Gebt mir einen Balkon und das Land ist mein': Politische Führung in Lateinamerika 9783964569929


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Gebt mir einen Balkon und das Land ist mein': Politische Führung in Lateinamerika
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Wilhelm Hofmeister (Hrsg.) Politische Führung in Lateinamerika

Wilhelm Hofmeister (Hrsg.) .Gebt mir einen Balkon und das Land ist mein"

Politische Führung in Lateinamerika

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main • 2002

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme „Gebt mir einen Balkon und das Land ist mein" : Politische Führung in Lateinamerika / Wilhelm Hofmeister (Hrsg.). Frankfurt am Main : Vervuert, 2002 ISBN 3-89354-036-9 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2002 Alle Rechte vorbehalten Übersetzung aus dem Spanischen: Frank Schleper Umschlaggestaltung: Claudia Mendes, Joachim Grau Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Inhalt Einführung Wilhelm Hofmeister

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Politische Führung und politische Elite in Mexiko: von der autoritären Herrschaft zur demokratischen Wende Rogelio Hernández Rodríguez

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Politische Führung in Guatemala: Neuaufbau und Neudefinition Dinorah Azpuru

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Politische Führung im Wandel: der Fall Venezuela Luis Gómez Calcano

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Politische Parteien und Klientelismus in Ecuador Simón Pachano

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Politische Führung in Peru: ein Lehrstück Fernando Tuesta Soldevilla

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Paraguay: politische Führung in Krisenzeiten

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Benjamín Fernández Bogado

Demokratie und politische Führung in Bolivien René Antonio Mayorga

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Präsidenten, Parteien und politische Führung in Argentinien: von der Regierung der Parteien zur kompetitiven Regierung (1983-2000) Carla Carrizo

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Wie wird Brasilien regiert? Die Debatte um politische Institutionen und Regierungsführung in Brasilien Vicente Palermo

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Autoren

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Einleitung

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Wilhelm Hofmeister Einführung „Der Weise soll fuhren und herrschen und die Unwissenden sollen ihm folgen." Fragen nach dem wer und wie politischer Führung sind so alt wie die Beschäftigung mit Politik überhaupt. Der griechische Philosoph Piaton hat die Frage, wer soll regieren, mit der eingangs zitierten Antwort beschieden. Ihm schwebte ein Philosophenkönigtum vor, das seine Legitimität und Akzeptanz durch die Anerkennung der Weisheit des Herrschers seitens der Beherrschten bezog. Doch schon in der Antike hat diese simple Form politischer Führung nicht funktioniert. Politische Herrschaft durch Charisma oder Tradition kann zwar legitim sein, wie der Soziologe Max Weber viele Jahrhunderte nach Piaton feststellte, doch in den modernen Demokratien der Gegenwart, in denen die Herrschaft vom souveränen Volk ausgeht, wird das nicht mehr akzeptiert. Gleichwohl stellt sich auch in den Demokratien der Neuzeit die Frage nach dem wer und wie politischer Führung stets aufs Neue. Die Frage berührt zentrale demokrati^theoretische und demokratie/waMscAe Aspekte, denn es geht dabei sowohl um die Legitimierung, d.h. die Grundlage politischer Herrschaft als auch um die Möglichkeit des Regierens in modernen komplexen Gesellschaften. Nicht zuletzt als Reaktion auf das Globalisierungsphänomen der letzten Jahre und die in diesem Zusammenhang entstandene Debatte über die Rolle des Nationalstaates stellt sich sowohl die Frage nach der Demokratie, als auch die nach der politischen Führung aufs Neue. Dabei dürfte klar sein, dass trotz oder gerade wegen der Globalisierung Joseph Schumpeters Wort von der für die Demokratie „lebenswichigen Tatsache der Führung" nichts an Aktualität eingebüßt hat. Demokratien brauchen politische Führung. Die Frage ist, wie Führung ausgeübt wird und welchem Zweck sie dient. Gerade in Zeiten tiefgreifender politischer Transformationen ist das sehr aktuell. „Politische Führung" bezieht sich sowohl auf den politischen Führunganspruch des jeweiligen Amtes als auch die Fähigkeit zur Durchsetzung politischer Ideen und Programme. Es geht dabei um formelle und informelle Bedingungen des Regierens, d.h. die Bandbreite, innerhalb derer politi-

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Wilhelm Hofmeister

sehe Entscheidungen von mehr oder weniger formellem Charakter eingeordnet werden. Dabei ist klar, dass die Form der politischen Führung maßgeblich von der jewieligen Person des politischen Führers abhängt Ein Führer ist, wie Rogelio Hernández in seinem Beitrag einleitend bemerkt, eine Person, die sich in einer bestimmten Umgebung hervorhebt und das Verhalten anderer beeinflusst. Ein Führer verfügt über individuelle Eigenschaften, besondere Fähigkeiten, Erfahrung, Ausbildung, Kenntnisse und auch Charisma, die bewirken, dass er anderen gegenüber überlegen ist. Allerdings genügt es nicht, dass eine Person über solche Eigenschaften verfugt, um zu einem Führer zu werden. Wichtig ist daneben auch ein soziales Umfeld, das den Platz für den Auftritt eines Führers anbietet oder sogar den Ruf nach einem Führer erhebt. Der Bedarf nach einem Führer besteht somit aus einem bestimmten kollektiven, von den Umständen abhängigen Interesse. Aus diesem Grund können nicht alle Personen zu Führern werden, selbst wenn sie herausragende Eigenschaften in vielen verschiedenen Bereichen aufweisen. Die Entstehung eines Führers ist von Strukturellen Bedingungen abhängig: eine Gruppe, das kann auch eine Partei oder ein Teil einer Gesellschaft sein, teilt gemeinsame Interessen, Vorstellungen und Ziele und ist der Meinung, dass eines ihrer Mitglieder aufgrund seiner spezifischen Fähigkeiten den Rest der Gruppe, der Partei, ja der Gesellschaft zum gemeinsamen Ziel fuhren kann. Dieser strukturelle Aspekt sollte besonders beachtet werden. Denn er macht deutlich, warum der Führungsanspruch einer Person, die über „Führungsqualitäten" verfugt, zu einem bestimmten Zeitpunkt abgelehnt, zu einem anderen Zeitpunkt aber akzeptiert wird, eine Person sogar als Führer „gerufen" wird, ohne dass sich ihre „Führungsqualitäten" sonderlich geändert hätten. Führer entstehen aus den Umständen. Führer üben Herrschaft und Macht aus. In den modernen Demokratien ist die Ausübung von Herrschaft und Macht Regeln und Grenzen unterworfen. Zwar kennen auch die demokratischen Systeme Führer (und nach der eingangs zitierten Überzeugung Schumpeters werden Führer auch in Demokratien gebraucht); doch in den demokratischen Systemen müssen Führer bei der Ausübung von Herrschaft und Macht die Regelwerke des demokratischen Staates beachten, gegen die sie nicht Verstössen dürfen. Je schwächer der Staat und seine Institutionen sind, desto eher können Führer aus

