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German Pages 464 Year 2004
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 155
Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit Eine Untersuchung zum Maßregelrecht
Von
Axel Dessecker
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Axel Dessecker · Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 155
Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit Eine Untersuchung zum Maßregelrecht
Von
Axel Dessecker
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Die Juristische Fakultät der Universität Göttingen hat diese Arbeit im Sommersemester 2002 als Habilitationsschrift angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-11180-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Untersuchung hat der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen im Wintersemester 2001 / 02 und im Sommersemester 2002 als Habilitationsschrift vorgelegen. Für den Druck habe ich nach Abschluß des Habilitationsverfahrens einige Passagen aktualisiert. Besonders wichtige Neuerscheinungen konnte ich im Februar 2003 noch in den Fußnoten berücksichtigen. Während der Entstehung der Arbeit und seither hat sich immer wieder gezeigt, daß das Maßregelrecht in Bewegung geraten ist. Die gegenwärtige öffentliche Aufmerksamkeit für bestimmte Formen von Kriminalität führt auch dazu, daß Sanktionen jenseits der Schuld in den Blick geraten. Auf solche aktuellen Gesichtspunkte geht der Text ein, wo sich das anbietet, und sie sind auch Anlaß für eine rechtspolitische Stellungnahme am Ende des Buches. Das eigentliche Ziel der Analyse liegt dagegen in einer Systematisierung des Maßregelrechts anhand der Prinzipien der Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Dieses Buch bildet den Abschluß mehrjähriger Forschungsprojekte in Wiesbaden und Göttingen. Am Anfang standen Überlegungen von Professor Jörg-Martin Jehle zu einem empirisch angelegten Forschungsvorhaben, das sich mit der Anordnung und Vollstreckung der Maßregeln nach §§ 63 und 64 StGB beschäftigte. Die damit begonnenen Forschungen hat er an der Kriminologischen Zentralstelle und an der Universität Göttingen am intensivsten begleitet; ihm habe ich für rund zehn Jahre angeregter wissenschaftlicher Diskussion besonders zu danken. Weitere Gutachten im Rahmen des Habilitationsverfahrens haben die Professoren Manfred Maiwald und Hans-Ludwig Schreiber abgegeben; ich danke ihnen dafür, daß sie diese zeitraubende Aufgabe trotz bevorstehender oder bereits erfolgter Emeritierung übernommen haben. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die Bewilligung einer Sachbeihilfe für die Publikationskosten. Ein solches Buch ist nicht denkbar ohne die Hilfe zahlreicher weiterer Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde in der Universität und außerhalb. Auch ihnen danke ich dafür, daß sie mich in den letzten Jahren unterstützt und manchmal ertragen haben. Göttingen, im Januar 2004
Axel Dessecker
Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung: Ziel und Anlage der Arbeit
17
Erster Teil
Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
25
Kapitel 2 Frühformen sichernder Maßregeln seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
27
A. Das preußische Allgemeine Landrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
B. Individualpräventive Theorien und ihre Kritik in der Zeit um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
I. Zur Dogmatik der Sicherungsmittel bei Klein und Eisenhart . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
II. Weitere individualpräventive Ansätze um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
III. Feuerbachs Kritik der Individualprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
C. Sanktionspraxis und „Polizey“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
Kapitel 3 Positionen der Kriminalpolitik im Kaiserreich
50
A. „Ordnungspsychiatrie“ und „irre Verbrecher“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
I. Polizeirechtliche Zwangsunterbringungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
II. „Irre Verbrecher“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
B. Kriminalität und „soziale Hygiene“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
C. Zum „Schulenstreit“ in der deutschen Strafrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
I. Die Herausbildung von „Schulen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
II. Liszt und die „moderne“ Richtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
8
Inhaltsverzeichnis III. Gegenströmungen aus der „klassischen“ Richtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
IV. „Naturalistische“ Gegenströmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
Kapitel 4 Reformbemühungen bis 1933
70
A. Stooss und die Strafrechtsreform in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
B. Die Reformentwicklung in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
C. Reformentwürfe und Strafrechtswissenschaft in Deutschland bis 1933 . . . . . . . . . . . . . .
78
I. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
II. Vorentwurf von 1909 und Gegenentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
III. Der Kommissionsentwurf von 1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
IV. Der Entwurf Radbruchs und die weiteren Reformberatungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
V. Der Diskussionsstand am Ende der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
Kapitel 5 Das Gewohnheitsverbrechergesetz und seine Anwendung unter dem nationalsozialistischen Regime
89
A. Das Maßregelrecht – spezifisch nationalsozialistisches Instrumentarium? . . . . . . . . . . .
90
I. „Entmannung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
II. Sicherungsverwahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
III. Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
B. Zur Praxis des Maßregelrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
C. Konzentrationslager und Tötungsaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
D. Kriegsstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Inhaltsverzeichnis
9
Kapitel 6 Strafrechtsreformen seit 1945
104
A. Die Strafrechtsreform in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 I. Ausgangssituation und erste Reformüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 II. Der Regierungsentwurf 1962 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 III. Abweichende Reformkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 IV. Zum Alternativ-Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 V. Die Reformgesetzgebung seit 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 B. Maßregeln und das Strafrecht der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Kapitel 7 Zusammenfassung: Maßregeln in der historischen Entwicklung des Sanktionensystems
122
Zweiter Teil
Gefährlichkeit im Maßregelrecht
128
Kapitel 8 Das Maßregelrecht im Überblick: Voraussetzungen und Anwendungspraxis
130
A. Die Uneinheitlichkeit der Maßregelvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 B. Statistische Daten zur Häufigkeit der Maßregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Kapitel 9 Gefahrbegriffe außerhalb des Maßregelrechts
137
A. Gefahrbegriffe in der Alltagssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 B. Gefahrbegriffe im strafrechtlichen Deliktsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 I. Deliktsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 II. Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
10
Inhaltsverzeichnis
C. Gefahrbegriffe im Polizeirecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 I. Gefahrenabwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 II. Vorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 III. Restrisiko, Lebensrisiko, soziale Adäquanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 D. Folgerungen für das Maßregelrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Kapitel 10 Gefahrbegriffe in bisherigen theoretischen Entwürfen des Maßregelrechts
162
A. Beiträge aus der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 I. Exners „Theorie der Sicherungsmittel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 II. Ergänzungen zu Exner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 B. Beiträge bis zum Inkrafttreten der Strafrechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 C. Beiträge seit der Strafrechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 D. Zum Stand der Diskussion über Gefahrbegriffe im Maßregelrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Kapitel 11 Voraussetzungen und Formen von Gefährlichkeitsprognosen
182
A. Vorhersagen und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 I. Kriminalpolitische Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 II. Das Problem der niedrigen Basisrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 III. Die Legitimität von Gefährlichkeitsprognosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 IV. Das Fehlerpotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 B. Zur Methode von Kriminalprognosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 I. Statistische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 II. Klinische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 III. Intuitive Prognosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Inhaltsverzeichnis
11
Kapitel 12 Gefährlichkeit, Besserung und Sicherung
199
A. Zur Bedeutung der Zielsetzungen des Maßregelrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 B. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) – allein zur Besserung? 203 C. Die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) – allein zur Sicherung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 D. Besserung und Sicherung bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
Dritter Teil
Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
210
Kapitel 13 Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB)
210
A. Schuldfähigkeit und psychiatrische Maßregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 B. Gefährlichkeit als Voraussetzung der Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 I. Anlaßtat und künftige Delikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 II. Wahrscheinlichkeitsgrade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 III. Erheblichkeit künftiger Delikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 IV. Fallgruppen unterhalb der Erheblichkeitsschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 C. Empirische Forschungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 I. Unterbringungsdelikte bei § 63 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 II. Unterbringungsentscheidungen nach § 63 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 III. Merkmale der Verurteilten bei der Unterbringung nach § 63 StGB . . . . . . . . . . . . 231 IV. Auffälligkeiten während der Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 V. Legalbewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 VI. Ausgewählte Studien zur Gefährlichkeit von Personen mit psychischen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 VII. Zum heutigen Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
12
Inhaltsverzeichnis
D. Zur Konkretisierung des Merkmals „Gefährlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 I. Der Maßstab der Erheblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 II. Einzelne Deliktsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Kapitel 14 Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB)
259
A. Abhängigkeitsbegriff und Erfolgsaussicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 B. Gefährlichkeit als Voraussetzung der Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 C. Empirische Forschungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 I. Unterbringungsdelikte bei § 64 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 II. Unterbringungsentscheidungen nach § 64 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 III. Merkmale der Verurteilten bei der Unterbringung nach § 64 StGB . . . . . . . . . . . . 273 IV. Auffälligkeiten während der Suchtbehandlung im Maßregelvollzug . . . . . . . . . . . 274 V. Legalbewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 VI. Ausgewählte Studien zur Gefährlichkeit bei einer Suchtproblematik . . . . . . . . . . 278 VII. Zum heutigen Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 D. Zur Konkretisierung des Merkmals „Gefährlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Kapitel 15 Gefährlichkeit bei der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB)
295
A. Formelle Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 B. Gefährlichkeit als Voraussetzung der Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 C. Empirische Forschungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 I. Unterbringungsdelikte bei § 66 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 II. Unterbringungsentscheidungen bei § 66 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 III. Merkmale der Verurteilten bei der Unterbringung nach § 66 StGB . . . . . . . . . . . . 312
Inhaltsverzeichnis
13
IV. Legalbewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 V. Ausgewählte Studien zur Gefährlichkeit nach langfristigen Freiheitsentziehungen und bei schwerer Kriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 VI. Zum heutigen Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 D. Zur Konkretisierung des Merkmals „Gefährlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
Vierter Teil
Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
331
Kapitel 16 Verhältnismäßigkeit bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB)
334
A. Verhältnismäßigkeit als Voraussetzung der Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 B. Verhältnismäßigkeit der Vollstreckungsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 C. Zur Konkretisierung der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 I. Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 II. Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 III. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, Proportionalität, Übermaßverbot . . . . . . 351
Kapitel 17 Verhältnismäßigkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB)
360
A. Verhältnismäßigkeit als Voraussetzung der Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 B. Verhältnismäßigkeit der Vollstreckungsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 C. Zur Konkretisierung der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 I. Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 II. Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 III. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, Proportionalität, Übermaßverbot . . . . . . 368
14
Inhaltsverzeichnis Kapitel 18 Verhältnismäßigkeit bei der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB)
372
A. Verhältnismäßigkeit als Voraussetzung der Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 B. Verhältnismäßigkeit bei der Vollstreckung der Sicherungsverwahrung . . . . . . . . . . . . . . 374 C. Zur Konkretisierung der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 I. Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 II. Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 III. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, Proportionalität, Übermaßverbot . . . . . . 382
Fünfter Teil
Ergebnisse und Folgerungen
385
Kapitel 19 Zusammenfassung der Ergebnisse
385
Kapitel 20 Kriminalpolitischer Ausblick
395
A. Zur Reform der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) 396 B. Zur Reform der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) . . . . . . . . . . . . 400 C. Zur Reform der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) . . . . . . . . . . 403 D. Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
407
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
462
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Abbildung 1: Entwicklung der freiheitsentziehenden Maßregeln nach der Strafverfolgungsstatistik (1950 – 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
134
Abbildung 2: Vereinfachte Darstellung der Bayesschen Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186
Tabelle 1:
Tabelle 2:
Tabelle 3:
Tabelle 4:
Tabelle 5:
Tabelle 6:
Anordnungsvoraussetzungen der kriminalrechtlichen Maßregeln nach dem Strafgesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
Häufigkeit gerichtlich verhängter kriminalrechtlicher Sanktionen gegen Erwachsene und Heranwachsende (Strafverfolgungsstatistik 2000) . . . . .
134
Schwerstes Unterbringungsdelikt bei der Maßregel nach § 63 StGB – Stichproben der eigenen Untersuchung im Vergleich zur Strafverfolgungsstatistik 2000 (%) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
227
Resultate von Legalbewährungsstudien zum Maßregel- und Strafvollzug im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
236
Schwerstes Unterbringungsdelikt nach § 64 StGB: Vegleich der eigenen Untersuchung (Daten von 1986) mit der Strafverfolgungsstatistik 1996 und 2000 (%) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
270
Resultate von Legalbewährungsstudien zum Maßregelvollzug sowie zur Therapieregelung des Betäubungsmittelstrafrechts im Vergleich . . . . . . . .
277
Kapitel 1
Einleitung: Ziel und Anlage der Arbeit Die Maßregeln des Kriminalrechts sollen die Palette der Strafen dort ergänzen, wo Gründe der Individualprävention dies erfordern. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, einen Beitrag zur Systematisierung des Maßregelrechts zu leisten. Dabei geht es um die Tragweite allgemeiner Grundsätze für die Bestimmung des Anwendungsbereichs einzelner Maßregeln. Die allgemeinen Grundsätze, die dazu herangezogen werden, sind die Grundsätze der Gefährlichkeit und der Verhältnismäßigkeit. Die Maßregeln, die im einzelnen betrachtet werden, sind die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB), die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) und die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB), also die drei Sanktionen des Maßregelrechts, die mit einer Freiheitsentziehung verbunden sind. Die Untersuchung konzentriert sich in erster Linie auf die Anordnungsvoraussetzungen dieser drei Maßregeln; Gesichtspunkte ihrer Vollstreckung werden vor allem unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit in die Darstellung einbezogen. Das deutsche Kriminalrecht1 zeichnet sich im internationalen Vergleich durch ein besonders differenziertes System individualpräventiv ausgerichteter Maßregeln aus. Das bedeutet nicht, daß Individualprävention für die Maßregeln der Besserung und Sicherung reserviert wird; jedenfalls nach vorherrschender Auffassung orientieren sich auch die Strafen an dieser Zielsetzung.2 Schon nach dem Wortlaut des Gesetzes sind bei der Strafzumessung Wirkungen der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu berücksichtigen (§ 46 I 2 StGB). Damit relativiert sich die strikte dogmatische Unterscheidung von Strafen und Maßregeln. Doch gelten für beide Sanktionsarten unterschiedliche Grundprinzipien, die sie jeweils begründen und limitieren. Auf der Seite der Strafen ist dies das Schuldprinzip; im Maßregelrecht sind es die beiden Grundsätze der Gefährlichkeit und der Verhältnismäßigkeit. Die Funktionen der Sanktionsbegründung und ihrer Begrenzung, die für die Strafe ein einziges allgemeines Prinzip, nämlich die Schuld, übernimmt, werden 1 Dieser Begriff ermöglicht eine Kennzeichnung des in den Blick genommenen Rechtsgebiets ohne implizite Vorentscheidung für bestimmte Sanktionsformen. Siehe dazu Delaquis (1944: 3), Exner (1914: 3), Stooss (1930: 268) und neuerdings wieder Eser (2001b: 213). 2 Siehe etwa Roxin (1997: 44 ff.) und Schüler-Springorum (2001), aber auch Jakobs (1991: 28), der Individualprävention als „nachrangige Theorie“ begreift. Aus der Rechtsprechung BGH, Urteil vom 8. Dezember 1970 – 1 StR 353 / 70 (= BGHSt 24, 40, 42).
2 Dessecker
18
Kap. 1: Einleitung: Ziel und Anlage der Arbeit
damit im Maßregelrecht auf zwei Grundsätze verteilt. Diese beiden Grundsätze nehmen aber nicht den gleichen Rang ein. Gefährlichkeit ist ein Konzept, das auf die künftige Begehung erheblicher Delikte verweist, die von bestimmten Straffälligen erwartet werden und durch die Intervention der Maßregel gerade verhindert werden sollen. Das Merkmal stellt eine spezifische Voraussetzung für die Anordnung aller freiheitsentziehenden Maßregeln dar. Die Annahme, daß dieses Konzept durch Gerichte operationalisiert werden kann, ist die zentrale Basis für das Maßregelrecht insgesamt. Würde diese Annahme widerlegt, fehlte eine Legitimation für die Existenz der kriminalrechtlichen Maßregeln. Das Merkmal Gefährlichkeit enthält aber zugleich ein begrenzendes Element: jenseits nachvollziehbarer Gefährlichkeitsprognosen soll keine Maßregel verhängt werden können. Dagegen ist die Forderung der Verhältnismäßigkeit Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes, der die gesamte Rechtsordnung prägt und im Verfassungsrecht verankert ist. Das Maßregelrecht betrifft nur einen kleinen Ausschnitt der denkbaren Anwendungsfälle des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. So verstanden, stellt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit lediglich eine zusätzliche Schranke für Maßregeln in solchen Fallgruppen auf, welche die Hürde der Gefährlichkeit bereits überwunden haben. Das Sanktionensystem des deutschen Kriminalrechts wird aus rechtsvergleichender Sicht häufig als „zweispurig“ gekennzeichnet – im Gegensatz zu „einspurigen“ Sanktionensystemen anderer Rechtsordnungen, die zwar eine Vielfalt einzelner kriminalrechtlicher Sanktionen aufweisen, aber keine Klassifikation in Strafen und Maßregeln zulassen.3 Die Unterscheidung dürfte von eher heuristischem Wert sein, weil es kaum konsequent einspurige moderne Strafrechtsordnungen gibt.4 Über die Zuordnung nationaler Sanktionensysteme zu diesem oder jenem Modell besteht ohnehin nicht immer Einigkeit.5 Und unter rechtspolitischen Aspekten besteht immer die Option, daß weitere „Spuren“ hinzukommen können.6 Dafür gibt es gerade in der Entwicklung des deutschen Sanktionenrechts einige Beispiele. In der Zeit des Nationalsozialismus wird dafür das Täterstrafrecht7 vorgeschlagen, in der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren die Strafaussetzung zur Bewährung8; später werden verschiedene Nebensanktionen9 in ei3 So z. B. Hanack (1991: Rn. 1 ff. vor §§ 61 ff. StGB), Jescheck / Weigend (1996: 82 ff.) und Roxin (1997: 1 ff.). 4 Siehe hierzu etwa Jescheck (1984: 2062 ff.). 5 So wird das frühere französische Recht bei Jescheck / Weigend (1996: 84 Fn. 4) als einspurig bezeichnet, während die eingehende Studie von Zieschang (1992: 142) zum gegenteiligen Ergebnis kommt. 6 Auffällig ist, daß das Beschreibungsmodell der Zweispurigkeit nach seiner Übertragung auf das Haftungsrecht durch Esser (1953) dort ähnliche Erweiterungstendenzen zeigt; vgl. dazu Deutsch (1992: 77). 7 Bockelmann (1940: 162) bezieht sich vor allem auf die seit 1933 vorgesehene Strafschärfung für „Gewohnheitsverbrecher“ nach § 20a StGB a.F. 8 M. Walter (1983: 160), tendenziell auch Kaiser (1996: 1003); zu Auflagen und Weisungen H.-J. Bruns (1959b: 200).
Kap. 1: Einleitung: Ziel und Anlage der Arbeit
19
ner dritten Spur zusammengefaßt, und das jüngste Beispiel liefert die Wiedergutmachung.10 Doch umfaßt zumindest das Recht der freiheitsentziehenden Maßregeln seit fast siebzig Jahren eine weitgehend konstante Gruppe kriminalrechtlicher Sanktionen. Gleichwohl ist immer wieder von einer „Krise“ des Maßregelrechts die Rede.11 Dabei handelt es sich keineswegs um eine neue Diagnose. Belege finden sich schon wenige Jahre nach Einführung der Maßregeln in der Zeit des Nationalsozialismus12, und entsprechende Aussagen beziehen sich trotz wechselnder Akzentsetzungen letztlich auf die Grundsatzdiskussion um die Ausrichtung des Sanktionensystems insgesamt. Von einer Krise des Maßregelrechts ist einerseits bei solchen Autoren die Rede, die sich für eine häufigere Verhängung bestimmter Maßregeln, insbesondere der Sicherungsverwahrung, einsetzen, andererseits aber auch bei solchen, die das Maßregelrecht in Frage stellen und dabei auf kritische Äußerungen Bezug nehmen, die wie das Diktum vom „Etikettenschwindel“ noch aus der Zeit des „Schulenstreits“ in der Strafrechtswissenschaft stammen. Jüngste kriminalpolitische Debatten deuten eher auf ein gesteigertes Interesse am Maßregelrecht. Dazu gehört zunächst die Wiederentdeckung „gefährlicher“ Straftäter. Schwere Delikte, die von (ehemaligen) Strafgefangenen oder Maßregelpatienten nach einer Entlassung aus dem Vollzug oder während einer Vollzugslockerung begangen werden, können zu spektakulären Ereignissen werden, wie die von Zeit zu Zeit hoch gehenden Wellen der Darstellung solcher Fälle in den Massenmedien zeigen. Die Skandalisierung bestimmter Formen von Kriminalität hat Folgen für das allgemeine kriminalpolitische Klima ebenso wie für die Lockerungs- und Entlassungspraxis mindestens in einer Region.13 Sie kann zur Gründung von Bürgerinitiativen führen, zur Blockade der Eröffnung neuer Einrichtungen, zur Einleitung von Strafverfahren gegen Verantwortliche des Straf- oder Maßregelvollzugs, zu hektischen Aktivitäten im politischen System, aber auch zu dringenden Nachfragen nach praktisch verwertbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen.14 9 Manche Autoren neigen dazu, nicht eindeutig als Strafe oder Maßregel einzuordnende Sanktionen wie die „Nebenfolgen“ in § 45 StGB, Einziehung und Verfall einer in sich uneinheitlichen dritten Kategorie zuzuweisen; so etwa H.-J. Albrecht (1989: 49) und Müller-Dietz (1979: 67 ff.). 10 Zusammenfassend Roxin (1997: 67 ff.). Das Modell von Walther (2000: 281 ff.) verteilt die Strafe auf zwei Spuren und ordnet die Wiedergutmachung der dritten zu, so daß die Maßregeln in eine vierte Spur verschoben werden. 11 Siehe aus der neueren Literatur Böllinger (1995: Rn. 19 zu § 61 StGB); Frisch (1990: 351 ff.); Kaiser (1990). 12 Mezger (1943: 5 ff.). 13 Jüngstes Anzeichen ist die deutliche Veränderung der Entlassungspraxis aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug; siehe Seifert et al. (2001: 248, 252 f.). 14 Einige dieser Aspekte schildern Grünebaum (1996: 35 ff.), Pfäfflin (1995) und SchülerSpringorum et al. (1996).
2*
20
Kap. 1: Einleitung: Ziel und Anlage der Arbeit
Ein anderer Akteur, dessen kriminalpolitische Bedeutung nicht unterschätzt werden darf, ist das Bundesverfassungsgericht. Es hat in den vergangenen Jahren zu zweien der drei freiheitsentziehenden Maßregeln Entscheidungen getroffen, die aus verfassungsrechtlicher Sicht eher als Anwendungsfälle bereits früher entwickelter Grundsätze erscheinen mögen, das Maßregelrecht aber durchaus in Bewegung bringen.15 Diese Entscheidungen wirken sich nicht nur in der Rechtsprechung der Strafgerichte aus, sie versetzen auch der Reformdiskussion neue Impulse. Was die psychiatrische Unterbringung (§ 63 StGB) betrifft, geht es in dieser Diskussion vor allem um zwei Gesichtspunkte, nämlich die nach der geltenden gesetzlichen Regelung recht offenen Anordnungsvoraussetzungen und die fehlende Befristung der Unterbringungsdauer. Trotz einer Entschließung des Deutschen Bundestages im April 198916 ist es bis zur Fertigstellung dieser Arbeit nicht zu einem formellen Gesetzgebungsverfahren gekommen. Und obwohl das Bundesverfassungsgericht die Voraussetzungen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) teilweise für verfassungswidrig erklärt hat, ist der Text des Strafgesetzbuchs noch nicht an die geänderte Rechtslage angepaßt worden. Statt dessen konzentrieren sich gesetzgeberische Aktivitäten im Maßregelrecht in den letzten Jahren weitgehend auf die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB), die zuvor infolge ihrer schwindenden Anwendungshäufigkeit in der Strafrechtspraxis für längere Zeit in den Hintergrund getreten und in den Ländern der ehemaligen DDR nicht mit dem Einigungsvertrag übernommen, sondern erst aufgrund einer späteren Gesetzesänderung eingeführt worden war.17 In den Ende der 1990er Jahre aufflammenden Debatten über „gefährliche“ Straftäter ist der symbolische Wert der Sicherungsverwahrung wieder entdeckt worden. Das hat dazu geführt, daß die Anordnung dieser Sanktion mit dem 1998 in Kraft getretenen Gesetz „zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ erleichtert wurde.18 Zugleich wurden die Anforderungen an eine nachträgliche Aussetzung aller freiheitsentziehenden Maßregeln zur Bewährung verschärft. Damit einher geht neuerdings eine legislative Rückbesinnung auf die polizeirechtlichen Ursprünge der kriminalrechtlichen Maßregeln. Das Landesrecht von Baden-Württemberg sieht seit März 2001 eine Art nachträglicher Sicherungsverwahrung vor19; entsprechende Gesetze oder zumindest Gesetzgebungspläne sind aus weiteren Bundesländern bekannt geworden. 15 Gemeint sind BVerfG, Beschlüsse vom 8. Oktober 1985 – 2 BvR 1150 / 80 u. a. (= BVerfGE 70, 297) zur psychiatrischen Unterbringung (§ 63 StGB) und vom 16. März 1994 – 2 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1) zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB). 16 Zum Text BT-Drucksache 11 / 2597 vom 29. Juni 1988; zum Beschluß vom 20. April 1989 Verhandlungen des Deutschen Bundestages (1989: 10112). 17 Hierzu Kinzig (1997). 18 Gesetz vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 160). 19 Gesetz über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter (StraftäterUnterbringungsgesetz – StrUBG) vom 14. März 2001 (GBl. 188).
Kap. 1: Einleitung: Ziel und Anlage der Arbeit
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Vor diesem Hintergrund geht es in der vorliegenden Untersuchung weniger um eine allgemeine Lehre des Kriminalrechts als vielmehr in erster Linie um die konkrete Zweckbestimmung bestimmter Sanktionen, die sich als ausschließlich individualpräventive Ergänzungen der Strafen verstehen lassen. Einem solchen Ansatz kann man den Begriff der „Maßregeltheorie“ zuordnen20 – also einer rechtsdogmatischen Theorie zum geltenden Recht21, insbesondere dem der Vorschriften in §§ 61 – 66 StGB. Aus diesem begrenzten Anspruch folgt, daß das präventive Potential der Strafe hier nicht selbständig untersucht und ausgemessen werden soll, auch wenn dafür immer wieder expansive Ansätze – von der Sicherungsstrafe bis zur Lebensführungsschuld – zur Diskussion gestellt worden sind. Zentraler Gegenstand der Arbeit sind die drei freiheitsentziehenden Maßregeln. Grundstrukturen des kriminalrechtlichen Sanktionensystems insgesamt kommen immer wieder in den Blick, etwa wenn die historische Entwicklung bis zum Maßregelrecht der Gegenwart nachgezeichnet wird, aber auch bei der abschließenden kriminalpolitischen Bewertung. In methodischer Hinsicht verbindet die Arbeit juristische mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen. Die Interpretation von Rechtsvorschriften erfolgt unter weitgehender Einbeziehung empirischer Forschungsergebnisse einschließlich des internationalen Forschungsstands, soweit Erkenntnisse aus anderen Rechtsordnungen für die Systematisierung des deutschen Kriminalrechts aussagekräftig erscheinen. Dieses Vorgehen folgt einer Tradition, die sozialwissenschaftliche Erkenntnisse für die Rechtswissenschaft nutzbar zu machen sucht. Ihr sind Konzepte wie das der Rechtstatsachenforschung ebenso zuzurechnen wie die Idee einer „Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft“, Konzepte der Implementationsforschung in der empirischen Kriminologie und Rechtssoziologie sowie der Folgenorientierung im Recht.22 Mit einem solchen Ansatz wird nicht behauptet, daß sich der Inhalt der Vorschriften über Maßregeln im Kriminalrecht gewissermaßen in der sozialen Welt wiederfindet. Wohl aber wird davon ausgegangen, daß die empirische Forschung Informationen darüber liefern kann, ob und inwieweit gesetzgeberische Zielsetzungen, die mit diesen Sanktionen verfolgt werden, erreicht werden können. Wenn die Rechtsanwendung von den Zielsetzungen des Gesetzes abweicht, kann dies auf die Rechtsauslegung zurückwirken, aber auch kriminalpolitische Änderungsvorschläge begründen. Das kriminalpolitische Vorverständnis, das Schlußfolgerungen aus empirischen Forschungsergebnissen, Interpretationen des Kriminalrechts und vor allem die abschließende Stellungnahme zu Reformansätzen für das Maßregelrecht notwendig Zu dieser Qualifikation Bae (1985: 72 ff.) und M. Köhler (1986: 81 f.). Vgl. etwa Canaris (1993) und Dreier (1978: 85 ff.). 22 Zum Ansatz der Rechtstatsachenforschung aus heutiger Sicht Röhl (1974), aus der Diskussion über „Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft“ Rottleuthner (1973); zusammenfassend zur Implementationsforschung Voigt (1990) und zur Folgenorientierung Deckert (1995), speziell zu diesem Konzept im Strafrecht Hassemer (1982). 20 21
22
Kap. 1: Einleitung: Ziel und Anlage der Arbeit
beeinflußt, betrachtet die freiheitsentziehenden Maßregeln als Sanktionen, die für eng begrenzte Fallgruppen angemessen sind. Wie jede Form der Freiheitsentziehung bedürfen sie einer verfassungsrechtlichen Legitimation, die nicht von vornherein bestritten wird. Wenn ein rechtsstaatliches Strafrecht allgemein dadurch gekennzeichnet wird, daß es fragmentarisch ist, muß dies für kriminalrechtliche Sanktionen jenseits von Schuld und Strafe um so mehr gelten: jedenfalls wenn sie mit Freiheitsentziehungen verbunden sind, dürfen sie nur in Ausnahmefällen verhängt werden. Die Untersuchung zielt darauf, diese Fallgruppen zu konkretisieren. Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile. Im Ersten Teil wird zunächst die geschichtliche Entwicklung des Maßregelrechts seit dem Ende des 18. Jahrhunderts unter der Leitfrage betrachtet, wie sich in Abgrenzung von der Strafe eigene Grundkategorien herausbilden. Kapitel 2 beschäftigt sich mit den frühesten Formen sichernder Maßregeln um 1800. Als zweite Station zeichnet Kapitel 3 die kriminalpolitische Diskussion zur Zeit des Kaiserreichs nach, in der das Konzept der Maßregeln zum ersten Mal in ausgearbeiteter Form erscheint. Das Konzept schlägt sich in dieser Zeit in Reformentwürfen nieder, die für die Schweiz, Österreich und Deutschland geschildert werden (Kapitel 4). Kapitel 5 setzt sich mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933 und seiner Anwendung bis 1945 auseinander. Das folgende Kapitel 6 skizziert mit den Strafrechtsreformen seit dem Zweiten Weltkrieg die neueren Entwicklungen des Maßregelrechts. In Kapitel 7 wird eine Zwischenbilanz zur historischen Entwicklung des Maßregelrechts gezogen. Mit dem Zweiten Teil zu der Kategorie der Gefährlichkeit im Maßregelrecht wendet sich die Arbeit den Maßregeln des geltenden Kriminalrechts zu. Er beginnt mit einem Überblick zu Voraussetzungen und Anwendungspraxis des Maßregelrechts (Kapitel 8). Das folgende Kapitel 9 geht von Gefahrbegriffen in der Alltagssprache aus und beschäftigt sich ausführlicher mit Gefahrbegriffen im strafrechtlichen Deliktsaufbau sowie im Polizeirecht, also in Rechtsgebieten, die den kriminalrechtlichen Maßregeln benachbart sind. Kapitel 10 setzt sich mit dem bisherigen theoretischen Verständnis von Gefahrbegriffen im Maßregelrecht seit der Reformdiskussion im Kaiserreich auseinander, während Kapitel 11 Voraussetzungen und Formen von Gefährlichkeitsprognosen schildert, die für die Anordnung von Maßregeln ebenso bedeutsam sind wie für ihre Vollstreckung. In Kapitel 12 wird sodann das Verhältnis des Gefährlichkeitsgrundsatzes zu den traditionellen Zielsetzungen der Besserung und Sicherung ins Auge gefaßt, deren Stellenwert für die einzelnen freiheitsentziehenden Maßregeln unterschiedlich zu bestimmen ist. Auf dieser Grundlage wird im Dritten Teil unter Einbeziehung der empirischen Forschung eine Konkretisierung des Merkmals Gefährlichkeit für die drei freiheitsentziehenden Maßregeln versucht. In Kapitel 13 wird das Gefährlichkeitsmerkmal für die psychiatrische Unterbringung nach § 63 StGB in drei normative Elemente zerlegt: den Zusammenhang von Anlaßtat und künftiger Gefahr, den Grad der Wahrscheinlichkeit weiterer Taten und die Erheblichkeit weiterer Rechtsverletzun-
Kap. 1: Einleitung: Ziel und Anlage der Arbeit
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gen. Ansatzpunkt der vorgeschlagenen Konkretisierung ist das Erheblichkeitskriterium, das in erster Linie unter Rückgriff auf die dogmatische Einordnung der Anlaßtat zu bestimmen ist. Dabei lassen sich zunächst Fallgruppen unterhalb der Erheblichkeitsschwelle ausscheiden. Für die genauere Lokalisierung dieser Schwelle sind Kriterien der Tatschwere und der (potentiellen) Schädigung von Bedeutung, die sich in den gesetzlichen Strafrahmen und der Hervorhebung von Deliktsqualifikationen niederschlagen. Für die Unterbringung zur Suchtbehandlung nach § 64 StGB wird in Kapitel 14 gezeigt, daß bereits das Merkmal des Hangs zum Konsum von Suchtmitteln im Übermaß einen ersten Filter liefert, wenn man es als Abhängigkeit im psychiatrischen Sinne interpretiert. Die Konkretisierung der Gefährlichkeit erfolgt auch bei dieser Maßregel über das Erheblichkeitskriterium. In Kapitel 15 wird für die Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB neben den formellen Voraussetzungen, die allerdings nur für einen Teil der Anwendungsfälle in Betracht kommen, zunächst der traditionell als zentral angesehene Hang zur Begehung erheblicher Straftaten ins Auge gefaßt. Dabei zeigt sich jedoch, daß dieser Begriff keinen eigenständigen Beitrag zur Konkretisierung der Anordnungsvoraussetzungen für die Sicherungsverwahrung liefern kann. Die nähere Bestimmung erfolgt daher auch bei dieser Maßregel über das Kriterium der Gefährlichkeit selbst, wobei der Gesetzestext mit seiner ausdrücklichen Bezugnahme auf zu erwartende schwere Schädigungen konkretere Vorgaben liefert als bei den beiden anderen freiheitsentziehenden Maßregeln. Nach dieser Systematisierung wendet sich der Vierte Teil dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und seinen Auswirkungen im Maßregelrecht zu. Obwohl es sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz handelt, der seit der Strafrechtsreform durch die Vorschrift des § 62 StGB für das Maßregelrecht besonders betont wird, sind seine Auswirkungen recht begrenzt, wenn man – wie im Dritten Teil vorgeschlagen – für die Konkretisierung der Anordnungsvoraussetzungen freiheitsentziehender Maßregeln das Kriterium der Gefährlichkeit heranzieht. Das wird in Kapitel 16 für die Unterbringung nach § 63 StGB ausgeführt, wobei die eingeführte Untergliederung der Verhältnismäßigkeitsprüfung in Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne herangezogen wird. Während der Grundsatz der Erforderlichkeit es gestattet, voraussichtlich ebenso wirksame Alternativen zu einer Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug zu wählen, gewinnt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erst für die Begrenzung der Vollstreckungsdauer an Bedeutung. Letzteres gilt auch für die Maßregel nach § 64 StGB (Kapitel 17), weil ihre im Gesetz vorgesehene Befristung in der Praxis von weitaus geringerer Bedeutung ist, als vielfach angenommen wird. Allerdings ist anstelle einer stationären Suchtbehandlung im Maßregelvollzug ein breiteres Spektrum von Alternativen in Betracht zu ziehen. Was die Sicherungsverwahrung (Kapitel 18) betrifft, ist auf der Ebene der Erforderlichkeit vorrangig zu prüfen, inwieweit ihre Zielsetzungen bereits durch eine Freiheitsstrafe verwirklicht werden können.
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Kap. 1: Einleitung: Ziel und Anlage der Arbeit
Der abschließende Fünfte Teil faßt den Ertrag der Untersuchung für die Auslegung des geltenden Rechts zusammen (Kapitel 19) und schließt mit einem ergänzenden kriminalpolitischen Ausblick zur Weiterentwicklung der freiheitsentziehenden Maßregeln (Kapitel 20), in dem solche Gesichtspunkte aufgegriffen werden, die nach den gefundenen Lösungen im Rahmen des geltenden Rechts keinen Platz haben.
Erster Teil
Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts Das Maßregelrecht in seiner heutigen Gestalt läßt sich ohne seinen historischen Hintergrund nicht verstehen. Ein angemessenes Verständnis dieser Sanktionen setzt voraus, daß die kriminalpolitischen Debatten und ihre Auswirkungen auf die Gesetzgebung in verschiedenen Phasen der Strafrechtsentwicklung seit der Aufklärung mitgedacht werden. Genügend Anlaß zu dieser Annahme bietet bereits die seit längerem geführte Debatte über die „Krise des Maßregelrechts“. In diesem Zusammenhang wird beispielsweise behauptet, daß „Begründung und Zielsetzung der Maßregeln seit der Jahrhundertwende im wesentlichen unverändert fortbestehen“.1 Andere verlängern die Traditionslinie noch weiter zurück bis zum Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten. Weiter fällt auf, daß Teilnehmer der gegenwärtigen Debatte immer wieder auf Argumente zurückgreifen, die bereits vor der Einführung kriminalrechtlicher Maßregeln formuliert worden sind. Eine besondere Rolle spielt dabei der meist auf die Kumulation einer Freiheitsstrafe mit der anschließenden Sicherungsverwahrung bezogene Vorwurf des „Etikettenschwindels“2, über dessen Urheber einige Verwirrung entstanden ist. Das Wort wird bis heute nicht selten Eduard Kohlrausch zugeschrieben, der sich seinerseits auf den Ludwigsburger Strafanstaltsdirektor Schwandner beruft.3 Eine Durchsicht der Berichte über die Verhandlungen der deutschen IKV-Landesgruppe zeigt, daß Schwandner dieses Stichwort zwar benutzt, aber in einem anderen Zusammenhang, nämlich bei der Differenzierung von Zuchthaus und Gefängnis als Formen der Freiheitsstrafe.4 Im Hinblick auf das Maßregelrecht wird der „Etikettenschwindel“-Vorwurf dagegen von Moritz Liepmann erhoben, der sich auf derselben Tagung folgendermaßen äußert: „Das Arbeitshaus darf nicht bleiben. Es ist reiner ,Etikettenschwindel‘. Wenn der Entwurf die ,mittlere Kriminalität‘ dem Arbeitshaus überweist, so erweckt das den Eindruck jener 1 Kaiser (1990: 3). Allerdings ist die kriminalpolitische Krisendiagnostik keineswegs auf das Maßregelrecht beschränkt; vgl. allgemeiner Jescheck (1979) einerseits, H. Schultz (1985) andererseits. 2 Darauf beziehen sich etwa Böllinger (1995: Rn. 20 zu § 61 StGB), Hanack (1991: Rn. 17 vor §§ 61 ff. StGB) und Jescheck / Weigend (1996: 87). 3 Kohlrausch (1924: 33). 4 Schwandner (1921).
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts laienhaften Vorliebe für das Arbeitshaus, die meint, hier werde besonders intensiv ,gearbeitet‘.“5
Durch seine betont pragmatische Argumentation hat Franz von Liszt solche Aussagen über Bezeichnungen von Sanktionen als „Etiketten“ vorbereitet.6 Ein drittes Beispiel für die Bedeutung historischer Gesichtspunkte liefert die Einführung der Maßregeln durch den nationalsozialistischen Gesetzgeber. Das Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933 nährt bis heute mehr oder weniger explizite Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Maßregelrechts insgesamt7, die sich noch in den strafrechtlichen Vorschriften des Einigungsvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik auswirken. Diese Erwägungen legen es nahe, in dem Ersten – geschichtlichen – Teil der Arbeit die Herausbildung und Entwicklung grundlegender Kategorien des kriminalrechtlichen Sanktionensystems zu verfolgen, die auch heute noch von Bedeutung sind. Die Fragestellung begrenzt sich auf solche gesetzlichen Regelungen, dogmatischen Begründungen und rechtspolitischen Positionen, die sich auf den Gegenstandsbereich des heutigen Maßregelrechts beziehen lassen. Dabei wird weitgehend chronologisch vorgegangen. Dargestellt wird in erster Linie die Entwicklung in Deutschland; Modelle aus anderen Ländern und Rechtsordnungen werden einbezogen, soweit die deutsche Strafrechtsreformdiskussion auf sie Bezug nimmt. Auch rechtshistorische und sozialgeschichtliche Untersuchungen oder statistische Daten zur Sanktionspraxis bei solchen Gruppen von Straftätern, die als potentielle Klientel eines Maßregelrechts erscheinen, werden nach Möglichkeit berücksichtigt. Aussagen der rechtsdogmatischen Diskussion, welche die Auslegung der Sanktionsnormen seit der Einführung kriminalrechtlicher Maßregeln prägen, werden in diesem Teil nur an einigen Stellen herangezogen; sie sind Gegenstand des Zweiten, Dritten und Vierten Teils der Arbeit.
Liepmann (1921: 67). Siehe zu seinen Formulierungen von Liszt (1893a: 72) und die Ausführungen in Kapitel 3 C. (S. 57 ff.). 7 Hierzu etwa Baur (1988: 22 ff.), Frommel (1987: 85 Fn. 115) und Vormbaum (1992); dagegen ausdrücklich Frisch (1990: 347) und Hanack (1991: Rn. 6 vor §§ 61 ff. StGB). 5 6
Kap. 2: Frühformen sichernder Maßregeln seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
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Kapitel 2
Frühformen sichernder Maßregeln seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Als frühe Ausprägung eines Sanktionensystems in Deutschland, das nicht nur eine Palette von Strafen, sondern auch individualpräventiv ausgerichtete Maßregeln umfaßt, gilt der strafrechtliche 20. Titel im II. Teil des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794.1 Nun ist diese Regelung nicht die einzige der Zeit, die neben Strafen auch Sicherungsmittel vorsieht; ähnliche Normen enthalten sowohl der Codex Bavaricus criminalis von 1751 als auch eine badische Hofratsinstruktion von 1794.2 Während allerdings solche verstreuten Ansätze in der Strafrechtswissenschaft nur vereinzelt aufgegriffen werden, spielt das Allgemeine Landrecht eine gewichtige Rolle als historischer Bezugspunkt späterer kriminalpolitischer Diskussionen.
A. Das preußische Allgemeine Landrecht Der Gedanke, daß neben die Strafe eine weitere Sanktionsform gestellt werden kann, klingt in drei Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts an. Zum einen enthält § 5 II 20 ALR eine allgemeine Vorschrift über die sogenannte „Erwerbsdetention“: „Diebe und andere Verbrecher, welche ihrer verdorbenen Neigungen wegen dem gemeinen Wesen gefährlich werden könnten, sollen, auch nach ausgestandener Strafe, des Verhafts nicht eher entlassen werden, als bis sie ausgewiesen haben, wie sie sich auf eine ehrliche Art zu ernähren im Stande sind.“3
Aus heutiger Sicht läßt sich eine solche Regelung als Sanktionsnorm lesen, die für „gefährliche“ Straftäter unabhängig vom Anlaß der Verurteilung eine weitere Freiheitsentziehung über das Strafende hinaus vorsieht.4 Die Dauer dieser weiteren Freiheitsentziehung ist unbestimmt und hängt lediglich vom Nachweis einer legalen Beschäftigung ab. In der Tat ist das Gewohnheitsverbrechergesetz mit der Einführung der Sicherungsverwahrung für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ in 1 Zu dieser These etwa Baur (1988: 13), Breitenborn (1994: 181), von Liszt (1894) und E. Schmidt (1965: 252). 2 Zu der bayerischen Kodifikation Schaffstein (1989: 509); zum badischen Recht Lenel (1913: 197 f.), der im übrigen vergleichbare Normen in den partikularen Rechten anderer deutscher Territorien vermutet. 3 Der Wortlaut der Vorschriften wird hier und im folgenden zitiert nach der Ausgabe von Hans Hattenhauer, 2. Aufl. Neuwied 1994: Luchterhand. 4 Zweifelnd zum Anwendungsbereich der Vorschrift jedoch Robert von Hippel (1889: 138).
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
der Rückschau als umfassende Verwirklichung der Gedanken Ernst Ferdinand Kleins bezeichnet worden5, der lange Zeit als Hauptverfasser des strafrechtlichen Titels angesehen wurde.6 Weiterhin finden sich in §§ 1024, 1160 II 20 ALR weitgehend identische Regelungen über eine in der strafrechtsgeschichtlichen Literatur meist als „Besserungsdetention“ bezeichnete Freiheitsentziehung für Prostituierte und rückfällige Diebe. § 1160 enthält eine spezielle Norm für den Fall des wiederholten gemeinen Diebstahls7: „Macht er [jemand, der mehrere gemeine Diebstähle begangen hat; A.D.] sich dieses Verbrechens, nach zweymaliger Verurtheilung, zum drittenmale schuldig: so soll er, nach ausgestandener Strafe, in einem Arbeitshause so lange verwahrt, und zur Arbeit angehalten werden, bis er sich bessert, und hinlänglich nachweiset, wie er künftig seinen ehrlichen Unterhalt werde verdienen können.“
Hier scheint es nicht um eine bloße Verlängerung der Freiheitsentziehung zu gehen, sondern auch um die Verlegung in eine spezialisierte Einrichtung. Zudem wird der Erwerbsnachweis ergänzt durch das Erfordernis der Besserung, dessen Status allerdings nicht ganz klar ist: schon der Nachweis einer legalen Verdienstmöglichkeit könnte – trotz der etwas abweichenden Formulierung in § 5 – als Indiz einer Besserung gelten.8 Als Sanktion für einen erneuten Rückfall nach der Entlassung statuiert § 1161 eine „lebenswierige Zuchthausstrafe“. Während die beiden zitierten Sanktionsvorschriften in Strafverfahren wegen Eigentumsdelikten auch von erheblicher praktischer Bedeutung gewesen sein sollen9, ist in den Archiven kaum Aktenmaterial aus Prostitutionsprozessen vorhanden. Die zeitgenössische Literatur schenkt der Detention Prostituierter ebenfalls kaum Aufmerksamkeit.10 Inhaltlich fordert § 1024 nicht ausdrücklich „Besserung“. Das formulierte Ziel geht nicht so weit wie bei der allgemeinen Erwerbsdetention: Verdienst im Einklang mit den Gesetzen, zumindest aber die
5 So argumentieren etwa Finger (1934: 198 f.), Hoffmann (1938: 106) und Sohm (1939: 91). Auch Baur (1988: 13) vergleicht die sichernden Maßnahmen des Allgemeinen Landrechts mit der heutigen Sicherungsverwahrung. 6 Diese Sichtweise wird in der neueren rechtshistorischen Forschung modifiziert; vgl. hierzu Kleensang (1998: 22 ff.) und Schwennicke (1995: 86 f.). 7 Die Legaldefinition findet sich in § 1121: „Ein Diebstahl, welcher ohne Anwendung einiger Gewalt, und ohne besonders erschwerende Umstände verübt worden, wird gemeiner Diebstahl genannt.“ 8 Schmid (1988: 158 ff.), der die Verwendung des Begriffs in den einige Jahre später in Kraft gesetzten Verordnungen erläutert, kommt zu dem Ergebnis, daß die damalige preußische Justiz damit vor allem Zwang und Arbeit, teilweise „härteste Abschreckungsgesichtspunkte“ verbindet. 9 Das gilt jedenfalls für ihre Anordnung durch die Gerichte; vgl. hierzu von Arnim (1803: 87). 10 Darauf weist Sohm (1939: 27) hin.
Kap. 2: Frühformen sichernder Maßregeln seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
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Gewährleistung der Aufsicht durch die „Polizeyobrigkeit des Orts“. Allerdings greift die Sanktion ein, ohne daß eine besondere Gefährlichkeit gefordert wird: „Nach ausgestandener Strafe [„dreymonatliche Zuchthausarbeit“; A.D.] sind sie [„Weibspersonen, die von der Hurerey ein Gewerbe machen, ohne sich ausdrücklich unter die besondere Aufsicht der Polizey zu begeben“; A.D.] in Arbeitshäuser abzuliefern, und daselbst so lange zu verwahren, bis sie zu einem ehrlichen Unterkommen Lust und Gelegenheit erhalten.“
Auffällig ist die Ausnahme in § 1025: „Doch sollen Personen, welche sonst die § 1023. 1024. bestimmte Strafe verwirkt haben, mit selbiger verschont werden, wenn sie ihre Schwangerschaft gehörig anzeigen, und sich bey ihrer Niederkunft vorschriftsmäßig verhalten.“
Hier ist die sanktionenrechtliche Terminologie nicht einheitlich. Sowohl die dreimonatige Zuchthausstrafe (§ 1023) als auch die Besserungsdetention (§ 1024) werden als Strafe bezeichnet. Da beide Formen der Freiheitsentziehung mit Zwangsarbeit verbunden sind, unterscheiden sie sich lediglich durch ihre bestimmte oder unbestimmte Dauer und unterschiedlich benannte Institutionen für den Vollzug. An den Normen über die Prostitution11 wird bereits deutlich, daß das Allgemeine Landrecht nicht klar zwischen dem öffentlichen Strafanspruch und dem umfassenden Eingriffsanspruch in der polizeistaatlichen Tradition des 18. Jahrhunderts trennt. Der strafrechtliche Titel enthält zahlreiche weitere präventive Bestimmungen. Sie finden sich sowohl im Einleitungsabschnitt wie im Zusammenhang mit den einzelnen Deliktstatbeständen. So beginnt der Titel mit allgemein gehaltenen Aussagen über die Verhütung von „Laster und Verbrechen“ durch „eine jede Obrigkeit, und jede(n) Vorgesetzte(n) im Volke“ (§ 1), wendet sich dann an die „Aeltern und Erzieher, Schul- und Volkslehrer“ (§ 2), um weiter zu bestimmen: „Muthwillige Bettler, Landstreicher, und Müßiggänger, müssen zur Arbeit angehalten, und wenn sie dazu unbrauchbar sind, auf eine billige Art versorgt, oder als Fremde aus dem Lande geschafft werden.“ (§ 4)
Neben den bereits zitierten Regelungen, die meist als Frühformen von Sicherungsmaßregeln verstanden werden, finden sich weitere Rechtsgrundlagen für präventive Freiheitsentziehungen, etwa gegen Stifter einer Sekte in § 223: „Wer sich aus Unwissenheit oder Schwärmerey zum Stifter einer Sekte aufwirft, deren Lehrsätze die Ehrfurcht gegen die Gottheit, den Gehorsam gegen die Gesetze, oder die Treue gegen den Staat offenbar angreifen, oder das Volk zu Lastern gerade zu verleiten: der soll in eine öffentliche Anstalt gebracht; daselbst durch Unterricht und Belehrung, oder auch, nach bewandten Umständen, durch körperliche Heilungsmittel gebessert; und nicht eher, als bis man von seiner Besserung überzeugt seyn kann, wieder entlassen werden.“ 11
Vgl. zum Zusammenhang dieser Regelungen auch Breitenborn (1994: 166 ff.).
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
Eine ein- bis dreijährige Festungs- oder Zuchthausstrafe mit anschließender Verbannung sieht § 224 nur dann vor, wenn die Sektengründung „betrüglicher Weise, und zur Befriedigung seiner Leidenschaften“ erfolgt. Noch eindeutiger wird der Zweck der Gefahrenabwehr im Abschnitt über Staatsverbrechen in § 95 herausgestellt: „Dergleichen Hochverräther werden nicht nur ihres sämmtlichen Vermögens und aller bürgerlichen Ehre verlustig; sondern tragen auch die Schuld des Unglücks ihrer Kinder, wenn der Staat, zur Abwendung künftiger Gefahren, dieselben in beständiger Gefangenschaft zu behalten, oder zu verbannen nöthig finden sollte.“
Normsätze wie dieser sind durch eine eigenartige Verquickung präventiver und repressiver Zielsetzungen gekennzeichnet. Der Gesetzestext betont einerseits die Gefahrenabwehr, die in einen Zusammenhang mit der Straftat gerückt wird. Doch ist die Sippenhaft nicht zugleich eine Strafe, die politische Delinquenten besonders hart treffen soll? Es ist kein Zufall, daß das Strafrecht des Allgemeinen Landrechts in der strafrechtlichen und rechtsgeschichtlichen Literatur besonders dafür kritisiert wird, daß es durch eine „beständige Vermischung des polizeilichen und des strafrechtlichen Standpunktes“ gekennzeichnet sei.12 Die zeitgenössische Kritik von Christian Ludwig Steltzer, der den gesamten strafrechtlichen Titel des Allgemeinen Landrechts kommentiert, unterscheidet Kriminalgesetze „reinen Inhalts“, die Regelungen über Verbrechen und Strafen treffen, von solchen „gemischten Inhalts“, die auch die „Criminalpolizey“ umfassen. Die Zuordnung des Allgemeinen Landrechts ist eindeutig: „Das neue Preußische Criminalgesetzbuch gehört zu den gemischten. Es sorgt auch für Criminalpolizey, wenigstens in so weit, als sie auf Verhütung der Verbrechen abzweckt.“13
Steltzer stellt fest, daß sich der Inhalt der Einleitung (§§ 1 – 6 II 20 ALR) ausschließlich auf „Criminalpolizey“ beziehe, und bezeichnet die allgemeine Vorschrift über die Erwerbsdetention in § 5 als unzureichendes Präventionsmittel. Es gehe eher darum zu verhüten, „daß gar kein Müssiggänger im Staat entstehe“, und hierzu seien „allenthalben Fabrikanstalten nothwendig, worin der Mensch, welcher wissenschaftlich sich nicht zu nähren weiß, anhaltende Arbeit finden kann“. „Das vorzüglichste Mittel aber, Verbrechen zu verhüten, ist gute Erziehung und Ausbildung des Menschen, besonders zureichender Unterricht aus dem Criminalgesetz selbst.“14
Eine Kommentierung der speziellen Regelungen zur „Besserungsdetention“ findet sich nicht einmal in der umfangreichen Schrift von Steltzer. Auch das Register 12 So eine Formulierung von Berner (1867: 36); in diesem Sinne auch Stellungnahmen bei von Bar (1882: 161 ff.), von Hippel (1925: 277), Nagler (1918: 378), Schild (1995: 84 ff.) und Schwennicke (1995: 98). 13 Steltzer (1795: 44 ff., 49). 14 Steltzer (1795: 87 f.). Die Auffassung, daß der Inhalt der Strafgesetze in verständlicher Form verbreitet werden sollte, wird in dieser Zeit häufig vertreten.
Kap. 2: Frühformen sichernder Maßregeln seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
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zum Allgemeinen Landrecht enthält hierzu keine Erläuterungen. Die Bedeutung der gesetzlichen Regelung von Sicherungsmitteln im Allgemeinen Landrecht wird weiter dadurch relativiert, daß sie ohne Einschränkung insgesamt wenig länger als sieben Jahre – von Juni 1794 bis Februar 1799 und noch einmal von Dezember 1848 bis Juni 1851 – lang in Kraft ist.15 Bereits 1799 werden die Rechtsfolgen der Diebstahlsdelikte durch eine Verordnung wegen Bestrafung der Diebstähle und ähnlicher Verbrechen verschärft, während die einschlägigen Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts über die Tatbestände nicht berührt werden; die Verordnung wird erst 1848 – zugunsten der ursprünglichen Regelungen des Landrechts – aufgehoben. Diese Verordnung gehört zu den zahlreichen untergesetzlichen Normen, die das Allgemeine Landrecht ergänzen und „unterhöhlen“16; sie ersetzt die Erwerbs- und Besserungsdetention in ihrem Anwendungsbereich weitgehend durch – teilweise unbestimmte – Strafen.17 Als Beispiel läßt sich der Wortlaut von § 12 der Verordnung heranziehen: „Hat ein bereits zwey- oder mehrmals wegen eines gemeinen Diebstahls Bestrafter dieses Verbrechen wiederholt, so wird nicht allein die körperliche Züchtigung vorzüglich geschärft, sondern auch auf Einsperrung in eine Besserungsanstalt auf so lange erkannt, bis die Vorgesetzte dieser Anstalt sich überzeugt haben, daß der Verbrecher durch die erlittene Strafe wirklich gebessert worden, daß er im Stande sey, sich auf eine redliche Art zu ernähren, und daß durch dessen Freylassung der öffentlichen Sicherheit nicht geschadet werde. Nur wenn dieser Fall eintritt, kann auf deshalb erstatteten Bericht der Vorgesetzten der Besserungsanstalt, das Gericht, welches das Strafurtel abgefaßt hat, die Entlassung nachgeben.“18
Hier erscheint neben der verschärften körperlichen Züchtigung die Einsperrung auf unbestimmte Zeit als Strafe; so wird sie im Gesetzestext auch ausdrücklich bezeichnet. Allerdings läßt die Formulierung erkennen, daß diese Form der unbestimmten Verurteilung im Hinblick auf das Vollzugsziel und die Entlassungsvoraussetzungen eng mit der Besserungsdetention des Allgemeinen Landrechts verwandt ist. Das geht so weit, daß Reskripte des Justizministeriums teilweise entgegen dem Wortlaut der Verordnung auf die außer Kraft gesetzten Bestimmungen des Landrechts verweisen, um die Festsetzung einer bestimmten Strafe und eine 15 Zur Gesetzgebungsgeschichte etwa Schmid (1988: 133 f.) und Sohm (1939: 33 f.); zu den ebenfalls schon 1799 einsetzenden Plänen für eine Gesamtreform des formellen und materiellen Kriminalrechts in Preußen Regge (1988). 16 So die Formulierung von Eckert (1998: 580). 17 Hierzu ausführlich von Arnim (1803: 28 ff.), der die Wirksamkeit dieser Strafrechtsänderung nachdrücklich bezweifelt, und Schmid (1988); weiterhin die Stellungnahmen von Hoffmann (1938: 100), E. Schmidt (1965: 253) und Sohm (1939: 23 ff.). Bei Vertretern der „modernen Schule“ – wie von Liszt (1894: 156), der in der Einleitung zu der Verordnung geradezu „das Glaubensbekenntnis der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung“ wiederfindet – wird diese Entwicklung als Fortschritt interpretiert; anders wohl nur Nagler (1911: 202), der auch diese Verordnung noch als Ausprägung eines zweispurigen Systems interpretiert. 18 Der Text wird zitiert nach dem Nachdruck bei Schmid (1988: 184).
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anschließende Besserungsdetention zu ermöglichen.19 Im Hinblick darauf verwundert es nicht, daß sich die Sanktionspraxis der Gerichte trotz des von späteren Beobachtern konstatierten grundsätzlichen Kurswechsels in der Dogmatik des Sanktionenrechts kaum gewandelt haben mag. So finden sich Äußerungen aus der Gerichtspraxis, denen zufolge die Maßnahmen als recht gängiges Instrument der Strafrechtspflege erscheinen.20 Charlotte Sohm findet in ihrer rechtsgeschichtlichen Studie kein einziges Urteil ohne Festsetzung einer bestimmten Strafzeit und weist darauf hin, daß die Entscheidungen immer die einschlägigen Paragraphen der Zirkularverordnung zusammen mit denen des Allgemeinen Landrechts zitieren.21 Diese Praxis dürfte mit dem Gesetzesverständnis in der Zeit des späten Naturrechts zusammenhängen, das die Normsätze des preußischen Rechts gewissermaßen als eine gemeinrechtliche Quelle neben anderen heranzieht; aus dieser Sicht ist die Frage, welche Norm zu einem bestimmten Zeitpunkt gilt, von nachrangiger Bedeutung.22 Die Epoche der Sicherungsmittel in Preußen wird erst durch das Strafgesetzbuch von 1851 beendet. Bereits hier wird deutlich, daß die Grenzlinien zwischen Sanktionen zur Sicherung vor künftigen Delikten einerseits und zur Vergeltung begangenen Unrechts andererseits nicht leicht zu ziehen sind. Präventive und repressive Zielsetzungen kriminalrechtlicher Sanktionen überlagern sich spätestens dann, wenn die Rechtsordnung für die Prävention kein spezialisiertes Instrumentarium zur Verfügung stellt.
B. Individualpräventive Theorien und ihre Kritik in der Zeit um 1800 I. Zur Dogmatik der Sicherungsmittel bei Klein und Eisenhart Der Ansatz einer Dogmatik der Sicherungsmittel bei Ernst Ferdinand Klein und Ernst Ludwig Eisenhart in den zehn Jahren nach Inkrafttreten des Allgemeinen Landrechts legt es nahe, beide als Vorläufer von Vertretern eines individualpräventiv ausgerichteten Sanktionensystems zu betrachten, wie es in der Strafrechtswissenschaft des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet und in den Strafrechtsordnungen dieses Jahrhunderts teilweise verwirklicht wird. Während des Schulenstreits in der deutschen Strafrechtswissenschaft wird Klein von beiden Seiten in Anspruch Siehe die Nachweise bei Sohm (1939: 34 f.). Die Einschätzung bei von Hippel (1889: 141), nach der die Sicherungsmittel nach 1804 „ziemlich in Vergessenheit geraten“ seien, beruht allein auf einer Betrachtung der Gesetzgebung. 21 Sohm (1939: 36); zur Praxis der Strafgerichte auch von Arnim (1803: 87) und Schmid (1988: 169). 22 Zu dieser These kommt Eckert (1998: 585 ff.) aufgrund einer Aktenanalyse zivilrechtlicher Entscheidungen des Oberappellationssenats beim Kammergericht. 19 20
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genommen, von den Anhängern einer unbestimmten Sicherungsstrafe ebenso wie von denen der „klassischen“ Schule und den Anhängern eines eigenständigen Maßregelrechts.23 Bei der Konstruktion solcher Traditionslinien läuft man allerdings Gefahr, das Strafrecht der Aufklärungszeit zu einseitig aus der Sicht der Strafrechtsdogmatik des 20. Jahrhunderts zu interpretieren. Daher empfiehlt es sich, zwischen der Strafrechtsdogmatik und einzelnen Regelungen in den Kodifikationen der Zeit zu unterscheiden. Die Strafrechtsdogmatik um 1800 setzt sich weniger mit dem positiven Recht der Kodifikationen als mit dem gemeinen Recht auseinander.24 Das gilt auch für die Stellungnahmen von Klein und Eisenhart; ihr erklärtes Ziel liegt in der Ablösung der Verdachtsstrafen, die im gemeinen Inquisitionsprozeß dann verhängt werden können, wenn der Tatvorwurf aufgrund des formalen Beweisrechts nicht nachgewiesen ist, weil es an einem Geständnis und an Tatzeugen fehlt. Nach der Abschaffung der Folter als Mittel zur Herbeiführung eines Geständnisses scheint das Bedürfnis nach einer Sanktionsmöglichkeit bei schweren Delikten, für die nach gemeinem Recht kein voller Tatnachweis zu erbringen ist, zu wachsen. Nun werden solche Strafen in den Gesetzen einiger deutscher Territorien ausdrücklich für zulässig erklärt, so etwa 1805 in Preußen.25 Ansätze zu einer Ersetzung von Verdachtsstrafen anläßlich schwerer Delikte nach überstandener Folter finden sich jedoch bereits in der Gerichtspraxis der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.26 Schon 1723 und 1727 werden an der Helmstedter Universität Fakultätsgutachten erstellt, die anstelle einer Verdachtsstrafe der Regierung eine Unterbringung in einem Zuchthaus oder einer Festung auf unbestimmte Zeit vorschlagen und meist auf Augustin Leyser zurückgeführt werden.27 Die dogmatische Entwicklung der sichernden Maßnahmen bei Klein läßt sich anhand seiner Rechtssprüche, die er an der Juristenfakultät in Halle verfaßt, verfolgen. Die Fakultät urteilt in zweiter Instanz nach gemeinem Recht, wenn ein Strafverfahren aus einem Gebiet außerhalb Preußens vorliegt. Für eine Analyse dieser Rechtsprechung kann man mehrere Fallgruppen unterscheiden.28 Zunächst finden Siehe z. B. von Liszt (1894) und Nagler (1911: 18). Vgl. Abegg (1853: 503), Berner (1867: 43) und Hoffmann (1938: 17). Steltzers (1795) Kommentierung des Allgemeinen Landrechts ist eine Ausnahme, die bisher kaum zur Kenntnis genommen wird. 25 Grundsätzlich zur Bedeutung der Verdachtsstrafen Eisenhart (1800: I 68 ff.), Kleinschrod (1797: 9 ff.), Roth (1993) und Schaffstein (1989); zu ihrer Beharrlichkeit in der Rechtsprechung nach Inkrafttreten des Allgemeinen Landrechts Schwennicke (1995: 83 ff.). Langbein (1977: 47 ff.) interpretiert diese Sanktionen als frühe Erscheinungsformen der Lehre von der freien Beweiswürdigung. 26 Siehe die Darstellungen bei Hoffmann (1938: 18 ff.), Mumme (1936: 33 ff.) und Sohm (1939: 8 ff.). 27 Schaffstein (1989: 505 f.). 28 Vgl. die differenzierte Einteilung von Hoffmann (1938: 46 ff.), die im folgenden etwas vereinfacht wird. 23 24
3 Dessecker
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sich Entscheidungen, in denen lediglich ein Teil der Tatvorwürfe nachgewiesen und im Einklang mit der früheren Rechtsprechung für die nicht erwiesenen Delikte eine Detention auf unbestimmte Zeit ausgesprochen wird. Insofern geht es um eine Ermessensentscheidung der Landesherrschaft nach Verbüßung der ordentlichen Strafe über eine weitere Freiheitsentziehung auf unbestimmte Zeit, die an die Stelle einer Verdachtsstrafe tritt. Klein verteidigt den Gedanken, daß eine Sicherung gegen „gefährliche Menschen“ auch dann erfolgen müsse, wenn nach dem geltenden Beweisrecht der Carolina mangels vollen Beweises keine ordentliche Strafe verhängt werden darf. Zweckwidrig sei jedoch eine Verhängung auf bestimmte Zeit, weil sich der Grad der Freiheitsbeschränkung nach der gegenwärtigen Gefahr von Straftaten richten müsse.29 Allerdings fällt auf, daß die Strafe für die nachgewiesenen Taten nach dem Maßstab des 18. Jahrhunderts verhältnismäßig niedrig ausfällt; es ist nicht auszuschließen, daß die Strafzumessung auch hier unter Berücksichtigung der unbestimmten Freiheitsentziehung aufgrund desselben Urteils erfolgt.30 Von dieser Linie, die noch eng an die Dogmatik der Verdachtsstrafe anknüpft, heben sich bestimmte Urteile deutlich ab. Als bemerkenswerter Einschnitt wird schon in der zeitgenössischen Literatur Kleins Entscheidung in einem Verfahren wegen Diebstahls einer „Kiste mit einer sehr ansehnlichen Summe Geldes“ aus einem Gasthaus interpretiert. Gegen den Hauptangeklagten erkennt Klein auf eine im Vergleich zur damaligen Strafzumessungspraxis relativ milde achtjährige Festungsstrafe und bestimmt zugleich, „daß Inquisit ( . . . ) nach ausgestandener Strafe nicht eher zu entlassen sey, als bis vorher sorgfältig nachgeforscht worden, ob seine Besserung für wahrscheinlich angenommen, oder derselbe unter der Aufsicht seiner Verwandten oder sonst zu einem ordentlichen und arbeitsamen Lebenswandel angehalten werden könne ( . . . ) Sollte beym Ablauf der Strafzeit seine Besserung mit Wahrscheinlichkeit nicht erhellen, und auch sonst keine andere Maaßregel zur Sicherstellung des Publici sich ergeben, so ist Inquisit in einem einheimischen Zuchthause, oder in einer andern Arbeits-Anstalt, in welcher er sich unter hinlänglicher Aufsicht befindet, so lange zu behalten, bis mit mehrerer Wahrscheinlichkeit von seiner Besserung geurtheilt werden kann.“31
Der Sanktionsausspruch wird ausführlich damit begründet, nach den Feststellungen handle es sich bei dem Angeklagten um „einen gefährlichen Menschen“, was zunächst aus seiner Lebensart als Landstreicher und herumreisender Spieler hergeleitet wird. Mindestens nach der Tat habe er ein Stilett bei sich geführt. Weiter zeige sein Körper deutliche Merkmale einer früheren schweren Züchtigung, was Klein (1798: 34 f.). Ähnlich argumentiert auch Kleinschrod (1797: 23 ff.). Klein stößt wegen der von ihm verhängten milden Strafen mehrfach auf Unverständnis; vgl. Hoffmann (1938: 54 f.). Darüber hinaus gibt es nach Inkrafttreten des Allgemeinen Landrechts eine verbreitete Kritik an den für Eigentumsdelikte vorgesehenen Strafen, die letztlich zu der Zirkularverordnung von 1799 führt. Hierzu unten S. 44. 31 Klein (1797: 4). 29 30
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auf eine Vorverurteilung hinweist, und schließlich sei es ihm während der Untersuchung bereits zweimal die Flucht gelungen. „Aus allen diesen Umständen zusammengenommen wird klar, daß sein unternehmender Geist die Gefahr verstärke, welche aus seiner schon so frühzeitig angefangenen liederlichen und verbrecherischen Lebensart für das gemeine Wesen entsteht.“32
In einer Rezension der Entscheidung, deren mutmaßlicher Verfasser niemand anderer als Paul Johann Anselm Feuerbach ist, wird vor allem das niedrige Strafmaß für einen qualifizierten großen Diebstahl kritisiert. Darauf wird festgestellt: „Hier ist ( . . . ) ein vollkommen überwiesener Verbrecher, der nach dem Gesetz bestraft und gegen den noch außer der Strafe auf ein Sicherungsmittel erkannt wird. ( . . . ) Denn da die Strafe nach dem Gesetz exequiert werden muß, um der Drohung des Gesetzes Nachdruck zu geben, so können die Strafen (Todesstrafen ausgenommen) nicht immer dem Prinzip der Sicherung gemäß seyn und den Staat vor dem Verbrecher schützen, wenn sie ihn auch dadurch, daß sie das Gesetz befriedigen, vor möglichen Verbrechen sichern. In diesem Falle bleibt daher dem Staate nichts anderes übrig, als mit dem Strafübel ein Sicherungsübel zu verbinden ( . . . ).“33
Diese Entscheidung löst sich also von der Voraussetzung, daß die Tat nicht in der vom gemeinen Strafprozeßrecht geforderten Weise „in vollem Umfang“ nachgewiesen ist. Anstelle einer von dem Rezensenten bevorzugten Todesstrafe wird eine vergleichsweise milde Freiheitsstrafe verhängt, die aber mit einer zeitlich unbestimmten Sicherungsmaßregel verbunden wird. Zusammenfassend grenzt Klein die beiden Sanktionsformen in folgender Weise voneinander ab: „Strafen sowohl, als Sicherheits-Mittel, sind Folgen des Präventionsrechts. Erstere, wenn sie im Staate verhängt wird, bezieht sich auf die Gefährlichkeit der ganzen Klasse von Handlungen, welche sie trifft, und bestimmt sich also nach allgemeinen Grundsätzen, deren Anwendbarkeit auf den einzelnen Fall nach den Umständen desselben geprüft werden muß; letztere aber ist auf die besondere Gefahr gerichtet, welche von einer gewissen Person zu besorgen ist, und es kommt dabey auch auf die Umstände an, welche nach dem Verbrechen eingetreten sind.“34
Für Klein sind demnach alle kriminalrechtlichen Sanktionen durch präventive Zwecke gekennzeichnet. Strafen zielen auf die Verhinderung aller Handlungen, die den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllen, während Sicherungsmaßregeln spezifisch auf die Verhütung von Taten einer bestimmten Person zielen, obwohl auch sie 32 Klein (1797: 14). Die genaue Begründung wird auch deshalb erforderlich, weil der Inquisit, der behauptet, 21 Jahre alt zu sein, einen falschen Paß bei sich führt und seine wahre Identität sich nicht ermitteln läßt. 33 Feuerbach (1798b: 615 f.). Diese anonym veröffentlichte Rezension, auf die Klein (1799a) erwidert, gehört zu einer Serie von Besprechungen, die Feuerbach zugeschrieben werden und bei denen es nach Haney (1993: 372) „sicher und belegbar ist, daß Feuerbach ihr Verfasser ist“. 34 Klein (1799b: 93).
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anläßlich einer begangenen Tat verhängt werden. Für die Verhängung von Sicherungsmaßregeln ist die Straftat, derentwegen die Verurteilung erfolgt, allein als Anknüpfungstatsache für Schlüsse auf künftiges Verhalten von Bedeutung: „Hierbey kommt es allein auf die Gefahr an, welche der Staat noch jetzt zu besorgen hat, und die Bosheit, welche der Verbrecher bey dem Verbrechen selbst gezeigt hat, kommt nur in so fern in Rechnung, als daraus die Gefährlichkeit seines moralischen Charakters ab genommen werden kann.“35
Von einem präventiven Bedürfnis für Sicherungsmittel als kriminalrechtlicher Sanktionsform geht auch Eisenhart aus, dessen umfangreicher Aufsatz einen von Klein und Kleinschrod als damaligen Herausgebern des „Archivs für Criminalrecht“ ausgesetzten Preis gewinnt. Nachdem er es abgelehnt hat, außerordentliche Strafen als Surrogat der vom gemeinen Recht vorausgesetzten, aber um 1800 in den meisten deutschen Territorien abgeschafften Folter anzuerkennen, und auch im Urteil eines nicht an starre Beweisregeln gebundenen Geschworenengerichts – wie im nachrevolutionären französischen Strafprozeß – keine überzeugende Lösung sieht, spricht er sich mit ähnlichen Gründen wie Klein für eine besondere Sanktionsform aus. Als Maßstab für „Sicherheitsmaaßregeln“ kommt allein die Beschaffenheit und Größe der Gefahr in Betracht, die in der Person der Verdächtigen liegt. Materiell handelt es sich auch für Eisenhart um einen Teil der „Polizeygewalt“, doch plädiert er aus praktischen Gründen für eine Zuständigkeit der „Criminalgewalt“, also der Strafgerichte.36 Unter mehreren in Frage kommenden Maßregeln dieser Art – das Spektrum, das Eisenhart erörtert, ist von vornherein sehr breit und reicht von Sicherheitsleistungen in Geld über Polizeiaufsicht und Landesverweisung bis hin zu einer Art Sicherungsverwahrung durch Freiheitsentzug – soll die mildeste verhängt werden, die den Sicherungszweck erfüllt. Diese Beurteilung ist nicht unabhängig von der Art der zu befürchtenden Delikte, die anhand der in den Akten vorhandenen Informationen über die bisherige kriminelle Belastung bestimmt werden soll. Der Gewahrsam in öffentlicher Haft als strengstes, aber wirksamstes Mittel soll nur bei Verbrechen ausgesprochen werden, durch die „entweder unmittelbar die bürgerliche Gesellschaft oder der Staat, oder solche Rechte des einzelnen Bürgers, die an sich keines Ersatzes fähig sind, verletzt oder auf eine höchst gefährliche Weise bedroht worden sind“.37
Dazu rechnet Eisenhart Delikte wie Hoch- und Landesverrat und Aufruhr, aber auch Brandstiftung, Mord, gefährlichen Diebstahl und Raub. Zudem folgt aus der präventiven Zielsetzung, daß nach der Person der Verdächtigen die Wiederholung „wenigstens ähnlicher Verbrechen“ zu befürchten sein muß. Mildere Maßregeln wie eine Sicherheitsleistung aus dem Vermögen sollen bereits bei Betrug aus „Gewinnsucht“ in Betracht kommen. 35 36 37
Klein (1799b: 84). Eisenhart (1800: II 3 ff., 17 ff., 24 ff.). Eisenhart (1800: II 41).
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Die Vollstreckungsdauer bemißt sich generell danach, wie lange eine Gefahr zu befürchten ist. Eine Höchstfrist in Anlehnung an die gesetzliche Frist für die Verfolgungsverjährung lehnt Eisenhart ab, weil sich dieses Rechtsinstitut nicht mit dem Gedanken einer präsumptiven Besserung von Straftätern begründen lasse und der Zeitablauf allein nichts über ein Nachlassen der Gefährlichkeit aussage. Im Hinblick auf die Beendigung der Vollstreckung unterscheidet er lediglich drei Fallgestaltungen: die nachträgliche Veränderung der Beweislage, mit der sich die Unschuld der Verdächtigen herausstellt; eine moralische Besserung, die sich aus Handlungen erkennen läßt; schließlich eine physische Veränderung durch Alter und Krankheit. Unterschiedliche Rechtsfolgen ergeben sich lediglich für die Art der Verpflichtung des Staates nach der Beendigung der Maßregel. Während bei nachträglich erwiesener Unschuld eine Entschädigungspflicht eintritt, ist der Staat bei moralischer Besserung nur zur Gewährleistung eines hinreichenden Unterhalts verpflichtet und kann Personen, die lediglich wegen hohen Alters oder Krankheit als nunmehr ungefährlich betrachtet werden, auf die öffentliche Armenpflege verweisen.38 Vor allem Eisenharts Ausführungen zu der ersten der drei Fallgestaltungen machen deutlich, daß er den kriminalrechtlichen Charakter der Maßregeln stärker betont, als dies die materielle Zuordnung zur „Polizeygewalt“ erwarten ließe. Denn ein schlechter Lebenswandel soll bei erwiesener Unschuld gerade nicht ausreichen; der Nachweis eines strafrechtlich relevanten Verhaltens ist Voraussetzung für eine Maßregel. Auch weist er nachdrücklich darauf hin, daß das Verteidigungsrecht gewahrt werden muß – was aus seiner Sicht jedoch nicht zu einem gerichtlichen Hinweis vor der Sanktionsentscheidung, sondern lediglich zu einer eingehenden Begründung und ihrer Mitteilung an die Verurteilten führt.39 Die naheliegende Frage nach dem Verhältnis der letztlich von der strafrechtlichen Beurteilung abhängigen Sanktion zu Maßnahmen des Polizeirechts wird allerdings nur für den Fall einer „Zerrüttung der Verstandeskräfte“ erörtert; hier werden polizeiliche Maßnahmen im Anschluß an eine mangels weiterer Gefährlichkeit nicht mehr zu vollstreckende Sicherungsmaßregel nicht ausgeschlossen.40
II. Weitere individualpräventive Ansätze um 1800 Nun sind Klein und Eisenhart in der Zeit um 1800 keineswegs die einzigen Juristen, die den Gedanken der Sicherung vor künftigen Delikten als Gegenstand des Strafrechts selbst oder doch eines mit dem Strafrecht eng verbundenen spezifischen Rechtsgebiets verfolgen.41 Individualpräventive Theorien des Strafrechts 38 39 40 41
Eisenhart (1800: II 48 ff.). Eisenhart (1800: II 56). Eisenhart (1800: II 50 ff.). Siehe hierzu etwa Henkel (1938: 722 ff.) und E. Schmidt (1965: 225 ff.).
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erleben in dieser Zeit eine erste Blüte. Sie finden sich etwa bei dem Wittenberger Strafrechtslehrer Christoph Carl Stübel, aber auch bei dem Gießener Karl Ludwig von Grolman, bei dem Würzburger Gallus Aloys Kleinschrod und dem sächsischen Strafrechtler Carl August Tittmann. Diese Autoren berufen sich auf ein von Natur aus bestehendes Schutzrecht gegen Rechtsverletzungen. Delikte werden nicht deshalb bestraft, weil ein tatbestandsmäßiger Erfolg eingetreten ist, sondern weil in der Handlung die stillschweigende Willensäußerung erblickt wird, daß weitere Verletzungshandlungen bevorstehen. Stübel drückt das so aus: „Wer mich schon verlezt hat, giebt dadurch zu erkennen, er sei dazu geneigt, und habe Gründe, die ihn dazu bewegen. So lange nun mein Verhältniss mit ihm, unverändert bleibt, und alle Umstände noch die nämlichen sind, so lange ist es nicht bloss möglich, sondern nach Unterschied der Fälle mehr oder weniger wahrscheinlich, dass er die Beleidigung wiederholen werde. Folglich bin ich auch wegen einer solchen stillschweigenden Aeusserung zur Prävention berechtiget.“42
Und an anderer Stelle bei der Einführung des Verbrechensbegriffs: „Denn wir strafen keineswegs eine verbotene Handlung deswegen, weil sie geschehen ist, sondern weil wir ihre Wiederholung zu befürchten haben, und betrachten sie also bei der Bestrafung allein als eine Drohung. Daher muss ein Verbrechen auch aus diesem Gesichtspunkte definiret werden.“43
Die Strafe erscheint aus dieser Sicht lediglich als besonderer Anwendungsfall eines von Natur aus bestehenden und durch positive Gesetze bestätigten Schutzrechts. Die Bestrafung eines Verhaltens setzt kein ausdrückliches und bestimmtes gesetzliches Verbot voraus: „Nur in so fern, als es zur Sicherstellung nothwendig wird, konnten wir behaupten, daß dem Menschen durch den Menschen rechtlich Uebel zugefügt werden dürfe. Durch dieses bedingte Erlauben hat das Sozialgesetz schon die Grenzen des Strafrechts bestimmt genug gestekt.“44
Auch Tittmann geht davon aus, daß zur Abwehr von Eingriffen „in das Rechtsgebiet“ verschiedene Zwangsrechte bestehen, die er neben die Strafe stellt. Dazu zählt ein präventives Sicherungsrecht, d. h. „das Recht, den Drohenden in seiner Freiheit dergestalt zu beschränken, daß die gedrohte Verletzung ihren Anfang gar nicht nehmen könne“, wobei er Drohung als ausdrückliche oder erkennbare Wahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung definiert. Hat der Angriff bereits begonnen, greift das Notwehrrecht ein, nach seiner Beendigung ein Recht auf Schadenswiedergutmachung.45 Während diese Unterscheidung mit Stübel und Grolman übereinstimmt, greift Tittmann zur Begründung des Sicherungsrechts weniger auf das Naturrecht als auf die gemeinrechtliche Lehre zurück; einen wichtigen Anwen42 43 44 45
Stübel (1795: § 67); eine parallele Formulierung bei Grolman (1798: 6 f.). Stübel (1795: § 194). Grolman (1798: 11). Tittmann (1806: 41 ff.).
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dungsfall sieht er gerade dort, wo ihr zufolge mangels vollen Beweises lediglich eine außerordentliche Strafe verhängt werden kann.46 Was Voraussetzungen und Formen der Sicherung betrifft, geht er nicht über Eisenhart hinaus. Immerhin entwirft Tittmann neben einem Strafgesetzbuch für Sachsen ein besonderes „Gesetz über die Sicherungsmittel gegen gefährliche Personen“.
III. Feuerbachs Kritik der Individualprävention Die Blütezeit individualpräventiver Theorien des Strafrechts beschränkt sich auf einen Zeitraum von wenigen Jahren. Diese Theorien werden vor allem von Paul Johann Anselm Feuerbach angegriffen, dessen Strafrechtstheorie des „psychologischen Zwangs“ sich schnell durchsetzt.47 Er trennt von vornherein Prävention von Strafe, die für ihn beide Formen von Zwang als „Anwendung physischer Kräfte gegen ein vernünftiges sinnliches Wesen“ sind: „Üben wir Zwang um eine uns bevorstehende Beleidigung abzuhalten, so können wir das zuvorkommende Gewalt nennen. Üben wir hingegen Gewalt, um ein physisches Übel zuzufügen, das wir in der Absicht uns vor Beleidigung zu sichern vorher angedroht haben, so ist dies Strafe.“48
Feuerbach bestreitet zunächst nicht das Recht zur Sicherung vor künftigen Rechtsverletzungen, anerkennt es aber nicht als Zweck der Strafe: „Der Beleidigte hat zwar allerdings das Recht, sich gegen den Beleidiger in Sicherheit zu setzen und ihm entweder die Lust oder die Möglichkeit zu benehmen, ferner Beleidigungen auszuüben. ( . . . ) Unstreitig muß daher der Beleidigte das Recht haben, gegen diesen erklärten Feind das Präventionsrecht auszuüben und sich durch Gefängniß, durch Bande, oder auch durch den Tod vor ihm für die Zukunft zu sichern. Allein das Recht, das der Zufügung dieses Übels zum Grunde liegt, ist weiter nichts als das Vertheidigungsrecht, in so ferne es sich durch Prävention äußert; das Übel ein Zwangsübel, aber keine Strafe. (...) Strafe setzt immer ( . . . ) eine Androhung oder ein Strafgesetz voraus; die Sicherung aber von welcher hier geredet wird, kann auch ohne und wider Strafgesetze ausgeübt werden.“49
Wenig später versucht Feuerbach in einem Aufsatz nicht nur die Unangemessenheit, sondern geradezu die logische Unmöglichkeit eines Strafrechts auf der Grundlage der Präventionstheorie nachzuweisen. Dabei wird dem Staat zunächst – insoweit in Übereinstimmung mit Grolman – durchaus das Recht zur Prävention gegen „künftige Attentate des Verbrechers“ eingeräumt.50 Die Gegenargumenta46 47 48 49 50
Tittmann (1806: 388). E. Schmidt (1965: 238); Sellert (1989: 365). Feuerbach (1797: 201, 203). Feuerbach (1797: 206 f.); ähnlich noch Feuerbach (1799: 16 ff.). Feuerbach (1798a: 8, 20).
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tion Feuerbachs beruht weitgehend auf dem Sprachgebrauch, der Strafe von Sicherung trenne. Allerdings beruft er sich dafür zunächst auf die Rechtssprache, etwa bei Grotius und Pufendorf. Ein weiterer Einwand verweist auf den Gegenbegriff zur Strafe: die Belohnung, die ebenfalls vergangenheitsorientiert sei und sich „nur auf das erworbene Verdienst“ beziehe. Drittens sei die Alltagsvorstellung einer „natürlichen Strafe“ in präventiver Hinsicht völlig unergiebig. Weiterhin weist Feuerbach darauf hin, daß es Strafen gibt, die sich mit dem Zweck der Sicherung allein nicht begründen lassen. Das belegt er mit Beispielen wie dem des erfolglosen Feldherrn, der nicht nur zur Sicherung gegen eine weitere Gefährdung des Staates abgesetzt, sondern zusätzlich noch mit dem Tod gestraft wird, und einem von Klein publizierten Kriminalfall der Tötung aus Liebe, welche strafwürdig erscheinen kann, obwohl von der Täterin kein weiteres Delikt zu befürchten ist.51 Ein zweiter Argumentationsstrang enthält den Vorwurf, daß das Präventionsrecht letztlich auf ein Gesinnungsstrafrecht hinauslaufe: „Nur durch Handlungen wird dem rechtlichen Zustande widersprochen, nur durch sie wird das Rechtsgesetz übertreten, nur durch Aeusserung der Kräfte in der äussern Sinnenwelt wird die Ordnung zerrüttet, die das Gesetz der Freyheit eingerichtet hat. Gesinnungen und Maximen liegen ganz jenseits dieser Grenzen, sie gehören in die intellectuelle Welt, und können einen Menschen wohl zu einem unmoralischen, nie aber zu einem rechtswidrigen Menschen machen ( . . . ) Wer einen Menschen blos darum zwingt, weil die Maxime desselben nicht dem Rechtsgesetze gemäß ist, der begeht einen Verrath an dem ersten Rechte der Menschheit, und handelt nicht vernünftiger, als der Tyrann, der seine Unterthanen dem Henker übergiebt, weil seine Grillen nicht ihre Gedanken sind.“52
Daß auch Feuerbachs Argumentation Schwächen aufweist, läßt sich zunächst an seinem Verständnis der prozessualen Anforderungen an eine Bestrafung zeigen. Er fordert einen vollen juristischen Beweis, ohne sich von den überkommenen Beweisregeln des gemeinen Rechts zu lösen, die er mit „der Natur aller Strafgesetze und den Normen jeder Rechtsverwaltung“ gleichsetzt.53 Selbst Fälle höchsten Tatverdachts, die nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung geeignet wären, eine gerichtliche Überzeugung von der Tat und eine Verurteilung zu begründen, reiht Feuerbach unter die Fälle nicht erwiesener Verbrechen ein, weil es an einem Geständnis und zwei unmittelbaren Tatzeugen fehlt. Ähnlich zeitgebunden sind seine Vorstellungen von der gesetzlichen Androhung der Strafe. Denkbar sind für ihn nur starre Deliktstatbestände, welche die Rechtsfolge nach Art und Dauer einer Freiheitsentziehung präzise vorschreiben. Diese Haltung ist einerseits Konsequenz eines strikt verstandenen, liberalem Rechtsdenken entspringenden Gesetzlichkeitsprinzips, andererseits aber notwendige Voraussetzung für die generalpräventive Abschreckungswirkung der Strafe im Sinne der Theorie vom psychologischen Zwang. An diesen bestimmten Strafandrohungen will Feuerbach festhalten; alles 51 52 53
Feuerbach (1798a: 12 ff., 18 f., 35). Feuerbach (1800: 26 f.). Feuerbach (1798a: 29).
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andere fällt für ihn unter die Kategorie „arbiträre Strafen“.54 Aus dieser Sicht gewinnt die These von der Unmöglichkeit eines rein präventiven Strafrechts eine gewisse Plausibilität. Denn es ist schwer vorstellbar, daß der Gesetzgeber für sämtliche graduellen Abstufungen einer Gefahr, die aus der Verwirklichung eines bestimmten Tatbestandes resultieren, jeweils ein konkretes Strafmaß fixiert. Das Fazit ist hart: „unter Voraussetzung der Präventionstheorie, (ist) die Strafgesetzgebung eine Chimäre, und ein Criminalcodex ein Luftgebäude und eitel Thorheit“.55 Wenig später geht Feuerbach so weit, bereits die Grundlage des Präventionsrechts in Frage zu stellen. Ein „Hang, eine Anlage zu Uebertretungen“ begründe nicht mehr als eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Wiederholung, und daraus ein Zwangsrecht abzuleiten, widerspreche den Grundsätzen der Gerechtigkeit. In der Konsequenz eines Präventionsrechts liege es nicht nur, bemerkt Feuerbach sarkastisch, auf die Voraussetzung eines bereits begangenen Delikts zu verzichten, sondern zu behaupten, „daß der Staat das Recht habe, alle seine verdächtigen Bürger aufzugreiffen, und sie aus Gründen der moralischen Prävention, ein wenig zu brandmarken, oder, wenn die Gefahr gar zu groß ist, ihr Leben der künftigen Sicherheit aufzuopfern“.56 Demgegenüber beharrt Grolman auf seiner Auffassung; er bezeichnet sich selbst als „eifrigen Verteidiger“ der Präventionstheorie.57 Seine Verteidigung beschränkt sich jedoch im wesentlichen auf die Wiederholung früherer Argumente. Wo er darüber hinausgeht, gelingt ihm keine Klärung. Dem Vorwurf, bloße Gesinnungen statt Handlungen unter Strafe zu stellen, begegnet er in einer Fußnote mit der knappen Aussage, „Gedanken, selbst Wünsche“ seien „noch nicht Willensbestimmungen“, ohne diesen Begriff positiv zu definieren.58 Und die Erläuterung der Frage, wie sich Gefährlichkeit feststellen ließe, erscheint schematisch und praxisfern; es sei „im Zweifel der friedlichern Meinung“ der Vorzug zu geben: „Es ist eine bekannte Wahrheit, daß der Mensch, auch bey der oberflächlichsten Reflexion, mehr Gründe in sich findet, Freund als Feind der Anderen zu seyn ( . . . ).“59
Wird diese Annahme durch „die nachherige Erfahrung“ widerlegt, so gilt folgendes: „Zwar kann er nachher wieder rechtsgemäß handeln, zwar kann er nachher wieder erklären, daß er mit andern im Rechtsverhältnisse stehen wolle; allein, dies kann keinen bewegen, jener Rechtsvermuthung aufs Neue Wirkung beyzulegen; denn die neueren rechtsFeuerbach (1800: 61 ff.). Feuerbach (1798a: 37). 56 Feuerbach (1799: 78 ff., 86 f.). 57 Zur Auseinandersetzung Grolmans und Stübels mit Feuerbach Ahrendts (1937: 40 ff., 58 ff.), Grünhut (1922: 31 ff.) und Radbruch (1934: 78 ff.). 58 Grolman (1800: 259 f. Fn.). 59 Grolman (1800: 262). 54 55
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts gemäßen Handlungen können nun weiter nichts beweisen, als daß er in diesen Fällen keine Ursache gehabt habe, unrechtlich handeln zu wollen, keineswegs aber, daß er – der willkührlich nicht stets rechtsgemäß gehandelt hatte – stets rechtsgemäß handeln wolle, und jene neuere Erklärung, – wer könnte ihr, bey der bewiesenen Wandelbarkeit seyner Gesinnungen, trauen?“60
In dieser Situation soll der „zweckmäßige Gebrauch von Präventionszwangsmitteln“ Sicherheit herstellen. Ob nach ihrer Vollstreckung wieder die ursprüngliche Vermutung konformer „Willensbestimmungen“ eingreifen soll, wird ebensowenig erläutert wie die Frage, welche Erfahrungen es sind, die diese Vermutung widerlegen können. Feuerbachs Forderung nach einer gesetzlichen Androhung der Strafe beantwortet Grolman wiederum mit sprachlichen Argumenten. Der übliche Sprachgebrauch setze „keineswegs die geschehene Androhung als ein wesentliches Merkmal des Strafübels“ voraus.61 Stübel dagegen widerruft seine Theorie bereits 1805 „gleichsam im Nebensatz“62, um sich umstandslos der konträren Auffassung Feuerbachs anzuschließen, dessen „vorzüglichen Scharfsinn“ und „überführende Gründlichkeit“ er rühmt63; das auf das Präventionsrecht bauende „System des allgemeinen Peinlichen Rechts“ führt Stübel nicht zu Ende. Grolman und Tittmann vertreten zwar auch nach Stübels Wende verschiedene Schattierungen eines Sicherungsrechts. Aber die Strafrechtsdogmatik der Zeit wird viel stärker durch das Denken Feuerbachs geprägt. Erst gegen Ende 19. Jahrhunderts findet die Vorstellung von einem besonderen Sicherungsrecht wieder größere Beachtung, wenn es darum geht, Vorläufer für Reformforderungen aus der Sicht der „modernen“ Richtung des Strafrechts namhaft zu machen. Die Durchsetzungskraft Feuerbachs gegenüber den Präventionstheorien des aufklärerischen Strafrechts wird nicht zuletzt damit erklärt, daß diese noch zu sehr an einen allmächtigen „Polizeystaat“ gebunden sind, um gegenüber dem liberalen Rechtsdenken des 19. Jahrhunderts bestehen zu können.64 Aus heutiger straftheoretischer Sicht gilt Feuerbach als Vertreter der negativen Generalprävention.65 Damit betont er einen Strafzweck, der von den individualpräventiven Ansätzen in der Strafrechtsdogmatik um 1800 nicht nur abweicht; er hat diesen Ansätzen für Jahrzehnte den Boden entzogen.
Grolman (1800: 264). Grolman (1799: 235 f.). 62 So die Formulierung von Ahrendts (1937: 59). 63 Stübel (1805: 13 f.). 64 Das ist die These von Ahrendts (1937: 62), Grünhut (1922: 59) und E. Schmidt (1965: 228, 238 ff.). 65 Jescheck / Weigend (1996: 72 f.); Maiwald (1980: 291); Roxin (1997: 48 ff.); Sellert (1989: 364). 60 61
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C. Sanktionspraxis und „Polizey“ Sowohl die Normen des Allgemeinen Landrechts als auch die Strafrechtsdogmatik des Präventionsrechts machen deutlich, daß Sicherungsmaßregeln in dieser Zeit nicht unabhängig von der Reichweite der „Polizeygewalt“ zu verstehen sind. Dies hängt damit zusammen, daß das Recht der Gefahrenabwehr noch nicht als Teilgebiet eines Besonderen Verwaltungsrechts ausdifferenziert ist, sondern daß als Gegenstand der „Polizey“ alles in Betracht kommt, was der Förderung des allgemeinen Wohlstands eines Landes und seiner Bevölkerung dient.66 Zwei Definitionen bei Johann Heinrich von Justi verdeutlichen dies: „In weitläuftigem Verstande begreifet man unter der Policey alle Maaßregeln in innerlichen Landesangelegenheiten, wodurch das allgemeine Vermögen des Staats dauerhaftiger gegründet und vermehret, die Kräfte des Staats besser gebrauchet und überhaupt die Glückseligkeit des gemeinen Wesens befördert werden kann; und in diesem Verstande sind die Commercien-Wissenschaft, die Stadt- und Landoeconomie, die Verwaltung der Bergwerke, das Forstwesen und dergleichen mehr, in so fern die Regierung ihre Vorsorge darüber nach Maaßgebung des allgemeinen Zusammenhanges der Wohlfarth des Staats eingerichtet, zu der Policey zu nehmen. ( . . . ) In engem Verstande begreift man unter der Policey alles dasjenige, was zur guten Verfassung des bürgerlichen Lebens erfordert wird, und mithin vornämlich die Erhaltung guter Zucht und Ordnung unter den Unterthanen, und die Maaßregeln, die Bequemlichkeiten des Lebens und den Wachsthum des Nahrungsstandes zu befördern.“67
Nachwirkungen der aufgeklärten „Polizeywissenschaft“ sind bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts spürbar. An diese Tradition knüpft noch Robert von Mohl an, der Polizei ausschließlich auf die Maßnahmen zur „allseitigen vernünftigen Entwicklung der Menschenkräfte“ beschränkt, während er die Vorbeugung gegen künftige Rechtsverletzungen einer systematisch eigenständigen „Präventiv-Justiz“ als Teil der Rechtspflege zuordnet.68 Das Strafrecht ist aus der Sicht der „Polizeywissenschaft“ nur ein Mittel, die öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Es ist eingebettet in ein umfassend angelegtes System aller staatlichen Einrichtungen zur Förderung des Gemeinwesens. Es verwundert nicht, daß die Erforderlichkeit von Sicherungsmitteln in der Rechtsdogmatik der Zeit trotz Feuerbachs Kritik an ihrer Zuordnung zum Strafrecht nicht grundsätzlich bestritten wird. Die Auseinandersetzungen drehen sich hauptsächlich darum, ob es sich um Sanktionen handeln soll, die von den Strafgerichten verhängt werden, oder um originäre Maßnahmen polizeirechtlicher Eingriffsverwaltung. Im66 Zur Rolle der „Polizeywissenschaft“ im aufgeklärten Absolutismus etwa Preu (1983: 91 ff.) und von Unruh (1983: 415 ff.). Foucault (1979) analysiert diesen Diskurs im Hinblick auf die Frage nach einer Form der Macht, die er „pastoral“ nennt. 67 von Justi (1782: 4). Zum Polizeibegriff Justis auch Preu (1983: 149 ff.). 68 von Mohl (1866: I 6 f., 63 ff.; III 13). Die Justiz im üblichen Sinne bezeichnet er als „wiederherstellende Rechtspflege“, die „sich wieder in die bürgerliche und die peinliche theilt“.
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merhin können in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die häufig von Gutsbesitzern ausgeübte Polizeigerichtsbarkeit aufgrund von Bagatellverstößen auch kurze Haftstrafen verhängt werden. Zudem gibt es nach dem preußischen Polizeirecht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch eine Form der Detention in Landarmen- und Arbeitshäusern, die grundsätzlich an keine Frist gebunden ist.69 Selbst die entschiedensten Anhänger kriminalrechtlicher Sicherungsmaßregeln wie Klein und Eisenhart plädieren, wie gezeigt wurde, keineswegs für eine völlige Verselbständigung vom Recht der „Polizey“. Vor allem bei Freiheitsentziehungen setzen sie sich jedoch für gerichtliche Zuständigkeiten ein.70 Die von den Gerichten verhängten individualpräventiven Sanktionen verfehlen allerdings, gleichgültig ob man sie dogmatisch als unbestimmte Freiheitsstrafen oder als Maßregeln versteht, weitgehend ihren Zweck, weil sie an den Verhältnissen in den Vollzugsanstalten vorbeigehen.71 Aussagen zur Bedeutung dieser Sanktionsformen im Preußen des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind aus dieser Sicht stark zu relativieren.72 Trotz verschiedener Reformansätze innerhalb des Gefängniswesens gibt es in dieser Zeit Zuchthäuser, Gefängnisse und Arbeitshäuser, die zum Vollzug aller Freiheitsentziehungen ohne Rücksicht auf deren rechtliche Bezeichnung dienen und über deren Überfüllung häufig geklagt wird.73 Eine Einrichtung spezialisierter „Besserungsanstalten“ gelingt zwar an einzelnen Orten; diese vollziehen aber nicht nur gerichtliche Sanktionen, sondern nehmen auch Personen auf, die durch die Polizeibehörden eingewiesen werden. Anders als die Lektüre der einschneidenden gesetzlichen Sanktionsvorschriften erwarten läßt, scheint die Dauer der Detention nur in seltenen Fällen länger als wenige Monate zu betragen. Akten und Berichte aus Zuchthäusern dieser Zeit lassen erkennen, daß die „Züchtlinge“ auf unbestimmte Zeit zahlenmäßig im Verhältnis zur Gesamtpopulation der Anstalten kaum ins Gewicht fallen.74 Dies wird schon von zeitgenössischen Autoren mit einer Entlassungspraxis in Verbindung gebracht, 69 Wie die sozialgeschichtliche Studie von Lüdtke (1982: 196 ff., 235) zeigt, kommen solche Internierungen auch bei nicht erhärtetem Verdacht eines Diebstahls vor, ohne daß die Gerichte eingeschaltet werden. 70 Zusammenfassend zu dieser Diskussion Mumme (1936: 39 ff.); einzelne Positionsbestimmungen bei Eisenhart (1800: II 32) und Klein (1798: 35). Für eine polizeiliche Zuständigkeit etwa Feuerbach (1799: 334 f.) mit dem Argument, daß Richter nur Strafen verhängen dürften, die gesetzlich bestimmt seien. 71 Klein (1805) fordert demgegenüber eine deutliche Unterscheidung von „Kriminal-Gefängnissen“ für Untersuchungsgefangene, „Straförtern“ für verurteilte Strafgefangene und besonderen „Sicherungsanstalten“. Hierzu auch Brünker (1972: 72 ff.) und Mumme (1936: 47 ff.). 72 Bemerkenswert ist, daß das Allgemeine Landrecht (§§ 1079 – 1082 II 20) es ausdrücklich untersagt, „ohne Vorwissen des Staats, Privatgefängnisse, Zucht- oder Irrenhäuser“ anzulegen. 73 Vgl. von Hippel (1925: 284) und E. Schmidt (1965: 253 ff.). 74 Sohm (1939: 44 ff.).
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die aus heutiger Sicht etwas willkürlich erscheinen mag und schlicht darauf abzielt, „sich dieser Classe von Menschen gleich nach ausgestandener Strafe zu entledigen“.75 Der für die Strafjustiz zuständige preußische Minister Albrecht Heinrich von Arnim berichtet von dem Fall eines Verurteilten, der bereits drei Tage nach Ablauf der Strafzeit als gebessert entlassen wird. Seine Umfrage bei allen Festungen, Zucht- und Arbeitshäusern Mitte des Jahres 1799 ergibt für ganz Preußen lediglich 23 Inhaftierte, die der Detention auf unbestimmte Zeit unterliegen – eine Zahl, die weit hinter seinen Erwartungen zurückbleibt.76 Gegenstand der „Polizey“ ist auch die Internierung von „Irren“.77 Aus heutiger Sicht fällt auf, daß eine Diskussion über „gefährliche Irre“ in dieser Zeit noch kaum stattfindet, jedenfalls nicht in einem strafrechtlichen Zusammenhang. Das Allgemeine Landrecht enthält unter der Überschrift „Moralität der Verbrechen“ in §§ 16 und 17 II 20 zwei Paragraphen über den Ausschluß von Strafen: „§ 16. Wer frey zu handeln unvermögend ist, bey dem findet kein Verbrechen, also auch keine Strafe statt. § 17. Unmündige und schwachsinnige Personen können zwar zu Verhütung fernerer Vergehungen gezüchtiget; niemals aber nach der Strenge der Gesetze bestraft werden.“
Sie werden ergänzt durch Vorschriften über die „Sorge für die Wahn- und Blödsinnigen“ in dem 18. Titel über „Vormundschaften und Curatelen“ (§§ 341 – 347 II 18); diese Normen dienen in Preußen bis 1931 als Rechtsgrundlagen für die stationäre Unterbringung „gefährlicher Geisteskranker“.78 Eine besondere Regelung wird jedoch in dem Abschnitt über die Majestätsbeleidigung getroffen: „§ 202. Wenn bey der Untersuchung sich findet, daß das Verbrechen der beleidigten Majestät aus Wahnsinn und Zerrüttung der Verstandskräfte begangen worden: so soll der Thäter in eine öffentliche Anstalt gebracht, und nicht eher wiederum entlassen werden, als bis man von seiner Wiederherstellung zuverlässig versichert ist.“
Auch in anderen Ländern finden sich schon in der Gesetzgebung dieser Zeit vereinzelte Vorschriften über die Unterbringung psychisch gestörter Personen im Zusammenhang mit einem Strafverfahren. So bestimmt § 23 eines sächsischen Mandats wider Tumult und Aufruhr vom 18. Januar 1791: „Wenn, zur Entschuldigung des Verbrechers, Schwaeche oder Zerruettung des Verstandes vorgeschuetzet wird, soll durch mehrere verpflichtete Aerzte, ob dergleichen wirklich vorhanden, und selbige so beschaffen sey, daß sie die Zurechnung der That ausschließe? genau untersucht werden. Daferne sich dieses wirklich findet, und die von den Aerzten deshalb angefuehrten Gruende von Unserem Sanitaets-Collegio oder einer medicinischen Facultaet Unserer Lande, von Arnim (1803: 87). von Arnim (1803: 87 f.). 77 Zu Internierungen in den Zuchthäusern der vormodernen Welt etwa Blasius (1994: 17), Dörner (1984: 185 ff.), Foucault (1961: 80 ff.) und Lorenz (1999: 338 ff.). 78 Dreyer (1910: 28); Kammeier (1996: 28, 46); Metzdorf (1930: 11 ff.). 75 76
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts deren Gutachten zuvoerderst darueber einzuholen ist, fuer hinlaenglich erachtet werden, ist nichts desto weniger der Thaeter, als eine der oeffentlichen Sicherheit gefaehrliche Person, in genaue Verwahrung zu bringen, und zu einer seinen Umstaenden und Kraeften gemaeßer Arbeit anzuhalten.“79
Obwohl diese Unterbringungsregelung im Zusammenhang mit strafverfahrensrechtlichen Bestimmungen über die Begutachtung erfolgt, ist sie wohl kaum als eigenständige strafrechtliche Sanktion zu verstehen, sondern als präventive polizeiliche Maßnahme.80 Damit vergleichbar ist ein englischer Act for the safe custody of insane persons charged with offences („Criminal Lunatics Act“) aus dem Jahr 1800, der nach einem Freispruch wegen Geisteskrankheit einen Gewahrsam auf unbestimmte Zeit ermöglicht.81 Und im Königreich Hannover besteht nach § 3 des Gesetzes, die Gefangenhaltung in polizeilichen Werkhäusern betreffend, vom 27. Juni 1838 eine Unterbringungsregelung für „diejenigen, welche aus dem Grunde mangelnder Zurechnungsfähigkeit wegen eines Verbrechens nicht haben zur Strafe verurtheilt werden können, jedoch dem Gemeinwesen gefährlich sind, wenn das erkennende Gericht Sicherungs-Maßregeln für nöthig erachtet“.82 Auch sie gilt als präventive polizeiliche Maßnahme.83 Solche Normen lassen sich insgesamt als Vorläufer der Irrengesetzgebung bezeichnen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einigen europäischen Ländern in Kraft gesetzt wird: 1821 in SachsenWeimar (mit einer Neuregelung von 1847), 1838 in Genf und Frankreich, 1841 in den Niederlanden.84 Personen, die in der Terminologie der Zeit als „Irre“ oder „Narren“ bezeichnet werden und denen ein schweres Delikt vorgeworfen wird, werden etwa in Württemberg durch Kreis- und Amtsphysici, in manchen Fällen zusätzlich durch Professoren der Medizin im Hinblick auf ihren psychischen Zustand begutachtet. Auch wenn bereits die zitierte Vorschrift des sächsischen Rechts eine ärztliche Begutachtung vorsieht, ist die Zuständigkeit der sich als Teilgebiet der Medizin 79 Zitiert nach Schröter (1994: 23). In dem mehrbändigen Wörterbuch zur kursächsischen Gesetzgebung von Schwarz (1792) wird diese Regelung nicht erwähnt. Der Artikel über die Zucht- und Armenhäuser weist jedoch darauf hin, daß dort auch „Verbrecher, und die wider sie entstandenen Verdacht nicht abzulehnen vermögen“ sowie „grobe, und statt der ihnen zuerkannten Todes- mit Zuchthausstrafe belegte Verbrecher, oder sonst gefährliche Subjekte“ aufzunehmen seien; vgl. dazu Schwarz (1792: V 199). 80 So auch Fischer (1935: 43) und von Waechter (1857: 24). 81 39 / 40 George III cap. 94. Vgl. Rixen (1921: 8 f., 44 ff.), Simon (1865: 226) und Stephen (1843: 9 f.); zur Entstehungsgeschichte Porter (1987: 116 f.). 82 Offizielle Gesetzes-Sammlung 1838 I 183; hier zitiert nach Leonhardt (1846: 356). 83 So Fischer (1935: 43) und bereits Leonhardt (1846: 356). 84 Siehe als Überblick Reuß (1888: 11 ff.) und Rittershaus (1927: 32 ff.). Einflußreich ist insbesondere das französische Gesetz von 1838; vgl. dazu Castel (1976: 202 ff.), Gourevitch (1994) und Landron (1995). Die meisten deutschen Territorien setzen bis in das Kaiserreich auf Verordnungen oder Statuten für die einzelnen Anstalten, was seit der Jahrhundertmitte zunehmend kritisiert wird; so etwa aus psychiatrischer Sicht von Pochhammer (1859) zu den Defiziten des preußischen Rechts.
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etablierenden Psychiatrie um 1800 keineswegs selbstverständlich; noch Immanuel Kant plädiert in seinen Vorlesungen über Anthropologie dafür, „die Frage: ob der Angeklagte bei seiner Tat im Besitz seines natürlichen Verstandes- und Beurteilungsvermögens gewesen sei“, „der Inkompetenz des Gerichtshofes halber ( . . . ) an die philosophische Fakultät (zu) verweisen“.85 Die absolute Zahl der Begutachtungen durch die Medizinische Fakultät der Universität Tübingen erweist sich nach den Archivbeständen, die Gegenstand einer sozialgeschichtlichen Untersuchung von Doris Kaufmann waren, als recht gering; zwischen 1760 und 1860 sind 48 Gutachten verzeichnet, davon nur sieben in der Zeit bis 1823.86 Allerdings handelt es sich um Zweitbegutachtungen in Fällen, in denen das zunächst eingeholte amtsärztliche Gutachten Anlaß für weitere Fragen der Gerichte bietet; Gutachten durch einen Amtsarzt dürften häufiger vorkommen.87 Der durch die Anfragen der Criminal-Senate gesetzte Bezugspunkt der Verantwortlichkeit für eine bereits begangene Tat wird erst bei seltenen Gelegenheiten überschritten. So konstatiert der Tübinger Mediziner Ferdinand Gmelin in manchen seiner Gutachten einen „verbrecherischen Charakter“ und verbrecherische „Neigung“. Er formuliert bereits 1837 das Ziel, die Gesellschaft zu schützen vor Menschen, „die weder Verbrecher aus wohl überlegter Absicht noch auch eigentliche Narren“ seien. Die medizinische Fakultät halte sich für verpflichtet zu bemerken, daß gerade diese Menschen „die für die bürgerliche Gesellschaft gefährlichsten Individuen sind und die Sicherung der bürgerlichen Gesellschaft gegen die nicht zu berechnenden Handlungen solcher Menschen die größte Berücksichtigung erfordert, man möchte auch die Gesinnung und Handlungsweise solcher Menschen aus was immer für einem Gesichtspunkt betrachten wollen“.88
Die „Sicherung der bürgerlichen Gesellschaft“ erfolgt um diese Zeit zunehmend durch Unterbringung in spezialisierten Irrenhäusern, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts herausbilden. Sie treten allmählich an die Stelle der traditionellen Zucht- und Arbeitshäuser, Spitäler und Armenhäuser, die unter der Kritik der Aufklärung als öffentliche Einrichtungen zur Verwahrung von Irren an Bedeutung verlieren. Irrenhausbesuche gehören geradezu zum Kanon der bürgerlichen Bildungsreise der Zeit, und nicht wenige Besucher schildern ihre Eindrücke, die von Faszination, aber auch von Betroffenheit und Schrecken geprägt sind, in Zeitschriften wie dem von Karl Philipp Moritz herausgegebenen „Magazin für Erfahrungsseelenkunde“.89 Gegen Ende des Jahrhunderts werden vergleichende Darstellungen 85 Kant (1798: 131). Ebenso der württembergische Hofmedicus Elvert (1810: 53 ff.) jedenfalls für die Beurteilung seelischer Störungen ohne „körperlichen Anlaß“. 86 D. Kaufmann (1995: 310, 325 ff.). Die Fakultät ist seit 1823 für Begutachtungen in Verfahren der Gerichtshöfe Tübingen und Ulm ausschließlich zuständig. 87 Dazu liegen veröffentlichte Fallsammlungen aus mehreren deutschen Territorien vor; zu Begutachtungen in Strafverfahren die Studie von Lorenz (1999: 255 ff.). 88 Zitate aus unveröffentlichten Gutachten nach D. Kaufmann (1995: 334). 89 Vgl. auch hierzu die Darstellung bei D. Kaufmann (1995: 111 ff.).
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
von Anstalten in mehreren europäischen Ländern veröffentlicht.90 Im Vordergrund der öffentlichen Kritik wie der administrativen Reformen stehen die Gesichtspunkte der Krankheit und der Heilungsmöglichkeiten. Ziel der neu errichteten oder reformierten „Heilanstalten“ ist in erster Linie die medizinische Behandlung von Irren, die mit den therapeutischen Methoden der Zeit erreichbar sind.91 Das historische Quellenmaterial widerlegt jedoch weitgehend die verbreitete These des unterschiedslosen sozialen Ausschlusses und einer „großen Einschließung“ der Irren in der Zeit um 1800, die vor allem im Anschluß an Michel Foucault92 vertreten wird. Trotz einiger Anstaltsgründungen bereits in der Zeit bis 1850 bleiben die Kapazitäten dieser Institutionen sehr begrenzt, wenn man sie mit den Zahlen der Irren vergleicht, die in Enquêten gezählt werden und überwiegend bei ihren Verwandten oder in Familienpflegestellen leben. Doris Kaufmann resümiert dies für Deutschland wie folgt: „Das Konzept und die erste Umsetzung der Irrenanstaltsreform bis zur Jahrhundertmitte zielte also nicht auf eine grundsätzliche Ablösung der familialen und / oder ,dorfgemeinschaftlichen‘ Unterbringung und Versorgung der Irren, sondern wollte zum einen die Gruppe der – wie uneinheitlich und ohne allgemeingültige Kriterien auch immer ärztlich ermittelten – Heilbaren erreichen und zum andern in alter Kontinuität die sogenannten für die Gesellschaft Gefährlichen auffangen.“93
Demnach lassen sich unter den Insassen der Irrenanstalten Anfang des 19. Jahrhunderts, die nun aus der Sicht der als medizinische Disziplin entstehenden Psychiatrie als psychisch krank oder psychisch gestört94 gekennzeichnet werden, zwei Gruppen unterscheiden. Bei einer Gruppe geht es darum, neue und erfolgversprechende Therapien zu finden und zu erproben, bei der zweiten geht es eher um dauerhaften Freiheitsentzug mit dem Ziel der Sicherung. Die zweite Gruppe der psychisch gestörten Personen wird von der Aufklärung nicht erst entdeckt, sondern in der Tradition des Umgangs mit Irren vorgefunden.95 Die furiosi gelten als ge90 So etwa Howard (1789) zu Gefängnissen und Spitälern in Frankreich, Italien, Deutschland, den Niederlanden, Schottland, Irland und England, Schaeffer (1794: 162 ff., 271 ff.) zu Hospitälern in Paris und London und Wagnitz (1792) zu den – in alphabetischer Reihenfolge geschilderten – deutschen Zuchthäusern. 91 Das zeigt D. Kaufmann (1995: 138 ff., 223 ff.) am Beispiel verschiedener Reformbestrebungen in Preußen und Württemberg. Zu den neuen Behandlungsmethoden, die stark von der Entwicklung in Frankreich beeinflußt war, etwa Schröter (1994: 18 f.); zur Heilanstalt Siegburg Blasius (1994: 24 ff.). 92 Siehe Foucault (1961: 71 ff.), der die Epoche schon 1656 mit der Gründung des Hôpital général in Paris beginnen läßt. Ähnlich Dörner (1984: 20 ff.) und G. Herzog (1988). 93 D. Kaufmann (1995: 191). Zu vergleichbaren Feststellungen kommen für England Porter (1987: 110 ff.) und für Frankreich Quétel (1994). 94 Beide Begriffe finden sich in der deutschsprachigen Literatur zumindest seit 1822. Vgl. die einleitenden Bemerkungen eines Pforzheimer Assistenzarztes zur Darstellung von Krankengeschichten bei D. Kaufmann (1995: 291). 95 Dörner (1984: 22) weist den Tobenden und Rasenden unter den Irren eine Sonderstellung innerhalb der „Ausgrenzung der Unvernunft“ hinter „imponierenden Anstaltsmauern“
Kap. 2: Frühformen sichernder Maßregeln seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
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fährlich für andere, aber auch als suizidgefährdet. Selbst in den Reformprojekten der Zeit wird vielfach ausdrücklich vorausgesetzt, daß es „gefährliche Irre“ gibt, die ohne Aussicht auf Heilung in geschlossenen Anstalten untergebracht werden sollen. Der Konflikt mit dem medizinischen Anspruch der Psychiatrie, der sich daraus ergibt, wird mehrfach in der Weise gelöst, daß für die Behandlung der als heilbar angesehenen psychisch Kranken die neuen oder reformierten Einrichtungen zur Verfügung gestellt werden, während die „gefährlichen Irren“ in den vorhandenen Anstalten bleiben und teilweise dort konzentriert werden. So geht man in Sachsen vor, wo das Zucht-, Waisen- und Armenhaus in Waldheim 1811 durch die Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein ergänzt wird; Waldheim fungiert in den folgenden zwei Jahrzehnten hauptsächlich als Verwahranstalt für den „Rest des Elends, die unheilbaren Irren, Epileptischen und Gebrechlichen aller Art“, nicht zuletzt für „solche Personen, die in einem Anfalle von Verrücktheit ein Verbrechen, z. B. Mord, Brandstiftung oder dgl. verübten“.96 Eine parallele Entwicklung findet in Württemberg statt, wo nach der Errichtung der Heilanstalt Winnenthal im Jahr 1834 die alte Irrenanstalt Zwiefalten hauptsächlich als Verwahrungsanstalt weiterbesteht.97
zu. Siehe auch die medizinhistorischen Darstellungen bei Fischer-Homberger (1983: 161 ff.) und Jetter (1981: 35 ff.); zur Entwicklung in Frankreich Quétel (1994), zu England Porter (1987: 110 ff.), zu Österreich Kopetzki (1995: 22 ff.). 96 Hayner (1822: 91 f.). Zusammenfassend die medizinhistorische Studie von Schröter (1994: 17 ff.). 97 Hierzu D. Kaufmann (1995: 213 ff.). Eine ähnliche Einschätzung bei Castel (1976: 70) schon zu Reformprojekten in der Zeit der französischen Revolution von 1789. 4 Dessecker
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
Kapitel 3
Positionen der Kriminalpolitik im Kaiserreich A. „Ordnungspsychiatrie“ und „irre Verbrecher“ I. Polizeirechtliche Zwangsunterbringungen Eine Entwicklung in der sozialen Kontrolle der Irren, die seit Foucaults Geschichte des Wahnsinns für viel frühere Epochen behauptet wird1, läßt sich für Deutschland in der Zeit zwischen der Reichsgründung und dem 1. Weltkrieg anhand behördlicher Statistiken nachweisen: die Ausdehnung des öffentlichen Anstaltswesens auf Kosten der noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts dominierenden Familienpflege. Im Deutschen Reich verdoppelt sich zwischen 1877 und 1904 die Anzahl der öffentlichen Anstalten2, und die Anzahl ihrer Insassen verdreifacht sich während dieses Zeitraums auf rund 112.000 Personen.3 Der Zuwachs der Anstaltsunterbringungen verläuft weit steiler als die Zunahme der Bevölkerung – eine Entwicklung, die sich für diese Zeit auch in anderen europäischen Ländern beobachten läßt.4 Besonders in Preußen findet sie vor dem Hintergrund eines Funktionswandels der Psychiatrie statt. Während sich die Psychiatrie an den Universitäten naturwissenschaftlich ausrichtet, verselbständigt sich die psychiatrische Praxis der Anstalten. Ihre Zielbestimmungen werden maßgeblich durch polizeirechtliche Regelungen gesetzt, die letztlich in allen „außerhalb der Irrenanstalten lebenden Geisteskranken“ – so der Titel eines Erlasses von 1894 – eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit sehen.5 Solche Regelungen reflektieren auch eine Psychiatrie, die von psychischen Störungen unmittelbar auf Gefahren schließt und der es letztlich gleichgültig ist, wie sich diese konkret äußern: ob in bloßen „Aufregungszuständen“, Straftaten gegen andere Personen, Unfällen oder Selbsttötungen.6 Dagegen sehen die meisten „Irrengesetze“ dieser Zeit keine freiwillige stationäre Aufnahme auf Wunsch der Patienten vor.7 Foucault (1961: 71 ff.); Dörner (1984: 20 ff.); G. Herzog (1988). Die Einrichtungen werden in dieser Zeit überwiegend als „Irrenanstalten“ oder „Irrenabteilungen“ bezeichnet. Vgl. Grunau (1905: 27). 3 Zu dieser Entwicklung Blasius (1994: 64 ff.) mit detaillierten statistischen Angaben; speziell zu Preußen auch Grunau (1905: 5 ff.). Die Entwicklung in der Provinz Westfalen behandelt ausführlich B. Walter (1996: 27 ff.). 4 Siehe zu England etwa Scull (1993: 334 ff.), zu Frankreich Gauchet / Swain (1980: 228 ff.). 5 Blasius (1994: 86 ff.). Überlagert wird der Schutz der öffentlichen Sicherheit durch das fiskalische Bestreben, Zahlungen der Armenunterstützung zu vermeiden. 6 Diese und weitere Auffälligkeiten führt Kraepelin (1900: 14 f.) an, um zu begründen, daß „eine grosse Zahl von Geisteskranken für sich oder ihre Umgebung in geringerem oder höherem Grade gefährlich werden kann“, weshalb „in der Regel Anstaltsfürsorge so schnell wie möglich einzuleiten sei“. Ähnlich bereits Falret (1868). 1 2
Kap. 3: Positionen der Kriminalpolitik im Kaiserreich
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Gewissermaßen die Kehrseite der wachsenden quantitativen Bedeutung von Zwangsunterbringungen bilden ausgedehnte Debatten über den Rechtsschutz der Betroffenen. Nach 1890 gerät das „Irrenrecht“ in eine öffentliche Diskussion, die außerhalb professioneller Zusammenhänge beginnt und die Anstaltspsychiatrie wie die Polizeibehörden in Legitimationszwang bringt.8 Dabei wird unter dem Einfluß französischer Reformentwürfe und der dort bereits bestehenden Gesetzgebung die Macht der Ärzte ebenso kritisiert wie das „rechtlose Verfahren“ nach Anstaltsreglements und Verordnungen der deutschen Einzelstaaten. 9 In der Folge entwickelt sich eine frühe Irrenrechtsbewegung, die teilweise als „antipsychiatrisch“ gebrandmarkt wird10, aber erhebliche öffentliche Resonanz findet. Eine wichtige Rolle spielt ein 1892 zuerst in der Presse veröffentlichter Aufruf, der auch von angesehenen Rechtswissenschaftlern unterzeichnet ist. Es kommt in den nächsten Jahren zu mehreren Skandalprozessen, etwa um die Ausnutzung der Lage eines entmündigten reichen Düsseldorfer Geschäftsmanns durch dessen Ehefrau und um die Mißhandlung eines suspendierten Priesters in einer Aachener Anstalt unter kirchlicher Trägerschaft.11 Im Jahr 1900 berät der 25. Deutsche Juristentag über das Thema. Die Beschlüsse empfehlen eine Trennung der Gegenstände Entmündigung und Unterbringung, betonen die Erforderlichkeit eines ausreichenden Rechtsschutzes, erklären aber eine reichsgesetzliche Regelung der Materie über das Entmündigungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs hinaus für entbehrlich.12 In der Weimarer Republik werden 1923 zwar „Grundzüge zu einem Schutzgesetz für Geisteskranke (Irrenschutzgesetz)“ des Reiches aufgestellt, an deren Ausarbeitung der Bund für Irrenrechtsreform beteiligt ist; doch wird der Entwurf unter dem Eindruck massiver Kritik zurückgezogen.13 Die Rechtsgrundlagen für Zwangsunterbringungen von Menschen mit psychischen Störungen ergeben sich im Kaiserreich und der Weimarer Republik aus dem Polizeirecht der Einzelstaaten, in Preußen etwa aus verschiedenen Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts.14 Die Praxis der Polizeibehörden entwickelt in diesem Zusammenhang bereits seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Begriff Forster (1997: 50 f.). Auch dabei handelt es sich um eine Erscheinung, die ebenso in anderen Ländern zu beobachten ist, und zwar in England und Frankreich bereits etwa 30 Jahre früher als in Deutschland und Österreich. Hierzu Forster (1997: 49 ff.). 9 Siehe Schroeder (1890) mit einem ausführlich erläuterten Gesetzentwurf. 10 So Rittershaus (1927: 23). Auch wenn sich viele der erhobenen Vorwürfe nicht bestätigen, erscheint es verfehlt, hinter ihnen nur die „Verleumdungen ( . . . ) querulierender Geisteskranker“ zu sehen, wie dies Rittershaus (1927: 7 ff.) tut. Eine abgewogenere Darstellung bei Burger (1905: 19 ff.). 11 Blasius (1980: 124 ff.). 12 Die Beratungen beruhen auf einem Gutachten von Bernhöft (1900), das aber den Gegenstand nicht erschöpfend behandelt und etwa von Vierhaus (1901) heftig kritisiert wird. 13 Rittershaus (1927: 116 ff.). 14 Siehe Kapitel 2 C. (S. 45). 7 8
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
der Gemeingefährlichkeit. Diese Voraussetzung der Unterbringung in einer „Irrenanstalt“ ist seit etwa 1830 vor allem in polizeirechtlichen Erlassen, aber auch in Anstaltsordnungen nachweisbar.15 Allerdings verschieben sich die dem Begriff zugeordneten Bedeutungen. Während frühe preußische Erlasse für die Unterbringung „gemeingefährlicher Geisteskranker“ sowohl eine Gefährdung der Öffentlichkeit als auch der eigenen Person fordern, wird die Frage der Selbstgefährdung seit 1899 unerheblich: „ ,Gemeingefährlichkeit‘ liegt schon dann vor und nur dann vor, wenn die Gesamtheit von dem Geisteskranken bedroht wird.“16
Dies wird durch die Rechtsprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichts bestätigt.17 Am Ende dieser Entwicklung wird Gemeingefährlichkeit bestimmt als Erwartung strafbarer Handlungen, wobei die Größe und Nähe der Gefahr sowie der Grad ihrer Wahrscheinlichkeit nach allgemeinen Grundsätzen des Polizeirechts unerheblich sein soll; lediglich rein „theoretische Möglichkeiten“ werden nicht mehr erfaßt.18 Die polizeiliche Sichtweise bezieht sich auf beliebige Verhaltensauffälligkeiten, die durch Kreisärzte oder Bürgermeister als Symptom einer psychischen Störung definiert werden können; dabei verschwimmt die Grenze zum Strafrecht, je mehr die Erwartung von strafrechtlich relevanten Verstößen in den Vordergrund rückt. II. „Irre Verbrecher“ Gleichwohl richtet sich besonderes Augenmerk auf die Gruppe der „irren Verbrecher“, bei denen solche Delikte nicht erst erwartet werden, sondern bereits registriert worden sind. Auf diese Gruppe entfällt etwa in einer Belegungsstatistik der rheinischen Landeskrankenhäuser von 1903 ein Anteil von immerhin 18 %, wobei Verurteilungen wegen Eigentumsdelikten sowie wegen Bettelei und Landstreicherei im Vordergrund stehen.19 Besondere Einrichtungen zur Unterbringung von Straftätern mit psychischen Störungen entstehen in Deutschland erst nach der Reichsgründung, und zwar zunächst innerhalb des Strafvollzuges. Dazu gehören beispielsweise die Irrenstation bei der Strafanstalt Waldheim in Sachsen (seit 1876) und die Irrenabteilung der Berliner Strafanstalt Moabit (seit 1888). Hinzu Metzdorf (1930: 3 ff.). Metzdorf (1930: 5). 17 Siehe etwa Preuß. OVG, Urteile vom 2. Juli 1907 (= OVGE 51, 223, 226), 12. Juni 1922 (= OVGE 77, 341, 344) und vom 16. April 1925 (= OVGE 80, 120, 122). Zusammenfassend Kammeier (1996: 45) und Metzdorf (1930: 5 ff.). 18 Preuß. OVG, Urteil vom 12. Juni 1922 (= OVGE 77, 341, 344); Friedrichs (1920: 52); Metzdorf (1930: 9 f.). 19 Angaben bei Blasius (1994: 96 f.). In der Berliner Anstalt Dalldorf steigt der Anteil der Straffälligen nach Emmerich (1989: 107 f.) bis 1903 auf 24 % der Männer und 5% der Frauen. Eine Umfrage von Borel (1904: 19 ff.) ergibt für die Schweiz dagegen lediglich einen Anteil von 8% Anstaltspatienten, die als „aliénés criminels“ bezeichnet werden. 15 16
Kap. 3: Positionen der Kriminalpolitik im Kaiserreich
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kommen besonders gesicherte „feste Häuser“ innerhalb großer Irrenanstalten wie etwa in der Berliner Anstalt Dalldorf (seit 1883), das Bewahrungshaus im rheinischen Düren (seit 1900) und das Verwahrungshaus für unsoziale Geisteskranke der Provinzial-Irrenanstalt in Göttingen (seit 1909).20 Die Frage der „irren Verbrecher“ genießt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Deutschland erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit. Bereits 1888 ist von einer „Hochflut von Schriften“ die Rede, „welche um diese Klasse der Irren wallet und siedet. Man wird versucht zu glauben, Staat und Gesellschaft, Psychiatrie und Strafproceß wären gerettet, wenn diese Frage ausgetragen!“21
In der Diskussion werden häufig zwei Gruppen unterschieden. Als „irre Verbrecher“ gelten Strafgefangene, deren psychische Störungen erst während des Aufenthalts im Strafvollzug erkannt werden. Für sie interessieren sich zunehmend nicht nur die Praktiker des Strafvollzugs, sondern auch Anstaltsärzte. Allgegenwärtig scheint allerdings die Befürchtung, „Simulanten“ mit tatsächlich psychisch gestörten Gefangenen zu verwechseln.22 Der Gruppe der „irren Verbrecher“ wird meist diejenige der „verbrecherischen Irren“ gegenübergestellt, deren Unzurechnungsfähigkeit bereits während des strafprozessualen Erkenntnisverfahrens festgestellt wird und die aus diesem Grund nicht bestraft werden. Eine differenziertere Unterteilung legt 1912 der Psychiater Gustav Aschaffenburg vor, der von „gemeingefährlichen Geisteskranken“ spricht. Er unterscheidet Beschuldigte, die aufgrund einer Hauptverhandlung wegen Zurechnungsunfähigkeit (§ 51 StGB in der ursprünglichen Fassung23) freigesprochen werden, von denjenigen, deren Verfahren bereits vor einer Anklageerhebung unter Heranziehung dieser Vorschrift eingestellt wird. Weiter erwähnt er Beschuldigte, deren Verfahren vor der Hauptverhandlung wegen Geisteskrankheit vorläufig eingestellt wird (§ 205 StPO). Neben „geisteskranken Verbrechern“ im Strafvollzug nennt er solche, bei denen die Strafvollstreckung unterbrochen wird (§ 487 StPO a.F.). Schließlich gibt es Beschuldigte, die zur Beobachtung vorübergehend aufgrund der Vorschrift des § 81 StPO in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht werden.24 Solche Typologien sind jedoch von eher heuristischem Wert. Nicht selten wird darauf hingewiesen, daß die Zuordnung zu der einen oder anderen dieser Gruppen 20 Vgl. als Übersicht Schröter (1994: 28 f.); zu Dalldorf Emmerich (1989: 107 ff.), zum „festen Haus“ in Göttingen Cramer (1910: 342 ff.). 21 Reuß (1888: 155). 22 So schon Delbrück (1854); auch Simon (1865: 255 f.) ist nicht frei von dieser Befürchtung. 23 Die Vorschrift lautet bis 1933: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“ 24 Aschaffenburg (1912a: 15 ff.).
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von Zufälligkeiten des Verfahrensgangs abhängen kann. Das gilt besonders dann, wenn strafbare Handlungen nicht zur Einleitung eines Strafverfahrens führen, sondern zu einer Unterbringung in der Psychiatrie, oder wenn Geisteskranke in einer Anstalt ihre Umgebung oder andere Personen attackieren. Die Frage der Gefährlichkeit und der Erforderlichkeit einer Sicherung gegen künftige Normverstöße sei letztlich unabhängig von dieser Zuordnung zu beantworten.25 Aschaffenburg schlägt daher vor, „als gemeingefährlichen Geisteskranken jeden Menschen anzusehen, der infolge oder während einer geistigen Störung die allgemeine Rechtssicherheit erheblich zu gefährden droht.“26
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts werden mehrere kriminalpolitische Lösungsvorschläge für den Umgang mit dieser Personengruppe diskutiert, die unterschiedliche Gesichtspunkte betonen. Gehen manche von dem Aspekt der Krankheit aus und sind eher an Therapie orientiert27, so rückt eine andere Strömung eher traditionell strafrechtliche Themen und das Ziel der Sicherung in den Vordergrund.28 Zu einer reichseinheitlichen Regelung kommt es aber erst mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933.29
B. Kriminalität und „soziale Hygiene“ Die Debatten um den richtigen Umgang mit „irren Verbrechern“ sind nicht unabhängig von einem allgemeineren Unbehagen, das etwa in einer Schrift des damals in Hamburg, später am Reichsgericht tätigen Richters Otto Mittelstädt Ausdruck findet; sie ist als grundsätzliche Kritik des strafrechtlichen Sanktionensystems seit der Reichsgründung angelegt und wendet sich vor allem gegen die zentrale Stellung der Freiheitsstrafen. Die Entwicklung des Strafrechts seit der Aufklärung schildert Mittelstädt als Verfallsgeschichte, in der abschreckende Elemente immer mehr durch das Ziel der Besserung verdrängt werden. Damit bringt er die als bedrohlich geschilderte Kriminalitätsentwicklung in Verbindung, wie sie 25 In diesem Sinne Aschaffenburg (1912a: 23), Reuß (1888: 157 ff.), Rixen (1921: 65 ff.) und Simon (1865: 253), der die Unterbringungsfrage allerdings eher unter dem Aspekt des Anspruchs auf Behandlung diskutiert. 26 Aschaffenburg (1912a: 25). 27 So Reuß (1888: 157 ff.), Rixen (1921: 84 ff.) und Simon (1865: 267 f.), die für eine Behandlung in Irrenanstalten plädieren; ähnlich Aschaffenburg (1912a: 258 ff.), der allerdings auch Abteilungen für „schwierige“ Patienten – unabhängig von strafrechtlich relevanten Verstößen – in Betracht zieht. 28 Delbrück (1854: 82 ff.) will eine Verlegung in Irrenanstalten nur in krassen Ausnahmefällen zulassen, „weil die meisten Irren in der Strafanstalt immer noch mehr Verbrecher als Irre sind“. Baer (1874: 171 ff.) plädiert bei den „irren Verbrechern“ für besondere Abteilungen innerhalb des Strafvollzugs. 29 Siehe die Darstellung in Kapitel 5 (S. 89 ff.).
Kap. 3: Positionen der Kriminalpolitik im Kaiserreich
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in den Daten der Statistik der strafgerichtlichen Verurteilungen zum Ausdruck kommt.30 Mittelstädt fordert eine grundsätzliche Abkehr vom Besserungsziel der Freiheitsstrafen, einen Strafvollzug voller Entbehrungen und Schmerzen, die Wiedereinführung von Körper- und Ehrenstrafen und die ausnahmslose Vollstreckung verhängter Todesstrafen. Neben diesen rückwärts gewandten Vorschlägen31 setzt er sich jedoch für bestimmte individualpräventive Sanktionsformen ein. Dazu zählen einerseits besondere Erziehungsanstalten für verwahrloste Jugendliche, andererseits „Arbeitshäuser, Invalidenhäuser für die offensichtlich siech und inkurabel gewordenen Delinquenten; Depots, in welchen dieselben nicht für ein oder zwei Jahre, sondern für eine unbestimmte, am Besten für ihre Lebenszeit detinirt werden.“32
Gerade diese Forderungen nach einer Form der Freiheitsentziehung auf unbestimmte Zeit sind um 1880 in der kriminalpolitischen Diskussion offenbar konsensfähig. Es fällt auf, daß die Kritiker, die Mittelstädt durch seine Forderungen zu einer Rückbesinnung auf historisch weitgehend überholte Sanktionsformen und durch seinen polemischen Stil herausfordert33, im Hinblick auf die zeitlich unbegrenzten Freiheitsentziehungen weitgehend mit ihm übereinstimmen. So schreibt der sächsische Generalstaatsanwalt und Strafrechtskommentator Friedrich Oskar von Schwarze, der das Sanktionensystem des Reichsstrafgesetzbuches gegen die Angriffe Mittelstädts im übrigen verteidigt: „Es gibt Sträflinge, auf welche die Strafvollziehung einen nachhaltigen und bessernden Einfluß niemals äußert, welche nach ihrer Entlassung sehr bald wieder in das Bettler- und Vagabondenthum zurückfallen und auf dieser Bahn zu vielen Vergehen geneigt sind, sobald sich ihnen Gelegenheit zu ihrer Verübung darbietet, und welche deshalb dem Gemeinwesen viel gefährlicher sind, als manche andere Verbrecher. Derartige Subjecte sollen in Zwangsarbeitshäuser gebracht und in ihnen so lange detinirt werden, bis sie Beweise gegeben haben, daß sie ohne Bedenken in das bürgerliche Leben und in ihre Kreise zurückkehren können.“34
Während Schwarze aus der Sicht der Strafrechtspflege argumentiert, sucht der junge Psychiater Emil Kraepelin nach einer Rechtfertigung des Strafrechts durch ein naturwissenschaftlich, d. h. darwinistisch geprägtes Verständnis der Gesellschaft. 30 Das ist ein in dieser Zeit recht verbreitetes Argument; vgl. auch von Liszt (1882: 167 f. und 1889b: 320 ff.). Kritisch dazu aus heutiger Sicht Frommel (1987: 17 f.) und Schöch (1982: 878 ff.). 31 Mittelstädt (1879: 63) ist sich dessen bewußt: „Ob der bunte Narrenhaufen unserer Fortschrittsleute darob über Reaktion zetert, ist eine verzweifelt gleichgültige Sache.“ 32 Mittelstädt (1879: 71). 33 Siehe vor allem Kraepelin (1880) und von Schwarze (1880), während von Liszt (1882: 130) nur kurz auf diese Schrift eingeht. Zusammenfassend zu dem Aufsehen, das Mittelstädt erregt, Aschrott (1891: 881 ff.). Horstkotte (1977: 329) bezeichnet Mittelstädts Buch in der Rückschau dagegen als „wenig substantielle Streitschrift“. 34 von Schwarze (1880: 47).
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts „Zunächst wird daher die Strafe von diesem Standpunkte aus einfach als Schutzmittel gegen gemeingefährliche Velleitäten zu dienen haben, insofern sie Diejenigen unschädlich macht, von deren Ausschreitungen der Gesammtheit, sei es auch nur in dem geringsten ihrer Mitglieder, ein Nachtheil droht.“35
Die Verstöße gegen gesellschaftlich notwendige Normen, die in einem so charakterisierten Strafrecht sanktioniert werden sollen, bezeichnet Kraepelin als gemeinschädliche Taten; damit erfassen will er „allerdings auch eine Reihe von Akten, die unsere heutige Strafgesetzgebung nicht in die Kategorie der Verbrechen zählt, weil sie entweder nicht mit freier Willensbestimmung oder aber nicht mit der Einsicht in die Strafbarkeit der Handlung begangen sind.“36
Die Strafe als Schutzmittel, die Kraepelin vorschlägt, ist insofern an die Individualität der Täter gebunden, als ihre Dauer sich nach dem Zeitraum bemißt, währenddessen von ihnen irgendeine Gefahr droht. Von seiner „Schutztheorie“ aus gedacht erscheint es sinnlos, das Strafmaß durch das erkennende Gericht in einer „den Bureaukraten entzückenden ,Arithmetik‘ von Strafeinheiten“ zumessen zu lassen, wenn doch die Gefahr, die von Straftätern ausgeht, sich nicht ein für allemal fixieren läßt.37 Es ist auch gleichgültig, weshalb eine Person als „gefährlich“ gilt: „Allgemeine Massregeln zur Verhütung dieser Gefahr sind demnach gegen Geisteskranke in entsprechender Weise nötig wie gegen Verbrecher oder, wenn man lieber will, wie gegen ansteckende Kranke.“38
Sein Ansatz läßt sich zwar eindeutig als deterministisch kennzeichnen. Er wendet sich aber gegen die „verzweifelte Behauptung ( . . . ), daß alle Verbrecher eigentlich als Geisteskranke zu betrachten seien“.39 Auch bei der Kennzeichnung des Verbrechens als „Krankheit des Gesellschaftskörpers“ formuliert Kraepelin keine Allzuständigkeit der Psychiatrie, sondern versucht mit diesem Vergleich nur deutlich machen, daß auch Kriminalitätsursachen wissenschaftlich zu erforschenden Gesetzmäßigkeiten folgten.40 „Allen den Schwierigkeiten, welche die Begriffsbestimmung der Zurechnungsfähigkeit und des freien Willens, wie die Anwendung dieser Begriffe auf die Praxis der herrschenden Strafrechtspflege bereitet, begegnet die von uns vertheidigte Theorie zunächst durch die einfache Maßregel der Abschaffung des Strafmaßes und die daran geknüpfte individualisierende Behandlung aller Arten gemeinschädlicher Individuen.“41
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Kraepelin (1880: 4). Kraepelin (1880: 27). Kraepelin (1880: 17). Kraepelin (1900: 1). Kraepelin (1880: 38). Kraepelin (1906: 258). Kraepelin (1880: 38).
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Gegen Besserungstheorien der Strafe, die nur konsequent verwirklicht werden müßten, hat Kraepelin ebensowenig einzuwenden wie gegen die zentrale Stellung der Freiheitsstrafen. Letztlich rechnet aber auch er mit einer Restgruppe von Gefangenen, „welche wegen ihrer perversen Charakteranlage jedem Besserungsversuche widerstehen, oder bei denen die Verwahrlosung ihres bisherigen Lebens bereits so verheerend eingewirkt hat, daß eine Wiederbelebung ihres sittlichen Bewußtseins unmöglich geworden ist.“
Da Kraepelin die von Mittelstädt immerhin ernsthaft in Betracht gezogenen, wenn nicht bevorzugten Todes- und Deportationsstrafen entschieden ablehnt, schlägt er für „schwere Gewohnheitsverbrecher“ eine lebenslange Internierung in Arbeitshäusern vor, die „einfach nach den Prinzipien einer militärischen Disziplin zu dirigieren“ seien. Zugleich seien diese Einrichtungen zu einer wirksamen Bekämpfung der „Landplage des Vagabondenthums“ geeignet.42
C. Zum „Schulenstreit“ in der deutschen Strafrechtswissenschaft I. Die Herausbildung von „Schulen“ Der Umgang mit „gefährlichen“ Devianten ist auch Gegenstand der Grundsatzdebatten in der deutschen Strafrechtswissenschaft der vergangenen Jahrhundertwende, die gemeinhin als „Schulenstreit“ bezeichnet werden, obwohl die Charakterisierung der beteiligten Vertreter unterschiedlicher Grundpositionen als „Schulen“ keineswegs unproblematisch erscheint.43 Am genauesten paßt dieses Etikett sicherlich für die „moderne“, „positive“ oder auch „soziologische“ Schule. Sie weist mit Franz von Liszt einen unbestrittenen wissenschaftlichen Lehrer auf und besitzt mit der zum Jahreswechsel 1888 / 89 gegründeten Internationalen kriminalistischen Vereinigung (IKV), in der die deutsche Landesgruppe dominiert, auch eine vergleichsweise feste Organisationsform.44 Vor allem in den frühen Jahren Kraepelin (1880: 68 ff.). Ansätze zu einer wissenschaftssoziologischen Interpretation bei Frommel (1987: 97 ff.). Das Konzept der „Schule“ ist bisher wenig systematisiert worden, obwohl es für beliebige wissenschaftliche Disziplinen in Betracht kommt und von Wissenschaftlern auch nicht selten herangezogen wird. Siehe als grundsätzlichen Beitrag über „Schulen“ in den Sozialwissenschaften Tiryakian (1979: 47 ff.), der mehrere notwendige Bedingungen für die Entstehung einer Schule angibt: geistige Leere oder geradezu Anomie durch ein vorherrschendes Paradigma, das sich überlebt hat; eine charismatische Gründerfigur, die Schüler und Kollegen um sich schart; eine institutionelle Anbindung (typischerweise an eine Universität mit hoher Reputation in einem städtischen Ballungsraum); eine Zeitschrift oder andere Medien zur Verbreitung der Lehre sowie „ein Dokument ( . . . ), das als professionelle Proklamation ihrer grundlegenden Art und Weise, die Welt zu sehen und sich auf sie zu beziehen, gelten kann“. 44 Für eine Bezeichnung als „Schule“ etwa Gretener (1911: 465); kritisch allerdings Kitzinger (1905: 22 ff.) und Nagler (1907: 8). 42 43
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
ihres Bestehens formuliert die IKV, wenn man das Programm ihrer ersten Satzung ernst nimmt, klare kriminalpolitische Zielsetzungen: die Festlegung auf die „Bekämpfung des Verbrechens“ als Strafzweck, die Heranziehung der Unterscheidung von Gelegenheits- und Gewohnheitsverbrechern als Grundlage der Strafgesetzgebung, den „Ersatz der kurzzeitigen Freiheitsstrafe durch andre Strafmittel“, die Unschädlichmachung unverbesserlicher Gewohnheitsverbrecher für möglichst lange Zeit.45 Neben den „Mitteilungen der Internationalen kriminalistischen Vereinigung“ (seit 1889), welche die wissenschaftlichen Diskussionen ihrer Versammlungen dokumentieren, enthalten Publikationsorgane wie die „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft“ (seit 1881) und die „Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform“ (seit 1904), auf deren Inhalt vor allem Liszt und Aschaffenburg als Mitherausgeber Einfluß nehmen, zahlreiche Beiträge, die aus „moderner“ Perspektive argumentieren. Zentren dieser Richtung bilden sich mit dem „kriminalistischen Seminar“ an den Universitäten, an den Liszt jeweils tätig ist: Marburg (1888), Halle (1889 – 99) und Berlin (seit 1899).46 Die Gegenpositionen zu dieser Richtung formieren sich erst in der Reaktion auf die kriminalpolitischen Vorschläge Liszts, sie gruppieren sich nicht um einen auf Dauer allgemein akzeptierten Protagonisten, und sie bilden – wenn überhaupt – erst spät eine wissenschaftliche Vereinigung ihrer Anhänger. Das Gemeinsame der – wohl zuerst von der Gegenseite und nach italienischem Vorbild47 – als „klassisch“ apostrophierten Richtung besteht in strafrechtswissenschaftlichen Grundüberzeugungen, die in den ersten Jahren nach der Reichsgründung so etabliert sind, daß sie in dieser Zeit geradezu als selbstverständlich gelten.48 Allerdings weisen die Vertreter dieser Richtung meist schon selbst darauf hin, daß aus ihren Grundüberzeugungen sehr unterschiedliche Folgerungen gezogen werden.49 Wer von diesen Vertretern eine herausgehobene Stellung einnimmt, scheint weitgehend davon abzuhängen, wer unter ihnen sich gerade am intensivsten mit den Argumenten der Gegenseite auseinandersetzt. Eine organisatorische 45 Kitzinger (1905: 7 f.); der Wortlaut der ersten Fassung der Satzung bei von Liszt (1889a), der die kriminalpolitischen Festlegungen allerdings relativiert. Zusammenfassend zur Gründungsgeschichte der IKV Aschrott (1891: 884 ff.) und Bellmann (1994: 22 ff.). 46 E. Schmidt (1969: 545 ff.). 47 R. Schmidt (1895: 41 Fn. 3). 48 Nach von Rohland (1911: 1, 3) handelt es sich schlicht um die „gegenwärtig herrschende Lehre“ oder auch „die juristische Strafrechtslehre“. Die Charakterisierung als „klassisch“ hält er wie Nagler (1907: 6 Fn. 1) für zwiespältig, weil damit die Vorstellung des „Veralteten“ verbunden werde. 49 So Nagler (1907: 8) und Oetker (1911: 84 f.); ebenso Liepmann (1908: 4 Fn. 8). R. Schmidt (1895: 41 f.) meint geradezu, die „klassische Schule“ sei „ein wesen- und körperloses Gespenst“. Oborniker (1915) demonstriert die Uneinheitlichkeit der Aussagen anhand der ausdrücklich gegen die „Lehren der modernen Schule“ gerichteten Reihe „Kritische Beiträge zur Strafrechtsreform“. Aus der Uneinheitlichkeit der Positionen folgt, daß sie sich bestimmten „Flügeln“ zuordnen lassen – und das nicht einmal restlos; siehe zur Diskussion in den 1920er Jahren Seidl (1974: 46 ff.).
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Verfestigung tritt erst im Sommer 1925, also mehrere Jahre nach Liszts Tod, mit der Gründung der Deutschen strafrechtlichen Gesellschaft ein, die sich als Reaktion „der konservativen Kriminalisten Deutschlands“ auf die vor allem mit dem Namen Gustav Radbruchs verbundenen Reformprojekte der Weimarer Republik verstehen läßt.50 Diese Gesellschaft bekennt sich in ihrer Satzung zu „der geschichtlich bewährten und verfassungsmäßig begründeten Rechtsstrafe“ und wendet sich gegen „schrankenloses richterliches Ermessen“. Daneben setzt sie sich aber für „vorbeugende Maßnahmen“ ein. Die „Zugehörigkeit zu einer anderen strafrechtlichen Vereinigung“ wird ausdrücklich nicht für unvereinbar mit einer Mitgliedschaft angesehen.51 Am umstrittensten ist schließlich die Existenz einer vermittelnden „dritten Schule“, die seit 1908 auftritt. Auch sie beruft sich auf ältere Vorbilder, bildet aber keine eigene Organisation.52
II. Liszt und die „moderne“ Richtung Selbst Franz von Liszt als Hauptvertreter der „modernen“ Richtung in Deutschland läßt sich, wenn man seine kriminalpolitischen Aussagen zum Sanktionenrecht betrachtet, nicht auf eine unveränderliche Position festlegen; vielmehr sind sie – je nach Bezugspunkt des Arguments und den aktuellen Chancen einer Strafrechtsreform – erheblichen Wandlungen unterworfen.53 In dem sogenannten „Marburger Programm“, der Abhandlung, in der Liszt einen umfassenden Versuch zur Begründung der Strafe als zweckgerichtetem Rechtsgüterschutz unternimmt, unterscheidet er drei Strafzwecke: Besserung, Abschreckung und Unschädlichmachung. Diesen Strafzwecken will er drei Kategorien von Verbrechern eindeutig zuordnen, so daß sich die bekannte Einteilung ergibt: „1) Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher; 2) Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher; 3) Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher.“54 50 R. Schmidt (1925: 1292, 1294). Die Mitgründer August Finger und Friedrich Oetker waren bis 1915 Mitglieder der IKV, aus der sie mit der Begründung austraten, durch den Ersten Weltkrieg sei „für deutsche Gelehrte die Voraussetzung der Fortführung gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit in internationalen Vereinigungen“ mit Mitgliedern aus England, Frankreich, Japan, Rußland und Serbien zerstört. Zur Diskussion um diesen öffentlichkeitswirksamen Austritt Bellmann (1994: 142 f.). 51 Vgl. die Satzung und den Bericht über die Gründungsversammlung bei Oetker (1925). 52 Die Behauptung, daß es eine dritte Schule gibt, wird zuerst von Liepmann (1908: 4) aufgestellt; er stützt sich hauptsächlich auf einen Aufsatz von Merkel (1892). Oetker (1911: 83 ff.) sieht darin keine eigenständige „Schule“, sondern nur einzelne Wissenschaftler, die sich nicht klar auf eine Seite stellen wollten. Auch R. Schmidt (1895: 4) rechnet Merkel noch zur „herrschenden Richtung der Kriminalistik“. 53 Diese Einschätzung findet sich auch bei Henkel (1938: 742). 54 von Liszt (1882: 165 f.). Zur Kritik an der kriminalpolitischen Brauchbarkeit dieser Dreiteilung Exner (1914: 89 f.). Solche Klassifikationsversuche gibt es in der täterorientier-
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
Der zuletzt genannten Kategorie, die Liszt mit dem „Gewohnheitsverbrechertum“ gleichsetzt, widmet er in seinen Ausführungen den breitesten Raum. Aus preußischen und württembergischen Statistiken über frühere Verurteilungen inhaftierter Strafgefangener schließt er, „daß unsere gegenwärtige Behandlung der Rückfälligen durchaus verkehrt und unhaltbar ist; (diese Ziffern) beweisen, daß mindestens die Hälfte aller jener Personen, welche Jahr aus, Jahr ein unsere Strafanstalten bevölkern, unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher sind.“55
Liszt hält diese Gruppe also quantitativ für höchst bedeutsam. Die kriminalpolitische Forderung, die er für sie formuliert, beruft sich unter anderem auf die Vorschläge Mittelstädts und Schwarzes: „Gegen die Unverbesserlichen muß die Gesellschaft sich schützen; und da wir köpfen und hängen nicht wollen und deportieren nicht können, so bleibt nur die Einsperrung auf Lebenszeit (bezw. auf unbestimmte Zeit).“56
Demgegenüber sind die Besserungsbedürftigen eher „Anfänger auf der Verbrecherlaufbahn“, die „durch ernste und anhaltende Zucht“ für ein bis fünf Jahre in einer Besserungsanstalt „in zahlreichen Fällen noch gerettet werden“ können. Für die Restgruppe der Gelegenheitsverbrecher sollen die bestehenden Strafrahmen ausreichen, wobei allerdings die Abstufungen der Freiheitsstrafe vereinheitlicht werden sollen. In seinem Fazit betont Liszt, daß es ihm keineswegs darum geht, die „Fundamentalsätze ( . . . ) des in den Kulturländern geltenden Strafrechtes“ umzustoßen. Vielmehr will er präventive und repressive Komponenten in der „Schutzstrafe“ als einer einheitlichen Sanktion vereinigen. „In zwei Worten läßt sich zusammenfassen, was unbedingt und sofort angestrebt werden muß. Unschädlichmachung der Unverbesserlichen, Besserung der Besserungsfähigen. Das übrige findet sich.“57
Obwohl Liszt dieses Programm später neben weiteren Schriften von Garraud, van Hamel und Prins den „wissenschaftlichen Stützpunkt“ für die Gründung der IKV nennen wird58, findet es zunächst nicht mehr Beachtung als etwa die zuvor erschienenen Schriften von Kraepelin und Mittelstädt.59 Das mag auch damit ten Strafrechtswissenschaft und Kriminologie im übrigen bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts; vgl. als Rückblick etwa Ferri (1896: 68 ff.). 55 von Liszt (1882: 168 f.). Diese Beweisführung ist methodisch fragwürdig; vgl. Schöch (1982: 878 ff.). Grundsätzlich kritisch zur Aussagekraft statistischer Daten für diese Fragestellung bereits Hoegel (1908: 2 ff.) und Nagler (1907: 27). 56 von Liszt (1882: 169). 57 von Liszt (1882: 173). 58 von Liszt (1900b: 1). 59 Erst im nachhinein wird die Marburger Abhandlung als zentrale Programmschrift Liszts erkannt, worauf bereits Frommel (1987: 42) hinweist. Eine frühe Auseinandersetzung mit dem vorgeschlagenen Strafensystem bei von Buri (1884: 177 ff.); Stellungnahmen aus heutiger Sicht etwa bei M. Baurmann (1984), Frisch (1982) und Naucke (1982).
Kap. 3: Positionen der Kriminalpolitik im Kaiserreich
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zusammenhängen, daß Liszt die juristische Darstellung des positiven Strafrechts strikt von kriminalpolitischen Forderungen trennt, zu denen sich in seinem Lehrbuch nur knappe Ausführungen in der Einleitung finden.60 Eine größere Ausdehnung erreichen die Debatten über Strafrecht und Kriminalpolitik erst um 1890. In der Auseinandersetzung mit Merkel und Mittelstädt als deterministischen Gegnern der Zweckstrafe räumt Liszt ein, daß es bei der „Bekämpfung des Verbrechens in der Person des Verbrechers“ nicht ausschließlich um die Verhängung von Strafe geht, sondern auch um „die dieser verwandten Maßregeln“. Allerdings läßt er diese Unterscheidung sogleich „auf sich beruhen“, um wenige Seiten später in einer häufig zitierten Passage seine Kompromißbereitschaft zu demonstrieren: „Ich wäre durchaus zufrieden, wenn die von uns geforderte Umgestaltung zunächst nur bezüglich der Jugendlichen und der Unverbesserlichen durchgeführt würde. Dabei soll es uns auf den Namen nicht ankommen, den man dem Kinde geben will. Das ist ja die liebenswürdigste Seite in dem Verhalten unserer Gegner, daß sie zufrieden sind, wenn die altehrwürdigen Etiketten geschont werden. ( . . . ) Zwei Jahre Gefängnis gegen den unverbesserlichen Landstreicher gestattet die ,vergeltende‘ Gerechtigkeit nicht; aber fünf Jahre des wesentlich empfindlicheren Arbeitshauses würden uns die Gegner wohl zugestehen. Laßt es uns also Sicherungsmaßregel und Arbeitshaus nennen; laßt uns nehmen, was wir bekommen können. Man mißverstehe mich nicht. Von meinem grundsätzlichen Standpunkte aus ist und bleibt diese Verquickung einer kurzen und eindruckslosen ,Strafe‘ mit einer mit einer langdauernden und einschneidenden ,korrektionellen Nachhaft‘ ein lächerlicher Widersinn. Aber wir verlangen eine Umgestaltung der Gesetzgebung, und die ist ohne Kompromisse nicht zu erzielen.“61
Worum es Liszt bei der Umgestaltung der Gesetzgebung geht, verdeutlicht ein 1896 auf einem internationalen Kongreß für Psychologie gehaltener Vortrag. Er wirft einer – im deutschen Strafrecht zwischen 1871 und 1933 nicht vorgesehenen, aber de lege ferenda ausgiebig diskutierten62 – Regelung der verminderten Zurechnungsfähigkeit, die lediglich zu einer Strafmilderung führt, aber keine langfristige „Verwahrung in einer Anstalt zur Sicherung der Gesellschaft“ ermöglicht, vor, die Sicherheit der Gesellschaft zu vernachlässigen.63 „Der Name der Anstalt tut nichts zur Sache. Ob allgemeine Irren- oder Nervenanstalt, ob Sonderanstalt für bestimmte Krankheitsformen (Asyle für Trinker, Morphinisten, Epilep60 Siehe für die zweite Auflage, die als erste ausdrücklich als Lehrbuch firmiert, von Liszt (1884: 3 ff.). 61 von Liszt (1893a: 68, 72). Eine ähnlich pragmatische Argumentation bei von Liszt (1900a: 328 und 1902: 364, 408 f.). 62 Zusammenfassend aus heutiger Sicht etwa Kammeier (1996: 48 ff.) und Kröber (2001a). 63 Als Beispiel dient der Fall einer zwölfjährigen, nach dem bis 1923 geltenden § 55 S. 1 StGB strafmündigen Mörderin mit der Diagnose „moralischer Irrsinn“; vgl. von Liszt (1896b: 223 f.).
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts tiker u.s.w.), ist gleichgültig. Nur von Strafanstalten dürfen wir nicht sprechen. Denn was wir wollen, ist Heilung der Kranken, und wenn diese nicht mehr erhofft werden kann, Verpflegung der Siechen.“64
Diese prinzipielle Argumentation zielt auf ein individualpräventives Sicherungsrecht, für das die Zurechnungsfähigkeit als Kriterium bedeutungslos geworden ist. Im Ergebnis sind die „Sicherungsstrafe gegen unverbesserliche Verbrecher“ und die „Verwahrung gemeingefährlicher Geisteskranker“ nicht mehr zu unterscheiden – so jedenfalls die „wissenschaftlichen Ergebnisse“ des Vortrags, die Liszt mit Rücksicht auf die „heute herrschenden rechtlich-sittlichen Anschauungen des Volkes“ jedoch sogleich relativiert.65 Die kriminalpolitische Hauptforderung von 1893 nimmt Liszt in seinem Gutachten zum Deutschen Juristentag 1902 wieder auf: die „erziehende Behandlung der Besserungsfähigen“ und die „Sicherung der Gesellschaft gegenüber den unverbesserlichen und gemeingefährlichen Verbrechern“. Die erste Forderung erhält nun einen besonderen Akzent, weil sie auf Verurteilte bis zum 21. Lebensjahr – in der heutigen Terminologie also auf Jugendliche und Heranwachsende – eingeschränkt wird: „Besserung, im Sinne der bürgerlichen Besserung, also der Anpassung an die Forderungen des gesellschaftlichen Lebens, dürfte ausgeschlossen sein, wenn der Verbrecher das 21. Lebensjahr bei Begehung der Tat überschritten hat.“66
Die Forderung nach einer verstärkten Sicherung wird in dieser Stellungnahme auf zwei Untergruppen der „unverbesserlichen“ – nimmt man den Zusammenhang des Textes ernst, heißt das schlicht: der erwachsenen – und „gemeingefährlichen“ Verbrecher bezogen. Einerseits geht es Liszt um eine langfristige Zuchthausstrafe für diejenigen, welche „die Begehung strafbarer Handlungen gewerbsmäßig“ betreiben. Darunter sollen etwa Bettler, Landstreicher und Taschendiebe fallen. Gleichwohl erklärt Liszt, sein Vorschlag sei im Vergleich zu ausländischen Entwürfen durchaus zurückhaltend und bereits Ausdruck seiner Bereitschaft, den „Anhängern der klassischen Richtung“ entgegenzukommen. Für konsequenter hält er es demgegenüber, wie schon früher eine „Einsperrung der Unverbesserlichen auf Lebensdauer“ zu vertreten. Die zweite Untergruppe betrifft Straftäter, deren Zurechnungsfähigkeit ausgeschlossen oder gemindert ist. Für sie will Liszt dem Strafgericht die Möglichkeit einräumen, anstelle oder nach einer Freiheitsstrafe die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt anzuordnen, „falls die öffentliche Sicherheit das erfordert.“67 In den Beratungen der deutschen Landesgruppe der IKV setzt sich Liszt allerdings wenig später dafür ein, die psychiatrische Unterbringung von Straftätern materiell- wie auch verfahrensrechtlich mit der Entmün64 65 66 67
von Liszt (1896b: 224 f.). von Liszt (1896b: 227 f.). von Liszt (1902: 393, 399 f.). von Liszt (1902: 400 ff.).
