GOTT und allen Creaturen Durch die Publication der sämtlichen Schrifften Christiani Democriti, In Drey Bänden, Welche Er stelbst nach und nach bis an seinen Tod dem Druck hat übergeben. Nebst einem Summarischen Auszug der Theologischen Schrifften; Wozu noch kommt ein Anhang einiger noch nie gedruckten Stücken, so von ihm herkommen, Wie auch dessen Personalia. Mit einer kurtzen allgemeinen Vorrede des Auctoris, und einer andern von dem Herausgeber, Wie auch einem hinlänglichen Register [hg. v. Johann Conrad Canz]. 3 Bde. Berleburg 1747.

Daraus zitiert: …



– Vorrede des Auctoris über seine sämtliche Schrifften, so viel deren bis Anno 1709 zum Vorschein kommen. – [Canz, Johann Conrad: ] Vorrede des Herausgebers. So auch anstatt einer Vertheidigung dieser Schrifften dienen kan. – 12 philosophische Grund=Sätze von den Kräfften der menschlichen Seele. Öffentliche Disputation der Philosophischen Fakultät der Ludwigs Universität in Hessen 1697. – Papismus Protestantium vapulans, Oder: Das gestäupte Papstthum / an den blinden Verfechtern der dürfftigen Menschen =Satzungen in Protestierender Kirch / Worbey zugleich die jüngst in etwas entdeckte Orcodoxia Orthodoxorum wider etlicher



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 Bibliografie

Zunfftbrüder des Demetrii Act. 19,24. recht orthodoxische Scarteque sub Titulo Der immer lachende / ietzo aber kläglich zu verlachende neue Pietastrische Democritus &c.weiter illustrirt und gerettet wird. [Gießen] 1698. – Wein und Oel in die Wunden des gestäupten Papstthums der Protestierenden. Oder Christiani Democriti offenhertzige / christliche / fernere Erklärung / Beweis und Entschuldigung gegen alle Richter des Buchs Papismus Protestantium vapulans genannt. […] Philadelphia [Offenbach] 1699. – Anfang, Mittel und Ende der Ortho-und Heterodoxie oder kurzer theosophischer Entwurff, aus was Ursachen das verworrene Religions=Gezänk in der Christenheit entsprungen, durch was Mittel es fortgeführt, und auf was Art es endlich zernichtet möge werden. [Offenbach] 1699. – Christen=Stadt auf Erden ohne gewöhnlichen Lehr=Wehr= und Nehr=Stand/ Oder kurtze Doch eigentliche Abbildung derer aus dem Reich der Natur entstandenen, und im Zorn GOttes bestättigten Ordnungen, unter den Menschen=Kindern zu Babel, die Christi Nahmen führen, Samt einer unpartheyischen Untersuchung des, auf diese Ordnunge gegründeten, befleckten und unvernünfftigen Gottesdiensts, im Gebett/ Fürbitt, und Dancksagung, ausgefertigt Auf GOttes Befehl und Handreichung, und aus dessen heylsamen Wort und Zeugnis erwiesen. 1699. – Christiani Democriti Summarische und aufrichtige Glaubens=Bekänntnis, uber diejenige Lehr=Punkten, so biß hierher in dessen Schrifften erörtert worden, aus denen in der Vorrede berührten Ursachen verfasset und in Druck gebracht. 1700. – Christiani Democriti aufrichtig Christliche Antwort auf das so genannte Christ=brüderliche Sendschreiben eines wohlbekannten Freundes, der sich unter dem Namen Heracliti Philadelphi des Democriti Bruden nennt. – Christiani Democriti Christlich=gesinntes Send=Schreiben An Herrn Conrad Brüßken / Hof=Predigern zu Offenbach, Worin, in gehöriger Bescheidenheit, nach der Wahrheit des Evangelii sein letzt=publicirtes Scriptum, genannt: Die alte und neue/ auch böse und gute Religion, mit nützlichen und nöthigen Anmerckungen/ Den Wahrheits=Begierigen Seelen zum Besten, weiter erkläret und illustriret wird. 1700. – Entdecktes Falsches Maaß der Prüffung an Herrn D. Neussens, Superintendentens zu Wernigeroda, so genannter Prüffung der Lehr und des Geistes Democriti &c. Wodurch der so genannte Democritus vor den Augen derer so prüffen können, gegen die falschen Beschuldigungen einiger Verleumder, die Lehr des Evangelii kurtz wiederholet, und, wo es nöthig, klärer beweiset. 1702. – Abgenöthigter Grund=Riß der Academischen Gottes=Gelehrtheit, Wodurch Christianus Democritus die ihme von Herrn Joh. Ernest. GERHARDO, SS. Theol. Doctore, und Professore bey der Universität Giessen, in einem öffentlichen Programmate (Einladungs=Schreiben) fälschlich imputirte Unordnung beydes von sich abgelehnet, […]. Der studirenden Jugend zum Besten, wann die Alten muthwillig nicht sehen wollen, durch den Druck gemein gemacht. 1703. – Weg=Weiser zum verlohrenen Liecht und Recht, Oder Entdecktes Geheimnüß, Beydes der Gottseligkeit, und der Boßheit, in einer Schrifftmäßigen Abbildung Der Gemeine des neuen Bundes / Nach ihrer Innern und äußern Beschaffenheit, und des ihr entgegen gesetzten Abfalls in dem Reich des Antichristens. 1704. – Anderer Theil des Weg=Weisers zum Licht und Recht in der äussern Natur, Oder Entdecktes Geheimnüs Des Segens und des Fluch in denen Natürlichen Cörpern, zum wahrhafften Grund der Artzney=Kunst in Liebe mitgetheilet.



