Einleitung

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dem demokratischen Regelwerk ausbrechen und in ihrem Verhalten und in ihren Handlungen dagegen verstoßen. Besonders Junge" Demokratien, in denen das Regelwerk des demokratischen Staates und die demokratischen Institutionen noch nicht sehr stark gefestigt sind, Staaten, die politische oder wirtschaftliche Transformationsprozesse zu bewältigen haben, oder Staaten, die Krisen erleben und in denen die staatlichen und politischen Regeln und Institutionen geschwächt sind, erweisen sich als besonders anfällig für das Auftreten von Führern, die sich über die schwachen Regeln und Institutionen hinwegsetzen und ihre „eigenen" Regeln und Institutionen kreieren. So manche Führer nutzen die Verfahren der Demokratie, um eine Machtposition zu erreichen, von der aus sie dann anschließend - teils bewusst und gewollt, manchmal aber auch unbewusst und ungewollt - die Grundlagen der Demokratie zerstören. *

In verschiedenen Ländern Lateinamerikas ist in den letzten Jahren wieder häufiger das Auftreten populistischer Führerpersönlichkeiten mit antidemokratischen und gegen das System gerichteten Tendenzen zu beobachten. Die Frage nach dem wer und wie der politischen Führung ist plötzlich wieder aktuell geworden. Mehrfach traten politische Führer auf den Plan, die an die Macht gelangten, indem sie die demokratischen Spielregeln zwar ausnutzten, diese dann aber missachteten und die politischen Institutionen der Demokratie, wenn nicht offen bekämpften, so doch dauerhaft schädigten und damit eine Aushölung und Schwächung der Demokratie insgesamt bewirkten. Aufstieg und Fall des Alberto Fujimori in Peru (der prominenteste Exponent dieses neuen Führertums) haben einmal mehr bewiesen, dass Charisma und Populismus und dass politische Führer funktionierende demokratische Institutonen und Verfahren nicht ersetzen können. Dabei sei hier jedoch gleichzeitig ebenfalls betont, dass in vielen Ländern Lateinamerikas zivile politische Führung und politische Führer in den vergangenen Jahrzehnten ein entscheidender Faktor für den Fortschritt der Demokratie gewesen sind. Freilich müssen es nicht immer so spektakuläre Fälle wie der des ExPräsidenten aus Peru oder neuerdings auch des venezolanischen Präsidenten Hugo Chävez sein, die mit viel Charisma und Populismus, aber einem zumindest unbekümmerten Umgang mit den Institutionen und Verfahren

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der repräsentativen Demokratie zu deren Schwächung beitragen. Der vorliegenden Band spricht auch weniger spektakuläre Fälle an. In den hier versammelten Beiträgen setzen sich Autoren aus Lateinamerika mit den Fragen von politischer Führung in ihren Ländern auseinander.1 Sie tun dies aus unterschiedlicher Perspektive und unterschiedlichen Ansätzen bzw. Analyseschwerpunkten. Dennoch spürt man bei den meisten Autoren die Enttäuschung über so manche Entwicklungen und die Hoffnung, dass diejenigen, die politische Verantwortung tragen, endlich aus der Vergangenheit lernen mögen und sich um eine Stärkung der demokratischen Institutionen bemühen - und das meint nicht zuletzt die demokratischen Parteien. Rogelio Hernández analysiert das Phänomen der politischen Führung in Mexiko. Nachdem dort die politische Herrschaft im Rahmen der „instutionalisierten Revolution" ebenfalls institutionalisiert war, gab es seiner Meinung nach jahrzehntelang weniger politische „Führer" als vielmehr eine Art von „leitenden Beamten" an der Spitze des Staates, die nach eingefahrenen Regeln regierten. Erst neuerdings hat sich ein Raum für politische „Führer" geöffnet, der zur Zeit maßgeblich von Präsident Vicente Fox besetzt wird. Dessen Führertum erweise sich als volkommen „uninstitutionell"; denn Fox fühle keine Verpflichtung, sich irgendwelchen Institutionen oder Gewalten gegenüber zu verantworten. In Guatemala machte nach der Meinung von Dinorah Azparzu die Krise von 1993 deutlich, wie groß der Mangel an politischen Führerfiguren wirklich war, die auf Unterstützung seitens der Bevölkerung bauen können und in der Lage sind, den Übergang zur Demokratie und ihre Konsolidierung zu bewältigen. Ein zentrales Problem hier, wie in den meisten anderen Ländern der Region, ist die eingeschränkte Repräsentationsfähigkeit der Parteien, wobei in Guatemala erschwerend hinzukommt, dass aufgrund des langjährigen Bürgerkrieges viele potentielle Fiehrer getötet wurden und heute beim Aufbau der Demokratie fehlen. Zudem zeigt sich an diesem Beispiel, dass ein großer Teil der Bevölkerung angesichts mangelnder oder schlechter Erfahrung mit Demokratie eine autoritäre Grundeinstellung bewahrt und sehr offen ist für eine Führung mit autoritären Zügen.