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digung zu verbinden.68 Zentrale Voraussetzung einer Unterbringung soll die „Gemeingefährlichkeit“ sein, deren Definition er für entbehrlich erklärt, zumal damit beliebige Delikte erfaßt werden sollen.
III. Gegenströmungen aus der „klassischen“ Richtung Liszt als Hauptvertreter der „modernen“ Schule in Deutschland bevorzugt es also zunächst, die Sicherung vor künftigen Delikten zum Zweck einer „Schutzstrafe“ zu erklären. Unter dem Eindruck verschiedener Kritiken geht er allerdings dazu über, konsensfähigere Lösungen anzustreben, die auf die Einführung von Maßregeln zur Ergänzung des strafrechtlichen Sanktionensystems oder auf eine gesetzliche Regelung außerhalb des Strafrechts hinauslaufen können. Auch ein solches Vorgehen kann die Verwirklichungschancen der kriminalpolitischen Vorschläge Liszts nur dann erhöhen, wenn von Seiten der konkurrierenden Richtungen keine grundsätzlichen Bedenken dagegen bestehen, präventive Gesichtspunkte überhaupt zum Gegenstand rechtlicher Sanktionen innerhalb oder außerhalb des Strafrechts zu machen. Solche grundsätzlichen Bedenken gegen Sicherung als Zweck des öffentlichen Rechts sind allerdings um die Jahrhundertwende kaum verbreitet. Das gilt zunächst für alle Vertreter der „klassischen“ Richtung, die sich zu dieser Frage äußern.69 So spricht sich Richard Schmidt nicht von vornherein gegen jede Maßregel aus, auch wenn er etwa in den Schweizer Reformberatungen eine schuldangemessene Begrenzung der Vollstreckungsdauer vermißt. Er wendet sich aber gegen eine Zuständigkeit der Strafgerichte: „Wie Civiljustiz und Verwaltungsstreit getrennt bleiben muß, so muß auch Strafjustiz und administrative Verbrechensprophylaxe scharf geschieden werden, nur freilich noch um eines höheren Interesses willen als wegen der Reinhaltung des richterlichen Amts: damit die strafende Vergeltung unbeschränkt auf das Volk wirken könne.“70
Karl von Birkmeyer, der eine Strafrechtsreform im Sinne der „modernen Richtung“ als „nationales Unglück“ betrachtet und Liszt vorwirft, vom Strafrecht nichts als „eine jämmerliche Ruine“ übrig zu lassen, formuliert als Standpunkt der „klassischen Schule“: „Wir halten eine Sicherung der Gesellschaft gegenüber gemeingefährlichen Personen überhaupt für ganz zweckmäßig und wünschenswert; wir betrachten sie nur als keine eigentlich strafrechtliche Aufgabe, sollte sie erst künftig ins Strafgesetzbuch Aufnahme finden.“ von Liszt (1904: 506). Zur Kritik Dreyer (1910: 30). Einschließlich Hoegel (1908: 91), der in bestimmten Fällen aus Zweckmäßigkeitsgründen sogar eine Entscheidung durch die Strafgerichte in Betracht zieht. Das mißversteht Henkel (1938: 760). Auch die Deutsche strafrechtliche Gesellschaft bekennt sich in ihrer Satzung von 1925 nicht nur zu „der geschichtlich bewährten und verfassungsmäßig begründeten Rechtsstrafe“, sondern auch zu vorbeugenden Maßnahmen; vgl. Oetker (1925: 321, 326). 70 R. Schmidt (1895: 294, 298). 68 69
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
Das erläutert er einige Seiten später dahingehend, daß er „selbst gegen die Aufnahme einer solchen Bestimmung ins Strafgesetzbuch grundsätzlich nichts einzuwenden hätte“.71 Immerhin kann sich auch die Forderung nach der Eingliederung präventiver Maßregeln in das Strafgesetzbuch auf eine gesetzgeberische Tradition stützen; und selbst die Vergeltungsstrafe verfolgt präventive Nebenzwecke.72 Ähnliche Positionen nehmen weitere Vertreter der „klassischen“ Seite ein. Ernst Beling skizziert die Umrisse eines selbständigen Präventionsrechts, das aus Effektivitätsgründen von gängigen materiell-strafrechtlichen und strafprozessualen Schranken losgelöst ist und nicht die Begehung einer rechtswidrigen Tat oder auch nur die Erfüllung eines gesetzlichen Tatbestands erfordert. Die Rechtsfolgen des Vergeltungs- und Präventionsrechts sollen selbständig nebeneinander stehen und kumulativ eintreten können.73 Auch Johannes Nagler, der teilweise ausdrücklich den Anspruch erhebt, für „die Klassiker“ zu sprechen, setzt sich dafür ein, Aspekte der Sicherung vor Rechtsgutsverletzungen zum Thema zu machen. Die Verbrechensprophylaxe ist für ihn ein „gesunder Kern“ der Sicherungsstrafe, mit dem sich die Strafrechtswissenschaft auseinandersetzen müsse. Wie Beling plädiert er jedoch für eine nicht-strafrechtliche Lösung mit präventiven Maßnahmen und für die Möglichkeit der Kumulation, wobei er der Strafe den Vorrang einräumt und kein Vikariieren zulassen will.74 August Schoetensack setzt sich für einen „Ausbau der Sicherungsmaßnahmen“ ein, wobei er insbesondere eine Zwangserziehung Jugendlicher (mit einem Strafmündigkeitsalter von 14 Jahren) und eine Sicherungsnachhaft für „Gewohnheitsverbrecher“ auf unbestimmte Zeit ins Auge faßt.75 Und Friedrich Oetker plädiert für eine nicht-strafrechtliche Unterbringung nach öffentlichem Recht. Er weist darauf hin, daß auch die „klassische“ Richtung Reformgedanken keineswegs abgeneigt sei, wobei es aber auf eine scharfe Abgrenzung zwischen Strafen und sichernden Maßnahmen (die er der Polizei zurechnet) ankomme.76 Gegenstand des „Schulenstreits“ ist demnach nicht die Berechtigung präventiver Maßnahmen zur Verhinderung von Straftaten oder beliebiger Normabweichungen, sondern eher ein „Antagonismus der allgemeinen Denkweisen“.77 Worin dieser prinzipielle Gegensatz in erster Linie besteht, wird von den Beteiligten allerdings nicht in einheitlicher Weise beschrieben. Die Antworten, die dazu angeboten werden, beziehen sich auf die Übertragbarkeit naturwissenschaftlicher Methoden in das Recht78, die grundsätzliche Bedeutung des Strafrechts für die Rechtsord71 72 73 74 75 76 77 78
von Birkmeyer (1907: 52, 67). von Birkmeyer (1901: 77 f.). Beling (1908: 92 ff., 122). Nagler (1907: 42) und Nagler (1911). Schoetensack (1909: 57 f.). Oetker (1911: 103). So eine Formulierung von Nagler (1907: 13). Nagler (1907: 13).
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nung79, das Postulat der Willensfreiheit als Grundlage des Strafrechts80, das Verhältnis von Taterfolg und rechtsgutsfeindlicher Gesinnung81 und die Grenzenlosigkeit einer reinen Sicherungsstrafe.82 Weitgehende Einigkeit besteht dagegen darüber, daß das Recht individualpräventive Maßnahmen vorsehen kann, die gegen zu befürchtende Straftaten gerichtet sind. Selbst ihre Regelung innerhalb des Strafgesetzbuchs ist noch überwiegend konsensfähig. Die Frage nach der Rechtsnatur dieser Maßnahmen wird als nachrangig behandelt.
IV. „Naturalistische“ Gegenströmungen Es ist deshalb kein Zufall, daß Liszt die Hauptgegner seiner Forderungen anderswo vermutet: „Nicht in den Anhängern der klassischen Schule, nicht in jenen, die festhalten wollen an den bestehenden Ansichten, haben wir die gefährlichsten Gegner, sondern in den radikalen Naturalisten, die an die Möglichkeit der Erziehung des Menschen nicht glauben.“83
Er anerkennt die Berechtigung kriminalanthropologischer Forschungen, weil diese zutreffend an den Gedanken der Vererbung, eine „heute weit verbreitete Lebensauffassung“, anknüpften; unzureichend sei jedoch die vollkommene Ausblendung sozialer Faktoren. Aus diesem Grund setzt sich Liszt von vornherein für die Verbindung täterbezogener und kriminalsoziologischer Untersuchungen ein.84 Er wendet sich aber gegen diejenigen Kritiker des Vergeltungsstrafrechts, die das Strafrecht durch ein reines Präventionsrecht ersetzen wollen. Solche Positionen sind auf internationaler Ebene wie auch in Deutschland im letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht ohne Einfluß; ihre Vertreter sind jedoch zumindest im deutschsprachigen Raum klar in der Minderheit. Die nähere Betrachtung zeigt zudem, daß traditionelle Elemente strafrechtlicher Sanktionen auch in diesem Kontext keineswegs bedeutungslos sind.85 Einer der wichtigsten Vertreter der positivistischen Strafrechtstheorie in Italien, Enrico Ferri, skizziert beispielsweise ein von der Schuld der handelnden Personen unabhängiges „System der socialen Repression“, mit dem er auch die juristische Unter79 von Birkmeyer (1907: 92 f.) und Oetker (1925: 330). Dem entspricht die heutige Einschätzung von Kubink (2002: 75 ff.), nach der es letztlich um unterschiedliche Staatsauffassungen geht. 80 Gretener (1909: 9 ff.) und Nagler (1907: 20 ff.); dagegen ausdrücklich Liepmann (1908: 7 ff.). 81 So von Birkmeyer (1909: 58 ff.) und Oetker (1911: 19 ff.); in der Rückschau auch Krüger (1935: 110 f.). 82 Nagler (1907: 31 ff.), Oetker (1925: 324 ff.) und von Rohland (1911: 38 ff.). 83 von Liszt (1893c: 11 f.). 84 Siehe dazu bereits von Liszt (1882: 178) und besonders von Liszt (1889b: 296 ff.). 85 Darauf weist schon Gretener (1909: 112 f.) hin.
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scheidung von Straf- und Zivilrecht überwinden möchte.86 Die Freiheitsstrafe will er als unbestimmte „Maßregel der Repression“ ausgestalten; sie wird ergänzt durch teils aus dem Polizeirecht übernommene, teils eher sozialstaatlich angelegte „Maßregeln der Vorbeugung“, durch „Maßregeln der Wiederherstellung“ – etwa die Schadenswiedergutmachung – und nicht zuletzt durch „Aussonderungsmaßregeln“, zu denen er sowohl die Unterbringung in einer „Anstalt für irre Verbrecher“ als auch Deportation und Todesstrafe zählt. Auch die Kriterien für die Verhängung dieser Sanktionen lösen sich nicht völlig vom Strafrecht. Zwar geht Ferri im Anschluß an Garofalo davon aus, daß die Sanktionswahl von Gefährlichkeit und Anpassungsfähigkeit eines Täters an die soziale Umwelt abhänge.87 Solche täterbezogenen Aspekte stehen aber nicht isoliert; daneben ist die „mehr oder weniger antisociale ( . . . ) Beschaffenheit der That“ von Bedeutung.88 Daraus ergibt sich für die Sanktionsbemessung eine Wahrscheinlichkeitsskala „bis hinunter zu den niedrigsten Stufen bloßer Möglichkeit“, da eine erneute Straffälligkeit nie als völlig ausgeschlossen gelten kann.89 In seinem Teilentwurf eines italienischen Strafgesetzbuches von 1921 geht Ferri so weit, einen abschließenden Katalog von 25 Kriterien der Persönlichkeit, der Motive, von Art und Schwere der Tat sowie des Verhaltens nach der Tat vorzulegen, die als Anhaltspunkte größerer oder geringerer Gefährlichkeit in Betracht kommen sollen.90 Eine Art „Schutztheorie“ vertritt auch der deutsche Psychiater Gustav Aschaffenburg, und zwar zunächst im Hinblick auf Delikte „gemeingefährlicher Geisteskranker“: „Die menschliche Gesellschaft hat ein Recht auf Schutz gegen die Angriffe gefährlicher Menschen. Und dieses Recht kann nicht dadurch beeinträchtigt werden, daß der Angreifer wegen seiner bestehenden Krankheit vor allem unser Mitleid und unsere ärztliche Fürsorge verlangt.“91
Aschaffenburg verallgemeinert diesen Gedanken in seinem Lehrbuch der Kriminalpsychologie und wendet ihn auf das Strafrecht insgesamt an. In diesem Zusammenhang wendet er sich sowohl gegen Vergeltungstheorien der Strafe als auch gegen Abschreckung. Die Argumentation läuft aber nicht auf einen „radikalen Naturalismus“ im Sinne Liszts hinaus, sondern lediglich auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem damaligen Sanktionenrecht, wie sie auch sonst in der Reformdiskussion zu finden ist.92 Vgl. zum folgenden Ferri (1896: 327 ff.). Zusammenfassend Garofalo (1905: 219 ff.). 88 Ferri (1896: 341). 89 Daniel (1927: 29). 90 Es ist klar, daß eine solche Kasuistik die Kritik herausfordern muß. Aus der deutschen Literatur recht moderat Daniel (1927: 31 ff.), scharf ablehnend dagegen Ebermayer (1923: 78, 110 f.). 91 Aschaffenburg (1912a: 194). 92 Aschaffenburg (1923: 295 ff.). 86 87
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Ein gewisser sozialdarwinistisch geprägter „Naturalismus“ im Sinne einer Übernahme von Positionen Garofalos und Lombrosos für die Kriminalpolitik findet sich bei dem Schweizer Strafrechtslehrer Emil Zürcher. Da er seine Sichtweise nicht umfassend ausarbeitet, ist man insoweit allerdings auf verstreute Aussagen angewiesen, die zudem nur zum Teil veröffentlicht sind. In einem populär gehaltenen Vortrag versucht er zu begründen, daß die italienische Kriminalanthropologie geeignet ist, Strafrecht und Straferwartungen der Bevölkerung in Einklang zu bringen: „Ein rauher Ernst geht ( . . . ) durch diese Richtung, der Ernst, den Kampf mit dem Verbrechen kräftig, ja rücksichtslos durchzuführen, und sie dürfte das Volk recht rasch auf ihre Seite bekommen.“93
Eine wichtige Folgerung ist für ihn der Verzicht auf die Kategorie der Zurechnungsfähigkeit, die Zürcher als historisch überholt darstellt: „Jede böse That wird vielmehr ( . . . ) angesehen als Wahrzeichen, Symptom, einer moralischen Verdorbenheit, der Gefährlichkeit des Verbrechers, und nicht nach der äusseren That, sondern nach der Gefährlichkeit des Thäters sollen sich die Vertheidigungsmassregeln der Gesellschaft richten.“94
Das „System vorbeugender und zurückweisender Massregeln“, das Zürcher im Anschluß daran skizziert, kann allerdings seine Herkunft aus dem Strafrecht nicht verbergen. Trotzdem scheint Zürchers bis an sein Lebensende anhaltende, von der verbreiteten wissenschaftlichen Kritik unbeeindruckte Orientierung an der Kriminalanthropologie Lombrosos bemerkenswert.95 Sie veranlaßt ihn zu eigens konzipierten Vorlesungen, in denen er nicht von Schuld und Strafe, sondern von Gefährlichkeit und Sanktion spricht.96 Diese Position bleibt in der schweizerischen Strafrechtswissenschaft allerdings vereinzelt, so daß Zürcher auch von den Kollegen seiner Fakultät als Außenseiter behandelt wird.97 Gleichwohl spielt er als Mitglied mehrerer Expertenkommissionen und Verfasser der Botschaft des Bundesrats an die Bundesversammlung, mit der das formelle Gesetzgebungsverfahren 1918 eingeleitet wird, eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Vereinheitlichung des schweizerischen Strafrechts.98 Erheblich weiter an den Rand der wissenschaftlichen Diskussion gedrängt sieht sich dagegen der Münsteraner Strafrechtler Andreas Thomsen. Er muß zugeben, Zürcher (1892: 13). Zürcher (1892: 14). 95 Holenstein (1996: 243 ff.) schildert sie geradezu als avantgardistisch, ohne genügend zu berücksichtigen, daß die Kriminalanthropologie schon um die letzte Jahrhundertwende heftig angegriffen wird und Lombroso sich dadurch zu Korrekturen seiner Aussagen veranlaßt sieht. Siehe dazu etwa von Liszt (1889b: 306); zur Rezeption in Deutschland ausführlich Gadebusch Bondio (1995: 101 ff.). 96 Der Inhalt wird bei Holenstein (1996: 264 ff., 284) ausführlich referiert. 97 Holenstein (1996: 299 ff.). 98 Siehe die breit angelegte Darstellung bei Holenstein (1996: 394 ff., 439 ff., 487 ff.); zu der Botschaft des Bundesrats auch Stooss (1918). 93 94
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
daß seine kriminalpolitische „Bekämpfungstheorie“, „welche von der Beschränkung auf die der Strafe verwandten Mittel absieht und im Einklange mit dem allgemeinen Volksbewusstsein sowie dem Geiste der modernen Gesetzgebung zu einer allgemeinen auf dem Gebiete des Strafrechts und des bürgerlichen Rechts frei sich bewegenden Verbrechensbekämpfung übergeht“, nur von ihm selbst vertreten wird.99 Das verwundert nicht, denn es handelt sich um einen eigenartigen Versuch zur Eingliederung des Vergeltungsstrafrechts in ein übergreifendes Präventionsrecht. An der Kategorie des Verbrechens als mit Strafe bedrohter Handlung will er nur vorläufig festhalten. Thomsen meint anhand einer kursorischen Betrachtung der Gesetzestitel (!) und ansatzweise des Inhalts der Strafgesetzgebung seit dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuchs zeigen zu können, daß Prävention gegenüber der traditionellen Strafe zunehmend im Vordergrund steht. In der Disposition seiner Vorlesung zieht er daraus den Schluß, im besonderen Teil das Nebenstrafrecht vor den einzelnen Tatbeständen des Strafgesetzbuchs zu behandeln. Weniger originell ist dagegen die Aussage, daß sich auch innerhalb des geltenden Kernstrafrechts präventive Vorschriften finden. Dazu zählt er nicht nur sämtliche Nebensanktionen, sondern auch die komplexe Regelung des Zweikampfs.100 Thomsen wirft Liszt und seinen Anhängern vor, immer wieder in das Fahrwasser der „alten Schule“ zu geraten. Die Bedeutung der Kriminalpolitik werde zu wenig erkannt, was sich etwa bei der Ratlosigkeit des Gesetzgebers gegenüber bestimmten Börsengeschäften bemerkbar mache. In einem Schlußwort prophezeit Thomsen dem Strafrecht und der Strafrechtswissenschaft den baldigen Untergang.101 Allerdings besteht sein Alternativmodell eines Verbrechensbekämpfungsrechts weitgehend aus Textabschnitten, die genauso gut in einem Lehrbuch des Strafrechts stehen könnten. In seinem allgemeinen Teil finden sich Passagen über Handlungsbegriffe, Kausalität, Rechtswidrigkeit und Schuld, und lediglich der größte Teil des Sanktionenrechts erscheint in einem gesonderten Buch über die Bekämpfung. Für den besonderen Teil will sich Thomsen ursprünglich schlicht an die Einteilung des Lehrbuchs von Liszt halten, bevor er auf den Gedanken kommt, die Delikte der strafrechtlichen Nebengesetze nach vorn zu rücken.102
V. Fazit Es gibt also gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchaus radikale Kritiker eines Vergeltungsstrafrechts, die sich nicht wie Liszt auf einen Umbau des Strafrechts einlassen, sondern es durch ein konsequentes Präventionsrecht ersetzen wollen. Doch ist trotz der scharfen Töne in den Auseinandersetzungen nicht zu übersehen, daß diese Kritiker sich nur mit Schwierigkeiten von überkommenen strafrechtThomsen (1905: XXIII). Thomsen (1905: VIII ff.). 101 Thomsen (1905: XV f., XXXII ff., XLII f., 100). 102 Thomsen (1905: 5 ff., 38, 42 ff.). 99
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Kap. 3: Positionen der Kriminalpolitik im Kaiserreich
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lichen Kategorien lösen können. Selbst bei Autoren wie Ferri und Thomsen ist strafrechtliches Denken allgegenwärtig; es prägt noch die Rechtsinstitute, die das Strafrecht ablösen sollen. Andererseits ist darauf hinzuweisen, daß auch manche Vertreter der Vergeltungsstrafe ein von strafrechtlichen Begrenzungen entlastetes Sicherungsrecht letztlich als konsequentere Lösung darstellen. Das soll nicht heißen, daß sie eine solche Lösung anstreben. Das Argument dient, wird es von dieser Seite vorgebracht, hauptsächlich dazu, die Gefahren entgrenzter staatlicher Eingriffsbefugnisse um so deutlicher auszumalen.103 Diesen Einwänden gegenüber bleiben die Vertreter der betont strafrechtskritischen Richtung auffallend verständnislos.
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Vgl. etwa Gretener (1909: 113 ff.) und von Rohland (1911: 38 ff.).
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
Kapitel 4
Reformbemühungen bis 1933 Die kriminalpolitische Diskussion der vergangenen Jahrhundertwende erscheint insgesamt recht heterogen, führt aber im Hinblick auf den Gedanken der Sicherung vor künftigen Normverstößen zu bemerkenswerten Übereinstimmungen und wirkt sich in einigen Ländern in konkreten Reformentwürfen zum Strafrecht aus. In Deutschland enthalten diese Entwürfe bis in die Zeit der Weimarer Republik eine Reihe von Maßregeln der Sicherung und Besserung, deren Anordnung überwiegend den Strafgerichten zugewiesen wird. Die Reformentwicklung wird durch die Strafrechtsreformen in anderen Ländern, vor allem in der Schweiz und Österreich, maßgeblich beeinflußt.
A. Stooss und die Strafrechtsreform in der Schweiz Die Strafrechtsreform in der Schweiz, die Ende des 19. Jahrhunderts in Angriff genommen, aber erst Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem vorläufigen Ende geführt wird, ist zugleich ein wichtiges Projekt der Rechtsvereinheitlichung. Als der damalige Berner Oberrichter Carl Stooss 1889 den Auftrag erhält, auf der Grundlage der bestehenden 23 kantonalen Strafrechtsordnungen eine historisch-kritische Darstellung des geltenden Schweizer Strafrechts sowie den Entwurf eines Strafgesetzbuches zu erstellen, besitzt der Bund noch nicht einmal die Gesetzgebungskompetenz für dieses Rechtsgebiet. Die Bundesverfassung von 1874 hatte sie den Kantonen vorbehalten, und erst als der Vorentwurf Stooss’ längst beraten wird, erfolgt 1898 auch eine entsprechende Verfassungsänderung.1 Zwar liegt der erste Vorentwurf bereits 1893 vor und wird unverzüglich in einer Expertenkommission beraten, doch genießen die Beratungen über ein einheitliches Zivilgesetzbuch bald politische Priorität. Erst 1918 beginnt das formelle Gesetzgebungsverfahren, das jedoch wieder ins Stocken gerät, da der Entwurf eines Militärstrafgesetzbuchs vorrangig behandelt wird. Nach vielfachen Verzögerungen erfolgt im Dezember 1937 die Schlußabstimmung der eidgenössischen Räte. Das von den föderalistischen Gegnern einer Vereinheitlichung des Strafrechts eingeleitete Referendum endet im Sommer 1938 mit einer knappen Mehrheit zugunsten des Strafgesetzbuchs, das zu Beginn des Jahres 1942 in Kraft tritt.2 Stooss setzt sich das Ziel, ein „einfaches und brauchbares Gesetz“ zu schaffen – eine Vorstellung, die er nicht zuletzt damit begründet, daß jedenfalls in erster Instanz nicht in allen Kantonen Berufsrichter urteilen.3 Ob er dieses Ziel mit einer 1 2 3
Zu dieser Verfassungsrevision Holenstein (1996: 403 ff.). Holenstein (1996: 384 ff., 410 ff., 501 ff.). Stooss (1893: 6).
Kap. 4: Reformbemühungen bis 1933
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Gesetzessprache, die sich eng an den alltäglichen Sprachgebrauch anlehnt, erreicht, ist umstritten; ein geläufiger Vorwurf, der meist von Juristen vorgebracht wird, lautet, daß die sprachliche Vereinfachung auf Kosten der Klarheit von Regelungen des Allgemeinen Teils, aber auch auf Kosten der Bestimmtheit von Straftatbeständen geht.4 Deutlich wird hier schon, daß Stooss eine sehr pragmatische Auffassung vom Recht hat. Als besondere Leistung Stooss’ gilt die Einführung eines dualistischen Sanktionensystems.5 In der Begründung seines ersten Entwurfs schreibt er: „Wichtiger als die Vergeltung des begangenen Unrechts an dem Übelthäter ist es für den Staat, dem Verbrechen vorzubeugen. Diese vorbeugende Thätigkeit fällt nun hauptsächlich der Polizei und nicht dem Strafrichter zu. Aber es wäre eine Verkennung des richtigen Gedankens, welcher der Trennung der Gewalten im Staate zu Grunde liegt, wenn die Gesetzgebung dem Richter das Recht vorenthalten wollte, diejenigen vorbeugenden Massnahmen gegen das Verbrechen bei Anlass seiner strafrichterlichen Thätigkeit zu treffen, welche er mit mehr Verständnis, also besser, und ohne weiteren Zeitaufwand, also einfacher treffen kann als der Polizeibeamte, der sich mit dem Fall, den der Richter gründlich kennen gelernt hat, neuerdings von Anfang an befassen müsste.“6
Präventive gerichtliche Entscheidungen sieht der Entwurf an verschiedenen Stellen vor.7 Dazu gehört zunächst eine Vorschrift in Art. 10, die „dem Gericht das Recht giebt und die Pflicht auferlegt, Unzurechnungsfähige und vermindert Zurechnungsfähige, welche die öffentliche Sicherheit gefährden, einer Irrenanstalt zu überweisen“. Sie wird ergänzt durch eine Regelung für den Fall bloßer Behandlungsbedürftigkeit, die im Vorgriff auf eine auch in der Schweiz diskutierte Irrengesetzgebung keine kriminalrechtliche Sanktion, sondern nur eine Überweisung an die zuständige Verwaltungsbehörde vorsieht (Art. 11). Bemerkenswert ist, daß in beiden Fällen keine Strafe vollzogen werden soll, selbst wenn die Zurechnungsfähigkeit nicht ausgeschlossen, sondern nur vermindert ist.8 Art. 9 bestimmt dazu, daß die Strafe wegfällt, „wenn der Täter verwahrt oder versorgt wird“. Stooss’ Begründung für diese Lösung ist lapidar: „Ist die Einweisung eines Kranken in eine Irrenanstalt wegen Gemeingefährlichkeit geboten, so soll der Richter, auch wenn nur verminderte Zurechnungsfähigkeit vorliegt, von einer Bestrafung absehen. Gemeingefährliche Geisteskranke gehören nicht in Strafanstalten.“9 4 Gretener (1920); Gschwend (1994: 38, 42 f.); von Liszt (1893b: 106 ff.); Rolin (1897). Positiver dagegen Germann (1958: 44). 5 So eine verbreitete Einschätzung; siehe etwa P. Albrecht (1981: 3 ff.), Gretener (1920: 46), Gschwend (1994: 31 f.), P. Kaenel (1981: 11) und von Liszt (1893b: 129). 6 Stooss (1893: 34 f.). Ganz ähnlich argumentiert später Exner (1914: 186 ff.). 7 Text und Begründung bei Stooss (1893); eine Synopse mit dem Bundesratsentwurf von 1918 bei Stooss (1918: 284 ff.). 8 Hier geht der Entwurf weit über Vorbilder im kantonalen Recht hinaus, die eine Unterbringung bei Unzurechnungsfähigkeit vorsehen; dazu A. von Kaenel (1957: 47 ff.). 9 Stooss (1893: 24).
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
Damit wird nicht erst für das Vollstreckungsverfahren, sondern bereits für die gerichtliche Sanktionsentscheidung die Konkurrenz der Sanktionsformen zugunsten der Maßnahme gelöst. Das läuft darauf hinaus, daß der Dualismus der Sanktionsformen im Gesetz bei der Sanktionierung in einem Monismus der Maßnahme aufgelöst wird.10 Während sich Stooss für seine Konzeption der strafrechtlichen Unterbringung in psychiatrischen Einrichtungen auch auf Forderungen aus der schweizerischen Psychiatrie berufen kann, knüpft die „Verwahrung von rückfälligen Verbrechern“ (Art. 23 und 40), die er für eine Zeit von 10 bis 20 Jahren vorsieht, an die ausgedehnte internationale Diskussion wie auch an Forderungen aus der Praxis des schweizerischen Strafvollzugs an.11 Sie ist konzipiert als Maßnahme gegen Straftäter, „gegen welche die ordentliche Strafe ihre Wirkung versagt“. Gegenüber der Schwierigkeit, die „Unempfänglichkeit gegen die Strafwirkung“ im Strafverfahren festzustellen, vertraut Stooss auf die Erfahrung der Praxis: „Denn wenn es auch noch nicht gelungen ist, diese Verbrecher wissenschaftlich zu definieren, so ist es doch für den erfahrenen Richter und Strafvollzugsbeamten sehr wohl möglich, zu entscheiden, ob ein Verbrecher so weit gekommen ist, dass ihn die ordentliche Strafe von weiteren Verbrechen nicht abzuhalten vermag und dass er nach Entstehung dieser Strafe unzweifelhaft wieder rückfällig werden wird.“12
Gleichwohl soll die Sanktion nicht von den Strafgerichten angeordnet werden, sondern von einer besonderen Bundesbehörde, die auch für eine umfassende Persönlichkeitserforschung sorgen soll. Die Maßnahme der Verwahrung sorgt nicht nur in der Kommission, sondern auch in der schweizerischen Öffentlichkeit für erregte Diskussionen, in denen sich rechtsstaatliche Besorgnisse und eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Institutionen des Nationalstaats in charakteristischer Weise mischen. Nur so ist zu erklären, daß die Bezeichnung der vorgeschlagenen Verwahrungsanstalt als „Bundeshölle“ mit einem „Höllenrat“ aus anonymen Leserbriefen an die Tagespresse ihren Weg in die juristische Literatur findet.13 Die angesprochenen Maßnahmen – wie die Maßregeln im schweizerischen Recht noch heute bezeichnet werden – werden ergänzt durch die Verweisung „liederlicher und arbeitsscheuer“ Täter in eine Arbeitsanstalt (Art. 24) für eine Zeit von einem bis drei Jahren und die Aufnahme „Trunksüchtiger“ in eine Heilanstalt für Trinker (Art. 26) für eine Zeit von sechs Monaten bis zu zwei Jahren. Diese beiden Sanktionen sind – abgesehen von der psychiatrischen Unterbringung – zuP. Kaenel (1981: 119 ff.); Rusca (1981: 43 ff.). Siehe zu den Beratungen der IKV Kitzinger (1905: 70 ff.) und Radzinowicz (1991: 32 ff.). Stooss gehört zu den Gründungsmitgliedern der Vereinigung, wie sich aus dem Verzeichnis bei von Liszt (1889a: 371) ergibt. Liszt selbst begrüßt die Regelungsvorschläge über sichernde Maßnahmen etwas zwiespältig als „Abschlagszahlungen“; vgl. von Liszt (1893b: 122). Zur Sicht der Strafanstalten die Umfrage von Guillaume (1893). 12 Stooss (1893: 48 f.). 13 Dazu von Lilienthal (1895: 119) und Wüst (1904: 88). 10 11
Kap. 4: Reformbemühungen bis 1933
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gleich die einzigen, für die Stooss auf Vorbilder aus dem kantonalen Recht zurückgreifen kann. Vor allem die Unterbringung von Alkoholikern, Bettlern und Landstreichern in Arbeitsanstalten ist dort bereits verankert, und zwar teilweise – in drei Kantonen – als gerichtliche Strafe. Dagegen gibt es für eine Zwangsunterbringung in Trinkerheilstätten lediglich in St. Gallen eine gesetzliche Grundlage aus dem Jahr 1891.14 Eine strafrechtsdogmatische Systematisierung der neuen Sanktionsformen gelingt Stooss nur in Ansätzen; aus manchen seiner Stellungnahmen ergibt sich, daß er sich insoweit bewußt zurückhält. Das schlägt sich auch in den Entwurfstexten nieder, die zunächst auf eine deutliche Gliederung des Sanktionenrechts in Strafen und Maßnahmen verzichten; eine solche Trennung findet sich erst im fünften Vorentwurf von 1909.15 Klar ist für Stooss zunächst, daß die gesetzlichen Strafmaßvorschriften nicht einschlägig sind: „Die sichernde Massnahme ist weder an einen gesetzlichen Tatbestand noch an eine daran geknüpfte Straffolge gebunden, vielmehr wird ein Mensch nach seinem Zustande behandelt. ( . . . ) Die Tat ist nur eines von vielen Symptomen, die den Zustand des Täters erkennen lassen. Art und Dauer der Massnahme richtet sich nach dem Zweck und dem Erfolg der Behandlung.“16
Trotz der mißverständlichen Formulierung, die Verhängung einer Maßnahme sei an keinen gesetzlichen Tatbestand gebunden, will Stooss diese Sanktionen ersichtlich nicht jenseits des Strafrechts etablieren; in seinem Strafgesetzentwurf hätten sie sonst keinen Platz gehabt. Allerdings läßt er erkennen, daß die Strafgerichte damit Funktionen der Verwaltung erfüllen. Das aber sei nichts völlig Neues und Ungewöhnliches, wie das Adhäsionsverfahren deutlich mache. Stooss beharrt also auf einer Unterscheidung von „Natur“ und Funktion einer Rechtsfolge. Auch der Schadensersatz wird für ihn nicht dadurch zur Strafe, daß er in einem Strafverfahren verhängt wird und wie eine Strafe wirkt. Nichts anderes gilt aus seiner Sicht für die Maßnahmen.17 Allgemein charakterisiert Stooss die sichernden Maßnahmen dadurch, daß sich Art und Dauer nach dem Zustand des Täters richten. Es geht ihm nicht nur um Sicherung, sondern auch um Erziehung und Heilung. Aus dieser Behandlungsorientierung folgt die Notwendigkeit einer individuellen Anpassung an die Erfordernisse der jeweils Betroffenen. Gemeinsamer Ausgangspunkt der Strafen wie der Maßnahmen ist zumindest im Fall der Freiheitsentziehung der staatliche Rechtsgüterschutz.18 Während Strafe wegen eines verschuldeten Vergehens auferlegt und nach dem Verschulden bemessen wird, sieht Stooss den gemeinsamen Nenner der Stooss (1892: 328 ff.) und Wüst (1904: 23 ff.). Hafter (1910: 735) sieht darin eine Reaktion auf seine eigene frühere Kritik; siehe dazu Hafter (1904). 16 Stooss (1905: 3). 17 Stooss (1905: 5); Stooss (1911). 18 Stooss (1925b: 147 f.); ähnlich bereits Exner (1914: 3 ff.). 14 15
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sichernden Maßnahmen in einer fehlenden „Strafempfänglichkeit“ der jeweils in Betracht kommenden Delinquenten: bei Jugendlichen ist sie noch nicht gegeben, bei Gewohnheitsverbrechern nicht mehr. „Diese Reformen schränken die Anwendung der Strafe im engern Sinne des Wortes ein und ersetzen sie ganz oder teilweise durch Massnahmen, denen gewiss Strafcharakter zukommt und die von den Fehlbaren als Strafen empfunden werden, die aber ihrem Wesen nach vorwiegend dem Gebiete der Prävention oder wenn man so will, dem Gebiete der Specialprävention angehören.“19
Das schließt nicht aus, daß auch der Vollzug der Freiheitsstrafe der Individualprävention dient und die lange Verwahrung von Gewohnheitsverbrechern umgekehrt „eminent generalpräventiv“, nämlich abschreckend, wirkt.20 Das traditionelle Vergeltungsstrafrecht wird nicht verabschiedet, aber in seiner Reichweite relativiert: wo es nicht mehr wirkt, soll es durch die neue Sanktionsform der Maßnahmen ergänzt werden.21 Die Kritik am Vorentwurf von Stooss bemängelt schon unmittelbar nach dessen Veröffentlichung, ein einheitlicher Grundgedanke lasse sich nicht auffinden; das gebe dem Entwurf „einen Zug der Unsicherheit“. Auf Widerspruch stößt auch die Bevorzugung besserungsorientierter Sanktionen, die eine Errichtung zu vieler Anstalten erforderlich mache. Durch die Vollstreckungsregelung bei der Verwahrung „unverbesserlicher“ Täter könne es sogar zu einer Bevorzugung gegenüber Personen kommen, die ausschließlich zu einer Zuchthausstrafe verurteilt werden.22 Der Entwurf sei wenig systematisch und enthalte viele unbestimmte Formulierungen, was auch in dem Verzicht auf klare Regelungen über den Charakter der einzelnen Sanktionen als Strafe oder Maßnahme zum Ausdruck komme.23 Besonders präzise wird diese Kritik von Ernst Hafter vorgetragen. Er interpretiert das zweispurige Sanktionensystem, wie es von Stooss zum ersten Mal in einem Kodifikationsentwurf ausgeführt werde, als Kompromißversuch zwischen „klassischer“ und „moderner“ Richtung. Im Ansatz weist er den Maßnahmen vorwiegend individualpräventive Funktionen zu, die an dem Kriterium der Gefährlichkeit, nicht aber an bereits begangenen Delikten anknüpfen; es sei aber durchaus angemessen, die Frage der Zuständigkeit pragmatisch zu lösen und sie dann den Strafgerichten zuzuweisen, wenn eine Gesetzesverletzung Anlaß zur Verhängung von Maßnahmen biete. Stooss’ Merkmal der Strafempfänglichkeit hält Hafter für wenig aussagekräftig, weil sich mit seiner Hilfe nicht eindeutig bestimmen lasse, welche Sanktionen als Strafen und welche als sichernde Maßnahmen zu gelten haben. Die dogmatische Einordnung bleibe für die meisten vorgeschlagenen Sanktionsformen unklar.24 19 Stooss (1896: 285); dazu auch Rusca (1981: 36 ff.). Kritisch Gretener (1920: 73), der darin eine „eigenartige Theorie der Spezialprävention“ sieht. 20 Stooss (1925b: 148). 21 P. Kaenel (1981: 98 ff.). 22 So der Basler Strafgerichtspräsident Thurneysen (1893: 370 ff., 375). 23 Rolin (1897: 46 ff.).
Kap. 4: Reformbemühungen bis 1933
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Auch soweit die strafrechtliche Diskussion der Maßnahmen an Stooss anknüpft, ist sie von Pragmatismus geprägt; das Argument, diese Sanktionen stellten einen Kompromiß zwischen Sicherungs- und Vergeltungsstrafe dar, wird von Stooss’ Anhängern zur Rechtfertigung einer solchen Vorgehensweise herangezogen.25 Eduard Wüst schlägt zunächst vor, „reine“ und „gemischte“ sichernde Maßnahmen zu unterscheiden; in letzteren (d. h. Verwahrung und Arbeitsanstalt) liegt für ihn ein „doppelter Kompromiss“ mit der Vergeltungsstrafe, weil sie nach der Konzeption von Stooss mit einer Strafe verbunden werden können und die Strafwirkung nicht zu bestreiten ist.26 Zugleich betont Wüst aber, die Aufgabe einer genaueren Differenzierung von Straf- und Sicherungscharakter sei unmöglich zu lösen. Er versucht, aus der Not dogmatischer Unzulänglichkeiten eine Tugend zu machen; so anläßlich der Verwahrung: „Dieses kautschoukartige Wesen gereicht den s.M. [sichernden Maßnahmen; A.D.] nicht zum Vorwurf, sondern im Gegenteil zum Vorzug.“27
Gleichwohl nennt Wüst einige Gesichtspunkte, welche die Maßnahmen allgemein charakterisieren sollen. Dazu gehört zunächst die Ablehnung eines Vergeltungszwecks, weiterhin der Verzicht auf eine zeitliche Beschränkung und die Koppelung der Vollstreckungsdauer an die Zeitspanne, die zu einer Zweckerreichung erforderlich ist – obwohl Stooss jedenfalls für einzelne Maßnahmen Höchstfristen vorsieht. Der Vollzug von Maßnahmen soll räumlich getrennt vom Strafvollzug stattfinden und medizinischen Grundsätzen folgen. Schließlich wird Persönlichkeitserforschung als Grundlage der Sanktionsentscheidungen genannt.28 Daneben prüft Wüst, welche allgemeinen Grundsätze des Strafrechts für sichernde Maßnahmen anwendbar sind; er bejaht dies im Hinblick auf Begnadigung und – für die Arbeitsanstalt – bedingte Entlassung, plädiert aber im Ergebnis für die Nichtgeltung des Prinzips der Verjährung.29 Ernst Delaquis vertritt die These, daß durch die Übertragung von Maßregeln aus dem Verwaltungs- in das Strafrecht ein kriminalrechtliches Sanktionensystem neuer Art entsteht, das der Justiz zuzuordnen ist. Aus dieser Sicht setzt er sich dafür ein, Strafen und Maßregeln im Hinblick auf ihre Rechtsfolgen (z. B. die 24 Hafter (1904: 214 f., 218 ff.). Stooss (1905: 5) selbst wendet sich ausdrücklich gegen die These von einem Kompromiß; hierzu auch P. Kaenel (1981: 116). Die These vom Maßregelrecht als Kompromiß macht in der Literatur gleichwohl Karriere; so bei Exner (1914: 237 ff.). 25 So etwa Wüst (1904: 139); ähnlich bereits von Lilienthal (1895: 112), der eine dogmatische Einordnung der Unterbringung in einer Arbeitserziehungsanstalt für „im Grunde gleichgültig“ erklärt. 26 Wüst (1904: 152 f.). 27 Wüst (1904: 95). 28 Wüst (1904: 156 ff.). 29 Wüst (1904: 183 ff., 196). Weiterführend zu diesen Aspekten Exner (1914: 152, 168 ff.). Stooss (1905: 3) läßt Zweifel über die Anwendbarkeit des Verjährungsgedankens wie auch der Begnadigung erkennen; insoweit übereinstimmend Hafter (1910: 736).
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Möglichkeit der Begnadigung) gleich zu behandeln. Er weist allerdings auf verschiedene Typen der Anordnung von Maßregeln nach den damals vorliegenden Entwürfen hin; es gehe um „verschiedene Bildungen ganz disparaten Charakters“. Damit ist zum einen gemeint, daß das Gericht nach manchen Regelungen selbst eine Maßregel verhängen, nach anderen aber nur ihre Zulässigkeit feststellen soll. Auf der anderen Seite wird auf die Vielfalt der mit Maßregeln verfolgten Zwecke hingewiesen: Besserung und Vorbeugung, Erziehung und Schutz, Sicherung und Vorsorge.30 Vereinzelt finden sich Versuche, die Voraussetzungen einzelner Maßnahmen zu präzisieren. So zerlegt Adolf Asper den Begriff der Gemeingefährlichkeit, der nach den Entwürfen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland eine psychiatrische Unterbringung von Straftätern tragen soll, in drei Voraussetzungen: einen psychopathologischen Zustand, eine beliebige deliktische Handlung und eine drohende Gefährdung der Rechtssicherheit. Bemerkenswert sind gewisse Einschränkungen im Hinblick auf die Qualität der zu befürchtenden künftigen Taten: Asper will Fälle ausschließen, „in denen lediglich die Begehung geringfügiger Störungen der Rechtsordnung, wie die Erregung von ruhestörendem Lärm, Landstreicherei u. dgl. mehr zu besorgen ist“.31 Eine solche Argumentation mit dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit ist in dieser Zeit nur selten festzustellen. Unter dem Eindruck der schweizerischen Vorentwürfe, die den Aufenthalt in einer Arbeitsanstalt von vornherein zeitlich begrenzen, liegt sie näher als in Deutschland, wo Bettler, Landstreicher und Taschendiebe noch wenige Jahre zuvor von Liszt umstandslos als unverbesserliche und gemeingefährliche Verbrecher betrachtet werden, die langfristig eingesperrt werden sollen.32
B. Die Reformentwicklung in Österreich In Österreich werden vor und nach dem 1. Weltkrieg mehrere Anläufe zu einer Strafrechtsreform unternommen, die unter dem Eindruck von Stooss’ Reformkonzept stehen. Das österreichische Strafgesetzbuch von 1852 war bereits wenige Jahre nach seinem Inkrafttreten als reformbedürftig angesehen worden, weil seine Grundstrukturen noch auf die Vorstellungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts zurückgingen. Daraus resultieren seit 1867 mehrere Entwürfe, die sich zunächst an dem preußischen und reichsdeutschen Strafrecht orientierten. Zum Inkrafttreten eines reformierten Strafgesetzbuches sollte es allerdings erst 1975 kommen.33 Delaquis (1911: 674 ff., 678). Asper (1917: 69 f.); ähnlich bereits Mittermaier (1908: 329). 32 von Liszt (1902: 400 ff.); dazu bereits Kapitel 3 C. II. (S. 61). Zu Liszts Position gegenüber Stooss von Liszt (1893b). 33 Zur österreichischen Reformgeschichte Eder-Rieder (1985: 1 ff.); Graf Gleispach (1910: 3 ff.) und Rittler (1954: 20 ff.). 30 31
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Seit 1909 werden mehrere Entwürfe eines Strafgesetzbuches vorgelegt, welche die Einführung sichernder Maßnahmen vorschlagen. Danach wird die mit dem Vergeltungszweck verbundene Strafe ergänzt durch Sicherungsmittel zum Schutz der Gesellschaft.34 Der Vorentwurf von 1909 enthält entsprechende Normen über die Verwahrung verbrecherischer Irrer (§ 36), geistig Minderwertiger (§ 37), gemeingefährlicher Verbrecher (§ 38), von Trinkern (§ 243), weiter die Fürsorgeerziehung (§§ 53 – 54), Polizeiaufsicht (§ 39), Landesverweisung (§ 40) und den Verfall von Gegenständen (§§ 41 – 42); die Anhaltung in einer Zwangsarbeitsanstalt nach einem Gesetz von 1885 soll weiterhin möglich sein. Voraussetzung für die Verwahrung einer Person ist ihre Gemeingefährlichkeit: „Es muß ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit dafür vorliegen, daß schwere Angriffe in den bezeichneten Richtungen werden ausgeführt werden.“35
In modifizierter Form sind diese Vorschläge Bestandteil einer Regierungsvorlage, die 1913 vom Herrenhaus des Reichsrates beschlossen, nach Kriegsbeginn aber nicht weiter verfolgt wird. In den zwanziger Jahren bemüht man sich um eine Rechtsvereinheitlichung in Österreich und Deutschland.36 Der österreichische Ministerialbeamte Ferdinand Kadecˇka legt bereits 1919 einen Gegenentwurf zu dem deutschen Entwurf aus dem gleichen Jahr vor; beide Gesetzesvorschläge stimmen darin überein, daß sie einen Katalog von Maßregeln der Besserung und Sicherung vorsehen, der die Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt, einer Trinkerheilanstalt und einem Arbeitshaus sowie die Verwahrung „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ umfaßt. Die gemeinsamen Reformarbeiten führen zu einem Strafgesetzentwurf, der über diese vier Sanktionen hinausgehend auch Schutzaufsicht und die Verweisung aus dem Bundesgebiet in einem Abschnitt über „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ vorsieht.37 Überwiegend wird den Strafgerichten die Kompetenz für die Anordnung der Maßregeln zugewiesen; lediglich die Unterbringung in einem Arbeitshaus38 und die Verweisung aus dem Bundesgebiet erfordern eine weitere Entscheidung der Verwaltung. Dieser Entwurf gelangt 1927 als Regierungsvorlage39 in das 34 Die strikte Trennung von Strafen und Sicherungsmitteln wird in mehreren kritischen Stellungnahmen herausgestellt; siehe z. B. Kriegsmann (1909: 548) und von Liszt (1910a: 20). 35 Graf Gleispach (1910: 54). 36 Eder-Rieder (1985: 6 f.). 37 Der Text ist abgedruckt bei Kadec ˇ ka (1931: 30 ff.). 38 Das wird in der Begründung damit gerechtfertigt, daß Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten als Landeseinrichtungen bereits bestehen; siehe Kadecˇka (1931: 31). Der Strafrechtsausschuß hat den Entwurf während des Gesetzgebungsverfahrens insoweit geändert. 39 Die österreichische Regierungsvorlage unterscheidet sich im Maßregelrecht von der deutschen Reichstagsvorlage. Nach der deutschen Fassung der §§ 56 – 58 ist das Strafgericht lediglich berechtigt, die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, einer Trinkerheil-
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österreichische Gesetzgebungsverfahren, scheitert aber 1933. Lediglich die Unterbringung in einem Arbeitshaus wird durch ein besonderes Bundesgesetz von 1932 neu geregelt.
C. Reformentwürfe und Strafrechtswissenschaft in Deutschland bis 1933 I. Ausgangssituation Obwohl das deutsche Strafrecht seit der Reichsgründung zunächst keine sichernden Maßnahmen im Sinne Stooss’ kennt, existieren in dieser Zeit an verstreuten Stellen geregelte Deliktsfolgen, die zumindest von einem Teil der strafrechtlichen Literatur der Zeit mit präventiven Zielsetzungen verbunden werden. Dazu gehören die Polizeiaufsicht im Anschluß an die Verbüßung einer Freiheitsstrafe wegen bestimmter Delikte, die häufig als „korrektionelle Nachhaft“ bezeichnete Unterbringung in einem Arbeitshaus sowie Aufenthaltsbeschränkungen einschließlich der Ausweisung ausländischer Straftäter. Über die dogmatische Einordnung der einzelnen Sanktionen besteht jedoch keine Einigkeit; teils werden sie als Nebenstrafen, teils als „polizeiliche Maßregeln“ angesehen.40 Gelegentlich wird darüber hinaus darauf hingewiesen, daß in der Praxis auch die Freiheitsstrafe Sicherungsfunktionen übernehme.41 Das Sanktionensystem des Reichsstrafgesetzbuchs wird bereits seit 1880 immer mehr in Zweifel gezogen. Das Strafgesetzbuch, das weitgehend auf dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851 beruht und dessen dogmatische und kriminalpolitische Grundlagen damit auf den Stand der wissenschaftlichen Diskussion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgehen42, ist durch die Kriminalitätsentwicklung der modernen Gesellschaft überholt, lautet ein verbreiteter Vorwurf. Dabei lassen sich mehrere Argumentationsstränge unterscheiden. Zum einen ist es die Kriminalitätsentwicklung insgesamt, die als bedrohlich empfunden wird. Häufig wird dazu auf die Angaben der Reichskriminalstatistik über gerichtliche Verurteilungen in Strafsachen zurückgegriffen, die ungebrochen als Beweis für eine alarmierende Zunahme der tatsächlich begangenen Delikte interpretiert werden.43 Angesichts dieser Daten erscheint die Strafzumessungspraxis der Gerichte, die zunehanstalt oder Entziehungsanstalt sowie in einem Arbeitshaus für zulässig zu erklären; nach der österreichischen Fassung entscheidet das Gericht selbst über die Anordnung. Siehe Kadecˇka (1931: 32 f.) im Vergleich zu dem Text der deutschen Reichstagsvorlage bei Schubert / Regge (1995: 443). 40 Einen kurzen Überblick gibt Lenz (1912: 287 f.). Aus der Lehrbuchliteratur Binding (1907: 263 ff.); von Liszt / Schmidt (1932: 364, 371); Merkel (1889: 208 f., 222 f.). 41 E. Kern (1927: 48) mit einem Beispiel aus der Rechtsprechung. 42 Lenckner (1972: 32); E. Schmidt (1965: 343 ff.). 43 von Liszt (1882: 167 f.), von Liszt (1889b: 320 ff.) und Mittelstädt (1879: 16 ff., 57).
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mend auf Geldstrafen auszuweichen beginnt, als zu milde. Doch auch das zur Verfügung stehende Repertoire der Rechtsfolgen gilt vielen Kritikern als veraltet. Diese Diagnose bezieht sich auf Tätergruppen, die vor allem von Liszt und seinen Anhängern als „unverbesserlich“ etikettiert werden.44 Dazu gehören zunächst Bettler, Landstreicher oder Taschendiebe, die als gewerbsmäßige Straftäter erscheinen und deswegen als „gefährlich“ angesehen werden. Diese Einschätzung resultiert offensichtlich nicht aus besonders schweren Schäden infolge der von solchen Personen begangenen Delikte, sondern aus ihrer Häufigkeit und beständigen Wiederholung. Die Intensität der Bedrohungsgefühle, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts gerade mit den Vermögensdelikten von Bettlern, Landstreichern oder Taschendieben verbunden werden, läßt sich hundert Jahre später schwierig verstehen45, handelt es sich doch um eine Form abweichenden Verhaltens, die heute eher unaufgeregt als gehäuft auftretende Kleindelinquenz betrachtet wird46 – aktuelle Debatten über Ansätze einer Kriminalprävention, die gerade Erscheinungen „öffentlicher Unordnung“ wehren wollen, um nicht nur Bagatelldelikte, sondern auch schwere Formen von Straßenkriminalität zurückzudrängen47, ändern nichts an dieser Einschätzung. Um 1900 jedenfalls besteht ein weitgehender Konsens darüber, daß die als Reaktion auf wiederholte Vermögensdelikte solcher Täter üblicherweise verhängten relativ kurzen Freiheitsstrafen ebensowenig ausreichen wie eine zeitlich ebenfalls begrenzte48 Unterbringung in einem Arbeitshaus. Eine zweite Untergruppe „unverbesserlicher“ Verbrecher setzt sich aus Personen zusammen, die nicht als voll zurechnungsfähig gelten.49 Das deutsche Strafrecht kennt bis 1933 nur die Alternative voller strafrechtlicher Verantwortlichkeit oder ihres Ausschlusses. Die Vorschrift des § 51 RStGB50 wird zudem so ausgelegt, daß das Verhalten von Geisteskranken, das bei äußerlicher Betrachtung die objektiven Voraussetzungen eines Straftatbestands erfüllt, nur als „Schein einer Handlung“ gewürdigt wird – mit der unbefriedigenden Folge, daß verantwortliche Teilnehmer wegen der Akzessorietät der Teilnahme mangels Haupttat nicht bestraft werden Siehe Kapitel 3 C. II. (S. 59 ff.). Eine sozialgeschichtliche Erklärung könnte einerseits bei der Rolle „gefährlicher Klassen“ in der Wahrnehmung bürgerlicher Schichten dieser Zeit ansetzen, andererseits bei der breiten Diskussion über die „sociale Frage“. Siehe etwa die Hinweise bei Kammeier (1996: 12 f.) und Radzinowicz (1966: 38 ff.). 46 Siehe z. B. Horstkotte (1977: 335 f., 346). Die heutigen Lehrbücher der Kriminologie streifen diese Tätergruppen höchstens am Rande. 47 Paradigmatisch formuliert bei Wilson / Kelling (1982). Nicht unwichtig ist weiter der Blick nach New York, etwa bei Hess (1996), oder Großbritannien, siehe Maguire (2000: 323 f.). 48 Die bis 1933 geltende Vorschrift des § 362 III RStGB begrenzt die Dauer der Unterbringung auf zwei Jahre. 49 von Liszt (1902: 400 ff.). 50 Siehe Kapitel 3 A. II. (S. 53). 44 45
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können.51 Vor diesem Hintergrund wird im Anschluß an zahlreiche Partikularstrafrechte der Zeit vor der Reichsgründung gefordert, die Kategorie der verminderten Zurechnungsfähigkeit (wieder) einzuführen.52 Dabei geht es weniger um die Möglichkeit einer Strafmilderung als um erweiterte Reaktionen gegen Täter, die wegen ihrer „geistigen Abnormität“, Psychopathie oder auch wegen Intoxikation als gefährlich gelten.53 Hinzu kommt eine verbreitete Kritik an der unzureichenden Sicherung vor Delikten „gefährlicher Geisteskranker“ nach einem Freispruch durch die Strafgerichte. Obwohl an der polizeirechtlichen Grundlage einer Unterbringung54 kein Zweifel besteht, gilt diese Interventionsform als wenig effektiv, weil die Behörden davon nur zurückhaltend Gebrauch machen. Dafür wird etwa der geringe Informationsgehalt der Strafverfahrensakten verantwortlich gemacht, die den Polizeibehörden als Entscheidungsgrundlage dienen, aber auch deren mangelnde Fachkenntnis, Zweifel an der Geeignetheit der Heil- und Pflegeanstalten zur Unterbringung von Straftätern und – nicht zuletzt – das Argument, daß die Unterbringungskosten nicht den Justizfiskus, sondern Gemeinden und Kommunalverbände als Anstaltsträger belasten.55 Noch in der Zeit der Weimarer Republik bestehen zudem Zweifel an einer Mitteilungspflicht der Gerichte gegenüber den Polizeibehörden.56
II. Vorentwurf von 1909 und Gegenentwurf Die Strafrechtsreform in Deutschland57 wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorbereitet durch die umfassende „Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts“, die für das Sanktionenrecht nicht bei der Systematik des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 stehen bleibt, sondern sich eher an der kriminalpolitischen Diskussion der Zeit orientiert, wie Artikel von Aschaffenburg über die Behandlung „gemeingefährlicher Geisteskranker und verbrecherischer Gewohnheitstrinker“, von Freudenthal über die unbestimmte Verurteilung und von Mittermaier über die Behandlung „unverbesserlicher Verbrecher“ deutlich machen.58 Die vom Reichs-Justizamt eingesetzte Sachverständigenkommission, die den Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch von 1909 ausarbeitet, bezeichnet RG, Urteil vom 9. / 16. Juni 1884 – Rep. 1310 / 84 (= RGSt 11, 56, 58). Kammeier (1996: 48 ff.); Lenckner (1972: 87 ff.); Rautenberg (1980: 59 ff.). 53 Kahl (1904: 199, 231 ff.); Wilmanns (1927: 283 ff.). 54 Dreyer (1910: 28); Kammeier (1996: 44 f.). 55 Zusammenfassend Dreyer (1910: 28); Kammeier (1996: 29, 90 ff.); Schultze (1911: 1 ff.). 56 Metzdorf (1930: 21). 57 Allgemeine Darstellungen zum Gang der Reformarbeiten finden sich bei Horstkotte (1977: 330 ff.) und E. Schmidt (1965: 394 ff.). 58 Aschaffenburg (1908); Freudenthal (1908); Mittermaier (1908). 51 52
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die Bände des Sammelwerks als hauptsächliche wissenschaftliche Grundlage ihrer Arbeit. Der Entwurf vertrete nicht den Standpunkt einer bestimmten wissenschaftlichen Richtung, da eine solche Stellungnahme nicht Aufgabe der Gesetzgebung sei. Doch wird das überkommene Vergeltungsstrafrecht grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Als Zugeständnis an die moderne Schule wird neben der Einführung des bedingten Strafaufschubs die Verankerung sichernder Maßnahmen genannt; hierin liege ein Kompromiß der Schulen.59 Diese Ausführungen lesen die Vertreter aller Seiten durch die Brille ihres eigenen Strafrechtsverständnisses60, während die Kommission eher an Bestrebungen anknüpft, den Schulenstreit zu suspendieren, um einer auch von den Anhängern des Vergeltungsstrafrechts nachdrücklich geforderten Reform des Strafrechts nicht im Wege zu stehen.61 Dementsprechend trägt der 2. Abschnitt des Allgemeinen Teils des Vorentwurfs von 1909 den Titel „Strafen. Sichernde Maßnahmen. Schadensersatz“. Ausdrücklich als sichernde Maßnahmen bezeichnet werden die Unterbringung in ein Arbeitshaus (§ 42) sowie Wirtshausverbot und Unterbringung in eine Trinkerheilanstalt (§ 43); weiter enthält der Abschnitt in § 53 eine Bestimmung über die Aufenthaltsbeschränkung (neben einer längeren Freiheitsstrafe und unter der weiteren Voraussetzung, daß der „Aufenthalt an bestimmten Orten mit einer besonderen Gefahr für einen anderen oder für die öffentliche Sicherheit verbunden sein würde“) und über die Ausweisung ausländischer Straftäter sowie in §§ 54 – 56 Normen über Einziehung und Unbrauchbarmachung. Im 4. Abschnitt über Strafausschließungsund Milderungsgründe findet sich eine Bestimmung über die „Verwahrung in Anstalten“ (§ 65), die nach einem Freispruch wegen Schuldunfähigkeit und bei verminderter Schuldfähigkeit eine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt bzw. einer Trinkerheilanstalt vorschreibt, „wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert“. Für „gewerbs- oder gewohnheitsmäßige Verbrecher“ enthält § 89 eine besondere Strafschärfung, jedoch keine eigenständige Sanktionsform.62 Eine stellvertretende Vollstreckung einer Maßnahme anstelle einer Strafe läßt der Vorentwurf nur in engen Grenzen zu, vor allem bei der Unterbringung in ein Arbeitshaus, wenn die parallele Strafe drei Monate nicht übersteigt.63
59 Sachverständigen-Kommission (1909: V f., IX f.); ebenso Exner (1914: 237 ff.) und von Liszt (1910a: 3). 60 von Hippel (1910: 878 f.) reklamiert den Entwurf geradezu als Ausdruck der „dritten Richtung“, der er sich selbst zurechnet. Vertreter der klassischen Seite betonen dagegen das Festhalten des Vorentwurfs an der überkommenen Vergeltungsstrafe; so von Birkmeyer (1910) und Gretener (1911: 498). 61 Kahl (1902). Zu ähnlichen Aussagen aus der Schweiz bereits Kapitel 4 A. (S. 74). 62 Dies wird von einigen Kritikern des Vorentwurfs als inkonsequent moniert: Aschaffenburg (1912b: 751 ff.) wirft dem Entwurf vor, insoweit hinter der internationalen Entwicklung zurückzubleiben. A. Köhler (1912: 277) setzt sich auch insoweit für eine Maßregel ein, obwohl er die zeitlich unbegrenzte Möglichkeit der Unterbringung in der Psychiatrie kritisiert. Für eine Maßregel mit Höchstfrist Baumgarten (1912: 565 ff., 585). 63 Gleichwohl scharf ablehnend von Birkmeyer (1910: 40 ff.).
6 Dessecker
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Bereits zwei Jahre später erscheint ein Gegenentwurf der vier Professoren Wilhelm Kahl, Karl von Lilienthal, Franz von Liszt und James Goldschmidt, die sich unterschiedlichen wissenschaftlichen Lagern zurechnen, aber die Aussetzung des Schulenstreits geradezu als „nationale Pflicht“ bezeichnen. Im Vorwort werden zwei wesentliche Abweichungen vom Vorentwurf genannt: die Trennung der Polizeiübertretungen von den Fällen kriminellen Unrechts und die Einarbeitung wichtiger strafrechtlicher Nebengesetze; dabei handelt es sich um Reformen, welche die Verfasser des Vorentwurfs bewußt ausgeklammert hatten.64 Darüber hinaus wird das Element der sichernden Maßnahmen innerhalb des Sanktionenrechts ausgebaut. Der Gegenentwurf von 1911 enthält in seinem Ersten Buch über „Verbrechen und Vergehen“ einen Abschnitt, der Strafen und sichernde Maßnahmen zusammenfaßt. Darin finden sich Vorschriften über Schutzaufsicht (§ 60), Arbeitshaus (§ 68), Wirtshausverbot und Unterbringung in eine Trinkerheilanstalt (§ 69), Unfähigkeit zur Ausübung eines Amtes, Berufes oder Gewerbes (§ 76), Friedensgebot mit Sicherheitsleistung oder Androhung einer Freiheitsstrafe (§ 78), Ausweisung (§ 79) und Einziehung (§ 80). Außerhalb dieses Abschnitts ist die Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt vorgesehen; darüber hinaus soll eine Unterbringung in einer Privatanstalt oder Familie selbst bei fehlender „Gemeingefährlichkeit“ in Betracht kommen (§ 14). Allerdings hegen die Verfasser des Gegenentwurfs Zweifel, ob eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit immer festgestellt werden kann. Deshalb schlagen sie für die Gruppe der Gewohnheitsverbrecher neben einer Strafschärfung (§ 97) erstmals die Unterbringung in einer Verwahrungsanstalt vor (§ 98).65 Eine solche freiheitsentziehende Maßregel soll die Interessen der Gesellschaft sichern vor Personen, „die sich ihr gegenüber nicht viel anders als wilde Tiere betragen haben“. Dabei denken die Verfasser nicht notwendig an schwere Delikte; es kommt ihnen darauf an, die sichernde Verwahrung gerade „auch für die kleine Kriminalität (Bettler, Landstreicher, Dirnen) fruchtbar“ zu machen.66
III. Der Kommissionsentwurf von 1913 Als Grundlage aller späteren Entwürfe bis zum Ende der Weimarer Republik gilt der erst nach dem 1. Weltkrieg veröffentlichte Kommissionsentwurf von 191367, der die „Maßregeln der Besserung und Sicherung„ in einem selbständigen Abschnitt zusammenfaßt. Abgesehen von Erziehungsmaßnahmen gegen Jugendliche, finden sich in diesem Abschnitt Bestimmungen über ein Wirtshausverbot (§ 97), die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt (§§ 98 – 99), die Verwahrung Kahl et al. (1911: III f.); Sachverständigen-Kommission (1909: VI ff.). Darin sieht Horstkotte (1977: 331, 342) eine Weichenstellung für das zentrale Problem des Maßregelrechts. 66 Kahl et al. (1911: 133 f.). 67 Kahl (1927: 999) und Schubert (1990). 64 65
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bei fehlender oder verminderter Zurechnungsfähigkeit (§§ 100 – 101), die Unterbringung in einem Arbeitshaus (§§ 102 – 105) sowie über Aufenthaltsverbot und Reichsverweisung (§§ 108 – 109).68 Für die Verwahrung gefährlicher Gewohnheitsverbrecher sieht auch der Kommissionsentwurf eine Maßregellösung vor (§§ 106 – 107).69 Die Voraussetzungen der Unterbringung wegen Trunksucht lassen ebenso wie das Arbeitshaus eine therapeutische Zielsetzung erkennen: diese Maßregeln müssen erforderlich erscheinen, um den Täter „an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen“.70 Demgegenüber stellen die Vorschriften über die Verwahrung bei fehlender oder verminderter Zurechnungsfähigkeit auf die öffentliche Sicherheit ab. Die Verwahrung „gewerbs- oder gewohnheitsmäßiger, für die Rechtssicherheit gefährlicher Verbrecher“ erfolgt als zweite Sanktion neben einer Strafschärfung wegen Rückfalls, die bei Verbrechen einen Strafrahmen der Zuchthausstrafe nicht unter zwei Jahren eröffnet. Für die Anordnung der Maßregel gelten dieselben Voraussetzungen wie schon für die verschärfte Strafe. Ziel der Reformarbeiten während der Weimarer Republik ist eine möglichst weitgehende Vereinheitlichung des Strafrechts in Deutschland und Österreich.71 Der deutsche Entwurf von 191972 behält den Abschnitt über Maßregeln der Besserung und Sicherung aus dem Kommissionsentwurf von 1913 mit kleineren Änderungen bei. So werden die Sanktionen des Jugendstrafrechts in einen eigenen Abschnitt ausgegliedert, und die Maßregelvorschriften erhalten eine neue Reihenfolge. Auffällig ist ein ausdrücklicher Finanzierungsvorbehalt, der in die Denkschrift zu dem Entwurf ebenso aufgenommen wird wie auch in eine Fußnote zu dem vorgeschlagenen Gesetzestext.73 Auch der bereits erwähnte Gegenentwurf74 des Strafrechtsreferenten im österreichischen Bundesministerium der Justiz, Ferdinand Kadecˇka, sieht einen Abschnitt über Maßregeln der Besserung und Sicherung vor, der über die Sanktionen der zwei vorhergehenden deutschen Entwürfe hinaus auch Normen über die Veröffentlichung des Urteils, die Einziehung von Sachen sowie über Amtsentsetzung und Berufsverbot umfaßt. Beide Entwürfe aus der Zeit nach dem 1. Weltkrieg werden Grundlage der Beratungen im Reichsjustizministerium, die im September 1922 zu Reichs-Justizministerium (1913). Stooss (1928: 55). 70 An dieser Lösung wird von Flandrak (1932: 178 f.) bemängelt, daß jedenfalls der Wortlaut der Vorschriften über Arbeitshaus und Trinkerheilanstalt offen läßt, ob diese Maßregeln auch Gefährlichkeit voraussetzen. 71 Diese Forderung wird in beiden Ländern bereits während des 1. Weltkriegs erhoben; so von Oetker (1915: 34) und Graf Gleispach (1916). 72 Der Entwurf ist – ohne die Begründung – nachgedruckt bei Schubert / Regge (1995: 3 ff.). 73 Joël et al. (1920: 85). 74 Siehe Kapitel 4 B. (S. 77). Daraus wurde lediglich der Allgemeine Teil des Ersten Buches ohne die Begründung veröffentlicht; siehe jetzt Schubert / Regge (1995: 115 ff.). 68 69
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einer Kabinettsvorlage des damaligen Ministers Gustav Radbruch mit dem Titel „Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches“ führen.75
IV. Der Entwurf Radbruchs und die weiteren Reformberatungen In § 42 der Vorlage, die in der Literatur häufig als Entwurf Radbruchs bezeichnet wird, werden zehn Maßregeln aufgezählt: die Unterbringung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt und in einer Trinkerheilanstalt, die Sicherungsverwahrung, die Schutzaufsicht, das Wirtshausverbot, weiterhin die Reichsverweisung, der Verlust der Amtsfähigkeit sowie des Wahl- und Stimmrechts, die Urteilsbekanntmachung und die Einziehung.76 Wurde in früheren Entwürfen jede dieser Sanktionen einzeln geregelt, so enthält die Kabinettsvorlage in §§ 46 – 50 „gemeinsame Bestimmungen über die Unterbringung“, also allgemeine Vorschriften für die freiheitsentziehenden Maßregeln.77 Hierzu zählen Regelungen über die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörde für die Vollstreckung und über die Vollstreckungsdauer, die sich nach dem Zweck der Anordnung bemißt. Allerdings zeigen sich auch die Grenzen allgemeiner Vollstreckungsnormen, da uneinheitliche Höchstfristen vorgeschlagen werden: während die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt in jedem Fall nach längstens zwei Jahren endet, können die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt und die Sicherungsverwahrung im Extremfall unbegrenzt vollzogen werden, wenn nur das Gericht alle drei Jahre ihre Fortdauer anordnet.78 Hinzu kommt, daß die Unterbringung in einem Arbeitshaus ausdrücklich als Maßregel der Besserung und Sicherung bezeichnet wird, aber wegen ihrer besonderen Zielsetzung erst in § 374 als Hauptsanktion eines Dritten Buches über „gemeinschädliches Verhalten“ erscheint. Im Gegensatz zu dem Entwurf von 1919 wird das Vikariierungsprinzip für alle freiheitsentziehenden Maßregeln in weitem Grad durchgeführt, ohne daß der Entwurf Kriterien dafür angibt, wann im Vollstreckungsverfahren der Strafe, wann der Maßregel der Vorzug zu geben ist.79
75 Der Entwurf ist mit kurzen erläuternden Bemerkungen veröffentlicht bei Schubert / Regge (1995: 145 ff.); zur Entstehungsgeschichte Schubert (1995: X ff.). 76 Scharf ablehnend gegenüber der Umdefinition aller Nebensanktionen in Maßregeln etwa Flandrak (1932: 190 f.). 77 Grundsätzlich gegen einen solchen Ansatz Stooss (1925a: 28). 78 Gegen eine unbefristete Unterbringung eindrucksvoll Wach (1921: 75 f.) und Wachenfeld (1925: 356) – jeweils für den Fall der Sicherungsverwahrung. 79 Für eine weitgehende Berücksichtigung des „Prinzips der Vertretung“ in der Vollstrekkung von Maßregeln und Strafen setzt sich bereits Exner (1914: 203 ff.) ein; Kritik im Detail dagegen bei Flandrak (1932: 185 ff.). Freudenthal (1926: 158 f.) bemerkt, der Zweispurigkeit im Urteil stehe ein einspuriger Vollzug der Sanktionen gegenüber. Radbruch (1925b: 1289) verteidigt diese auslegungsoffene Gesetzestechnik damit, die für individualpräventive Sanktionen entscheidenden Merkmale der Täterpersönlichkeit ließen sich „nicht in scharfkantigen Tatbestandsmerkmalen ausdrücken, sondern nur in biegsamen Richtlinien für das richterliche Ermessen“.
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Wegen der Kürze seiner Amtszeit als Minister gelingt es Radbruch nicht, den von ihm verantworteten Entwurf im Kabinett durchzusetzen. Erst nach Änderungen einiger politisch als besonders brisant geltender Regelungsvorschläge wird im November 1924 das formelle Gesetzgebungsverfahren mit der Übersendung des Entwurfs an den Reichsrat eingeleitet. Die Reichsratsvorlage80 – in der Literatur nicht selten mißverständlich als Entwurf 1925 bezeichnet – läßt Radbruchs und Kadecˇkas Vorschläge zum Maßregelrecht unverändert.81 Erst der Reichsrat relativiert das neue Instrumentarium der Strafgerichte in entscheidender Weise: Zum einen kehrt er zu dem traditionellen Verständnis des Verlusts der Amtsfähigkeit, des Wahl- und Stimmrechts, der Bekanntmachung der Verurteilung und der Einziehung als „Nebenstrafen und Nebenfolgen“ zurück, so daß sechs Maßregeln der Besserung und Sicherung verbleiben. Zum anderen wird die Anordnungskompetenz der Gerichte für die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt (§ 56), Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt (§ 57) und einem Arbeitshaus (§ 58) zugunsten eines eigenständigen Prüfungsrechts der Verwaltung eingeschränkt; diese Maßregeln sollen von den Gerichten lediglich für zulässig erklärt werden dürfen.82 Dagegen hatte noch die Begründung der Reichsratsvorlage argumentiert, daß empfindliche Eingriffe in die persönliche Freiheit unter die Garantien der richterlichen Unabhängigkeit zu stellen seien, widersprüchliche Entscheidungen über Straffähigkeit und Gefährlichkeit von Straftätern vermieden werden müßten und die Strafgerichte ohnehin mit dem Verfahren befaßt seien.83 Schließlich kehrt der Reichsrat zu einer Kumulation von Maßregel und Strafe zurück; das Prinzip der gegenseitigen Stellvertretung der Sanktionsformen im Vollstreckungsverfahren wird restlos gestrichen.84 Die Reichsregierung übernimmt sämtliche Änderungen durch den Reichsrat in ihre Gesetzesvorlage, die als Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs im Mai 1927 dem Reichstag übersandt wird.85 Bei den Beratungen im Parlament, die sich über mehrere Legislaturperioden hinziehen, erscheint das Maßregelrecht nicht als zentraler Streitpunkt. Nachdem die Beratungen zur Strafrechtsreform durch eine überraschende Auflösung des Parlaments im Juli 1930 jäh unterbrochen werden und die Stellung der Nationalsozialisten nach den Neuwahlen 80 Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung, abgedruckt bei Schubert / Regge (1995: 199 ff.). 81 Über die Veränderungen Radbruch (1925a) – der betont, es gehe nur um „Einzelfragen“ – und Schubert (1995: XVII f.). 82 Dafür Wachenfeld (1925: 355); dagegen etwa Exner (1921: 186), E. Kern (1927: 55 ff.), von Lilienthal (1928: 303) sowie Radbruch (1927), der seine „namenlose Enttäuschung“ über die Veränderungen der Reichsratsvorlage zum Ausdruck bringt. Metzdorf (1930: 41) weist kritisch darauf hin, damit würde ein Rechtszustand wieder eingeführt, der in Sachsen bereits 1791 überwunden worden sei. 83 Schubert / Regge (1995: 277 f.). 84 Flandrak (1932: 195). 85 Wieder abgedruckt bei Schubert / Regge (1995: 437 ff.).
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stärker wird, erscheint ein Gesetzesbeschluß immer unwahrscheinlicher. In der Plenumsdebatte über den von Wilhelm Kahl und anderen Abgeordneten erneut eingebrachten Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches kündigt ein Redner der NSDAP-Fraktion bereits an, die nationalsozialistische Partei werde eine Strafrechtsreform erst dann zulassen, wenn sie „an der Macht“ sei.86 Der 1930 in den Reichstag eingebrachte Entwurf von Kahl und anderen ist eine Weiterentwicklung der ursprünglichen Reichstagsvorlage von 1927, die manchen Vorschlag der beiden Vorlagen von 1922 und 1924 aufgreift.87 Im Maßregelrecht wird die Anordnungskompetenz wieder den Gerichten zugewiesen, und die Anforderungen an die Verhängung der Sicherungsverwahrung werden verschärft. Im Verhältnis von Strafe und Maßregeln gilt jedoch weiterhin das Kumulationsprinzip.88 Dieser Entwurf wird durch den Strafrechtsausschuß des Reichstags im Zeitraum von Januar 1931 bis März 1932 in erster Lesung weitgehend beraten, wobei „Fragen weltanschaulicher Natur“ wie etwa Beibehaltung oder Abschaffung der Todesstrafe zurückgestellt werden. Die für den 26. April 1932 vorgesehene Sitzung des Ausschusses kommt nicht mehr zustande, nachdem die Nationalsozialisten aus mehreren Landtagswahlen gestärkt hervorgehen. Am 14. Mai stirbt Wilhelm Kahl, der Vorsitzende des Strafrechtsausschusses und Motor der Reform. Am 4. Juni wird der Reichstag erneut aufgelöst.
V. Der Diskussionsstand am Ende der Weimarer Republik Die kriminalpolitische Diskussion dieser Zeit ist jedenfalls in Deutschland wesentlich weniger durch einen wissenschaftlichen Austausch auf internationaler Ebene geprägt als in der Zeit bis 1914.89 Franz von Liszt und Adolphe Prins waren als letzte Gründerväter der IKV 1919 gestorben. Während verschiedene Bestrebungen zu einer Wiederbelebung dieser Vereinigung scheitern und es 1924 zu einem neuen internationalen Zusammenschluß kommt – der noch heute bestehenden Association internationale de Droit pénal –, veranstaltet die deutsche Landesgruppe der IKV seit 1920 wieder jährliche Kongresse, und auch ihre Zeitschrift erscheint in neuer Folge.90 Im September 1932 berät die deutsche Landesgruppe der IKV kontrovers über ein Thema, das zuvor noch selbstverständliche Grundlage aller Beratungen dieser Kahl (1931). Horstkotte (1977: 334). 88 von Liszt / Schmidt (1932: 412 ff.). Eine Zusammenstellung des Entwurfs von 1930 mit der Regierungsvorlage von 1927 findet sich in der Drucksache 2 des 18. Ausschusses (Strafgesetzbuch) des Reichstags der V. Wahlperiode, wieder abgedruckt bei Schubert (1997: 449 ff.). 89 Bellmann (1994: 142 ff.); Radzinowicz (1991: 83 ff.). 90 Bellmann (1994: 144 ff., 151 ff.). 86 87
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Vereinigung gewesen war: die Fortführung der Strafrechtsreform. Der erste Berichterstatter ist Eduard Kohlrausch; er verteidigt die Reform gegen autoritäre und nationalsozialistisch beeinflußte Kritik, die uninformiert sei und, wo sie eine konkrete Aussage wage, bestenfalls in Nebensächlichkeiten – dem Fehlen einer Norm über Zwangssterilisierungen – stecken bleibe. Bemerkenswert sei der von der Rechten erhobene Vorwurf des Liberalismus gegen die Tendenz der Reformentwürfe: „Durchaus illiberal ist der Gedanke, der Richter könne neben der Strafe Maßregeln der Besserung und Sicherung anordnen oder die Strafe bedingt erlassen.“91
Angesichts unsicherer Zukunftsaussichten der Gesamtreform erwägt Kohlrausch anstelle eines Einstiegs in die Novellengesetzgebung allenfalls eine vorgezogene Inkraftsetzung des Maßregelrechts als „derjenigen Gedanken des Entwurfs, in denen der stärkste Gesellschaftsschutz liegt“.92 Auch der zweite Berichterstatter Graf Gleispach hält an der Forderung nach sichernden Maßregeln fest. Er plädiert jedoch in meist verbindlichem Ton für eine Strafrechtsreform, die weniger auf eine Fortführung der bisherigen Beratungen als auf eine autoritäre Kurskorrektur hinausläuft. Für diese Umorientierung versucht er Umrisse eines strafrechtlichen Programms „der nationalsozialistischen Bewegung“ zu zeichnen: Ziel ist danach die „Förderung und Hochzüchtung der deutschen Volksgemeinschaft“, die Anknüpfung „an alte deutsche Rechtsgedanken“, die Harmonisierung von Recht und Sitte, die Betonung der Beweggründe des Handelns. Daraus will Gleispach auch das Maßregelrecht herleiten: mit der „Forderung, daß der entartete Verbrecher aus der Volksgemeinschaft ausgeschaltet werde“ und dem Ziel, „ihm dadurch übrigens auch die Möglichkeit der Fortpflanzung zu nehmen“.93 In der Diskussion setzt sich der Streit zwischen Befürwortern und rechten Kritikern der Reformentwürfe fort. So lehnt Gustav Radbruch Gleispachs Vorschlag einer „faschistischen Strafrechtsreform“ kategorisch ab, während Friedrich Schaffstein auf längere Sicht ein „von autoritär-konservativen, organischen Staatsgedanken beherrschtes Strafrecht“ befürwortet.94 Die meisten Redner äußern sich aber skeptisch über die Erfolgsaussichten der Strafrechtsreform. Die Tagung endet mit einer Abstimmung, in der zwar einstimmig die bisherigen kriminalpolitischen Ziele der IKV bestätigt werden – relativiert durch eine mit knapper Mehrheit durchgesetzte Einschränkung, die den Einfluß „neuer Geistesströmungen“ und bedeutende „Veränderungen im Verhältnis der politischen Kräfte“ anerkennt.95
Kohlrausch (1933: 156). Kohlrausch (1933: 158); ähnlich bereits Mezger (1923: 174). 93 Graf Gleispach (1933: 165 ff.). 94 Radbruch (1933: 175); Schaffstein (1933: 185). 95 Über diese Tagung und das Ende der IKV Marxen (1975: 91 ff.) und E. Schmidt (1965: 425 ff.). 91 92
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D. Fazit Am Ende der Weimarer Republik ist die Strafrechtsreform in Deutschland nach etlichen Entwürfen und eingehenden Diskussionen in der Fachöffentlichkeit an Widerständen gescheitert, die mit dieser Reformdiskussion nur vordergründig zu tun haben. Wie weit fortgeschritten die Konzeption eines Maßregelrechts zu diesem Zeitpunkt bereits ist, zeigt die Geschwindigkeit, mit der nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten das Gewohnheitsverbrechergesetz vorgelegt und in Kraft gesetzt werden kann. Auf die Entstehungsgeschichte ist im folgenden Kapitel ausführlich einzugehen. Auch Österreich und die Schweiz, deren kriminalpolitische Debatten die deutsche Diskussion in dieser Epoche zu wesentlichen Teilen prägen, besitzen zu Beginn der 1930er Jahre noch kein Maßregelrecht. In Österreich scheitert die Strafrechtsreform etwa zeitgleich wie in der Weimarer Republik an den politischen Machtverhältnissen. Das politische System der neutralen Schweiz funktioniert dagegen nach eigenen Gesetzmäßigkeiten, und fast fünfzig Jahre nach dem ersten Vorentwurf Stooss’ tritt das schweizerische Strafgesetzbuch einschließlich der Maßnahmen 1942 in Kraft.
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Kapitel 5
Das Gewohnheitsverbrechergesetz und seine Anwendung unter dem nationalsozialistischen Regime Bereits im Sommer 1933 berät die nationalsozialistische Reichsregierung im Zusammenhang mit dem Entwurf eines Gesetzes „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ über eine Vorschrift, die eine Sterilisation oder Kastration von Straftätern ermöglichen soll. Aufgrund des Widerstands des konservativen Reichsjustizministers Gürtner gegen ein Verfahren ohne Beteiligung der Strafgerichte beauftragt ihn Hitler mit der Ausarbeitung eines „Sondergesetzes“ über die „Entmannung von gemeingefährlichen Sexualverbrechern und die Unfruchtbarmachung von Gewohnheitsverbrechern“.1 Die Justizverwaltung nimmt dies zum Anlaß, einen breiter angelegten Entwurf auf der Grundlage der früheren Reformbestrebungen aus der Zeit der Weimarer Republik vorzulegen. Dieser Entwurf wird nach einigen Modifikationen aufgrund von Vorschlägen der Rassenpolitiker im Reichsinnenministerium und der Landesjustizverwaltungen als „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ im November desselben Jahres verabschiedet.2 Während ein Straftatbestand gegen den Besitz von Diebeswerkzeugen (§ 245a StGB), der zu einer Umkehr der Beweislast führt, unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes in Kraft gesetzt wird, treten die übrigen Vorschriften einschließlich derjenigen über das Maßregelrecht wie von vornherein geplant zum Jahreswechsel 1933 / 34 in Kraft – zeitgleich mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“.3 Die Schnelligkeit der gesetzgeberischen Tätigkeit auf diesem Feld hängt nicht nur mit der Tatsache zusammen, daß die neuen Regelungen weitgehend schon während der verschiedenen Anläufe zu einer Strafrechtsreform in der Weimarer Republik konzipiert wurden. Dieser Aspekt wird von den Kommentatoren der Zeit teils herausgestellt, teils eher heruntergespielt.4 Doch sollte man nicht vergessen, daß über die Notwendigkeit eines „scharfen“ Sanktionenrechts gegen Rückfalltäter um 1933 ein breiter Konsens besteht, der über die Anhänger eines autoritären Strafrechts weit hinausgeht.5 Das Regime kann deshalb mit allgemeiner Zustimmung rechnen. Und 1 Zur Entstehungsgeschichte des Gewohnheitsverbrechergesetzes im Zusammenhang mit den gesetzlichen Regelungen zur Legalisierung rassenhygienisch begründeter Sterilisierungen eingehend C. Müller (1997: 34 ff.); weiterhin Gütt et al. (1936: 64), Schäfer et al. (1934: 34) und Schmuhl (1987: 154 ff.). 2 Das Gesetz wird am 14. November 1933 im Reichskabinett beraten und am 24. November verkündet (RGBl. I 995). 3 Gesetz vom 14. Juli 1933 (RGBl. I 529). 4 Vor allem die offiziöse Literatur aus der Zeit des nationalsozialistischen Regimes betont gerade die Diskontinuitäten zu den früheren Reformentwürfen; vgl. Schäfer et al. (1934: 33 ff.); ähnlich Exner (1934: 629 f.). Anders mit dem Akzent auf den Entwürfen der Weimarer Republik etwa Gerland (1935: 20).
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
die Resonanz auf das neue Gesetz ist in der Tagespresse wie auch in der strafrechtlichen und kriminologischen Fachliteratur fast ausschließlich positiv.6
A. Das Maßregelrecht – spezifisch nationalsozialistisches Instrumentarium? Wie unterscheidet sich das Maßregelrecht des Gewohnheitsverbrechergesetzes von dem letzten Stand der Reformdiskussion am Ende der Weimarer Republik? Erst aufgrund eines solchen Vergleichs läßt sich die Frage beantworten, ob es sich um „spezifisch nationalsozialistisches Strafrecht“ handelt.7 Der nationalsozialistische Gesetzgeber wählt zunächst eine andere Überschrift. Zuerst werden die Maßregeln nun durch das Mittel der Sicherung charakterisiert, das Ziel der Besserung rückt an die zweite Stelle. Diese Umstellung signalisiert den Inhalt des neuen Abschnitts im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs, mit dem über die früheren Entwürfe hinaus „Entmannung“ und Berufsverbot als neue Sicherungsmittel eingeführt werden, während auf das in den Reformentwürfen noch vorgesehene Besserungsmittel der Schutzaufsicht verzichtet wird.8 Damit wird der Grundsatz der Subsidiarität für die Maßregeln, die an eine psychische Störung oder eine Suchtproblematik anknüpfen, entwertet, weil keine ambulante Alternative zur Verfügung steht.9
I. „Entmannung“ Während für die Untersagung der Berufsausübung in § 42l StGB auf gewerberechtliche Vorschriften und Vorbilder im italienischen und polnischen Recht verwiesen wird10, wurzelt die Vorschrift über die „Entmannung“ in § 42k StGB in teils eugenisch, teils aber auch therapeutisch motivierten psychiatrischen Vorstellungen über die Sterilisation von Straftätern.11 Auch in ausländischen Rechtsord5 Finger (1934: 203), Gallas (1934: 20, 27 f.), von Hippel (1934), Kohlrausch (1933: 156, 158); resümierend Frommel (1991: 55) und Marxen (1975: 162). Die These von Exner (1934: 630), eine frühere Verwirklichung sei an „individualistischen Bedenken“ gegenüber tiefen Eingriffen „in die Freiheit des Individuums“ gescheitert, läßt sich nicht belegen. 6 C. Müller (1997: 45 ff.). Ausnahmen sind danach ein Artikel in der „Frankfurter Zeitung“ vom 1. Dezember 1933 sowie die skeptischen Bemerkungen bei von Hentig (1934). 7 Eindeutig bejaht wird diese Frage etwa von Hellmer (1961a: 293 f.), Kammeier (1996: 176), Schewe (1999: 80), Schönberger (2002: 13) sowie Seidl (1974: 35), der sich für diese Einschätzung jedoch zu Unrecht auf E. Schmidt (1965: 436) beruft. Ausdrücklich ablehnend dagegen Gruchmann (1988: 843), Meier (2001: 218) und Schreiber (1989: 167 f.). Über mögliche Kriterien einer solchen Beurteilung Werle (1989: 5 ff., 733 ff.). 8 Exner (1934: 632); Schäfer et al. (1934: 111). 9 Kammeier (1996: 83 f.). 10 Schäfer et al. (1934: 153 ff.). 11 Zusammenfassend C. Müller (1997: 31 ff., 44) und Schmuhl (1987: 99 ff.).
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nungen finden sich nur vereinzelte Bestimmungen, die eine Kastration von Sexualstraftätern ermöglichen, so in verschiedenen Einzelstaaten der USA.12 Zentrale Voraussetzung der Maßregel ist die Qualifikation des Täters als „gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher“ aufgrund einer Gesamtwürdigung. Der Wortlaut des Gesetzes schränkt das gerichtliche Ermessen durch formelle Voraussetzungen nur unwesentlich ein; nach § 42k I Nr. 2 StGB genügt als Anlaß der Maßregel eine Verurteilung wegen zweier Sexualdelikte zu Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr. Eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit wird durch den Gesetzeswortlaut nicht ausdrücklich gefordert, aber von der Rechtsprechung als Voraussetzung dieser Maßregel betrachtet. 13 § 42k StGB ist die einzige Vorschrift des Maßregelrechts, die nach 1945 als nationalsozialistisches Unrecht aufgehoben wird.14 Bei genauerer Betrachtung erweist sich der nationalsozialistische Charakter dieser Maßregel allerdings nicht als so eindeutig, wie es zunächst den Anschein hat. Die neuere historische Forschung weist darauf hin, daß sich eugenisch geprägte politische Vorstellungen auch bei einflußreichen Vertretern der Sozialdemokratie während der Weimarer Republik finden, etwa bei dem Soziologen Theodor Geiger und dem Strafrechtler Gustav Radbruch15, und sich selbst der politische Katholizismus solchen Einflüssen nicht völlig entziehen kann, wie Stellungnahmen des früheren Reichsjustizministers Erich Emminger zeigen.16 Das Gebiet, das sich in dieser Zeit für ein gesetzgeberisches Signal zugunsten erweiterter Möglichkeiten der Sterilisation anbietet, ist die Kriminalpolitik. In der deutschen Sozialdemokratie werden etwa seit Mitte der 1920er Jahre Reformvorstellungen entwickelt, die auf einen „Schutz der Gesellschaft und der Rasse“ zielen17, und unter ausdrücklicher Bezugnahme darauf spricht sich Radbruch für die Sicherungsverwahrung als Maßnahme gegen Formen der „Kriminalität auf biologisch verseuchter Grundlage“ aus.18 Das hat Folgen auch für die Reformberatungen im Reichstag. Im Februar 1931 beantragt die SPD-Fraktion durch ihren Abgeordneten Wilhelm Hoegner im Strafrechtsreformausschuß die Allen (1983: 122); Laughlin (1936: 667); Schäfer et al. (1934: 145). Werle (1989: 100 f.); zur einschränkenden Interpretation durch die höchstrichterliche Rechtsprechung RG, Urteil vom 21. Juni 1934 – 2 D 572 / 34 (= RGSt 68, 230, 231), wo bei Exhibitionismus als Alternative zur „Entmannung“ die Sicherungsverwahrung in Betracht gezogen wird. 14 Art. I des Gesetzes Nr. 11 über Aufhebung einzelner Bestimmungen des deutschen Strafrechts vom 30. Januar 1946 (ABl. des Kontrollrats in Deutschland, 55); hierzu Etzel (1992: 83 ff.). 15 Schwartz (1997: 22 ff.). 16 Schwartz (1995: 294 f.). 17 Olberg (1926: 134 ff.). Die Autorin, eine Journalistin, ist fasziniert von den vermeintlichen Möglichkeiten der Kriminalanthropologie Lombrosos, schreckt allerdings davor zurück, „auf dem Boden der Klassengesellschaft die radikale Umgestaltung des Strafrechts zu verwirklichen“. Schon für die bestehende Gesellschaftsordnung entwickelt sie strafrechtliche Reformvorstellungen bis hin zur Kastration, Deportation und Todesstrafe. 18 Radbruch (1927: 250). 12 13
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Einführung einer Maßregel der Unfruchtbarmachung und findet Zustimmung bei der NSDAP. Der Vorschlag scheitert einerseits an der grundsätzlichen Ablehnung durch Zentrum und KPD, andererseits an den Vorstellungen der nichtkatholischen bürgerlichen Parteien, die sich für eine allgemeinere Regelung im Abschnitt über die Körperverletzung aussprechen.19 Die Zweifel an diesem kriminalpolitischen Ansatz werden erst zu einem Zeitpunkt laut, als die politische Sorge vor der Ausnutzung durch ein nationalsozialistisches Regime in den Vordergrund getreten ist.20 An diese Beratungen im Strafrechtsausschuß des Reichstags kann das Gewohnheitsverbrechergesetz anknüpfen. Die amtliche Begründung enthält keinen diesbezüglichen Hinweis. Dort wird jedoch ausgeführt, daß ein großer Teil der Personen, die für die Anwendung des Maßregelrechts in Frage kommen, eine doppelte „Gefahr für die Volksgemeinschaft“ darstellten: „nicht nur durch ihr verbrecherisches Handeln, sondern auch durch die Belastung des Volkes mit einer minderwertigen Nachkommenschaft.“21
Aufgaben der Eugenik fielen zwar nicht in die Zuständigkeit des Strafrechts; deshalb wird auf eine künftige Novelle zu dem „Gesetz über die Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verwiesen. Doch wird eine Zusammenarbeit der Strafverfolgungs- und Vollzugsbehörden mit den für die Anwendung des Sterilisationsgesetzes zuständigen Instanzen angeregt: „Soweit aber jetzt schon Gewohnheitsverbrecher als erbkrank im Sinne dieses Gesetzes unfruchtbar gemacht werden können, wird es Aufgabe der Justizbehörden sein, das Eingreifen des zuständigen Erbgesundheitsgerichts zu veranlassen.“
Auch der offiziöse Kommentar zum Erbgesundheitsgesetz weist nachdrücklich auf den Zusammenhang von Kriminalprävention und Rassenhygiene hin: „Um dem bevölkerungspolitischen Zweck zu genügen, muß darum in Zukunft sowohl von Staatsanwälten wie von Richtern und Amtsärzten erwartet werden, daß sie bei ihren Maßnahmen und Anordnungen nicht nur den Zweck der Strafe in Rechnung stellen, sondern auch an den bevölkerungspolitischen Sinn und das Ziel des Gesetzes denken.“22
Nicht nur durch Anordnung einer Kastration, sondern allgemein durch die Verhängung freiheitsentziehender Maßregeln erfüllten die Gerichte „eine völkische Pflicht gegenüber der Allgemeinheit“, weil dadurch Verbrecher „von der Fortpflanzung ausgeschaltet“ würden. In welchem Umfang tatsächlich Straffälligkeit über die Maßregel der „Entmannung“ hinaus als Anlaß einer Sterilisation dient, wird erst neuerdings untersucht. Ergebnisse einer regionalen Studie aus Hamburg zeigen, daß jedenfalls dort strafrechtliche Vorbelastung, vor allem die wiederholte 19 20 21 22
Schwartz (1995: 300 ff.). Schwartz (1995: 307 f.). Eine von Schäfer et al. (1934: 116) im Wortlaut übernommene Passage. Gütt et al. (1936: 62).
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Begehung kleinerer Delikte mit anschließender Verbüßung einer Freiheitsstrafe, einen der wesentlichen Anlässe für die Einleitung eines Sterilisationsverfahrens vor dem Erbgesundheitsgericht darstellt.23
II. Sicherungsverwahrung Von zentraler Bedeutung ist darüber hinaus das Konzept der Sicherungsverwahrung. Diese Maßregel ist wie in den Reichstagsvorlagen von 1927 und 1930 an die Feststellung gebunden, daß der Täter ein „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ ist. Darüber bestimmt die Strafschärfungsvorschrift des § 20a StGB: „(I) Hat jemand, der schon zweimal rechtskräftig verurteilt worden ist, durch eine neue vorsätzliche Tat eine Freiheitsstrafe verwirkt und ergibt die Gesamtwürdigung der Taten, daß er ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist, so ist, soweit die neue Tat nicht mit schwererer Strafe bedroht ist, auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren und, wenn die neue Tat auch ohne diese Strafschärfung ein Verbrechen wäre, auf Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren zu erkennen. Die Strafschärfung setzt voraus, daß die beiden früheren Verurteilungen wegen eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens ergangen sind und in jeder von ihnen auf Todesstrafe, Zuchthaus oder Gefängnis von mindestens sechs Monaten erkannt worden ist. (II) Hat jemand mindestens drei vorsätzliche Taten begangen und ergibt die Gesamtwürdigung der Taten, daß er ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist, so kann das Gericht bei jeder abzuurteilenden Einzeltat die Strafe ebenso verschärfen, auch wenn die übrigen im Abs. 1 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind. (III) Eine frühere Verurteilung kommt nicht in Betracht, wenn zwischen dem Eintritt ihrer Rechtskraft und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind. Eine frühere Tat, die noch nicht rechtskräftig abgeurteilt ist, kommt nicht in Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in der der Täter eine Freiheitsstrafe verbüßt oder auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird. (IV) Eine ausländische Verurteilung steht einer inländischen gleich, wenn die geahndete Tat auch nach deutschem Recht ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen wäre.“
Die Fassung des Gewohnheitsverbrechergesetzes unterscheidet sich von ihren Vorbildern in den früheren Entwürfen durch eine Lockerung der formellen Voraussetzungen bei zwingender Anordnung der Strafschärfung im Regelfall des § 20a I StGB. Inhaltlich wird der Begriff des „gefährlichen Gewohnheitsverbrechers“ durch das Gesetz nicht festgelegt. Das ist ein Aspekt, der nicht nur in der Beratung der Reichsregierung über den Gesetzentwurf eine Rolle spielt24, sondern auch in der Praxis für gewisse Irritationen sorgt. Eine Interpretation knüpft an den Begriff der Gewohnheitsmäßigkeit aus dem Besonderen Teil des Strafrechts an und kommt 23 Nach Rothmaler (1991: 26, 55 ff., 141 ff.) entfallen 19% der Sterilisationsverfahren gegen Betroffene außerhalb geschlossener Anstalten auf Straffällige mit Vollzugserfahrung. 24 Gruchmann (1988: 843).
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so zu einer Einschränkung der Sicherungsverwahrung25; die Gegenmeinung löst sich dagegen von dieser Bindung und will gerade solche Täter erfassen, die berufsmäßig handeln und „Verbrechen als Lebenserwerb“ betreiben.26 Damit vermischt sich die Frage nach den Kriterien der Gefährlichkeit. Wenn diesem Merkmal eine selbständige Bedeutung zukommen soll, muß es mehr meinen als die bloße Möglichkeit der Begehung eines neuen Delikts. Allerdings wird es von Anfang an darauf reduziert, die Erwartung bloß „lästiger“ Verhaltensweisen nicht in die Reichweite der Strafschärfungsvorschrift einzubeziehen. Als erhebliche Störung des Rechtsfriedens läßt die Rechtsprechung kleinere Eigentums- oder Vermögensdelikte ausreichen.27 Solche Auslegungsfragen im Detail sind von Bedeutung, weil das Gewohnheitsverbrechergesetz eine drastische Verschärfung der Strafen und damit auch eine breite Anwendung der Sicherungsverwahrung ermöglicht. Denn § 20a II StGB läßt sich generell auf mehrfach straffällige Täter beziehen, deren Taten der Wortlaut der Norm nicht weiter kennzeichnet als durch den Vorsatz. Das führt zu einem fast schrankenlosen gerichtlichen Ermessen, da drei Übertretungen ausreichen können, um einen Verurteilten als „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ zu brandmarken.28 Und diese Kennzeichnung führt in aller Regel29 zur Sicherungsverwahrung, da § 42e StGB keine weitere normative Hürde aufstellt: „Wird jemand nach § 20a als ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert.“
Auch die Vorschrift über die Sicherungsverwahrung weicht von den Entwürfen ab. Das Gewohnheitsverbrechergesetz macht die Maßregel obligatorisch, und es 25 Gerland (1935: 30 ff.). In dieser Richtung auch die höchstrichterliche Rechtsprechung; siehe z. B. RG, Urteile vom 19. April 1934 – 2 D 333 / 34 (= RGSt 68, 149, 154 f.) und vom 8. Juni 1934 – 1 D 485 / 34 (= JW 1934, 2057, 2058). 26 Gürtner (1933: 197 f.). 27 RG, Urteile vom 17. April 1934 – 4 D 403 / 34 (= RGSt 68, 98) und 5. April 1938 – 1 D 108 / 38 (= DJ 1938, 1156). 28 Exner (1934: 650 ff.), Gerland (1935: 42) und von Hippel (1934: 4). Der Reichsjustizminister Gürtner (1933: 199) betrachtet die Ermessensvorschrift dagegen seltsamerweise als besondere Sicherung gegen Mißgriffe der Justiz. 29 Exner (1934: 653 f.) diskutiert zwei Ausnahmen: anderweitige Sicherung etwa durch eine lebenslange Zuchthausstrafe und zu erwartende Besserung durch den Strafvollzug. In dem Kommentar von Schäfer et al. (1934: 131) wird nur die erste dieser Ausnahmen angesprochen. Nach der empirischen Untersuchung von Hellmer (1961a: 12 Fn. 3, 306 f.) erweist sich die gesetzliche Differenzierung zwischen der Strafschärfung für Gewohnheitsverbrecher und der Unterbringung nach § 42e StGB in der Praxis als bedeutungslos: die Eigenschaft, Gewohnheitsverbrecher zu sein, wird „in der Mehrzahl der Fälle einfach aus der Tatsache der Vorbestrafungen geschlossen“. Diese Entscheidungspraxis steht im Widerspruch zu einigen Entscheidungen des Reichsgerichts; so etwa RG, Urteile vom 19. April 1934 – 2 D 333 / 34 (= RGSt 68, 149, 154 f.) und vom 28. September 1934 – 4 D 809 / 34 (= JW 1934, 2912).
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sieht von dem Erfordernis einer früheren Verurteilung zu Todesstrafe oder Zuchthaus ab.30 Eine wenige Monate nach Inkrafttreten des Gewohnheitsverbrechergesetzes eingeführte Sondervorschrift des politischen Strafrechts setzt die allgemeinen Voraussetzungen der Maßregel außer Kraft und schreibt die Anordnung der Sicherungsverwahrung neben einer Zuchthausstrafe wegen Landesverrats bereits dann vor, „wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert“ (§ 93).31 Wesentlich für die Praxis der Sicherungsverwahrung in der Zeit unmittelbar nach ihrer Einführung sind mehrere Vorschriften, die ihren Anwendungsbereich gewissermaßen in die Vergangenheit erweitern. Zunächst bestimmt die Übergangsvorschrift des Art. 5 I des Gewohnheitsverbrechergesetzes, daß das für die Strafschärfung nach § 20a StGB geltende Rückwirkungsverbot sich für die Zulässigkeit der Maßregel nicht auswirkt. Darüber hinaus wird eine Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen alle sich noch im Strafvollzug befindenden Gefangenen zugelassen, die nachträglich von den Gerichten als „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ angesehen werden. Unabhängig von diesen Übergangsregelungen können schließlich Sicherungsverfahren auch gegen Straftäter deutscher Staatsangehörigkeit durchgeführt werden, die im Ausland verurteilt wurden.32
III. Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt Dagegen unterscheiden sich die Vorschriften über die Unterbringung psychisch gestörter und suchtkranker Täter nur durch geringfügige Abweichungen in der Formulierung von den entsprechenden Vorschlägen des Entwurfs 1930. § 42b StGB lautet in der Fassung des Gewohnheitsverbrechergesetzes: „(I) Hat jemand eine mit Strafe bedrohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit (§ 51 Abs. 1, § 58 Abs. 1) oder der verminderten Zurechnungsfähigkeit (§ 51 Abs. 2, § 58 Abs. 2) begangen, so ordnet das Gericht seine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt an, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert. Dies gilt nicht bei Übertretungen. (II) Bei vermindert Zurechnungsfähigen tritt die Unterbringung neben die Strafe.“
Damit sollen auch Fälle einbezogen werden, in denen sich die Schuldunfähigkeit bereits während des Ermittlungsverfahrens ergibt und für die das Ausführungsgesetz zugleich Vorschriften über das Sicherungsverfahren33 als besondere VerfahKinzig (1996: 17 f.); Schewe (1999: 43 ff.); Werle (1989: 96). Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens vom 24. April 1934 (RGBl. I 341). Zu diesem meist als „Verratsnovelle“ bezeichneten Gesetz Werle (1989: 108 ff.). 32 Exner (1934: 643); Schäfer et al. (1934: 130 f.). 33 §§ 429a ff. StPO in der Fassung des Ausführungsgesetzes zu dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 (RGBl. I 1000). 30 31
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rensart in das Strafprozeßrecht einführt. Zugleich bringt die Formulierung klarer zum Ausdruck, daß die Anlaßtat nachgewiesen sein muß. § 42c StGB unterscheidet sich nur durch redaktionelle Veränderungen von der entsprechenden Vorschrift des Entwurfs 1930. Als Grundsatz für die Vollstreckung der freiheitsentziehenden Maßregeln formuliert § 42 f. I StGB: „Die Unterbringung dauert so lange, als ihr Zweck es erfordert.“
Die damit festgelegte unbestimmte Dauer wird durch lange gerichtliche Überprüfungsfristen – drei Jahre bei Psychiatrie und Sicherungsverwahrung, zwei Jahre bei wiederholter Unterbringung in einem Arbeitshaus oder Asyl – kaum eingeschränkt. Höchstfristen von zwei Jahren sind lediglich für die stationäre Suchtbehandlung und die erste Unterbringung in Arbeitshaus oder Asyl vorgesehen. Die Vollstreckungsreihenfolge von Freiheitsstrafen und Maßregeln regelt § 456b StPO im Sinne eines Vorrangs der Strafverbüßung; eine teilweise oder sogar vollständige Vorwegvollstreckung der Maßregel ist nur ausnahmsweise und lediglich bei den auch therapeutischen Sanktionen der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt vorgesehen. Selbst dann findet keine Anrechnung des Aufenthalts im Maßregelvollzug auf die Strafe statt. Das Vollstreckungsrecht des Gewohnheitsverbrechergesetzes verschärft die Vorschläge des Entwurfs 1930 damit in charakteristischer Weise: der Sicherungszweck wird absolut gesetzt. Nach dem letzten Entwurf aus der Zeit der Weimarer Republik war lediglich die Sicherungsverwahrung unbefristet, für die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt galt eine Höchstfrist von drei Jahren, für die anderen freiheitsentziehenden Maßregeln eine Höchstfrist von zwei Jahren. Eine Verlängerung der Unterbringung über die Höchstfrist hinaus erforderte eine erneute gerichtliche Anordnung vor Fristablauf und war nur bei der Unterbringung in der Psychiatrie und der wiederholten Unterbringung in einem Arbeitshaus vorgesehen (§ 60 E 1930).
B. Zur Praxis des Maßregelrechts Der Normtext sagt für sich genommen nur wenig darüber aus, welche Bedeutung einer Regelung in der Rechtsanwendung zukommt. Das gilt für eine Rechtsordnung wie die des Nationalsozialismus, in der das geschriebene Strafrecht von den mehr oder weniger offiziellen Instanzen des Regimes immer wieder systematisch unterlaufen wird, in besonderer Weise.34 Die Praxis des Maßregelrechts nach 1933 läßt sich für die Zahlen der gerichtlichen Anordnungen anhand der offiziellen Statistiken bis 1939 verfolgen. Zwar existieren zwei sich überschneidende statistische Grundlagen in den Veröffentlichungen der Zeitschrift „Deut34
E. Schmidt (1965: 430).
Kap. 5: Gewohnheitsverbrechergesetz und Nationalsozialismus
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sche Justiz“ und der Reichskriminalstatistik; diese stimmen jedoch der Tendenz nach überein.35 Danach ist die Sicherungsverwahrung nach Inkrafttreten des Gesetzes 1934 mit über 3.900 Anordnungen bei weitem die häufigste Maßregel, wobei die Prognosen des Reichsjustizministeriums 36 bereits im ersten Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes um ein Mehrfaches übertroffen werden; im Zeitraum bis 1937 sind die Anordnungszahlen, die anfänglich offenbar durch das Bestreben der Gerichte geprägt sind, die neue Sanktion gegen alle als Gewohnheitsverbrecher in Betracht kommenden Angeklagten ebenso zu verhängen wie gegen noch nicht aus der Haft entlassene Strafgefangene, aber stark rückläufig.37 Die Justizorgane reagieren auf die rückläufigen Zahlen der Anordnungen von Sicherungsverwahrung mit dem Bestreben, die Maßregel „rücksichtslos“ einzusetzen. Ende der 30er Jahre geht auch die Praxis des Reichsgerichts stärker dazu über, das Anwendungsgebiet der Sicherungsverwahrung auszudehnen.38 Ab 1938 kommt es infolge der zu diesem Zeitpunkt einsetzenden Kampagne erneut zu einem steilen Anstieg der Zahlen, der den stark von den Fällen nachträglicher Anordnung geprägten Wert von 1934 aber nicht erreicht.39 Die empirische Untersuchung von Joachim Hellmer zeigt für den Zeitraum ab 1938 eine weitere Lockerung der Anforderungen für die Verhängung der Maßregel bei den Tatgerichten: das Alter der Verurteilten geht im Vergleich zu den ersten Jahren des Maßregelrechts zurück, und ihre Vorstrafenzahl ist geringer.40 Diese Studie enthält auch deskriptive Daten zur Qualität der Delikte, die in den Vollzug der Sicherungsverwahrung führen. Bei den 186 Personen der Untersuchungsgruppe, bei denen die Maßregel anläßlich einer Straftat angeordnet wird, dominieren einfache Eigentums- und Vermögensdelikte: 45 % der Anordnungen erfolgen anläßlich einer Verurteilung wegen einfachen Diebstahls, 40 % wegen 35 Aus diesem Grund relativiert die von Exner (1939) geübte Kritik an der Verläßlichkeit und Gültigkeit des Zahlenmaterials die Aussagekraft der folgenden Betrachtung nicht entscheidend. 36 Eine bei Schäfer et al. (1934: 130) wiedergegebene Schätzung beläuft sich auf lediglich 800 bis 1.000 Personen. 37 Mezger (1944: 267); C. Müller (1997: 53 ff.). 38 Zur Rechtsprechung RG, Urteile vom 27. April 1939 – 2 D 165 / 39 (= RGSt 73, 154), vom 5. September 1939 – 1 D 714 / 39 (= RGSt 73, 303, 305) und vom 30. Juni 1941 – 2 D 192 / 41 (= DStR 1941, 167). Siehe weiter die Allgemeinverfügung des Reichsjustizministeriums über Strafsachen gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher vom 3. März 1938 (DJ 1938, 323) mit zahlreichen Beispielen für Anwendungsfälle der Sicherungsverwahrung; darunter etwa „solche Elemente“, die bei ihren Taten „eine Waffe bei sich führen oder alsbald nach der Entlassung wieder rückfällig geworden sind, sich als reisende Verbrecher betätigen, der Polizei umfangreiche und schwierige Ermittlungsarbeiten verursacht haben, oder aus der Strafhaft ausbrechen, um alsbald neue Straftaten zu begehen“. Dazu Gruchmann (1988: 729 ff.) und Werle (1989: 97, 516 ff.). 39 Hellmer (1961a: 17) schätzt die Gesamtzahl der Verurteilungen zu Sicherungsverwahrung bis zum Ende des nationalsozialistischen Regimes auf etwa 16.000 Fälle. 40 Hellmer (1961a: 299 ff.).
7 Dessecker
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Betrugs.41 Unter den im nachträglichen Sicherungsverfahren aufgrund der Übergangsregelung und der rückwirkenden Inkraftsetzung des Gewohnheitsverbrechergesetzes eingewiesenen Personen sind schwere Diebstähle – bei 42 % dieser Verurteilten – dagegen häufiger. Insgesamt handelt es sich jedoch in vielen Fällen um Bagatelldelikte; erhebliche Schäden sind seltene Ausnahmen.42 Die Zahl der aus den Akten ersichtlichen Vorstrafen – zwei Drittel der Verurteilten weisen mehr als zehn frühere Verurteilungen auf – steht nach Hellmer „in einem auffälligen Mißverhältnis zur Schwere der Vorstrafen“. In zwei Dritteln der Fälle ist nach seiner Interpretation „fraglich, ob wirklich von einer dauernden Gefährlichkeit des Täters gesprochen werden kann und ob vor allem die regulären Mittel unseres Strafrechts erschöpft waren, ehe zum Mittel der Sicherungsverwahrung gegriffen wurde“.43 An der Untersuchung von Hellmer ist nicht ganz unproblematisch, daß sie sich auf Straftäter im Vollzug der Sicherungsverwahrung konzentriert. Verurteilte mit langen Freiheitsstrafen, die nach einer Verurteilung zuerst vollzogen werden, sind daher systematisch unterrepräsentiert. Ein Vergleich der Deliktsverteilung für die Anordnungen der Maßregel in den Jahren 1934 und 1936 nach der gerichtlichen Kriminalstatistik führt indes ebenfalls zu dem Ergebnis, daß gewaltlose Eigentums- und Vermögensdelikte dominieren.44 An zweiter Stelle der Maßregeln steht nach den absoluten Häufigkeitsangaben in der Statistik die Unterbringung in einem Arbeitshaus, die in den Jahren 1934 und 1936 jeweils in mehr als 1.900 Fällen, 1935 und 1937 etwas seltener angeordnet wird. Die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt nimmt von rund 550 Anordnungen 1934 auf etwa 900 im Jahr 1937 stetig zu. Die „Entmannung“ wird 1934 in rund 670 Fällen angeordnet, ist aber bis 1937 deutlich auf weniger als 200 Anordnungen rückläufig. Die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt bleibt dagegen mit rund 100 Fällen 1934 und einem Anstieg auf mehr als 150 Anordnungen 1937 unbedeutend und wird teilweise noch seltener verhängt als die Berufsuntersagung.45
C. Konzentrationslager und Tötungsaktionen Wesentlich für die Praxis des Maßregelrechts ist weiter, daß Freiheitsentziehungen durch Polizeiorgane seit der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus strafgerichtliche Sanktionen ersetzen und ergänzen. Im Verhältnis zu den kriminalrechtlichen Maßregeln wirken sich vor allem die polizeiliche Vorbeugungshaft, aber auch die für politische Gegner des Regimes vorgesehene „Schutzhaft“ als 41 Hellmer (1961a: 30). Diese Angaben beruhen auf Mehrfachnennungen, so daß sie sich nicht addieren lassen. 42 Hellmer (1961a: 33, 35 ff.). 43 Hellmer (1961a: 55 ff.). 44 C. Müller (1997: 61 ff.). 45 Mezger (1944: 267).
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Instrumente für die Korrektur gerichtlicher Entscheidungen über die Sicherungsverwahrung aus.46 Bereits wenige Tage vor dem Zustandekommen des Gewohnheitsverbrechergesetzes wird Mitte November 1933 durch einen geheimen Erlaß des preußischen Innenministers Göring die „vorbeugende Polizeihaft gegen Berufsverbrecher“ eingeführt. Das Ermessen der Polizeidienststellen, welche Personen für diese Maßnahme in Frage kommen, ist nicht durch den Text des Erlasses begrenzt, der nicht einmal eine strafbare Handlung fordert, sondern lediglich durch die Kapazitäten der Konzentrationslager: für jede preußische Landeskriminalpolizeistelle wird ein Plansoll für die Anzahl der Personen festgesetzt, die festgenommen werden sollen.47 Eine ähnliche Verhaftungsaktion wird im ganzen Reichsgebiet nach der Ernennung Himmlers zum Chef der deutschen Polizei im März 1937 durchgeführt; auch sie richtet sich gegen Personen, „die nach Auffassung der Kriminalpolizei als Berufs- und Gewohnheitsverbrecher sowie als gewohnheitsmäßige Sittlichkeitsverbrecher anzusprechen“ sind.48 Was die Unterbringung von Straftätern in der Psychiatrie während der Zeit des Nationalsozialismus betrifft, steigen die Zahlen der Maßregelpatienten nach § 42b StGB zumindest bis 1939 an, da jährlich etwa 500 bis 700 Verurteilte in den psychiatrischen Maßregelvollzug eingewiesen werden und nur wenige Entlassungen erfolgen. Ende der 30er Jahre wird die Gesamtzahl der nach dieser Rechtsgrundlage Untergebrachten auf knapp 4.000 geschätzt.49 Selbst wenn man berücksichtigt, daß Unterbringungen anläßlich einer Straftat auch schon vor Inkrafttreten des Gewohnheitsverbrechergesetzes vorkommen, liegt der Anteil der Straftäter im Vergleich zur Gesamtzahl der stationären Patienten sehr niedrig. Bis 1939 steigen nämlich die Zahlen der Patienten in geschlossenen Anstalten – auch aufgrund strikter sozialer Kontrolle und extensiver Nutzung von Zwangseinweisungen – auf über 340.000 Personen; der langfristige Anstieg der Anstaltspopulation seit Ende des 19. Jahrhunderts50 wird in Deutschland nur durch hohe Todeszahlen gegen Kriegsende 1917 – 18 unterbrochen. Diese Entwicklung führt zu einer permanenten Überbelegung, deren Folgen durch drastische Senkungen der Pflegesätze seit Ende der 20er Jahre verschärft werden. Infolge von Mangelernährung steigt die Sterberate in den Heil- und Pflegeanstalten bereits bis 1939 an.51 Andererseits sind die Anstaltspatienten nach dem gesundheitspolitischen Konzept der Nationalsozialisten eine wichtige Zielgruppe nicht nur finanzieller Kürzungen, sondern auch der Sterilisation. Sterilisationen werden spätestens seit etwa 1930 immer breiter akzeptiert und bis Ende 1933 ohne Rechtsgrundlage, aber mit teilweiser Billigung der Anstaltsträger noch vor Inkrafttreten des Erbgesundheitsgesetzes durchgeführt.52 46 Werle (1989: 508 ff., 533 ff.). Exner (1939: 105) spricht in kritischer Absicht geradezu von einer „Zweispurigkeit von Justiz und Verwaltung“. 47 Gruchmann (1988: 719 ff.) und Werle (1989: 488 f.). 48 Gruchmann (1988: 724 f.); Werle (1989: 522). 49 Creutz (1939: 140 ff.). 50 Siehe zu dieser Entwicklung bereits Kapitel 3 A. (S. 50). 51 Schmuhl (1993: 116 ff.).
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Hitler äußert bereits 1935 seine Absicht, „das Problem der Heil- und Pflegeanstalten in einem eventuellen Kriegsfalle radikal zu lösen“ – offenbar mit der Erwartung, dann weniger Widerstand vor allem aus christlichen Kreisen zu provozieren. In Einzelfällen kommt es bereits während der 30er Jahre mit Billigung der staatlichen Instanzen zu ungesetzlichen Schwangerschaftsabbrüchen aus eugenischen Gründen – die ab 1935 durch eine Gesetzesänderung53 zugelassen werden – und zur Tötung behinderter Kinder.54 Diese Tötungsaktionen werden durch eine Psychiatrie begünstigt, die ihr professionelles Ziel weniger in der Behandlung kranker Menschen als in der Bekämpfung psychischer Störungen in der Bevölkerung sieht. Sie kann sich auf eine öffentliche Diskussion seit etwa 1920 stützen, in der die Tötung „lebensunwerter“ Menschen nicht als strafwürdig angesehen wird.55 Der Kreis der Betroffenen wird unterschiedlich weit gezogen. Manche Autoren denken an unheilbar Kranke, an Bewußtlose, „die nur noch zu einem namenlosen Elend erwachen würden“, oder an „unheilbar Blödsinnige“, die sie als „geistig tote Fremdkörper im Gefüge der menschlichen Gesellschaft“ betrachten.56 Vereinzelt wird bereits die Ausdehnung auf „Gewohnheitsverbrecher“ erwogen.57 Eine erste Tötungswelle von behinderten Kindern außerhalb der Anstaltspflege beginnt um den Jahreswechsel 1938 / 39.58 Die Erfassung der stationären Patienten in Heil- und Pflegeanstalten wird im Oktober 1939 mit einem Runderlaß des Reichsinnenministeriums eingeleitet, nach dem alle Patienten zu melden sind, die an bestimmten Krankheiten wie etwa Schizophrenie, Epilepsie oder „Schwachsinn jeder Ursache“ leiden und „in den Anstaltsbetrieben nicht oder nur mit mechanischen Arbeiten“ zu beschäftigen sind. In gesonderten Kategorien aufgeführt werden psychiatrische Patienten, „die sich seit mindestens 5 Jahren dauernd in Anstalten befinden“, und diejenigen, welche aufgrund einer Maßregel nach § 42b StGB „als kriminelle Geisteskranke verwahrt sind“. Die so erhobenen Daten dienen einer zentral geplanten und organisierten Tötungsaktion59, die nach der Einrichtung einer geheimen Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 als „Aktion T4“ 52 Schmuhl (1993: 115, 127 f.). Das Gesetz, das zur Legalisierung dieser Praxis dient, tritt am 1. Januar 1934 in Kraft. 53 Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 26. Juni 1935 (RGBl. I 773); dazu Schmuhl (1987: 161 ff.). 54 Friedlander (1995: 84 f.); Gruchmann (1988: 499 ff.). 55 Als sehr einflußreich gilt das gemeinsame Buch des in Fragen der Strafrechtsdogmatik meist zur „klassischen Schule“ gezählten Strafrechtlers Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche; siehe Binding (1922). Ihre Gedanken werden durch die Denkschrift des preußischen Justizministers Kerrl (1933: 87) aufgegriffen. Zur Rezeption von Binding und Hoche im übrigen Friedlander (1995: 48 ff.), Schmuhl (1987: 115 ff.) und Schwartz (1998: 625 ff.). 56 So Binding (1922: 28 ff.). 57 K. Klee (1921: 4 f.). 58 Friedlander (1995: 84 ff.); Schmuhl (1987: 182 ff.). 59 Siehe die zusammenfassenden Darstellungen von Friedlander (1995: 117 ff.) und Schmuhl (1987: 190 ff.), die diese Tötungsaktionen als Vorstufe zur Vernichtung der europäischen Juden interpretieren. Als Beispiel einer regionalen Studie Schröter (1994: 129 ff.).
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bezeichnet wird. Zu diesem Zweck werden sechs Tötungsanstalten mit Vergasungsanlagen eingerichtet, die hauptsächlich zwischen Januar 1940 und dem Ende der Aktion im August 1941 in Betrieb sind, teilweise auch über diesen Zeitpunkt hinaus. Zwischen Herbst 1941 und Frühjahr 1943 liegt eine Phase der „wilden Euthanasie“, in der Patienten von etwa 30 Heil- und Pflegeanstalten durch überdosierte Medikamente und Verhungernlassen getötet werden. Eine Reinstitutionalisierung und erneute Zentralisierung der Tötungsaktionen findet ab 1943 im Rahmen weiträumiger Verlegungen von Anstaltsinsassen als „Aktion Brandt“ statt.60 Die Gesamtzahl der Opfer aus den Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1939 und 1945 wird auf über 100.000 geschätzt.61 Eine gesetzliche Reglementierung wird zwar von Vertretern der Justiz immer wieder vorgeschlagen, kommt aber wegen des Widerstands der Tötungsbürokratie und der Ablehnung Hitlers nie zustande. Die Staatsanwaltschaften erfahren bei der Vollstreckung von Unterbringungsentscheidungen nach § 42b StGB häufig erst bei Gelegenheit der Überprüfung einer Fortdauer und nach aufwendigen Ermittlungen, daß die Verurteilten längst nicht mehr am Leben sind.62 Strafgefangene und Sicherungsverwahrte trifft eine Maßnahme, die auf ihre organisierte Tötung in anderer Form hinausläuft. Im Sommer 1942 wird wenige Tage nach Amtsantritt des Reichsjustizministers Thierack beschlossen, bestimmte Gruppen von Inhaftierten, die als „asozial“ bezeichnet werden, mit dem Ziel ihrer „Vernichtung durch Arbeit“ in den Konzentrationslagern an die Polizei abzugeben; von Beginn dieser Aktion an werden durch eine eigens eingerichtete Abteilung des Reichsjustizministeriums alle Verurteilten erfaßt, gegen die Sicherungsverwahrung angeordnet ist. Eine diesbezügliche Verfügung an die Strafvollzugsanstalten ergeht im Oktober 1942. Diese Verlegungen dauern bis in den Herbst 1944 an.63 Anfang Juli 1943 folgt eine Anordnung, nach der alle Verurteilten mit einer psychiatrischen Unterbringung (§ 42b StGB) in die Konzentrationslager verlegt werden sollen. Es kommt zwar zu entsprechenden Verlegungen; gleichzeitig wird eine große Zahl forensischer Patientinnen und Patienten aber in die Tötungsanstalten verlegt.64 Nach den in Archiven erhaltenen Akten der SS ist davon auszugehen, daß eine große Zahl der von diesen Verlegungsaktionen Betroffenen die Konzentrationslager nicht überleben. So sind von den bis April 1943 überstellten mehr als 12.000 Sicherungsverwahrten und Strafgefangenen zu diesem Zeitpunkt bereits über 5.900, also fast die Hälfte, an Entkräftung und Krankheit gestorben.65 Schmuhl (1987: 220 ff.). Schmuhl (1987: 236). 62 Friedlander (1995: 200 ff.); Gruchmann (1988: 516 ff.); Schröter (1994: 136 f.). 63 Hellmer (1961a: 343, 371 ff.); E. Klee (1983: 356 ff.); Möhler (1996: 157 ff.); Schmuhl (1987: 227 f.). 64 Emmerich (1989: 116 ff.). 65 Gruchmann (1988: 745); Möhler (1996: 159 f.). Andere Zahlen bei Mayer (1962: 163 Fn. 13) nach einer nicht näher bezeichneten „Verteidigungsschrift der zur Mitwirkung ge60 61
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
D. Kriegsstrafrecht Das Kriegsstrafrecht des Nationalsozialismus verschärft währenddessen zahlreiche Strafdrohungen, wobei auch für viele Alltagsdelikte die Todesstrafe eingeführt wird. Dabei kommt es auch zu einer Gesetzesänderung, die den Regelungsgehalt des Gewohnheitsverbrechergesetzes berührt. Ein Strafrechtsänderungsgesetz von 1941 schreibt anstelle der Strafschärfung nach § 20a StGB, der Sicherungsverwahrung und der „Entmannung“ bei beliebigen Delikten die Verhängung der Todesstrafe vor, „wenn der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordern“.66 Es ist wahrscheinlich, daß die Todesstrafe in der Folge in vielen Fällen an die Stelle einer kriminalrechtlichen Maßregel tritt. Daneben werden seit Beginn des 2. Weltkriegs polizeiliche Exekutionen teils anstelle einer strafrechtlichen Sanktion, teils zur Korrektur strafgerichtlicher Entscheidungen eingesetzt, wofür seit Herbst 1942 sogar ein besonderes Verfahren installiert wird.67
E. Fazit Das Gewohnheitsverbrechergesetz enthält die erste gesetzgeberische Grundentscheidung für ein Maßregelrecht in Deutschland. Deshalb wird bis heute darüber gestritten, ob es als integraler Bestandteil der nationalsozialistischen Rechtsordnung zu gelten hat oder lediglich als Abschluß einer jahrzehntelangen Reformdiskussion, die überwiegend unter rechtsstaatlichen Vorzeichen geführt wurde. Es empfiehlt sich, bei einer solchen Beurteilung zwischen Normtext und Anwendungspraxis zu unterscheiden.68 Was die Formulierungen der Sanktionsvorschriften betrifft, hält sich das Gewohnheitsverbrechergesetz in der Grundstruktur wie in der Ausgestaltung der einzelnen Maßregeln eng an den Stand der Reformdiskussion in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Vergleicht man die Normtexte mit denen der früheren Entwürfe, kann an der Kontinuität kein Zweifel bestehen. Allerdings stimmt das Maßregelrecht des Gewohnheitsverbrechergesetzes mit den Beschlüssen des Strafrechtsreformausschusses im Reichstag keineswegs überein; durch die einseitige Betonung des Sicherungsziels auf Kosten therapeutischer Ansätze wird das Instruzwungenen Ministerialbeamten“; danach sollen mindestens 9.000 Personen aus der Sicherungsverwahrung in die Konzentrationslager verlegt worden sein, unter denen er lediglich 1.000 Überlebende vermutet. 66 Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuchs vom 4. September 1941 (RGBl. I 549); hierzu C. Müller (1997: 91 f.) und Werle (1989: 314 ff.). Mezger (1943: 47) interpretiert dieses Gesetz als Entscheidung zugunsten einer Sicherungsstrafe und gegen die Zweispurigkeit. 67 Evans (1996: 696 ff.); Werle (1989: 577 ff.). 68 Dieser Vorschlag findet sich bei Werle (1989: 733 ff.) für das Strafrecht des Nationalsozialismus in seiner Gesamtheit; zur Sicherungsverwahrung Kinzig (1996: 26 ff.).
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mentarium so verbogen, daß es für die nationalsozialistische Strafpolitik eingesetzt werden kann. Zudem werden die vor 1933 beschlossenen normativen Begrenzungsmechanismen weitgehend außer Kraft gesetzt. Was die Auslegung des Maßregelrechts durch die Gerichte betrifft, ist vor allem für die Sicherungsverwahrung eine deutliche Tendenz zur Verschärfung zu beobachten. Dabei ordnet sich auch das Reichsgericht der politischen Forderung nach rücksichtsloser Verbrechensbekämpfung unter. Und schließlich gehören die Straftäter, die als Klientel des Maßregelvollzugs in Betracht kommen, zu den Opfern staatlich organisierter Tötungsaktionen. Rechtsanwendung geht im nationalsozialistischen Staat über in entgrenzte Verbrechensbekämpfung, und insofern bricht die Kontinuität zum System der Strafjustiz in der Weimarer Republik.
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
Kapitel 6
Strafrechtsreformen seit 1945 Dieses Kapitel schildert die Reformdiskussion im deutschen Strafrecht seit 1945, soweit sie für die Entwicklung des Maßregelrechts relevant ist. Von einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Auslegung dieser Vorschriften durch Strafrechtswissenschaft und Rechtsprechung wird hier abgesehen, um Überschneidungen mit den weiteren Teilen der Arbeit zu vermeiden.
A. Die Strafrechtsreform in der Bundesrepublik I. Ausgangssituation und erste Reformüberlegungen Nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes hebt der Alliierte Kontrollrat in seinem Gesetz Nr. 1 zunächst diverse „Grundgesetze“ der Rechtsordnung seit 1933 auf.1 Darunter ist auch das Staatsschutzstrafrecht in der Fassung der „Verratsnovelle“ von 1934, das die Anordnung der Sicherungsverwahrung von den allgemeinen Voraussetzungen des § 42e StGB löste.2 Im Januar 1946 folgt mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 11 eine Aufhebung von 40 einzelnen Bestimmungen des deutschen Strafrechts, unter anderen der Vorschrift über die Maßregel der „Entmannung“ (§ 42k StGB). Während die Abschaffung dieser Sanktion offenbar nicht in Frage gestellt wird, wenden sich mehrere Interventionen deutscher Stellen gegen die ersatzlose Streichung der strafrechtlichen Vorschriften über Hoch- und Landesverrat, die dem Schutz deutscher Mitarbeiter der Besatzungsmächte gegen eine spätere strafrechtliche Verfolgung dienen soll; Art. IV KRG Nr. 11 schließt nämlich ein Wiederaufleben des Rechtszustands vor 1933 aus.3 In der amerikanischen Besatzungszone wird darüber hinaus die Unterbringung in einem Arbeitshaus (§ 42d StGB) vorübergehend abgeschafft.4 Über diese einzelnen gesetzgeberischen Maßnahmen hinaus wird schon seit 1946 eine umfassendere Überarbeitung des Strafgesetzbuchs geplant. Bereits im Anschluß an die Verabschiedung des Kontrollratsgesetzes Nr. 11 wird ein Vorentwurf erstellt, der in Stellungnahmen deutscher Strafrechtler wie etwa des Frei1 Art. I des Gesetzes Nr. 1 über Aufhebung von Nazi-Gesetzen vom 20. September 1945 (ABl. des Kontrollrats in Deutschland, 3); hierzu Etzel (1992: 80 ff.). 2 Siehe Kapitel 5 A. II. (S. 95). 3 Etzel (1992: 83 ff.). 4 Militärregierungsgesetz Nr. 14 zur Aufhebung deutscher Gesetze über Unterbringung in einem Arbeitshaus vom 1. April 1949 (Bayer. GVBl. 78); die Regelung gilt bis zur Wiedereinführung der Maßregel durch Art. 6 des Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 4. August 1953 (BGBl. I 735, 748).
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burger Professors Adolf Schönke allerdings abgelehnt wird; diese weisen darauf hin, daß bei der Beurteilung des Rechtszustands am Ende des NS-Regimes eine Trennung typisch nationalsozialistischer und international vergleichbarer, rechtsstaatlich erträglicher Vorschriften erfolgen sollte.5 Bei den Beratungen innerhalb der Gremien des Kontrollrats wird die fakultative Strafschärfung für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ in § 20a II StGB beseitigt und die Anwendbarkeit einer allgemeinen Strafschärfungsnorm auf Verletzungen bestimmter Rechtsgüter beschränkt. Die Sicherungsverwahrung wird vor allem wegen ihrer im Vergleich zu anderen Ländern extrem häufigen Anwendung unter dem NS-Regime aufgegeben, was auf den fast einhelligen Widerspruch der deutschen Stellungnahmen zu diesem Entwurf stößt.6 Allerdings scheitern diese Reformpläne mit der faktischen Einstellung der alliierten Zusammenarbeit im Kontrollrat im März 1948. Nach Gründung der Bundesrepublik ist die Vordringlichkeit einer Gesamtreform des Strafrechts keineswegs unumstritten. Konservativen Vertretern der Strafrechtswissenschaft scheint es, daß es vor allem auf die „Reinigung“ des Strafgesetzbuches von allzu offensichtlich nationalsozialistischen Bestimmungen und die Klärung von Zweifelsfragen über die Geltung von Vorschriften ankommt, die wie etwa die Tötungsdelikte oder der Tatbestand der Nötigung in der Zeit des NS-Regimes geändert wurden, aber einen Rechtsgüterschutz gewährleisten, über dessen Notwendigkeit Konsens besteht.7 Zudem will man eine weitere Rechtszersplitterung zwischen den Teilen Deutschlands vermeiden; noch 1951 beschließt der Deutsche Juristentag, eine umfassende Strafrechtsreform „im Interesse der deutschen Rechtseinheit bis zur Wiedervereinigung zurückzustellen“. 8 Teilweise wird die ebenfalls seit langem diskutierte Gesamtreform des Strafverfahrensrechts9 unter dem Einfluß neuer technischer Möglichkeiten im Beweisrecht als bedeutsamer dargestellt.10 Anderen erscheint die Reform des materiellen Strafrechts verfrüht, solange nicht eine Strafvollzugsreform dafür sorgt, daß sie im Vollzug der Freiheitsstrafen auch verwirklicht werden kann.11 Solche Stimmen können sich darauf berufen, daß die Einführung des Maßregelrechts durch das Gewohnheitsverbrechergesetz schon 1933 als Erfüllung eines berechtigten Reformbedürfnisses angesehen wird, und daran hat sich 20 Jahre später wenig geändert.12 Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung in der Bundesrepublik wendet 5 Etzel (1992: 168 ff.). Neben Schönke ist als deutscher Strafrechtswissenschaftler Eduard Kohlrausch an den Beratungen beteiligt. 6 Etzel (1992: 78, 176 ff.). 7 R. Lange (1952). 8 Dieser Vorschlag von R. Lange (1952: 24) wird mit einer redaktionellen Änderung einstimmig angenommen. 9 Als Überblick Dessecker / Geissler-Frank (1995: 56 ff.). 10 So Spendel (1957: 54). 11 Grünwald (1964: 648); E. Schmidt (1957: 367 ff.). 12 Umstritten sind lediglich Detailfragen wie die Wiedereinführung der „Entmannung“, die von Hartung (1951: 427) in Betracht gezogen, bei R. Lange (1952: 23) dagegen nicht
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
das geltende Maßregelrecht an, ohne seine frühere Auslegung im Sinne eines nationalsozialistischen Strafrechtsverständnisses zu problematisieren.13 Doch wird die Weichenstellung zugunsten eines zweispurigen Sanktionensystems nicht völlig ungebrochen akzeptiert. Das zeigt der alte Einwand des „Etikettenschwindels“, der nunmehr mit dem Hinweis auf den Schutz der Menschenwürde durch Art. 1 I GG verfassungsrechtlich untermauert werden kann.14 Bedenken gegen die Unterscheidung von Strafen und Maßregeln kommen zu Beginn der Reformarbeiten in der Bundesrepublik auch aus dem Bundesministerium der Justiz. Eduard Dreher setzt sich in einem Gutachten zum VI. Internationalen Strafrechtskongreß in Rom für ein einspuriges Sanktionensystem der Sicherungsstrafen ein.15 Unabhängig von ihrer Bezeichnung komme strafrechtlichen Sanktionen nämlich immer zumindest eine gewisse Sicherungswirkung zu. Ein konsequentes Schuldstrafrecht führe zu einem Bruch zwischen der nach dem Vergeltungsprinzip bemessenen Strafe und dem für den Strafvollzug allgemein anerkannten Ziel der Resozialisierung. Die zweispurige Trennung von Strafen und Maßregeln werde in den gerichtlichen Sanktionsentscheidungen überspielt, wenn etwa die Anordnung einer Maßregel zu einer Strafmilderung führe. Auch subjektive Effekte einer Sanktion hingen – bei den Verurteilten wie bei der generalpräventiv zu beeinflussenden Bevölkerung – nicht von ihrer Bezeichnung ab. Die Sicherungsverwahrung in Deutschland, „die der Verbrecher bei weitem am meisten fürchtete“, zeige eher generalpräventive Wirkungen als die traditionellen Freiheitsstrafen.16 Im Ergebnis plädiert Dreher für eine Wiederbelebung ethischer Funktionen der Strafe, die er jedoch einem „mehrdimensionalen Strafbegriff“ zuweist. Andere kritische Stellungnahmen beschäftigen sich mit der Anwendung des Maßregelrechts. Diesbezüglich wird der Justiz in der Bundesrepublik der 1950er Jahre nicht selten eine zu große Zurückhaltung vorgeworfen, wobei es in erster Linie um die – von manchen als zu niedrig angesehenen – Zahlen zur Anordnung der Sicherungsverwahrung geht.17 Dabei wird die mit rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbare Praxis des nationalsozialistischen Regimes teilweise in bezeichneneinmal erwähnt wird. Über die Forderung nach Wiedereinführung des Arbeitshauses sind sich beide Autoren einig. 13 BVerfG, Beschluß vom 30. Januar 1953 – 1 BvR 377 / 51 (= BVerfGE 2, 118) beschäftigt sich allein mit dem Vollzug der Sicherungsverwahrung; aus der Rechtsprechung der Strafgerichte etwa BGH, Urteil vom 15. Dezember 1955 – 4 StR 432 / 55 (bei Dallinger, MDR 1956, 143). 14 K.A. Hall (1958: 53 ff.). Auch Dreher (1953: 485 f.) greift auf das Argument des „Etikettenschwindels“ zurück. 15 Dreher (1953); ähnlich Heinitz (1958: 2 ff.). 16 Dreher (1953: 485) bezieht sich damit auf Erfahrungen der Strafrechtspraxis, wie sie etwa von dem ehemaligen Reichsgerichtsrat Hartung (1951: 427) formuliert werden. 17 Dreher (1957). Eine Art Erwiderung auf diese Vorwürfe aus richterlicher Sicht bei Seibert (1958). Siehe hierzu auch die Darstellung zur langfristigen Entwicklung der kriminalrechtlichen Sanktionen in Kapitel 8 B. (S. 133 ff.).
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der Weise zum Vergleich herangezogen: sei es der „Maßregel-Justiz“ doch „vor 1945 immerhin gelungen ( . . . ), das Gewohnheitsverbrechertum weitgehend auszuschalten“.18 Zum Hintergrund dieser Diskussion gehören Rufe nach einer Wiedereinführung der erst durch Art. 102 GG abgeschafften Todesstrafe, die nicht nur in der Presse laut werden, sondern in den frühen 50er Jahren zweimal bis in das Stadium parlamentarischer Beratungen gelangen und auch die Große Strafrechtskommission beschäftigen.19 Ein anderer Ansatz der Kritik bezieht sich auf die Eignung des Maßregelrechts zur Sanktionierung von Straßenverkehrsdelikten, auf die sich mit zunehmender Bedeutung des motorisierten Individualverkehrs besondere Aufmerksamkeit richtet. Hier erfüllt die 1953 eingeführte Entziehung der Fahrerlaubnis20 nicht alle Erwartungen.21
II. Der Regierungsentwurf 1962 Die ersten Justizminister der Bundesrepublik setzen sich dafür ein, daß die Strafrechtsreform bereits Anfang der 1950er Jahre wieder in Angriff genommen wird. Den Akteuren im Bundesministerium der Justiz geht es vor allem darum, an die Entwürfe aus der Zeit der Weimarer Republik anzuknüpfen und eine Reform zu verwirklichen, die sich weitgehend an der Reichstagsvorlage von 1927 orientiert.22 Rechtsvergleichende Vorarbeiten, die an der Universität Freiburg durch Schönke und – nach dessen Tod – durch Dietrich Lang-Hinrichsen koordiniert werden, gibt bereits 1952 Bundesjustizminister Thomas Dehler in Auftrag. Sein Nachfolger Fritz Neumayer beruft 1954 eine Große Strafrechtskommission ein, der Vertreter der Strafrechtswissenschaft ebenso angehören wie solche der Strafrechtspraxis; alle Kommissionsmitglieder sind Juristen. Ein erster Entwurf eines Allgemeinen Teils wird 1956 vorgelegt, eine erste Fassung des gesamten Strafgesetzbuchs folgt 1959. Im September 1960 wird ein Regierungsentwurf dem Bundesrat zugeleitet und – wegen der zu Ende gehenden Legislaturperiode – ohne Stellungnahme der Ländervertretung bereits zwei Monate später im Bundestag eingebracht. Nach der 18 H.-J. Bruns (1959a: 211); Dreher (1957: 51); Hartung (1951: 427). Gegen eine Überschätzung kriminalpräventiver Effekte der Sicherungsverwahrung bereits Exner (1939: 98 ff.); weiter Grünwald (1964: 640 ff.) und Seibert (1958: 259). 19 Hierzu etwa die 108. Sitzung der Großen Strafrechtskommission mit Referaten von Bockelmann (1959) und Skott (1959) sowie Evans (1996: 789 ff.). Der Zusammenhang zwischen Sicherungsverwahrung und Todesstrafe, der jedenfalls in der Öffentlichkeit hergestellt wird, ist kein spezifisch deutsches Phänomen. Mannheim (1960: 25) weist darauf hin, daß die Abkehr von einem zweispurigen Sanktionensystem in England und Wales 1948 weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit erfolgt, während zugleich heftig über die Todesstrafe debattiert wird. 20 § 42m StGB in der Fassung des Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 19. Dezember 1952 (BGBl. I 832). 21 H.-J. Bruns (1959a: 247); anders Lackner (1958: 288), der bloße Anlaufschwierigkeiten vermutet. 22 Treiber (1996: 235 ff.).
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
Bundestagswahl von 1961 gelangt der Regierungsentwurf 1962 mit kleinen Änderungen erneut in das Gesetzgebungsverfahren.23 Alle Entwürfe der Großen Strafrechtskommission und die durch die Justizverwaltung überarbeiteten Fassungen halten an einem zweispurigen Sanktionensystem fest und geben ihm breiten Raum. Dabei setzt sich die Position der Zweispurigkeit gegen eine Minderheit in der Großen Strafrechtskommission durch.24 Die Anzahl der vorgesehenen Maßregeln und ihre Ausgestaltung schwanken in den verschiedenen Stadien der Reformberatungen.25 Doch lehnt sich der Regierungsentwurf 1962 letztlich eng an das geltende Recht an; er sieht in § 81 neun Maßregeln vor. Da die Strafschärfung für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ wegen ihrer angenommenen Unvereinbarkeit mit dem Schuldprinzip durch eine allgemeine Rückfallschärfung (§ 61) ersetzt wird, erhält die Vorschrift über die Sicherungsverwahrung (§ 85) eigenständige Voraussetzungen. Der Begriff „Gewohnheitsverbrecher“ wird nicht mehr gebraucht und durch eine Formulierung ersetzt, die auf einen „Hang zur Begehung erheblicher Straftaten“ abstellt. Darüber hinaus wird die Sicherungsverwahrung durch zwei weitere, primär auf Sicherung zielende Maßregeln ergänzt. Gegen die „bedenkliche Steigerung der Frühkriminalität zwischen 18 und 30 Jahren“ wird für junge Erwachsene unter 27 Jahren (zum Zeitpunkt der Anlaßtat), bei denen eine Entwicklung zum Hangtäter prognostiziert wird, die Maßregel der „vorbeugenden Verwahrung“ (§ 86) vorgesehen. Da diese Sanktion die von der Strafrechtspraxis nicht akzeptierte Sicherungsverwahrung für relativ junge Täter ersetzen soll, ist sie zugleich als „letzter eindrücklicher Erziehungsversuch“ mit einer Höchstdauer von fünf Jahren gedacht, so daß trotz der Benennung auch die Funktion der Besserung intendiert ist.26 Als „ambulante Sicherungsverwahrung“ soll die Maßregel der Sicherungsaufsicht (§§ 91 ff.) hinzukommen.27 Weiterhin tritt die Bewahrungsanstalt als neue Form der „Anstaltsunterbringung“ neben die für psychisch gestörte Straftäter vorgesehene Unterbringung in 23 BT-Drucksache 4 / 650 vom 4. Oktober 1962; in der 5. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages erneut eingebracht als Initiativantrag in BT-Drucksache 5 / 32 vom 11. November 1965. 24 Das zeigt das Ergebnis der Schlußabstimmung über die vom Bundesministerium der Justiz formulierte Grundsatzfrage 4 („Soll das bisherige System der Zweispurigkeit von Strafen und sichernden Maßregeln beibehalten werden oder einem System grundsätzlicher Einspurigkeit weichen?“), bei der sich neun Mitglieder für ein zweispuriges, vier für ein einspuriges und drei für ein vikariierendes System aussprechen; hierzu Bundesministerium der Justiz (1956: 112) und W. Schmidt (1964: 6). 25 Die folgende Darstellung beschränkt sich auf den in das formelle Gesetzgebungsverfahren eingebrachten Entwurf 1962, der auch den Beratungen des vom Bundestag gebildeten Sonderausschusses für die Strafrechtsreform zugrunde liegt. 26 H.-J. Bruns (1959a: 242 ff.); grundsätzlich positiv und mit Korrekturvorschlägen im Detail auch Schaffstein (1963). 27 H.-J. Bruns (1959a: 245 ff.).
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einer Heil- oder Pflegeanstalt (§ 82); die Zielgruppe besteht aus – nach der damaligen psychiatrischen Terminologie – „Psychopathen“, die eine gewisse psychische Belastung aufweisen, dabei nicht pflege- oder medizinisch behandlungsbedürftig und deswegen in üblichen psychiatrischen Anstalten fehlplaziert erscheinen, aber auch im Strafvollzug für Unruhe sorgen.28 Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 83) – so der neue Oberbegriff für alle Einrichtungen für Täter mit einer Suchtproblematik – wird über das bisherige Recht hinaus auch bei Schuldunfähigkeit zugelassen. Das Arbeitshaus (§ 84) wird von der Bindung an bestimmte Übertretungstatbestände gelöst und als Anstalt für solche Straftäter konzipiert, die beliebige Straftaten „aus Arbeitsscheu oder aus Hang zu einem unsteten oder ungeordneten Leben“ begehen, sofern sie deswegen nicht zu Gefängnis von mehr als neun Monaten verurteilt werden.29 Das zweispurige Sanktionensystem wird durch die im Vollstreckungsverfahren vorgesehene Möglichkeit des Vikariierens von freiheitsentziehenden Maßregeln und Strafen abgemildert; diese wird in § 87 E 1962 allerdings weitgehend in das Ermessen der Gerichte gestellt. Eine wichtige Ausnahme ist die Sicherungsverwahrung: hier meint man, die abweichende Schweizer Lösung mit konsequenter „Einspurigkeit im Vollzug“ habe sich „wenig bewährt“.30 III. Abweichende Reformkonzepte Der Entwurf 1962 wird in der Strafrechtswissenschaft zunächst überwiegend positiv gewürdigt; Einwände machen sich eher an einzelnen Regelungsvorschlägen fest als an der Gesamtkonzeption.31 Darüber hinaus geht die eigenwillige Kritik des Kieler Strafrechtlers Hellmuth Mayer, die zunächst wenig zur Kenntnis genommen wird. Er verfolgt drei Anliegen: eine Einschränkung „menschenzerstörender Vielstraferei“ vor allem durch Entkriminalisierung von Vermögensdelikten, eine stärkere Betonung der Bestimmtheit der Straftatbestände und eine grundlegende Reform des Sanktionensystems, das „sich in der Praxis nur teilweise bewährt“ habe.32 Seine Beurteilung des Entwurfs 1962 unterstützt das Festhalten an einem Tatstrafrecht, dessen individualpräventive Möglichkeiten aber nicht ausgeH.-J. Bruns (1959a: 240). H.-J. Bruns (1959a: 241 f.); gegen die Beibehaltung des Arbeitshauses Grünwald (1964: 648 ff.). 30 H.-J. Bruns (1959a: 222 und Fn. 26); diese Einschätzung aus der Ferne kontrastiert in bemerkenswerter Weise mit der damaligen Schweizer Reformdiskussion, welche für die zweite Teilrevision des schweizerischen Strafgesetzbuchs nicht nur an der Einspurigkeit im Vollzug festhält, sondern darauf zielt, die einzige Ausnahme – bei der Einweisung in eine Trinkerheilanstalt – zu beseitigen. Siehe Frey (1958: 24 ff.) und H. Schultz (1966: 119); ebenso für die Reform in Deutschland Jescheck (1968: 83). 31 Siehe die Kritik von Maurach (1960: 17 ff., 38 ff.) an jeder Relativierung des Schuldprinzips und einem gewissen Perfektionismus im Maßregelrecht. W. Schmidt (1964: 153) bezeichnet das Maßregelrecht als den am besten gelungenen Teil des Entwurfs. 32 Mayer (1962: V f.). 28 29
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
schöpft würden. Der Gedanke der „Lebensführungsschuld, richtiger das von dieser Schuld getragene Dauerverhalten“ fordere „eine besondersartige, unter Umständen verschärfte Strafe“.33 Der Sicherungsverwahrung als Maßregel kann Mayer allenfalls wegen der auch von ihm angenommenen Abschreckungswirkung etwas abgewinnen; vor allem die vorbeugende Verwahrung für junge Erwachsene, deren Zielsetzung nach dem Entwurf unklar bleibe, lehnt er scharf ab.34 Mayer schlägt ein differenziertes Sanktionensystem vor, in dem die Geldstrafe – im Höchstmaß begrenzt auf 90 Tagessätze – als „gewöhnliche Hauptstrafe für die leichte Kriminalität“ erscheint. Darauf folgen neben der Verwarnung Formen des offenen Vollzugs („Strafdienst“) als neue Strafart. Die traditionelle Unterscheidung von Haft, Zuchthaus und Gefängnis will er beibehalten. Hinzu kommen Verwirkungsstrafen wie Berufsverbot und Entziehung der Fahrerlaubnis, während echte „Maßnahmen des Kriminalrechts“ nur zulässig sein sollen, wenn sie „nicht in die Substanz der Person eingreifen“ und im wesentlichen in das Nebenstrafrecht verwiesen werden. Als Ergänzung soll ein an die Sozialhilfe angelehntes statusrechtliches Verfahren hinzukommen.35 Die in der Bundesrepublik der 50er Jahre dominanten, auf Kontinuität bedachten Reformbestrebungen kontrastieren auch mit der damaligen internationalen Diskussion über eine Strafrechtsreform. Vor allem in Frankreich und Italien wird das Strafrecht durch die kriminalpolitische Bewegung der „défense sociale“ in Frage gestellt, der Kriminalitätskontrolle ein humanistisches Anliegen ist.36 Unter dem Dach der seit 1949 bestehenden internationalen Gesellschaft – der Société internationale de Défense sociale – versammeln sich von Anfang an Vertreter heterogener kriminalpolitischer Bestrebungen. Deshalb werden meist zwei Richtungen unterschieden: eine gemäßigte Richtung unter Führung von Marc Ancel und ein radikalerer Flügel mit Filippo Gramatica an der Spitze. Ancel geht es im wesentlichen um eine neue Begründung des überkommenen Strafrechts, das – ähnlich wie in der deutschen Diskussion seit Liszt – als zentraler Teil einer „gesamten Strafrechtswissenschaft“ verstanden wird.37 Diese neuen Grundsätze der Kriminalitätskontrolle werden vor allem individualpräventiv fundiert; Generalprävention wird aber als Sanktionszweck ebensowenig verworfen wie Vergeltung, die auf gewisse Ausnahmekonstellationen reduziert wird.38 Der Mayer (1962: 45 ff., 49). Mayer (1962: 161 ff.). 35 Mayer (1962: 119 ff., 127). Der Rückgriff auf den Ansatz des Sozialhilferechts ist eine Weiterentwicklung früherer Vorschläge bei Mayer (1936: 143 ff.), deren völkisch-rassenhygienische Prägung nicht zu übersehen ist. 36 Zusammenfassende Darstellungen aus der Sicht des deutschen Strafrechts finden sich bei Kubink (2002: 420 ff.), M. Melzer (1970) und Würtenberger (1956). 37 Ancel (1981: 212 ff.); Jescheck / Weigend (1996: 16 ff.); Roxin (1997: 4 ff.). 38 M. Melzer (1970: 94 f.) kritisiert die Beibehaltung der Vergeltung als dogmatisch inkonsequent. 33 34
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Begriff der Schuld wird ersetzt durch den der Verantwortlichkeit. Betont wird der Schutz der Grundrechte und der Menschenwürde der Beschuldigten; dies führt dazu, daß ein subjektiver Anspruch auf Behandlung anerkannt, über die Sanktionsverhängung hinausgehender Zwang aber abgelehnt wird.39 Ancel erhebt den Anspruch einer Integration der Strafe und der sichernden Maßnahmen in einem einheitlichen Sanktionensystem. Dieses einspurige Sanktionenrecht, das er in groben Zügen entwirft, betont die kriminalpolitische Bedeutung von Sanktionen ohne Freiheitsentziehung wie Geldstrafe, Wiedergutmachungsleistungen und Bewährungsstrafe, obwohl die Erforderlichkeit von Freiheitsentziehungen für bestimmte Fallgruppen ausführlich begründet wird.40 Bekannt geworden sind weiter seine Forderungen nach einer Institutionalisierung der Persönlichkeitserforschung mit einem „dossier de personnalité“, das die Verurteilten durch die Instanzen und Organisationen der Kriminaljustiz begleitet, und nach einer Zweiteilung des gerichtlichen Verfahrens mit Tatinterlokut.41 Damit wird deutlich, daß sich Ancels neue Sozialverteidigung von einem modernisierten Schuldstrafrecht nicht prinzipiell, sondern allenfalls in Einzelheiten unterscheidet42; viele seiner kriminalpolitischen Folgerungen waren zumindest zeitweise auch in der Bundesrepublik Deutschland populär.43 Demgegenüber zielt Gramatica auf ein allein an dem Gesichtspunkt der „Verteidigung der Gesellschaft“ orientiertes Maßnahmenrecht, das an die Stelle eines liberalen und rechtsstaatlichen Strafrechts treten soll. Der Schutz von Rechtsgütern als Ziel strafrechtlicher Normen wird ersetzt durch das Ziel sozialer Anpassung; Normverstöße sind nicht mehr als Indizien für die Antisozialität der Täter, deren Grad allerdings in einen Zusammenhang mit der Tatschwere gebracht wird.44 Um die intendierte Resozialisierung zu ermöglichen, wird eine umfassende Persönlichkeitserforschung gefordert. Dementsprechend werden die Gerichte zu einer Art sozialmedizinischen Instanz, die aufgrund ihres eher psychowissenschaftlichen oder auch biologischen als juristischen Sachverstands über den Grad der Antisozialität der Täter und die zu ihrer Besserung erforderlichen Maßnahmen entscheiden.45 Für rechtsstaatliche Garantien ist in diesem Verfahren wenig Platz, aber sie sollen auch entbehrlich sein, da ohnehin alles zum Besten der Täter geschieht. Freiheitsstrafen sind aus dieser Sicht vergleichbar mit Zwangsunterbringungen anläßlich einer ansteckenden Krankheit oder dem Schulzwang.46 So vor allem Ancel (1981: 258 ff.) und Graven (1958: 50 ff.). Ancel (1981: 230 ff., 273 ff.). 41 Ancel (1981: 216 ff.). 42 So auch die Thesen der Beiträge von Graven (1958: 50 ff.) und M. Melzer (1970: 52 ff.). 43 Zur „Persönlichkeitsakte“ etwa Jescheck / Weigend (1996: 87), zum Tatinterlokut zusammenfassend Garbe (1997: 1 ff.). Die Literatur zur Wiedergutmachung als Sanktionsinhalt ist mittlerweile sehr umfangreich; siehe als Überblick Walther (2000: 31 ff.). 44 Gramatica (1961: 74 ff.). 45 Gramatica (1961: 275 ff., 278). 46 Gramatica (1961: 69 ff., 290 f., 297). 39 40
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
Der Einfluß der „défense sociale“ auf die Reformdiskussion in der Bundesrepublik bleibt insgesamt jedoch eher gering; diese kriminalpolitische Bewegung wird überwiegend aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt. Die Rezeption in Deutschland stößt von vornherein auf einige Schwierigkeiten, obwohl mit HansHeinrich Jescheck ein Mitglied der Großen Strafrechtskommission zugleich dem Komitee der internationalen Gesellschaft für Sozialverteidigung angehört.47 Diese Schwierigkeiten dürften mit Unterschieden der nationalen Wissenschaftskulturen zusammenhängen, aber auch mit der späten Übersetzung von Ancels Hauptwerk in die deutsche Sprache.48 Dabei wird der Ansatz Ancels teilweise positiv aufgenommen49, aber insgesamt weniger beachtet. Die Kritik beschäftigt sich hauptsächlich mit der radikalen Richtung und konzentriert sich auf zwei Gesichtspunkte. Zum einen wird vorgebracht, daß durch die Aufgabe des Schuldprinzips die Proportionalität der Sanktion zur Tat in vielen Fällen verloren gehe. Andererseits sei es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren, die notwendig im voraus kaum zu bestimmende Behandlungsbedürftigkeit zum Maß der Sanktionierung zu machen.50 Wie auch die Heranziehung eines Gesetzentwurfs aus der stalinistischen Zeit der Sowjetunion als Vorbild zeige, sei jedenfalls die radikale Richtung der „défense sociale“ nicht frei von totalitären Zügen.51 Der erste Entwurf der Großen Strafrechtskommission wird von dem Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der meist zu dieser radikalen Richtung gezählt wird52, als konservativ kritisiert, weil der Entwurf nicht Anschluß an den Stand der kriminalpolitischen Diskussion suche, sondern auf die Straftheorien der Aufklärung zurückgreife. Das zweispurige Sanktionensystem – in Wahrheit „eine Mißgeburt siamesischer Zwillinge“ – sei durch Unentschiedenheit geprägt und nicht einheitlich zu begründen. Es gebe nur zwei Alternativen, meint Bauer: „Entweder beschränkt man – unter Verzicht auf resozialisierende und sichernde Maßregeln – das Strafrecht auf die schuldvergeltende Strafe, oder man schafft ein Kriminalrecht, das – unter Verzicht auf Strafen – ausschließlich Maßnahmen resozialisierenden oder sichernden Charakters kennt. Ein reines Maßnahmenrecht folgt aus der Überforderung jeden irdischen Richters, dem aufgegeben ist, ,das Maß der Schuld des Täters‘ festzustellen.“53 Darauf weist M. Melzer (1970: 3) hin. Das Buch von Gramatica (1961) erscheint in deutscher Übersetzung, kurz bevor er als Präsident der Internationalen Gesellschaft für Sozialverteidigung von Ancel abgelöst wird. Ancels Buch erscheint in erster Auflage bereits 1954; erst die zweite Auflage von 1966 wird vier Jahre später ins Deutsche übersetzt. Die erneut überarbeitete dritte Auflage – Ancel (1981) – liegt nicht in einer deutschen Fassung vor. 49 Siehe etwa Jescheck / Weigend (1996: 27 f., 87) und vor allem M. Melzer (1970). 50 Siehe z. B. Bockelmann (1960), H. Kaufmann (1963), R. Lange (1970: 63 ff.) und Lenckner (1972: 14 ff.). 51 R. Lange (1970: 81 f.). 52 So etwa von Lenckner (1972: 15 Fn. 44). 53 Bauer (1957: 164, 252). 47 48
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Unter den Angehörigen der Gremien, welche die Reform vorantreiben, also der Großen Strafrechtskommission und dem Kreis der „Alternativ-Professoren“, ist kaum ein Anhänger dieser Richtung.54 Die Stellungnahmen, die von Vertretern der „défense sociale“ zur Strafrechtsreform in Deutschland abgegeben werden, sind darüber hinaus äußerst uneinheitlich; sie reichen von einer in groben Umrissen skizzierten Erneuerung des Sanktionensystems55 über das resignierende Ausweichen auf den Vorschlag, es bei bloßer Novellengesetzgebung zu belassen56, bis zu einer von grundsätzlicher Zustimmung zu den Regierungsentwürfen getragenen, verhaltenen Detailkritik.57 Ein erster ausformulierter Gegenentwurf zum Allgemeinen Teil des Regierungsentwurfs 1962 wird dagegen bereits im folgenden Jahr von Jürgen Baumann vorgelegt. Wie der Regierungsentwurf schlägt Baumann ein zweispuriges Sanktionensystem mit neun Maßregeln vor; abweichend vom Entwurf 1962 verzichtet er beispielsweise auf die vorbeugende Verwahrung, die auch er als „außerordentlich bedenklich“ qualifiziert, und gestaltet die Weisungen neben einer Ersatzgeldstrafe (d. h. einer Geldstrafe anstelle einer kurzen Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr) als neue Maßregel.58 Bemerkenswert ist die Erweiterung der Unterbringung in einem Arbeitshaus, die § 52 allgemein für „Arbeitsscheue“ vorsieht und von der sich Baumann eine wirksame Bekämpfung der in dieser Zeit als kriminalpolitisches Problem definierten „Halbstarkenkriminalität“ verspricht.59 Andererseits gestattet sein Gegenentwurf in § 54 ein Vikariieren bei allen freiheitsentziehenden Maßregeln. Diese Lösungen innerhalb des Maßregelrechts stoßen jedoch auf wenig Aufmerksamkeit. Die – teilweise vernichtende – Kritik an Baumanns Entwurf konzentriert sich auf andere Fragen wie seine Konzeption der Schuld und den Vorschlag, die Strafaussetzung zur Bewährung durch eine „Laufzeitgeldstrafe“ zu ersetzen.60
54 Auf die Rolle Jeschecks wurde bereits hingewiesen. Was den Alternativ-Entwurf betrifft, setzt sich A. Kaufmann (1968) gegen den Vorwurf zur Wehr, dieser Entwurf sei aus einem Kompromiß zwischen Vertretern eines Schuldstrafrechts und Anhängern eines Maßnahmenrechts im Sinne der „sozialen Verteidigung“ hervorgegangen. Erst nachträglich versucht M. Melzer (1970: 102 ff.), den Ansatz Ancels auf den Alternativ-Entwurf zu beziehen. Ancel (1981: 145 f.) meint zahlreiche Vorschläge des Alternativ-Entwurfs auf Einflüsse der Défense sociale zurückführen zu können. 55 Bauer (1957: 232 ff., 249 ff.). Zur Kritik R. Lange (1960: 358 ff.). 56 Bauer (1964). 57 Graven (1958: 70 ff.). 58 Baumann (1963: 50). Der Entwurf enthält keine ausführliche Begründung, sondern lediglich kurze Anmerkungen. 59 Baumann (1963: 51). Diese positive Einschätzung des Arbeitshauses korrigiert Baumann (1965: 220) wenig später unter dem Eindruck der zunehmenden Kritik am Maßregelrecht; siehe Grünwald (1964: 348 ff.) und – grundsätzlicher argumentierend – Nowakowski (1963). 60 Lackner (1963); E. Schmidt (1963).