Quellen

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– Ein Hirt und eine Heerde: oder Unfehlbare Methode Alle Secten und Religionen zur einigen wahren Kirch und Religion zu bringen und ohne einigen Syncretismo beständig zu vereinigen […]. Berlin 1705. – Schild der Warheit, Gegen die nichtige Auflagen Hrn. Alberti Joachimi von Krackevitz, Doctor der Heil. Schrifft, und P.P zu Rostock. Da er in einer so genannten: Unpartheyischen und Christlichen Erwegung / Sich unterstanden, den Tractat: Ein Hirt und eine Heerde / u. Verkehrt durchzuziehen, und hiermit dem Christiano Democrito Von neuem Anlaß gegeben zu zeigen daß von denen Professoribus Theologis auf Academien fast nichts gesundes mehr zu hoffen. Berlin, den 21. 9. 1706. – Unpartheyische Gedancken / Uber eines so genannten Schwedischen Theologi Kurtzen Bericht von Pietisten, u. Nebst einer kurtzen Digression (Ausschweifung,) Von der Brutalität (Dummheit) und Illegalität (Unrechtmäßigkeit) des Religions=Zwangs, Und einem kleinen Anhang wider die Theologische Fakultät zu Halle. 10.12. 1706. – Fatum Fatuum, das ist Die thörige Notwendigkeit, oder augenscheinlicher Beweiß / daß alle / die in der Gottes=Gelehrtheit & Sitten=Lehre der vernünfftigen Creatur die Freyheit des Willens disputieren, durch offene Folgen gehalten sind, die Freyheit in dem Wesen Gottes selbst aufzugeben, oder des Spinoza Atheismum vest zu setzen. Wobey zugleich die Geheimnisse der Cartesianischen Philosophie entdecket, und angewiesen, wie absurd diese Gaukeley sich selbst vernichtige, und was für Schaden dardurch im gemeinen Wesen gestifftet worden. Amsterdam 1708. – Des thierischen Lebens Kranckheit und Artzney, wie solche in einer der Natur und Artzney-Kunst gemäßen Untersuchung und Erörterung aus ihrem wahren Ursprung hergeleitet werden. Wobey sich zugleich die Tollheiten des Mechanismi und Spinozismi aus dem Grunde entdecket & mit handtastlichem Sonnen-klaren Beweiß aus dem Bezirck der gesunden Vernunft verstoßen werden, hergegen aber eine kurtze – iedoch richtige und völlige Lehr=Verfassung aller Bewegung in der Natur damit verknüpfet wird. – Wahrhafte Historie von Johanne Calvino wie er mit Michael Serveto & anderen verfahren. – Des Democriti Gedanken wegen der auf Bornholm gefundenen güldenen Bildnisse. – Vera Demonstratio Evangelica, das ist / Ein in der Natur und in dem Wesen der Sachen selbst so wohl, als in heiliger Schrift gegründeter Beweiß der Lehre und des Mittler=Amts Jesu Christi. – Analytis Cramatis Harmonici Hyper-Metaphysico-Logico-Mathematica, Das ist: Chymischer Versuch zu destillieren per descensum, per ascensum & per latus, und in ihr Sal, Sulphur und Mercurium zu resolvieren, Die drey harmonischen Systemata der heutigen Philosophie, nemlich des Cartesii, Spinozae & Leibnitzens, aus welchen sowohl die Bauern, als die allersubtilsten Ontologi und Mathematici, so sie wollen, erkennen können, wo sie zu Hause sind, welches gewißlich nichts geringes ist. 1728. – Entdeckung der Gewissen=losen Verdrehung, samt sectirerischer Hartnäckigkeit und Blindheit, womit ein so genannter Christophilus Wohlgemuth, das Systema Christiani Democriti in den 153. Fragen nicht so wohl zu untersuchen, als zu besudeln, sich vorgenommen. […] Samt einem Vorbericht, worinn Neumeister und Wohlgemuth miteinander verglichen, und jenem vor diesem an Aufrichtigkeit der Vorzug noch affectiret (beygeleget) wird. 1732. – Christiani Democriti Bedencken über das heutige mit extraordinairen Concussionen oder Bewegungen des Leibes verknüpffte Inspirations-Werck; Auf Verlangen eines christlichen Freundes zu Papier gebracht. 1731.