Der vorliegende Band geht zurück auf ein internationals Seminar der KonradAdenauer-Stiftung über „Politische Führung in Lateinamerika" im Dezember 2000 in Säo Paulo. Die einzelnen Beiträge des Bandes wurden Mitte 2001 abgeschlossen und danach übersetzt.

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Venezuela dagegen galt jahrzehntelang als eine lateinamerikanische Musterdemokratie. Luis Gómez zeigt allerdings eine Gemeinsamkeit mit den Prozessen anderer Länder: der Aufstieg neuer personalisierter und charismatischer Führerfiguren geht auch hier einher mit dem Glaubwürdigkeitsverlust der Parteien und anderer formeller Organisationen. Dabei ist die Schwäche der Parteien jedoch kein Phänomen der jüngsten Zeit. Sie ist vielmehr Folge eines in den sechziger Jahren entstandenen Systems, das mangelnde Repräsentanz und die Unfähigkeit zur Erneuerung durch den Ausbau von Klientelbeziehungen kaschieren konnte. Mit zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten wurde dem Klientelismus und damit auch den traditionellen Parteien der Boden entzogen, und der politische Raum war frei für den Auftritt eines neuen Führers. Die Dauerhaftigkeit der Klientelbeziehungen ist für Simón Pachano eine der wesentlichen Ursachen der Schwäche der Parteien und damit auch der Schwäche der Demokratie in Ecuador. Die Parteien des Landes haben es nicht vermocht, den traditionellen Klientelismus zu überwinden. Statt dessen haben sie sich immer wieder den äußeren Bedingungen angepasst, anstatt sich den Problemen entgegen zu stellen. Sie sind daher unfähig, einen Großteil ihrer grundlegenden Funktionen zu erfüllen. Für das demokratische System aber hat das fatale Auswirkungen. Das „typische" Beispiel für einen „modernen" politischen Führer, der unter Ausnutzung schwacher demokratischer Institutionen und Verfahren an die Macht gelangt und dann die Demokratie weiter ausholt und zerstört ist Alberto Fujimori in Peru. Sein Aufstieg und Fall wird von Fernando Tuesta Soldevilla nachgezeichnet, der nicht nur die Schwäche der politischen Institutionen beschreibt, die den Aufstieg von Fujimori erst ermöglichte, sondern auch dessen Strategie, die Normen des politischen Zusammenlebens von den Institutionen unabhängiger zu machen und die Erwartungen des Volkes an seine Person zu binden. Wie schwierig es ist, repräsentative Demokratie in einem Land zu errichten, das praktisch keine demokratische Tradition kennt, beschreib Benjamin Fernández Bogado am Fall von Paraguay. Auch an diesem Beispiel wird einmal mehr die Schwäche der politischen Institutionen deutlich, die Führerfiguren traditionellen Zuschnitts viel Spielraum bietet. Zugleich zeigt dieser Fall einen weiteren Aspekt, der natürlich ebenso für andere Länder

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gilt: den Zusammenhang zwischen Armut und der Verführbarkeit der Menschen durch politische Führer. Eine komplexe soziale Situation muss aber noch keinesfalls bedeuten, dass sich demokratische Verfahren nicht stabilisieren und dass politische Führer nicht hinzulernen können. In Bolivien ist es vielmehr trotz der gravierenden sozialen Probleme gelungen, die Demokratie seit Mitte der achtziger Jahre zu konsolidieren. Wesentlich dafür war die Fähigkleit der politischen Führer, politische Abkommen zu schliessen und auch einzuhalten, die eine Regierungsbildung mit parlamentarischer Mehrheit erlauben. René Mayorga analysiert die Grundmuster des bolivianischen Systems, das die Probleme vieler anderer lateinamerikanischer Präsidialsysteme - die Konfrontation zwischen Exekutive und Legislative und ihre Konsequenzen in Form von Stagnation, Lähmung der Institutionen und Regierungsunfahigkeit — offensichtlich überwunden hat. Argentinien erlebt zur Zeit eine schwere Krise, die vor allem eine politische Krise und nicht zuletzt auch eine Krise der politischen Führung ist. Carla Carrizo hat ihren Beitrag zwar vor Ausbruch der aktuellen Krise mit dem raschen Wechsel verschiedener Präsidenten um die Jahreswende 2001/2002 geschrieben, doch ihre Untersuchung der institutionellen Entwicklung Argentiniens im Zeitraum 1983 bis 2000, bei der sie ihr besonderes Augenmerk auf den Zusammenhang zwischen Regierungsführung der verschiedenen Präsidenten und die Entwicklung des Parteiensystems richtet, liefert wichtige analytische Elemente zum Verständnis der aktuellen Vorgänge. Dass politische Führung durchaus zur politischen Stabilität uund Regierbarkeit beitragen kann, analysiert Vicente Palermo am Fall Brasiliens. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, die dem Land eine latente Neigung zur Unregierbarkeit bescheinigt, zeigt er, wie es in den letzten Jahren im Zusammenspielt von Präsident und Parlament möglich war, wichtige Reformen voranzubringen. Palermo korrigiert dabei auch die Meinung, dass die brasilianischen Parteien an Disziplinlosigkeit leiden würden, indem er auf die bedeutende Disziplin verweist, die unter den Parteien im Parlament herrscht. Zudem haben die brasilianischen Präsidenten ihre potentiellen Machtressourcen im Großen und Ganzen nicht genutzt, um sich über die Institution des Parlaments hinwegzusetzen, sondern statt dessen mit den parlamentarischen Fraktionen verhandelt, um Mehrheiten zu erreichen.