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
IV. Zum Alternativ-Entwurf Als wesentlich einflußreicher erweist sich demgegenüber gerade für das Sanktionenrecht der drei Jahre später vorgelegte Alternativ-Entwurf eines Allgemeinen Teils des Strafrechts, an dem Baumann zusammen mit zwölf weiteren deutschen und schweizerischen Strafrechtslehrern und einer Strafrechtslehrerin wiederum mitwirkt. Er entspringt einer Enttäuschung über die „weitgehende Festschreibung des status quo ante in den Regierungsentwürfen“ und über eine Reformdiskussion, welche die kriminalpolitische Grundkonzeption des Regierungsentwurfs nicht in Frage stellt, sondern lediglich Einzelfragen problematisiert.61 Orientiert sich die Große Strafrechtskommission weitgehend an der Reichstagsvorlage von 1927, so betonen die Verfasser des Alternativ-Entwurfs die Kontinuität zur Reformtradition Franz von Liszts und stellen die Forderung nach einer individualpräventiven Ausrichtung des Strafrechts in den Vordergrund.62 Auch der Alternativ-Entwurf enthält einen Abschnitt zum Maßregelrecht, der sich als Ausformung eines kriminalpolitischen Gegenkonzepts versteht. Am Anfang des Entwurfs steht jedoch eine allgemeine Bestimmung über „Zweck und Grenze von Strafe und Maßregel“ in § 2 AE: „(I) Strafen und Maßregeln dienen dem Schutz der Rechtsgüter und der Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft. (II) Die Strafe darf das Maß der Tatschuld nicht überschreiten, die Maßregel nur bei überwiegendem öffentlichen Interesse angeordnet werden.“
Damit wird klargestellt, daß die Maßregeln staatliche Zwangseingriffe mit repressiven Wirkungen sind und – wenigstens mittelbar – der Sicherung der Rechtsordnung dienen; allerdings gilt für sie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.63 Äußerlich kehrt die Überschrift des 4. Abschnitts – wie bereits der Regierungsentwurf 1962 – gleichwohl zu der Formulierung „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ zurück, die sich bereits im Kommissionsentwurf von 1913 und den Entwürfen der Weimarer Republik findet.64 Die Anzahl der vorgeschlagenen Sanktionen vermindert sich auf sechs.65 Verzichtet wird gegenüber dem Regierungsentwurf nicht nur auf die vorbeugende Verwahrung junger Rückfalltäter, sondern auch auf das Arbeitshaus, und als Maßregeln ohne Freiheitsentziehung sind lediglich die Untersagung der Berufsausübung und die Entziehung der Fahrerlaubnis vorgesehen. Den folgenreichsten Neuerungsvorschlag enthält § 69 AE mit der „Einweisung in die sozialtherapeutische Anstalt“, deren Zielsetzung in Absatz 6 folgendermaßen beschrieben wird: 61 62 63 64 65
So der Rückblick von Baumann (1990: 296 ff.). Roxin (1969); H. Schultz (1966: 114). So die kurze Begründung; Baumann et al. (1969: 29, 31). Siehe Kapitel 4 C. III. und IV. (S. 82 ff.). Baumann et al. (1969: 20 ff.).
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„In der sozialtherapeutischen Anstalt sollen in dem Eingewiesenen durch besondere psychiatrische, psychologische und pädagogische Hilfen der Wille und die Fähigkeit entwickelt werden, künftig ein straffreies Leben zu führen. Dabei wird auf die aktive Mitwirkung des Eingewiesenen abgestellt. Die Anstalten stehen unter ärztlicher Leitung.“
Die Maßregel soll bei der ersten Anordnung zwei bis vier Jahre vollstreckt werden, im Wiederholungsfall höchstens acht Jahre. Sie ist neben einer Freiheitsstrafe „als die zentrale, individualpräventiv gezielte Maßregel für erheblich Rückfällige“66 für zwei Tätergruppen gedacht, von denen erhebliche Straftaten zu befürchten sind: zum einen Täter „mit einer seelischen Krankheit oder tiefgreifenden Persönlichkeitsstörung“, bei denen die Aussicht besteht, sie durch sozialtherapeutische Behandlung von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten, zum anderen Rückfalltäter mit mindestens drei Vorverurteilungen wegen Vorsatztaten und einer Vollzugserfahrung von wenigstens zwei Jahren; bei der zweiten Gruppe kommt es nicht auf die Erfolgsaussicht der Unterbringung an. Demgegenüber ist die „Einweisung in die Sicherungsanstalt“ nach § 70 AE eine Sicherungsverwahrung mit deutlich verschärften Voraussetzungen. Sie greift regelmäßig bei Tätern mit einer Neigung zu erheblichen Straftaten, die zu schweren Schädigungen der Opfer führen, aber erst dann ein, wenn eine sozialtherapeutische Einweisung bereits vier Jahre vollzogen wurde und eine weitere Anwendung der Sozialtherapie aussichtslos erscheint; die Höchstdauer der Unterbringung beträgt dann zehn Jahre. Eine Unterbringung ohne vorherige Sozialtherapie und ohne Befristung ist nur möglich, wenn die Verurteilung wegen eines Verbrechens „mit einer Gefahr für das Leben“ erfolgt und weitere solche Delikte zu befürchten sind.67 Die Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt, der ausdrücklich auch drogenabhängige Straftäter zugewiesen werden, wird wie im Regelfall die Sozialtherapie von den Erfolgsaussichten einer stationären Behandlung abhängig gemacht (§ 67 I AE). Für alle freiheitsentziehenden Maßregeln außer der Einweisung in die Sicherungsanstalt ist eine Vorwegvollstreckung der Maßregel mit Anrechnung auf die Strafe vorgesehen (§ 77 I AE).
V. Die Reformgesetzgebung seit 1969 Nachdem auch der Alternativ-Entwurf in das Gesetzgebungsverfahren gelangt ist68, versucht der im Deutschen Bundestag gebildete Sonderausschuß für die Strafrechtsreform einen Mittelweg zwischen den Positionen der Entwürfe.69 Das führt im Sanktionenrecht zu Lösungen, die sich – mit einer einheitlichen FreiheitsBaumann et al. (1969: 133). Ablehnend gegenüber unbefristeten Freiheitsentziehungen, besonders auf der Grundlage einer Prognose nach einer einzigen Anlaßtat, Grünwald (1968: 113 f.). 68 Durch einen Antrag der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag (BT-Drucksache V / 2285 vom 17. November 1967). Zur Vorgeschichte Baumann (1990: 295). 69 Deutlich kritisch zu diesem Vorgehen Baumann et al. (1969: 202). 66 67
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
strafe anstelle der früheren Unterscheidung von Zuchthaus und Gefängnis und der erweiterten Strafaussetzung zur Bewährung – denen des Alternativ-Entwurfs stark annähern.70 Fundament des Strafrechts bleibt aber das Schuldprinzip. Darüber besteht zwischen den Verfassern der Entwürfe trotz der zeitweise intensiven Debatte über Alternativen Einigkeit, und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts präjudiziert dieses Festhalten an der Schuld als Grundlage und Maß der Strafe.71 Im Maßregelrecht liegt der Schwerpunkt auf einem Ausbau der Resozialisierung und der Zurückdrängung bloßer Sicherung. So werden Arbeitshaus und vorbeugende Verwahrung, die der Entwurf 1962 vorsah, gestrichen, und an die Stelle der unselbständigen Unterbringung in einer Bewahrungsanstalt aus dem Regierungsentwurf tritt die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt als eigenständige Maßregel (§ 65 StGB). Vor allem die Sozialtherapie gilt als zentrale Neuerung. Nach dem beschlossenen Gesetzestext ist diese Maßregel für vier Tätergruppen vorgesehen: Rückfalltäter mit einer schweren Persönlichkeitsstörung, jüngere Erwachsene mit mindestens zwei Vorverbüßungen und negativer Prognose, Sexualdelinquenten mit ungünstiger Prognose und Täter mit verminderter oder ausgeschlossener Schuldfähigkeit, für die eine sozialtherapeutische Einrichtung besser geeignet erscheint als die Psychiatrie. Damit verbinden sich große Hoffnungen, was schon der Umfang der einschlägigen Literatur deutlich macht.72 Letztlich scheitert diese neue Sanktion jedoch trotz einiger Modelleinrichtungen, deren Konzeptionen von Anfang an eine große Vielfalt aufweisen, an Widerständen, die vordergründig finanzpolitisch motiviert sind, in einem gewandelten und von zunehmender Skepsis gegenüber therapeutischen Sanktionen geprägten kriminalpolitischen Klima aber an Durchsetzungskraft gewinnen.73 Das Inkrafttreten von § 65 StGB wird mehrfach verschoben, und 1984 wird die Maßregel schließlich aus dem Allgemeinen Teil gestrichen.74 Gleichwohl findet Sozialtherapie in der Praxis statt und erhält durch die eigenständige Verlegungsmöglichkeit innerhalb des Strafvollzugs (§ 9 StVollzG) auch eine dauerhafte gesetzliche Verankerung. Die Anforderungen an eine Verhängung der schon seit 1933 bestehenden freiheitsentziehenden Maßregeln werden durch die Strafrechtsreform erhöht. Die Sicherungsverwahrung wird von der Feststellung, daß der Verurteilte ein „gefährBaumann (1990: 297 ff.). Das Schuldprinzip wird bereits durch ein Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 28. Juli 1950 – (= VerwRspr. 3 [1951], 145, 150) als Bestandteil der rechtsstaatlichen Ordnung angesehen. Zum Grundgesetz BVerfG, Urteil vom 10. Mai 1957 – 1 BvR 550 / 52 (= BVerfGE 6, 389, 439) in einer Entscheidung zu §§ 175, 175a StGB; weitergeführt und ausführlicher begründet in dem Beschluß vom 25. Oktober 1966 – 2 BvR 506 / 63 (= BVerfGE 20, 323, 331) zu § 890 ZPO a.F. 72 Zusammenfassend und mit internationalem Vergleich Lösel et al. (1987: 55 ff., 115 ff.). 73 Schüler-Springorum (1986b). Kostenargumente begleiten die sozialtherapeutische Anstalt von Anfang an; siehe schon Jescheck (1968: 80 f.). 74 Strafvollzugsänderungsgesetz vom 20. Dezember 1984 (BGBl. I 1654). 70 71
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licher Gewohnheitsverbrecher“ ist, gelöst; die mit dieser Feststellung verbundene Strafschärfung des § 20a StGB a.F. wird abgeschafft. In formeller Hinsicht werden die Anforderungen an Vorstrafen und das Strafmaß für die Anlaßtat verschärft. Zusätzlich wird für den Regelfall ein längerer Voraufenthalt im Straf- oder Maßregelvollzug gefordert. Als materielle Voraussetzung einer Sicherungsverwahrung wird der „Hang“ zu erheblichen Straftaten (§ 66 I StGB) in den Gesetzestext aufgenommen. Für die erste Sicherungsverwahrung eines Verurteilten wird eine Höchstfrist von zehn Jahren eingeführt (§ 67d I 1 StGB in der bis 1998 geltenden Fassung). Im Zusammenhang mit der nicht in Kraft getretenen Maßregellösung für die Sozialtherapie wird die Sicherungsverwahrung nur anläßlich solcher Taten vorgesehen, die nach Vollendung des 25. Lebensjahres begangen wurden.75 § 63 StGB über die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus behält die Voraussetzungen des früheren § 42b mit einigen redaktionellen Änderungen bei; auch diese Maßregel wird allerdings auf die Erwartung erheblicher rechtswidriger Taten begrenzt.76 Die neue Vorschrift zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) enthält gegenüber § 42c a.F. präzisierte und modifizierte Voraussetzungen, die ihre Anordnung teils erleichtern, teils einengen. Die Grundstruktur der Sanktionsnorm bleibt aber unverändert.77 Für das gesamte Maßregelrecht betont das Gesetz in § 62 StGB die Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Was die freiheitsentziehenden Maßregeln betrifft, wird das Vollstreckungsrecht mit § 67 StGB weitgehend auf das Vikariierungsprinzip umgestellt: die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt wird grundsätzlich vor einer parallelen Freiheitsstrafe vollzogen und der Aufenthalt im Maßregelvollzug auf die Strafe angerechnet. Ausgenommen von dieser Regelung bleibt – in Übereinstimmung mit dem Regierungs- wie auch dem Alternativ-Entwurf – die Sicherungsverwahrung. Damit wird der Grundsatz der Zweispurigkeit im Ergebnis stark relativiert: das Gesetz geht davon aus, daß im Regelfall nur eine von zwei oder mehr freiheitsentziehenden Sanktionen vollstreckt werden soll.78 Die Reformgesetzgebung seit 1969 verteilt sich auf mehrere Gesetze. Wichtige Bestandteile, die als besonders vordringlich angesehen werden, enthält das 1. Strafrechtsreformgesetz, das teils im September 1969, teils im März 1970 in Kraft tritt.79 Die vollständige Neufassung des Allgemeinen Teils – sie gilt seit 1975 – folgt mit dem 2. Strafrechtsreformgesetz.80 Die spätere Gesetzgebung im Maßregelrecht ist zunächst durch Korrekturen gekennzeichnet, die das Programm der Strafrechtsreform in einzelnen Punkten zurücknehmen. So wird die 1969 eingeführte Höchstfrist für die erste Unterbringung in der Sicherungsverwahrung 75 76 77 78 79 80
Zu den Änderungen Hanack (1991: Rn. 13 ff. zu § 66) und Neu (1976: 107 ff.). Hanack (1991: Rn. 45 ff. zu § 63). Dessecker (1996b: 18 ff.). Hirsch (1986: 138 ff.); Schmitt (1977: 279 ff.). Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 (BGBl. I 645). Zweites Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4. Juli 1969 (BGBl. I 717).
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
zwar zunächst nicht, wie bald von manchen Kritikern gefordert, wieder abgeschafft; doch gilt seit 1974, daß mit der Entlassung Führungsaufsicht eintritt. Das Rückwirkungsverbot wird für die Maßregeln alsbald wieder gestrichen, so daß dem Gesetzgeber die Möglichkeit bleibt, bei jeder Neuregelung von Fall zu Fall über den Zeitpunkt des Inkrafttretens zu entscheiden (§ 2 VI StGB).81 Eine weitere Detailkorrektur betrifft die Anrechnung eines vorweg vollzogenen Aufenthalts im Maßregelvollzug nach § 63 oder § 64 StGB auf die Strafe: seit 1986 beschränkt sie sich auf höchstens zwei Drittel der Freiheitsstrafe. Gleichzeitig wird klargestellt, daß eine Aussetzung der Maßregel nicht vor Verbüßung der halben Strafzeit erfolgen darf.82 Tiefe Eingriffe in das Maßregelrecht der Strafrechtsreform erfolgen um den Jahreswechsel 1997 / 98 im Zuge einer Gesetzgebung „zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“.83 Damit wird die Möglichkeit zur Verhängung der Sicherungsverwahrung bei einer Verurteilung wegen eines beliebigen Verbrechens oder bestimmter Vergehenstatbestände aus dem Bereich der Sexual- und Körperverletzungsdelikte geschaffen, sofern gegen den Täter nur irgendwann eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren wegen eines solchen Delikts verhängt worden ist (§ 66 III StGB). Die Höchstfrist für die erste Sicherungsverwahrung wird durch eine besondere Erledigungsvorschrift ersetzt (§ 67d I 1 und III StGB). Die Rechtsgrundlage für eine nachträgliche Aussetzung aller freiheitsentziehenden Maßregeln zur Bewährung (§ 67d II StGB) wird gegenüber dem früheren Recht deutlich verschärft und von der parallelen Regelung für die Strafrestaussetzung (§ 57 I Nr. 2 StGB) abgekoppelt. Die grundrechtliche und kriminalpolitische Brisanz des Maßregelrechts wird seit 1985 nicht zuletzt durch mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dokumentiert.84 Sie aktualisieren die Begrenzung der nicht an strikte Höchstfristen gebundenen Freiheitsentziehungen im Maßregelvollzug durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und betonen das Erfordernis regelmäßiger Überprüfungen der Fortdauer.
B. Maßregeln und das Strafrecht der DDR Einen anderen Verlauf nimmt die Strafrechtsentwicklung in der DDR. Das sowjetische Besatzungsrecht stellt bereits die Weichen zu einem Staatssozialismus Kritisch gegenüber diesen Entwicklungen Naucke (1975: 25 ff.). § 67 IV 1 und V 1 StGB in der Fassung des 23. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 13. April 1986 (BGBl. I 393). 83 Gesetz vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 160); dazu etwa Hammerschlag / Schwarz (1998), von Harbou (1999) und Schöch (1998a). 84 Bedeutsam sind vor allem die Beschlüsse vom 8. Oktober 1985 – 2 BvR 1150 / 80 u. a. (= BVerfGE 70, 297) im Fall Paul Stein zu § 63 StGB sowie vom 16. März 1994 – 2 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1) zu § 64 StGB. Hierzu auch die Ausführungen im Vierten Teil. 81 82
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stalinistischer Prägung. Von Bedeutung sind dabei auch Regelungen des Wirtschaftsstrafrechts. Dennoch bleibt der normative Bestand des Reichsstrafgesetzbuches auch nach der Gründung der DDR zunächst weitgehend unverändert; die Etablierung eines neuen Strafrechtssystems jenseits der Grenzen rechtsstaatlicher Prinzipien vollzieht sich teils durch ergänzende Reformgesetze, teils durch interpretatorische Umdeutung überkommener Normen.85 Abgesehen von der Abschaffung der „Entmannung“ durch das Kontrollratsgesetz Nr. 1186 bleibt auch das Maßregelrecht in Kraft. Eine wichtige Veränderung geht auf ein Urteil des Obersten Gerichts der DDR aus dem Jahr 1952 zurück.87 In dieser Entscheidung wird § 20a StGB als „Konsequenz der faschistischen Lehre vom Tätertyp“ bezeichnet. Aus der „Erkenntnis von der Klassennatur des Verbrechens“ ergebe sich die Ablehnung dieser Lehre und damit auch des Begriffs „Gewohnheitsverbrecher“. Folge dieser Rechtsprechung ist nicht nur die Nichtanwendung der Strafschärfung nach § 20a StGB, sondern auch der Sicherungsverwahrung, die auf dieser Rückfallschärfung beruht. Demgegenüber berührt eine Durchführungsbestimmung des Ministeriums der Justiz von 1954 das Maßregelrecht eher am Rande: das Arbeitshaus wird nun als „Heim für soziale Betreuung“ bezeichnet.88 Welche Bedeutung dem Maßregelrecht in der Strafrechtspraxis dieser Zeit zukommt, ist nach derzeitigem Forschungsstand schwer festzustellen. Das einzige Lehrbuch des DDR-Strafrechts aus den 50er Jahren knüpft an das rechtsdogmatische Verständnis der Zweispurigkeit an, das sich in der Strafrechtsreform seit dem Kaiserreich herausgebildet hatte. Zur Rechtfertigung betont es die „Besonderheiten der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus“.89 Dieses vorläufige Festhalten an dem zweispurigen Sanktionensystem wird polemisch gegen die Maßregeln im „imperialistischen Strafrecht“ der Bundesrepublik abgegrenzt, vor allem gegen die Sicherungsverwahrung als eine „der terroristischsten Sicherungsmaßregeln“.90 Stellungnahmen mit ähnlicher Zielrichtung, allerdings milderer Diktion werden noch zehn Jahre später anläßlich der Strafrechtsreform in der Bundesrepublik veröffentlicht.91 Klar ist, daß zumindest die Unterbringung von Straftätern in der Psychiatrie in nennenswertem Umfang praktiziert wird; eine empirische Untersuchung Anfang R. Lange (1959: 97 ff.); Werkentin (1995: 57 ff.). Siehe Kapitel 6 A. I. (S. 104). 87 OG, Urteil vom 23. Dezember 1952 – 3 Ust III 28 / 52 (= NJ 1953, 54). 88 Erste Durchführungsbestimmungen zur Strafprozeßordnung – Überprüfung und Aufhebung von Maßnahmen der Sicherung vom 31. August 1954 (GBl. 777). 89 Renneberg (1957: 658, 665 f.) zur Unterbringung in einem Heim für soziale Betreuung, also dem früheren Arbeitshaus, und in einer Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt. 90 Renneberg (1957: 659 ff.). 91 Siehe etwa Lekschas (1967: 285 ff.), der die Maßregeln allerdings nur insoweit problematisiert, als sie den Strafvollzug ersetzen sollen. 85 86
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
der 60er Jahre macht deutlich, daß der Anteil politischer Delikte als Anlaß eines Aufenthalts im Maßregelvollzug ähnlich groß ist wie bei den Strafgefangenen zu dieser Zeit.92 Eine besondere Rolle im Rahmen der Sozialisierung kleinerer und mittlerer Betriebe spielen darüber hinaus zumindest in den frühen 50er Jahren die in der Wirtschaftsstrafverordnung von 1948 geregelten Maßregeln der Verwaltung durch einen Treuhänder und der Betriebsschließung.93 Die Sanktionen des 1968 in Kraft getretenen Strafgesetzbuches der DDR, die im Gesetzestext als „Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit“ bezeichnet werden, lassen sich demgegenüber als Beispiel einer einspurigen Lösung verstehen.94 Zeitlich unbestimmte Sanktionen werden zunächst vor allem im Rahmen der Arbeitserziehung (§ 42 StGB) vorgesehen. Diese Strafe wird bereits 1977 wieder abgeschafft.95 Außer Strafen mit und ohne Freiheitsentzug ist bis 1987 noch die Todesstrafe vorgesehen, daneben die „Beratung und Entscheidung durch ein gesellschaftliches Organ der Rechtspflege“, aber keine präventive Maßregel. Sicherungsfunktionen werden durch Freiheitsstrafen übernommen, für die in vielen Tatbeständen hohe Strafdrohungen zur Verfügung stehen. Für die Unterbringung psychisch gestörter Straftäter, die als zurechnungsunfähig (§ 15 II StGB) oder vermindert zurechnungsfähig (§ 16 III StGB) angesehen werden, verweist das Strafrecht auf das zeitgleich in Kraft gesetzte Einweisungsgesetz, das keine Sondervorschriften für diese Gruppe von Betroffenen enthält.96 Noch bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag gilt eine Wiedereinführung der Sicherungsverwahrung in den Ländern der DDR als so problematisch, daß davon zunächst trotz der zurückgegangenen Bedeutung dieser Maßregel in der Strafrechtspraxis der Bundesrepublik abgesehen wird. Erst 1995 kommt es auch im Hinblick auf diese Maßregel zu einer Rechtsvereinheitlichung. 97
92 E. Lange (1963: 170) berichtet über 20% Delikte „primär staatspolitischen Inhalts“. Zur Strafrechtsanwendung im übrigen die Statistik bei Werkentin (1995: 380 ff., 409). 93 § 14 der Verordnung über die Bestrafung von Verstößen gegen die Wirtschaftsordnung vom 23. September 1948 (ZVOBl. 439). Zu diesen Sanktionen aus der Sicht der Strafrechtsdogmatik Renneberg (1957: 676 f.), zur Praxis Werkentin (1995: 58 ff.). 94 Aries (1970: 52 ff.); Maurach (1968: 1068). 95 Anlage I 5 zum Gesetz zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen (2. Strafrechtsänderungsgesetz) vom 7. April 1977 (GBl. I 100). 96 Gesetz über die Einweisung in stationäre Einrichtungen für psychisch Kranke vom 11. Juni 1968 (GBl. 273); dazu etwa Hinderer / Winter (1967) und Horstkotte (1996). 97 Anlage I Kap. III C Abschnitt III Nr. 1 des Einigungsvertrags vom 31. August 1990 (BGBl. II 889, 957), außer Kraft gesetzt durch das Gesetz zur Rechtsvereinheitlichung der Sicherungsverwahrung vom 16. Juni 1995 (BGBl. I 818). Zur Begründung BR-Drucksache 763 / 93 vom 22. Oktober 1993, S. 2.
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C. Fazit Das Maßregelrecht am Ende des 20. Jahrhunderts unterscheidet sich deutlich von dem des Gewohnheitsverbrechergesetzes. Das gilt zunächst für den Katalog der einzelnen Maßregeln. Zwar existieren wichtige Sanktionsformen wie die Unterbringung von Straftätern in psychiatrischen Einrichtungen oder in der Sicherungsverwahrung auch heute noch. Andere Maßregeln, denen wie der „Entmannung“ oder der Unterbringung in einem Arbeitshaus in der älteren kriminalpolitischen Diskussion große Beachtung geschenkt wurde, sieht das Gesetz nicht mehr vor, und ihre Wiedereinführung steht nicht zur Debatte. Die Strafrechtsreform hat die Reichweite des Maßregelrechts in vielfacher Hinsicht eingeschränkt. Das gilt zunächst für die Anordnungsvoraussetzungen der beiden – nach wie vor grundsätzlich unbefristeten – freiheitsentziehenden Maßregeln nach §§ 63 und 66 StGB. Im Vollstreckungsrecht wird für den Fall einer parallelen Freiheitsstrafe neben den Maßregeln nach §§ 63 und 64 StGB das Prinzip der stellvertretenden Vollstreckung mit einem Vorrang des Aufenthalts im Maßregelvollzug und weitgehender Anrechnung auf die Strafe eingeführt; damit wird der Grundsatz der Zweispurigkeit stark relativiert. Schließlich wird die Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch § 62 StGB unterstrichen. Neuere gesetzgeberische Modifikationen etwa bei der Sicherungsverwahrung sind durch die Neigung gekennzeichnet, hinter den Stand der Strafrechtsreform zurückzugehen. Sie stellen den Konsens über die Erforderlichkeit einer rechtsstaatlichen Eingrenzung des Maßregelrechts aber nicht in Frage.
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
Kapitel 7
Zusammenfassung: Maßregeln in der historischen Entwicklung des Sanktionensystems Schon die strafrechtlichen Titel des preußischen Allgemeinen Landrechts nennen verschiedene Konzepte, die für das Verständnis des heutigen Maßregelrechts bedeutsam sind: die Gefährlichkeit bestimmter Gruppen von Straftätern, Freiheitsentziehung und Arbeit als Mittel der Besserung, Trennung zeitlich begrenzter Strafen und nur durch ihren Zweck begrenzter zusätzlicher Freiheitsentziehung. Wie bereits in der zeitgenössischen Literatur zum Ausdruck kommt, geht es hier um präventive Sanktionsformen, die das repressive System der Strafen ergänzen. Es ist anzunehmen, daß diese Sanktionen in der preußischen Strafjustiz im letzten Jahrzehnt des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs bedeutungslos waren. Doch gelten sie, folgt man den Gesetzestexten, überwiegend nur für wenige Jahre, und der Gesetzgeber experimentiert zugleich mit anderen Formen von Freiheitsstrafen, so daß sich auch Regelungen finden, die sich als historische Vorbilder einer unbestimmten Sicherungsstrafe verstehen lassen. Zudem bleibt die Vollzugspraxis weit hinter den Zielen der Gesetzgebung zurück. Das Allgemeine Landrecht fällt in eine Blütezeit präventiver Theorien des Strafrechts, die zunächst Folgerungen aus der Abschaffung der Folter ziehen und dafür nicht am Strafverfahren des gemeinen Rechts und seinem Beweisrecht, sondern bei den Rechtsfolgen ansetzen. Alsbald tritt aber in weiteren Fällen neben die Strafe ein zusätzliches Sicherungsmittel, das in einer weiteren Freiheitsentziehung auf unbestimmte Zeit besteht. Die dogmatische Abgrenzung von Strafen und Sicherungsmitteln, die Klein vornimmt, macht die Quelle von Gefahren zum Hauptpunkt der Unterscheidung: Gefahren, die typischerweise von gewissen Handlungen ausgehen, begründen eine Strafe, die Gefährlichkeit bestimmter Personen eine Maßregel der Sicherung. Zugleich wird bei Eisenhart das Spektrum möglicher sichernder Maßregeln ausdifferenziert. Diese strafrechtlichen Präventionstheorien werden nach wenigen Jahren durch ein neues Paradigma1 abgelöst: Feuerbachs Theorie vom psychologischen Zwang, die auf negative Generalprävention setzt und die Strafe strikt auf das zuvor gesetzlich angedrohte Übel begrenzt. Seine Kritik an den individualpräventiven Theorien weist demgegenüber zum ersten Mal und mit aller Deutlichkeit auf die Notwendigkeit einer Beschränkung präventiver Eingriffe hin. Allerdings bezieht sich Feuerbach mit seiner Kritik lediglich auf das Strafrecht; den Rückgriff auf die Instrumente der „Polizey“ will er nicht verbauen. 1 Die Leistungsfähigkeit dieses wissenschaftssoziologischen Begriffs außerhalb der Naturwissenschaften ist bekanntlich umstritten. Die Definition von Kuhn (1969: 25) schließt eine solche Verallgemeinerung jedoch nicht von vornherein aus.
Kap. 7: Maßregeln in der historischen Entwicklung
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Internierungen als Maßnahme der „Polizey“ betreffen bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedene Formen von Normabweichungen. Eine Personengruppe, deren besondere Merkmale zunehmend hervorgehoben werden, ist die der „gefährlichen Irren“. Diese Entwicklung dürfte wesentlich mit der Herausbildung der Psychiatrie als eigenständiger Disziplin zusammenhängen. Begutachtungen innerhalb gerichtlicher Strafverfahren scheinen aber in dieser Zeit ebenso wie Unterbringungen in „Irrenhäusern“ noch eher selten vorzukommen, auch wenn diese Einrichtungen bei ihren Insassen allmählich danach differenzieren, ob Sicherung oder Therapie im Vordergrund stehen soll. Erst gegen Ende des Jahrhunderts kommt es in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern zu einer beträchtlichen Ausdehnung der Anstaltspopulation. Damit einher geht nicht nur eine weitere Verrechtlichung, sondern auch ein großes Interesse der Öffentlichkeit. Im Vordergrund steht einerseits die Furcht vor ungerechtfertigten Zwangsunterbringungen harmloser Bürger, die sich an skandalösen Einzelfällen festmacht und zu einer frühen Irrenrechtsbewegung führt. Auf der anderen Seite aber werden „gemeingefährliche Geisteskranke“ zu einer Gruppe erklärt, vor der sich die Gesellschaft durch Internierung in geschlossenen Anstalten schützen muß. Wie die Statistiken solcher Einrichtungen zeigen, entfällt in manchen Regionen bis zu ein Fünftel der Unterbringungen männlicher Patienten auf „irre Verbrecher“, denen allerdings typischerweise kleinere Delikte zur Last gelegt werden. Nach Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches kommt es in Deutschland nicht nur zu Debatten über psychische Störungen und die damit zusammenhängende Gefährlichkeit, sondern auch über Strafrecht und Strafvollzug. Die Kriminalitätsentwicklung wird als bedrohlich empfunden, was sich vermeintlich mit den ersten Jahrgängen der gerichtlichen Kriminalstatistik bestätigt. Obwohl die kriminalpolitischen Vorstellungen im einzelnen weit auseinander liegen, liegt in der Forderung nach unbestimmt langen Freiheitsentziehungen eine Art kleinster gemeinsamer Nenner der Stellungnahmen von Vertretern der Strafjustiz mit der „Schutztheorie“ des Psychiaters Kraepelin. Die Übereinstimmung geht so weit, daß die unbefristete Verwahrung sich keineswegs auf „Gewohnheitsverbrecher“ beschränken soll, die schwere Delikte begangen haben, sondern im Gegenteil als Mittel gegen Massendelinquenz in Betracht gezogen wird. Solche Vorstellungen tauchen innerhalb des „Schulenstreits“ in der deutschen Strafrechtswissenschaft ebenfalls auf. Doch stehen sie nicht in seinem Zentrum. Sowohl Liszt und seine Anhänger als auch die Vertreter eines „klassischen“ Vergeltungsstrafrechts sind sich im Grundsatz darüber einig, daß zeitlich unbestimmte Freiheitsentziehungen von „Gewohnheitsverbrechern“ – einer Gruppe, die nicht einheitlich umschrieben wird – ein wichtiges Mittel der Kriminalpolitik darstellen. Keine Einigkeit besteht darüber, ob solche Regelungen auf eine präventiv gewendete Freiheitsstrafe, eine eher polizeirechtlich geprägte Intervention oder eine zusätzliche Sanktionsform innerhalb des Strafrechts hinauslaufen sollen. Der Pragmatismus Liszts deutet das Modell eines Maßregelrechts als möglichen Kompromiß bereits an.
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts beginnen auch die praktischen Vorbereitungen zu einer Strafrechtsreform. Die auf die immer wieder revidierten Entwürfe Stooss’ zurückgehende Reform in der Schweiz ist zugleich ein Werk der Rechtsvereinheitlichung. Stooss gelingt die erste Formulierung allgemeiner Vorschriften über kriminalrechtliche Maßnahmen, für deren Zweckbestimmung die Individualprävention im Vordergrund steht. Er geht dabei so weit, den Maßnahmen gegenüber Strafen den Vorrang einzuräumen. Allerdings steht dieser kriminalpolitischen Innovation keine ausgearbeitete dogmatische Begründung gegenüber. Die Überzeugungskraft des Maßregelkonzepts zeigt sich nicht zuletzt in den österreichischen und deutschen Reformentwürfen seit 1909, die ausnahmslos die Einführung von Maßregeln vorschlagen. Diese Entwürfe variieren Stellenwert und Ausgestaltung des Maßregelrechts nach dem Stand der kriminalpolitischen Diskussion und der Entwicklung der allgemeinen politischen Kräfteverhältnisse. Über die Regelung der Maßregeln in einem eigenen Abschnitt des Allgemeinen Teils besteht seit dem Kommissionsentwurf von 1913 Klarheit, ebenso über die Einbeziehung der Sicherungsverwahrung in das Maßregelrecht. Früh findet sich auch eine Differenzierung zwischen solchen Sanktionen, die allein auf Sicherung zielen, und solchen, bei denen die therapeutische Einwirkung im Vordergrund steht, namentlich ambulanten und stationären Sanktionen für Alkoholiker. In den 20er Jahren wird vor allem noch über zwei Gesichtspunkte gestritten: die Frage, ob den Strafgerichten eine Anordnungskompetenz für Maßregeln zustehen soll, die nicht von der Justiz vollstreckt werden, und das Verhältnis freiheitsentziehender Maßregeln zu parallelen Freiheitsstrafen im Vollstreckungsrecht. In der Obstruktionspolitik der Nationalsozialisten gegenüber den Institutionen der Weimarer Republik liegt ein wesentlicher Grund des Scheiterns der Strafrechtsreform im Frühjahr 1932. Dennoch bilden die Vorschriften über das Maßregelrecht einen wesentlichen Teil der Reformvorstellungen, die das nationalsozialistische Regime bereits im folgenden Jahr aufgreift, um sie im Rahmen des Gewohnheitsverbrechergesetzes alsbald in Kraft zu setzen. Allerdings werden einzelne Vorschläge der Entwürfe so umgebogen, daß sie als Instrumente eines autoritären Strafrechts mit rassenhygienischen Nebenzwecken taugen. Dazu zählen die für eine beliebige Ausdehnung offene Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung ebenso wie die während der Weimarer Republik noch mehrheitlich abgelehnte Maßregel der „Entmannung“ und die Ausnutzung der Unterbringung im Maßregelvollzug zu Zwangssterilisationen. Das Maßregelrecht und seine fast ausschließlich an dem verabsolutierten Ziel der Sicherung orientierte Anwendung bilden jedoch ebenso wie das übersteigert repressive Strafrecht nur eines der Herrschaftsinstrumente des nationalsozialistischen Regimes. Das Kriminalrecht insgesamt steht seit 1933 in ständiger Konkurrenz zu den weitgehend rechtlicher Begrenzungen entkleideten Zwangsmitteln der Polizeiorgane, insbesondere der Internierung in den Konzentrationslagern. Schließlich geht das Regime ab 1939 immer mehr dazu über, Straftäter und andere von den normativen Forderungen seiner Ideologie Abweichende umzubringen, sei es durch den exzessiven Einsatz
Kap. 7: Maßregeln in der historischen Entwicklung
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der Todesstrafe, sei es durch organisierte Tötungsaktionen, die neben weiteren Gruppen die Patienten des psychiatrischen Maßregelvollzugs und die Sicherungsverwahrten treffen. Nach 1945 gilt das Maßregelrecht des Gewohnheitsverbrechergesetzes gleichwohl nur teilweise als diskreditiert. Abgeschafft werden die „Entmannung“, in der DDR die Sicherungsverwahrung, in der amerikanischen Besatzungszone vorübergehend auch das Arbeitshaus. Die kriminalpolitische Diskussion in der Bundesrepublik läuft seit Mitte der 50er Jahre auf einen Ausbau der zweiten Spur bei weiterer Differenzierung der einzelnen Maßregeln hinaus; grundsätzliche Zweifel werden von verschiedenen Positionen aus geäußert, gewinnen aber in keiner Phase der wiederaufgenommenen Reformberatungen die Oberhand. Das reformierte Sanktionenrecht, das zwischen 1969 und 1975 im Zuge der großen Strafrechtsreform gestaltet wird, ist jedoch durch den letzten Regierungsentwurf von 1962 weniger stark beeinflußt als durch den Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches. Damit werden therapeutische Zielsetzungen stärker betont; allerdings treten die Vorschriften über die für diesen Gesichtspunkt bedeutende Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt als Maßregel nie in Kraft. Andererseits werden rechtsstaatliche Begrenzungen des Maßregelrechts stärker hervorgehoben. Nach der Vereinigung der deutschen Staaten wird an dem Maßregelrecht festgehalten; das einspurige Sanktionensystem des DDR-Strafrechts gilt angesichts der rechtsstaatlich fragwürdigen Praxis nicht als ernsthaft zu diskutierende Alternative. Spätere Gesetzesänderungen führen zu wichtigen Korrekturen sowohl der Reichweite der Sicherungsverwahrung als auch innerhalb der Maßregelvollstreckung. Begründungen und Begrenzungen kriminalrechtlicher Maßregeln variieren in verschiedenen Phasen der historischen Entwicklung. Gefährlichkeit kristallisiert sich als allgemeines Prinzip heraus, das seit der Aufklärung die Diskussion über präventive Instrumente des Rechts bestimmt, die vor allem Verstöße gegen die Normen des Strafrechts verhindern sollen. Dieser Gesichtspunkt kommt in Sanktionsnormen des preußischen Allgemeinen Landrechts ebenso zum Ausdruck wie in den dogmatischen Begründungen von Klein und Eisenhart. Gefährlichkeitsvorstellungen sind es auch, die kriminalpolitische Diskussionen im 19. Jahrhundert bis in die Zeit des „Schulenstreits“ zu einem guten Teil bestimmen; sie beziehen sich auf „gemeingefährliche Geisteskranke“ wie auf „Gewohnheitsverbrecher“. Sie wirken sich in den Reformentwürfen aus der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik bis in die Formulierungen der Anordnungsvoraussetzungen zumindest eines Teils der vorgeschlagenen Sanktionen aus; das Gewohnheitsverbrechergesetz nimmt bereits in der Überschrift auf sie Bezug. Solche Gefährlichkeitskonzepte sind bis in die unmittelbare Gegenwart von Belang, und das gilt keineswegs nur für den Bereich der kriminalrechtlichen Maßregeln. Auch die Frage, wie präventiv angelegte Sanktionen begrenzt werden können, läßt sich bis in die Zeit der Aufklärung zurückverfolgen. Das Allgemeine Land-
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1. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts
recht nennt mit der Besserung einen bestimmten Zweck, der durch eine Sanktion erreicht werden soll. Der Gesichtspunkt der Erforderlichkeit erscheint bereits in der Dogmatik von Klein und Eisenhart – etwa in der bis in das 20. Jahrhundert herangezogenen Erwägung, daß eine Unterbringung mit einer Beaufsichtigung durch Verwandte der Betroffenen vermieden werden kann. Feuerbachs Kritik der individualpräventiven Theorien zeigt mit aller Deutlichkeit die Uferlosigkeit eines konsequenten Maßregelrechts, auch wenn sie das Polizeirecht wohlweislich ausspart. Eine allgemeinere rechtsstaatlich geprägte Kritik an Zwangsunterbringungen von Personen mit psychischen Störungen ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts feststellbar. Die strafrechtliche Diskussion beschäftigt sich etwa seit 1880 weit mehr mit der Ermöglichung langfristiger Freiheitsentziehungen als mit ihrer Eingrenzung. Doch sehen die Reformentwürfe der Weimarer Zeit einige Begrenzungen des Maßregelrechts vor, die sowohl bei den Anordnungsvoraussetzungen als auch in der Vollstreckung der freiheitsentziehenden Maßregeln ansetzen. Erst mit der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes tritt ein Prinzip weiter in den Vordergrund, das seit der Strafrechtsreform im Gesetzestext ausdrücklich konkretisiert wird: der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Maßregeln befinden sich als Sanktionen eines rechtsstaatlichen Kriminalrechts in einem Spannungsfeld zwischen verschiedenen Ansprüchen, die an die Rechtsordnung gestellt werden. Auf der einen Seite soll das Kriminalrecht insgesamt gewährleisten, daß Rechtsgüter, die so bedeutsam erscheinen, daß ihre Beeinträchtigung mit Strafe bedroht ist, in wirksamer Weise geschützt werden. Die Anordnung und Vollstreckung von Maßregeln durch die Strafgerichtsbarkeit nimmt eine festgestellte rechtswidrige Tat zum Anlaß, ähnliche oder gravierendere Delikte derselben Täterin oder desselben Täters in Zukunft möglichst zu verhindern. Soll dieser individualpräventive Rechtsgüterschutz nicht beliebig weit ausgedehnt werden, braucht es zureichende Anhaltspunkte dafür, daß solche Delikte ohne Anordnung einer Maßregel in absehbarer Zeit zu befürchten wären. Ein allgemeines Kriterium des Maßregelrechts ist daher das Merkmal der Gefährlichkeit, das im Zweiten und Dritten Teil der Arbeit zu präzisieren ist. Dabei ist auch zu klären, inwieweit dieses Merkmal durch das Ziel der Besserung relativiert wird. Träger individueller Rechtsgüter sind auf der anderen Seite auch die Beschuldigten im Strafverfahren. Daraus folgt, daß sie in ihren Grundrechten betroffen sind, sofern kriminalrechtliche Sanktionen verhängt werden. Im Fall der Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel ist der Schutzbereich des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 2 II 2, 104 I 1 GG) betroffen. Auch daraus ergibt sich, daß die Reichweite des Maßregelrechts begrenzt werden muß. Allerdings kann kein Zweifel daran bestehen, daß das Ziel der Verhinderung künftiger Delikte, welche die Rechtsgüter anderer zu verletzen drohen, eine Freiheitsentziehung legitimieren kann. Das gilt jedenfalls dann, wenn die allgemeine Voraussetzung der Gefährlichkeit erfüllt ist. Im folgenden ist zu untersuchen, inwieweit dieses Merkmal neben der Begründung des Maßregelrechts zugleich eine Begrenzungsfunktion erfüllen kann.
Kap. 7: Maßregeln in der historischen Entwicklung
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Die Frage nach Begrenzungen wird andererseits ein allgemeines Prinzip stärker betonen, dessen Geltung für das Maßregelrecht schon § 62 StGB unterstreicht: den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es ist zu klären, welche Auswirkungen dieser Grundsatz bei der Anordnung und Vollstreckung vor allem der freiheitsentziehenden Maßregeln nach sich zieht. Es wird auch zu präzisieren sein, wo die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes liegt, wenn eine hinreichende Konkretisierung des Gefährlichkeitsmerkmals geleistet ist. Dies ist Aufgabe des Vierten Teils der Arbeit. Die Auslegung der Anordnungsvoraussetzungen der freiheitsentziehenden Maßregeln läßt sich von den kriminalpolitischen Zielsetzungen dieser Sanktionen kaum sinnvoll trennen. Deshalb erfolgt schon die Konkretisierung von Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit nach geltendem Recht unter Berücksichtigung kriminalpolitischer Gesichtspunkte. Wie die historische Analyse deutlich macht, werden durch die Konzentration auf das geltende Recht notwendig gewisse grundsätzliche Alternativen zu einem Maßregelrecht ausgeblendet. Die Ausgestaltung der Maßregeln innerhalb des heutigen deutschen Kriminalrechts erscheint zwar nicht als „historischer Kompromiß“ der „Schulen“, aber doch als eine Art mittlere Lösung, die einerseits eine strikte Bindung der Strafen an das Schuldprinzip ermöglicht, andererseits aber für bedeutsame Fallgruppen andere kriminalrechtliche Sanktionen an Stelle oder als Ergänzung zu einer Strafe vorsieht. Größere innere Konsistenz wäre von Modellen zu erwarten, die lediglich eine einzige Sanktionskategorie kennen. Dazu zählt das etwa von der Lehre der Sozialverteidigung favorisierte einheitliche Maßnahmenrecht, das den Anspruch erhebt, das Strafrecht durch etwas Besseres zu ersetzen. Andere Vorschläge laufen auf eine Neubestimmung der Strafe hinaus: entweder im Sinne eines Akzents auf der Schuldvergeltung mit der Folge, daß für präventive Zielsetzungen innerhalb des Strafrechts kaum mehr Platz ist, oder im entgegengesetzten Sinne mit einer Betonung gerade der präventiven Funktionen der Strafe. Das sind Positionen, deren heutiger Stellenwert in dieser Arbeit nicht grundsätzlich geklärt wird. Kriminalpolitische Debatten über die Leistungsfähigkeit des Maßregelrechts verlaufen gegenwärtig weitgehend ohne Bezug zu den Alternativen, die sich historisch gestellt haben. Bei der Auseinandersetzung mit konkreten Fragestellungen des geltenden Maßregelrechts wird sich aber herausstellen, daß keineswegs alle Probleme der freiheitsentziehenden Maßregeln durch Gesetzesauslegung lösbar sind. Abschließend wird daher im Fünften Teil diskutiert, inwieweit in diesem Bereich ein Bedürfnis für Gesetzesänderungen besteht.
Zweiter Teil
Gefährlichkeit im Maßregelrecht Der Zweite, Dritte und Vierte Teil der Arbeit befassen sich mit Ansätzen zu einer Systematisierung des geltenden Maßregelrechts. Im folgenden Text geht es zunächst um allgemeine Gesichtspunkte des Prinzips der Gefährlichkeit im Maßregelrecht. Der Dritte Teil beschäftigt sich mit der Konkretisierung des Gefährlichkeitsprinzips für die drei freiheitsentziehenden Maßregeln, der Vierte Teil mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Untersuchung der geschichtlichen Entwicklung des Maßregelrechts legt es nahe, Gefährlichkeit als eine allen Maßregeln gemeinsame Grundkategorie anzusehen. Bevor die Konkretisierung einzelner Sanktionsvoraussetzungen beginnen kann, müssen jedoch einige Vorfragen geklärt werden. Eine erste Schwierigkeit der Dogmatik kriminalrechtlicher Maßregeln dürfte darin liegen, daß die „zweite Spur“ des Sanktionenrechts in sich uneinheitlich ist. Deshalb werden die Voraussetzungen aller sechs Maßregeln des geltenden Rechts in einem ersten Zugriff miteinander verglichen (Kapitel 8). Daten der offiziellen Statistiken zeigen darüber hinaus, daß die Maßregeln auf der Ebene der Anwendung durch die Strafrechtspraxis quantitativ sehr unterschiedlich bedeutsam sind. Die Kategorie der Gefährlichkeit weist schon nach ihrer sprachlichen Bedeutung viele Facetten auf. Gefährlichkeit als Rechtsbegriff ist dementsprechend nicht von vornherein an das Recht der kriminalrechtlichen Maßregeln gebunden. Die Konkretisierung dieses Merkmals für die freiheitsentziehenden Maßregeln könnte von dogmatischen Entwicklungen auf anderen Feldern profitieren, die ebenfalls mit Gefahrbegriffen arbeiten. In nächster Nachbarschaft der kriminalrechtlichen Maßregeln bieten sich für eine solche Betrachtung zwei Felder an: einerseits sind Gefahrbegriffe in der Dogmatik des Strafrechts von Bedeutung, andererseits verweist gerade die historische Entwicklung der Maßregeln auf das Polizeirecht als Teil des Besonderen Verwaltungsrechts (Kapitel 9). Die verbreitete Kritik am Stand der theoretischen Reflexion des Maßregelrechts weist bereits darauf hin, daß wichtige Argumentationsmuster schon seit der Diskussion um die Strafrechtsreform im Kaiserreich verwendet werden.1 Trifft die Kritik zu, dann sind ältere Konkretisierungen der Gefährlichkeit nicht notwendig überholt. Zugleich ist zu untersuchen, inwieweit neuere Begründungsversuche der 1 Frisch (1990: 370); Hanack (1991: Rn. 36 vor §§ 61 ff. StGB); Jakobs (1991: 30); Kaiser (1990: 3); Zipf (1975: 102).
2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
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Individualprävention im Maßregelrecht weiterführen. Immerhin wird gelegentlich darauf hingewiesen, daß die Konkretisierung der Postulate des Grundrechtskatalogs wie auch die Ergebnisse empirischer Untersuchungen der Diskussion neue Dimensionen verleihen.2 Diese Gesichtspunkte werden in Kapitel 10 betrachtet. Eine weitere Schwierigkeit aller kriminalrechtlichen Maßregeln besteht darin, daß das Merkmal der Gefährlichkeit auf zukünftiges Verhalten verweist. Solche Aussagen sind immer von Prognosen abhängig. Prognosen über individuelles Verhalten und besonders Gefährlichkeitsprognosen sind aber keineswegs unproblematisch (Kapitel 11). Das zeigt sich an den Folgen falscher Prognosen: ob jemand zu Recht als „gefährlich“ bezeichnet wurde oder nicht, läßt sich ja bestenfalls im nachhinein feststellen. Die allgemeine Kennzeichnung als „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ durch die Überschrift zum Sechsten Titel des gesetzlichen Abschnitts über die Rechtsfolgen der Tat erweckt den Eindruck, daß der Gesetzgeber diese beiden Zielsetzungen als vorrangig betrachtet. Betrachtet man die Zielsetzungen der Besserung und Sicherung im Lichte des Gefährlichkeitsgrundsatzes, stellt sich jedoch heraus, daß therapeutischen Zielsetzungen im weitesten Sinne innerhalb des geltenden Kriminalrechts nicht der hohe Stellenwert zukommt, den ihnen die Reformgesetzgebung der 1960er und 1970er Jahre beigemessen hat. Allerdings ist dabei zwischen den einzelnen freiheitsentziehenden Maßregeln zu differenzieren (Kapitel 12).
2
Frisch (1990: 343 f.).
9 Dessecker
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Kapitel 8
Das Maßregelrecht im Überblick: Voraussetzungen und Anwendungspraxis Das Maßregelrecht ist im Ersten Teil in seiner historischen Entwicklung dargestellt worden. Zu Beginn der systematischen Teile der Arbeit ist es zweckmäßig, sich das geltende Recht und seine Anwendung kurz zu vergegenwärtigen.
A. Die Uneinheitlichkeit der Maßregelvoraussetzungen Der Gesetzestext zeigt für die sechs Maßregeln des für erwachsene Täter geltenden Kriminalrechts kein einheitliches Bild, wenn man die Qualität der Anlaßtat und den Inhalt der zu stellenden Prognose ins Auge faßt. Das läßt sich anhand der auf der folgenden Seite abgedruckten Übersicht zu den rechtlichen Voraussetzungen ihrer Anordnung verdeutlichen (Tabelle 1). Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) erfordert die Feststellung einer rechtswidrigen Tat, die in einem Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder zumindest der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen wurde. Ein solcher Zustand liegt vor, wenn bei dem Täter zur Überzeugung des Gerichts eine länger dauernde psychische Störung diagnostiziert werden kann.1 Demgegenüber verlangt das Gesetz für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) einen Hang zum übermäßigen Konsum berauschender Mittel, also zumindest eine Suchtproblematik, ohne daß die Frage der Schuldfähigkeit für die Maßregelanordnung von Bedeutung ist. Zudem setzen diese beiden Maßregeln voraus, daß die Tat für den Störungszustand symptomatisch ist, daß also zwischen Störung und Tat ein ursächlicher Zusammenhang besteht.2 Die Vorschrift über die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) bezieht den geforderten Hang nicht auf eine mehr oder minder eingegrenzte psychische Störung, sondern auf eine Neigung zu erheblichen Straftaten, die typischerweise schwere Schäden zur Folge haben. Hinzu kommen je nach den zur Aburteilung stehenden Delikten unterschiedlich hohe formelle Anforderungen an frühere Verurteilungen und Vollzugsaufenthalte.
1 Hanack (1991: Rn. 6, 62 zu § 63 StGB); Stree (2001: Rn. 12 zu § 63 StGB); Volckart (1999: 10). 2 Hanack (1991: Rn. 61 zu § 63, 36 ff. zu § 64 StGB) und Schreiber (2000: 33, 37 f.); aus der Rechtsprechung etwa BGH, Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR 40 / 86 (= BGHSt 34, 22, 27).
9*
Erwartung erheblicher rechtswidriger Taten, Gefahr für Allgemeinheit
Prognose
Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten, hinreichend konkrete Erfolgsaussicht der Behandlung
Hang zu berauschenden Mitteln im Übermaß
§ 64 StGB Suchtbehandlung
Gefahr für Allgemeinheit aufgrund erheblicher Straftaten
Hang zu erheblichen Straftaten (insbesondere solchen mit schweren Schäden)
§ 66 StGB Sicherungsverwahrung
* Die Führungsaufsicht kraft Gesetzes (§ 68 II StGB) bleibt hier außer Betracht.
Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit
Feststellung: Anlaßtat
§ 63 StGB Psychiatrie
Gefahr weiterer Straftaten
Freiheitsstrafe 6 Monate wegen einer Katalogtat
§ 68 I StGB Führungsaufsicht
Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen
Verurteilung wegen rechtswidriger Tat im Zusammenhang mit Führen von Kraftfahrzeugen
§ 69 StGB Entziehung der Fahrerlaubnis
Anordnungsvoraussetzungen der kriminalrechtlichen Maßregeln nach dem Strafgesetzbuch*
Tabelle 1
Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten mit Verletzung von Berufspflichten
Verurteilung wegen rechtswidriger Tat im Zusammenhang mit Verstoß gegen Berufspflichten
§ 70 StGB Berufsverbot
Kap. 8: Das Maßregelrecht im Überblick 131
132
2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Die ambulanten Maßregeln sind demgegenüber an die Feststellung bestimmter Taten geknüpft, deren Charakter dem Ziel der jeweiligen Sanktion entspricht: beim Berufsverbot (§ 70 StGB) geht es um Verstöße gegen berufliche Pflichten, bei der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) um Delikte, die zumindest im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs3 begangen werden, und für die Führungsaufsicht kraft Urteils verweist § 68 I StGB auf verschiedene Bestimmungen im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches, die zusammengenommen einen Katalog der in Frage kommenden Anlaßtaten ergeben. Alle Maßregeln außer der Entziehung der Fahrerlaubnis fordern ausdrücklich eine gerichtliche Prognose über die Gefahr weiterer Delikte. Während die gesetzlichen Vorschriften über die Führungsaufsicht jedenfalls nach ihrem Wortlaut eine Befürchtung beliebiger Straftaten ausreichen lassen, muß im übrigen – bei den freiheitsentziehenden Maßregeln und dem Berufsverbot – hinzukommen, daß zu erwartende Taten eine Erheblichkeitsschwelle überschreiten. Diese Erheblichkeit wird für die einzelnen Sanktionen gleichwohl je nach ihrer Eingriffsintensität nicht selten in unterschiedlicher Weise konkretisiert.4 Die Regelungen über psychiatrische Unterbringung und Sicherungsverwahrung, also die beiden prinzipiell unbefristeten stationären Maßregeln, nennen zudem ausdrücklich die Allgemeinheit als schutzbedürftigen Personenkreis. Eine Besonderheit der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt besteht darin, daß sie nur angeordnet werden darf, wenn – so das Kriterium des Bundesverfassungsgerichts – eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht.5 Obwohl der Wortlaut des § 69 StGB für die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht ausdrücklich auf eine Gefahr verweist, sondern sich mit einer mangelnden Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen begnügt, wird damit der Sache nach auch für die Anordnung dieser Maßregel ein Gefahrurteil verlangt.6 So verstanden, be3 Diese Voraussetzung wird vor allem von der Rechtsprechung traditionell weit verstanden, so daß die Autofahrt zum Tatort oder auf der Flucht ausreichen soll; siehe BGH, Urteil vom 5. November 1953 – 3 StR 542 / 53 (= BGHSt 5, 179) und Beschluß vom 5. Februar 1969 – 2 StR 546 / 68 (= BGHSt 22, 328); einschränkend BGH, Beschluß vom 3. Januar 1995 – 4 StR 723 / 95 (= NStZ 1995, 229). Kritisch zusammenfassend Geppert (1996: Rn. 33 ff. zu § 69 StGB) und Stree (2001: Rn. 13 f. zu § 69 StGB). 4 Das gilt insbesondere für die Anforderungen bei der Unterbringung nach § 64 StGB im Vergleich zu einer solchen nach § 63 StGB; vgl. Böllinger (1995: Rn. 78 zu § 64 StGB) und Hanack (1991: Rn. 71 ff. zu § 64 StGB), die es im Gegensatz etwa zu Lackner (2001: Rn. 5 zu § 64 StGB) und Tröndle / Fischer (2003: Rn. 11 zu § 64 StGB) ablehnen, für die Unterbringung anläßlich einer Suchtproblematik einen grundsätzlich weniger strengen Maßstab anzulegen. 5 BVerfG, Beschluß vom 16. März 1994 – 2 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1, 27 ff.) bemüht sich, die Hürde der Behandlungsbedürftigkeit höher anzusetzen, als dies im Wortlaut des insoweit für verfassungswidrig erklärten § 64 StGB zum Ausdruck kommt. 6 F. Herzog (1995: Rn. 26 zu § 69 StGB); E. Horn (1999: Rn. 2, 14 zu § 69 StGB). Die Rechtsprechung geht allerdings davon aus, daß die Prognose künftiger Gefährlichkeit bereits in der Feststellung der Ungeeignetheit enthalten sei; vgl. schon BGH, Urteil vom 14. Dezem-
Kap. 8: Das Maßregelrecht im Überblick
133
zieht sich die Feststellung der Ungeeignetheit – innerhalb eines an dem Zweck der Prävention orientierten Maßregelrechts konsequent – nicht allein auf eine Eigenschaft des Täters in der Zeit bis zur letzten Hauptverhandlung, sondern dient zugleich als Grundlage einer Prognose über dessen künftiges Verhalten im Straßenverkehr. Damit läßt sich festhalten, daß alle Maßregeln des geltenden Kriminalrechts eine Gefährlichkeitsprognose voraussetzen. Der Bezugspunkt dieser Prognose variiert jedoch. Für die Führungsaufsicht reichen beliebige Straftaten aus; alle freiheitsentziehenden Maßregeln wie auch das Berufsverbot fordern zusätzlich, daß die Schwelle der Erheblichkeit überschritten wird. Die Erfolgsaussicht der in Betracht kommenden Behandlung spielt nur für die Unterbringung anläßlich einer Suchtproblematik eine Rolle. Die Heterogenität der Anordnungsvoraussetzungen wächst, wenn man die Qualität der von den einzelnen Maßregeln vorausgesetzten Anlaßtaten betrachtet. Diese Taten werden teils (bei Führungsaufsicht und Sicherungsverwahrung) durch die Verletzung oder Gefährdung gewisser Rechtsgüter gekennzeichnet, teils müssen (für Entziehung der Fahrerlaubnis und Berufsverbot) bestimmte Handlungsmodalitäten erfüllt sein, und teils müssen die Taten Ausdruck einer psychischen Störung sein (für die Unterbringung in der Psychiatrie und die stationäre Suchtbehandlung).
B. Statistische Daten zur Häufigkeit der Maßregeln Läßt man die Formen informeller Sanktionierung im Strafverfahren7 außer Acht und betrachtet lediglich die absolute Häufigkeit formeller kriminalrechtlicher Sanktionen des Erwachsenenrechts nach den Daten der Strafverfolgungsstatistik für das Jahr 2000, so entfallen allein auf die Geldstrafe rund zwei Drittel der verhängten Sanktionen; doch erweist sich die Maßregel der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) mit einem Anteil von 18 % als zweithäufigste Sanktion nach allgemeinem Strafrecht (Tabelle 2). Sie liegt damit deutlich vor der Freiheitsstrafe, die das Bild des Kriminalrechts in der Öffentlichkeit immer noch maßgeblich prägt. Alle anderen Maßregeln werden ungleich seltener verhängt als die Entziehung der Fahrerlaubnis. Bedeutsamer erscheinen unter dem Aspekt der Eingriffsintensität allerdings die Maßregeln, die mit einer Freiheitsentziehung verbunden sind. Die Strafverfolgungsstatistik ermöglicht eine Betrachtung der Anordnungen freiheitsentziehender Maßregeln (Abbildung 1) über einen Zeitraum von fast fünfzig Jahren. ber 1954 – 3 StR 330 / 54 (= BGHSt 7, 165, 168 ff.); ebenso Geppert (1996: Rn. 68 zu § 69 StGB). 7 Zu diesen Sanktionsformen und ihrer Bedeutung in der Strafrechtspraxis Heinz (1999: 479 ff.).
134
2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht Tabelle 2 Häufigkeit gerichtlich verhängter kriminalrechtlicher Sanktionen gegen Erwachsene und Heranwachsende (Strafverfolgungsstatistik 2000) Hauptstrafen
absolute Häufigkeit
%
Freiheitsstrafe ohne Bewährung
40.753
5,2
Freiheitsstrafe mit Bewährung
84.552
10,9
513.336
65,9
Geldstrafe Maßregeln
absolute Häufigkeit
Psychiatrie
%
737
Suchtbehandlung
0,09
1.257
Sicherungsverwahrung
0,16
60
Entziehung der Fahrerlaubnis
0,008
138.023
Führungsaufsicht
17,7
70
Berufsverbot
0,009
234
Sanktionen insgesamt
0,03
779.022
100,0
1400 1267
§ 64 (§ 42c a.F.)
1200
800
758
§ 63 (§ 42b a.F.) 600
400
200 § 66 (§ 42e a.F.) 60
Abbildung 1: Entwicklung der freiheitsentziehenden Maßregeln nach der Strafverfolgungsstatistik (1950 – 2000)
1995
1980
1965
0
1950
Anordnungen
1000
Kap. 8: Das Maßregelrecht im Überblick
135
Dabei erreicht die psychiatrische Maßregel nach § 63 StGB (§ 42b StGB a.F.) am Anfang und am Ende der Zeitreihe ein ähnlich hohes Niveau mit 500 bis über 700 Anordnungen pro Jahr. In den dreißig Jahren zwischen 1965 und 1995 zeigen sich jedoch einige Schwankungen; in diesem Zeitraum geht die jährliche Anordnungshäufigkeit auf rund 300 Aburteilungen im Jahr 1970 zurück, um danach zunächst langsam, seit 1994 aber steiler anzusteigen. Ende der 1990er Jahre kann man nach den Zahlen der Statistik mit deutlich mehr als 700 Entscheidungen der erkennenden Gerichte über eine Unterbringung anläßlich einer psychischen Störung rechnen. Tatsächlich dürften die Zahlen noch um einiges höher liegen: verhängte Maßregeln werden nicht ganz vollständig registriert8, und die östlichen Bundesländer außer Berlin sind in diesen veröffentlichten Daten der Strafverfolgungsstatistik noch nicht berücksichtigt. Was die Maßregel nach § 64 StGB betrifft, ist seit den 1950er Jahren eine bemerkenswerte Zunahme der Anordnungszahlen zu beobachten, die lediglich zwischen 1965 und 1975 durch eine Stagnationsphase unterbrochen wird. Seit rund 25 Jahren ist die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt quantitativ die bedeutsamste freiheitsentziehende Maßregel. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 19949 hat die Strafgerichte offensichtlich nur vorübergehend irritiert10 – zumal das oberste Gericht die Legitimität von Therapieversuchen mit ungewissem Ausgang nicht in Frage stellt, sondern eher unterstreicht. Heute liegt die Anordnungshäufigkeit bei dieser Maßregel höher als jemals zuvor seit der Gründung der Bundesrepublik. Die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) dagegen, die noch 1970 ähnlich häufig angeordnet wurde wie die Unterbringung wegen einer Suchtproblematik, stabilisiert sich seit der Strafrechtsreform auf niedrigem Niveau mit nicht mehr als 60 Anordnungen pro Jahr. Infolge der jüngsten Gesetzesänderungen durch das Gesetz „zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“11, vor allem aber durch die Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung12 kann bei dieser freiheitsentziehenden Maßregel am ehesten ein Abbruch des langjährigen Trends zugunsten einer neuerlichen Zunahme erwartet werden. Die erstgenannte Gesetzesänderung dürfte in der Strafrechtspraxis nicht folgenlos bleiben, weil sie die meisten Delikte betrifft, die zuvor für die Sicherungsverwahrung bedeutsam waren.13 Der Vorbehalt einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung Gebauer (1993: 31 f.). BVerfG, Beschluß vom 16. März 1994 – 2 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1). 10 Übereinstimmend in dieser Einschätzung Schalast / Leygraf (1999: 487). 11 Gesetz vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 160). Zur Kritik an der Ausweitung der Sicherungsverwahrung etwa Boetticher (1998: 364 f.), Kinzig (1999) und Meier (1999). 12 Das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl. I 3344) ist am 28. August 2002 in Kraft getreten. 13 Der Vergleich mit der Darstellung der Deliktsstruktur in Kapitel 15 C. I. (unten S. 310 f.) zeigt, daß die Verschärfung den überwiegenden Teil der Verurteilungen mit Siche8 9
136
2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
könnte zu dieser Maßregel in manchen Verfahren führen, in denen die vorhandene schmale Prognosegrundlage eine unmittelbare Verhängung am Ende der Hauptverhandlung nicht gestattet hätte. Das allerdings sind Veränderungen, die sich schon wegen der vorweg vollzogenen Freiheitsstrafen erst auf längere Sicht in den Daten der Strafverfolgungsstatistik bemerkbar machen können.
rungsverwahrung betrifft. Lediglich bei Unterbringungen wegen Eigentums- und Vermögensdelikten greift § 66 III StGB nicht ein.
Kap. 9: Gefahrbegriffe außerhalb des Maßregelrechts
137
Kapitel 9
Gefahrbegriffe außerhalb des Maßregelrechts Gegenüber der Tauglichkeit von Gefahrbegriffen herrscht im Kriminalrecht verbreitete Skepsis. Dementsprechende Aussagen können in der deutschen Strafrechtswissenschaft auf eine lange Tradition zurückblicken; häufig machen sie sich an der Fahrlässigkeitsdogmatik oder den Gefährlichkeits- und Gefährdungsdelikten des Besonderen Teils fest.1 In der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs findet sich die immer wieder zitierte Feststellung: „Der Begriff der ,Gefahr‘ entzieht sich genauer wissenschaftlicher Umschreibung. Er ist nicht allgemeingültig bestimmbar und überwiegend tatsächlicher, nicht rechtlicher Natur.“2
Diese Aussage steht im Kontext einer Kompetenzabgrenzung zwischen Revisionsgericht und Tatsacheninstanz: sie soll es dem Revisionsgericht ersparen, mit unzureichenden Mitteln in eine eigene Beweiswürdigung einzutreten. Kritische Aussagen finden sich aber auch gegenüber der Heranziehung von Gefahrbegriffen als Kriterium für das Maßregelrecht.3 Dennoch soll in diesem Kapitel nach Möglichkeiten gesucht werden, Gefahrbegriffe für alle Maßregeln zu konkretisieren. Auf die allgemeine Bedeutung von Gefahrbegriffen in der Rechtsordnung wird zwar gelegentlich hingewiesen, ohne daß ihre Übertragbarkeit in das Maßregelrecht aber systematisch untersucht würde. Ziel der Darstellung ist jedoch kein vollständiger Überblick über den Gebrauch von Gefahrbegriffen im deutschen Recht, sondern eine gezielte Überprüfung solcher Rechtsgebiete, in denen sich funktional vergleichbare Begriffsbildungen finden. Denn mit identischen Formulierungen in Gesetzestexten müssen nicht notwendig identische Bedeutungen einhergehen: „Die Frage, ,was Gefahr heißt‘, läßt sich nicht trennen von jener, aus welchem Grunde und zu welchem Zweck sich der Gesetzgeber eigentlich dieses Begriffes bedient.“4
Auszugehen ist dabei von dem alltäglichen Sprachgebrauch. Damit wird nicht vorausgesetzt, daß juristische Fachbegriffe mit Begriffen der Umgangssprache übereinstimmen müßten. Um ihren Bedeutungsgehalt zu verstehen, ist es aber erforderlich, daß Übereinstimmungen und Abweichungen erläutert werden kön1 von Bar (1907: 567); Bassenge (1961: 139); Binding (1919: 374 ff.); Reinhard von Hippel (1972: 101 ff.); Rabl (1933: 6 f.). 2 BGH, Beschluß vom 15. Februar 1963 – 4 StR 404 / 62 (= BGHSt 18, 271 f.); ähnlich schon RG, Urteile vom 7. Februar 1884 – 15 / 84 (= Rechtsprechung in Strafsachen 6, 98 f.) und vom 14. Juni 1897 – 1579 / 97 (= RGSt 30, 178 f.); weiter BGH, Beschluß vom 5. März 1969 – 4 StR 375 / 68 (= BGHSt 22, 341, 343). 3 Flandrak (1932: 23); Zimmerl (1930: 320). 4 E. Horn (1973: 5).
138
2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
nen. Das gilt auch für Begriffe wie „Gefährlichkeit“ und „Gefahr“.5 Wenn die Rechtssprache diese Begriffe heranzieht, werden sie gewissermaßen aus einer Umwelt importiert, in der typischerweise nicht mit Rechtsbegriffen kommuniziert wird.
A. Gefahrbegriffe in der Alltagssprache Eine Gefahr ist nach dem mittelhochdeutschen Sprachgebrauch „feindliche nachstellung, auflauern, auch der überfall“. Darauf beruht auch noch der heutige Begriff, der sich jedoch eher auf die Wirkung einer solchen Aktion bezieht: die Rede ist damit „nur noch von der lage des gefährdeten, nicht mehr von dem thun des gefährdenden, von dem das ganze ausgieng“.6 Für die Sprachentwicklung ist zugleich eine gewisse sachliche Verdünnung charakteristisch; der Begriff löst sich vom Kontext kriegerischer oder überhaupt gewaltsamer Auseinandersetzung und kann so die Möglichkeit eines beliebigen künftigen Ereignisses beschreiben, das unangenehm oder nur unwillkommen ist.7 Die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen besteht bis in die Gegenwart. Neuere lexikalische Definitionen beschreiben „Gefahr“ als drohendes Unheil oder Möglichkeit, daß jemandem etwas zustößt oder ein Schaden eintritt.8 Die Erläuterungen verweisen auf weitere Begriffe wie etwa „Risiko“ als benachbarten9 und „Sicherheit“ als gegensätzlichen Begriff.10 Ein Risiko kann etwas sein, das wie eine Gefahr als Bedrohung empfunden wird. Es wird vor allem in ökonomischem Kontext aber auch mit deutlich positiver Konnotation als Chance verstanden.11 Sicherheit ist in diesem Zusammenhang nicht mehr als die Abwesenheit von Gefahren und Freiheit von Bedrohung. Wer Glück, Nutzen oder Erfolg zu erwarten hat, hofft dagegen auf einen Mehrwert, der über bloße Sicherheit hinausgeht.12 Gefahr und Sicherheit bezeichnen also keine symmetrischen Gegensätze.13 5 Man kann dieses Problem nicht dadurch aus dem Weg räumen, daß man wie B.A. Koch (1992: 85) auf den Begriff der Gefahr als Rechtsbegriff wegen seiner umgangssprachlichen Prägung verzichtet. Es wird dadurch nur verschoben. Wie im Text dagegen etwa Hirsch (1993: 555 f.) und Prittwitz (1993: 33 ff.) zum Strafrecht, Poscher (1999: 113) und Schenke (1996: 459) zum Polizeirecht. 6 Grimm et al. (1878: 2062). 7 Beispiele bei Grimm et al. (1878: 2065, 2067). 8 Wissenschaftlicher Rat der Duden-Redaktion (1999: 1403). 9 So bereits Grimm et al. (1878: 2065). 10 Wissenschaftlicher Rat der Duden-Redaktion (1999: 1403). 11 Wissenschaftlicher Rat der Duden-Redaktion (1999: 3209). Für die Sozialwissenschaften ebenso Gigerenzer (2002: 44 f.). 12 Wissenschaftlicher Rat der Duden-Redaktion (1999: 3551). 13 Im Hinblick auf das Polizeirecht Davy (1990: 299).
Kap. 9: Gefahrbegriffe außerhalb des Maßregelrechts
139
Eine „Gefahr an sich“ wäre ein leeres Konzept; der Begriff erhält einen Inhalt erst durch den Bezug auf einen Gegenstand oder eine Person. Man kann ihn als Bezugs- oder Relationsbegriff kennzeichnen.14 „So wenig es die ,schlichte Ursache‘, sondern nur eine ,spezifische Wirkungs- (d. h.: Rechtsgutsverletzungs-)Ursache‘ gibt, so wenig Sinn hat es, von ,der‘ Gefahr zu sprechen: Es gibt immer nur die ,Gefahr einer spezifischen Wirkung‘, hier: die Gefahr für ein bestimmtes Rechtsgut.“15
Der Bezugspunkt von Gefahrbegriffen kann variieren: gefährlich können Sachen, Eigenschaften, Handlungen16, Verhaltensweisen oder Ereignisse, langfristige Zustände oder aktuelle Lebenslagen sein. Wie schon die Bezugnahme auf Handeln und Verhalten zeigt, können aber auch Personen17 als gefährlich bezeichnet werden. Dabei bezeichnet der abgeleitete Begriff „Gefährlichkeit“ eine potentielle Eigenschaft oder einen Zustand, die eine Gefahr mit sich bringen. Dem entspricht die Bedeutung des Adjektivs „gefährlich“. Im Mittelhochdeutschen bezieht es sich auf feindliches Nachstellen, steht aber auch schon für „nicht aus versehen, ungefähr, sondern in böser absicht“. Diese Bedeutung wird verallgemeinert und „übertragen auf anderes thun, besonders auch reden, eigentlich mit feindlicher absicht“.18 Gefährlich ist jemand oder etwas, der oder das so beschaffen ist, daß große Vorsicht geboten ist. Gefährlich können Dinge sein, aber auch Ratschläge, Reden, Gedanken und, bezogen auf die Person insgesamt, Menschen.19 Die alte Bedeutung des Feindlichen und Hinterlistigen klingt nach: „und noch heute, wenn man z.b. einen bösen menschen, vor dem man sich in acht nehmen musz, einen gefährlichen menschen nennt ( . . . )“20
Der Bezug kann zweitens die Folgenseite betreffen: eine Person oder Sache, die einer Gefahr ausgesetzt ist, gilt als „gefährdet“. Gefährdung ist ein transitiver Begriff: damit wird ausgedrückt, daß eine Gefahrlage für jemanden oder etwas besteht.21 Anhand eines Beispiels aus dem Strafrecht kann man sagen, daß eine Für Deliktsformen im Strafrecht Graul (1991: 58) und E. Horn (1973: 143). E. Horn (1973: 143). 16 Für das Strafrecht Gallas (1972: 180 f.), Reinhard von Hippel (1972: 2) und Koriath (2001: 57). Eine andere Frage ist es, ob ein solcher Handlungsbezug in einem bestimmten Zusammenhang sinnvoll ist; kritisch im Hinblick auf die Dogmatik der konkreten Gefährdungsdelikte E. Horn (1973: 11 ff., 29). 17 Zum Maßregelrecht Reinhard von Hippel (1972: 2 Fn. 9), A. von Kaenel (1957: 160) und B. Müller (1981: 60). 18 Grimm et al. (1878: 2082). 19 Wissenschaftlicher Rat der Duden-Redaktion (1999: 1404). 20 Grimm et al. (1878: 2084). 21 Ebenfalls für das Strafrecht Reinhard von Hippel (1972: 81 ff.), Hirsch (1993: 550) und E. Horn (1973: 11 Fn. 27); für das Zivilrecht etwa Deutsch (1996: 128, 144). Anders, aber wenig überzeugend die traditionelle Bezeichnung „abstrakte Gefährdungsdelikte“ für eine Gruppe von Tatbeständen, die gerade keinen Gefährdungserfolg voraussetzen, etwa in BGH, 14 15
140
2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Trunkenheitsfahrt in menschenleerer Gegend „zwar vielleicht eine ,gefährliche‘, aber keine ,Gefährdungs-Handlung‘“ ist.22
B. Gefahrbegriffe im strafrechtlichen Deliktsaufbau Nach einer in der deutschen Strafrechtsdogmatik weit verbreiteten Auffassung existiert ein „strafrechtlicher Gefahrbegriff“, der sowohl die Lösung allgemeiner Probleme der Strafbarkeit wie auch die Auslegung von Deliktstatbeständen des Besonderen Teils gestattet. Dementsprechend soll der Begriff der Gefahr im Rahmen der konkreten Gefährdungsdelikte ebenso bestimmt werden wie für den rechtfertigenden (§ 34 S. 1 StGB) oder entschuldigenden Notstand (§ 35 I 1 StGB).23 Aus dieser Sicht wäre es folgerichtig, den Gefahrbegriff für das gesamte Kriminalrecht einheitlich zu bestimmen und strafrechtliche Lösungen auf das Maßregelrecht zu übertragen. Der Entschluß zu einem Verletzungsdelikt würde als vergleichbar mit der Gefahr eines Schadenseintritts angesehen, welche die Gefährdungstatbestände voraussetzen. In beiden Fällen geht es um normative Bewertungen menschlichen Handelns. Das ist ein Gesichtspunkt, der an dieser Stelle allerdings nicht vertieft zu werden braucht.24 Bei näherer Betrachtung wird sich nämlich zeigen, daß die Versuche einer systematischen Verallgemeinerung von Gefahrbegriffen stark von ihren jeweiligen normativen Ausgangspunkten geprägt sind. Deshalb erscheint ihre Reichweite begrenzt. Hier sollen nur zwei der in Betracht kommenden Anwendungsfälle näher ins Auge gefaßt werden.
I. Deliktsformen Traditionell unterscheidet die Strafrechtsdogmatik bei der Pönalisierung von Handlungen, die mit einer bloßen Gefahr für ein Rechtsgut verbunden sind, ohne daß es zu einer Schädigung dieses Rechtsguts kommt, zwischen abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten. Abstrakte Gefährdungsdelikte werden dadurch gekennzeichnet, daß ein lediglich typischerweise gefährliches Verhalten unter Strafe gestellt ist; dabei wird nicht vorausgesetzt, daß bereits eine konkrete Gefahr für ein geschütztes Rechtsgutsobjekt eintritt.25 Hier kommt es demnach allein auf die GeUrteil vom 1. Februar 1985 – 2 StR 685 / 84 (= BGHSt 33, 133, 135 f.) sowie bei Wessels / Beulke (2002: 8). Zur Kritik sogleich oben im Text. 22 E. Horn (1973: 11 Fn. 27). 23 Dazu z. B. K. Kühl (2001: Rn. 2 zu § 34 StGB), Maurach / Zipf (1992: 379) und Tröndle / Fischer (2003: Rn. 2 zu § 35 StGB). Aus der Rechtsprechung etwa RG, Urteil vom 14. Juni 1897 – 1579 / 97 (= RGSt 30, 178 f.). 24 Siehe auch die Hinweise in Kapitel 11 A. III. (S. 187 ff.). 25 So etwa BGH, Urteile vom 24. April 1975 – 4 StR 120 / 75 (= BGHSt 26, 121, 123) und 1. Februar 1985 – 2 StR 685 / 84 (= BGHSt 33, 133, 135 f.); aus der Literatur Berz (1986:
Kap. 9: Gefahrbegriffe außerhalb des Maßregelrechts
141
fährlichkeit einer Handlung an. Für das Schutzgut braucht nicht einmal ein Gefährdungserfolg einzutreten.26 Demgegenüber setzt die ebenfalls etablierte Kategorie der konkreten Gefährdungsdelikte schon den Eintritt eines Erfolgs voraus, der sich allerdings auf eine konkrete Gefährdung des Schutzobjekts beschränkt.27 Der Begriff der konkreten Gefahr gilt als schwer zu bestimmen und im einzelnen umstritten; die Rechtsprechung verläßt sich weitgehend auf Einzelfallentscheidungen.28 Die neuere Dogmatik zerlegt den Gefahrbegriff meist in zwei Elemente: die naheliegende Möglichkeit eines Schadenseintritts und den Eintritt des Rechtsgutsobjekts in den Gefahrenbereich des Täters.29 Diese traditionelle Einteilung abstrakter und konkreter Gefährdungsdelikte, die sicherlich den Vorteil der Klarheit und Eingängigkeit für sich hat, wird neuerdings unter verschiedenen Aspekten in Zweifel gezogen. Zum einen wird vorgeschlagen, die bisherige Kategorie der abstrakten Gefährdungsdelikte genauer als „Gefährlichkeitsdelikte“ zu bezeichnen; schon bisher besteht ja Einigkeit darüber, daß diese Delikte gerade keinen Gefährdungserfolg voraussetzen.30 Einen Schritt weiter gehen strafrechtssystematische Ansätze, die zwischen die traditionelle Zweiteilung abstrakter Gefährlichkeitsdelikte und konkreter Gefährdungsdelikte weitere Differenzierungen einschieben. Damit wird meist der Anspruch erhoben, der Komplexität des Besonderen Teils besser gerecht zu werden. Auf diese Weise werden neue Deliktsformen „erfunden“: konkrete Gefährlichkeitsdelikte, die ein konkret gefährliches Verhalten, aber keinen Gefährdungserfolg fordern31; potentielle Gefährlichkeitsdelikte, die einen konkret gefährlichen Zustand, aber ebenfalls keinen Gefährdungserfolg fordern32; Eignungsdelikte, die auf die Geeignetheit eines Verhaltens zur Herbeiführung eines bestimmten Erfolgs abstel7, 57 f.), J. Bohnert (1984: 183), Jescheck / Weigend (1996: 264), U. Weber (2000: 771) und Wessels / Beulke (2002: 8); mit anderer Formulierung, aber inhaltlich übereinstimmend Graul (1991: 36 f.). 26 Zu dieser prinzipiellen Unterscheidung Berz (1986: 57 f.), Demuth (1980: 32 ff.) und Graul (1991: 36 f.). 27 Arzt (1990: 170); Berz (1989: 409); Jescheck / Weigend (1996: 264); Meyer (1992: 185 f.); U. Weber (2000: 771). Anders etwa Koriath (2001: 58 ff.). 28 RG, Urteil vom 14. Juni 1897 – 1579 / 97 (= RGSt 30, 178 f.); BGH, Beschlüsse vom 30. Juni 1955 – 4 StR 127 / 55 (= BGHSt 8, 28, 32), vom 15. Februar 1963 – 4 StR 404 / 62 (= BGHSt 18, 271 f.) und vom 5. März 1969 – 4 StR 375 / 68 (= BGHSt 22, 341, 343) sowie Urteil vom 3. Mai 1973 – 4 StR 117 / 73 (= VRS 45, 38 f.). 29 U. Weber (2000: 777 ff.); Zieschang (1998: 43 ff.). 30 J. Bohnert (1984: 183); Hirsch (1993: 558 ff.); Meyer (1992: 180 ff.); Zieschang (1998: 26 f.). Die Frage der Bezeichnung ist unabhängig von kriminalpolitischen Aspekten: wegen der besonders weiten Vorverlagerung der Strafbarkeit gilt diese Deliktsform vielen als kriminalpolitisch suspekt. Hierzu etwa Berz (1986: 101 ff.), Brehm (1973: 38 ff.); Hoyer (1987: 33 ff.); Zieschang (1998: 349 ff.). 31 Graul (1991: 120 f.); Hirsch (1993: 558 ff.); Zieschang (1998: 52 ff.). 32 Graul (1991: 116); Zieschang (1998: 64 ff., 101).
142
2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
len33; Risikodelikte, bei denen die generelle Eignung eines Verhaltens zur Herbeiführung eines schädlichen Erfolgs nicht von vornherein feststeht.34 Ungeachtet ihrer Vielfalt lassen sich diese Deliktsformen, was ihre Funktion innerhalb des Strafrechtssystems betrifft, auf einen gemeinsamen Nenner bringen: die Vorverlagerung der Strafbarkeitsgrenze in einen Bereich, in dem noch kein Schädigungserfolg eingetreten ist.35 Die unterschiedlichen Wendungen, mit denen das strafbare Verhalten im Gesetzestext umschrieben wird, reflektieren die Vielfalt der gesetzestechnischen Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen. Versucht man, Gefahrbegriffe in diesem Zusammenhang zu konkretisieren, so kommen dafür prinzipiell zwei Wege in Betracht. Man kann auf die vielfältigen Differenzierungen in der Weise reagieren, daß man Gefahrbegriffe von der jeweils in Frage stehenden gesetzlichen Regelung aus in funktional-normativer Weise bestimmt.36 Diese Vorgehensweise ist allerdings weniger geeignet, wenn es wie hier darum geht, gemeinsame Gefahrbegriffe innerhalb bestimmter Deliktsformen zu bestimmen und im Anschluß daran zu prüfen, ob sie für die Systematisierung des Maßregelrechts herangezogen werden können. Der alternative Weg läuft darauf hinaus, den Gefahrbegriff innerhalb des Strafrechts möglichst einheitlich neu zu bestimmen. Diese Möglichkeit soll anhand des Ansatzes von Hans Joachim Hirsch diskutiert werden. Hirsch plädiert – zunächst im Rahmen der Notstandsvorschriften – dafür, trotz der Mehrdeutigkeiten der Umgangssprache dogmatisch klar zwischen Gefahr (dem nach seiner Auffassung hier maßgeblichen Zustand, in dem sich ein Objekt befindet) und Gefährlichkeit (einer Handlung oder einer Anlage) zu differenzieren.37 Damit könne man dem erreichten Stand der Dogmatik zu den Gefährdungs- und Gefährlichkeitsdelikten Rechnung tragen. Dieses begriffliche Gerüst sei nicht nur für die Notstandsproblematik angemessen, sondern es eigne sich auch für eine Verallgemeinerung.38 Dabei gehe es um die dogmatisch angemessene Präzisierung eines vom Recht bereits vorgefundenen Begriffs, und zwar unabhängig von konkreten nationalen Rechtsordnungen. Von einer Gefährdung könne streng genommen nur dort die Rede sein, wo ein bestimmtes Tatobjekt – wie bei den „konkreten Gefährdungsdelikten“ überkommener Terminologie – in die Nähe eines Schädigungserfolgs gerät. Wo eine Gefährdung dagegen eine abstrakte Möglichkeit bleibe, sei es angemessener, von „Gefährlichkeitsdelikten“ zu sprechen. Das GemeinBrehm (1973: 144 ff.); Hirsch (1993: 561 f.); Hoyer (1987: 197 f.); Jakobs (1991: 174). Graul (1991: 128). 35 Dimitratos (1989: 15); Henckel (1930: 44 f.); Lackner (1967: 14); U. Weber (2000: 765 ff.). 36 Zum rechtfertigenden Notstand Dimitratos (1989: 17 ff.) und Roxin (1997: 614); in dieser Richtung auch Jakobs (1991: 416 Fn. 27). Zu den konkreten Gefährdungsdelikten Demuth (1980: 14 f.). 37 Hirsch (1993: 548 ff.). 38 Hirsch (1993: 555). 33 34
Kap. 9: Gefahrbegriffe außerhalb des Maßregelrechts
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same dieser Kategorie bestehe nämlich in der allgemeinen Gefährlichkeit einer Handlung, die unabhängig von einem Schutzobjekt bestehe.39 Hirsch vermag damit zu zeigen, daß es möglich ist, Gefahrbegriffe im Hinblick auf die Gefährlichkeits- und Gefährdungsdelikte des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches sowie für den Notstand als Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgrund relativ einheitlich zu fassen. Damit steht allerdings noch nicht fest, daß sein Vorhaben – die Bildung eines einheitlichen Gefahrbegriffs im Strafrecht40 – gelungen ist. Denn im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit kommt es ja nicht nur auf die Frage an, ob dieser Gefahrbegriff für alle Fallgruppen geeignet ist, die im strafrechtlichen Verbrechensaufbau in Betracht kommen. Es geht vielmehr um die Übertragbarkeit gefundener Lösungen in das Sanktionenrecht der kriminalrechtlichen Maßregeln. Die Funktion von Gefahrbegriffen als Anordnungs- oder Vollstreckungsvoraussetzungen im Maßregelrecht liegt in der Begründung und Begrenzung individualpräventiver Sanktionen jenseits der Grenzen, die das Schuldprinzip setzt. Sie sollen eine Rechtsanwendung gewährleisten, die den Zweck der Gefahrenabwehr in angemessener Weise verwirklicht. Das ist nur aufgrund einer Prognose der künftig von einer verurteilten Person zu erwartenden Taten möglich. Anders ist es bei der systematischen Unterscheidung von Deliktskategorien. Zwar setzen auch alle Gefährlichkeits- und Gefährdungsdelikte eine Prognose darüber voraus, ob eine bestimmte Handlung in einer bestimmten Situation als gefährlich anzusehen ist. Aber hier geht es nicht um die Sanktionsentscheidung, sondern um die vorrangige Frage, ob ein bestimmtes Verhalten überhaupt strafbar ist. Das erkennende Gericht hat – nachträglich und daher mit viel weiter gehenden Erkenntnismöglichkeiten – eine Situation zu beurteilen, die längst abgeschlossen ist. Und typischerweise steht zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung fest, daß ein bestimmtes gefährliches Verhalten höchstens einen Gefährdungserfolg herbeigeführt hat; möglicherweise ist es nicht einmal dazu gekommen. Gefahrbegriffe im Maßregelrecht müssen eigene Anforderungen erfüllen.41 Sie beschäftigen sich nicht mit der Beurteilung eines bereits abgeschlossenen Verhaltens, sondern mit einer ungewissen Zukunft. Bei der Entscheidung über die Anordnung einer Maßregel hat das Gericht nicht mehr die Tat einer beschuldigten Person zu beurteilen, sondern es muß eine gesonderte Entscheidung über deren Persönlichkeit treffen. Für die Persönlichkeitsbeurteilung sind bestimmte frühere Verhaltensweisen in bestimmten Situationen ebenso wie die Tat, die Gegenstand der aktuellen Hauptverhandlung ist, insofern von Bedeutung, als die Wiederkehr ähnlicher Verhaltensweisen zu erwarten ist. Aber das sind eher Gesichtspunkte, die sich als Grundlage dafür eignen, daß einer verurteilten Person Gefährlichkeit als Hirsch (1993: 558 ff.). Hirsch (1993: 557 ff.) bestimmt nicht abschließend, wie weit sein Anspruch eines einheitlichen strafrechtlichen Gefahrbegriffs reichen soll. 41 So bereits B. Müller (1981: 60). 39 40
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Persönlichkeitseigenschaft zugeschrieben wird. Vor allem geht es bei den erwarteten Normverstößen nicht um Fälle mit glimpflichem Ausgang, die das Strafrecht über Gefährlichkeits- und Gefährdungstatbestände erfaßt, sondern – jedenfalls bei freiheitsentziehenden Maßregeln – typischerweise um die Befürchtung massiver Rechtsgutsverletzungen. II. Notstand Es gibt nicht wenige weitere Anwendungsfälle von Gefahrbegriffen im Strafrecht. Sie sollen hier nicht vollständig durchdekliniert werden; jedenfalls zählen die Lehren von der objektiven Zurechnung42 und vom untauglichen Versuch43 ebenso dazu wie die Fahrlässigkeitsdogmatik44 und das Strafzumessungsrecht.45 Da nach der Betrachtung der Gefährlichkeits- und Gefährdungsdelikte abzusehen ist, daß eine Übertragung dogmatischer Elemente aus diesen Bereichen in das Maßregelrecht auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen wird, wird exemplarisch nur noch ein weiteres Feld betrachtet, das sich in der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion besonderer Aufmerksamkeit erfreut: der Notstand als Rechtfertigungsund Entschuldigungsgrund. Nach § 34 S. 1 StGB werden Taten, die in einer gegenwärtigen und nicht anders abwendbaren Gefahr für ein beliebiges Rechtsgut begangen werden, unter bestimmten weiteren Voraussetzungen gerechtfertigt. Ähnlich strukturiert ist der Entschuldigungsgrund des § 35 I StGB, obgleich diese Vorschrift den Kreis der geschützten Rechtsgüter und der begünstigten Personen enger zieht. Aus diesem Grund besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß der Gefahrbegriff in beiden Notstandsnormen gleich zu interpretieren ist.46 Wann eine Gefahr vorliegt, ist allerdings umstritten. Meist geht man davon aus, daß ein Zustand vorliegen muß, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit besteht, daß ein schädigendes Ereignis eintreten wird.47 Der
42 Hirsch (1993: 561); Jescheck / Weigend (1996: 287); Prittwitz (1993: 335 ff.); Rudolphi (1997: Rn. 57 vor § 1 StGB). 43 Gemeint ist ein mit dem geltenden Recht wegen § 23 III StGB kaum zu vereinbarendes, aber in der Strafrechtswissenschaft gleichwohl vertretenes objektives Verständnis des Versuchs. Hierzu die neueren Beiträge von Hirsch (1993: 560 f.) und – de lege ferenda – Weigend (1989: 126 ff.), zur älteren Diskussion von Liszt / Schmidt (1932: 298 ff.) und Spendel (1966). 44 Prittwitz (1993: 323 ff.); Schünemann (1975: 576); Welzel (1969: 137); Wessels / Beulke (2002: 227). 45 Siehe etwa Grünhut (1926). Zur Kritik Roxin (1997: 736 ff.). 46 Dimitratos (1989: 27 ff.); Hirsch (1994); Roxin (1997: 832 f.); mit einer Modifikation Lenckner / Perron (2001: Rn. 11 zu § 35 StGB). 47 Hirsch (1994: Rn. 26 zu § 34 StGB); Lenckner / Perron (2001: Rn. 12 zu § 34 StGB); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 3a zu § 34 StGB). Aus der Rechtsprechung schon RG, Urteile
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geforderte Wahrscheinlichkeitsgrad wird unterschiedlich konkretisiert. Am strengsten sind die Anforderungen höchstrichterlicher Entscheidungen, nach denen der Schaden sicher oder doch „höchstwahrscheinlich“ eintreten muß.48 Eine mittlere Linie verlangt, „daß die Möglichkeit eines Schadenseintritts einen Grad erreicht hat, den man als naheliegend bezeichnen kann und der eine entsprechende Besorgnis als begründet erscheinen läßt“.49 Die weiteste Auffassung läßt es ausreichen, daß der Eintritt eines Schadens „nicht ganz unwahrscheinlich“ ist.50 Man kann gegen die besonders strenge Auslegung geltend machen, daß sie den Anwendungsbereich der Notstandsvorschriften minimiert51 und unter Umständen keinen optimalen Rechtsgüterschutz, sondern das Gegenteil dessen erreicht, was sie erreichen will. Wer sich – mit einem Lehrbuchbeispiel von Claus Roxin52 – schnell entscheiden muß, entweder unbefugt ein Auto zu gebrauchen (§ 248b StGB), um eine möglicherweise schwer verletzte Person nach einem Verkehrsunfall ins Krankenhaus zu bringen, oder erst einmal abzuwarten, ob nicht andere Hilfe auftaucht, dabei aber den Tod der Verletzten zu riskieren, den sollte die Rechtsordnung nicht von seiner Hilfsbereitschaft abschrecken. Aus diesem Grund vertreten Roxin und andere eine Auslegung, die darum bemüht ist, die Anforderungen für den Gefahrbegriff beim Notstand niedrig anzusetzen.53 Dieses Vorgehen läßt sich mit der Funktion der Notstandsvorschriften innerhalb des Strafrechts begründen. Die Normen über den Notstand dienen als Korrektiv der Strafbarkeit in Fallgruppen, in denen ein Eingriff in ein Rechtsgut nicht als rechtswidrig erscheint, weil ein ungleich höher bewertetes Interesse geschützt werden soll (§ 34 StGB) oder eine Rechtsgüterkollision doch zu einer so außergewöhnlichen Motivationslage führt, daß normgemäßes Verhalten unzumutbar wäre und keine präventive Bestrafungsnotwendigkeit besteht (§ 35 StGB).54 Es ist für den rechtfertigenden wie auch den entschuldigenden Notstand anerkannt, daß vom 23. Januar 1925 – I 959 / 24 (= RGSt 59, 69, 71) und vom 11. Januar 1932 – III 911 / 31 (= RGSt 66, 98, 100). 48 In diesem Sinne RG, Urteile vom 11. März 1927 – I 105 / 26 (= RGSt 61, 242, 255) zum Schwangerschaftsabbruch und vom 26. April 1932 – I 1341 / 31 (= RGSt 66, 222, 225) zum Meineid; weiterhin BGH, Urteil vom 12. Juli 1951 – 4 StR 339 / 51 (= NJW 1951, 769 f.). 49 So Hirsch (1994: Rn. 32 zu § 34 StGB) und Tröndle / Fischer (2003: Rn. 3a zu § 34 StGB) im Anschluß an Gerichtsentscheidungen zu den Gefährlichkeits- und Gefährdungsdelikten, etwa RG, Urteil vom 11. März 1884 – 460 / 84 (= RGSt 10, 173, 176) und BGH, Beschluß vom 15. Februar 1963 – 4 StR 404 / 62 (= BGHSt 18, 271, 272). 50 Dimitratos (1989: 26, 63); Jakobs (1991: 415); Lenckner / Perron (2001: Rn. 15 zu § 34 StGB); Roxin (1997: 614); ebenso RG, Urteil vom 28. Februar 1928 – I 11 / 28 (= RGSt 62, 55, 57) zum Aussagenotstand nach § 157 I StGB. 51 Andeutungsweise Hirsch (1994: Rn. 32 zu § 34 StGB). 52 Roxin (1997: 614). 53 Siehe die Zitate in Fn. 50. 54 K. Kühl (2001: Rn. 1 zu § 34, 1 zu § 35 StGB); Roxin (1997: 610, 829 ff.); Wessels / Beulke (2002: 96 f., 137 f.). 10 Dessecker
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der Ursprung der Gefahr unerheblich ist: menschliche Handlungen, Sachen und Naturereignisse werden gleich behandelt.55 Zudem schützt § 34 StGB beliebige Rechtsgüter und rechtlich geschützte Interessen.56 Wesentlich für diese Auslegung des Gefahrbegriffs beim Notstand ist weiter, daß das Vorliegen einer Gefahr nicht mehr darstellt als ein Eingangskriterium, das den Weg zur Anwendbarkeit dieser Vorschriften eröffnet. Die Gefahr ist dabei „eine Art ,Mobilisierungssignal‘ für die Rechtsordnung“, die Vornahme der erforderlichen Rettungshandlung zu gestatten oder jedenfalls nicht zu bestrafen.57 Für eine Rechtfertigung oder Entschuldigung als Rettungshandlung müssen weitere Voraussetzungen hinzukommen. Die Gefahr muß gegenwärtig sein. Die Notstandshandlung muß zur Rettung eines Rechtsguts geeignet und erforderlich sein. Der Täter muß mit dem Willen zur Rettung dieses Rechtsguts handeln. Für eine Rechtfertigung muß das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegen, und die Tat muß ein angemessenes Mittel zur Abwendung der Gefahr darstellen; für eine Entschuldigung muß eine Hinnahme der Gefahr für den Täter unzumutbar sein. Bejaht man mit anderen Worten das Vorliegen einer Gefahr, so ist damit noch nicht über den Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund des Notstands insgesamt entschieden.58 Im Maßregelrecht ist dieses Verhältnis zwischen Gefahrbegriff und weiteren normativen Voraussetzungen anders gelagert. Wenn man die Gefährlichkeit als zentrale Voraussetzung der kriminalrechtlichen Maßregeln ansieht, bleiben nicht mehr viele Kriterien übrig, welche die Anordnung einer solchen Sanktion verhindern könnten, nachdem das Vorliegen dieses Merkmals angenommen wurde. Der Gefährlichkeitsprüfung vorgelagerte Gesichtspunkte wie der Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit des Täters bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, der „Hang“ bei der Unterbringung nach § 64 StGB oder die formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung gestatten eher eine Zuordnung zu einer bestimmten Tätergruppe; eine Filterfunktion können sie nur erfüllen, wenn sie strikt ausgelegt werden. Ist ein erhebliches Delikt festgestellt und gilt der Täter als „gefährlich“, so ist schon eine primäre Aussetzung 55 Dimitratos (1989: 20); Hirsch (1994: Rn. 35 zu § 34, 20 zu § 35 StGB); Lenckner / Perron (2001: Rn. 16 zu § 34 StGB); aus der Rechtsprechung bereits RG, Urteile vom 12. Juli 1926 – II 430 / 26 (= RGSt 60, 318, 319 f.) und vom 13. November 1933 – 2 D 1123 / 33 (= JW 1934, 422) sowie OGH für die Britische Zone, Urteil vom 15. März 1949 – StS 151 / 48 (= OGHSt 1, 369). 56 Dimitratos (1989: 22); K. Kühl (2001: Rn. 4 zu § 34 StGB); Lenckner / Perron (2001: Rn. 9 ff. zu § 34 StGB); Wessels / Beulke (2002: 98); aus der Rechtsprechung OLG Frankfurt, Beschluß vom 29. November 1974 – 2 Ws 239 / 74 (= NJW 1975, 271 f.) und Urteil vom 28. August 1995 – 3 Ss 116 / 95 (= NStZ-RR 1996, 136). 57 Dimitratos (1989: 18). 58 Dieses Argument ziehen auch Jakobs (1991: 415), Lenckner / Perron (2001: Rn. 15 zu § 34 StGB) und Hirsch (1994: Rn. 37 zu § 34 StGB) heran, letzterer allerdings erst bei der Gegenwärtigkeit der Gefahr.
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(§ 67b StGB) schwierig zu begründen, das Absehen von einer Maßregel um so schwieriger. Es ist nicht ausgemacht, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) so konkretisiert werden kann, daß er alle Fälle aus dem Anwendungsbereich des Maßregelrechts ausscheiden kann, die nach einer weiten Ausdehnung der Gefährlichkeit für eine Maßregel in Betracht kommen.59 Hinzu kommen die Gesichtspunkte, die bereits gegen eine Heranziehung von Gefahrbegriffen aus der Dogmatik der Gefährlichkeits- und Gefährdungsdelikte sprechen.60 Mit Gefahrbegriffen aus dem strafrechtlichen Deliktsaufbau läßt sich demnach das Maßregelrecht nicht hinreichend konkretisieren.
C. Gefahrbegriffe im Polizeirecht Die Geschichte der kriminalrechtlichen Maßregeln legt es nahe, nach Gesichtspunkten für ihre weitere Systematisierung dort zu suchen, wo Gefahrenabwehr seit längerem als Aufgabe eines eigenständigen Rechtsgebiets gilt: im Polizeirecht. Für einen solchen Ansatz spricht auch die normative Struktur einiger Maßregeln des geltenden Rechts, zu denen es jeweils verwaltungsrechtliche Alternativen gibt. So existiert neben der kriminalrechtlichen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) und einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) die Möglichkeit der Unterbringung psychisch gestörter und suchtkranker Personen nach den Landesgesetzen über psychische Kranke.61 Eine Fahrerlaubnis kann nicht nur durch die Strafgerichte entzogen werden (§ 69 StGB), sondern auch durch die Verwaltungsbehörde (§ 4 StVG). Die Ausübung zulassungspflichtiger Berufe kann nicht nur durch ein kriminalrechtliches Berufsverbot (§ 70 StGB) untersagt werden, sondern auch in einem berufsgerichtlichen Verfahren62 oder durch eine Verwaltungsbehörde.63 Diese nicht-kriminalrechtlichen Alternativen lassen sich zum überwiegenden Teil systematisch dem Recht der Gefahrenabwehr zuordnen. Und selbst die Maßregeln der Besserung und Sicherung werden trotz ihrer Eingliederung in das System der Kriminaljustiz von manchen Autoren bis in die Gegenwart als besondere Instrumente der Gefahrenabwehr interpretiert.64
Das ist im Vierten Teil der Arbeit näher zu untersuchen. Siehe Kapitel 9 B. I. (S. 140 ff.). 61 In Niedersachsen sind §§ 16 und 18 des Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (Nds. PsychKG) vom 16. Juni 1997 (GVBl. 272) einschlägig. 62 §§ 13, 114 I Nr. 4 und 5 BRAO für die Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft, § 90 I Nr. 4 Steuerberatergesetz für die Ausschließung aus dem Beruf des Steuerberaters. 63 Siehe beispielsweise § 35 GewO für die Gewerbeuntersagung sowie §§ 5 II, 12 IV Bundesärzteordnung, § 7 II Bundesapothekerordnung und § 3 II Psychotherapeutengesetz für den Widerruf der Approbation. 64 Appel (1998: 507 ff.); Hanack (1991: Rn. 20 ff. vor § 61 StGB); Reinhard von Hippel (1976: 32 ff.). 59 60
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Nicht zuletzt wird das Polizeirecht neuerdings ausgebaut, um das Kriminalrecht dort zu ergänzen, wo eine weitere Gefährlichkeit verurteilter Straftäter vermutet wird, deren Strafe verbüßt ist. In Baden-Württemberg gilt seit März 2001 ein Gesetz über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter, das nachträglich eine befristete oder auch unbefristete Sicherungsverwahrung ermöglicht.65 Damit soll eine „Lücke im Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern“ geschlossen werden, denen im Vollzug einer zeitigen Freiheitsstrafe eine besonders ungünstige Rückfallprognose gestellt wird, gegen die aber keine freiheitsentziehende Maßregel angeordnet ist oder noch angeordnet werden könnte.66 Als Beispiel für die in Betracht gezogenen Fälle nennt das Gesetz die beharrliche Verweigerung der Mitwirkung an der Erreichung des Vollzugsziels, namentlich die Ablehnung oder den Abbruch einer Psycho- oder Sozialtherapie (§ 1 I StrUBG). Die Erkenntnisgrundlage beschränkt sich damit im wesentlichen auf das Vollzugsverhalten. In der parlamentarischen Beratung, die trotz längerer Vorbereitung durch die Ministerialverwaltung kurz vor einer Landtagswahl unter erheblichem Zeitdruck stattfand, bezeichnete der Innenminister des Landes Baden-Württemberg die für eine nachträgliche Sicherungsverwahrung in Betracht kommenden Verurteilten als „Bestien“67 – eine Wortwahl, die an die Gesetzgebung einiger USBundesstaaten über „sexual predators“ erinnert68, aber auch in der deutschen Kriminalpolitik nicht ohne Vorbild ist.69 In weiteren Bundesländern ist dieser gesetzgeberische Ansatz seither aufgegriffen worden; alle diese Landesgesetze orientieren sich weitgehend an dem Vorbild aus Baden-Württemberg.70 Allerdings weicht das Gesetz von Sachsen-Anhalt in zwei wesentlichen Punkten ab: die Unterbringung ist nur befristet für zunächst sechs Monate möglich, und das Landesgesetz insgesamt soll auf Zeit und nur für die Dauer von zwei Jahren gelten.71 Diese Gesetzgebung unterstreicht die Bedeutung des Polizeirechts auch im Zusammenhang mit der Prävention schwerer Straftaten. Präventives Verwaltungshandeln wird im Polizeirecht und angrenzenden Gebieten wie dem Umweltverwaltungsrecht, die sich zu selbständigen Teilbereichen des Besonderen Verwaltungsrechts entwickelt haben, nach einem verbreiteten Systematisierungsvorschlag mit einem Dreistufenmodell von Gefahrenabwehr, RisikoStraftäter-Unterbringungsgesetz (StrUBG) vom 14. März 2001 (GBl. 188). So die Begründung in dem Gesetzentwurf der Landesregierung vom 17. Januar 2001, LT-Drucksache 12 / 5911, S. 7. 67 Landtag von Baden-Württemberg, Plenarprotokoll 12 / 102, S. 8020. 68 Lieb et al. (1998: 65 ff.). 69 Kahl et al. (1911: 133). 70 Das Bayerische Gesetz zur Unterbringung von besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftätern vom 24. Dezember 2001 (GVBl. 978) stimmt sogar fast wörtlich mit dem baden-württembergischen Vorbild überein. 71 §§ 2, 9 S. 2 des Gesetzes über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Personen zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (UBG) vom 6. März 2002 (GVBl. 80). 65 66
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vorsorge und Restrisiko erfaßt.72 Auch wenn über den Inhalt von Gefahr- und Risikobegriffen in diesem Zusammenhang keine völlige Einigkeit besteht, bietet sich das Modell als Grundlage des folgenden kursorischen Überblicks an. Daß dieses Modell grundsätzlich verallgemeinerungsfähig ist, zeigt sich mit seiner neuerdings vorgeschlagenen Übertragung in das zivilrechtliche Haftungssystem.73
I. Gefahrenabwehr Traditionelle Aufgabe der Polizei ist es, situationsbezogen gegen Gefahren für die öffentliche Sicherheit einzuschreiten. Der Begriff der Gefahrenabwehr hat sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in der ständigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte und der polizeirechtlichen Literatur herausgebildet. Eine frühe Begrenzung polizeilicher Eingriffsbefugnisse erfolgt in Preußen bereits auf der Grundlage der bis 1931 geltenden Regelung in § 10 II 17 ALR. Danach besteht das „Amt der Polizei“ darin, die „nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung sowie zur Abwendung der dem Publico oder dessen einzelnen Mitgliedern bevorstehenden Gefahren zu treffen“. Ursprünglich wird diese Vorschrift lediglich als Kompetenznorm zur Abgrenzung der Zuständigkeit von Polizei- und Kriminaljustiz begriffen.74 Erst seit dem berühmt gewordenen Kreuzberg-Urteil, mit dem das preußische Oberverwaltungsgericht 1882 eine auf Gründe des Allgemeinwohls gestützte Bauvorschrift aufhebt, wird Gefahrenabwehr als alleinige Grundlage genereller staatlicher Eingriffsbefugnisse anerkannt.75 In der Folge wird der Gefahrbegriff in zahlreichen weiteren Entscheidungen konkretisiert, so daß bereits in der Zeit der Weimarer Republik von einer gefestigten Rechtsprechung die Rede ist.76 In dieser Zeit wird die polizeirechtliche Gefahr verstanden „als eine die erkennbare objektive Möglichkeit eines Schadens enthaltende Sachlage, der – unter Berücksichtigung des Grades der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts und des Wertes des bedrohten Gutes einerseits, sowie der Interessen an der Nichtverhinderung der Schadensmöglichkeit anderseits – nach verständigem Ermessen vorzubeugen ist“.77
Breuer (1990: 213 f.); Di Fabio (1996); Kloepfer (1993: 64 ff.). Möllers (1996: 55 ff.). 74 Götz (2001: 17); ausführlich Preu (1983: 291 ff.). 75 Preuß. OVG, Urteil vom 14. Juni 1882 – II B 23 / 82 (= OVGE 9, 353, 375 ff.); dazu aus heutiger Sicht Götz (2001: 18) und Walker (1994: 30 ff.). 76 Aus der Rechtsprechung dieser Zeit etwa Preuß. OVG, Urteile vom 20. April 1922 – I A 27 / 21 (= OVGE 77, 333, 338) zur Beschlagnahme von Hausrat, vom 12. Juni 1922 – I A 95 / 14 (= OVGE 77, 341, 345 ff.) zur psychiatrischen Unterbringung anläßlich von Straftaten und vom 15. Mai 1930 – IV A 79 / 28 (= OVGE 87, 301, 310 ff.) zu einer Polizeiverordnung. Zur polizeirechtlichen Literatur der Weimarer Zeit etwa Drews (1931: 9 ff.) und Scholz (1919: 13 ff.); zusammenfassend Walker (1994: 50 ff.). 77 Scholz (1919: 35). 72 73
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Die neuere Gesetzgebung tendiert dazu, die Definitionen in den Gesetzestext zu übernehmen. So enthalten einige das allgemeine Polizeirecht regelnde Gesetze der Länder78 mittlerweile ausdrückliche Definitionen von Gefahrbegriffen. Danach ist eine konkrete Gefahr im Sinne der polizeilichen Generalklausel „eine Sachlage, bei der im einzelnen Falle die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, daß in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit eintreten wird“ (§ 2 Nr. 1a NGefAG), während die Gesetze für Verordnungsermächtigungen eine abstrakte Gefahr ausreichen lassen, d. h. „eine nach allgemeiner Lebenserfahrung oder den Erkenntnissen fachkundiger Stellen mögliche Sachlage, die im Falle ihres Eintritts“ eine konkrete Gefahr darstellt (§ 2 Nr. 2 NGefAG). Bis in die Gegenwart stützen sich die verwaltungsrechtliche Literatur und Rechtsprechung aber auf die Auslegungstradition, die das preußische Oberverwaltungsgericht begründet hat.79 Da die Beseitigung bereits eingetretener Störungen der öffentlichen Sicherheit unproblematisch als Aufgabe der Gefahrenabwehr begriffen und in den neueren Polizeigesetzen nicht mehr eigens erwähnt wird, besteht die Funktion des Gefahrbegriffs darin, den Beginn der polizeilichen Zuständigkeit zur Unterbindung bevorstehender Rechtsgutsverletzungen zu bestimmen. Eine Möglichkeit der Präzisierung besteht darin, die Gefahr im polizeirechtlichen Sinne als besonderes, nicht sozialadäquates Risiko zu verstehen.80 Diese Definition setzt zunächst voraus, daß ein Schutzgut überhaupt einem Risiko ausgesetzt ist. Allerdings wird der Begriff des Risikos hier rein deskriptiv und so allgemein gefaßt, daß seine Konturen verschwimmen: „Nahezu kein Rechtsgut ist in der Wirklichkeit vor zukünftigen Beeinträchtigungen völlig sicher. Vielmehr ist fast jedes Gut mehr oder weniger risikogeneigt, wobei sich das Risiko mehr oder weniger bald realisieren kann.“81
Die spezifische Eingrenzung des Gefahrkonzepts muß aus dieser Sicht daher das normative Kriterium leisten, daß das Risiko das Maß der normalen und hinzunehmenden Schadenswahrscheinlichkeit überschreitet. Dieses Maß wird durch die gesamte Rechtsordnung bestimmt: gesetzlich zugelassenes Handeln darf ebensowenig unterbunden werden wie materiell rechtswidriges Verhalten, das durch eine verwaltungsrechtliche Genehmigung legalisiert wird. Zur Konkretisierung von Rechtsnormen dürfen auch Verwaltungsvorschriften und technische Regelwerke herangezogen werden, wenn sie sonst verwaltungsrechtlich zulässig sind. Schließ78 Darunter das Niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz (NGefAG) in der Fassung vom 13. April 1994 (Nds. GVBl. 172), geändert durch Gesetz vom 20. Mai 1996 (Nds. GVBl. 230). 79 BVerwG, Urteil vom 26. Februar 1974 – I C 31.72 (= BVerwGE 45, 51, 57). Aus der verwaltungsrechtlichen Literatur z. B. Hansen-Dix (1982: 19 ff.) und Poscher (1999: 17, 112 ff.). 80 Breuer (1990: 213); Davy (1990: 311 f.); Gusy (2000: 63); Kloepfer (1993: 65); Murswiek (1994a: 803). 81 Gusy (2000: 63). Dieser Risikobegriff entspricht einem der Verständnisse, die sich in der soziologischen Risikoforschung finden; ein Überblick zu den angebotenen Theorien bei Bora (1999: 10 ff.).
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lich kann auf außerrechtliche Regeln wie das Merkmal der Ortsüblichkeit zurückgegriffen werden.82 Für die Frage, ob eine Gefahr im polizeirechtlichen Sinne vorliegt, lassen sich mehrere Prüfungsschritte unterscheiden.83 Dabei kann man zunächst (1.) das bedrohte Rechtsgut bestimmen und diesem (2.) das Eingriffsgut gegenüberstellen. Sodann ist (3.) das Ausmaß des drohenden Schadens anzugeben. Weiter wird (4.) der Wahrscheinlichkeitsgrad für das Eintreten eines solchen Schadens konkretisiert, wobei sich diese Prognose (5.) auf einen überschaubaren Zeitraum in der Zukunft beziehen muß.84 Dabei stößt die Bestimmung der involvierten Rechtsgüter auf weniger Schwierigkeiten als die Prognose des Verlaufs einer möglichen Gefährdung. Nicht umsonst gilt die Abhängigkeit von Prognosen als zentrales Problem des polizeirechtlichen Gefahrkonzepts. Anders als in Teilen der strafrechtlichen und kriminologischen Literatur zum Sanktionenrecht ist zumindest im allgemeinen Polizeirecht das Vertrauen in statistische Prognosemethoden gering, weil diese nichts über den konkret zu entscheidenden Einzelfall aussagen können. Statt dessen versucht man die Prognose durch Verfahrensregeln und vor allem durch das aus dem Übermaßverbot abgeleitete allgemeine Abwägungsprinzip zu systematisieren. Zunächst sind danach die maßgeblichen Tatsachen möglichst vollständig aufzuklären. Sodann ist auf dieser Grundlage festzulegen, welche Indizien für das Eintreten eines Schadens und welche dagegen sprechen. Schließlich muß eine umfassende Abwägung aller relevanten Gesichtspunkte stattfinden.85 Die Rechtsprechung konkretisiert das Übermaßverbot vor allem im Hinblick auf eine umgekehrte Proportionalität von Schadenshöhe und Schadenswahrscheinlichkeit: je gravierender zu erwartende Schäden sind, desto geringer sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts. Unabsehbar große Schäden wie das Bersten eines Atomkraftwerks oder die Verseuchung des Trinkwassers müssen „praktisch ausgeschlossen“ sein.86 Eine weitere Differenzierung innerhalb des polizeirechtlichen Gefahrbegriffs betrifft Fälle, in denen keine eindeutige Prognose gestellt werden kann. Handelt die Polizei gleichwohl, weil sie einen „Gefahrverdacht“ schöpft, also eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer Störung annimmt, so erblickt die überwiegende Auffassung kein Hindernis, das Vorliegen einer Gefahr anzunehmen und die Maßnahme materiell für rechtmäßig zu erklären. Allerdings soll das in Gusy (2000: 61). Dafür gibt es verschiedene Vorschläge, die sich in der Anzahl und Reihenfolge der Prüfungsschritte unterscheiden. Siehe etwa Davy (1990: 301 f., 816), Hansen-Dix (1982: 21 ff.) und Möllers (1996: 57 f.). 84 Dieses Vorgehen folgt Möllers (1996: 57 f.). 85 Gusy (2000: 67). 86 BVerfG, Beschluß vom 8. August 1978– 2 BvL 8 / 77 (= BVerfGE 49, 89, 138 ff.) – Kalkar I; BVerwG, Urteil vom 26. Juni 1970 – IV C 99 / 67 (= NJW 1970, 1890, 1892). 82 83
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erster Linie für Eingriffe gelten, die der näheren Aufklärung des Verdachts dienen.87 Fälle des „Gefahrverdachts“ werden als Befürchtung einer Gefahrenlage gekennzeichnet, die zu einer Verringerung der Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts führen. In der Praxis wird das vor allem für Bodenund Gewässerverschmutzungen durch unbekannte Substanzen anerkannt, bei denen ein gravierender Schaden nicht ausgeschlossen werden kann.88 Situationsbezogene polizeiliche Maßnahmen richten sich gegen eine bestimmte Gefahrenquelle. Das sind in erster Linie Personen, die eine Gefahr verursachen; sie werden als Verhaltensverantwortliche bezeichnet.89 Es gibt darüber hinaus Fallgruppen, in denen die Personenbezogenheit einer Gefahr besonders hervortritt. Dazu zählt die früher meist unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der öffentlichen Ordnung diskutierte drohende Selbstgefährdung oder Selbsttötung90, vor allem aber geht es um Personen mit einer psychischen Störung, bei denen das Gefahrurteil an einer Persönlichkeitseigenschaft festgemacht wird. Maßnahmen gegen die zuletzt genannte Personengruppe sind Teil der Gesetzgebung über psychisch Kranke, die je nach konkreter Ausgestaltung im Landesrecht mehr oder weniger direkt auf Regelungsmodelle des Polizeirechts zurückgreifen.91 Die Beurteilung eines potentiell gefährlichen Verhaltens und die Zurechnung zu einer Gefahrenquelle erfolgen immer vom Horizont eines Beobachters aus. Die Überprüfung polizeilicher Maßnahmen durch die Gerichte wirft die Frage auf, auf welchen Zeitpunkt und wessen Sichtweise es für die materielle Rechtmäßigkeit ankommen soll. Denn die Annahme der einschreitenden Polizeibeamten, es liege eine Gefahr für ein Rechtsgut vor, kann im verwaltungsgerichtlichen Verfahren in Zweifel gezogen werden. Diese Fälle, die früher häufig mit dem Begriff der „Anscheinsgefahr“ charakterisiert wurden, werden in der neueren Literatur und Rechtsprechung schlicht als Erscheinungsformen der konkreten Gefahr begriffen92 oder doch als vergleichbar betrachtet.93 Das hat eine gewisse Subjektivierung des Gefahrbegriffs zur Folge: es kommt für die Rechtmäßigkeit einer Polizeiverfügung 87 BVerwG, Urteil vom 1. Juli 1975 – I C 35.70 (= BVerwGE 49, 36, 41 f.); BGH, Urteil vom 12. März 1992 – III ZR 128 / 91 (= BGHZ 117, 303, 306); ähnlich Breuer (1987: 338), Classen (1995: 610), Denninger (2001: Rn. 38), Götz (2001: 64 ff.), Hansen-Dix (1982: 67) und Schenke (1996: 472 ff.). Anders z. B. Poscher (1999: 118 ff.). 88 Zu solchen Konstellationen Classen (1995). 89 So z. B. § 6 I NGefAG. 90 Hierzu BVerwG, Urteil vom 27. April 1989 – 3 C 4 / 86 (= BVerwGE 82, 45, 49 ff.); BayObLG, Urteil vom 18. November 1988 – RReg 1 St 186 / 88 (= DÖV 1989, 273); zusammenfassend Denninger (2001: Rn. 21 ff.). 91 Marschner (2001a). 92 BVerwG, Urteile vom 26. Februar 1974 – I C 31.72 (= BVerwGE 45, 51, 58) und vom 1. Juli 1975 – I C 35.70 (= BVerwGE 49, 36, 44); ähnlich Breuer (1987: 334), Darnstädt (1983: 93), Denninger (2001: Rn. 36 ff.), Götz (2001: 68 ff.) und Gusy (2000: 69 f.). 93 BGH, Urteil vom 14. Februar 1952 – III ZR 233 / 51 (= BGHZ 5, 144, 149); OVG Münster, Urteil vom 7. Juni 1978 – IV A 330 / 77 (= NJW 1980, 138, 139).
Kap. 9: Gefahrbegriffe außerhalb des Maßregelrechts
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nur noch darauf an, ob die Polizei zum Zeitpunkt ihres Handelns eine Gefahr annehmen durfte.94 Bei der Heranziehung von Prüfungsschemata, die Gefahrkonzepte in mehrere Kriterien zerlegen, ist allerdings darauf zu achten, daß alle Kriterien in die Entscheidung eingehen müssen: ob eine Gefahr vorliegt, gegen die eingeschritten werden kann, entscheidet sich erst nach ihrer Kombination.95 Darüber hinaus wäre es wenig sachgerecht, die einzelnen Voraussetzungen voneinander zu isolieren; sie werden häufig in der Weise aufeinander bezogen, daß die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts um so geringer angesetzt werden, je höher das zu schützende Rechtsgut oder der zu erwartende Schaden veranschlagt wird.96 Versteht man die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadens als flexible, je nach Fallgestaltung variable Größe, dann ist der erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad proportional zum Rang des Eingriffsguts und umgekehrt proportional zur Sicherheit des Erfahrungssatzes, der zeitlichen Nähe und dem Ausmaß des potentiellen Schadens und dem Rang des betroffenen Schutzguts.97 Da nur selten alle Kriterien in eine Richtung wirken und gleichförmig für eine hinreichende oder nicht hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts sprechen werden, hängt das Ergebnis weitgehend von der Gewichtung der einzelnen Kriterien ab. Das betroffene Schutzgut nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein: ist es als besonders schützenswert anzuerkennen, dann kann bereits die entfernte Möglichkeit eines Schadens ausreichen, um eine Gefahr anzunehmen. Im Verwaltungsrecht wird das vor allem für Leben und Gesundheit98, aber auch für kollektive Rechtsgüter99 angenommen.
II. Vorsorge Das Konzept des Risikos als allgemeinere Kategorie zur Definition der Gefahr im polizeirechtlichen Sinne erscheint auch deswegen plausibel, weil neuerdings häufiger die These aufgestellt wird, das Verwaltungsrecht sei im Begriff, sich von dem traditionellen Regelungsmodell der Gefahrenabwehr zu lösen, um sich auf 94 Dagegen Poscher (1999: 118 ff.), der die Rechtmäßigkeit des Eingriffs nicht als das entscheidende Problem dieser Fallgruppe ansieht. 95 Möllers (1996: 59), Müllensiefen (1997: 57). 96 In diesem Sinne bereits die ältere Rechtsprechung, etwa OVG Dresden, Urteil vom 1. November 1937 – 144 I (= Jahrbücher des Sächsischen OVG 41, 35, 37); weiter BVerwG, Urteile vom 26. Juni 1970 – IV C 99 / 67 (= NJW 1970, 1890, 1892), vom 6. September 1974 – I C 17.73 (= BVerwGE 47, 31, 40) und vom 17. März 1981 – I C 74.76 (= BVerwGE 62, 36, 39); aus der Literatur etwa Gusy (2000: 67), Hansen-Dix (1982: 45) und Martens (1986: 224). 97 Müllensiefen (1997: 57). 98 OVG Dresden, Urteil vom 1. November 1937 – 144 I (= Jahrbücher des Sächsischen OVG 41, 35, 37); BVerwG, Urteil vom 12. Juli 1973 – I C 23.72 (= DVBl. 1973, 857, 858 f.). 99 BVerwG, Urteil vom 16. November 1973 – IV C 44.69 (= DVBl. 1974, 297, 300).
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
vorverlagerte Risikogestaltung und -minderung zu konzentrieren. Maßnahmen der Vorsorge sollen bereits dann eingreifen, wenn die Schädlichkeit eines Faktors noch ungeklärt ist.100 Vorsorge soll verstärkt dem Schutz der Allgemeinheit dienen101; denn die Vorverlagerung der Eingriffsschwelle bringt es mit sich, daß möglicherweise gefährdete Personen noch nicht individualisiert werden können. Diese Diskussion läßt sich auf zwei Anwendungsgebiete beziehen: einerseits auf den seit den 1960er Jahren stark expandierenden Bereich des Umwelt- und Technikrechts, andererseits aber auch auf neue Formen der „Kriminalitätsbekämpfung“. Was das Umwelt- und Technikrecht betrifft, können als Beispiele das Atomgesetz102, das Bundes-Immissionsschutzgesetz103 und das Gentechnikgesetz104 herangezogen werden. In diesem Zusammenhang wird eine Überforderung des klassischen polizeirechtlichen Gefahrbegriffs konstatiert, vor allem im Hinblick auf das Merkmal der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts. Dies führe im technischen Sicherheitsrecht zu einer Erweiterung gesetzlicher Zielsetzungen um das Gebot der Risikovorsorge, das neben den Zweck der Gefahrenabwehr trete. Dieser Entwicklung kann die Verwaltungsrechtslehre, so die These von Udo Di Fabio, mit einer begrifflichen Integration des Risikobegriffs in die Dogmatik der Gefahrenabwehr nicht mehr gerecht werden.105 Im einzelnen formuliert er fünf Kriterien, mit denen er einen verselbständigten Begriff des Risikos von Gefahrkonzepten absetzen will: (1.) Vorverlagerung von Gefahrenabwehr durch Absenkung der Wahrscheinlichkeitsschwelle, so daß sich Wahrscheinlichkeitsurteile nicht mehr auf Erfahrung oder sicheres Regelwissen stützen können; (2.) Möglichkeit von Verwaltungsentscheidungen nur unter Heranziehung von Gutachten Sachverständiger; (3.) Verlust an Eindeutigkeit der Entscheidung und ihrer Begründung; (4.) Notwendigkeit von Wertungen und Vergleichen; (5.) keine zwingende Zurechenbarkeit individueller Handlungen zu einem möglichen Schaden.106 Aulehner (1998: 129); Trute (1989: 42 ff.). Aulehner (1998: 129). 102 Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Juli 1985 (BGBl. I 1565); dazu Di Fabio (1994: 65 ff.). 103 Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Mai 1990 (BGBl. I 880); dazu Di Fabio (1994: 87 ff.). 104 Gesetz zur Regelung der Gentechnik vom 20. Juni 1990 (BGBl. I 1080). Di Fabio (1994: 117 ff.) begreift es als erstes Gesetz, das den Risikobegriff systematisch gebraucht, berücksichtigt die Neufassung von 1993 jedoch nicht mehr. 105 Di Fabio (1994: 106 ff.), Köck (1996: 18 f.), Murswiek (1994a) und Trute (1989: 40 ff.); insoweit übereinstimmend die rechtssoziologische Kritik von Hiller (1993: 118 ff.). 106 Di Fabio (1994: 113 f.). 100 101
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Di Fabio erhebt den Anspruch, daß mit diesen Kriterien ein neues Feld der Risikogestaltung innerhalb des Verwaltungsrechts umschrieben werden kann, das zwischen den Bereichen der traditionellen Eingriffsverwaltung und der planenden Verwaltungstätigkeit liegt. Diesem Feld ordnet er nicht nur den Vollzug von Normen des Umwelt- und Technikrechts zu, sondern auch das „etabliertere Modell“ des Arzneimittelrechts, das sonst eher der Gefahrenabwehr oder dem Medizinrecht zugeschlagen wird.107 Die Beurteilung dieses neuen Ansatzes im hier interessierenden Kontext ist unabhängig von seiner Leistungskraft in dem Bereich, zu dessen Systematisierung er entwickelt wurde. Es kann hier offen bleiben, ob die Wandlungsprozesse innerhalb des Verwaltungsrechts so weit reichen, wie Di Fabio meint. Auch er bestreitet nicht, daß Gefahrenabwehr im traditionellen Sinne weiterhin existiert: „Auch wenn immer mehr Spezialtatbestände neben die Generalklausel treten, bleibt ihr dennoch ein schwer voraussehbarer und sich stetig wandelnder Residualbereich.“108
Schon deshalb kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit darauf verzichtet werden, den Gefahrbegriff auf eine neue Terminologie der Risikogestaltung umzustellen. Denn die Verhinderung von Straftaten gehört unverändert zum Kernbereich polizeilicher Gefahrenabwehr – mag sie aus der Perspektive des Umwelt- und Technikrechts auch zu einem bloßen „Residualbereich“ schrumpfen. Polizeiliches Einschreiten in diesem Kernbereich kann nicht vom Ausgang einer Begutachtung unter Einschaltung von Sachverständigen abhängen; dem Problem unvollständiger Entscheidungsgrundlagen ist mit einer Objektivierung des Beurteilungshorizonts beizukommen. Daß Prognoseentscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden müssen und häufig nicht eindeutig ausgehen, ist keineswegs nur für die verwaltungsrechtliche Kontrolle der Folgen avancierter Technik charakteristisch. Dabei handelt es sich um ein Grundproblem aller Prognosen.109 Auch die Erforderlichkeit von Wertungen und Vergleichen ist charakteristisch für alle Eingriffe öffentlicher Gewalt, die unter dem Vorbehalt des Verhältnismäßigkeitsprinzips erfolgen. Erst der letzte Aspekt der Risikoverwaltung, den Di Fabio nennt, die nicht mehr bestehende individuelle Zurechenbarkeit von Risiken, scheint die Grenzen der Gefahrenabwehr zu überschreiten. Demnach erscheinen Gefahrenabwehr und Vorsorge im Umwelt- und Technikrecht nicht notwendig als prinzipiell voneinander zu trennende Bereiche, für die jeweils nur eine vollkommen eigenständige Dogmatik angemessen wäre.110 107 Di Fabio (1994: 166 ff.). Zum bisherigen Verständnis der Materie etwa Deutsch (1997: 447 ff.) und Räpple (1991). 108 Di Fabio (1994: 33). Im Ergebnis übereinstimmend, aber offensiver in der Formulierung Breuer (1987: 318 ff.) und Schenke (1996: 456). 109 Siehe zu Gefährlichkeitsprognosen Kapitel 11 (S. 182 ff.). 110 Darnstädt (1983: 121 ff.); Kloepfer (1993: 65 f.); Möllers (1996: 63); Poscher (1999: 10 f., 113).
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Probleme beider Bereiche treffen sich in der Verwaltungspraxis, aber auch im allgemeinen Sprachgebrauch, der die Begriffe nicht eindeutig trennt. Eine Verlagerung der Eingriffsschwelle ins Vorfeld konkreter Gefahren wird auf einem ganz anderen Feld auch von Autoren festgestellt, die sich mit der polizeilichen Aufgabe der Kriminalitätskontrolle befassen. Dieser Prozeß wird so ernst genommen, daß Vorsorge teilweise zu einem dritten polizeilichen Aufgabenfeld neben Gefahrenabwehr und Strafverfolgung erklärt wird.111 Konstatiert wird eine präventive Verselbständigung der Polizei, die nach neueren Polizeigesetzen bereits im Vorfeld konkreter Gefahren agieren könne.112 So hat die Polizei nach niedersächsischem Recht neben der Gefahrenabwehr Vorbereitungen zu treffen, „um künftige Gefahren abwehren zu können“; sie hat „insbesondere auch für die Verfolgung von Straftaten vorzusorgen und Straftaten zu verhüten“ (§ 1 I NGefAG). Mit solchen Aufgabenbeschreibungen, so die These, löse sich die Tätigkeit der Polizei mehr als im bisherigen Verständnis des liberalen Verfassungsstaats von der Bindung an das Strafrecht. Bei der „Bekämpfung“ organisierter Formen der Kriminalität, die als grundsätzlich neu wahrgenommen und auf eine Stufe mit Risiken der Atomenergie oder der Gentechnik gestellt werden113, überschneiden sich die Mittel polizeilicher Tätigkeit zunehmend mit geheimdienstlichen Mitteln, während andererseits die Geheimdienste Aufgaben der Polizei übernehmen. In diesem Zusammenhang wird auf neuere polizeirechtliche Regelungen über längerfristige Observation, den verdeckten Einsatz technischer Mittel und die Verwendung von Vertrauenspersonen hingewiesen, die sämtlich auch zum Zweck der bloßen Vorsorge zulässig sind.114 Aus der Sicht der Geheimdienste wird organisierte Kriminalität teilweise als Form von Bestrebungen interpretiert, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind, um so eine Zuständigkeit des Verfassungsschutzes (§ 3 I Nr. 1 Bundesverfassungsschutzgesetz) auch für die Beobachtung potentieller Straftäter zu begründen. Des weiteren besteht seit 1994 eine gesetzliche Befugnis des Bundesnachrichtendienstes zur verdachtslosen Rasterfahndung (Art. 1 § 3 G10).115 Bei der Interpretation dieser Formen der Vorverlagerung von Polizeiaufgaben liegen Vergleiche mit der rechtspolitischen Entwicklung im Strafrecht und seiner Hinwendung zu überindividu111 In diesem Sinne Aulehner (1998: 95 ff.); Denninger (2001: Rn. 181 ff.); Gusy (1993: 270); Kniesel (1996). 112 O. Müller (1995). 113 Diese Gleichsetzung erfolgt bei Kniesel (1996: 230), der zumindest einigen der Neuregelungen eher skeptisch gegenübersteht. 114 Gusy (1999: 326). In Niedersachsen sind §§ 34 – 36 NGefAG einschlägig. 115 Zur Perspektive des Bundesamtes für Verfassungsschutz Werthebach / Droste-Lehnen (1994: 60); ablehnend z. B. Kniesel (1996: 232). Zu den Befugnissen des Bundesnachrichtendienstes nach der Änderung durch Art. 13 des Verbrechensbekämpfungsgesetzes vom 28. Oktober 1994 (BGBl. I 3186) die einschränkende Entscheidung des BVerfG vom 14. Juli 1999 – 1 BvR 2226 / 94 u. a. (= BVerfGE 93, 181, 186 ff.).
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ellen Rechtsgütern und Betonung abstrakter Gefährlichkeitsdelikte, das als Risikooder Präventionsstrafrecht charakterisiert wird, ebenso nahe116 wie solche zu den Entwicklungen im Umwelt- und Technikrecht. In diesen Zusammenhang gehören nicht zuletzt die Auswirkungen präventiver Maßnahmen formeller Kriminalitätskontrolle auf das Strafverfahrensrecht. Auch dort kann man zwischen der Verhütung konkret befürchteter Straftaten in einem engen Vorfeld der Gefahrenabwehr und einer Vorsorge für die künftige Strafverfolgung möglicher Wiederholungstaten in einem weiten Vorfeld unterscheiden. Ob diese Form der Vorsorge in das Recht der Gefahrenabwehr gehört117. oder als „Strafverfolgungsvorsorge“ eine strafverfahrensrechtlich zu regelnde Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden darstellt118, ist umstritten. Allerdings beeinflußt der Streit um die systematische Zuordnung und um Zuständigkeiten nicht die inhaltliche Qualifikation von Gefahren: ersichtlich hängt diese nicht an der Frage, ob man bereits eingeführte polizeirechtliche Regelungen für ausreichend oder eine Ergänzung der Strafprozeßordnung für erforderlich hält. Gleichgültig, ob die Versuche zur Konkretisierung der Vorsorge das Umweltund Technikrecht oder polizeiliche Maßnahmen gegen organisierte Kriminalität in den Blick nehmen, überzeichnen sie tendenziell den Gegensatz zu den überkommenen Formen der Gefahrenabwehr. Im Verhältnis zu einer bereits eingetretenen Rechtsgutsverletzung fallen sowohl Gefahrenabwehr als auch Vorsorge in einen Zeitraum, der dem Schaden vorgelagert ist; sie unterscheiden sich im wesentlichen durch ihren zeitlichen Abstand zu einem potentiellen Schadenseintritt. Maßnahmen der Vorsorge erweitern die Gefahrenabwehr in ihr Vorfeld. Auch ein bloßer Schädlichkeitsverdacht kann sich schnell konkretisieren, und für die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts gibt es breite Beurteilungsspielräume. Es mag sein, daß die hypothetischen Entwicklungsmöglichkeiten sich bei der Gefahrenabwehr auf wenige Alternativen beschränken, während sie sich bei der Vorsorge vervielfachen. Damit vervielfachen sich folgerichtig auch die Fehlerquellen für Prognosen. Wenig hilfreich erscheint aber die Aussage, die Gefahrenabwehr gehe von einer vergangenheitsbezogenen, die Vorsorge dagegen von einer zukunftsbezogenen Betrachtung aus.119 Beide Formen beruhen nämlich wie alle Prognosen auf Erkenntnissen über Sachverhalte in der Vergangenheit – handelte es sich um Erkenntnisse über die Wirkungsweise einer chemischen Substanz oder um kriminalistisches Erfahrungswissen –; beide Formen sollen ein Einschreiten in der Gegenwart ermöglichen und damit einen Schadenseintritt in der Zukunft verhindern. Vorsorge erscheint daher eher als Erweiterung der traditionellen Aufgaben der Polizei, indem sie die Funktion präventiver Schadensvermeidung um die Funktion 116 117 118 119
Prittwitz (1993: 45). So etwa Gusy (1999: 324 ff.) und Paeffgen (1998: 319 f.). So z. B. Wick (1992: 221). Ein solcher Abgrenzungsversuch bei Aulehner (1998: 130).
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der Vermeidung von Gefahren ergänzt, deren Entstehung noch nicht ausgemacht ist. Die Gefahrenabwehr wird durch solche Anpassungen des Polizeirechts nicht obsolet. III. Restrisiko, Lebensrisiko, soziale Adäquanz Üblicherweise sieht die Literatur zum Polizei- und Umweltverwaltungsrecht hinter Gefahrenabwehr und -vorsorge eine dritte Stufe vor: einen Residualbereich, in dem auf ein Einschreiten gegen potentielle Gefahren mit gutem Gewissen verzichtet werden kann. Dieser Bereich wird in Anlehnung an die atomrechtliche Diskussion häufig mit dem Begriff „Restrisiko“ bezeichnet.120 Auch im Polizeirecht gibt es Sachlagen, bei denen eine wenig verfestigte oder belegbare, vielleicht auch spekulative Besorgnis besteht, daß ein Schaden eintreten könnte, wie bei befürchteten Beeinträchtigungen durch elektromagnetische Felder im Umfeld von Sendeanlagen oder Hochspannungsleitungen.121 Die Methode ist jedoch nicht charakteristisch für das Besondere Verwaltungsrecht. Um eine rechtspolitisch sinnvolle Beschränkung rechtlicher Verantwortlichkeit geht es auch im Zivil- und Strafrecht. Je nachdem, ob man dafür die Kausalitätslehre heranzieht oder – wie die Lehren von der objektiven Zurechnung – auf normative Kriterien setzt, kommen dafür dogmatische Figuren wie die „soziale Adäquanz“122 eines Verhaltens oder das „allgemeine Lebensrisiko“123 in Betracht. Das gemeinsame Ziel dieser Ansätze in verschiedenen Rechtsgebieten besteht darin, die Anforderungen an die staatliche Rechtsordnung zu begrenzen: „Aus dem menschlichen Zusammenleben ergeben sich notwendigerweise Schädigungsrisiken; die Anwendung technischer Systeme bringt notwendig technische Risiken mit sich. Was die Rechtsordnung leisten kann und muß, ist die rechtliche Begrenzung, nicht aber der völlige Ausschluß aller die Schädigung von Rechtsgütern betreffenden Risiken.“124
Eine solche Restkategorie ist nicht nur aus analytischen Gründen sinnvoll, weil sie einen negativen Ausschluß solcher Fallgruppen ermöglicht, die nicht einmal mehr Gegenstand der Vorsorge sein sollen. Zu denken ist an nicht erkannte, aber objektiv vorhandene Gefahren, aber auch an minimale Gefährdungen von Rechtsgütern, bei denen sich ein Schadenseintritt nicht mit letzter Sicherheit ausschließen 120 Einflußreich BVerfG, Beschluß vom 8. August 1978 – 2 BvL 8 / 77 (= BVerfGE 49, 89, 141 ff.) – Kalkar I; weiter etwa Kloepfer (1993: 66 f.), Martens (1986: 225), Möllers (1996: 76) und Murswiek (1994b). Der Nutzen des Konzepts wird teilweise bestritten; siehe Trute (1989: 45). 121 Dazu etwa Di Fabio (1996: 570). 122 Zum Strafrecht Engisch (1931: 41 ff.); von Kries (1889: 532 f.); Sauer (1955: 79 ff.). 123 Zum Zivilrecht Deutsch (1996: 133), Mädrich (1980: 38 ff.) und Möllers (1996: 306 ff.); zum Strafrecht etwa Schünemann (1999: 213 ff.) und Wessels / Beulke (2002: 61). 124 Murswiek (1994b: 1719); eine ähnliche Formulierung in BVerfG, Beschluß vom 8. August 1978 – 2 BvL 8 / 77 (= BVerfGE 49, 89, 143).
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läßt.125 Und die Berechtigung einer Restkategorie von Fallgruppen, bei deren Vorliegen auf ein Einschreiten verzichtet werden kann, ergibt sich nicht zuletzt aus dem schlichten Sachverhalt, daß ein perfekter Rechtsschutz gegen jede beliebige Gefahrensituation, sei sie auch noch so fern liegend, die Leistungskraft des Rechtssystems übersteigen würde. Der gedachte Normalzustand, den jedes Gefahrkonzept letztlich voraussetzt, beruht auf einer Bewertung und ist in aller Regel nicht als Zustand absoluter Freiheit von Beeinträchtigungen zu definieren.126
D. Folgerungen für das Maßregelrecht Sucht man nach Gesichtspunkten für eine Konkretisierung des Gefahrkonzepts der kriminalrechtlichen Maßregeln, so bietet das Polizeirecht einen naheliegenden Anknüpfungspunkt: die historische Entwicklung des Maßregelrechts läßt sich nicht ohne das Recht der Gefahrenabwehr verstehen, und noch in der Gegenwart wird die Auffassung vertreten, daß es sich bei diesem Teil des kriminalrechtlichen Sanktionensystems materiell um Polizeirecht handelt.127 Das dreigliedrige Schema mit der Unterteilung in die Bereiche der Abwehr von Gefahren, der Vorsorge gegenüber Risiken und der Hinnahme eines Restrisikos bietet den Vorteil, daß der Gefahrbegriff nicht überfordert wird. Es weist darauf hin, daß dem Instrumentarium des traditionellen Polizeirechts, das auf Gefahrenabwehr angelegt ist, damit ein begrenztes Ziel gesetzt wird. Das ist angesichts der Weite der polizeilichen Generalklausel, die ein Einschreiten gegen vielfältige Gefahrenquellen zum Schutz beliebiger Rechtsgüter ermöglichen soll, berechtigt. Inhaltlich ist die Interpretation des Gefahrbegriffs im Polizeirecht aber bis heute geprägt von dem Verständnis des preußischen Oberverwaltungsgerichts, nach dem eine Sachlage vorliegen muß, die in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden an einem Rechtsgut der öffentlichen Sicherheit führen wird. Dieses Verständnis ist bereits in der Zeit der Weimarer Republik Bestandteil einer gefestigten Rechtsprechung. Veränderten Anforderungen, die sich vor allem aus der technischen Entwicklung und der damit verbundenen Ausdifferenzierung neuer Spezialdisziplinen innerhalb des Verwaltungsrechts ergeben, versucht die Dogmatik des Polizeirechts seither nicht durch eine Modifikation des Gefahrbegriffs zu entsprechen. Vielmehr reagiert man auf sie mit einer Dogmatik jenseits der Gefahr, die mit den Begriffen „Risiko“ und „Vorsorge“ operiert und – jedenfalls in ihrer konsequenten Ausprägung – den Anspruch erhebt, etwas anderes zu beschreiben als nur eine neue Version der traditionellen Gefahrenabwehr. Möllers (1996: 76). Davy (1990: 336 ff.). 127 Appel (1998: 507 ff.); Hanack (1991: Rn. 20 ff. vor § 61 StGB); Reinhard von Hippel (1976: 32 ff.); Lagodny (1996: 278 ff.). 125 126
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Es wird noch zu zeigen sein, daß der Gefahrbegriff im Polizeirecht damit zumindest im Ausgangspunkt nicht weit von dem Verständnis abweicht, das der Dogmatik zu den kriminalrechtlichen Maßregeln seit rund 100 Jahren zugrunde liegt. Bemerkenswert ist allenfalls, wie selten die Stellungnahmen zum Maßregelrecht am Polizeirecht anknüpfen. Das könnte damit zusammenhängen, daß die Ankoppelung an das Polizeirecht für die kriminalrechtlichen Maßregeln nicht ganz unproblematisch ist. Die Funktionen kriminalrechtlicher Sanktionen decken sich nicht mit denjenigen von Polizeiverfügungen durch die Ordnungsverwaltung oder die Vollzugspolizei. Das Recht der Gefahrenabwehr soll als Teil des Besonderen Verwaltungsrechts trotz der Abschichtung vor allem des Umwelt- und Technikrechts in Spezialgesetze mit eigenen Eingriffsermächtigungen eine Vielzahl von Sachverhalten bewältigen; die Verhinderung von Straftaten ist nur ein – sicherlich bedeutsamer – Gesichtspunkt unter vielen. Dagegen bezwecken die kriminalrechtlichen Maßregeln Gefahrenabwehr in einem engeren Sinn: wie noch im einzelnen zu zeigen ist, besteht heute Einigkeit darüber, daß sie nicht beliebige Formen abweichenden Verhaltens unterbinden sollen, sondern „nur“ Verstöße gegen die Tatbestände des Strafrechts. Ein zweiter Unterschied besteht darin, daß über die Verhängung kriminalrechtlicher Maßregeln Gerichte im Strafverfahren entscheiden; auch dies wird in der Gegenwart nicht mehr in Frage gestellt. Die Situation einer Maßregelanordnung läßt sich damit kaum mit der einer Polizeiverfügung vergleichen, für die hoher Zeitdruck und begrenzte Erkenntnismittel charakteristisch sind. Damit soll nicht bestritten werden, daß auch Straf- und Sicherungsverfahren, in denen die Verhängung einer Maßregel absehbar ist, dem prozessualen Beschleunigungsgebot unterliegen.128 Aber das Strafverfahren ist nicht nur auf die Feststellung der materiellen Wahrheit angelegt, es bemüht sich – jedenfalls im Hinblick auf die freiheitsentziehenden Maßregeln – darüber hinaus um eine möglichst breite Erkenntnisgrundlage durch obligatorische Begutachtung (§ 246a StPO). Wie ebenfalls noch zu zeigen ist, bleiben die Prognosemöglichkeiten von psychowissenschaftlichen Gutachtern und Strafgerichten bei aller Systematisierung begrenzt. Mißverständlich wäre es jedoch, die Grundbegriffe des Maßregelrechts auf ein Konzept wie das des „Risikosachverhalts“ umzustellen129, solange die Dogmatik des Polizeirechts als Risiko hauptsächlich solche Sachverhalte bezeichnet, die nicht mehr mit den traditionellen Mitteln der Gefahrenabwehr, sondern mit denen der Vorsorge bewältigt oder sogar als unvermeidlich hingenommen werden sollen.
128 Deshalb ist unverständlich, daß § 126a StPO für eine einstweilige Unterbringung in der Psychiatrie im Gegensatz zur Untersuchungshaft keine zeitliche Grenze vorsieht. Übereinstimmend z. B. Jabel (1993: 62 f.) und Schneider (1998: 117 ff.). 129 So der Vorschlag von Frisch (1994).
Kap. 9: Gefahrbegriffe außerhalb des Maßregelrechts
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Drittens sind die Dimensionen des maßgeblichen Wissenshorizonts, die man für den Gefahrbegriff im Polizeirecht unterscheiden kann130, für das Maßregelrecht nur eingeschränkt brauchbar. Was die sachliche Dimension des Wissensniveaus betrifft, ist im Polizeirecht anerkannt, daß eine Gefahr vorliegt, wenn die Sachlage sich „nach allgemeiner Lebenserfahrung oder den Erkenntnissen fachkundiger Stellen“ (§ 2 Nr. 2 NGefAG) als gefährlich für ein Schutzgut der öffentlichen Sicherheit darstellt. Das Strafverfahrensrecht setzt demgegenüber zumindest für die freiheitsentziehenden Maßregeln auf Expertenwissen, auch wenn das Gericht sich auf der Grundlage des Sachverständigenbeweises ein eigenes Urteil bilden muß. In der perspektivisch-personellen Dimension des Wissenshorizonts ist die ausgedehnte polizeirechtliche Diskussion über Fallgruppen der „Anscheinsgefahr“ und des Gefahrverdachts für die kriminalrechtlichen Maßregeln ohne Bedeutung, weil es bei der Sanktionierung nicht allein auf subjektive Überzeugungen über das Bestehen einer Gefahr ankommen darf, sondern auf belegbare Sachverhalte, auf denen die Überzeugung des Gerichts aufbauen muß. Lediglich die zeitliche Dimension des Wissenshorizonts erweist sich für Polizei- und Maßregelrecht gleichermaßen als problematisch: in beiden Disziplinen geht es immer um eine Beurteilung aus der Perspektive ex ante, also vor Eintritt einer möglichen Rechtsgutsverletzung. Ob es ohne Anordnung einer Maßregel nicht zu der erwarteten neuen Straftat gekommen wäre, ist eine hypothetische Frage, die man unter dem Aspekt einer Fehlentscheidung diskutieren kann, die aber im konkreten Fall nicht nachträglich zur Rechtswidrigkeit der Sanktionsentscheidung führt. Obwohl also das Recht der kriminalrechtlichen Maßregeln einige Gemeinsamkeiten mit bestimmten Erscheinungsformen polizeilicher Gefahrenabwehr aufweist, ergibt sich daraus keine weitere Konkretisierung der vorausgesetzten Gefahrbegriffe. Das folgende Kapitel betrachtet daher die spezifische maßregelrechtliche Diskussion über Gefahrbegriffe.
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Poscher (1999: 113 ff.); ähnlich Davy (1990: 362).
11 Dessecker
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Kapitel 10
Gefahrbegriffe in bisherigen theoretischen Entwürfen des Maßregelrechts Das Modell der Zweispurigkeit des Sanktionenrechts geht davon aus, daß Maßregeln sich durch grundsätzliche Gemeinsamkeiten kennzeichnen lassen, die sie von Strafen unterscheiden. Dafür werden zahlreiche Gesichtspunkte angeführt: die ausschließlich präventive Zielsetzung unter Verzicht auf einen sozialethischen Vorwurf gegenüber der verurteilten Person1, das Subsidiaritätsprinzip2, die grundsätzliche Nichtgeltung des Rückwirkungsverbots (§ 2 VI StGB)3, die tendenziell unbestimmte Dauer der Vollstreckung4 sowie die Bedeutung der Zweckerreichung und daraus folgender wiederholter Überprüfungen der Fortdauer im Vollstreckungsverfahren.5 Wie bei der Betrachtung der historischen Entwicklung des Maßregelrechts bereits ausgeführt wurde, ist die ursprüngliche strikte Trennung der beiden Spuren seit der Strafrechtsreform weitgehend relativiert.6 In diesem Zusammenhang wird meist auf die jedenfalls für die Maßregeln nach §§ 63 und 64 StGB im Verhältnis zu einer parallelen Freiheitsstrafe einschlägige Option der stellvertretenden Vollstreckung (§ 67 I und IV StGB) verwiesen.7 Häufig wird auch das Argument herangezogen, daß die faktischen Wirkungen kriminalrechtlicher Sanktionen nicht davon abhängen, wie diese Sanktionen systematisch qualifiziert werden.8 Beide Gesichtspunkte liefern aber noch keine Einwände gegen die Aussage, daß sich Strafen und Maßregeln nach ihren Zwecken unterscheiden. Erst wenn man davon ausgeht, daß sowohl Strafen als auch Maßregeln allein individual1 Appel (1998: 507 ff.); Bockelmann / Volk (1987: 279); Exner (1914); Frisch (1990: 354, 358 ff.); Germann (1958: 68); Hanack (1991: Rn. 26 f. vor §§ 61 ff. StGB); E. Horn (1999: Rn. 2 zu § 61 StGB); Jescheck / Weigend (1996: 802 f.); Mitsch (1995: 701, 712); MüllerChristmann (1990: 805); Müller-Dietz (1979: 70 f.); Naucke (2002: 95 ff.); Zipf (1989: 667). Anderer Ansicht sind Vertreter der Auffassung, daß Strafen und Maßregeln in ihren Zwecken weitgehend übereinstimmen, so Delaquis (1944: 9 ff.). 2 Hanack (1991: Rn. 58 ff. vor §§ 61 ff. StGB); Müller-Dietz (1983: 149); Streng (2002: 153 f.). 3 Appel (1998: 507); Hanack (1991: Rn. 71 f. vor §§ 61 ff. StGB); Reinhard von Hippel (1976: 35); E. Horn (1999: Rn. 6 zu § 61 StGB); Naucke (2002: 92 f.); Wüllner (1927: 25). 4 Exner (1914: 144 ff.); Germann (1958: 69); Hanack (1991: Rn. 27 vor §§ 61 ff. StGB); Jescheck / Weigend (1996: 804); Stooss (1925: 147); Wüllner (1927: 26 ff.). Dagegen ausdrücklich Delaquis (1944: 11). 5 Germann (1958: 90); Hanack (1991: Rn. 27 vor §§ 61 ff. StGB); E. Horn (1999: Rn. 15 zu § 61 StGB); Naucke (2002: 101). 6 Siehe Kapitel 6 A. V. (S. 115 ff.). 7 Hanack (1991: Rn. 7 ff. zu § 67 StGB); E. Horn (1999: Rn. 4 zu § 61 StGB); MüllerDietz (1979: 74 ff.). 8 Aus der neueren Literatur etwa E. Horn (1999: Rn. 4 zu § 61 StGB); Jakobs (1991: 32).
Kap. 10: Gefahrbegriffe in bisherigen theoretischen Entwürfen
163
präventiven Zielsetzungen folgen9, taucht die Frage auf, ob noch zwei fundamental verschiedene Sanktionsformen vorliegen. Eine Unterscheidung der beiden Spuren ist dann immer noch möglich, soweit ihre Begrenzungsprinzipien nicht übereinstimmen.10 Trotz solcher Meinungsverschiedenheiten in Einzelheiten besteht in den Stellungnahmen der Strafrechtswissenschaft weitgehende Einigkeit darüber, daß den kriminalrechtlichen Maßregeln des geltenden Sanktionenrechts die Grundsätze der Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit zugrunde liegen. Während die Gefährlichkeit von Straftätern meist als zentrale Voraussetzung aller Maßregeln angesehen wird11 und damit im Maßregelrecht die Position einnehmen soll, der bei den Strafen die Strafbegründungsschuld12 entspricht, soll das Prinzip der Verhältnismäßigkeit die begrenzende Funktion des Schuldprinzips übernehmen. Allerdings haben solche allgemeinen Aussagen den Nachteil, daß sie je nach Zielsetzung und Ausgestaltung der einzelnen Maßregeln relativiert werden müssen.13 Deshalb werden im Rahmen dieses Kapitels zunächst solche theoretischen Ansätze ins Auge gefaßt, die einen allgemeinen Anspruch erheben und von den Voraussetzungen einzelner Sanktionen weitgehend abstrahieren; die Darstellung erfolgt weitgehend chronologisch. Weitere Konkretisierungen des Gefährlichkeitselements für die einzelnen freiheitsentziehenden Maßregeln werden im Dritten Teil vorgenommen.
A. Beiträge aus der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik Trotz der ausgedehnten Debatten über Kriterien kriminalrechtlicher Maßregeln anhand der aufeinander folgenden Reformentwürfe wird in der Zeit des Kaiserreichs und noch während der Weimarer Republik nicht selten kritisiert, daß keine klare Definition der Gefahrbegriffe vorliege. Diese Kritik wird häufig aus psychiatrischer Sicht im Hinblick auf die Unterbringung psychisch gestörter Straftäter vorgetragen14, findet sich aber bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs auch in der So die These von Roxin (1997: 63 f.). Deshalb betont Roxin (1997: 64) den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht, dem er das Schuldprinzip für die Limitierung von Strafen entgegenstellt. 11 So ausdrücklich Frisch (1996: 5). Nach Hanack (1991: Rn. 39 vor §§ 61 ff. StGB) ist die Gefährlichkeit des Täters der „eigentliche Angelpunkt des Maßregelrechts“. Ähnliche Formulierungen bei Böllinger (1995: Rn. 53 zu § 61 StGB), Jescheck / Weigend (1996: 83), Müller-Christmann (1990: 804), Roxin (1997: 63), Stree (2001: Rn. 8 vor §§ 61 ff. StGB), Streng (1995: 97), Welzel (1969: 244) und Zipf (1989: 484). Grundsätzlich ablehnend dagegen M. Köhler (1997: 55 ff.). 12 Achenbach (1974: 4 f.). 13 Hanack (1991: Rn. 41 vor §§ 61 ff. StGB). 14 Cramer (1905: 3); Vorkastner (1929: 238); Wilmanns (1927: 284 f.). 9
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Strafrechtswissenschaft.15 Seit 1914 wird die Dogmatik der Maßregeln zunächst durch Franz Exners Buch über die „Theorie der Sicherungsmittel“ dominiert.