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 Bibliografie

– Etwas Neues, oder Retirade der Lutherischen Orthodoxie, in eine neue von etlichen Leibnitzianischen Ingenieurs aufgeworffene Schantze, in welcher Peter Hansen und Friederich Wagner, Jener hochfürstl. Hollsteinischer Consistorial=Rath, Superintendent, und Hof=Prediger zu Plön; dieser Inspector zu Nauen in der Marck Brandenburg; mit achtzig erläuterten Grund=Fragen, von der Lehre der Lutherischen Kirche, das Mittler=Amt Christi betreffend, und einem Buch, genannt: Christianus Democritus Autocatacritus, oder, der sich selbst verurtheilende Democritus; den Democritum auf einen andern Kampff=Platz fordern, und also zum gegenwärtigen Bombardement denselben nöthigen. 1732. – Poetischer Wiederhall Aus Teutschland, Auf den zierlichen Bären=Tantz, welchen ein Schweitzer=Poet und D. Medicinae in Bern, die sogenannte Pietisten zu schrecken, neulich auf dem Theatro (Schaubühne) derer Gelehrten cantando (singend) praesentiret hat. Der Ober= und Nieder=Sächsischen Parnassus-Assemblé (Poeten=Versammlung) zur Zensur und Probe vorgeleget, und, ehe noch derer videtur (Urtheil) und Approbation (Gutachten) eingelauffen, aus hochwichtigen Ursachen durch dem Druck dem Publico publiciret, von Christiano Democrito. 1733. – Christianus Democritus ein Aufrichtiger Protestant gegen Ein in verwichener Leipziger Jubilate-Messe ihm fälschlich zugeschriebenes Scriptum. (Buch.) Und ein orthodoxer Annihilator oder Zernichter, der in diesem Scripto gleichfalls aus Nichts aufgebaueten so genannten Microcosmischen neuen Schöpfung zum Vorspiel eines neuen Himmels und einer neuen Erde. 1733. – Quo moriture, ruis, Peter Hanssen! siste triumphos, Democritum miseret, te dare, caece, neci. Das ist: Abgezwungene fatale (unglückliche) Abfertigung der absurden Prahlerey, mit welcher Herr Peter Hanßen, […]. Noch unüberwindlich gegen den Democritum das Feld zu mainteniren (zu behaupten) sich und andere persuadiren (bereden) will, und folglich diesen nöthiget, seiner gar nicht mehr zu schonen, sondern ihn so darzustellen, wie er es verlanget hat. Nebst einem Anhang Von der Beauté (Schönheit) und Galanterie (Artigkeit) derer heutigen Gelehrten, Auf Französisch genennet: Des beaux Esprits, sans bon sens; Zu Teutsch aber: Sehr fein geschliffene Lieb= und Lob=reiche Haasen=Köpfe und Schmeichler. Durch den nun immer Teutscher redenden Christianum Democritum. 1733. ­– Deren Gelehrten Zeitungen von Gelehrten Zeitungen Erstes Stück, Um einige Extracta (Auszüge) und Critiques (Klügeleyen) der gewöhnlichen Gelehrten Zeitungen in Teutschland unter weitere Censuren (Beurtheilungen) zu nehmen, und dabey dem curiösen Leser nützliche Remarquen (Anmerckungen) zu liefern, Nebst einer Zugabe von gantz neuen Begebenheiten. Cura & studio (durch die Sorge und den Fleiß) Christiani Democriti. 20.5.1733. – Eines bekannten Doctoris Medicinae Unpartheyische doch bescheidene Reflexiones uber die heut zu Tag gegen einander im Feld liegende und um den Rang streitende Pathologien, oder Lehren von dem Ursprung der Krankheiten – Haupt=Summa Derer theologischen Grund=Lehren Christiani Democriti von Einem unpartheyischen Liebhaber der Wahrheit aus Dessen Schrifften extrahiret, von dem Auctore aber selbst approbiret und für die seine erkannt; Sammt Dessen kurtze Vorbericht. 1733 – Dippelii Personalia. 1747 Christianus Democritus redivivus [d.i. Johann Friedrich Bachstrom], das ist: der zwar gestorbene, in seinen Schrifften noch lebende und nimmer sterbende Königl. Dänische Cantzeley-Rath Dippel; in einem summarischen Auszuge seiner ehemaligen und letzteren