Einleitung

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Wer heute in Lateinamerika politische Führung anstrebt, braucht gewiss mehr als einen Balkon. Insofern ist der Titel dieses Sammelbandes eher eine Provokation.2 Gleichwohl zeigen die hier abgedruckten Beiträge im Hinblick auf die Erscheinungsformen politischer Führung eine Reihe problematischer Faktoren, die die Entwicklung von Demokratie belasten. Gemeinsamkeiten der einzelnen Beiträge lassen sich in einigen Punkten zusammenfassen. In Lateinamerika erleben wir seit einigen Jahren das Aufkommen politischer Führer, die sich zwar demoratischer Verfahren und Methoden bedienen, um an die Spitze des Staates zu gelangen; sich davon allerdings absetzen, sobald sie einmal die Schalthebel der politischen Macht erorbert haben. Das bedeutet keineswegs immer ein offener Verstoß oder eine permanente Verletzung demokratischer Verfahren oder Institutionen, aber doch ein eher willkürlicher Umgang mit ihnen. Demokratische Verfahren, wie Referenden, oder Institutionen, wie Parteien, werden benutzt, wenn es opportun und den eigenen Interessen angemessen erscheint; sie werden übergangen oder auch lächerlich gemacht, wenn sie den eigenen Machtinteressen im Wege stehen. Solche Attitüden sind nicht nur Führern mit manifesten oder latenten autokratischen Neigungen wie Alberto Fujimori oder Hugo Chävez zu eigen. Auch Repräsentanten, die dem antidemokratischen Verdacht enthoben sind wie der mexikanische Präsident Vicente Fox weisen im Verlauf ihrer politischen Laufbahn Einstellungen und Verhaltensweisen auf, die ,junge" demokratischen Institutionen und Verfahren zumindest nicht festigen. Von besonderere Bedeutung ist die Schwäche der politischen Parteien. In Lateinamerika hat die Demokratie dort einen schweren Stand, wo keine gefestigten Parteien vorhanden sind, die die Aufgaben der Aggregation und Repräsentation gesellschaftlicher Interessen wahrnehmen, und über Programme verfugen, mit denen sie die gesellschaftlichen Probleme und Herausforderungen bewältigen wollen. Es gilt nun einmal, dass in den moder-

Der Titel bezieht sich auf einen dem mehrmaligen ecuadorianischen Staatspräsidenten José Maria Velasci Ibarra zugeschriebenen Ausspruch; vgl. Manfred Mols: Demokratie in Lateinamerika. Stuttgart et al. 1985, S. 130.

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nen Massengesellschaften Demokratie ohne funktionsfähige Parteien nicht funktionieren kann. Man muss es immer wieder betonen. Und entsprechend ist die Schwäche der Parteien ein zentraler Faktor, der das Auftreten populistischer und/oder undemokratischer Führer begünstigt. Wo die Parteien als Repräsentationsorgane versagen, wird noch immer die Zuflucht im Klientelismus gesucht. Dieser Weg aber fuhrt in eine Sackgasse der Demokratie, weil Klientelbeziehungen ja gerade nicht die demokratische Repräsentation sondern den Personalismus und damit wieder das Erstarken einzelner Führer, die sich über die Spielregeln der repräsentativen Demokratie hinwegsetzen, begünstigen. Angesichts der Schwäche der Parteien haben „Unabhängige" in den vergangenen Jahren viel politischen Raum erobert. Problematisch ist dabei, dass sie zwar die „traditionellen" oder „herkömmlichen" Institutionen politischer Repräsentation ablehnen, verspotten oder sich darüber hinwegsetzen. Selbst sind sie jedoch nicht in der Lage, tragfähige neue politsche Institutionen zu begründen. Da sie sich ja gerade von den Parteien abheben wollen und ihr politischer Diskurs mehr von Gemeinplätzen als tiefergehenden weltanschaulichen oder programmatischen Überlegungen geprägt ist, sind ihre Versuche zur Gründung neuer Parteien und Bewegungen in der Regel zum Scheitern verurteilt. Für die Entwicklung der demokratischen Infrastruktur eines Landes wirft das schwerwiegende Probleme auf. Die unbestreitbare Schwäche dieser demokratischen Infrastruktur drückt sich nirgends so deutlich aus wie in der Tasache, dass seit der neuen Demokratiewelle ab Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika bereits mehr als ein Duzent Präsidenten vorzeitig, d.h. vor Ablauf ihrer gewählten Mandatszeit, ihr Amt verloren haben. Gerade weil darunter ertliche sind, die sich über die herkömmlichen politischen Institutionen hinwegsetzten, zeigt sich: Politische Führer können politische Instituionen nicht ersetzen. Auch das politische Engagement von Unternehmern und Geschäftsführern und ihre Ernennung in politische Amter, wie es in mehreren Ländern zu beobachten ist, sind kein Ersatz für die demokratischen Institutionen. So begrüssenswert politisches Engagement an sich ist, der Glauben, dass „technische" Denk- und Vorgehensweisen ausreichen, um politischen Phä-

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nomenen zu begegnen und politische Probleme zu lösen, fordert eher autoritäre als demokratische und partizipative Neigungen. Letztlich zeigt sich auch in Lateinamerika immer wieder, dass die Stabilität und Kontinuität der demokratischen Prozesse nicht von einzelnen Führerpersönlichkeiten, sondern von der Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen und Verfahren abhängt. Es bleibt daher eine dauerhafte Aufgabe, bei den derzeitigen und zukünftigen Bürgern der Länder durch Bildungsmaßnahmen ein demokratisches Bewusstsein zu schaffen; denn nur so ist es möglicht, dass die Demokratie in der Zukunft von demokratischen politischen Führern gestärkt wird. Politische Bildung ist eine zentrale Aufgabe der Konrad-Adenauer-Stiftung, die die Debatte über politische Führung in Lateinamerika und ihre Konsequenzen mit der Herausgabe dieses Bandes fordert.