I. Exners „Theorie der Sicherungsmittel“ Exner geht davon aus, daß das Kriminalrecht unabhängig von der Art der im konkreten Fall in Betracht kommenden Sanktion das Ziel verfolgt, Rechtsgüter möglichst effektiv zu schützen. Diese Effektivität bestimmt sich für ihn nach einem einfachen ökonomischen Nützlichkeitsprinzip: der Gesetzgeber „muß die Summe der Übel, die er dem einzelnen Verbrecher und damit auch der Gesellschaft zufügt, abwägen und vergleichen mit der Summe der Übel, die er dem präsumtiven Verletzten und zugleich auch wieder der Gesellschaft erspart.“16
Exner gibt nicht an, wie er die einzelnen Berechnungsgrößen ermitteln will. Das Verb „abwägen“ läßt aber bereits erkennen, daß er nicht an eine Mathematisierung des Sanktionenrechts denkt, sondern an eine normative Entscheidung der Gesetzgebung, die sich an dem „Werturteil des Volkes“ zu orientieren hat.17 Und für diese normative Entscheidung gibt es keinen objektiven Maßstab der Notwendigkeit. Es geht genau betrachtet nicht einmal um Verhütung von Normverstößen in jedem Einzelfall, sondern lediglich „um relative Minderung der Verbrechensfälle“ mit dem mildesten erfolgversprechenden Mittel.18 Den Inhalt seiner Maßregeltheorie entwickelt Exner von einem Verständnis der Strafe aus, das sich an Feuerbachs generalpräventive Theorie vom psychologischen Zwang anlehnt, ohne die von der „klassischen“ Richtung der Strafrechtswissenschaft im Kaiserreich hoch gehaltene Vergeltungsfunktion der Strafe zu leugnen.19 Deshalb wird das Verhältnis von Generalprävention und Vergeltung klärungsbedürftig; Exner löst den Konflikt, indem er die Vergeltung zu einem von mehreren Mitteln der Generalprävention herabstuft.20 In einer prägnanten Zusammenfassung hält er fest: „Die Strafe bezweckt Generalprävention und funktioniert spezialpräventiv, soweit dies im Rahmen des Hauptzweckes möglich ist. Das Sicherungsmittel bezweckt Spezialprävention und funktioniert generalpräventiv, soweit dies im Rahmen des Hauptzwecks sich von selbst ergibt.“21 von Birkmeyer (1914: 53 ff.); Mittermaier (1908: 330). Exner (1914: 5). 17 Exner (1914: 6). 18 Diesen Grundsatz der Erforderlichkeit (nach heutiger Terminologie) bezeichnet Exner (1914: 7) hier als „Verhältnismäßigkeit“. 19 Exner (1914: 23 ff.). 20 Exner (1914: 41) beruft sich dafür auf Frank (1908: 21) und Stooss (1896: 270 ff.). 21 Exner (1914: 228). 15 16
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Sicherungsmittel – nach heutiger Terminologie: Maßregeln der Besserung und Sicherung22 – sind aus dieser Sicht kriminalrechtliche Sanktionen, welche die Strafe angesichts deren beschränkter individualpräventiven Wirksamkeit ergänzen oder in bestimmten Fällen sogar an ihre Stelle treten können. Kommt Individualprävention bei den Strafen allenfalls als nachrangige Funktion in Betracht, so sind die Maßregeln ausschließlich durch diesen Zweck gekennzeichnet.23 Dann taucht das Problem der Allgegenwart von Gefahren auf: „Faßt man das Problem des Güterschutzes von dieser Seite, so erweitert es sich freilich ins Ungeahnte. Der Mensch ist ringsumgeben von Gefahren, die seine Lebensbedingungen in Frage stellen. Diese Gefahren drohen ihm nicht nur von der bösen Absicht und dem Leichtsinn seiner Mitbürger, sondern auch vom unglücklichen Zufall; nicht nur von Menschen, sondern auch von Tieren; nicht nur von Lebewesen, sondern auch von der toten Natur.“24
Deswegen hält Exner Versuche, das gesamte Polizeirecht mit einem individualpräventiven Kriminalrecht zu vereinen, für wenig aussichtsreich. Es geht ihm nur um eine Erweiterung des strafrechtlichen Sanktionensystems in individualpräventiver Hinsicht: „Kriminalpolitische Maßregeln sind nur solche, die in erster Linie der Verbrechensvorbeuge dienen, von diesem Ziele darum auch beherrscht sind.“25
Der Katalog der Taten, auf deren Verhinderung es hier ankommt, ergibt sich grundsätzlich aus den Strafgesetzen. Dann muß geklärt werden, ob Vorbereitungshandlungen, die ja bereits Symptom einer Gefährlichkeit sein können, für die Verhängung einer Maßregel ausreichen sollen. Exner weiß einerseits die „politische“ Bestrebung zu würdigen, das Gesetzlichkeitsprinzip auch im Maßregelrecht anzuerkennen. Andererseits sieht er ein Sicherungsbedürfnis schon im Stadium vor der eigentlichen Tatbestandsverwirklichung, wenn es um Tatpläne und -vorbereitungen verwahrloster Jugendlicher und psychisch gestörter Personen geht. Doch denkt er für diese Fallgruppen nicht mehr an kriminalrechtliche Sanktionen, sondern an Maßnahmen außerhalb der strafgerichtlichen Zuständigkeit.26 Klärungsbedürftig ist weiter, welche Voraussetzungen der Strafbarkeit auch für die kriminalrechtlichen Maßregeln gelten sollen und welche nicht. Was die Schuldfähigkeit betrifft, liegt das Ergebnis auf der Hand: auf sie kann es nicht ankommen27, denn eine wesentliche Aufgabe des Maßregelrechts wird ja gerade darin 22 Mit den Oberbegriffen „Sicherungsmittel“ oder auch „sichernde Maßnahmen“ bezeichnet Exner (1914: 69 f.) in nicht ganz einheitlicher Weise sowohl „Besserungsmittel“ als auch „Schutzmittel“. 23 Exner (1914: 43 f.). 24 Exner (1914: 44). 25 Exner (1914: 47). 26 Exner (1914: 113 ff.). Ansonsten setzt sich Exner (1914: 186 ff.) dagegen für eine Zuständigkeit der Strafgerichte ein. 27 Exner (1914: 48, 134 ff.).
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
gesehen, effektive Sicherungen gegen Handlungen „gefährlicher Geisteskranker“ zu schaffen.28 Trotzdem reicht der objektive Verstoß gegen ein strafrechtliches Gebot allein nicht aus. Jedenfalls für Vorsatzdelikte als Anlaß einer Maßregel verlangt Exner auch ein subjektives Wollenselement, während er sich bei Fahrlässigkeitsdelikten mit der objektiven Voraussehbarkeit des Schadenserfolgs „für den Normalmenschen“ begnügt.29 Andererseits gibt es persönliche Rechtsverhältnisse, die im Maßregelrecht eine Bedeutung gewinnen können, die sie für die Bestrafung nicht haben. Dazu zählt insbesondere die Staatsangehörigkeit. Das Schutzbedürfnis gegenüber künftigen Taten von Ausländern kann durch deren Ausweisung ungleich einfacher und billiger erfüllt werden als durch eine Freiheitsentziehung im Inland.30 Gefährlichkeit ist für Exner der „Grund der Maßregel“. Da es die Strafrechtspflege mit gesetzlich bestimmten Handlungen zu tun hat, die einen Straftatbestand erfüllen, läßt sich definieren: „Gefährlichkeit einer Person bedeutet die Wahrscheinlichkeit, daß von ihr strafbedrohte Handlungen zu erwarten sind.“31
Schon der Begriff der Gefährlichkeit selbst ist allerdings ein „gefährlicher Begriff“, der, stellt man ihn ins Zentrum der Maßregeltheorie, um so mehr Verwirrung stiften kann.32 Das liegt daran, daß eine Aussage über die Zukunft gefordert ist. Prognosen sind aber prinzipiell von Vorbedingungen abhängig; ihre Treffsicherheit beruht auf der Möglichkeit der Erkenntnis von Tatsachen und Kausalzusammenhängen. Deshalb gibt es apodiktische oder auch problematische prognostische Aussagen.33 Soll das Maßregelrecht eine leistungsfähige Ergänzung der Strafen bieten, so darf der Gefährlichkeitsbegriff andererseits nicht zu eng gefaßt werden. Deshalb lehnt es Exner ab, auf diese Kategorie bei solchen potentiellen Straftätern zu verzichten, die er – wie jugendliche, arbeitsscheue oder alkoholabhängige Personen – als hilfs- oder besserungsbedürftig ansieht.34 Erst recht wäre es aus seiner Sicht verfehlt, allgemein auf die Erwartung eines strafrechtlichen Rückfalls abzustellen.35 Maßregeln sollen prinzipiell zu einem frühen Zeitpunkt eingreifen können, zu dem noch kein einziges Delikt geschehen ist. 28 Siehe zu dieser Diskussion in der Zeit des Kaiserreichs bereits Kapitel 3 A. II. (S. 52 ff.). 29 Exner (1914: 137 ff.). 30 Exner (1914: 55 ff.). 31 Exner (1934: 633); ähnlich bereits Exner (1914: 60). 32 Exner (1914: 59). Der Topos von der gefährlichen Begrifflichkeit findet sich auch bei Binding (1919: 374) im Zusammenhang mit der Fahrlässigkeitsdogmatik. 33 Exner (1914: 59). Exners Beispiele stammen beide aus den Naturwissenschaften: Astronomie und Wettervorhersage. 34 von Liszt (1910b: 427); dagegen Exner (1914: 60 f. Fn. 1). 35 In diesem Sinne Storch (1913: 13).
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Gefährlichkeit ist ein normatives Tatbestandselement, das nach verschiedenen Kriterien abstufbar ist. Zunächst nach der Größe der Verletzungsmöglichkeit, einem Gesichtspunkt, den Exner jedoch nicht näher erläutert.36 Gemeint ist wohl der Wahrscheinlichkeitsgrad, mit dem eine Rechtsgutsverletzung vorhergesagt werden kann. Ausführlicher wird das Kriterium der Größe der möglichen Verletzung erörtert. Betrachtet man ihre Intensität, so muß geklärt werden, ob es einen Schwellenwert im Sinne eines mindestens zu befürchtenden Schadensausmaßes gibt, unterhalb dessen noch keine Maßregel in Betracht kommt. Die Tätergruppe, die hier in den Blick kommt, ist die der Bettler, Landstreicher und kleinen Diebe. Ganz im Einklang mit der zeitgenössischen kriminalpolitischen Diskussion meint Gefährlichkeit für Exner auch mindere Grade der Gefahr: „diese Individuen“ seien „bekanntlich nicht immer so harmlos ( . . . ), wie sie heißen“.37 Doch ist die Intensität der Gefahr, die sich aus Deliktsart und Tatbegehungsweise ergibt, von Bedeutung für Art und Maß der als Sicherungsmittel zulässigen Sanktion: „Die Gesellschaft hat natürlich ein ganz anderes Interesse daran, vor Mord, Brand und Einbruch geschützt zu werden, als vor geringfügigen Eigentumsdelikten und Belästigungen.“38
Sind lediglich Belästigungen zu erwarten, ist eine Freiheitsentziehung weniger leicht zu begründen als die Polizeiaufsicht. Ähnliches gilt nach Exner auch für politische Delikte.39 Die Extensität der Gefahr betrifft die Frage, ob Gefährlichkeit bloß im Zusammenhang mit einem vorübergehenden Ereignis oder als relativ dauernder Zustand vorliegt. Denn „jeder, der ein Verbrechen ausführen will, ist ein gefährlicher Mensch“ – wenn auch häufig nur im Hinblick auf eine konkrete Tat.40 Präventive Maßnahmen im weitesten Sinne sind für Exner sowohl anläßlich akuter Gefahren als auch bei chronischer Gefährlichkeit gerechtfertigt. Im ersten Fall denkt er in erster Linie an Maßnahmen polizeilicher Gefahrenabwehr und die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr, aber auch die damals als Reaktion auf die Androhung eines Verbrechens diskutierte „Friedensbürgschaft“. Dagegen ist chronische Gefährlichkeit als Persönlichkeitseigenschaft „Voraussetzung der wichtigsten und meisten Sicherungsmittel“.41 Kriminalrechtliche Maßregeln können ihre individualpräventive Aufgabe auf zwei Wegen erfüllen, durch Besserung oder durch „reine“ Sicherung: Exner (1914: 61). Exner (1914: 61) gegen Mittermaier (1908: 329). Gegen eine Erstreckung des Maßregelrechts auf diese Gruppe auch Rittler (1926: 99). 38 Exner (1914: 62); ähnlich Exner (1934: 635). 39 Exner (1914: 62) vertritt auch insoweit eine Position, die damals mehrheitsfähig ist; ebenso Löffler (1912: 772 f.) und Nabokoff (1913: 174 ff.). Dagegen etwa Mittermaier (1911: 343 f.). 40 Exner (1914: 63); insoweit übereinstimmend Mittermaier (1908: 329 f.). 41 Exner (1914: 65 ff.). 36 37
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
„Durch die Besserungsmittel sollen die Ursachen der Gefährlichkeit behoben, durch die Schutzmittel die Gesellschaft vor dem Wirksamwerden ihrer Ursachen geschützt werden.“42
Diese beiden Formen stehen in einem Stufenverhältnis. „Reine“ Sicherung ist die einfachere Methode, aber sie kommt für Exner erst dann in Betracht, „wenn die Anwendung eines Besserungsmittels im Einzelfall unmöglich oder untunlich ist“.43 Um diese Frage zu entscheiden, ist eine weitere Prognose erforderlich, die sich auf die Besserungsfähigkeit einer verurteilten Person bezieht.44 Eine weitere Differenzierung der einzelnen Maßregeln unternimmt Exner anhand einer kursorischen Diskussion möglicher Ursachen der Gefährlichkeit. Dabei ist er sich darüber im klaren, daß es um nichts weniger geht „als das Hauptproblem der Kriminologie“.45 Tätertypologien nach Charaktereigenschaften sind dabei allerdings nur beschränkt aussagekräftig: es gibt letztlich keine schlechthin gefährlichen psychischen Zustände, weil Eigenschaften wie etwa die von Liszt genannte „Gewinnsucht“46 die Begehung von Vermögensdelikten ebenso begünstigen können wie sozial erwünschte wirtschaftliche Tätigkeiten. Was bleibt, sind Dispositionen, die „im Einzelfall vermöge ihrer Verbindung mit anderen ungünstigen Umständen mit Wahrscheinlichkeit auf künftige Deliktsbegehung schließen lassen“.47 Als Anknüpfungspunkte für Besserungsmittel nennt Exner sechs Gefährlichkeitsursachen, nämlich jugendliches Alter, Arbeitsscheu, Trunksucht, Willensschwäche, geistige Krankheit und Minderwertigkeit sowie Unfähigkeit im beruflichen Bereich. Dagegen führe eine solche Einteilung für die Sicherungsmittel im engeren Sinne nicht weiter; wenn es nur noch um Sicherung geht, ist die Frage der Verbrechensentstehung nachrangig.48 Wie ist die Dauer kriminalrechtlicher Maßregeln zu bemessen? Exner stellt folgenden Leitsatz auf: „Sie sind so zu vollziehen, wie der besondere Zustand des Individuums es erfordert und haben so lange zu dauern, als die Gefährlichkeit andauert.“49
Ist die Tat nur Anlaß einer Maßregel, so darf sie letztlich keinen Einfluß auf die Vollzugsdauer haben. Vorschläge, den Aufenthalt im Maßregelvollzug durch die Anwendung des Strafzumessungsrechts oder durch eine Höchstfrist in Anlehnung an eine parallele Freiheitsstrafe zu begrenzen, verwirft Exner. Daraus folgt seine Forderung nach einer unbestimmten Verurteilung, die er lediglich für die Maß42 43 44 45 46 47 48 49
Exner (1914: 69 f.); ähnlich bereits von Liszt (1910a: 5). Exner (1914: 70). Exner (1914: 71 ff.). Exner (1914: 75 f.). von Liszt (1896a: 188 f.). Exner (1914: 78 ff.). Exner (1914: 88 ff.). Exner (1914: 141).
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regeln ohne Freiheitsentzug zurückstellt.50 Davon trennt er die Frage, ob zeitliche Begrenzungen kraft Gesetzes möglich sind. Hier greift er die Unterscheidung bessernder und ausschließlich sichernder Maßregeln wieder auf. Was die Besserungsmittel betrifft, soll ihr Vollzug mindestens so lange dauern, wie eine Behandlung im günstigsten Fall erfordert; eine Höchstfrist ergibt sich aus der erfahrungsgemäß noch zweckmäßigen Behandlungsdauer.51 Die Sicherungsmaßregeln lassen ebenfalls die gesetzliche Festlegung eines Mindestmaßes zu. Dagegen wird eine Höchstfrist mit einer grundsätzlichen Erwägung abgelehnt: „Dem Gedanken der Sicherung entspricht es freilich nicht, einem gefährlichen Menschen lediglich wegen Ablauf der Zeit zum Schaden der Gesellschaft die Freiheit wieder zu geben.“52
Rechtsstaatliche Vorsicht soll bei dieser Tätergruppe nicht zur Einführung unwiderruflicher Entlassungen aus dem Maßregelvollzug führen. Statt dessen schlägt Exner vor, nach einer gesetzlich bestimmten Frist eine obligatorische vorläufige Entlassung auf Bewährung einzuführen – allerdings nicht für die Unterbringung in der Psychiatrie, die aus seiner Sicht den einzigen Fall „absoluter Unbestimmtheit“ im Maßregelrecht bildet.53 Die Möglichkeit einer Aussetzung der Maßregel will Exner jedoch nicht erst nach einem längeren Vollzugsaufenthalt vorsehen. Nach einer kurzen Andeutung in seinem Buch über die „Theorie der Sicherungsmittel“54 führt er diese Forderung in einem Vortrag anläßlich der Tagung der deutschen Landesgruppe der IKV in Jena 1921 näher aus. Es sei inkonsequent, daß eine primäre Aussetzung schon bei der Anordnung einer Maßregel weder nach dem deutschen Entwurf von 1919 noch nach den schweizerischen Reformplänen vorgesehen sei, obwohl diese Entwürfe eine bedingte Entlassung aus dem Maßregelvollzug vorschlagen. Die primäre Aussetzung einer Maßregel sei eine ernst zu nehmende Form individualpräventiver Einwirkung „für die sehr häufigen Grenzfälle“: „Im Leben gibt es eben nicht jenes scharfe ,Entweder-Oder‘. Zwischen Gefährlichkeit und Ungefährlichkeit besteht ein allmählicher Übergang ( . . . )“55
Diese Argumentation wiederholt Exner auch 1930 anläßlich des internationalen Strafrechtskongresses in Prag.56 Exners zweckorientierte Theorie legt das Maßregelrecht damit auf einen effektiven Rechtsgüterschutz fest, den es durch eine individualpräventive Ergänzung der 50 51 52 53 54 55 56
Exner (1914: 143 ff.). Exner (1914: 148 f.). Exner (1914: 150). Exner (1914: 152 f.). Exner (1914: 184). Exner (1921: 187). Exner (1930: 29).
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
generalpräventiv verstandenen Strafen leisten soll. Gefährlichkeit als „Grund der Maßregel“ ist für ihn ein zentraler, aber problematischer Begriff: einerseits wegen der prinzipiellen Unsicherheit von Prognosen, andererseits wegen des Effektivitätsanspruchs, der eine zu enge Fassung der Anordnungsvoraussetzungen verbietet. Dennoch kann Gefährlichkeit in verschiedenen Dimensionen näher bestimmt werden. Einmal kann der Grad der Wahrscheinlichkeit variieren, mit der eine Rechtsgutsverletzung vorhergesagt wird. Zweitens kann der zu erwartende Schaden unterschiedliche Ausmaße annehmen und verschiedene Rechtsgüter betreffen. Drittens kann Gefährlichkeit nur vorübergehend oder relativ dauerhaft vorliegen. Diese Differenzierungen sind von Bedeutung für die Anordnung der Maßregeln, aber auch für die erforderliche Dauer ihrer Vollstreckung.
II. Ergänzungen zu Exner Weitere Ansätze zu einer Dogmatik des Maßregelrechts bauen bis in die 1930er Jahre hinein mehr oder weniger ausdrücklich auf Exners Entwurf auf. Edmund Mezger zerlegt den Begriff der Gefährlichkeit in einen normativen und einen deskriptiven Bestandteil. Den normativen Gesichtspunkt sieht er in dem Bezug auf künftiges kriminelles Verhalten im Sinne des jeweiligen positiven Rechts, den deskriptiven in der geforderten Prognose als Wahrscheinlichkeitsurteil.57 Da das Maßregelrecht strikt von Schuld und Strafe getrennt werden müsse, seien Fragen der Zurechnungsfähigkeit für die Maßregeln bedeutungslos. Gefährlichkeit und Sicherung stellten bei schuldfähigen „Gewohnheitsverbrechern“, vermindert zurechnungsfähigen und unzurechnungsfähigen Tätern „genau dieselben sozialen Probleme, die eine einheitliche Lösung fordern“.58 Ausgangspunkt der „Diagnose“ der Gefährlichkeit ist für Mezger nicht die allgemeine Frage nach ihren Voraussetzungen, sondern die konkrete Frage nach der Art der Gefahren, die „von einem voraussichtlich auch künftig kriminellen Menschen“ drohen: „Wenn wir von einem Menschen auf Grund seines bisherigen Verhaltens annehmen können, daß er auch in Zukunft wieder die Bahn des Verbrechens betreten wird, so lassen sich sehr wohl empirisch generelle Gesichtspunkte über die Art und Weise dieser seiner künftigen Kriminalität aufstellen.“59
Diese empirische Fundierung erhofft sich Mezger von einer kriminalbiologischen Lehre der „Verbrechertypen“, die aus einer „allgemeinen Charakter- und Erblichkeitslehre“ entwickelt werden soll.60 Ein weiteres Beispiel liefert der Vortrag von Theodor Rittler bei einer deutschösterreichischen Tagung der IKV im Jahr 1925. Rittler sieht eine Aufgabe des 57 58 59 60
Mezger (1923: 157). Mezger (1923: 158, 169). Mezger (1923: 159). Mezger (1923: 159 f.); ähnlich noch Mezger (1955: 9 ff.).
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Kriminalrechts darin, einen Ausgleich zwischen den Interessen der Gesellschaft an einem Schutz vor schweren Delikten und den Interessen der potentiell von kriminalrechtlichen Sanktionen Betroffenen zu finden. Die Rechtsentwicklung seit 1914, insbesondere die Praxis der Strafjustiz während des Ersten Weltkriegs, die Verhältnisse in der Sowjetunion, das Institut der Schutzhaft61 in Deutschland wie auch die zunehmende Laienbeteiligung in der Strafgerichtsbarkeit zeigten die Bedeutung eines effektiven Schutzes von Freiheitsrechten. 62 Rittler plädiert für einen einheitlichen Gefährlichkeitsbegriff bei allen Maßregeln, wobei er wie Exner davon ausgeht, daß man in einem gewissen Sinn jeden Verbrecher als gefährlich bezeichnen kann: „Denn er gibt durch seine Tat böses Beispiel, lockert den Gehorsam gegen das Gesetz, wird für andere Ursache zum Fall. Auch hat er erwiesen, daß er selbst nicht unter allen Umständen gesetzestreu ist; die eine Verfehlung, die ihm zur Last liegt, läßt wenigstens die Möglichkeit einer zweiten neuerlichen offen.“63
Allerdings ergebe das Attribut „gefährlich“ als Bezeichnung für Straftäter nur einen Sinn, wenn man damit eine Persönlichkeitseigenschaft verbinde: „Derjenige, von dem es nicht bloß möglich, sondern wahrscheinlich ist, daß er neue strafbare Handlungen begehen werde, und zwar strafbare Handlungen schwerer Art.“
Zu dieser Gruppe zählen für Rittler nicht solche Personen, die für die Gesellschaft „keine wirkliche Gefahr“, nur eine Last darstellten: alle Personen, die wie die „Liederlichen“ und „Arbeitsscheuen“ nur Delikte der kleinen Kriminalität begingen.64 Auch die Gruppe der eigentlich „gefährlichen Verbrecher“ sei in sich nicht homogen zusammengesetzt; sie werde durch die drei Untergruppen, für welche die Reichsratsvorlage von 1924 jeweils eine spezifische freiheitsentziehende Maßregel vorsieht, sinnvoll gegliedert. Es gebe aber keinen Grund, das Merkmal der Gefährlichkeit für diese Sanktionen in unterschiedlicher Weise zu bestimmen. Insbesondere wendet sich Rittler gegen Bestrebungen, die Schwelle zu einer Unterbringung von Tätern mit einer Suchtproblematik niedriger anzusetzen als für die psychiatrische Unterbringung und die Sicherungsverwahrung.65 Weiterhin müsse das wahrscheinliche schädigende Ereignis durch eine abschließende Aufzählung der wesentlichen Individualrechtsgüter konkretisiert werden: „die Messerhelden und Raufbolde, die Einbrecher und Taschendiebe, die raffinierten Betrüger, die 61 Gemeint ist offensichtlich die präventive Haft zur „Abwendung einer Gefahr für die Sicherheit des Reichs“ aufgrund einer Anordnung durch militärische Befehlshaber, die erst mit dem Gesetz, betreffend die Verhaftung und Aufenthaltsbeschränkung auf Grund des Kriegszustandes und des Belagerungszustandes vom 4. Dezember 1916 (RGBl. 1329) eine gesetzliche Grundlage erhält. 62 Rittler (1926: 95 ff.). 63 Rittler (1926: 99) (Hervorhebung im Original). Eine ähnliche Aussage bei Exner (1914: 63). 64 Rittler (1926: 99). 65 Rittler (1926: 103); ähnlich schon Gerland (1921: 82, 86).
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Brandstifter, die schweren Sittlichkeitsverbrecher“ seien hinreichend zu erfassen, wenn das Gesetz – wie bereits der österreichische Entwurf von 1912 – eine „Gefährlichkeit für die Sittlichkeit oder für die Sicherheit der Person oder des Vermögens“ voraussetze. Damit werde zugleich sichergestellt, daß eine Bedrohung für bestimmte Einzelpersonen in den Schutz des Maßregelrechts einbezogen, politische Delikte aber ausgeklammert würden.66 An Exners Entwurf orientiert sich weitgehend auch Leopold Zimmerl, der sich das anspruchsvolle Ziel setzt, ein in sich widerspruchsfreies System des Schuldstrafrechts zu entwickeln, dabei im Sanktionenrecht aber nicht ohne ergänzende Maßregeln auskommt.67 Wie für Exner ist auch für ihn Gefährlichkeit eine zentrale Voraussetzung der Maßregeln, deren Maß von verschiedenen Bedingungen abhängt: „Die Frage, ob ein bestimmter Mensch gefährlich ist, ist gleichbedeutend mit der Frage, ob von diesem Menschen in Zukunft antisoziale Handlungen zu erwarten seien. Die Größe der Gefährlichkeit richtet sich nach der Wahrscheinlichkeit, der Zahl und der Schwere der zu erwartenden antisozialen Taten.“68
Während Exner Bedingungen der Gefährlichkeit hauptsächlich mit bestimmten Tätergruppen verbindet, denen bestimmte Sanktionsformen entsprechen, unterscheidet Zimmerl recht allgemein eine charakterbezogene „Persönlichkeitskomponente“ und eine an den Lebensumständen anknüpfende „Außenkomponente“ der Gefährlichkeit.69 Auch Zimmerl macht die Anordnung von Maßregeln von Kosten-Nutzen-Abwägungen abhängig. Er betont in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer individualpräventiven Ausgestaltung des Strafvollzugs, die eine Maßregel etwa dann entbehrlich machen könne, wenn volle Zurechnungsfähigkeit vorliege, keine besonders kriminalitätsfördernden Lebensumstände erwartet würden und bereits vor Verbüßung der vollen Strafe Besserung eingetreten sei. Eine Maßregel komme dagegen in Frage, wenn trotz voller Strafverbüßung keine Besserung erfolgt sei oder von vornherein die Gefährlichkeit ein Ausmaß annehme, daß ihr nicht mehr mit einer schuldangemessenen Strafe begegnet werden könne.70 Allerdings begreift er das Schuldprinzip nicht als unüberschreitbare Grenze der Strafe.71 Rittler (1926: 104 f.). Eine Schwierigkeit dieser Arbeit liegt allerdings in der Methode: Zimmerl (1930: VII) verzichtet vollständig auf Nachweise aus der strafrechtswissenschaftlichen Literatur, da „häufige Literaturangaben bei der aufmerksamen Lektüre nur störend“ seien. 68 Zimmerl (1930: 233). 69 Zimmerl (1930: 234). Hier wird mit etwas veränderter Terminologie der in dieser Zeit populäre, aber auch heute noch gelegentlich – so bei Bock (1997: 209) – verwandte Dualismus von anlage- und umweltbezogenen Bedingungen der Kriminalitätsentstehung aufgegriffen; siehe dazu z. B. von Liszt (1893a: 65) und von Liszt / Schmidt (1932: 11 ff.). 70 Zimmerl (1930: 315 ff.). 71 Zimmerl (1930: 245 ff.). 66 67
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173
Auch die 1932 erschienene Arbeit von Fritz Flandrak, deren Schwerpunkt auf den verfahrensrechtlichen Aspekten der Reformentwürfe in den Ländern Mitteleuropas liegt, versteht sich in ihrem materiellrechtlichen Teil als Ergänzung zu Exners „Theorie der Sicherungsmittel“. Ganz im Einklang mit Exner werden Sicherungsmittel definiert als kriminalrechtliche Maßnahmen, „welche im Sinne der Spezial-Prävention im Dienste der Verbrechensverhütung (stehen), ohne daß ihre Verhängung ein Unwerturteil über den von ihr Betroffenen zum Ausdruck brächte“.72 Mit dieser Definition soll zugleich der Unterschied zu den Strafen „im hergebrachten Sinne“ zum Ausdruck gebracht werden. Flandrak setzt sich für ein zweispuriges Sanktionensystem als derzeit beste Lösung ein; allerdings sei die Sicherungsstrafe im Sinne von Liszt noch keineswegs aus der Diskussion.73 Als Anordnungsvoraussetzung sichernder Maßregeln innerhalb des Kriminalrechts fordert Flandrak „die Gefahr künftiger Verübung tatbestandsmäßigen Unrechts“.74 Die seit Liszt eingeführte Unterscheidung primär bessernder (etwa anläßlich einer Suchtproblematik) und primär sichernder Maßregeln (wie der Verwahrung vielfach rückfälliger Straftäter) bezieht er auf Zimmerls Kategorien der Persönlichkeits- und Außenkomponente der Gefährlichkeit.75 Flandrak weist darauf hin, daß das Maß der Gefährlichkeit und die ihm entsprechende Sanktion nicht analog der Strafzumessung aufgrund festgestellter Schuld bestimmt werden kann. Trotz geringer Schuld könne eine erhebliche Gefährlichkeit vorliegen, wenn ein Täter aufgrund seines Berufs häufig in potentielle Tatsituationen gerate.76 Das Maß der erforderlichen Einwirkung durch eine Sanktion hänge nicht nur von der Beeinflußbarkeit der Verurteilten ab, sondern auch von den Möglichkeiten der zuständigen Vollzugseinrichtungen.77 Die Leistungsfähigkeit des Gefährlichkeitsmerkmals wird durchaus skeptisch beurteilt: „Als Garantie für die Rechtssicherheit kann dieses Merkmal allerdings wenig Wert beanspruchen. Die Möglichkeit, die Gefährlichkeit analog in bestimmte Typen zu pressen, wie es bei der Schuld in Gestalt von Schuldformen geschehen ist, ist derzeit nicht gegeben.“78
Untauglich zu einer Konkretisierung der Gefährlichkeit ist für Flandrak das Kriterium einer Mindestzahl von Vorstrafen, weil dadurch der Sicherungszweck bei bestimmten Tätergruppen unterlaufen würde. Eine Möglichkeit der Eingrenzung liege jedoch im Gedanken der Proportionalität. Des weiteren sei von Bedeu72 73
Flandrak (1932: 1); übereinstimmend Exner (1914: 228 f.). Flandrak (1932: 3) unter Hinweis auf die Debatten in der deutschen Landesgruppe der
IKV. Flandrak (1932: 5) im Anschluß an Exner (1914: 59 f.). Flandrak (1932: 6 ff.). 76 Flandrak (1932: 23). Ähnlich bereits Zimmerl (1930: 320); das Beispiel liefert der Kassier, der eigentlich „eine verhältnismäßig geringe Neigung zu Vermögensdelikten besitzt“. 77 Flandrak (1932: 24). 78 Flandrak (1932: 39). 74 75
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
tung, ob der Grund der Gefährlichkeit von kurzer oder längerer Dauer ist – wobei auch sich wiederholende Zustände die Verhängung von Maßregeln ermöglichen müßten.79 Mit Gefahrbegriffen beschäftigt sich in den 1940er und 1950er Jahren auch die Strafrechtslehre in der Schweiz. Der legislative Ausgangspunkt ist dort allerdings ein anderer als in Deutschland, gilt doch das Sanktionenrecht des 1942 in Kraft getretenen schweizerischen Strafgesetzbuches als wenig systematisches Regelungswerk. Obwohl der Gesetzestext die Gefährlichkeit der Verurteilten ausdrücklich nur für einzelne Maßnahmen nennt, wird dieses Merkmal bald als allgemeine Voraussetzung aller Maßnahmen angesehen. Die Konkretisierung erfolgt nicht anders als schon bei Exner: „Gefährlichkeit eines Delinquenten bedeutet, dass von ihm weitere Delikte zu erwarten sind.“80
Symptome der Gefährlichkeit versucht man zunächst parallel zu Elementen des Verschuldens zu entwickeln. So ergeben sich einzelne Anhaltspunkte für eine Gefährlichkeitsprognose.81 Des weiteren wird darauf hingewiesen, daß der Grad der zu fordernden Gefährlichkeit von der Eingriffsintensität der in Betracht kommenden Maßnahme abhängt: an eine Verwahrung als Gewohnheitsverbrecher sind strengere Kriterien anzulegen als an eine im wesentlichen auf Resozialisierung angelegte Sanktion.82 Die Ergänzungen zu Exners „Theorie der Sicherungsmittel“ gehen über dessen erste systematische Bearbeitung des Maßregelrechts nicht weit hinaus. Gefährlichkeit wird wie schon bei Exner als Wahrscheinlichkeitsurteil im Sinne einer Prognose verstanden, für die Hilfestellungen durch kriminologische Forschungsergebnisse erwartet werden. Allerdings bleiben nicht alle Beiträge bei der Vorstellung stehen, daß die Gefährlichkeit eines Straftäters als Persönlichkeitseigenschaft lediglich objektiv bestimmt zu werden braucht, zumal die Leistungsfähigkeit dieses Merkmals nicht einheitlich beurteilt wird. Immerhin wird teilweise versucht, den Begriff der Gefährlichkeit zugleich zu einer Begrenzung des Maßregelrechts heranzuziehen. 83 Das weist einen dogmatischen Weg zu einem wesentlich normativ geprägten Verständnis.
79 80 81 82 83
Flandrak (1932: 39) knüpft damit an Exner (1914: 63 ff.) und Rittler (1930) an. Germann (1946: 168 f.). Ähnlich noch A. von Kaenel (1957: 149 f.). Germann (1946: 170 ff.). Germann (1946: 171). Vor allem bei Rittler (1926: 99 ff.).
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B. Beiträge bis zum Inkrafttreten der Strafrechtsreform Der Gegensatz zwischen eher ausdehnenden und einschränkenden Auffassungen des Maßregelrechts prägt auch die weitere Diskussion im Verlauf der Strafrechtsreform in der Bundesrepublik. Allerdings sind nur wenige strafrechtswissenschaftliche Beiträge feststellbar, die sich grundsätzlich mit Gefahrbegriffen im Maßregelrecht auseinandersetzen. Für die eher ausdehnende Position steht ein Aufsatz von Hans-Jürgen Bruns, der von Parallelen zwischen dem Gefährlichkeitsbegriff im Maßregelrecht und der älteren Dogmatik zur richterlichen Überzeugungsbildung im Strafverfahren ausgeht. Bei der Konkretisierung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung in § 261 StPO läßt sich nach einer geläufigen Auffassung danach unterscheiden, ob sich das Ergebnis der Beweisaufnahme als bloß möglich, überwiegend wahrscheinlich oder (so gut wie) gewiß darstellt.84 Obwohl Bruns die Reichweite dieses Instrumentariums für die Begründung strafgerichtlicher Urteile im allgemeinen eher skeptisch betrachtet, greift er es wieder auf, sobald es ihm um die Bestimmung der Gefährlichkeit als zentralem Gesichtspunkt des Maßregelrechts geht: „Gefährlichkeit ist Rückfall- oder Wiederholungs-,Wahrscheinlichkeit‘, also ein gesteigerter, überwiegender Grad der Möglichkeit! Daraus folgt, daß die einfache, bloße Möglichkeit des Rückfalls genau so wenig zur Bejahung der Gefährlichkeit ausreicht wie die einfache, bloße Möglichkeit der Besserung zur Verneinung der Gefährlichkeit ( . . . ).“85
Besserung und Gefährlichkeit sind für ihn korrespondierende Begriffe: ist Besserung wahrscheinlich, dann sind erneute Delikte bloß möglich, so daß keine Gefährlichkeit vorliegt – und umgekehrt. Bruns weist auf das Dilemma der Strafjustiz hin, die eine aus „Überängstlichkeit“ unterbliebene Maßregel nicht nachholen könne, die Klärung der Maßregelvoraussetzungen aber auch nicht dem Vollstrekkungsverfahren überlassen dürfe.86 Zwar entwickelt er seine Gedanken in Auseinandersetzung mit einer Gerichtsentscheidung zur nachträglichen Aussetzung der Sicherungsverwahrung (§ 42 f. StGB a.F.). Aus dem Zusammenhang seiner Argumentation und wiederholten Hinweisen auf andere Maßregeln läßt sich aber entnehmen, daß es Bruns um allgemeine Gesichtspunkte des Maßregelrechts geht. Vergleicht man seine Bemerkungen zum Grundsatz der freien Beweiswürdigung und zu den Voraussetzungen einer Maßregelanordnung, so erscheinen die Anforderungen an die Verhängung einer Maßregel weniger streng. Während das Gericht für die Beantwortung der Schuldfrage selbst fern liegende Möglichkeiten ausschließen muß, soll es für die Anordnung der Sicherungsverwahrung (oder einer anderen Maßregel) – soweit das Merkmal der Gefährlichkeit in Frage steht – ausreichen, daß eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erneuter Delikte gegeben 84 H.-J. Bruns (1958: 650); siehe etwa RG, Urteil vom 15. Februar 1927 – I 2 / 27 (= RGSt 61, 202, 206) und Herdegen (1987: 198). 85 H.-J. Bruns (1958: 652). 86 H.-J. Bruns (1958: 652).
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
ist und allenfalls „vage Hoffnungen, an Erwartungen unbestimmter Art geknüpfte Erfolgschancen“ für eine Besserung, also eine Legalbewährung sprechen.87 Denn Bruns’ Gegenbegriff der Besserung bezieht sich nicht auf therapeutische Ansätze; er meint nichts weiter als das Ausbleiben erneuter Straffälligkeit. Um eine engere Beschränkung des Maßregelrechts bemüht sich dagegen Gerald Grünwald. Er betont zunächst die Notwendigkeit einer verläßlichen Bestimmung der Anordnungskriterien. Gefährlichkeitsmerkmale müßten so bestimmt werden, daß sie die Anwendbarkeit einer Maßregel auf den jeweils intendierten Täterkreis beschränkten. Sie müßten Fehlbeurteilungen ausschließen, die zu einer Verhängung von Maßregeln gegen „Ungefährliche oder minder Gefährliche“ führten. „Die Gesellschaft muß also eher auf den Schutz vor einer Gefahr verzichten, als daß sie zu unverhältnismäßig schweren Freiheitsbeschränkungen greift.“88
Eine einheitliche rechtsdogmatischen Begründung der Maßregeln dürfe sich nicht allein auf Nützlichkeitsaspekte berufen. Der Gedanke, daß sich „aus dem Unvermögen des Menschen zum rechten Gebrauch der Freiheit“ auch eine Berechtigung zu Eingriffen in diese Freiheit ergibt, wird akzeptiert, soweit sie auf den Zweck der Gefahrenabwehr bezogen werden kann. Das Ziel der Besserung ist für Grünwald demgegenüber nachrangig „Die Besserung ist kein Endziel, das die Anwendung von Zwangsmitteln rechtfertigen könnte. Unsere Rechtsordnung sieht sich nicht als berufen an, mit Zwang auf jemanden mit dem Ziele einzuwirken, daß er ein besserer Mensch werde. Nur soweit, als die Einwirkung erforderlich ist, um die Allgemeinheit vor Gefahren zu schützen, kann sie zulässig sein.“89
Da die Freiheitsbeschränkung allein durch den Zweck der Gefahrenabwehr legitimiert wird, hängt auch die Zulässigkeit „bessernder“ Maßregeln für Grünwald in erster Linie vom Grad der Gefährlichkeit ab. Für die Begrenzung des Sanktionsübels komme es im Maßregelrecht „nicht nur auf die Verhältnismäßigkeit“ an, „sondern auch auf die absolute Größe der Gefahr“. Wenn der Regierungsentwurf von 1962 unbestimmte Strafen verwerfe, seien die Gründe dafür auch bei den freiheitsentziehenden Maßregeln relevant. Die Rechtsordnung müsse bereit sein, „einen Schlußstrich unter eine Maßregel zu ziehen, sobald das nach dem Grad der Gefährlichkeit des Täters vertretbar ist“.90 87 H.-J. Bruns (1958: 650, 653) beruft sich in beiden Fällen auf die höchstrichterliche Rechtsprechung. Siehe zu § 261 StPO BGH, Urteil vom 9. Februar 1957 – 2 StR 508 / 56 (= BGHSt 10, 208, 209); zur Sicherungsverwahrung RG, Urteile vom 17. Juni 1938 – 1 D 362 / 38 (= DJ 1938, 1157) und vom 11. Oktober 1938 – 4 D 694 / 38 (= DJ 1938, 1796, 1797) sowie BGH, Urteile vom 20. März 1951 – 2 StR 75 / 51 (= BGHSt 1, 66, 67) und vom 4. April 1951 – 1 StR 54 / 51 (= BGHSt 1, 94, 100); zur psychiatrischen Unterbringung BGH, Urteil vom 15. Januar 1952 – 2 StR 567 / 51 (= NJW 1952, 836). 88 Grünwald (1964: 633 f.). 89 Grünwald (1964: 635). Ähnlich wenige Jahre später BVerfG, Urteil vom 18. Juli 1967 – 2 BvF 3 / 62 u. a. (= BVerfGE 22, 180, 219 f.). 90 Grünwald (1964: 635, 639).
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Diese Beiträge stehen für kriminalpolitische Grundpositionen, die sich nicht allein auf das Maßregelrecht beziehen lassen, sondern auf das Kriminalrecht insgesamt.
C. Beiträge seit der Strafrechtsreform Auch in der Zeit seit Inkraftttreten der Strafrechtsreform liefert die Strafrechtswissenschaft nur sporadische Stellungnahmen grundsätzlicher Art zu Gefahrbegriffen im Maßregelrecht. Teilweise wird ein allgemeiner Gefahrbegriff für alle Maßregeln sogar ausdrücklich abgelehnt. So weist Ernst-Walter Hanack zwar darauf hin, der „eigentliche Angelpunkt des Maßregelrechts“ sei „die Frage der weiteren Gefährlichkeit des Täters“. Angesichts wechselnder gesetzlicher Formulierungen und unterschiedlicher Tätergruppen, auf welche die einzelnen Sanktionen abzielen, sieht er aber davon ab, „von vornherein abstrakt einen ,Allgemeinen Teil‘ zu entwickeln“.91 Ein solcher Anspruch wird auch nirgendwo erhoben, teilweise sogar ausdrücklich abgelehnt. Bernd Müller verweist darauf, daß der Begriff der Gefährlichkeit im Maßregelrecht sich auf eine Person als Trägerin oder Verursacherin einer Gefahr bezieht. Schon aus diesem Grund seien strafrechtsdogmatische Problematisierungen des Gefahrbegriffs, die vor allem im Hinblick auf die Gefährdungsdelikte erfolgten, nicht ohne weiteres auf das Maßregelrecht übertragbar. Denn im Kontext des Besonderen Teils des Strafrechts gehe es um die Frage, ob bestimmte Handlungen oder Zustände pönalisiert werden sollten, und dabei stellten sich spezifische Probleme wie die Unterscheidung objektiver und subjektiver Gefahrbegriffe oder die Anforderungen an die Wissensgrundlage von Beobachtern, die im Maßregelrecht gerade nicht auftauchten.92 Dennoch knüpft Müller an eine Differenzierung an, die auch für Gefahrbegriffe im Besonderen Teil vorgenommen wird93, nämlich diejenige zwischen Wahrscheinlichkeit und Schaden. Dabei problematisiert er hauptsächlich das Wahrscheinlichkeitselement, dessen Schwierigkeit mit dem Erfordernis einer Prognose zusammenhänge. Auf einer Skala zwischen Unmöglichkeit und Notwendigkeit eines schädigenden Ereignisses seien zahlreiche Abstufungen denkbar. Die Konkretisierung für das Maßregelrecht unternimmt Müller in einer Art Ausschlußverfahren: „Für die Zwecke des Strafrechts ist die Bezeichnung bereits der geringsten Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts als Gefahr nicht geeignet. Der Terminus ,Gefahr‘ würde sich zu einem weiten und konturlosen Begriff verflüchtigen, der als Anknüpfungspunkt strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes untauglich wäre.“94 91 Hanack (1991: Rn. 39, 41 vor §§ 61 ff. StGB); ähnlich Böllinger (1995: Rn. 2 zu § 61 StGB), der von einem „illusionären Anspruch“ spricht. 92 B. Müller (1981: 60). 93 Siehe etwa Bassenge (1961: 18 f.) und Lackner (1967: 16). 94 B. Müller (1981: 62).
12 Dessecker
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Andererseits dürfe ein effektiver Rechtsgüterschutz nicht durch zu hohe Anforderungen – etwa im Sinne „höchster Wahrscheinlichkeit“ – verhindert werden. Innerhalb des verbleibenden mittleren Bereichs seien aber für freiheitsentziehende Maßregeln eher strenge Anforderungen zu stellen. „Die Schwere der mit der Verhängung einer Maßregel verbundenen Eingriffe in die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte des Betroffenen schließt es aus, die Anordnung auf die bloße Möglichkeit künftiger Taten zu stützen. Man wird mindestens fordern müssen, daß mehr und gewichtigere Gründe für eine weitere Straffälligkeit sprechen als dagegen. Gefahr bzw. Gefährlichkeit bedeutet demnach im Maßregelrecht Rückfallwahrscheinlichkeit i.S. eines ,gesteigerten, überwiegenden Grades der Möglichkeit‘.“95
Für eine weitere begriffliche Präzisierung sieht Müller wenig Erfolgsaussichten. Sie sei für die Erfordernisse der Strafrechtspraxis aber auch gar nicht erforderlich, da „bei mehrfach rückfälligen Tätern“ häufig „fest eingeschliffene Verhaltensweisen“ vorhanden seien, die das zukünftige Verhalten weitgehend festlegten und damit voraussehbar machten.96 Die in letzter Zeit am breitesten diskutierten grundsätzlichen Arbeiten zum Maßregelrecht stammen von Wolfgang Frisch, der sich bereits in seiner Habilitationsschrift ausführlich mit dem Thema auseinandersetzt. 97 In einem späteren Beitrag zur Bedeutung von Liszts „Marburger Programm“ verweist Frisch auf drei Kernpunkte individualpräventiv angelegter Sanktionen. Während Sicherung und Besserung als Strategien der Individualprävention bereits bei Liszt angelegt seien, gelte dies nicht oder doch nicht in heute befriedigender Form für Eingriffsvoraussetzungen und Grenzen des Maßregelrechts.98 Die zentrale Eingriffsvoraussetzung sei mit den Beiträgen von Exner, Flandrak und anderen bereits früh als „Gefahr der Begehung von Straftaten“ benannt worden. Der Gefahrbegriff wiederum könne zwar als „bestimmte Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Straftaten“ umschrieben werden, doch bereite deren weitere Präzisierung Schwierigkeiten.99 Diese Schwierigkeiten wiesen auf ein „Zentralproblem unseres heutigen Strafrechts“ hin: die gewachsene Bedeutung von Prognoseentscheidungen als Kennzeichen von Rechtsordnungen, die Strafrecht instrumental zum Schutz vor Gefahren für Rechtsgüter einsetzen.100 Rechtsstaatliche Anforderungen an kriminalrechtliche Individualprognosen ergeben sich für Frisch aus ihrer Funktion, „Anknüpfungspunkt und Grundlage für Eingriffe in Freiheit und Vermögen“ zu sein.101 Die Forderung nach einer mögB. Müller (1981: 63). B. Müller (1981: 64). 97 Die unveröffentlichte Arbeit über „Grundlagen des Maßregelrechts“ (1974) war dem Verfasser leider nicht zugänglich. 98 Frisch (1982: 575 ff.). 99 Frisch (1982: 577). 100 Frisch (1983: 4). 101 Frisch (1983: 23). 95 96
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lichst vollständigen und zutreffenden Erhebung des Sachverhalts führt ihn zur Favorisierung klinischer und zur Ablehnung statistischer Prognosemethoden.102 Tolerabel sei nur eine Anknüpfung an solche – wenig zahlreichen – Erfahrungssätze, die zum gesicherten Erkenntnisstand der Kriminologie gehörten. Allerdings sei weder das Strafprozeßrecht noch die Organisation der Strafjustiz auf solche Forderungen eingerichtet, und die meisten Vorhersagen fielen unabhängig von der angewandten Methode in einen weitgehend ergebnisoffenen Mittelbereich.103 Die Anwendung des Zweifelssatzes zur Lösung dieses Problems hält Frisch nicht für angemessen, weil der Bereich, in dem sich keine eindeutige Prognose ergibt, so breit sei, daß er den größten Teil der Anwendungsfälle betreffe. Statt dessen schlägt er eine normative Lösung vor: durch „Interpretation der jeweiligen prognosefordernden Einzelvorschrift“ in der Weise, daß sich für den normativen Regelfall und die Ausnahme unterschiedliche Rechtsfolgen ergeben, sei festzustellen, welches Ergebnis das Gesetz jeweils als vorzugswürdig darstellt.104 Das führe bei der Frage, ob eine Maßregel anzuordnen ist oder nicht, in der Regel zum Absehen von einer Maßregel, weil der Zweck des Maßregelrechts gerade im Zugriff auf chronische Kriminalität liege. Eine wichtige Ausnahme bilde jedoch die Entziehung der Fahrerlaubnis, mit der nur etwas entzogen werde, was in einem Verwaltungsverfahren unter bestimmten Voraussetzungen erteilt worden sei.105 Trotz dieser Hinweise auf einzelne Sanktionsvorschriften versucht Frisch, den Ausnahmefall der schlechten Prognose allgemein zu präzisieren. Dies geschieht anhand des Begriffs der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten, der sonst meist über die Definition der „Gefahr“ eingeführt wird. Es gehe um „ein spezifisch normativ konturiertes Substrat von Wahrscheinlichkeit“. Dabei zieht er aus der Unterscheidung personaler und situativer Faktoren von Kriminalität, die er der älteren Literatur106 entnimmt, weit reichende Folgerungen: „Hinsichtlich des Gegebenseins der personalen Voraussetzungen im Prognosezeitraum müssen wir uns praktisch gewiß sein. ( . . . ) Hinsichtlich der situativen Komponente sind grundsätzlich andere Anforderungen zu stellen. Hier genügt es, daß der Eintritt der Situationen, in denen sich die Persönlichkeitsstruktur im Sinne der Begehung von Straftaten auswirkt, eine naheliegende, nicht nur eine mehr oder weniger theoretische Möglichkeit ist.“107 102 Frisch (1983: 25 ff.). Siehe zur grundsätzlichen Problematik von Individualprognosen ausführlich Kapitel 11 (S. 182 ff.). 103 Dies wird anhand der Ergebnisse einiger empirischer Prognosestudien nachgewiesen; Frisch (1983: 39 ff.). 104 Frisch (1983: 53 f.). 105 Frisch (1983: 61 ff.). 106 Flandrak (1932: 6 ff.); Zimmerl (1930: 234). 107 Frisch (1983: 69, 77 f.). Zum Begriff der Persönlichkeitsstruktur auch die Erläuterung bei Frisch (1990: 374 Fn. 142). Dieses Vorgehen wird von H.-J. Albrecht (1994: 73 ff.) kritisiert: Zwar sei es im Ansatz nicht falsch, zwischen Persönlichkeitsstruktur und situativen Elementen zu unterscheiden. Doch sei es nicht akzeptabel, die Forderung der Eindeutigkeit
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Die Geeignetheit einer bestimmten Sanktion sei nicht an dem meist nur unterstellten allgemeinen Kriterium der Verhütung weiterer Straftaten zu messen, sondern eher an den in der empirischen Sanktionsforschung operationalisierten Zielen wie etwa der Verringerung des Rückfallrisikos und der Rückfallgeschwindigkeit. Die Eignung stellt jedoch nach Frisch im Bereich reiner Sicherungsstrategien letztlich keine Probleme, wohl aber dort, wo wie bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt Besserungsziele verfolgt werden; dann soll „eine realistische Chance der Erfolgsherbeiführung“ ausreichen.108 Frisch plädiert im Zweifel für Therapie gegenüber Sicherung und will Korrekturen durch eine Beschränkung der Rechtskraft im Maßregelrecht ermöglichen. Das prägt auch seine Auslegung der Erprobungsklausel des § 67d II StGB a.F., für die er in erster Linie auf die Kriterien verweist, die bereits für die Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel gelten.109 In einer neueren Zusammenfassung seiner Vorstellungen distanziert sich Frisch sogar von dem Begriff der Prognose und setzt sich dafür ein, „das Dilemma sogenannter prognosefordernder Vorschriften“ im Sanktionenrecht und bei vorbereitenden Entscheidungen während des Strafverfahrens durch offen normative Entscheidungen über bestimmte „Risikosachverhalte“ zu lösen.110 Der gesetzgeberische Optimismus aus der Zeit der Strafrechtsreform sei berechtigterweise einer Skepsis gegenüber Ergebnissen empirischer Sanktionsforschung und ihrer praktischen Nützlichkeit gewichen. Das Grundproblem sei aber darin zu sehen, daß in „normalen“ Strafverfahren nur sehr begrenzte Ressourcen etwa für Täterexploration zur Verfügung stehe. Insofern führten statistische Prognosetafeln ebenso wenig weiter wie die vermehrte Hinzuziehung klinischer Sachverständiger oder die praxisnah gedachte „angewandte Kriminologie“ Göppingers.111 Die Praxis der Instanzgerichte treffe zumindest bei der Strafaussetzung nach § 56 I StGB ohnehin weitgehend normative Entscheidungen, obwohl die begriffliche Einkleidung ihrer Argumentation das nicht immer nahelege. Anders nämlich seien die hohen Anteile ausgesetzter Freiheitsstrafen nicht zu erklären.112 Für das Maßregelrecht soll es danach wohl bei den Kriterien bleiben, die Frisch bereits in früheren Schriften entwickelt hatte.
auf den ersten Gesichtspunkt zu beschränken. Damit werde nicht nur implizit eine sonst kaum konsequent vertretene Persönlichkeitstheorie der Kriminalität herangezogen, sondern diese zugleich auch gegen Widerlegungsversuche immunisiert. Ähnlich bereits Horstkotte (1986: 339 f.), der weiter darauf hinweist, daß dieses Vorgehen teilweise zu kaum akzeptablen Ergebnissen führe. 108 Frisch (1983: 94 ff., 104). 109 Frisch (1983: 148 ff.). 110 Frisch (1992: 119). 111 Zusammenfassend zur „Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse“ Göppinger / Maschke (1997). 112 Frisch (1992).
Kap. 10: Gefahrbegriffe in bisherigen theoretischen Entwürfen
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D. Zum Stand der Diskussion über Gefahrbegriffe im Maßregelrecht Die Sichtung der allgemeinen strafrechtswissenschaftlichen Diskussion über Gefahrbegriffe als zentrales Element des Maßregelrechts bestätigt die Feststellung, daß sich die Dogmatik seit der grundlegenden „Theorie der Sicherungsmittel“ Exners wenig weiterentwickelt hat.113 Das schließt nicht aus, daß die Stellungnahmen in Einzelfragen – wie der Einbeziehung bloßer Bagatelldelikte oder dem Eingreifen des Maßregelrechts schon vor der ersten Straftat – und im Hinblick auf die explizit utilitaristische Begründung der Maßregeln durch Exner abweichen. Dennoch bleibt es für die Bestimmung des Gefahrbegriffs bei Exners Definition als Wahrscheinlichkeit strafbedrohter Handlungen. Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, daß weitere Elemente der Maßregeltheorie Exners sich bis heute als anschlußfähig erweisen. Das gilt für das Verhältnis von Besserung und Sicherung ebenso wie für sein Plädoyer für Maßregelaussetzungen, die Korrekturen im Vollstreckungsverfahren ermöglichen. Gleichzeitig wird von den meisten Autoren anerkannt, daß mit einer solchen Definition die Schwierigkeiten erst beginnen. Die Favorisierung anderer Leitbegriffe – sei es derjenige der „Prognoseentscheidung“ oder auch der des „Risikosachverhalts“ – führt letztlich nicht weiter, weil das Problem der Konkretisierung einer Gefahr in neuem Gewande wiederkehrt. Die Normativierung des Gefahrbegriffs bietet zwar den Vorteil, daß untergründige kriminalpolitische Orientierungen an die Oberfläche gelangen und dadurch sichtbar werden. Sie kann aber nur überzeugen, wenn es gelingt, auf diesem Weg relativ klare Kriterien anzugeben, in welchen Fallgruppen eine kriminalrechtliche Maßregel in Betracht kommt und in welchen es bei den Möglichkeiten der Strafe bleiben soll. Deshalb wird der Anspruch eines Gefahrbegriffs für das gesamte Maßregelrecht in der vorliegenden Arbeit nicht auf dieser allgemeinen Ebene weiter verfolgt. Statt dessen ist von den einzelnen Sanktionen auszugehen; die Untersuchung wird sich dabei auf die besonders eingriffsintensiven freiheitsentziehenden Maßregeln konzentrieren. Dieses Vorgehen bietet nicht nur den Vorteil, daß unmittelbar an die konkreten Fragestellungen des geltenden Rechts angeknüpft werden kann. Erst auf diesem Weg wird es – im Dritten Teil – möglich sein, zugleich mit der immer wieder eingeforderten Heranziehung von Ergebnissen der kriminologischen Gefährlichkeitsforschung Ernst zu machen. Zuvor sind allerdings noch zwei allgemeinere Gesichtspunkte zu betrachten, nämlich Voraussetzungen und Formen von Gefährlichkeitsprognosen (Kapitel 11) und die Zielsetzungen der Besserung und Sicherung in ihrem Verhältnis zur Gefährlichkeit (Kapitel 12).
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Kaiser (1990: 3).
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Kapitel 11
Voraussetzungen und Formen von Gefährlichkeitsprognosen Wie bereits der Überblick in Kapitel 8 ergeben hat, werden Gefährlichkeitsprognosen durchgängig schon für die Anordnung kriminalrechtlicher Maßregeln vorausgesetzt. Darüber hinaus spielen solche Prognosen bei der Vollstreckung der meist auf unbestimmte Zeit verhängten freiheitsentziehenden Maßregeln eine besondere Rolle: die Dauer des Aufenthalts im Maßregelvollzug bestimmt sich in erster Linie danach, wann die festgestellte Gefährlichkeit so weit verringert ist, daß eine Aussetzung angezeigt ist. Bevor versucht wird, Gefahrbegriffe für die freiheitsentziehenden Maßregeln auszudifferenzieren, wird im folgenden zunächst ein weiteres Grundproblem aller individualpräventiven Interventionen gewissermaßen vor die Klammer gezogen: das Erfordernis von Prognosen über den Verlauf möglicher Gefährdungen. In diesem Kapitel wird skizziert, welche Methoden für Gefährlichkeitsprognosen herangezogen werden können und welche Aussagen sie gestatten.
A. Vorhersagen und ihre Grenzen Alle individualpräventiven Sanktionen beruhen letztlich auf der Möglichkeit von Prognosen. Die Verhinderung von Rückfällen in die Kriminalität vor allem nach der Verbüßung von Freiheitsstrafen ist seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein herausragendes Ziel der Kriminalpolitik; Rückfallraten gelten seit langem als Indikatoren der individualpräventiven Wirksamkeit kriminalrechtlicher Sanktionen.1 Dementsprechend ist die Suche nach Prognoseverfahren, die es gestatten, besonders rückfallgefährdete Straftäter zuverlässig und zugleich möglichst frühzeitig zu identifizieren, bereits seit einigen Jahrzehnten Gegenstand der empirischen Kriminologie.
I. Kriminalpolitische Strategien Wichtige Impulse hat das mehrfach replizierte Ergebnis der Kohortenforschung geliefert, daß eine Minderheit von rund einem Fünftel aller jungen Männer, die irgendwann Straftaten begehen, bei der Mehrzahl der Delikte als Täter auftritt.2 Wie der historische Rückblick gezeigt hat, blicken kriminalpolitische Strategien Siehe etwa Kaiser (1996: 523 ff.) und neuestens Jehle (2001). Zuerst Wolfgang et al. (1972: 88 f.); nach anderen Untersuchungen wie Schumacher / Kurz (2000) und Shannon (1991: 99 ff.) ist die Problemgruppe noch deutlich kleiner. Zusammenfassend Farrington (1997: 374 f.). 1 2
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der „Unschädlichmachung“ von Rückfalltätern, die von der langfristigen Inhaftierung der „gefährlichen“ Täter eine dauerhafte Reduzierung der Kriminalität erhoffen, auf eine lange Tradition zurück. Unter der Bezeichnung „incapacitation“ gewinnen sie seit 1970 in den USA, aber in geringerem Ausmaß auch in Großbritannien eine Bedeutung, die durch bisher nie erreichte Gefangenenraten gekennzeichnet ist.3 Dabei lassen sich zwei Spielarten unterscheiden.4 Die schlichtere besteht darin, anhand von Merkmalen wie der Verurteilung wegen eines schweren Delikts oder einer gewissen Anzahl von Rückfalltaten eine breite Kategorie von Personen zu bestimmen, gegen die zwingend eine besonders lange Sicherungsstrafe verhängt wird. Das wurde 1975 von James Wilson vorgeschlagen.5 Die jüngste Ausprägung dieser Form stellen die seit 1993 im Bundesrecht der USA und in rund der Hälfte der Einzelstaaten eingeführten Gesetze dar, die allein aufgrund einmaliger oder zweifacher Rückfälligkeit in ihrer Dauer unbestimmte Freiheitsstrafen vorsehen; in Anlehnung an eine Baseball-Regel firmieren sie unter der populistischen Devise „Three strikes and you’re out“.6 Gezieltere Sicherungsstrategien erheben dagegen den Anspruch, lediglich einzelne potentielle Straftäter zu treffen, die als besonders „gefährlich“ angesehen werden. In der angloamerikanischen Diskussion wird dieses Vorgehen als „selective incapacitation“ gekennzeichnet.7 Erst diese Form ist von individuellen Gefährlichkeitsprognosen abhängig. In Deutschland ist die Prognoseforschung von ihrem Beginn in den 1930er Jahren an eng mit dem Maßregelrecht verknüpft.8 Sie schließt damit an bereits etwas früher einsetzende umfangreiche Studien in den USA an, die sich allerdings mit Entlassungsprognosen bei unbestimmten Freiheitsstrafen und mit der Entstehung von Jugenddelinquenz beschäftigen.9 Trotz dieser langen Tradition hat die Prognoseforschung kaum Erträge vorzuweisen, die in der Gerichtspraxis unmittelbar angewendet werden könnten. Neuere Beiträge zumindest in der deutschsprachigen Garland (2001: 12 ff., 209). Greenberg (1975); Mathiesen (1998). 5 Wilson (1975: 193 f., 223 ff.); diese Strategie wird meist als „collective incapacitation“ bezeichnet. 6 Mathiesen (1998: 464) nennt dies nicht zu Unrecht „the crude American version of the collective variant“. Der Überblick von Austin et al. (1999) kommt zu dem Ergebnis, daß diese Gesetze mit Ausnahme des Bundesstaats Kalifornien kaum über das frühere Sanktionenrecht hinausgehen, daß in Kalifornien aber erhebliche regionale Ungleichheiten in der Gesetzesanwendung bestehen. 7 Zu dieser Bezeichnung neben dem bereits recht kritischen frühen Beitrag von Greenberg (1975) etwa die weithin bekannte Studie von Greenwood / Abrahamse (1982), der in der kriminalpolitischen Diskussion allerdings eine Bedeutung beigelegt wird, die durch ihre methodische Qualität nicht gerechtfertigt wird. Zusammenfassend zu der umfangreichen Kritik an diesem Ansatz Auerhahn (1999). 8 Einflußreich für die Forschung in Deutschland ist ein Reisebericht von Exner (1935: 530 ff.). 9 Zu diesen frühen Studien etwa Exner (1935: 534 ff.) und Jones (1996: 36 f.). 3 4
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Literatur zeigen nicht selten eine gewisse resignative Skepsis: man fragt sich, ob es überhaupt etwas Neues zu berichten gibt, und besänftigt verbleibende Zweifel mit dem Hinweis auf die enorme Bedeutung von Prognosen im Sanktionen- und Strafverfahrensrecht.10 Denn das geltende Sanktionenrecht ist seit der Strafrechtsreform durch einen prinzipiellen kriminalpolitischen Optimismus im Hinblick auf die praktischen Möglichkeiten der Vorhersage menschlichen Verhaltens geprägt. Der Anspruch, der damit gerade an Gefährlichkeitsprognosen gestellt wird, greift sehr hoch: es geht um die Vorhersage relativ seltener Verhaltensweisen unter kaum einschätzbaren situativen Bedingungen für lange Zeiträume.11 Dabei setzt gerade das Maßregelrecht allerdings nicht allein auf die Fähigkeiten von Richterinnen und Richtern, sondern auf diejenigen psychowissenschaftlicher Sachverständiger. Hier liegt ein wichtiger Ansatzpunkt für Verbesserungen der Methodik. Diese hängen jedoch von Voraussetzungen ab, die für alle Prognoseformen gelten.
II. Das Problem der niedrigen Basisrate Eine wichtige Begrenzung für die Güte prognostischer Aussagen läßt sich anhand des Bayes-Theorems verdeutlichen, einem bereits seit dem 18. Jahrhundert bekannten mathematischen Ansatz zur Beurteilung der Auswirkungen von Entscheidungen unter Unsicherheit. Danach hängt die Wahrscheinlichkeit, daß ein bestimmtes Entscheidungsverfahren tatsächlich imstande ist, zwischen zwei Gruppen von Elementen zu unterscheiden, nicht nur von den Wahrscheinlichkeiten zutreffender und unzutreffender Prognosen ab, sondern auch von der Basisrate, mit der das vorherzusagende Ereignis überhaupt in der Population auftritt. Geht es um Vorhersagen von Ereignissen, die nur selten vorkommen, so führt selbst ein vergleichsweise genaues Testverfahren zu einer großen Zahl falscher Vorhersagen.12 Kriminalprognosen beziehen sich in ihrer allgemeinsten Form auf das Vorkommen bestimmter Delikte in der Bevölkerung eines geographischen Gebiets in einem bestimmten Zeitraum. Die Basisrate schwerer Delikte läßt sich für Länder mit einer annähernd zuverlässigen polizeilichen Kriminalstatistik für den Zeitraum eines Jahres angeben, wenn man davon ausgeht, daß die Dunkelziffer solcher Taten relativ gering ist.13 Für versuchte und vollendete vorsätzliche Tötungsdelikte in Deutschland kann man dementsprechend für das Jahr 2001 eine Basisrate berechnen, indem die Gesamtzahl der polizeilich registrierten vorsätzlichen Tötungsdelikte – sie beträgt für Taten nach §§ 212 und 211 StGB 2.641 erfaßte Fälle – auf die Wohnbevölkerung bezogen wird; auf diese Weise ergibt sich eine Häufigkeitszahl von 3,2 Delikten pro 100.000 Personen mit Wohnsitz in Deutschland.14 Diese 10 11 12 13 14
So z. B. Jung (1986), Kaiser (1996: 959 f., 970) und Nedopil (1995). Dahle (1997: 122 ff.); Endres (2000: 68). K.-R. Koch (2000: 13 ff.); Meehl / Rosen (1955: 199 ff.); Wickmann (1990: 9 f., 36 ff.). Kinzig (1996: 85). Bundeskriminalamt (2001: 137).
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Aussage bezieht sich allerdings lediglich darauf, wie häufig Straftaten ermittelt werden, welche die Polizei als Tötungsdelikte definiert15; als Basisrate für Gefährlichkeitsprognosen wäre sie wirklichkeitsfremd, weil sie sich auf die gesamte Bevölkerung bezieht. Solche Prognosen kommen etwa bei der Entscheidung über die Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel nicht für das Verhalten beliebiger Personen in Betracht, sondern für solche, die eine gewisse strafrechtliche Vorbelastung aufweisen, insbesondere mit Gewaltdelikten. Das bedeutet zugleich, daß sich entsprechende Daten nicht mehr den offiziellen Statistiken entnehmen lassen. Statt dessen ist es erforderlich, auf Ergebnisse empirischer Untersuchungen zurückzugreifen. Dafür soll eine Studie über eine Untersuchungsgruppe von Tätern herangezogen werden, die bereits eine Vorverurteilung wegen eines vorsätzlichen Tötungs- oder Körperverletzungsdelikts oder wegen einer entsprechenden Rauschtat aufwiesen. Für diese Gruppe kommen Rode und Scheld aufgrund einer Gesamterhebung von Urteilen wegen Tötungsdelikten zu einer Rückfallquote von rund 2 %.16 Von diesem empirisch ermittelten Wert kann man ausgehen, will man die Auswirkungen unscharfer Gefährlichkeitsprognosen abschätzen. Ein Theorem, das nach dem britischen Geistlichen Thomas Bayes benannt wurde17, wird in der Statistik üblicherweise mit folgender Gleichung erläutert: P
E1 jE P
E1 P
EjE1 : P
E1 P
EjE1 P
E10 P
EjE10
Dabei steht P für eine Wahrscheinlichkeit, E für eine positive Gefährlichkeitsprognose (in dem Sinne, daß ein schweres Rückfalldelikt erwartet wird), E1 für ein schweres Rückfalldelikt, E10 für das Ausbleiben eines schweren Rückfalldelikts. Dann bezeichnet P
E1 die Wahrscheinlichkeit eines schweren Rückfalldelikts, also die Basisrate, P
EjE1 die Wahrscheinlichkeit einer positiven Prognose unter der Bedingung, daß ein schweres Rückfalldelikt eintritt, also die Vorhersagenauigkeit. P
E10 bezeichnet demgegenüber die Wahrscheinlichkeit, daß es zu keinem schweren Rückfalldelikt kommt, wobei gilt: P
E10 1
P
E1
P
EjE10 ist die Wahrscheinlichkeit einer positiven Gefährlichkeitsprognose unter der Bedingung, daß ein schweres Rückfalldelikt ausbleibt. P
E1 jE ist die Größe, die bestimmt werden soll; sie bezeichnet die Wahrscheinlichkeit eines schweren Rückfalldelikts unter der Bedingung, daß eine Prognose dieses Inhalts 15 Dabei treten Diskrepanzen zur Beurteilung der Justiz – etwa durch Herabstufung eines von der Polizei als versuchter Totschlag registrierten Delikts zu einer gefährlichen Körperverletzung – auf, die hier vernachlässigt werden. 16 Rode / Scheld (1986: 40 f.). 17 Gigerenzer (2002: 71 ff.); Kinzig (1996: 86); K.-R. Koch (2000: 14); Meehl / Rosen (1955: 200).
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
gestellt wurde. Setzt man in diese Formel eine im Vergleich zu dem empirisch ermittelten Wert um den Faktor 10 erhöhte fiktive Basisrate von 20 % ein, so ergibt sich bei einer Vorhersagegenauigkeit von 50 % und einer Wahrscheinlichkeit unzutreffender Prognosen von 25 % folgender Ausdruck: P
E1 jE 0; 2 < 0; 5 :
0; 2 < 0; 5 0; 8 < 0; 25 0; 3333
Das bedeutet, daß schon unter diesen – wenig realistischen – Voraussetzungen aus einer gedachten Gruppe potentieller Straftäter nur jede dritte Person zu Recht als „gefährlich“ eingestuft wird.18 Dieser Zusammenhang läßt sich einfacher darstellen, wenn man sich eine Gruppe von 1.000 Personen vorstellt, die bereits ein Gewaltdelikt begangen haben (Abbildung 2).19 a) fiktive Basisrate: 20 % 1.000 Gewalttäter
200 mit weiterem Delikt
800 ohne weiteres Delikt
negativ 100
positiv 100
positiv 200
negativ 600
b) empirisch gemessene Basisrate: 2 % 1.000 Gewalttäter
20 mit weiterem Delikt
positiv 10
980 ohne weiteres Delikt
negativ 10
positiv 245
negativ 735
Abbildung 2: Vereinfachte Darstellung der Bayesschen Regel
Kap. 11: Voraussetzungen und Formen von Gefährlichkeitsprognosen
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Die fiktive Basisrate von 20 % bedeutet, daß aus dieser Gruppe immerhin 200 Personen ein weiteres Delikt begehen. Das gedachte Prognoseverfahren gestattet es, dies bei 100 von ihnen richtig vorherzusagen. Aber zugleich werden weitere 200 Personen als „gefährlich“ eingestuft, die kein weiteres Delikt begehen. Damit verwirklicht sich die Gefahr eines weiteren Delikts nur bei jeder dritten Person, die als „gefährlich“ bezeichnet wurde. Setzt man dagegen – wie im unteren Teil der Abbildung – die tatsächlich gemessene Basisrate von 2 % ein, so vermindert sich der Anteil korrekter Prognosen drastisch: es wird nur noch jede 25. Person zu Recht als „gefährlich“ bezeichnet. Denn nun bezieht sich der hohe Anteil falsch positiver Gefährlichkeitsprognosen auf eine größere Gruppe von 980 Personen, die kein weiteres Delikt begehen. Daß die wenigen, bei denen sich die Rückfallgefahr realisiert, zur Hälfte im voraus richtig als „gefährlich“ eingestuft wurden, wirkt sich nun weit weniger aus. Die Überschätzung der Gefährlichkeit steigert sich also weiter, wenn die Prognosemethode weniger zuverlässig ist, als im Ausgangsbeispiel angenommen wird. Je ungenauer die verfügbaren Prognosemethoden sind, desto problematischer ist damit die niedrige Basisrate schwerer Delikte.20
III. Die Legitimität von Gefährlichkeitsprognosen Die Frage nach der Legitimität von Gefährlichkeitsprognosen, die mit dem Ziel einer Sicherung vor schweren Delikten angestellt werden, läßt sich selbstverständlich nicht mathematisch beantworten. Für diese Frage spielt es aber eine Rolle, ob die Aussicht besteht, die Qualität der vorhandenen Prognoseverfahren zu verbessern. Das ist keineswegs ausgemacht. Noch die neueste Forschungsliteratur ist in ihren Einschätzungen der Zukunft von Gefährlichkeitsprognosen gespalten. Auf der einen Seite gibt es Aussagen, die von sichtlicher Erleichterung darüber geprägt sind, daß die Gerichte weiterhin vor allem in der Psychiatrie verbreitete klinische Prognosen akzeptieren, obwohl deren Treffsicherheit im allgemeinen durchaus in Frage steht. Die Vertreter dieser optimistischen Sichtweise setzen auf umfangreiche Forschungsprogramme und vertrauen darauf, daß diese eine Verbesserung der bisherigen Prognosemethoden zur Folge haben werden.21 Andererseits gibt es methodisch anspruchsvolle Studien, deren Ergebnisse kaum über die Erkenntnis hinweghelfen, daß die Vorhersagegenauigkeit bei klinisch ausgebildeten Psychiatern ebenso wie bei Laien ohne gutachterliche Erfahrung sehr gering sein kann.22 Zu diesem Beispiel Kinzig (1996: 85 f.). Die Darstellung folgt dem Vorschlag von Gigerenzer (2002: 72). 20 Chaiken et al. (1994: 224 f.); Kinzig (1996: 85); Kühl / Schumann (1989: 131); Nedopil (2000: 242 ff.). 21 So etwa Monahan (1996). 22 Menzies / Webster (1995: 773 ff.) verbergen ihre Desillusionierung angesichts dieser Ergebnisse nicht, setzen aber gleichwohl auf weitere Forschungen. Hierzu auch Mathiesen 18 19
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Noch weiter geht eine radikale Kritik der Prognoseforschung: sie bestreitet grundsätzlich, daß individuelles Verhalten vorhersagbar ist. Denn die methodologischen Voraussetzungen der Verläßlichkeit und Gültigkeit könnten Gefährlichkeitsprognosen nicht erfüllen. Alle vorhandenen Prognosemethoden seien weniger leistungsfähig als eine Vorhersage, die durch Münzenwerfen oder Würfeln im Gerichtssaal getroffen werde.23 Obwohl es mehrere – vor allem ältere – Studien gibt, die tatsächlich zu diesem Schluß kommen24, wird der Forschungsstand damit jedoch ziemlich einseitig beschrieben. Bestimmte Prognosemethoden erheben berechtigterweise den Anspruch, besser abzuschneiden als der Zufall.25 Zuzugeben ist, daß alle Prognosen prinzipiell auch falsche Vorhersagen in Kauf nehmen. Deshalb wird die Kritik teilweise auch rechtsethisch gewendet. An einigen Prognoseinstrumenten fällt nämlich auf, daß Gesichtspunkte wie längere Voraufenthalte im Strafvollzug, Lebensalter, Suchtmittelkonsum oder Arbeitslosigkeit als Prädiktoren von Gefährlichkeit und damit zur Begründung kriminalrechtlicher Sanktionen herangezogen werden, obwohl dieselben Merkmale im Rahmen der Strafzumessung als Milderungsgründe gelten.26 Und aus einer stigmatisierungstheoretischen Perspektive ist die Forderung konsequent, Prognosen für nicht hinnehmbar zu erklären, die auf Merkmale der Legalbiographie gestützt werden.27 Daß solche Merkmale verbreitet als Grundlage für Gefährlichkeitsprognosen herangezogen werden, ist jedoch durchaus nachvollziehbar. Sie lassen sich nicht nur mit geringem Aufwand ermitteln, sondern besitzen nach zahlreichen empirischen Studien auch einen vergleichsweise hohen Erklärungswert. Genau besehen zielt diese Kritik nicht bloß auf Gefährlichkeitsprognosen, sondern auf individualpräventiv begründete Sanktionen insgesamt. Übrig bleibt damit entweder ein Kriminalrecht, das jeden Blick in die Zukunft vermeidet, oder die Abschaffung des Kriminalrechts – wobei die Legitimität einer Sicherung vor „gefährlichen“ Straftätern nicht bestritten wird.28 Eine solche Fundamentalkritik verkennt, daß Erwartungen an fremdes Verhalten zu den wesentlichen Orientierungen sozialen Handelns im Alltag gehören. Soziologische Handlungstheorien können diesen Gesichtspunkt verdeutlichen. Akteure gehen im Lauf ihres alltäglichen Handelns ständig davon aus, daß es sinnvoll ist vorherzusehen, was andere im nächsten Augenblick tun werden:
(1998: 460 f.), der das Festhalten an dieser Forschungstradition wissenschaftssoziologisch zu erklären sucht. 23 Hinz (1987: 76); für intuitive Prognosen auch Kühl / Schumann (1989: 130). 24 In dieser Richtung Menzies / Webster (1995: 776) und Steadman (1980: 90 f.). 25 Zusammenfassend Chaiken et al. (1994: 231 ff.); Endres (2000: 75 ff.); Monahan (1996: 111 ff.). 26 Mathiesen (1998: 464 f.). M. Köhler (1997: 589) argumentiert von Gerechtigkeitsprinzipien ausgehend in derselben Richtung. 27 Kühl / Schumann (1989: 146 ff.). 28 Schumann (1995).
Kap. 11: Voraussetzungen und Formen von Gefährlichkeitsprognosen
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„Wir warten das Tun und Lassen des anderen nicht immer ab, um dann darauf zu antworten. Wir richten uns vielmehr wesentlich auch nach dem erwarteten zukünftigen Verhalten anderer. Wir orientieren uns an etwas, was noch gar nicht passiert ist, oder – dies soll hier eingeschlossen sein – an etwas, von dem wir noch gar nicht wissen können, ob es schon passiert ist.“29
Und diese Verhaltenserwartungen beziehen sich wesentlich auf Verhaltensregelmäßigkeiten, die für bestimmte Situationen charakteristisch sind, welche einander gleich gesetzt werden.30 Solche Erwartungen kommen auch im Zusammenhang mit Kriminalität zum Tragen. So dürfte die Entscheidung zur Anzeigeerstattung durch Kriminalitätsopfer unter anderem von deren Vorstellungen darüber abhängen, was die Polizei zur Aufklärung der Tat unternehmen wird. Ob die Polizei ihrerseits gegenüber der Staatsanwaltschaft vorschlägt, gegen eine tatverdächtige Person einen Haftbefehl zu beantragen, wird von Erwartungen an die Reaktionsweise der Strafverfolgungsbehörde in einem solchen Fall abhängen. Wenn Praktiker der Kriminaljustiz und psychowissenschaftliche Sachverständige Kriminalprognosen stellen, systematisieren sie letztlich Erkenntnisprozesse, die auch außerhalb dieses professionellen Zusammenhangs eine wichtige Rolle spielen. Kriminalpolitische Orientierungen dieser Akteure sind insoweit möglicherweise von geringerer Bedeutung, als manchmal vermutet wird: „Praktiker handeln auch dann der Substanz nach mit prognostischer Orientierung, wenn sie keine ausdrücklichen Prognosen stellen oder sogar ausdrücklich ablehnen, sich ihrer prognostischen Einschätzung zu vergewissern.“31
Trifft diese Annahme zu, so weist ein individualpräventiv orientiertes Sanktionenrecht den Vorzug auf, prognostische Entscheidungen offen zu legen. Allerdings haben fehlerhafte Vorhersagen im Alltag meist ungleich weniger gravierende Folgen als fehlerhafte Kriminalprognosen. Deshalb ist es wichtig, das Fehlerpotential von Prognosen näher zu betrachten.
IV. Das Fehlerpotential Kriminalprognosen können sich in zweierlei Hinsicht als unzutreffend erweisen. Einerseits gibt es Situationen, in denen Straftäter als wenig „gefährlich“ eingeschätzt werden, weswegen auf eine Intervention verzichtet oder deren Intensität zumindest abgemildert wird, obwohl ein erneutes Delikt droht. Solche Fehlprognosen werden im nachhinein vor allem dann aufgedeckt, wenn sie im Zusammenhang mit Vollzugslockerungen oder (vorzeitigen) Entlassungen aus dem Straf- und 29 30 31
Popitz (1980: 1 f.) – Hervorhebung im Original. Popitz (1980: 4 f.). Kerner (1996: 76).
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Maßregelvollzug gestellt werden und sich im Anschluß als unrichtig erweisen, weil es zu einer gravierenden Tat kommt.32 Sie sind aber auch bei der Entscheidung über die Anordnung einer Maßregel nicht prinzipiell ausgeschlossen. In der internationalen Literatur hat sich für diese Gruppe die Bezeichnung „false negatives“ eingebürgert, weil die Frage nach der Gefährlichkeit zu Unrecht verneint worden ist.33 Umgekehrt spricht viel für die Annahme, daß es nicht wenige Situationen gibt, in denen das Kriminalitätsrisiko überschätzt wird.34 Betroffen sind solche Täter, die zu Unrecht als (noch) „gefährlich“ angesehen werden; daher werden sie im internationalen Sprachgebrauch als „false positives“ bezeichnet. Anders als die Täter mit einer günstigen Prognose haben sie kaum eine Chance, die Triftigkeit der Vorhersage auf die Probe zu stellen; das sollen kriminalrechtliche Maßregeln und Strafen ja gerade verhindern. Wenn dies nicht reflektiert wird, kann der falsche Eindruck entstehen, daß Prognosen sich hauptsächlich in der umgekehrten Richtung der zu seltenen Annahme einer Gefährlichkeit als unrichtig erwiesen. Hier liegt ein wesentlicher Einwand gegen unstrukturierte Prognoseverfahren.35 Die Häufigkeit unzutreffender Überschätzungen der Gefahr erneuter Delikte läßt sich in der Rückschau quantifizieren, wenn externe Einflüsse ein unbeabsichtigtes Feldexperiment auslösen. Am bekanntesten sind zwei ältere Beispiele aus den USA, die jeweils die Unterbringung psychisch gestörter Straftäter betreffen. In beiden Fällen wurde durch eine gerichtliche Grundsatzentscheidung eine bislang akzeptierte Rechtsgrundlage von Freiheitsentziehungen für verfassungswidrig erklärt. In seiner Entscheidung zu dem Fall Baxstrom versus Herold konkretisierte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten im Jahr 1966 die Anforderungen für die Unterbringung von Straftätern in einer psychiatrischen Einrichtung im Anschluß an die Strafverbüßung. Der Supreme Court fordert für eine solche Unterbringung eine gerichtliche Feststellung der Gefährlichkeit und die Statthaftigkeit des Verfahrens vor einem Geschworenengericht.36 Infolge dieser Entscheidung wurden im Bundesstaat New York rund 970 Verurteilte, die durchschnittlich bereits 14 Jahre lang in zwei spezialisierten Einrichtungen für psychisch gestörte Straftäter untergebracht waren, ohne daß diese prozeßrechtlichen Voraussetzungen erfüllt waren, innerhalb einiger Monate in weniger gesicherte allgemeinpsychiatrische Krankenhäuser verlegt und von dort zu einem großen Teil entlassen. Eine katamnestische Studie mit einem einheitlichen Beobachtungszeitraum von 4 Jahren seit der Verlegung ergab, daß lediglich ein Sechstel der Baxstrom-Patienten Eine empirische Untersuchung solcher Fehlprognosen bei Pierschke (1999). Siehe zum Sprachgebrauch etwa Eisenberg (2000: 173 Fn. 4). 34 Greenberg (1975: 545 ff.); Kühl / Schumann (1989: 130 ff.); Mathiesen (1998: 461); Schöch (1998b: 1248 ff.). 35 Dahle (1997: 131); Hinz (1987: 71). 36 Baxstrom v. Herold, 383 U.S. 107 (1966). Zur Geschichte dieser Entscheidung ausführlich Steadman / Cocozza (1974: 45 ff.). 32 33
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innerhalb dieser Zeit in der Allgemeinpsychiatrie durch ein Gewaltdelikt gegen andere Personen auffielen und von den in die Freiheit entlassenen Patienten ebenfalls nur 15 % wegen eines solchen Delikts festgenommen oder erneut psychiatrisch untergebracht wurden. Daraus wird geschlossen, daß der überwiegende Teil dieser Patienten zu Unrecht als „gefährlich“ angesehen wurde.37 Der zweite breit diskutierte Beispielsfall Dixon versus Attorney General of the Commonwealth of Pennsylvania geht auf eine parallele Entscheidung des U.S. District Court for the Middle District of Pennsylvania aus dem Jahr 1971 zurück38, aufgrund der rund 590 psychisch gestörte Straftäter aus einer spezialisierten Einrichtung, dem Farview State Hospital, in die Allgemeinpsychiatrie verlegt wurden. Diese Patienten waren ebenfalls seit durchschnittlich 14 Jahren in der hoch gesicherten Einrichtung untergebracht. Unter den mehr als 400 Personen, die während einer Beobachtungszeit von vier Jahren entlassen wurden oder entwichen, wurden lediglich 15 % wegen irgendeiner Form von Gewalt gegen Personen registriert. Der Anteil der zu Unrecht als „gefährlich“ bezeichneten Patienten liegt also ähnlich hoch wie in der Gruppe der Baxstrom-Patienten in New York.39 Wegen der Zusammensetzung der Patientengruppen wird die Übertragbarkeit der Ergebnisse der empirischen Untersuchungen zu den Baxstrom- und Dixon-Patienten auf deutsche Verhältnisse angezweifelt.40 Zudem weisen zumindest die Autoren der Studie aus Pennsylvania darauf hin, daß die ausgewerteten Polizeidaten zur registrierten Kriminalität unvollständig sind.41 Allerdings dürfte es sich um Untersuchungen handeln, die schon wegen der Anzahl der als „gefährlich“ apostrophierten Personen, die innerhalb kurzer Zeit entlassen wurden, einzigartig sind. Sucht man nach Anlässen für ähnliche Feldexperimente in Deutschland, ist zunächst an die Patienten zu denken, die infolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Fall „Paul L. Stein“ kurzfristig aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug entlassen wurden; über diese Gruppe liegt jedoch keine Studie vor.42 Des weiteren gibt es durchaus Verurteilte, die trotz schlechter Prognose in Freiheit kommen: etwa durch Entweichungen aus dem Vollzug, wegen Ablaufs einer zeitigen Freiheitsstrafe oder nach einer Aussetzung der Vollstreckung entgegen gutachterlicher Empfehlung. Auch diese Gruppen bieten Forschungsansätze, wenn man bestimmen will, wie stark die Gefahr weiterer Kriminalität überschätzt Steadman / Cocozza (1974: 106, 151). Dixon v. Attorney General of the Commonwealth of Pennsylvania, 325 F. Supp. 966 (M.D.Pa. 1971). 39 Thornberry / Jacoby (1979: 190). 40 Schöch (1998b: 1249); anders Horstkotte (1983: Rn. 57 zu § 67c StGB), der zwischen psychiatrischer Unterbringung und Sicherungsverwahrung differenziert. 41 Thornberry / Jacoby (1979: 46, 179). 42 BVerfG, Beschluß vom 8. Oktober 1985 – 2 BvR 1150 / 80 u. a. (= BVerfGE 70, 297). Die Untersuchung von Bechtoldt (2002: 139 ff.) liefert – auch aufgrund methodischer Schwierigkeiten – nur einen ersten Ansatzpunkt. 37 38
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
wird.43 Solche Fragen sind in der deutschen Kriminologie bisher nur vereinzelt erforscht worden. So ergeben sich nach einer niedersächsischen Studie über Strafgefangene, denen mit dem Ziel einer Milderung der 1983 bestehenden Gefängnisüberfüllung ein Vollstreckungsaufschub (§ 455a StPO) gewährt wurde, Unterschiede in der Legalbewährung vor allem gegenüber Vollverbüßern von Freiheitsstrafen, nicht aber gegenüber einer Vergleichsgruppe mit Strafrestaussetzung (§ 57 StGB).44 Selbst für die traditionell als prognostisch besonders ungünstig eingestuften Vollverbüßer wird aber aufgrund empirischer Forschungsergebnisse zur Führungsaufsicht behauptet, daß ihre Gefährlichkeit überschätzt werde.45 Für diese Annahme sprechen auch Ergebnisse einer britischen Untersuchung über die vorzeitige Entlassung von Sexualstraftätern aus dem Strafvollzug. Danach konnte das Parole Board die Gefangenen, bei denen kein hohes Risiko einer Wiederverurteilung bestand, recht gut identifizieren; umgekehrt erwiesen sich aber die Prognosen einer hohen Rückfallgefahr nach einem Beobachtungszeitraum von vier bis sechs Jahren nur zu einem kleinen Teil als zutreffend.46
B. Zur Methode von Kriminalprognosen Für kriminalprognostische Aussagen werden traditionell verschiedene Methoden diskutiert, die unterschiedlichen Traditionen entstammen und sich auch im Grad ihrer Systematisierung unterscheiden. In der deutschsprachigen Literatur am gebräuchlichsten ist eine Einteilung in statistische, klinische und intuitive Prognoseverfahren. Solche Ordnungsvorschläge lassen sich sinnvoll als Idealtypen begreifen. In der Praxis verbinden sich meist Elemente unterschiedlicher Ansätze, und eine solche Kombination von Prognoseverfahren wird zur Absicherung der Ergebnisse in der Literatur zunehmend gefordert.47
I. Statistische Methoden Statistische Prognoseverfahren versuchen, aus den Erkenntnissen quantitativer empirischer Rückfalluntersuchungen über bestimmte Tätergruppen Gesichtspunkte zu ermitteln, die als Prädiktoren für die Legalbewährung gelten können. Diese werden für Anwendungszwecke meist in Prognosetafeln zusammengestellt. Nach einfachen Instrumenten dieser Art wird für jedes vorliegende Merkmal ein Punkt vergeben, ohne daß Gewicht oder Intensität berücksichtigt werden. Als Merkmale Volckart (1997: 48). Ein Beispiel ist die ältere Studie von Kozol et al. (1972: 389 ff.). Berckhauer (1986). 45 Jacobsen (1985a). 46 Hood et al. (2002: 381). 47 Dahle (1997: 126 f.); als Forderung wird dies ausdrücklich formuliert bei Endres (2000: 78) und Horstkotte (1983: Rn. 52 zu § 67c StGB). 43 44
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werden etwa „erbliche Belastung durch erhebliche Kriminalität der Eltern und Großeltern“, „Fürsorgeerziehung wegen Straftaten im Alter bis zu vierzehn, Jugendstrafe wegen Straftaten im Alter bis zu sechzehn Jahren“ oder „Rückfall innerhalb der ersten drei Monate nach (eventuell teilweiser) Verbüßung der letzten Vorstrafe einschließlich Jugendarrest“ herangezogen.48 Sogenannte Punktwertverfahren führen eine zusätzliche Gewichtung – etwa auf der Grundlage statistischer Zusammenhänge zwischen biographischen Variablen und Rückfälligkeit49 – ein und kommen dadurch mit weniger Merkmalen aus. Eine Weiterentwicklung stellen Strukturprognosetafeln dar, die aufgrund von Merkmalskombinationen unter Umständen zahlreiche Untergruppen vorsehen können.50 Die Anwendung statistischer Verfahren setzt voraus, daß die Person, deren Begutachtung in Frage steht, derselben Risikogruppe zugerechnet werden kann, anhand derer das Prognoseinstrument entwickelt wurde. Das ist selbst bei Übereinstimmung in Merkmalen wie Alter, Geschlecht oder strafrechtlicher Vorbelastung schon deshalb nicht unproblematisch, weil eine aktuell zu beurteilende Person gerade bei unkritischer Heranziehung älterer Prognosetafeln einer anderen Generation angehören wird. Selbst wenn die Studie zur ursprünglichen „Eichstichprobe“, die zur Entwicklung eines Prognoseverfahrens dient, alle methodologischen Anforderungen der empirischen Sozialforschung erfüllt, wird das Verfahren in einer anderen Stichprobe an Aussagekraft verlieren. Als gewichtigster Vorteil zumindest der ambitionierteren statistischen Ansätze wird ihre vollständig theoriegeleitete Vorgehensweise und die damit gesicherte Nachvollziehbarkeit prognostischer Aussagen angesehen. Im Vergleich zu klinischen Einzelfallanalysen gelten Prognosen auf statistischer Grundlage als überlegen, weil sie weniger von subjektiven Einschätzungen der Beurteiler abhängen.51 Auf der anderen Seite sind statistische Prognosen gerade keine Individualprognosen, sondern Aussagen über Rückfallhäufigkeiten von Personengruppen, die sich durch bestimmte Merkmale kennzeichnen lassen.52 Für individuelle Besonderheiten sind sie von vornherein unsensibel. Hinzu kommt, daß sie unveränderliche Merkmale wie etwa die soziale Herkunft ge48 Die Beispiele stammen aus der anhand einer Untersuchungsgruppe von Jugendlichen und Heranwachsenden mit Verurteilung zu einer bestimmten Jugendstrafe entwickelten Prognosetafel von Klapdor (1967: 204 f.). Diese Tafel besteht aus 17 Merkmalen für Urteils- und 23 Merkmalen für Entlassungsprognosen. 49 Mannheim / Wilkins (1955: 142 ff.) ziehen für junge Gefangene, die zu einer Art unbestimmter Jugendstrafe im britischen Borstal-System verurteilt waren, umgerechnete Korrelationskoeffizienten heran. Ihre Prognosetafel beschränkt sich auf sieben Merkmale. 50 Ein noch recht einfaches Beispiel aus der deutschen Forschung ist das Instrument von P. Schultz (1975: 162), das anhand von Stichproben jugendlicher und heranwachsender Bewährungshilfeprobanden entwickelt und validiert wurde. 51 H.-J. Albrecht (1999: 878); Bonta et al. (1998: 128, 134 f.); Chaiken et al. (1994: 245 f.); Gardner et al. (1996: 606 f.); Jones (1996: 35 f., 62); Rasch (1999: 371). Anders etwa Kaiser (1996: 969) und Steadman et al. (2000). 52 Zur Problematik statistischer Prognosen etwa Dahle (1997: 128 f.); Leferenz (1972: 1365 f.).
13 Dessecker
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
nauso aufführen wie Gesichtspunkte, die prinzipiell veränderlich und therapeutisch beeinflußbar sind. Zudem begünstigen die statistischen Verfahren solche Prädiktorvariablen, die ihrerseits auf Zuschreibungsprozessen beruhen. Das gilt etwa für die immer wieder bestätigte Erkenntnis, daß Straffälligkeit zu einem früheren Zeitpunkt spätere Straffälligkeit am besten erklärt.53 Die in einer langen kriminologischen Forschungstradition entwickelten Prognosetafeln, die teilweise recht differenziert sind, erfreuen sich in der Praxis der deutschen Kriminaljustiz allerdings nur geringer Beliebtheit. Das hängt nicht nur damit zusammen, daß diese Form der Prognoseforschung in Deutschland seit rund 25 Jahren zum Erliegen gekommen ist54, sondern auch mit dem Aufwand, der mit der erforderlichen Datenerhebung verbunden ist. Allerdings werden neuerdings in Zusammenarbeit mit deutschen Einrichtungen des psychiatrischen Maßregelvollzugs statistisch abgesicherte Prognoseinstrumente entwickelt, die mit klinischen Prognosen bei der Entscheidung über Vollzugslockerungen und bei Stellungnahmen zur Fortdauer der Unterbringung verbunden werden.55 Teilweise werden auch Prognoseinstrumente „importiert“, vor allem aus Kanada.56 Als Beispiel sei das vor allem in der forensischen Psychiatrie international verbreitete Instrument HCR-20 genannt, in dem 20 soziobiographische Merkmalen in den drei Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kombiniert werden.57 Zudem befinden sich rechnergestützte Prognoseverfahren im Entwicklungsstadium, die sich bisher jedoch auf kurzzeitige Gefährlichkeitsprognosen für Patienten allgemeinpsychiatrischer Kliniken konzentrieren.58
II. Klinische Methoden Klinische Verfahren gehören zu den überkommenen Werkzeugen der forensischen Psychowissenschaften, vor allem der Psychiatrie, wobei die eingeführte Bezeichnung von der breiten Anwendung dieser Prognosemethoden außerhalb von Krankenhäusern etwas ablenkt; in der Sprache der empirischen Sozialforschung handelt es sich um überwiegend qualitative Methoden. Sie sollen damit besonders geeignet sein, Eigenarten der begutachteten Personen zu dokumentieren. Das bedeutet nicht, daß die professionelle Erfahrung der Gutachterin oder des Gutachters allein maßgeblich sein soll.59 Vielmehr wird auch in diesem Bereich der 53 Bonta et al. (1998: 127 ff.); Gendreau et al. (1996: 582 f.); Horstkotte (1983: Rn. 51 zu § 67c StGB); Kühl / Schumann (1989: 146 f.). 54 Die letzte umfangreiche Untersuchung stammt von P. Schultz (1975). 55 Seifert et al. (2000). 56 Endres (2000: 75 f.); Müller-Isberner (1998). 57 Zu diesem Instrument und zu einer Validierung im kanadischen Strafvollzug Douglas / Webster (1999). 58 Steadman et al. (2000). 59 In dieser Richtung allerdings noch Leferenz (1972: 1374 ff.).
Kap. 11: Voraussetzungen und Formen von Gefährlichkeitsprognosen
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Anspruch eines wissenschaftlich begründeten Vorgehens erhoben. Allerdings fungieren Kriminalitätstheorien und empirische Befunde eher als Orientierungspunkte für die Erstellung eines Erklärungskonzepts, aus dem sich eine individuellen Kriminalprognose entwickeln läßt. Dementsprechend wird versucht, „eine für den Einzelfall gültige individuelle Handlungstheorie der Kriminalität“ 60 der fraglichen Person zu erarbeiten, wobei verschiedene Dimensionen betrachtet werden können. Dieses Modell unterscheidet für die Situation der Entlassung aus dem Vollzug die bisherige Delinquenz, das Verhalten seit der letzten Tat, den aktuellen Persönlichkeitsquerschnitt sowie die Perspektiven für die zukünftige Lebensgestaltung.61 Für die Heranziehung klinischer Prognosen spricht im Maßregelrecht schon das Gesetz: die Vorschrift des § 246a StPO fordert die Einschaltung von Sachverständigen, sobald mit der Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel zu rechnen ist. Damit ist allerdings weder etwas über die Ausbildung dieser Sachverständigen gesagt, noch wird eine Heranziehung von Prognoseinstrumenten auf quantitativer Grundlage im Rahmen der Begutachtung abgeschnitten. Die weitgehende Individualisierung klinischer Prognoseverfahren gilt weithin als Vorteil, läßt sie sich doch beinahe paßgenau mit den Zielen individualpräventiver Sanktionen koordinieren. Zugleich ist der klinische Ansatz aber dem Einwand ausgesetzt, daß er eine „Kriterienreduktion“ begünstigt, also eine unangemessene Verengung der Informationsbasis, auf der die gestellte Kriminalprognose aufbaut. Daß diese Gefahr besteht, läßt sich aus Befunden der psychologischen Attributionstheorie ebenso herleiten62 wie aus solchen der empirischen Untersuchungen zum Zustandekommen von Gefährlichkeitsprognosen63 und zur Qualität der Begutachtung.64 Die dafür herangezogenen Beispiele beziehen sich auf die gelegentlich beobachtete Überbewertung der Gefährlichkeit männlicher Probanden65, vor allem aber auf die immer wieder bestätigte Konzentration auf das Sozialverhalten unter Vollzugsbedingungen.66 Allerdings ist klar, daß alle Prognosemethoden darauf abzielen, eine überschaubare Zahl von Kriterien zu berücksichtigen; ihre Aussagekraft muß unabhängig davon überprüft werden, ob die herangezogene Methode eher qualitativ oder eher quantitativ operiert. So der Anspruch von Dahle (1997: 135). Dahle (1997: 135 ff.); Kröber (1999: 596 ff.); Rasch (1999: 374 ff.). 62 Dahle (1997: 130). 63 Hinz (1987: 150 ff.); Rabinowitz / Garelik-Wyler (1999); Seifert et al. (2000). 64 Siehe z. B. Kinzig (1996: 311 ff.) zur Sicherungsverwahrung, Nowara (1995: 124 ff.) und Woynar (2000: 200 ff., 264 ff.) zur Begutachtung im psychiatrischen Maßregelvollzug, aus der internationalen Literatur etwa die kanadische Studie von Menzies / Webster (1995: 773 ff.). Aus dieser Sicht verwundert es nicht, daß die klinische Methode – etwa von Bonta (1996: 19 ff.) und Gendreau et al. (1996: 577 f.) – mit Intuition und Berufserfahrung gleichgesetzt wird. 65 Dazu etwa die Ergebnisse von Rabinowitz / Garelik-Wyler (1999: 104). 66 Rasch (1999: 375); Seifert et al. (2000). 60 61
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Ein möglicher Ausweg dürfte darin liegen, nicht nur die Begutachtungsausbildung in den psychowissenschaftlichen Fächern zu intensivieren, sondern klinische Prognoseverfahren durch Elemente statistischer Instrumente anzureichern. Dies wird beispielsweise in der von Norbert Nedopil entwickelten „integrierten Liste der Risikofaktoren“ praktiziert, die mehrere Variablen aus dem bereits erwähnten Instrument HCR-20 übernimmt.67 In eine ähnliche Richtung gehen Ansätze, die auf Hans Göppinger zurückgehende und bisher eher diagnostisch orientierte Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse für ein Prognoseverfahren nutzbar zu machen.68 III. Intuitive Prognosen Als wesentliche Prognosemethode der Strafrechtspraxis gilt demgegenüber Intuition – vorausgesetzt, daß man ein Vorgehen, das gerade nicht hypothesengeleitet und systematisch erfolgt, sondern eher auf einem allgemeinen Eindruck von der beurteilten Person beruht, auf dieselbe Ebene stellt wie ausgefeiltere Prognoseverfahren.69 Intuitive Prognosen stützen sich auf alltägliche und berufliche Erfahrungen und bieten damit den Vorzug des relativ geringsten Aufwands. Damit beruhen sie auf Grundlagen, ohne die jedenfalls auf der Anwendungsebene wahrscheinlich kein Prognoseverfahren auskommt. Allerdings tendieren vor allem statistische Ansätze dazu, dies herunterzuspielen.70 Der Hauptnachteil des intuitiven Vorgehens wird in dem Verzicht auf eine wissenschaftliche Systematisierung und Absicherung gesehen. Daraus ergibt sich – noch mehr als bei klinischen Prognosen – die Gefahr einer unkontrollierbaren Kriterienreduktion.71 Das schließt nicht aus, daß erfahrene Richter, Staatsanwälte oder Vollzugsbeamte Merkmale heranziehen, deren Bedeutung sich in der Prognoseforschung bestätigt.72 Bestrebungen zu einer Verwissenschaftlichung der Prognosetätigkeit stoßen in der Justiz vielleicht auch deshalb auf Vorbehalte, abgesehen davon, daß auch relativ einfache Prognoseinstrumente nicht ohne vorherige Schulung eingesetzt werden sollten. Das würde zu einer Erhöhung des Arbeitsaufwands führen. Selbst die Methode der „individuell-vergleichenden Einzelfallanalyse“, die den Anspruch erhebt, den Bedürfnissen der Strafrechtspraxis jedenfalls in typischen Strafverfahren wegen Delikten der Eigentums- und VermögensNedopil (2000: 245). Göppinger / Maschke (1997: 447 ff.). 69 Teilweise werden intuitive Prognosen nicht als eigenständige Methode anerkannt, sondern erscheinen nur als Sammelbegriff für fehlerhaftes Vorgehen. So z. B. Endres (2000: 76) und Volckart (1997: 7 f.); relativierend etwa Schöch (1998b: 1254) selbst für Göppingers „angewandte Kriminologie“. Ähnlich schon Leferenz (1972: 1353 f.). 70 Eine Ausnahme ist die Prognosetafel von Frey (1951: 324 ff., 335), bei der eine intuitive Gewichtung der Merkmale vorgesehen ist. 71 Dahle (1997: 129 ff.); Kühl / Schumann (1989: 127). 72 Wyss (1992). 67 68
Kap. 11: Voraussetzungen und Formen von Gefährlichkeitsprognosen
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kriminalität zu entsprechen, ohne dabei eine wissenschaftliche Fundierung zu vernachlässigen73, und die damit über ein bloß intuitives Vorgehen weit hinausgeht, wird wegen des Umfangs der erforderlichen Datenerhebungen kritisiert.74 Entscheidungen, die allein auf intuitiven Gefährlichkeitsprognosen beruhen, werden im Maßregelrecht schon wegen der obligatorischen Begutachtung vor einer Anordnung freiheitsentziehender Maßregeln selten sein. Zu denken ist an Fälle, in denen das Gericht zu einer anderen Prognose gelangt als das Gutachten. Auch dürften sie bei den Maßregeln ohne Freiheitsentziehung eine gewisse Rolle spielen, soweit nicht – wie bei der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 II StGB), also im praktisch weitaus bedeutendsten Fall75 – eine gesetzliche Vermutung den Entscheidungsprozeß vereinfacht.
C. Zusammenfassung Der Überblick führt die prinzipiellen Schwierigkeiten vor Augen, mit denen Gefährlichkeitsprognosen im Kriminalrecht verbunden sind. Präventive Sanktionen setzen, sollen sie nicht gewissermaßen ins Blaue hinein angeordnet und vollstreckt werden, voraus, daß die Zielgruppen, die für diese Sanktionen in Betracht kommen, mit einiger Genauigkeit bestimmt werden können. Das gilt um so mehr, wenn man die Reichweite freiheitsentziehender Sanktionen zu begrenzen versucht. Je enger man den Kreis der Delikte zieht, deren Verhinderung eine freiheitsentziehende Maßregel rechtfertigen soll, desto mehr verschärft sich das Problem der niedrigen Basisrate schwerer Kriminalität. Dem Dilemma der Ungenauigkeit von Gefährlichkeitsprognosen kann man dadurch Rechnung tragen, daß qualitative wie auch quantitative Methoden weiter systematisiert werden. Dazu werden zumindest in Nordamerika erhebliche Anstrengungen unternommen. In welchem Umfang sie sich für die Praxis des Maßregelrechts deutscher Prägung nutzbar machen lassen, ist noch nicht ausgemacht. Immerhin sind hier wesentlich längerfristige Prognosen gefragt als bei Freiheitsentziehungen, die nicht aus Anlaß von Straftaten erfolgen. Jede Systematisierung von Gefährlichkeitsprognosen kommt aber nicht darüber hinweg, daß Fehlentscheidungen in Kauf genommen werden müssen. Eine perfekte Vorhersage menschlichen Verhaltens kann es nicht geben. Daraus folgt nicht zwangsläufig, daß solche Prognosen von vornherein keine Legitimation besitzen. Soweit sie geeignet sind, schwere Schädigungen anderer Personen zu verhindern, soll ihre Rechtfertigung nicht grundsätzlich bestritten werden. Ein weiteres zentrales Problem der Gefährlichkeitsprognosen liegt allerdings darin, daß eine Überschätzung der Gefährlichkeit potentieller Straftäter systematisch begünstigt wird. 73 74 75
Siehe die Darstellung bei Göppinger / Maschke (1997). Zu dieser Kritik etwa Frisch (1992: 112 f.). Siehe zur Häufigkeit der einzelnen Maßregeln Kapitel 8 B. (S. 133 ff.).
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Auf diese Schwierigkeiten muß das Maßregelrecht insgesamt Rücksicht nehmen. Das ist ein Anspruch, der über den Inhalt der vorliegenden Arbeit hinaus geht. Eine wichtige rechtliche Interventionsmöglichkeit liegt ja gerade darin, einmal getroffene Prognosen auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. In den folgenden Kapiteln wird es lediglich darum gehen, Zielsetzungen und Gefährlichkeitskriterien des Maßregelrechts zu konkretisieren, soweit Freiheitsentziehungen in Frage stehen.
Kap. 12: Gefährlichkeit, Besserung und Sicherung
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Kapitel 12
Gefährlichkeit, Besserung und Sicherung Der Gesetzestext stellt den Vorschriften über Anordnung und Vollstreckung der einzelnen kriminalrechtlichen Maßregeln eine amtliche Überschrift voran, in der die Aspekte der Besserung und Sicherung genannt werden. Eine entsprechende Kennzeichnung fehlt bei den Strafen, obwohl sich der kriminalpolitischen Diskussion der Gegenwart Hinweise entnehmen lassen, daß der Gegensatz von Besserung und Sicherung alle Formen kriminalrechtlicher Sanktionen prägt.1 In diesem Kapitel geht es nicht um eine grundsätzliche Erörterung von Zweckbestimmungen und Zielsetzungen des Maßregelrechts insgesamt, sondern lediglich um eine Vorbereitung der folgenden Teile der Arbeit, die sich auf die drei freiheitsentziehenden Maßregeln des geltenden Rechts konzentrieren.
A. Zur Bedeutung der Zielsetzungen des Maßregelrechts Das Verhältnis von Besserung und Sicherung ist durchaus klärungsbedürftig. Die Nebeneinanderstellung der Begriffe in der Überschrift des Sechsten Titels in dem Abschnitt des Strafgesetzbuches über die Rechtsfolgen der Tat erweckt den Eindruck, daß es sich um Aspekte handelt, die in der Dogmatik des Maßregelrechts auf gleicher Ebene stehen. Man könnte die Reihenfolge der beiden Begriffe, die sich während der geschichtlichen Entwicklung ja mehrfach verändert hat, aber auch als Rangfolge interpretieren, der zufolge dem Aspekt der Besserung als dem zuerst genannten Gesichtspunkt ein Vorrang zukäme. Diese Frage nach der Rangfolge von Besserung und Sicherung wird überlagert von einer zweiten Frage, die sich auf den Status beider Konzepte bezieht. Sind Besserung und Sicherung allgemeine Zielsetzungen des Maßregelrechts, oder handelt es sich bloß um Bezeichnungen für die Methoden, die dazu eingesetzt werden sollen, einen Zweck zu erreichen, der jedenfalls nicht in der gesetzlichen Überschrift angesprochen wird? Diese Eingangsfragen lassen sich anhand der Dogmatik des Maßregelrechts eindeutiger beantworten als nach der Gesetzgebung. Was die frühen Gesetzentwürfe zum Maßregelrecht betrifft, unterscheidet Stooss in seinem ersten Entwurf eines schweizerischen Strafgesetzbuchs nur in rudimentärer Form zwischen Sicherung und Besserung: für Täter mit psychischen Störungen sieht dieser Entwurf in Art. 10 und 11 alternative Entscheidungsformen vor, die sich danach richten, ob eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder bloße Behandlungsbedürftigkeit 1
Schüler-Springorum (2001: 1042).
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
vorliegt.2 Insofern hebt Stooss das Element der Besserung hervor; es soll selbst dann eingreifen, wenn keine Gefährlichkeitsprognose gestellt werden kann. Die deutschen Reformentwürfe seit dem Kommissionsentwurf von 19133 enthalten dagegen alle einen eigenständigen Abschnitt über „Maßregeln der Besserung und Sicherung“. Erst das Gewohnheitsverbrechergesetz kehrt diese Reihenfolge der Begriffe um4, während die Strafrechtsreform in der Bundesrepublik zu der früheren Reihenfolge zurückkehrt. Damit wird der Begriff der Besserung jedenfalls verbal an die erste Stelle gerückt. Diese Änderung der Überschrift wird vom Regierungsentwurf 1962 ebenso vorgeschlagen wie vom Alternativ-Entwurf.5 Die Begründung zum Regierungsentwurf führt dazu aus: „Die kriminalpolitischen Ziele, die zwar auch jede Strafe mit verfolgt, um die es aber in diesem Bereich jenseits der Strafe allein noch geht, sind die Resozialisierung des gefährlichen oder gefährdeten Täters, d. h. seine Wiedereingliederung in die Gemeinschaft, und die Sicherung der Allgemeinheit vor dem gefährlichen Täter. Die Mittel zur Verfolgung dieser Ziele sind die Maßregeln der Besserung und Sicherung, in deren Benennung der Entwurf durch Voranstellung des Besserungsgedankens gegenüber dem geltenden Recht die Rangfolge der Zwecke andeuten will, die er zugrunde legt.“6
Damit werden Besserung und Sicherung als Zwecke des Maßregelrechts vorgeschlagen, während für die zur Erreichung dieser Zwecke vorgesehenen Methoden auf die einzelnen Sanktionen verwiesen wird. Der Aspekt der Besserung wird zugleich verselbständigt und hervorgehoben; mit einem solchen Konzept wäre es vereinbar, kriminalrechtliche Maßregeln auch dann vorzusehen, wenn es an der nach heutigem Recht zentralen Voraussetzung der Gefährlichkeit fehlte. In der Begründung zum Alternativ-Entwurf wird die Formulierung in der Überschrift demgegenüber nicht ausdrücklich angesprochen. Doch wird dort ausgeführt: „Voraussetzung der Maßregel ist stets eine adäquate Gefährlichkeit, Ziel der bestmögliche spezialpräventive Erfolg der Besserung des Täters, subsidiär erst, wenn diese sich als unmöglich erweist, die Sicherung; denn die beste Sicherung ist die Resozialisierung des Täters.“7
Die Begründungen der beiden Entwürfe, aus denen das Maßregelrecht in seiner geltenden Fassung hervorgegangen ist, stimmen demnach darin überein, daß Besserung gegenüber bloßer Sicherung vorrangig ist. Allerdings wird der Status von Besserung und Sicherung nur in der Begründung zum Alternativ-Entwurf aus der Sicht des allgemeinen Zwecks der Gefahrenabwehr bestimmt. 2 3 4 5 6 7
Stooss (1918: 290 ff.); siehe bereits Kapitel 4 A. (S. 70). Siehe dazu Kapitel 4 C. III. und IV. (S. 82 ff.). Kapitel 5 A. (S. 90). Siehe Kapitel 6 A. IV. (S. 114). BT-Drucksache 4 / 650 vom 4. Oktober 1962, S. 207. Baumann et al. (1969: 127).
Kap. 12: Gefährlichkeit, Besserung und Sicherung
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Die Charakterisierung der kriminalrechtlichen Maßregeln durch die Begriffe der Besserung und Sicherung ist nicht erst seit der Strafrechtsreform gebräuchlich; sie geht auf eine lange gesetzgeberische und kriminalpolitische Tradition zurück. Eine solche Einteilung ist in der wissenschaftlichen Diskussion vor Inkrafttreten des Gewohnheitsverbrechergesetzes verbreitet, wo sie sich bereits in Exners „Theorie der Sicherungsmittel“ findet. Exner unterscheidet Strafen und Maßregeln durch ihre unterschiedlichen präventiven Zwecke. Liegt der Hauptzweck der Strafen für ihn in der Generalprävention, so liegt der Hauptzweck der Maßregeln in der Spezialprävention.8 Dieser Zweckbestimmung nachgeordnet sind die Mittel, die zur Erreichung des Hauptzwecks eingesetzt werden. Je nach Schwerpunkt der einzelnen Sanktionen unterscheidet Exner „Besserungsmittel“ von „Schutzmitteln“. 9 Besserung ist die Methode der Wahl, wenn es darum geht, Ursachen der Gefährlichkeit zu beheben und eine Prognose über die Wirkung einer in Betracht kommenden Sanktion ergibt, daß die verurteilte Person voraussichtlich besserungsfähig ist. Die Methode der Sicherung durch „Schutzmittel“ kommt erst dann in Frage, wenn Besserung keinen Erfolg verspricht.10 Exners dogmatische Konzeption des Maßregelrechts liefert also bereits klare Antworten auf die eingangs gestellten Fragen. Besserung ist gegenüber schlichter Sicherung eindeutig vorrangig, und Sicherung ist erst heranzuziehen, wenn Besserung voraussichtlich die Ursachen der Gefährlichkeit nicht ausräumen kann. Das bedeutet zugleich, daß Besserung und Sicherung nur Methoden bezeichnen, die dazu eingesetzt werden können, den Zweck der Individualprävention oder Gefahrenabwehr zu verwirklichen. Damit greift Exner auf die Bestimmung der Aufgaben des Strafrechts zurück, die Liszt formuliert und später im Hinblick auf die Reform des Strafgesetzbuchs auch für das Maßregelrecht zugespitzt hatte.11 Im Rahmen der Strafzweckdiskussion läßt sich die Gegenüberstellung von Sicherung und Besserung im übrigen bis in die Zeit der Aufklärung zurückverfolgen.12 Eine aktuelle Version von Exners Verständnis des Zusammenhangs von Gefährlichkeit, Besserung und Sicherung vertritt vor allem Ernst-Walter Hanack. Hanack unterscheidet im Ausgangspunkt zwischen dem generellen Zweck aller Maßregeln und konkreten Zielen jeder einzelnen Maßregel.13 Als generellen Zweck aller Maßregeln bezeichnet Hanack „die Gefahrenabwehr, die Vorbeugung gegenüber künftigen Straftaten“.14 Diese Zweckbestimmung des Maßregelrechts modifiziert Exner (1914: 228). Exner (1914: 69 f.). 10 Exner (1914: 69 ff.). 11 von Liszt (1882: 165 f.; 1902: 393 ff.; 1910a: 5). 12 Siehe als Beispiel die kritische Stellungnahme von Feuerbach (1797: 203 ff.). 13 Hanack (1991: Rn. 20 ff. vor § 61 StGB). Ähnlich argumentieren H.J. Horn (1983: 485), Meier (2001: 220 ff.), B. Müller (1981: 29 f.), Müller-Dietz (1983: 148), Schreiber (2000: 31 f.) und Zipf (1989: 667). Eine genau umgekehrte Unterscheidung genereller Ziele und der Zwecke einzelner Sanktionen findet sich bei Robert von Hippel (1910: 881). 8 9
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
den individualpräventiven Ansatz Exners nur in der Formulierung. Damit nimmt die gesetzliche Überschrift zum Titel der kriminalrechtlichen Maßregeln aus seiner Sicht nur noch auf Methoden Bezug, die von den einzelnen Sanktionen in höchst unterschiedlicher Weise verwirklicht werden.15 Und das Begriffspaar „Besserung und Sicherung“ versteht Hanack als Aussage über eine Rangfolge der Mittel, die bei den einzelnen Sanktionen zur Verwirklichung des generellen Zwecks der Gefahrenabwehr in Betracht kommen: „Grundsätzlich können die Maßregeln ihren generellen Zweck sowohl durch die bessernde Einwirkung auf den Täter als auch durch seine Sicherung erreichen. Dem Wesen eines rechtsstaatlich-humanen Strafrechts entspricht es, daß der Gedanke der Besserung Vorrang hat, die Sicherung also erst und nur dann in den Vordergrund tritt, wenn eine Besserung nicht möglich erscheint.“16
Diese Konzeption erscheint dogmatisch überzeugend. Sie liefert eine deutliche Abgrenzung eines allgemeinen Zwecks, den die kriminalrechtlichen Maßregeln insgesamt verfolgen, und verschiedener Methoden, die im Rahmen einzelner Maßregeln je nach der Gruppe von Straftätern in Betracht kommen, auf die sie nach ihren gesetzlichen Voraussetzungen abgestimmt sind. Das konkrete Verhältnis von Gefährlichkeit, Besserung und Sicherung erweist sich damit erst anhand einer Betrachtung der einzelnen Maßregeln. Gruppiert man die Maßregeln des geltenden Rechts nach der Bedeutung dieser Gesichtspunkte, so lassen sich drei Kategorien bilden.17 Die erste Kategorie gilt für solche Maßregeln, deren Mittel ausschließlich auf Besserung, also auf Therapie und Resozialisierung angelegt sind. Dieses Kriterium soll jedoch lediglich auf eine Sanktion zutreffen, nämlich die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB. Die zweite Gruppe besteht aus solchen Maßregeln, die unter Verzicht auf solche Behandlungsansätze ausschließlich auf Sicherung angelegt sind. Dazu werden üblicherweise die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB), die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB)18 und das Berufsverbot (§ 70 StGB) gezählt. Für eine Residualkategorie bleiben die Maßregeln, für deren Methoden sich kein eindeutiger Vorrang von „Besserung“ oder „Sicherung“ bestimmen läßt, also die Unterbringung in 14 Hanack (1991: Rn. 20 vor § 61 StGB). Insoweit übereinstimmend Bae (1985: 98 f.) und Böllinger (1995: Rn. 51 zu § 61 StGB); mit anderer Terminologie auch Meier (2001: 220 ff.). 15 B. Müller (1981: 30). 16 Hanack (1991: Rn. 22 vor § 61 StGB). Nach Böllinger (1995: Rn. 51 zu § 61 StGB) ist Besserung dagegen das einzig legitime Mittel zum Zweck der Sicherung. 17 Zipf (1989: 668); ähnlich Hanack (1991: Rn. 24 vor § 61 StGB). 18 Diese Zuordnung der Entziehung der Fahrerlaubnis ist nicht ganz unproblematisch, weil für alkoholauffällige Autofahrer zunehmend Nachschulungsprogramme angeboten werden, die meist mit der Maßregel nach § 69 StGB verbunden werden und bei erfolgreicher Teilnahme eine Verkürzung der Sperrfrist nach § 69a VII StGB oder bereits eine Widerlegung der Regelvermutung aus § 69 II StGB im Erkenntnisverfahren ermöglichen. Siehe hierzu etwa Geppert (1996: Rn. 97 ff. zu § 69 StGB) und aus empirischer Sicht Rosner (1988: 123 ff.).
Kap. 12: Gefährlichkeit, Besserung und Sicherung
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einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB)19 und die Führungsaufsicht (§ 68 StGB). Wie gezeigt wurde, bezieht sich diese Einteilung nur auf die Mittel, die im Rahmen der einzelnen Maßregeln mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung angewandt werden. Gefahrenabwehr als übergreifender Zweck des Maßregelrechts insgesamt soll also nur auf verschiedenen Wegen verwirklicht werden. Die nähere Betrachtung dieser Zuordnungen wird im folgenden auf die drei freiheitsentziehenden Maßregeln konzentriert.
B. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) – allein zur Besserung? Das Ziel der Unterbringung anläßlich einer Suchtproblematik nach § 64 StGB wird durch die Vorschrift des § 137 StVollzG konkretisiert. Danach ist es „Ziel der Behandlung“, den Untergebrachten „von seinem Hang zu heilen und die zugrunde liegende Fehlhaltung zu beheben“. Der etwas blasse Begriff der Behandlung wird dabei im Gesetzestext nicht näher erläutert. Aus dem Begriff „Entziehungsanstalt“ und den Voraussetzungen für die Anordnung dieser Maßregel, insbesondere der Anknüpfung an einen „Hang“ zum Konsum von Suchtmitteln im Übermaß, folgt aber, daß Behandlung in diesem Zusammenhang alle anerkannten Methoden der Suchttherapie umfaßt. Welche Therapieformen im Einzelfall eingesetzt werden, ist Sache des therapeutischen Programms der nach Landesrecht zuständigen Einrichtungen. Die Bedeutung dieser therapeutischen Ansätze für die Maßregel nach § 64 StGB wird schon durch die Vorschriften über die Anordnung der Maßregel betont. § 64 II StGB fordert nach dem Gesetzestext, daß die „Entziehungskur“ nicht von vornherein aussichtslos sein darf. Das Bundesverfassungsgericht hat die Voraussetzung in § 64 StGB modifiziert und dabei zugleich das Kriterium vorgegeben, das ihre verfassungskonforme Verhängung ermöglicht: es muß „eine hinreichend konkrete Aussicht (bestehen), den Süchtigen zu heilen oder doch über eine gewisse Zeitspanne vor dem Rückfall in die akute Sucht zu bewahren“.20 Im Vollstreckungsrecht findet diese Anordnungsvoraussetzung eine Entsprechung in der Möglichkeit einer Erledigung der Maßregel wegen Aussichtslosigkeit (§ 67d V StGB). Zwar setzt die Gesetzgebung hierfür noch recht enge Grenzen: zum einen wird in § 67d V 1 StGB für die nachträgliche Erledigung eine Mindestvollzugsdauer von einem 19 Meier (2001: 252 f.). Allerdings wird teilweise auch die psychiatrische Unterbringung als „primär verwahrend“ gekennzeichnet; so noch Schmidhäuser (1975: 828). Dagegen versucht Ukena (1991: 37 ff.) die These zu begründen, daß das Besserungsziel bei dieser Maßregel prinzipiell vorrangig ist. 20 BVerfG, Beschluß vom 16. März 1994 – 2 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1, 29). Zu dieser Entscheidung auch die Ausführungen in Kapitel 17 A. und B. (S. 360 ff.).
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Jahr gefordert, zum anderen soll in solchen Fällen nach dem Wortlaut des § 67 IV 2 StGB keine Anrechnung auf eine parallele Freiheitsstrafe erfolgen, so daß der erfolglose Aufenthalt im Maßregelvollzug insgesamt zu einer Verlängerung der Freiheitsentziehung führt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung von 1994 beide Beschränkungen der Erledigung wegen Aussichtslosigkeit einer weiteren stationären Suchtbehandlung für nichtig erklärt.21 Damit signalisiert es, daß Therapieversuche mit zunächst ungewissen Erfolgschancen durchaus legitim sind; sie dürfen auch kürzer dauern als ein volles Jahr, und ihr Scheitern steht einer Anrechnung der Aufenthaltsdauer im Maßregelvollzug auf eine parallele Freiheitsstrafe nicht mehr im Weg. Über den besonderen Stellenwert der Besserung besteht auch in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur Einigkeit. Meinungsverschiedenheiten bestanden bis vor kurzem lediglich darüber, ob der allgemeine Sicherungszweck des Maßregelrechts im Bereich der Unterbringung von Straftätern mit einer Suchtproblematik überhaupt verfolgt werden soll.22 Dahinter steckte das Bestreben, die Unterbringung von Straftätern, die mit den vorhandenen therapeutischen Mitteln nicht erreicht werden, nicht zu einer „kleinen Sicherungsverwahrung“ – so eine häufig zitierte Formulierung aus dem Gesetzgebungsverfahren23 – werden zu lassen.24 Diesem Streit dürfte durch die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts der Boden entzogen sein. Es weist ausdrücklich darauf hin, daß die „Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ( . . . ) nach der Konzeption des Gesetzgebers den Schutz der Allgemeinheit durch eine Behandlung des Untergebrachten erreichen“ soll. Aus der Sicht des Grundrechts aus Art. 2 II 2 GG verbiete es sich, „die Maßregel zur Heilbehandlung eines für die Allgemeinheit ungefährlichen Täters anzuordnen“.25 Behandlung durch eine strafrechtliche Sanktion läßt das Bundesverfassungsgericht daher nur insoweit zu, als sie dem generellen Schutzzweck des Maßregelrechts dient. Damit schließt es an seine frühere Rechtsprechung zur sozialhilferechtlichen Unterbringung bei bestehender oder drohender Verwahrlosung an. Bereits 1967 hatte das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang ausgeführt, der Staat habe „nicht die Aufgabe, seine Bürger zu ,besBVerfGE 91, 1 (30). Siehe bereits Lenckner (1972: 196) und Schäfer et al. (1934: 111); aus der neueren Literatur vor allem Hanack (1991: Rn. 4 ff. zu § 64 StGB) und Zipf (1989: 676). Die Rechtsprechung stellt den Sicherungszweck schon seit längerem in den Vordergrund; siehe BGH, Urteil vom 21. März 1979 – 2 StR 743 / 78 (= BGHSt 28, 327, 332), neuerlich betont durch Beschlüsse vom 15. Mai 1996 – 1 StR 257 / 96 (= NStZ-RR 1996, 257), vom 28. Mai 1997 – 2 StR 206 / 97 (= NStZ-RR 1997, 291) und vom 22. September 1999 – 3 StR 393 / 99 (= NStZ 2000, 25 f.). 23 Schwalm (1965). 24 Für unbeachtlich halten den allgemeinen Sicherungszweck im Kontext des § 64 StGB vor allem Volckart (1999: 191) und Wendisch (1981). Diese Auffassung kann sich immerhin auf die Gesetzesmaterialien stützen; siehe den Zweiten Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Drucksache V / 4095, S. 26. 25 BVerfGE 91, 1 (28). 21 22
Kap. 12: Gefährlichkeit, Besserung und Sicherung
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sern‘, und deshalb auch nicht das Recht, ihnen die Freiheit zu entziehen, nur um sie zu ,bessern‘, ohne daß sie sich selbst oder andere gefährdeten, wenn sie in Freiheit blieben“.26 Demnach bleibt festzuhalten, daß Mittel der Besserung bei der Ausgestaltung der kriminalrechtlichen Unterbringung anläßlich einer Suchtproblematik von wesentlicher Bedeutung sind. Doch dies gilt nur insoweit, als diese Maßregel erforderlich ist, um den allgemeinen Zweck der Gefahrenabwehr zu verwirklichen. Ohne Gefährlichkeit der betroffenen Person darf die Maßregel nach § 64 StGB nicht angeordnet oder weiter vollzogen werden. Wie das Merkmal der Gefährlichkeit für diese Maßregel zu konkretisieren ist, ist an anderer Stelle zu untersuchen.27
C. Die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) – allein zur Sicherung? Die Sicherungsverwahrung fällt nach der oben herangezogenen Klassifikation der Maßregeln als einzige freiheitsentziehende Sanktion in die Gruppe der Maßregeln, bei denen Gefahrenabwehr als allgemeiner Zweck des Maßregelrechts mit dem Ziel der Sicherung weitgehend kongruent ist. Dementsprechend gilt sie als „letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik“.28 Als Ziel der Unterbringung formuliert § 129 StVollzG: „Der Sicherungsverwahrte wird zum Schutz der Allgemeinheit sicher untergebracht. Ihm soll geholfen werden, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.“
Diese Vorschrift stellt im Gegensatz zu dem für den Vollzug der Freiheitsstrafe nach § 2 S. 1 StVollzG geltenden Vollzugsziel eine sichere Unterbringung in den Vordergrund, mit der eine Flucht weitgehend ausgeschlossen werden kann. Der Aspekt der Sicherung wird bei der Freiheitsstrafe lediglich als nachrangig eingeführt; er stellt nach § 2 S. 2 StVollzG dort gerade nicht das Vollzugsziel dar, sondern eine „sekundäre Vollzugsaufgabe“.29 Andererseits wird ein behandlungsorientierter Vollzug der Sicherungsverwahrung keineswegs ausgeschlossen. Gegenüber der Sicherung wird er jedoch durch § 129 S. 2 StVollzG eindeutig als nachrangig definiert, wobei die Formulierung „soll“ es nahelegt, daß Hilfen zur Wiedereingliederung nach der Vorstellung der Gesetzgebung nicht einmal obligatorisch vorgesehen sind. Allerdings wird in der 26 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 1967 – 2 BvF 3 / 62 u. a. (= BVerfGE 22, 180, 219 f.); kritisch zu dieser Entscheidung etwa Preiser (1968). 27 Siehe Kapitel 14 (S. 259 ff.). 28 So der Erste schriftliche Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BTDrucksache V / 4094, S. 19); ebenso BGH, Beschluß vom 9. Oktober 1981 – 2 StR 337 / 81 (= BGHSt 30, 220, 222) zur Begründung einer restriktiven Auslegung. 29 So formulieren ausdrücklich Feest / Lesting (2000: Rn. 13 ff. zu § 2 StVollzG); ähnlich Laubenthal (2003: 79 ff.) und M. Walter (1999: 91).
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
Literatur eine Verpflichtung der Vollzugsbehörden zu Eingliederungshilfen angenommen.30 Das erscheint auch unter vollstreckungsrechtlichen Gesichtspunkten konsequent, weil die Sicherungsverwahrung immer dann auf einen Zeitraum von zehn Jahren begrenzt ist, wenn keine erheblichen psychischen oder körperlichen Schädigungen potentieller Deliktsopfer zu befürchten sind (§ 67d III StGB). Daß in solchen Fällen Hilfen zur Wiedereingliederung immer angebracht sind, dürfte auf der Hand liegen. In der Vollzugspraxis bleibt von Hilfen zur Wiedereingliederung nach verbreiteter Darstellung kaum etwas übrig.31 Bemängelt wird in diesem Zusammenhang vor allem die weitgehende Angleichung an den Vollzug langer Freiheitsstrafen, der auch mit der geringen Zahl der Sicherungsverwahrten zusammenhängt, mit der gesetzlichen Differenzierung zwischen Strafe und Maßregel aber schwer zu vereinbaren ist. Diese Kritik ist unter dem Stichwort „Etikettenschwindel“ in den vergangenen hundert Jahren immer wieder vorgebracht worden.32 Dabei bezieht sich das Vollzugsziel des Strafvollzugsgesetzes auch auf den Vollzug langer Freiheitsstrafen. Unter Behandlungsaspekten kann es sich als geradezu vorteilhaft darstellen, daß genügend Zeit zur Verfügung steht; Behandlungsmaßnahmen wie etwa eine längerfristige Ausbildung werden bei der Aufstellung des Vollzugsplans meist erst dann in Betracht gezogen, wenn das voraussichtliche Strafende eine Absolvierung des gesamten Ausbildungsverlaufs in der Anstalt zuläßt. Das Strafvollzugsgesetz schließt auch Gefangene mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht aus dem Behandlungsvollzug aus. Lediglich im Hinblick auf die Entscheidung über Urlaub aus der Haft enthält das Strafvollzugsgesetz eine Sonderregelung für diese Gruppe von Gefangenen (§ 13 III StVollzG). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muß es für alle Strafgefangenen eine realisierbare Chance geben, in die Freiheit entlassen zu werden.33 Der Hintergrund der Kritik am Vollzug der Sicherungsverwahrung hat sich also spätestens mit der Einführung des Strafvollzugsgesetzes verschoben. Ein wichtiger Einschnitt wird schon zuvor mit der Abschaffung der Zuchthausstrafe durch die Strafrechtsreform markiert. Seither kann es nicht mehr darum gehen, „Vergünstigungen“ einzufordern, die den Vollzug der Sicherungsverwahrung von dem der Strafe unterscheiden sollen. Im Vordergrund steht nunmehr die Verwirklichung von Resozialisierungsangeboten, an denen es im Vollzug der Sicherungsverwahrung ebenso fehlt wie im Vollzug langer Freiheitsstrafen. 30 Calliess / Müller-Dietz (2000: Rn. 1 zu § 129 StVollzG); Feest (2000: Rn. 4 zu § 129 StVollzG). 31 Zur neueren Kritik etwa J. Kern (1997: 185), Kinzig (1996: 72 ff., 117 ff.) und Laubenthal (2003: 423); eine positivere Einschätzung für Hessen bei Blau (1998: 773 ff.). 32 Hierzu etwa K.A. Hall (1958: 50 f.); Hanack (1991: Rn. 17 vor §§ 61 ff. StGB); Kohlrausch (1924: 33). Siehe zur Tradition dieses Vorwurfs bereits die Einleitung zum Ersten Teil (S. 25 f.). 33 BVerfG, Urteil vom 21. Juni 1977 – 1 BvL 14 / 76 (= BVerfGE 45, 187, 228 f., 245).
Kap. 12: Gefährlichkeit, Besserung und Sicherung
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Mit der Betonung der Sicherung wird das Kriterium der Gefährlichkeit für die Sicherungsverwahrung in den Vordergrund gerückt.34 Das Mittel der Besserung im Sinne resozialisierender Angebote während des Vollzugs wird damit aber nicht ausgeschlossen.
D. Besserung und Sicherung bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) Für den Vollzug der dritten freiheitsentziehenden Maßregel, der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB), gilt als charakteristisch, daß sichernde und bessernde Zielsetzungen nebeneinander bestehen. Die Vorschrift des § 136 S. 2 StVollzG drückt dies durch das Ziel aus, daß der Untergebrachte „soweit möglich ( . . . ) geheilt oder sein Zustand soweit gebessert werden (soll), daß er nicht mehr gefährlich ist“. Dementsprechend legt § 136 S. 1 StVollzG eine Behandlung „nach ärztlichen Gesichtspunkten“ fest. Soweit jedoch Besserung unter den Bedingungen des psychiatrischen Maßregelvollzugs nicht zumindest in einem Maß erreichbar erscheint, daß eine Entlassung verantwortet werden kann, reduziert sich das Ziel der Unterbringung auf die Sicherung mit der nötigen „Aufsicht, Betreuung und Pflege“ (§ 136 S. 3 StVollzG).35 Im psychiatrischen Maßregelvollzug entsprechen diesen gesetzlichen Vorgaben in den meisten Einrichtungen hohe Ansprüche an die Qualität der Behandlung, die durch eine Palette therapeutischer Methoden eingelöst werden sollen. Die Behandlungsprogramme variieren dabei ebenso wie die organisatorischen Strukturen.36 Die gesetzliche Festlegung auf medizinische Behandlung dürfte allerdings häufig hinter der Praxis zurückbleiben, da psychiatrische Ansätze nicht zuletzt unter dem Einfluß der Psychiatriereform durch die Methoden anderer Psychowissenschaften ergänzt werden und das therapeutische Personal teils psychiatrisch, teils psychologisch, sozialpädagogisch oder auch soziologisch ausgebildet ist.37 Diese behandlungsorientierten Ansätze stoßen an eine Grenze, wenn bei einzelnen Maßregelpatienten oder ganzen Patientengruppen Bestrebungen der Sicherung dominieren.38 Dafür kann es verschiedene Gründe geben. Zunächst ist an Personen ohne frühere strafrechtliche Auffälligkeit zu denken, die aufgrund einer psychischen Störung ein schweres Delikt begangen haben, aber unter den Bedingungen des Maßregelvollzugs therapeutisch gut ansprechbar sind, so daß eine UnterbrinSiehe im einzelnen Kapitel 15 (S. 295 ff.). Zu dieser Zielbestimmung etwa Hanack (1991: Rn. 2, 126 zu § 63 StGB); Kruis (1998: 96); Müller-Dietz (1983: 148 f.). 36 Siehe als Überblick Nedopil / Müller-Isberner (1995: 795 ff.), Nowara (1997: 117 ff.) und Volckart (1999: 204 ff.). 37 Nowara (1997: 116); als Erfahrungsbericht W. Hagemann (1987: 7 ff.). 38 Das unterschätzt Ukena (1991: 37 ff.). 34 35
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2. Teil: Gefährlichkeit im Maßregelrecht
gung aus Behandlungsgründen nur für kurze Zeit erforderlich ist. Gleichwohl können Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde und Strafvollstreckungskammer auf einem längeren Aufenthalt im Maßregelvollzug beharren. Das ist nicht unproblematisch, weil die Prognosegrundlage nach einem einzigen Delikt sehr schmal ist. Solche Konflikte zwischen kriminalrechtlichen und therapeutischen Sichtweisen können in der Praxis durch Vollzugslockerungen immerhin entschärft werden.39 Bei einer anderen Patientengruppe kommt dieser Ausweg dagegen kaum in Betracht. Sie setzt sich aus Straftätern mit Persönlichkeitsstörungen zusammen, die keine psychische Krankheit im engeren Sinne, aber eine erhebliche Vorstrafenbelastung mit längeren Voraufenthalten im Strafvollzug aufweisen.40 Psychotherapeutische Behandlungsangebote für diese Personen sind von ihrer Bereitschaft zur Behandlung abhängig, mit der nicht immer auf Dauer zu rechnen ist. Soweit Behandlungsprogramme des psychiatrischen Maßregelvollzugs nicht durchgeführt werden können, bleibt im Rahmen dieser Institution nur der Rückgriff auf eine sichere Unterbringung. Einen Ausweg bietet in der Praxis die Verlegung in den Strafvollzug, die teils über eine Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge von Maßregel und paralleler Freiheitsstrafe (§ 67 III StGB), teils über eine Erledigung der Maßregel herbeigeführt werden kann. Dagegen erweist sich die Sicherungsverwahrung meist schon deshalb nicht als Alternative zum psychiatrischen Maßregelvollzug, weil die höchstrichterliche Rechtsprechung die Sicherung durch eine Unterbringung nach § 63 StGB in aller Regel für ausreichend hält.41 Eine Verlegung im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens wird nämlich ohne vorherige Anordnung der Sicherungsverwahrung im Erkenntnisverfahren durch die eindeutigen Vorschriften des § 67a I und II StGB verhindert: zulässig ist nur eine Überweisung aus dem Vollzug der Sicherungsverwahrung etwa in den psychiatrischen Maßregelvollzug, nicht aber eine Überweisung in umgekehrter Richtung. Schon diese kurze Betrachtung zeigt, daß die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für heterogene Tätergruppen in Betracht kommt. Was dies für die Voraussetzung der Gefährlichkeit bedeutet, ist im weiteren Fortgang dieser Arbeit zu erörtern.42 39 Zur Urlaubspraxis Dessecker (1997: 106 ff.); zur Bedeutung von Vollzugslockerungen insgesamt Pollähne (1994: 147 ff.). 40 In manchen Beiträgen aus der forensischen Psychiatrie ist im Hinblick auf solche Personen von „Fehleinweisungen“ die Rede. Siehe etwa die Kontroverse zwischen Freese / Born (1995) und Dittmann (1995). 41 Die Verhängung der Sicherungsverwahrung neben oder anstelle einer psychiatrischen Unterbringung wird wiederholt abgelehnt, weil die unbefristete Unterbringung in der Psychiatrie ausreiche. Zu dieser Rechtsprechung bereits RG, Urteil vom 7. Februar 1935 – 2 D 7 / 35 (= JW 1935, 2136); BGH, Beschlüsse vom 26. Mai 1981 – 4 StR 313 / 81 (= NStZ 1981, 390) und vom 11. Februar 1999 – 4 StR 647 / 98 (= NStZ-RR 1999, 170, 172); zuletzt BGH, Urteil vom 19. Februar 2002 – 1 StR 546 / 01 (zugänglich im Internet unter http://www.hrrstrafrecht.de). 42 Siehe Kapitel 13 (S. 210 ff.).
Kap. 12: Gefährlichkeit, Besserung und Sicherung
209
E. Zusammenfassung Besserung und Sicherung als Zielbestimmungen des Maßregelrechts sind so alt wie die kriminalpolitische Diskussion über dieses Instrumentarium. Allerdings sind beide Aspekte nicht gleichwertig; sie verschieben sich gegeneinander je nach der Funktion der einzelnen Maßregeln innerhalb des Sanktionensystems. Konzentriert man die Betrachtung auf die freiheitsentziehenden Maßregeln, so steht Besserung nur bei der Ausgestaltung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) im Vordergrund. Bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) gibt es keinen allgemeinen Vorrang eines der beiden Mittel, und bei der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) geht die Sicherung klar in Führung. Besserung und Sicherung sind jedoch nur zusammenfassende Begriffe für die Methoden zur Erfüllung des allgemeinen Zwecks, der dem Maßregelrecht insgesamt zugrunde liegt: der Abwehr von Gefahren
14 Dessecker
Dritter Teil
Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln Kapitel 13
Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) Für die einzelnen Maßregeln des geltenden Rechts werden durch die Rechtsprechung und die kriminalwissenschaftliche Literatur Konkretisierungen vorgeschlagen. Es ist zu erwarten, daß sie sich stärker an den Zielgruppen der jeweiligen Sanktionen orientieren, als dies eine allgemeine Dogmatik des Maßregelrechts leisten kann. Das vorliegende Kapitel behandelt die freiheitsentziehende Maßregel der psychiatrischen Unterbringung, mit der ungleich intensivere Eingriffe verbunden sind als mit den Maßregeln ohne Freiheitsentziehung. Eingangs wird untersucht, in welcher Weise die Voraussetzungen dieser Sanktion, insbesondere das Merkmal Gefährlichkeit, bisher bestimmt werden. An diese dogmatische Bestandsaufnahme schließen sich eine Darstellung empirischer Forschungsergebnisse zur Anwendung der Maßregel nach § 63 StGB sowie ein breiterer Überblick zum Stand der empirischen Gefährlichkeitsforschung an, soweit sie sich auf Zusammenhänge psychischer Störungen und Kriminalität bezieht. Schließlich werden Fallgruppen unterschieden, für welche diese Maßregel in Betracht kommt.
A. Schuldfähigkeit und psychiatrische Maßregel Das Strafrecht behandelt psychische Störungen traditionell als Gesichtspunkt der Schuldfähigkeit oder – nach älterer Terminologie – der Zurechnungsfähigkeit, also im Rahmen der Prüfung, ob die beim Verstoß gegen einen Straftatbestand vorausgesetzte Handlung nicht nur rechtswidrig ist, sondern auch in vorwerfbarer Weise begangen wurde. Das Schuldprinzip gilt als rechtsstaatliche Begrenzung der Strafe, die auch im Verfassungsrecht verankert wird.1 Dabei interessiert Schuld 1 Grundlegend sind BVerfG, Beschluß vom 25. Oktober 1966 – 2 BvR 506 / 63 (= BVerfGE 20, 323, 331) zur zivilprozessualen Zwangsvollstreckung und Urteil vom 21. Juni 1977 –
Kap. 13: Gefährlichkeit bei der Unterbringung nach § 63 StGB
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hier in erster Linie als „Strafbegründungsschuld“, d. h. als Anknüpfungspunkt für die Verhängung von Strafe, weniger als „Strafzumessungsschuld“, die das Maß der Strafe bestimmt.2 Liegt eine rechtswidrige Tat vor, so geht das Gesetz davon aus, daß grundsätzlich auch ein Schuldvorwurf erhoben werden kann. Ausnahmen sind begründungsbedürftig. Sie stützen sich entweder auf eine besondere Tatsituation, wie etwa beim entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB), oder sie beziehen sich, wie die Schuldunfähigkeit, auf die Person des Täters. Schuldunfähig ist neben Kindern (§ 19 StGB) nach § 20 StGB, „wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“
Bei einer erheblichen Verminderung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit aus denselben Gründen greift die fakultative Strafmilderungsvorschrift des § 21 StGB ein. Vorgesehen sind damit zwei Prüfungsstufen: Zunächst ist zu klären, ob eines von vier Persönlichkeitsmerkmalen vorliegt; dann muß beurteilt werden, ob im Tatzeitpunkt Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt waren. Für beide Stufen werden in der strafrechtlichen und psychiatrischen Literatur verschiedene Etiketten vorgeschlagen, die jedoch nicht vollkommen trennscharf sind.3 Die Formulierungen der Merkmale der ersten Stufe sind im einzelnen nur als Ergebnis eines Gesetzgebungsverfahrens verständlich, in dem von Vertretern der beteiligten Professionen unterschiedliche Krankheitsbegriffe ins Feld geführt wurden.4 Das Merkmal „krankhafte seelische Störung“ erscheint als Kodifizierung eines Krankheitsbegriffs, der von dem Psychiater Kurt Schneider und seiner Schule vertreten wurde. Vorausgesetzt wird dafür, daß für die jeweilige Störung eine organische Ursache nachweisbar ist oder doch postuliert werden kann. Dazu zählen etwa exogene und endogene Psychosen, aber auch intellektuelle Minderbegabungen bekannter Genese. Demgegenüber bezieht sich der Rechtsbegriff „tiefgreifende Bewußtseinsstörung“ auf Affekte, während die mißglückte Formulierung „Schwachsinn“ auf Oligophrenie und andere psychowissenschaftliche Dia1 BvL 14 / 76 (= BVerfGE 45, 187, 259 f.) zur lebenslangen Freiheitsstrafe. Dazu etwa Paulduro (1992: 199 ff.) und Roxin (1997: 59 ff.). 2 Die Unterscheidung stammt von Achenbach (1974). 3 Siehe z. B. Jähnke (1993: Rn. 13 ff. zu § 20 StGB), Jescheck / Weigend (1996: 437), Rasch (1999: 67 ff.) und Schreiber (2000: 7 ff.). Dabei werden Charakterisierungen wie „biologisch“ oder „psychologisch“ von manchen Autoren der ersten, von anderen der zweiten Beurteilungsstufe zugewiesen. Roxin (1997: 756) plädiert in dieser Situation dafür, auf eine methodologische Kennzeichnung der Prüfungsschritte zu verzichten. 4 Dazu gibt es verschiedene ausführliche Darstellungen. Vgl. etwa Mahlmann (1986: 25 ff.), Schild (1990: Rn. 16 ff.) und Schreiber (2000: 8 ff.). 14*
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
gnosen intellektueller Minderbegabungen unbekannter Entstehung zielt. Ohnehin ist dieses dritte Merkmal der ersten Prüfungsstufe nur ein Beispiel für Fälle „schwerer seelischer Abartigkeit“, unter die aus psychiatrischer Sicht vor allem Persönlichkeitsstörungen subsumiert werden.5 Zur Diagnose einer psychischen Störung muß auf der zweiten Stufe der Schuldfähigkeitsprüfung die Feststellung hinzukommen, daß Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit in der Tatsituation beeinträchtigt waren. Dabei geht es nicht um das rechtsphilosophische Problem der Willensfreiheit, sondern nach neuerer strafrechtlicher Lehre um die prinzipiell mit empirischen Mitteln zu beantwortende Frage nach der „normativen Ansprechbarkeit“ des Täters.6 Je nach Art und Schwere der diagnostizierten psychischen Störungen liegt die Annahme einer erheblichen Verminderung oder eines Ausschlusses der Schuldfähigkeit zur Zeit der Tat mehr oder weniger nahe. Trotz entsprechender Begutachtungs- und Gerichtstraditionen wird in der Literatur nicht selten vor schematischen Schlußfolgerungen aus bestimmten Diagnosen gewarnt.7 Im gesetzlichen Regelfall führt die Schuldunfähigkeit zu einem Freispruch oder zu einer sanktionslosen Verfahrenseinstellung, die verminderte Schuldfähigkeit ermöglicht eine Strafmilderung. Der Weg zu einer psychiatrischen Unterbringung wird erst mit dem Vorliegen weiterer Voraussetzungen eröffnet. Klar ist zunächst, daß die Maßregel des § 63 StGB nur dort eingreifen soll, wo ein Zusammenhang zwischen dem auf eine psychische Störung zurückgehenden „Zustand“ sowie den geschehenen und zu erwartenden Straftaten begründbar ist. Nicht jede Diagnose, die zu einer Verminderung der Schuldfähigkeit führen kann, ist auch für die Verhängung einer Maßregel relevant. Hier werden in Literatur und Rechtsprechung vor allem zwei Fallgruppen thematisiert.8 Die Voraussetzungen der Maßregel fehlen trotz festgestellter Verminderung der Schuldfähigkeit, wenn sich die Tat als Affekthandlung darstellt, welche nicht Ausdruck einer länger andauernden psychischen Störung ist.9 Zweitens scheidet die Anordnung einer psychiatrischen Unterbringung aus, soweit bei der Tat lediglich eine vorübergehende Intoxikation vorliegt, die sich nicht auf eine Abhängigkeit zurückführen läßt.10 Vergleichbar mit solchen Beeinträchtigungen vorübergehender Art, welche für die Schuldfähigkeit 5 Eine detaillierte Zuordnung der psychowissenschaftlichen zur strafrechtlichen Terminologie unter Berücksichtigung der ICD-Klassifikation unternimmt beispielsweise Rasch (1999: 52 ff.). 6 Grundsätzlich Roxin (1997: 740 ff.). 7 Vgl. etwa Bischof (1988: 100 f.), Böker / Häfner (1973: 272) und Venzlaff (2000: 74 f.). 8 Zusammenfassend Hanack (1991: Rn. 62 zu § 63 StGB). 9 BGH, Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR 40 / 86 (= BGHSt 34, 22, 27); Beschlüsse vom 1. September 1993 – 3 StR 468 / 93 (= BGHR § 63 StGB Zustand 16) und vom 17. Oktober 2001 – 3 StR 373 / 01 (= NStZ 2002, 142). 10 BGH, Beschlüsse vom 16. Dezember 198 – 3 StR 321 / 81 (= NStZ 1982, 218), vom 17. Mai 1983 – 5 StR 182 / 83 (= NStZ 1983, 429) und vom 8. Januar 1992 – 5 StR 589 / 91 (= StV 1992, 572).
Kap. 13: Gefährlichkeit bei der Unterbringung nach § 63 StGB
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relevant sein können, aber noch nicht die Voraussetzungen einer Unterbringung schaffen, sind massive Entzugserscheinungen bei Personen mit einer Abhängigkeitskrankheit.11 Zudem wird – anders als für die Beurteilung der Schuldfähigkeit ohne Verhängung einer Maßregel, die auch auf der Grundlage des Satzes „in dubio pro reo“ möglich ist – verlangt, daß das Gericht zumindest vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB überzeugt ist.12 Das ist konsequent, weil in der Maßregelanordnung ein besonderer Grundrechtseingriff liegt, der über eine Strafzumessungsentscheidung hinausgeht. Für die Anlaßtat setzt der Normtext des § 63 StGB nur voraus, daß es sich um eine „rechtswidrige Tat“ handelt, also um eine solche, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht (§ 11 I Nr. 5 StGB), aber nicht schuldhaft zu sein braucht. Für den subjektiven Tatbestand läßt vor allem die Rechtsprechung einen „natürlichen Vorsatz“ ausreichen, so daß beispielsweise ein störungsbedingter Irrtum über die Vermögensverhältnisse bei einem Eingehungsbetrug den Vorsatz nicht entfallen läßt.13 Dann kann es zwar immer noch am Unrechtsbewußtsein fehlen. Aber der Weg in die psychiatrische Unterbringung wird dadurch nicht versperrt. Dogmatisch folgerichtiger ist es, mit der Gegenauffassung zu fordern, daß der subjektive Tatbestand der Anlaßtat erfüllt ist; fehlt es daran, so liegt keine rechtswidrige Tat vor.14 Das Gegenargument, es sei zweckmäßig, eine kriminalrechtliche Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung schon dann zu ermöglichen, wenn der objektive Tatbestand erfüllt ist und kein Rechtfertigungsgrund vorliegt, verfehlt den klaren Wortlaut des Gesetzes. Eine breite Lücke der Sicherung vor künftigen Delikten entsteht schon deshalb nicht, weil der Streit nur selten praktisch wird. Im übrigen steht mit der Unterbringungsmöglichkeit nach den Gesetzen über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke eine Alternative außerhalb des Kriminalrechts zur Verfügung.
BGH, Beschluß vom 11. Juli 1986 – 3 StR 274 / 86 (= NStZ 1986, 572). Ständige Rechtsprechung seit RG, Urteil vom 20. November 1934 – 1 D 1222 / 34 (= RGSt 69, 12, 14); siehe weiter BGH, Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR 40 / 86 (= BGHSt 34, 22, 26 f.) und Beschluß vom 18. Mai 1995 – 5 StR 239 / 95 (= NStZ 1996, 41). 13 Vgl. aus der Rechtsprechung BGH, Urteile vom 11. November 1952 – 1 StR 510 / 52 (= BGHSt 3, 287) sowie vom 25. August 1982 – 3 StR 247 / 82 (bei Holtz, MDR 1983, 90). Aus der Literatur Hanack (1991: Rn. 25 ff. zu § 63 StGB); Meier (2001: 254); Schreiber (2000: 33); Stree (2001: Rn. 5 zu § 63 StGB). 14 Böllinger (1995: Rn. 72 zu § 63 StGB); E. Horn (1999: Rn. 4 zu § 63 StGB); Jescheck / Weigend (1996: 808 f.). 11 12
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
B. Gefährlichkeit als Voraussetzung der Anordnung Das Merkmal der Gefährlichkeit als Voraussetzung einer psychiatrischen Unterbringung läßt sich in drei normative Anforderungen zerlegen: den Zusammenhang zwischen Anlaßtat und künftiger Gefahr, den Grad der Wahrscheinlichkeit weiterer Taten sowie die Erheblichkeit drohender Rechtsverletzungen.15
I. Anlaßtat und künftige Delikte Entscheidend für die Frage nach der Gefährlichkeit als Voraussetzung einer psychiatrischen Unterbringung sind diejenigen Taten, deren Befürchtung für die Zukunft eine Gefährlichkeitsprognose begründet. Gleichwohl ist es üblich und wird teilweise ausdrücklich empfohlen, für die Prognose auf Delikte aus der Vorgeschichte und vor allem die Anlaßtaten, die Gegenstand des jeweiligen Verfahrens sind, zurückzugreifen.16 Das liegt schon aus der Sicht der Justizpraxis nahe, weil sich auf diese Weise immerhin Anhaltspunkte für relativ stabile Verhaltensmuster einer bestimmten Person finden lassen. Darüber hinaus ist auch nicht ersichtlich, worauf sich eine tatsachengestützte Prognose sonst gründen sollte; auch Gutachten sind letztlich auf Feststellungen über das bisherige Verhalten einer Person angewiesen. Diese Methode setzt aber voraus, daß begangene Delikte „symptomatischer“ Ausfluß einer psychischen Störung sind; sie stößt damit an Grenzen, wenn sich aktuelle oder frühere Delikte als Gelegenheits- oder Konflikttaten lediglich aus einer spezifischen Situation heraus erklären lassen, deren Wiederholung nicht auf der Hand liegt.17 Dann versagen sie als Indizien einer Gefährlichkeit für die Zukunft, und deshalb sind solche Delikte auch nicht geeignet, die Anordnung einer psychiatrischen Unterbringung zu begründen. Teilweise wird sogar davor gewarnt, den Zusammenhang zwischen Anlaßtat und Gefährlichkeit für die Zukunft zu relativieren, weil sich die Tatsachengrundlage für eine Prognose auf diese Weise drastisch verschmälert.18 Diese Erwägung trifft vor allem dann zu, wenn eine beschuldigte Person außer der Anlaßtat in der Vergangenheit keine weiteren Delikte oder nur solche begangen hat, die keine zureichende Grundlage für eine ungünstige Gefährlichkeitsprognose abgeben. Von einer einzigen schweren Tat sollte nicht schematisch auf das Vorliegen des Gefährlichkeitsmerkmals geschlossen werden. Müller-Dietz (1999: 484). E. Horn (1999: Rn. 14 zu § 63 StGB). 17 BGH, Urteil vom 17. August 1977 – 2 StR 300 / 77 (= BGHSt 27, 246, 249 f.); Beschlüsse vom 13. Dezember 1983 – 4 StR 714 / 83 (= StV 1984, 508), vom 7. Februar 1985 – 4 StR 13 / 85 (= NStZ 1985, 309 f.) und vom 3. Juli 1991 – 3 StR 69 / 91 (insoweit nur in JURIS veröffentlicht). 18 Müller-Dietz (1999); siehe aus der älteren Literatur bereits Exner (1914: 65 ff.) und Mezger (1923: 159). 15 16
Kap. 13: Gefährlichkeit bei der Unterbringung nach § 63 StGB
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II. Wahrscheinlichkeitsgrade Die Gefährlichkeitsprognose, die das Gesetz verlangt, muß an eine gewisse Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten anknüpfen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad bildet das zweite Element des Gefährlichkeitsbegriffs. In der Entwicklung des Maßregelrechts wird er von den Gerichten mit unterschiedlichen Formulierungen umschrieben, die jedoch keine festen normativen Kriterien, sondern weiten Raum für im Einzelfall angemessen erscheinende Sanktionsentscheidungen bieten. Ein schon früh formuliertes strenges Kriterium fordert die bestimmte Wahrscheinlichkeit einer unmittelbaren Bedrohung der Rechtsordnung durch künftige rechtswidrige Taten.19 Eine andere Definition, die ersichtlich auf eine Einschränkung der Voraussetzung zielt, versteht als Gefahr die „Wiederholungswahrscheinlichkeit im Sinne eines gesteigerten, überwiegenden Grades der Möglichkeit“.20 Die neuere Rechtsprechung stellt zumindest verbal weniger strenge Anforderungen. Neben Entscheidungen, die für die psychiatrische Unterbringung eine „Wahrscheinlichkeit höheren Grades“ verlangen21, finden sich solche, die eine „bestimmte“ oder „gewisse Wahrscheinlichkeit“ ausreichen lassen.22 Immer wieder wird dabei betont, daß eine bloße Möglichkeit künftiger Taten die Anordnungsvoraussetzungen nicht erfüllt.23 Wie die Durchsicht veröffentlichter Revisionsentscheidungen zeigt, dürften diese Nuancen in der Wortwahl sich im Hinblick auf die daraus abgeleiteten Ergebnisse nicht deutlich unterscheiden. Die veröffentlichte Judikatur läßt zwar erkennen, daß die Ausführungen der Tatsacheninstanz zur Begründung oder Ablehnung einer psychiatrischen Unterbringung aufgrund einer zulässigen Revision recht genau auf ihre Konsistenz überprüft werden.24 Die Leistungsfähigkeit des Wahrscheinlichkeitselements im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose sollte dennoch nicht überschätzt werden. Der Stand der Prognoseforschung legt die Annah19 RG, Urteil vom 19. April 1934 – 2 D 333 / 34 (= RGSt 68, 149, 155 f.) zu § 20a StGB a.F.; zu § 42b StGB a.F. RG, Urteile vom 28. Januar 1935 – 2 D 10 / 35 (= JW 1935, 2367) und 5. September 1939 – 1 D 714 / 39 (= RGSt 73, 303, 304). So noch heute Hanack (1991: Rn. 42 zu § 63 StGB). 20 Böllinger (1995: Rn. 77 zu § 63 StGB). 21 BGH, Urteil vom 5. Dezember 1978 – 5 StR 670 / 78 (bei Holtz, MDR 1979, 280), Beschluß vom 21. März 1989 – 1 StR 120 / 89 (= NJW 1989, 2959), Urteile vom 29. November 1994 – 1 StR 689 / 94 (= NStZ 1995, 228) und vom 17. November 1999 – 2 StR 453 / 99 (insoweit nur in JURIS veröffentlicht). 22 BGH, Beschlüsse vom 11. Juli 1986 – 3 StR 274 / 86 (= NStZ 1986, 572) und vom 8. Juli 1999 – 4 StR 269 / 99 (= NStZ 1999, 611). 23 BGH, Beschlüsse vom 11. Juli 1986 – 3 StR 274 / 86 (= NStZ 1986, 572) und vom 21. März 1989 – 1 StR 120 / 89 (= NJW 1989, 2959), Urteil vom 29. November 1994 – 1 StR 689 / 94 (= NStZ 1995, 228) und Beschluß vom 8. Juli 1999 – 4 StR 269 / 99 (= NStZ 1999, 611). Ebenso Lackner (2001: Rn. 5 zu § 63 StGB), Rittler (1926: 99), Stree (2001: Rn. 14 zu § 63 StGB), Streng (2002: 176) und Tröndle / Fischer (2003: Rn. 9 zu § 63 StGB). 24 Übereinstimmend Hanack (1991: Rn. 42 zu § 63 StGB).