Quellen

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Theologischen Schrifften, deren Liebhabern der unpartheyischen Wahrheit mitgetheilet von einem ungenannten Freunde derselben. Friedrichsstadt 1736. – Christiani Democriti / Redivivi / Umständliche Erzehlung / Wie es mit seinem vermeinten Tode / zugegangen sey / Und / Wie er nebst seiner neuen Gesellschaft ietzt in der Einsamkeit / Den Fall Adams / Und / / Ursprung der Sünde / Und Alles Bösen / Gantz anders und besser als vormahls eingesehen. Gedruckt auf dem Johannis=Berge / in der Wüsten 1736. (Pseudo-)Dionysios Areopagita: Über die mystische Theologie und Briefe. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen v. Adolf Martin Ritter. Stuttgart 1994. – Die Namen Gottes. Übersetzt v. Beate Regina Suchla. Stuttgart 1988. Edelmann, Johann Christian: Abgenöthigtes Jedoch Andern nicht wieder aufgenöthigtes Glaubens-Bekentniß. In: Ders: Sämtliche Schriften in Einzelausgaben. Bd. 9. Hg. v. Walther Grossmann. Stuttgart-Bad Cannstadt, 1969. Erasmus, Desiderius von Rotterdam: Lob der Torheit. Übersetzt von Alfred Hartmann. Mit den Holbeinischen Randzeichnungen hg. v. Emil Major. Wiesbaden o.J. Feustking, Johann Heinrich: Gynaeceum haeretico fanaticum, Oder Historie und Beschreibung der falschen Prophetinnen / Quäckerinnen / Schwärmerinnen / und andern sectirerischen und begeisterten Weibes=Personen. Frankfurt und Leipzig 1704. Hg. v. Elisabeth Gössmann. München 1998 (Archiv für Philosophie- und Theologiegeschichtliche Frauenforschung Bd. 7). Ficino, Marsilio: Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Lateinisch-deutsch. Hg. v. Paul Richard Blum. Hamburg 1994. Franck, Sebastian: Die Guldin Arch darein der kern und die besten hauptsprüch der Hayligen Schrift / alten Lerer und Vätter der Kirchen / Auch der erleüchten Hayden vnd Philosophen / für vnd für vber die gmayn stell der Schrifft (daran der hafft vnd satz vnserer säligkayt ligt / vnd darinn der Christen glauben als inn eine mangel geet) getragen / verfasset vnd eingeleybt sind / Ya viler männer vnd zeügen Gottes / gleyche eingehellige schrifftmässige ansag / vnd bayde für gelert und vngelert / so nicht alle bücher mügen haben / oder vor vnnütz nicht alles durchlesen / Gmayne librey vnd Teütsche Theologey zusamen tragen / durch Sebastian Francken von Werd / o.O.1539. – Paradoxa ducenta octogina / das ist CCLXXX. Wunderred vnd gleichsam Rhäterschafft / aus der H. Schrifft / so vor allem flaisch vngläublich vnd vnwar sind / doch wider der gantzen Welt wahn vnd achtung / gewis vnd war. Item aller in Got Philosophierenden Christen rechte / Götliche Philosophei / vnd Teütsche Theologei / voller verborgener Wunderred vnd gehaimnüs / den verstandt / allerlay frag / vnd gemaine stell der H. Schrifft betreffende / Auch zur scherpffung des vrthails / überaus dienstlich / entdeckt / ausgefürt / vnd an den tag geben Durch Sebastianum Francken / von Wörd. O.O. 1534 2 – Paradoxa. Herausgegeben und eingeleitet v. Siegfried Wollgast. Berlin 1995. – Das verbüthschiert mit siben Sigeln verschlossen Buch das recht niemandt auffthun / verstehen / oder lesen kan / dann das lamb / vnd die mit dem Thaw bezaichnet […]. O.O. 1539. – Die vier Kronbüchlein. Hg. v. Peter Klaus Knauer. Bonn 1992 (Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar 4). Gerhard, Johann: Theological Commonplaces on the Nature of Theology and Scripture. Translated from the Preuss Edition by Richard J. Dinda. St. Louis 2006. Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn. München 1981.