Mexiko

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Rogelio Hernández Rodríguez Politische Führung und politische Elite in Mexiko: von der autoritären Herrschaft zur demokratischen Wende Versuch einer annähernden Definition Führung ist innerhalb der Soziologie und der Politologie einer der am schwierigsten zu handhabenden Begriffe, da es sich hier in erster Linie um ein deskriptives Konzept handelt, das sehr gerne für Phänomene sowohl der politischen Führung als auch der Leitung von Betrieben und der öffentlichen Verwaltung und sogar auch der Kultur verwandt wird. Wenn es darum geht, eine besondere Art der Leitung oder eine Person - fast immer geht es um Einzelpersonen — besonders hervortreten zu lassen, dann ist der Begriff der Führung angemessen. Problematisch wird es jedoch, wenn mit dem Konzept gleichzeitig kollektive Verhaltensweisen über mehr oder weniger lange Zeiträume der Geschichte hinweg beschrieben und erklärt werden sollen. In diesem Fall wird Führung meist auf pragmatische Weise definiert, um sehr spezifische Fälle ohne den Anspruch einer theoretischen Verallgemeinerung zu erklären. Aber auch dann wird Führung mit Inhalt versehen, die anderen Konzepten und Begriffen eigen sind, welche einen höheren Grad an soziologischer Akzeptanz genießen; zudem ist zwischen individuellen Ansätzen (Führungspersönlichkeit) und kollektiven (Führungsgruppe, -elite) deutlich zu unterscheiden. Auch wenn nun mit diesem Beitrag keine konzeptionelle Definition zur Lösung des Problems erstellt werden soll (ein Problem, das sich durch die Entwicklung der klassischen Soziologie über das ganze 20. Jahrhundert hinweg zieht), ist es dennoch notwendig, zunächst eine annähernde praktische Beschreibung voranzustellen, die es erlaubt, das Phänomen der politischen Führung in Mexiko sowohl in der Zeit der autoritären Herrschaft als auch während des politischen Wandels und der späteren Wende zu erklären. Der Begriff der Führung bezieht sich normalerweise auf diejenigen Eigenschaften einer Person, die es ihr ermöglichen, sich aus einer bestimmten Umgebung hervorzuheben und, was besonders wichtig ist, das Verhalten anderer zu beeinflussen. Diese gängige Sichtweise basiert auf individuellen

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Rogelio Hernández Rodríguez

Eigenschaften, wie Fähigkeiten, Erfahrung, Ausbildung, Kenntnisse und auch Charisma. Es handelt sich hierbei um die simpelste Interpretation des Begriffs, die Führung als eine Eigenschaft von Individuen versteht, welche unabhängig von ihrem sozialen Umfeld aus dem einfachen Grund aus der Menge hervorragen, dass sie anderen gegenüber überlegen sind. Aber wie schon die frühesten Kritiker dieser Interpretation zeigten, hat sie nur beschreibenden Charakter und differenziert auch nicht deutlich zwischen verschiedenen Formen der Führung. Im gewissem Sinne ähnelt diese Erklärung den früheren Studien, die Eliten als Gesamtheit herausragender Individuen innerhalb einer Gesellschaft definierten (Pareto 1967 und 1987 sowie, wenn auch in geringerem Maße, Mosca 1984). Für die Soziologie jedoch ist Führung nicht nur als eine persönliche Eigenschaft, sondern als ein Rollenverhalten zu verstehen, das mit konkreten gesellschaftlichen Situationen oder Konstellationen verbunden ist. Die Führungsperson ist Folge der Interaktion mehrerer Individuen, die aufgrund gemeinsamer Werte, Vorstellungen, Interessen und Absichten zusammenkommen und versuchen, bestimmte Ziele zu erreichen. Die Führungsperson ist dabei das Mitglied der Interessengemeinschaft, das in der Lage ist, die besten Taten und Vorschläge zum Erreichen der Ziele durchzusetzen (Gouldner 1950: 17-18, Gibb 1966: 88). Natürlich existieren die persönlichen Eigenschaften, die das Individuum als ein solches auszeichnen; aber sie reichen für die Entstehung von Führung nicht aus. Genaugenommen entsteht der Bedarf nach einem Führer aus einem bestimmten kollektiven, von den Umständen abhängigen Interesse. Aus diesem Grund können nicht alle Personen zu Führungsfiguren werden, selbst wenn sie herausragende Eigenschaften in vielen verschiedenen Bereichen aufweisen (Gerth 1971: 375). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für die Entstehung einer Führungspersönlichkeit folgende strukturellen Bedingungen unerlässlich sind: eine Gruppe, deren Mitglieder Interessen, Vorstellungen und Ziele teilen, deren Mitgliedschaft freiwillig ist und bei der es notwendig ist, dass eins der Mitglieder aufgrund seiner spezifischen Fähigkeiten den Rest der Gruppe zum Erreichen der gemeinsamen Ziele fuhrt (Gouldner 1950: 18, Gibb 1966: 93). Da die Führungsperson bestimmte Eigenschaften der Mitglieder seiner Gruppe teilt, kann er diese dazu einsetzen, die Anerkennung der anderen zu finden und ihr Verhalten zu beeinflussen. In dieser Hinsicht steht der Begriff der Führung in Verbindung zum Konzept der Autorität und Herrschaft