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me nahe, daß „falsch positive“ Prognosen nicht selten vorkommen. Zugleich liefert diese Prognoseforschung aber jedenfalls bisher keine praxistauglichen Instrumente, die eine zuverlässige Quantifizierung von Wahrscheinlichkeitsgraden auf lange Sicht gestatten.25 Besser begründbar erscheint beim gegenwärtigen Forschungsstand der Weg, das Merkmal Gefährlichkeit über Kriterien der Deliktsschwere zu bestimmen.26
III. Erheblichkeit künftiger Delikte Das dritte Element des Gefährlichkeitsbegriffs liefert den Bezugspunkt der Prognose: die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Taten müssen erheblich sein. Eine positive Bestimmung dieses Merkmals macht ersichtlich Schwierigkeiten. Obwohl es sich um einen Zentralbegriff des Maßregelrechts handelt27, wird in der Literatur keine eigenständige Definition angeboten; statt dessen folgt das Schrifttum den von der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen oder nähert sich dem Maßstab der Erheblichkeit auf einem Umweg. Dazu zählt der Ansatz, die Erheblichkeit der zu erwartenden Taten in § 63 StGB über einen Vergleich mit der parallelen Sanktionsvorschrift zur Sicherungsverwahrung zu konkretisieren. Da die Erheblichkeitsschwelle für die Sicherungsverwahrung durch die Vorschrift des § 66 I Nr. 3 StGB auf schwere Schädigungen körperlicher, seelischer oder wirtschaftlicher Art bezogen wird, liegt die entsprechende Schwelle für eine Unterbringung in der Psychiatrie nach verbreiteter Auffassung niedriger als für die Sicherungsverwahrung.28 Solche Vergleiche sind allerdings schon deswegen problematisch, weil sich die Alternative dieser beiden Maßregeln für die Gerichte nur in seltenen Einzelfällen stellt.29 Beide Unterbringungsformen werden nach geltendem Recht ohne zeitliche Begrenzung verhängt. Und daß der Gesetzestext in § 63 StGB lediglich allgemeine Kriterien nennt, spricht nicht gegen eine Konkretisierung dieser Kriterien. Deswegen wird das Problem auf diesem Weg nur verschoben, nicht geklärt. 25 Siehe Kapitel 11 (S. 182 ff.). Ähnlich zurückhaltend im Hinblick auf die Bestimmung von Wahrscheinlichkeitsgraden Meier (2001: 257). 26 Darauf weist im Ansatz schon Exner (1914: 62) hin. 27 Hanack (1991: Rn. 45 zu § 63 StGB); Zipf (1989: 673). 28 So insbesondere die Rechtsprechung: vgl. BGH, Urteile vom 23. Juni 1976 – 3 StR 99 / 76 (= NJW 1976, 1949) und vom 17. August 1977 – 2 StR 300 / 77 (= BGHSt 27, 246, 248). Ebenso Lackner (2001: Rn. 5 zu § 63 StGB); Meier (2001: 256); Streng (2002: 177); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 12 zu § 63 StGB). Ablehnend gegenüber dieser Abstufung z. B. Frisch (1990: 384), Hanack (1991: Rn. 49 zu § 63 StGB) und Müller-Dietz (1983: 149); differenzierend nach der Behandlungsbedürftigkeit Kruis (1998: 97). 29 Die veröffentlichte Rechtsprechung läßt immerhin erkennen, daß es solche Fälle gibt. Siehe BGH, Urteil vom 11. Februar 1954 – 4 StR 755 / 53 (= BGHSt 5, 312), Beschluß vom 25. Juni 1981 – 4 StR 313 / 81 (= NStZ 1981, 390), Urteile vom 16. Dezember 1998 – 5 StR 407 / 98 (= NStZ-RR 1999, 77, 78) und 11. Februar 1999 – 4 StR 647 / 98 (= NStZ-RR 1999, 170, 171 f.).
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Eine nicht unbedeutende Rolle bei den Bemühungen zur Konkretisierung des Erheblichkeitsmaßstabs spielt vor allem in der Rechtsprechung der Begriff der „mittleren Kriminalität“. Solche Taten sollen vor allem dann für die Erwartung erheblicher rechtswidriger Taten ausreichen, wenn sie bereits in einer Serie30 oder doch mehrfach in nicht ganz geringfügigem Umfang31 festgestellt sind. Eine andere Formulierung fordert „schwere Störungen des Rechtsfriedens, die zumindest in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinragen“.32 Erst recht wird die Erheblichkeit künftiger Taten angenommen, wenn der Bereich der „mittleren Kriminalität“ nach oben überschritten und zumindest in Einzelfällen auch der Bereich „schwerer Kriminalität“ erreicht ist.33 Dementsprechend ist zu lesen, daß sich die Erheblichkeit drohender Taten in bestimmten Fällen bereits „aus dem Delikt selbst“ ergibt. Das wird vor allem bei Verbrechenstatbeständen thematisiert, soll aber auch bei Vergehen mit erhöhten Mindeststrafen „vielfach naheliegen“.34 Solche Konkretisierungsversuche sind mit einigen Unsicherheiten behaftet. Das läßt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Der Beschuldigte, der zum Zeitpunkt der festgestellten Taten wegen einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis schuldunfähig war, entwendete aus einer auf einer Gartenterrasse abgestellten Schüssel den Betrag von ungefähr 120 DM. Weiter nahm er aus dem Frühstücksraum eines Hotels zwei Schachteln Zigaretten und ein Feuerzeug sowie aus einer dort hängenden Jacke verschiedene Schlüssel weg; einige Tage später übernachtete er unberechtigt im Keller eines Wohnhauses. Schließlich nahm er in einem Lebensmittelgeschäft eine Handtasche mit, die eine alte Frau vorübergehend an der Kasse abgestellt hatte; darin waren 570 DM sowie verschiedene Papiere. Wegen eines weiteren Diebstahls, der nicht Gegenstand dieses Verfahrens ist, wurde gegen den Beschuldigten eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen ausgesprochen.35
Dieser Sachverhalt wird vom Bundesgerichtshof so beurteilt, daß nur der Diebstahl der Handtasche und des darin befindlichen Geldes in den Bereich der mitt30 BGH, Urteile vom 22. April 1975 – 5 StR 97 / 75 (bei Dallinger, MDR 1975, 724) und vom 23. Juni 1976 – 3 StR 99 / 76 (= NJW 1976, 1949); Beschluß vom 11. Dezember 1990 – 1 StR 626 / 90 (bei Detter, NStZ 1991, 479). 31 BGH, Beschluß vom 21. März 1989 – 1 StR 120 / 89 (= NJW 1989, 2959), Urteile vom 28. März 1989 – 1 StR 80 / 89 (bei Holtz, MDR 1989, 857) und vom 5. Juli 1989 – 2 StR 271 / 89 (= bei Holtz, MDR 1989, 1051), Beschluß vom 10. Dezember 1993 – 1 StR 762 / 93 (= NStE Nr. 36 zu § 63 StGB). 32 BGH, Urteile vom 29. November 1994 – 1 StR 689 / 94 (= NStZ 1995, 228) und vom 11. August 1998 – 1 StR 305 / 98 (= NStZ 1998, 617). Ähnlich BGH, Urteil vom 21. April 1998 – 1 StR 103 / 98 (= NJW 1998, 2986, 2987); zu dieser Entscheidung Müller-Dietz (1999). Übereinstimmend mit teilweise anderen Formulierungen Lackner (2001: Rn. 5 zu § 63 StGB); Stree (2001: Rn. 15 zu § 63 StGB); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 12 zu § 63 StGB). 33 BGH, Urteil vom 17. August 1977 – 2 StR 300 / 77 (= BGHSt 27, 246, 248). 34 BGH, Urteil vom 29. November 1994 – 1 StR 689 / 94 (= NStZ 1995, 228). 35 BGH, Beschluß vom 10. Dezember 1993 – 1 StR 762 / 93 (= NStE Nr. 36 zu § 63 StGB).
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leren Kriminalität fällt; das reiche für die Anforderungen an künftige Gefährlichkeit im Sinne des § 63 StGB nicht aus. Das Landgericht hatte demgegenüber angenommen, der Beschuldigte werde „wie bisher auch zukünftig seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsdiebstählen bestreiten“, und diese Diebstähle seien nicht der Kleinkriminalität zuzuordnen, sondern stellten im Rahmen der mittleren Kriminalität erhebliche rechtswidrige Taten dar.36 Der Begriff der „mittleren Kriminalität“ ist schon deshalb durch erhebliche Unschärfe gekennzeichnet, weil er nirgendwo definiert wird. Das mag für die Judikatur den Vorteil bieten, Festlegungen zu vermeiden, die später nur mit größerem Begründungsaufwand zu korrigieren wären, schafft aber zugleich Rechtsunsicherheit. Unklar ist des weiteren, nach welchen Kriterien sich die Zuordnung bestimmen soll. Wie gelegentliche Wendungen zeigen, tendiert die Rechtsprechung dazu, schadensbezogene Kriterien anzulegen; in welchem Verhältnis diese zu anderen denkbaren Gesichtspunkten stehen, bleibt jedoch offen. So ist es möglich, daß Diebstähle abgeschlossener Fahrräder gelegentlich mit Hinweis auf das Regelbeispiel in § 243 I 2 Nr. 2 StGB der mittleren Kriminalität zugerechnet werden, ohne daß die Höhe des Schadens konkretisiert wird.37 Und die Unklarheit steigert sich durch weitere interpretationsoffene Formulierungen wie etwa „in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinragen“.38 Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Delikten, die eine Gefährlichkeitsprognose für eine psychiatrische Unterbringung begründen, und solchen Delikten, bei denen dies nicht der Fall ist, läßt sich auf diesem Weg kaum treffen.39
IV. Fallgruppen unterhalb der Erheblichkeitsschwelle Aussichtsreicher erscheinen demgegenüber Versuche, Fallgruppen zu beschreiben, in denen die Erheblichkeitsschwelle nicht überschritten wird, und so das Merkmal der Erheblichkeit schrittweise einzugrenzen. Hierzu liegen einige Vorschläge vor, die im einzelnen kontrovers diskutiert werden. Dieses Ausschlußverfahren allein ergibt allerdings noch keinen einheitlichen Gesichtspunkt, nach dem sich die gefundenen Fallgruppen ordnen lassen. Für den folgenden Überblick zum Stand der Diskussion bietet es sich an, schadensbezogene von verbrechensdogmatischen Aspekten zu unterscheiden. Als schadensbezogen sollen dabei solche Aspekte verstanden werden, die sich auf mögliche Folgen zu befürchtender künftiger Delikte und deren Vermeidbarkeit beziehen. Im einzelnen geht es etwa um 36 BGH, Beschluß vom 10. Dezember 1993 – 1 StR 762 / 93 (= NStE Nr. 36 zu § 63 StGB). 37 BGH, Beschluß vom 5. Juli 1989 – 2 StR 271 / 89 (bei Holtz, MDR 1989, 1051). 38 BGH, Urteile vom 29. November 1994 – 1 StR 689 / 94 (= NStZ 1995, 228) und vom 11. August 1998 – 1 StR 305 / 98 (= NStZ 1998, 617). 39 Kritisch daher auch Frisch (1990: 383 f.), Jescheck / Weigend (1996: 810) und Streng (2002: 178).
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geringfügige, bloß lästige und Bagatelldelikte sowie um solche Taten, die aufgrund der leicht zu durchschauenden Vorgehensweise bei der Tatausführung keine gravierenden Schäden erwarten lassen. Verbrechensdogmatische Aspekte beziehen sich demgegenüber auf Deliktskategorien, die aus der Dogmatik zum Allgemeinen Teil des Strafrechts bekannt sind. Hier ist zu untersuchen, ob die Erwartung versuchter, fahrlässiger oder bloßer Unterlassungsdelikte ausreicht, eine Gefährlichkeit im Sinne des § 63 StGB zu begründen. Als paradigmatisch für schadensbezogene Aspekte, die zu einer Unterschreitung der Erheblichkeitsschwelle künftiger Delikte führen, gelten Taten, die meist als geringfügig oder lästig gekennzeichnet werden.40 Ein Beispiel aus der Rechtsprechung: Der 48jährige Angeklagte, der seit Jahren an Schizophrenie sowie an chronischem Alkoholismus mit organpathologischen, internistischen und neurologischen Folgen leidet, belästigte mit Worten eine 83jährige blinde Frau, die neben ihm auf einer Bank Platz genommen hatte. Als deren Begleiter ihn bat, sie in Ruhe zu lassen, versetzte er diesem zwei Schläge vor die Brust und drängte ihn zurück. Da eine weitere Person hinzukam, flüchtete er anschließend. Der Angeklagte war zum Tatzeitpunkt alkoholisiert; die Blutalkoholkonzentration betrug 2,5 ‰.41
Das Landgericht hatte in dem Strafverfahren wegen dieses Vorfalls eine vorsätzliche Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung angenommen und den Angeklagten mangels Schuldfähigkeit freigesprochen, jedoch seine Unterbringung nach § 63 StGB angeordnet. Dieses Urteil hebt der Bundesgerichtshof auf, weil die von der Tatsacheninstanz gewürdigten Umstände keine tragfähige Grundlage für die Befürchtung erheblicher rechtswidriger Taten, insbesondere Körperverletzungen, ergäben. Die Gefährlichkeitsprognose hatte die Strafkammer ersichtlich auf eine Äußerung des Sachverständigen gestützt, „es sei nicht voraussehbar, wie sich der Angeklagte in seinen Affekten aufschaukele“, die das Revisionsurteil als „unbestimmt und als maßgebende Beurteilungsgrundlage deshalb ungeeignet“ bezeichnet. Zudem wurden frühere strafrechtlich relevante Vorfälle gewürdigt: eine Schlägerei mit Zechkumpanen und der anschließende Versuch, in ein Gebäude einzudringen; ein Schlag gegenüber einer Lehrerin, die den Angeklagten zum Verlassen einer Schulturnhalle zu bewegen suchte, als er Schülerinnen beim Sport zusehen wollte; eine Konfrontation mit einem Sozialarbeiter, auf den der Angeklagte mit einem Hammer ohne Stiel losging; aggressives und beleidigendes Verhalten gegenüber dem Sachverständigen in einer Hauptverhandlung. Alle diese Vorfälle wertet der Bundesgerichtshof als unbedeutend, und er sieht in dieser Vorgeschichte auch keine Tendenz zur Steigerung aggressiver Verhaltensweisen oder zu einer größeren Vielfalt von Rechtsverletzungen.42 40 Böllinger (1995: Rn. 79 zu § 63 StGB); Hanack (1991: Rn. 50 ff. zu § 63 StGB); Marquardt (1972: 123 ff.). 41 BGH, Urteil vom 23. Januar 1986 – 4 StR 620 / 85 (= NStZ 1986, 237). 42 BGH, Urteil vom 23. Januar 1986 – 4 StR 620 / 85 (= NStZ 1986, 237).
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Das Gemeinsame der strafrechtlich relevanten Ereignisse in der Vorgeschichte und in dem Verfahren, das zunächst zur Anordnung einer psychiatrischen Unterbringung führt, liegt darin, daß es sich um vorsätzliche Körperverletzungen, Nötigungen und Beleidigungen handelt, die sich aus Konfliktsituationen ergeben. In einem Fall – der Konfrontation mit dem Sozialarbeiter – dürfte zumindest eine versuchte gefährliche Körperverletzung vorliegen. Selbst nach der knappen Schilderung der Vorfälle spricht einiges dafür, daß der Angeklagte manche dieser Konflikte selbst heraufbeschworen hat. Entscheidend für die Beurteilung als lediglich geringfügig oder lästig ist die Feststellung, daß es zwar zu Taterfolgen wie dem Zurückdrängen (§ 240 I StGB) oder der körperlichen Mißhandlung (§ 223 I StGB) anderer Personen gekommen ist, nicht aber zu Schädigungen, die beispielsweise eine eingehende medizinische Behandlung erfordert hätten. Und daraus wird geschlossen, daß sich die Qualität künftiger Delikte nicht deutlich von der bereits begangener unterscheiden wird. Das ist eine Wertung, die eher einleuchtet als die der Tatsacheninstanz. Die neuere Rechtsprechung liefert zahlreiche weitere Beispiele für die Fallgruppe bloß lästiger Taten. Dazu zählen Delikte aus dem Bereich der geringfügigen Vermögenskriminalität, etwa Ladendiebstähle geringwertiger Sachen, Beförderungserschleichungen und Zechprellereien 43 ebenso wie krankheitstypische Bedrohungen und Sachbeschädigungen gegenüber Pflegepersonal und Mitpatienten in einer psychiatrischen Einrichtung44, Drohbriefe an die Staatsanwaltschaft45, exhibitionistische Handlungen46 oder ausländerrechtliche Verstöße von Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaats der Europäischen Union.47 Während die ältere Rechtsprechung teilweise die Auffassung vertritt, daß die „Fülle“ an sich geringfügiger Taten, die zu erwarten wäre, die in § 63 StGB vorausgesetzte Erheblichkeit der Delinquenz begründe48, wird neuerdings nicht mehr danach unterschieden, ob lediglich einzelne oder ganze Serien von Bagatellen erwartet werden können.49 43 BGH, Beschlüsse vom 11. Dezember 1991 – 5 StR 626 / 91 (= NStZ 1992, 178) und vom 27. Mai 1992 – 3 StR 10 / 92 (= StV 1992, 571); Urteil vom 7. Januar 1997 – 5 StR 508 / 96 (= StV 1997, 466); zu dieser letztgenannten Entscheidung Laubenthal (1997). 44 BGH, Urteil vom 22. Januar 1998 – 4 StR 354 / 97 (= NStZ 1998, 405); Beschlüsse vom 25. August 1998 – 4 StR 385 / 98 (ausführlich nur in JURIS veröffentlicht) und vom 8. Juli 1999 – 4 StR 269 / 99 (= NStZ 1999, 611). 45 BGH, Beschluß vom 27. Mai 1992 – 3 StR 10 / 92 (= StV 1992, 571). 46 BGH, Urteile vom 29. November 1994 – 1 StR 689 / 94 (= NStZ 1995, 228) und vom 24. März 1998 – 1 StR 31 / 98 (= NStZ 1998, 408 f.); Beschluß vom 25. Februar 1999 – 4 StR 690 / 98 (= NStZ-RR 1999, 298). 47 BGH, Beschluß vom 20. März 1997 – 5 StR 95 / 97 (= NStZ-RR 1997, 290). 48 So noch BGH, Urteile vom 28. September 1966 – 2 StR 203 / 66 (= NJW 1967, 297) und vom 9. Juni 1967 – 4 StR 166 / 67 (= GA 1969, 280). 49 BGH, Urteil vom 29. Juni 1965 – 5 StR 228 / 65 (= BGHSt 20, 232) und Beschluß vom 11. Dezember 1991 – 5 StR 626 / 91 (= NStZ 1992, 178); OLG Hamm, Beschluß vom 3. September 1970 – 3 Ws 346 / 70 (= NJW 1970, 1982). Zustimmend Hanack (1991: Rn. 53 zu § 63 StGB).
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Hier überlagern sich Argumente zur Gefährlichkeit und zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Über diese Beispiele hinaus kann man das Bagatellprinzip allgemein eingreifen lassen, wenn die gesetzliche Strafdrohung auf besonders niedrigem Niveau bleibt, weil etwa nur Geldstrafe oder höchstens Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten angedroht wird.50 Solche Bestrebungen bleiben allerdings seit der Strafrechtsreform wenig praktisch: veröffentlichte Rechtsprechung zu diesem Problem scheint nicht vorzuliegen. Immerhin existieren einschlägige Tatbestände selbst im Strafgesetzbuch, wie die Vorschriften über die Verleitung zu einer falschen uneidlichen Aussage (§ 160 I 2. Alt. StGB) und die Ausübung der verbotenen Prostitution (§ 184a StGB) zeigen. Eine zweite Variante der schadensbezogenen Betrachtungsweise bezieht sich auf Taten, die leicht zu durchschauen sind, erkennbar auf eine psychische Störung zurückgehen und einen Schadenseintritt recht unwahrscheinlich machen.51 Dazu zählen etwa beleidigende Briefe, die unlogisch erscheinende Beschuldigungen gegen eine Vielzahl von Personen enthalten52, oder Taten, die aufgrund der Vorgehensweise nicht als Angriff auf die geschützten Rechtsgüter ernst genommen werden, wie von vornherein aussichtslose Betrugsversuche53 und kleine Diebstähle54 oder versuchte Sexualdelikte an der Grenze der Erheblichkeit im Sinne des Sexualstrafrechts (§ 184c Nr. 1 StGB).55 Darüber hinaus wird allgemein angenommen, daß Gefährlichkeit nicht in bloßer Selbstgefährdung bestehen kann56 – das würde der fundamentalen Voraussetzung des Kriminalrechts widersprechen, die für die Strafbarkeit eine Beeinträchtigung eines fremden Rechtsguts fordert. Ob es jedoch für die Erheblichkeit künftiger Rechtsgutsverletzungen ausreicht, wenn sie lediglich gegen Familienangehörige des Täters oder gegen Personen zu befürchten sind, die diesem nahestehen, ist weniger klar. Vor allem die Rechtsprechung tendiert dazu, darin keinen Gesichtspunkt zu sehen, der eine andere Betrachtung rechtfertigte als bei zu erwartenden Schädigungen beliebiger Dritter.57 Demgegenüber fordert die teilweise als „ReHanack (1991: Rn. 55 zu § 63 StGB). Scheuble (1996: 213). 52 RG, Urteil vom 29. April 1937 – 2 D 191 / 37 (= JW 1937, 2373); KG, Urteil vom 17. Februar 1960 – 1 Ss 410 / 59 (= JR 1960, 351); BGH, Urteil vom 29. Mai 1968 – 2 StR 160 / 68 (= NJW 1968, 1683). 53 OLG Hamm, Beschluß vom 7. Juni 1971 – 4 Ws 113 / 71 (= MDR 1971, 1026). 54 BGH, Urteil vom 3. Februar 1955 – 4 StR 612 / 54 (= NJW 1955, 837, 838). 55 BGH, Urteil vom 28. April 1970 – 1 StR 82 / 70 (= NJW 1970, 1242); offen gelassen in BGH, Beschluß vom 28. Februar 1989 – 3 StR 546 / 88 (= BGHR § 63 StGB Gefährlichkeit 7). 56 Hanack (1991: Rn. 60 zu § 63 StGB); E. Horn (1999: Rn. 13 zu § 63 StGB); Meier (2001: 258); Stree (2001: Rn. 16 zu § 63 StGB). 57 BGH, Urteile vom 6. April 1976 – 1 StR 847 / 75 (= BGHSt 26, 321) und vom 7. Juni 1995 – 2 StR 206 / 95 (= NStZ 1995, 609). Ebenso Kindhäuser (2002: Rn. 6 zu § 63 StGB); Lackner (2001: Rn. 7 zu § 63 StGB); Meier (2001: 258). 50 51
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präsentationstheorie“ bezeichnete Gegenauffassung, daß mögliche Geschädigte Vertreter der Allgemeinheit sind.58 Zur Begründung wird vorgetragen, die Gesellschaft habe „kein Interesse an der mit strafrechtlicher Stigmatisierung verbundenen Unterbringung, solange das Risiko durch das funktionale Äquivalent der öffentlichrechtlichen Unterbringung aufgefangen werden kann“.59 Daß die Kriterien dafür unsicher sind, zeigt sich daran, daß bei Gefährdung der Ehefrau eines Täters die Erheblichkeitsschwelle noch nicht überschritten sein soll, wohl aber bei der Befürchtung „schwerer Kindesmißhandlung“.60 Vor allem spricht gegen diese Auffassung, daß Argumente unterschiedlicher systematischer Herkunft miteinander vermischt werden. Die Frage, ob Gefährlichkeit im Sinne des § 63 StGB angenommen werden kann, ist von der weiteren Frage zu trennen, ob die Anordnung dieser Maßregel, deren Voraussetzungen auch im übrigen vorliegen müssen, deshalb nicht erforderlich ist, weil eine weniger einschneidende, aber voraussichtlich ebenso wirksame Alternative zur Verfügung steht. Letzteres ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit der Sanktion.61 Für das vorrangig zu prüfende Merkmal der Gefährlichkeit kommt es dagegen nicht darauf an, ob mögliche Geschädigte ausschließlich im sozialen Nahraum des potentiellen Täters zu finden sind oder auch fremde Opfer betroffen sein können. Zudem läßt sich empirisch nachweisen, daß sich Gewalthandlungen psychisch Kranker überwiegend gegen Personen in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld richten.62 Es würde dem Sicherungszweck des § 63 StGB zuwiderlaufen, wenn die größte Gruppe potentieller Geschädigter von vornherein nicht geschützt wäre. Die Fallgruppen zu verbrechensdogmatischen Aspekten, die für eine Eingrenzung der Erheblichkeit künftiger Delikte und damit des Merkmals „Gefährlichkeit“ vorgeschlagen werden, beziehen sich ausnahmslos auf Abweichungen von dem als Grundmodell des Verbrechensaufbaus verstandenen Typus des vorsätzlichen Begehungsdelikts. Beim versuchten Delikt ist der objektive Tatbestand des vollendeten Delikts nicht erfüllt, beim fahrlässigen Delikt fehlt es am Vorsatz, und Unterlassungsdelikte sind dadurch gekennzeichnet, daß kein aktives Handeln vorliegt. Wie sich aus Vorschriften des Allgemeinen Teils (§§ 13 I, 15, 23 I StGB) und der Systematik des Strafrechts insgesamt ergibt, sind diese Deliktsformen erst dann strafbar, wenn bestimmte weitere Voraussetzungen vorliegen. Deswegen ist es nicht unproblematisch, die bloße Erwartung solcher Delikte für Annahmen über die Gefährlichkeit einer Person ausreichen zu lassen. Allerdings wird diese Frage bisher kaum gestellt. Böllinger (1995: Rn. 80 f. zu § 63 StGB); Jescheck / Weigend (1996: 810). Böllinger (1995: Rn. 81 zu § 63 StGB). 60 So Böllinger (1995: Rn. 80 f. zu § 63 StGB). 61 Siehe Kapitel 16 C. II. (S. 345 ff.). 62 Angermeyer / Schulze (1998: 218); Böker / Häfner (1973: 194 ff.); Steadman et al. (1998: 399 f.). 58 59
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Die Strafrechtswissenschaft beschäftigt noch am ehesten die Kategorie der Unterlassungsdelikte. Soweit sich das Schrifttum seit der Strafrechtsreform dazu äußert, wird vertreten, daß eine Gefahr künftiger Unterlassungstaten keine Unterbringung rechtfertigt, weil weder die Anordnung noch die Vollstreckung der Maßregel dazu führten, daß die Handlungspflicht erfüllt wird.63 Das von mehreren Autoren zitierte Beispiel bezieht sich auf den Fall einer Mutter, die wegen einer psychischen Störung ihre Sorgepflicht vernachlässigt und dadurch eine Gesundheitsschädigung des Kindes (§ 225 I 3. Alt. StGB) oder auch durch Vernachlässigung ihrer allgemeinen Erziehungspflicht dessen Gefährdung herbeiführt (§ 171 StGB); es wäre wenig zweckmäßig, sie aus Anlaß dieser Tat in einer psychiatrischen Einrichtung unterzubringen, wenn nicht gewährleistet ist, daß sie sich künftig um ihr Kind kümmern kann.64 Es geht aber keineswegs nur um dieses Beispiel. Beschränkt sich die Befürchtung künftiger rechtswidriger Taten auf die Erwartung, daß gegen gesetzliche Handlungspflichten verstoßen wird, so sollen die künftigen Unterlassungsdelikte nach dieser Auffassung nicht als erheblich im Sinne des § 63 StGB gelten. Allerdings werden hier zwei Gesichtspunkte vermischt. Die Frage der Erheblichkeit künftiger Delikte ist zu trennen von der weiteren Frage, ob eine psychiatrische Unterbringung auch verhältnismäßig wäre. Die einschränkende Auffassung stellt letztlich darauf ab, daß auch während des stationären Aufenthalts im Maßregelvollzug die Erfüllung der Sorgepflicht durch die verurteilte Mutter nicht gewährleistet ist. Dabei geht es um eine Frage der Geeignetheit der Maßregel als Element des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB). Ob eine bestimmte Sanktion geeignet ist, die Erfüllung einer Handlungspflicht zu gewährleisten, hängt von der Art der konkreten Pflicht und der Ausgestaltung des Vollzugs ab. Wenn eine praktikable Möglichkeit bestehen sollte, die Verurteilte in einer MutterKind-Einrichtung unterzubringen, wie dies für den Strafvollzug gesetzlich vorgesehen ist (§ 142 StVollzG), dann wäre die Unterbringung nicht von vornherein ungeeignet. Die Verhältnisse im psychiatrischen Maßregelvollzug dürften eine solche Unterbringungsform allerdings kaum zulassen65, und die Ländergesetze über den Maßregelvollzug sehen entsprechende Einrichtungen auch nicht vor. Deshalb werden die Vertreter der einschränkenden Auffassung für diesen konkreten Fall im Ergebnis Recht behalten. Verallgemeinerungsfähig ist das Argument aber nicht. Gerade an einem Tatbestand wie dem der Mißhandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 I StGB) läßt sich zeigen, daß der Gesetzgeber Handlungen wie das Quälen oder rohe Mißhandeln von Kindern oder wehrlosen Personen bestimmten Unterlassungen gleichstellt, nämlich solchen, die durch böswillige Vernachlässigung 63 Böllinger (1995: Rn. 79 zu § 63 StGB); Hanack (1991: Rn. 57 zu § 63 StGB); Schmidhäuser (1975: 749); Stree (2001: Rn. 15 zu § 63 StGB). 64 Hanack (1991: Rn. 57 zu § 63 StGB); E. Horn (1999: Rn. 11 zu § 63 StGB). 65 Im psychiatrischen Maßregelvollzug sind Frauen als Patientinnen eine kleine Minderheit. Die aktuellste deskriptive Untersuchung zu dieser Gruppe stammt von K. Melzer (2001).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
einer Sorgepflicht zu einer Gesundheitsschädigung führen. Daraus folgt für die Erheblichkeit künftiger Delikte dieser Art, daß es nicht darauf ankommt, ob Handeln oder Unterlassen zu befürchten ist. Es kommt allein darauf an, ob der Tatbestand erfüllt wäre. Soweit Unterlassungen tatbestandlich erfaßt werden, kommen Unterlassungsdelikte als erhebliche rechtswidrige Taten im Rahmen des Gefährlichkeitsbegriffs bei der psychiatrischen Unterbringung in Betracht. Grundsätzliche Zweifel an der Erheblichkeit versuchter Delikte als Gegenstand einer Gefährlichkeitsprognose liegen nicht von vornherein nahe. Ob eine Tat vollendet wird oder im Versuchsstadium steckenbleibt, hängt häufig von Zufällen ab, die jenseits der Einflußmöglichkeiten der Beteiligten in der Tatsituation liegen. Dann kann die Erheblichkeit künftiger Delikte nicht an Anhaltspunkten dafür scheitern, daß ein Taterfolg trotz strafbaren Ansetzens zur Tatbestandsverwirklichung nicht notwendig eintreten wird: „Würde die Erheblichkeit einer Straftat allein am schließlich eingetrenen Erfolg gemessen, so schieden viele Straftaten aus, die zweifellos hierher gehören. So kann ein Mordversuch ohne jeden Schaden bleiben oder ein mit großer Energie geplanter und durchgeführter Raubüberfall letztlich nur geringe Beute bringen.“66
Die Kategorie des untauglichen Versuchs ist wenig geeignet, etwas an dieser Beurteilung zu ändern. Eine Begrenzung des Erheblichkeitskriteriums kann man allenfalls dann in Betracht ziehen, wenn sich die Vorhersage auf versuchte Delikte bezieht, die schon „aus grobem Unverstand“ (§ 23 III StGB) scheitern müssen. Die Gesetzgebung hat sich zwar auch in diesem Fall – anders als bei Handlungen mit abergläubischen Mitteln67 – für die Strafbarkeit entschieden. Immerhin liegen die einschlägigen Fallgruppen an der Grenze dessen, was überhaupt als strafwürdig gilt. Sie werden dadurch gekennzeichnet, daß weder eine konkrete Rechtsgutsgefährdung noch eine abstrakte Gefährlichkeit des Verhaltens vorliegt, weil sich der Täter von völlig abwegigen Vorstellungen über gemeinhin bekannte Ursachenzusammenhänge leiten läßt.68 Soweit aber diese Grenze der Strafbarkeit aller Voraussicht nach in Zukunft nicht in gravierenderer Weise überschritten zu werden droht, wäre es nicht angebracht, im Rahmen der Unterbringungsvoraussetzungen des § 63 StGB in solchen Verstößen erhebliche rechtswidrige Taten zu erblicken. Eine dritte Untergruppe verbrechensdogmatischer Ansatzpunkte für eine Eingrenzung des Erheblichkeitskriteriums bilden zu befürchtende fahrlässige Delikte. Auch hier gibt es Fälle, bei denen sich gute Gründe dafür anführen lassen, sie im Rahmen der Unterbringungsvoraussetzungen nicht anders zu behandeln als künfti66 BGH, Urteil vom 17. Dezember 1985 – 1 StR 539 / 85 (= NStZ 1986, 165) zur Sicherungsverwahrung. 67 Die überwiegende Auffassung hält „irreale Versuche“ für nicht strafbar; siehe etwa Eser (2001a: Rn. 13 f. zu § 23 StGB), Jescheck / Weigend (1996: 532) und Wessels / Beulke (2002: 206). 68 BGH, Urteil vom 14. März 1995 – 1 StR 846 / 94 (= BGHSt 41, 94, 95 f.); Eser (2001a: Rn. 17 zu § 23 StGB); Wessels / Beulke (2002: 206).
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ge Vorsatzdelikte. Die bewußte Fahrlässigkeit betrifft einen Bereich, in dem man nicht selten darüber streiten kann, ob nicht sogar Eventualvorsatz gegeben ist – und dann bestünde über die Erheblichkeit unter diesem Gesichtspunkt kein Zweifel. Auch neuere Kriminalitätstheorien, die abweichendes Verhalten auf rationale Entscheidungen zurückführen, gehen davon aus, daß zwischen zielgerichtet begangenen Straftaten und bewußt risikoreichen Verhaltensweisen – die das Strafrecht bei Eintritt von Verletzungserfolgen zum Nachteil anderer Personen häufig als Fahrlässigkeitsdelikte erfaßt – kein qualitativer Unterschied besteht.69 Für die Fälle der unbewußten Fahrlässigkeit, in denen es an einer Reflexion des Täters über die Gefährlichkeit seines Verhaltens und die Möglichkeit einer Schädigung fehlt, erscheint eine andere Betrachtung angebracht. Hier geht es um die Bestrafung schlichter Unachtsamkeit, die bei fahrlässigen Erfolgsdelikten letztlich davon abhängt, daß ein Schaden eingetreten ist. Schon die Strafwürdigkeit solcher Verhaltensweisen wird teilweise bestritten.70 Deshalb sollte die Erwartung derartigen Verhaltens auch nicht ausreichen, die Erheblichkeit unbewußter Fahrlässigkeitsdelikte zu bejahen, wenn es um eine psychiatrische Unterbringung geht. Die schadensbezogenen Grenzen der Erheblichkeit künftiger rechtswidriger Taten lassen sich demnach durch verbrechensdogmatische Ansätze ergänzen. Soweit lediglich unbewußt fahrlässige Handlungen oder grob unverständige Versuchshandlungen zu erwarten sind, reichen diese Erwartungen nicht aus, das Merkmal der Gefährlichkeit im Hinblick auf eine psychiatrische Unterbringung zu bejahen. Dagegen können künftige Unterlassungstaten dieses Merkmal erfüllen. Letztlich erscheinen diese rechtssystematischen Bemühungen zu einer Eingrenzung des Erheblichkeitskriteriums aus rechtssoziologischer Sicht allerdings marginal: es ist nicht ersichtlich, daß sie in der Praxis der Strafgerichte bisher als Problem erschienen wären.
C. Empirische Forschungsergebnisse Die Gefährlichkeit von Straftätern, für die freiheitsentziehende Maßregeln in Betracht kommen, läßt sich empirisch auf verschiedenen Wegen bestimmen. Auf dem kürzesten Weg fragt man schlicht danach, gegen welche Täter eine bestimmte Sanktion verhängt worden ist, deren Anordnung nach dem Gesetz das Merkmal der Gefährlichkeit voraussetzt. Nach dieser Logik ist etwa „jeder Sexualstraftäter, der nach § 63 StGB untergebracht ist, schon deshalb ein ,gefährlicher Täter‘“.71 Allgemein könnte man sagen: jeder Straftäter, gegen den eine freiheitsentziehende Maßregel verhängt wird, ist schon deshalb ein gefährlicher Täter. Ein solcher Zugang mag durch seine Einfachheit verblüffen, unterstellt aber in recht naiver 69 Siehe etwa Gottfredson / Hirschi (1990: 91 ff.); kritisch zusammenfassend Kunz (2001: 198 ff.). 70 A. Kaufmann (1986: 232); M. Köhler (1997: 173, 178 ff.). 71 So ausdrücklich Schüler-Springorum (1999: 245) (Hervorhebung im Originaltext).
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Weise, daß die erkennenden Gerichte in jedem Einzelfall dieser Art zielsichere Prognosen anstellen und in jeder Hinsicht angemessene Sanktionsentscheidungen treffen. Daß keine der beiden Prämissen zutrifft, läßt sich leicht nachweisen72, und die umfangreiche veröffentlichte Rechtsprechung zeigt, daß Gefährlichkeitsprognosen auch für die Kriminaljustiz nicht von vornherein unproblematisch sind. Als Ausgangspunkt für einen Überblick zum Stand der empirischen Forschung eignet sich das Kriterium nur dann, wenn man es im Sinne des Definitionsansatzes umkehrt: wie lassen sich die Täter beschreiben, gegen die von den Strafgerichten eine kriminalrechtliche Maßregel verhängt wird? Die Aussagekraft eines solchen Vorgehens bleibt aber beschränkt. Denn soziodemographische Daten oder solche über die strafrechtliche Vorbelastung von Tätern allein gestatten noch keine objektivierbare Aussage über die künftige Gefährlichkeit dieser Gruppe. Deshalb ist eine weitere Spezifizierung erforderlich. Franz Exner hat bereits 1939 wesentlich komplexere Erfolgskriterien zur Beurteilung kriminalrechtlicher Maßregeln formuliert. Danach kommt es nicht nur auf eine deskriptive Erfassung der Zielgruppe einer bestimmten Sanktion an. Es soll weiter beurteilt werden, inwieweit der Maßregelvollzug seinen Zweck erreicht hat, was durch die Merkmale „strafrechtliche Rückfälle nach Entlassung“ und „Entweichungen“ gemessen werden soll. Das dritte Kriterium ist eher qualitativ angelegt und soll eine Beurteilung gestatten, ob im Vollzug einer Maßregel besondere Schwierigkeiten und Kosten entstehen, die ihre Ziele konterkarieren.73 Gefährlichkeit im Zusammenhang mit psychischen Störungen läßt sich also nicht durch ein einziges empirisches Merkmal erschöpfend beschreiben. Da im Zusammenhang mit der Maßregel des § 63 StGB in erster Linie die Gruppe der psychisch gestörten Straftäter interessiert, geht der folgende Überblick von Ergebnissen einer umfassenden eigenen Untersuchung zur Anordnung und Vollstrekkung dieser Maßregel aus.74 Diese werden durch Daten der Strafverfolgungsstatistik und weitere empirische Forschungsergebnisse ergänzt. Geschildert werden Merkmale der Delikte, die zur Verhängung der Maßregel führen, Merkmale der Entscheidungen und der Verurteilten sowie mögliche Effektivitätskriterien während des Maßregelvollzugs und im Anschluß an eine Entlassung.
I. Unterbringungsdelikte bei § 63 StGB Rückschlüsse auf das Verständnis des Gefährlichkeitsmerkmals bei der Maßregel nach § 63 StGB ermöglicht zunächst eine Betrachtung der Delikte, die den Strafgerichten Anlaß für eine Verhängung solcher Sanktionen geben. Gliedert man Zur Problematik von Gefährlichkeitsprognosen bereits Kapitel 11 (S. 182 ff.). Exner (1939: 91 f.). 74 Der Abschlußbericht dieses Forschungsprojekts liegt bereits vor; siehe Dessecker (1997). 72 73
Kap. 13: Gefährlichkeit bei der Unterbringung nach § 63 StGB
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die Unterbringungsdelikte in zehn Deliktsgruppen nach der schwersten Tat, so ergeben sich die Verteilungen in Tabelle 3. Tabelle 3 Schwerstes Unterbringungsdelikt bei der Maßregel nach § 63 StGB – Stichproben der eigenen Untersuchung im Vergleich zur Strafverfolgungsstatistik 2000 (%) Stichprobe (1980)
Stichprobe (1986)
Strafverfolgungsstatistik (2000)
n = 154
n = 184
N = 758
Tötungsdelikte
14,3
17,4
15,3
sexuelle Gewaltdelikte
14,3
10,9
9,2
sonstige Sexualdelikte
13,0
8,7
8,4
Körperverletzung
15,6
17,9
27,8
Brandstiftung
13,6
13,6
14,1
Raub, Erpressung
7,1
8,2
10,0
schwerer Diebstahl
13,0
6,5
4,2
sonstige Eigentumsdelikte
2,6
2,2
1,6
Betrugsdelikte
2,6
4,3
2,4
sonstige Delikte
3,9
10,3
6.9
Die Tabelle enthält prozentuale Angaben für zwei bundesweite Zufallsstichproben zur Anordnung der psychiatrischen Unterbringung nach § 63 StGB in den Jahren 1980 und 1986; zum Vergleich werden die Daten der Strafverfolgungsstatistik für das Jahr 2000 herangezogen.75 Die Angaben beziehen sich damit auf ein weitgehend deckungsgleiches geographisches Gebiet.76 Allerdings wird für diesen Vergleich eine nicht ganz einheitliche Datengrundlage in Kauf genommen. Während die Stichproben der Aktenanalyse auf den vollständigeren Daten des Bundeszentralregisters beruhen, sind die veröffentlichten Tabellen der Strafverfolgungsstatistik aktueller, aber nach den Erfahrungen der Aktenanalyse wahrscheinlich unvollständig.77 75 Die Daten der Strafverfolgungsstatistik sind nach der Fassung vom 1. April 1998, also nach Inkrafttreten des 6. StrRG, aufbereitet. Dadurch ergeben sich für die Tabelle jedoch keine Abweichungen in der Zuordnung der Delikte. 76 Die einzige Abweichung besteht darin, daß die Strafverfolgungsstatistik das gesamte Land Berlin einbezieht, während die empirische Untersuchung neben den übrigen Ländern der damaligen Bundesrepublik lediglich Berlin (West) umfaßt. 77 Nach Gebauer (1993: 29 ff.) ist damit zu rechnen, daß jede vierte bis fünfte verhängte Maßregel dort nicht registriert wird.
15*
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
In die Kategorie der Tötungsdelikte fallen bei dieser Gruppierung alle Straftaten gegen das Leben (§§ 211 – 222 StGB). Als sexuelle Gewaltdelikte werden Vergewaltigung und sexuelle Nötigung (§§ 177 – 178 StGB) bezeichnet. Die sonstigen Sexualdelikte umfassen im wesentlichen die übrigen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 173 – 176a, 179 – 184a StGB); in der Aktenanalyse erfaßt diese Kategorie fast ausschließlich Mißbrauchsdelikte nach § 176 StGB, während nach der Strafverfolgungsstatistik 2000 auch andere Tatbestände bis hin zu dem der Verbreitung pornographischer Schriften (§ 184 I und II StGB) vertreten sind. Als Körperverletzung gelten alle Straftaten in dem gleichnamigen Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches (§§ 223 – 231 StGB). Zur Kategorie der Brandstiftung werden neben dem Versicherungsbetrug (§ 265 StGB a.F.) die gemeingefährlichen Delikte in §§ 306 – 306 f. StGB gezählt. Raub- und Erpressungsdelikte sind die Straftaten nach §§ 249 – 255 StGB einschließlich des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer (§ 316a StGB). Als schwerer Diebstahl werden die Strafzumessungsregeln und Qualifikationen in §§ 243 – 244a StGB bezeichnet, als sonstige Eigentumsdelikte die einfachen Diebstahls- und Unterschlagungstatbestände (§§ 242, 246 – 248c StGB). Als Betrugsdelikte erscheinen alle übrigen Straftaten gegen fremdes Vermögen einschließlich der Urkundenfälschung (§§ 263 – 281 StGB). Alle übrigen Straftaten fallen unter die Restkategorie; sie erfaßt ein breites Spektrum von Delikten, wobei nach der neuesten Strafverfolgungsstatistik Fälle der Geiselnahme (§ 239b StGB) ebenso eine Rolle spielen wie Sachbeschädigungen (§ 303 StGB), Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, Straßenverkehrsdelikte, Widerstand (§ 113 StGB) und Beleidigung (§ 185 StGB). Im Erhebungsjahrgang 1980 sind sexuelle Gewaltdelikte, aber auch der sexuelle Mißbrauch von Kindern und schwere Diebstähle noch etwa ebenso häufig Anlaß für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wie Tötungsdelikte oder Körperverletzungen. Diese Häufigkeitsanteile verschieben sich im Jahr 1986; nun sind Körperverletzungs- und Tötungsdelikte am häufigsten Anlaß für die Verhängung einer psychiatrischen Maßregel, und an dritter Stelle folgen Brandstiftungen – eine Reihenfolge, die noch 2000 gilt. Die Daten der Strafverfolgungsstatistik zeigen jedoch eine noch deutlichere Verschiebung zu Gewaltdelikten, vor allem Körperverletzungs- und Raubdelikten. Das Spektrum der Delikte, die zur Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus führen, ist in allen drei Zeitintervallen recht breit. Das läßt sich anhand zweier Beispiele aus der Aktenanalyse für den Anordnungsjahrgang 1986 veranschaulichen, von denen das erste einen eher trivialen Vorfall betrifft: Ein 24jähriger Waldarbeiter, der zuvor strafrechtlich völlig unauffällig war, setzte einen Gestrüpphaufen in Brand, der sich in einiger Entfernung von einem Waldgebiet befand. Darüber hinaus bestand der Verdacht einer Brandstiftung an Fabrikations- und Lagerhallen einer holzverarbeitenden Fabrik, der sich jedoch nicht bestätigen ließ. Seine Schuldfähigkeit wurde durch die Polizei nach dem Eindruck, den der Beschuldigte bei einer Vernehmung machte, in Zweifel gezogen. Daraufhin erfolgte ohne weitere Untersuchung durch einen Sachverständigen eine einstweilige Unterbringung gem. § 126a StPO.
Kap. 13: Gefährlichkeit bei der Unterbringung nach § 63 StGB
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Eine Haftbeschwerde nach sechs Monaten wurde verworfen. Das psychiatrische Gutachten, das in der Einrichtung erstellt wurde, kam zu dem Ergebnis, daß eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis vorliege. Doch könne „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, daß von [dem Beschuldigten] keine weiteren Straftaten mehr zu erwarten“ seien, wenn er etwa zwei Jahre lang stationär behandelt werde. Nachdem die einstweilige Unterbringung zehn Monate lang vollzogen worden war, wurde die Eröffnung des Sicherungsverfahrens abgelehnt und der Unterbringungsbefehl aufgehoben, weil keine strafbare Handlung vorliege. Die Unterbringung wurde nunmehr auf das PsychKG gestützt. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wurde der Antrag im Sicherungsverfahren durch das Oberlandesgericht zur Hauptverhandlung zugelassen und der strafprozessuale Unterbringungsbefehl wieder in Kraft gesetzt. Das Landgericht ordnete wegen fahrlässiger Herbeiführung einer Brandgefahr (§ 310a II StGB a.F.) die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, die es zugleich nach § 67b StGB zur Bewährung aussetzte. Es wies den Verurteilten an, in dem Psychiatrischen Landeskrankenhaus zu bleiben. Auch nach Ablauf der dreijährigen Führungsaufsicht blieb er noch mindestens weitere sechs Monate in dieser Einrichtung.
Das obere Extrem des Spektrums bilden schwere Delikte gegen Personen, wie etwa in dem folgenden Verfahren: Ein 29jähriger Mann, der u. a. wegen Mordes und sexuellen Mißbrauchs eines Kindes bereits eine lange Jugendstrafe verbüßt hatte, vergewaltigte und tötete drei junge Frauen, die er flüchtig kannte. Die Untersuchungshaft wurde für eine vorübergehende Unterbringung zur Begutachtung (§ 81 StPO) unterbrochen. Im Strafverfahren wurden zwei psychiatrische und ein selbständiges psychologisches Gutachten erstellt, die übereinstimmend zu dem Ergebnis kamen, daß die Schuldfähigkeit zur Zeit der Taten vermindert und die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu empfehlen sei. Diagnostiziert wurden eine Triebabnormität und eine Persönlichkeitsstörung. Das Schwurgericht verhängte eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren und eine Maßregel nach § 63 StGB, die zunächst etwa zwei Jahre lang entsprechend der gesetzlichen Reihenfolge vollzogen wurde. Dann erfolgte wegen fehlender Therapiebereitschaft eine Verlegung in den Strafvollzug. Nach weiteren 4 Jahren wurde der Verurteilte aufgrund einer positiven gutachterlichen Stellungnahme zur Behandlungsbereitschaft erneut in den psychiatrischen Maßregelvollzug verlegt, nun allerdings in ein anderes Bundesland. Die Unterbringung dauerte zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch an.
Eine weitere Dimension der Unterbringungsdelikte nach § 63 StGB wird durch eine Betrachtung der verursachten Schäden eröffnet78; allerdings gibt es dafür wegen der Vielfalt der Delikte und der durch sie geschützten Rechtsgüter kein einheitliches Kriterium. Besonders problematisch erscheint der Schadensaspekt bei Beeinträchtigungen der sexuellen Selbstbestimmung, zumal der quantitativ nicht unbedeutende sexuelle Mißbrauch von Kindern ein reines Tätigkeitsdelikt darstellt.79 Soweit den ausgewerteten Strafverfahrensakten einschlägige Informationen zu entnehmen sind, läßt sich festhalten, daß in der Untersuchungsgruppe aus Dessecker (1997: 69 ff.). BGH, Urteil vom 24. September 1991 – 5 StR 364 / 91 (= BGHSt 38, 68, 69); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 2 zu § 176 StGB). 78 79
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
dem Jahr 1986 die Mehrzahl der Anordnungsdelikte zu einem körperlichen Schaden führte. Meist machten diese Verletzungen eine medizinische Behandlung erforderlich; in jedem fünften Verfahren wurde zumindest eine versuchte Tötung festgestellt. Unter den Sexualdelikten findet sich ein großer Anteil von Taten mit einer einzigen betroffenen Person bei einer Gelegenheit, doch erweisen sich Fälle mit mehreren Betroffenen innerhalb eines Tatzeitraums von einem Jahr als wenig seltener. Vermögensschäden, die im Erhebungsjahrgang 1980 noch Gegenstand jedes zweiten Verfahrens waren, sind 1986 etwas weniger häufig Anlaß einer psychiatrischen Unterbringung. Dabei übersteigen die Schadensbeträge in der Hälfte der Fälle mit einem gerichtlich festgestellten Schaden die Grenze von 10.000 DM. Die bei einer Betrachtung lediglich der Strafverfolgungsstatistik oder auch aufgrund regionaler Untersuchungen zum psychiatrischen Maßregelvollzug80 naheliegende Annahme, nach der praktischen Handhabung stünden Gewaltdelikte und gemeingefährliche Straftaten zunehmend in Vordergrund81, ist aus dieser Sicht zu modifizieren. Einer Zunahme bei Tötungs-, Körperverletzungs- und Raubdelikten steht der rückläufige Anteil sexueller Gewaltdelikte gegenüber. Daneben verzeichnet die Statistik immer wieder Anlaßdelikte, die einen erheblich geringeren Unrechtsgehalt aufweisen.
II. Unterbringungsentscheidungen nach § 63 StGB Knapp zwei Drittel der Verurteilten, gegen die eine psychiatrische Unterbringung verhängt wird, gelten zum Tatzeitpunkt als schuldunfähig (§ 20 StGB), ein gutes Drittel gilt als vermindert schuldfähig (§ 21 StGB).82 Der Häufigkeit von Feststellungen der Schuldunfähigkeit entsprechend, wird in jedem zweiten Verfahren ausschließlich eine psychiatrische Unterbringung nach § 63 StGB ohne weitere Hauptsanktion angeordnet. An zweiter Stelle folgt mit Anteilen von rund 30 % die Kombination dieser Maßregel mit einer nicht ausgesetzten Freiheitsstrafe. Auf isolierte Maßregeln, die nach § 67b StGB zugleich mit ihrer Anordnung zur Bewährung ausgesetzt werden, entfällt ein weiteres Sechstel. Verfahren mit ausgesetzter Maßregel und ausgesetzter Strafe stellen etwa 5 % der Gerichtsentscheidungen. Die Verbindung einer Freiheitsstrafe mit Bewährung und einer nicht ausgesetzten Unterbringung ist nur in wenigen Einzelfällen von Bedeutung; die umgekehrte Konstellation wird durch die Regelung in § 67b I 2 StGB versperrt und tritt auch in der Sanktionspraxis nicht auf. Seifert / Leygraf (1997: 240); Seifert et al. (2001: 250 f.). So etwa Kaiser (1990: 15, 35 f.), wo sich zwar die „wichtige Einschränkung“ findet, „daß sich die Anwendung des § 63 StGB nicht notwendig darin erschöpft“, andererseits aber diesbezüglich kein rechtspolitischer Handlungsbedarf gesehen wird. 82 Dessecker (1997: 80 ff.). Auch nach der Strafverfolgungsstatistik 2000 wird bei 66% der Verurteilten mit einer psychiatrischen Unterbringung Schuldunfähigkeit angenommen. 80 81
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Rückschlüsse auf die Bedeutung der Anlaßtat ermöglicht weiter das verhängte Strafmaß; allerdings kommt hier von vornherein nur eine Minderheit der untersuchten Sanktionsentscheidungen in Betracht, nämlich die Verfahren, in denen neben der psychiatrischen Unterbringung auch eine Freiheitsstrafe verhängt wird.83 Die Strafmaße liegen zwischen vier Monaten und einer lebenslangen Strafe. Etwa ein Viertel der Strafen dauert bis zu einem Jahr, doch bei jedem zweiten Verurteilten überschreitet die verhängte Freiheitsstrafe schon 1980 die Schwelle von zwei Jahren. Lange Strafen von mehr als drei Jahren sind in der Stichprobe von 1986 neben der psychiatrischen Unterbringung deutlich häufiger als noch Anfang der 1980er Jahre: dieser Wert der verhängten Freiheitsstrafen halbiert 1986 die Reihe der Meßwerte. Diese Verschärfung der ausgesprochenen Strafen ist bemerkenswert, da sich beim Vergleich der beiden Stichproben nicht ohne weiteres eine Konzentration auf schwerere Taten feststellen läßt.
III. Merkmale der Verurteilten bei der Unterbringung nach § 63 StGB Ähnlich wie im Strafvollzug sind Männer unter den Verurteilten, gegen die eine freiheitsentziehende Maßregel nach § 63 StGB verhängt wird, bei weitem überrepräsentiert; der Frauenanteil beträgt nach der eigenen Untersuchung wie auch nach Daten zum psychiatrischen Maßregelvollzug höchstens 5 %.84 Mehr als zwei Drittel der Personen mit Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus waren nie verheiratet und haben keine Kinder. Zum Zeitpunkt der Maßregelanordnung sind sie im Mittel etwa 33 Jahre alt. Sie besitzen überwiegend eine einfache Schulbildung und zu etwa einem Drittel keine Berufsausbildung, arbeitslose Personen sind überrepräsentiert, und nach einem groben Modell dominieren unter ihnen Angehörige sozialer Unterschichten.85 Eine deutliche Mehrheit weist eine ausgeprägte Vorgeschichte psychischer Störungen und psychiatrischer Behandlungen auf. Vier von fünf Verurteilten wird bereits vor dem Bezugsverfahren, in dem die strafrechtliche Unterbringung erfolgt, eine entsprechende Diagnose gestellt. Bei rund 40 % derjenigen, deren Unterbringung auf § 63 StGB gestützt wird, ist zudem eine Suchtproblematik erkennbar. Die Mehrheit hat mindestens eine stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik hinter sich gebracht, auch wenn über Anlaß und Aufenthaltsdauer aufgrund der Strafverfahrensakten meist keine konkreten Angaben möglich sind.
Dessecker (1997: 86). Dessecker (1997: 43 f.); nach den Daten der Strafvollzugsstatistik waren zu einem Stichtag im Frühjahr 2000 im Maßregelvollzug nach § 63 StGB rund 5% Frauen. 85 Dessecker (1997: 44 ff.). Untersuchungen zum psychiatrischen Maßregelvollzug kommen insoweit zu weitgehend übereinstimmenden Ergebnissen; siehe z. B. Seifert et al. (2000). 83 84
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Die Mehrheit der Personen, gegen die eine psychiatrische Unterbringung verhängt wird, wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt strafrechtlich verurteilt. In Anbetracht der Tatsache, daß es sich um eine freiheitsentziehende Sanktion handelt, liegt der Anteil der Verurteilten ohne strafrechtliche Voreintragung im Bundeszentralregister mit bis zu 40 % aber relativ hoch. Gegen lediglich ein Viertel wurde zuvor eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung verhängt. Die strafrechtliche Vorbelastung wird zu einem großen Teil durch Eigentums- und Vermögensdelikte bestimmt, streut aber breit durch fast alle Deliktsgruppen, die das materielle Strafrecht kennt.86
IV. Auffälligkeiten während der Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug Ein erstes Effektivitätskriterium der kriminalrechtlichen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, das gelegentlich herangezogen wird, betrifft Auffälligkeiten während der Unterbringung im Maßregelvollzug.87 In der empirischen Untersuchung fällt auf, daß gewisse Zwischenfälle im psychiatrischen Maßregelvollzug nicht selten vorzukommen scheinen. Dies gilt vor allem für – meist kurzzeitige – Entweichungen ohne Straftaten, die nach den Vollstreckungsakten der Strafjustiz bei mehr als einem Drittel der Maßregelpatienten festzustellen sind. Typischerweise handelt es sich nicht um gewaltsame Ausbrüche, sondern um Fälle deutlich verspäteter Rückkehr von einem Ausgang oder um schlichtes Weglaufen bei sich bietender Gelegenheit. Alkoholkonsum wird bei jedem fünften Patienten registriert, medizinisch nicht indizierter Drogengebrauch bei rund 6%. Während der Unterbringungszeit oder während eines Urlaubs begehen rund 10% der Maßregelpatienten eine neue strafrechtlich relevante Tat. Dabei überwiegen Eigentums- und Vermögensdelikte.88 Bei der Interpretation dieser Angaben ist zu berücksichtigen, daß sie stärker gefiltert sind als der Inhalt von Patientenakten der Maßregeleinrichtungen, die im Rahmen der eigenen Studie nicht ausgewertet wurden. Deswegen gelten Aktenanalysen der Patientenakten im Hinblick auf Vorfälle während des Aufenthalts im Maßregelvollzug als verläßlicher – was nicht heißt, daß sich das Problem unvollständiger Registrierung hier nicht stellte.89 Dennoch sind die Ergebnisse weitgehend konsistent mit denen empirischer Untersuchungen und Erfahrungsberichte zum psychiatrischen Maßregelvollzug. Vor allem über die Bedeutung bestimmter Auffälligkeiten der Maßregelpatienten gibt es einige weitere Forschungsergebnisse. Allgemein werden Entweichungen ohne 86 Dessecker (1997: 56 ff.). Regionale Studien zum Maßregelvollzug konstatieren teilweise eine gewisse Zunahme schwerer Delikte in der Vorgeschichte; so etwa Seifert / Leygraf (1997: 240). 87 So schon der Vorschlag von Exner (1939: 91 f.). 88 Dessecker (1997: 105 f.). 89 Bischof (1986: 91); Thornberry / Jacoby (1979: 70 ff.).
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Straftaten im psychiatrischen Maßregelvollzug mit einer gewissen Häufigkeit beobachtet, wobei die gemessenen Anteile je nach Erhebungszeitraum und Studie schwanken.90 Dabei stammen die niedrigen Werte allerdings aus den 1960er Jahren, als die Vollzugsbedingungen noch wesentlich rigider waren als heute.91 Soweit Entweichungen überhaupt mit einer Straftat verbunden sind, handelt es sich überwiegend um leichtere Eigentumsdelikte. Doch wird dieser eher unspektakuläre Alltag im Maßregelvollzug immer wieder durch einzelne schwere Taten bis hin zu Tötungsdelikten unterbrochen.92 Gerade diese schweren Delikte – und besonders die Sexualdelikte darunter – bestimmen jedoch weithin das Bild psychisch gestörter Straftäter in der Öffentlichkeit. Auffälligkeiten wie Entweichungen, Suchtmittelkonsum und kleinere Delikte gegenüber Mitpatienten oder dem Pflegepersonal werden weitgehend durch die Bedingungen geprägt, die in einer mehr oder weniger geschlossenen Institution herrschen. Regelverstöße während des Maßregelvollzugs sagen deshalb hauptsächlich etwas über die Effektivität von Sicherungsvorkehrungen oder auch von Therapie aus; für die Beurteilung einer Gefährlichkeit der Maßregelpatienten erscheinen sie weniger aussagekräftig. V. Legalbewährung Die Effektivität kriminalrechtlicher Sanktionen wird üblicherweise durch Kriterien der Legalbewährung gemessen, die meist durch den Anteil erneut strafrechtlich verurteilter oder erneut in den Strafvollzug eingewiesener Probanden operationalisiert werden.93 Für die Evaluation therapeutischer Programme, die nach dem gesetzlichen Anspruch an den psychiatrischen Maßregelvollzug von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind94, kommen darüber hinaus Beurteilungskriterien in Betracht, die sich auf soziale Integration, Lebenszufriedenheit, Symptomatik psychischer Störungen und Umgang mit Suchtmitteln beziehen. Diese Kriterien sind allerdings eher Gegenstand von Katamnesestudien zur Allgemeinpsychiatrie. 95 Im folgenden werden daher in erster Linie neue Eintragungen im Bundeszentralregister herangezogen, aber auch Widerrufe einer Aussetzung der Maßregel, also 90 Die jüngste Untersuchung, die allerdings eher an einem Vergleich mit der Allgemeinpsychiatrie interessiert ist und keine personenbezogenen Vergleiche ermöglicht, stammt von Orlob et al. (2000). 91 Vgl. Bischof (1986: 89) und den vergleichenden Überblick bei Gretenkord / MüllerIsberner (1991: 307). 92 Aus empirischer Sicht dazu etwa Bischof (1986: 90 f.), Freese et al. (1995) und Seifert / Leygraf (1997: 242 f.). 93 Allgemeine Darstellungen finden sich etwa bei Kunz (2001: 333 ff.) und Schöch (1996). 94 Siehe Kapitel 12 D. (S. 207 ff.). 95 Eine Ausnahme bildet die Studie von M. Weber (1985), die sich jedoch nur auf eine kleine Untersuchungsgruppe stützt.
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
solche Kriterien, die auf Entscheidungen der Strafgerichte beruhen. Betrachtet wird zunächst eine Untersuchungsgruppe aller Personen der eigenen Studie zur Anordnung und Vollstreckung der Maßregel nach § 63 StGB, welche im Jahr 1980 verurteilt wurden, anschließend im psychiatrischen Maßregelvollzug waren und mindestens zwei Jahre vor der Datenerhebung entlassen wurden, so daß ein genügend langer Beobachtungszeitraum zur Verfügung steht. Dabei handelt es sich um 94 ehemalige Maßregelpatienten.96 Von diesen 94 Personen wurde innerhalb von zwei Jahren seit ihrer Entlassung mit 83 % der größte Teil nicht erneut verurteilt. Dagegen lag bei 14 % eine Verurteilung vor, und gegen die restlichen 3 % waren sogar mehrere neue Verurteilungen registriert. Sechs der 16 Verurteilungen bezogen sich auf Eigentumsdelikte, weitere vier auf Straßenverkehrsdelikte; rund die Hälfte der verhängten Sanktionen beschränkte sich auf Geldstrafen. Erweitert man den Beobachtungszeitraum auf fünf Jahre, so schrumpft die Stichprobe aus erhebungstechnischen Gründen auf 69 Personen, während der Anteil der erneuten Verurteilungen zunimmt. Von dieser Gruppe wurden 36 % erneut verurteilt. Unter den Rückfalldelikten befand sich auch ein Totschlag und eine gefährliche Körperverletzung. Bei den Sanktionen nahm der Anteil der Freiheitsstrafen auf 17 % der aus dem Maßregelvollzug entlassenen Personen zu.97 Ein Vorzug der Heranziehung von Registerdaten besteht darin, daß sie auf rechtskräftigen Verurteilungen beruhen. Damit einher geht der Nachteil, daß solche Gerichtsentscheidungen sich als Ergebnis von Filterungsprozessen der Kriminaljustiz darstellen. Delikte, die nicht zu einer Verurteilung führen, werden mit Ausnahme von Verfahrenseinstellungen wegen Schuldunfähigkeit (§ 11 BZRG98) nicht im Bundeszentralregister erfaßt. Die Aktenanalyse der Strafvollstreckungsakten ermöglicht dagegen eine Einbeziehung auch solcher Taten, die nach Aussetzung der Maßregel und während der Führungsaufsicht (§ 67d II 2 StGB) im Vollstreckungsverfahren aktenkundig werden. Erwartungsgemäß liegt der Anteil erneuter Delikte nach dieser Betrachtungsweise höher als nach dem Bundeszentralregister: in den Vollstreckungsakten wird für 40 % der unter Führungsaufsicht stehenden ehemaligen Maßregelpatienten eine erneute rechtswidrige Tat registriert. Allerdings führt nur ein Drittel dieser Taten zu einem Widerruf der Maßregelaussetzung, was auch mit ihrem Charakter als überwiegend wenig gravierende Verstöße zusammenhängen dürfte. Die Einschätzung dieser Ergebnisse wird erleichtert, wenn man sie mit denen anderer empirischer Studien vergleicht. Zu diesem Zweck werden Resultate verDessecker (1997: 132 ff.). Dessecker (1997: 138 f.). 98 Die Berechtigung der Eintragungspflicht und vor allem der fehlenden Tilgungsfrist solcher Entscheidungen ist umstritten, wird aber vom Bundesverfassungsgericht nicht als verfassungswidrig angesehen. Siehe Cording (1995) und BVerfG, Beschluß vom 8. August 1990 – 2 BvR 417 / 89 (= StV 1991, 556). 96 97
Kap. 13: Gefährlichkeit bei der Unterbringung nach § 63 StGB
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schiedener Legalbewährungsstudien in Tabelle 4 zusammengestellt. Die Tabelle zeigt die Ergebnisse der eigenen Studie, die zweier regionaler Studien zu § 63 StGB und sowie diejenigen zweier Studien zum Strafvollzug. Im einzelnen folgt auf die Resultate der eigenen Untersuchung, die aus Vergleichbarkeitsgründen entsprechend den im folgenden erläuterten Rückfalldefinitionen umgerechnet wurden, eine Untersuchung über entlassene Maßregelpatienten des Psychiatrischen Zentrums Weissenau in Baden-Württemberg99 sowie eine Untersuchung aus der zentralen hessischen Einrichtung, der Klinik für gerichtliche Psychiatrie Haina.100 Im rechten Teil der Tabelle finden sich Ergebnisse zweier Legalbewährungsstudien zum Strafvollzug. Eine davon bezieht sich auf die Strafgefangenen in NordrheinWestfalen, die das Einweisungsverfahren des Strafvollzugs durchlaufen hatten und 1975 entlassen waren101, die zweite auf entlassene Gefangene der sozialtherapeutischen Anstalt in Berlin-Tegel.102 Die Tabelle enthält keinen umfassenden Vergleich aller existierenden Legalbewährungsstudien zum psychiatrischen Maßregelvollzug in Deutschland, sondern beschränkt sich auf neuere Untersuchungen, die keine Vorauswahl nach bestimmten Unterbringungsdelikten treffen.103 Ältere Forschungsergebnisse, die auf Unterbringungsentscheidungen aus der Zeit vor der Strafrechtsreform beruhen, dürften überholt sein, weil sich die Klientel der Einrichtungen in den letzten vierzig Jahren deutlich verändert hat.104 Einige weitere Studien orientieren sich in methodischer Hinsicht mehr an den jeweiligen forschungspraktischen Gegebenheiten als an der Vergleichbarkeit mit anderen Forschungsergebnissen. Internationale Vergleiche zur Legalbewährung von Straftätern mit psychischen Störungen werden an dieser Stelle noch nicht herangezogen, weil sie meist von den jeweils geltenden rechtlichen Regelungen abstrahieren.105 Der methodische Zuschnitt der für die folgende Darstellung ausgewählten Untersuchungen stimmt zwar nicht vollständig überein, ist aber doch so ähnlich, daß ein Vergleich lohnt. Die Kriterien für einen strafrechtlichen Rückfall werden abgestuft und weitgehend einheitlich definiert.
Jockusch / Keller (2001). Gretenkord (2001: 103 ff.). 101 Baumann et al. (1983); ähnliche Ergebnisse zu Niedersachsen finden sich bei Berckhauer / Hasenpusch (1982). 102 Dünkel (1980). 103 Einen vollständigeren Überblick – auch zu älteren Untersuchungen – bietet Leygraf (1998: 179 ff.). Darüber hinaus sind dem Verfasser derzeit drei laufende Legalbewährungsstudien zum psychiatrischen Maßregelvollzug von Dimmek (1999), Nowara (2001: 17 f.) und Seifert et al. (2000) bekannt, aus denen erst vorläufige Ergebnisse vorliegen. 104 Deswegen wird z. B. die umfangreiche Untersuchung von Ritzel (1978) ausgeklammert. 105 In der Meta-Analyse von Bonta et al. (1998: 127), die sich auf Forschungsberichte in englischer Sprache beschränkt, variieren die Rückfallraten im Hinblick auf Gewaltdelikte zwischen 8 und 62%. 99
100
2%
R3: erneuter Freiheitsentzug (wie R2) wegen Gewalt- oder Sexualdelikten
4
3
2
Jockusch / Keller (2001: 458). Gretenkord (2001: 170). Dünkel (1980: 217 ff., 224). Baumann et al. (1983: 136).
19 %
R2: erneuter Freiheitsentzug (Strafe oder Maßregel ohne Bewährung einschl. Widerruf der Aussetzung)
1
20 %
§ 63 StGB (eigene Studie) 2 Jahre n = 94
R1: irgendeine neue Eintragung (Verurteilung oder Einstellung gem. § 20 StGB)
Rückfallkriterium
4%
28 %
41 %
§ 63 StGB (eigene Studie) 5 Jahre n = 69
10 %
26 %
40 %
§ 63 StGB (Weissenau)1 5 Jahre n = 169
11 %
29 %
43 %
§ 63 StGB (Haina)2 1 8,5 Jahre n = 196
(12 % Freiheitsstrafe > 2 Jahre)
27 %
53 %
Sozialtherapie (Berlin)3 1 4,7 Jahre n = 125
Resultate von Legalbewährungsstudien zum Maßregel- und Strafvollzug im Vergleich
Tabelle 4
(15 % Freiheitsstrafe 2 Jahre)
41 %
66 %
Strafvollzug (Nordrhein-Westfalen)4 5 – 6 Jahre n = 1.077
236 3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Kap. 13: Gefährlichkeit bei der Unterbringung nach § 63 StGB
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Eine wichtige Einschränkung ist zunächst für die unterschiedlichen Beobachtungszeiträume zu machen, die in den zum Vergleich herangezogenen Studien teilweise erheblich länger sind als in der eigenen Untersuchung. Gegen Vergleiche mit Legalbewährungsstudien zum Strafvollzug kann zudem vorgebracht werden, daß die Gruppen der (entlassenen) Maßregelpatienten und der (entlassenen) Strafgefangenen sich zu sehr unterscheiden. Hier ist mit Einflüssen zu rechnen, die in einer bloßen Betrachtung von Rückfallquoten nicht kontrolliert werden können. Dazu gehört die schlichte Tatsache, daß Freiheitsstrafen nicht unbefristet vollzogen werden und spätestens nach voller Verbüßung automatisch mit einer Entlassung enden. Obwohl einige Hinweise dafür vorliegen, daß psychische Störungen nicht selten auch unter Strafgefangenen diagnostiziert werden könnten106, unterscheidet sich die Verteilung der Diagnosen recht deutlich vom psychiatrischen Maßregelvollzug. Zudem findet bei der Aufnahme in sozialtherapeutische Anstalten eine Selektion statt, die auch die Legalbewährung beeinflußt. Die Einrichtungen des psychiatrischen Maßregelvollzugs haben dagegen – abgesehen von ihrer Mitwirkung bei Begutachtungen im Erkenntnisverfahren – nur wenig Möglichkeiten, ihre Zugänge zu steuern. Insofern ist ein solcher Vergleich also höchst vorläufig; er läßt sich aber damit rechtfertigen, daß kontrollierte Studien über Strafgefangene und Maßregelpatienten in Deutschland bisher nicht vorliegen107, Patienten des psychiatrischen Maßregelvollzugs in vieler Hinsicht jedoch eher mit Strafgefangenen vergleichbar sind als mit nicht dissozialen psychisch Kranken.108 Zur Messung der Legalbewährung werden verschiedene Rückfallkriterien herangezogen. Das am wenigsten selektive Kriterium R1 bezieht sich auf beliebige neue Verurteilungen, bei den Studien zum Maßregelvollzug einschließlich der Verfahrenseinstellungen wegen Schuldunfähigkeit. Diese sind nach § 11 BZRG eintragungspflichtig, auch wenn sie bereits durch die Staatsanwaltschaft erfolgen. Zwar ergibt sich aus den Veröffentlichungen zu den früheren Studien nicht klar, wie solche Eintragungen behandelt worden sind. Ihr Ausschluß würde nach den eigenen Erfahrungen voraussichtlich aber nur zu geringen Abweichungen führen.109 Zu diesem ersten Kriterium, das nur geringe Anforderungen an eine erneute strafrechtliche Auffälligkeit stellt, liegen für alle Studien Angaben vor. Die Rückfallquote nach der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, wie sie in der eigenen Untersuchung im Verlauf von fünf Jahren ermittelt wird, weicht kaum von den Werten regionaler Studien über Entlassenenkohorten einzelner Einrichtungen ab. Als deutlich höher erweisen sich demgegenüber die Rückfallquoten der Studien zum Strafvollzug, wobei allerdings die sozialtherapeutische Anstalt Frädrich / Pfäfflin (2000); Kinzig (1996: 324 ff.); Konrad (1994). Das ist kein Zufall, weil solche Kontrollgruppendesigns erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden hätten; dazu etwa Leygraf (1998: 176). 108 Dessecker (1997: 43 f.); Leygraf (1988: 19 ff., 176 f.); Seifert et al. (2000). 109 Dessecker (1997: 134 f.). 106 107
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
einen günstigeren Wert aufweist als der Regelvollzug. Damit läßt sich festhalten, daß aus der Unterbringung nach § 63 StGB entlassene Maßregelpatienten eine deutlich günstigere Legalbewährung aufweisen als ehemalige Strafgefangene, wenn man beliebige strafrechtliche Registereintragungen betrachtet und von den Unterschieden der Vollzugspopulationen absieht. Das strengere Kriterium R2 bezieht sich auf erneute Aufenthalte im Straf- oder Maßregelvollzug. Ein gewisser Unsicherheitsfaktor liegt darin, daß die Aufnahme im Vollzug nicht im Register eingetragen wird; es geht also eher um die Verhängung einer freiheitsentziehenden und nicht zur Bewährung ausgesetzten Sanktion. Etwas problematischer, aber aus Gründen der Vergleichbarkeit mit früheren Untersuchungen erforderlich ist die Gleichbehandlung neuer stationärer Sanktionen mit Widerrufen der Maßregelaussetzung. Denn immerhin gibt es Widerrufsentscheidungen, die ausdrücklich nicht mit einer neuen Straftat begründet werden. Das sind in der eigenen Untersuchung zu § 63 StGB drei von 16 Widerrufen einer nachträglichen Aussetzung der Maßregel, also rund ein Fünftel.110 Allen Studien lassen sich auch für dieses zweite Kriterium Angaben entnehmen. Nun ist gegenüber dem weiter gefaßten Kriterium R1 eine Angleichung der Rückfallquoten zu beobachten: abgesehen von der Entlassungskohorte aus dem Regelstrafvollzug weisen alle Studien Werte um 30 % neuer Aufenthalte im Straf- oder Maßregelvollzug aus. Das gilt für die Untersuchungen zum psychiatrischen Maßregelvollzug wie auch für die Berliner Sozialtherapie. Der engste Rückfallbegriff ergibt sich nach Kriterium R3, wonach eine Verurteilung zu einer freiheitsentziehenden Sanktion gerade wegen eines schweren Gewalt- oder eines Sexualdelikts erfolgt sein muß. Dazu werden aus Gründen der Vergleichbarkeit der Ergebnisse aus den herangezogenen Studien alle Tötungs-, Körperverletzungs-, Sexual- und Brandstiftungsdelikte sowie Raubdelikte gezählt; damit soll nicht behauptet werden, daß alle Brandstiftungs- oder Sexualdelikte denselben Unrechtsgehalt aufwiesen wie folgenreiche Gewaltdelikte gegen Personen. Entscheidend ist die strafrechtliche Würdigung der Tat durch das erkennende Gericht. Die Ergebnisse der Untersuchungen zu § 63 StGB machen deutlich, daß schwere Delikte ehemaliger Maßregelpatienten seltene Ereignisse sind. Dies gilt nach der eigenen Studie, die ja auf einer Stichprobe für alle westlichen Bundesländer beruht, noch eher als nach den regional begrenzten Untersuchungen, die teilweise einen längeren Beobachtungszeitraum aufweisen und allein die Klientel spezialisierter Maßregeleinrichtungen betrachten. Zudem ist nicht auszuschließen, daß mit der Anlage der eigenen Legalbewährungsstudie bevorzugt solche Maßregelpatienten erfaßt wurden, die nach Einschätzung der Maßregeleinrichtungen und der Strafvollstreckungskammern ein relativ geringes Gewaltrisiko boten und deshalb früher entlassen wurden. Dagegen lassen sich zu den Angaben aus dem Strafvollzug in Nordrhein-Westfalen und Berlin keine unmittelbaren Vergleiche ziehen; 110 Gretenkord (2001: 167) berichtet über einen ähnlich hohen Anteil von Widerrufen ohne unmittelbaren Bezug zu Verstößen gegen Strafgesetze.
Kap. 13: Gefährlichkeit bei der Unterbringung nach § 63 StGB
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es ist nicht auszuschließen, daß längere Freiheitsstrafen auch wegen anderer Delikte verhängt werden. Zieht man das Kriterium der Legalbewährung heran, läßt sich der Behandlung im psychiatrischen Maßregelvollzug damit eine gewisse Wirksamkeit nicht absprechen.111 Doch sei nochmals darauf hingewiesen, daß der Forschungsstand insgesamt durch einige methodische Defizite gekennzeichnet ist. Dazu gehört auch die Schwierigkeit, daß Anschlußaufenthalte in allgemeinpsychiatrischen Einrichtungen nicht ohne weiteres mit der Situation nach einer Entlassung in die Freiheit vergleichbar sind. Der Anteil der nachträglichen Aussetzungen einer Maßregel nach § 63 StGB, die lediglich zu einer Veränderung der Rechtsgrundlage für einen weiteren Aufenthalt in der Psychiatrie führen, ist nicht zu vernachlässigen.112
VI. Ausgewählte Studien zur Gefährlichkeit von Personen mit psychischen Störungen Die Personengruppe, für die das deutsche Kriminalrecht die Maßregel nach § 63 StGB vorsieht, ist in der internationalen empirischen Forschung Gegenstand zahlreicher Untersuchungen zur Gefährlichkeit bei psychischen Störungen. Diese Forschungsarbeiten knüpfen meist nicht an den Voraussetzungen konkreter Rechtsnormen an, sondern orientieren sich eher an theoretischen Annahmen über Zusammenhänge zwischen bestimmten Formen psychischer Störungen und der Begehung von Gewaltdelikten. Obwohl die Psychiatrie ein breites Spektrum an Diagnosen kennt, konzentrieren sich die meisten Studien auf schwere Psychosen.113 Die Ergebnisse lassen sich nach den gewählten Stichproben und Untersuchungsansätzen gruppieren; dabei stehen Studien über Personen aus relativ geschlossenen Institutionen der Psychiatrie und des Strafvollzugs, die wegen des geringen Aufwands bei der Bildung geeigneter Untersuchungsgruppen immer wieder durchgeführt werden, zunehmend epidemiologische Forschungsdesigns gegenüber, die sich auf weniger ausgelesene Stichproben der Wohnbevölkerung stützen. Der folgende Überblick zur empirischen Gefährlichkeitsforschung setzt Schwerpunkte bei besonders wichtigen neueren Studien und beansprucht angesichts der zahlreichen Veröffentlichungen, die zu diesem Thema vorliegen, keine Vollständigkeit.114 So auch die Einschätzung von Leygraf (1998: 182). Während nach Gretenkord (2001: 156 f.) 41% der Untersuchungsgruppe nach der Aussetzung weiterhin in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht waren, verblieben in der eigenen Studie – Dessecker (1997: 116) – immerhin noch 19% in derselben Einrichtung. Nach Dimmek (1999: 94 f.) erfolgten zwischen 1985 und 1993 rund 60% der Entlassungen aus dem Westfälischen Zentrum für Forensische Psychiatrie, einer der größten Einrichtungen, „direkt in andere Institutionen“. 113 Der Forschungsstand zu Einflußfaktoren, die mit einer Suchtproblematik verbunden sind, wird in Kapitel 14 C. VI. resümiert; siehe S. 278 ff. 114 Neben traditionellen Übersichtsartikeln wie denen von Angermeyer / Schulze (1998), Haller (2000) und Mitchell (1999) liegt auch eine Meta-Analyse von Bonta et al. (1998) vor. 111 112
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Schon damit läßt sich zeigen, daß die Frage, inwieweit Personen mit psychischen Störungen eher zu gewaltsamen Handlungen neigen als Menschen ohne eine solche Störung, in der internationalen psychowissenschaftlichen Forschung in recht differenzierter Weise diskutiert wird. Traditionell stehen Untersuchungsgruppen aus psychiatrischen Kliniken im Vordergrund der Aufmerksamkeit. Dabei wurde mehrfach festgestellt, daß auch in der Allgemeinpsychiatrie zahlreiche Personen stationär untergebracht sind, die in der Vergangenheit gewaltsame Handlungen oder auch andere rechtswidrige Taten begingen, ohne daß darin der konkrete Anlaß für den Klinikaufenthalt zu liegen braucht.115 Eine deutsche Studie über schizophrene Patientinnen und Patienten aus dem Einzugsbereich des Psychiatrischen Zentrums Weissenau in Baden-Württemberg, unter denen sich keine Maßregelpatienten befanden, stellte innerhalb der ersten zwei Jahre des Krankheitsverlaufs bei 75 % der Männer und 53 % der Frauen ein fremdaggressives Verhalten fest, wovon sich ein großer Teil allerdings auf verbale Drohungen beschränkte. In 42 % der Fälle erfolgte eine nicht-strafrechtliche Zwangsunterbringung, in 37 % kam es zu einem Polizeieinsatz und in 10 % zu einer Strafanzeige.116 Die MacArthur Violence Risk Assessment Study, ein groß angelegtes und noch nicht abgeschlossenes US-amerikanisches Forschungsprojekt, das in erster Linie eine Verbesserung von Gefährlichkeitsprognosen117 erreichen soll, geht von mehreren Stichproben mit Personen aus, die wegen einer akuten psychischen Störung stationär behandelt wurden. Insgesamt wurden 950 Patientinnen und Patienten in der Klinik und mindestens einmal nach der Entlassung befragt; im Idealfall wurden mit derselben Person insgesamt sechs Interviews geführt. Die mittlere stationäre Aufenthaltsdauer betrug neun Tage, wobei Personen, die länger als 145 Tage in der Klinik blieben, aus der Stichprobe herausgenommen wurden. An einem Ort wurde darüber hinaus eine Kontrollgruppe aus der Wohnbevölkerung gezogen.118 Innerhalb eines Jahres nach der Entlassung waren nach dieser Untersuchung 28 % der Patienten mindestens einmal in gravierender Weise gewalttätig, am häufigsten in Form vollendeter Körperverletzung, und weitere 33 % begingen leichtere Gewalthandlungen gegen Personen (meist Familienangehörige) ohne Verletzungsfolgen. Diese Angaben beruhen zum größten Teil auf Selbstberichten der Befragten, zum Teil auf einer ergänzenden Informantenbefragung, da bei diesen Vorfällen nur ausnahmsweise die Polizei eingeschaltet wurde. Soweit keine Symptome einer Suchtproblematik erkennbar waren, unterschied sich die Häufigkeit von Gewalthandlungen der entlassenen Psychiatriepatienten nicht in statistisch bedeutsamer 115 In der Bremer Untersuchung von G. Bruns (1993: 161 ff.) erfolgten 17% der Unterbringungen nach dem PsychKG wegen einer „fremdgefährlichen Handlung“; was sich dahinter verbirgt, wird dort nicht konkret geschildert. Zu internationalen Forschungsergebnissen etwa Swanson et al. (1997: 14). 116 Steinert (1998: 91 ff.). 117 Zu diesem Gesichtspunkt Steadman et al. (2000). 118 Steadman et al. (1998).
Kap. 13: Gefährlichkeit bei der Unterbringung nach § 63 StGB
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Weise von entsprechenden Delikten der Kontrollgruppe, die wie die meisten Patienten aus Stadtvierteln mit relativ hohen Kriminalitätsraten stammte. Erst bei einem Vergleich der Untergruppen mit einer Suchtproblematik zeigte sich in der Phase kurz nach der Entlassung bei den Personen mit weiteren psychischen Störungen eine signifikant erhöhte Verbreitung von Gewaltdelikten.119 Ein allgemeiner Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und Gewaltdelikten läßt sich nach diesen Ergebnissen nicht annehmen, wohl aber ein solcher zwischen der Diagnose einer Suchtproblematik, die in der Untersuchungsgruppe am häufigsten auftritt, und der Begehung von Gewaltdelikten. Allerdings beschränken sich sowohl die Klinikaufenthalte wie auch die Phase eines erhöhten Gewaltrisikos auf relativ kurze und überschaubare Zeiträume von nicht mehr als fünf Monaten. Nach einer Vergleichsstudie aufgrund einer Sekundärauswertung von Datensätzen aus zwei empirischen Untersuchungen, dem Epidemiological Catchment Area-Projekt, das – soweit hier einbezogen – an drei verschiedenen Orten der USA durchgeführt wurde, und dem Triangle Mental Health Survey über Patientinnen und Patienten psychiatrischer Kliniken in North Carolina, ergab sich, daß die Befragten aus der Klinikstichprobe über stärker ausgeprägte psychotische Symptome berichteten als diejenigen der Bevölkerungsstichproben, obwohl diese vergleichbare Diagnosen aufwiesen und entweder irgendwann stationär oder in den letzten sechs Monaten ambulant psychiatrisch behandelt wurden. Das Risiko von Gewalthandlungen hing mit der Ausgeprägtheit bestimmter Symptome in kurvilinearer Form zusammen, so daß Personen mit erhöhten Werten auf einer Skala zur psychotischen Symptomatik besonders häufig gewalttätig waren, während diese Neigung zu Gewalthandlungen bei sehr hohen Skalenwerten wieder zurückging. Der signifikante Zusammenhang zwischen Gewalthandlungen und bestimmten psychotischen Symptomen, nämlich der von den Befragten wahrgenommenen Bedrohung durch andere und dem Verlust innerer kognitiver Kontrolle, ließ sich auch in multivariaten Auswertungen bestätigen.120 Einen noch engeren Bezug zum psychiatrischen Maßregelvollzug nach § 63 StGB weisen solche Untersuchungen auf, die sich auf Patienten spezialisierter Einrichtungen für psychisch gestörte Straftäter konzentrieren. In den Niederlanden entspricht der deutschen Maßregel die Sanktion nach Art. 37a des niederländischen Strafgesetzbuchs121 (terbeschikkingstelling – TBS), deren Effektivität seit den 1970er Jahren in einer Serie von Studien untersucht wird.122 Bei variierenden Beobachtungszeiträumen zeigte sich langfristig ein allmählicher Rückgang der all119 Steadman et al. (1998: 398 f.). Zum Einfluß der Entlassung in ein Wohngebiet mit konzentrierter Armut Silver et al. (1999). 120 Swanson et al. (1997: 14 ff.); zu dem letztgenannten Gesichtspunkt auch Link et al. (1999: 323 ff.). 121 Wetboek van Strafrecht vom 3. März 1881, zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. Juni 2000 (zitiert nach der Veröffentlichung im Internet: http: / / 195.108.206.3 / wet / inhoud / sr_1.html am 4. April 2001); zu diesen Bestimmungen Schaffmeister (1977: 22 f.). 122 Zusammenfassend Leygraf (1998: 183).
16 Dessecker
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
gemeinen Rückfallquote mit einem beliebigen Delikt auf etwas mehr als 50% der entlassenen Personen, während sich die Anteile von Gewaltdelikten gegen Personen und Sexualdelikten nach einer Entlassung auf dem Niveau zwischen 15 und 20% stabilisierten. Im Hinblick auf die noch stärkere Konzentration der niederländischen Maßregel auf Gewalt- und Sexualtäter erscheint dieses Ergebnis auch im Vergleich mit den deutschen Forschungsergebnissen zu § 63 StGB als durchaus beachtlich.123 Als besonders rückfallgefährdet erwiesen sich Personen, die von den Gerichten entgegen der Stellungnahme der Einrichtung ohne vorbereitende Lockerungen entlassen wurden. Eine umfangreiche Studie über Straf- und Untersuchungsgefangene in den USA stammt von Linda Teplin et al.124 Diese empirische Untersuchung betrachtete die Frage nach einem Zusammenhang von psychischen Störungen und Gewaltkriminalität anhand einer Zufallsstichprobe von 664 Personen, die innerhalb eines Jahres im Zeitraum zwischen November 1983 und November 1984 im Gefängnis von Cook County (Chicago) in Untersuchungshaft waren oder eine kurze Freiheitsstrafe wegen eines Vergehens verbüßten. Die Legalbewährung im Zeitraum der folgenden sechs Jahre wurde anhand offizieller Registrierungen polizeilicher Festnahmen überprüft. Dabei ergab sich, daß die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Festnahme wegen eines Gewaltdelikts – einschließlich aller Sexualdelikte, aber ohne Brandstiftungen und Einbruchsdiebstähle –, die in Abhängigkeit von der in Freiheit verbrachten Zeit berechnet wurde, 47 % betrug, bezogen auf schwerere Delikte immer noch 18 %. Keine der Untergruppen mit einer von fünf psychiatrischen Diagnosen (schizophrene und zyklothyme Psychose, Depression sowie verschiedene Formen von Abhängigkeit) unterschied sich aber signifikant von der Gruppe ohne psychiatrisch relevanten Befund. Dieses Ergebnis änderte sich nicht, wenn frühere Auffälligkeiten wegen Gewaltdelikten und Lebensalter kontrolliert wurden. Allerdings ergab sich ein Hinweis darauf, daß das Vorhandensein psychotischer Symptome wie Halluzinationen oder Wahnvorstellungen eine bessere Erklärung für Gewaltdelikte nach der Entlassung aus der Haft darstellte.125 Ein wesentlicher Nachteil solcher Untersuchungen über Personen aus geschlossenen Institutionen besteht darin, daß die Stichproben einer starken Auslese unterworfen sind. Auf diese Weise werden Extremgruppen erfaßt, in denen viele Einzelpersonen durch deutliche psychische und strafrechtliche Auffälligkeiten gekennzeichnet sind. Das versuchen vor allem solche empirischen Ansätze zu vermeiden, die sich mit der Erklärung bestimmter Formen von Kriminalität beschäftigen. Sie beziehen sich teilweise nicht auf Gewaltdelikte insgesamt, sondern auf ausgewählte Deliktsgruppen wie etwa die Tötungsdelikte. Zu diesem Vergleich Leygraf (1998: 182 f.). Teplin et al. (1994). 125 Daß manifeste psychotische Symptome im Hinblick auf Gefährlichkeitsprognosen aussagekräftiger sind als die bloße Diagnose einer psychotischen Störung, ist vor allem die These von Link et al. (1999: 323 ff.); siehe weiterhin Swanson et al. (1997: 16 ff.). 123 124
Kap. 13: Gefährlichkeit bei der Unterbringung nach § 63 StGB
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Einen bis heute einflußreichen deutschen Beitrag zu dieser Diskussion liefert die 1973 veröffentlichte Untersuchung von Wolfgang Böker und Heinz Häfner, eine epidemiologische Studie über Zusammenhänge zwischen psychischen Störungen, die als „schwere psychische Erkrankungen und höhere Grade des Schwachsinns“126 charakterisiert werden, und schwerer Kriminalität, d. h. im wesentlichen Tötungsdelikten. Es handelt sich um eine Gesamterhebung aller ermittelten Fälle für den Zeitraum der Jahre 1955 – 64 auf der Grundlage von Strafverfahrens- und Patientenakten, die über die Polizei, die Staatsanwaltschaften und die zuständigen psychiatrischen Landeskrankenhäuser festgestellt wurden. Überproportional häufig im Vergleich zu einer Stichprobe aus der Allgemeinpsychiatrie war vor allem die Diagnose einer Schizophrenie vertreten. 72 % der Probanden wurden sogleich nach der Tat in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht (offenbar überwiegend nach § 126a StPO und anschließend über die Maßregel nach § 42b StGB a.F.). Es gab aber auch eine kleine Gruppe von 4 %, bei denen das Verfahren trotz der Schwere der Tat sanktionslos eingestellt wurde. Das Risiko schwerer Gewaltdelikte liegt nach dieser Untersuchung bei Menschen mit psychischen Störungen nicht höher als in der Bevölkerung insgesamt127 – eine Aussage, die aufgrund neuerer Forschungsergebnisse teilweise relativiert wird. Teilweise sind Analysen zur Beteiligung bestimmter Tätergruppen an der registrierten Kriminalität bereits aufgrund offizieller Statistiken möglich. So ergibt eine Zeitreihenanalyse von Daten der Kriminalstatistik für England und Wales im Zeitraum zwischen 1957 und 1995, daß die Zahl der Verurteilten wegen eines Tötungsdelikts (einschließlich der Verhandlungsunfähigen und der Personen, die sich erfolgreich auf die insanity defence128 beriefen) mit der Zeit ansteigt. Gleichzeitig verändern sich die absoluten Zahlen der Beschuldigten mit einer psychischen Störung jedoch nur wenig. Das führt dazu, daß ihr Anteil an den wegen eines solchen Delikts Verurteilten jährlich um rund 3% zurückgeht.129 Mehr Informationen über genügend große Gruppen von Personen mit psychischen Störungen sind in regionalen Bevölkerungs- und Fallregistern verfügbar, die in mehreren Ländern angelegt wurden. Auf einem solchen Register beruht eine Längsschnittstudie über alle Fälle von Schizophrenie, die zwischen 1964 und 1984 Böker / Häfner (1973: 53 ff.). Böker / Häfner (1973: 96 ff., 234 ff.). 128 Diese Einwendung der Beschuldigtenseite führt nach dem common law zu einem Freispruch und eröffnet eine zeitlich unbestimmte Unterbringungsmöglichkeit in einer psychiatrischen Einrichtung, so daß die Figur im deutschen Kriminalrecht am ehesten mit den §§ 20, 63 StGB vergleichbar ist. Gerade in England und Wales ist ihre Bedeutung seit 1957, als bei Anklagen wegen Mordes (murder) die Rechtsfigur der diminished responsibility mit der Folge einer Verurteilung lediglich wegen Totschlags (manslaughter) eingeführt wurde, stark zurückgegangen und steigt erst nach der Eröffnung von Sanktionsalternativen im Jahr 1991 wieder etwas an. Hierzu die empirische Untersuchung von Mackay / Kearns (1999) und Taylor / Gunn (1999: 11). 129 Taylor / Gunn (1999: 11 f.). 126 127
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in dem Londoner Stadtteil Camberwell registriert wurden.130 Zum Vergleich wurde eine Kontrollgruppe mit sonstigen psychischen Störungen herangezogen, die aus demselben Fallregister stammte und nach Alter, Geschlecht und Zeitpunkt der Registrierung parallelisiert wurde. In dieser Studie ging es in erster Linie um die Erklärung von Kriminalitätskarrieren; geprüft wurde die Hypothese, daß Schizophrenie im Vergleich zu anderen psychischen Störungen einen unabhängigen Beitrag zur Erklärung registrierter Kriminalität liefert, die durch strafrechtliche Verurteilungen gemessen wurde. Für schizophrene Frauen ergab sich dabei deliktsunabhängig eine um das Dreifache erhöhte Verurteilungsrate. Bei den Männern mit Schizophrenie zeigte sich dagegen keine höhere Wahrscheinlichkeit der Verurteilung wegen irgendeiner Straftat, wohl aber bei einer Untergruppe junger schwarzer Männer afrokaribischer Herkunft, die einen bedeutsamen Anteil der lokalen Wohnbevölkerung stellten. Hier interessiert vor allem das Risiko einer Verurteilung wegen eines Gewaltdelikts, das bei den Männern mit Schizophrenie im Vergleich zu Männern mit anderen psychischen Störungen – in der Kontrollgruppe wurden meist Depressionen, eine Suchtproblematik oder Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert – um den Faktor 2 – 3 erhöht war.131 Es ist davon auszugehen, daß im Rahmen dieses Forschungsprojekts annähernd eine Gesamterhebung aller Fälle gravierenderer psychischer Störungen gelungen ist, die während des Zeitraums von 20 Jahren in einem Londoner Stadtteil diagnostiziert wurden. Wegen der ungleichen Kriminalitätsbelastung verschiedener Altersgruppen könnte darin gerade ein Defizit der Untersuchung liegen, denn anders als bei den noch darzustellenden weiteren Studien anhand von Bevölkerungsdaten wird keine Alterskohorte ins Auge gefaßt, die während eines Jahres geboren ist. Der Einzugsbereich des ausgewerteten Fallregisters mit 120.000 bis 170.000 Einwohnern wäre dafür angesichts der relativen Seltenheit von Schizophrenie in der Bevölkerung und der geringen Zahl von Verurteilungen wegen Gewaltdelikten schlicht zu klein.132 Die psychiatrischen Diagnosen, die für die Auswertungen herangezogen werden, beruhen nicht auf einer konsistenten Begutachtung durch Angehörige der Forschungsgruppe, sondern auf den Angaben im Fallregister und Analysen von ergänzend hinzugezogenen Patientenakten. Damit wird eine gewisse Unschärfe in Kauf genommen. Schließlich ist bei der Heranziehung gerichtlicher Verurteilungen zur Operationalisierung der abhängigen Variable „Straffälligkeit“ damit zu rechnen, daß Selektionseffekte des Strafverfahrens reproduziert werden. Untersuchungen über unausgelesene Alterskohorten der Bevölkerung eines bestimmten geographischen Gebiets liegen hauptsächlich aus den skandinavischen Ländern vor.133 Eine finnische Studie von Jari Tiihonen et al. bezieht sich auf über 12.000 Personen, die 1966 in den beiden nördlichsten Provinzen Finnlands ge130 131 132 133
Wessely et al. (1994). Wessely et al. (1994: 489 f.). Wessely et al. (1994: 485). Zusammenfassend Hodgins / Janson (2002: 90 ff.).
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boren wurden.134 Die Datenerhebungen begannen bereits während der Schwangerschaft der Mütter und wurden bis in das 26. Lebensjahr der Untersuchungspersonen fortgeführt. Unter den männlichen Probanden, die zum Zeitpunkt der Strafregisterabfrage Ende 1992 in Finnland lebten, waren 503 mindestens einmal verurteilt worden. 23 % dieser Verurteilten wiesen zugleich eine psychiatrische Diagnose auf; allerdings bezog sich nur jede vierte dieser Diagnosen auf eine gravierende psychische Störung. Die Zahlen werden noch kleiner, wenn man die hier interessierenden Täter betrachtet, die wegen eines Gewaltdelikts (einschließlich Brandstiftung und Hausfriedensbruch) verurteilt worden waren: es bleiben 165 männliche Gewalttäter, von denen elf als psychotisch diagnostiziert wurden. Unter ihnen weisen die sieben Täter mit der Diagnose „Schizophrenie“ gegenüber denjenigen ohne schwere psychische Störung ein signifikant erhöhtes Risiko im Hinblick auf die Begehung von Gewaltdelikten auf. Die nähere Betrachtung zeigt allerdings, daß es sich überwiegend um Personen handelt, die zugleich eine deutliche Alkoholproblematik aufweisen.135 Die Aussagekraft dieser Ergebnisse ist nicht nur dadurch begrenzt, daß trotz der umfangreichen Ausgangskohorte die Fallzahlen für differenziertere Auswertungen von Zusammenhängen zwischen psychischen Störungen und der Begehung von Gewaltdelikten zu klein werden. Fraglich ist auch, ob sie über die Verhältnisse ländlicher Gegenden in Skandinavien hinaus verallgemeinert werden können.136 Doch werden sie durch andere Forschungen teilweise bestätigt. So kommt eine epidemiologische Studie aus den USA zu dem Ergebnis, daß Personen mit der doppelten Diagnose einer Suchtproblematik neben einer sonstigen psychischen Störung ein besonders hohes Risiko für Gewaltanwendung aufweisen. Dabei stand aber eher das Suchtelement im Vordergrund, das bereits für sich genommen schon den größten Teil des Gewaltrisikos erklärte.137 Eine noch wesentlich umfangreichere Grundgesamtheit als in Finnland wurde in einer Kohortenstudie aus Dänemark betrachtet. Sie beruhte auf allen vollständigen Datensätzen des dänischen Personenregisters über die Geburtsjahrgänge 1944 – 47; diese mehr als 324.000 Personen wurden im Hinblick auf stationäre Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen und Verurteilungen wegen einer Straftat bis zum Ende ihres 43. Lebensjahrs verfolgt.138 Dabei ergab sich für Frauen und Männer, die irgendwann während dieses Zeitraums stationär psychiatrisch behandelt wurden, fast durchgängig eine erhöhte Verurteilungswahrscheinlichkeit. Konzentriert man sich auf Gewaltdelikte gegen Personen (einschließlich bloßer Bedrohungen), Tiihonen et al. (1997). Tiihonen et al. (1997: 843). 136 Die Autoren der Studie sind diesbezüglich recht optimistisch: Tiihonen et al. (1997: 844) beanspruchen eine Gültigkeit ihrer Ergebnisse für alle westlichen Industriegesellschaften mit relativ niedrigen Kriminalitätsraten einschließlich Großbritanniens. 137 Swanson (1994: 124). 138 Hodgins et al. (1996). 134 135
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so zeigte sich für alle Diagnosen außer der einer organisch bedingten Psychose – die nur eine sehr kleine Gruppe betrifft – ein erhöhtes Verurteilungsrisiko. Während im Zeitraum zwischen 1978 und 1990 beispielsweise 1,5 % der Personen ohne stationären Klinikaufenthalt wegen eines Gewaltdelikts verurteilt wurden, lag der Anteil bei denen, die wegen einer Drogenproblematik (ohne Alkohol) psychiatrisch behandelt wurden, bei 13 % und belief sich in der Gruppe mit der Diagnose „Oligophrenie“ auf 11,4 %.139 Ähnliche Resultate ergab eine schwedische Kohortenstudie über den Geburtsjahrgang 1953 in der Region Stockholm.140 Die Generalisierbarkeit auch für die Verhältnisse in Deutschland erscheint bei diesen Untersuchungen weit weniger problematisch als im Hinblick auf die Studie aus Nordfinnland. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß hier letztlich nicht Personen mit psychischen Störungen mit der übrigen Bevölkerung verglichen werden; vielmehr geht es um eine Betrachtung von Personen mit einem stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, die der gesamten übrigen Bevölkerung gegenübergestellt werden – unabhängig davon, ob für die Angehörigen dieser viel größeren Gruppe irgendwann ebenfalls psychiatrische Diagnosen anwendbar waren oder nicht. Eine weitere bedeutsame empirische Untersuchung über Zusammenhänge psychischer Störungen und (Gewalt-)Kriminalität stützt sich auf Daten einer unausgelesenen Stichprobe aus dem New Yorker Stadtviertel Washington Heights, für die zusätzlich Informationen über polizeiliche Festnahmen und zur Sozialstruktur der engeren Nachbarschaft der Befragten herangezogen wurden.141 Dabei wurden Personen, die sich zum Zeitpunkt der Befragung oder früher in ambulanter oder stationärer psychiatrischer Behandlung befanden, mit einer Kontrollgruppe ohne erkennbare psychische Störungen verglichen. Für verschiedene Indikatoren von Gewaltdelikten – nicht aber für beliebige Straftaten – ergab sich, daß sich alle untersuchten Patientengruppen signifikant von der Kontrollgruppe unterschieden. Dieser Zusammenhang wurde durch soziodemographische Variablen wie Lebensalter, Geschlecht und Bildungsstand nicht beeinflußt. Allerdings zeigten weitere Analysen, daß der Zusammenhang zwischen Patientenstatus und Gewalt seine statistische Bedeutsamkeit weitgehend einbüßte, wenn eine Skala zur Messung psychotischer Symptome berücksichtigt wurde.142 Diese Forschungen wurden mit denselben Instrumenten im Rahmen einer epidemiologischen Befragungsstudie mehrerer Geburtskohorten in Israel geborener Juden fortgeführt, die anhand des israelischen Bevölkerungsregisters ermittelt wurden; für die analysierte Stichprobe von rund 2.700 Personen lagen darüber hinaus umfangreiche psychodiagnostische Informationen vor.143 Die abhängige Variable 139 140 141 142 143
Hodgins et al. (1996: 492 f.). Hodgins / Janson (2002: 29 ff., 77 ff.). Link et al. (1992). Link et al. (1992: 283 ff.). Link et al. (1999).
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„Gewaltanwendung“ wurde in Form von Selbstberichten anhand zweier Fragen nach der Beteiligung an körperlichen Auseinandersetzungen und Waffengebrauch innerhalb der letzten fünf Jahre erhoben und mit einer Skala zur Messung sozialer Erwünschtheit des Antwortverhaltens kontrolliert. Für diese Formen von Gewalt ergaben sich bei Personen mit Diagnosen psychotischer und bipolarer Störungen gegenüber Befragten ohne psychiatrische Diagnosen signifikant erhöhte Prävalenzwerte. Der Zusammenhang erwies sich als stabil, wenn mögliche intervenierende Variablen wie Lebensalter, Bildungsstand oder Suchtproblematik kontrolliert wurden. Zudem ließ sich zeigen, daß sich Gewaltanwendung weniger durch bestimmte Diagnosen erklären ließ als durch bestimmte Symptome, die Bedrohungsgefühle hervorrufen oder zur Überwindung innerer Hemmungen beitragen (threat / control-override symptoms).144
VII. Zum heutigen Forschungsstand Auch wenn es mithin empirische Forschungsergebnisse aus methodisch recht unterschiedlich angelegten Studien gibt, die auf einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten schwerer psychischer Störungen und Gewaltdelikten hindeuten, kann nicht davon die Rede sein, daß der Forschungsstand die alte und in den Gesellschaften der Gegenwart durch die Texte und Bilder der Massenmedien wach gehaltene Vorstellung von der allgegenwärtigen Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit von Menschen mit psychischen Störungen bestätigt. Es ist darauf hinzuweisen, daß der Zusammenhang allenfalls von moderater Erklärungskraft ist; andere Merkmale wie Lebensalter, Geschlecht oder strafrechtliche Vorbelastung sind mindestens ebenso bedeutsam.145 Kohorteneffekte, die allein die Mitte des 20. Jahrhunderts geborenen Generationen betreffen, aber nicht spätere, lassen sich nicht ganz ausschließen.146 Insgesamt sind Personen mit psychischen Störungen nur zu einem kleinen Teil an den Gewalthandlungen beteiligt, die in einer Gesellschaft vorkommen.147 Und dabei geht es keineswegs um alle Personen, die bei einer psychiatrischen Untersuchung die Voraussetzung einer Diagnose erfüllen würden, sondern nur um eine relativ kleine Untergruppe von Personen mit schweren Störungen und akuter psychotischer Symptomatik.148 Man kann versuchen, den Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und Gewalt in theoretische Modelle zu bringen, welche die weitere empirische Forschung leiten, zugleich aber etwa im Hinblick auf Formen therapeutischer Interventionen sehr praxisrelevant sein können. Solche integrativen Erklärungsmodelle 144 145 146 147 148
Link et al. (1999: 323 ff.). Link et al. (1999: 330); Swanson (1994: 132); Wessely et al. (1994: 500). Hodgins / Janson (2002: 190 ff.). Link et al. (1992: 290); Swanson (1994: 110). Angermeyer / Schulze (1998: 218 f.); Hiday (1997: 399); Link et al. (1999: 330).
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gehen über die einfache alltagstheoretische Vorstellung eines unmittelbaren kausalen Zusammenhangs notwendig hinaus. Dafür kommt etwa ein stufenweises Vorgehen in Betracht, wie es die Soziologin Virginia Hiday vorschlägt.149 Eine erste Erweiterung der beiden Ausgangsmerkmale bezieht sich auf psychotische Symptome als wichtige intervenierende Variable. Auf der nächsten Stufe kommt ein sozialpsychologisches Merkmal hinzu, das Hiday „gespannte Situationen“ (tense situations) nennt; damit wird vorausgesetzt, daß Personen mit psychischen Störungen häufiger in solche Situationen geraten als andere Menschen, wenn sie eine auffällige Symptomatik zeigen und bei empfundener Bedrohung leicht erregbar sind.150 Gespannte Situationen sind eher unter sozialen Verhältnissen zu erwarten, die durch Armut und soziale Desorganisation gekennzeichnet sind, weil einschneidende Lebensereignisse wie Arbeitslosigkeit oder Trennung dann besonders existentielle Folgen haben können. Eine weitere Stufe enthält die Annahme, daß Armut und soziale Desorganisation auch indirekt das Auftreten gespannter Situationen begünstigen: Viktimisierungen mit Gewalt können ebenso wie erhöhtes Mißtrauen zu Eskalationen beitragen.151 Auf weiteren Stufen werden noch Einflußfaktoren hinzugefügt, die eher in der psychiatrischen Forschung untersucht werden: Suchtproblematik und antisoziale Persönlichkeitsstörungen als zusätzliche Diagnosen sowie neurobiologische Beeinträchtigungen. Dieses komplexe Modell beruft sich auf keine allgemeine Theorie abweichenden Verhaltens, sondern stützt sich eher auf empirische Forschungsergebnisse unterschiedlicher Disziplinen. Damit liefert es ein Beispiel für einige neuere Bestrebungen, in der Kriminologie zu einer Integration von Erklärungsansätzen disparater wissenschaftlicher Herkunft zu kommen. Eine wichtige Möglichkeit der zusammenfassenden Betrachtung von Forschungsergebnissen mehrerer empirischer Untersuchungen mit übereinstimmender Fragestellung bietet die Methode der Meta-Analyse, die seit einigen Jahren in vielen sozialwissenschaftlichen Disziplinen eingesetzt wird. Auch zur Legalbewährung psychisch gestörter Straftäter liegt mittlerweile eine solche Studie vor. Sie beruht auf 58 quantitativen Längsschnittstudien, deren Ergebnisse im Zeitraum zwischen 1959 und 1995 in englischer Sprache vorgelegt wurden und die allgemeinen Voraussetzungen der Methode erfüllten; über drei Viertel der Untersuchungen stammten aus Nordamerika.152 Im Hinblick auf die allgemeine Rückfälligkeit, d. h. polizeiliche Festnahme oder Rückkehr in die Psychiatrie wegen einer Straftat, erwiesen sich neben soziodemographischen Prädiktoren (geringes Lebensalter, männliches Geschlecht, unverheiratet) vor allem Variablen zur strafrechtlichen Vorbelastung und einem abweichenden Lebensstil (labile Beziehungen, dysfunkHiday (1997). Hiday (1997: 400 ff.). 151 Die Bedeutung sozialökologischer Merkmale in diesem Zusammenhang wird am Beispiel der Entlassung in einen Wohnbezirk mit konzentrierter Armut von Silver et al. (1999) gezeigt. 152 Bonta et al. (1998: 124 ff.). 149 150
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tionale Familie, Suchtmittelkonsum) als einflußreich; klinische Prädiktoren waren demgegenüber – abgesehen von der Diagnose „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ – deutlich weniger aussagekräftig. Täter mit einer psychischen Störung waren im Vergleich zu Kontrollgruppen von Straftätern ohne entsprechende Diagnosen signifikant weniger rückfallgefährdet – zumindest nach den Studien, welche die insoweit recht einheitlichen Rechtsordnungen des Commonwealth betrafen.153 Die Prädiktoren für strafrechtliche Rückfälle mit einem Gewaltdelikt zeigten ein ähnliches Bild: Unter den soziodemographischen Merkmalen wurde zwar nun auch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit statistisch bedeutsam. Einen besonderen Erklärungswert wiesen jedoch Variablen zur strafrechtlichen Vorbelastung auf, vor allem Gewaltdelikte in der Vorgeschichte.154 Und verglichen mit Straftätern ohne psychiatrische Diagnose neigten psychisch gestörte Täter weniger zu einem (erneuten) Gewaltdelikt.155 Auch wenn die europäische Forschung zum Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und Gewaltkriminalität durch diese Meta-Analyse nur zu einem geringen Teil erfaßt wird, ist das Gewicht ihrer Ergebnisse nicht zu unterschätzen. Denn diese Methode eignet sich dazu, die Befunde methodisch anspruchsvoller Studien zusammenfassend zu betrachten und auf diese Weise festzustellen, ob gefundene Zusammenhänge über verschiedene Untersuchungsstichproben hinweg stabil bleiben. Insgesamt läßt sich festhalten, daß die Frage nach einem Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und Gewaltkriminalität nicht einheitlich zu beantworten ist. Die Antworten hängen zunächst davon ab, welche Grundgesamtheit gemeint ist und welche Vergleichsgruppe man wählt: während Kohortenstudien und ähnliche Ansätze auf der Grundlage sehr großer Untersuchungsgruppen aus der allgemeinen Bevölkerung eher zu einer positiven Antwort führen, gelangen Vergleiche zwischen Strafgefangenen und Verurteilten in spezialisierten Einrichtungen für psychisch gestörte Straftäter eher zum gegenteiligen Ergebnis. Bei einer Differenzierung nach Diagnosegruppen kommt hinzu, daß sich unterschiedliche psychiatrische Diagnosen auf die abhängige Variable „Gewaltkriminalität“ in verschiedener Weise auswirken; das gilt jedenfalls dann, wenn die Untergruppen groß genug sind, aussagekräftige Detailanalysen zu ermöglichen. Die neuere Forschung weist vor allem auf die Bedeutung schizophrener Psychosen und einer Suchtproblematik hin; zudem scheint Mehrfachdiagnosen bei derselben Person, etwa der Kombination einer Suchtproblematik mit einer „klassischen“ psychischen Krankheit, ein beachtlicher Erklärungswert zuzukommen. Des weiteren gibt es mehrere Studien, die weniger die Zuordnung einer Person zu einer bestimmten Diagnose hervorheben als das Auftreten einer akuten Symptomatik.
153 154 155
Bonta et al. (1998: 127 ff.). Hierzu schon Chaiken et al. (1994: 280). Bonta et al. (1998: 128 ff.).
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D. Zur Konkretisierung des Merkmals „Gefährlichkeit“ Die empirischen Forschungen, die für die allgemeine Bevölkerung einen Zusammenhang zwischen bestimmten Formen psychischer Störungen und der Begehung von Gewalthandlungen nahelegen, weisen auf einen Effekt hin, der moderat ist und im Vergleich zu anderen Einflußfaktoren wie etwa der Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht und zur Altersgruppe der jungen Erwachsenen nicht hervortritt. Die kriminalrechtliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zielt von vornherein auf eine wesentlich enger begrenzte Gruppe von Personen, bei denen es nicht nur zur Aburteilung wegen einer rechtswidrigen Tat kommt, sondern auch die übrigen Voraussetzungen der Maßregel vorliegen. Der Stand der empirischen Forschung legt es auch nicht nahe, die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Unterbringung in der Psychiatrie so abzuschwächen, daß die Hürde, die das Gefährlichkeitskriterium aufstellt, niedriger gelegt würde. Aus empirischer Sicht müßte man bei einer solchen Argumentation zugleich Freiheitsstrafen für junge Männer kriminalpolitisch forcieren. Für keine der beiden Strategien gibt es überzeugende Gründe. Im Gegenteil: die Tatsache, daß Patienten des psychiatrischen Maßregelvollzugs und vergleichbarer ausländischer Einrichtungen für psychisch gestörte Straftäter im Hinblick auf ihre Gefährlichkeit nicht schlechter abschneiden als Vergleichsgruppen aus dem Strafvollzug, gibt auch einen empirischen Anstoß, nach Möglichkeiten zu suchen, wie das Gefährlichkeitsmerkmal in § 63 StGB enger begrenzt werden kann. Da es sich um eine Gruppe von Straftätern zu handeln scheint, die allein durch Diagnosen psychischer Störungen nur unzureichend charakterisiert werden kann, besteht kein zwingender Grund, diese Besonderheit im Maßregelrecht so stark zu betonen, wie das bisher der Fall ist.
I. Der Maßstab der Erheblichkeit Einen ersten Ansatzpunkt für eine strikte Interpretation der Vorschrift des § 63 StGB bietet die Möglichkeit, die Maßregel bereits bei festgestellter verminderter Schuldfähigkeit anzuordnen. Solche Unterbringungsentscheidungen kommen in der Praxis der Kriminaljustiz ungleich seltener vor als die Heranziehung von § 21 StGB im Rahmen der Strafzumessung.156 Diese Zurückhaltung bringt auch die Rechtsprechung zum Ausdruck.157 Doch handelt es sich insoweit um einen Ge156 Die Verhängung der Maßregel nach § 63 StGB ist in diesen Fällen eine seltene Ausnahme: nach der Strafverfolgungsstatistik für das Jahr 2000 erfolgt sie nur bei 1,4% von rund 18.000 Verurteilten, für die eine Anwendung von § 21 StGB registriert ist. 157 Siehe z. B. BGH, Beschlüsse vom 6. Februar 1997 – 4 StR 672 / 96 (= BGHSt 42, 385), vom 25. August 1998 – 4 StR 385 / 98 (ausführlich nur in JURIS veröffentlicht) und vom 8. Juli 1999 – 4 StR 283 / 99 (= NStZ 1999, 610 f.).
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sichtspunkt, der nicht unmittelbar das Kriterium der Gefährlichkeit betrifft und daher an dieser Stelle nicht vertieft werden soll. Wie gezeigt wurde, ist das Gefährlichkeitskriterium am ehesten über das Merkmal der Erheblichkeit künftiger Delikte zu konkretisieren. Dazu wurden bisher einige Fallgruppen unterhalb der Erheblichkeitsschwelle beschrieben, die in erster Linie dann praktisch werden, wenn sie sich auf schadensbezogene Aspekte beziehen.158 Im folgenden werden weitere Fallgruppen diskutiert, die ebenfalls an den möglichen Folgen zu befürchtender künftiger Delikte anknüpfen. Die Erörterung geht von den Gefährlichkeitsprognosen aus, die in der Praxis der Kriminaljustiz bei der Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB im Vordergrund stehen. Sie werden jeweils daraufhin überprüft, inwieweit die Entscheidungspraxis aus einer kriminalpolitischen Sicht, die auf eine Beschränkung des Maßregelrechts zielt, beibehalten oder verändert werden sollte. Dabei taucht eine Schwierigkeit auf. Gerichtliche Sanktionsentscheidungen über die Anordnung von Maßregeln nach § 63 StGB halten sich nämlich im Hinblick auf die Formulierung konkreter Annahmen über die künftige Gefährlichkeit der verurteilten Personen in auffälliger Weise zurück. Wie die Aktenanalyse zeigt, wird die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zwar überwiegend auf eine Gefährlichkeitsprognose gestützt. In mehr als einem Drittel der Verfahren bleibt die Prognose jedoch recht allgemein, und in einzelnen Unterbringungsentscheidungen fehlt sogar jegliche Auseinandersetzung mit diesem zentralen Gesichtspunkt des Maßregelrechts. Bei Tötungsdelikten als Anlaß der Unterbringungsentscheidung enthält sogar die Hälfte der Urteile keine genauere Aussage, welche Art von Taten das Gericht in Zukunft befürchtet.159 Immerhin legt die Rechtsprechungsanalyse nahe, daß Gefährlichkeitsprognosen in der Justizpraxis sehr stark von den Delikten abhängen, die als mögliche Anlaßtat für die Verhängung der Maßregel in Betracht kommen. Zudem gilt die Voraussetzung, daß die fraglichen Delikte symptomatisch für die diagnostizierte psychische Störung sein müssen, und zwar die Anlaßdelikte ebenso wie diejenigen Delikte, die nach der Gefährlichkeitsprognose in Zukunft erwartet werden.160 Deswegen orientieren sich die folgenden Ausführungen in erster Linie an den Deliktsgruppen, die empirisch die Anordnungspraxis prägen. Sie sind eindeutig feststellbar und bieten deshalb die wesentlichste Grundlage von Gefährlichkeitsprognosen. Doch sind Ausnahmen denkbar, in denen die Anlaßdelikte nur zu einem geringeren Teil zu der gestellten Gefährlichkeitsprognose beitragen. Dabei kann es um Delikte gehen, die bereits in der Vorgeschichte zu einer Verurteilung oder zur Verhängung einer Maßregel geführt haben. Nicht auszuschließen ist weiter, daß Gefährlichkeitsprognosen teilweise auf Vorfälle gestützt werden, deren strafrechtliche Relevanz nicht abschließend geklärt ist, weil es nicht zur Einleitung eines Strafver158 159 160
Kapitel 13 B. IV. (S. 218 ff.). Dessecker (1997: 86 ff.). Siehe Kapitel 13 B. I. (S. 214).
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fahrens oder einer Anklageerhebung gekommen ist. Es versteht sich von selbst, daß solche Prognosegrundlagen besonders kritisch gewürdigt werden müssen, vor allem dann, wenn die relevanten Ereignisse schon länger zurückliegen oder wenn nicht auszuschließen ist, daß sie durch die Verhältnisse in einer psychiatrischen Einrichtung provoziert wurden. Das Merkmal der Gefährlichkeit kann mit dieser Einschränkung auch dann angenommen werden, wenn sich bei einer verurteilten Person über mehrere Vorfälle hinweg eine eskalierende Entwicklung der Kriminalität mit zunehmend schwereren Delikten abzeichnet. Dann können auch solche Anlaßdelikte als erheblich erscheinen, die ohne die Betrachtung der Kriminalitätskarriere im zeitlichen Verlauf noch unterhalb der Erheblichkeitsschwelle einzuordnen wären. Umgekehrt gilt, daß trotz an sich erheblicher Anlaßdelikte die Annahme einer Gefährlichkeit in Frage gestellt wird, wenn im zeitlichen Verlauf eine Rückentwicklung der Deliktsschwere zu erkennen ist. Daß es für die Erheblichkeitsschwelle auf die zukünftige Kriminalitätsentwicklung einer Person ankommt, ist nicht zu bestreiten. Problematisch sind aber gerade solche Fälle, in denen die Prognosegrundlage von vornherein schmal und keine eindeutige Entwicklung erkennbar ist. Dann kommt für eine Konkretisierung des Erheblichkeitsmerkmals letztlich nur das Anlaßdelikt in Betracht. Allerdings ist noch zu bestimmen, nach welchen Maßstäben sich die Erheblichkeit von Delikten zu richten hat. Dafür bieten sich verschiedene gesetzgeberische Wertungen an. Eine Unterscheidungsmöglichkeit enthält bereits die Differenzierung von Verbrechen und Vergehen (§ 12 I und II StGB). Doch bleibt diese gesetzestechnische Zweiteilung für eine Bestimmung der Erheblichkeit von Delikten allzu einfach, und sie führte zu wenig überzeugenden Ergebnissen. Ein Raub (§ 249 I StGB) kann als eher unerhebliches Delikt erscheinen, obwohl es sich auch dann um ein Verbrechen handelt, wenn ein minder schwerer Fall angenommen wird (§§ 12 III, 249 II StGB). Umgekehrt gibt es Fälle der gefährlichen Körperverletzung (§ 224 I StGB), die man nicht von vornherein für unerheblich erklären sollte, weil es sich um Vergehen handelt. Allerdings ist die Anknüpfung an den jeweils geltenden Strafrahmen, die ja auch der Einteilung in Verbrechen und Vergehen zugrunde liegt, als Erheblichkeitsmaßstab keineswegs ungeeignet. Obgleich die Strafrahmen des Besonderen Teils immer wieder Ansätze für systematisch oder kriminalpolitisch motivierte Kritik bieten, läßt sich kaum bestreiten, daß sich ihnen gesetzgeberische Bewertungen der Tatschwere entnehmen lassen.161 Daß für Tötungsdelikte besonders schwere Strafen angedroht werden, beruht ebenso auf einer verstehbaren Entscheidung des Gesetzgebers wie die Verschärfung etlicher Strafdrohungen durch das 6. Strafrechtsreformgesetz, mit der eine bessere Abstufung der Strafrahmen für Gewaltdelikte gegen Personen gegenüber bloßen Eigentums- und Vermögensdelikten be161 Das wird in der empirischen Forschung teilweise für die Konstruktion von Variablen zur Messung der Deliktsschwere ausgenutzt, so bei der in deutschen Aktenanalysen verbreiteten Skala von Momberg (1982: 379).
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absichtigt war. Dabei geht es nicht nur um unterschiedliche Strafrahmen bei Verstößen gegen unterschiedliche Grundtatbestände, sondern auch um das Verhältnis der Grundtatbestände zu Strafzumessungsregelungen mit Regelbeispielen und vor allem zu Deliktsqualifikationen. Letztlich kommen darin Bewertungen von Rechtsgütern zum Ausdruck, die nicht zuletzt grundrechtlich fundiert sind. Hinzu kommt ein Gesichtspunkt, der im Gesetzestext des § 63 StGB nicht aufscheint, aber in § 66 I Nr. 3 StGB für die Sicherungsverwahrung unterstrichen wird. Diese Vorschrift bringt das Merkmal der Gefährlichkeit in einen Zusammenhang mit einem Maßstab des Opferschutzes. Sie nennt nur drei Formen von Schädigungen, nämlich solche körperlicher, seelischer und wirtschaftlicher Art, wobei die beiden erstgenannten Formen hervorgehoben werden.162 Akzeptiert man diesen Maßstab auch für die psychiatrische Unterbringung, so werden Beeinträchtigungen anderer Rechtsgüter für die Konkretisierung der Erheblichkeit von Delikten nur wenig Gewicht haben. Damit ist der Erheblichkeitsmaßstab hinreichend bestimmt. Von Bedeutung sind gesetzgeberische Wertungen, die sich in Strafrahmen und Deliktsqualifikationen niederschlagen, aber auch schadensbezogene Gesichtspunkte. Aus dieser Sicht sind die Deliktsgruppen zu betrachten, die in der Praxis für die psychiatrische Unterbringung von größerer Bedeutung sind.
II. Einzelne Deliktsgruppen Was zu befürchtende Tötungsdelikte betrifft, scheint auf den ersten Blick wenig Anlaß zu bestehen, die Auslegung des Erheblichkeitsmerkmals zu korrigieren. In der Rangordnung geschützter Rechtsgüter steht das menschliche Leben schon nach dem Grundrechtskatalog der Verfassung an höchster Stelle, und die Strafdrohungen vor allem in den Vorschriften über Totschlag (§ 212 StGB) und Mord (§ 211 StGB) lassen erkennen, daß das Strafrecht diese Frage genauso beurteilt. Sind künftige fahrlässige Tötungshandlungen (§ 222 StGB) zu befürchten, so reicht es zwar, wie bereits festgestellt wurde, nicht aus, wenn nur unbewußte Fahrlässigkeit erwartet wird. Aber ein bewußt riskanter Umgang mit dem Leben anderer Personen ist im Rahmen einer Gefährlichkeitsprognose nicht anders zu beurteilen als entsprechende Handlungen, die mit Vorsatz zu erwarten sind. Eher angebracht erscheint der Hinweis, daß Tötungsdelikten in einigen Fällen der Aktenanalyse singuläre Tatsituationen zugrunde liegen, deren Wiederholbarkeit nicht ohne weiteres nahe liegt; daraus entstehen möglicherweise Schwierigkeiten, überhaupt eine für die Verhängung der Maßregel ausreichende Prognose zu stellen.163 Die höchstrichterliche Rechtsprechung, die ein solches Vorgehen mit der Bemerkung erleichtert, Hierzu im einzelnen Kapitel 15 (S. 295 ff.). Dessecker (1997: 88). Dieser Gesichtspunkt ist im Rahmen einer Aktenanalyse, die auf die schriftliche Urteilsfassung angewiesen ist, nur eingeschränkt überprüfbar. 162 163
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bei Verbrechenstatbeständen ergebe sich die Erheblichkeit drohender Taten bereits aus dem Anlaßdelikt164, ist unter diesen Umständen bedenklich. Sollte sie darauf hinauslaufen, aus der Begehung eines Tötungsdelikts ohne weitere Prüfung zu folgern, daß auch weitere Delikte zu erwarten sind, so würde nicht nur die empirische Erkenntnis übersehen, daß einschlägige Rückfälligkeit nach Tötungsdelikten eine seltene Ausnahme darstellt165, sondern die selbständige Bedeutung des Gefährlichkeitskriteriums insgesamt entwertet. Die Körperverletzungsdelikte schützen mit der menschlichen Gesundheit ein Rechtsgut, das durch die Formulierung des Grundrechts in Art. 2 II 1 GG in die unmittelbare Nachbarschaft des Lebens gerückt wird, im Strafrecht allerdings nicht auf derselben Stufe steht und dem Lebensschutz eher vorgelagert ist. Diese Differenzierung bringen schon die gesetzlichen Strafrahmen zum Ausdruck; es gibt keine Vorschrift, die eine lebenslange Freiheitsstrafe ermöglicht, während das Höchstmaß einer zeitigen Freiheitsstrafe in einzelnen Qualifikationstatbeständen (§§ 225 III, 226 II, 227 I StGB) erreicht werden kann. Andererseits enthält der Grundtatbestand des § 223 I StGB ein Vergehen, für das im Mindestmaß lediglich Geldstrafe angedroht wird. Entsprechend breit ist das Spektrum der Taten, die als Körperverletzung bestraft werden können: es reicht von minimalen Beeinträchtigungen bis hin zu schwersten Gesundheitsschädigungen und Taten, die den Tod der verletzten Person zur Folge haben. Gefährlichkeitsprognosen im Rahmen von § 63 StGB müssen das berücksichtigen. Soweit eine Eskalation von leichten zu schwereren Delikten zu befürchten ist, welche die Schwelle zur Qualifikation der gefährlichen Körperverletzung (§ 224 StGB) überschreiten, gibt es unter diesem Gesichtspunkt keinen Grund, das Erheblichkeitsmerkmal zu verneinen. Anders ist es in Fällen, in denen die verurteilte Person zu Gewalttätigkeiten gegen andere neigt, ohne daß diese über Prügel, Schläge, Ohrfeigen oder ähnliche Formen einfacher körperlicher Gewalt hinausgehen. Sind lediglich einfache Körperverletzungen im Sinne von § 223 StGB zu befürchten, so liegen darin keine für eine psychiatrische Unterbringung erheblichen Delikte.166 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung – so die Bezeichnung in der Überschrift zum 13. Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs – bilden eine Gruppe von Delikten, die in besonderer Weise im Blickpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit stehen und teilweise erfolgreich als soziales Problem definiert worden sind.167 Die mit den Tatbeständen in diesem Abschnitt pönalisierten HandBGH, Urteil vom 29. November 1994 – 1 StR 689 / 94 (= NStZ 1995, 228). Dazu etwa Eronen et al. (1996), Levi (1997: 878 ff.) und Rode / Scheld (1986: 40 f.), im übrigen die Ausführungen in Kapitel 15 C. V. (S. 313 ff.). 166 Betrachtet man lediglich die Anlaßdelikte, so entfallen 2000 nach der Strafverfolgungsstatistik immerhin 7,8% der Anordnungen auf einfache Körperverletzungen. Daß in allen diesen Fällen schwerere Delikte zu befürchten sind, ist zumindest nach der veröffentlichten Rechtsprechung unwahrscheinlich; siehe dazu die Falldarstellung in Kapitel 13 B. IV. (S. 218 f.). 167 Schetsche (1996: 33 ff.). 164 165
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lungen und die durch sie geschützten Rechtsgüter sind jedoch vielfältiger, als die gesetzliche Überschrift erkennen läßt. Die Vorschriften bezwecken zugleich den Schutz von Kindern und Jugendlichen, sollen unbeteiligte Personen vor bestimmten Formen sexueller Belästigung und Prostituierte vor Ausbeutung bewahren.168 Diese eher unsystematische Verquickung von Rechtsgütern läßt sich im Hinblick auf die Auslegung des Merkmals Gefährlichkeit in § 63 StGB wesentlich vereinfachen; die empirische Betrachtung zeigt, daß es letztlich fast ausschließlich um zwei Formen von Sexualdelikten geht: sexuelle Gewaltdelikte und sexuellen Mißbrauch. Für die sexuellen Gewaltdelikte, die das geltende Recht – abgesehen von einer Erfolgsqualifikation – in dem Verbrechenstatbestand des § 177 StGB zusammenfaßt, kann nach dem Gesetz kein Zweifel bestehen, daß es sich um schwere Delikte handelt. Solche Delikte sind erheblich, ihre Prognose begründet die Annahme einer Gefährlichkeit im Sinne von § 63 StGB. Dagegen legt die Struktur der Vorschrift über den sexuellen Mißbrauch von Kindern eine weitere Differenzierung nahe. Während § 176 I und II StGB sexuelle Handlungen betreffen, bei denen es zwischen dem Kind und dem Täter oder einer dritten Person zu einem Körperkontakt kommt, gilt § 176 III StGB für Handlungen ohne Körperkontakt. Den gesetzlichen Strafrahmen ist eine Abstufung zu entnehmen: der Strafrahmen für Handlungen mit Körperkontakt reicht regelmäßig von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe, derjenige für Handlungen ohne Körperkontakt überschreitet die Schwelle von fünf Jahren Freiheitsstrafe nicht und ermöglicht auch die Verhängung einer Geldstrafe. Zudem werden typische sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt allein dadurch zum sexuellen Mißbrauch von Kindern, daß sie in Gegenwart von Personen unter vierzehn Jahren ausgeführt werden; sonst greift lediglich die Vorschrift über exhibitionistische Handlungen (§ 183 StGB) ein, die nur Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr vorsieht und ein Antragsdelikt enthält.169 Ist lediglich mit Formen exhibitionistischer Handlungen zu rechnen, so sind diese Taten nicht als erhebliche Delikte anzusehen, die eine Gefährlichkeit im Sinne von § 63 StGB begründen. Dafür macht es keinen Unterschied, ob voraussichtlich Erwachsene oder auch Kinder betroffen sein werden. Erst wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die Handlungen mit Körperkontakt erwarten lassen, sind die Voraussetzungen des Gefährlichkeitsmerkmals erfüllt.170 Was die ebenfalls aus empirischer Sicht nicht unbedeutende Fallgruppe der Raub- und Erpressungsdelikte betrifft, geht es typischerweise um Handlungen, die 168 E. Horn (1998: Rn. 3 vor §§ 174 ff. StGB); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 5 f. vor §§ 174 ff. StGB). 169 Deswegen ist es folgerichtig, mit E. Horn (1998: Rn. 8 zu § 183 StGB) einen Vorrang von § 176 III Nr. 1 StGB wegen Spezialität anzunehmen; anders K. Kühl (2001: Rn. 11 zu § 183 StGB) und BGH, Beschluß vom 25. Februar 1999 – 4 StR 690 / 98 (= NStZ-RR 1999, 298). 170 Ebenso BGH, Urteile vom 29. November 1994 – 1 StR 689 / 94 (= NStZ 1995, 228) und vom 24. März 1998 – 1 StR 31 / 98 (= NStZ 1998, 408 f.); Beschluß vom 25. Februar 1999 – 4 StR 690 / 98 (= NStZ-RR 1999, 298).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
mit Gewalt gegen Personen verbunden sind. Insofern besteht wenig Anlaß, an der Erheblichkeit solcher Delikte für die Gefährlichkeitsprognose zu zweifeln. Einschränkungen sollten dann gemacht werden, wenn etwa im Rahmen der einfachen Erpressung (§ 253 I StGB) ausschließlich Drohungen als Nötigungsmittel zu erwarten sind oder trotz eines gewissen Maßes an Gewaltsamkeit keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der Wert künftiger Tatobjekte die Bagatellgrenze überschreiten wird. Allgemein erscheint es problematisch, künftige Eigentums- und Vermögensdelikte ohne Gewalt gegen Personen im Rahmen der Gefährlichkeitsprüfung nach § 63 StGB als erheblich anzusehen. Wie gezeigt wurde, leistet der von der Rechtsprechung in solchen Fällen meist herangezogene Begriff der „mittleren Kriminalität“ keine trennscharfe Abgrenzung.171 Es wäre keine kriminalpolitisch angemessene Alternative, den gesamten Bereich des einfachen Diebstahls (§ 242 StGB) in den Kreis der für eine psychiatrische Unterbringung erheblichen Delikte einzubeziehen. Selbst wenn die Verwirklichung von Regelbeispielen, die wie einige Begehungsformen von § 243 I 2 StGB eine Gewaltanwendung gegen fremde Sachen voraussetzen, zu erwarten ist, erscheint es nicht sachgerecht, schon wegen der Erwartung solcher Delikte eine Unterbringung nach § 63 StGB zu ermöglichen. Das Spektrum der Regelbeispiele ist sehr breit: es reicht vom Diebstahl eines abgeschlossenen Fahrrads (§ 243 I 2 Nr. 2 StGB) über den Diebstahl von Gegenständen Betrunkener (§ 243 I 2 Nr. 6 StGB) bis hin zum Einbruch in Büroräume oder Kellerräume eines Wohnhauses (§ 243 I 2 Nr. 1 StGB) und dem Diebstahl von Kriegswaffen (§ 243 I 2 Nr. 7 StGB). Von großer praktischer Bedeutung sind innerhalb der polizeilich registrierten Diebstähle unter erschwerenden Umständen vor allem Diebstähle von oder aus Kraftfahrzeugen sowie Fahrraddiebstähle, während auf Wohnungseinbruchsdiebstähle und Diebstähle aus Büro- und ähnlichen Räumen jeweils weniger als 10% der registrierten Taten entfallen.172 Die Schwelle zur Gefährlichkeit dürfte häufig überschritten sein, wenn mit qualifizierten Diebstählen im Sinne von §§ 244, 244a StGB zu rechnen ist. Das gilt vor allem für Fälle des Wohnungseinbruchs (§ 244 I Nr. 3 StGB). Andererseits sollte die Erwartung von Ladendiebstählen unter Mitführung eines gefährlichen Werkzeugs noch keine Gefährlichkeitsprognose begründen, obwohl die Voraussetzungen der Qualifikation nach § 244 I Nr. 1a StGB erfüllt wären. Erst recht sind Taten, welche die Voraussetzungen eines Regelbeispiels nach § 243 I 2 StGB erfüllen, typischerweise nicht als erheblich im Sinne des Gefährlichkeitsmerkmals anzusehen. Kapitel 13 B. III. (S. 216 ff.). Eigene Berechnungen nach Bundeskriminalamt (2001: 172, Tabelle 01). Die Grundgesamtheit umfaßt alle erschwerten Fälle des Diebstahls einschließlich der Qualifikationen, aber auch Gebrauchsentwendungen nach § 248b StGB. Von rund 1,5 Millionen registrierten Taten entfallen im Jahr 2001 allein ein Drittel auf Diebstähle und Gebrauchsentwendungen von, in oder aus Kraftfahrzeugen und weitere 22% auf Diebstähle und Gebrauchsentwendungen von Fahrrädern. Auf den Wohnungseinbruchsdiebstahl (§ 244 I Nr. 3 StGB) entfallen 9% der registrierten Delikte. 171 172
Kap. 13: Gefährlichkeit bei der Unterbringung nach § 63 StGB
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Gefährdungen und Zerstörungen durch Brandstiftungshandlungen fallen in den Anwendungsbereich mehrerer Tatbestände des Besonderen Teils. Das Spektrum reicht von der Sachbeschädigung (§ 303 I StGB), einem Antragsdelikt mit einer Strafdrohung bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe, bis zur Brandstiftung mit Todesfolge (§ 306c StGB), für die das Gesetz mindestens Freiheitsstrafe von zehn Jahren androht. Dem entspricht eine Bandbreite geschützter Rechtsgüter vom Eigentum bis zum menschlichen Leben, die durch die Unterscheidung von Verletzungserfolgen, Gefährdungserfolgen und abstrakter Gefährlichkeit der Tathandlung überlagert wird.173 Geht es um die Gefährlichkeit durch künftige Delikte im Rahmen des § 63 StGB, so ist auch hier zu differenzieren. Eine solche Trennlinie könnte man dort ziehen, wo zu befürchten ist, daß der Tatbestandsbereich der gemeingefährlichen Straftaten im Sinne des 28. Abschnitts des Besonderen Teils erreicht wird. Allerdings gilt die gesetzliche Systematik der Brandstiftungsdelikte auch nach der Reform durch das 6. Strafrechtsreformgesetz als wenig geglückt. So läßt sich der Tatbestand der Brandstiftung (§ 306 I StGB) als Spezialfall der Sachbeschädigung mittels einer bestimmten Tathandlung an bestimmten Tatobjekten verstehen; damit geht es bei § 303 wie bei § 306 StGB um Eigentumsschutz.174 Überzeugender erscheint es, erhebliche Delikte im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose nach § 63 StGB grundsätzlich erst dann anzunehmen, wenn konkrete Gefahren für andere Personen zu befürchten sind. Einfache Brandstiftungen im Sinne des § 306 I StGB reichen dafür nicht aus, wohl aber schwere Brandstiftungen nach § 306a StGB. Diese Vorschläge zur Auslegung des Gefährlichkeitsmerkmals bei der psychiatrischen Unterbringung in § 63 StGB zielen auf eine stärkere Betonung der Gefahrenabwehr. Damit wird notwendig in Kauf genommen, daß diese Maßregel keine Vorsorge gegenüber möglichen Risiken leisten soll, die nicht mit genügender Wahrscheinlichkeit vorhersagbar sind, weil keine konkreten Anhaltspunkte dafür feststellbar sind; die Maßregel soll auch dann keine Vorsorge leisten, wenn es lediglich konkrete Anhaltspunkte für künftige rechtswidrige Taten gibt, die unterhalb der Erheblichkeitsschwelle liegen.175 Das heißt nicht, daß solche Risiken jenseits der Gefährlichkeit im Sinne des § 63 StGB einfach hinzunehmen sind. Interventionen in diesem Bereich können sich aber nicht mehr auf die freiheitsentziehende Maßregel des Kriminalrechts stützen. In Betracht kommen – soweit die Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt lediglich vermindert und nicht ausgeschlossen ist – Maßnahmen im Rahmen der Strafvollstreckung, im übrigen solche nach den Gesetzen über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke und nach dem 173 Radtke (1998: 161 ff., 254 f., 372 ff.). Allgemein zur Diskussion um Gefährdungs- und Gefährlichkeitsdelikte Kapitel 9 B. I. (S. 140 ff.). 174 Krey (2002: 345); Radtke (1998: 370 ff.); Wessels / Hettinger (2002: 249 f.). 175 Es gibt sicherlich seltene Grenzfälle; siehe OLG Hamburg, Beschluß vom 15. November 1999 – 3 Ws 10 / 99 (in JURIS veröffentlicht) zu einem Verurteilten, der „zwanghaft dazu neigt, unersetzliche Kunstgegenstände von unschätzbarem materiellen Wert zu zerstören“, was lediglich die Voraussetzungen des § 304 StGB erfüllt.
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Betreuungsrecht.176 Erst recht hinzunehmen ist das restliche Risiko falsch negativer Gefährlichkeitsprognosen: diesem verbleibenden Risiko ist mit der Heranziehung qualifizierter Sachverständiger und mit verbesserten Prognosemethoden zu begegnen, nicht aber mittels freiheitsentziehender Maßregeln ohne gesicherte Erkenntnisgrundlage.
176 Die Frage, inwieweit solche Maßnahmen die Erforderlichkeit einer psychiatrischen Unterbringung trotz feststellbarer Gefährlichkeit ausschließen können, ist noch eingehender zu untersuchen; hierzu S. 348 ff.
Kap. 14: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
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Kapitel 14
Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) Unter den drei freiheitsentziehenden Maßregeln des geltenden Kriminalrechts gilt die Unterbringung nach § 64 StGB wegen ihrer geringeren Eingriffsintensität, ihrer therapeutischen Orientierung und der zeitlichen Begrenzung der Vollzugsdauer als eher unproblematische Sanktion. Inwieweit diese Einschätzung zutrifft, hängt nicht nur von der Konkretisierung der gesetzlichen Anforderungen durch Strafrechtswissenschaft und Rechtsprechung ab, sondern auch von der praktischen Anwendung der Maßregel. Dieses Kapitel geht wie das vorige von einer dogmatischen Bestandsaufnahme aus, an die sich eine Darstellung empirischer Forschungsergebnisse zu der Maßregel nach § 64 StGB anschließt. Schließlich wird auch für diese Maßregel eine deliktsspezifische Konkretisierung vorgeschlagen.
A. Abhängigkeitsbegriff und Erfolgsaussicht Seit der Strafrechtsreform kommt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, die zuvor anläßlich bloßer Übertretungen wegen der auf diesen Deliktsbereich zugeschnittenen Unterbringung in einem Arbeitshaus nicht anwendbar war, nach dem Wortlaut des § 64 I StGB bei allen Straftatbeständen in Betracht. Die Unterbringung ist davon unabhängig, ob Schuldfähigkeit gegeben ist oder nicht; bei Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) kann allein eine Maßregel verhängt werden, sonst tritt sie neben die Strafe.1 Der Begriff, mit dem das Gesetz die Zielgruppe dieser Maßregel von denen der anderen Sanktionen absetzt, ist der „Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen“. Diese Formulierung ist Ausdruck von Bemühungen der Reformgesetzgebung um eine Wortwahl, die gegenüber der Frage nach möglichen Ursachen abweichenden Verhaltens neutral ist. In dem früheren Begriff der „Gewohnheitsmäßigkeit“ (§ 42c StGB a.F.) wurde ein unangebrachter Verweis auf die Erlernbarkeit von Verhalten gesehen; inhaltlich war durch die Umstellung auf den Begriff „Hang“ aber keine Änderung beabsichtigt.2 Es besteht Einigkeit darüber, daß das Merkmal „Hang“ eine unabdingbare Voraussetzung der Maßregel ist; der im Gesetzestext daneben gestellten Alternative der bloßen Tatbegehung „im Rausch“ kommt keine selbständige Bedeutung zu.3 1 Hanack (1991: Rn. 29 zu § 64 StGB), E. Horn (1999: Rn. 10 zu § 64 StGB); aus der Rechtsprechung BGH, Urteil vom 11. September 1990 – 1 StR 293 / 90 (= NJW 1990, 3282). 2 Siehe Hanack (1991: Rn. 42 zu § 64 StGB).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Eine Schwierigkeit dieser Formulierung liegt jedoch darin, daß ein eigenständiger strafrechtlicher Suchtbegriff postuliert wird, der von der Rechtsprechung in durchaus wechselhafter Weise ausgefüllt wird. Schon die einschlägige Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1952, die sich noch auf das alte Recht bezieht, vermischt die Kategorien. Dort ist einerseits von einem „krankhaften Hang“, „Alkoholsucht“ und einer „Sucht nach Alkohol“, andererseits einem gewohnheitsmäßigen Mißbrauch alkoholischer Getränke die Rede. Zudem soll es nicht auf das Erreichen eines Rauschzustands ankommen, sondern eher auf gesundheitliche und soziale Folgen des Alkoholkonsums.4 Diese Linie in der Judikatur neigt zu einer Verselbständigung des juristischen Suchtbegriffs und läßt es ausreichen, wenn ein „Mißbrauch“ von Suchtmitteln festgestellt werden kann. So betonen manche Entscheidungen, eine physische Abhängigkeit sei für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht erforderlich; es genüge eine „eingewurzelte, aufgrund psychischer Disposition bestehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen“.5 Auch regelmäßiger Cannabiskonsum könne für die Maßregel ausreichen.6 Andere Entscheidungen beschränken sich dagegen ausdrücklich auf engere Begriffe wie „Sucht“ oder „Abhängigkeit“.7 Freilich wird genau dieses Kriterium anderswo bemüht, um nicht eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, sondern eine solche nach § 63 StGB zu begründen.8 Zudem ist 3 BGH, Beschluß vom 27. April 1989 – 4 StR 157 / 89 (= BGHR StGB § 64 Abs. 1 Hang 1); Urteil vom 11. September 1990 – 1 StR 293 / 90 (= NJW 1990, 3282); Beschlüsse vom 28. Mai 1997 – 2 StR 206 / 97 (= NStZ-RR 1997, 291) und 8. April 1998 – 2 StR 34 / 98 (= NStZ 1998, 407). Ebenso E. Horn (1999: Rn. 6 f. zu § 64 StGB) und Lackner (2001: Rn. 3 zu § 64 StGB). 4 BGH, Urteil vom 4. Dezember 1952 – 3 StR 671 / 52 (= BGHSt 3, 339). Diese Entscheidung hob eine erstinstanzliche Verurteilung wegen Betrugs gegenüber Gastwirten auf, mit der eine Unterbringung nach § 42c StGB angeordnet wurde, weil der Angeklagte mehr trank, als er bezahlen konnte. Ähnlich uneinheitliche Formulierungen finden sich auch in späteren Entscheidungen, etwa BGH, Urteil vom 11. September 1990 – 1 StR 293 / 90 (= NJW 1990, 3282). 5 BGH, Urteil vom 23. August 1990 – 4 StR 306 / 90 (= BGHSt 37, 160, 161); Beschlüsse vom 12. Februar 1993 – 2 StR 9 / 93 (= NJW 1993, 339), vom 7. Dezember 1993 – 1 StR 775 / 93 (bei Holtz, MDR 1994, 432), vom 31. März 1998 – 5 StR 50 / 98 (= NStZ 1998, 407) und vom 18. August 1998 – 5 StR 363 / 98 (insoweit nur in JURIS veröffentlicht). 6 BGH, Beschluß vom 12. Februar 1993 – 2 StR 9 / 93 (= NStZ 1993, 339); siehe dazu die kritischen Anmerkungen von Gebhardt (1994). Weiterhin BGH, Urteil vom 31. Oktober 2001 – 2 StR 296 / 01 (= NStZ 2002, 142 f.). 7 So BGH, Urteil vom 7. Dezember 1993 – 1 StR 572 / 93 (= NStZ 1994, 313), Beschlüsse vom 28. Mai 1997 – 2 StR 206 / 97 (= NStZ-RR 1997, 291) und vom 8. April 1998 – 2 StR 34 / 98 (= NStZ 1998, 407); in diesem Sinne wohl auch OLG Köln, Urteil vom 20. September 1977 – St 362 / 77 (= NJW 1978, 2350). 8 BGH, Beschlüsse vom 25. Juni 1997 – 2 StR 283 / 97 (= StV 1998, 72) und vom 23. November 1999 – 4 StR 486 / 99 (= StV 2001, 677). Besonders fragwürdig erscheint diese Rechtsprechung dann, wenn außer Suchtmittelkonsum nicht einmal eine weitere psychische Störung, sondern lediglich eine Magenerkrankung (so BGH, Urteil vom 5. Juli 1957 –
Kap. 14: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
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mit einer Verwendung dieser Begriffe noch nicht geklärt, welche Symptomatik konkret gefordert wird; die in der Rechtsprechung und der juristischen Literatur verbreitete Unterscheidung einer psychischen von einer körperlichen Abhängigkeit hilft daher nicht weiter.9 Die weite Interpretation des Hangbegriffs erscheint in zweierlei Hinsicht problematisch, nämlich in ihrer Diskrepanz zur neueren Entwicklung psychiatrischer Diagnostik und zu dem das Maßregelrecht limitierenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Während der zuletzt genannte Gesichtspunkt im Vierten Teil der Arbeit diskutiert wird, geht es an dieser Stelle zunächst um die Berechtigung eines eigenständigen juristischen Suchtbegriffs. Ein angemessenes Verständnis des „Hangs“ in § 64 StGB sollte nicht unabhängig von den Möglichkeiten stationärer Suchtbehandlung im Maßregelvollzug entwickelt werden. Zwar wäre es unangebracht, im Rahmen jeder gerichtlichen Sanktionsentscheidung zu überprüfen, ob in naher Zukunft ein Platz in der zuständigen Maßregeleinrichtung zur Verfügung steht; denn dabei handelt es sich um eine Frage des Vollstreckungsverfahrens.10 Für den therapeutischen Prozeß in der Suchtbehandlung ist aber entscheidend, wie sich das Suchtverhalten eines Patienten gestaltet. Es ist ein Unterschied, ob im konkreten Fall eine Abhängigkeit im psychiatrischen Sinne diagnostiziert werden kann, die eine längerfristige stationäre Behandlung erforderlich macht, oder ob lediglich Suchtmittelkonsum unterhalb dieser Schwelle vorliegt. Therapieziele und -methoden müssen darauf abgestellt werden. Deshalb setzen sich vor allem Vertreter der forensischen Psychiatrie dafür ein, einen „Hang“ im Sinne des § 64 StGB nur bei Substanzabhängigkeit anzunehmen.11 Daß der Begriff „Hang“ eine Verständigung zwischen Gerichten und Sachverständigen erschwert, wird aber auch von juristischer Seite eingeräumt.12 Bei der Interpretation sollte beachtet werden, daß Psychiatrie und Suchtforschung sich schon seit längerer Zeit um eine Präzisierung der Kriterien bemühen.13 Sowohl in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD 10), die 1 StR 263 / 57 = BGHSt 10, 353) oder Alkoholüberempfindlichkeit infolge einer Depotmedikation (BGH, Urteil vom 26. März 1987 – 1 StR 72 / 87 = BGHSt 34, 313) vorliegt. 9 Mehrdeutig deshalb z. B. Lackner (2001: Rn. 2 zu § 64 StGB). Zu welchen Schwierigkeiten diese Unterscheidung führen kann, zeigt auch der Fall BGH, Beschluß vom 28. Juli 199 – 3 StR 238 / 95 (= BGHR StGB § 323a Abs. 1 Sichberauschen 2). 10 Daher ist nichts gegen die Rechtsprechung einzuwenden, die Kapazitätsprobleme im Maßregelvollzug bei der Prüfung der Erfolgsaussicht einer Therapie ausklammert. Siehe BGH, Urteile vom 21. März 1979 – 2 StR 743 / 78 (= BGHSt 28, 327) und vom 23. Mai 1989 – 1 StR 128 / 89 (= BGHSt 36, 199); zustimmend auch Körner (2001: Rn. 316 zu § 35 BtMG), anders jedenfalls für „schroffe Ausnahmefälle“ Hanack (1991: Rn. 103 zu § 64 StGB). 11 Foerster (2000: 169), Konrad (1995: 124) und Rasch (1991: 110 f.). Zu unterschiedlichen Erfordernissen für die Therapie im Maßregelvollzug Bertram (1995). 12 Hanack (1991: Rn. 50 zu § 64 StGB); Schreiber (2000: 37). 13 Als Überblick Fichter / Frick (1992: 1 ff.) und Soyka (1999).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
ein Kapitel über psychische Störungen enthält, wie auch in dem Diagnostic and Statistical Manual der American Association of Psychiatry, das inzwischen in der vierten Fassung vorliegt (DSM-IV), finden sich speziellere Abschnitte über Störungen durch psychotrope Substanzen, die jeweils ein breites Spektrum von Begleit- und Folgeerscheinungen aus medizinischer Sicht klassifizieren. Gemeinsam ist den beiden Diagnoseschlüsseln auch eine Unterscheidung zwischen Substanzmißbrauch und Substanzabhängigkeit. Allerdings stimmen die Kriterien im einzelnen nicht ganz überein. Das DSM-IV bestimmt den pathologischen Mißbrauch durch vier Kriterien, von denen innerhalb eines Jahres jedoch nur eines vorliegen muß: durch den Konsum verursachte Einschränkungen der sozialen oder beruflichen Leistungsfähigkeit (etwa in sozialen Beziehungen gegenüber Freunden und Familie), wiederholter Konsum in gefährlichen Situationen (z. B. Autofahren), wiederholte rechtlich relevante Auffälligkeiten (als Beispiel genannt werden kleinere Straftaten) oder sonstige mit dem Konsum zusammenhängende Schwierigkeiten (etwa Streitigkeiten in der Familie). Für die Diagnose der Substanzabhängigkeit werden unabhängig von einer körperlichen Abhängigkeit zwei Kriterien genannt. Darunter fallen beispielsweise ein Konsum in größeren Mengen oder über einen längeren Zeitraum als zunächst beabsichtigt und ein anhaltender, aber erfolgloser Wunsch nach Einschränkung des Konsums.14 Demgegenüber bezieht sich die ICD-Kategorie „schädlicher Gebrauch“ allein auf Gesundheitsschädigungen wie Hepatitis nach Selbstinjektion von Opiaten oder eine depressive Episode nach massivem Alkoholkonsum. Zudem wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß negative soziale Folgen wie eine Inhaftierung oder Beziehungsprobleme eine solche Diagnose nicht begründen. Für die Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms werden sechs Kriterien angegeben: „ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren“; verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Menge des Konsums; körperliches Entzugssyndrom; Nachweis einer Toleranz; fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Substanzkonsums; anhaltender Konsum trotz Nachweises eindeutiger physischer oder psychischer Schädigungen. Mindestens drei dieser Kriterien müssen für die Diagnose gleichzeitig erfüllt sein; das erste muß stets vorliegen.15 Beide Diagnoseschlüssel unterscheiden sich in ihren Kriterien im Hinblick auf Substanzmißbrauch erheblich, stimmen aber in den Anforderungen für eine Abhängigkeit weitgehend überein.16 Deshalb bestehen keine Bedenken, das psychiatrische Abhängigkeitsverständnis für das Kriminalrecht nutzbar zu machen.17 Für American Psychiatric Association (1994: 221 ff.). Dilling et al. (1993: 89 ff.). 16 Soyka (1999: 591 f.); Üstün et al. (1997). 17 Volckart (1999: 13) plädiert für eine Heranziehung der ICD-Kriterien, ohne sich mit der Frage eingehend auseinanderzusetzen. 14 15
Kap. 14: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
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dieses Konzept werden nämlich Verstöße gegen Rechtsnormen nicht als Indikatoren herangezogen.18 Da die psychiatrischen Klassifikationssysteme sich am aktuellen Forschungsstand orientieren, eignen sie sich gut für eine einschränkende Interpretation des Begriffs „Hang“ in § 64 StGB. Anders als bisher überwiegend praktiziert, erscheint die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt demnach nur dann angezeigt, wenn das Gericht davon überzeugt ist, daß eine Abhängigkeit im medizinischen Sinne vorliegt.19 Daß das Kriminalrecht dadurch auf Kriterien einer anderen Disziplin verwiesen wird, spricht nicht gegen ein solches Vorgehen. Vielmehr bietet es den Vorzug empirisch prinzipiell überprüfbarer Gesichtspunkte, für deren Ermittlung die Gerichte ohnehin auf sachverständige Hilfe verwiesen sind (§ 246a StPO). Damit wird die Maßregel nach § 64 StGB zu einer Sanktion, die nicht nur eine Suchtproblematik im weiteren Sinne voraussetzt, sondern eine Abhängigkeit von psychotropen Substanzen. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt wurde, liegt ein besonderer Schwerpunkt der Unterbringung bei Abhängigkeit auf dem Element der Besserung.20 Dies kommt in Vorschriften zum Ausdruck, welche die Anordnung der Maßregel (§ 64 II StGB) und die Fortsetzung einer bereits begonnenen Therapie im Maßregelvollzug (§ 67d V StGB) bei fehlender Erfolgsaussicht ausschließen. Das Bundesverfassungsgericht fordert darüber hinaus, daß die Eignung einer stationären Suchtbehandlung im Maßregelvollzug bereits durch das anordnende Gericht positiv und konkret festgestellt werden kann: es muß „eine hinreichend konkrete Aussicht“ bestehen, „den Süchtigen zu heilen oder doch über eine gewisse Zeitspanne vor dem Rückfall in die akute Sucht zu bewahren“.21 Der Gesetzgeber hat die strafrechtliche Unterbringung in einer Entziehungsanstalt als zwingende Sanktionsvorschrift konzipiert, bei der die fehlende Erfolgsaussicht einer Suchtbehandlung lediglich die Möglichkeit einer Korrektur im Ausnahmefall eröffnen sollte.22 Dies zeigt sich besonders bei der Unterbringung drogenabhängiger Straftäter seit der Einführung der Therapievorschriften im Betäubungsmittelrecht (§§ 35 ff. BtMG). Diese Vorschriften wurden von vielen Gerichten der Tatsacheninstanzen lange Zeit als effektiver angesehen als die Maßregel nach § 64 StGB, so daß sie ihnen bereits im Rahmen der Sanktionsanordnung den Vorzug gaben, obwohl es sich systematisch gesehen lediglich um Normen des Vollstreckungsrechts handelt. Es hat einige Jahre lang gedauert, bis sich die gegenteilige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs durchsetzte.23 18 Zur Kritik des Mißbrauchskonzepts nach DSM-IV Stephan (1993: 135 ff.), der sich allerdings auf die Beurteilung der Fahreignung von Kraftfahrern bezieht. 19 Ebenso Böllinger (1995: Rn. 86 zu § 64 StGB); in dieser Richtung argumentiert auch Hanack (1991: Rn. 40 f., 53 zu § 64 StGB), der in Fällen des Mißbrauchs allerdings nur Einzelfallentscheidungen treffen will, um eine Behandlung im Maßregelvollzug schon im Frühstadium einer Suchtkarriere zu ermöglichen. 20 Siehe Kapitel 12 B. (S. 203 ff.). 21 BVerfG, Beschluß vom 16. März 1994 – 2 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1, 30). 22 Hanack (1991: Rn. 88 ff. zu § 64 StGB); Penners (1987: 21 ff.).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
B. Gefährlichkeit als Voraussetzung der Anordnung Das Merkmal der Gefährlichkeit stimmt nach dem Gesetzestext des § 64 I StGB nicht wörtlich mit der Formulierung für die Unterbringung in der Psychiatrie überein; die Unterbringung bei Abhängigkeit ist anzuordnen, „wenn die Gefahr besteht, daß [der Täter] infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird“. Aus der abweichenden Formulierung, in der anders als in § 63 StGB nicht von einer Erwartung und auch nicht von einer Gefährlichkeit für die Allgemeinheit die Rede ist, wird teilweise gefolgert, die Anforderungen für eine Unterbringung zur Suchtbehandlung seien generell niedriger anzusetzen als diejenigen für eine Unterbringung wegen einer sonstigen psychischen Störung. Dies wird meist damit begründet, der Besserungszweck stehe bei der Maßregel nach § 64 StGB im Vordergrund, im übrigen sei diese freiheitsentziehende Maßregel als einzige von vornherein befristet.24 Diese Argumentation überzeugt nicht, soweit es um die Konkretisierung des Gefährlichkeitsmerkmals geht. Schon der Gesetzeswortlaut gibt dafür nicht viel her. Klar ist zunächst, daß in beiden Sanktionsvorschriften von einer Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten gesprochen wird, die auf eine psychische Störung im weitesten Sinne zurückzuführen ist. Diese Gefahr wird in beiden Fällen auf die Persönlichkeit der Verurteilten bezogen; deshalb ist es sprachlich korrekt, gleichermaßen von einer Gefährlichkeit dieser Personen zu sprechen.25 Das Argument, eine Gefahr sei sprachlich weniger als eine Erwartung26, läßt sich lediglich auf den Wahrscheinlichkeitsgrad künftiger Delikte beziehen; dabei wird sich zeigen, daß diese Nuance weitgehend folgenlos bleibt. Was die Bezugnahme auf die Allgemeinheit in § 63 StGB betrifft, wurde bereits ausgeführt, daß diese Wendung keine eigenständige Bedeutung besitzt.27 Deshalb steht und fällt die These von den unterschiedlich strengen Voraussetzungen der Vorschriften in § 63 und § 64 StGB letztlich mit der Zweckbestimmung der beiden Maßregeln. Wie bereits festgehalten wurde, ist das Ziel der Besserung bei der Ausgestaltung der Suchtbehandlung zwar von wesentlicher Bedeutung – doch nur insoweit, als diese Maßregel erforderlich ist, um den allgemeinen Zweck der Gefahrenabwehr 23 BGH, Beschlüsse vom 14. Mai 1992 – 4 StR 178 / 92 (StV 1993, 302), vom 22. August 1995 – 4 StR 465 / 95 (= StV 1995, 635) und vom 15. Mai 1996 – 1 StR 257 / 96 (= NStZ-RR 1996, 257) sowie Körner (2001: Rn. 311 zu § 35 BtMG); zustimmend auch E. Horn (1999: Rn. 20 zu § 64 StGB). 24 Kindhäuser (2002: Rn. 6 zu § 64 StGB); Lackner (2001: Rn. 5 zu § 64 StGB); Schreiber (2000: 38); Streng (2002: 179 f.); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 11 zu § 64 StGB). 25 Siehe Kapitel 9 A. (S. 138 ff.). Ebenso Hanack (1991: Rn. 76 zu § 64 StGB) und Lenckner (1972: 197). 26 Hanack (1991: 68 f. zu § 64 StGB). 27 Kapitel 13 B. IV. (S. 221 f.). Hanack (1991: 18 f. zu § 64 StGB) stellt fest, daß sich die Gesetzgebungsgremien in der Strafrechtsreform in erster Linie mit Detailkorrekturen der früheren Vorschrift des § 42c StGB beschäftigten. Auf eine Analyse der Materialien wird daher verzichtet.