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Quellen

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IX.  Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1

Abb. 2 Abb. 3

Abb. 3a Abb. 3b Abb. 3c Abb. 4

Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8

Abb. 9

Gottfried Arnold: Ein Denckmahl des alten Christenthums: Bestehend in des Heil. Macarii […]. Schrifften. 1699. Landes- und Universitätsbibliothek Halle, Signatur Ib 1682 a (3) Sebastian Franck: Die Guldin Arch. 1538. Bayrische Staatsbibliothek München, Signatur Res/2 Dogm. 129 Johannes Tauler: Joannis Tauleri Predig: fast fruchtbar zu eim recht christlichen leben. Basel 1521 (BT), Titelblatt. Universitätsbibliothek Tübingen, Signatur Gb 784 a.2 Handschriftlicher Kommentar, Erste Seite, BT Universitätsbibliothek Tübingen Benutzerspuren Bl. 34v, BT Universitätsbibliothek Tübingen Benutzerspuren Bl. 104v, BT Universitätsbibliothek Tübingen Franck, Sebastian: Das verbüthschiert mit siben Sigeln verschlossen Buch, 1539 Universitätsbibliothek Tübingen, Signatur Gf 93. Valentin Weigel: Der güldene Griff. 1616. Universitätsbibliothek Tübingen, Signatur Gf 669.4 Valentin Weigel: Der güldene Griff. 1616. Universitätsbibliothek Tübingen, Signatur Gf 669.4 Valentin Weigel: Der güldene Griff. 1616, Titelbild Universitätsbibliothek Tübingen, Signatur Gf 669.4 Johann Conrad Dippel: Eröffneter Weg zum Frieden mit Gott […]. (1747) Universitätsbibliothek Tübingen, Signatur Gf 75.4 [Johann Friedrich Bachstrom:] Christiani Democriti Redivivi Umständliche Erzehlung, Wie es mit seinem vermeinten Tode zugegangen sey […]. 1736. Landes- und Universitätsbibliothek Halle, Signatur Ig 3033 (1)

X. Register Kursivierungen beziehen sich auf weiterführende Erläuterungen in den Fußnoten; Fette beziehen sich auf Abbildungen. Abraham   76, 105, 127, 130, 172 Ackermann, Johann Christian Gottlieb   494 Adelung, Johann Christoph   32, 340 f., 360, 374, 496 Aglaophemos (vorchristl. Theologe)   79 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius   20, 58, 73, 88, 98, 140 f., 154–156, 190, 304 Alberti, Michael   451 Albinus, Bernhard   351, 456 Alt, Peter-André   29 Ambrosius von Mailand   136 Andreae, Johann Valentin   311, 428–447 Aristoteles    44, 86, 108, 126, 216, 456, 493 Arius (Presbyter)    41, 407 Arndt, Johann   28, 60, 91, 179, 188, 201, 245, 254, 304, 371, 378, 434, 460, 501 Arnold, Gottfried   58, 68 f., 70, 73, 81, 83, 88, 90, 91, 92, 98, 125, 142, 178, 195, 299, 338, 345, 349 f., 359 f., 371–377, 379, 384, 387 f., 393, 398, 401–404, 406 f., 413, 415, 421, 437 f., 444, 474 f., 501, 507, 509 August Graf v. Sayn-Wittgenstein   352 f. Augustinus von Hippo   21, 41, 42, 46–49, 52 f., 92, 110, 121, 136, 140, 149, 177, 190, 232 f., 238, 249, 256, 279, 338, 360, 365, 393, 402 Bachstrom, Johann Friedrich   431, 464, 498 Bacon, Francis   433 f. Basilius Valentinus   45, 367 Behem, Abraham   186, 295–298 Bekker, Balthasar   452, 455, 490 Bergunder, Michael   27 Beusche (Beich), Katharina cf. Katharina Weigel Beverley, Thomas   424 Beyerland, Abraham Willemsz van   101, 308 f. Biedermann, Benedikt    185, 188 f., 206, 229

Bodenstein, Andreas Rudolf (Andreas Rudolff Bodenstein von Karlstadt; Karlstadt)   90, 245 f. Böhme, Jakob   2, 20, 33, 4, 51–53, 59, 81, 92, 101, 173, 185, 196–201, 228, 238, 268, 271, 272, 275 f., 279, 282–285, 289, 298, 305, 307–331, 334, 337, 339, 358, 366, 369, 371 f., 377 f., 403 f., 413, 418–427, 443, 448, 452–455, 466, 468, 474–477, 485, 488, 490–492, 503 f., 506–509 Boethius, Anicius Manlius Severinus   86, 92, 177, 197, 213, 221, 226 f., 284 Boerhaave, Hermann   351, 456 Bourdieu, Pierre   27 Bourignon, Antoinette   370, 377 f., 453 Breckling, Friedrich   309 Brockes, Barthold Heinrich   372 Bröske (Brüsken), Conrad   334, 417, 425, 430, 452 f., 468, 478 Bromley, Thomas   348 Bruno, Giordano   20, 28, 45, 234 Bücher, Friedrich Christian   32, 57 f., 60 f., 64, 74 f., 77, Calvin, Johannes   85 f., 90, 313, 407 Camerarius, Elias Rudolf   372 Campanus, Johannes   136, 143 Canz, Israel Gottlieb   344 Canz, Johann Conrad   342, 343, 344 f., 346, 354, 398, 498 Carl, Johann Samuel   451 Casaubon, Isaac   37, 40, 193, 307–309, 338, 363 f., 368, 491 Casimir Graf v. Sayn-Wittgenstein   357, 496 Christian Fürst von Anhalt-Bernburg   189 Christianus Democritus (Pseud.) cf. Johann Conrad Dippel Cicero, Marcus Tullius   86, 352 Clemens von Alexandrien   343 Colberg, Daniel Ehregott    19, 32–34, 46, 47, 57–63, 65, 90 f., 176, 191 f., 220, 229 f.,