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bei Weber, denn nach Gouldner (1950: 19-20; Weber 1967) beruht die Anerkennung der Führungsfigur - so wie in Webers Definition von Autorität und legitimer Herrschaft — darauf, dass seine Befehle und Anweisungen einen moralischen und ethischen Deckmantel tragen. Das Individuum, das eine Gruppe oder deren Mitglieder ohne legitime Anerkennung kontrolliert, benötigt dazu den Einsatz von Gewalt, Durchsetzungsvermögen oder gesetzlichen Regelungen. Mit anderen Worten, dieses Individuum ist keine Führungspersönlichkeit, sondern ein Leiter oder formaler Machthaber. Dieser zentrale Aspekt erlaubt die Unterscheidung zwischen Führung und organisierter Verwaltung oder Leitung, und im engeren Sinn auch die zwischen Führung und politischer Elite. Die Soziologie distanziert sich von der Sichtweise der Psychologie, indem sie Führung mit der Gesellschaftsstruktur in Beziehung setzt und auch die Leitungsrolle nicht formeller Gruppen und voll institutionalisierter Organisationen voneinander unterscheidet. Die Soziologie interessiert sich für die leitende Rolle und die Führung, weil diese für Rationalität, Ordnung und Wirksamkeit jeder organisierte Tätigkeit unerlässlich sind. Wenn es auf die Leitung ankommt, vermag die Soziologie die Rolle der Führungsfigur von der Rolle des Leiters oder Verwalters zu trennen (Simon 1962, 1969, March 1963). Schon sehr früh fanden Soziologen heraus, dass Führung, also die durch Überzeugung und Interessengemeinschaft legitimierte Führungsrolle, auf informelle Gruppen begrenzt ist. Sobald sich eine Gruppe institutionalisiert, wird die Leitung nach vorgeschriebenen Regeln und Normen ausgeführt, die das Profil der ausführenden Person maßgeblich beeinflussen (Lasswell 1930). In formellen Organisationen kann es kein Führung geben, denn der Leiter führt lediglich vorprogrammierte oder zumindest vorgeschriebene Aufgaben im Sinne der Organisation aus (Gibb 1966: 94). Die ausgeübte Autorität beruht weder auf seinen persönlichen Fähigkeiten noch auf seiner Verbundenheit mit den Wünschen seiner Anhänger, sondern allein auf einer hierarchischen Struktur, die Prinzipien der Folgsamkeit vorschreibt, welche den Regeln der Verantwortung entsprechen. Am Ende hängt der Aufstieg zum Leiter weder von Loyalitäten noch von persönlichen Eigenschaften ab, sondern vom System der Personalauswahl und der Aufstiegschancen (Gerth 1971: 389). Für Gerth und Mills haben Individualität und spezifische Eigenschaften des Verwalters oder Leiters keine Bedeutung, da er vom Profil der Organisati-

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on konditioniert ist und folglich auch von deren Eintrittsmodalitäten. Es zählen allein die Richtlinien der Personalauswahl und der Ämtervergabe. Dies fuhrt zum Studium der politischen Elite und dabei ist die Gesamtheit derer, die dazugehören wichtiger als die einzelnen Personen, welche infolge des politischen Wettbewerbs aufsteigen. In jüngeren Studien wird dieses Problem häufig vereinfachend dadurch gelöst, dass Führung und politische Elite gleichbehandelt werden; damit würden höhere Beamte und Politiker in einem bestimmten System zu Führungsfiguren. Das erscheint einfach, aber in Wirklichkeit werden diese Untersuchungen dadurch verzerrt, denn im engeren Sinn betrachtet die soziologische Literatur die höheren Beamten als politische oder administrative Elite (Bottomore 1967, Lipset 1967).1 Unterschieden werden sollte daher (und hierin besteht der Ausgangspunkt dieses Aufsatzes) zwischen Führungspersönlichkeiten als denen, die Verhaltensmuster bestimmen, und der Elite als die Gruppe von Personen, die auf hoher Ebene spezifische vorbestimmte Funktionen ausführen. Die Analysen von Elite und Führung müssen nicht unbedingt getrennt voneinander oder einander gegenüber gestellt stattfinden. Ganz im Gegenteil handelt es sich, methodisch betrachtet, bei den zwei Begriffen um Etappen innerhalb des Entstehungsprozesses von Institutionen. In der ersten Phase der Eroberung der Macht treten häufig sowohl frei entstandene Gruppen als auch Führungsfiguren auf, aber dann wird ihre Tätigkeit immer routinierter und Verhaltensregeln und Vorgehensweisen werden förmlicher und unpersönlicher, bis es schließlich zur Institutionalisierung kommt, mit der die leitende Rolle von einem Verwalter ausgeführt wird. Gerth und Mills nennen diesen Verwalter einen „Routinefuhrer" (1971: 389-390). 2 Das ist jedoch nicht der einzige Moment, in dem Führungsfiguren auftreten können; denn auch in Gesellschaften, die sich in einem Prozess des Wandels befin-

Diese Unterscheidung ermöglicht es zum Beispiel, Beamtenstudiengänge als eigene Formen der Ausbildung in modernen Bürokratien zu untersuchen. Die Literatur zum Thema ist umfangreich, aber als eine ausgezeichnete analytische Einleitung kann Mayntz (1985) herangezogen werden. Im Grunde genommen findet sich die selbe Idee der Bürokratie auch schon bei Weber, der sie als Vorherrschaft der Vernunft und der Erfahrung innerhalb der fortgeschrittenen oder modernen legitimen Herrschaft versteht. Weber warnt vor der Gefahr, die diese Form der Herrschaft darstellt, und fordert eben das Herausbilden von Führungsfiguren, die entsprechend der klassischen Theorie des Liberalismus dem Parlament entspringen würden. Die besten Quellen zu dieser Diskussion sind die Werke von Weber selbst (1981, 1981/82) sowie von Michels (1969).