Kap. 14: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
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zu verwirklichen. Besserung ist auch hier kein Selbstzweck.28 Das ist bei der psychiatrischen Unterbringung nicht wesentlich anders. Deshalb erscheint es fragwürdig, wenn bei § 64 StGB therapeutische Zielsetzungen in den Vordergrund gerückt werden, um Gefahren minderer Art zu begegnen. Allerdings dient die Maßregel nach § 63 StGB zur Sicherung, wenn wegen Schuldunfähigkeit keine Strafe verhängt werden kann – im Extremfall ohne jegliche therapeutische Bemühungen. Diese Sicherungsfunktion erfüllt die Suchtbehandlung im Maßregelvollzug aber ebenfalls, mag sie auch wegen der Unerheblichkeit der Schuldfähigkeit nicht so weit im Vordergrund stehen wie bei der Unterbringung in der Psychiatrie. Schließlich enthält § 67d I 1 StGB allein für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt eine Befristung des Aufenthalts im Maßregelvollzug. Die Bedeutung dieser Vorschrift wird allerdings überschätzt, da sich die Frist nach § 67d I 3 StGB immer dann verlängert, wenn eine vorwegvollzogene Zeit im Maßregelvollzug auf die Strafe angerechnet wird. Der Vorwegvollzug der Maßregel ist aber der gesetzliche Regelfall der Vollstreckungsreihenfolge (§ 67 I StGB). Obwohl die Berechnung der Fristverlängerung umstritten ist, neigt die Rechtsprechung bei längeren Parallelstrafen zu einer deutlichen Überschreitung der im Gesetz mißverständlich als „Höchstfrist“ bezeichneten Vollzugsdauer von zwei Jahren.29 Daher ist es nicht angebracht, die Anforderungen für die Suchtbehandlung im Maßregelvollzug von vornherein weniger streng zu gestalten als diejenige an eine Unterbringung in der Psychiatrie.30 Das Merkmal „Gefährlichkeit“ ist ausgehend von seiner Funktion im Rahmen des § 64 StGB auszulegen. Bei der Durchsicht der Literatur und Rechtsprechung zu dieser Maßregel fällt allerdings auf, daß solche selbständigen Interpretationen eher die Ausnahme sind. Zu erwarten wäre, soweit die Unterschiede zu § 63 StGB betont werden, eher das Gegenteil. Doch beschränkt sich ein Großteil der Aussagen darauf, dogmatische Problemlösungen von der Maßregel nach § 63 auf diejenige nach § 64 StGB zu übertragen.31 Ein solches Vorgehen wird durch die parallele Struktur der beiden Sanktionsvorschriften immerhin nahegelegt. Im Hinblick auf das Verhältnis von Anlaßtat und künftigen Delikten wird auch für die Suchtbehandlung im Maßregelvollzug ein symptomatischer Zusammenhang zwischen Anlaßtat und Substanzabhängigkeit gefordert. Fehlt es daran, so taugt die aktuelle Tat nicht als Anknüpfungspunkt für eine Gefährlichkeitsprognose.32 Dem kann nur zugestimmt werden. Kapitel 12 B. (S. 203 ff.). Ausführlicher Kapitel 17 C. III. (S. 368 f.). 30 Böllinger (1995: Rn. 78 ff. zu § 64 StGB); Hanack (1991: Rn. 73 ff. zu § 64 StGB); E. Horn (1999: Rn. 13 zu § 64 StGB); Jescheck / Weigend (1996: 812); Schmitt (1979: 863 f.). Ebenso aus der älteren Literatur bereits Gerland (1921: 82, 86) und Rittler (1926: 103). 31 Besonders auffällig bei Böllinger (1995: Rn. 78 ff. zu § 64 StGB) und E. Horn (1999: Rn. 13 zu § 64 StGB), mit anderen Wertungen aber auch bei solchen Autoren, die generell für geringere Anforderungen bei § 64 StGB plädieren. 28 29
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Was den Grad der zu fordernden Wahrscheinlichkeit weiterer Taten betrifft, wird vielfach bemerkt, er sei niedriger anzusetzen als für eine Unterbringung in der Psychiatrie.33 Nach den vorigen Ausführungen trifft diese Auffassung nicht zu: Gefährlichkeit ist auch für die Unterbringung nach § 64 StGB nur dann anzunehmen, wenn die Wahrscheinlichkeit künftiger Delikte einen hohen Grad erreicht. Denn diese Maßregel bringt mit der Freiheitsentziehung zur Ermöglichung einer Suchtbehandlung einen gravierenden Grundrechtseingriff mit sich. Daß das Gesetz eine Befristung vorsieht, ändert nichts an dieser Beurteilung, weil die Höchstfrist durch den Vorwegvollzug der Maßregel hinausgeschoben wird und damit die im Gesetz genannte Schwelle von zwei Jahren deutlich überschreiten kann. Allerdings ist einzuräumen, daß verbale Bestimmungsversuche von Wahrscheinlichkeitsgraden für die Anordnung der Maßregel in der Gerichtspraxis meist nicht entscheidend sein werden.34 Die Rechtsprechung betont auch für die Unterbringung nach § 64 StGB, daß eine bloße Wiederholungsmöglichkeit nicht ausreicht.35 Deshalb kann sich die Untersuchung des Gefährlichkeitsmerkmals im folgenden auf den Gesichtspunkt der Erheblichkeit künftiger Delikte konzentrieren. Als typische Erscheinungsformen zu befürchtender Taten, die eine Gefährlichkeit begründen können, werden vor allem Beschaffungsdelikte genannt.36 Dabei ist gleichgültig, ob es sich um Taten zur Erlangung psychotroper Substanzen selbst handelt – insoweit spricht die kriminologische Forschung von direkter Beschaffungskriminalität – oder um solche, die als „indirekte Beschaffungskriminalität“ lediglich zur Beschaffung von Mitteln dienen sollen, welche zum Erwerb konsumierbarer Suchtmittel verwandt werden können.37 Weitere Beispielsfälle bilden Verkehrsstraftaten.38 Sie liegen aus strafrechtlicher Sicht möglicherweise deshalb nahe, weil zu dieser Deliktsgruppe die praktisch 32 Hanack (1991: Rn. 78 zu § 64 StGB); E. Horn (1999: Rn. 8 zu § 64 StGB), Lackner (2001: Rn. 3 zu § 64 StGB) und Schreiber (2000: 38); aus der Rechtsprechung BGH, Urteile vom 27. Mai 1971 – 4 StR 152 / 71 (bei Dallinger, MDR 1971, 895) und vom 11. November 1990 – 1 StR 293 / 90 (= NJW 1990, 3282) sowie Beschluß vom 22. September 1999 – 3 StR 393 / 99 (= NStZ 2000, 25 f.). 33 Hanack (1991: Rn. 68 f. zu § 64 StGB); Schreiber (2000: 38); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 10 zu § 64 StGB). 34 So auch Hanack (1991: Rn. 68 f. zu § 64 StGB), Schreiber (2000: 38), Volckart (1999: 14) und BGH, Urteil vom 21. September 1993 – 4 StR 374 / 93 (= NStZ 1994, 30 f.). 35 BGH, Urteile vom 11. Dezember 1990 – 1 StR 611 / 90 (= BGHR StGB § 64 Abs. 1 Gefährlichkeit 3), 21. September 1993 – 4 StR 374 / 93 (= NStZ 1994, 30 f.) und 7. Dezember 1993 – 1 StR 572 / 93 (= NStZ 1994, 280). 36 BGH, Urteile vom 7. Dezember 1993 – 1 StR 572 / 93 (= NStZ 1994, 280) und 18. Februar 1997 – 1 StR 693 / 96 (= StV 1998, 75); Beschluß vom 22. September 1999 – 3 StR 393 / 99 (= NStZ 2000, 25 f.). Ebenso Hanack (1991: Rn. 37 zu § 64 StGB), E. Horn (1999: Rn. 8 zu § 64 StGB), Körner (2001: Rn. 302 zu § 35 BtMG), Lenckner (1972: 196) und Volckart (1999: 12). 37 Zu dieser Unterscheidung etwa Kaiser (1996: 644 f.). 38 Bode (1976); Hanack (1991: Rn. 37 zu § 64 StGB); Lackner (2001: Rn. 3 zu § 64 StGB); Zipf (1989: 676).
Kap. 14: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
267
wichtigsten Tatbestände gehören, die eine Beeinträchtigung durch den Konsum psychotroper Substanzen voraussetzen. Selbst das konkrete Gefährdungsdelikt des § 315c I Nr. 1 a StGB ist jedoch mit einer Höchststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht; dieser Strafrahmen wird erst bei Tathandlungen überschritten, die nicht nur den Tatbestand des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr verwirklichen, sondern auch den einer Qualifikation (§§ 315b I und III, 315 III StGB). Daher dürfte der größte Teil zu befürchtender Straßenverkehrsdelikte die Anforderungen des Erheblichkeitsmerkmals nicht erreichen. Darüber hinaus wird gelegentlich darauf hingewiesen, daß Gewaltdelikte wie Körperverletzung und Sachbeschädigung erfahrungsgemäß häufig unter Alkoholeinwirkung begangen werden.39 Genannt werden im übrigen vielfältige Tatbestände von der Verletzung der Unterhaltspflicht bis hin zu bestimmten Formen von Sexualdelikten.40 In der Rechtsprechung nimmt die Figur der „mittleren Kriminalität“ bei den Versuchen zur Konkretisierung des Erheblichkeitsmerkmal bei der Maßregel nach § 64 StGB keine wichtige Position ein; veröffentlichte Entscheidungen, die diese Argumentationsfigur ausdrücklich heranziehen, liegen zumindest in den letzten Jahren nicht vor. Dennoch wird in der Literatur teilweise auf diese Begründung Bezug genommen.41 Wie oben gezeigt wurde, liefert dieser Ansatz jedoch keine klaren Abgrenzungskriterien42; daher ist auch hier darauf zu verzichten. Soll das Erheblichkeitsmerkmal eine Begrenzungsfunktion für die Anwendung der Maßregel nach § 64 StGB erfüllen, so dürfen nicht schon die Beschaffung einer beliebig kleinen Menge an Suchtmitteln, die Entwendung eines geringen Geldbetrags oder auch eine weitere Trunkenheitsfahrt ausreichen, eine Befürchtung erheblicher Taten und damit das Merkmal „Gefährlichkeit“ anzunehmen. Deshalb sind Fallgruppen unterhalb der Erheblichkeitsschwelle geeignet, bestimmte Formen von Delikten abzuschichten und die Anforderungen auf diese Weise konkreter zu fassen. Dabei kann auf die Unterscheidung schadensbezogener und verbrechensdogmatischer Gesichtspunkte zurückgegriffen werden, die im Hinblick auf die spezifische Klientel einer Suchtbehandlung allerdings teilweise anders zu füllen sind als im Zusammenhang mit der psychiatrischen Unterbringung. Auf schadensbezogene Gesichtspunkte beziehen sich die Fallgruppen der geringfügigen, lästigen und Bagatelldelikte. Alle drei Fallgruppen sind auch in ihrer Begrenzungsfunktion der Unterbringung bei Abhängigkeit weithin anerkannt.43 39 Hanack (1991: Rn. 37 zu § 64 StGB); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 8 zu § 64 StGB); Volckart (1999: 12). 40 Hanack (1991: Rn. 37 zu § 64 StGB); Volckart (1999: 12). 41 Hanack (1991: Rn. 75 zu § 64 StGB); E. Horn (1999: Rn. 13 zu § 64 StGB); Schreiber (2000: 38); Volckart (1999: 14). 42 Kapitel 13 B. III. (S. 216 ff.). 43 Böllinger (1995: Rn. 97 zu § 64 StGB); Hanack (1991: 75 zu § 64 StGB); Schreiber (2000: 38).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Als geringfügig gilt vor allem der Erwerb kleiner Mengen von Betäubungsmitteln (§ 29 I 1 Nr. 1 BtMG), die zum Eigenverbrauch bestimmt sind.44 Diese schon seit längerem vertretene Auffassung wird durch die Einführung der Vorschriften in §§ 29 V, 31a BtMG erhärtet, welche in solchen Fällen den Gerichten ein Absehen von Strafe und den Staatsanwaltschaften eine Verfahrenseinstellung ermöglichen. Die recht unterschiedliche Auslegung dieser Vorschriften in verschiedenen Bundesländern45 sollte allerdings nicht dazu führen, die Fallgruppe des Drogenerwerbs zum Eigenverbrauch zu eng zu beschränken. Was für die Gefährlichkeitsprognose im Rahmen des § 64 StGB noch als unerheblich gilt, kann sich schon wegen der methodologisch bedingten Unschärfe solcher Prognosen nicht an präzisen Mengenangaben zum Wirkstoffgehalt orientieren; die Reinheit der auf dem illegalen Markt zu einem bestimmten Zeitpunkt angebotenen Substanzen hängt von zahlreichen Unwägbarkeiten ab. Auch die allgemeinen Weisungen an die staatsanwaltschaftliche Praxis zu § 31a BtMG stellen auf Gesamtmengen ab, die sich ohne großen Aufwand ermitteln lassen.46 Ein weiteres Beispiel geringfügiger Verstöße bilden Rezeptfälschungen zur Erlangung therapeutisch nicht indizierter Arzneimittel.47 Bei alkoholabhängigen Verurteilten umfaßt die Fallgruppe der geringfügigen Beschaffungsdelikte nach der Rechtsprechung vor allem leichte Eigentumsdelikte.48 Im Bereich der Verkehrsstraftaten ist zudem an Trunkenheitsfahrten zu denken, bei denen eine Gefährdung anderer Personen unwahrscheinlich erscheint. Anerkannt ist weiter, daß bloß lästige und Bagatelldelikte nicht als erhebliche Taten anzusehen sind, die eine Gefährlichkeitsprognose im Rahmen von § 64 StGB begründen könnten.49 Hier ist zunächst an den Konsum von Suchtmitteln in der Öffentlichkeit und die damit verbundenen Begleiterscheinungen zu denken. Solange diese Verhaltensweisen – wie etwa Lärmbelästigung oder Betteln – nicht die Voraussetzungen eines Straftatbestands erfüllen, kann ohnehin von Gefährlichkeit nicht die Rede sein.50 Zu erwartende Verstöße gegen ein Hausverbot51, Nötigun44 BGH, Urteile vom 7. Dezember 1993 – 1 StR 572 / 93 (= NStZ 1994, 280) und vom 18. April 1996 – 1 StR 36 / 96 (= StV 1996, 538); ebenso Körner (2001: Rn. 305 zu § 35 BtMG) und Schreiber (2000: 38). 45 Eine umfassende Analyse findet sich bei Aulinger (1997: 101 ff., 214 ff.). 46 Aulinger (1997: 101 ff.). 47 Hanack (1991: 75 zu § 64 StGB); Körner (2001: Rn. 305 zu § 35 BtMG); aus der Rechtsprechung LG Köln, Urteil vom 26. Juni 1985 – 103 – 19 / 85 (= MDR 1986, 339). E. Horn (1999: Rn. 13 zu § 64 StGB) rechnet Urkundenfälschungen dieser Art dagegen bereits zur „mittleren Kriminalität“. 48 BGH, Beschluß vom 6. Dezember 1996 – 2 StR 608 / 96 (= StV 1998, 74). 49 Böllinger (1995: Rn. 97 zu § 64 StGB); Hanack (1991: Rn. 75 zu § 64 StGB); Schreiber (2000: 38); Volckart (1999: 14). 50 Böllinger (1995: Rn. 97 zu § 64 StGB) nennt das Beispiel alkoholisierter Stadtstreicher. 51 Wie einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu entnehmen ist, haben solche Delikte noch 1965 zu einer kriminalrechtlichen Unterbringung in der Psychiatrie geführt: BVerfG, Beschluß vom 6. April 1995 – 2 BvR 1087 / 94 (= NJW 1995, 3048).
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gen in Verbindung mit aufdringlichem Betteln oder der mit dem Konsum illegaler Drogen notwendig verbundene Besitz und Erwerb zum Eigenverbrauch müssen zur Begründung der Gefährlichkeit ebenso ausscheiden. Zu der Maßregel nach § 63 StGB wurde ausgeführt, daß bei unbewußten Fahrlässigkeitsdelikten und grob unverständigen Versuchen keine Gefährlichkeit wegen erheblicher künftiger Taten anzunehmen ist.52 Diese Gesichtspunkte lassen sich auf die Unterbringung bei Abhängigkeit übertragen. Allerdings wird sich diese dogmatische Entscheidung in der Justizpraxis kaum auswirken. Fahrlässigkeitsdelikte im Straßenverkehr, die Beispielsfälle liefern könnten, dürften kaum als Anknüpfungspunkt für eine ungünstige Gefährlichkeitsprognose herangezogen werden, weil die Annahme von Eventualvorsatz in Wiederholungsfällen immerhin nahe liegt; zumindest wird man dann von bewußter Fahrlässigkeit ausgehen müssen.
C. Empirische Forschungsergebnisse Der Überblick zum Stand der empirischen Forschung kann sich wiederum auf die Ergebnisse einer umfassenden eigenen Studie53 stützen, die durch Daten der Strafverfolgungsstatistik und weitere Forschungsergebnisse ergänzt werden.
I. Unterbringungsdelikte bei § 64 StGB Die Datengrundlage liefert eine Stichprobe von Verurteilungen aus allen westlichen Bundesländern während des Jahres 1986; abgesehen von einer früheren Studie von Norbert Leygraf zum Maßregelvollzug54 handelt es sich um die bislang einzige bundesweite empirische Untersuchung zur Praxis der Maßregel nach § 64 StGB.55 Tabelle 5 enthält eine differenzierte Darstellung der Unterbringungsdelikte im Bezugsverfahren; auf der Grundlage des schwersten Unterbringungsdelikts werden zwölf Deliktsgruppen dargestellt. Im Jahr 1986 wird § 64 StGB am häufigsten wegen Diebstahls unter erschwerten Umständen (§§ 243, 244 StGB a.F.) verhängt, mit deutlichem Abstand gefolgt von Raubdelikten (§§ 249 – 255, 316a StGB). Gewalt- und Sexualdelikte, die in der oberen Hälfte der Tabelle aufgeführt sind, treten aber mit einem Anteil von zusammen rund 35 % quantitativ nicht hervor. Die Kategorie der „sonstigen Delikte“ umfaßt hauptsächlich Straßenverkehrsdelikte, und zwar überwiegend Trunkenheitsfahrten mit und ohne Folgen (§§ 315c, 316 52 53 54 55
Kapitel 13 B. IV. (S. 218 ff.). Dessecker (1996b). Leygraf (1987). Zum methodischen Zuschnitt der Studie Dessecker (1996b: 62 ff.).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
StGB), daneben aber auch je eine Verurteilung wegen Geldfälschung (§ 146 StGB), Nötigung (§ 240 StGB) und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB). Erläuterungsbedürftig ist auch der Tatbestand des Vollrauschs (§ 323a StGB): hinter dieser Kategorie stecken hauptsächlich Rauschtaten mit Körper- und Vermögensschäden, aber auch versuchte und vollendete Tötungsdelikte. Tabelle 5 Schwerstes Unterbringungsdelikt nach § 64 StGB: Vergleich der eigenen Untersuchung (Daten von 1986) mit der Strafverfolgungsstatistik 1996 und 2000 (%) Stichprobe (1986)
Strafverfolgungsstatistik (1996) (2000)
n = 249
N = 874
N = 1.267
Tötungsdelikte
3,6
4,1
4,6
sexuelle Gewaltdelikte
2,8
2,1
3,4
sonstige Sexualdelikte
3,2
1,5
1,5
Körperverletzung
8,4
7,3
13,4
Brandstiftung
2,8
5,1
2,8
Raub, Erpressung
14,5
24,7
21,6
schwerer Diebstahl
21,7
9,6
9,2
sonstige Eigentumsdelikte
5,2
5,1
5,4
Betrugsdelikte, Urkundenfälschung
3,2
2,4
3,2
Vollrausch
12,4
8,1
5,4
Betäubungsmitteldelikte
10,4
18,0
20,7
sonstige Delikte
11,6
12,0
8,9
Seither hat sich die Anordnungspraxis der Maßregel teilweise verändert. Schon aus neueren empirischen Forschungen ergeben sich Hinweise darauf, daß der Anteil von Verurteilungen wegen Gewaltdelikten als Anlaß einer Unterbringung zugenommen hat.56 Zieht man zum Vergleich die Daten der Strafverfolgungsstatistik heran, so zeigen sich Veränderungen in zwei Bereichen. Zum einen verschiebt sich der Schwerpunkt der Anlaßdelikte von qualifizierten Diebstahlsdelikten zu den Raub- und Drogendelikten, auf die 2000 jeweils rund ein Fünftel der Anordnungsentscheidungen entfällt. Zum anderen verlieren unter den suchtbezogenen Tatbeständen die Verurteilungen wegen Vollrauschs an Bedeutung. Beide Veränderungen dürften damit zusammenhängen, daß die Maßregel nach § 64 StGB inzwischen 56
Metrikat (2002: 181 ff.); Schalast (2000: 26 ff.); Seifert / Leygraf (1999: 451 f.).
Kap. 14: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
271
häufiger gegen drogenabhängige Täter verhängt wird.57 Nach wie vor zeigt sich aber ein sehr breites Deliktsspektrum; der Anteil der sonstigen Delikte, bei denen es sich überwiegend um Trunkenheitsfahrten im Straßenverkehr handelt, liegt erst 2000 unter 10 %. Und der Anteil der Gewaltdelikte ist keineswegs so dramatisch angestiegen, wie dies bei einer Betrachtung ausgewählter Einrichtungen des Maßregelvollzugs erscheinen mag. Versteht man Tötungs- und Körperverletzungsdelikte, Vergewaltigung und Raubdelikte als Gewaltdelikte, so liegt deren Anteil mit 43 % nach den neueren Daten der Strafverfolgungsstatistik zwar höher als 1986 in der eigenen Untersuchung (29 %), bleibt aber deutlich hinter ihrem Anteil in vier Maßregeleinrichtungen der Länder Hessen und Nordrhein-Westfalen zurück.58 Das Spektrum der Delikte, die zur Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt führen, läßt sich qualitativ anhand zweier Beispiele verdeutlichen. Ein 29jähriger arbeitsloser Schmied, der bereits früher wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und Trunkenheit im Straßenverkehr bestraft worden war, fuhr betrunken mit einem Mofa. Einige Monate zuvor war eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden, um dem Beschuldigten die Möglichkeit einer Suchtbehandlung zu geben. Ein rechtsmedizinisches Gutachten im Bezugsverfahren ergab einen Blutalkoholgehalt zur Tatzeit von rund 2,1 ‰. In erster Instanz wurde wegen Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten verhängt. Dagegen legte der Beschuldigte Berufung ein. Die Staatsanwaltschaft regte daraufhin eine Begutachtung zur Feststellung der Voraussetzungen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an. Das Berufungsgericht ermäßigte die Strafe auf acht Monate und ordnete die Unterbringung an, nachdem das psychiatrische Gutachten sie empfohlen hatte. Weder die Strafe noch die Maßregel wurde im Urteil zur Bewährung ausgesetzt.
Um eine Tat mit schweren Folgen geht es dagegen in folgendem Verfahren: Ein junger Mann, der seine Schwester besuchte, nahm Geld aus ihrer Geldbörse, als sie das Zimmer verlassen hatte. Nachdem sie den Diebstahl bemerkt hatte und ihn sofort zur Rede stellte, weigerte er sich, das Geld zurückzugeben. Als sie laut zu schreien anfing, befürchtete er, daß Nachbarn aufmerksam würden, würgte und erdrosselte sie schließlich. Beide Geschwister hatten Alkohol getrunken; der Blutalkoholgehalt des Beschuldigten zur Tatzeit wurde auf rund 1,9 ‰ geschätzt. Die Untersuchungshaft wurde nach wenigen Tagen für eine Unterbringung zur psychiatrischen Begutachtung (§ 81 StPO) unterbrochen. Ein ausführliches Gutachten kam zu dem Ergebnis, daß eine Drogenabhängigkeit – in erster Linie von Heroin – gegeben sei. Der Beschuldigte wurde zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, verbunden mit der Unterbringung nach § 64 StGB. Das Gericht ordnete die Vorwegvollstreckung der gesamten Strafe an. 57 Bei den Drogenabhängigen sind Raubdelikte schon nach der eigenen Untersuchung die zweithäufigste Deliktsart (nach den Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz); siehe Dessecker (1996b: 90). 58 Schalast (2000: 26 ff.) findet dort nach derselben Definition 81 % Gewaltdelikte als Anlaßdelikte der Unterbringung bei Alkohol- und 65% bei Drogenpatienten. Demgegenüber liefert eine Untersuchung aus dem bayerischen BKH Gabersee mit 39% Gewaltdelikten einen Anteil, der von den Daten der Strafverfolgungsstatistik nur wenig abweicht; siehe Gerl / Bischof (2001: 141 f.).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Ein knappes Drittel der Verfahren betrifft 1986 nach der Aktenanalyse Delikte mit körperlichen Schäden; nach den Angaben in den Strafverfahrensakten kommen die Geschädigten überwiegend ohne oder mit ambulanter medizinischer Behandlung aus. In fünf Verfahren geht es aber um Delikte, die zu einem Tötungserfolg führen. Beeinträchtigungen der sexuellen Selbstbestimmung (fast ausschließlich einer einzigen Geschädigten bei einer Gelegenheit) betreffen knapp 10 %. Dagegen sind Vermögensschäden Gegenstand von rund 60 % der Verfahren. Die Schadensbeträge liegen zumeist im Bereich von einigen Hundert (19 %) bis einigen Tausend Mark (24 %), können als seltene Ausnahme aber Beträge über 100.000 DM erreichen.59 In rund der Hälfte der Fälle richten sich die Unterbringungsdelikte gegen für die Probanden fremde Personen oder gegen Institutionen. Geschädigte im sozialen Nahraum wie Familienangehörige oder engere Bekannte sind nur in etwas mehr als 10 % der Verfahren betroffen. Während sich von den Körperverletzungen 45 % gegen fremde Personen und 15 % gegen Angehörige oder Lebenspartner richten, sind bei den Sexualdelikten über die Hälfte der Geschädigten Fremde.
II. Unterbringungsentscheidungen nach § 64 StGB Die Maßregel nach § 64 StGB kann selbst dann angeordnet werden, wenn an der Schuldfähigkeit kein Zweifel besteht. Dies ist immerhin in jedem sechsten Verfahren der Aktenanalyse der Fall. Rund drei Viertel der Verurteilten gelten als vermindert schuldfähig (§ 21 StGB), und die restlichen 10 % werden im Hinblick auf mindestens ein Unterbringungsdelikt als schuldunfähig (§ 20 StGB) bezeichnet.60 Der geringen Häufigkeit von Feststellungen der Schuldunfähigkeit entsprechend, sind isolierte Maßregelanordnungen selten: lediglich gegen 8% der Verurteilten wird ausschließlich eine Unterbringung angeordnet, die zudem in mehr als jedem zweiten Fall zur Bewährung ausgesetzt wird.61 Insgesamt steht die Kombination einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Maßregel mit einer ebenfalls nicht ausgesetzten Freiheits- oder Jugendstrafe bei einem Anteil von mehr als drei Vierteln deutlich im Vordergrund. In rund 10 % der Verfahren werden Maßregel und Strafe durch das erkennende Gericht zur Bewährung ausgesetzt. Weitere Entscheidungsalternativen fallen quantitativ nicht ins Gewicht. Dessecker (1996b: 94 f.). Diese Kategorie bezieht sich ausschließlich auf jene Fälle, in denen die Herbeiführung der Schuldunfähigkeit nicht zu einer Verurteilung nach den Grundsätzen der actio libera in causa oder nach dem Tatbestand des § 323a StGB führt; siehe Dessecker (1996b: 106 f.). 61 Da es in den Bezugsverfahren nicht selten um mehrere Straftaten geht, wurde die Schuldfähigkeitsbeurteilung nicht für jede Tat gesondert erhoben; das Merkmal bezieht sich auf den weitesten Exkulpationsgrad. Deshalb wird die quantitative Bedeutung der Schuldunfähigkeit auf diese Weise etwas überschätzt. Im einzelnen Dessecker (1996b: 110). 59 60
Kap. 14: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
273
In über 90 % der Fälle wird nach der Aktenanalyse auch eine Freiheitsstrafe verhängt, deren Strafmaß zwischen zwei Monaten und elf Jahren liegt und damit in einem breiten Intervall streut. Ein Drittel der Strafen dauert bis zu einem Jahr; bei jedem zweiten Verurteilten überschreitet die verhängte Freiheitsstrafe jedoch die Schwelle von 18 Monaten. Die Länge der Strafen variiert systematisch mit der Art der primären Suchtproblematik der Verurteilten: die Strafen der Probanden mit einer vorherrschenden Drogenproblematik sind deutlich länger als die der Alkoholtäter. Während unter den drogenabhängigen Probanden jeder zweite zu einer Freiheitsstrafe von mehr als 31 Monaten verurteilt wird, liegt der Median für die Strafen der Alkoholabhängigen mit 16 Monaten um die Hälfte niedriger. Allerdings werden in beiden Gruppen in Einzelfällen Freiheitsstrafen von zehn Jahren und mehr verhängt. Nach der Strafverfolgungsstatistik liegt der Anteil der Maßregeln zur Suchtbehandlung bei Schuldunfähigkeit unter 4 %; Freisprüche wegen Schuldunfähigkeit ohne Anordnung einer Unterbringung kommen danach wesentlich häufiger vor.62 Daher ist davon auszugehen, daß inzwischen neben der Maßregel nach § 64 StGB fast immer auch eine Freiheits- oder Jugendstrafe verhängt wird.
III. Merkmale der Verurteilten bei der Unterbringung nach § 64 StGB Bei den Verurteilten der bundesweiten Aktenanalyse zur Anordnung der Maßregel nach § 64 StGB handelt es sich fast ausschließlich um Männer, von denen zum Zeitpunkt der Unterbringungsanordnung nur 12 % verheiratet sind. Nach einem groben Schichtindex sind sie zum größten Teil sozialen Unterschichten zuzurechnen. In der Zeit unmittelbar vor der Unterbringungsanordnung geht lediglich eine Minderheit von rund 20 % irgendeiner Berufstätigkeit nach. Zudem blikken diese Verurteilten auf lange Sucht- und Kriminalitätserfahrungen zurück: für knapp die Hälfte ist in den Strafverfahrenakten eine stationäre Abhängigkeitstherapie in der Vorgeschichte dokumentiert, und strafrechtliche Voreintragungen im Bundeszentralregister liegen bei fast allen Personen vor. Annähernd drei Viertel haben bereits eine Freiheitsstrafe verbüßt.63 Damit ist die Klientel der Einrichtungen nach § 64 StGB derjenigen des psychiatrischen Maßregelvollzugs nach § 63 StGB und auch der des Strafvollzugs im Hinblick auf die Vorgeschichte und weitere soziodemographische Merkmale recht ähnlich. Frühere Verurteilungen zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe ohne Bewährung sind allerdings in der Untersuchungsgruppe zu § 64 viel häufiger als in derjenigen zu § 63 StGB. Diese Ergebnisse stimmen gut mit denen weiterer empirischer Untersuchungen zur Unterbringung bei Abhängigkeit überein.64 62 63
Statistisches Bundesamt (2001: 275). Dessecker (1996b: 67 ff.).
18 Dessecker
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Erwartungsgemäß gibt es in der Untersuchungsgruppe keinen Probanden, der nach den Strafverfahrensakten keine Suchtproblematik aufweist. Mit einem Anteil von rund drei Vierteln ist Alkohol die beim Konsum im Vordergrund stehende Substanz, während nur rund 20 % der Verurteilten hauptsächlich Betäubungsmittel konsumieren. Die restlichen Probanden lassen sich als medikamentenabhängig beschreiben. Zudem enthalten die Gutachten, die in zwei Dritteln der Verfahren in schriftlicher Form vorliegen, bei einer starken Minderheit weitere psychiatrische Diagnosen.65 Neuere Daten der Strafvollzugsstatistik zum Maßregelvollzug weisen darauf hin, daß der Anteil drogenabhängiger Patienten in den Einrichtungen nach § 64 StGB inzwischen mit rund 46 % deutlich höher liegt als vor einigen Jahren; auch eine empirische Untersuchung über vier Kliniken in Hessen und Nordrhein-Westfalen kommt annähernd zu einer Gleichverteilung von Alkoholproblematik und Betäubungsmittelabhängigkeit. 66
IV. Auffälligkeiten während der Suchtbehandlung im Maßregelvollzug Obwohl Zwischenfällen im Maßregelvollzug als Indikator für die Gefährlichkeit der Patienten nur begrenzte Aussagekraft zukommt, beschäftigen sich damit einige Studien; sie kommen durchgängig zu dem Ergebnis, daß solche Ereignisse während der kriminalrechtlichen Suchtbehandlung nicht selten auftreten.67 Wie durch die eigene Untersuchung bestätigt wird, gilt dies vor allem für – meist kurzzeitige – Entweichungen ohne Straftaten und Alkoholkonsum, die selbst nach den Vollstreckungsakten der Staatsanwaltschaften für jeweils mehr als die Hälfte der Maßregelpatienten festzustellen sind.68 Während Entweichungen ohne Straftaten bei alkohol- und drogenabhängigen Maßregelpatienten etwa gleich häufig registriert werden, sind Entweichungen mit Straftaten in diesen Gruppen ungleich verteilt: sie werden bei den drogenabhängigen Patienten etwa doppelt so häufig verzeichnet wie bei denjenigen mit einer Alkoholproblematik. Allerdings stehen bei den Taten der Drogenabhängigen im Maßregelvollzug Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz im Vordergrund: erneuter Drogenkonsum geht wegen der weitgehenden Kriminalisierung von Vor64 Berger et al. (1999); Elpel (1996: 179 f., 196); Leygraf (1987: 233 f.); Marneros et al. (1994); Metrikat (2002: 140 f.); Schalast (2000: 64 ff.). 65 Dessecker (1996b: 75 f., 101). 66 Schalast (2000: 64). Anders wieder Gerl / Bischof (2001: 139) für das BKH Gabersee, das für einen eher ländlich strukturierten Einzugsbereich in Oberbayern zuständig ist, mit einem Anteil von lediglich 31% Patienten mit der Diagnose „Polytoxikomanie“. 67 Siehe z. B. Berger et al. (1999); Marneros et al. (1993: 173 f.); Pfaff et al. (1993: 608); Schalast (2000: 93 f.). 68 Dessecker (1996b: 144 f.).
Kap. 14: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
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bereitungs- und Begleithandlungen des Konsums fast unvermeidlich mit einer Straftat einher. Insgesamt begehen über 20 % der Maßregelpatienten während der Unterbringungszeit oder während eines Urlaubs eine neue Straftat. Dabei überwiegen Eigentumsdelikte. Es gibt aber auch zwei Extremfälle, in denen gegen Maßregelpatienten wegen Tötungsdelikten nach einer Entweichung aus der stationären Suchtbehandlung ermittelt wird. Von den primär alkoholabhängigen Maßregelpatienten trinken mehr als 60% während der Unterbringung, während einer Vollzugslockerung oder anläßlich einer Entweichung mindestens bei einer Gelegenheit Alkohol; unter den primär drogenabhängigen Personen konsumieren sogar mehr als 70 % irgendwann illegale Drogen oder medizinisch nicht indizierte Medikamente. Dabei ist davon auszugehen, daß eine Erhebung von Strafvollstreckungsakten die Häufigkeit solcher Vorfälle eher unterschätzt, weil sie dort nicht in jedem Fall registriert werden.
V. Legalbewährung Der letzte Gesichtspunkt, der anhand eigener empirischer Forschungsergebnisse breiter diskutiert werden soll, betrifft die Frage nach Erfolgen und Mißerfolgen der Unterbringung abhängigkeitskranker Straftäter. Versteht man den Erfolgsbegriff umfassend, so kommt es auch bei dieser Maßregel nicht allein auf die Legalbewährung an, sondern weiterhin auf abhängigkeitsspezifische Kriterien. Allerdings steckt die Therapieforschung im Maßregelvollzug erst in den Anfängen. Und erneute Straftaten sind für die Beurteilung einer kriminalrechtlichen Sanktion immer noch der zentrale Gesichtspunkt. Zudem läßt sich empirisch zeigen, daß erneuter Suchtmittelkonsum und erneute Straffälligkeit korrelieren.69 Wie bereits im Zusammenhang mit der psychiatrischen Unterbringung geschildert, wurde auch die Legalbewährung der Verurteilten, gegen die eine Maßregel nach § 64 StGB verhängt wurde, anhand von Auszügen aus dem Bundeszentralregister erhoben. Die Auswertung beschränkt sich auf die Personen, die tatsächlich im Maßregelvollzug waren und nach Aussetzung (§ 67d II StGB) so rechtzeitig entlassen wurden, daß ein genügend langer Beobachtungszeitraum zur Verfügung steht.70 Dabei ergibt sich, daß immerhin 41 % derjenigen, die aus der stationären Suchtbehandlung nach § 64 StGB entlassen wurden, innerhalb von zwei Jahren nach der Entlassung eine Tat begehen, die zu einer neuen Eintragung im Bundeszentralregister führt. Einzelne Personen werden in diesem Zeitraum sogar bis zu fünf Mal verurteilt. Außerdem kommen neben den Verurteilungen, die ja nur unter der Voraussetzung der Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt erfolgen dürfen, vereinzelt Verfahrenseinstellungen wegen Schuldunfähigkeit vor. 69 70
18*
Dessecker (1996b: 188); Pfaff (1998: 571). Dessecker (1996b: 174 ff.).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Am häufigsten werden wegen der neuen Delikte Freiheitsstrafen mit Bewährung verhängt. Danach folgen nicht ausgesetzte Freiheitsstrafen und Geldstrafen. Erneut verhängte stationäre Maßregeln, die teilweise primär zur Bewährung ausgesetzt werden, betreffen lediglich einzelne Personen. Wenn man die Qualität der Delikte nach der Entlassung aus dem Maßregelvollzug betrachtet, sind Eigentumsdelikte bei weitem am häufigsten Gegenstand der erneuten Aburteilung, mit Abstand gefolgt von Straßenverkehrsdelikten. Es dürfte keine Überraschung sein, daß auch suchtbezogene Delikte wie Vollrausch und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz relativ häufig zu einer erneuten strafrechtlichen Sanktion führen. Schwere Delikte sind selten zu beobachten; doch reicht das Deliktsspektrum bis hin zu einer sexuellen Nötigung und einem Tötungsdelikt. Die Aussagekraft dieser Resultate läßt sich besser beurteilen, wenn man sie mit anderen Forschungsergebnissen vergleicht. Zwar liegen zu der Unterbringung nach § 64 StGB (und der weitgehend vergleichbaren Sanktion des schweizerischen Rechts) mehrere Legalbewährungsstudien vor.71 Diese sind jedoch nach ihrer Fragestellung und Methode mit der eigenen Untersuchung nicht vergleichbar. Aus diesem Grund beschränkt sich der folgende Vergleich zur Legalbewährung auf solche Studien mit ausreichend langen und möglichst einheitlichen Beobachtungszeiträumen, deren Ergebnisse gut dokumentiert sind und in denen die Kriterien für einen strafrechtlichen Rückfall möglichst einheitlich und abgestuft definiert werden. Die drei Kriterien, die bereits im Zusammenhang mit der Diskussion der Legalbewährung nach der psychiatrischen Unterbringung eingeführt wurden72, werden auch hier herangezogen. Das Kriterium R1 bezieht sich auf beliebige neue Verurteilungen, bei den Studien zum Maßregelvollzug auch auf Verfahrenseinstellungen wegen Schuldunfähigkeit. Das Kriterium R2 bezieht sich auf erneute Aufenthalte im Straf- oder Maßregelvollzug, und der engste Rückfallbegriff ergibt sich nach Kriterium R3, wonach eine Verurteilung zu einer freiheitsentziehenden Sanktion gerade wegen eines schweren Gewalt- oder Sexualdelikts erfolgt sein muß. Im einzelnen werden hier alle Tötungs-, Körperverletzungs-, Sexual- und Brandstiftungsdelikte sowie Raubdelikte erfaßt. Tabelle 6 faßt die Ergebnisse zur Legalbewährung bei § 64 StGB zusammen. In den Vergleich einbezogen werden neben der eigenen Untersuchung diejenige von Gudrun Koch, die sich auf alkoholabhängige Maßregelpatienten der niedersächsischen Einrichtung in Bad Rehburg bezieht73, sowie die Resultate aus der Begleitforschung zu der Gemeinschaftseinrichtung mehrerer Bundesländer für drogenabhängige Straftäter in Brauel.74 Weiterhin aufgenommen wird eine bundesweite Untersuchung über drogenabhängige Straftäter, deren Strafvollstreckung nach § 35 71 72 73 74
Siehe als Überblick Dessecker (2000a: 191 ff.). Kapitel 13 C. V. (S. 233 ff.). G. Koch (1988). Schulzke et al. (1993).
Kap. 14: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
277
BtMG zurückgestellt worden ist75; die Zurückstellungslösung im Vollstreckungsverfahren stellt bei Drogenabhängigkeit die wichtigste Alternative zu einer Unterbringung im Maßregelvollzug dar.76 Tabelle 6 Resultate von Legalbewährungsstudien zum Maßregelvollzug sowie zur Therapieregelung des Betäubungsmittelstrafrechts im Vergleich Rückfallkriterium
§ 64 StGB § 64 StGB (eigene Studie) (Bad Rehburg)1
R1: irgendeine neue Eintragung R2: erneuter Freiheitsentzug R3: Freiheitsentzug wegen Gewaltoder Sexualdelikten 1 2 3
§ 64 StGB (Brauel)2
2 Jahre n = 150
1 2,5 Jahre n = 68
3 Jahre n = 86
§ 35 BtMG (westliche Bundesländer)3 3 Jahre n = 241
43 %
69 %
58 %
62 %
39 %
49 %
(49 % „nicht nur geringe Geldstrafe“)
39 %
4%
(4 % Freiheitsstrafe > 2 Jahre)
–
–
Koch (1988: 49 ff.). Schulzke et al. (1993: 80). Kurze (1994: 237 ff.).
Bei Beobachtungszeiträumen von zwei bis drei Jahren sind die Ergebnisse eher uneinheitlich. Die Rückfallquoten nach dem allgemeinsten Kriterium R1 liegen zwischen 43 und 69 %; bei einer Beschränkung auf Fälle mit erneutem Freiheitsentzug (R2) ergeben sich Werte zwischen 39 und 49 %. Erst bei der speziellen Betrachtung von Gewalt- und Sexualdelikten mit Freiheitsentziehungen (R3) gleichen sich die Werte auf niedrigem Niveau an. Die eigene bundesweite Untersuchung zeigt insgesamt deutlich günstigere Werte als die beiden älteren regionalen Studien.77 Dies ist möglicherweise darauf zurückzuführen, daß sich gewisse Selektionseffekte, etwa durch die vermutlich uneinheitliche Handhabung der Erledigung wegen Aussichtslosigkeit einer Suchtbehandlung, bei überregionaler Betrachtung nivellieren. Auch der kürzere Beobachtungszeitraum begünstigt geringere Rückfallquoten. Alle Studien beziehen sich überdies auf Personen, bei denen es zu einer nachträglichen Aussetzung (§ 67d II StGB) gekommen ist, also auf tendenziell erfolgreiche Behandlungen. Kurze (1994). Zur Rechtsprechung Kapitel 14 A. (S. 263). 77 Diese relativ günstige Einschätzung der Legalbewährung wird durch die jüngste niedersächsische Studie von Metrikat (2002: 281 ff.) bestätigt. 75 76
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
VI. Ausgewählte Studien zur Gefährlichkeit bei einer Suchtproblematik Wie die Forschungen zur Gefährlichkeit bei psychischen Störungen78 sind die empirischen Forschungsarbeiten über Zusammenhänge zwischen dem Konsum psychotroper Substanzen und Kriminalität durch vielfältige Untersuchungsansätze gekennzeichnet: auch hier stehen Arbeiten über Personen unter den Bedingungen des Freiheitsentzugs oder andere stark selektierte Gruppen – wie etwa Personen, bei denen aufgrund des Strafverfahrensrechts eine Blutprobe entnommen79 oder die forensisch-psychiatrisch begutachtet wurden80 – solche gegenüber, die sich auf Stichproben der allgemeinen Bevölkerung stützen. Die Frage nach der empirischen Seite von Gefährlichkeit wird hier durch drei zusätzliche Gesichtspunkte kompliziert. Einerseits kann der Umgang mit Suchtmitteln sehr unterschiedliche Formen annehmen; deshalb ist es erforderlich, zwischen Gelegenheitskonsumenten und solchen Personen zu trennen, deren Substanzabhängigkeit weitgehend ihren Lebensstil bestimmt. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren in erster Linie Personen, die sich als abhängig im psychiatrischen Sinne beschreiben lassen oder bei denen zumindest einige Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß eine solche Diagnose gestellt werden könnte. Auf der anderen Seite ist der Konsum von Drogen im weitesten Sinne wohl in allen Gesellschaften durch soziale Normen geregelt. Diese kulturellen Traditionen sind bedeutsam für den Inhalt der Rechtsnormen in modernen Gesellschaften, welche zwischen grundsätzlich als Genußmittel akzeptierten – wie dem Alkohol in den meisten europäischen Ländern81 – und in aller Regel verbotenen nicht-traditionellen Substanzen differenzieren. Solche Verbote kommen typischerweise nicht ohne Strafrecht aus; in Deutschland sind die Vorschriften der §§ 29 ff. BtMG einschlägig. Daraus folgt, daß ein erheblicher Teil der Kriminalität Drogenabhängiger schlicht darin besteht, daß der Konsum bestimmter Substanzen oder damit notwendig verbundene Handlungen bereits einen Straftatbestand erfüllen. Geht man davon aus, daß die Anforderungen an eine kriminalrechtliche Maßregel zur Suchtbehandlung nicht von vornherein niedriger anzusetzen sind als diejenigen an eine psychiatrische Unterbringung82, so liegt es nahe, auch diesen Überblick zum Stand der empirischen Forschung in erster Linie auf die Frage nach Gewaltdelikten gegen Personen zu konzentrieren. Dagegen wird im folgenden nicht danach unterschieden, ob Kriminalität ausdrücklich auf ein Konzept der Gefährlichkeit bezogen wird oder nicht. Kapitel 13 C. VI. (S. 239 ff.). Auf diese Grundgesamtheit bezieht sich die Untersuchung von Mischkowitz et al. (1996). 80 Pillmann et al. (2000). 81 Zusammenfassend zur Bedeutung des Alkoholkonsums in Deutschland etwa Bühringer et al. (2000: 48 ff.) und Kreuzer (1998: 63 ff.). 82 So das Zwischenergebnis der rechtssystematischen Analyse in Kapitel 14 B. (S. 264 ff.). 78 79
Kap. 14: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
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Drittens ist von Bedeutung, daß sich hinter dem Sammelbegriff „Suchtmittel“ höchst unterschiedliche Substanzen mit spezifischen pharmakologischen Wirkungen verbergen. Deshalb ist es notwendig, in dieser Darstellung weiter zu differenzieren. Allerdings ist es wenig angemessen, von pharmakologischen Wirkungsweisen, die in Laborexperimenten beschrieben werden können, unmittelbar auf Zusammenhänge mit bestimmten Handlungsweisen zu schließen. Eine wichtige Einsicht sozialwissenschaftlicher Forschungen über Suchtmittelkonsum und abweichendes Verhalten besteht darin, daß der Umgang mit Drogen aller Art wesentlich durch den sozialen Kontext bestimmt wird, in dem eine Substanz konsumiert wird.83 Es gibt keinen Hinweis, daß irgendeine Substanz unausweichlich und situationsunabhängig zu Gewalthandlungen führt. Umgekehrt werden gemeinhin allenfalls unter dem Aspekt der Gesundheitsschäden bei den Konsumentinnen und Konsumenten problematisierte Stoffe wie Tabak84 oder Kaffee85 gelegentlich auch mit der Begehung von Straftaten in Verbindung gebracht. Zusammenhänge zwischen Alkohol und Kriminalität sind ein traditioneller Gegenstand kriminologischer Forschung; sie gelten nach verbreiteter Ansicht heute als gut belegt.86 Folgte die frühe Kriminologie noch einfachen linearen Kausalitätsvorstellungen87, so bevorzugt die heutige theoretische Diskussion komplexere Modelle, die soziale Beziehungen und Konsumsituationen ausdrücklich berücksichtigen.88 Einschlägige Daten zu einer Alkoholisierung der ermittelten Tatverdächtigen liefert bereits die polizeiliche Kriminalstatistik. Danach standen 2001 rund 9% aller Tatverdächtigen bei der Tatausführung unter Alkoholeinfluß; neun von zehn waren Männer. Weit überdurchschnittliche Anteile einer Alkoholisierung wurden bei Gewaltdelikten gegen Personen, aber auch bei Widerstand gegen die Staatsgewalt (§§ 111 – 121 StGB), Sachbeschädigung und Brandstiftung registriert.89 Allerdings sind diese Daten nicht nur von den subjektiven Einschätzungen der ermittelnden Polizeibeamten abhängig, sondern auch von Indizien, die mit größerem zeitlichen Abstand an Zuverlässigkeit verlieren. Deswegen dürfte eine Alkoholisierung der Tatverdächtigen nicht zufällig gerade bei Widerstandsdelikten besonders häufig registriert werden: der Tatbestand des § 113 StGB wird ja typi83 Ein klassisches Beispiel ist die qualitative Studie von Becker (1963: 40 ff.) über Marihuanaraucher; allgemein zur Einbeziehung situativer Bedingungen Fagan (1990: 270 ff.) und Vogt (1985: 126 ff.). 84 Nach Watts / Wright (1990: 146 ff.) hängt Tabakrauchen bei Jugendlichen mexikanischer Herkunft in Texas signifikant mit Gewaltdelinquenz zusammen. Diese Studie weist jedoch einige methodische Schwächen auf. 85 Siehe die offenbar ernst gemeinte Falldarstellung von Platz / Antonopoulou (1998) über Kaffeediebstähle und Schuldfähigkeit. 86 So die zusammenfassenden Beiträge von Egg (1996) und Parker / Auerhahn (1998); zurückhaltender etwa Kaiser (1996: 640 ff.). 87 Siehe z. B. Baer (1878: 337 ff.) und Lees (1858). 88 Fagan (1990: 298 ff.); Vogt (1985: 125 ff.); White (1997); Zhang et al. (1997). 89 Bundeskriminalamt (2001: 134).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
scherweise gegenüber Polizeibeamten verwirklicht. Die polizeiliche Registrierung von Konsumenten „harter“ Drogen, zu denen 2001 etwa 4 % aller Tatverdächtigen gezählt wurden, von denen fünf Sechstel Männer waren, dürfte noch lückenhafter sein. Höhere Anteile verzeichnet die polizeiliche Kriminalstatistik bei den meisten Betäubungsmitteldelikten, aber auch bei bestimmten Formen von Eigentums- und Vermögensdelikten. Die einzigen Gewaltdelikte, die in dieser Aufstellung erscheinen, sind Raubdelikte.90 Die polizeiliche Kriminalstatistik enthält schon seit 1963 keine Daten über Straßenverkehrsdelikte mehr; Informationen zur Rolle von Trunkenheitsfahrten mit Unfallfolgen sind jedoch der Verkehrsunfallstatistik zu entnehmen. Danach wurden 1998 rund 4 % aller Verkehrsunfälle mit Personenschaden nach der Einschätzung der Polizei von Fahrzeugführern unter Alkoholeinfluß verursacht und über 1.100 Personen bei Alkoholunfällen getötet, wobei für beide Merkmale seit 1991 eine stark rückläufige Entwicklung zu beobachten ist. Die alkoholisierten Unfallbeteiligten waren meist Männer im Alter zwischen 25 und 44 Jahren.91 Diese Angaben zeichnen allerdings ein von mehrfacher Auslese eingeschränktes Bild: die Registrierung hängt nicht nur davon ab, daß es überhaupt zu einem Verkehrsunfall mit Verletzungsfolgen kommt, sondern auch von der Ermittlung der Unfallverursacher und möglicher Einflüsse psychotroper Substanzen. Beeinträchtigungen infolge Konsums von Medikamenten oder illegalen Drogen werden in der Verkehrsunfallstatistik nicht erfaßt. Mag die Frage eines möglichen Alkoholkonsums nach einem Verkehrsunfall zur polizeilichen Routine gehören, so ist dies für Einflüsse anderer Substanzen nicht anzunehmen, zumal einfache Testverfahren meist nicht zur Hand sein werden. Zudem liegt es nahe, daß Polizeibeamte eine Blutentnahme (§ 81a StPO) typischerweise erst dann anordnen, wenn sie ein positives Analyseergebnis erwarten.92 Aussagekräftiger sind demgegenüber die Ergebnisse einer Würzburger Untersuchung zur Epidemiologie von Alkohol, Drogen und Medikamenten im Straßenverkehr, bei der für mehr als 20.000 Autofahrerinnen und -fahrer nach einer verdachtslosen Verkehrskontrolle durch die Polizei ein kurzer Fragebogen und ein Alkoholtest erhoben wurde („Deutsches Roadside Survey“). Die Auswertungen ergaben, daß etwa 4 – 5 % der Autofahrten zumindest unter leichter Alkoholisierung durchgeführt wurden, während die Fahrer bei 3 – 4 % der Fahrten unter dem Einfluß von Benzodiazepinen – also Bestandteilen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln – und bei 0,6 % der Fahrten von Cannabisprodukten standen.93 Zwar gelten Straßenverkehrsdelikte als eine Form von Alltagskriminalität, deren Täterinnen Bundeskriminalamt (2001: 133). Statistisches Bundesamt (1999: 42 f., 110 f., 203). 92 Unter anderem aus diesem Grund interpretieren Mischkowitz et al. (1996) die Aussagekraft ihrer Untersuchung, die an diesem polizeilichen Definitionsverhalten anknüpft, sehr zurückhaltend. 93 Krüger / Vollrath (1998: 37 ff.); Krüger et al. (1998: 49 f.). 90 91
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und Täter ansonsten weitgehend sozial angepaßt leben und „zu ,Straffälligen‘ werden, weil die Technik uns das Auto beschert hat“.94 Immerhin sprechen Blutalkoholmessungen im Bereich der von der Rechtsprechung definierten absoluten Fahruntüchtigkeit angesichts eines sehr großen Dunkelfelds dafür, daß ein großer Teil der wegen einer strafbaren Trunkenheitsfahrt ermittelten Personen tatsächlich mit einer massiven und behandlungsbedürftigen Alkoholproblematik lebt.95 Darüber hinaus gibt es nicht zu vernachlässigende Überschneidungen zwischen Verkehrsdelinquenz und sonstiger Straffälligkeit.96 Wenn ein großer Teil der polizeilich registrierten Gewalttäter sich bei der Tat als alkoholisiert erweist, könnte das Niveau der begangenen Gewaltdelikte systematisch mit dem Alkoholkonsum in einer Gesellschaft zusammenhängen. Von dieser Überlegung gehen langfristige Analysen auf der Ebene aggregierter Daten aus.97 So zeigen registrierte Tötungsdelikte und Alkoholverbrauch in den USA nach offiziellen Statistiken langfristig einen ähnlichen Verlauf, wobei auf eine Zu- oder Abnahme des Pro-Kopf-Verbrauchs an Alkohol mit einer gewissen Verzögerung meist eine entsprechende Veränderung der registrierten Tötungsdelikte folgt. Das gilt auch für den deutlichen Rückgang in den 1990er Jahren.98 Multivariate Zeitreihenanalysen machen einen Einfluß des Angebots an Alkohol auf Tötungsdelikte weißer Täter wahrscheinlich; für andere ethnische Gruppen in den USA gibt es dagegen Anhaltspunkte, daß ihr Alkoholkonsum von vornherein geringer ist.99 Solche Untersuchungen hängen von der Aussagekraft offizieller Statistiken und der über lange Zeiträume unveränderten Registrierung der Daten ab. Merkmale, die in diesen Statistiken nicht erhoben werden, bleiben von vornherein ausgeblendet. Ähnliche Analysen für europäische Länder zeigten uneinheitliche Ergebnisse; signifikante Effekte wurden vor allem für die skandinavischen Länder außer Dänemark nachgewiesen, aber auch für Irland, Portugal und Spanien. Hinter solchen globalen Effekten stecken aber recht unterschiedliche nationale Trinkkulturen.100 Zusammenhänge zwischen Alkohol und Gewaltkriminalität werden aber auch auf individueller Ebene durch etliche Studien nahegelegt; sie bestätigen die hohen Anteile alkoholisierter Tatverdächtiger nach den offiziellen Statistiken.101 Häufig werden diese Zusammenhänge auf die pharmakologischen Wirkungen alkohoGöppinger / Bock (1997: 596); ähnlich Kaiser (1996: 909). Das ist die These von Müller / Weiler (1987) und Stephan (1988). 96 Kaiser (1996: 911). 97 Dabei handelt es sich um eine lange Forschungstradition, die bereits im 19. Jahrhundert beginnt; siehe Baer (1878: 341 ff.). 98 Davon gehen Parker / Cartmill (1998) aus. Der drastische Rückgang der registrierten Tötungsdelikte hält seit 1991 an; siehe die ständig aktualisierte Darstellung bei Fox / Zawitz (2000). 99 Parker / Cartmill (1998: 1390 ff.). 100 Rossow (2001). 101 Lipsey et al. (1997: 262 ff.), Murdoch et al. (1990) und Parker / Auerhahn (1998: 293 ff.). 94 95
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lischer Getränke zurückgeführt, zu denen eine Beeinträchtigung kognitiver Funktionen, eine gewisse Enthemmung und eine Steigerung der Aggressivität zählen.102 Bei körperlichen Auseinandersetzungen dürften solche Wirkungen nicht allein auf der Seite der im nachhinein als Täter erscheinenden Personen auftreten, sondern häufig auch bei den Geschädigten.103 Dennoch ist die Feststellung, daß Alkoholkonsum zumindest bestimmte Formen von Gewaltdelikten begünstigt, nicht völlig unumstritten. Teilweise wird angenommen, es handle sich um eine bloße Scheinkorrelation, weil die pharmakologischen Wirkungen durch soziale Situationen und kulturelle Normen überlagert würden.104 In der Tat zeigt eine Meta-Analyse der internationalen Forschungsliteratur, daß man von dem leicht feststellbaren gleichzeitigen Auftreten von Alkoholkonsum und Gewalttätigkeiten nicht auf einen kausalen Zusammenhang schließen sollte.105 Gerade empirische Untersuchungen, die diese Fragestellung mit erheblichem methodischen Aufwand angehen, sind nämlich geeignet, solche Vorannahmen zu erschüttern. Dabei lassen sich mehrere Forschungsstrategien unterscheiden. Laborexperimente besitzen prinzipiell eine hohe interne Validität, weil tendenziell alle Versuchsbedingungen kontrolliert werden können. Doch werden damit künstliche Situationen geschaffen, in denen je nach Versuchsanordnung widersprüchliche Ergebnisse zu beobachten sind. Möglicherweise reagieren die Versuchspersonen weniger auf die Substanz, die sie zu sich genommen haben, als auf erwartete Wirkungen von Alkohol.106 Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Untersuchungen auf der Grundlage erfragter Informationen über Alkoholkonsum und Gewaltdelikte. So läßt sich zwar ein nicht zu vernachlässigender positiver Zusammenhang zwischen Alkohol und Gewalt nachweisen, am deutlichsten für chronischen Alkoholkonsum und Gewalt in der Familie. Soweit mögliche intervenierende Einflüsse wie etwa Lebensalter, Konsum anderer Substanzen oder psychische Auffälligkeiten kontrolliert werden, vermindern diese jedoch den Effekt des Alkoholkonsums merklich oder bringen ihn ganz zum Verschwinden.107 So kommen die Verfasser der Meta-Analyse zu einer sehr zurückhaltenden Schlußfolgerung: „Despite the large volume of studies, there is little in this body of research that bears convincingly on the issue of causality in the alcohol-violence relationship.“108
Dieses Geflecht möglicher wechselseitiger Einflüsse versuchen einzelne Untersuchungen mittels multivariater Auswertungsmethoden aufzulösen. Dazu gehört beispielsweise eine Befragungsstudie über junge Männer aus Buffalo (New York), 102 Zusammenfassend Parker / Auerhahn (1998: 299 ff.); White (1997: 514 ff.); Zhang et al. (1997). 103 Murdoch et al. (1990: 1067 ff.). 104 Das ist die These von Collins (1989); ähnlich Fagan (1990: 269 ff.). 105 Lipsey et al. (1997). 106 Lipsey et al. (1997: 253 ff.). 107 Lipsey et al. (1997: 265 ff.). 108 Lipsey et al. (1997: 273).
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in der Befragte aus Stadtteilen mit hoher Kriminalitätsrate bevorzugt erfaßt wurden.109 Dabei ergab sich, daß ein Viertel der Befragten innerhalb eines Jahres vor dem Erhebungszeitpunkt mindestens einmal eine qualifizierte Körperverletzung (aggravated assault) begangen hatte. In der Analyse ließ sich nachweisen, daß der erfragte durchschnittliche Alkoholkonsum während des vergangenen Jahres neben persönlichkeitsbezogenen und soziodemographischen Merkmalen nicht in statistisch bedeutsamer Weise mit der Begehung qualifizierter Körperverletzungen zusammenhing; als signifikant erwies sich jedoch ein Interaktionseffekt mit dem Persönlichkeitsmerkmal „deviante Neigungen“. Dieser Zusammenhang wird so interpretiert, daß junge Männer mit besonders ausgeprägten devianten Neigungen eher Gewalttaten gegen andere Personen begehen, wenn sie zugleich regelmäßig größere Mengen Alkohol trinken. Betrachtet man lediglich die Untergruppe der Befragten, die angaben, im vergangenen Jahr ein solches Delikt begangen zu haben, so erweist sich eine Alkoholisierung unmittelbar vor dem Vorfall als bedeutsam für die Erklärung der Häufigkeit solcher Delikte.110 Daß Suchtmittelkonsum die Wahrscheinlichkeit von Gewalttaten gegen andere Personen, besonders im sozialen Nahbereich, erhöht, legen epidemiologische Studien mit großen Stichproben sowohl für Alkohol wie auch für illegale Drogen nahe. Auf diese Studien wurde bereits im Rahmen des Forschungsüberblicks zur Gefährlichkeit bei psychischen Störungen hingewiesen. So ergibt sich nach Daten der MacArthur Violence Risk Assessment Study aus Pittsburgh (Pennsylvania), daß der Konsum von Suchtmitteln die Häufigkeit von Gewalt gegen andere Personen in statistisch bedeutsamer Weise erhöht – und das gilt für die aus der Psychiatrie entlassenen Patienten ebenso wie für die psychiatrisch unauffällige Kontrollgruppe aus denselben Stadtteilen.111 Allerdings wird in dieser Studie nicht konkretisiert, welche Substanzen außer Alkohol konsumiert wurden. Nach einer weiteren Studie wiesen Personen mit der Diagnose einer Suchtproblematik neben einer sonstigen psychischen Störung ein besonders hohes Risiko für Gewaltanwendung auf, wobei das Suchtelement für sich genommen schon den größten Teil des Gewaltrisikos erklärte.112 Beschäftigt man sich mit Zusammenhängen zwischen illegalen Drogen und Kriminalität, so ist eine weitere Konzentration unabdingbar. Grenzen werden nicht nur durch den Anspruch der vorliegenden Arbeit gesetzt, der sich eher auf kriminalrechtliche Fragen bezieht, sondern auch durch den Stand der empirischen Forschung, die mit dem schnellen Auftauchen neuer Substanzen in Subkulturen und ihrem manchmal ebenso rapiden Verschwinden aus den illegalen Märkten nicht immer Schritt halten kann. Zudem sind auch in den modernen Gesellschaften westlichen Typs nicht alle auftretenden Stoffe in gleichem Maß verbreitet. Nach deut109 110 111 112
Zhang et al. (1997: 1266 ff.). Zhang et al. (1997: 1268 f.). Steadman et al. (1998: 398 ff.). Swanson (1994: 124 ff.).
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schen Befragungen in der jugendlichen und erwachsenen Bevölkerung ist Cannabis die mit Abstand am häufigsten konsumierte illegale Droge. Während der Amphetaminkonsum auf weitaus geringerem Niveau einen relativ konstanten Verlauf aufweist, hat Ecstasy in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum von etwa zehn Jahren eine weite Verbreitung erfahren und steht 1997 an zweiter Stelle der vom Betäubungsmittelrecht erfaßten konsumierten Substanzen.113 In den kleineren subkulturellen Gruppen, die „harte“ Drogen konsumieren, spielt dagegen Heroin zumindest seit den 1980er Jahren eine wichtige Rolle, während der Konsum von Kokain erst in den letzten Jahren zuzunehmen scheint.114 Allerdings werden diese Konsumentenkreise in Bevölkerungsbefragungen kaum erreicht; polizeiliche Datenerhebungen sind anderen Verzerrungen durch Selektion, Intensität der Ermittlungen und Erhebungsmethoden unterworfen. Gezielte empirische Untersuchungen in Drogenszenen werden dennoch schon wegen des erheblichen Aufwands nur selten durchgeführt. Dabei ergeben Studien über Heroinkonsumenten keine Hinweise auf eine herausragende Beteiligung an Gewaltdelikten. Eine umfangreiche deutsche Untersuchung bezog sich auf 100 intravenös Heroin konsumierende Personen aus dem Großraum Frankfurt am Main, die über Strafvollzugsanstalten und stationäre Therapieeinrichtungen kontaktiert wurden.115 Die Delinquenz der Befragten im Zeitraum von einem Jahr vor der Befragung war weitgehend durch Drogenverkauf und -vermittlung (bei fast allen Befragten), Schwarzfahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln (bei 82 %) und Ladendiebstahl (bei 73 %) geprägt; hinzu kommen zahlreiche erschwerte Diebstähle insbesondere aus Kraftfahrzeugen. Gewaltdelikte gegen Personen, vor allem Raub, wurden von rund jedem fünften Befragten angegeben, wobei nur ausnahmsweise Personen außerhalb der Drogenszene geschädigt wurden. Trotz des eher qualitativen Zuschnitts der Befragung ergaben sich Anhaltspunkte für die Annahme, daß Gewaltdelikte zu einem großen Teil von solchen Drogenabhängigen begangen wurden, die bereits eine umfangreichere delinquente Vorerfahrung aufwiesen.116 Nach vergleichbaren Forschungsergebnissen aus den USA liegt das Gewaltniveau in Untersuchungsgruppen außerhalb von Behandlungsprogrammen teilweise merklich höher.117 Die Befragten der Frankfurter Studie konsumierten neben Heroin überwiegend weitere legale und illegale Drogen, etwa zwei Drittel von ihnen zumindest geKraus / Töppich (1998). Kreuzer (1998: 46 ff., 72 ff.). Dafür sprechen auch erste Ergebnisse einer Frankfurter Studie über sozial unauffällige Konsumentinnen und Konsumenten; siehe Kemmesies (2000: 104 ff.). 115 Kreuzer et al. (1991: 31 ff.). 116 Kreuzer et al. (1991: 214, 296 ff.). 117 Inciardi / Pottieger (1998: 1845 ff.). Ähnliche Deliktsverteilungen wie im Raum Frankfurt am Main ergeben sich nach Ball (1991: 416 ff.) für drei Großstädte an der Ostküste der USA; allerdings bezieht sich diese Untersuchung allein auf Personen, die an einer Substitutionstherapie teilnahmen. 113 114
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legentlich Kokain.118 Insofern geben die Ergebnisse dieser Untersuchung eine erste Antwort auf die Frage nach Zusammenhängen von Kokainkonsum und Kriminalität. Stärker betont wird diese Fragestellung von Forschungen über Verbindungen zwischen der Häufigkeitsentwicklung der registrierten Gewaltdelikte in USamerikanischen Großstädten seit den 1980er Jahren und der Verbreitung der Modedroge Crack, einem Gemisch aus Kokainbase und alkalischen Substanzen wie etwa Backpulver. Dahinter steckt die These, daß die nur für wenige Minuten anhaltende Wirkung in Verbindung mit dem hohen Abhängigkeitspotential dieser Substanz dafür sorgt, daß zahlreiche Konsumentinnen und Konsumenten bestrebt sind, kurzfristig an die zur Beschaffung erforderlichen Geldmittel heranzukommen, wozu sich am ehesten Raubdelikte anböten. Traditionell von früheren Generationen der Drogenkonsumenten bevorzugte Einbruchsdiebstähle seien für Crack-Konsumenten keine attraktive Alternative, weil die Tatbegehung mit den anschließenden Absatzbemühungen erbeuteter Gegenstände zu langwierig werde und die für sie zugänglichen illegalen Märkte zunehmend übersättigt seien.119 Analysen aufgrund aggregierter Daten für rund 140 Städte kamen zu dem Ergebnis, daß solche Auswirkungen für Delikte wie Raub und Einbruchsdiebstahl nicht unwahrscheinlich sind: Städte mit einer hohen Crack-Verbreitung wiesen bis 1992 signifikant höhere Steigerungsraten registrierter Raubdelikte auf und zeigten zumeist auch einen deutlicheren Rückgang der Einbrüche. Was die Tötungsdelikte betrifft, zeigte die Crack-Verbreitung allerdings keinen von der Bevölkerungsstruktur unabhängigen Einfluß.120 Es mag sein, daß sich bei einer Differenzierung verschiedener Erscheinungsformen von Tötungsdelikten etwas anderes ergeben hätte. Doch sollten Studien dieser Art trotz durchaus plausibel erscheinender Ergebnisse sehr zurückhaltend interpretiert werden, weil sie auf Sekundäranalysen offizieller statistischer Daten angewiesen sind und dabei einige problematische Vorannahmen machen müssen. Beispielsweise wird das jeweilige lokale Konsumniveau von Crack anhand von Daten zum Drogenkonsum festgenommener Tatverdächtiger geschätzt, welche diese Substanz nicht gesondert, sondern lediglich in einer zusammengefaßten Kategorie für Kokain und Opiate ausweisen.121 Zwar werden diese Ergebnisse teilweise durch Untersuchungen auf der Grundlage von Individualdaten bestätigt; so finden sich empirische Hinweise zur Unterstützung der These, daß die Häufigkeit von Raubdelikten mit der Intensität der Beteiligung am Crack-Geschäft zunimmt.122 Allerdings dürfte dies weniger mit erwarteten pharmakologischen Wirkungen als mit den gewalttätigen Konkurrenzkämpfen verschiedener Gruppen Kreuzer et al. (1991: 176, 179 ff.). Baumer et al. (1998) verweisen für diese Annahmen vor allem auf qualitative Studien in den Drogenszenen verschiedener Städte in den USA. 120 Baumer et al. (1998: 328 ff.). 121 Baumer et al. (1998: 325 f.). 122 Inciardi / Pottieger (1998: 1853 ff.); Johnson et al. (1995: 282). 118 119
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
innerhalb des illegalen Drogenhandels zusammenhängen.123 Dafür spricht auch die Erkenntnis, daß die Entwicklung der registrierten Tötungsdelikte unter Einsatz von Schußwaffen durch Jugendliche in vielen Großstädten der USA der örtlichen Verbreitung von Crack folgt.124 Es erschiene wenig angemessen, solche Forschungsergebnisse auf mitteleuropäische Verhältnisse zu übertragen: einiges spricht dafür, daß die Befragten der Frankfurter Untersuchung nicht für die Gruppe der Kokainkonsumenten insgesamt repräsentativ sind. Kokain gilt vielmehr als typische Droge einer im übrigen sozial angepaßten, wohlhabenden und leistungsorientierten Subkultur, deren Angehörige nicht darauf angewiesen sind, ihren Konsumbedarf durch Straftaten zu finanzieren.125 Besonders hohe Anteile alkohol- und drogenabhängiger Personen ergeben sich in Untersuchungen zum Strafvollzug.126 Obwohl solche Forschungsergebnisse nachdrücklich darauf hinweisen, daß spezialisierte Einrichtungen zur Behandlung von Suchtkrankheiten Straffällige nur zu einem kleinen Teil erreichen, beziehen sie sich auf stark ausgelesene Gruppen, die sich von der Grundgesamtheit registrierter Straftäter unterscheiden. Dieser Einwand läßt sich auch auf Untersuchungen über psychiatrische Patienten mit einer Abhängigkeitsproblematik beziehen. Dazu zählt etwa eine Schweizer Studie, in der stationäre Patienten der Psychiatrischen Universitätsklinik Bern, die als Alkoholiker diagnostiziert wurden, mit einer Kontrollgruppe aus der allgemeinen Bevölkerung verglichen wurden.127 Die Patienten der Klinik waren in allen Deliktsgruppen häufiger strafrechtlich verurteilt worden. Vergleicht man allerdings nur die strafrechtlich registrierten Personen aus beiden Stichproben, so sind die Unterschiede gerade für Gewalt- und Sexualdelikte nicht mehr signifikant.128 Insofern sprechen diese Untersuchungsergebnisse eher gegen eine spezifische Gefährlichkeit von Personen mit einer Alkoholproblematik, wenn man darunter mehr versteht als beliebige Verstöße gegen das Strafrecht. Ein facettenreicheres Bild des Suchtmittelkonsums bei Personen, die von der Polizei als Tatverdächtige ermittelt werden, ergibt ein Forschungsdesign, das bisher nur in den angloamerikanischen Rechtssystemen erprobt wurde.129 Es beruht 123 White (1997: 518 f.). Dafür wird in der internationalen Literatur der Begriff der „systemischen Gewalt“ vorgeschlagen. 124 Cork (1999: 397 ff.). 125 Kreuzer (1998: 39). 126 So schon Banay (1942); neuere Forschungsergebnisse finden sich etwa bei Marquart et al. (1997: 191) und Wirth (2002). 127 Modestin et al. (1996). 128 Das wird von Modestin et al. (1996: 397) allerdings nicht herausgestellt; sie betonen statt dessen die erwartungsgemäß höhere allgemeine Kriminalitätsbelastung der untersuchten Extremgruppe. 129 Eine Übertragung dieses Forschungsansatzes nach Deutschland wurde bereits in den 1980er Jahren diskutiert, aber nicht umgesetzt. Sie gehört zur Vorgeschichte des Projekts von Mischkowitz et al. (1996: 13).
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auf Befragungen festgenommener Personen, die nach Möglichkeit mit einem Urintest verbunden werden. Neben einem umfangreichen, seit 1987 in den USA eingeführten Forschungsprogramm mit jährlichen Datenerhebungen130 liegt eine Untersuchung des britischen Home Office vor, die in fünf großstädtischen Untersuchungshaftanstalten (custody suites) durchgeführt wurde.131 Bei den Analysen der Urinproben im Hinblick auf acht psychotrope Substanzen ergab sich, daß etwa drei Viertel der Proben ein positives Ergebnis zeigten; schließt man Alkohol aus, so reduziert sich der Anteil der positiven Tests auf 68%.132 Dabei war das Spektrum der Delikte, die den Befragten vorgeworfen wurden, sehr breit: es reichte von Tötungsdelikten bis hin zu Bagatellen wie Trunkenheit in der Öffentlichkeit. Knapp die Hälfte der Festgenommenen gab bei der Befragung an, es bestehe ein Zusammenhang zwischen ihrem Drogenkonsum (ohne Alkohol und Tabak) und den von ihnen begangenen Delikten, während ein Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Kriminalität von einer etwas größeren Gruppe abgelehnt wurde. Weniger durch subjektive Einschätzungen der Befragten geprägt scheint das ebenfalls erfragte Merkmal „Gesamtbetrag geschätzter illegaler Einkünfte während der vergangenen zwölf Monate“. Hier zeigte sich, daß Personen mit positiven Urintestergebnissen für mehr Substanzen tendenziell höhere Beträge angaben. Allerdings ist dieser Indikator nur geeignet zur Messung von Vermögenskriminalität, und zwar vor allem bei solchen Personen, die „harte“ Drogen wie etwa Opiate konsumiert hatten. Dagegen gaben die Alkoholkonsumenten gegenüber denjenigen mit negativen Testergebnissen keine erhöhten deliktischen Einkünfte an – sie waren auch eher wegen Trunkenheitstaten, Delikten gegen Personen und gegen die öffentliche Ordnung festgenommen worden.133 Hier zeigen sich zugleich die Grenzen eines solchen Ansatzes: die Schätzung illegaler Einkünfte mag das Ausmaß von Vermögensdelikten durch regelmäßige Konsumenten „harter“ Drogen quantifizieren, gibt aber keine Auskunft über – damit möglicherweise verbundene – sonstige Schädigungen Dritter. Während eines Aufenthalts im Strafvollzug findet in aller Regel wenig oder keine abhängigkeitsspezifische Behandlung statt. Schon aus diesem Grund liegen kaum entsprechende Forschungsergebnisse vor. Der Forschungsstand läßt sich zunächst anhand einer der wenigen einschlägigen Untersuchungen illustrieren, die sich auf die Effektivität eines Behandlungsangebots für Drogenabhängige im Cook County Jail (Chicago, USA) bezieht, einem Gefängnis, in dem Untersuchungshaft 130 Das Programm trug zunächst die Bezeichnung Drug Use Forecasting (DUF), wurde mehrfach erweitert und läuft seit 1997 unter dem Titel ADAM (Arrestee Drug Abuse Monitoring). Siehe National Institute of Justice (2000) und zur Aussagekraft der Daten Kreuzer (1998: 59 f.). 131 Bennett (1998). 132 Bennett (1998: 18). Der ADAM-Bericht für 1999 verzeichnet mit mittleren Anteilen positiver Testergebnisse (ohne Alkohol) von 64% bei erwachsenen Männern und 67% bei Frauen fast identische Häufigkeiten; National Institute of Justice (2000: 1). 133 Bennett (1998: 31 ff., 100 f.).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
und kurze Freiheitsstrafen vollzogen werden. Diese Studie weist Behandlungseffekte nach, enthält jedoch keine echte Kontrollgruppe inhaftierter Drogenabhängiger ohne entsprechende Behandlung.134 Zudem werden keine qualitativen Daten zur Art der Delikte mitgeteilt; es ist zu vermuten, daß Gewaltdelikte sowohl bei den Anlaßdelikten für die aktuelle Inhaftierung wie im Hinblick auf die spätere Kriminalität eine Ausnahme darstellen. Eine international angelegte MetaAnalyse zur Effektivität von Suchtbehandlungsprogrammen im Strafvollzug, die sich auf Primärstudien aus der Zeit zwischen 1968 und 1996 stützt, liefert nur für den Ansatz der „therapeutischen Gemeinschaft“ genügend Hinweise darauf, daß diese Behandlungsform geeignet ist, die Rückfälligkeit der Probanden zu reduzieren.135 Umgekehrt befindet sich unter den Patientinnen und Patienten stationärer Therapieeinrichtungen häufig ein gewisser Anteil, dessen Behandlung unter dem Druck kriminalrechtlicher Sanktionen stattfindet. Das gilt vor allem für Einrichtungen zur Behandlung von Drogenabhängigen. Nach den Ergebnissen einer prospektiven Studie über rund 300 Personen aus 13 Entwöhnungseinrichtungen in den westlichen deutschen Bundesländern war vier Jahre nach einer regulär beendeten Behandlung von mindestens acht Monaten Dauer ein Drittel der Klientinnen und Klienten noch frei von harten Drogen, d. h. Kokain, Heroin oder Ersatzmitteln, bei den kürzer Behandelten und den Abbrechern der Therapie jedoch nur ein Sechstel. Der auf diese Weise gemessene Behandlungseffekt hing systematisch mit der Legalbewährung zusammen: während die Hälfte der nur kurz behandelten Personen wegen einer Straftat im Anschluß an die Therapie verurteilt wurde, galt dies in der Gruppe mit regulärem Therapieabschluß nur für ein Fünftel.136 Allerdings wurden zur Art der Delikte offenbar keine Daten erhoben. Etwas anderes gilt für die deutschen Studien zur Effektivität des Vollstreckungsaufschubs zu Therapiezwecken nach §§ 35 ff. BtMG, einer Maßnahme, die zusätzlich eine strafrechtliche Verurteilung voraussetzt. Danach standen bei den Anlaßdelikten Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz bei weitem im Vordergrund; Gewaltdelikte wie Raub oder Körperverletzung bildeten seltene Ausnahmen.137
VII. Zum heutigen Forschungsstand Zusammenhänge zwischen Suchtmittelkonsum und Kriminalität lassen sich demnach in vielfältiger Weise begründen, wenn diese Forschungsfrage allgemein formuliert wird. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit interessiert vor allem der enger verstandene Gesichtspunkt der Gefährlichkeit, der auf schwere Delikte geSwartz et al. (1996: 564 ff.). Pearson / Lipton (1999: 396 ff.). Dieser Veröffentlichung läßt sich leider nicht entnehmen, auf welche Primärstudien sich die Meta-Analyse stützt. 136 Herbst (1992: 149 ff.). 137 Baumgart (1994: 212 ff.); Kurze (1994: 138). 134 135
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gen Personen, in erster Linie Gewaltdelikte, bezogen wird. Solche Delikte scheinen nach den Daten der polizeilichen Kriminalstatistik bei Alkoholkonsum eher vorzukommen als beim Konsum anderer psychotroper Substanzen. Als Ertrag verschiedener Forschungsstrategien zeigt sich im einzelnen allerdings ein komplexes Bild, das einfache Aussagen verbietet. Analysen aggregierter Daten über Alkoholkonsum und Gewaltkriminalität legen für manche Länder einen globalen Zusammenhang nahe, für andere aber nicht. Untersuchungen auf der Grundlage von Individualdaten relativieren dies noch einmal deutlich; der Forschungsstand spricht insgesamt eher gegen lineare Kausalitätsbeziehungen zwischen Alkoholkonsum und Gewaltkriminalität, wie sie etwa mit der „Enthemmungshypothese“ immer wieder angenommen werden. Noch mehr ist die Gefährlichkeitsthese im Zusammenhang mit dem Konsum illegaler Drogen in Frage zu stellen, jedenfalls unter europäischen Verhältnissen. Selbst sozial desintegrierte Heroinabhängige in Deutschland scheinen nicht in herausragendem Ausmaß Gewaltdelikte zum Nachteil anderer Personen zu begehen; für ansonsten weitgehend normkonform lebende Kokainkonsumentinnen und -konsumenten ist dies trotz der insoweit sicher spärlichen Datenlage um so weniger zu erwarten. Daß sich in den Strafvollzugsanstalten Gefangene mit einer Suchtproblematik konzentrieren, sagt mehr über den Bedarf an geeigneten Therapieangeboten aus als über die Gefährlichkeit dieser Inhaftierten.
D. Zur Konkretisierung des Merkmals „Gefährlichkeit“ Die empirischen Forschungen über Suchtmittelkonsum und Gewalthandlungen schließen einen Zusammenhang im Einzelfall nicht aus. Sie sprechen aber für die Annahme, daß dieser Zusammenhang maßgeblich durch weitere soziale und kulturelle Faktoren geprägt wird. Die zuvor aufgrund der rechtssystematischen Analyse getroffene Aussage, daß das Merkmal „Gefährlichkeit“ für die kriminalrechtliche Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht wesentlich anders zu konkretisieren ist als für die Unterbringung in der Psychiatrie138, ist daher an dieser Stelle aus empirischer Sicht zu bestätigen. Auch unter Berücksichtigung des Standes der empirischen Forschungen zur Gefährlichkeit bei einer Suchtproblematik spricht nichts dagegen, die Anforderungen hier genauso hoch anzusetzen. Wie gezeigt wurde, ist das Gefährlichkeitskriterium am ehesten über das Merkmal der Erheblichkeit künftiger Delikte zu konkretisieren. Die bisher beschriebenen139 werden im folgenden durch weitere Fallgruppen ergänzt, die an den möglichen Folgen zu befürchtender Delikte anknüpfen. Die Erörterung geht wiederum von den Gefährlichkeitsprognosen aus, die in der Praxis der Kriminaljustiz bei der 138 139
So das Zwischenergebnis in Kapitel 14 B. (S. 264 ff.). Siehe ebenfalls Kapitel 14 B. (S. 266 ff.).
19 Dessecker
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Anordnung der Maßregel im Vordergrund stehen. Da die Gerichte den Inhalt ihrer Prognosen bei der Anordnung der Maßregel nach § 64 StGB kaum in den Urteilsgründen darstellen140, orientieren sich die folgenden Ausführungen an den Deliktsgruppen, die empirisch die Anordnungspraxis prägen. Diese Delikte, deren Vorliegen im Strafverfahren schon unabhängig von der Anordnung einer Maßregel festgestellt werden muß, bieten auch im Rahmen der Entscheidung über eine Suchtbehandlung im Maßregelvollzug die wesentlichste Grundlage von Gefährlichkeitsprognosen. Die in aller Regel vorhandene strafrechtliche Vorbelastung in dieser Gruppe von Verurteilten läßt allerdings erwarten, daß eine Gefährlichkeitsprognose nicht selten maßgeblich auf die Vorgeschichte gestützt wird. Das bietet den naheliegenden Vorteil, daß sich die Prognosegrundlage verbreitert. Wesentlich erscheint dies vor allem dann, wenn eine eskalierende Entwicklung der Kriminalität mit zunehmend schwereren Delikten deutlich wird. Dann können auch solche Anlaßdelikte als erheblich gelten, die sonst noch unterhalb der Erheblichkeitsschwelle einzuordnen wären. Umgekehrt sollte aus für sich genommen erheblichen Anlaßdelikten keine Gefährlichkeit hergeleitet werden, wenn der zeitliche Verlauf eine Rückentwicklung der Deliktsschwere erkennen läßt. Insoweit gilt nichts anderes als schon bei der Unterbringung nach § 63 StGB. Auch für die Maßstäbe der Erheblichkeit von Delikten kann im Zusammenhang mit der Unterbringung zur Suchtbehandlung auf die zuvor entwickelten Gedanken141 zurückgegriffen werden. Das bedeutet, daß gesetzgeberische Wertungen heranzuziehen sind, die sich in Strafrahmen und Deliktsqualifikationen niederschlagen, aber auch schadensbezogene Gesichtspunkte. Tötungsdelikte stehen bei der freiheitsentziehenden Maßregel zur Suchtbehandlung nicht im Vordergrund, obwohl ihr Anteil seit Mitte der 1980er Jahre zugenommen hat.142 Ist die Prognose solcher Taten begründet, so kann kein Zweifel daran bestehen, daß bei bestehender Substanzabhängigkeit und symptomatischem Zusammenhang mit begangenen und erwarteten Delikten die Voraussetzungen dieser Maßregel vorliegen werden. Die damit verbundene Problematik liegt auf einer anderen Ebene: aus abhängigkeitstherapeutischer Sicht wäre es wenig zweckmäßig, Therapieprogramme länger als im Höchstfall etwa zwei bis drei Jahre auszudehnen, nur um dem Sicherungszweck der Maßregel genügen zu können. Daher sollte zumindest die Möglichkeit der Vollstreckungsumkehr von Maßregel und Strafe (§ 67 III StGB) gerade bei schweren Delikten, die mit einer Abhängigkeit verbunden sind, flexibler gehandhabt werden, als die höchstrichterliche Rechtsprechung bisher zulassen will.143 Dessecker (1996b: 113 ff.). Kapitel 13 D. I. (S. 250 ff.). 142 Kapitel 14 C. I. (S. 270). 143 Hierzu BGH, Urteil vom 23. August 1990 – 4 StR 306 / 90 (= BGHSt 37, 160); zur Kritik Horstkotte (1995: 199) und Schüler-Springorum (1991: 562). 140 141
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Bedeutsamer für die Anordnungspraxis sind Körperverletzungsdelikte, auf die bis zu 12 % der Maßregeln nach § 64 StGB entfallen. Sind lediglich einfache Körperverletzungen (§ 223 StGB) in der Form von Prügeln, Schlägen, Ohrfeigen oder ähnlichen Erscheinungsformen einfacher körperlicher Gewalt zu befürchten, so sind darin keine Delikte zu sehen, die eine kriminalrechtliche Unterbringung zur Suchtbehandlung begründen. Die Schwelle zur Erheblichkeit künftiger Delikte wird erst dann überschritten, wenn sich die Gefährlichkeitsprognose auf qualifizierte Körperverletzungen bezieht. Auch insoweit gilt nichts anderes als bei einer psychiatrischen Unterbringung. Bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung neigt die Gerichtspraxis im Zusammenhang mit der Maßregel nach § 64 StGB schon bisher zu einer Trennung zwischen Vergewaltigung und sonstigen Sexualdelikten: auf das erstgenannte Anlaßdelikt entfällt zuletzt ein Anteil von mehr als 3 % der Unterbringungsentscheidungen, während der Anteil anderer Sexualdelikte nur halb so hoch liegt. Diese Unterscheidung ist mit Rücksicht auf das geltende Recht, das die sexuellen Gewaltdelikte nun weitgehend in dem Verbrechenstatbestand des § 177 StGB zusammenfaßt, zu modifizieren. Bezieht sich die Gefährlichkeitsprognose auf sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung, so sollte kein Zweifel bestehen, daß es sich um erhebliche Delikte handelt, welche die Annahme einer Gefährlichkeit gestatten. Aber auch die Prognose eines sexuellen Mißbrauchs von Kindern kann dafür ausreichen, wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die Handlungen mit Körperkontakt zwischen Täter und Opfer (§ 176 I und II StGB) erwarten lassen.144 Die Gruppe der Raub- und Erpressungsdelikte prägt Ende der 1990er Jahre die Anordnungspraxis der Maßregel nach § 64 StGB zu einem guten Teil. Hier geht es typischerweise um Taten, die mit Gewalt gegen Personen verbunden sind, so daß eine Gefährlichkeitsprognose nicht schwer zu begründen ist. Doch treten Fälle auf, in denen es sich trotz gewaltsamen Vorgehens eher um geringfügige Delikte handelt145; das ist denkbar, wenn der Wert der Tatobjekte die Bagatellgrenze voraussichtlich nicht überschreiten wird, aber auch bei Delikten Jugendlicher und Heranwachsender. Sonstige Eigentumsdelikte waren Mitte der 1980er Jahre noch Anlaß jeder vierten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt; seither ist ihr Anteil deutlich geschrumpft. Dennoch geht es weiterhin um einen quantitativ nicht unbedeutenden Deliktsbereich. Wo man die Grenze zur Gefährlichkeit zieht, hängt letztlich auch hier von einer kriminalpolitischen Entscheidung ab. Man kann dabei ähnlich argu144 Weiter einschränkend im Hinblick auf Beziehungsdelikte gegenüber einem einzigen Opfer BGH, Beschluß vom 23. August 1996 – 2 StR 356 / 96 (= StV 1997, 469). 145 Die höchstrichterliche Rechtsprechung problematisiert diesen Gesichtspunkt nicht; sie scheint eher zu einer unterschiedslosen Anwendung der Maßregel zu neigen. Siehe BGH, Beschlüsse vom 24. Januar 1989 – 3 StR 568 / 88 (insoweit nur in JURIS veröffentlicht), vom 30. März 1992 – 4 StR 108 / 92 (= NStZ 1992, 432) und vom 23. April 1996 – 4 StR 156 / 96 (= NStZ-RR 1996, 228).
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mentieren wie im Zusammenhang mit einer psychiatrischen Unterbringung: soweit mit qualifizierten Diebstahlsdelikten zu rechnen ist, handelt es sich um Taten, die so erheblich sind, daß ihre Erwartung in aller Regel ausreichen wird, das Merkmal der Gefährlichkeit zu begründen. Das gilt vor allem für den Wohnungseinbruchsdiebstahl (§ 244 I Nr. 3 StGB). Beim einfachen Diebstahl ist dies ebensowenig der Fall wie bei den typischen Fällen strafzumessungsbezogener Regelbeispiele (§ 243 I 2 StGB). Was zu befürchtende Brandstiftungshandlungen betrifft, erscheint eine Differenzierung innerhalb der Vorschriften nach §§ 306 ff. StGB angebracht. Soweit es wie in dem Tatbestand der „einfachen“ Brandstiftung (§ 306 I StGB) um eine spezielle Form der Sachbeschädigung geht, sollte man entsprechende Tathandlungen trotz der hohen Strafdrohung nicht als erhebliche Delikte ansehen, die das Gefährlichkeitsmerkmal erfüllen. Die Schwelle zur Gefährlichkeit wird erst dann überschritten, wenn konkrete Gefahren für andere Personen zu befürchten sind; das gilt vor allem für schwere Brandstiftungen nach § 306a StGB. Das suchtspezifische Delikt des Vollrauschs (§ 323a StGB), das 1986 als Anlaß einer kriminalrechtlichen Unterbringung zur Suchtbehandlung in der gewählten Gruppierung nach der Häufigkeit immerhin an dritter Stelle steht, verliert in der Folgezeit stark an Bedeutung. Zudem soll dieser Tatbestand nur Strafbarkeitslücken füllen, die dadurch entstehen, daß Schuldunfähigkeit zum Zeitpunkt der eigentlichen Rauschtat vorliegt oder zumindest nicht auszuschließen ist. Die Gefährlichkeitsprognose sollte daher nicht bei der Frage stehen bleiben, ob mit Verstößen gegen § 323a StGB zu rechnen ist, sondern sich statt dessen auf potentielle Rauschtaten beziehen. Ob ihre Erheblichkeit ausreicht, das Merkmal der Gefährlichkeit zu erfüllen, hängt von ihrer Qualität ab: bei zu erwartenden Tötungs- oder qualifizierten Körperverletzungsdelikten ist dies in Betracht zu ziehen, bei bloßen Eigentums- und Vermögensdelikten in aller Regel nicht. Demgegenüber entfällt auf die Kategorie der Betäubungsmitteldelikte mittlerweile jede fünfte Unterbringung nach § 64 StGB. An ihrer Relevanz für das Merkmal der Gefährlichkeit läßt sich grundsätzlich zweifeln, wenn man sich klar macht, daß es für den Tatbestand allein auf bestimmte Handlungen ankommt, die mit den illegalen Märkten für die vom Betäubungsmittelgesetz erfaßten Substanzen verbunden sind.146 Zwar wird wegen des im Strafrecht weithin anerkannten Prinzips der Straflosigkeit von Selbstschädigungen das unerlaubte Konsumieren von Betäubungsmitteln an sich nicht unter Strafe gestellt. Aber das Gesetz kriminalisiert flächendeckend alle denkbaren Handlungen, die mit dem Konsum mehr oder weniger notwendig verbunden sind – vom Anbau über die Herstellung, Ein- und Ausfuhr, Handeltreiben, Veräußerung, Abgabe oder sonstige Handlungen, mit denen Betäubungsmittel in den Verkehr gebracht werden, bis hin zum Erwerb, sonstigen Verschaffungshandlungen und dem bloßen Besitz (§ 29 I Nr. 1 und 3 BtMG). Be146 Zusammenfassend zu dieser prinzipiellen Kritik am Betäubungsmittelstrafrecht etwa Nestler (1998: 790 ff.).
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sonders fragwürdig erscheint es, solche Handlungen zur Begründung des Gefährlichkeitsmerkmals heranzuziehen, wenn sie sich voraussichtlich auf die Versorgung mit Drogen zum Eigenkonsum beschränken werden; aber auch andere einfache Verstöße gegen den Grundtatbestand des § 29 I BtMG sollte man noch nicht als erheblich betrachten, da alle gravierenderen Verstöße durch strafzumessungsrelevante Regelbeispiele (§ 29 III 2 BtMG) oder die Qualifikationstatbestände der §§ 29a – 30a BtMG erfaßt werden.147 Die Straßenverkehrsdelikte gelten weithin als Anwendungsfeld stationärer Suchtbehandlung im Maßregelvollzug. Orientiert man sich an den gesetzlichen Strafrahmen, so ist eine Höchststrafe von mehr als fünf Jahren Freiheitsstrafe nur in Ausnahmefällen vorgesehen (§§ 315b I und III, 315 III StGB). Diesbezügliche Gefährlichkeitsprognosen werden entsprechend selten in Betracht kommen, sollten aber nicht an dem Merkmal der Erheblichkeit scheitern. Für die wesentlich häufiger vorkommenden einfachen Verstöße gegen das Straßenverkehrsstrafrecht ist im übrigen zu differenzieren. Teilweise handelt es sich wie beim Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) oder bei der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) um schlichte Tätigkeitsdelikte, die nicht einmal einen Gefährdungserfolg voraussetzen. Konkrete Gefährdungen anderer Verkehrsteilnehmer lassen sich vor allem bei Trunkenheitsfahrten möglicherweise trotzdem mit einiger Sicherheit vorhersagen, wenn einschlägige Vorverurteilungen vorliegen oder wenn bereits das Anlaßdelikt in einer Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB) besteht, bei der gerade andere Menschen gefährdet wurden.148 Damit wird ein Maßstab herangezogen, der sich auch für Gefährdungserfolge an der Qualität potentieller Schäden orientiert. Andererseits dürfte die Schwelle zur Erheblichkeit im Rahmen einer Gefährlichkeitsprognose häufig noch nicht erreicht sein, wenn keine konkrete Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer feststellbar ist. Ausnahmen sind denkbar, weil konkrete Gefährdungen häufig von Verkehrsvorgängen abhängen, auf die der Fahrer keinen Einfluß hat. Mit diesen Vorschlägen zur Auslegung des Gefährlichkeitsmerkmals bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB wird der Sanktionszweck der Gefahrenabwehr stärker betont als in den meisten bisherigen Stellungnahmen zu den Voraussetzungen dieser Maßregel. Das erscheint notwendig, will man die Tragweite des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG) nicht zu stark relativieren. Die Vorschläge schließen damit an die früheren Ausführungen zum Verhältnis von Gefährlichkeit, Sicherung und Besserung sowie zur Bestimmung des Gefährlichkeitsmerkmals für die psychiatrische Unterbringung an.149 Das führt 147 Anders die Rechtsprechung; siehe BGH, Beschluß vom 14. Mai 1992 – 4 StR 178 / 92 (= StV 1993, 302). Dagegen wird das Bagatellprinzip für kleine Mengen zum Eigenverbrauch von der Rechtsprechung anerkannt; dazu bereits Kapitel 14 B. (S. 268). 148 BGH, Urteil vom 22. August 1996 – 4 StR 267 / 96 (= VRS 92, 205, 207); BayObLG, Urteil vom 10. Februar 1995 – 1 St RR 203 / 94 (= BayObLGSt 1995, 19). 149 Siehe Kapitel 12 B. (S. 203 ff.) und Kapitel 13 D. (S. 250 ff.).
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dazu, daß bestimmte Fallgruppen aus dem Bereich der Maßregel herausfallen, und zwar auch solche, die wie etwa einfache Körperverletzungen oder konsumnahe Drogendelikte häufig als Anwendungsfälle der Maßregel nach § 64 StGB genannt werden. Diese Maßregel ist jedoch nicht die einzige Sanktionsform, die Behandlungen einer Suchtproblematik anläßlich einer strafrechtlichen Verurteilung ermöglicht. Im Strafvollzug sind solche Behandlungen keineswegs ausgeschlossen, wenn auch einzuräumen ist, daß entsprechende Angebote so gut wie überhaupt nicht vorhanden sind. Für drogenabhängige Straftäterinnen und Straftäter betrachtet die Rechtsprechung die Vollstreckungslösung der §§ 35 ff. BtMG ohnehin als vorzugswürdige Alternative zum Maßregel- und Strafvollzug; in rechtspolitischer Hinsicht bietet es sich an, über eine Gleichstellung anderer Formen substanzgebundener Abhängigkeit nachzudenken. Im übrigen gibt es unterhalb der Eingriffsschwelle einer Freiheitsentziehung die Möglichkeit, Weisungen zur Suchttherapie einzusetzen.150
150 Über mögliche Alternativen zu § 64 StGB nach geltendem Recht Kapitel 17 C. II. (S. 364 ff.).
Kap. 15: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
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Kapitel 15
Gefährlichkeit bei der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) Die dogmatische und kriminalpolitische Aufmerksamkeit für das Maßregelrecht gilt traditionell zu einem großen Teil der Sicherungsverwahrung. Das rechtfertigt sich jedenfalls seit der Strafrechtsreform weniger mit der quantitativen Bedeutung dieser dritten freiheitsentziehenden Maßregel als mit ihrer Charakterisierung als Sanktion für extreme Fälle, die einerseits – zumindest in Deutschland – überwiegend als unverzichtbar angesehen wird, andererseits der strikten Eingrenzung bedarf. Diese Bemühungen führen zu einer gesetzlichen Regelung, deren Komplexität diejenige aller anderen Maßregeln im Kriminalrecht weit übertrifft. Der Aufbau des vorliegenden Kapitels lehnt sich an den der beiden vorhergehenden zu den Maßregeln nach § 63 und § 64 StGB an. Zunächst erfolgt eine dogmatische Bestandsaufnahme, die im wesentlichen auf das Merkmal der Gefährlichkeit als Voraussetzung der Sicherungsverwahrung zugespitzt wird. Daran schließt sich eine Darstellung einschlägiger empirischer Forschungsergebnisse an. In einem dritten Schritt wird das Gefährlichkeitsmerkmal unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse konkretisiert.
A. Formelle Voraussetzungen Ein verbreiteter Systematisierungsvorschlag für die Anordnungsvoraussetzungen der Sicherungsverwahrung unterscheidet formelle von materiellen Anforderungen.1 Die Formulierung formeller Voraussetzungen bedeutet allerdings nicht, daß diese für die Anordnung der Maßregel von geringerem Gewicht wären2; es kann lediglich darum gehen, die Prüfung der Gefährlichkeit durch einen vorgeschalteten Filter zu entlasten. Eine erste Gruppe von Anforderungen bezieht sich auf die Anlaßtat. Für den vorrangig zu prüfenden Regelfall der Sicherungsverwahrung nach bestimmten früheren Verurteilungen und Verbüßungen freiheitsentziehender Sanktionen legt § 66 I StGB fest, daß der Täter in dem Anlaßverfahren wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt werden muß. Ausgeschlossen werden damit zum einen die unter Berücksichtigung der weiteren Voraussetzungen ohnehin kaum in Betracht kommenden Fälle der Anknüpfung an 1 Böllinger (1995: Rn. 50 ff. zu § 66 StGB); Hanack (1991: Rn. 28 zu § 66 StGB); E. Horn (1999: Rn. 4 ff. zu § 66 StGB); Kinzig (1996: 49); Lackner (2001: Rn. 2 zu § 66 StGB); Neu (1976: 17 ff.); Schewe (1999: 89 ff.); Schönberger (2002: 21 ff.); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 3, 17 zu § 66 StGB); Zipf (1989: 679 ff.). 2 M. Köhler (1975: 1152).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
ein Fahrlässigkeitsdelikt, zum anderen die Fälle, in denen die verhängte Strafe unter der Grenze von zwei Jahren Freiheitsentzug bleibt. Die Sicherungsverwahrung kann demnach nicht verhängt werden, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat schuldunfähig war – dann kann eine psychiatrische Unterbringung (§ 63 StGB) relevant werden – oder sich dies nicht sicher ausschließen läßt. Der Weg zu einer Sicherungsverwahrung ist weiterhin dann versperrt, wenn keine oder nur eine kürzere, grundsätzlich noch aussetzungsfähige (§ 56 II StGB) Freiheitsstrafe ausgesprochen wird. Der frühere Streit über die Frage, ob die Sicherungsverwahrung in bestimmten Fällen auch neben einer lebenslangen Freiheitsstrafe verhängt werden kann3, ist durch die Neufassung im Zuge des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung4 überholt. Die Maßregel kommt nach dem neuen Gesetzeswortlaut neben allen Freiheitsstrafen von mindestens zwei Jahren in Betracht. Allerdings liegt das Bedürfnis für eine solche Ausweitung der Sicherungsverwahrung nicht auf der Hand. Das ist unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit noch zu diskutieren. Eine weitere formelle Schranke der Sicherungsverwahrung betrifft das Erfordernis zweier früherer Verurteilungen jeweils zu Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen vorsätzlicher Taten, die vor der Anlaßtat begangen wurden (§ 66 I Nr. 1 StGB). Diese Restriktion wird üblicherweise mit dem Gedanken begründet, daß der Täter die Warnfunktion zweier rechtskräftiger Verurteilungen mißachtet haben muß.5 Dabei führt die Aufgabe der Rechtsfigur der fortgesetzten Handlung durch die Rechtsprechung6 auf längere Sicht zu einer Erweiterung des Anwendungsbereichs der Sicherungsverwahrung. Auf der anderen Seite fällt auf, daß die Rechtsprechung keine Bedenken hat, frühere Verurteilungen zu Jugendstrafe solchen zu Freiheitsstrafe gleich zu stellen, obwohl ansonsten die Unterschiede der beiden Strafen betont werden.7 3 So schon bisher BGH, Urteile vom 23. April 1985 – 1 StR 126 / 85 (= NJW 1985, 2839) und 21. März 2000 – 5 StR 41 / 00 (= NStZ 2000, 417); ebenso Hanack (1991: Rn. 44 zu § 66 StGB), von Harbou (1999: 42), Stree (2001: Rn. 16 zu § 66 StGB) und Zipf (1989: 679). Skeptisch bis ablehnend zu dieser Erweiterung des Anwendungsbereichs der Maßregel Böhm (1982: 139), Müller-Dietz (1986), Peglau (2000: 2981) und Schüler-Springorum (1986a: 479 f.). 4 Gesetz vom 21. August 2002 (BGBl. I 3344). 5 BGH, Urteil vom 15. Februar 1955 – 5 StR 696 / 54 (= BGHSt 7, 178); Beschlüsse vom 24. Juli 1987 – 2 StR 338 / 87 (= BGHSt 35, 6, 12 f.) und vom 25. März 1992 – 2 StR 527 /91 (= BGHSt 38, 258); ebenso Hanack (1991: Rn. 30 zu § 66 StGB), E. Horn (1999: Rn. 6 zu § 66 StGB), Jescheck / Weigend (1996: 815), Kinzig (1996: 51), Lackner (2001: Rn. 4 zu § 66 StGB), Neu (1976: 25 ff.) und Tröndle / Fischer (2003: Rn. 6 zu § 66 StGB). Dagegen will Stree (2001: Rn. 7, 16 zu § 66 StGB) auf das Erfordernis der Rechtskraft verzichten; ebenso neuerdings Streng (2002: 196). 6 BGH, Beschluß vom 3. Mai 1994 – GSSt 2 und 3 / 93 (= BGHSt 40, 138). 7 Ständige Rechtsprechung seit BGH, Urteil vom 27. Mai 1975 – 5 StR 115 / 75 (= BGHSt 26, 152, 155), zuletzt BGH, Urteil vom 14. Juli 1999 – 3 StR 209 / 99 (= NJW 1999, 3723, 3725). Ablehnend Eisenberg / Schlüter (2001: 190).
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Schließlich bestimmt § 66 I Nr. 2 StGB für den gesetzlichen Regelfall, daß der Verurteilte vor der neuen Tat insgesamt mindestens zwei Jahre im Vollzug der Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel verbracht haben muß. Dabei kann es sich auch um angerechnete Untersuchungshaft handeln (§ 66 IV 2 StGB), soweit die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.8 Während der bisher erörterte gesetzliche Regelfall bei Vorliegen aller formellen und materiellen Voraussetzungen zwingend zur Anordnung der Maßregel führt, eröffnen mehrere ergänzende Vorschriften den Weg zu einer Sicherungsverwahrung kraft Ermessensentscheidung. Das Gemeinsame dieser Ausnahmevorschriften besteht darin, daß sie eine oder mehrere formelle Schranken der Maßregel niedriger ansetzen als § 66 I StGB. Hierzu zählen gesetzliche Vorkehrungen, die eine Sicherungsverwahrung auch gegenüber „gefährlichen“ Tätern ermöglichen sollen, die sich der Strafverfolgung bis zu dem aktuellen Verfahren entziehen konnten.9 So fordert § 66 II StGB in formeller Hinsicht lediglich eine Verurteilung wegen dreier vorsätzlicher Straftaten, derentwegen jeweils mindestens eine Freiheitsstrafe von einem Jahr, für eine der Taten aber mindestens eine zeitige Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt wird. Nach verbreiteter Auffassung soll für diese mindestens dreijährige Strafe bereits eine Gesamtstrafe ausreichen, und zwar auch eine hypothetische, die aus den Einzelfreiheitsstrafen von mindestens einem Jahr gebildet werden könnte.10 Die 1998 eingeführte Regelung in § 66 III 2 StGB variiert die Möglichkeit der Sicherungsverwahrung ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung, indem sie die formellen Schranken teilweise noch niedriger, teilweise etwas höher ansetzt. Zwar gilt dies nur für einen Katalog aller Verbrechen, zahlreicher Sexualdelikte sowie qualifizierter Körperverletzungen einschließlich des Vollrauschs mit entsprechender Rauschtat (§ 66 III 1 StGB). Da diese Aufzählung aber fast alle Delikte enthält, die für die Anordnung der Sicherungsverwahrung heute praktisch bedeutsam sind11, betreffen § 66 II und § 66 III 2 StGB weitgehend übereinstimmende Fallgruppen.12 § 66 III 2 StGB reduziert die erforderliche Anzahl der begangenen Taten auf zwei und erhöht die Schwelle der verhängten Einzelstrafen auf zwei Jahre. Eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren wegen versuchter gefährlicher 8 Böllinger (1995: Rn. 63 zu § 66 StGB); Hanack (1991: Rn. 37 zu § 66 StGB); Stree (2001: Rn. 15 zu § 66 StGB). 9 Das ist nur eine gesetzgeberische Zielsetzung, keine zusätzliche Voraussetzung für die Anwendung der Vorschriften; siehe BGH, Urteil vom 12. August 1999 – 5 StR 149 / 99 (= NStZ 1999, 614). 10 BGH, Urteile vom 31. August 1995 – 4 StR 292 / 95 (= NJW 1995, 3263 f.) und vom 17. Dezember 1998 – 5 StR 302 / 98 (= NStZ-RR 1999, 301); Dölling (1996: 544); Lackner (2001: Rn. 10 zu § 66 StGB); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 10 zu § 66 StGB). Einschränkend Böllinger (1995: Rn. 68 zu § 66 StGB) und Hanack (1991: Rn. 63 zu § 66 StGB). 11 Dazu Kapitel 15 C. I. (S. 309). 12 Ebenso Meier (2001: 285); anders von Harbou (1999: 70), welche die Gerichtspraxis allerdings ausklammert.
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Körperverletzung und eine weitere Freiheitsstrafe von zwei Jahren wegen sexuellen Mißbrauchs können danach bereits in die anschließende Sicherungsverwahrung führen, wenn das Gericht ausführt, daß es eine hypothetische Gesamtstrafe von mindestens drei Jahren verhängt hätte.13 Dagegen setzt § 66 III 1 StGB für die bereits genannten Katalogtaten allein an der formellen Voraussetzung der früheren Verurteilung an. Gegenüber dem gesetzlichen Regelfall in § 66 I Nr. 1 StGB läßt diese Vorschrift auch eine einzige Verurteilung wegen eines vor der Anlaßtat begangenen Delikts ausreichen, wenn der frühere Strafausspruch auf mindestens drei Jahre Freiheitsstrafe lautete. Ob alle Delikte, die der Gesetzgeber in den Katalog des § 66 III StGB aufgenommen hat, eine Sicherungsverwahrung rechtfertigen können, läßt sich bezweifeln.14 Diese Frage ist allerdings im folgenden für die Sicherungsverwahrung allgemein zu erörtern, weil die Regelvorschrift des § 66 I StGB nicht einmal einen solchen Deliktskatalog enthält. Je mehr die formellen Anforderungen entwertet werden, desto mehr wächst die Bedeutung der zentralen materiellen Voraussetzung der Gefährlichkeit. Damit wird es in der Strafrechtspraxis schwieriger, eine Sicherungsverwahrung abzulehnen, wenn die Maßregel aus formeller Sicht in Betracht kommt. Der Begründungsaufwand dürfte zunehmen15, zumal der Bundesgerichtshof bei Nichtanordnung inzwischen eine sachlich-rechtliche Darlegungspflicht annimmt.16
B. Gefährlichkeit als Voraussetzung der Anordnung Das materielle Kriterium, dessen Vorliegen die Sicherungsverwahrung in jedem Fall voraussetzt, ergibt sich aus § 66 I Nr. 3 StGB. Danach muß sich aus einer Gesamtwürdigung die Gefährlichkeit des Täters ergeben, die auf einen Hang zu erheblichen Straftaten zurückgeführt werden muß. Ist die Gefährlichkeit bei der Verurteilung wegen einer der in § 66 III 1 StGB genannten Straftaten nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar, so kann nach der neuen Vorschrift des § 66a I StGB die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten werden, wenn die 13 Ein solcher Fall ist von der Rechtsprechung soweit ersichtlich noch nicht entschieden worden; zur versuchten gefährlichen Körperverletzung BGH, Urteil vom 14. Juli 1999 – 3 StR 209 / 99 (= NJW 1999, 3723, 3724 f.) und Schöch (2000b). 14 von Harbou (1999: 21 ff.). 15 Die Ablehnung einer Sicherungsverwahrung war schon vor der letzten Gesetzesänderung nicht immer leicht, wie die Rechtsprechung zeigt. Siehe für den gesetzlichen Regelfall BGH, Beschluß vom 22. Januar 1998 – 4 StR 527 / 97 (= NStZ-RR 1998, 206), für § 66 II StGB BGH, Beschluß vom 28. Mai 1998 – 4 StR 17 / 98 (= BGHR StGB § 66 II Ermessensentscheidung 6) und Urteil vom 4. September 2001 – 1 StR 232 / 01 (= NStZ 2002, 30 f.). 16 BGH, Urteil vom 9. Juni 1999 – 3 StR 89 / 99 (= NJW 1999, 2606); in dieser Richtung auch E. Horn (1999: Rn. 34 zu § 66 StGB). Einschränkend Schöch (2000a), kritisch auch Eisenberg / Schlüter (2001).
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übrigen Voraussetzungen des § 66 III StGB erfüllt sind. Dieser Vorbehalt der Anordnung führt zu einer erneuten Prüfung der Sicherungsverwahrung in einer neuen Hauptverhandlung (§ 275a StPO), bevor eine Strafrestaussetzung erfolgen kann. Anders als in § 64 StGB, wo der Begriff „Hang“ eine Abhängigkeit von psychotropen Stoffen und damit ein grundsätzlich unabhängig von Normen des Strafrechts vorstellbares Persönlichkeitsmerkmal bezeichnet, fehlt ein solcher Bezugspunkt bei der Sicherungsverwahrung. Bei dieser Maßregel geht es allein um die mehrfache Begehung von Straftaten, aus der eine Persönlichkeitseigenschaft abgeleitet wird – wofür allerdings nicht jede Form strafrechtlicher Rückfälligkeit ausreichen soll. Das führt zu der Schwierigkeit, daß man diese Eigenschaft nicht unabhängig von den konkreten Verhaltensweisen definieren kann, die sich doch erst aus ihrem Vorhandensein bei bestimmten Personen ergeben sollen. Obwohl der Begriff „Hang“ in diesem Zusammenhang eine lange Geschichte aufweist17 und die Rechtsprechung schon seit Inkrafttreten des Gewohnheitsverbrechergesetzes auf ihn zurückgreift18, wird in der sanktionenrechtlichen und kriminologischen Literatur immer wieder bemängelt, daß sich die Voraussetzungen dieses Merkmals kaum präzise bestimmen lassen.19 Diese Schwierigkeit läßt sich illustrieren, wenn man in der Literatur und Rechtsprechung zur Sicherungsverwahrung angebotene Definitionen des Begriffs betrachtet. Vor allem in der Rechtsprechung wird der Hang als „fest eingewurzelte Neigung“ zur Begehung von Straftaten erläutert, wobei zugleich betont wird, daß es um mehr gehe als bloße Rückfälligkeit.20 Die Kriterien dafür sind allerdings unsicher; die einschlägigen Gerichtsentscheidungen argumentieren sehr stark fallbezogen und ziehen beliebige Gesichtspunkte heran, die im Verfahren ermittelt worden sind und personale Zuschreibungen ermöglichen. Der Hangbegriff bei der Sicherungsverwahrung wird damit zu einem Merkmal, das von großer Unverbindlichkeit geprägt ist. Einerseits wird eine umfassende Einbeziehung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und der Taten relevanten Aspekte gefordert, andererseits werden aber keine klaren Kriterien bestimmt, nach deren Vorliegen oder Fehlen sich entscheiden läßt, ob ein „Hang“ vorhanden ist oder nicht. Die Herkunftsfamilie der Täter soll ebenso von Bedeutung sein wie deren individuelle Siehe die Hinweise bei Kinzig (1996: 13). RG, Urteile vom 19. April 1934 – 2 D 333 / 34 (= RGSt 68, 149, 155) und vom 11. Oktober 1938 – 4 D 677 / 38 (= RGSt 72, 356, 357); BGH, Urteil vom 4. April 1951 – 1 StR 54 / 51 (= BGHSt 1, 94, 100). 19 Hanack (1991: Rn. 22 zu § 66 StGB); Jescheck / Weigend (1996: 816); Kinzig (1996: 108); Meier (2001: 281); Schüler-Springorum (1989); Streng (2002: 197 f.); zum schweizerischen Recht Stratenwerth (1966: 344 f.). 20 BGH, Urteil vom 12. Juli 1988 – 1 StR 280 / 88 (= NStZ 1988, 496), Beschluß vom 27. September 1994 – 4 StR 528 / 94 (= NStZ 1995, 178) und Urteil vom 13. Juli 2000 – 4 StR 246 / 00 (= NStZ 2000, 587). Ähnlich Hanack (1991: Rn. 84 zu § 66 StGB), E. Horn (1999: Rn. 18 zu § 66 StGB), Lackner (2001: Rn. 13 zu § 66 StGB), Stree (2001: Rn. 19 zu § 66 StGB), Tröndle / Fischer (2003: Rn. 18 zu § 66 StGB) und im Ergebnis auch Schewe (1999: 135). 17 18
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Sozialisation21, aber niemand wird aus einer Straffälligkeit der Eltern oder Verhaltensauffälligkeiten in der Kindheit zwingend ableiten, daß ein „Hang“ vorliege. Psychische Störungen im weitesten Sinne sollen Indizien für dieses Merkmal liefern, aber ihr Fehlen soll es nicht ausschließen.22 Und obwohl man die Sicherungsverwahrung als schuldunabhängige Maßregel par excellence, als „sozusagen direktesten, gänzlich ungeschönten Fall gesellschaftlicher Notwehr“23 apostrophieren kann, wird nicht ausgeschlossen, daß auch der „Hang“ verschuldet sein kann.24 Besonders deutlich wird diese inhaltliche Unbestimmtheit des Begriffs „Hang“ in dem Konkretisierungsversuch mittels einer Tätertypologie, die „Hangtäter“ aus Willensschwäche von chronisch kriminellen „Berufsverbrechern“ unterscheidet.25 Der „Verbrecher aus Willensschwäche“ „neigt aus allgemeiner sozialer Schwäche zum Parasitenleben; er kann sich nicht durchsetzen, er unterliegt dem schlechten Einfluß, der von außen kommt, und gelangt nicht mehr aus eigener Kraft in geordnete Verhältnisse zurück, die ja eine dauernde Abwehrstellung gegen die Versuchung erfordern. Sein hauptsächlicher persönlicher Mangel besteht darin, daß er extrem umweltabhängig ist und sich leicht verführen läßt.“26
Dem wird mit dem „Berufsverbrecher“ ein Typus gegenübergestellt, der gerade durch die Stärke des Willens gekennzeichnet wird: „Er hat eine Lebensentscheidung gefällt, und die einzelne Straftat ist nur Symptom seines verbrecherischen Willens. Er ist nicht der Verführte, derjenige, der schlechten Einflüssen, die von außen kommen, zum Opfer gefallen ist, sondern er ist selber der Verführer, derjenige, von dem die schlechten Einflüsse ausgehen, die andere zum Straucheln bringen. Er ist der aktive Typ, und er ist der Spezialist.“27
Diese täterorientierte Typologie blickt auf eine lange Tradition zurück: sie findet sich in der Kriminologie der 1930er und 1940er Jahre28 wie in der Rechtsprechung zum Gewohnheitsverbrechergesetz und beeinflußt über die neuere Kommentarliteratur noch die aktuelle Judikatur des Bundesgerichtshofes.29 Die Folgerungen, die Hanack (1991: Rn. 91 zu § 66 StGB); Stree (2001: Rn. 23, 33 zu § 66 StGB). Hanack (1991: Rn. 98 ff. zu § 66 StGB); Mrozynski (1985: 8 ff.); aus der Rechtsprechung RG, Urteil vom 7. April 1938 – 3 D 169 / 38 (= RGSt 72, 151 f.); BGH, Beschluß vom 28. April 1995 – 2 StR 134 / 95 (= NStZ 1995, 588) und Urteil vom 11. Februar 1999 – 4 StR 647 / 98 (= NStZ-RR 1999, 170). 23 Schüler-Springorum (1989: 149). 24 Hanack (1991: Rn. 86 f. zu § 66 StGB); Zipf (1989: 681). 25 Hanack (1991: Rn. 69 ff. zu § 66 StGB) hält sie immer noch für „unverzichtbar“; ein ähnlicher Ansatz bei Stree (2001: Rn. 22 ff. zu § 66 StGB). 26 Hellmer (1961b: 451). 27 Hellmer (1961b: 452). 28 Etwa bei Exner (1949: 205 f.). Auf dieses Werk stützt sich noch heute die Kommentierung von Stree (2001: Rn. 22 ff. zu § 66 StGB). 29 RG, Urteile vom 7. April 1938 – 3 D 169 / 38 (= RGSt 72, 151, 152), vom 22. Dezember 1938 – 3 D 948 / 38 (= RGSt 73, 44, 46) und vom 7. Juli 1941 – 2 D 137 / 41 (= HRR 21 22
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daraus gezogen werden, unterscheiden sich allerdings. Einigkeit besteht nur darüber, daß die Sicherungsverwahrung für chronisch kriminelle „Berufsverbrecher“ in Frage kommt. Dagegen befinden sich die Autoren, die „Verbrecher aus Willensschwäche“ nicht zur Klientel dieser Maßregel zählen, in der Minderheit30; ihre Auffassung hat sich weder gegenüber der ständigen Rechtsprechung noch in den Kommentierungen zum Maßregelrecht durchgesetzt, die eine Sicherungsverwahrung auch für diese Gruppe zulassen. Bezieht man den Begriff „Hang“ aber auch auf die zuletzt genannte Tätergruppe, so kann dieses Merkmal bei Willensstärke genauso vorliegen wie bei Willensschwäche.31 Damit kann aber die geschilderte Tätertypologie keinen Beitrag zur Konkretisierung der materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung liefern32 – ganz abgesehen davon, daß ihre empirische Fundierung höchst fraglich erscheint.33 Das voluntative Element liefert zugleich ein Beispiel für die geringe Aussagekraft von Tätertypologien; andere Tätermerkmale erscheinen nicht aussagekräftiger. Dennoch wird teilweise versucht, schon den Hangbegriff einzuschränken. Ein restriktiver Interpretationsvorschlag von Lorenz Böllinger liest sich wie folgt: „Hang ist eine aufgrund heutigen kriminologischen Wissensstandes als mit hoher Wahrscheinlichkeit irreversibel zu betrachtende Verfestigung der Persönlichkeit in ihrer inneren, psychischen und äußeren, sozialen Struktur und Integration. Dieser Zustand wird nur in extremen Ausnahmefällen zu bejahen sein.“34
Damit wird zwar offener als bei anderen Autoren eingeräumt, daß es sich um einen „normativ überfrachteten und widersprüchlichen Begriff“ handelt.35 Aber letztlich ist damit außer einer gewissen Modernisierung und Verwissenschaftlichung des Vokabulars wenig gewonnen. Die gängige Rechtfertigung der Sicherungsverwahrung nimmt ja gerade für sich in Anspruch, diese Maßregel nur als „letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik“ vorzuhalten, die lediglich in extremen Ausnahmefällen in Betracht komme. Wann aber ein solcher Ausnahmefall vorliegt, sollen doch die Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung erst präzisieren. Nicht ohne Ironie läßt sich das Dilemma des Hangbegriffs so zusammenfassen: 1942, Nr. 126); in dieser Richtung noch BGH, Urteile vom 12. Dezember 1979 – 3 StR 436 / 79 (= NJW 1980, 1055) und vom 30. März 1999 – 5 StR 563 / 98 (= NStZ 1999, 502). 30 In der Nachkriegszeit Hellmer (1961b: 456 ff.), Horstkotte (1970: 155), Jescheck / Weigend (1996: 816) und Mayer (1968: 160 f.). 31 BGH, Urteile vom 12. Dezember 1979 – 3 StR 436 / 79 (= NJW 1980, 1055) und vom 30. März 1999 – 5 StR 563 / 98 (= NStZ 1999, 502); aus der Literatur etwa Hanack (1991: Rn. 82 zu § 66 StGB) und Stree (2001: Rn. 33 zu § 66 StGB). 32 Im Ergebnis ebenso Kögler (1988: 73); Schüler-Springorum (1989: 152); Weichert (1989: 268 f.); Weihrauch (1968: 134 ff.). Generell ablehnend zur Heranziehung von Tätertypologien Meier (2001: 281). 33 Siehe Kapitel 15 C. (S. 309 ff.). 34 Böllinger (1995: Rn. 86 zu § 66 StGB) – Hervorhebung im Original. Eine restriktive Auslegung fordern – ohne eigenen Definitionsvorschlag – auch Jescheck / Weigend (1996: 816). 35 So Böllinger (1995: Rn. 86 zu § 66 StGB).
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„Wir verstehen jetzt, warum die juristischen Definitionen des Hanges so allumfassend gerieten: Am zu subsumierenden ,Hang‘ jedenfalls soll die Sicherungsverwahrung nicht scheitern!“36
Für die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist charakteristisch, daß die tatgerichtliche Annahme eines „Hangs“ fast immer akzeptiert wird37, während umgekehrt eine rechtsfehlerfreie Verneinung dieses Merkmals trotz Erfüllung der formellen Voraussetzungen so gut wie ausgeschlossen ist.38 Ein Ausweg aus den Zirkeln der Definitionsversuche für den Begriff „Hang“ ist mit einer neuen Erläuterung, die wie alle bisherigen begrifflichen Ansätze den systematischen Zusammenhang ausblendet, nicht zu haben. Es hilft auch nicht weiter, den Hangbegriff zur Basis einer Gefährlichkeitsprognose zu erklären39, wenn diese Basis sich nicht stabilisieren läßt. Dieser Ansatz erscheint ebenso wenig erfolgversprechend wie der Versuch, Versatzstücke der neueren kriminologischen Theoriediskussion in die Begrifflichkeit der Sicherungsverwahrung einzubauen.40 Man muß sich vielmehr von der Vorstellung verabschieden, daß der „Hang“ die zentrale materielle Voraussetzung der Sicherungsverwahrung darstellt.41 Ohnehin fällt auf, daß das Verständnis des Hangbegriffs kaum von dem Gesichtspunkt der Gefährlichkeit getrennt wird: ist der „Hang“ festgestellt, soll damit in aller Regel auch schon die Gefährlichkeit der Verurteilten vorliegen.42 Sachgerechter erscheint es, dieses Verhältnis umzukehren und nicht das Merkmal „Hang“ in den Vordergrund zu stellen, sondern das Konzept der Gefährlichkeit unmittelbar zu bestimmen. Für die Annahme, daß damit – und nicht mit dem Begriff „Hang“ – die wichtigste materielle Voraussetzung der Sicherungsverwahrung bezeichnet ist, sprechen schon die parallelen Formulierungen im Gesetzestext der Schüler-Springorum (1989: 151). Schewe (1999: 132) hat kein Gegenbeispiel gefunden. 38 Siehe die Rechtsprechungsauswertung von Kinzig (1996: 50). Eine Ausnahme ist BGH, Urteil vom 1. Juli 1981 – 2 StR 238 / 81 (= StV 1981, 621). 39 E. Horn (1999: Rn. 18 zu § 66 StGB); in dieser Richtung auch Tröndle / Fischer (2003: Rn. 19 zu § 66 StGB). 40 Meier (2001: 282) schlägt vor, den „Hang“ als mangelnde Selbstkontrolle zu interpretieren. Die allgemeine Theorie der Kriminalität von Gottfredson / Hirschi (1990: 87 ff., 240 ff.) will mit diesem Konzept aber beliebige Normabweichungen erklären. Daß Kriminalitätskarrieren Besonderheiten aufweisen, wird damit gerade bestritten. 41 So schon Frommel (1981: 1084), Kaiser (1990: 50), Schönberger (2002: 203), SchülerSpringorum (1989: 149 ff.) und Weihrauch (1970). Vor der Strafrechtsreform stellte das Gesetz ohnehin unmittelbar auf die Gefährlichkeit ab; hierzu Weihrauch (1968: 55 ff.). Eine ähnliche Kritik des schweizerischen Rechts bei Stratenwerth (1966: 341 ff.). 42 BGH, Urteile vom 14. März 1990 – 3 StR 22 / 90 (= BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 3), vom 22. Februar 1994 – 1 StR 684 / 93 (bei Holtz, MDR 1994, 761 f.) und vom 7. April 1999 – 2 StR 440 / 98 (insoweit nur in JURIS veröffentlicht); ebenso die Entscheidungen der Berliner Untersuchung von Schönberger (2002: 170). Ausdrücklich zustimmend Hanack (1991: Rn. 144 zu § 66 StGB), Stree (2001: Rn. 36 zu § 66 StGB) und wohl auch Zipf (1989: 682 f.). 36 37
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§ 63 und § 66 I Nr. 3 StGB.43 Für den Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung stellt neuerdings auch das Gesetz wieder auf die Gefährlichkeit ab (§ 66a I StGB). Ein weiterer Vorteil dieses Vorgehens liegt in der Möglichkeit systematischer Vergleiche mit den beiden anderen freiheitsentziehenden Maßregeln. Das Gefährlichkeitskonzept wird für die Sicherungsverwahrung bereits im Gesetzestext erläutert; die Vorschrift des § 66 I Nr. 3 StGB enthält dafür mehr Anhaltspunkte als diejenigen über die beiden anderen freiheitsentziehenden Maßregeln. Wenig hilfreich erscheint allerdings die Bezugnahme auf die „Allgemeinheit“ als potentiell betroffene Gruppe; unter dem Gesichtspunkt des Opferschutzes ist es kaum nachvollziehbar, wenn gerade dem Täter besonders nahe stehende und möglicherweise zuerst oder intensiver betroffene Personen anders behandelt werden sollen als beliebige Fremde, die möglicherweise geschädigt werden.44 Hier gilt mithin nichts anderes als bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.45 Weiterhin ist zu fordern, daß die Gefährlichkeitsprognose in möglichst spezifischer Weise getroffen wird; sie muß sich auf bestimmte Delikte oder Deliktsformen beziehen. Diese Forderung läßt sich nur einlösen, wenn zwischen den Vortaten, den aktuell zur Verurteilung anstehenden sowie möglichen künftigen Delikten ein symptomatischer Zusammenhang begründbar ist.46 Damit lassen sich die formellen Voraussetzungen als erste Konkretisierung des Gefährlichkeitsurteils verstehen.47 Darüber hinaus ist die Norm des § 66 I Nr. 3 StGB die einzige im Recht der freiheitsentziehenden Maßregeln, die Erheblichkeitsanforderungen für zu befürchtende weitere Taten positiv umschreibt: es kommt darauf an, ob die Opfer voraussichtlich seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird. Doch liegt darin keine abschließende Charakterisierung; weitere Fälle werden ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Von die43 Insofern ist E. Horn (1999: Rn. 13 zu § 66 StGB) Recht zu geben, auch wenn er das Gefährlichkeitsmerkmal als nachrangig ansieht. 44 Das vertritt – ohne Begründung – Böllinger (1995: Rn. 104 zu § 66 StGB); ebenso wohl auch E. Horn (1999: Rn. 17 zu § 66 StGB). 45 Kapitel 13 B. IV. (S. 221 f.). Ebenso BGH, Urteil vom 31. Mai 1988 – 1 StR 182 / 88 (= BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 2) und Beschluß vom 22. Januar 1998 – 4 StR 527 / 97 (= NStZ-RR 1998, 206); Hanack (1991: Rn. 148 zu § 66 StGB); Lackner (2001: Rn. 15 zu § 66 StGB); Meier (2001: 283); Neu (1976: 68); Scheuble (1996: 94 ff.); Stree (2001: Rn. 35 zu § 66 StGB); Streng (2002: 198). 46 Das ist allgemein anerkannt, wird aber meist auf den „Hang“ bezogen. Siehe etwa BGH, Urteile vom 20. Juni 1967 – 5 StR 264 / 67 (= BGHSt 21, 263 f.) und vom 18. November 1971 – 4 StR 435 / 71 (= BGHSt 24, 243, 244 ff.). Unmittelbar mit dem Merkmal „Gefährlichkeit“ argumentieren dagegen BGH, Beschluß vom 19. März 1996 – 1 StR 114 / 96 (= NStZ-RR 1996, 196 f.) und von Harbou (1999: 39 f.). 47 M. Köhler (1975: 1152 f.).
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sen Regelbeispielen ist im folgenden auszugehen48; im Anschluß daran werden Fallgruppen betrachtet, die unabhängig davon zu einem Ausschluß von Fällen unterhalb der Erheblichkeitsschwelle geeignet sind. Die Regelbeispiele lassen sich teils empirisch, teils normativ konkretisieren. Psychische Schädigungen kann man charakterisieren als „Traumatisierungen mit einer gewissen Dauerwirkung in Form von psychischen oder somatischen Symptomen“.49 Ob solche Traumatisierungen bei einem bestimmten Tatopfer vorliegen, läßt sich nach einiger Zeit feststellen.50 Allerdings geht es in diesem Zusammenhang um eine Gefährlichkeitsprognose für künftige Taten und mögliche Geschädigte. Deshalb sollte man extreme Schadensdispositionen einzelner Personen nicht verallgemeinern.51 Zu berücksichtigen sind nur solche seelischen Schädigungen, die infolge bestimmter Delikte typischerweise auftreten. Damit ist eine Fragestellung der kriminologischen Opferforschung angesprochen, deren Ergebnisse herangezogen werden können. Ein Schwerpunkt dieser Forschungsrichtung liegt traditionell im Bereich der Sexualdelikte, einer Deliktsgruppe, der in diesem Zusammenhang auch in juristischen Stellungnahmen Vorrang eingeräumt wird.52 In der Sexualwissenschaft dürfte ein weitgehender Konsens darüber bestehen, daß schwere Schädigungen nur bei einem kleinen Teil der untersuchten Personen und in erster Linie nach sexuellen Gewaltdelikten oder Delikten in der Familie auftreten; zudem wird darauf hingewiesen, daß Folgen einer Viktimisierung nicht notwendig auf die Straftat selbst zurückgehen müssen, sondern durch Reaktionen etwa von Familienangehörigen, aber auch die Strafverfolgung möglicherweise erst produziert werden („sekundäre Viktimisierung“).53 Andererseits läßt sich nach einigen Studien feststellen, daß mögliche Schädigungen in manchen Fällen auch noch Jahre nach sexuellem Mißbrauch spürbar sind54 – wobei nicht alle Untersuchungen in zureichender Weise nach der Art des Delikts differenzieren.55 Einiges spricht nämlich dafür, daß das Ausmaß der Schädigung nicht unabhängig vom Verhalten der Tatverdächtigen und der Intensität der sexuellen Handlung ist. Dro48 Betont wird die Bedeutung der Regelbeispiele auch von Böllinger (1995: Rn. 88 zu § 66 StGB), Frommel (1981: 1084) und Neu (1976: 46 ff.); skeptisch Scheuble (1996: 50 ff., 93 f.). 49 So der Vorschlag von Böllinger (1995: Rn. 93 zu § 66 StGB); ähnlich schon Steinhilper (1971: 121 ff.) und Weihrauch (1970: 1900). 50 Skeptisch ist diesbezüglich Weichert (1989: 269), der die einschlägige empirische Forschung allerdings nicht heranzieht. 51 Auch insoweit ist Böllinger (1995: Rn. 93 zu § 66 StGB) zu folgen. 52 E. Horn (1999: Rn. 15 zu § 66 StGB); Kindhäuser (2002: Rn. 21 zu § 66 StGB); Neu (1976: 55); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 20 zu § 66 StGB). 53 Als Überblick Eisenberg (2000: 850 f.) und Pfäfflin (2000: 255). 54 Bange (1992: 168 ff.); M.C. Baurmann (1983: 412 ff.); Richter-Appelt (1994: 135 ff.). 55 Das gilt vor allem dann, wenn der Begriff des „sexuellen Mißbrauchs“ unabhängig von strafrechtlichen Konkretisierungen definiert wird, wie etwa bei Bange (1992: 62 f., 168 ff.) und Richter-Appelt (1994: 126 f.).
Kap. 15: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
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hendes oder gewalttätiges Verhalten einerseits, Geschlechtsverkehr oder ähnliche Handlungen andererseits scheinen eher zu einer schweren Schädigung zu führen, freundliches Verhalten der Tatverdächtigen und eher oberflächliche Sexualkontakte eher zu einer geringen oder zu keiner Schädigung.56 Zudem muß man berücksichtigen, daß sich die Auswirkungen sexueller Handlungen nicht unabhängig von der gesamten Lebenssituation der Beteiligten verstehen lassen. Gravierende psychische Folgen sind auch bei anderen Deliktsformen möglich. Beispiele finden sich etwa in empirischen Untersuchungen zur Verarbeitung von Körperverletzungsdelikten, Raubüberfällen und Wohnungseinbrüchen.57 Doch ist dieser Gesichtspunkt zur Bestimmung der Erheblichkeit weiterer Delikte nach § 66 I Nr. 3 StGB schon deswegen von weit geringerem Gewicht, weil es bei den meisten vollendeten schweren Gewaltdelikten auch zu körperlichen Schädigungen kommen wird, die sich wesentlich leichter feststellen lassen.58 Von einer umfassenden Sekundäranalyse der kriminologischen Opferforschung wird daher an dieser Stelle abgesehen. Das Merkmal schwerer körperlicher Schäden bietet auch deswegen weniger Schwierigkeiten, weil schon das Strafrecht selbst Auslegungshilfen liefert. Folgen, deren Herbeiführung der Tatbestand des § 226 I StGB als schwere Körperverletzung erfaßt, lassen sich unproblematisch für die Bestimmung des Erheblichkeitsmerkmals bei der Sicherungsverwahrung heranziehen.59 Erst recht gilt dies für den zu befürchtenden Tod künftiger Geschädigter. Doch sollte man dabei nicht stehen bleiben. Da eine Gefährlichkeitsprognose gefragt ist, können auch zu erwartende gefährliche Körperverletzungen (§ 224 StGB) ausreichen.60 Demgegenüber verweist das Merkmal schwerer wirtschaftlicher Schäden auf Einbußen, deren Wert sich in Geld beziffern läßt. Daß die Vorschrift des § 66 I Nr. 3 StGB sie neben schwere körperliche und psychische Schäden stellt, wirft die Frage der Vergleichbarkeit verschiedener Schadensqualitäten auf. Verschiedene Sonderregeln für die Verletzung von Personen enthält schon das Zivilrecht; denn hier geht es neben den Heilungskosten (§ 249 S. 2 BGB) häufig um Verdienstausfall, daneben um ein Schmerzensgeld (§ 847 I BGB).61 Wirtschaftliche Schäden 56 So die Ergebnisse von M. C. Baurmann (1983: 420 ff.); vgl. auch Wilmer (1995: 119 ff.). 57 O. Hagemann (1993); Richter (1997). 58 Hier dürfte einer der Gründe dafür liegen, daß die veröffentlichte Rechtsprechung sich mit psychischen Schäden kaum auseinandersetzt. Eine Ausnahme ist BGH, Beschluß vom 26. Juni 1991 – 3 StR 186 / 91 (bei Holtz, MDR 1991, 1020) zu kleineren Raubdelikten zulasten älterer Frauen und angetrunkener Männer. 59 Hanack (1991: Rn. 133 zu § 66 StGB); Neu (1976: 53); Weihrauch (1968: 91 f.); ebenso wohl auch Böllinger (1995: Rn. 94 zu § 66 StGB). 60 Für einen Versuchsfall BGH, Urteil vom 14. Juli 1999 – 3 StR 209 / 99 (= NJW 1999, 3723, 3724 f.); allgemein Hanack (1991: Rn. 133 zu § 66 StGB), E. Horn (1999: Rn. 15 zu § 66 StGB) und Scheuble (1996: 86). 61 Zum Inhalt dieser Sonderregeln etwa Medicus (2000: 306 ff.).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
beschränken sich dagegen von vornherein auf bloße Einbußen am Vermögen, die durch einen Vermögenszufluß wieder ausgeglichen werden können. Manche Risiken dieser Art sind versicherbar. Zudem läßt es die überwiegende Auffassung bei den Vermögensdelikten schon ausreichen, daß eine „schadensgleiche Gefährdung“ eintritt.62 Diese Gesichtspunkte sprechen dafür, wirtschaftliche Schäden im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose nach § 66 I Nr. 3 StGB geringer zu gewichten als körperliche und seelische Schäden. Eine solche Abstufung nimmt das Gesetz auch selbst vor, soweit es um den Vollzug der Sicherungsverwahrung geht; eine Überschreitung der Vollzugsdauer von zehn Jahren ist nach § 67d III 1 StGB nur zulässig, wenn eine Gefährlichkeitsprognose hinsichtlich schwerer psychischer oder körperlicher Schädigungen gestellt wird. Vor allem die ältere Rechtsprechung hat das Gefährlichkeitsmerkmal bei der Sicherungsverwahrung bereits in Fällen angenommen, in denen der Täter lediglich wirtschaftliche Schäden in der Größenordnung unter 10.000 DM, zum Teil auch deutlich geringere Schadensbeträge, verursacht hatte.63 Dies erscheint aus heutiger Sicht indes kaum mehr vertretbar, auch wenn man einräumt, daß dahinter zumindest teilweise das Bestreben steht, besonders empfindliche Opfer zu schützen. Im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts hat die Praxis der Kriminaljustiz schon vor zwanzig Jahren angenommen, daß Schadensbeträge um 100.000 DM einer Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO nicht im Wege stehen.64 Das mag nicht mit der Intention von Einstellungen wegen Geringfügigkeit vereinbar sein, zeigt aber, wie unterschiedlich die Maßstäbe sein können, die an die Taten verschiedener Tätergruppen angelegt werden. Will man diesen Wertungswiderspruch nicht vertiefen, so ist für einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden bei der Sicherungsverwahrung deutlich mehr zu fordern als das monatliche Durchschnittseinkommen dreier Monate.65 Insgesamt fällt an der veröffentlichten Rechtsprechung zur Sicherungsverwahrung auf, daß die Regelbeispiele des § 66 I Nr. 3 StGB nur einen geringen Raum einnehmen. Mit der Erwägung, diese enthielten ohnehin keinen abschließenden Katalog erheblicher Straftaten, gehen die Gerichte häufig unmittelbar dazu über, abstraktere Wertabstufungen vorzunehmen, die allerdings weitgehend einzelfallbezogen aufgefüllt werden. Dabei wird zunächst die systematische Unterscheidung von Verbrechen und Vergehen bemüht, wobei das Vorliegen eines Verbrechens in der Regel weitere Argumente erübrigen soll.66 Ein solches Vorgehen versperrt aber 62 Zusammenfassend K. Kühl (2001: Rn. 40 ff. zu § 263 StGB) und Rengier (2002: 219 ff.). 63 BGH, Urteile vom 18. Mai 1971 – 4 StR 100 / 71 (= BGHSt 24, 153, 158), vom 25. Mai 1971 – 1 StR 40 / 71 (= BGHSt 24, 160, 163) und vom 22. Juni 1976 – 1 StR 295 / 76 (bei Holtz, MDR 1976, 986) sowie Beschluß vom 26. Juni 1991 – 3 StR 186 / 91 (bei Holtz, MDR 1991, 1020). Anders schon BGH, Beschluß vom 2. August 1983 – 5 StR 137 / 83 (= StV 1983, 503) bei gleichförmigen Betrugstaten gegenüber Versicherungsgesellschaften. 64 Meinberg (1985: 119 ff.). 65 Diese Wertgrenze schlägt E. Horn (1999: Rn. 15 zu § 66 StGB) vor.
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gerade einzelfallbezogene Differenzierungen, die auch bei Delikten angebracht sein können, für die das Gesetz eine besonders hohe Mindeststrafe vorsieht.67 Eine bedeutendere Rolle spielt dagegen auch bei der Sicherungsverwahrung die unscharf abgegrenzte Kategorie der „mittleren Kriminalität“, bei der die Maßregel jedenfalls dann für zulässig erklärt wird, wenn ein höherer Schweregrad vorliegt.68 Dieser hohe Schweregrad soll auch kumulativ ermittelt werden können, wobei vor allem Häufigkeit und schnelle Abfolge von Serientaten berücksichtigt werden. Entsprechende höchstrichterliche Entscheidungen liegen vor allem für Eigentumsund Vermögensdelikte vor.69 Für diese Deliktsgruppe befindet sich die Rechtsprechung im Einklang mit dem Gesetzeswortlaut des § 66 I Nr. 3 StGB, der schwere wirtschaftliche Schäden nicht auf einzelne Opfer bezieht. Daraus kann man schließen, daß sich eine Gefährlichkeit in dieser Hinsicht auch aus einer Kumulation von Schäden ergeben kann.70 Damit ist noch nichts darüber gesagt, welchen Betrag die Schadenssumme erreichen muß. Doch erscheint ein Abstellen auf das Kriterium des schweren wirtschaftlichen Schadens eher objektivierbar als der verschwommene Begriff „mittlere Kriminalität“.71 Weitgehende Einigkeit besteht zumindest im Ausgangspunkt darüber, daß Bagatelldelikte nicht zur Anordnung der Sicherungsverwahrung führen sollen. Diese Abschichtung gilt als Folge der Strafrechtsreform von 1970, auf welche die formellen Voraussetzungen jedenfalls für die obligatorische Verhängung der Maßregel nach § 66 I StGB zurückgehen.72 Deshalb bietet es sich an, die Grenze von 66 So bereits RG, Urteil vom 23. Juni 1938 – 2 D 258 / 38 (= JW 1938, 2129); weiter BGH, Urteil vom 12. Dezember 1979 – 3 StR 436 / 79 (= NJW 1980, 1055 f.). Anders BGH, Urteil vom 17. Dezember 1985 – 1 StR 539 / 85 (= NStZ 1986, 165) in einem obiter dictum zum räuberischen Angriff auf Kraftfahrer. 67 Zu Recht einschränkend deshalb Frommel (1981: 1084) und Hanack (1991: Rn. 105 zu § 66 StGB). 68 BGH, Urteile vom 18. Mai 1971 – 4 StR 100 / 71 (= BGHSt 24, 153, 154), vom 12. Dezember 1979 – 3 StR 436 / 79 (= NJW 1980, 1055) und vom 26. August 1987 – 3 StR 305 / 87 (= NStE Nr. 10 zu § 66 StGB). Enger einschränkend Lackner (2001: Rn. 14 zu § 66 StGB), wonach Taten „mittlerer Kriminalität“ aus dem Anwendungsbereich generell ausscheiden. 69 Für eine Serie von Diebstählen, vor allem durch Einbruch in Geschäftsräume, BGH, Urteil vom 12. Juli 1988 – 1 StR 280 / 88 (= NStE Nr. 16 zu § 66 StGB); für eine Betrugsserie BGH, Urteil vom 18. Mai 1971 – 4 StR 100 / 71 (= BGHSt 24, 153, 157); für Raubdelikte BGH, Urteil vom 12. Dezember 1979 – 3 StR 436 / 79 (= NJW 1980, 1055). 70 BGH, Urteil vom 18. Mai 1971 – 4 StR 100 / 71 (= BGHSt 24, 153, 155 f.); Hanack (1991: Rn. 130 zu § 66 StGB); Stree (2001: Rn. 40 zu § 66 StGB); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 21 zu § 66 StGB). Gleichwohl ablehnend Neu (1976: 64 ff.) und Weihrauch (1970: 1899), die das Wortlautargument nicht für zwingend halten. 71 In dieser Richtung auch Lackner (2001: Rn. 14 zu § 66 StGB); für § 66 III StGB von Harbou (1999: 92). 72 BGH, Urteil vom 18. Mai 1971 – 4 StR 100 / 71 (= BGHSt 24, 153, 154); OLG Köln, Beschluß vom 16. Oktober 1970 – 2 Ws 724 / 70 (= MDR 1971, 154); OLG Nürnberg, Beschluß vom 3. März 1971 – Ws 71 / 71 (= NJW 1971, 1573); Neu (1976: 107 ff.); Zipf (1989: 678).
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einem Jahr Freiheitsstrafe, die das Gesetz für die Berücksichtigung von Vorverurteilungen nennt, als absolutes Mindestmaß für den konkreten Unrechtsgehalt einer Anlaßtat heranzuziehen. 73 Dabei taucht zwar die Schwierigkeit auf, daß eine konkrete Sanktionsprognose gestellt werden muß, die von zahlreichen Unwägbarkeiten abhängt.74 Aber es gibt Fälle, in denen das Gesetz eine solche Sanktionsprognose ausdrücklich fordert – so bei der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr (§ 112a I StPO) – oder sich zumindest die Gerichte an einer solchen orientieren, wie etwa bei der Auslegung der Generalklausel für die notwendige Verteidigung (§ 140 II 1 StPO). Zudem geht es nur um die Eingrenzung eines Deliktsbereichs, für den die Sicherungsverwahrung von vornherein ausgeschlossen werden soll. Deshalb wird sogar vorgeschlagen, das Mindestmaß der zu erwartenden Strafe auf zwei Jahre zu erhöhen.75 Unabhängig von der konkreten Bestimmung einer solchen Grenze sollte sie nicht dadurch unterlaufen werden, daß man den Unrechtsgehalt einer langen Serie von Bagatelldelikten kumuliert. Darüber hinaus werden in der Literatur verschiedene Deliktskategorien vorgeschlagen, welche die Erheblichkeitsschwelle für eine Sicherungsverwahrung generell unterschreiten sollen. Ein Ansatz dafür findet sich zunächst in den Regelbeispielen des § 66 I Nr. 3 StGB, die eine schadensbezogene Betrachtung fordern. Stellt man diese Betrachtungsweise in den Vordergrund, so liegt es nahe, Delikte ohne individuelle Tatopfer für eine Gefährlichkeitsprognose nicht ausreichen zu lassen. Das wird meist anhand von Beispielen aus dem Bereich der Sexualdelikte vor der Strafrechtsreform, der Staatsschutz- oder Geldfälschungsdelikte diskutiert76, wobei sich immerhin eine Linie zu dem kriminologischen Konzept opferloser Delikte ziehen läßt.77 Das gilt auch für Verstöße gegen das Betäubungsmittelstrafrecht, die sich auf den Eigenkonsum illegaler Drogen durch die verurteilte Person beschränken oder damit eng verbunden sind.78 Eine Schwierigkeit liegt darin, daß der Gesetzestext auch solche künftigen Taten nicht ausdrücklich als unerheblich einstuft. Andererseits sollte man mit dem Versuch einer deliktsspezifischen Eingrenzung der Sicherungsverwahrung nicht bei den genannten Tatbeständen stehen bleiben. Deshalb wird im folgenden ein empirischer Zugang gewählt, der von den Deliktsgruppen ausgeht, die für die Maßregel in der Praxis der Kriminaljustiz hauptsächlich von Bedeutung sind.79 73 Hanack (1991: Rn. 109 zu § 66 StGB) will das zumindest „regelmäßig“ gelten lassen; so wohl auch Stree (2001: Rn. 39 zu § 66 StGB). 74 Daher wendet sich Weihrauch (1968: 121 f.) gegen dieses Kriterium. 75 Frisch (1990: 386); Scheuble (1996: 150 ff.). 76 Für einen Ausschluß solcher Delikte von Harbou (1999: 27), Steinhilper (1971: 75 ff.) und Weihrauch (1968: 87); ablehnend Scheuble (1996: 98 ff.). 77 Schur (1965); das deutet auch Weihrauch (1968: 86 f.) an. 78 Hier will die Rechtsprechung eine Sicherungsverwahrung auch kumulativ mit der Unterbringung nach § 64 StGB anordnen; siehe BGH, Urteil vom 27. Juli 2000 – 1 StR 263 / 00 (= NJW 2000, 3015 f.). Ablehnend gegenüber dieser Entscheidung Neubacher (2001). 79 Siehe sogleich Kapitel 15 C. I. (S. 309 ff.).
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Eine weitere Kategorie, welche gelegentlich in diesem Zusammenhang in Betracht gezogen wird, ist die der Unterlassungsdelikte. Teilweise wird vertreten, daß die Erwartung solcher Delikte für eine Sicherungsverwahrung nicht ausreichen soll.80 Diese Frage ist hier ebenso zu beantworten wie für die Unterbringung in der Psychiatrie: auch die Befürchtung von Unterlassungsdelikten kann eine freiheitsentziehende Maßregel begründen. Geht es dagegen ausschließlich um eine Prognose grob unverständiger Versuche, so ist keine Gefährlichkeit anzunehmen, zumal schon die Regelbeispiele nach § 66 I Nr. 3 StGB dann kaum erfüllt sein werden. Fahrlässigkeitsdelikte, die prinzipiell eine psychiatrische Unterbringung rechtfertigen können81, erfüllen nicht einmal die formellen Voraussetzungen einer Sicherungsverwahrung.82 Aus diesem Grund sind zu befürchtende Fahrlässigkeitsdelikte bei dieser Maßregel nicht als erheblich anzusehen. Daß der Wortlaut des neuen § 66 III StGB den fahrlässigen Vollrausch als Katalogdelikt nicht ausdrücklich ausschließt, rechtfertigt keine andere Beurteilung.83
C. Empirische Forschungsergebnisse Trotz der nicht abreißenden kriminalpolitischen Diskussion um die Sicherungsverwahrung und ihrer Funktion als letztes Mittel des Sanktionenrechts liegen für die Zeit seit der Strafrechtsreform nur spärliche empirische Forschungsergebnisse vor. Da ältere Untersuchungen für die Gegenwart nur noch geringe Aussagekraft beanspruchen können84, werden sie im folgenden lediglich zu einzelnen Vergleichen herangezogen. Die folgende Darstellung stützt sich im wesentlichen auf zwei Untersuchungen. Die Studie von Jörg Kinzig bezieht sich auf 318 Strafverfahrens- und Vollstreckungsakten von Verurteilten, gegen die in den Jahren 1981 bis 1990 in BadenWürttemberg, Bayern oder Nordrhein-Westfalen die Sicherungsverwahrung verhängt wurde oder die sich dort zu einem Stichtag im Jahr 1993 noch im Vollzug der Maßregel befanden. Damit liegt eine fast vollständige Gesamterhebung für drei bevölkerungsreiche westliche Bundesländer vor. Als Kontrollgruppe wurde eine Aktenanalyse von 183 Verfahren wegen Raub- oder sexueller Gewaltdelikte der Verurteilungsjahrgänge 1988 bis 1990 in denselben Bundesländern herangezogen, in denen die „formellen“ Voraussetzungen des § 66 I StGB vorlagen.85 80 Scheuble (1996: 101) bezieht sich auf die Beispiele, die überwiegend für die psychiatrische Unterbringung diskutiert werden. Siehe dazu bereits Kapitel 13 B. IV. (S. 222 ff.). 81 Kapitel 13 B. IV. (S. 222). 82 Kapitel 15 A. (S. 295 f.). 83 von Harbou (1999: 33). Tröndle / Fischer (2003: Rn. 11 zu § 66 StGB) sprechen in diesem Zusammenhang von einer unverhältnismäßigen Gesetzgebung; Stree (2001: Rn. 59 zu § 66 StGB) plädiert für eine teleologische Reduktion auf den vorsätzlichen Vollrausch. 84 Siehe als zusammenfassenden Überblick Kinzig (1996: 129 ff.). 85 Kinzig (1996: 157 ff.).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Schmaler angelegt ist die Untersuchung von Johannes Kern, die auf einer Auswertung der Gefangenenpersonalakten aller 49 Verurteilten beruht, welche 1994 in der Justizvollzugsanstalt Bruchsal einsaßen und zu Sicherungsverwahrung verurteilt waren.86 Diese Anstalt ist nach dem Vollstreckungsplan des Landes BadenWürttemberg für den Vollzug der Freiheitsstrafe vor einer Sicherungsverwahrung, nicht aber für den Vollzug der Maßregel selbst zuständig; daher befinden sich in der Untersuchungsgruppe von Kern nur sechs Sicherungsverwahrte, die unter Verzicht auf die Vergünstigungen aus §§ 129 ff. StVollzG nach Verbüßung der Strafe in Bruchsal geblieben waren. Trotz der absolut gesehen kleinen Untersuchungsgruppe erfaßt die Studie jedoch rund zwei Drittel der Verurteilten in diesem Bundesland, gegen die eine Sicherungsverwahrung verhängt war.