554 

 Register

238, 272, 295, 298, 310, 383, 446 Coornhert, Dieryck Volckertsz   86 Croll, Oswald   188, 311 Cusanus, Nicolaus c f. Nikolaus von Kues

308, 314, 316 f., 329, 331, 338, 363–365, 369, 377, 393, 403, 427, 447, 502, 504, 507 Franckenberg, Abraham v.   180, 419

Dante Alighieri   237 Daut   311 Derrida, Jacques   27 Descartes, René   44, 342, 356, 378, 405, 452, 455 f., 457, 471, 479 f., 484-486, 489 Deurhoff, Wilhelm   452, 455 Dilthey, Philipp Jacob   389 Diogenes von Sinope   119 Dippel, Johann Conrad   38, 43, 73, 178, 333–500, 503 f. (Pseudo-)Dionysios Areopagita   31, 60, 92, 120, 193, 198, 223, 237, 239., 241–246, 263, 285, 289, 291 Dornau, Caspar   312

Galilei, Galileo   12 Gassendi, Pierre   480 Gellmann (Bürger)   14 Gerhard, Johann   189 f., 215, 494 Gichtel, Johann Georg   309, 311, 474 Goethe, Johann Wolfgang v.   46, 274, 294, 331, 449, 470, 505, 509 Goeze, Johann Melchior   5, 336, 359 f., 509 Gottsched, Johann Christoph   2 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie   2, 342 Gregor von Nyssa   116, 313 Gregor von Neocäsarea   136 Greiffenberg, Catharina Regina v.   54 Groote, Gerhart   256 Grophius, Johannes Baptist   430 Guyon, Jeanne Marie   377

Eckhart von Hohenheim (Meister Eckhart)   91–93, 95, 101–112, 114, 119 f., 128f, 137 f., 140, 144, 146, 151, 153, 159, 163, 165, 180, 194, 197 f., 209, 212, 216 f. 219, 221 f., 229 f., 234–243, 249, 251, 254, 256–258, 263 f., 267, 283, 298, 306, 316 f., 325, 422, 443, 476, 502 Edelmann, Johann Christian   43 (Desiderius) Erasmus vom Rotterdam   42, 81, 83, 88, 100, 159, 197, 287, 408 Erastus, Thomas   32, 286 Ernst Ludwig Landg f. v. HessenDarmstadt   356 Euseb (Kirchenhistoriker)   343 Faivre, Antoine   23 Feustking, Johann Heinrich   55, 374 Ficino, Marsilio   19, 20, 31, 32, 58, 74, 76 f., 79, 98, 101, 132, 190, 195, 243, 245, 364 Fischer, Loth   348 Flacius, Matthias Fludd, Robert   63, 227, 372, 491 Foucault, Michel   12, 27, 63, 134, 175, 343 Fowden, Garth   71 Friedrich I., Kg. v. Preußen   430 Franck, Sebastian   37 f., 41, 58, 73–173, 182, 189, 191 f., 195-198, 204 f., 208–210, 214, 216, 220, 241, 249 f., 257–259, 305,

Haller, Albrecht v.   351 Hansen, Peter (Petrus)   334,  462 f. Hardenberg , Friedrich v. (Novalis)   481, 509 Haug, Johann Friedrich   342 Helmont, Jan (Johan) Baptist van   370, 453 f., 457, 458, 466, 470, 489 Herder, Johann Gottfried   336, 495, 509 Hermes Trismegistos   19 f., 75, 76, 77–79, 85, 90, 119, 126, 131–133, 139, 171, 309 f., 334, 364–366, 380, 410, 418, 427, 453–445, 474, 507 Hesiod   286 Hieronymus, Sophronius Eusebius   136 Hilarius von Poitier   408, 414 Hinckelmann, Abraham   310 Hirsch, Emanuel   359 Hobbes, Thomas  337,  452, 455, 480, 484, 487 Hoburg, Christian    Hochenau, Hochmann v.   424  f. Hölderlin, Friedrich   46 Hohenheim, Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus v.   18, 59, 177, 182, 190, 193–195, 199–201, 206 f., 229, 262 f., 265 f., 281, 286, 298, 300, 303 f., 313–315, 324, 338, 363, 366, 453–455, 491