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den, können sich solche Individuen herausbilden, die die Fähigkeit besitzen, andere zu beeinflussen, zu überzeugen, Verhaltensregeln aufzustellen und Ziele zu stecken. Aus dem bisher Gesagten lassen sich sowohl die enge Verbindung zwischen Führungsfigur und Gesellschaftsstruktur, die der Rolle des Individuums ihre angemessene Dimension verleiht, als auch eine starke wechselseitige Beziehung zwischen Führungsperson und Institutionen ableiten: Im gleichen Maß wie die Institutionen mit der Durchsetzung von Verhaltensregeln Gewissheit schaffen, werden die Führungspersonen durch Leitfiguren ersetzt, deren Amtsausübung von diesen unpersönlichen Regeln abhängt. Aus diesem Grund finden sich Führungspersonen häufiger in Zeiten, in denen sich die Institutionen noch in der Entstehungsphase befinden oder strukturellen Änderungen unterworfen sind, so dass ihre Fähigkeit, Regeln zu bestimmen, schwach oder nicht vorhanden ist und die Möglichkeit zur Entfaltung individueller Fähigkeiten groß ist. Trotz alledem bleibt ein Punkt weiterhin offen. Die Geschichte zeigt, dass die Existenz und das gute Funktionieren von Institutionen das Aufkommen von Führungsfiguren nicht völlig ausschließt. Ganz im Gegenteil lässt sich besonders in demokratischen Systemen oft beobachten, dass herausragende Individuen die politische Führung erobern und dabei die vom System auferlegten Regeln auf genaueste Weise einhalten. Jüngste Beispiele für das Auftreten von Führungspersonen inmitten stabiler politischer Strukuren sind Helmut Kohl, Margaret Thatcher oder François Mitterand. Daraus lässt sich schließen, dass noch eine weitere wichtige Quelle existieren muss, aus der sich die Entstehung von Führung speist. Diese Quelle ist der gleichberechtigte und unkontrollierte politische Wettbewerb zuerst um die Parteiführung und danach um die Macht. Das führt zur Entstehung von Allianzen und Interessengemeinschaften und dazu, dass persönliche Fähigkeiten und Eigenschaften zum Erreichen der gesteckten Ziele herausragen (Schumpeter 1971, Neustadt 1973). Aus dieser knappen Darstellung lässt sich der Analyserahmen ableiten. In Mexiko hat es entsprechend der eingangs vorgestellten Definition nicht viele Führungsfiguren gegeben, abgesehen von den zwanziger und dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als sich das System in seiner Aufbauphase befand, sowie seit den achtziger Jahren, als die grundlegenden Institutionen einem langen und tiefgreifenden Prozess des strukturellen Wandels unter-

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zogen wurden. In den Jahren dazwischen jedoch, als sich das System politischer Stabilität und wirtschaftlichen Wachstums erfreute, übernahmen die Präsidenten der Republik die leitende Rolle, wurden also die „Routineführer" im Sinne von Gerth und Mills oder die Verwalter, wie Gouldner und Lasswell sie nennen. In diesen Jahren der Stabilität der Institutionen spielte keine zur Veränderung fähige Führungspersönlichkeit eine wichtige Rolle, sondern die Gemeinschaft der politischen Elite, aus der fortwährend Leitfiguren hervortraten, die keine individuellen Führungsqualitäten besaßen, aber doch in der Lage waren, die Institutionen des Systems zu leiten. Zwischen Institution und Führung lässt sich eine enge Beziehung beobachten, was — abhängig vom jeweiligen historischen Moment — zur Analyse der politischen Elite führt. Gerth und Mills haben gezeigt, dass sich die Forschung dann, wenn es keine Führung gibt, auf die Amtsvergabe und die Flexibilität innerhalb dieser Elite konzentrieren sollte, um die Eigenschaften der Gruppe von Politikern herauszufinden, aus der die leitenden Persönlichkeiten hervortreten. Dieser ersten Besonderheit müssen noch weitere hinzugefügt werden, die ebenso wichtig sind. Vor den Wahlen im Juli 2000 gab es in Mexiko keinen wirklichen politischen Wettbewerb, der das Entstehen von Führungspersönlichkeiten in den Parteien der Opposition gegenüber der regierenden PRI (Partido Revolucionario Institucional) stimuliert hätte. Das für autoritäre Systeme typische Fehlen von Wettbewerb erklärt, warum unter den Bedingungen der Institutionalisierung keine oppositionellen Führungspersönlichkeiten entstehen konnten. Aufgrund der ausgedehnten Institutionalisierung fehlte damit der wichtigste Faktor, der für das Aufbrechen der bestehenden Organisationen nötig gewesen wäre. Gleichzeitig wird nun das jüngste Phänomen verständlich, dass die früheren Oppositionsparteien zunächst Posten mit Verantwortung und schließlich die Präsidentschaft übernehmen konnten. Wie später gezeigt wird, bestand der Wandel nicht nur in bedeutenden strukturellen Veränderungen, sondern auch in einer Stärkung der Parteien und ihrer Mitglieder, was wiederum zum Heranwachsen von Führungspersönlichkeiten führte, die dazu in der Lage waren, Strategien für die Übernahme der Macht zu entwickeln (Molinar 1991, Gómez Tagle 1990). Eine herausragende Besonderheit der autoritären Herrschaft in Mexiko, auf die schon früh vor allem von Wissenschaftlern aus den USA hingewiesen wurde, war der hohe Grad an Institutionalisierung. Diese bestand nicht nur in der umfassende Routine bei der Wahrnehmung von Aufgaben, sondern