I. Unterbringungsdelikte bei § 66 StGB Kinzig wählt für die Darstellung der Unterbringungsdelikte eine Einteilung in sieben Deliktsgruppen. In seiner Untersuchungsgruppe stehen danach Sexualdelikte als Anlaß der Sicherungsverwahrung mit einem Anteil von 34 % im Vordergrund, gefolgt von Raubdelikten (27 %), Eigentumsdelikten ohne Gewalt gegen Personen (15 %) sowie Tötungsdelikten (13 %). Im übrigen geht es um Brandstiftungsdelikte, Drogendelikte, Geldfälschung und Steuerdelikte.87 In der vollzugsorientierten Studie von Kern findet sich mit einer charakteristischen Abweichung eine weitgehend übereinstimmende Deliktsverteilung: unter den Verurteilten aus Bruchsal wurde die Sicherungsverwahrung bei 37 % wegen eines Sexualdelikts und bei 21 % wegen eines Raubdelikts angeordnet. Allerdings finden sich Tötungsdelikte mit 21 % genau so häufig wie Raubdelikte, während lediglich zwei Verurteilte (4 %) wegen Einbruchsdiebstahls einsaßen.88 Damit liegt der Anteil der Tötungsdelikte in der vollzugsorientierten Studie aus Bruchsal höher als in der umfangreicheren Untersuchungsgruppe von Kinzig, die in erster Linie über die Anordnungsentscheidung gebildet wurde. Umgekehrt sind die Sicherungsmaßregeln wegen Diebstahls in Bruchsal fast zu vernachlässigen, während auf sie unter den Anordnungen aus den 1980er Jahren noch 15 % entfallen. Bei diesem Bedeutungsverlust der bloßen Eigentumsdelikte dürfte es sich nicht um eine regionale Besonderheit des Strafvollzugs in Baden-Württemberg handeln. Eine differenzierte Analyse der Anordnungsjahrgänge spricht vielmehr dafür, daß der Anteil der Eigentumsdelikte mit der Zeit deutlich abgenommen hat, während der Anteil der Raubdelikte immer bedeutender wurde.89 In älteren empi86 J. Kern (1997: 29 f.). Ein großer Teil dieser Probanden dürfte auch zu der Untersuchungsgruppe von Kinzig gehören. 87 Kinzig (1996: 166 ff.). 88 J. Kern (1997: 33 f.). Um den Vergleich zu vereinfachen, wird hier trotz der kleinen Untersuchungsgruppe prozentuiert. 89 Kinzig (1996: 171).
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rischen Untersuchungen zur Praxis vor der Strafrechtsreform entfällt noch über die Hälfte der Fälle auf einfachen und schweren Diebstahl.90
II. Unterbringungsentscheidungen bei § 66 StGB Die Sanktionsvorschrift des § 66 StGB nimmt auf die Frage der Schuldfähigkeit nur indirekt Bezug; wie eine Strafe kommt diese Maßregel bei Schuldunfähigkeit zum Tatzeitpunkt nicht in Betracht. Das schließt es nicht aus, daß die verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) eine gewisse Rolle spielt: in der Untersuchungsgruppe von Kinzig wird diese Strafzumessungsnorm in immerhin einem Sechstel der Fälle relevant, bei Tötungsdelikten sogar in jedem zweiten Fall. Auch in der Kontrollgruppe mit Verfahren wegen Sexual- und Raubdelikten, in denen die formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung vorlagen, nehmen die Gerichte in knapp der Hälfte der Fälle eine verminderte Schuldfähigkeit an. Dagegen überrascht es, daß in einzelnen Verfahren mit Sicherungsverwahrung – offenbar wegen weiterer Taten – Schuldunfähigkeit im Sinne des § 20 StGB angenommen wird.91 Die verhängten Freiheitsstrafen betragen in den Verfahren mit anschließend zu vollstreckender Sicherungsverwahrung durchschnittlich 89 Monate, also knapp 7 1/2 Jahre, wobei vergleichsweise kurze Strafen nicht nur bei Eigentums- und Vermögensdelikten vorkommen, sondern auch bei Sexualdelikten. Vor allem in der zuletzt genannten Deliktsgruppe erblickt die Justizpraxis möglicherweise ein besonderes Sicherungsbedürfnis auch dann, wenn die Deliktsqualität keine längere Strafe rechtfertigt.92 Während in der Untersuchung zum Justizvollzug in Bruchsal eine noch längere durchschnittliche Strafdauer von etwas mehr als 8 1/2 Jahren ermittelt wurde93, liegen die verhängten Freiheitsstrafen nach den älteren Studien durchweg wesentlich niedriger.94 Zudem kommt in jeweils rund 2 % der Verfahren mit Sicherungsverwahrung eine weitere freiheitsentziehende Maßregel nach § 63 oder § 64 StGB hinzu. In der Kontrollgruppe erweisen sich andere Maßregeln in gewissem Umfang als Alternativen zu einer Sicherungsverwahrung: in diesen Verfahren belaufen sich die Anteile der Unterbringung in der Psychiatrie oder zur Suchtbehandlung auf immerhin 9 bis 11 %, und in 5 % der Verfahren wird durch das Gericht die Führungsaufsicht angeordnet (§§ 68 I, 181b, 256 I StGB).95 90 Binnewies (1970: 141 ff.): 57% bei Sicherungsverwahrten aus der JVA Celle; Engelhardt (1964: 10); Schachert (1963: 94 f.): 56% bei Sicherungsverwahrten aus Niedersachsen. 91 Kinzig (1996: 274 f.). Die letztgenannten Fälle des § 20 StGB werden dort nicht eingehend betrachtet, so daß über die Plausibilität dieser Urteile keine Aussage möglich ist. 92 Kinzig (1996: 247 f.); lebenslange Freiheitsstrafen sind dabei nicht berücksichtigt. 93 J. Kern (1997: 44) klammert für diese Berechnung ebenfalls eine lebenslange Freiheitsstrafe aus. 94 Binnewies (1970: 145 f.): 4,2 Jahre; Engelhardt (1964: 25): 4 Jahre; Schachert (1963: 98): 3,7 Jahre.
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III. Merkmale der Verurteilten bei der Unterbringung nach § 66 StGB Bei den Personen, gegen die eine Sicherungsverwahrung verhängt wird, handelt es sich fast ausschließlich um Männer; in der Untersuchungsgruppe von Kinzig finden sich nur zwei Frauen, die beide wegen Vermögensdelikten verurteilt wurden.96 Lediglich ein Drittel der Verurteilten war zum Tatzeitpunkt verheiratet oder lebte in einer festen Beziehung. Über die Hälfte hatte keine Berufsausbildung, fast drei Viertel waren zum Zeitpunkt der Tat arbeitslos.97 Schon nach den gesetzlichen Voraussetzungen dieser Maßregel ist damit zu rechnen, daß die Verurteilten eine hohe strafrechtliche Vorbelastung aufweisen. Durchschnittlich waren bereits elf Vorstrafen verhängt worden; am höchsten liegt dieser Wert bei Eigentumsdelikten als Anlaß der Sicherungsverwahrung mit durchschnittlich 13,6 früheren Verurteilungen zu einer Strafe. Dem entspricht eine beträchtliche Dauer früherer Aufenthalte im Strafvollzug: sie belief sich im Mittel auf zwölf Jahre, in der Gruppe der Diebstahlstäter überstieg der Mittelwert 15 Jahre. Hinzu kommen Vorunterbringungen von durchschnittlich neun Monaten im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel, meist einer früheren Sicherungsverwahrung.98 IV. Legalbewährung Die Legalbewährung von Verurteilten, gegen welche die Sicherungsverwahrung verhängt wurde, steht nicht im Vordergrund der neueren empirischen Forschung. Während sich die vollzugsbezogene Untersuchung von Kern ausschließlich mit Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten befaßt, die sich noch im Vollzug befinden, ermöglicht die umfassendere Studie von Kinzig immerhin einen Blick auf die Widerrufspraxis der Strafvollstreckungskammern. Nachträgliche Aussetzungen der Sicherungsverwahrung während des Vollstreckungsverfahrens können am Ende des Strafvollzugs vor Beginn des Vollzugs der Sicherungsverwahrung (§ 67c I StGB) oder nach einem Aufenthalt im Vollzug der Maßregel (§ 67d II StGB) erfolgen. Von 35 Aussetzungen nach § 67c I StGB wurden 13 widerrufen, darunter acht wegen neuer Straftaten, und bei den 51 Aussetzungen nach § 67d II StGB waren 19 Widerrufe – alle zumindest auch wegen erneuter Straftaten – zu verzeichnen. Damit werden die Untersuchungsgruppen schon wegen der restriktiven AussetKinzig (1996: 252). Vollzugsbezogene Studien zur Sicherungsverwahrung beschränken sich schon aus forschungspraktischen Gründen auf männliche Verurteilte; siehe etwa Binnewies (1970: 7) und J. Kern (1997: 29). 97 Kinzig (1996: 173 f., 188 ff.). Nach J. Kern (1997: 102) ergibt sich trotz ähnlich schlechter beruflicher Qualifikation ein höherer Anteil erwerbstätiger Personen. 98 Kinzig (1996: 207 ff., 227 ff.). In der Untersuchung von J. Kern (1997: 92 ff.) liegen die strafrechtliche Vorbelastung und die durchschnittliche Vollzugserfahrung etwas niedriger. 95 96
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zungspraxis recht klein; die Konzeption dieser Untersuchung führt weiter dazu, daß der Beobachtungszeitraum variiert und im Durchschnitt die Dauer von 2 1/2 Jahren nicht übersteigt.99 Studien mit ausgedehnteren Beobachtungszeiträumen zeigen jedoch, daß schwere Delikte in manchen Fällen erst längere Zeit nach der Entlassung vorkommen. So läßt sich der Katamnese eigener externer Gutachten eines bayerischen forensischen Psychiaters entnehmen, daß von sieben entlassenen Sicherungsverwahrten in dieser Untersuchungsgruppe drei mit irgendeinem weiteren Delikt rückfällig wurden; bei einer Beschränkung auf die Personen, die schon mindestens zwei Jahre in Freiheit waren, ergab sich allerdings, daß sie alle wegen mindestens einer neuen Straftat verurteilt wurden.100 Andererseits ist hier erneut darauf hinzuweisen, daß die Berücksichtigung beliebiger erneuter Verstöße gegen das Strafrecht zu einer Überschätzung der Gefährlichkeit verurteilter Straftäter führt: unter diesen neuen Delikten finden sich Diebstähle, die trotz der erheblichen Vorbelastung der Täter lediglich zu einer Geldstrafe führen, ebenso häufig wie qualifizierte Raubdelikte.101 Darüber hinaus ermöglicht eine solche Studie keine Schlüsse auf das Verhalten von Verurteilten mit Sicherungsverwahrung, die vor ihrer Entlassung von anderen Sachverständigen oder – vor Inkrafttreten der zwingenden Begutachtung nach §§ 463 III 3, 454 II StPO – überhaupt nicht begutachtet wurden. Ältere Legalbewährungsstudien zur Sicherungsverwahrung102 sind aber trotz größerer Untersuchungsgruppen nicht aussagekräftiger, da sich nicht nur die Tätergruppen anders zusammensetzen, sondern auch mit einer Veränderung der Entlassungspraxis zu rechnen ist.103
V. Ausgewählte Studien zur Gefährlichkeit nach langfristigen Freiheitsentziehungen und bei schwerer Kriminalität Über die empirischen Studien hinaus, die sich unmittelbar auf die Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB beziehen, kommen für die Beurteilung der Gefährlichkeit der durch diese Maßregel erfaßten Klientel einerseits solche Untersuchungen in Betracht, die sich mit den Folgen lebenslanger und langer zeitiger Freiheitsstrafen beschäftigen. Damit ist nicht gesagt, daß Strafgefangene, die lange Freiheitsstrafen verbüßen, ausnahmslos als „gefährlich“ zu betrachten seien.104 Eine solche Strafe wird in vielen Fällen nichts weiter sein als die Folge der Schwere der Schuld bei der begangenen Tat. Dennoch tritt der Gesichtspunkt der Sicherung im Kinzig (1996: 435 ff.). Bischof (2000: 354). 101 Bischof (2000: 356). 102 Binnewies (1970: 171 ff.); Engelhardt (1964: 24); Schachert (1963: 122 ff.). 103 Zu den methodischen Schwierigkeiten von Vergleichen zwischen Legalbewährungsstudien bereits Kapitel 13 C. V. (S. 233 ff.). 104 Gegen diese Annahme zu Recht Dünkel / van Zyl Smit (1995: 120). 99
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Vollzug langer Strafen stärker in den Vordergrund, wie die Strafvollzugspraxis zeigt. Daneben ist an Forschungen über bestimmte Tätergruppen zu denken, die nicht in erster Linie an der Verhängung bestimmter kriminalrechtlicher Sanktionen anknüpfen. Im Hinblick auf die neuere Praxis der Sicherungsverwahrung bietet es sich an, den Überblick auf Gewalt- und Sexualtäter zu konzentrieren, wobei vor allem solche Personen interessieren, die wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit häufig als „Intensivtäter“ bezeichnet werden.105 Die empirischen Untersuchungen über die lebenslange Freiheitsstrafe in Deutschland wurden meist im Zusammenhang mit der Strafrechtsreformdiskussion der 1970er Jahre durchgeführt. So erfaßt eine dieser Studien alle in Niedersachsen seit Ende des 2. Weltkriegs zu lebenslanger Freiheitsstrafe (oder zum Tod mit anschließender Begnadigung) verurteilten männlichen Strafgefangenen, die bis Herbst 1973 nach einer Haftdauer von 7 – 27 Jahren begnadigt und entlassen wurden. Dabei wird auch die Legalbewährung untersucht: während des Beobachtungszeitraums von mindestens drei Jahren wurden unter den 81 männlichen Verurteilten nur acht erneut zu irgendeiner Strafe oder Maßregel verurteilt, von den aus lebenslanger Haft entlassenen 14 Frauen im übrigen keine einzige. Zudem bezogen sich die neuen Verurteilungen nur bei fünf Personen auf Taten, die erneut zu einer Freiheitsentziehung führten; darunter befanden sich allerdings auch zwei Tötungsdelikte.106 Damit ergibt sich für diese Extremgruppe im Vergleich zu sonstigen Rückfallstudien aus dem Strafvollzug eine sehr hohe Legalbewährungsquote. Eine andere Studie bestätigt dieses Ergebnis anhand einer umfangreicheren Untersuchungsgruppe aller in der Bundesrepublik bis 1975 aus lebenslanger Haft entlassenen Strafgefangenen.107 Die umfangreichste ältere europäische Studie zur Legalbewährung bei lebenslanger Freiheitsstrafe stammt aus Finnland; es handelt sich um eine Gesamterhebung aller 482 Männer und 60 Frauen, welche zwischen 1929 und 1958 im Strafvollzug waren. 11 der Männer aus dieser Gruppe begingen während der Haft oder im Zusammenhang mit einem Fluchtversuch erneute Tötungsdelikte. Die meisten Analysen beschränken sich auf die Verurteilten, deren Delikte aus der Sicht der Forschungsgruppe nicht durch eine besondere Ausnahmesituation gekennzeichnet waren; das sind 401 männliche und 47 weibliche Verurteilte.108 Die Hälfte dieser Verurteilten wurde bis zum 13. Jahr nach Strafantritt aus der Haft entlassen, Frauen deutlich früher als Männer. Innerhalb eines Beobachtungszeitraums von zehn Jahren wurden 24 % – darunter nur eine Frau – seit der Entlassung erneut zu einer Freiheitsstrafe verurteilt; diese Rückfallquote stieg bei Verlängerung des ZeitinterKaiser (1993). P.-A. Albrecht (1977: 164 ff.). 107 H.-M. Weber (1999: 173 f.) beschränkt sich – auf der Datengrundlage von Rode / Scheld (1986: 40 f.) – allerdings auf Rückfälle mit vorsätzlichen Tötungsdelikten. 108 Anttila / Westling (1965: 14 f.) meinen damit Delikte, die nicht politisch oder sexuell motiviert waren, nicht während des Bürgerkriegs von 1918 begangen wurden und nicht in der Ermordung von Kriegsgefangenen bestanden. 105 106
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valls nur noch unwesentlich an. Rund die Hälfte der neuen Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe bezog sich auf ein Gewaltdelikt. Erhöhte Rückfallquoten fanden sich bei mehrfacher Verbüßung von Freiheitsstrafen und bei besonders langer Vollzugsdauer der lebenslangen Strafe.109 Eine neue britische Untersuchung bezieht sich auf alle Strafgefangenen, die in England und Wales zwischen 1972 und 1994 aus lebenslanger Haft – die in der überwiegenden Mehrheit der Fälle wegen eines Tötungsdelikts verhängt worden war – zur Bewährung entlassen wurden.110 Innerhalb von zwei Jahren seit der Entlassung wurden etwa 9 % erneut wegen irgendeines Delikts111 verurteilt; erweitert man den Beobachtungszeitraum auf fünf Jahre, so sind es nahezu 20% neue Verurteilungen. Allerdings ist diese allgemeine Rückfallrate zur Beurteilung der weiteren Gefährlichkeit dieser Gruppe wenig aussagekräftig, denn fast die Hälfte der neuen Delikte entfiel auf Diebstahl und Hehlerei. Konzentriert man sich auf Gewaltdelikte einschließlich aller Formen der Brandstiftung, so lag die Rückfallquote bei lediglich 4 %. Demgegenüber zeigten sich für die Strafentlassenen insgesamt nach Daten der offiziellen Statistik wesentlich ungünstigere Werte; beispielsweise erreichte die allgemeine Rückfallquote männlicher Strafgefangener, die zwischen 1983 und 1992 in England und Wales entlassen wurden, fast den Wert von 50 %.112 Eine aktuelle Studie aus Kanada vergleicht die Verläufe der Legalbewährung bei lebenslangen und sonstigen unbestimmten Freiheitsstrafen, langen zeitigen Freiheitsstrafen von mindestens zehn Jahren und kürzeren Freiheitsstrafen unter zehn Jahren. Der Beobachtungszeitraum bewegte sich zwischen vier und sieben Jahren seit der Entlassung aus dem Strafvollzug. Dabei ergab sich, daß nach der Entlassung aus dem Vollzug einer unbestimmten Freiheitsstrafe 27 % der ehemaligen Strafgefangenen, die zum größten Teil wegen Tötungsdelikten inhaftiert waren, wegen einer neuen Tat verurteilt wurden; bei den Personen, die eine zeitige Strafe verbüßt hatten, waren es rund 40 %. Die höchste Rückfallgeschwindigkeit wurde bei den Verurteilten mit kürzeren Freiheitsstrafen unter zehn Jahren ermittelt. Eine Verurteilung wegen eines Gewaltdelikts folgte auf 11 % der Entlassungen aus dem Vollzug einer unbestimmten, aber auf 20 % der Entlassungen aus einer bestimmten Strafe.113 Damit zeigen sich auch in dieser Untersuchung deutlich bessere Legalbewährungsquoten nach lebenslangen Freiheitsstrafen. Welche Einflüsse etwa verschiedener soziodemographischer Merkmale der Verurteilten sich dabei auswirken, bleibt allerdings offen. Anttila / Westling (1965: 19, 26 ff.). Kershaw et al. (1997). 111 Genauer geht es um Delikte der „standard list“ zur britischen Kriminalstatistik. Dazu zählen alle Delikte, für die zwingend oder fakultativ der Crown Court zuständig ist, und gewisse leichtere summary offences, die in die Zuständigkeit eines Magistrates’ Courts fallen, darunter etwa einfache Körperverletzung (common assault) oder Kindesmißhandlung. 112 Kershaw et al. (1997). 113 Johnson / Grant (2000). 109 110
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Diese Beiträge der empirischen Sanktionsforschung lassen sich durch Forschungsergebnisse über die Täter von Gewalt- und Sexualdelikten ergänzen. Eine der Schwierigkeiten dieser deliktsbezogenen Betrachtungsweise besteht darin, daß es jedenfalls im Hinblick auf Gewalttaten gegen Personen wenig Hinweise dafür gibt, daß sich viele Täter auf solche Delikte „spezialisieren“. Zwar zeigte die frühe Karriereforschung in den USA, daß eine kleine Gruppe „chronischer Täter“ nicht nur für einen großen Teil der von den Angehörigen eines Altersjahrgangs in Philadelphia begangenen Straftaten verantwortlich war, sondern auch für mehr als zwei Drittel der Gewaltdelikte.114 Allerdings ließ sich dieses Ergebnis für spätere Geburtskohorten nur teilweise replizieren. Zahlreiche Forschungen über verschiedene Generationen in mehreren Ländern stimmen darin überein, daß sich die Anzahl der vorkommenden Delikte ungleich verteilt. Die Bezeichnung „Gewalttäter“ ist insofern wenig aussagekräftig, als diese Täter meist auch zahlreiche gewaltlose Delikte begehen.115 So konnte in einer deutschen Untersuchung über Kriminalitätskarrieren von Verurteilten, die wegen Mordes eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßten, bei mindestens drei Vortaten nur teilweise ein Delinquenzschwerpunkt bestimmt werden, der überwiegend in den Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte fiel.116 Und nach einer Legalbewährungsstudie über Karrieretäter, die Anfang der 1970er im Berliner Strafvollzug einsaßen, besteht ein hohes Risiko einschlägiger Wiederverurteilungen im Sinne einer deliktsspezifischen Perseveranz nur bei Eigentums-, Vermögens- und Verkehrsdelikten, nicht aber bei Gewaltdelikten: nach Entlassung aus einer wegen Körperverletzung verhängten Freiheitsstrafe entfiel nur ein Drittel der erneuten Verurteilungen auf gleichartige Delikte, und bei Sexual-, Raub- und Tötungsdelikten waren die entsprechenden Anteile noch kleiner.117 Geht man umgekehrt von Personen aus, die bereits wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und prüft die Legalbewährung dieser Gruppe nach ihrer Haftentlassung, so lassen sich die bereits für die lebenslange Freiheitsstrafe dargestellten Forschungsergebnisse ergänzen. Für die in der Bundesrepublik in den Jahren 1968 bis 1974 wegen vorsätzlicher Tötung zu Freiheitsstrafe Verurteilten wurden bis 1982 lediglich 1,4 % neue Verurteilungen wegen eines solchen Delikts registriert.118 Aufgrund der vorhandenen Daten aus dieser Untersuchung ist allerdings nicht feststellbar, wie häufig Verurteilungen wegen anderer Gewaltdelikte erfolgten. Dieser Einwand gilt auch gegenüber einer Studie aus Finnland, deren Erkenntnisinteresse sich hauptsächlich auf Zusammenhänge psychischer Störungen mit 114 Wolfgang et al. (1972: 69, 88, 102) und eigene Berechnungen nach den dort angegebenen absoluten Zahlen. 115 Zusammenfassend Farrington (1997: 374 f., 380); übereinstimmend aus der deutschen Forschung H.-J. Albrecht (1982: 89). 116 Wulf (1979: 168 ff.). 117 Dünkel / Geng (1994: 52 ff.). 118 H.-M. Weber (1999: 175 f.).
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wiederholten Tötungsdelikten richtete. Sie beruhte im wesentlichen auf rund 1.100 psychiatrischen Begutachtungen, die in den Jahren 1981 bis 1993 in den Strafverfahren wegen mehr als zwei Dritteln der von der Polizei registrierten vorsätzlichen Tötungsdelikte erstellt wurden. In dieser Untersuchungsgruppe fanden sich 36 Rückfalltäter (3,3 %); damit war die Wahrscheinlichkeit eines solchen Delikts in dieser Population gegenüber der männlichen Bevölkerung insgesamt um den Faktor 10 erhöht. Eine weitere Erhöhung wurde für die Diagnosen einer Alkoholproblematik oder einer Schizophrenie festgestellt.119 Eine Untersuchung aus den USA versuchte, Kriminalitätskarrieren von Gewalttätern nachzuzeichnen. Dazu wurden Zufallsstichproben der zwischen 1950 und 1976 in der Stadt Columbus (Ohio) von der Polizei unter dem Verdacht eines Tötungs-, Körperverletzungs-, Raub- oder Vergewaltigungsdelikts festgenommenen Männer gezogen.120 Wie sich herausstellte, waren die Beschuldigten durchschnittlich insgesamt achtmal festgenommen worden, rund drei Viertel auch schon zuvor wegen eines Gewaltdelikts. Andererseits bezogen sich diese Strafverfahren in der überwiegenden Mehrzahl der Personen auf ein breiteres Spektrum an Tatvorwürfen (einschließlich solcher, die in Deutschland bestenfalls als Ordnungswidrigkeit oder überhaupt nicht verfolgt werden könnten). Eine „Spezialisierung“ auf Gewaltdelikte in dem Sinne, daß alle Verhaftungen wegen eines diesbezüglichen Verdachts erfolgten, ließ sich nur bei einer Minderheit von 7 % feststellen. Im übrigen war selbst in diesen Fällen keineswegs gesichert, daß es sich um gravierende Delikte handelte. Nur bei der Hälfte aller registrierten Festnahmen kam es nach den polizeilichen Datensammlungen zu einer Verurteilung, wobei 28% der Datensätze keine Angabe über die getroffene Abschlußentscheidung enthielten.121 Was die Bezugsdelikte betrifft, wurde bei 35 % eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verhängt, in weiteren 12 % wurde eine kürzere nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe ausgesprochen, und in 29 % wurde das Verfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt, ohne daß sich die Gründe im einzelnen nachvollziehen ließen.122 Diese Untersuchung zeigt, daß Gewaltdelikte häufig mit anderen Delikten einhergehen. Eine zielgenaue präventive Sanktionierung künftig „gefährlicher“ Täter ist schon aus diesem Grund kaum zu erwarten. Das läßt sich auch aus den Ergebnissen weiterer Forschungsprojekte aus den USA zur Bedeutung verschiedener Deliktsgruppen in Kriminalitätskarrieren schließen. Diese Untersuchungen konnten sich auf große Stichproben von Beschuldigten stützen, die Mitte der 1970er Jahre in den Großstädten Detroit und Washington (D.C.) von der Polizei festgenommen wurden. Sie wiesen damit einen ähnlichen Zugang wie die Untersuchung aus Ohio auf, erweiterten die Spannweite der Bezugsdelikte aber noch 119 120 121 122
Eronen et al. (1996). Miller et al. (1982: 17 ff.). Miller et al. (1982: 37 ff., 59 ff.). Eigene Berechnung nach den Angaben bei Miller et al. (1982: 50).
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um Einbruchs- und Autodiebstahl.123 Auch hier entfielen mit 26 – 36 % große Anteile aller im Längsschnitt betrachteten Festnahmen auf leichte Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, auf Gewaltdelikte dagegen je nach Stichprobe nur 13 – 29 % der übrigen Verfahren. Soweit eine Spezialisierung auf Deliktskategorien festgestellt werden konnte, war diese bei Tötungs-, Waffen- und Vergewaltigungsdelikten am geringsten ausgeprägt.124 Untersuchungen zur Legalbewährung bei Gewaltdelikten sind – abgesehen von den Studien über Tötungsdelikte – bemerkenswert selten; meist konzentriert sich die empirische Sanktionsforschung auf die Folgen bestimmter Interventionen der Kriminaljustiz und betrachtet alle in einem definierten Zeitraum betroffenen Verurteilten, von denen nur ein kleiner Anteil Gewaltdelikte begangen hat. Die bereits erwähnte Studie über Karrieretäter aus dem Berliner Strafvollzug ermittelte deliktsspezifisch besonders hohe Rückkehrquoten in den Strafvollzug für die Probanden, die zwischen 1971 und 1974 wegen Eigentums- und Verkehrsdelikten eingesessen hatten, geringere bei einer früheren Verurteilung wegen Körperverletzung oder Sexualdelikten.125 Eine Rückfallstudie zum Erwachsenenstrafvollzug bei rund 1.100 Strafgefangenen, die das Einweisungsverfahren in NordrheinWestfalen durchlaufen hatten und im Jahr 1975 entlassen wurden, ergab bei Gewalt- und Sexualdelikten mit 59 % erneuten Verurteilungen eine geringere Rückfallquote als für die Grundgesamtheit (66 %). Noch deutlicher fällt die Differenz aus, wenn man die einschlägige Rückfälligkeit betrachtet: diese betrug im Hinblick auf ein weiteres Gewaltdelikt 40 %, in der gesamten Entlassungskohorte dagegen 70 %. Am günstigsten fiel die Legalbewährung mit 46 % erneuten und 28 % einschlägigen Verurteilungen für die enger begrenzte Gruppe der Sexualstraftäter aus.126 Ergebnisse über die Legalbewährung bei Gewalt- und Sexualdelikten im Verhältnis zu anderen Deliktsgruppen lassen sich weiter einer britischen Studie entnehmen, die auf einen Vergleich vollzogener Freiheitsstrafen mit ambulanten Sanktionen angelegt ist. Danach wurde von den Strafgefangenen in England und Wales, die wegen Gewalttaten gegen Personen verurteilt waren und 1995 entlassen wurden, innerhalb von zwei Jahren zwar knapp die Hälfte erneut verurteilt. Doch entfielen nur 13 % der Rückfalldelikte auf erneute Gewalttaten. Eine besonders günstige Legalbewährung ergab sich für Sexualstraftäter, von denen lediglich 18 % erneut wegen eines beliebigen Delikts – darunter nur in jedem 10. Fall wegen eines neuen Sexualdelikts – verurteilt wurden.127 Der Beobachtungszeitraum von zwei Jahren ist allerdings kürzer als in vielen anderen Untersuchungen, die sich auf die letztgenannte Tätergruppe konzentrieren. 123 124 125 126 127
Zusammenfassend Cohen (1986: 379). Cohen (1986: 380, 393). Dünkel / Geng (1994: 42). Baumann et al. (1983: 138 f.). Kershaw et al. (1999: 6 f., 20).
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Ähnlich angelegt ist eine weitere deutsche Untersuchung, die sich in erster Linie um eine systematische Erfassung des Rückfalls nach Verurteilungen zu Geldstrafe, ausgesetzter Freiheitsstrafe und Freiheitsstrafe ohne Bewährung bemüht, also ebenfalls der empirischen Sanktionsforschung zuzurechnen ist. Untersuchungsgruppe war eine Zufallsstichprobe der 1972 in Baden-Württemberg wegen Straßenverkehrs-, Eigentums- und Vermögensdelikten, Körperverletzung oder einiger Delikte des Nebenstrafrechts rechtskräftig verurteilten männlichen Erwachsenen; der Beobachtungszeitraum von fünf Jahren begann mit dem Datum der Rechtskraft.128 Für die 109 Bezugsverurteilungen wegen vorsätzlicher Körperverletzungsdelikte ergab sich bei 43 % mindestens eine Wiederverurteilung, davon knapp die Hälfte mit einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Obwohl dieser Prozentsatz gegenüber der Stichprobe insgesamt (31 % Wiederverurteilungen, meist zu Geldstrafe) erhöht war, dürfte damit ein großer Anteil leichter Taten erfaßt sein. Doch liegen die Rückfallquoten für Eigentums- und Vermögensdelikte, vor allem den schweren Diebstahl, deutlich höher. Vor allem fällt auf, daß sich weniger als ein Drittel der erneuten Verurteilungen nach dem Bezugsdelikt Körperverletzung auf ein Gewaltdelikt bezog; soweit Kriminalitätskarrieren vor und nach der Bezugsentscheidung verfolgt werden konnten, begingen nur 2% der Körperverletzungstäter ausschließlich Gewaltdelikte.129 Wesentlich ausgedehnter ist die empirische Forschung zur Legalbewährung von Sexualtätern. Eine deutsche katamnestische Untersuchung begutachteter männlicher Sexualstraftäter umfaßt alle 510 Beschuldigten der Jahrgänge 1915 – 45, über die zwischen 1945 und 1981 in Kiel ein sexualmedizinisches Gutachten erstellt wurde. Anlaß des Gutachtens war in 37 % der Fälle ein Strafverfahren wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern, bei 22 % wegen eines sexuellen Gewaltdelikts. Die Katamnese zur „Dissexualität“ der Probanden – gemeint ist Rückfälligkeit im Rahmen des Sexualstrafrechts – erfolgte mindestens zehn Jahre nach der ersten Begutachtung, wobei sowohl Selbstberichte wie auch Auszüge aus dem Bundeszentralregister erhoben wurden.130 Je nach Art des Delikts, das Anlaß der Begutachtung war, ergaben sich unterschiedlich hohe Rückfallquoten. Vergleichsweise hohe Anteile von Wiederholungstätern wiesen die Gruppen der Exhibitionisten (46 % mit erneuten Delikten) und bi- und homosexuell orientierten Pädophilen (51 %) auf, während die Rückfallquoten in den anderen Tätergruppen, auch bei Gewalttätern, niedriger ausfielen. So gaben von 60 Personen, die anläßlich des Verdachts der Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung begutachtet worden waren, 18 an, erneut ein Sexualdelikt begangen zu haben; bei den neuen Delikten, von denen nur jedes zweite zu einer Verurteilung führte, handelte es sich überwiegend um Vergewaltigungen, die ausnahmslos Jahre nach der Begutachtung vorkamen. Unter den Begutachteten, die im Ausgangsverfahren einer gewaltlosen Tat beschul128 129 130
H.-J. Albrecht (1982: 68). H.-J. Albrecht (1982: 78 ff.). Beier (1995: 15 ff.).
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digt worden waren, beging nur einer anschließend ein Delikt, das zumindest in die Nähe eines sexuellen Gewaltdelikts kommt; dabei handelte es sich um einen sexuellen Mißbrauch widerstandsunfähiger Personen (§ 179 StGB), während die frühere Begutachtung wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern erfolgt war.131 Der Vorzug mehrfacher umfangreicher qualitativer Untersuchungen im Rahmen der Begutachtung wird bei einer solchen Studie mit dem Nachteil erkauft, daß von vornherein nur solche Straftäter in das Blickfeld geraten, deren Begutachtung die Kriminaljustiz für geboten hält. Dabei wird es in aller Regel um die Fragen gehen, ob Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit vorliegen oder sogar die Anordnung einer kriminalrechtlichen Maßregel zu prüfen ist. Die Kriterien dafür ergeben sich zwar aus dem Gesetz und der – zumindest in Teilbereichen – recht umfangreichen Rechtsprechung. In welchen Fällen aber die Gerichte konkret zu der Option greifen, ein Gutachten in Auftrag geben, ist nicht ausgemacht und kaum erforscht. Man kann vermuten, daß vielfältige Auffälligkeiten der Tatbegehung oder der Person des Täters, wie sie in den Verfahrensakten geschildert werden, dafür eine Rolle spielen.132 Jedenfalls führt dieses Vorgehen zu einer Auslese von Fällen, die vermutlich wenig typisch sind für bekanntgewordene oder abgeurteilte Sexualdelikte insgesamt. Andere deutsche Studien sind eher quantitativ angelegt. Ein aktuelles Forschungsprojekt über Legalbewährung und kriminelle Karrieren von Sexualstraftätern stützt sich, soweit es hier von Interesse ist, im wesentlichen auf Aktenanalysen zu Strafverfahren wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern (§ 176 StGB) oder Gewaltdelikten (§§ 177, 178 StGB in der 1987 geltenden Fassung).133 Aufschlußreich ist zunächst die unterschiedlich hohe Legalbewährung nach einer Verurteilung wegen verschiedener Formen der Tatbegehung. Am günstigsten erscheint die Legalbewährung während eines Beobachtungszeitraums von sechs Jahren für sexuelle Handlungen gegenüber Kindern innerhalb des weit verstandenen familiären Umfelds mit einer Rückfallquote von 7% neuen Verurteilungen wegen eines Sexualdelikts. Bei sexuellem Mißbrauch mit Körperkontakt zu Kindern außerhalb der Familie wächst der Anteil einschlägiger neuer Delikte auf 20 %, bei exhibitionistischen Handlungen gegenüber Kindern auf rund die Hälfte der Verurteilten.134 Betrachtet man die Legalbewährung nach Verurteilungen wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern im Detail, so können 77 Personen einheitlich über sechs Jahre hinweg beobachtet werden, von denen 58 im Bezugsverfahren aber lediglich zu einer ambulanten Sanktion verurteilt wurden, wobei es sich überwiegend um Beier (1995: 73, 103 ff., 126 ff.). Beier (1995: 15) vermutet „auffällige Persönlichkeitszüge, bzw. maximal Persönlichkeitsstörungen – ohne klar umrissene signifikante Symptome, die sich eindeutig vom gesunden Seelenleben unterscheiden“. Weshalb diese Selektion jedoch – wie Beier meint – „den forensischen Alltag der Strafverfolgungsbehörden im Umgang mit Sexualstraftätern“ gut widerspiegeln soll, bleibt unerfindlich. 133 Ein Überblick bei Egg (2000). 134 Egg (2000: 20). 131 132
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Bewährungsstrafen handelte. Obwohl Gewaltanwendung in einzelnen Fällen festgestellt werden konnte, erscheint sie nicht als typische „Täterstrategie“. Von dieser Beobachtungsgruppe wurde knapp die Hälfte nicht erneut verurteilt, 31 % wurden mit anderen als Sexualdelikten und 22 % einschlägig rückfällig. Einzelne Täter begingen mehrfach Sexualdelikte, die mit körperlicher Gewalt verbunden waren. Soweit dagegen schon das Ausgangsdelikt die Voraussetzungen einer sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung erfüllte, begingen während des Beobachtungszeitraums von sechs Jahren 19 % der Verurteilten erneut ein Sexualdelikt, und zwar überwiegend erneut mit Gewaltanwendung, weitere 49 % andere Delikte.135 Eine aktuelle britische Untersuchung konzentriert sich auf Sexualstraftäter, die aus dem Strafvollzug entlassen wurden, wobei Untergruppen nicht nach den Delikten der Ausgangsverurteilung, sondern nach opferbezogenen Merkmalen gebildet wurden. Auch hier war es möglich, einen Teil der ursprünglichen Untersuchungsgruppe über ein Zeitintervall von bis zu sechs Jahren zu verfolgen. Der Anteil der Wiederverurteilungen nahm mit der Beobachtungszeit erwartungsgemäß zu: zwei Jahre nach der Entlassung waren 5 % wegen eines Sexual- oder Gewaltdelikts erneut inhaftiert, nach vier Jahren waren es 9 % und nach sechs Jahren 13 %. Vor allem bei Tätern mit Kindern bis zu 15 Jahren als Geschädigten unterschieden sich die Wiederverurteilungsraten danach, ob die Delikte ausschließlich innerhalb der Familie oder auch außerhalb begangen worden waren. Auf eine Ausgangsverteilung wegen Sexualdelikten gegen Kinder in der Familie folgte innerhalb von sechs Jahren keine einzige neue vollzogene Freiheitsstrafe wegen eines Sexual- oder Gewaltdelikts.136 Das Bild ist durch Studien auf der Grundlage wenig ausgelesener Untersuchungsgruppen mit langen Beobachtungszeiträumen zu ergänzen. Eine Untersuchung dieser Art bezieht sich auf alle 7.400 Männer, die nach dem Offenders Index im Jahr 1973 in England und Wales wegen eines Sexualdelikts verurteilt wurden; die Auswertung konzentriert sich auf die vier damals am häufigsten zu einer Verurteilung führenden Delikte sexuelle Belästigung einer Frau (indecent assault on a female), einverständliche homosexuelle Handlungen zwischen Männern, sexuelle Belästigung eines Manns und einverständlicher Geschlechtsverkehr mit einem Mädchen unter 16 Jahren. Für diese vier Delikte wurde untersucht, ob die Verurteilten während des Zeitraums zwischen 1963 und 1994 auch wegen anderer Taten straffällig wurden, wobei nicht wie sonst üblich zwischen strafrechtlicher Vorbelastung und Legalbewährung nach 1973 unterschieden wurde. Die Prävalenz irgendwelcher anderer Verurteilungen überschritt in der Gruppe „sexuelle Handlungen mit Mädchen unter 16“ einen Anteil von drei Vierteln (darunter 36% Urteile wegen Gewaltdelikten gegen Personen), während bei einverständlicher Homosexualität unter Männern lediglich 37 % auch wegen anderer Taten und 6 % wegen Gewaltdelikten gegen Personen verurteilt wurden. Betrachtet man lediglich 135 136
Elz (2001: 202 ff., 212 f.); Elz (2002: 216 ff.). Hood et al. (2002: 378 ff.).
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weitere Verurteilungen wegen Sexualdelikten, zeigte sich allerdings eine weitgehende Spezialisierung – außer in der Gruppe „homosexuelle Belästigung“. Der Anteil von Vergewaltigungsdelikten lag in den Deliktsgruppen mit einem heterosexuellen Hintergrund am höchsten, überstieg die Marke von 2 % aber nicht.137 Spätere Verurteilungen wegen Tötungsdelikten waren mit einem Anteil von weniger als 0,3 % zwar wahrscheinlicher als in der Wohnbevölkerung, aber immer noch extrem selten. Zudem wurde nur ein Drittel dieser Tötungsdelikte mit sexuellen Motiven in Verbindung gebracht.138 Der methodische Zuschnitt dieser Studie ist ungewöhnlich, weil retrospektive und prospektive Betrachtungsweise nicht getrennt, sondern Kriminalitätskarrieren insgesamt betrachtet werden. Die gewählte Datengrundlage des britischen Strafregisters erlaubte andererseits nicht die Ziehung einer vollkommen unausgelesenen Geburtskohorte. Diese Untersuchungsanlage dürfte die Aussagekraft im Hinblick auf die Prävalenz strafrechtlicher Verurteilungen allerdings nicht beeinträchtigen. Bedeutsamer erscheint der Einwand, daß die Wahl des Bezugsjahrs 1973 zwar eine langfristige Betrachtung ermöglicht, die Beschränkung auf die damals häufigsten Sexualdelikte jedoch zahlreiche Fälle einbezieht, deren Strafwürdigkeit aus heutiger Sicht nicht auf der Hand liegt. Nach der britischen Kriminalstatistik für das Jahr 1999 umfaßt die sexuelle Belästigung einer Frau zwar immer noch einen Anteil von deutlich mehr als der Hälfte aller gerichtlich verurteilten oder polizeilich sanktionierten Sexualstraftäter. Aber Vergewaltigungsdelikte erscheinen mit 12 % bereits an zweiter Stelle, während auf einverständliche homosexuelle Handlungen zwischen Männern nach einem dramatischen Rückgang der sanktionierten Fälle nur noch 3 % entfallen.139 Über die groß angelegten Einzelstudien hinaus gibt es verschiedene Versuche, die Fülle der Forschungsergebnisse über Sexualtäter zu systematisieren. Ein einflußreicher Forschungsüberblick zur Legalbewährung männlicher Sexualstraftäter versuchte alle in den USA zugänglichen empirischen Untersuchungen zu erfassen, die sich auf objektive Rückfalldaten (wie Registereintragungen oder polizeiliche Festnahme) stützten und mindestens zehn Untersuchungspersonen betrachteten. Dabei wurden sowohl Evaluationsstudien zu spezifischen Behandlungsprogrammen als auch Untersuchungen über Verurteilte ohne Therapie betrachtet; ausgeschlossen wurden jedoch Studien ausschließlich über Homosexualität als Ausgangsdelikt und solche mit unklaren Beobachtungszeiten. Auf diese Weise wurde eine bewußte Vorauswahl getroffen, die zulasten ausschließlich praxisorientierter oder kasuistischer Betrachtungen und wenig ausgefeilter Designs ausging.140 Inhaltlich bezog sich die Arbeit auf drei Fragestellungen: die Häufigkeit neuer Delikte, die Effektivität von Behandlung sowie unterschiedliche Rückfallraten bei 137 138 139 140
Soothill et al. (2000: 59 ff.). Francis / Soothill (2000: 51 ff.). Eigene Berechnung nach den absoluten Zahlen in Home Office (2000: Table 5.12). Furby et al. (1989: 10 f.).
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verschiedenen Arten von Sexualdelikten. Dabei wurde vor allem deutlich, daß die gefundenen Ergebnisse ebenso uneinheitlich waren wie die praktizierten Forschungsmethoden. Konzentriert man sich für die Häufigkeit neuer Delikte auf die wenigen Längsschnittstudien mit mehreren Rückfallmessungen, so wird die Erwartung steigender Rückfallquoten mit einer längeren Beobachtungszeit bestätigt. Das gilt aber nur für das Kriterium beliebiger neuer Delikte und nicht im Vergleich über mehrere Primärstudien hinweg. Deliktsspezifische Auswertungen ergaben wegen der Uneinheitlichkeit der Gruppenbildung kaum aussagekräftige Ergebnisse.141 Zur Effektivität einer Palette unterschiedlicher Behandlungsmaßnahmen ließ sich aufgrund der US-amerikanischen Forschung bis Ende der 1980er Jahre nur festhalten, daß eine Verbesserung der Legalbewährung mit dem Kriterium neuer Sexualdelikte nicht nachgewiesen werden konnte. Nach mehreren Studien lag die so verstandene Rückfallquote in der Behandlungsgruppe sogar höher als in der Kontrollgruppe ohne therapeutische Intervention.142 Möglicherweise sagt dieses Ergebnis allerdings mehr über die Beliebigkeit älterer Behandlungsprogramme und den bescheidenen methodischen Standard der damaligen Evaluationsforschung als über die inhaltliche Fragestellung.143 Eine größere Aussagekraft für die Frage nach der Wirksamkeit von Behandlungsmaßnahmen ist von methodisch anspruchsvolleren Meta-Analysen zu erwarten, die sich auf neuere Forschungsergebnisse konzentrieren. Allerdings liegen bisher nur sehr wenige Primärstudien vor, welche die Mindestanforderungen dieses Ansatzes erfüllen. Eine Meta-Analyse über männliche, meist erwachsene Sexualstraftäter kann sich lediglich auf zwölf Primärstudien stützen, wobei die Kontrollgruppen aus Personen ohne oder mit einer alternativen Behandlung bestanden; die Rückfalldefinition bezog sich auf (erneute) sexuelle Gewalt. Die Ausgangsverurteilung erfolgte überwiegend – in zehn Studien – wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern. Für die ambulanten und stationären Therapieprogramme wurden meist solche Täter ausgewählt, die bestimmte Aufnahmekriterien erfüllten. Folgt man dieser Meta-Analyse, so ergab sich ein mäßiger, aber stabiler Effekt: die Legalbewährung in den Behandlungsgruppen lag mit 19 % Rückfällen um 8 % besser als in den Kontrollgruppen.144 Problematisch erscheint daran zunächst, daß mit dem Sammelbegriff „Behandlung“ sehr heterogene Interventionen zusammengefaßt werden; sie reichen von der chirurgischen Kastration bis hin zu verhaltenstherapeutischen Programmen. Darüber hinaus wird in der Literatur auf einige methodische Mängel dieser Meta-Analyse hingewiesen: scheinbar positive Behandlungseffekte können sich beispielsweise daraus ergeben, daß prognostisch besonders ungünstige Behandlungsabbrecher zur Kontrollgruppe geschlagen werden.145 Furby et al. (1989: 22 f., 27). Furby et al. (1989: 24 f.). Eine für die Wirksamkeit von Behandlungsmaßnahmen wesentlich optimistischere Interpretation derselben Daten findet sich bei Pfäfflin (1995: 111). 143 Pfäfflin (1995: 109 f.). 144 G.C.N. Hall (1995). 145 Harris et al. (1998: 102 f.). 141 142
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Mehrere Untersuchungen mit ausgedehnten Beobachtungszeiträumen lassen erkennen, daß die Legalbewährung von Sexualstraftätern langfristig betrachtet werden muß, weil mit weiteren Delikten auch noch lange Zeit nach einer Entlassung aus dem Strafvollzug zu rechnen ist. So zeigte sich in einer Studie über Sexualtäter aus einer spezialisierten Einrichtung in Bridgewater (Massachusetts), daß jährlich etwa 2 – 3 % der Verurteilten, die eine Vergewaltigung oder ein anderes Sexualdelikt mit Körperkontakt gegenüber einer erwachsenen Frau begangen hatten, in den ersten fünf Jahren nach ihrer Entlassung in die Freiheit eines erneuten Sexualdelikts beschuldigt wurden. Diese Rückfallgeschwindigkeit verlangsamte sich zwar auf längere Sicht, doch nahm die Rückfallrate noch 25 Jahre nach der Entlassung zu. Für Sexualtäter mit kindlichen und jugendlichen Opfern ergaben sich in den ersten Jahren höhere Anteile neuer Delikte, aber eine ähnliche Verlaufskurve.146 Die Untergruppen unterscheiden sich, wie eine kanadische Untersuchung deutlich macht, je nach dem Kriterium der Legalbewährung. Während Personen, die wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern verurteilt wurden, im Verlauf von 15 Jahren nach ihrer Entlassung aus dem Strafvollzug vor allem wegen ähnlicher Sexualdelikte festgenommen wurden, erwies sich die Rückfälligkeit mit einem Sexualdelikt nach einer Freiheitsstrafe wegen Vergewaltigung als eher gering. Wenn diese Verurteilten später erneut von der Polizei festgenommen wurden, dann häufiger wegen Gewaltdelikten ohne erkennbar sexuellen Hintergrund.147 Die wohl umfassendste neuere Meta-Analyse zur Legalbewährung nach Sexualdelikten beruht auf 61 Studien, die zwischen 1943 und 1995 fertiggestellt wurden; die Hälfte der Studien stammte aus den USA, dagegen nur drei aus nicht anglophonen Ländern (Dänemark und Norwegen). Überwiegend handelte es sich um Untersuchungsgruppen, die an der Begehung verschiedener Sexualdelikte ansetzten, wobei die Täter teils in geschlossenen Institutionen, teils in Freiheit waren. Die Beobachtungszeiträume streuten zwischen sechs Monaten und 23 Jahren; bei der Hälfte der Primärstudien wurde der Zeitraum von 4 Jahren nicht überschritten. Für die Legalbewährung wurde unterschieden zwischen allgemeiner Rückfälligkeit mit einer beliebigen Straftat, Rückfälligkeit mit Sexualdelikten und mit Gewaltdelikten ohne sexuellen Bezug.148 Die Analyse ergab eine allgemeine Rückfallquote von 46 % nach einer Vergewaltigung und 3 7 % nach einem sexuellen Mißbrauch von Kindern. Ein erneutes Sexualdelikt wurde bei 19 % der Vergewaltigungstäter und 13 % der Mißbrauchstäter registriert, ein sonstiges Gewaltdelikt bei 22 % der Vergewaltigungstäter und 10 % der Mißbrauchstäter. Rückfälle mit Sexualdelikten ließen sich am besten mit Variablen zu abweichendem Sexualverhalten vorhersagen. Prognosen nichtsexueller Gewaltdelikte konnten wie solche zur allgemeinen Rückfälligkeit dagegen am ehesten auf solche Prädiktoren gestützt werden, die in der Legalbewährungsforschung traditionell im Vordergrund 146 147 148
Prentky et al. (1997: 645 ff.). Harris et al. (1998: 83 ff.). Hanson / Bussière (1998).
Kap. 15: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
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stehen: Rückfalltäter sind eher jung, unverheiratet und Angehörige ethnischer Minderheiten.149 Solche Meta-Analysen zur Legalbewährung nach Sexualdelikten ermöglichen eine zusammenfassende Betrachtung zahlreicher empirischer Forschungsergebnisse, ohne daß deren Auswahl und Bewertung – wie in traditionellen Übersichtsartikeln zu einem Forschungsgebiet – stark von subjektiven Kriterien abhängt.150 Zudem gestatten sie es, zahlreiche einzelne Untersuchungsstichproben unterschiedlicher Herkunft zusammenzuführen und auf diese umfassenden Datensätze anspruchsvolle Methoden der quantitativen Datenauswertung anzuwenden. Dabei werden allerdings methodisch angemessene und eher defiziente Studien prinzipiell gleich behandelt; die – möglicherweise gut begründeten – Eigenheiten einzelner Studien werden nivelliert, so daß sie neben den zahlreichen Versionen eines in einer Disziplin weitgehend akzeptierten und deshalb immer von neuem variierten Forschungsplans kaum mehr hervortreten. Aus dem Ansatz der Meta-Analysen folgt im übrigen, daß sie über konzeptuelle Beschränkungen der Primärstudien nicht hinauskommen. Das Problem des bei den meisten Sexualdelikten vermutlich relativ ausgedehnten Dunkelfelds kann auf diese Weise ebenso wenig gelöst werden wie das der Forschungslücken z. B. im Hinblick auf Täter-Opfer-Beziehungen oder sexuell motivierte Tötungsdelikte. Der immer wieder aufgestellten Forderung, die Gruppe der Sexualstraftäter nicht als in sich homogen zu behandeln, kann man durch adäquate Gruppenbildung entsprechen. Das setzt aber voraus, daß gleich lautende Bezeichnungen etwa für das Delikt „Vergewaltigung“ auch auf übereinstimmende Sachverhalte verweisen – was bei Studien aus verschiedenen Rechtsordnungen, die zudem ohne juristische Beratung durchgeführt werden, nicht auf der Hand liegt151; das Problem ist aus der Rechtsvergleichung bekannt. Obwohl gelegentlich darauf hingewiesen wird, daß wichtige Erkenntnisse erst durch die umfassende Heranziehung etwa der Forschung aus europäischen Ländern gewonnen werden, liegt eine weitere Beschränkung vieler Meta-Analysen in der Anforderung, daß alle einbezogenen Forschungsergebnisse in englischer Sprache vorliegen müssen. VI. Zum heutigen Forschungsstand Bei der Legalbewährung nach lebenslangen und sonstigen langjährigen Freiheitsstrafen stimmen Untersuchungen aus verschiedenen Ländern darin überein, daß die Rückfallquoten niedriger liegen als im Anschluß an kürzere Aufenthalte im Strafvollzug. Das mag damit zusammenhängen, daß Tötungsdelikte, auf die Hanson / Bussière (1998: 351 ff.). Zonana et al. (1999: 129 ff.). 151 Zonana et al. (1999: 141 ff.). Siehe im übrigen die Bemühungen um eine Standarddefinition für „rape“ für die Mitgliedsstaaten des Europarats und die zahlreichen nationalen Abweichungen bei Enlarged Group of specialists on trends in crime and criminal justice (1999: 19). 149 150
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
solche Strafen fast immer zurückgehen, typischerweise in Beziehungskonstellationen zwischen Täter und Opfer vorkommen, die nicht alltäglich sind. Auf der anderen Seite scheint es eine kleine Gruppe von Tätern zu geben, die erneut Gewaltdelikte gegen Personen begehen. Das wird besonders deutlich, wenn man Tätergruppen, deren Verurteilung wegen Delikten unter historisch singulären Umständen – beispielsweise solchen während des 2. Weltkriegs – erfolgte, ausklammert. Bei schweren Gewaltdelikten und langen Freiheitsstrafen überschneiden sich Ansätze der empirischen Sanktionsforschung mit solchen, die sich eher auf bestimmte Delikts- und Tätergruppen beziehen. Will man die Forschungsergebnisse zur Legalbewährung von Gewalttätern resümieren, zeigt sich allerdings, daß kaum spezifische Untersuchungen zu dieser Tätergruppe vorliegen. Das verwundert angesichts der hohen symbolischen Bedeutung des Konzepts „Gewalt“ gerade in kriminalpolitischen Debatten, könnte aber teilweise damit erklärt werden, daß sich Gewalttäter nur selten darüber definieren lassen, daß sie ausschließlich oder in erster Linie Gewaltdelikte begehen. Diesbezüglich ergeben sich wenig Anzeichen für eine häufiger zu beobachtende Spezialisierung; die Wahrscheinlichkeit von Eigentums- und Vermögensdelikten, die auch sonst das Bild der registrierten Kriminalität weitgehend prägen, ist meist höher als die Wahrscheinlichkeit neuer Gewaltdelikte gegen Personen. Demgegenüber richtet sich die Aufmerksamkeit täter- und behandlungsorientierter Forschungsprojekte schon seit längerem auf die Gruppe der Sexualstraftäter. Mit dem Umfang der vorliegenden Resultate wächst allerdings auch die Schwierigkeit, den Forschungsstand auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Den deutschen Forschungsergebnissen, nach denen hohe Rückfallquoten im wesentlichen bei Exhibitionismus vorkommen, steht eine Meta-Analyse von Primärstudien fast ausschließlich aus den anglo-amerikanischen Ländern gegenüber, der zufolge sexuelle Gewaltdelikte bei immerhin einem Fünftel der Verurteilungen weitere Gewaltdelikte nach sich ziehen. Hinzu kommt, daß die Behandlungsforschung keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Nutzen therapeutischer Ansätze bei Sexualstraftätern liefert, wenn auch die Stellungnahmen der letzten Jahre meist zugunsten eines Ausbaus von Behandlungsangeboten ausfallen. Schließlich scheint die Begehung vielfältiger sonstiger Delikte durch eine Gruppe von Sexualstraftätern mit einer gewissen Spezialisierung innerhalb des engeren Bereichs der Sexualdelikte einherzugehen.
D. Zur Konkretisierung des Merkmals „Gefährlichkeit“ Welche Folgerungen lassen sich aus diesen empirischen Forschungsergebnissen für eine deliktsspezifische Konkretisierung des Merkmals „Gefährlichkeit“ bei der Sicherungsverwahrung ziehen?
Kap. 15: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
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Auszugehen ist von dem Charakter der Sicherungsverwahrung, wie er bisher bestimmt worden ist. Anders als die beiden anderen freiheitsentziehenden Maßregeln setzt die Sicherungsverwahrung zwingend voraus, daß eine vorweg vollstreckte Freiheitsstrafe verhängt wird, für die das Gesetz gewisse Mindestanforderungen formuliert. Diese Maßregel ist von vornherein darauf angelegt, ein Sicherungsbedürfnis nur insoweit zu erfüllen, als die Freiheitsstrafe keine ausreichenden Möglichkeiten bietet. Bevor eine Sicherungsverwahrung in Betracht gezogen wird, sollte der zur Verfügung stehende Strafrahmen ausgeschöpft werden.152 Erst dann ist gewährleistet, daß die Sicherungsverwahrung das letzte Mittel der Kriminalpolitik bleibt. Weitere Ansatzpunkte für eine strikte Interpretation bieten die übrigen formellen Voraussetzungen des § 66 I StGB. Dieser vorgeschaltete Filter wird durch § 66 II und III StGB allerdings teilweise entwertet. Alle Varianten der Sicherungsverwahrung betrifft allein das Kriterium der Gefährlichkeit, das über das Merkmal der Erheblichkeit künftiger Delikte konkretisiert werden kann. Ausgehend von den Regelbeispielen des § 66 I Nr. 3 StGB und weiteren Gesichtspunkten, die in diesem Zusammenhang bisher in der Rechtsprechung und Literatur zum Maßregelrecht vorgebracht werden, wurden bereits einige Fallgruppen diskutiert.153 Im folgenden geht es um eine deliktsspezifische Betrachtung unter Berücksichtigung der empirischen Forschungsergebnisse. Was zu befürchtende Tötungsdelikte betrifft, so ist ein Sicherungsbedürfnis nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Gegen allzu schematische positive Gefährlichkeitsprognosen, mit denen von einem Tötungsdelikt ohne Umschweife auf eine Wiederholungsgefahr geschlossen wird, spricht allerdings die Erkenntnis der empirischen Forschung, daß einschlägige Rückfälligkeit nach Tötungsdelikten eine seltene Ausnahme darstellt154; diesen Taten scheinen in der Mehrzahl der zu einer Verurteilung führenden Fälle singuläre Tatsituationen zugrunde zu liegen, die sich in aller Regel nicht wiederholen. Im übrigen liefert die verhängte Strafe einen wichtigen Ansatzpunkt für die Einschränkung der Sicherungsverwahrung. Der Vollzug der obligatorischen Freiheitsstrafe übernimmt vor allem dann, wenn deren Höchstmaß nur durch die allgemeine Vorschrift des § 38 II StGB begrenzt ist oder eine lebenslange Strafe verhängt wird, den größten Teil der angebrachten Sicherung (§ 2 S. 2 StVollzG). Immerhin wird die Sicherung vor künftigen Delikten auch in der Rechtsprechung – unter dem Stichwort „Schutz der Allgemeinheit“ – bei der Strafzumessungsentscheidung über lebenslange Freiheitsstrafen herangezogen.155 Bei der Frage nach einer zusätzlichen Sicherungsverwahrung geht es allerdings genau besehen um deren Erforderlichkeit. Das ist noch zu erörtern. Das ist im einzelnen in Kapitel 18 C. II. zu diskutieren; siehe S. 379 ff. Kapitel 15 B. (S. 303 ff.). 154 Kapitel 15 C. IV. (S. 314 ff.). 155 BVerfG, Beschluß vom 22. Mai 1995 – 2 BvR 671 / 95 (= NStZ 1996, 53, 54); BGH, Beschluß vom 22. Dezember 1982 – 3 StR 437 / 82 (= BGHSt 31, 189, 190). 152 153
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
Der Abschnitt über die Körperverletzungsdelikte im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs enthält keine Vorschrift, die eine lebenslange Freiheitsstrafe androht, während das Höchstmaß einer zeitigen Freiheitsstrafe in einzelnen Qualifikationstatbeständen (§§ 225 III, 226 II, 227 I StGB) erreicht werden kann; für das Vergehen der einfachen Körperverletzung (§ 223 I StGB) ist andererseits im Mindestmaß lediglich Geldstrafe vorgesehen. Im Rahmen der Diskussion der Regelbeispiele nach § 66 I Nr. 3 StGB wurde bereits die wohl einhellige Auffassung in Literatur und Rechtsprechung unterstützt, daß die Befürchtung einer gefährlichen Körperverletzung (§ 224 StGB) das Erheblichkeitsmerkmal erfüllen kann.156 Sind lediglich einfache Körperverletzungen im Sinne von § 223 StGB zu erwarten, so wird die Schwelle der Erheblichkeit dagegen nicht überschritten. Auffällig ist, daß die Rechtsprechung der Tatgerichte in den letzten Jahren die Maßregel der Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen wegen eines Körperverletzungsdelikts als schwerster Tat nur in wenigen Einzelfällen angeordnet hat.157 Diese zurückhaltende Anwendung der Sicherungsverwahrung ist zu begrüßen. Auch aus der Prognose qualifizierter Körperverletzungen folgt nämlich nicht ohne weiteres, daß Gefährlichkeit im Sinne des § 66 I Nr. 3 StGB anzunehmen ist. Denn nicht bei jeder Form einer Körperverletzung, die beispielsweise mittels eines gefährlichen Werkzeugs (§ 224 I Nr. 2 StGB) oder eines hinterlistigen Überfalls (§ 224 I Nr. 3 StGB) begangen wird, wird die konkrete Gefahr einer schweren Schädigung bestehen. In quantitativer Hinsicht am bedeutendsten für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sind nach den neueren empirischen Untersuchungen die Sexualdelikte. Im wesentlichen geht es dabei um sexuelle Gewaltdelikte und sexuellen Mißbrauch von Kindern.158 Die sexuellen Gewaltdelikte der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung (§ 177 StGB) sind grundsätzlich geeignet, schwere körperliche und psychische Schädigungen hervorzurufen. Für den sexuellen Mißbrauch von Kindern gilt das, wie sich aus der einschlägigen empirischen Forschung ergibt, nur mit Einschränkungen. Auch das Gesetz differenziert ja deutlich zwischen sexuellen Handlungen mit Körperkontakt (§ 176 I und II StGB) und solchen ohne Körperkontakt mit dem Opfer (§ 176 III StGB), die in vielen Fällen geradezu als spezielle Form des Exhibitionismus erscheinen. Erst wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß Handlungen mit Körperkontakt zu erwarten sind, kann die Erheblichkeitsschwelle überschritten sein.159 Wichtig ist auch hier, daß es lediglich um Mindestanforderungen an das Gefährlichkeitsmerkmal geht. So zeigt die Forschung zu den Folgen sexuellen Mißbrauchs, daß das Täterverhalten mit mögKapitel 15 B. (S. 305). Die Darstellung bei Kinzig (1996: 266 ff.) stützt diese Aussage ebenso wie die Strafverfolgungsstatistik; siehe Statistisches Bundesamt (2001: 281). 158 Kinzig (1996: 281 ff.). 159 So auch zu der psychiatrischen Unterbringung nach § 63 StGB BGH, Urteile vom 29. November 1994 – 1 StR 689 / 94 (= NStZ 1995, 228) und vom 24. März 1998 – 1 StR 31 / 98 (= NStZ 1998, 408 f.); Beschluß vom 25. Februar 1999 – 4 StR 690 / 98 (= NStZ-RR 1999, 298). 156 157
Kap. 15: Gefährlichkeit bei der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
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lichen Schädigungen zusammenhängt. Ein eher schonendes Vorgehen des Täters dürfte die Gefahr gravierender Folgen entscheidend vermindern, Gewalt gegen das Opfer wird sie erhöhen. Doch selbst bei sexueller Nötigung dürfte es Fälle geben, für die schwere Schädigungen nicht besonders wahrscheinlich sind. Wesentlich ist aus empirischer Sicht weiter die Deliktsgruppe der Raub- und Erpressungstaten. Die Tathandlungen sind nicht notwendig, aber wohl in den meisten Fällen mit Gewalt gegen Personen verbunden, die prinzipiell geeignet ist, die Tatopfer körperlich oder psychisch zu schädigen. Einschränkungen sollten zum einen dann gemacht werden, wenn ausschließlich Drohungen als Nötigungsmittel zu erwarten sind oder keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der Wert künftiger Tatobjekte die Bagatellgrenze überschreiten wird. Im übrigen ist auch bezüglich dieser Deliktsgruppe vor dem schematischen Schluß zu warnen, aus dem Tatmittel „Gewalt“ folge mehr oder minder zwangsläufig künftige Gefährlichkeit. Einfache körperliche Gewalt an der Grenze des Diebstahls durch überraschendes Entreißen eines Gegenstandes besitzt eine andere Qualität als brutales und rücksichtsloses Vorgehen unter Einsatz einer geladenen Schußwaffe. Vor allem die Qualifikationstatbestände der Verwendung einer Waffe (§ 250 II Nr. 1 StGB), der schweren körperlichen Mißhandlung oder der Herbeiführung einer Lebensgefahr für das Opfer (§ 250 II Nr. 3 StGB) können Kriterien für eine restriktive Auslegung des Gefährlichkeitsmerkmals liefern. Der Anteil der Maßregelanordnungen, in denen Eigentums- und Vermögensdelikte ohne Gewalt gegen Personen zur Begründung der Sicherungsverwahrung herangezogen wird, ist seit der Strafrechtsreform deutlich zurückgegangen. Verläßt man sich auf die Angaben der Strafverfolgungsstatistik für das Jahr 2000, so wurde noch in fünf Verfahren die Sicherungsverwahrung anläßlich von Diebstahlsdelikten verhängt, wobei es sich nur teilweise um qualifizierte Fälle handelte; hinzu kommen zwei Verurteilungen wegen Urkundenfälschung. In der Untersuchung von Kinzig entfallen allein auf Eigentumsdelikte noch immerhin 15 % der Anordnungen, wobei Einbruchsdiebstähle überwiegen.160 Diese massive Zurückdrängung der Sicherungsverwahrung im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte ist zu begrüßen. Und selbst bei qualifizierten Diebstählen sollten zu befürchtende Vermögensschäden allein eine Gefährlichkeit nicht begründen. Dieses Merkmal sollte erst dann angenommen werden, wenn davon auszugehen ist, daß körperliche oder psychische Schäden der Tatopfer hinzukommen werden. Das wird in Fällen des Wohnungseinbruchs (§ 244 I Nr. 3 StGB) näher liegen als beim bloßen Mitführen eines gefährlichen Werkzeugs (§ 244 I Nr. 1 a StGB). Abschließend noch eine Bemerkung zu Brandstiftungsdelikten, deren Bedeutung für die Sicherungsverwahrung allerdings deutlich hinter derjenigen für die anderen freiheitsentziehenden Maßregeln zurückbleibt. Hier ist ähnlich zu argumentieren wie soeben: erhebliche Delikte im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose sind nur dann anzunehmen, wenn konkrete Gefahren für andere Personen zu be160
Statistisches Bundesamt (2001: 283); Kinzig (1996: 299 ff.).
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3. Teil: Gefährlichkeit bei den freiheitsentziehenden Maßregeln
fürchten sind. Damit kann die Sicherungsverwahrung nur bei der Erwartung schwerer Brandstiftungen (§ 306a StGB) in Betracht kommen. Diese Vorschläge zur Auslegung des Gefährlichkeitsmerkmals bei der Sicherungsverwahrung betonen deren Ausrichtung als „letztes Mittel“ des Kriminalrechts stärker, als dies in der veröffentlichten höchstrichterlichen Rechtsprechung und in der wissenschaftlichen Literatur vielfach geschieht. Das erscheint erforderlich, will man die Anordnung dieser Maßregel nicht nur von formellen Voraussetzungen und von einem diffusen „Hang“ zur Begehung von Straftaten abhängig machen. Weitere Gesichtspunkte zur Eingrenzung der Sicherungsverwahrung kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit liefern, dessen Bedeutung für die freiheitsentziehenden Maßregeln im Vierten Teil der Arbeit überprüft wird.
Vierter Teil
Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht Im Zweiten und Dritten Teil wurde versucht, das Maßregelrecht zunächst anhand des Merkmals „Gefährlichkeit“ zu konkretisieren. Gefährlichkeit ist eine allen kriminalrechtlichen Maßregeln gemeinsame Anordnungsvoraussetzung, die durch die einzelnen Sanktionsvorschriften in unterschiedliche Zusammenhänge gestellt wird. Konzentriert man sich auf die drei freiheitsentziehenden Maßregeln, so wird das Gefährlichkeitsmerkmal durch die Unterbringung nach § 63 StGB auf Täter mit psychischen Störungen, durch die Unterbringung nach § 64 StGB auf Täter mit einer Suchtproblematik und durch die Unterbringung nach § 66 StGB auf Intensivtäter bezogen. Dies ist allerdings nicht mehr als eine grobe Zuordnung zu Tätergruppen. Keineswegs alle Täter mit psychischen Störungen erfüllen die Voraussetzungen einer psychiatrischen Unterbringung. Was aus psychiatrischer Sicht die Diagnose einer psychischen Störung gestattet, kann aus strafrechtlicher Sicht schon unter dem Gesichtspunkt einer Verminderung der Schuldfähigkeit von marginaler Bedeutung sein, so daß keine Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug in Betracht kommt. Die Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 64 StGB treffen auch nicht für alle Täter mit einer Suchtproblematik zu. Was aus psychiatrischer Sicht als Alkoholmißbrauch bezeichnet werden kann, erfüllt noch nicht die Voraussetzung des „Hangs“, der eine Unterbringung zur Suchtbehandlung im Maßregelvollzug ermöglichte.1 Und nicht alle Intensivtäter kommen für die Sicherungsverwahrung in Betracht. Denn diese Maßregel ist das letzte Mittel, welches das Kriminalrecht bereit hält. Das Gefährlichkeitsmerkmal stellt sich damit als Begründungsprinzip des Maßregelrechts dar; es gilt über den Bereich der freiheitsentziehenden Maßregeln hinaus für alle Maßregeln.2 Insoweit bestätigen die Ausführungen eine verbreitete Sichtweise.3 Verständnis und Auswirkungen des Gefährlichkeitsmerkmals werden im Dritten Teil für die drei freiheitsentziehenden Maßregeln im einzelnen erörtert. Bei der Betrachtung im Detail ergibt sich jedoch, daß Gefährlichkeit mehr ist als eine Begründung des Maßregelrechts; das Prinzip der Gefährlichkeit liefert zuSiehe Kapitel 14 A. (S. 259 ff.). Siehe Kapitel 8 A. (S. 130 ff.). 3 Böllinger (1995: Rn. 53 zu § 61 StGB); Frisch (1996: 5); Hanack (1991: Rn. 39 vor §§ 61 ff. StGB); Jescheck / Weigend (1996: 83); Müller-Christmann (1990: 804); Roxin (1997: 63); Stree (2001: Rn. 8 vor §§ 61 ff. StGB); Streng (1995: 97); Welzel (1969: 244); Zipf (1989: 484). 1 2
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
gleich einen Maßstab zur Begrenzung der kriminalrechtlichen Maßregeln. Wie das Schuldprinzip für die Strafen bezieht sich das Gefährlichkeitsprinzip auf zwei Gesichtspunkte der Sanktionierung zugleich: einerseits auf die Begründung der Sanktion – dem entspricht bei den Strafen die Strafbegründungsschuld4 –, andererseits auf die Begrenzung der Sanktion – bei den Strafen spricht man von Strafzumessungsschuld. Einzelfragen, die sich bei der Konkretisierung der Anordnungsvoraussetzungen in verschiedenen Deliktsgruppen stellen, lassen sich danach über eine deliktsspezifische Auslegung des Gefährlichkeitsmerkmals lösen. Versteht man das Gefährlichkeitsprinzip zugleich als Begrenzungsprinzip des Maßregelrechts, so wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit weitgehend entlastet. Es wäre unzweckmäßig, dieselben Fragen erneut unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Übrig bleibt vor allem die Frage, ob eine freiheitsentziehende Maßregel, deren Voraussetzungen im übrigen vorliegen, auch dann zu verhängen ist, wenn eine weniger einschneidende Alternative zur Verfügung steht.5 Das wird traditionell für die psychiatrische Unterbringung diskutiert, ist aber genauso für die Unterbringung zur Suchtbehandlung und die Sicherungsverwahrung von Bedeutung. Darüber hinaus geht es um die Begrenzung der Aufenthaltsdauer im Maßregelvollzug, also eine zentrale Frage des Vollstreckungsrechts. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird gemeinhin als allgemeines Prinzip des Maßregelrechts angesehen. Diese Qualifizierung, an der man spätestens nach der Einführung des Normsatzes in § 62 StGB nicht vorbei kommt, bedeutet aber nicht, daß über die Reichweite des Verhältnismäßigkeitsprinzips Einigkeit besteht. Von manchen Autoren wird es so stark betont, daß es allein oder doch zum größten Teil die Funktion der Eingriffsbegrenzung übernehmen soll.6 Nach der hier vertretenen Ansicht dient das Verhältnismäßigkeitsprinzip dagegen eher zur Überprüfung und punktuellen Korrektur von Ergebnissen, die bereits aufgrund der konsequenten Heranziehung des Gefährlichkeitsprinzips begründet werden können. Die Bedeutung der Verhältnismäßigkeit geht über das Recht der kriminalrechtlichen Maßregeln weit hinaus. Über die Grundrechte prägt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die gesamte deutsche Rechtsordnung. Dem entspricht eine komplexe Dogmatik des öffentlichen Rechts. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird dort als wichtige, wenn nicht die wichtigste „Schranken-Schranke“ angesehen, d. h. als Beschränkung für den Gesetzgeber, wenn er dem Grundrechtsgebrauch Schranken setzt.7 Üblicherweise wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung in den drei Stufen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im Achenbach (1974: 4 f.). Hierzu bereits Kapitel 13 B. IV. (S. 222 f.). 6 Böllinger (1995: Rn. 4 ff. zu § 62 StGB); Jescheck / Weigend (1996: 804); Naucke (2002: 101); Roxin (1997: 65); Zipf (1989: 669). 7 Clérico (2001: 17); Pieroth / Schlink (2001: 64 f.); Stern (1994: 693, 764 f.). 4 5
4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
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engeren Sinne durchgeführt – eine Prüfungsfolge, die wesentlich durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt wird. Eine zusammenfassende Formulierung läßt sich einer Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit von Maßnahmen zur Überwachung des Brief- und Telefonverkehrs nach dem Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (G 10) entnehmen: „Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muß die hier in Frage stehende Grundrechtsbegrenzung (strategische Überwachung) geeignet sein, den Schutz des Rechtsguts (rechtzeitiges Erkennen und Begegnen der Gefahr eines bewaffneten Angriffs auf die Bundesrepublik Deutschland) zu bewirken. Sie muß dazu erforderlich sein, was nicht der Fall ist, wenn ein milderes Mittel ausreicht. Schließlich muß sie im engeren Sinne verhältnismäßig sein, das heißt in angemessenem Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts stehen.“8
Diese Formulierungen sind in die Schutzbereiche anderer Grundrechte, vor allem den des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG), das durch freiheitsentziehende Sanktionen des Kriminalrechts betroffen ist, übertragbar. Der Zugang zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht wird im folgenden von vornherein über die einzelnen freiheitsentziehenden Maßregeln gewählt. Dieses Vorgehen bietet sich an, weil sich die konkreten Folgen des allgemeinen Rechtsprinzips auf diese Weise gezielt thematisieren lassen, ohne daß ein weiter Umweg über die Dogmatik des öffentlichen Rechts beschritten werden muß. Solche allgemeineren rechtssystematischen Ansätze werden daraufhin überprüft, inwieweit sie für die Begrenzung der drei freiheitsentziehenden Maßregeln herangezogen werden können. Das folgende Kapitel 16 bezieht sich auf die psychiatrische Unterbringung, Kapitel 17 auf die Unterbringung zur Suchtbehandlung und Kapitel 18 auf die Sicherungsverwahrung.
8 BVerfG, Beschluß vom 20. Juni 1984 – 1 BvR 1494 / 78 (= BVerfGE 67, 157, 173) – Hervorhebungen nicht im Original.
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
Kapitel 16
Verhältnismäßigkeit bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) Der Gedanke einer Begrenzung der psychiatrischen Unterbringung von Straftätern kommt, wie der historische Rückblick gezeigt hat, erst nach dem Bestreben auf, effektive Sicherungsmaßnahmen vor Delikten als „gefährlich“ angesehener Personen mit psychischen Störungen vorzusehen.1 Dennoch kann die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus seit ihrer Einführung durch das Gewohnheitsverbrechergesetz als eine Maßregel gelten, für die Gesichtspunkte der Verhältnismäßigkeit immer wieder herangezogen werden. Sie werden im folgenden in systematisierter Form dargestellt. Dabei wird danach unterschieden, ob sich die Bestrebungen zu einer Begrenzung der Unterbringung schon auf die Anordnung der Maßregel oder erst auf die Dauer des Aufenthalts im psychiatrischen Maßregelvollzug beziehen.
A. Verhältnismäßigkeit als Voraussetzung der Anordnung Die Debatte über die Unterbringung von Straftätern in einem psychiatrischen Krankenhaus wird jedenfalls seit Mitte der 1980er Jahre zu wesentlichen Teilen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt. Seine Leitentscheidung zu dieser Maßregel stammt aus dem Jahr 19852 und betrifft den Fall eines unter dem Namen Paul Stein bekannt gewordenen Maßregelpatienten, der wegen Diebstahls eines Pelzmantels zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten in Verbindung mit der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt (§ 42b StGB a.F.) verurteilt worden war. Seit seiner Festnahme am Tag nach der Tat im Herbst 1968 befand er sich bis zu dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts fast ununterbrochen in Haft oder in psychiatrischen Einrichtungen.3 Die Entscheidung betrifft – wie auch die übrige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur psychiatrischen Unterbringung von Straftätern – weniger die Anordnung der Maßregel, eher die Ausgestaltung des Vollstreckungsverfahrens. Siehe Kapitel 4 A. (S. 76) mit Hinweisen auf Mittermaier (1908: 329) und Asper (1917). BVerfG, Beschluß vom 8. Oktober 1985 – 2 BvR 1150 / 80 u. a. (= BVerfGE 70, 297); vgl. dazu aus juristischer Sicht die Anmerkungen von Eisel (1986), Marschner (1986), Müller-Dietz (1987), Teyssen (1989) und Trechsel (1986) sowie aus psychiatrischer Sicht Schuler (1988). 3 Siehe die Darstellung bei Fabricius / Wulff (1984); zur Erledigung der Maßregel nach Bekanntwerden der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts OLG Hamm, Beschluß vom 30. Januar 1986 – 4 Ws 58 / 86 (= EuGRZ 1986, 545); zur Ablehnung einer Haftentschädigung OLG Hamm, Beschlüsse vom 9. Juli 1986 – 2 Ws 207 / 86 (= EuGRZ 1986, 546) und vom 22. April 1988 – 11 W 133 / 87 (= NJW 1989, 1547). 1 2
Kap. 16: Verhältnismäßigkeit bei der psychiatrischen Unterbringung
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Gleichwohl wird dort ausgeführt, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bereits die Anordnung der Maßregel „beherrscht“. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch der betroffenen Person und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen verlange „nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich“. Dieser Ausgleich sei dadurch zu bewirken, daß Sicherungsbelange potentieller Geschädigter und Freiheitsanspruch des Untergebrachten als wechselseitige Korrektive gegeneinander abgewogen werden.4 Zur Begründung bezieht sich der Senat auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur lang dauernden Untersuchungshaft, die nicht außer Verhältnis zu der voraussichtlich zu erwartenden Strafe stehen darf.5 Die gesetzliche Festlegung in § 62 StGB versteht das Bundesverfassungsgericht als Hervorhebung ohnehin von Verfassungs wegen geltenden Rechts „im sachlichen Kodifikationszusammenhang“, die dem Grundsatz besonderen Nachdruck verleihen solle.6 Eine weitere gesetzliche Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sieht das Gericht in der Gefährlichkeitsprognose, die sich auf erhebliche künftige Delikte beziehen muß. Danach ist von Bedeutung, ob überhaupt eine solche Prognose gestellt werden kann und welche Rechtsgutsverletzungen wie häufig zu erwarten sind. Weniger belastende Maßnahmen wie Führungsaufsicht und damit verbundene Weisungen gehen vor, wenn sie ein ausreichendes Maß an Sicherung bieten.7 Läßt sich dem Unterbringungsurteil nicht klar entnehmen, auf welchen Tatbestand es sich stützt und welche Taten befürchtet werden, so nimmt das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an.8 Obwohl das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in seiner frühen Rechtsprechung „nur zögernd, punktuell und ohne erkennbare systematische Konsequenz“ heranzieht9, bezieht sich bereits eine der ersten einschlägigen Entscheidungen auf eine vorläufige psychiatrische Unterbringung zur 4 BVerfG, Beschluß vom 8. Oktober 1985 – 2 BvR 1150 / 80 u. a. (= BVerfGE 70, 297, 311). 5 BVerfG, Beschlüsse vom 3. Mai 1966 – 1 BvR 58 / 66 (= BVerfGE 20, 45, 49 f.), vom 27. Juli 1966 – 1 BvR 296 / 66 (= BVerfGE 20, 144, 148), vom 12. Dezember 1973 – 2 BvR 558 / 73 (= BVerfGE 36, 264, 270) und vom 6. Februar 1980 – 2 BvR 1070 / 79 (= BVerfGE 53, 152, 158 f.). Müller-Dietz (1987) meint denn auch, der Beschluß bringe im Ergebnis nichts Neues. 6 BVerfG, Beschluß vom 8. Oktober 1985 – 2 BvR 1150 / 80 u. a. (= BVerfGE 70, 297, 312) unter Bezugnahme auf den Ersten Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Drucksache V / 4094, S. 17. 7 BVerfGE 70, 297 (312 ff.) unter Bezugnahme auf Horstkotte (1983) und die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. 8 BVerfG, Beschluß vom 28. Januar 1992 – 2 BvR 1198 / 91 (= NStE Nr. 6 zu § 67d StGB) zu einem Fall, in dem sich aus dem abgekürzten Urteil nicht ergab, ob eine versuchte räuberische Erpressung (§§ 255, 250 StGB) oder lediglich eine Vortäuschung von Straftaten (§ 145d I Nr. 2 StGB) angenommen wurde. 9 So das Urteil von Grabitz (1973: 569).
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Begutachtung (§ 81 StPO); in dem konkreten Fall wird die Einweisung daran gemessen, ob sie im Verhältnis zu einer schuldangemessenen Strafe willkürlich erscheint und damit gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstößt.10 Erst später wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich zum Prüfungsmaßstab erklärt – eine Entwicklung, die mit der öffentlich-rechtlichen Dogmatik Hand in Hand geht.11 Eine wichtige Rolle innerhalb der verfassungsgerichtlichen Judikatur spielen dabei Entscheidungen zu strafprozessualen Grundrechtseingriffen, insbesondere zur Anordnung der Untersuchungshaft. In diesem Zusammenhang führt das Bundesverfassungsgericht aus, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebe sich „aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist“.12
Ähnliche Argumentationsmuster finden sich auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Dieser will beispielsweise eine psychiatrische Unterbringung anläßlich exhibitionistischer Handlungen (§ 183 StGB) allenfalls in besonders schweren Ausnahmefällen – die nicht konkretisiert werden – zulassen und regt hilfsweise die besonders sorgfältige Prüfung einer primären Aussetzung der Maßregel (§ 67b StGB) an.13 Eine Unterbringung wegen zu erwartender Zechprellereien wird als unverhältnismäßig angesehen, wobei zugleich ihre Erheblichkeit verneint wird.14 Eine Reihe von Taten aus dem unteren Bereich der Kriminalität führt nicht nur zu einer Verneinung der Gefährlichkeit, sondern zugleich zu der Annahme, daß die Anordnung der Maßregel unverhältnismäßig wäre.15 Ähnliche 10 BVerfG, Beschluß vom 10. Februar 1953 – 1 BvR 787 / 52 (= BVerfGE 2, 121, 123). Ein Verfassungsverstoß wird verneint, obwohl der Senat nicht ausschließt, daß „die Beschwerdeführerin von der angeordneten Maßnahme härter betroffen wird als von der Strafe, die etwa später gegen sie verhängt wird“. Gegenstand des ursprünglichen Strafverfahrens ist der Verdacht einer falschen Verdächtigung (§ 164 StGB). Siehe neuerdings auch BVerfG, Beschluß vom 9. Oktober 2001 – 2 BvR 1523 / 01 (= NJW 2002, 283). 11 Stern (1993: 171 ff.). 12 BVerfG, Beschluß vom 15. Dezember 1965 – 1 BvR 513 / 65 (= BVerfGE 19, 342, 349). Zur Ableitung weiterhin BVerfG, Beschlüsse vom 5. März 1968 – 1 BvR 579 / 67 (= BVerfGE 23, 127, 133 f.) und vom 18. Juli 1973 – 1 BvR 23 / 73 u. a. (= BVerfGE 35, 382, 400 f.). Aus der Literatur etwa Dechsling (1989: 114 ff.); Grabitz (1973: 584 ff.); Kim (2000: 89 ff.); Lagodny (1996: 19 f.); Lerche (1961: 32 ff.); Schulze-Fielitz (1998: Rn. 167 zu Art. 20 GG); Stern (1993: 171 ff.). 13 BGH, Beschluß vom 13. August 1991 – 4 StR 315 / 91 (= NStE Nr. 30 zu § 63 StGB). 14 BGH, Urteile vom 3. September 1957 – 5 StR 340 / 57 und vom 29. Juni 1965 – 5 StR 228 / 65 (= BGHSt 20, 232 f.); Beschluß vom 11. Dezember 1991 – 5 StR 626 / 91 (= NStZ 1992, 178). 15 BGH, Beschluß vom 18. Februar 1992 – 4 StR 27 / 92 (= NStE Nr. 32 zu § 63 StGB). Grundlage der Verurteilung waren Taten wie das „Schmierestehen“ bei einem Diebstahl mit einer Beute von etwa 100 DM, ein Betrug mit einem Schaden von 36,80 DM, das Parteinehmen in einer Auseinandersetzung zwischen Dritten durch Reißen des Kontrahenten vom Fahrrad, die Bedrohung eines – nicht als solchen erkannten – Zivilbeamten der Polizei mit
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Erwägungen werden zu einem Fall des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Nötigung angestellt.16 Die Rechtsprechung der Instanzgerichte geht gelegentlich weiter, indem etwa eine Unterbringung zum Zweck des Schutz vor weiteren „Einbruchsdiebstählen mittleren Schweregrades“ als unverhältnismäßig angesehen wird.17 Während solche Aussagen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eher als Hilfsargument in Fällen heranziehen, die schon anhand des Merkmals „Gefährlichkeit“ zu lösen wären, gewinnt das Übermaßverbot in einzelnen Entscheidungen selbständige Bedeutung. Dazu zählt insbesondere die Prüfung milderer Mittel im Vergleich zu einer kriminalrechtlichen Unterbringung in der Psychiatrie. Seit der Einführung des Betreuungsrechts wird eine solche Möglichkeit in der Begründung eines Betreuungsverhältnisses gesehen.18 Allerdings prüft der Bundesgerichtshof diesen Gesichtspunkt regelmäßig nicht bei der Frage, ob die Voraussetzungen einer Maßregel überhaupt vorliegen, sondern erst bei der Erörterung einer primären Aussetzung nach § 67b StGB. Anders soll es sich nur dann gestalten, wenn die Anlaßtaten bereits während einer nicht-kriminalrechtlichen Unterbringung auftreten: es soll nicht zur Aufgabe des psychiatrischen Maßregelvollzugs werden, Einrichtungen der Allgemeinpsychiatrie und Pflegeheime von besonders schwierigen Patienten zu entlasten.19 Die ältere Rechtsprechung befaßt sich darüber hinaus immer wieder mit Fällen, in denen anläßlich eines rechtswidrigen Delikts eine psychiatrische Unterbringung nach den früheren Unterbringungsgesetzen der Länder angeordnet wurde. Dabei wird in einigen Entscheidungen nicht von vornherein ausgeschlossen, daß die nicht-kriminalrechtliche Unterbringung gegenüber der psychiatrischen Maßregel ein milderes Mittel darstellen kann.20 In Betracht gezogen wird dies allerdings einer Plastikpistole, das durch einen Mittäter vollzogene Aufbrechen zweier Kraftwagen, um darin zu nächtigen, sowie ein Ladendiebstahl mit einem Schaden von 4,99 DM. Ähnlich BGH, Urteil vom 27. Mai 1992 – 3 StR 10 / 92 (= StV 1992, 571 f.). 16 BGH, Beschluß vom 20. März 1997 – 5 StR 95 / 97 (= NStZ-RR 1997, 290). 17 LG Duisburg, Urteil vom 27. August 1997 – 54 KLs 15 Js 525 / 95 – 19 / 97 (= StraFo 1998, 69). 18 BGH, Beschlüsse vom 15. Juli 1992 – 5 StR 333 / 92 (= NStZ 1992, 538 f.) und vom 19. März 1997 – 5 StR 99 / 97 (= StV 1997, 467); der Verurteilte des letztgenannten Verfahrens hatte nach jahrzehntelanger weitgehender Unauffälligkeit zwei Körperverletzungen begangen. Weiterhin BGH, Beschluß vom 19. Februar 1998 – 5 StR 17 / 98 (= StV 1999, 489). 19 BGH, Urteile vom 22. Januar 1998 – 4 StR 354 / 97 (= NStZ 1998, 405 f.) und vom 4. August 1998 – 5 StR 223 / 98 (= NStZ-RR 1998, 359); Beschluß vom 25. August 1998 – 4 StR 385 / 98 (ausführlich nur in JURIS veröffentlicht). Zustimmend und verallgemeinernd zu dieser Rechtsprechung Tröndle / Fischer (2003: Rn. 14 zu § 63 StGB). 20 BGH, Urteile vom 3. Juli 1958 – 4 StR 129 / 58 (= BGHSt 12, 50) und vom 2. Februar 1962 – 4 StR 496 / 61 (= BGHSt 17, 123); ablehnend etwa BGH, Urteil vom 15. Juni 1964 – 2 StR 196 / 64 (= BGHSt 19, 348) mit dem Argument, die Unterbringung nach hessischem Landesrecht sei wegen der dort möglichen Beurlaubung in ihrer Sicherungswirkung dem psychiatrischen Maßregelvollzug nicht vergleichbar. 22 Dessecker
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eher bei leichteren Anlaßtaten, bei denen ein geringeres Bedürfnis an einer Mitwirkung der Kriminaljustiz bei Entscheidungen über eine Entlassung aus der stationären Psychiatrie bestehe.21 Aus empirischer Sicht ist festzuhalten, daß Ausführungen zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in den schriftlichen Urteilsbegründungen einer Maßregel nach § 63 StGB die Ausnahme darstellen.22 Allerdings ist auch nicht zu erwarten, daß dieser Gesichtspunkt in der Gerichtspraxis bei allen Entscheidungen dieser Art als besonders begründungsbedürftig gilt. In vielen Verfahren wegen schwerer Delikte, in denen aufgrund der Begutachtung eine Gefährlichkeitsprognose gestellt werden kann, dürfte sich eine Erörterung in den Urteilsgründen erübrigen, wenn man die höchstrichterliche Rechtsprechung berücksichtigt. Ist bereits in der Hauptverhandlung zwischen den Verfahrensbeteiligten ein weitgehender Konsens über die Sanktionierung erreicht oder wird kein Rechtsmittel eingelegt23, so neigen zumindest manche Gerichte zu abgekürzten Darstellungen (§ 267 IV StPO), obwohl die Anordnung einer Maßregel nach der Vorschrift des § 267 VI 1 StPO immer begründet werden muß. Die veröffentlichten Revisionsentscheidungen des Bundesgerichtshofs argumentieren fast ausschließlich fallbezogen. Nur ausnahmsweise finden sich allgemeinere Aussagen über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, etwa zum Subsidiaritätsprinzip, das im gesamten Maßregelrecht gelte.24
B. Verhältnismäßigkeit der Vollstreckungsdauer Anders als zu den Anordnungsvoraussetzungen liegen zur Frage der Vollstrekkungsdauer grundsätzliche Aussagen der Verfassungsrechtsprechung vor. Sie geht aus von der bereits erwähnten Leitentscheidung in dem Fall des Maßregelpatienten Paul Stein.25 Das Bundesverfassungsgericht erklärt seine Verfassungsbeschwerden, die sich gegen verschiedene Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer und des Oberlandesgerichts richteten, im wesentlichen für begründet. Die Entscheidungen über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67d II StGB) verletzten sein Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 II 2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Die Grundrechtsverletzung wird nicht aus den Sanktionsnormen selbst hergeleitet, sondern aus ihrer Anwendung durch BGH, Urteil vom 30. November 1954 – 1 StR 581 / 54 (= BGHSt 7, 61, 64). Dessecker (1997: 87). 23 Revision wird nach der bundesweiten Aktenanalyse in jedem vierten Fall eingelegt; siehe Dessecker (1997: 208). Nicht selten werden diese Rechtsmittel wieder zurückgenommen. 24 BGH, Urteil vom 4. August 1998 – 5 StR 223 / 98 (= NStZ-RR 1998, 359 f.) unter Bezugnahme auf Hanack (1991: Rn. 58 ff. vor § 61, 82 ff. zu § 63 StGB). 25 BVerfG, Beschluß vom 8. Oktober 1985 – 2 BvR 1150 / 80 u. a. (= BVerfGE 70, 297). 21 22
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die Strafgerichte, für die verfahrensrechtliche Vorkehrungen wie Sachaufklärungsund Begründungspflichten entscheidende Bedeutung gewinnen. Aus dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich konkrete Anforderungen an die jährliche Überprüfung, ob die Vollstreckung der Maßregel nachträglich zur Bewährung ausgesetzt werden soll. Zum einen ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers immer dann angebracht, wenn ein Maßregelpatient selbst seine Rechte nicht in geeigneter Weise wahrnehmen kann.26 Erforderlich ist weiter eine hinreichende Tatsachengrundlage, die in aller Regel mit Hilfe psychiatrischer Gutachten geschaffen werden muß. Diese müssen „ – je nach Sachlage – ein möglichst umfassendes Bild der zu beurteilenden Person“ zeichnen und sollten „zudem nicht aus länger zurückliegender Zeit stammen“. Mit der Unterbringungsdauer steigen die Anforderungen an eine verfassungskonforme Sachaufklärung: „Befindet sich der Untergebrachte seit langer Zeit in ein und demselben psychiatrischen Krankenhaus, so ist es in der Regel geboten, von Zeit zu Zeit einen anstaltsfremden Sachverständigen hinzuzuziehen. Denn je länger die Unterbringung dauert, desto strengere Anforderungen sind aufgrund der Wirkkraft des Freiheitsgrundrechts des Untergebrachten auch an die Sachverhaltsaufklärung zu stellen, um der Gefahr von Routinebeurteilungen möglichst vorzubeugen.“27
Da das Gesetz für die Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug keine Höchstfrist festlegt, wird die Vollstreckungsdauer allein durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt, dessen Reichweite über den Wortlaut des § 62 StGB hinausgeht: „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet, die Unterbringung eines Täters in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB nur solange zu vollstrecken, wie der Zweck dieser Maßregel es unabweisbar erfordert und zu seiner Erreichung den Untergebrachten weniger belastende Maßnahmen – im Rahmen der Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung (vgl. §§ 67d Abs. 2, 68a, 68b StGB) – nicht genügen. ( . . . ) Je länger aber die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauert, um so strenger werden die Voraussetzungen für eine Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs sein.“28
Zwar überprüft das Bundesverfassungsgericht die Prognoseentscheidungen der Strafvollstreckungskammern grundsätzlich nur darauf, ob überhaupt eine Abwägung der relevanten Gesichtspunkte stattgefunden hat und die Bewertungsmaßstäbe den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Doch „mit dem immer stärker werdenden Freiheitseingriff“ bei lang dauernden Unterbringungen „wächst die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte“. Dann müssen vor allem Wahrscheinlichkeit und Deliktsart drohender rechtswidriger Taten konkret dargestellt werden.29 Der Sache nach knüpft das Gericht, ohne das in 26 27 28 29
22*
BVerfGE 70, 297 (322 f.). BVerfGE 70, 297 (310 f.). BVerfGE 70, 297 (314 f.). BVerfGE 70, 297 (315).
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dieser Entscheidung durch ausdrückliche Zitate deutlich zu machen, damit an eine ständige Rechtsprechung an, die drei allgemeine Kriterien zur Konkretisierung des Übermaßverbots entwickelt hat.30 Dabei handelt es erstens um die Intensität des Eingriffs: je stärker eine Regelung in individuelle Rechtspositionen eingreift, desto schwerer müssen auch die Gemeinwohlinteressen wiegen, denen die Regelung dienen soll. Mit den Gemeinwohlinteressen ist bereits ein zweites Kriterium benannt. Und drittens werden die geschützten Grundrechtspositionen selbst herangezogen: „Je mehr der Eingriff elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit berührt, um so sorgfältiger müssen die zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden.“31
Im Normbereich der Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG), die im Vergleich zu anderen Grundrechten als besonders schutzbedürftig gilt32, wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt angewandt. Dabei beschäftigt sich die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu einem großen Teil mit Fragen der Untersuchungshaft, aber auch mit zahlreichen weiteren Formen von Freiheitsentziehungen.33 Eine weitere verfassungsgerichtliche Entscheidung zum Maßregelrecht betrifft zwar unmittelbar erst Anordnung und Vollstreckung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB), ist aber auch für die kriminalrechtliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus von Bedeutung, weil die überprüften Normen teilweise für beide Maßregeln gelten. Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 16. März 1994 enthält nämlich eine verfassungsrechtliche Begründung des vikariierenden Sanktionensystems, in dem Maßregel und Freiheitsstrafe nebeneinander verhängt werden können, jedoch in ihrer Vollstreckung aufeinander abgestimmt sind.34 Der Senat macht zunächst knappe, aber grundsätzliche Ausführungen zum Zweck des Maßregelrechts. Wo das Schuldprinzip nicht gilt, fordert das Grundrecht der Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG), daß Freiheitsentziehungen „nur zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren erheblichen rechtswidrigen Taten vorgesehen werden“ dürfen. Die gesetzlichen Voraussetzungen von Anordnung und Vollstreckung freiheitsentziehender Maßregeln müssen, wie schon im Fall Stein entschieden wurde, „in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Schutz von Interessen der Allgemeinheit stehen“. Schließlich müssen die Zusammenfassend Grabitz (1973: 581). BVerfG, Beschluß vom 7. April 1964 – 1 BvL 12 / 63 (= BVerfGE 17, 306, 314) und Urteil vom 5. August 1966 – 1 BvF 1 / 61 (= BVerfGE 20, 150, 159). 32 BVerfG, Urteile vom 18. Juli 1967 – 2 BvF 3 / 62 u. a. (= BVerfGE 22, 180, 219) und 21. Juni 1977 – 1 BvL 14 / 76 (= BVerfGE 45, 187, 223); Beschlüsse vom 6. Februar 1980 – 2 BvR 1070 / 79 (= BVerfGE 53, 152, 158) und vom 3. Juni 1992 – 2 BvR 1041 / 88 u. a. (= BVerfGE 86, 288, 326); aus der Literatur Grabitz (1973: 608). 33 Siehe als Überblick Grabitz (1973: 597) und Starck (1999: Rn. 221 ff. zu Art. 2 GG). 34 BVerfG, Beschluß vom 16. März 1994 – 2 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1, 27 ff.). Zu Folgerungen für die psychiatrische Unterbringung etwa Kruis (1998). 30 31
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beiden Spuren des kriminalrechtlichen Sanktionensystems eng miteinander verbunden werden: „Die Freiheitsstrafe und die Maßregel ( . . . ) verfolgen verschiedene Zwecke. Sie können deshalb auch nebeneinander angeordnet werden. Beide staatlichen Reaktionen auf eine Tat sind indes mit Freiheitsentzug verbunden. Das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG erfordert es deshalb, sie einander so zuzuordnen, daß die Zwecke beider möglichst weitgehend erreicht werden, ohne dabei in das Freiheitsrecht des einzelnen Betroffenen mehr als notwendig einzugreifen.“35
Aus dieser Sicht spricht verfassungsrechtlich nichts gegen Vollstreckungsnormen, die eine teilweise Anrechnung der Zeit im Maßregelvollzug auf die Strafe vorsehen. Der Gesetzgeber hat einen Gestaltungsspielraum bei der Entscheidung, wie Straf- und Maßregelzwecke aufeinander abgestimmt werden sollen. Vorstellbar, wenn auch schwierig abzugrenzen, sind sogar Fallgestaltungen, in denen keinerlei Anrechnung stattfindet – nämlich dann, wenn eine Behandlung im Maßregelvollzug allein wegen Therapieunwilligkeit der Betroffenen scheitert, für die keine „achtbaren Gründe“ bestehen. Diese zentralen Entscheidungen werden durch einen Kammerbeschluß aus dem Jahr 1995 ergänzt. Damit weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, daß unverhältnismäßig lang dauernde Unterbringungen im psychiatrischen Maßregelvollzug wegen leichterer Delikte zumindest in Einzelfällen bis in die Gegenwart vollzogen werden.36 Erweist sich die Vollstreckungsdauer einer psychiatrischen Unterbringung als unverhältnismäßig, so ist eine spezifische Entwicklung der Rechtsprechung von Bedeutung. Während das Gesetz für die Entlassung aus dem Maßregelvollzug – von Sonderfällen wie der Verlegung in eine andere Vollzugseinrichtung abgesehen – nur die Aussetzungsvorschrift nach § 67d II StGB vorsieht, wurde von der Rechtsprechung die Alternative entwickelt, die Maßregel unmittelbar – ohne Möglichkeit eines späteren Widerrufs – für erledigt zu erklären. Diese Entscheidungsmöglichkeit ist weitgehend anerkannt für den Fall, daß die Überzeugung des erkennenden Gerichts vom Bestehen einer psychischen Störung sich im nachhinein als unrichtig herausstellt.37 Dann fehlte von Anfang an eine Voraussetzung für die Anordnung der Maßregel. BVerfGE 91, 1 (31). BVerfG, Beschluß vom 6. April 1995 – 2 BvR 1087 / 94 (= NJW 1995, 3048). Der Beschwerdeführer befand sich aufgrund einer Verurteilung aus dem Jahr 1965, der ein Verstoß gegen ein Bahnhofsverbot zugrunde lag, mit Unterbrechungen etwa 24 Jahre lang im Maßregelvollzug. 37 Siehe z. B. Horstkotte (1983: Rn. 48 zu § 67d StGB); Lackner (2001: Rn. 7 zu § 67d StGB); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 5 zu § 67d StGB). Grundlegende Gerichtsentscheidungen sind OLG Nürnberg, Beschluß vom 13. September 1960 – Ws 376 / 60 (= MDR 1961, 342) und OLG Frankfurt, Beschluß vom 22. Mai 1978 – 3 Ws 290 / 78 (= NJW 1978, 2347). Teilweise wird in dieser Fallgruppe auch für eine Wiederaufnahme des Verfahrens plädiert; ausführlich zu diesem Ansatz Bechtoldt (2002: 184 ff.). 35 36
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Weitere Fallgruppen, bei denen die Voraussetzungen für die Anordnung der Unterbringung nicht mehr angezweifelt werden, sind dagegen umstritten. Dort geht es um Einschätzungen von Behandlungserfolgen und Erfolgsaussichten einer Therapie. Nach einzelnen Gerichtsentscheidungen soll eine Erledigung der Maßregel auch dann möglich sein, wenn entweder keine Behandlung im Maßregelvollzug mehr erforderlich ist38 oder eine weitere Behandlung als aussichtslos betrachtet wird.39 Während sich die Fälle erfolgreicher Behandlungen ohne Schwierigkeit mit der gesetzlich vorgesehenen Aussetzung der Maßregel (§ 67d II StGB) lösen lassen, betrifft die letztere Fallgruppe das Verhältnis von Sicherung und Therapie. Anders als die Unterbringung von Straftätern bei Abhängigkeit (§ 64 StGB) steht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach geltendem Recht nicht unter dem Vorbehalt therapeutischer Erfolgsaussichten.40 Daher wäre es systemwidrig, würde man bei Aussichtslosigkeit eine Erledigung der Maßregel vorsehen. Hier interessiert vor allem eine vierte Fallgruppe, in der die Maßregel wegen unverhältnismäßig langer Vollzugsdauer für erledigt erklärt wird. Diesen Weg wählt etwa das Oberlandesgericht Hamm nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Fall Paul Stein.41 Weitere Oberlandesgerichte und Teile der Literatur folgen dieser Auffassung.42 Neuerdings weist das Bundesverfassungsgericht selbst auf diese Möglichkeit hin.43
38 OLG Frankfurt, Beschluß vom 22. Mai 1978 – 3 Ws 290 / 78 (= NJW 1978, 2347) und OLG Karlsruhe, Beschluß vom 27. Mai 1987 – 4 Ws 119 / 87 (= Justiz 1987, 463). Ähnlich (de lege ferenda) Bechtoldt (2002: 173 ff.) und Küchenmeister (1985: 42, 58); schon für das geltende Recht Laubenthal (1990: 361 f.) und Schreiber (2000: 42 f.); ablehnend etwa E. Horn (1999: Rn. 22 zu § 63 StGB), Horstkotte (1983: Rn. 48 zu § 67d StGB) und Streng (2002: 189). 39 So LG Göttingen, Beschluß vom 1. Dezember 1989 – StVK 840 / 89 u. a. (= NStZ 1990, 299). Diese Entscheidung sollte offenbar eine Verlegung in die Sicherungsverwahrung ermöglichen, die in einem anderen Verfahren angeordnet worden war. Ablehnend Lackner (2001: Rn. 7 zu § 67d StGB). 40 Siehe bereits Kapitel 12 D. (S. 207 ff.); aus der Rechtsprechung BGH, Urteile vom 4 Oktober 1977 – 1 StR 444 / 77 (bei Holtz, MDR 1978, 110), vom 21. September 1982 – 1 StR 489 / 82 (= NJW 1983, 350) und vom 13. Juli 1989 – 4 StR 308 / 89 (bei Detter, NStZ 1990, 224). 41 OLG Hamm, Beschluß vom 30. Januar 1986 – 4 Ws 58 / 86 (= EuGRZ 1986, 545). 42 OLG Celle, Beschluß vom 4. April 1989 – 1 Ws 65 / 89 (= NStZ 1989, 491 f.); OLG Karlsruhe, Beschluß vom 14. August 1998 – 2 Ws 149 / 98 (= NStZ 1999, 37); zustimmend Bechtoldt (2002: 118 ff., 177 f.); Kammeier (1996: 233); Stree (2001: Rn. 3 zu § 62 StGB); Volckart (1999: 236). Offen gelassen wird die Möglichkeit einer Erledigung der Maßregel von KG, Beschluß vom 6. Dezember 1999 – 5 Ws 333 / 99 (in JURIS veröffentlicht), wo auch eine Aussetzung nach § 67d II StGB in Betracht gezogen wird; ausdrücklich abgelehnt wird die Erledigungserklärung in diesen Fällen wohl nur von Tröndle / Fischer (2003: Rn. 6 zu § 62 StGB). 43 BVerfG, Beschluß vom 6. April 1995 – 2 BvR 1087 / 94 (= NJW 1995, 3048 f.).
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C. Zur Konkretisierung der Verhältnismäßigkeit In der rechtssystematischen Literatur ist es üblich, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in drei Teilaussagen auszudifferenzieren, die eine Konkretisierung mittels dreier hintereinander geschalteter Prüfungsstufen gestatten. Über diese Dreiteilung besteht im Ausgangspunkt Einigkeit, obwohl die Formulierungen nicht vollkommen übereinstimmen.44 Versteht man den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeinen Rechtsgrundsatz, der die gesamte Rechtsordnung betrifft, so erscheint es sinnvoll, die drei Schritte auch für das kriminalrechtliche Maßregelrecht beizubehalten, um den Anschluß an die Dogmatik des öffentlichen Rechts nicht zu verlieren.45 Dagegen werden weitere Gesichtspunkte wie die verfassungsrechtliche Legitimität von Zweck und Mittel eines Eingriffs, die teilweise als Vorfragen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung diskutiert werden46, an dieser Stelle nicht vertieft. Von der prinzipiellen Legitimität eines staatlichen Schutzes vor schweren Straftaten kann hier ebenso ausgegangen werden wie von der Legitimität von Freiheitsentziehungen als kriminalrechtlichen Sanktionen.
I. Geeignetheit Auf einer ersten Stufe wird meist die Geeignetheit eines Mittels zur Erreichung eines erstrebten Zwecks geprüft. Eine Strömung in der Dogmatik des öffentlichen Rechts nimmt zwar an, daß diese Frage nur positiv oder negativ beantwortet werden kann; wegen eines strukturellen Unterschieds zu den weiteren Teilprinzipien der Erforderlichkeit und Proportionalität, die jeweils quantitative Beziehungen des Mehr oder Weniger betreffen, sei die Eignungsprüfung lediglich eine Vorfrage des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.47 Allerdings lassen es die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ebenso wie eine in der Literatur verbreitete Gegenauffassung ausreichen, daß ein Gesetz teilweise zur Erreichung der erstrebten Zwecke geeignet ist48; damit wird eine quantitative Abstufung eingeführt. Auch in der öffentlich-rechtlichen Literatur wird dementsprechend das Prinzip der Geeig44 Siehe z. B. Clérico (2001: 18, 26 ff.); Dechsling (1989: 5); Götz (2001: 129 f.); Grabitz (1973: 570 f.); Gusy (2000: 213 ff.); Hirschberg (1981: 19 ff.); Kim (2000: 93 f.); Kruis (1998: 94); Ossenbühl (1997: 618 ff.); Pieroth / Schlink (2001: 65 ff.); Schulze-Fielitz (1998: Rn. 168 zu Art. 20 GG); Stern (1993: 166). 45 So bereits Bae (1985: 198 ff.) und Kaiser (1990: 13). 46 Etwa von Clérico (2001: 64 ff.); Gentz (1968); Gusy (2000: 214); Sommermann (2000: Rn. 304 zu Art. 20 GG). 47 Grabitz (1973: 571); Hirschberg (1981: 248); Lerche (1961: 19 f.). 48 BVerfG, Urteil vom 22. Mai 1963 – 1 BvR 78 / 56 (= BVerfGE 16, 147, 181 ff.) und Beschluß vom 20. Juni 1984 – 1 BvR 1494 / 78 (= BVerfGE 67, 157, 175). Ebenso Dechsling (1989: 81); Gentz (1968: 1603); Götz (2001: 134); Kim (2000: 95); Leisner (1999: 813 f.); Schulze-Fielitz (1998: Rn. 170 zu Art. 20 GG).
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
netheit überwiegend als Teil des Verhältnismäßigkeitsprinzips in einem weiteren Sinne verstanden.49 Mit dieser systematischen Einordnung ist aber noch nicht notwendig über die inhaltlichen Anforderungen an die Geeignetheit eines Mittels entschieden. Denkbar wäre eine „starke“ Version der Geeignetheit, nach der ein Mittel nur dann als geeignet anzusehen wäre, wenn die Erfüllung des angestrebten Zwecks in optimaler Weise gefördert würde.50 So verstanden, würden sich die Anforderungen einem Ideal annähern, das praktisch nicht zu erfüllen wäre; die weiteren Elemente des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit würden funktionslos. Soweit ersichtlich, wird diese Version auch nirgendwo vertreten. Statt dessen verständigen sich verfassungsgerichtliche Rechtsprechung und Literatur des öffentlichen Rechts auf eine „schwache“ Version der Geeignetheit, die in unterschiedlichen Formulierungen auftritt. So wird danach gefragt, ob mit Hilfe des gewählten Mittels der angestrebte Erfolg gefördert werden kann, oder negativ gewendet, ob das Mittel objektiv untauglich ist oder in keinem Bezug zur Erreichung des erstrebten Zwecks steht.51 Überträgt man diese Anforderungen auf die psychiatrische Unterbringung nach § 63 StGB, so ist zu prüfen, ob diese Maßregel ein taugliches Mittel darstellt, den beabsichtigten Erfolg zu erreichen.52 Die Geeignetheitsprüfung setzt voraus, daß der Zweck der Maßregel feststeht. Wie in Kapitel 12 ausführlicher begründet wurde, liegt der Zweck aller Maßregeln in der Prävention künftiger Delikte, also in der Gefahrenabwehr. Bei der psychiatrischen Unterbringung geht es um eine Gruppe von Verurteilten, welche durch die Begehung einer erheblichen Anlaßtat im Zustand einer psychischen Störung und eine Prognose der auf diese Störung zurückgehenden weiteren Gefährlichkeit gekennzeichnet wird. Mit der Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug werden „bessernde“ und „sichernde“ Zielsetzungen verbunden.53 Die therapeutischen Verfahren, die in den zuständigen Einrichtungen eingesetzt werden, orientieren sich an psychowissenschaftlichen Ansätzen, die auch sonst bei Menschen mit psychischen Störungen praktiziert werden. Allerdings gibt es bestimmte Patientengruppen, die im psychiatrischen Maßregelvollzug stärker vertreten sind als in allgemeinpsychiatrischen Einrichtungen. Vor allem bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen sind therapeutische Verfahren noch wenig entwickelt. Dennoch wird man auch bei dieser Gruppe nicht von vornherein sagen können, der psychiatrische Maßregelvollzug sei für sie untauglich. Zum einen gibt es vor allem in den größeren spezialisierten Einrichtungen einiger 49 Siehe etwa Clérico (2001: 26 ff.); Dechsling (1989: 75 ff.); Götz (2001: 134 f.); Pieroth / Schlink (2001: 65 f.); Schulze-Fielitz (1998: Rn. 168 ff. zu Art. 20 GG); weiterhin Gusy (2000: 214) und Stern (1993: 166), die allerdings den Begriff „Übermaßverbot“ als Oberbegriff vorziehen. 50 So aus rechtstheoretischer Sicht Clérico (2001: 37 f.). 51 Zusammenfassend Clérico (2001: 38 ff.); Dechsling (1989: 75 ff.); Hirschberg (1981: 54 ff.); Lagodny (1996: 173 ff.); Stern (1994: 776 ff.). 52 Bae (1985: 131); Frisch (1983: 100 ff.). 53 Siehe die Ausführungen in Kapitel 12 D. (S. 207 ff.).
Kap. 16: Verhältnismäßigkeit bei der psychiatrischen Unterbringung
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Bundesländer entsprechende Ansätze. Und zum anderen erfüllt die Maßregel auch eine Sicherungsfunktion, der durch personelle und bauliche Vorkehrungen entsprochen werden kann. Liegen die Voraussetzungen der Maßregel nach § 63 StGB vor, so bleibt damit faktisch wenig Raum für die Annahme, diese Maßregel sei gleichwohl ungeeignet zur Gefahrenabwehr.54 Das gilt um so mehr, wenn die Anordnungsvoraussetzungen entsprechend den oben entwickelten Kriterien55 restriktiv ausgelegt werden. Geht man mit der überwiegenden Auffassung davon aus, daß das Prinzip der Geeignetheit nicht mehr bewirken kann als eine Aussonderung extrem verfehlter Anwendungsfälle56, so wird diese Funktion bei der psychiatrischen Unterbringung in aller Regel bereits durch die Anordnungsvoraussetzungen erfüllt.
II. Erforderlichkeit Erforderlich ist eine Maßnahme nach allgemeinen Grundsätzen dann, wenn kein milderes Mittel zur Verfügung steht, das ebenso gut geeignet ist, den angestrebten Zweck zu erreichen. In einer Formulierung von Peter Lerche: „Unter mehreren möglichen (= zur Zweckerreichung geeigneten) Instrumenten darf nur dasjenige gewählt werden, das die geringsteinschneidenden Folgen hervorruft.“57
Bei der Erforderlichkeit einer psychiatrischen Unterbringung sind zumindest die Fälle systematisch einzuordnen, in denen die Rechtsprechung prüft, ob eine kriminalrechtliche Maßregel unverhältnismäßig ist, weil die Anlaßtat während einer bereits bestehenden nicht-kriminalrechtlichen Unterbringung in einer Institution geschehen ist.58 Solche Fälle, in denen es um die Wahl des mildesten Mittels geht, werden im Maßregelrecht häufig unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität diskutiert.59 Allerdings ist heute nicht mehr recht erkennbar, worin der Vorteil dieser 54 So auch Bae (1985: 199); Meier (2001: 221). Eine mögliche Ausnahme ist der in Kapitel 13 B. IV. (S. 223) diskutierte Lehrbuchfall. 55 Siehe Kapitel 13 (S. 210 ff.). 56 Allgemein Dechsling (1989: 75 ff.) und Hirschberg (1981: 54 ff.); einschränkend neuerdings Leisner (1999: 812 ff.). Zu den kriminalrechtlichen Maßregeln bereits Bae (1985: 135). 57 Lerche (1961: 19). Ähnlich Clérico (2001: 74); Frisch (1983: 104); Gusy (2000: 214); Hirschberg (1981: 57); Lagodny (1996: 179 ff.); Pieroth / Schlink (2001: 66); Schulze-Fielitz (1998: Rn. 171 zu Art. 20 GG); aus der Rechtsprechung BVerfG, Beschluß vom 16. März 1971 – 1 BvR 52 / 66 u. a. (= BVerfGE 30, 292, 316). 58 BGH, Urteile vom 22. Januar 1998 – 4 StR 354 / 97 (= NStZ 1998, 405 f.) und vom 4. August 1998 – 5 StR 223 / 98 (= NStZ-RR 1998, 359); Beschluß vom 25. August 1998 – 4 StR 385 / 98 (ausführlich nur in JURIS veröffentlicht). Hierzu bereits Kapitel 16 A. (S. 337). 59 BGH, Urteil vom 4. August 1998 – 5 StR 223 / 98 (= NStZ-RR 1998, 359 f.); Böllinger (1995: Rn. 56 zu § 61 StGB); Hanack (1991: Rn. 58 ff. vor § 61 StGB); E. Horn (1999: Rn. 16 zu § 61 StGB); Horstkotte (1983: Rn. 5 ff. zu § 67b StGB); Lenckner (1972: 191 f.);
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
eigenständigen Terminologie liegen sollte. Obwohl der Gesetzestext seit der Strafrechtsreform – anders als früher § 42b StGB a.F. – das Wort „erforderlich“ nicht mehr ausdrücklich nennt, ist mit der gleichzeitig eingeführten deklaratorischen Verdeutlichung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der heutigen Vorschrift des § 62 StGB für alle kriminalrechtlichen Maßregeln klar gestellt, daß sie auch im Einzelfall erforderlich sein müssen. Eine Sanktion, die nicht das mildeste Mittel unter mehreren voraussichtlich gleich wirksamen Alternativen darstellt, wäre nämlich erst recht nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Die Reichweite des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht geht über den Wortlaut des § 62 StGB hinaus.60 Wesentlicher als dieses terminologische Problem erscheint die Frage, ob der Gesichtspunkt der Erforderlichkeit schon bei der Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen einer psychiatrischen Unterbringung nach § 63 StGB zu prüfen ist oder erst bei der nachrangigen Untersuchung einer primären Aussetzung der Maßregel zur Bewährung (§ 67b I 1 StGB). Daß die alsbaldige Vollstreckung der Maßregel erforderlich sein muß, ist nach dem Gesetzestext klar; denn die Aussetzung zur Bewährung ist in Verbindung mit der daraus folgenden Führungsaufsicht (§ 67b II StGB) als milderes Mittel anzusehen, das die Erreichung des Sanktionszwecks der Gefahrenabwehr im Einzelfall ebenso gut gewährleisten kann wie der Aufenthalt im psychiatrischen Maßregelvollzug. Wer auf einer Erforderlichkeitsprüfung schon im Zusammenhang mit der Feststellung der Anordnungsvoraussetzungen besteht, muß letztlich in Kauf nehmen, daß diese Prüfung im unmittelbaren Anschluß bei der Frage der Aussetzung erneut aufzugreifen ist. Welche Gesichtspunkte sprechen dafür, den Grundsatz der Erforderlichkeit bereits für die Feststellung der Anordnungsvoraussetzungen heranzuziehen? Verwiesen wird vor allem auf den fragmentarischen Charakter des Kriminalrechts insgesamt: wenn ein milderes Mittel als eine psychiatrische Unterbringung nach § 63 StGB zur Verfügung steht, das ebenso erfolgversprechend ist, dann besteht letztlich kein Bedürfnis für ihre Anordnung.61 Die Gegenauffassung beruft sich auf die Gesetzesmaterialien und letztlich auf Zweckmäßigkeitserwägungen. Die ausdrückliche Bezugnahme auf die Erforderlichkeit der Maßregel in § 42b StGB a.F. sei durch das 2. Strafrechtsreformgesetz bewußt gestrichen worden, um eine gezielte und wirksame Prävention nicht zu erschweren; es sei vorteilhaft, nicht-kriminalrechtliche Alternativen nur unter dem Druck einer zur Bewährung ausgesetzten B. Müller (1981: 87 ff.); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 6 zu § 62 StGB); Warda (1962: 148). Eine grundsätzliche Kritik der Verbindung mit dem Subsidiaritätsgedanken findet sich schon bei Lerche (1961: 200 ff.); für das Maßregelrecht spricht bereits Frisch (1990: 378) vom Grundsatz der Erforderlichkeit. 60 Bae (1985: 142); E. Horn (1999: Rn. 2 zu § 62 StGB); Kammeier (1996: 215); Lackner (2001: Rn. 1 zu § 62 StGB); Meier (2001: 221). 61 Bae (1985: 139 ff.); Böllinger (1995: Rn. 56 zu § 61 StGB); Hanack (1991: Rn. 63 vor § 61 StGB); Horstkotte (1983: Rn. 7 ff. zu § 67b StGB); B. Müller (1981: 100 ff.); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 6 zu § 62 StGB).
Kap. 16: Verhältnismäßigkeit bei der psychiatrischen Unterbringung
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psychiatrischen Unterbringung (§§ 63, 67b StGB) und der damit verbundenen Führungsaufsicht zu erproben.62 Der Streit bezieht sich ausschließlich auf die Tragweite des Grundsatzes der Erforderlichkeit, nicht auf seine Anwendbarkeit. Insofern erscheinen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte für die Argumentation nicht zwingend. Die kriminalpolitisch sinnvolle Möglichkeit, eine freiheitsentziehende Maßregel sogleich zur Bewährung auszusetzen, liefert keinen überzeugenden Einwand gegen die Behauptung, daß voraussichtlich gleich wirksame Alternativen außerhalb des Maßregelrechts schon die Anordnung einer Maßregel überflüssig machen können. Was die daneben praktizierte historische Auslegung betrifft, weist sie zwar darauf hin, daß die Gesetzgebung der Strafrechtsreform im Fall nahe liegender Alternativen den Weg über die damals eingeführte Vorschrift des § 67b StGB favorisiert hat, um im Zweifel den Rückgriff auf eine vollstreckbare Maßregel nicht zu erschweren. Dieses kriminalpolitische Ziel widerstreitet aber in einem gewissem Maß der gleichzeitig verfolgten Bestrebung, die psychiatrische Unterbringung nur noch bei der Erwartung erheblicher rechtswidriger Taten vorzusehen.63 Vor allem wäre es jedoch problematisch, den die gesamte Rechtsordnung prägenden und verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für das Maßregelrecht teilweise zu suspendieren.64 Aus dieser Sicht erscheint es vorzugswürdig, den Grundsatz der Erforderlichkeit bereits bei der Anordnung der psychiatrischen Unterbringung zu berücksichtigen. Das ist auch im Hinblick auf die Gerichtspraxis unproblematisch, soweit für die psychiatrische Unterbringung im Maßregelvollzug und eine mögliche Alternative dasselbe Gericht zuständig ist. Weichen die Zuständigkeiten voneinander ab, so sollte eine frühzeitige Klärung erfolgen, ob beispielsweise eine ins Auge gefaßte Unterbringung nach Landesrecht noch vor Abschluß des Straf- oder Sicherungsverfahrens angeordnet werden kann. Ein erstes funktionales Äquivalent zu der Unterbringung nach § 63 StGB ist in der Maßregel nach § 64 StGB zu sehen. Die Konkurrenz dieser beiden Maßregeln tritt deswegen auf, weil Substanzmißbrauch und -abhängigkeit zugleich unter den weiteren Begriff der psychischen Störung fallen und die Schuldfähigkeit beeinträchtigen können. „Hang“ zum Konsum psychotroper Substanzen und psychisch abweichender „Zustand“ überschneiden sich. Wie bereits ausgeführt, erscheint die von der Rechtsprechung praktizierte Abgrenzung der Anordnungsvoraussetzungen beider Maßregeln problematisch65: während der Hangbegriff bei der Unterbrin62 E. Horn (1999: Rn. 16 zu § 61 StGB); Lenckner (1972: 192); Stree (2001: Rn. 19 zu § 63 StGB); im Ergebnis ebenso Meier (2001: 258). 63 Siehe bereits Kapitel 6 A. V. (S. 117). 64 Ebenso Bae (1985: 141); Hanack (1991: Rn. 61 vor § 61 StGB); Horstkotte (1983: Rn. 10 zu § 67b StGB); B. Müller (1981: 100 ff.); Müller-Dietz (1983: 149); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 6 zu § 62 StGB). 65 Kapitel 14 A. (S. 259 ff.).
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
gung nach § 64 StGB teilweise recht weit interpretiert wird, soll eine Abhängigkeit zur Anwendung der Maßregel nach § 63 StGB führen.66 Abgesehen von der wenig überzeugenden Inkonsistenz im Umgang mit verschiedenen Konzepten einer Suchtproblematik, läßt sich diese Sanktionspraxis mit dem Grundsatz der Erforderlichkeit kaum in Einklang bringen. Hier kommt es auf den soeben diskutierten Streit zur Reichweite dieses Grundsatzes noch nicht an; schon der Regelung in § 72 I 2 StGB ist zu entnehmen, daß unter mehreren geeigneten Maßregeln der für den Täter am wenigsten belastenden der Vorzug gebührt. Das gilt erst recht, wenn man mit der hier vertretenen Auffassung den Grundsatz der Erforderlichkeit schon bei der Anordnung einer Maßregel anwendet. Vergleicht man nämlich die beiden Maßregeln nach § 63 und nach § 64 StGB, so ist zunächst von Bedeutung, daß beide Sanktionen dem allgemeinen Zweck der Gefahrenabwehr dienen.67 Dabei zielt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auf eine spezifische Suchtbehandlung, die in aller Regel auch in spezialisierten Einrichtungen oder Abteilungen größerer Kliniken durchgeführt wird. Ihre Behandlungsprogramme sind auf eine Klientel von Straffälligen mit einer massiven Suchtproblematik zugeschnitten.68 Für diese Zielgruppe dürfte eine Unterbringung in einer Suchtklinik mehr Erfolg versprechen als ein Aufenthalt in einer sonstigen Einrichtung des psychiatrischen Maßregelvollzugs, in der eine Suchtproblematik eher als Begleitsymptomatik behandelt wird. Entscheidend für die Frage nach dem milderen Mittel ist jedoch die rechtliche Ausgestaltung der Maßregel nach § 64 StGB. Sie orientiert sich zwar nicht allein an der Besserung, aber dieses Ziel spielt wegen des Erfordernisses einer konkreten Erfolgsaussicht der Suchtbehandlung und der Möglichkeit, eine begonnene Behandlung wegen Aussichtslosigkeit abzubrechen (§ 67d V StGB), eine wichtigere Rolle als bei der psychiatrischen Unterbringung nach § 63 StGB. Und immerhin ist die Maßregel nach § 64 StGB die einzige freiheitsentziehende Maßregel, deren Dauer grundsätzlich befristet ist (§ 67d I StGB). Der Rechtsprechung, welche die Maßregel nach § 64 StGB in der Konkurrenz mit anderen freiheitsentziehenden Maßregeln als mildere Sanktion (§ 72 I 2 StGB) begreift69, ist aus diesen Gründen zuzustimmen. Es gibt weitere rechtliche Maßnahmen, die als Alternative zu einer Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug vorgeschlagen werden. Während der Geltung des Vormundschaftsrechts für Erwachsene wurde eine Vormundschaft je66 BGH, Urteile vom 5. Juli 1957 – 1 StR 263 / 57 (= BGHSt 10, 353) und vom 26. März 1987 – 1 StR 72 / 87 (= BGHSt 34, 313) sowie Beschluß vom 25. Juni 1997 – 2 StR 283 / 97 (= StV 1998, 72). 67 Siehe Kapitel 12 B. und D. (S. 203 ff.). 68 Bertram (1995); Platz (1995: 89 ff.); Schmitt-Homann (2001: 77 ff.). 69 BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 1995 – 5 StR 656 / 95 (= NStZ-RR 1996, 162 f.), vom 28. Mai 1997 – 2 StR 206 / 97 (= NStZ-RR 1997, 291) und vom 25. Juni 1997 – 2 StR 283 / 97 (= StV 1998, 72); ebenso Böllinger (1995: Rn. 108 zu § 63 StGB); Meier (2001: 274). Volckart (1999: 17) nimmt einen Vorrang der Maßregel nach § 64 StGB wegen Spezialität an.
Kap. 16: Verhältnismäßigkeit bei der psychiatrischen Unterbringung
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denfalls dann als mildere Maßnahme in Betracht gezogen, wenn es um die Verhinderung eher geringfügiger Delikte ging70; in der Gegenwart erstreckt sich dieser Ansatz auf das Rechtsinstitut der Betreuung71, das vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten bis hin zu einer Unterbringung in einer allgemeinpsychiatrischen Einrichtung bietet (§§ 1896, 1906 BGB). Damit kann flexibel und, falls zur Krisenintervention erforderlich, über eine einstweilige Anordnung (§§ 1908i I 1, 1846 BGB) auch schnell eingegriffen werden. Eine Grenze der betreuungsrechtlichen Unterbringung liegt allerdings im „Wohl des Betreuten“; ihre Konzeption ist gerade nicht auf den Schutz fremder Rechtsgüter angelegt.72 Deshalb taugt eine solche Unterbringung nur eingeschränkt als Alternative zu einer kriminalrechtlichen Maßregel.73 Die Bedeutung des Betreuungsrechts im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung reduziert sich damit auf solche Fälle, in denen eine Betreuung bereits angeordnet ist und erwartet werden kann, daß im Rahmen des Betreuungsverhältnisses auch Fremdgefährdungen begegnet werden kann. Offensichtlicher ist das Konkurrenzverhältnis zwischen der Maßregel nach § 63 StGB und einer Unterbringung nach den Landesgesetzen über psychisch Kranke.74 Diese Unterbringungsvorschriften setzen neben einer psychischen Störung eine unmittelbare Gefährdung eigener oder fremder Rechtsgüter voraus. Da sie andererseits weder auf einen Verstoß gegen einen Straftatbestand noch auf eine Befürchtung künftiger Delikte abstellen, werden sie im Verhältnis zu der kriminalrechtlichen Unterbringung in der Psychiatrie teilweise als allgemeinere Gesetze angesehen.75 Weiter verbreitet ist eine Auffassung, welche die Unterbringungsvorschriften der Landesgesetze über psychisch Kranke neben das Maßregelrecht stellt, ohne einen prinzipiellen Vorrang der einen oder anderen Form psychiatrischer Unterbringung anzunehmen.76 Dafür spricht neben praktischen Gesichtspunkten 70 BGH, Urteile vom 26. April 1951 – 4 StR 173 / 51 (= NJW 1951, 572 f.), vom 10. Mai 1951 – 4 StR 28 / 51 (= NJW 1951, 724 f.) und vom 18. Oktober 1951 – 4 StR 587 / 51 (= NJW 1951, 969); Horstkotte (1983: Rn. 68, 72 zu § 67b StGB); ablehnend BGH, Urteil vom 10. Januar 1961 – 1 StR 517 / 60 (= BGHSt 15, 279, 284). 71 BGH, Beschlüsse vom 15. Juli 1992 – 5 StR 333 / 92 (= NStZ 1992, 538 f.), vom 19. März 1997 – 5 StR 99 / 97 (= StV 1997, 467) und vom 19. Februar 1998 – 5 StR 17 / 98 (= StV 1999, 489). 72 OLG Hamm, Beschluß vom 12. September 2000 – 15 W 288 / 00 (= BtPrax 2001, 40 f.); aus der Literatur Marschner (2001b: Rn. 10 zu § 1906 BGB) und allgemeiner Lipp (2000: 75 ff.). 73 Marschner (2001b: Rn. 62 zu § 1906 BGB); anders noch Hanack (1991: Rn. 84 zu § 63 StGB). 74 In Niedersachsen §§ 16 und 18 des Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (Nds. PsychKG) vom 16. Juni 1997 (GVBl. 272); hierzu C. Bohnert (2000: 162 ff.). 75 Baumann (1966: 50 ff.); ähnlich C. Bohnert (2000: 275 ff.) und OLG Düsseldorf, Beschluß vom 15. Juni 1983 – 1 Ws 506 / 83 (= MDR 1984, 71 f.). 76 So schon zum „Irrenrecht“ älterer Prägung Schäfer et al. (1934: 119); neuere Stellungnahmen bei Bae (1985: 210 ff.); Böllinger (1995: Rn. 110 zu § 63 StGB); Hanack (1991: Rn. 113 ff. zu § 63 StGB); B. Müller (1981: 130).
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
wie der Zuständigkeit verschiedener Fachgerichte hauptsächlich die Möglichkeit, im Einzelfall entscheiden zu können, ob eine auf das Landesrecht gestützte Unterbringung eine weniger belastende, aber voraussichtlich ebenso wirksame Alternative zu der Maßregel nach § 63 StGB darstellt. Die Diskussion über die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen dies tatsächlich der Fall ist, wird teilweise durch eher allgemeine Aussagen über die Vollzugsgestaltung in der Allgemeinpsychiatrie und im psychiatrischen Maßregelvollzug geprägt. Vor allem die ältere Rechtsprechung der Strafgerichte tendiert zu abstrakten Vergleichen von Graden der Sicherung.77 Allerdings ist diese Rechtsprechung durch die neuere Entwicklung der Gesetze für psychisch Kranke und des Maßregelvollzugsrechts einerseits, die zumindest ein Stück weit vorangekommenen Reformen stationärer psychiatrischer Einrichtungen andererseits überholt. Die Argumentation des Bundesgerichtshofs in der Zeit vor der Strafrechtsreform, nach der eine Unterbringung aufgrund des Landesrechts keine gleichwertige Alternative zum Maßregelvollzug darstellte, wenn das Landesgesetz eine Beurlaubungsmöglichkeit vorsah78, wäre heute nicht mehr nachvollziehbar. Vorschriften über Urlaub enthalten sowohl die Maßregelvollzugsgesetze wie auch die Gesetze über psychisch Kranke, wobei zwischen den Regelungen der Länder jeweils erhebliche Unterschiede bestehen.79 Wesentlicher für die Beurteilung der Sicherungswirkung wie der Eingriffsintensität einer Form der Freiheitsentziehung in einer psychiatrischen Einrichtung dürfte weniger die rechtliche Ausgestaltung als die Praxis der Vollzugslockerungen sein.80 Sie hängt wiederum zusammen mit Organisationsformen der Einrichtungen insgesamt. Hier ist einerseits davon auszugehen, daß allgemeinpsychiatrische Kliniken typischerweise nicht auf Langzeitaufenthalte ihrer Patientinnen und Patienten vorbereitet sind, wie sie im psychiatrischen Maßregelvollzug üblich sind; die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beläuft sich nach den neueren empirischen Untersuchungen auf wenige Wochen.81 Das hindert nicht, daß in manchen Bundesländern wegen der Überbelegung der für den Maßregelvollzug zuständigen Klini77 Siehe z. B. BGH, Urteile vom 3. Juli 1958 – 4 StR 129 / 58 (= BGHSt 12, 50, 52), vom 2. Februar 1962 – 4 StR 496 / 61 (= BGHSt 17, 123, 126) und vom 15. Juni 1964 – 2 StR 196 / 64 (= BGHSt 19, 348). Kritisch dazu bereits Hanack (1991: Rn. 105 f. zu § 63 StGB). 78 BGH, Urteile vom 4. März 1959 – 2 StR 1 / 59 und vom 15. Juni 1964 – 2 StR 196 / 64 (= BGHSt 19, 348), jeweils zum hessischen Landesrecht; ebenso zum damaligen Landesrecht von Rheinland-Pfalz BGH, Urteil vom 6. Dezember 1966 – 1 StR 480 / 66 (= NJW 1967, 686 f.) und zum PsychKG von Nordrhein-Westfalen noch BGH, Urteil vom 10. Februar 1971 – 3 StR 47 / 70 (= BGHSt 24, 98, 102 f.). Anders und im Ergebnis wie hier BGH, Urteil vom 26. März 1987 – 1 StR 72 / 87 (= BGHSt 34, 313, 317). 79 Zum Maßregelvollzug Dessecker (1996a: 83 f.) und Volckart (1999: 115 ff.); zu den Gesetzen für psychisch Kranke C. Bohnert (2000: 98 ff.) und Volckart (2001: Rn. 234 ff.). 80 Ebenso bereits B. Müller (1981: 128 ff.); ähnlich auch Horstkotte (1983: Rn. 54 zu § 67b StGB). 81 G. Bruns (1993: 78 ff., 117); Bunse (1989: 234); Eichler (1993: 45, 99); allgemein zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden Kröber (2001b: 153 f.).
Kap. 16: Verhältnismäßigkeit bei der psychiatrischen Unterbringung
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ken und Abteilungen eine nicht zu vernachlässigende Minderheit der Maßregelpatienten in allgemeinpsychiatrischen Einrichtungen untergebracht ist.82 Und Unterbringungen nach öffentlichem Recht sind zwar anders als diejenigen im Maßregelvollzug nach § 63 StGB von vornherein auf eine Zeit von höchstens einem Jahr, ausnahmsweise höchstens zwei Jahren zu befristen (§ 70 f I Nr. 3 FGG), doch kann diese Befristung notfalls auch mehrfach hinausgeschoben werden. Demnach spricht vieles dafür, eine Unterbringung aufgrund der Landesgesetze über psychisch Kranke als Alternative zu einer Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug nicht von vornherein auszuschließen. Ob sich diese Alternative tatsächlich als ebenso wirksam und dabei weniger eingriffsintensiv darstellt, hängt in erster Linie von den Verhältnissen der jeweils in Betracht kommenden Einrichtungen ab.83 Etwas anderes gilt für freiwillige Behandlungs- und Betreuungsangebote der Beschuldigten oder auch ihrer Familienangehörigen. Solche Angebote spielen vor allem in der älteren Diskussion über die Erforderlichkeit einer psychiatrischen Unterbringung eine Rolle.84 Sie sind als Alternative zu dieser freiheitsentziehenden Maßregel nicht unproblematisch, weil jede rechtliche Bindung fehlt. Insofern erscheint es nicht angebracht, freiwillige Leistungen dieser Art der Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug in ihrer Sicherungswirkung gegen künftige erhebliche Delikte gleichzustellen. Auf einer zweiten Prüfungsebene können sie bei der Prüfung einer primären Aussetzung der Maßregel zur Bewährung dennoch in Betracht gezogen werden. Diese Konstruktion ermöglicht es nämlich, Aufenthalt, Behandlung und Betreuung zum Gegenstand von Weisungen zu machen (§§ 67b II, 68b StGB). III. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, Proportionalität, Übermaßverbot Sind Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme gegeben, so ist nach allgemeinen Grundsätzen ihre Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu prüfen. Zweck und Mittel, so wird nicht selten formuliert, müssen zueinander in einem 82 Diese Praxis betrifft zumindest Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen; siehe Leygraf (1996: 63 f.). Allein im Bereich des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe waren nach einer im Internet veröffentlichten Aufstellung am 1. Dezember 2000 immerhin 143 Patienten nach § 63 StGB in allgemeinpsychiatrischen Einrichtungen untergebracht, weitere zehn standen auf einer Warteliste; siehe http: / / www.lwl.org / massregelvollzug / mrv_dattab.html (Abfrage am 28. Februar 2001). 83 Für eine einzelfallorientierte Betrachtung ebenso BGH, Urteil vom 26. März 1987 – 1 StR 72 / 87 (= BGHSt 34, 313, 317); skeptisch Hanack (1991: Rn. 116 zu § 63 StGB). 84 RG, Urteile vom 20. November 1934 – 1 D 1222 / 34 (= RGSt 69, 12 f.) und vom 3. Dezember 1937 – 1 D 749 / 37 (= JW 1938, 166); BGH, Urteil vom 26. April 1951 – 4 StR 173 / 51 (= NJW 1951, 572). Neuere Vorschläge bei Böllinger (1995: Rn. 109 zu § 63 StGB); Hanack (1991: Rn. 87 f. zu § 63 StGB); Horstkotte (1983: Rn. 74 ff. zu § 67b StGB); B. Müller (1981: 125 f.).
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
angemessenen Verhältnis stehen; sie müssen einander proportional sein.85 Doch geht es dabei eher um den Ausschluß ihrer Unangemessenheit in vergleichsweise ungewöhnlichen Einzelfällen: wegen der inhaltlichen Offenheit des Grundsatzes, der keine operationalisierbaren Kriterien liefert, soll die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme an dieser Stelle in aller Regel nicht mehr scheitern.86 Das praktiziert auch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts seit langem; nach ständiger Rechtsprechung dürfen angestrebter Zweck und herangezogene Mittel „nicht außer Verhältnis“ zueinander stehen.87 Die Bezeichnung „Übermaßverbot“ bringt diese Funktion der dritten Prüfungsstufe innerhalb des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit besonders deutlich zum Ausdruck.88 Während sich Geeignetheit und Erforderlichkeit eines Eingriffs weitgehend unabhängig von Differenzierungen der Grundrechtsdogmatik beurteilen lassen, setzt die dritte Stufe der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne eine Feststellung voraus, welche Grundrechte konkret betroffen sind. Ob ein Eingriff noch als angemessen betrachtet werden kann, hängt nicht zuletzt von den Gewährleistungen und Schranken der einzelnen Grundrechte ab.89 Die Anordnung und Vollstreckung freiheitsentziehender Maßregeln im Kriminalrecht betrifft den Schutz der Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG). Auf einer gedachten Skala grundrechtlicher Schutzzonen steht dieses Grundrecht weit oben; nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genießt es einen stärkeren Schutz als die meisten anderen Grundrechte.90 Dem entspricht, daß das Bundesverfassungsgericht in dessen Schutzbereich eine positive Feststellung der Angemessenheit des Grundrechtseingriffs fordert.91 85 Bae (1985: 153); Schulze-Fielitz (1998: Rn. 172 zu Art. 20 GG); aus der Rechtsprechung BVerfG, Beschlüsse vom 16. März 1971 – 1 BvR 52 / 66 u. a. (= BVerfGE 30, 292, 316 f.), vom 20. Juni 1984 – 1 BvR 1494 / 78 (= BVerfGE 67, 157, 173) und vom 15. Mai 1995 – 2 BvL 19 / 91 u. a. (= BVerfGE 92, 277, 326 f.). 86 Clérico (2001. 40 ff.); Gentz (1968: 1604); Götz (2001: 137 f.); Grabitz (1973: 576 ff.); Hirschberg (1981: 75 ff.); Lagodny (1996: 216 ff.); Lerche (1961: 19, 22); Ossenbühl (1997); Pieroth / Schlink (2001: 67 f.); Schulze-Fielitz (1998: Rn. 173 zu Art. 20 GG). 87 Siehe etwa BVerfG, Urteil vom 11. Juni 1958 – 1 BvR 596 / 56 (= BVerfGE 7, 377, 407); Beschlüsse vom 25. Februar 1969 – 1 BvR 224 / 67 (= BVerfGE 25, 236, 247 f.), vom 14. November 1969 – 1 BvR 253 / 68 (= BVerfGE 27, 211, 219), vom 15. Januar 1970 – 1 BvR 13 / 68 (= BVerfGE 27, 344, 352) und vom 26. Mai 1970 – 1 BvR 668 / 68 u. a. (= BVerfGE 28, 264, 280). 88 Kruis (1998: 96); Lagodny (1996: 216 ff.); Lerche (1961: 21). 89 Besonders klar formuliert bei Götz (2001: 130 f.). 90 BVerfG, Urteile vom 18. Juli 1967 – 2 BvF 3 / 62 u. a. (= BVerfGE 22, 180, 219) und vom 21. Juni 1977 – 1 BvL 14 / 76 (= BVerfGE 45, 187, 223); Beschlüsse vom 6. Februar 1980 – 2 BvR 1070 / 79 (= BVerfGE 53, 152, 158), vom 3. Juni 1992 – 2 BvR 1041 / 88 u. a. (= BVerfGE 86, 288, 326) und vom 16. März 1994 – 3 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1, 27). 91 BVerfG, Beschlüsse vom 15. Dezember 1965 – 1 BvR 513 / 65 (= BVerfGE 19, 342, 349 ff.), vom 8. Oktober 1985 – 2 BvR 1150 / 80 u. a. (= BVerfGE 70, 297, 311 ff.), vom 16. März 1994 – 3 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1, 28 f.) und zuletzt vom 18. Dezember 2000 – 2 BvR 1706 / 00 (= http: / / www.bverfg.de / entscheidungen / frames / rk20001218 _2bvr170600); zu dieser Unterscheidung schon Grabitz (1973: 606).
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Allerdings wird die Schwierigkeit einer inhaltlichen Konkretisierung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne bei diesem Vorgehen besonders dringlich. Nach verbreiteter Auffassung sind diesem Grundsatz nämlich keine allgemeinen Kriterien zu entnehmen, welche Gesichtspunkte abwägungsrelevant sind und wann ein gewähltes Mittel als angemessen oder nicht mehr angemessen zu gelten hat.92 In dieser Situation soll nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts für den Einzelfall eine wertende verfassungsrechtliche Entscheidung getroffen werden.93 Das mag den Vorteil mit sich bringen, daß Wertungen nicht hinter vermeintlich deskriptiven Merkmalen versteckt werden. Wertungen können jedoch auch unter anderen Vorzeichen getroffen werden. Die Diskussion über die Verfassungsgerichtsentscheidung zur Strafbarkeit der vom Boden der früheren DDR aus gegen die Bundesrepublik und die NATO-Länder betriebenen Spionage macht das besonders deutlich. Doch wird über diesen besonderen Anwendungsfall hinaus zunehmend Kritik an der Ermöglichung einer kaum mehr berechenbaren Billigkeitsrechtsprechung geübt.94 Daß im Einzelfall umstrittene Entscheidungen gefällt werden, dürfte kaum vermeidbar sein, wenn man das Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne überhaupt anerkennt. Nach einem anderen Vorschlag kann das Problem entschärft werden, indem die Argumentationslast – ähnlich wie schon zuvor bei der Eignungsprüfung – ausdrücklich verteilt wird. Dann soll eine Maßnahme als verhältnismäßig gelten, so lange ein Verstoß gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit nicht klar festgestellt werden kann.95 Schließlich werden sachbereichsspezifische Konkretisierungen als weiterer Ausweg ins Gespräch gebracht.96 Im Hinblick auf die Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel erscheint das Problem weniger dringlich. Denn einerseits liegt hier die Befürchtung wesentlich ferner, daß die Gerichte in die Kompetenz des Gesetzgebers eingreifen. Zweitens ist als erstrebter Erfolg bereits der allgemeine Zweck der Gefahrenabwehr bestimmt worden.97 Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit bezieht sich auf den mit der Maßregel verbundenen Eingriff in das Grundrecht der Freiheit der Person. Und drittens versucht der Normsatz in § 62 StGB die Angemessenheit der Anordnung kriminalrechtlicher Maßregeln bereichsspezifisch dadurch zu konkretisieren, daß Siehe z. B. Dechsling (1989: 6 ff.) und Hirschberg (1981: 77). BVerfG, Beschluß vom 15. Mai 1995 – 2 BvL 19 / 91 u. a. (= BVerfGE 92, 277, 327) zur Strafbarkeit der DDR-Spionage unter Hinweis auf die historisch singuläre Situation nach der Wiedervereinigung Deutschlands. 94 Siehe etwa Ossenbühl (1997), Pieroth / Schlink (2001: 67 f.), Sommermann (2000: Rn. 300 zu Art. 20 GG) und Starck (1996: 1035 ff.). Zum Beispiel DDR-Spionage schon das Sondervotum der drei Richter Kirchhof, Klein und Winter (BVerfGE 92, 277, 341 ff.); weiterhin Clérico (2001: 209 ff.) und Hillenkamp (1996: 180 f.). Allgemein zum Kriminalrecht vor dem Bundesverfassungsgericht Wolf (1995: 109). 95 Dafür plädiert Dechsling (1989: 28 ff.); aus der Rechtsprechung BVerfG, Beschluß vom 22. Oktober 1974 – 2 BvR 147 / 70 (= BVerfGE 38, 139, 153 f.). 96 Schulze-Fielitz (1998: Rn. 174 zu Art. 20 GG). 97 Kapitel 12 A. (S. 199 ff.). 92 93
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
die Bedeutung der vom Täter begangenen Taten, die Bedeutung der zu erwartenden Taten und der „Grad der von ihm ausgehenden Gefahr“ als Abwägungspunkte benannt werden. Nach der in dieser Arbeit vorgelegten rechtssystematischen Konzeption der freiheitsentziehenden Maßregeln sind alle drei Gesichtspunkte bereits Bestandteile des Merkmals „Gefährlichkeit“98; eine selbständige Bedeutung scheint der Angemessenheitsprüfung danach nicht mehr zuzukommen. Das bestätigt die Auffassung, nach der § 62 StGB lediglich die äußerste Grenze markiert, die nicht überschritten werden darf, soll eine Maßregel nicht für einen Rechtsstaat unerträglich sein.99 Auch die Rechtsprechungsanalyse ergibt im Hinblick auf die Angemessenheit einer Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB nicht mehr als eine Fehlanzeige.100 Die eigentliche Bedeutung des § 62 StGB scheint damit jenseits seines Wortlauts zu beginnen. Man ist sich allgemein einig darüber, daß die Beschränkung der Angemessenheitsprüfung auf die Frage der Anordnung von Maßregeln die Tragweite des Grundsatzes zu eng begrenzt; sie umfaßt genauso die Maßregelvollstrekkung.101 Wie bereits die Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Fall Paul Stein deutlich macht, liegt ein wichtiger Anwendungsbereich im Hinblick auf die psychiatrische Unterbringung als grundsätzlich unbefristeter Maßregel in der Bestimmung der Vollzugsdauer.102 Ankerpunkt der einschlägigen Entscheidungen der Strafvollstreckungsgerichte ist § 67d II 1 StGB in der Fassung des Gesetzes „zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ von 1998; danach „setzt das Gericht die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird.“
Diese Gesetzesänderung wird vielfach kritisiert, weil sie auf eine Verschärfung der Anforderungen an eine nachträgliche Aussetzung der Maßregel zur Bewährung zielt, und zwar nicht nur im Vergleich zum früheren Recht, sondern auch im Vergleich zur Aussetzung eines noch nicht verbüßten Strafrestes.103 In der Tat liest sich der Gesetzestext wesentlich restriktiver als die bis Januar 1998 geltende Fassung, die lediglich forderte, daß Ausführlich Kapitel 13 B. (S. 214 ff.). Hanack (1991: Rn. 2 zu § 62 StGB); Kammeier (1996: 216, 247); Lackner (2001: Rn. 2 zu § 62 StGB); Streng (2002: 152). 100 Kapitel 16 A. (S. 334 ff.). 101 Hanack (1991: Rn. 64 vor § 61, 6 zu § 62 StGB); E. Horn (1999: Rn. 2 zu § 62 StGB); Horstkotte (1983: Rn. 52 zu § 67d StGB); Kammeier (1996: 232 ff.); Lackner (2001: Rn. 2 zu § 62 StGB); Meier (2001: 222); Stree (2001: Rn. 3 zu § 62 StGB); Streng (2002: 152 ff.); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 6 zu § 62 StGB). 102 Kapitel 16 B. (S. 338 ff.). 103 Siehe z. B. H.-J. Albrecht (1999: 876 f.); Boetticher (1998: 363 ff.); Meier (2001: 302 f.); Schöch (1998a: 1258 f.). 98 99
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„verantwortet werden kann zu erproben, ob der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird.“
Die Verantwortungsklausel findet sich in modifizierter Form noch in der für die Strafrestaussetzung geltenden Neuregelung, wonach eine vorzeitige Haftentlassung möglich ist, wenn „dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“ (§ 57 I Nr. 2 StGB). Hinzu kommen Begutachtungsvorschriften, die für die Strafrestaussetzung wie auch für die Aussetzung einer Maßregel zur Bewährung gelten. Nach dem schon sprachlich mißglückten Text der §§ 463 III 3, 454 II 2 StPO ist vor der Aussetzung der Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Maßregel ein Gutachten darüber einzuholen, „ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, daß dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht.“104
Doch können die prozessualen Vorschriften zur Begutachtung das Vollstrekkungsrecht des § 67d II StGB nicht über dessen Wortlaut hinaus einengen. Die nach allem, was sich über die Erkenntnismöglichkeiten im Bereich von Gefährlichkeitsprognosen105 sagen läßt, irreale Voraussetzung eines völligen Risikoausschlusses würde letztlich auf ein verklausuliertes Entlassungsverbot hinauslaufen.106 In diesem Bereich dürfte dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommen. Er setzt jeder Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug eine äußerste Grenze, die der Gesetzgeber durch Änderungen der Vorschriften über nachträgliche Aussetzung der Maßregel nicht beseitigen kann. Das Bundesverfassungsgericht versucht die Anforderungen an eine fortdauernde Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug in zwei Stufen zu konkretisieren.107 Erstens ist ständig zu prüfen, ob der Zweck der Gefahrenabwehr bereits mit weniger einschneidenden Maßnahmen erreicht werden kann; insoweit kann auf die Ausführungen zur Erforderlichkeit der Maßregel verwiesen werden.108 Zweitens gilt für die Frage der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne eine flexible Formel, nach der die Anforderungen mit längerer Dauer des Aufenthalts im Maßregelvollzug immer strenger werden. 104 H.-J. Albrecht (1999: 867) hält der Gesetzgebung zu Recht einen rücksichtslosen Umgang mit dem Wort „Gefahr“ vor. Der von Schöch (1998a: 1259) festgestellte Widerspruch zu der einschränkenden Formulierung in § 463 III 4 StPO tritt nicht auf, weil diese Regelung nach ihrem Wortlaut nur für die Sicherungsverwahrung mit einer Vollzugsdauer von mehr als zehn Jahren gilt. Ebenso OLG Hamburg, Beschluß vom 20. April 1999 – 2a Ws 89 / 99 (= ZfStrVo 1999, 246 f.). 105 Siehe Kapitel 11 (S. 182 ff.). 106 OLG Karlsruhe, Beschluß vom 17. März 1999 – 2 Ws 19 / 99 (= ZfStrVo 1999, 184 f.); Eisenberg / Hackethal (1998: 200); Schöch (1998a: 1258 f.); Schreiber (2000: 40). 107 BVerfG, Beschluß vom 8. Oktober 1985 – 2 BvR 1150 / 80 u. a. (= BVerfGE 70, 297, 314 f.). 108 Kapitel 16 C. II. (S. 345 ff.).
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Diese Flexibilität bringt es mit sich, daß eine weitere Systematisierung anhand allgemeiner Kriterien erschwert wird. Das gilt auch dann, wenn man die in § 62 StGB genannten Bezugspunkte früherer und zu befürchtender künftiger Delikte und des Grades der Gefahr heranzieht. Man kann die Prüfung aber, wie in der juristischen Literatur üblich109, anhand von Beispielsfällen demonstrieren. (1.) Der Verurteilte (V) wurde nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht, weil er im Zustand der Schuldunfähigkeit aufgrund einer chronischen schizophrenen Störung vom paranoiden Typus einen versuchten Totschlag begangen hatte; er hatte in wahnhafter Verkennung, seine damalige Partnerin wolle ihn ums Leben bringen, dieser in Tötungsabsicht mehr als dreißig Messerstiche beigebracht, wovon einige lebensgefährlich waren und bei der Geschädigten bleibende Störungen hinterließen. Die Maßregel wird seit sechs Jahren vollzogen. In einem Anhörungstermin der Strafvollstreckungskammer verlangt V, daß sein ihm verhaßter Therapeut nicht daran teilnimmt. Das Krankenhaus des Maßregelvollzuges bezeichnet er seit Jahren als „Konzentrationslager“, die dort tätigen Ärzte und Psychologen beschimpft er u. a. als „KZ-Ärzte“. Am Ort der Maßregeleinrichtung in einem westlichen Bezirk Berlins befinde er sich in „Feindesland“. Daß die Stellungnahme der Einrichtung trotz im Ergebnis negativer Prognose auch von durchaus positiven Tendenzen berichtet, nimmt er nicht wahr.110
In diesem Fall wurde die Ablehnung einer Aussetzung der Maßregel durch die Strafvollstreckungskammer vom Kammergericht bestätigt. Die Verhältnismäßigkeit sei gewahrt, weil V wegen eines Verbrechens gegen das Leben untergebracht, weiterhin manifest an demselben Leiden, das ihn gefährlich mache und zu dem Verbrechen geführt habe, erkrankt und ohne jede Krankheitseinsicht sei.111 Diese Entscheidung überzeugt im Ergebnis wie in ihrer Begründung, auch wenn zu einer Überprüfung nur die Informationen zur Verfügung stehen, die der Beschluß selbst mitteilt. Das Anlaßdelikt ist schwer. Ohne Behandlung der psychischen Störung ist zu befürchten, daß sich ein ähnlicher Vorfall wiederholen kann. Eine Alternative zum psychiatrischen Maßregelvollzug ist nicht in Sicht. Für die Angemessenheit einer weiteren Unterbringung kommt es nach der Formel des Bundesverfassungsgerichts zunächst auf ihre bisherige Dauer an. Das ist eine bekannte Größe. Will man das Gewicht des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG) zu dem Zweck der Gefahrenabwehr in Beziehung setzen, hinter dem letztlich die Grundrechte potentieller Geschädigter stehen, so ist man darauf angewiesen, auch den Zweck der Gefahrenabwehr und diese Grundrechte zu quantifizieren. Dafür kann man auf Vorschläge aus der rechtspolitischen Diskussion über eine Befristung der Maßregel zurückgreifen. 109 Siehe schon Hirschberg (1981: 77 ff.), der Beispiele aus verschiedenen Rechtsgebieten diskutiert, eine bereichsübergreifende Konkretisierung aber nicht für möglich hält. Ähnlich anhand von Beispielen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts neuestens Clérico (2001: 199 ff.). 110 Verkürzte Darstellung nach KG, Beschluß vom 15. Oktober 1999 – 5 Ws 611 / 99 (in JURIS veröffentlicht). 111 KG, Beschluß vom 15. Oktober 1999 – 5 Ws 611 / 99 (in JURIS veröffentlicht).
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Dabei ist weniger an Lösungen zu denken, welche in Anlehnung an die Gesetzentwürfe aus der Zeit der Weimarer Republik für eine einheitliche Höchstfrist von drei oder fünf Jahren mit der Möglichkeit weiterer Verlängerung plädieren.112 Näher liegt für die Bemessung der „Grenze einer Legitimation der Freiheitsentziehung“113 eine Orientierung an der Obergrenze der Strafrahmen der jeweiligen Tatbestände, deren Erfüllung zu befürchten wäre.114 Dann kommt eine weitere Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug dem verbotenen Übermaß immer näher, je mehr sich ihre Dauer der für den Fall der Schuldfähigkeit vorgesehenen gesetzlichen Höchststrafe nähert. Betrachtet man Fall 1 unter diesem Gesichtspunkt, so ändert das nichts an der Feststellung, daß der weitere Aufenthalt im Maßregelvollzug noch nicht unverhältnismäßig ist. Der relevante Strafrahmen von bis zu 15 Jahren ist §§ 212 I, 38 II StGB zu entnehmen. Daß das Anlaßdelikt nicht zum Tod der Geschädigten geführt hat, kann daran schon deshalb nichts ändern, weil § 23 II StGB eine Strafmilderung bei einer versuchten Tat ermöglicht, aber nicht vorschreibt. Im übrigen kann es für eine Prognose keinen Unterschied machen, ob ein Taterfolg bei der Anlaßtat eingetreten ist oder nicht.115 Andererseits erschiene die Prognose, bei künftigen Delikten dieser Art sei darüber hinaus die Erfüllung eines Mordmerkmals zu erwarten, höchst spekulativ; jedenfalls die im Ausgangsfall mitgeteilten Informationen geben dafür nichts her. Diesen Fall kann man modifizieren: (2.) Der Verurteilte (V) hat dasselbe Delikt begangen wie in Fall 1. Die Maßregel wird seit 14 Jahren vollzogen. In dem Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer wird bekannt, daß V auch weiterhin ohne Krankheitseinsicht ist. Die verordneten Medikamente nimmt er nicht regelmäßig ein. Während der Unterbringung hat V mehrfach auf Angehörige des Pflegepersonals eingeschlagen. Einem Mitpatienten versetzte er eine blutende Platzwunde am Kopf. Phasenweise kam es aber auch zu Besserungen.