 Homer   86, 119 Horb (Schwager Speners)   350 Horch, Johann Heinrich   347, 389 Hoyer(s), Anna Ovena   54, 374 Hugo von St. Viktor   197, 212 f., 249 Hunnius, Nicolaus   32, 60, 190 f., 210, 220, 261 Ignatius von Loyola   255–269, 316 Israel, Jonathan   5 Johannes XXII. (Papst; Jacques Arnaud Duèze)   91 Joris, David   374 Jung-Stilling, Johann Heinrich   450, 495 f. Junker, Johann   451 Kant, Immanuel   1–3, 5, 83, 212, 260, 359, 395, 507 Kemper, Hans-Georg   28, 50, 340 Kircher, Athanasius   28, 141, 305 Klein   311 Kleist, Heinrich v.   481 Klopfer, Bernhard   389 f., 436 Klopstock, Friedrich Gottlieb   53, König, Samuel   424 Köpke, Balthasar   57 f., 377 Konrad von Frankenstein   499 Kopernikus, Nikolaus   12, 198, 312 Krakevitz, Albert Joachim v.   334, 430, 444, 446 Kuhlmann, Quirinius   296, 507 Laclau, Ernesto   27 Laktanz (Lactantius)   79, 98, 123, 195 Lange, Joachim   334 Launoy, Bonaventura de   402, 424 Lautensack, Paul   190, 228 Lavater, Johann Kaspar   336 Leade, Jane   348, 402, 424, 474 Lee, Francis   349 Lentzer, Johannes   383 f. Lessing, Gotthold Ephraim   5, 73, 81, 83, 86, 142, 269, 335 f., 359 f., 445, 459, 509 Leibniz, Gottfried Wilhelm   46, 174, 178, 322, 341, 356, 451 f., 460 Libavius, Andreas   32 Liscov, Christian Ludwig   362 f., 494

Register

 555

Locke, John   377, 379 Löscher, Valentin Ernst   85, 146, 410 Luther, Martin   2, 13, 40, 42, 48 f., 52, 60 f., 75, 81, 83, 84, 85, 89 f., 95, 96, 100, 102, 109, 117, 123, 127, 137, 142, 146, 152, 158, 162–162, 177 f., 182, 184, 185 f., 195, 198–201, 203, 205, 210 f., 213, 215 f., 220 f., 240, 243, 244, 245, 246, 255, 256, 258, 263, 277–279, 281–283, 287 f., 290 f., 294–296, 312, 338, 360, 390, 403, 408, 414, 436, 442, 495, 501, 503 Lovejoy, Arthur O.   42 Malebranche, Nicolas   405, 452, 455 Makarios der Große/der Ägypter   70, 371–373, 473 Marlowe, Christopher   272–274 Mayer, Johann Friedrich   334, 350 f., 472 Meister Eckhart cf. Eckhart von Hohenheim Melanchthon, Philipp   38, 80 f., 85, 166, 184, 186 f. Mendelssohn, Moses   6 Merlau, Johanna Eleonora v. und zu cf. Johanna Eleonora Petersen Mersenne, Marin   480 Merswin, Rulman   124 Meth, Ezechiel   312 Metternich, Wolf Fhr. v.   310 Meyer, Lodewijk   14 Moller d.J., Martin   311 Moritz, Karl Philipp   509 Morus, Thomas   32, 433 Moses   67, 74, 76–79, 100, 119, 123, 133, 158, 172, 322, 466 Mouffe , Chantal   27 Müntzer, Thomas   83, 90, 164, 245 f., 271 Mulsow, Martin   4, 388 Neugebauer-Wölk, Monika   23 Neumeister, Erdmann   334 Neuß, Georg Heinrich   334, 472 Nikolaus von Kues (Cusanus)   92, 177, 182, 193, 195, 197, 229 f., 234, 243, 263 Novalis cf. Friedrich von Hardenberg Origenes   47, 98, 108, 111, 283, 366, 473, 491 Orpheus (vorchristl. Theologe)   79, 119 Osiander, Andreas   186, 190, 239, 246