Die Abwandlung unterscheidet sich von Fall 1 nicht nur durch den längeren Aufenthalt im Maßregelvollzug, sondern auch durch verschiedene Gewaltakte gegen Personen während der Unterbringung. Das Anlaßdelikt ist schwer. Ohne Behandlung der psychischen Störung ist zu befürchten, daß sich ein ähnlicher Vorfall wiederholen kann. Und der Maßregelpatient V will sich nicht immer behandeln lassen. Trotz der Auffälligkeiten im Maßregelvollzug gilt für die Angemessenheit einer weiteren Unterbringung dieselbe Unverhältnismäßigkeitsgrenze von 15 Jahren wie In diesem Sinne etwa Baur (1990: 485) und Kaiser (1990: 36). Horstkotte (1993: 189). 114 Bernsmann (1984: 148 f.); Horstkotte (1993: 189); Laubenthal (1990: 372 f.); Volckart (1999: 238). 115 Siehe die Ausführungen in Kapitel 13 B. IV. (S. 224). 112 113
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
in Fall 1. Der Sinn dieser Grenze liegt ja gerade darin, daß aufgrund der strafrechtlichen Beurteilung des Anlaßdelikts eine äußerste Markierung gesetzt wird, die aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht überschritten werden darf. Auch Gewalttätigkeiten gegen Personen während des Aufenthalts im Maßregelvollzug ändern daran nichts. Ihre prognostische Aussagekraft sollte nicht überschätzt werden; möglicherweise werden sie unter den Bedingungen des Freiheitsentzugs in einer psychiatrischen Einrichtung eher gefördert als verhindert.116 Entscheidend ist ein anderer Aspekt. Wenn die Grenze der Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Unterbringung immer näher rückt, müssen Alternativen zum psychiatrischen Maßregelvollzug gezielt vorbereitet werden. Welche Alternativen grundsätzlich in Betracht kommen, ist bereits ausgeführt worden.117 Verhindert werden muß eine unvorbereitete Entlassung aus dem Maßregelvollzug in Verhältnisse, in denen ehemalige Maßregelpatienten weitgehend sich selbst überlassen bleiben. Die rechtliche Möglichkeit, eine – wenn es sein muß, engmaschige – Kontrolle nach der Entlassung zu gewährleisten, bietet eine Aussetzung nach § 67d II StGB in Verbindung mit der dadurch eintretenden Führungsaufsicht. Sollen Spielräume für den Fall eines Widerrufs bestehen, so darf diese Aussetzung nicht zu kurz vor der Grenze der Unverhältnismäßigkeit eines weiteren Vollzugs der Maßregel erfolgen. Dieses Verständnis der Obergrenze des gesetzlichen Strafrahmens als Grenze der Verhältnismäßigkeit eines weiteren Aufenthalts im psychiatrischen Maßregelvollzug kann dazu führen, daß sich selbst eine Unterbringungsdauer von mehr als fünfzehn Jahren noch als angemessen darstellt. Das soll eine weitere Abwandlung demonstrieren: (3.) Die Tat des Verurteilten (V) aus Fall 1 wurde vom Schwurgericht nicht als versuchter Totschlag gewertet, sondern als versuchter Mord. Die Maßregel wird seit 14 Jahren vollzogen. In dem Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer werden dieselben Gesichtspunkte bekannt wie in Fall 2: V ist auch weiterhin ohne Krankheitseinsicht, die verordneten Medikamente nimmt er nicht regelmäßig ein, und während der Unterbringung hat V mehrfach auf Angehörige des Pflegepersonals eingeschlagen sowie einen Mitpatienten am Kopf verletzt. Phasenweise kam es aber auch zu Besserungen.
Aufgrund der Feststellung eines Mordmerkmals durch das erkennende Gericht wird die Unverhältnismäßigkeitsgrenze weiter hinausgeschoben als in den ersten beiden Fällen. Akzeptiert man das Kriterium der gesetzlichen Höchststrafe, so gibt es im Extremfall keine fixierbare Grenze mehr, weil § 211 StGB eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsieht. Damit ist nicht gesagt, daß die psychiatrische Unterbringung bis zum Tod des Verurteilten vollzogen werden dürfte. Die Hürde für eine weitere Fortdauer der Unterbringung wird auch hier immer höher. Je länger der 116 117
Horstkotte (1983: Rn. 57 ff. zu § 67c StGB); Rasch (1999: 375); Seifert et al. (2000). Siehe Kapitel 16 C. II. (S. 348 ff.).
Kap. 16: Verhältnismäßigkeit bei der psychiatrischen Unterbringung
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Aufenthalt im Maßregelvollzug dauert, desto drängender wird die aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgende Suche nach Alternativen. Doch läßt sich auf dieser Grundlage nicht weiter präzisieren, wo eine äußerste Grenze liegen sollte, so lange die Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug auf unbestimmte Dauer erfolgt und das Strafrecht grundsätzlich lebenslange Freiheitsstrafen androht. Man könnte darüber nachdenken, ob für diesen Fall andere Begrenzungskriterien in Betracht kommen. Solche Kriterien sind nicht in Sicht. Der Versuch, die tatsächliche Vollzugsdauer lebenslanger Freiheitsstrafen nach der besonderen Schwere der Schuld zu bestimmen118, ist auf das Maßregelrecht nicht übertragbar, weil die Schwere der Schuld hier gerade nicht relevant ist.
118
BVerfG, Beschluß vom 3. Juni 1992 – 2 BvR 1041 / 88 u. a. (= BVerfGE 86, 288).
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
Kapitel 17
Verhältnismäßigkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) Anders als bei der psychiatrischen Unterbringung gilt die Verhältnismäßigkeit bei der freiheitsentziehenden Maßregel zur Suchtbehandlung nach § 64 StGB traditionell als wenig problematisch. In der Rechtsprechung und Literatur finden sich dazu bis vor wenigen Jahren kaum Stellungnahmen, und die wenigen ausdrücklichen Aussagen beschränken sich darauf, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei dieser Maßregel faktisch leerlaufe.1 Das hat sich erst seit 1994 geändert, wobei sich auch hier die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als einflußreich erweist.
A. Verhältnismäßigkeit als Voraussetzung der Anordnung Das Bundesverfassungsgericht unterstreicht die Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit für die Anordnung einer Unterbringung nach § 64 StGB in einer Entscheidung, die sich im wesentlichen mit dem Stellenwert der Erfolgsaussichten einer Suchtbehandlung im Maßregelvollzug beschäftigt.2 Ausgangspunkt ist die Vorschrift des § 67 IV StGB, welche die Anrechnung der Zeit im Maßregelvollzug auf eine im gleichen Strafverfahren verhängte Freiheitsstrafe regelt. Mit mehreren Vorlagebeschlüssen im Verfahren der konkreten Normenkontrolle und Verfassungsbeschwerden wurde nämlich geltend gemacht, die seit 1986 geltende Anrechnungsregelung sei verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht ergreift diese Gelegenheit, nicht nur über Fragen des Maßregelvollstreckungsrechts zu entscheiden, sondern über die Verfassungsmäßigkeit der Maßregel selbst. Nach der Vorschrift des § 64 II StGB ist diese Unterbringung nur zulässig, wenn sie nicht von vornherein aussichtslos erscheint. Verlangt wird damit eine Prognose der Behandlungsaussichten durch das erkennende Gericht, wobei die Formulierung deutlich macht, daß diese Hürde nicht allzu hoch liegen soll. Aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts hat sie vor den Grundrechten aus Art. 2 I, II 2 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit keinen Bestand.3 Dabei begnügt sich der Senat nicht mit der Feststel1 In der erst wenige Jahre zurückliegenden Kommentierung von Hanack (1991: Rn. 88 zu § 64 StGB) wird noch festgestellt, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz habe bei § 64 bzw. § 42c StGB a.F. „in Rechtsprechung und Lehre bisher kaum Konturen gewonnen“. 2 BVerfG, Beschluß vom 16. März 1994 – 2 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1, 28 ff.). Zu dieser Entscheidung Müller-Dietz (1995); Müller-Gerbes (1996); Spaniol (1995); Stree (1995); Volckart (1995); Wolf (1995).
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lung, § 64 II StGB sei verfassungswidrig, sondern versucht selbst, ein Kriterium für eine verfassungskonforme Maßregel zu entwickeln. Danach muß „eine hinreichend konkrete Aussicht (bestehen), den Süchtigen zu heilen oder doch über eine gewisse Zeitspanne vor dem Rückfall in die akute Sucht zu bewahren“.4 Dieses Kriterium wird daraus abgeleitet, daß die freiheitsentziehende Maßregel als Grundrechtseingriff „hinsichtlich der gesetzlichen Anforderungen ihrer Anordnung und Durchführung in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Schutz von Interessen der Allgemeinheit stehen“ muß. Weiter wird dazu ausgeführt: „Das besondere Gewicht des mit der Anordnung der Maßregel des § 64 StGB verbundenen Grundrechtseingriffs erschließt sich nicht allein aus der Tatsache des mit ihr verbundenen Freiheitsentzugs, sondern auch daraus, daß der Verurteilte – nicht selten gegen seinen Willen – einer auf die Behebung nicht zuletzt psychischer Fehlhaltungen gerichteten medizinischen Behandlung unterworfen wird, deren Erfolg zudem nicht als gewiß gelten kann.“5
Mit dieser Betonung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit knüpft das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich an seine Rechtsprechung zur psychiatrischen Unterbringung im Fall Stein an6, der Sache nach des weiteren an frühere Entscheidungen zum Schutz des Grundrechts der Freiheit der Person im Kriminalrecht.7 In der Rechtsprechung der Strafgerichte wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB ersichtlich nur selten herangezogen. Dabei geht es teilweise um Fälle, in denen die Verhältnismäßigkeitsprüfung mit der Untersuchung der Erheblichkeit begangener und künftiger Delikte verbunden wird.8 Auch seit Bekanntwerden des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts hat sich daran nicht viel geändert – jedenfalls dann, wenn man veröffentlichte Entscheidungen als Maßstab heranzieht. So betont der Bundesgerichtshof, daß Verhältnismäßigkeitserwägungen ein Absehen von der Maßregel nicht begründen, wenn mit Drogenhandel in beträchtlichem Umfang zu rechnen ist, das Gericht eine Zurückstellung der Strafvollstreckung (§ 35 BtMG) aber für die effektivere Alternative hält.9 Andererseits erachtet es der Bundesgerichtshof 3 Dieser Teil der Entscheidung der von der Senatsmehrheit getragen wird, wird in einer abweichenden Meinung der Richterin Graßhof (BVerfGE 91, 1, 38) angegriffen; kritisch auch Müller-Dietz (1995: 358 f.) und Wolf (1995: 111). 4 BVerfGE 91, 1 (30) im Anschluß an Hanack (1991: Rn. 94 ff. zu § 64 StGB). Zur internen Inkonsistenz dieses Kriteriums, das zwei unterschiedlich anspruchsvolle Behandlungsziele einander gleich stellt, Schalast / Leygraf (1999: 488). 5 BVerfGE 91, 1 (28 f.). 6 Ausdrücklich zitiert wird lediglich BVerfG, Beschluß vom 8. Oktober 1985 – 2 BvR 1150 / 80 u. a. (= BVerfGE 70, 297, 311 f.). 7 Siehe bereits Kapitel 16 A. (S. 335). 8 OLG Karlsruhe, Beschluß vom 29. März 1979 – 1 Ss 39 / 79 (= Justiz 1979, 301); diese Entscheidung betrifft einen eindeutigen Bagatellfall (Diebstahl eines Päckchens Zigaretten und Zechbetrug mit einem Schaden von 14,90 DM). 9 BGH, Beschluß vom 15. Mai 1996 – 1 StR 257 / 96 (= NStZ-RR 1996, 257).
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ausdrücklich als unverhältnismäßig, eine Unterbringung gegen einen Angeklagten anzuordnen, der sich bereits seit einiger Zeit in einer stationären Therapie befindet.10 Darüber hinaus sind in der Rechtsprechung zu der Maßregel nach § 64 StGB keine Bezugnahmen auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit festzustellen. Empirische Untersuchungen bestätigen für die Unterbringungsurteile der Tatsacheninstanzen, daß auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in den Urteilsgründen nur selten Bezug genommen wird.11 Soweit dies nicht daraus zu erklären ist, daß diese Entscheidungen ohnehin häufig recht knapp abgefaßt werden, widerspiegeln sie damit den allgemeinen Diskussionsstand der Rechtsprechung.
B. Verhältnismäßigkeit der Vollstreckungsdauer Wie bereits ausgeführt, bezieht sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt in erster Linie auf die Vollstreckung dieser Maßregel. Im Ausgangspunkt geht es nämlich um die Anrechnung einer im Maßregelvollzug verbrachten Zeit auf eine parallele Freiheitsstrafe, wenn – wie für den Regelfall vorgesehen und praktiziert – zuerst die Maßregel vollzogen wird. Die seit 1986 geltende Beschränkung der Anrechnung auf zwei Drittel der verhängten Strafe (§ 67 IV 1 StGB) erklärt das Bundesverfassungsgericht im Anwendungsbereich der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für verfassungskonform.12 Dagegen wird die Vorschrift des § 67 IV 2 StGB, die bei nachträglich festgestellter Aussichtslosigkeit der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und daraus folgender Erledigung jede Anrechnung auf die Strafe versagte, wegen dieser undifferenzierten Rechtsfolge für nichtig erklärt.13 Das führt dazu, daß auch Zeiten letztlich erfolgloser Suchtbehandlungen im Maßregelvollzug bis zur Höchstgrenze von zwei Dritteln der Strafe angerechnet werden.14 Das Bundesverfassungsgericht bleibt bei der Entscheidung dieses Streitgegenstands aber nicht stehen.15 Es überprüft darüber hinaus die ebenfalls 1986 eingefügte Vorschrift, die eine vorzeitige Erledigung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt erst ausdrücklich ermöglicht. Daß ihr Zweck „aus Gründen, die in der 10 11
BGH, Urteil vom 6. Juli 1994 – 2 StR 60 / 94 (= StV 1995, 75 f.). Metrikat (2002: 201) und Schalast / Leygraf (1994: 178); siehe auch Dessecker (1996b:
255). 12 § 67 IV 1 StGB gilt darüber hinaus auch für das Verhältnis der psychiatrischen Unterbringung zu einer parallelen Freiheitsstrafe. 13 BVerfG, Beschluß vom 16. März 1994 – 2 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1, 36 f.). 14 Müller-Dietz (1995: 360); ebenso LG Freiburg, Beschluß vom 28. September 1999 – XII StVK 526 / 99 (= NStZ 2000, 335). 15 Das wird bereits in dem Sondervotum der Richterin Graßhof moniert; siehe BVerfGE 91, 1 (39 ff.).
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Person des Untergebrachten liegen, nicht erreicht werden kann“ (§ 67d V 1 StGB), rechtfertigt auch aus der Sicht des Senats die Beendigung des Aufenthalts im Maßregelvollzug. Wegen Verstoßes gegen Art. 2 I, II 2 GG für nichtig erklärt wird die Vorschrift aber hinsichtlich der starren Mindestfrist von einem Jahr, vor deren Ablauf eine solche Beendigung nicht erfolgen konnte.16 Damit sind die Strafvollstreckungskammern bei der Erledigung einer Unterbringung zur Suchtbehandlung mangels Erfolgsaussicht nicht an eine Mindestfrist gebunden. Klargestellt wird aber durch die Beschränkung der Nichtigkeitserklärung auf die im Gesetzestext enthaltene Frist, daß eine Unterbringung auch weiterhin nachträglich für erledigt werden kann. Dieses Bedürfnis war in der Praxis der Strafvollstreckungsgerichte schon vor der gesetzlichen Regelung in § 67d V StGB entstanden, damals jedoch nicht durchweg anerkannt worden.17 Erledigungsentscheidungen dieser Art werden mittlerweile häufiger getroffen als vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.18
C. Zur Konkretisierung der Verhältnismäßigkeit Für die Konkretisierung der Verhältnismäßigkeit einer Unterbringung im Maßregelvollzug mit dem Ziel der Suchtbehandlung bietet es sich an, die allgemein anerkannten Prüfungsstufen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne beizubehalten.
I. Geeignetheit Die kriminalrechtliche Unterbringung in einer Entziehungsanstalt muß zunächst geeignet sein, den Zweck der Gefahrenabwehr zumindest teilweise zu verwirklichen; ihre Verhängung und Vollstreckung muß dazu beitragen, erhebliche Delikte zu verhindern. Legt man die Anordnungsvoraussetzungen – wie in Kapitel 14 vorgeschlagen19 – restriktiv aus, insbesondere im Hinblick auf den „Hang“ zum Konsum psychotroper Substanzen im Übermaß und die Komponenten des Merkmals „Gefährlichkeit“, und versteht man das Eignungserfordernis in Übereinstimmung mit der überwiegenden Auffassung im öffentlichen Recht eher als groben Filter20, so bleibt an dieser Stelle wenig Prüfungsstoff übrig. Liegen die Voraussetzungen BVerfGE 91, 1 (34 f.). Befürwortend etwa Horstkotte (1983: Rn. 10 zu § 67c, 51 zu § 67d StGB), ablehnend OLG Frankfurt, Beschluß vom 13. August 1982 – 3 Ws 113 / 82 (= NStZ 1983, 187). 18 Siehe schon Dessecker (1996b: 165 ff.); zur neueren Entwicklung Berger et al. (1999: 504) und Schalast / Leygraf (1999: 487). 19 Kapitel 14 A. (S. 259 ff.). 20 Siehe die Ausführungen zur psychiatrischen Unterbringung in Kapitel 16 C. I. (S. 343 ff.). 16 17
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der Maßregel nach § 64 StGB im hier vertretenen Sinn vor, so ist an ihrer Geeignetheit zur Gefahrenabwehr nicht mehr zu zweifeln. Daran ändert auch der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1994 im Ergebnis nichts. Dort wird im Zusammenhang mit der Anordnung einer solchen Maßregel zwar von den erkennenden Gerichten verlangt, „die Eignung des Eingriffs positiv und konkret festzustellen“. Doch erkennt auch das Bundesverfassungsgericht an, daß es hier um nicht mehr gehen kann als eine Prognose, deren Gewicht der Senat mit der Einführung des Kriteriums „hinreichend konkrete Erfolgsaussicht“ zu verschieben versucht.21 Damit aber ist auch insoweit nicht mehr gefragt als eine Feststellung, daß die Maßregel voraussichtlich ein taugliches Mittel darstellt, den beabsichtigten Erfolg zu erreichen.22
II. Erforderlichkeit Von wesentlicher größerer Bedeutung ist das zweite Element des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Die kriminalrechtliche Unterbringung zur Suchtbehandlung ist nur dann erforderlich, wenn sie unter mehreren gleich geeigneten Maßnahmen zur Gefahrenabwehr als mildestes Mittel erscheint. Obwohl die Literatur zum Maßregelrecht im Hinblick auf diese Voraussetzung auch für die Sanktion nach § 64 StGB eher die traditionelle Terminologie pflegt und dementsprechend vom Grundsatz der Subsidiarität die Rede ist23, erscheint es sinnvoll, den allgemeineren und außerhalb des Maßregelrechts verbreiteten Begriff der Erforderlichkeit heranzuziehen. Der Streit über die Frage, an welcher Stelle der Grundsatz des mildesten Mittels sich auswirkt, ist für die Unterbringung zur Suchtbehandlung ebenso zu entscheiden wie für die psychiatrische Unterbringung nach § 63 StGB: nimmt man diesen Rechtsgrundsatz ernst, so ist er bereits bei der Anordnung der Maßregel zu berücksichtigen.24 Das Spektrum möglicher Alternativen überschneidet sich mit demjenigen, das für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht kommt. Das gilt insbesondere für Interventionsmöglichkeiten außerhalb des Kriminalrechts. Im Text der betreuungsrechtlichen Vorschriften wird nicht ausdrücklich auf eine Suchtproblematik Bezug genommen; der zentrale Normsatz über die Voraussetzungen einer zivilrechtlichen Unterbringung spricht allgemeiner von einer psychischen Krankheit (§ 1906 I Nr. 1 BGB). Zwar läßt sich Suchtverhalten vor allem BVerfG, Beschluß vom 16. März 1994 – 2 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1, 29, 33). Die Bedeutung dieser tendenziellen Verschärfung der Unterbringungsvoraussetzungen ist sowohl von der Senatsmehrheit wie auch von der Kritik überschätzt worden. Das zur Verfügung stehende prognostische Instrumentarium ist nicht so empfindlich, daß das neue Kriterium zu einem Rückgang der Anordnungshäufigkeit geführt hätte. Zur quantitativen Entwicklung bereits Kapitel 8 B. (S. 133 ff.). 23 Böllinger (1995: Rn. 105 zu § 64 StGB); Hanack (1991: Rn. 82 zu § 64 StGB). 24 Ausführlich Kapitel 16 C. II. (S. 345 ff.). 21 22
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in Form einer Abhängigkeit als psychische Krankheit definieren. Doch bemühen sich familienrechtliche Rechtsprechung und Literatur um einschränkende Auslegungen; überwiegend wird selbst eine Abhängigkeit im psychiatrischen Sinne nicht als ausreichend für die Anwendung des Betreuungsrechts angesehen.25 Zudem sind auch hier die allgemeinen Grenzen des Rechtsinstituts von Bedeutung. Eine betreuungsrechtliche Unterbringung kommt danach nur in Frage, wenn zu der Suchtproblematik eine weitere psychische Krankheit hinzukommt und die Unterbringung schon zum „Wohl des Betreuten“ begründet ist; der Zweck der Gefahrenabwehr für andere Personen kommt lediglich als Nebenaspekt ins Spiel.26 Dagegen können abhängigkeitskranke Personen bei Bestehen einer konkreten Gefahr für andere oder erheblicher Selbstgefährdung nach den landesrechtlichen Gesetzen über psychisch Kranke in eine geschlossene Einrichtung eingewiesen werden. Diese Gesetze nehmen teils wie das Betreuungsrecht allgemein auf psychische Störungen oder Krankheiten Bezug27, teils werden Suchtkrankheiten als Anknüpfungssachverhalt gesondert genannt.28 Die zuständigen Einrichtungen werden dementsprechend allgemein als geeignete Krankenhäuser (§ 14 I NPsychKG) oder in ähnlicher Weise bezeichnet, teilweise als Suchtfachabteilungen und -kliniken.29 Im Bereich der Maßregel nach § 64 StGB wird diese Unterbringungsform gelegentlich als Alternative ins Gespräch gebracht.30 Ob sie tatsächlich ein milderes Mittel darstellen kann, sollte man – wie schon im Zusammenhang mit der psychiatrischen Unterbringung vorgeschlagen31 – nicht von der rechtlichen Ausgestaltung in den jeweiligen Landesgesetzen abhängig machen. Bedeutsamer sind die in den zuständigen Einrichtungen bestehenden Behandlungsmöglichkeiten. Da schon für die Anordnung einer kriminalrechtlichen Unterbringung nach § 64 StGB der Gesichtspunkt der Behandlung eine wichtigere Rolle spielt als bei den anderen freiheitsentziehenden Maßregeln, ist es angebracht, bei der Prüfung möglicher Alternativen keine Abstriche zu machen. Die landesrechtliche Unterbringung in einer spezialisierten Einrichtung, die im Vergleich zum Maßregelvollzug bessere therapeutische Bedingungen bietet, kann als milderes Mittel erscheinen, wenn sich durch überlegene Behandlungsformen der stationäre Aufenthalt verkürzt. Zuzugeben ist allerdings, daß dieser Vergleich nicht immer weit führen wird; in vielen 25 Marschner (2001b: Rn. 5 zu § 1896 BGB); aus der Rechtsprechung BayObLG, Beschlüsse vom 22. Juli 1993 – 3Z BR 83 / 93 (= FamRZ 1993, 1489 f.) und vom 1. Februar 1999 – 3Z BR 29 / 99 (= FamRZ 1999, 1306 f.); OLG Hamm, Beschluß vom 12. September 2000 – 15 W 288 / 00 (= BtPrax 2001, 40). 26 Kapitel 16 C. II. (S. 349). 27 So das niedersächsische Landesrecht in § 1 Nr. 1 NPsychKG. 28 In diesem Sinne mit unterschiedlichen Formulierungen die Gesetze aller anderen Bundesländer; siehe Marschner (2001a: Rn. 110). 29 § 30 des Thüringer Gesetzes zur Hilfe und Unterbringung psychisch Kranker vom 2. Februar 1994 (GVBl. 81). 30 Böllinger (1995: Rn. 105 zu § 64 StGB); Hanack (1991: Rn. 112 zu § 64 StGB). 31 Kapitel 16 C. II. (S. 349 ff.).
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Regionen sind dieselben Einrichtungen sowohl für nicht-kriminalrechtliche Unterbringungen zur Suchtbehandlung zuständig wie auch für solche nach § 64 StGB. Bei der Prüfung der Erforderlichkeit einer Unterbringung nach § 64 StGB sind darüber hinaus Möglichkeiten der Suchtbehandlung im Rahmen der Strafe in Betracht zu ziehen. Dies liegt schon deshalb nahe, weil parallele Freiheitsstrafen in diesem Fall die Regel sind.32 Vorgeschlagen werden in diesem Zusammenhang vor allem Therapieweisungen.33 Solche Weisungen sind im Hinblick auf ambulante „Entziehungskuren“ (§ 59a II 1 Nr. 4 StGB) bereits auf der Stufe der Verwarnung mit Strafvorbehalt vorgesehen. Bei der Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung wie bei der Strafrestaussetzung können sich entsprechende Weisungen auch auf einen stationären Aufenthalt in einer geeigneten Therapieeinrichtung beziehen. In jedem Fall erforderlich ist eine Einwilligung der verurteilten Person; zudem wird eine Weisung bei glaubhafter Zusage in der Regel entbehrlich (§§ 56c III und IV; 57 III 1, 57a III 2, 59a II 3 StGB). Das hat zur Folge, daß freiwillige Behandlungsangebote hier eher ausreichen können; sie sind damit anders zu werten als bei der Erforderlichkeit einer Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug.34 Mit dieser abweichenden Begründung läßt sich an eine Auffassung in Rechtsprechung und Literatur anknüpfen, die sich schon für die bis zur Strafrechtsreform geltende Fassung des § 42c StGB a.F. herausgebildet hat.35 Mit der hier vertretenen Restriktion der Anordnungsvoraussetzungen gewinnt der Verweis auf die Alternative „freiwilliger“ Behandlung eine neue Qualität. Doch sieht § 68e II StGB seit 1998 das Druckmittel einer unbefristeten Führungsaufsicht vor, falls eine Einwilligung nicht erteilt wird. Unabhängig von solchen Komplikationen ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein passendes Therapieangebot zur Verfügung steht, das sich als ähnlich wirksam darstellt wie eine Unterbringung im Maßregelvollzug. Darüber hinaus wird kritisiert, daß die vorhandenen Maßregeleinrichtungen ohnehin nur einen Teil der Klientel erreichen können. Da zahlreiche Strafgefangene eine Suchtproblematik aufweisen, sollten entsprechende Behandlungsangebote auch im Strafvollzug erfolgen.36 Wird eine Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung Kapitel 14 C. II. (S. 272). Böllinger (1995: Rn. 105 zu § 64 StGB); Horstkotte (1983: Rn. 76 zu § 67b StGB). Ablehnend jedenfalls als Alternative zu einer Anordnung der Maßregel BayObLG, Urteil vom 10. Februar 1995 – 1St RR 203 / 94 (= BayObLGSt 1995, 19, 21 f.) und Tröndle / Fischer (2003: Rn. 16 zu § 64 StGB); skeptisch auch Hanack (1991: Rn. 85 f. zu § 64 StGB). 34 Dazu Kapitel 16 C. II. (S. 351). Das Argument von Frisch (1983: 149 Fn. 584), freiwillige Behandlungsangebote seien mit staatlichen Interventionen nicht vergleichbar, überzeugt jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang nicht. 35 BGH, Urteil vom 14. November 1956 – 2 StR 491 / 56 (bei Dallinger, MDR 1957, 140). Zustimmend Hanack (1991: Rn. 83 zu § 64 StGB); erweiternd Horstkotte (1983: Rn. 48 zu § 67b StGB). 36 In diese Richtung argumentiert – ohne konkreten Bezug zu § 64 StGB – Frisch (1990: 379 f.). 32 33
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ausgesetzt, so besteht im Strafvollzug ein Behandlungsanspruch jedenfalls bei Diagnose einer Abhängigkeit (§ 58 StVollzG). Zur Therapie kommt auch eine Verlegung in eine andere Vollzugsanstalt, ein Anstaltskrankenhaus oder ein Krankenhaus außerhalb des Strafvollzugs in Betracht (§ 65 StVollzG). Das Problem liegt eher auf der Ebene der Vollzugspraxis: die tatsächlich bestehenden Behandlungsmöglichkeiten für Suchtkrankheiten gelten als unzureichend, und zwar nicht nur wegen des engen Zeitrahmens während des Vollzugs vieler Freiheitsstrafen, sondern auch mangels qualifizierten Personals.37 Deshalb hat der Strafvollzug keine akzeptable Alternative zu einer Suchtbehandlung im Maßregelvollzug zu bieten. Die früher in der Rechtsprechung vertretene Auffassung, eine vor der Suchtbehandlung vollstreckte Freiheitsstrafe könne den Vollzug der Maßregel überflüssig machen38, ist allenfalls noch im Rahmen von § 67c I StGB von Bedeutung, also in den seltenen Fällen, in denen ausnahmsweise ein Vorwegvollzug der Strafe praktiziert wird.39 Speziell für Straftäter, die von illegalen Drogen im Sinne des Betäubungsmittelrechts abhängig sind, greifen Regelungen über die Zurückstellung der Strafvollstreckung zugunsten einer stationären oder ambulanten Drogentherapie ein (§§ 35 ff. BtMG). Sie gelten bei Freiheitsstrafe oder einem noch zu verbüßenden Strafrest von bis zu zwei Jahren, wobei auch die Vollstreckung einer parallelen strafrechtlichen Unterbringung nach § 64 StGB zurückgestellt werden kann. Obwohl diese Regelungen von der Strafjustiz in Verfahren gegen drogenabhängige Täter recht häufig angewandt40 und gegenüber Aufenthalten im Maßregelvollzug vielfach bevorzugt werden, stellen sie keine mildere Alternative dar, die eine Anordnung der Maßregel nach § 64 StGB überflüssig machen könnte. Zwar ist für die Effizienz von Drogentherapien auf dieser Grundlage nicht erkennbar, daß sie weniger erfolgreich wären. Aber systematisch handelt es sich um bloße Vorkehrungen des Vollstreckungsrechts, die einer Verhängung der Maßregel zur Suchtbehandlung ebenso nachgeordnet sind wie der Verhängung einer Freiheitsstrafe.41 Selbstverständlich kann jedoch bereits das erkennende Gericht darauf hinwirken, daß im Anschluß an die Rechtskraft des Urteils eine Zurückstellung der Straf- und Maßregelvollstreckung zugunsten einer Drogentherapie außerhalb des Maßregelvollzugs erfolgt.
Siehe Preusker (1995) und Wirth (2002). BGH, Urteil vom 14. Oktober 1971 – 4 StR 366 / 71 (= NJW 1972, 347). 39 Ebenso Horstkotte (1983: Rn. 89 zu § 67c StGB). Noch rigoroser ablehnend Hanack (1991: Rn. 108 zu § 64 StGB): die frühere Auffassung der Rechtsprechung sei seit der Strafrechtsreform schon wegen des grundsätzlichen Vorwegvollzugs der Maßregel „nicht mehr vertretbar“. 40 Siehe Kurze (1994: 28 ff.). 41 Hierzu bereits Kapitel 14 A. (S. 263). 37 38
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III. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, Proportionalität, Übermaßverbot Für die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gilt bei der Maßregel nach § 64 StGB ebenso wie bei der psychiatrischen Unterbringung, daß dieses Erfordernis positiv festzustellen ist. Denn auch diese Maßregel betrifft das Grundrecht der Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG).42 Nach der Analyse von Literatur und Rechtsprechung zur Anwendung des Übermaßverbots im Bereich der Maßregel zur Suchtbehandlung ist davon auszugehen, daß im Zusammenhang mit der Anordnungsentscheidung dafür nur ein geringes Bedürfnis gesehen wird. Versucht man schon die Anordnungsvoraussetzungen dieser Maßregel restriktiv zu fassen43, gilt dies um so mehr. Von größerer Bedeutung ist das dritte Element des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit für die Vollstreckung der Maßregel nach § 64 StGB. Zwar läßt das Gesetz hier eine Erledigung wegen Aussichtslosigkeit einer weiteren Suchtbehandlung unter den Bedingungen des Maßregelvollzugs ausdrücklich zu (§ 67d V StGB). Diese Regelung erfaßt jedoch keineswegs alle Fallgruppen, für die der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sich auswirken kann. Die Feststellung der Aussichtslosigkeit läuft nicht nur auf das Eingeständnis hinaus, daß bisherige therapeutische Bemühungen erfolglos waren; sie kann auch eine zusätzliche Stigmatisierung der Verurteilten bedeuten.44 Gerade bei der Betonung des Besserungsgedankens für diese Sanktion ist es deswegen nicht ausgeschlossen, daß immer neu therapeutisch angesetzt und so der Aufenthalt im Maßregelvollzug in die Länge gezogen wird. Haupteinwand gegen die Effektivierung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zur Begrenzung der Unterbringungsdauer in Einrichtungen nach § 64 StGB ist traditionell die gesetzliche Befristung auf zwei Jahre (§ 67d I 1 StGB).45 Diese Befristung gilt aber nur dann, wenn entweder wegen nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat keine parallele Freiheitsstrafe verhängt oder die Strafe ausnahmsweise vor der Maßregel vollstreckt wird (§ 67 II StGB). Wie empirische Untersuchungen zeigen, sind dagegen in aller Regel parallele Freiheitsstrafen und die Vorwegvollstreckung der Maßregel (§ 67 I StGB) zu beobachten.46 In der Praxis überwiegen damit die Verfahren, in denen die Höchstfrist der Unterbringung sich nach § 67d I 3 StGB um den Anteil der Freiheitsstrafe verlängert, auf den der Aufenthalt im Maßregelvollzug angerechnet wird. Die Berechnungsmethode ist im einzelnen umstritten.47 In diesem Streit 42 43 44 45 46 47
BVerfG, Beschluß vom 16. März 1994 – 2 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1, 27). Siehe Kapitel 14 (S. 259 ff.). Schalast / Leygraf (1999: 489). Horstkotte (1983: Rn. 68 zu § 67d StGB); Lenckner (1972: 198). Dessecker (1996b: 108 ff., 135 ff.); Schalast (2000: 67 f.). Ein kurzer Überblick zum Streitstand bei Volckart (1999: 237).
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scheint sich allerdings zumindest in der Justizpraxis die Auffassung durchzusetzen, nach der eine absolute Grenze für den Aufenthalt im Maßregelvollzug erst mit der Dauer der verhängten Freiheitsstrafe erreicht ist.48 Da die Unterbringung nach § 64 StGB neben Freiheitsstrafen zunehmender Länge verhängt wird, nimmt die Unterbringungsdauer weiter zu. In dem gelegentlich vorkommenden Extremfall einer lebenslangen Parallelstrafe bedeutet das bei Vorwegvollstreckung der Maßregel49, daß sie wie die beiden anderen freiheitsentziehenden Maßregeln unbefristet wird. All das macht die Berechtigung einer Argumentation deutlich, die darauf zielt, die Dauer der Unterbringung im Maßregelvollzug nach § 64 StGB durch das Übermaßverbot zu begrenzen. Dazu lassen sich die Kriterien der Verhältnismäßigkeit einer weiteren Unterbringung im Maßregelvollzug, die das Bundesverfassungsgericht für die Maßregel nach § 63 StGB entwickelt hat, auf die Maßregel nach § 64 StGB übertragen.50 Die Anforderungen an eine Fortdauer des Aufenthalts im Maßregelvollzug wachsen demnach mit zunehmender Unterbringungsdauer. Für die psychiatrische Unterbringung nach § 63 StGB wurde vorgeschlagen, diese Anforderungen so zu konkretisieren, daß die äußerste Grenze der Verhältnismäßigkeit an der Höchststrafe der Tatbestände anzusetzen ist, deren Erfüllung zu befürchten wäre.51 Überträgt man diesen Ansatz auf den Maßregelvollzug nach § 64 StGB, führt dies jedoch zu keiner wirksamen Begrenzung. Wie empirische Untersuchungen zeigen, liegt die Dauer der Aufenthalte im Vollzug dieser Maßregel trotz einer langfristig zu beobachtenden Zunahme und einer breiten Streuung im Mittel nicht über zwei Jahren.52 Demgegenüber sieht das materielle Strafrecht schon für den Regelfall einfacher Raubdelikte Freiheitsstrafen bis zu 15 Jahren vor (§§ 249 I, 38 II StGB). Entscheidend ist ein anderer Gesichtspunkt. Angesichts der Betonung des Besserungsziels bei dieser Maßregel läßt sich ihre Verhältnismäßigkeit nicht unabhängig von dem Maß bestimmen, in dem die Unterbringung tatsächlich durch Suchtbehandlung geprägt ist. Darauf ist schon vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1994 hingewiesen worden: „Je weniger intensiv die Therapie ist, umso eher stellt sich die Frage der Verhältnismäßigkeit der Unterbringungszeiten.“53 48 OLG Frankfurt, Beschluß vom 30. Juni 1992 – 3 Ws 335 / 92 (= NStZ 1993, 453); OLG Hamm, Beschluß vom 16. Juni 1994 – 3 Ws 336 / 94 (= StV 1995, 89); zustimmend Lackner (2001: Rn. 2 zu § 67d StGB) und Tröndle / Fischer (2003: Rn. 3a zu § 67d StGB). 49 Dazu BGH, Urteil vom 23. August 1990 – 4 StR 306 / 90 (= BGHSt 37, 160). 50 Böllinger (1995: Rn. 108 zu § 64 StGB). 51 Kapitel 16 C. III. (S. 357 ff.). 52 Dessecker (1996b: 160 f.); über Unterbringungszeiten bis zur Feststellung der Aussichtslosigkeit einer weiteren Behandlung Schalast / Leygraf (1999: 488); zur Bedeutung langer Parallelstrafen Schmitz (1995). 53 Horstkotte (1983: Rn. 68 zu § 67d StGB). In dieser Richtung argumentiert auch Frisch (1983: 148 Fn. 582).
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Das Bundesverfassungsgericht bringt dies teilweise dadurch zum Ausdruck, daß es als Prüfungsmaßstab nicht allein die Freiheit der Person heranzieht, sondern das Grundrecht aus Art. 2 II 2 GG mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I GG) und dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 I GG) verbindet.54 Vor allem nimmt es die gesetzgeberische Konzeption der Maßregel so ernst, daß es sie unmittelbar zur Bestimmung der Reichweite des grundrechtlichen Schutzes heranzieht: „Ebenso wie es sich im Rahmen des § 64 StGB verbietet, die Maßregel zur Heilbehandlung eines für die Allgemeinheit ungefährlichen Täters anzuordnen, ist es vor dem Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG auch nicht erlaubt, die Unterbringung eines – aus welchen Gründen auch immer – nicht behandlungsfähigen Täters in einer Entziehungsanstalt anzuordnen, nur um durch dessen Verwahrung die Allgemeinheit zu schützen.“55
Was für die Anordnungsentscheidung gilt, darf im Vollstreckungsverfahren nicht ignoriert werden. Die Grundrechte aus Art. 2 II 2, 2 I GG markieren damit eine Grenze der Unterbringungsdauer an der Stelle, die den Übergang von therapeutischen Bemühungen in eine Freiheitsentziehung bezeichnet, die nur noch auf Sicherung abzielt. Die Frage nach der Angemessenheit einer fortdauernden Unterbringung im Maßregelvollzug des § 64 StGB läßt sich damit reformulieren: wie lange kann ein unter den Bedingungen des Maßregelvollzugs sinnvolles Therapieprogramm höchstens dauern? Dazu liegen Erfahrungen vor, die bisher meist unter etwas anderen Fragestellungen zusammengestellt werden; im Vordergrund steht der Gesichtspunkt des Umgangs mit langen Freiheitsstrafen, die für sich genommen nach der Rechtsprechung noch kein Grund sind, von der Vorwegvollstreckung der Maßregel (§ 67 I StGB) abzuweichen.56 Soweit aufgrund neuerer Erfahrungen aus dem Maßregelvollzug konkrete Aussagen über die maximale Dauer der Suchtbehandlung gemacht werden, bewegen sich diese innerhalb einer Bandbreite von zwei bis drei Jahren.57 Solche Erwägungen zur Begrenzung der Unterbringungsdauer sind nicht neu. Die gesetzliche Höchstfrist von zwei Jahren wurde gerade mit dem Ziel eingeführt, einen zeitlichen Rahmen zu setzen, der sich an der regelmäßigen Dauer stationärer Suchtbehandlungen orientiert, aber etwas weiter gespannt ist, um auch atypischen Verläufen gerecht zu werden.58 Soll diese Befristung der Aufenthaltsdauer im Maßregelvollzug nicht völlig unterlaufen werden, so ist mit dem Grundsatz der BVerfG, Beschluß vom 16. März 1994 – 2 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1, 29). BVerfGE 91, 1 (28). Ausdrücklich anders die abweichende Meinung der Richterin Graßhof in BVerfGE 91, 1 (57 f.). 56 Schalast (2000: 68 f.); Schmitz (1995). 57 Schalast (2000: 68); Schmitz in Dessecker / Egg (1995: 225); Volckart (1999: 192, 236). 58 Hanack (1991: Rn. 114 zu § 64 StGB); Horstkotte (1983: Rn. 4 zu § 67d StGB); Schäfer et al. (1934: 133). 54 55
Kap. 17: Verhältnismäßigkeit bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
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Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nur eine Gesetzesauslegung vereinbar, die keine beliebige Überschreitung der Höchstfrist gestattet. Die überwiegend vertretene Auffassung, der zufolge § 67d I 3 StGB langjährige Aufenthalte im Maßregelvollzug ermöglichen soll, wenn neben der Unterbringung nur eine entsprechend hohe Freiheitsstrafe verhängt wird59, ist aus diesem Grund abzulehnen. Will man vermeiden, daß im Maßregelvollzug verbrachte Zeiträume mehrfach dazu herangezogen werden, das Ende der Unterbringung hinauszuschieben, bleibt nur die Fixierung einer absoluten Höchstfrist von vier Jahren.60 Dabei ist nicht zu verkennen, daß eine Aufenthaltsdauer von vier Jahren im Maßregelvollzug den Zeitraum überschreitet, der bisher für die maximale Dauer einer stationären Suchtbehandlung bei einer Klientel mit erheblichen Belastungsfaktoren angegeben wird. Nimmt man das Übermaßverbot als äußerste Grenze eines noch hinnehmbaren Eingriffs in die Grundrechte der betroffenen Maßregelpatienten ernst, erscheint es jedoch ratsam, Spielräume für ungewöhnliche Komplikationen vorzusehen, die bisher nicht aufgetreten sind. In allen Fällen, die im Rahmen der vorhandenen Erfahrungen mit der Klientel des Maßregelvollzugs nach § 64 StGB bleiben, sollten mehrjährige Aufenthalte in den Einrichtungen vermieden werden, indem frühzeitig auf eine Entlassung und eine ambulante Nachbetreuung hingearbeitet wird. Therapeutische Bemühungen, die eine solche Perspektive unrealistisch erscheinen lassen, sollten dagegen möglichst früh abgebrochen werden.
59 OLG Frankfurt, Beschluß vom 30. Juni 1992 – 3 Ws 335 / 92 (= NStZ 1993, 453); OLG Hamm, Beschluß vom 16. Juni 1994 – 3 Ws 336 / 94 (= StV 1995, 89); ebenso Lackner (2001: Rn. 2 zu § 67d StGB) und Tröndle / Fischer (2003: Rn. 3a zu § 67d StGB). 60 Isak / Wagner (1999: 230); Volckart (1999: 237).
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
Kapitel 18
Verhältnismäßigkeit bei der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) Die Sicherungsverwahrung ist die freiheitsentziehende Maßregel, um deren Berechtigung und konkrete Ausgestaltung sich immer wieder Grundsatzdebatten entspinnen. Schien sie ihre frühere Bedeutung spätestens seit der Strafrechtsreform eingebüßt zu haben, ist mit der Wiederentdeckung „gefährlicher“ Straftäter durch die Kriminalpolitik seit Ende der 1990er Jahre auch eine Aufwertung dieser Maßregel verbunden. Demgegenüber ist ihre Begrenzung über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu Unrecht in den Hintergrund getreten.
A. Verhältnismäßigkeit als Voraussetzung der Anordnung Das Bundesverfassungsgericht beschäftigt sich seit 1953 mehrfach mit der Fragen der Sicherungsverwahrung. Allerdings beziehen sich die vorliegenden Entscheidungen zum größten Teil auf Fragen des Vollzugs- und Vollstreckungsrechts; sie werden im folgenden Abschnitt dargestellt.1 Die Vereinbarkeit der Sanktion als solcher mit dem Grundgesetz kommt erst in einem Nichtannahmebeschluß aus dem Jahr 19952 in den Blick, obwohl die Grundsatzdiskussion über die Verfassungsmäßigkeit der Sicherungsverwahrung in der Literatur schon seit längerer Zeit geführt wird.3 Gegenstand des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht war eine Verfassungsbeschwerde, die sich gegen eine Anordnung der Sicherungsverwahrung und mittelbar gegen die Vorschrift des § 66 StGB richtete. Anlaß der Maßregel im Ausgangsverfahren waren im wesentlichen Wirtschaftsdelikte. Die 2. Kammer des Zweiten Senats führt in ihrem Beschluß aus, § 66 StGB erfülle die Anforderungen einer materiell-rechtlichen Grundlage für Freiheitsbeschränkungen (Art. 104 I GG) ebenso wie die des Gesetzlichkeitsprinzips (Art. 103 II GG) und des Verbots doppelter Bestrafung (Art. 103 III GG).4 Im Anschluß an frühere Entscheidungen wird darauf hingewiesen, das Verbot des ne bis in idem schließe die Verhängung verschiedener Sanktionen aus Anlaß eines Sachverhalts nicht aus.5 Siehe Kapitel 18 B. (S. 374 ff.). BVerfG, Beschluß vom 27. September 1995 – 2 BvR 1734 / 90 (= NStZ-RR 1996, 122). 3 Siehe Böllinger (1995: Rn. 33 ff. zu § 66 StGB); Stree (1960: 217 ff.); Wacker (1966: 45 ff.); Weichert (1989). 4 BVerfG, Beschluß vom 27. September 1995 – 2 BvR 1734 / 90 (= NStZ-RR 1996, 122). Anders vor allem Weichert (1989: 270 f.). 5 So bereits BVerfG, Beschluß vom 2. Mai 1967 – 2 BvL 1 / 66 (= BVerfGE 21, 391, 400 ff.). 1 2
Kap. 18: Verhältnismäßigkeit bei der Sicherungsverwahrung
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Die Verfassungsmäßigkeit des zweispurigen Sanktionensystems im Kriminalrecht wird im Anschluß an die Entscheidungen zu den beiden anderen freiheitsentziehenden Maßregeln erneut bestätigt. Schließlich wird bemerkt, wegen der im Vollstreckungsrecht getroffenen Vorkehrungen, insbesondere der obligatorischen Entscheidung zum Ende der Strafverbüßung (§ 67c I StGB), der damals noch geltenden Höchstfrist von zehn Jahren bei der ersten Anordnung einer Sicherungsverwahrung und der regelmäßigen Überprüfung der Fortdauer (§ 67e StGB), sei wie bei lebenslangen Freiheitsstrafen6 eine realisierbare Chance gegeben, zu einem späteren Zeitpunkt in die Freiheit entlassen zu werden.7 Die veröffentlichte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verbindet die Verhältnismäßigkeitsprüfung auch bei der Sicherungsverwahrung zum Teil mit dem Kriterium der Gefährlichkeit. Solche Aussagen finden sich etwa bei der Frage, ob zu erwartende Vermögensdelikte die Anordnung dieser Maßregel rechtfertigen.8 Zumindest die ältere Rechtsprechung der Strafgerichte betrachtet den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit allerdings bei Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen für die Sicherungsverwahrung als regelmäßig gewahrt.9 Das erklärt nicht nur die Entscheidung, die Führungsaufsicht nicht als gleich wirksame, aber mildere Alternative anzuerkennen10, sondern auch die geringe Zahl veröffentlichter gerichtlicher Stellungnahmen zur Verhältnismäßigkeit bei der Sicherungsverwahrung insgesamt. In der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen gewinnt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an Bedeutung, wenn es um eine unbefristete Sicherungsverwahrung geht. So wird vor allem dann argumentiert, wenn sich der Unrechtsgehalt der Anknüpfungstaten gegenüber dem Gegenstand früherer Verurteilungen als weniger schwerwiegend darstellt. Dabei wird die Vorschrift des § 62 StGB auf das Gefahrenpotential künftiger Delikte bezogen.11 6 Die Kammer bezieht sich auf den Maßstab der Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe; siehe BVerfG, Urteil vom 21. Juni 1977 – 1 BvL 14 / 76 (= BVerfGE 45, 187, 228 f., 245). 7 BVerfG, Beschluß vom 27. September 1995 – 2 BvR 1734 / 90 (= NStZ-RR 1996, 122). 8 BGH, Beschluß vom 2. August 1983 – 5 StR 137 / 83 (= StV 1983, 503). In dieser Richtung auch Tröndle / Fischer (2003: Rn. 19 zu § 66 StGB) zu Delikten „mittlerer Kriminalität“. 9 BGH, Urteile vom 12. Dezember 1979 – 3 StR 436 / 79 (= NJW 1980, 1055 f.) und vom 26. August 1987 – 3 StR 305 / 87 (= NStE Nr. 10 zu § 66 StGB); OLG Köln, Beschluß vom 16. Oktober 1970 – 2 Ws 724 / 70 (= MDR 1971, 154). Ebenso Schewe (1999: 113); ablehnend Frommel (1981: 1084); einschränkend Hanack (1991: Rn. 168 zu § 66 StGB). 10 BGH, Urteil vom 12. Dezember 1979 – 3 StR 436 / 79 (= NJW 1980, 1055 f.). Anders jedenfalls im Ausgangspunkt zur Polizeiaufsicht des früheren Rechts RG, Urteil vom 11. Oktober 1938 – 4 D 677 / 38 (= RGSt 72, 356, 358); BGH, Urteil vom 16. Januar 1951 – 3 StR 49 / 50 (= NJW 1951, 203) und Stree (1960: 220). Ablehnend gegenüber der erstgenannten Entscheidung insoweit auch Hanack (1991: Rn. 168 zu § 66 StGB). 11 BGH, Beschluß vom 20. Juni 1996 – 4 StR 281 / 96 (= StV 1996, 544 f.). Ebenso BGH, Urteil vom 31. Juli 1997 – 4 StR 339 / 97 (= NStZ-RR 1998, 135) und Beschluß vom
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
Zudem wird zumindest erwogen, daß es Fälle gibt, für die schon zum Zeitpunkt der Verurteilung feststeht, daß die angenommene Gefährlichkeit nach Verbüßung einer langen Strafe beseitigt sein wird, etwa wegen fortgeschrittenen Alters der Verurteilten. Für diese Fallgruppe wird auch in der Rechtsprechung grundsätzlich anerkannt, daß bereits die Anordnung der Sicherungsverwahrung entbehrlich sein kann12, auch wenn der daraus folgende Verzicht auf die Maßregel im Einzelfall soweit ersichtlich bisher nicht praktiziert wird. Aus empirischer Sicht läßt sich hinzufügen, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach der Freiburger Untersuchung von Jörg Kinzig in immerhin einem Drittel der Anordnungsentscheidungen ausdrücklich angesprochen wird.13
B. Verhältnismäßigkeit bei der Vollstreckung der Sicherungsverwahrung Mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beschäftigen sich mit dem Vollstreckungs- und Vollzugsrecht der Sicherungsverwahrung. Nach einem Beschluß aus dem Jahr 1953 verstößt ein Vollzug der Sicherungsverwahrung, der weitgehend mit demjenigen der Zuchthausstrafe übereinstimmt, nicht gegen das Grundgesetz. Dabei wird als Prüfungsmaßstab der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 I GG herangezogen. Unter Berücksichtigung des Zwecks der Maßregel lasse sich ein Verstoß der damals geltenden Vollzugsvorschriften gegen das Grundgesetz offensichtlich nicht feststellen.14 Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1976 betrifft die Frage, ob die Sicherungsverwahrung nach Verbüßung der Strafe auch dann vollzogen werden darf, wenn ein Beschluß der Strafvollstreckungskammer über die Erforderlichkeit der Unterbringung (§ 67c I StGB) bei Strafende noch aussteht.15 Die Mehrheit des Zweiten Senats weist eine aus diesem Anlaß eingelegte Verfassungsbeschwerde im wesentlichen mit der Begründung zurück, die Unterbringung beruhe auf einem rechtskräftigen Urteil; Verzögerungen im Verfahren 17. September 1998 – 5 StR 404 / 98 (= StV 2000, 258); zustimmend Tröndle / Fischer (2003: Rn. 28 zu § 66 StGB). 12 BGH, Urteile vom 5. Februar 1985 – 1 StR 833 / 84 (= NStZ 1985, 261) und vom 8. September 1987 – 1 StR 393 / 87 (= BGHR § 66 I StGB Gefährlichkeit 1); Beschluß vom 21. Oktober 1992 – 5 StR 446 / 92 (= NStZ 1993, 78); Urteile vom 7. April 1999 – 2 StR 440 / 98 (insoweit nur in JURIS veröffentlicht) und vom 27. Juli 2000 – 1 StR 263 / 00 (= NJW 2000, 3015 f.). Ebenso bereits B. Müller (1981: 112 ff.). 13 Kinzig (1996: 368 f.). 14 BVerfG, Beschluß vom 30. Januar 1953 – 1 BvR 377 / 51 (= BVerfGE 2, 118, 119 f.). Ebenso Bayer. Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 2. November 1959 – Vf. 36 / VI / 58 (= VGH n.F. 12 II 168) und Beschluß vom 20. Juni 1961 – Vf. 101 / II / 59 (= JR 1961, 395 f.). 15 BVerfG, Beschluß vom 9. März 1976 – 2 BvR 618 / 75 (= BVerfGE 42, 1).
Kap. 18: Verhältnismäßigkeit bei der Sicherungsverwahrung
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der Strafvollstreckungskammer seien – ähnlich wie in Fällen verspäteter Aktenvorlage an das Oberlandesgericht bei Untersuchungshaft von mehr als sechs Monaten Dauer (§ 121 StPO) – aus verfassungsrechtlicher Sicht hinzunehmen.16 Dagegen wendet die abweichende Meinung des Richters Hirsch ein, der Beschwerdeführer sei nach voller Verbüßung der Freiheitsstrafe mehrere Monate lang zu Unrecht seiner Freiheit beraubt worden. Die Vorschrift des § 67c I StGB ist nach dieser Auffassung verfassungskonform so auszulegen, daß die Überprüfung vor dem Übergang in den Maßregelvollzug abgeschlossen werden muß.17 Nach einem Kammerbeschluß aus dem Jahr 1993 ist eine erneute Begutachtung im Zusammenhang mit der Vollstreckungsentscheidung nach § 67c StGB aus verfassungsrechtlicher Sicht entbehrlich18; wenige Monate später wird allerdings in einem weiteren Beschluß auf die verfahrensrechtlichen Folgerungen aus der Entscheidung im Fall Paul Stein Bezug genommen.19 Das Strafprozeßrecht sieht eine Begutachtungspflicht mittlerweile ausdrücklich vor (§§ 463 III 3, 454 II StPO). Ein gewisses Aufsehen erregte ein ausführlich begründeter Nichtannahmebeschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, mit dem eine Korrektur der gesetzlichen Regelung, die eine Überweisung aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug in den Vollzug der Sicherungsverwahrung verbietet (§ 67a I und II StGB), verworfen wird.20 Das Ausgangsverfahren betrifft einen Verurteilten, der wegen sexueller Gewaltdelikte zu einer Freiheitsstrafe und der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verurteilt worden war. Nach längerem Aufenthalt im psychiatrischen Maßregelvollzug und Erledigung der Freiheitsstrafe durch vollständige Anrechnung zog die Strafvollstreckungskammer eine Verlegung in den Vollzug der Sicherungsverwahrung in Betracht, den sie unter den konkreten Umständen im Vergleich zu einer Fortdauer des Aufenthalts in der Psychiatrie als eher resozialisierungsförderlich ansah.21 Das Bundesverfassungsgericht entscheidet im Normenkontrollverfahren nicht in der Sache, läßt aber in seinen Ausführungen zur Unzulässigkeit der Vorlage erkennen, daß es die Lösung des Gesetzes für angemessen hält.22 Die neuere Rechtsprechung zweier Oberlandesgerichte anerkennt wie bei der psychiatrischen Unterbringung, daß auch die Sicherungsverwahrung infolge überBVerfG, Beschluß vom 9. März 1976 – 2 BvR 618 / 75 (= BVerfGE 42, 1, 9 f.). Hirsch, BVerfGE 42, 1 (11 ff.). Eine Verfassungswidrigkeit des Vollzugs der Sicherungsverwahrung aufgrund verzögerter Entscheidung nach § 67c StGB schließen neuere Entscheidungen von Oberlandesgerichten nicht von vornherein aus; siehe OLG Düsseldorf, Beschluß vom 28. Juli 1992 – 2 Ws 303 / 92 (= NJW 1993, 1087); KG, Beschluß vom 26. Juli 1996 – 5 Ws 383 / 96 (in JURIS veröffentlicht); ähnlich Horstkotte (1983: Rn. 28 f. zu § 67c StGB). 18 BVerfG, Beschluß vom 15. März 1993 – 2 BvR 2062 / 92 (in JURIS veröffentlicht). 19 BVerfG, Beschluß vom 7. Juni 1993 – 2 BvR 1907 / 91 (= NJW 1994, 510). 20 BVerfG, Beschluß vom 17. Mai 1994 – 2 BvL 12 / 94 (= NJW 1995, 772). 21 Zum Hintergrund dieses Falls und zum weiteren Fortgang Blau (1998). 22 BVerfG, Beschluß vom 17. Mai 1994 – 2 BvL 12 / 94 (= NJW 1995, 772, 774 f.). 16 17
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
langer Vollstreckung unverhältnismäßig werden kann. In solchen Fällen wird die Maßregel nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt, sondern für erledigt erklärt.23
C. Zur Konkretisierung der Verhältnismäßigkeit Im folgenden wird die Verhältnismäßigkeit der Sicherungsverwahrung systematischer betrachtet, als dies aufgrund der notwendig einzelfallorientierten Rechtsprechung möglich ist. Dieser Untersuchung wird in Übereinstimmung mit dem bereits für die freiheitsentziehenden Maßregeln nach den §§ 63 und 64 StGB erprobten Vorgehen die auch in anderen Rechtsgebieten eingeführte Unterscheidung der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zugrunde gelegt. I. Geeignetheit Die komplexen gesetzlichen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung lassen die Bemühungen der Strafrechtsreform erkennen, diese Maßregel in verfassungsrechtlich erträglicher Weise auszugestalten. Legt man die Anordnungsvoraussetzungen, wie bereits ausführlich begründet24, restriktiv aus, so besteht um so weniger Anlaß, bereits an der Geeignetheit dieser Maßregel zur Gefahrenabwehr zu zweifeln. Denn für die Eignung einer Maßnahme reicht es aus, daß sie den verfolgten Zweck grundsätzlich fördern kann.25 Bedenken lassen sich allenfalls an die konkreten Mittel knüpfen, die im Rahmen der Sicherungsverwahrung zur Gefahrenabwehr eingesetzt werden. Anders als für die beiden anderen freiheitsentziehenden Maßregeln wird für die Sicherungsverwahrung angenommen, daß das Besserungselement eindeutig von nachrangiger Bedeutung ist.26 Zwar könnte selbst ein Vollzug der Sicherungsverwahrung, der das Eingliederungsgebot (§ 129 S. 2 StVollzG) zugunsten einer sicheren Unterbringung vernachlässigt, nicht jede denkbare Form von Straftaten verhindern. Aber die Tatgelegenheiten sind unter Vollzugsbedingungen deutlich seltener, der Kreis potentieller Geschädigter ist wesentlich kleiner als in Freiheit. Nach all dem ist davon auszugehen, daß die Sicherungsverwahrung geeignet ist, schwere Delikte zu verhindern.27
23 OLG Celle, Beschluß vom 7. Dezember 1993 – 2 Ws 200 / 93 (= R & P 1994, 34); OLG Karlsruhe, Beschluß vom 18. Dezember 1998 – 2 Ws 295 / 98 (= StV 2000, 268 f.). Ebenso E. Horn (1999: Rn. 12 zu § 67d StGB); Meier (2001: 306). 24 Kapitel 15 (S. 295 ff.). 25 Hierzu bereits Kapitel 16 C. I. (S. 343 f.). 26 Kapitel 12 C. (S. 205 ff.). 27 Ausdrückliche Stellungnahmen in diesem Sinne finden sich in der Literatur kaum; siehe jedoch von Harbou (1999: 13 f.) und B. Müller (1981: 99). Offenbar geht man weithin selbstverständlich von der Eignung eines sicherungsorientierten Freiheitsentzugs aus.
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II. Erforderlichkeit Der Grundsatz der Erforderlichkeit ist gewahrt, wenn es im Vergleich zu der Sicherungsverwahrung keine milderen Mittel zur Gefahrenabwehr gibt, die ebenso wirksam sind. Umstritten ist schon, ob dieser Grundsatz bei der Maßregel nach § 66 StGB überhaupt anwendbar ist. Für seine Heranziehung werden – teilweise unter der in der Literatur zum Maßregelrecht immer noch verbreiteten Etikettierung „Subsidiaritätsprinzip“ – im wesentlichen dieselben Argumente angeführt wie bei der psychiatrischen Unterbringung. Zum einen betont das Gesetz seit der Strafrechtsreform mit § 62 StGB das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das die Erforderlichkeit einer gewählten Maßnahme voraussetzt. Und zum anderen handelt es sich ohnehin um einen verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz, der für kriminalrechtliche Maßregeln nicht suspendiert werden darf.28 Die Gegenauffassung läßt vor allem das Bestreben erkennen, den Zweck der Sicherung vor schweren Delikten von „Hangtätern“ möglichst lückenlos zu gewährleisten.29 Solche praxisbezogenen Gesichtspunkte betreffen aber weniger die vorgängige Entscheidung über die Anwendbarkeit des Grundsatzes der Erforderlichkeit als seine Handhabung im Einzelfall. Gegenüber der verfassungsrechtlich begründeten Argumentation verfangen sie nicht. Vor allem ist darauf hinzuweisen, daß das Sanktionenrecht für die Sicherungsverwahrung – anders als für die beiden anderen freiheitsentziehenden Maßregeln – keine primäre Aussetzung (§ 67b StGB) vorsieht. Wie die Rechtsprechung zur verfassungsrechtlichen Problematik des § 67c StGB zeigt, ist nicht immer gewährleistet, daß vor dem Übergang in den Vollzug der Sicherungsverwahrung tatsächlich eine erneute gerichtliche Entscheidung getroffen wird.30 Erst diese erneute Entscheidung legitimiert den Vollzug der Maßregel.31 Und wenn man die Sicherungsverwahrung als letztes Mittel des Sanktionenrechts ansieht, muß erst recht begründet werden, weshalb sie im Einzelfall erforderlich ist. Daran ändert auch die Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) nichts. Denn der Vorbehalt bedeutet lediglich, daß über die Anordnung der Maßregel zu einem späteren Zeitpunkt zu entscheiden ist, weil die Gefährlichkeit der verurteilten Person in der ersten Hauptverhandlung nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar ist. Die Verhältnismäßigkeit der Sicherungsverwahrung ist dann in der zweiten Hauptverhandlung (§ 275a StPO) zu prüfen. 28 Hanack (1991: Rn. 154 f. zu § 66 StGB); Jescheck / Weigend (1996: 804 f.); Lackner (2001: Rn. 15 zu § 66 StGB); B. Müller (1981: 103 f.). 29 So lassen sich wohl E. Horn (1999: Rn. 20 zu § 66 StGB), Lenckner (1972: 204) und Stree (2001: Rn. 19 zu § 66 StGB) verstehen. 30 BVerfG, Beschluß vom 9. März 1976 – 2 BvR 618 / 75 (= BVerfGE 42, 1); OLG Düsseldorf, Beschluß vom 28. Juli 1992 – 2 Ws 303 / 92 (= NJW 1993, 1087); KG, Beschluß vom 26. Juli 1996 – 5 Ws 383 / 96 (in JURIS veröffentlicht). Siehe auch den Fall bei Kinzig (1996: 401). 31 Horstkotte (1983: Rn. 5, 81 zu § 67c StGB).
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Auf dem Feld der Konkurrenz mehrerer Maßregeln zeigt vor allem die Rechtsprechung, aber auch die kriminalrechtliche Literatur eine gewisse Scheu vor der Entwicklung allgemeiner Grundsätze. An dieser Stelle geht es dabei nur um die Frage, welche Maßregeln gegenüber der Sicherungsverwahrung als milder erscheinen können, obwohl sie im Einzelfall voraussichtlich keine geringere Wirksamkeit versprechen. Immerhin kann man von der Annahme ausgehen, daß befristete Maßregeln weniger eingriffsintensiv sein werden als unbefristete.32 Da die psychiatrische Unterbringung in jedem Fall unbefristet ist, kann sie von vornherein nicht als mildere Sanktion betrachtet werden.33 Dann ist als andere freiheitsentziehende Maßregel unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit einer Sicherungsverwahrung allein die Unterbringung nach § 64 StGB in Betracht zu ziehen.34 Nach der Vorschrift des § 72 I 1 StGB kommt es für diese Konkurrenz in erster Linie darauf an, ob der erstrebte Zweck der Gefahrenabwehr35 schon durch die Maßregel nach § 64 StGB erreicht werden kann. Des weiteren wird der Grundsatz der Erforderlichkeit für die Konkurrenz mehrerer Maßregeln durch § 72 I 2 StGB konkretisiert. Dabei wird die Unterbringung zur Suchtbehandlung im Verhältnis zu den anderen freiheitsentziehenden Maßregeln in der Rechtsprechung teilweise als weniger beschwerend angesehen36; in einigen Entscheidungen wird dagegen zumindest erwogen, die Maßregel zur Suchtbehandlung und die Sicherungsverwahrung nebeneinander anzuordnen.37 Neuerdings wird im Hinblick auf den zu erwartenden Behandlungserfolg eine besonders hohe Prognosesicherheit gefordert, welche über das vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Kriterium der „hinreichend konkreten Erfolgsaussicht“ bewußt hinausgeht.38 Dem ist nur insofern zuzustimmen, als neben der Eignung zur Gefahrenabwehr bei § 64 StGB das Mittel der Suchtbehandlung ein besonderes Gewicht erlangt. Ist aber feststellbar, daß So schon Warda (1962: 149). Die überkommene Auffassung wendet sich darüber hinaus gegen jede Abstufung zwischen der psychiatrischen Unterbringung und der Sicherungsverwahrung. Siehe dazu RG, Urteil vom 27. November 1936 – 1 D 385 / 36 (= HRR 1937 Nr. 604) und BGH, Urteil vom 11. Februar 1954 – 4 StR 755 / 53 (= BGHSt 5, 312, 313). 34 Lackner (2001: Rn. 15 zu § 66 StGB). 35 Hanack (1996: Rn. 7 zu § 72 StGB); Tröndle / Fischer (2003: Rn. 2 zu § 72 StGB); Zipf (1989: 670); aus der Rechtsprechung schon RG, Urteile vom 11. Dezember 1934 – 1 D 1326 / 34 (= RGSt 69, 129, 134 f.) und vom 7. Februar 1939 – 4 D 68 / 39 (= RGSt 73, 101, 102); BGH, Urteil vom 11. Februar 1954 – 4 StR 755 / 53 (= BGHSt 5, 312, 315 f.). 36 RG, Urteile vom 15. März 1938 – 4 D 138 / 38 (= JW 1938, 1313) und vom 7. Februar 1939 – 4 D 68 / 39 (= RGSt 73, 101, 103); BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 1995 – 5 StR 656 / 95 (= NStZ-RR 1996, 162 f.), vom 28. Mai 1997 – 2 StR 206 / 97 (= NStZ-RR 1997, 291) und 25. Juni 1997 – 2 StR 283 / 97 (= StV 1998, 72). Aus der Literatur Hanack (1996: Rn. 14 zu § 72 StGB) und Stree (2001: Rn. 4 zu § 72 StGB). 37 RG, Urteile vom 22. Dezember 1938 – 3 D 948 / 38 (= RGSt 73, 44, 47) und vom 19. Juli 1940 – 1 D 433 / 40 (= DJ 1940, 1221); BGH, Urteile vom 10. Januar 1964 – 4 StR 482 / 63 (= GA 1965, 342) und vom 27. Juli 2000 – 1 StR 263 / 00 (= NJW 2000, 3015 f.). 38 BGH, Urteil vom 27. Juli 2000 – 1 StR 263 / 00 (= NJW 2000, 3015 f.) und Tröndle / Fischer (2003: Rn. 2 zu § 72 StGB); zu Recht ablehnend Neubacher (2001: 323). 32 33
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die Voraussetzungen der Maßregel nach § 64 StGB im hier verstandenen Sinne vorliegen, daß also vor allem eine Abhängigkeit diagnostiziert werden kann und die zu erwartenden Delikte mit dieser symptomatisch zusammenhängen, so ist eine Suchtbehandlung in einer spezialisierten Einrichtung gegenüber der bewußten Therapieabstinenz im Vollzug der Sicherungsverwahrung vorzuziehen. Anders würde man dem Charakter der Sicherungsverwahrung als ultima ratio nicht gerecht. Ein Aufenthalt im Strafvollzug kommt nach traditioneller Auffassung nicht als funktionales Äquivalent der Sicherungsverwahrung in Betracht. Das wird meist mit dem Zweck der Maßregel begründet, die Gefahrenabwehr auch noch dann leisten soll, wenn sie durch die verhängte Freiheitsstrafe nicht mehr bewirkt werden kann. Aber damit werden die Möglichkeiten des Strafvollzugs zu gering veranschlagt. Der Vollzug einer Freiheitsstrafe wird bisher gegenüber der Sicherungsverwahrung vor allem dann als milderes Mittel angesehen, wenn der Aufenthalt in einer sozialtherapeutischen Einrichtung aussichtsreich erscheint.39 Da der Strafvollzug jedenfalls nach der Vorstellung der Gesetzgebung durch ein Vollzugsziel geprägt wird, das allein der Befähigung dient, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“ (§ 2 S. 1 StVollzG), ist dieser Ansatz verallgemeinerungsfähig. Nach Wolfgang Frisch sollte es sich geradezu von selbst verstehen, „daß für einen individualpräventiv begründeten Freiheitsentzug dort kein Raum ist, wo die mit ihm verfolgten Ziele schon dadurch erreichbar sind, daß man den Vollzug der Schuldstrafe individualpräventiv nutzt.“40
Die damit verbundene Problematik verweist in das Recht der Strafbemessung. Daß das Ziel der Individualprävention auch in der Form der Sicherung vor weiteren Delikten für Strafen grundsätzlich in Betracht kommt, wird für das geltende Recht überwiegend nicht bestritten.41 Immerhin sind die voraussichtlichen Wirkungen der Strafe für das Leben der Verurteilten umfassend zu berücksichtigen (§ 46 I 2 StGB). Allerdings soll es das zweispurige Sanktionensystem verbieten, anstelle einer Maßregel wie der Sicherungsverwahrung eine längere Strafe zu verhängen.42 Andererseits betont der Bundesgerichtshof, daß die Anordnung der Böllinger (1995: Rn. 118 zu § 66 StGB); Frisch (1990: 379 Fn. 162). Frisch (1990: 379); ähnlich bereits Horstkotte (1983: Rn. 62 zu § 67d StGB); H. Schultz (1966: 122); Stratenwerth (1966: 358). 41 Ausdrücklich bejahend BGH, Urteile vom 9. Oktober 1962 – 1 StR 364 / 62 und vom 4. August 1965 – 2 StR 282 / 65 (= BGHSt 20, 264, 267). Aus der Literatur vor allem die verschiedenen Versionen „präventiver Vereinigungstheorien“ etwa bei Jescheck / Weigend (1996: 878); Lackner (2001: Rn. 26 zu § 46 StGB); Maurach / Zipf (1992: 83); Meier (2001: 25, 33 ff.); Roxin (1997: 59); Stree (2001: Rn. 18 vor § 38 StGB). 42 Zur psychiatrischen Unterbringung BGH, Urteil vom 4. August 1965 – 2 StR 282 / 65 (= BGHSt 20, 264, 266 f.); zur Sicherungsverwahrung BGH, Urteil vom 13. März 1973 – 5 StR 57 / 73 (bei Dallinger, MDR 1973, 727). Ebenso H.-J. Bruns (1985: 85) und Hanack (1991: Rn. 174 zu § 66 StGB). 39 40
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
Sicherungsverwahrung nicht in der Weise auf die Strafzumessung zurückwirken darf, daß die schuldangemessene Strafe unterschritten wird.43 Nun läßt sich für ein Strafrecht, das der positiven Individualprävention eine wichtige Rolle zuweist, mit beachtlichen Gründen bestreiten, daß eine solche Untergrenze besteht.44 Im vorliegenden Zusammenhang kommt es darauf aber nicht an. Denn selbst die Gerichtspraxis erwartet offenbar Rückwirkungen der Maßregel auf die Strafe und anerkennt sie in ständiger Rechtsprechung, sobald die postulierte Untergrenze der Schuldangemessenheit überschritten wird. Aufhebungsentscheidungen der Revisionsinstanz in Verfahren, in denen um die Verhängung von Maßregeln gestritten wird, erstrecken sich häufig auch auf den Strafausspruch.45 Hält man solche Verbindungen unterschiedlicher Sanktionsentscheidungen innerhalb eines Urteils für möglich, liegt die Frage nahe, inwieweit lange Freiheitsstrafen die Funktion der Sicherungsverwahrung nicht weitgehend übernehmen können. Die Strafrahmen der Delikte, bei deren Erwartung diese Maßregel nach der Konkretisierung ihrer Voraussetzungen unter dem Gesichtspunkt der Gefährlichkeit in Betracht kommt46, erreichen nicht selten das Höchstmaß von 15 Jahren (§ 38 II StGB). Das gilt bereits für den Grundtatbestand der sexuellen Nötigung (§ 177 I StGB) ebenso wie für den des Raubes (§ 249 StGB) oder für die schwere Brandstiftung (§ 306a I und II StGB). Für das Delikt des sexuellen Mißbrauchs von Kindern mit Körperkontakt (§ 176 I StGB) droht das Gesetz im Regelfall bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe an. Diese Strafrahmen erscheinen bei weitem ausreichend, die Sicherungsfunktion zu einem großen Teil der Strafe zuzuweisen. Noch deutlicher stellt sich diese Alternative bei der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafen. Wird wegen Mordes (§ 211 I StGB), Totschlags in einem besonders schweren Fall (§ 212 II StGB), Raub mit Todesfolge (§ 251 StGB) oder eines anderen Delikts, dessen Vollendung den Tod eines Menschen voraussetzt, eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt, so fehlt ein Bedürfnis für eine zusätzliche freiheitsentziehende Maßregel von vornherein. Das Argument, die lebenslange Freiheitsstrafe könne nach erfolgreicher Revision oder Wiederaufnahme wegfallen47, überzeugt nicht. Bei einer Revision des Angeklagten kann die Staatsanwaltschaft ihrerseits Revision einlegen, und erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren zuBGH, Urteil vom 27. Oktober 1970 –1 StR 423 / 70 (= BGHSt 24, 132). Siehe vor allem Roxin (1997: 60); ihm folgt etwa Meier (2001: 147). 45 BGH, Urteile vom 27. Januar 1955 – 4 StR 594 / 54 (= BGHSt 7, 101, 103 f.), vom 16. Februar 1968 – 4 StR 653 / 67 (= NJW 1968, 997 f.), vom 12. Dezember 1979 – 3 StR 436 / 79 (= NJW 1980, 1055 f.), vom 8. September 1987 – 1 StR 393 / 87 (= BGHR § 66 I StGB Gefährlichkeit 1), vom 30. September 1987 – 2 StR 424 / 87 (= BGHR § 66 II StGB Ermessensentscheidung 2), vom 31. Mai 1988 – 1 StR 182 / 88 (= BGHR § 66 I StGB Gefährlichkeit 2) und vom 23. Februar 1994 – 3 StR 679 / 93 (= NStZ 1994, 280 f.). Zur älteren Rechtsprechung H.-J. Bruns (1985: 86). 46 Siehe Kapitel 15 D. (S. 326 ff.). 47 Hanack (1991: Rn. 44 zu § 66 StGB); Stree (2001: Rn. 16 zu § 66 StGB); Zipf (1989: 679). 43 44
Kap. 18: Verhältnismäßigkeit bei der Sicherungsverwahrung
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gunsten von Verurteilten mit der Folge des Verbots der reformatio in peius (§ 373 II StPO) sind so selten, daß die Nichtanordnung der Maßregel aus diesem Anlaß hinzunehmen ist. Deshalb ist die grundsätzliche Möglichkeit einer Sicherungsverwahrung nach einer lebenslangen Freiheitsstrafe, wie sie das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung neuerdings vorsieht, mit dem Grundsatz der Erforderlichkeit schwerlich zu vereinbaren. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt. Die Strafverbüßung bietet dem Vollzug der Sicherungsverwahrung gegenüber den Vorteil, daß Ansätze eines behandlungsorientierten Vollzugs genutzt werden können. Das gilt vor allem für die sozialtherapeutischen Einrichtungen, deren Behandlungsprogramme auch die potentielle Klientel der Sicherungsverwahrung einbeziehen.48 Selbst wenn man berücksichtigt, daß den Teilnehmern sozialtherapeutischer Programme erhebliche Anstrengungen abgefordert werden, erscheint die Verbüßung einer langen Freiheitsstrafe mit Aufenthalt in der Sozialtherapie immer noch als milderes Mittel gegenüber einer Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung und ohne die Möglichkeit einer vikariierenden Anrechnung. Daß Sanktionen ohne Freiheitsentziehung gegenüber der stationären Sicherungsverwahrung weniger eingriffsintensiv sind, läßt sich kaum bestreiten.49 Als ambulante Alternative zur Sicherungsverwahrung wird gelegentlich das Berufsverbot50, vor allem aber die Anordnung der Führungsaufsicht (§ 68 I StGB) diskutiert.51 Ansätze zu einer Heranziehung der Führungsaufsicht als Alternative zu einer Sicherungsverwahrung finden sich von Zeit zu Zeit in der Rechtsprechung der Tatsacheninstanzen; vom Bundesgerichtshof werden sie verworfen.52 Allerdings gilt gerade die gerichtlich angeordnete Führungsaufsicht weithin als unpraktikabel.53 Demgegenüber zeigte sich die ältere Rechtsprechung eher aufgeschlossen gegenüber der früheren Polizeiaufsicht in Fällen, in denen die Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung grundsätzlich feststanden.54 Während Berufsverbote wohl nur in atypischen Fällen ähnliche Wirksamkeit versprechen dürften wie eine auf lange Zeit angelegte Freiheitsentziehung, ist die 48 Nach den neueren empirischen Untersuchungen zur Sicherungsverwahrung wird dies zumindest in Baden-Württemberg praktiziert; siehe J. Kern (1997: 156 ff.) und Kinzig (1996: 382 f.). 49 So bereits Warda (1962: 149). 50 Warda (1962: 149). 51 Kinzig (1996: 63); Lenckner (1972: 236 Fn. 275); Hanack (1991: Rn. 168 zu § 66 StGB) mit der Einschränkung, es sei „kaum oder nie vorstellbar“, daß die Führungsaufsicht die gleiche Wirksamkeit erreiche. 52 Die wohl ausführlichste Stellungnahme findet sich in BGH, Urteil vom 12. Dezember 1979 – 3 StR 436 / 79 (= NJW 1980, 1055 f.). 53 Frehsee (1995: Rn. 23 vor § 68 StGB). 54 RG, Urteil vom 11. Oktober 1938 – 4 D 677 / 38 (= RGSt 72, 356, 358); BGH, Urteil vom 16. Januar 1951 – 3 StR 49 / 50 (= NJW 1951, 203); aus der älteren Literatur etwa Stree (1960: 220) und Warda (1962: 150).
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
Führungsaufsicht als Maßregel anzusehen, die mit einer erheblichen Belastung verbunden ist, weil sie trotz heterogener Zielgruppen auch auf Überwachung und Betreuung solcher Täter zielt, von denen erhebliche Delikte zu erwarten sind.55 Das zeigt nicht nur das für den Fall der vollen Verbüßung einer längeren Freiheitsstrafe vorgesehene Eintreten der Führungsaufsicht kraft Gesetzes (§ 68 f I StGB), sondern auch die Erledigung der Führungsaufsicht mit dem Vollzug der Sicherungsverwahrung (§ 68e III StGB). Da die Führungsaufsicht kraft gerichtlicher Anordnung nur neben einer Freiheitsstrafe wegen bestimmter Delikte – wichtig im vorliegenden Zusammenhang erscheinen die Kataloge von Sexualstraftaten in § 181b und von Raub- und Erpressungsdelikten in § 256 I StGB – zulässig ist, kann sie ohnehin nicht isoliert betrachtet werden. Entscheidend für die Wirksamkeit der ambulanten Maßregel ist letztlich nicht die kriminalpolitische Konzeption der Gesetzgebung, sondern ihre Umsetzung in der Praxis, die nicht in allen Bundesländern und Regionen über das Standardangebot der Bewährungshilfe hinausgeht.56 Als funktionales Äquivalent zur Sicherungsverwahrung in Betracht gezogen wird schließlich eine Beaufsichtigung von Tätern aus „Willensschwäche“ durch andere Personen, insbesondere Familienangehörige. 57 Wie bereits gezeigt wurde, ist die dabei vorausgesetzte Tätertypologie allerdings empirisch wenig fundiert.58 Unabhängig von dieser Begründung erscheint eine nicht über Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht abgesicherte Betreuung als wenig wirksam, wenn man bedenkt, daß schwere Straftaten verhindert werden sollen. Dafür gilt nichts anderes als im Rahmen der psychiatrischen Unterbringung.59
III. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, Proportionalität, Übermaßverbot Obwohl niemand daran zweifelt, daß die Vorschrift des § 62 StGB für alle freiheitsentziehenden Maßregeln gilt, wird ihre Reichweite im Hinblick auf die Anordnung der Sicherungsverwahrung beschnitten. Das gilt teilweise für die Rechtsprechung60, teilweise aber auch für Vertreter einer restriktiven Auslegung der An55 Frehsee (1995: Rn. 17 vor § 68 StGB); Hanack (1996: Rn. 14 zu § 72 StGB); Jacobsen (1985a); Meier (2001: 240). 56 Frehsee (1995: Rn. 15 vor § 68 StGB); Kurze (1999: 459 ff.). Unter diesem Gesichtspunkt sehr zurückhaltend BGH, Urteil vom 4. September 2001 – 1 StR 232 / 01 (= NStZ 2002, 30 f.). 57 Im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsgerichts – siehe RG, Urteile vom 11.Oktober 1938 – 4 D 677 / 38 (= RGSt 72, 356, 358) und vom 12. Dezember 1938 – 2 D 794 / 38 (= DJ 1939, 269) – heute noch Hanack (1991: Rn. 155 zu § 66 StGB) und Stree (2001: Rn. 36 zu § 66 StGB). 58 Kapitel 15 B. und C. (S. 298 ff.). 59 Im Ergebnis ebenso B. Müller (1981: 126). 60 BGH, Urteile vom 12. Dezember 1979 – 3 StR 436 / 79 (= NJW 1980, 1055 f.) und vom 26. August 1987 – 3 StR 305 / 87 (= NStE Nr. 10 zu § 66 StGB).
Kap. 18: Verhältnismäßigkeit bei der Sicherungsverwahrung
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ordnungsvoraussetzungen. So meint Ernst-Walter Hanack, es wäre bedenklich, die Anforderungen an die Gefährlichkeit so niedrig anzusetzen, daß für eine Korrektur durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit überhaupt Raum bliebe.61 In der vorliegenden Arbeit werden nicht nur die spezifischen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung eingeschränkt; der Grundsatz der Erforderlichkeit trägt vielmehr zu einer weiteren Begrenzung dieser Maßregel bei. Wie bei der psychiatrischen Unterbringung besteht unter diesen Voraussetzungen im Rahmen der Entscheidung über die Verhängung der Sicherungsverwahrung kein Bedürfnis mehr für die Heranziehung des Übermaßverbots. Was die Begrenzung der Vollstreckungsdauer betrifft, kann man zunächst darauf verweisen, daß die neuerdings festgestellten durchschnittlichen Unterbringungszeiten länger sind als in der Forschung aus der Zeit vor Inkrafttreten der Strafrechtsreform.62 Anders als die Maßregel nach § 63 StGB ist die Sicherungsverwahrung zwar nicht in jedem Fall unbefristet. Seit der Strafrechtsreform galt bis 1998, daß die erstmalige Unterbringung eines Verurteilten auf die Dauer von zehn Jahren begrenzt war; seither knüpft diese Höchstfrist nicht mehr an die erste Verhängung der Maßregel an, sondern an die Qualität der zu erwartenden Delikte.63 Während für die Anordnung der Sicherungsverwahrung die Erwartung wirtschaftlicher Schäden noch ausreichen kann, gilt dies nicht für die Vollstreckung der Maßregel über die Frist von zehn Jahren hinaus (§ 67d III StGB). Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Fall Paul Stein zeigt jedoch, daß das Übermaßverbot für die Einschränkung freiheitsentziehender Maßregeln von wesentlicher Bedeutung ist. Die dort angestellten Erwägungen sind insoweit verallgemeinerungsfähig und gelten nicht nur für die psychiatrische Unterbringung, sondern ebenso für die Sicherungsverwahrung. Dementsprechend wird neuerdings vorgeschlagen, den Verhältnismäßigkeitsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts auf die Bemessung der Unterbringungsdauer im Maßregelvollzug nach § 66 StGB zu übertragen.64 Danach ist im Anschluß an die Prüfung weniger eingriffsintensiver Alternativen eine Untersuchung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne durchzuführen, wobei die Anforderungen sich mit zunehmender Dauer des Freiheitsentzugs verschärfen.65 In Kapitel 16 wird dieses Kriterium für die psychiatrische Unterbringung in der Weise konkretisiert, daß die gesetzlichen Strafrahmen zu erwartender Delikte als nicht mehr überschreitbare Grenze herangezogen werden. Wollte man diesen Vorschlag auf die Sicherungsverwahrung übertragen, so liefe dies in den Fällen, Hanack (1991: Rn. 168 zu § 66 StGB). Kinzig (1996: 469 f.). 63 Hammerschlag / Schwarz (1998: 322); von Harbou (1999: 120). 64 Böllinger (1995: Rn. 119 zu § 66 StGB); E. Horn (1999: Rn. 12 zu § 67d StGB); Kinzig (1996: 66 ff.); Meier (2001: 222 f.). Im Hinblick auf die verfahrensrechtlichen Implikationen ebenso BVerfG, Beschluß vom 7. Juni 1993 – 2 BvR 1907 / 91 (= NJW 1994, 510). 65 BVerfG, Beschluß vom 8. Oktober 1985 – 2 BvR 1150 / 80 u. a. (= BVerfGE 70, 297, 314 f.). 61 62
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4. Teil: Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht
welche die Voraussetzung dieser Maßregel erfüllen, auf eine Verdoppelung der gesetzlichen Höchststrafen hinaus. Denn auf eine durch den Strafrahmen der begangenen Tat limitierte Freiheitsstrafe folgte eine Sicherungsverwahrung, die höchstens bis zum Strafrahmen zu befürchtender künftiger Delikte vollzogen werden dürfte. Bereits nach Verurteilungen wegen einfachen Raubes oder sexueller Nötigung würde auf diese Weise ein Freiheitsentzug von bis zu 30 Jahren als noch verhältnismäßig gerechtfertigt. Das erscheint kriminalpolitisch untragbar, weil zu besorgen wäre, daß die Freiheitsentziehung letztlich eher entgrenzt wird. Es muß also bei der flexiblen und offenen Formel des Bundesverfassungsgerichts verbleiben. Das ist hinzunehmen, weil schon die restriktive Interpretation der Anordnungsvoraussetzungen und der weitgehende Verweis auf die Freiheitsstrafe als Alternative zu einer Beschränkung des Anwendungsbereichs der Sicherungsverwahrung beitragen.
Fünfter Teil
Ergebnisse und Folgerungen Kapitel 19
Zusammenfassung der Ergebnisse Ziel der Arbeit ist es, einen Beitrag zur Systematisierung des Maßregelrechts zu leisten. Dazu werden die Grundsätze der Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit in ihren Auswirkungen auf die drei freiheitsentziehenden Maßregeln des geltenden deutschen Kriminalrechts betrachtet: die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB und die Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB. Während das Konzept der Gefährlichkeit trotz seiner Gemeinsamkeiten mit Gefahrbegriffen anderer Rechtsgebiete eine spezifische Voraussetzung für die Anordnung aller freiheitsentziehenden Maßregeln darstellt, greift der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit weit über diesen begrenzten Bereich hinaus und prägt die gesamte Rechtsordnung. Die rechtswissenschaftliche und kriminalpolitische Diskussion über kriminalrechtliche Sanktionen bezieht sich vielfach auf empirische Sachverhalte; sie reichen von der Zusammensetzung der Straftätergruppen, gegen die bestimmte Sanktionen verhängt werden, bis hin zu deren Legalbewährung. Aus diesem Grund werden empirische Forschungsergebnisse in die Darstellung einbezogen, soweit sie für die Aufgabe der Konkretisierung des Maßregelrechts aussagekräftig erscheinen. Im Ersten Teil der Arbeit wird die geschichtliche Entwicklung des Maßregelrechts seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nachgezeichnet. Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit lassen sich als Prinzipien des Maßregelrechts auf diese Weise bis in die Zeit der Aufklärung zurückverfolgen. Frühe Formen sichernder Maßregeln (Kapitel 2) finden sich vor allem im preußischen Allgemeinen Landrecht. Zwar werden sie schon nach wenigen Jahren durch eine neue Gesetzgebung abgeschafft, die auf andere Formen der Individualprävention, aber auch auf Abschreckung setzt. Doch gibt es Anzeichen, daß die strafergänzenden, an Merkmalen der Gefährlichkeit anknüpfenden Sanktionen für die Praxis des Kriminalrechts dieser Zeit von einer gewissen Bedeutung sind. In der Zeit um 1800 finden sich bei Klein und Eisenhart auch erste dogmatische Begründungen dieser Sanktionen. Allerdings können sich die individualpräventiven Ansätze in der Strafrechtswissenschaft nicht 25 Dessecker
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5. Teil: Ergebnisse und Folgerungen
lange halten. Sie treffen nach wenigen Jahren auf die Kritik Feuerbachs, der auf „psychologischen Zwang“, also auf die negative Generalprävention setzt und zugleich nachdrücklich auf die Notwendigkeit einer Begrenzung präventiv begründeter Eingriffe hinweist. Davon unberührt bleiben Internierungen als Maßnahme der „Polizey“. Mit der Herausbildung der Psychiatrie als eigenständiger Disziplin richtet sich verstärkte Aufmerksamkeit auf die Gruppe der „gefährlichen Irren“. Unterbringungen in psychiatrischen Anstalten werden in West- und Mitteleuropa allerdings erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Massenerscheinung. Die Kriminalpolitik im Kaiserreich bleibt davon nicht unbeeinflußt (Kapitel 3): „gemeingefährliche Geisteskranke“ bilden eine wichtige Untergruppe der Anstaltspopulation, während andererseits die Kriminalitätsentwicklung insgesamt als bedrohlich empfunden wird. Auf diese Kriminalitätsfurcht reagieren öffentlichkeitswirksame Stellungnahmen von Vertretern der Strafjustiz wie Mittelstädt und der Psychiatrie wie Kraepelin, die unbefristete Freiheitsentziehungen von Wiederholungstätern propagieren. Das sind Vorstellungen, die im „Schulenstreit“ der Strafrechtswissenschaft wiederkehren. Die Beteiligten streiten jedoch weniger über den Nutzen unbestimmter Freiheitsentziehungen als Mittel der Kriminalpolitik, sondern eher über die Möglichkeiten einer rechtlichen Begründung solcher Sanktionen. Das Maßregelrecht erscheint in dieser Situation als eine attraktive Lösung, weil es einerseits an das Kriminalrecht angekoppelt werden kann und so vermeiden hilft, daß durch unterschiedliche Zuständigkeiten Reibungsverluste entstehen, weil das Maßregelrecht ansonsten aber ein Festhalten an der traditionellen Vergeltungsstrafe nicht ausschließt. Damit kann die kriminalpolitische Diskussion in Deutschland an diejenige in der Schweiz und Österreich anknüpfen (Kapitel 4). Die Reformbemühungen beginnen mit Stooss’ Entwurf eines schweizerischen Strafgesetzbuches, der individualpräventiv angelegten Maßregeln erstmals einen Platz innerhalb eines allgemeinen Sanktionenrechts einräumt. Seit 1909 schlagen auch alle österreichischen und deutschen Reformentwürfe die Einführung von Maßregeln vor, die seit dem Kommissionsentwurf von 1913 gesetzestechnisch jeweils in einem eigenen Abschnitt zusammengefaßt werden. Je nach ihrer Zielrichtung werden Maßregeln unterschieden, die primär der „Besserung“ dienen – vor allem geht es um ambulante und stationäre Sanktionen für Täter mit einer Alkoholproblematik –, und solche, die sich mit reiner „Sicherung“ begnügen, etwa die Sicherungsverwahrung. In den Entwürfen aus der Zeit der Weimarer Republik liegen in sich geschlossene Konzepte eines Maßregelrechts vor, die sich hauptsächlich in Fragen des Vollstreckungsrechts und der gerichtlichen Anordnungskompetenz unterscheiden. Eine historische Belastung des Maßregelrechts, die bis in die Gegenwart spürbar ist, liegt in seiner Einführung durch die Gesetzgebung der Nationalsozialisten (Kapitel 5). Das Gewohnheitsverbrechergesetz selbst greift in wesentlichen Teilen auf die Reformentwürfe aus der Zeit der Weimarer Republik zurück. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß die Maßregeln in der Zeit zwischen 1933 und 1945 Instru-
Kap. 19: Zusammenfassung der Ergebnisse
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mente eines autoritären Kriminalrechts sind, das zugleich rassenhygienische Ziele verfolgt. Dazu dienen die in der Weimarer Republik noch abgelehnte „Entmannung“, die Verbindung der Unterbringung mit Zwangssterilisationen und die ausgedehnte Sicherungsverwahrung. Wenn das Maßregelrecht während der späteren Jahre des nationalsozialistischen Regimes seltener herangezogen wird, so ist diese Entwicklung mit einem Bedeutungsverlust rechtlicher Kontrollen insgesamt verbunden. Unterbringungen in der Sicherungsverwahrung werden durch Internierungen in den Konzentrationslagern und Todesstrafen ersetzt, und Patienten des psychiatrischen Maßregelvollzugs gehören ebenso wie Sicherungsverwahrte zu den Opfern organisierter Tötungsaktionen. Gleichwohl gehen die Strafrechtsreformen seit 1945 (Kapitel 6) nach Korrekturen des vorhandenen Maßregelrechts jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland davon aus, daß die Maßregeln nicht nur zum Grundbestand eines rechtsstaatlichen Sanktionenrechts gehören, sondern ausbaufähig sind. Allerdings wirken sich im Ergebnis die eher therapeutisch orientierten Vorschläge des Alternativ-Entwurfs stärker aus als die Vorstellungen des Regierungsentwurfs von 1962. Dabei werden rechtsstaatliche Begrenzungen des Maßregelrechts verdeutlicht, beispielsweise durch die Aufnahme des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in den Gesetzestext und die Einschränkung der Sicherungsverwahrung. Doch wird die von den Verfassern des Alternativ-Entwurfs als zentral angesehene Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt nie Teil des geltenden Maßregelrechts. Die Beständigkeit des Maßregelrechts zeigt sich bis in die Gegenwart. Seit Inkrafttreten der Strafrechtsreform wurde es immer wieder modifiziert, wobei die letzten Gesetzesänderungen eher auf eine Erweiterung des Anwendungsbereichs freiheitsentziehender Maßregeln zielen. Im Zweiten Teil werden allgemeine Fragen des Gefährlichkeitsprinzips dargestellt. Bei aller Uneinheitlichkeit ihrer Voraussetzungen weisen die einzelnen Maßregeln des geltenden Kriminalrechts die Gemeinsamkeit auf, daß sie ausnahmslos eine Gefährlichkeitsprognose erfordern (Kapitel 8). Betrachtet man die Anordnungshäufigkeit aller Maßregeln, so werden sie – mit Ausnahme der Entziehung der Fahrerlaubnis – alle deutlich seltener verhängt als die in der Sanktionspraxis insgesamt im Vordergrund stehenden Freiheits- oder Geldstrafen. Eine genauere Analyse zeigt für die drei besonders eingriffsintensiven freiheitsentziehenden Maßregeln in den letzten 50 Jahren unterschiedliche Verläufe. Während die Sicherungsverwahrung seit 1968 deutlich rückläufig ist und trotz ihrer jüngsten Erweiterung bis in die Gegenwart auf niedrigem Niveau verharrt, werden die Unterbringung in der Psychiatrie und vor allem die Unterbringung zur Suchtbehandlung Ende des 20. Jahrhunderts von den Gerichten so häufig angeordnet wie nie zuvor innerhalb des Zeitraums seit 1950. Zur Konkretisierung der Gefährlichkeit kann man zunächst auf die Diskussion über strafrechtliche Gefahrbegriffe zurückgreifen (Kapitel 9). Neuerdings wird vorgeschlagen, Gefährlichkeits- und Gefährdungsdelikte deutlich zu unterschei25*
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5. Teil: Ergebnisse und Folgerungen
den. Die erstgenannte Gruppe pönalisiert gefährliche Handlungen unabhängig von der konkreten Gefährdung eines Schutzobjekts, während sich die zweite auf einen drohenden Schädigungserfolg für ein bestimmtes Tatobjekt bezieht. Für das Maßregelrecht führt diese Klassifikation aber nicht weiter, weil die Entscheidungssituation eine andere ist. Bei der Verhängung von Maßregeln ist über Verhalten in einer ungewissen Zukunft zu urteilen, bei der Feststellung der Tat dagegen über einen abgeschlossenen Handlungskomplex. Gefährlichkeit ist im Maßregelrecht auch nicht Attribut einer Handlung, sondern eine zugeschriebene Persönlichkeitseigenschaft. Schließlich unterscheidet sich die Qualität der Delikte, die Gegenstand der Entscheidung sind: bei Gefährlichkeits- und Gefährdungsdelikten geht es typischerweise um massenhaft vorkommende Situationen, für deren Subsumtion unter einen Straftatbestand nicht einmal ein Schädigungserfolg vorausgesetzt wird, bei der Prüfung freiheitsentziehender Maßregeln dagegen in erster Linie um schwere und entsprechend seltene Erfolgsdelikte. Aus ähnlichen Gründen scheidet eine Orientierung am Gefahrbegriff der Notstandsvorschriften aus. Beim rechtfertigenden und entschuldigenden Notstand bezeichnet dieser Begriff nicht mehr als ein Eingangskriterium für die Prüfung weiterer Voraussetzungen der Rechtfertigung oder Entschuldigung einer Tat. Im Maßregelrecht steht dagegen nach der Annahme der zentralen Voraussetzung Gefährlichkeit nicht fest, daß weitere wirksame Filter für die Verhängung einer freiheitsentziehenden Sanktion vorhanden sind. Demgegenüber überschneidet sich der polizeirechtliche Gefahrbegriff weitgehend mit dem bisherigen Verständnis des Gefahrbegriffs im Maßregelrecht. Zwar gibt es im Polizeirecht und den benachbarten Disziplinen des Verwaltungsrechts ausgedehnte Diskussionen über neue Kategorien wie Risikovorsorge und Restrisiko. Deren Funktion liegt aber hauptsächlich in einer dogmatischen Bewältigung von Sachverhalten, die den traditionellen Gefahrbegriff überforderten. Gegenüber dem Gefahrbegriff des Polizeirechts ist der des Maßregelrechts insofern spezifischer, als er sich ausschließlich auf Fälle der Gefährlichkeit von Personen aufgrund von Verstößen gegen Straftatbestände bezieht; darüber hinaus kann im gerichtlichen Verfahren auf einer wesentlich breiteren Entscheidungsgrundlage aufgebaut werden als bei den Eilentscheidungen der Verwaltung. Allgemeine Bestimmungsversuche von Gefahrbegriffen im Maßregelrecht beruhen bis heute weitgehend auf Exners 1914 vorgelegter „Theorie der Sicherungsmittel“ (Kapitel 10). Dort werden die Gefahren, gegen die mit Maßregeln vorgebeugt werden soll, als künftige Verstöße gegen Straftatbestände umschrieben. Exner bestimmt den Zweck des Maßregelrechts eindeutig individualpräventiv. Daraus ergibt sich eine Abgrenzung zu den Strafen, die in der Gegenwart lediglich deswegen relativiert wird, weil Individualprävention nach heutigem Verständnis des Sanktionenrechts schon für die Strafen eine größere Rolle spielt, als vor hundert Jahren angenommen wurde. Seitherige dogmatische Klärungen des Maßregelrechts beziehen sich eher auf Detailfragen wie die Einbeziehung von Bagatellde-
Kap. 19: Zusammenfassung der Ergebnisse
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likten oder eine Intervention vor der ersten gerichtlichen Feststellung einer rechtswidrigen Tat. Sein individualpräventiver Zweck und die Herausstellung des Konzepts „Gefährlichkeit“ durch die gesetzlichen Sanktionsvorschriften legen es nahe, an diesem Konzept festzuhalten. Die freiheitsentziehenden Maßregeln sind wie alle präventiv angelegten Sanktionen auf Prognosen angewiesen, die bei den Maßregeln als Gefährlichkeitsprognosen erscheinen (Kapitel 11). Solche Prognosen lassen sich im Ausgangspunkt als Sonderfälle alltäglicher Vorhersagen verstehen, bei denen es allerdings um besonders gravierende rechtliche Folgen geht. Zudem sind Gefährlichkeitsprognosen mit dem grundsätzlichen Problem niedriger Basisraten verbunden: da sich diese Prognosen auf schwere Delikte und damit auf besonders seltene Verhaltensweisen beziehen, wird eine nicht zu vernachlässigende Anzahl falscher Vorhersagen in Kauf genommen. Und solche Vorhersagen, die sich nachträglich als unzutreffend erweisen, können ebenso empfindliche Konsequenzen nach sich ziehen wie zutreffende Prognosen; entweder handelt es sich dabei um schwere Delikte, die hätten verhindert werden sollen, oder um langfristige Freiheitsentziehungen ohne hinreichende Legitimation. Diese Schwierigkeiten können durch die methodologische Systematisierung von Gefährlichkeitsprognosen abgemildert, aber nicht völlig beseitigt werden. Auch aus diesem Grund ist eine normative Konkretisierung der Maßregelvoraussetzungen unverzichtbar. Einen ersten Ansatzpunkt dafür bietet die traditionelle Gegenüberstellung von Besserung und Sicherung als Zielsetzungen des Maßregelrechts, die auf das Gefährlichkeitsmerkmal bezogen wird (Kapitel 12). In Anlehnung an die bis heute überzeugende dogmatische Grundkonzeption Exners läßt sich Individualprävention oder Gefahrenabwehr als allgemeiner Zweck des Maßregelrechts bezeichnen. Dieser allgemeine Zweck soll vorrangig durch Methoden der Besserung erreicht werden, also durch Behandlungsmethoden im weitesten Sinne, die möglichst weitgehend die Ursachen der Gefährlichkeit beheben sollen. Erst wenn solche therapeutischen Ansätze wenig Erfolg versprechen, sollen Mittel der Sicherung ergriffen werden, bei den freiheitsentziehenden Maßregeln in erster Linie durch sichere Unterbringung. Das Gewicht von Besserung und Sicherung ist bei den einzelnen Maßregeln unterschiedlich verteilt. Am deutlichsten therapeutisch orientiert ist die Unterbringung zur Suchtbehandlung, weniger stark die Unterbringung in der Psychiatrie, nur marginal die Sicherungsverwahrung. Allen kriminalrechtlichen Maßregeln gemeinsam ist das Erfordernis, die für sie jeweils spezifischen Methoden nur insoweit einzusetzen, als Gefährlichkeit vorliegt. Aus dieser Sicht erfolgt im Dritten Teil eine Konkretisierung des Gefährlichkeitsmerkmals für die einzelnen freiheitsentziehenden Maßregeln. Sie wird zunächst für die psychiatrische Unterbringung nach § 63 StGB vorgenommen (Kapitel 13). Analytisch lassen sich drei Gesichtspunkte unterscheiden. Erstens erscheinen die Anlaßtaten als wesentliche Grundlage einer Gefährlichkeitsprognose, sofern es sich nicht um bloße Gelegenheits- oder Konflikttaten handelt,
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5. Teil: Ergebnisse und Folgerungen
sondern um Delikte, die sich als symptomatischer Ausdruck bestimmter psychischer Störungen begreifen lassen. Was zweitens die Wahrscheinlichkeit künftiger Delikte betrifft, fehlt es an festen normativen Kriterien, die intersubjektiv überprüfbare Aussagen zum Wahrscheinlichkeitsgrad bestimmter Verhaltensweisen gestatten. Doch kann man drittens an der Erheblichkeit künftig erwarteter Delikte anknüpfen, um zunächst bestimmte Fallgruppen auszuscheiden, die unterhalb der Erheblichkeitsschwelle für die Anordnung dieser Maßregel bleiben. Dazu zählen einerseits schadensbezogene Merkmale; schon die höchstrichterliche Rechtsprechung hat in etlichen Fällen ausgesprochen, daß geringfügige, bloß lästige oder Bagatelldelikte das Merkmal der Erheblichkeit nicht erfüllen und deshalb keine Gefährlichkeitsprognose für eine psychiatrische Unterbringung begründen. Teilweise in Anlehnung an Vorschläge der sanktionenrechtlichen Literatur lassen sich diese Fallgruppen marginal erweitern; grob unverständige Versuche und Delikte aus unbewußter Fahrlässigkeit rechtfertigen ebenfalls keine Gefährlichkeitsprognose. Darüber hinaus wird versucht, das Erheblichkeitsmerkmal aufgrund empirischer Forschungsergebnisse zu konkretisieren. Die Anwendungspraxis der Maßregel nach § 63 StGB ist durch eine zunehmende Bedeutung von Gewaltdelikten gekennzeichnet. Dabei erscheint das Spektrum der Anlaßdelikte immer noch recht breit. Legalbewährungsstudien bieten Anhaltspunkte für eine gewisse individualpräventive Wirksamkeit von Aufenthalten im psychiatrischen Maßregelvollzug. Die internationale Forschung über Zusammenhänge zwischen bestimmten Formen psychischer Störungen und der Begehung von Gewalthandlungen legt eine moderate Korrelation nahe; die in der empirischen Kriminologie auch sonst häufig untersuchten unabhängigen Variablen wie Lebensalter und Geschlecht sind nicht weniger bedeutsam. Aus diesen empirischen Erkenntnissen werden kriminalpolitische Folgerungen für die Bestimmung des Erheblichkeitsmerkmals bei § 63 StGB gezogen. Danach fehlt es typischerweise an einer Gefährlichkeit, wenn lediglich mit Delikten wie einfacher Körperverletzung, Exhibitionismus, sexuellem Mißbrauch von Kindern ohne Körperkontakt, Diebstahl ohne Vorliegen einer Qualifikation oder einfacher Brandstiftung zu rechnen ist. Auf diese Weise wird die schadensbezogene Betrachtung des Gefährlichkeitsmerkmals auf die Deliktsgruppen bezogen, denen in der bisherigen Anordnungspraxis dieser Maßregel eine größere Bedeutung zukommt. Auch für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB ist das Merkmal „Gefährlichkeit“ eine wichtige Anordnungsvoraussetzung; sie ist nicht weniger streng auszulegen als für eine psychiatrische Unterbringung (Kapitel 14). Auszuschließen sind auch hier Unterbringungen im Maßregelvollzug anläßlich bloß geringfügiger, lästiger und Bagatelldelinquenz, die im Zusammenhang mit dieser Maßregel stärker durch Fälle des Suchtmittelkonsums und durch Beschaffungsdelikte geprägt wird. Die Anordnungspraxis in den letzten Jahren läßt sich durch eine Konzentration auf Drogenkonsumenten und auf Gewaltdelikte kenn-
Kap. 19: Zusammenfassung der Ergebnisse
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zeichnen. Wie der Stand der empirischen Forschung über Zusammenhänge zwischen Suchtproblematik und Gefährlichkeit zeigt, spricht jedoch wenig für lineare Kausalitätsbeziehungen zwischen Alkoholkonsum und der Begehung von Gewaltdelikten. Was den Konsum illegaler Drogen, insbesondere Heroin, betrifft, so sind entsprechende Zusammenhänge jedenfalls nach den vorliegenden europäischen Studien noch weniger in Betracht zu ziehen. Die kriminalpolitischen Folgerungen für die Auslegung der Maßregelvoraussetzungen laufen auch für die Unterbringung nach § 64 StGB auf eine deliktsspezifische Einschränkung hinaus. Fallgruppen wie einfache Körperverletzungen, sexueller Mißbrauch ohne Körperkontakt oder Diebstahl ohne Qualifikation sind hier in aller Regel ebenso aus dem Anwendungsbereich der Maßregel auszuschließen. Darüber hinaus erfüllen einfache Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, Vollrauschdelikte ohne klaren Bezug zu schwereren Formen der Gewaltkriminalität und ein großer Teil der Straßenverkehrsdelikte nicht die Voraussetzung der Erheblichkeit. Anders als häufig angenommen, bildet das Merkmal „Gefährlichkeit“ auch für die Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB als dritte freiheitsentziehende Maßregel die zentrale Anordnungsvoraussetzung (Kapitel 15). Denn der Begriff „Hang“ kann für sich nicht sinnvoll operationalisiert werden, und die „formellen“ Voraussetzungen dieser Maßregel werden durch verschiedene Ausnahmeregelungen entwertet. Die ausdrückliche Nennung schadensbezogener Erheblichkeitskriterien im Gesetzestext des § 66 I Nr. 3 StGB erleichtert eine restriktive Auslegung, nach der Formen der Bagatelldelinquenz ebenso wie opferlose Delikte die Anforderungen der Erheblichkeit nicht erreichen. Aus empirischer Sicht ist festzustellen, daß sich die Anordnungspraxis bei der Sicherungsverwahrung zunehmend auf Gewalt- und Sexualdelikte konzentriert, während Eigentums- und Vermögensdelikte ohne Gewaltanwendung seit der Strafrechtsreform drastisch an Bedeutung verloren haben. Der Forschungsüberblick zur Legalbewährung nach langen Freiheitsstrafen zeigt, daß solche Untersuchungsgruppen typischerweise besonders geringe Rückfallquoten aufweisen. Dagegen lassen sich aus den vorhandenen empirischen Untersuchungen über Gewalt- und Sexualstraftäter derzeit keine eindeutigen Schlußfolgerungen ziehen. Bereits die gesetzlichen Voraussetzungen der Maßregel legen dennoch auch hier eine deliktsspezifische Interpretation des Gefährlichkeitsmerkmals nahe. Bei Tötungsdelikten ist aus empirischer Sicht eine besonders geringe Gefahr der Wiederholung anzunehmen. Soweit Sexualdelikte zu erwarten sind, bieten auch hier Fälle des sexuellen Mißbrauchs ohne Körperkontakt keinen zureichenden Grund für eine Gefährlichkeitsprognose. An der Zurückdrängung der Sicherungsverwahrung bei Eigentums- und Vermögensdelikten, aber auch bei der Körperverletzung sollte festgehalten werden. Damit sind die Voraussetzungen der drei freiheitsentziehenden Maßregeln im Hinblick auf den Aspekt der Gefährlichkeit hinreichend eingegrenzt. Schon diese
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5. Teil: Ergebnisse und Folgerungen
Interpretationsvorschläge erfassen zugleich manche Gesichtspunkte, die sonst als Fragen der Verhältnismäßigkeit diskutiert werden. Gleichwohl ist der in § 62 StGB unterstrichene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für diese Maßregeln keineswegs funktionslos. Das wird im Vierten Teil der Arbeit ausgeführt. Was Verhältnismäßigkeit für die psychiatrische Unterbringung zu bedeuten hat (Kapitel 16), ist zu einem guten Teil durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entschieden, die sich allerdings nicht unmittelbar auf die Anordnung, sondern auf die Vollstreckungsdauer bezieht. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auch im Hinblick auf seine Anwendung im Maßregelrecht in drei Elemente auszudifferenzieren. Dabei ist die Frage nach der Geeignetheit einer solchen Maßregel ohne Schwierigkeiten positiv zu beantworten, wenn die Voraussetzung „Gefährlichkeit“ angenommen werden kann: die Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug erscheint grundsätzlich als taugliches Mittel zur Verhinderung erheblicher Delikte, die mit einer psychischen Störung zusammenhängen. Das zweite Element der Erforderlichkeit betrifft die Frage nach weniger einschneidenden, aber ebensogut zur Gefahrenabwehr geeigneten Alternativen. Das ist bereits eine Frage der Anordnung der Maßregel, nicht erst eine Frage ihrer Aussetzung zur Bewährung. Als funktionales Äquivalent läßt sich vor allem die Unterbringung zur Suchtbehandlung nach § 64 StGB in Betracht ziehen, soweit eine Substanzabhängigkeit vorliegt; darüber hinaus kann sich im Einzelfall auch eine Unterbringung nach den Landesgesetzen über psychisch Kranke anbieten. Auf der Stufe der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne entscheidet sich, ob der Zweck der Gefahrenabwehr und das Mittel der Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug zueinander in einem angemessenen Verhältnis stehen. Das Gesetz liefert in § 62 StGB zwar sachbereichsspezifische Kriterien der Angemessenheit. Diese erscheinen jedoch ausnahmslos bereits als Bestandteile des Gefährlichkeitsmerkmals. Ein eigenständiger Anwendungsbereich für das Übermaßverbot eröffnet sich daher erst bei der Maßregelvollstreckung: hier definiert es eine äußerste zeitliche Grenze für Aufenthalte in den Einrichtungen des psychiatrischen Maßregelvollzugs. Zur Konkretisierung wird ein Rückgriff auf die Höchststrafe des jeweiligen Tatbestands vorgeschlagen. Eine im Extremfall lebenslange Unterbringung ist dann praktisch nur zu begründen, wenn im konkreten Fall ein Mordmerkmal vorliegt. Auch für die Verhältnismäßigkeit der Unterbringung zur Suchtbehandlung (Kapitel 17) ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von großer Bedeutung. An der grundsätzlichen Geeignetheit dieser Maßregel zur Verhinderung abhängigkeitsbedingter Straftaten ist nicht zu zweifeln, wenn eine gewisse Erfolgsaussicht besteht. Auf der Stufe der Erforderlichkeit kommt ein breiteres Spektrum an milderen, aber voraussichtlich ebenso wirksamen Alternativen in Betracht. Zwar haben die Justizvollzugsanstalten trotz ihrer im Strafvollzugsgesetz festgelegten Behandlungsorientierung für Verurteilte mit einer Suchtproblematik keine akzeptable Alternative anzubieten, und die in der Justizpraxis für Drogen-
Kap. 19: Zusammenfassung der Ergebnisse
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abhängige bevorzugte Zurückstellung der Straf- und Maßregelvollstreckung nach § 35 BtMG ist als Bestandteil des Vollstreckungsrechts nachrangig. Doch kann im Einzelfall mit einer Unterbringung nach den Landesgesetzen über psychisch Kranke eine überlegene Behandlungsform verbunden sein. Vor allem gewinnen Behandlungsweisungen und freiwillige Behandlungsangebote in diesem Zusammenhang eine größere Bedeutung. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne wird auch bei der Maßregel nach § 64 StGB in erster Linie für die Begrenzung der Vollstreckungsdauer relevant. Dafür gibt es ein Bedürfnis, weil die gesetzliche Befristung des Aufenthalts im Maßregelvollzug auf zwei Jahre nur im Ausnahmefall greift. Aus diesem Grund wird vorgeschlagen, das Höchstmaß der Unterbringungsdauer an der längstmöglichen Dauer einer sinnvollen stationären Suchtbehandlung zu orientieren. Eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift über die Verlängerung der Höchstfrist (§ 67d I 3 StGB) führt zu einer Begrenzung auf vier Jahre. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Sicherungsverwahrung (Kapitel 18) ist von der allgemeineren Frage nach ihrer Verfassungsmäßigkeit nur schwer zu trennen. Langfristige Freiheitsentziehungen unter gesicherten Bedingungen erscheinen zur Verhinderung schwerer Delikte auch dann grundsätzlich geeignet, wenn therapeutische Vorkehrungen eines Behandlungsvollzugs minimiert werden. Von größerer Bedeutung ist demgegenüber die Prüfung der Erforderlichkeit der Sicherungsverwahrung, handelt es sich doch bei dieser Maßregel um das letzte Mittel des Sanktionenrechts. Daß vor der Maßregel zwingend eine längere Freiheitsstrafe vollzogen wird und die Möglichkeit einer Aussetzung dieser Maßregel im Zusammenhang mit ihrer Anordnung nicht vorgesehen ist, macht die Suche nach milderen, aber gleich wirksamen Alternativen zur Sicherungsverwahrung um so dringlicher. In Betracht zu ziehen ist, soweit eine Substanzabhängigkeit und die übrigen Voraussetzungen der Maßregel nach § 64 StGB vorliegen, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt; von stationären Suchtbehandlungen in spezialisierten Einrichtungen dürfte in dieser Fallgruppe mehr Wirkung zu erwarten sein als von bewußter Therapieabstinenz im Justizvollzug. Soweit eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wird, ist ein Bedürfnis für die Sicherungsverwahrung nicht zu erkennen. In allen übrigen Fällen ist zu prüfen, ob ein längerer Aufenthalt im Strafvollzug die Maßregel überflüssig macht. Das trifft vor allem zu, wenn eine realistische Chance besteht, daß der Vollzug der Freiheitsstrafe individualpräventiv gestaltet werden kann, insbesondere durch den Aufenthalt in einer sozialtherapeutischen Einrichtung. Wo die Führungsaufsicht in einer Form ausgestaltet ist, die sich vom Alltagsgeschäft der Bewährungshilfe durch wesentlich intensivere Betreuung abhebt, kann auch diese Maßregel eine Alternative zur Sicherungsverwahrung darstellen, die nicht von vornherein als weniger wirksam erscheint. Jenseits der Erforderlichkeitsprüfung ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne hauptsächlich für die Begrenzung der Vollstreckungsdauer von Bedeutung. Hier gilt wie für alle freiheitsentziehenden Maßregeln die Formel des
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5. Teil: Ergebnisse und Folgerungen
Bundesverfassungsgerichts, nach der sich die Anforderungen mit zunehmender Vollstreckungsdauer verschärfen. Für eine absolute Grenze ist wegen der zwingenden Vorwegvollstreckung der Freiheitsstrafe nach geltendem Recht kein akzeptabler Maßstab ersichtlich. Eine solche Grenze könnte lediglich der Gesetzgeber definieren, wie schon die 1998 geänderte Vorschrift des § 67d III StGB deutlich macht.
Kap. 20: Kriminalpolitischer Ausblick
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Kapitel 20
Kriminalpolitischer Ausblick Der Zweck dieser Schrift ist es, auf dem Boden des geltenden Rechts die Anforderungen, welche Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit an die Verhängung freiheitsentziehender Maßregeln stellen, zu konkretisieren. Freilich bleiben kriminalpolitische Desiderate, die über die Auslegung der bestehenden Vorschriften des Kriminalrechts hinausgehen. Am Ende steht deshalb ein Versuch, der solche Vorstellungen skizziert. Der historische Rückblick im Ersten Teil der Arbeit hat gezeigt, daß Maßregeln als eigene Kategorie des Sanktionenrechts in der Auseinandersetzung mit anderen Modellen kriminalrechtlicher Sanktionen entwickelt worden sind. Solche Gegenmodelle werden derzeit in der Strafrechtswissenschaft nicht intensiv diskutiert. Auch die Grundsatzdiskussion über die Berechtigung eigenständiger Maßregeln ist seit der Strafrechtsreform zum Erliegen gekommen. Lediglich vereinzelt werden Forderungen laut, das Maßregelrecht abzuschaffen.1 Auf solche Positionen kann in diesem Rahmen nur kurz eingegangen werden. Auch dieses letzte Kapitel setzt voraus, daß freiheitsentziehende Maßregeln auf längere Sicht existieren werden und daß sie grundsätzlich in rechtsstaatlich erträglicher Weise praktiziert werden können. Die kriminalpolitische Diskussion der letzten Jahre, die damit verbundenen Gesetzesänderungen und die langfristige Häufigkeitsentwicklung der gerichtlichen Anordnungen könnten sogar den Eindruck erwecken, daß freiheitsentziehende Maßregeln als Reaktion auf bestimmte Kriminalitätsformen jedenfalls in Deutschland zunehmend favorisiert werden.2 Daraus folgt aber die Notwendigkeit, zumindest diese drei Sanktionen einer Überprüfung zu unterziehen, die Forderungen nach Reformen des Maßregelrechts nicht ausschließt.3 Wegen der unterschiedlichen Funktionen der einzelnen Sanktionen empfiehlt es sich, sie auch insoweit getrennt zu betrachten.
1 In den letzten Jahren insbesondere bei Böllinger (1995: Rn. 39 zu § 61, 56 zu § 63 StGB), Naucke (2002: 108 f.) und Stangl (1984: 149). 2 So auch Naucke (2002: 106 f.). 3 Dieses Kapitel führt kriminalpolitische Überlegungen weiter, die bereits zur Diskussion gestellt wurden; siehe Dessecker (2000b).
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5. Teil: Ergebnisse und Folgerungen
A. Zur Reform der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) Die Unterbringung in der Psychiatrie betrifft zu einem großen Teil eine Gruppe von Straftätern, für deren Taten eine auf einem Schuldvorwurf beruhende Strafe nicht begründbar ist. Deshalb finden sich auch in der aktuellen Literatur Forderungen nach ihrer Ersetzung durch Interventionen außerhalb des Kriminalrechts.4 Derartige Forderungen nach einer Abschaffung der psychiatrischen Unterbringung gemäß § 63 StGB überzeugen nicht. Besonders eindeutig fällt diese Beurteilung bei Täterinnen und Tätern aus, die ein schweres Delikt begangen haben, aber zum Tatzeitpunkt aufgrund psychischer Störungen schuldunfähig waren. Falls auf dieser Grundlage eine Gefährlichkeitsprognose gestellt werden kann, ist ein Bedürfnis anzuerkennen, innerhalb des Verfahrens vor den Strafgerichten durch eine freiheitsentziehende kriminalrechtliche Sanktion zu reagieren. Die Debatten aus der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, in denen die sachliche Zuständigkeit der Strafgerichte etwa mit dem Argument bestritten wurde, individualpräventive Sanktionen hätten mit dem Strafrecht nichts zu tun5, sind durch die dogmatische Entwicklung in der Strafrechtswissenschaft überholt; sie sollten nicht wieder aufgenommen werden. Aber auch im Hinblick auf die selteneren Fälle verminderter Schuldfähigkeit wegen psychischer Störungen, in denen eine Gefährlichkeitsprognose gestellt werden kann, sollte die kriminalrechtliche Maßregel beibehalten werden. Es ist darauf hinzuweisen, daß lediglich gegen 1 – 2 % der Verurteilten, welche die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) erfüllen, auch eine psychiatrische Unterbringung verhängt wird. Schon dieses Zahlenverhältnis läßt erkennen, daß die Gerichte in dieser Fallgruppe restriktive Kriterien anwenden. Da die Unterbringungsentscheidungen in aller Regel auf den Ergebnissen eines psychiatrischen Gutachtens beruhen, ist davon auszugehen, daß sie auch aus der Sicht der forensischen Psychiatrie begründbar sind. Zudem kann nach der Dogmatik des Strafzumessungsrechts insbesondere wegen des Schuldprinzips nicht ausgeschlossen werden, daß Sicherungsbedürfnisse erkennbar sind, die mit einer Freiheitsstrafe allein nicht erfüllt werden können. Spätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Fall Paul Stein6 gelten bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vor allem zwei Gesichtspunkte als problematisch: einerseits die Voraussetzungen ihrer Anordnung, andererseits die fehlende Befristung des Aufenthalts im Maßregelvollzug. Beide Aspekte sind seit 1985 in der Literatur und auf verschiedenen Tagungen diskutiert worden. Böllinger (1995: Rn. 29, 39 ff. zu § 61 StGB); Naucke (2002: 105 ff.). Siehe die Ausführungen in Kapitel 3 C. III. (S. 63 ff.). 6 BVerfG, Beschluß vom 8. Oktober 1985 (= BVerfGE 70, 297); dazu ausführlich Kapitel 16 (S. 334 ff.). 4 5
Kap. 20: Kriminalpolitischer Ausblick
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Die bisher konkretesten Änderungsvorschläge stammen von einer Arbeitsgruppe beim Bundesministerium der Justiz, die im Herbst 1997 ihren Abschlußbericht und einen Gesetzentwurf7 vorgelegt hat. Dieser Gesetzentwurf sieht eine Begrenzung der Unterbringungsdauer in zwei Stufen vor. Zusätzlich zu den bereits durch das geltende Recht geforderten mindestens jährlichen Überprüfungen der Fortdauer (§ 67e II StGB) soll nach Ablauf von fünf Jahren eine durch eine obligatorische externe Begutachtung herausgehobene Überprüfung durch die Strafvollstreckungskammer erfolgen. Damit soll sichergestellt werden, daß Sichtweisen von Maßregelpatienten, die sich bei den beteiligten Therapeuten und der Klinikleitung nach längerem Aufenthalt im Maßregelvollzug verfestigt haben, nicht immer wieder scheinbar bestätigt, sondern mittels einer neutralen Begutachtung durch außenstehende Sachverständige kontrolliert werden. Unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere bei Vermögensdelikten ohne Gewaltanwendung, soll darüber hinaus eine Höchstfrist von zehn Jahren eingeführt werden. Soweit schwere Delikte gegen Personen zu befürchten sind, bleibt die Maßregel nach diesem Entwurf wie bisher unbefristet. Der Entwurf greift damit Vorschläge auf, die schon seit längerer Zeit diskutiert werden.8 Verschiedene Vorschläge, bereits die Voraussetzungen der Maßregelanordnung in § 63 StGB enger zu fassen, werden in diesem Gesetzentwurf bewußt nicht berücksichtigt. So wurde es von der Arbeitsgruppe abgelehnt, bestimmte Tatbestände als Anlaßtaten von vornherein auszuklammern9, da hinter einem und demselben Straftatbestand Delikte mit einem unterschiedlichen Unrechtsgehalt stecken können. Auch eine zusätzliche Voraussetzung der Behandelbarkeit für die Unterbringung in der Psychiatrie10 wurde nicht als angemessene Problemlösung angesehen. Was die Anordnungsvoraussetzungen der psychiatrischen Unterbringung betrifft, läßt bereits das geltende Recht engere Restriktionen zu, als dies in vielen bisherigen Stellungnahmen zum Ausdruck kommt. Die in dieser Arbeit entwickelte schadensbezogene Konkretisierung des Gefährlichkeitsmerkmals in § 63 StGB führt bereits zu einer Begrenzung auf solche Fallgruppen, in denen ein kaum bestreitbares Bedürfnis nach einer Sanktion dieser Art besteht. Werden diese Kriterien praktiziert, so werden Gesetzesänderungen in dieser Hinsicht weitgehend 7 Unveröffentlichter Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 2. September 1997. Das formelle Gesetzgebungsverfahren ist seither nicht eingeleitet worden. Statt dessen gilt eine Vorschrift dieses Entwurfs inzwischen in modifizierter Fassung als § 67d III StGB für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Zu den Vorschlägen der Arbeitsgruppe Jehle (1998: 1209 ff.). 8 Etwa von Bernsmann (1984: 149) und Hanack (1993: 183). 9 So Horstkotte (1993: 187) und Kaiser (1990: 15), der allerdings diesbezüglich wenig Reformbedarf sieht. 10 Hanack (1993: 183 f.) und Kröber (2001b: 164 f.) besonders für Täter, die nach § 21 StGB als vermindert schuldfähig angesehen werden.
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5. Teil: Ergebnisse und Folgerungen
überflüssig.11 Die Anforderungen könnten allerdings im Gesetzestext dadurch verdeutlicht werden, daß in die Vorschrift des § 63 StGB eine Formulierung eingefügt wird, die sich an der für die Sicherungsverwahrung geltenden Klausel des § 66 I Nr. 3 StGB orientiert. Anders zu beurteilen ist die Frage der Begrenzung der Unterbringungsdauer im psychiatrischen Maßregelvollzug. Hier enthält das Übermaßverbot einen verfassungsrechtlichen Grundsatz, der eine äußerste Grenze setzt. Aber es ändert nichts daran, daß die Maßregel nach geltendem Recht unbefristet ist und erst während des Vollstreckungsverfahrens entschieden wird, ob eine Aussetzung zur Bewährung erfolgen kann. Möglich bleiben damit im Einzelfall psychiatrische Unterbringungen, die erheblich länger vollzogen werden als eine Freiheitsstrafe, die das Gericht wegen der begangenen Taten für schuldangemessen hielte. Möglich bleiben auch Unterbringungen, die erheblich länger andauern als die indizierte Therapie der psychischen Störung. Unter diesen Gesichtspunkten erscheint der Verzicht auf eine Befristung der psychiatrischen Unterbringung nach wie vor problematisch. Der Änderungsvorschlag, der von der Arbeitsgruppe beim Bundesministerium der Justiz 1997 erarbeitet wurde, beschränkt sich hier auf vorsichtige Korrekturen. Vorschriften über externe Begutachtungen sind sicherlich geeignet, die Sichtweise der Maßregeleinrichtung und der zuständigen Strafvollstreckungskammer in bestimmten Fällen zu korrigieren; daher finden sich solche Regelungen bereits im Maßregelvollzugsrecht einzelner Bundesländer.12 Externe Gutachten sind aber nicht notwendig von besserer Qualität als die Unterbringungsgutachten und die Stellungnahmen der Einrichtung, die im jährlichen Überprüfungsverfahren ohnehin erstellt werden. Ob sie geeignet sind, unnötig lang dauernde Freiheitsentziehungen abzukürzen, bleibt offen. Die von der Arbeitsgruppe vorgeschlagene Befristung der Unterbringungsdauer bei gewaltlosen Vermögensdelikten auf zehn Jahre bleibt hinter dem in dieser Arbeit entwickelten Verständnis des zentralen Merkmals „Gefährlichkeit“ zurück. Denn gewaltlose Vermögensdelikte erscheinen von vornherein nicht als so erheblich, daß sie eine Gefährlichkeitsprognose rechtfertigten; beschränken sich Anlaßdelikte und zu befürchtende künftige Taten auf diese Kriminalitätsform, so fehlen schon die Anordnungsvoraussetzungen der Maßregel nach § 63 StGB. Deshalb sollte auch die psychiatrische Unterbringung von vornherein befristet werden. Befristungsregelungen führen zwar nicht notwendig zu einer Verkürzung der Unterbringungsdauer. Die Praxis der Maßregeleinrichtungen und der Strafvollstreckungskammern könnte dieses Reformziel konterkarieren, indem sie die ge11 Das nimmt Kaiser (1990: 15) schon aufgrund der Anforderungen der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung an. 12 Siehe § 37 IV PsychKG Brandenburg; § 16 III MRVG Nordrhein-Westfalen; § 8 IV MRVG Saarland; § 11 II MVollzG Sachsen-Anhalt.
Kap. 20: Kriminalpolitischer Ausblick
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setzliche Frist aus Sicherungsgründen in Fällen ausschöpfte, in denen dies nicht erforderlich wäre.13 Ohnehin liegen einige Anzeichen dafür vor, daß sich derzeit die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im psychiatrischen Maßregelvollzug – anders als noch vor wenigen Jahren – wieder verlängert. Jenseits des Übermaßverbots und regelmäßiger Überprüfungspflichten sind Fristvorschriften aber die einzige Möglichkeit zeitlicher Begrenzung, die zur Verfügung steht. Die bisherigen Vorschläge unterscheiden sich im wesentlichen in der Fristbemessung und in der Frage einer Verlängerungsmöglichkeit. Eine starre Frist wird allerdings nur vereinzelt in Betracht gezogen.14 Sie würde bei einer Bemessung auf kurze Zeit auch den Nachteil mit sich bringen, daß das sichernde Element des Maßregelrechts völlig vernachlässigt würde. Umgekehrt wäre wenig gewonnen, wenn die Frist von vornherein so lang bemessen würde, daß sie in der Praxis des Maßregelvollzugs kaum relevant wäre. Daher sind Fristlösungen mit einer Verlängerungsmöglichkeit vorzuziehen. Die bislang vorgeschlagenen Fristen variieren zwischen einem Jahr und fünf Jahren. Für besonders kurze Fristen setzen sich Gremien aus der forensischen Psychiatrie wie die Konferenz der Direktoren der Maßregelvollzugseinrichtungen und die zuständige Sektion der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde ein.15 Die Gesetzentwürfe aus der Zeit der Weimarer Republik sehen eine Frist von drei Jahren als ausreichend an, allerdings unter der Voraussetzung, daß im Regelfall zuvor die Freiheitsstrafe vollstreckt wird. So beschränkt sich der Entwurf von 1930 auf eine lapidare Regelung: „Die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt darf drei Jahre nur übersteigen, wenn das Gericht sie vor Ablauf dieser Frist von neuem anordnet.“16
Die heutige Diskussion greift teilweise ausdrücklich auf die Gesetzesentwürfe aus der Zeit vor dem Gewohnheitsverbrechergesetz zurück.17 Andere Beiträge setzen sich für eine Frist „von etwa fünf Jahren“18 ein und lösen sich damit aus einer geschichtlich geprägten Argumentation. Im Hintergrund dieser Debatte stehen empirische Daten zur Unterbringungsdauer im psychiatrischen Maßregelvollzug oder zumindest Eindrücke von aktuellen Entwicklungen; die Fristen werden dann so lang bemessen, daß die Höchstdauer ohne Verlängerung etwa der ermittelten durchschnittlichen Unterbringungsdauer oder der Dauer entspricht, die aus therapeutischer Sicht als zweckmäßig angesehen wird. Dies befürchten etwa Hanack (1993: 182) und Horstkotte (1993: 188). So wohl Holtus (1991: 145 f.). 15 Siehe die Darstellung bei Kröber (2001b: 164), der seinerseits bei verminderter Schuldfähigkeit eine Begrenzung auf zwei Jahre für richtig hält. 16 § 60 II des „Entwurfs Kahl“ von 1930; hier zitiert nach dem Nachdruck bei Schubert (1997: 481). 17 Baur (1990: 485); ihm folgt Böllinger (1995: Rn. 45 zu § 61 StGB). 18 Kaiser (1990: 36). 13 14
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5. Teil: Ergebnisse und Folgerungen
Unter der Prämisse, daß bei verminderter Schuldfähigkeit am Vorwegvollzug der Maßregel im Regelfall (§ 67 I StGB) festgehalten werden soll, erscheint eine Frist von fünf Jahren zur Begrenzung des Aufenthalts im psychiatrischen Maßregelvollzug gut begründbar. Hier ist darauf zu verweisen, daß die Anordnungsvoraussetzung der Gefährlichkeit restriktiv auszulegen ist, so daß von vornherein weniger Verurteilte in den psychiatrischen Maßregelvollzug gelangen als bisher. Die Frist und die damit verbundene Entscheidung über eine Verlängerung der Unterbringungsdauer über die Grenze von fünf Jahren hinaus sollten sich durch gesteigerte Anforderungen an das Überprüfungsverfahren von der jährlichen Regelüberprüfung unterscheiden. Dafür kommen insbesondere die Pflicht zu einer externen Begutachtung, die obligatorische Mitwirkung eines Verteidigers und eine im Regelfall durchzuführende mündliche Anhörung vor der Strafvollstreckungskammer in Betracht. Alle diese Vorkehrungen können auch schon nach geltendem Recht getroffen werden (§§ 463 III, 454 StPO); sie laufen aber in der bisherigen Praxis weitgehend leer. Ausnahmen sollten für den Fall vorgesehen werden, daß das Gericht ohnehin eine nachträgliche Aussetzung der Maßregel für angebracht hält.
B. Zur Reform der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) Die Unterbringung zur Suchtbehandlung befindet sich in einem besonderen Dilemma. Einerseits handelt es sich um eine freiheitsentziehende Maßregel, die von dem allgemeinen Zweck der Gefahrenabwehr getragen wird, was schon von der Rechtsprechung immer wieder betont wird.19 Aus diesem Grund dürfen die Anordnungsvoraussetzungen nicht zu locker gehandhabt werden; dies wird in Kapitel 14 vor allem für das Gefährlichkeitsmerkmal ausgeführt. Andererseits spielt die Zielsetzung, Menschen mit einer Suchtproblematik zu behandeln, bei dieser Sanktion eine besondere Rolle. Daraus folgt, daß voraussichtlich nutzlose Behandlungen unterbunden werden sollen und vor allem die Unterbringungsdauer nicht über die für diese Behandlung erforderliche Zeit ausgedehnt werden sollte. Dieses Dilemma ist Grund genug, über Möglichkeiten einer Umgestaltung der Suchtbehandlung aus Anlaß von Straftaten nachzudenken. Was die Voraussetzungen der Maßregel nach § 64 StGB betrifft, führt schon die Auslegung des geltenden Rechts zu einer Einschränkung ihres Anwendungsbereichs. Für die Bemessung der Dauer des Aufenthalts im Maßregelvollzug sollte angesichts der wenig überzeugenden Verlängerungsregelung, die derzeit in den meisten Fällen dazu führt, daß die Höchstfrist des § 67d I 1 StGB überschritten werden kann, eine 19 BGH, Urteil vom 21. März 1979 – 2 StR 743 / 78 (= BGHSt 28, 327, 332); Beschlüsse vom 15. Mai 1996 – 1 StR 257 / 96 (= NStZ-RR 1996, 257) und vom 28. Mai 1997 – 2 StR 206 / 97 (= NStZ-RR 1997, 291).
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Befristung ohne Ausnahmen eingeführt werden, die sich an der Länge eines therapeutisch sinnvollen Behandlungsprogramms orientiert.20 Die gesetzgeberisch einfachste Lösung liegt in der schlichten Streichung von § 67d I 3 StGB. Dann würde aus der bisher weitgehend folgenlosen Bekundung des Gesetzes eine wirksame Höchstfrist von zwei Jahren. Ein Nebeneffekt läge im Ausschluß von Fehlerquellen bei der Berechnung der Verlängerungszeit. Hinnehmbar wäre aber für eine solche maßregelimmanente Gesetzesänderung sogar eine einheitliche Festlegung der Höchstfrist auf drei Jahre, mit der auch ungewöhnlich schwierige Behandlungsverläufe abgedeckt werden könnten. Dieser Ansatz ist gegenüber Veränderungen der Vollstreckungsreihenfolge im Verhältnis zwischen Maßregel nach § 64 StGB und paralleler Freiheitsstrafe21 vorzugswürdig. Schwierigkeiten des Vollstreckungsrechts entstehen hier nämlich zu einem guten Teil dadurch, daß die Rechtsprechung eine Überdehnung der Aufenthaltszeiten im Maßregelvollzug zuläßt. Allerdings bestehen noch weitere Abstimmungsprobleme. Die Maßregel nach § 64 StGB ist ja nur eine von mehreren kriminalrechtlichen Reaktionen, die bei Straftaten im Zusammenhang mit einer Suchtproblematik in Betracht kommen. Wie bereits die zahlreichen Alternativen des geltenden Rechts22 zeigen, ist es nicht zwingend erforderlich, Abhängigkeitstherapie bei Straffälligen gerade im Maßregelrecht zu verankern. Bei drogenabhängigen Verurteilten neigt die gerichtliche Praxis eher zu den Therapieregelungen des Betäubungsmittelgesetzes. Sie ermöglichen es, auch eine Freiheitsstrafe oder einen noch nicht verbüßten Strafrest zu Therapiezwecken zurückzustellen. Dieses Modell führt, wie die einschlägige Forschung im Gegensatz zu früheren Befürchtungen zeigt, keineswegs zu unlösbaren organisatorischen Schwierigkeiten.23 Zudem ist es mit einer zwingenden Anrechnung von Therapiezeiten (§ 36 I BtMG) verbunden; unerheblich ist dabei, ob der Aufenthalt in einer Einrichtung als erfolgreich definiert werden kann. Das Gesetz sah für die Maßregel zur Suchtbehandlung in § 67 IV 2 StGB vor, daß bei Erledigung mangels Erfolgsaussicht keine Anrechnung auf die Strafe erfolgte. Seit der Nichtigerklärung dieser Vorschrift durch das Bundesverfassungsgericht24 gilt zwar zur Zeit in der Praxis der Maßregelvollstreckung nichts anderes als nach § 36 I BtMG. Doch bringt der Gesetzestext dies nicht klar zum Ausdruck; hier liegt eine unnötige Fehlerquelle. Weitere Komplikationen ergeben sich in der So bereits Horstkotte (1995: 199) und Rasch (1991: 113). Darüber hat zuletzt die 70. Konferenz der Justizministerinnen und -minister im Juni 1999 beraten; siehe den Beschluß unter http: / / www.jura.uni-sb.de / JuMiKo / jumiko_jun99 / top_ii11.html (Abfrage am 1. November 2001). 22 Ausführlich Kapitel 17 C. II. (S. 364 ff.). 23 Kurze (1994: 187 ff.). 24 BVerfG, Beschluß vom 16. März 1994 – 2 BvL 3 / 90 u. a. (= BVerfGE 91, 1, 36 f.). Zu dieser Entscheidung Kapitel 17 A. und B. (S. 360 ff.). 20 21
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Praxis aus der Beschränkung der Anrechnung auf zwei Drittel der Strafzeit (§ 67 IV 1 StGB).25 Bei der Gruppe der alkoholabhängigen Täter ist davon auszugehen, daß die Maßregel ohnehin nur einen kleinen Teil von ihnen erfaßt. Wenn der Eindruck aus der Strafvollzugspraxis zutrifft, daß rund ein Drittel der Strafgefangenen eine behandlungsbedürftige Alkoholproblematik aufweist26, reichen die Kapazitäten des Maßregelvollzugs bei weitem nicht aus. Aus diesen Gründen ist die Maßregel nach § 64 StGB insgesamt in Frage zu stellen.27 Geht man davon aus, daß das Zurückstellungsmodell in der Praxis reibungsloser funktioniert als das Modell des Maßregelvollzugs zur Suchtbehandlung, so liegt es nahe, den Anwendungsbereich des Zurückstellungsmodells auf alle suchtmittelabhängigen Straftäter zu erweitern. Systematisch wäre es nicht mehr im Betäubungsmittelgesetz, sondern im Allgemeinen Teil des Strafrechts zu verankern. Die Begrenzung des Zurückstellungsmodells auf illegale Drogen erscheint nämlich wenig sachgerecht.28 Sie beruht auf der Annahme, daß drogenabhängige Täter eine besondere Gruppe von Straffälligen bilden, für die eine Sonderregelung im Nebenstrafrecht angemessen ist. Diese Annahme ist anachronistisch. Auch wenn der Umgang mit Alkohol in Deutschland in weiteren Bevölkerungskreisen sozial akzeptiert ist als der Konsum von Cannabisprodukten, Ecstasy oder Amphetaminen, ist der seit rund 30 Jahren anhaltende kulturelle Wandel in der Bewertung dieser Substanzen nicht zu übersehen.29 Für die Frage, in welcher Weise kriminalrechtliche Sanktionen mit Angeboten zur Suchtbehandlung verbunden werden sollen, sind alle Formen psychotroper Substanzen gleich zu behandeln. Dabei kann es aber nicht darum gehen, bestehende Behandlungskapazitäten in den zuständigen Einrichtungen aufs Spiel zu setzen; sie sollten im Gegenteil erweitert werden. Für drogenabhängige und polytoxikomane Personen existieren bereits Therapieeinrichtungen in öffentlicher Trägerschaft, die Behandlungsprogramme im Rahmen der Zurückstellungsregelung nach § 35 BtMG anbieten. Darüber hinaus bestehen zahlreiche Einrichtungen für die Behandlung von Drogenabhängigen unter privater Trägerschaft, die in aller Regel mit den Strafverfolgungsbehörden kooperieren, soweit es um die Anrechnung von Therapiezeiten geht. Dagegen werden Behandlungsangebote für Personen mit einer Alkoholproblematik üblicherweise von Einrichtungen freier Träger angeboten. Ihre Klientel wird sich von derjenigen der Einrichtungen, die derzeit Maßregelpatienten nach § 64 StGB behandeln, häufig unterscheiden. Obwohl strafrechtliche Vorbelastungen bei Alkohol25 Siehe die Fallschilderungen bei Ullenbruch (2000: 290 ff.). Danach dürften unrichtige Strafzeitberechnungen nicht nur in Einzelfällen vorkommen. 26 Preusker (1995: 52) für den Strafvollzug in Sachsen. 27 In dieser Richtung bereits Böllinger (1995: Rn. 65 zu § 64 StGB) und Schalast (2000: 173 ff.). 28 Baumgart (1994: 107 f.); Rebsam-Bender (1995: 160 f.); Schalast (2000: 176 f.). 29 Siehe Kraus / Töppich (1998) und die Bemerkungen in Kapitel 14 C. VI. (S. 278).
Kap. 20: Kriminalpolitischer Ausblick
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abhängigen schon wegen der Straßenverkehrsdelikte nicht unwahrscheinlich sind, dürfte der Anstoß zu einer Therapie nur selten von der Straffälligkeit ausgehen, und für die Träger der Einrichtungen besteht kein ökonomischer Anreiz, gerade „schwierige“ Patienten mit erheblicher strafrechtlicher Vorbelastung aufzunehmen. Daher sollten bestehende Therapiemöglichkeiten des Maßregelvollzugs mit dem Ziel erhalten und ausgebaut werden, sie auf längere Sicht in ein Zurückstellungsmodell überzuleiten, ohne daß sich an der Trägerschaft dieser Einrichtungen etwas zu ändern brauchte. Der Vorschlag, die Maßregel nach § 64 StGB durch eine strafvollstreckungsrechtliche Zurückstellungslösung zu ersetzen, kann nur überzeugen, wenn es nicht nur gelingt, das bei dieser Maßregel überkomplexe und fehleranfällige Vollstrekkungsrecht zu vereinfachen, sondern auch die Therapieangebote für Straftäter mit einer Suchtproblematik auszubauen. Solche Angebote sollten nicht nur in spezialisierten Kliniken verfügbar sein, sondern nicht zuletzt im Strafvollzug. Da die hier vorgeschlagene Lösung nicht nur eine Umorganisation der stationären Versorgung Abhängigkeitskranker mit sich bringt, sondern auch Änderungen der Landesgesetze über den Maßregelvollzug zur Folge hat, sollte eine mehrjährige Übergangsfrist vorgesehen werden.
C. Zur Reform der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) Bei der Sicherungsverwahrung tritt der Konflikt zwischen dem Sicherungszweck der Gefahrenabwehr, der durch eine grundsätzlich unbefristete Unterbringung im Anschluß an eine lange Freiheitsstrafe gewährleistet werden soll, und dem Grundrecht der Freiheit der Person auf der Seite der Verurteilten besonders deutlich hervor. Je nach kriminalpolitischer Konjunktur werden in den letzten 70 Jahren mal die Sicherungsinteressen potentieller Geschädigter, mal der Grundrechtsschutz der untergebrachten Straftäter betont. Ein scheinbarer Ausweg aus diesem Konflikt läge in der immer wieder gestellten Forderung nach der Abschaffung dieser Sanktion, die auf entsprechende Entwicklungen in anderen Rechtsordnungen verweisen kann.30 Doch der Grundkonflikt, wie eine möglichst wirksame Sicherung vor weiteren schweren Delikten verurteilter Täter in rechtsstaatlich akzeptabler Weise erreicht werden kann, wird damit nicht gelöst. Das Hinwegdenken der Sicherungsverwahrung bleibt ein folgenloses Gedankenspiel, wenn man sich nicht klar macht, daß diese Sanktion Fallgruppen erfaßt, für die sonst andere stark sicherungsorientierte Sanktionen bereitgestellt würden. Öffentliche Debatten außerhalb wissenschaftlicher Zusammenhänge lassen erahnen, daß es dabei vermutlich entweder um eine lebenslange Freiheitsstrafe unter Ausschluß jeglicher Entlassungschance oder um die Wiedereinführung der Todesstrafe ginge. Beide Sank30
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Zusammenfassend Kinzig (1996: 588 ff.).
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5. Teil: Ergebnisse und Folgerungen
tionsformen wären verfassungswidrig und kriminalpolitisch indiskutabel. Daher kann es hier nur um eine Fortführung der Argumentation aus den Kapiteln 15 und 18 gehen, in denen versucht wurde, den Anwendungsbereich der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage des geltenden Rechts zu begrenzen. Schon aus der Eingriffsintensität der Sicherungsverwahrung folgt, daß sich ihre Anordnungsvoraussetzungen möglichst deutlich aus dem Gesetzestext ergeben sollten. Ein erster Korrekturvorschlag besteht darin, das inhaltlich beliebige Merkmal „Hang zu erheblichen Straftaten“ aus der Vorschrift des § 66 I Nr. 3 StGB zu streichen. Damit würde das Kriterium der Gefährlichkeit wieder deutlich hervorgehoben31, wobei allerdings auf die irreführende Bezeichnung „Allgemeinheit“ für den Kreis der potentiell von künftigen Delikten Betroffenen verzichtet werden sollte. Wenig überzeugt weiterhin die Einbeziehung erheblicher Straftaten, durch die „schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird“. Wie das Gesetz mit der Höchstfrist von zehn Jahren für die Maßregelvollstreckung in solchen Fällen (§ 67d III StGB) klarstellt, liegen solche Deliktsfolgen nicht auf derselben Ebene mit schweren seelischen oder körperlichen Schäden. Es wäre nur konsequent, Gefährlichkeitsprognosen, die sich auf gewaltlose Vermögensdelikte beschränken, für eine Sicherungsverwahrung von vornherein nicht ausreichen zu lassen. Fragwürdig erscheint schließlich die wegen der Komplexität der einzelnen Voraussetzungen kaum mehr durchschaubare Regelungstechnik, die mehrere, sich überschneidende Unterfälle der Sicherungsverwahrung vorsieht. So betrifft die Vorschrift des § 66 I StGB mit obligatorischer Anordnung der Maßregel bei einer vorsätzlichen Straftat, Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren, zwei Vorverurteilungen zu Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr, Vorverbüßung von mindestens zwei Jahren und Gefährlichkeit weitgehend identische Fallgruppen wie die Vorschrift des § 66 III 1 StGB, nach der die Sicherungsverwahrung auch angeordnet werden kann, wenn ein Verbrechen oder eine sonstige Katalogtat, eine Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren, eine Vorverurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren wegen einer Katalogtat, eine Vorverbüßung von mindestens zwei Jahren und Gefährlichkeit vorliegen. Mit dem Grundsatz der Erforderlichkeit ist es zudem schwer zu vereinbaren, daß diese Maßregel seit dem Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung auch neben einer lebenslangen Freiheitsstrafe verhängt werden kann. Die Gesetzgebung sollte eine eindeutige Entscheidung über die Anordnungsvoraussetzungen treffen und vor allem die 1998 überstürzt eingeführten Alternativen der § 66 III 1 und 2 StGB wieder streichen. Das hätte zur Folge, daß die seit der Strafrechtsreform geltende Fassung der Anordnungsvoraussetzungen insoweit wiederhergestellt würde. Was die Bemessung der Vollstreckungsdauer betrifft, wird die bisherige Höchstfrist in § 67d III StGB bei der Befürchtung bloß wirtschaftlicher Schäden funktionslos, wenn solche Fälle bereits aus dem Anwendungsbereich der Sicherungsverwahrung ausscheiden. Dann stellt sich die Frage, ob eine andere Befristung 31
Ein Formulierungsvorschlag findet sich schon bei Schüler-Springorum (1989: 154).
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angebracht ist. Diese Frage ist aus demselben Grund zu bejahen wie bei der Vollstreckung lebenslanger Freiheitsstrafen und der Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug. Auch für Verurteilte im Vollzug der Sicherungsverwahrung folgt aus den Grundrechten der Art. 2 II 2, 1 I GG, daß auf lange Sicht eine realistische Chance der Entlassung in die Freiheit bestehen muß. Diese Chance wird zunächst durch die Pflicht der Strafvollstreckungskammer zur regelmäßigen Überprüfung der Fortdauer des Aufenthalts im Maßregelvollzug gewahrt. Allerdings ist nicht einzusehen, weshalb diese Überprüfung vom Gesetz nur alle zwei Jahre vorgesehen ist (§ 67e II StGB). Es erscheint angemessen, wie bei der psychiatrischen Unterbringung eine mindestens jährliche Überprüfung festzulegen. Solche regelmäßigen Überprüfungen dürfen aber nicht als Routineangelegenheit behandelt werden. Dies kann verhindert oder zumindest erschwert werden, wenn auch für die Sicherungsverwahrung eine nur unter besonderen Voraussetzungen und bei Einhaltung besonderer verfahrensrechtlicher Vorkehrungen überschreitbare Höchstfrist vorgesehen wird. Auch insoweit könnte die bereits für die Unterbringung nach § 63 StGB vorgeschlagene Lösung übernommen werden.32 In den letzten Jahren sind mehrfach Entwürfe eines Bundesgesetzes vorgelegt worden, das eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung ermöglichen sollte. Diese Diskussion führte im Sommer 2002 zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB). Bereits einige Monate früher sind mehrere Bundesländer zu Landesgesetzen übergegangen, die als spezielle Polizeigesetze angesehen werden. Neben dem in Baden-Württemberg geltenden Straftäter-Unterbringungsgesetz33 und den an dieses Vorbild angelehnten Gesetzen in Bayern und Sachsen-Anhalt sind ähnliche Gesetzgebungspläne aus weiteren Ländern bekannt geworden; ob diese nach der Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung in das Bundesrecht weiter verfolgt werden, ist derzeit nicht abzusehen. Eine nachträgliche Unterbringung wegen der Befürchtung schwerer Straftaten kann von vornherein nur dann in Betracht kommen, wenn das erkennende Gericht keinen Anlaß gesehen hat, eine solche Maßregel zu verhängen. Sie kann wegen der Rechtskraftwirkung des Urteils und des Verbots der mehrfachen Bestrafung (Art. 103 III GG) allenfalls auf eine Gefährlichkeitsprognose gestützt werden, die sich auf das Verhalten während des Aufenthalts im Strafvollzug konzentriert. Deshalb wäre eine solche Prognose von vornherein wenig aussagekräftig für künftiges Verhalten in Freiheit; sie verstieße gegen elementare methodologische Anforderungen, die an Gefährlichkeitsprognosen zu stellen sind.34 32 Es ist daran zu erinnern, daß bereits § 60 III der Regierungsvorlage von 1927 für die Sicherungsverwahrung wie für die psychiatrische Unterbringung eine verlängerbare Höchstfrist von drei Jahren festlegte; siehe den Nachdruck bei Schubert (1997: 480). 33 Gesetz über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter (StrUBG) vom 14. März 2001 (GBl. 188). 34 Siehe die Ausführungen in Kapitel 11 B. (S. 192 ff.).
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Die mit § 66a StGB eingeführte Vorbehaltslösung versucht solchen Bedenken entgegen zu kommen, indem die Anordnungsentscheidung für Fälle zweifelhafter Gefährlichkeitsprognosen auf einen Zeitpunkt gegen Ende der Strafverbüßung verschoben wird. Daß Gefährlichkeitsprognosen zweifelhaft sind, liegt aber geradezu im Wesen solcher Prognosen. Die Gerichte werden deshalb möglicherweise dazu tendieren, in die vorbehaltene Sicherungsverwahrung auszuweichen, um einige Jahre Zeit zu gewinnen und dann aufgrund einer vermeintlich breiteren Prognosegrundlage erneut zu entscheiden. Das ist auch aus verfassungsrechtlicher Sicht hinzunehmen, weil dann – anders als bei der schon bisher vorgesehenen Überprüfung im Vollstreckungsverfahren nach § 67c I StGB – eine neue Hauptverhandlung über die Sicherungsverwahrung stattfindet (§ 275a StPO). Eine nachträgliche Sicherungsverwahrung nach Landesrecht ist dagegen mit der Systematik des Polizeirechts kaum zu vereinbaren. Das Polizeirecht hat den Regelungsgegenstand der Unterbringung verurteilter Straftäter an das Kriminalrecht abgegeben. Diese Zuordnung, die schon aus Gründen des Sachzusammenhangs sinnvoll erscheint, sollte nicht teilweise rückgängig gemacht werden, um auf einem Umweg eine Verschärfung des Kriminalrechts zu erreichen. Das Kriminalrecht stellt für die Verhinderung weiterer Delikte nach voller Verbüßung einer längeren Freiheitsstrafe die Maßregel der Führungsaufsicht bereit (§ 68 f I StGB). Dabei muß es sein Bewenden haben. Und nach der Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) besteht erst recht kein Bedürfnis für flankierende polizeirechtliche Landesgesetze.
D. Schlußbemerkung Im Ergebnis läßt dieser kriminalpolitische Ausblick die Umrisse eines Kriminalrechts erkennen, das nur noch zwei freiheitsentziehende Maßregeln mit strengen Anordnungsvoraussetzungen und flexibler Begrenzung der Vollstreckungsdauer vorsieht. Zugleich wird damit eine indirekte Antwort auf die Frage nach der Haltbarkeit von Sanktionsformen gegeben, die auf eine lange Tradition zurückblicken und vor mehr als hundert Jahren erstmals in einem Gesetzentwurf gefaßt worden sind. Das Maßregelrecht taugt als ausschließlich individualpräventive Ergänzung der Strafe auch für das 21. Jahrhundert.
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Sachverzeichnis Abschaffung 104, 188, 206, 397, 404 Alkohol und Kriminalität 282 Anlaßtaten 132 – 133, 215, 339, 391, 398 Arbeitshaus 25, 28, 61, 77 – 79, 81 – 85, 96, 98, 104, 106, 109, 113 – 114, 116, 119, 121, 125, 261 Aussichtslosigkeit 203, 280, 344, 350, 364, 369 – 370
Erheblichkeit 11 – 12, 22 – 23, 132 – 133, 215, 217 – 220, 222 – 226, 252 – 256, 258 – 259, 268 – 269, 292 – 295, 306 – 308, 310, 329 – 330, 338, 363, 391 – 392 Erwerbsdetention 27 – 28, 30 Etikettenschwindel 19, 25, 106, 206
Bagatellprinzip 222 Befristung 115, 353, 358, 370, 372, 394, 398 – 400, 402, 406 Bekämpfungstheorie 68 Berufsverbot 83, 90, 110, 131 – 134, 147, 202, 383 Besserung 11, 17, 22, 28 – 31, 34, 37, 44, 54, 57, 59 – 60, 62, 70, 76 – 77, 82 – 85, 87, 89 – 90, 94 – 95, 108, 111, 114, 122, 126, 129, 147, 165, 167 – 169, 172, 175 – 176, 178, 180 – 181, 199 – 205, 207, 209, 265 – 266, 296, 350, 387 Besserungsdetention 28 – 31 Betreuung 339, 351, 353, 367, 384, 395 Bundesverfassungsgericht 20, 116, 118, 191, 203 – 204, 206, 234, 265, 268, 334 – 338, 340 – 344, 353 – 358, 362 – 364, 366, 371, 374, 376 – 377, 380, 385, 393, 395, 398, 403
gefährliche Irre 45, 49 Gefährlichkeitsdelikte 141 – 142, 157 Gefährlichkeitsprognose 133, 155, 174, 181 – 185, 187 – 188, 194 – 195, 197, 200, 215 – 217, 219 – 220, 225 – 227, 242, 253, 256, 258 – 259, 268, 270, 292 – 295, 304 – 306, 308, 310, 329, 331, 337, 339, 357, 388, 390-391, 393, 397, 399, 405 – 407 Gemeingefährlichkeit 52, 63, 71, 76 – 77, 82 Generalprävention 164, 201 geschlossene Institution 367 geschlossene Institutionen 242, 245 Gewohnheitsverbrecher 8, 18, 22, 26 – 27, 54, 57 – 58, 60, 64, 74, 77, 82 – 83, 88 – 90, 92 – 100, 102, 105, 107 – 108, 117, 119, 121, 123 – 125, 170, 174, 200 – 201 Große Strafrechtskommission 107, 114
Défense sociale 110, 112 – 113 Deliktsgruppen 228, 234, 245, 253, 255, 271, 289, 292, 310, 312, 319 – 320, 323, 334, 391 Drogen und Kriminalität 286 Entmannung 8, 89-92, 98, 102, 104 – 105, 119, 121, 124 – 125 Entziehung der Fahrerlaubnis 107, 110, 114, 131 – 134, 179, 197, 202
fahrlässige Delikte 225, 255
Hang 41, 108 – 109, 117, 130, 146, 203, 260, 262 – 264, 266, 301 – 304, 332 – 333, 350, 365, 379, 392, 405 IKV 25, 57 – 60, 62, 72, 86 – 87, 169 – 170, 173 Intensivtäter 316, 333 Irrenhäuser 44, 47, 123 Irrenrecht 51, 123, 349 Kohortenstudie 247, 251 konkrete Gefährdungsdelikte 139 – 142
Sachverzeichnis Konkurrenz von Maßregeln 349, 351, 380 Kriminalrecht 17 – 18, 21 – 22, 31, 110, 112, 124, 126 – 127, 129 – 130, 137, 140, 148, 164 – 165, 167, 171, 173, 176, 188, 197, 213, 222, 264, 375, 407 Krise des Maßregelrechts 19 Kriterienreduktion 195 – 196 Kumulation von Maßregel und Strafe 85 Landesgesetze über psychisch Kranke 351, 393 – 394 Landstreicher 29, 34, 52, 61 – 62, 73, 76, 79, 82, 167 Maßnahme 28, 32 – 33, 37, 43, 46, 59, 63 – 64, 72 – 78, 81 – 82, 88, 91 – 92, 99, 101, 104, 110 – 113, 119 – 120, 123 – 124, 127, 174 Maßregeltheorie 21, 164, 166, 181 Meta-Analyse 235, 239, 250, 284, 288, 290, 325 – 326, 328 mittlere Kriminalität 218 – 219, 309 nachträgliche 148, 407
Sicherungsverwahrung 20,
Polizeiaufsicht 36, 77 – 78, 167, 373, 383 Polizeirecht 138, 147 – 148, 150 – 152, 158 – 161, 165, 407 Polizeygewalt 36 – 37, 43 Präventionstheorie 39, 41 – 42, 122 Risiko 138, 142, 148, 150, 153 – 155, 157, 159 – 160, 180 – 181, 192 – 193, 196, 223, 243, 245 – 247, 259, 286, 318 Rückfall 148, 166, 175, 178, 180, 182 – 183, 185, 187, 192 – 193, 203, 235 – 237,
463
239 – 240, 265, 278 – 280, 316 – 318, 320 – 322, 324 – 328, 363, 392 schadensbezogene Aspekte 220, 253 Schuldprinzip 17, 108 – 109, 112, 116, 127, 143, 163, 172, 211, 333, 343, 397 Schutzstrafe 60, 63 Sicherungszweck 36, 96, 173, 204, 223, 293, 404 Sozialtherapie 115 – 117, 148, 240, 383 Sterilisation 89 – 93, 99 Todesstrafe 35, 55, 66, 86, 91, 93 – 94, 102, 107, 120, 125, 404 Unterlassungsdelikte 220, 223 – 225, 310 Verdachtsstrafe 33 – 34 Vergeltung 32, 63 – 66, 68 – 69, 71, 74 – 75, 77, 81, 106, 110, 123, 164 versuchte Delikte 225, 271, 358 – 359 Vikariierung 84, 117 Vollstreckung 37, 42, 81, 84, 96, 143, 162, 170, 175, 181 – 182, 191, 199, 203, 208, 224, 227, 234 – 236, 334, 337, 339 – 343, 348, 354, 356 – 357, 364 – 365, 369 – 370, 372, 374, 376 – 377, 384, 387, 393 – 395, 399, 402, 404, 406 – 407 Zurückstellung der Strafvollstreckung 363, 369 Zuständigkeit 36, 44, 46, 63, 74, 84, 92, 149 – 150, 156 – 157, 165, 349, 352, 387, 397 Zweispurigkeit 162, 375, 381