556 

 Register

Ovid (Publius Ovidius Naso)   86, 278, 294 Paracelsus cf. Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim Paul V. (Papst; Camillo Borghese)   90 Paulus von Tarsus (Apostel)   50, 52, 110, 118, 127, 139, 147, 163, 169, 210, 219, 236, 238, 241, 243, 251, 284, 364 f., 408, 412, 427, 438, 502 Pelagius (Mönch)   42, 149 Petersen, Johann Wilhelm   46, 348, 424 Petersen, Johanna Eleonora   46, 54, 56, 348 Pfefferl, Horst   175 Philo von Alexandrien   51, 53, 290, 313 Philolaus (vorchristl. Theologe)   79 Pico della Mirandola, Giovanni   32, 45, 58, 193, 205, 243 Pistorius, Jac.   188 Plato(n)   40, 42, 78 f., 86, 120, 126, 139 f., 194, 213, 233, 246, 281, 286, 292, 301, 366, 491 Plotin   78, 92, 98, 110–119, 140, 198, 230, 237, 244 Pordage, John   348 Poiret, Pierre   351, 377–379, 405, 418, 453, 460 Porphyrius   119, 127 Pott, Sandra   9 Proklos   92, 111, 120, 177, 237, 244, 246 Püntiner, Carl Anton   424 Pythagoras (Philosoph)   79, 86, 119, 126, 368 Reimarus, Hermann Samuel   335–337, 360 Reitz, Johann Henrich   359, 389, 402 Reuchlin, Johannes   190 Reventlow, Benedikta Margarethe Gfn. v.   351 Reventlow, Christian Detlev Gf. v.   351 Richter, Christian Friedrich   1, 451 Richter, Gregor   311 f. Richter, Samuel   295 Roth, Albrecht Christian   372 Rube, Johannes Christoph   413 Rüxleben, Martha v.   183 Scheffler, Johannes (Angelus Silesius)   175, 180, 220, 261 Schelhammer, Johannes   90, 190 f., 193, 195, 238

Schlegel, Friedrich   481, 509 Schleiermacher, Friedrich   335 Schütz, Johann Jakob   347 Schwenckfeld, Caspar v.   58, 83, 190, 246, 330, 374 f., 383, 391 f., 394 Scultetus, Bartholomäus   312 Senckenberg, Johann Christian   354 Seneca, Lucius Annaeus   86, 133, 197 Servet, Michael   58, 64, 407 Seuse, Heinrich (Suso)   53, 243 Shakespeare, William   140, 272, 274 Shelley, Mary   499 f. Sophia (göttliche Eva)/Weisheit   53, 223, 286–300, 302 f., 313, 315, 330, 376, 420, 421, 474–476, 478, 492, 502 Sophokles   86 Spener, Christian Maximilian   451 Spener, Philipp Jacob   57 f., 60 f., 91, 350, 365, 377, 382, 385, 403, 416, 424, 429, 451, 460 Sperber, Julius   63 Sperling, Johannes   460 Spinoza, Baruch de   15, 53, 336, 356, 377, 418, 452 f., 455, 471, 486–489 Stahl, Georg Ernst    351, 450–452, 457 Stiefel, Esaias   311 f. Struensee, Johann Friedrich   346 Stuckrad, Kocku v.   25 f. Suso, Heinrich cf. Heinrich Seuse Sibylle von Samia   119 Symeon von Mesopotamien cf. Makarios Tacitus, P. Cornelius   201 Tauler, Johannes   60, 67, 88, 91–93, 94, 95, 96 f., 98, 101–110, 111, 112, 119–121, 122, 123–126, 140, 144, 150, 159, 163, 166, 177, 190, 197 f., 206, 209, 212, 228, 234, 241, 243, 249–251, 256–258, 263, 265, 316, 377, 502 Tennhard   311 Thomas von Aquin   44, 70, 85, 92, 106, 110, 365, 401 Thomas von Kempen (Thomas a Kempis)   377 Thomasius, Christian   379, 413–428, 454, 469, 494 Thomasius, Jacob   32, 83, 360, 372 Tieck, Ludwig   509

 Tilken, Balthasar   492 Timotheus   241 Titzmann, Michael   11 Trevisanus, Bernardus   367 Trinius, Johann Anton   336, 359, 410 Wagner, Friedrich   334, 337 Weickhart, Christoph   185, 188 Weigel, Christian   183 Weigel, Katharina   183 Weigel, Nathaniel   183 Weigel, Theodora   183 Weigel, Valentin   16, 38, 41, 60, 73, 81, 90, 91, 110, 173–306, 308, 311–318,

Register

 557

320–325, 327–330, 334 f., 338, 347, 363–365, 372, 374 f., 378  f., 390, 403 f., 406, 411, 418 f., 421, 427, 433, 448, 453, 466, 475, 490, 501-504, 506 f. Weise, Christian   362 Weiß, Bernhard cf. Bernhard Albinius Wieland, Christoph Martin   46 Willemzoon van Beyerland, Abraham   308 Wolff, Christian   2, 339, 341, 427, 452, 460–464 Zimmermann, Johann Jakob   347 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Gf. v.   346, 354 Zwingli, Huldrych   185