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darüber hinaus in Form eines weitreichenden Netzwerks von staatlichen Einrichtungen, Organisationen und Verfahren, die tief in die Gesellschaft hinein reichten und das Ziel hatten, soziale Proteste zu verhindern und, ganz allgemein, soziale Konflikte zu regulieren (Huntington 1970, Scott 1964, Brandemburg 1964, Padgett 1976, Reyna 1977). Das Zentrum dieses institutionalisierten Netzwerks war immer das Präsidialsystem, eine weitere Besonderheit des mexikanischen Systems. Während frühere Studien dieses System als Folge der Machtzunahme des Präsidenten zum Nachteil der anderen Gewalten, besonders der Legislative (Cosío Villegas 1982, Hansen 1980) erklärten, stellen jüngere Untersuchungen die grosse Bedeutung des Präsidialsystems als das Resultat spezifischer Verfahren dar, insbesondere der Herrschaft der PRI und ihrer schädlichen Gleichschaltung sämtlicher politischer Ämter und Einrichtungen auf allen Ebenen von Bund, Bundesstaaten und Gemeinden (Casar 1996 und 1999, Gil Villegas 1994). Das beeinflusste nicht nur die Institutionen, sondern ist auch für das Phänomen der Führung von grosser Bedeutung, weil deutlich wird, warum das System selbst die Möglichkeit der Entstehung von Führungsfiguren verhinderte. Das Amt des Präsidenten diente gleichzeitig als institutionelles Zentrum und als Leitung der politischen Elite, deren Verhalten und Laufbahnen es direkt beeinflusste. Kein Amt und keine Gewalt richtete sich gegen die Macht des Präsidenten, denn sowohl das Parlament (das im Grunde eine natürliche Quelle der Führung ist) als auch die Exekutivgewalten in den Bundesstaaten und die Partei selbst standen ganz im Dienst der jeweils herrschenden Bundesregierung und besonders des jeweiligen Präsidenten der Republik. So konnten folglich weder in der Opposition noch in der Regierungspartei Führungspersönlichkeiten entstehen. Andererseits entwickelte sich jedoch eine hervorragend ausgebildete politische Elite, aus der Beamte und Politiker hervorgingen, von denen einige zu Parteiführern und nationalen Leitfiguren werden konnten. Da aus jener Elite das Leitungspersonal hervorging, waren die Umstände der Amtsvergabe von besonderer Bedeutung.

Politische Elite ohne Führung Bis in die vierziger Jahre hinein wurde die Politik und die öffentliche Verwaltung von lokalen Führern {caudillos und caciques, von denen viele Füh-

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rungsfiguren im engeren Sinne des Wortes waren) dominiert; deren Macht beruhte auf dem in der noch nicht weit zurückliegenden Revolution erlangten Ruhm oder auf der Kontrolle des örtlichen Militärs, sowie später auf der Kontrolle der Arbeiter- und Bauernorganisationen. Um ein öffentliches Amt zu bekleiden oder eine Machtposition zu besetzen, war keinerlei persönliche Fähigkeit notwendig, nicht einmal für das Amt des Präsidenten (Hernández Chávez 1979, Alvarado 1992, Falcón 1984). Ab der Regierungszeit des Präsidenten Manuel Ávila Camacho (1936-1940) jedoch und besonders unter Miguel Alemán (1946-1952) wurde ein rigoroses System der Amtsvergabe und internen Flexibilität eingeführt, das sich im Wesentlichen durch zwei Eigenschaften auszeichnete: das enge und untrennbare Verhältnis zwischen Verwaltung und Politik und den kontrollierten Aufstieg über eine hierarchische Struktur von Posten, wodurch einerseits die Kompetenzen der Kabinettsanwärter und eventuellen späteren Kandidaten für die Präsidentschaft überprüft wurden und diese anderseits gleichzeitig an Erfahrung gewannen (Smith 1981, Camp 1984, Hernández Rodríguez 1984). Damit verloren persönliche Eigenschaften und gesellschaftliche Herkunft für Erfolgspolitiker an Bedeutung. Politik wurde zu einer beruflichen Tätigkeit wie jede andere auch, ein Vollzeitjob zu dem man befähigt sein musste. Das Ergebnis dieser Entwicklung war die Entstehung einer leistungsfähigen politischen Elite, deren Angehörige aufgrund ihrer Vereinheitlichung keine Möglichkeit mehr hatten, durch Besonderheiten aufzufallen und sich in Führungspersönlichkeiten zu verwandeln. Ein weiterer Faktor, der individuelle Führung verhinderte, war die Kontrolle des Machtkampfes, die zwar keine Konflikte unterbinden, aber sie doch immerhin auf die Regierungspartei und die Exekutive beschränken konnte, so dass es von größerem Nutzen war, die Regeln zu beachten als sie zu brechen. Seit jener Zeit war es praktisch unmöglich, außerhalb der folgenden drei konkreten Bereiche politisch aktiv zu sein: der öffentlichen Verwaltung, insbesondere auf der Bundesebene, den Wahlämtern und den Posten innerhalb der Einheitspartei PRI. Dieses enge Schema bewirkte, dass andere Berufsfelder, aus denen potentiell Politiker hätten hervorkommen können, ausgegrenzt wurden, z. B. die Wirtschaft und der Sozialbereich. Ein weiterer Bereich, der ideologisch und gesellschaftlich ausgeschlossen blieb, war der private Sektor, der als unvereinbar mit der Politik galt und sich allein wirtschaftlichen Zielen zu widmen hatte. Interessant ist, dass dies zu einem

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Spezialisierungsprozess in beiden Bereichen führte, besonders in der Zeit, als sich das System vornahm, politische Stabilität und wirtschaftliches Wachstum gleichzeitig zu erreichen. Mit anderen Worten bildete das Regime von Beginn an spezialisierte Eliten aus, die es ihm erlauben sollten, seine Ziele zu verwirklichen. Die drei genannten Bereiche der Politik hatten bezüglich der Ausbildung der Elite und ihrer Leitfiguren nie die gleiche Bedeutung. Betrachtet man die Werdegänge der Beamten, die von 1946 bis 2000 Mitglieder der Präsidialkabinette waren (siehe Schaubild 1), fällt sofort ins Auge, dass von insgesamt 212 Politikern 58% ausschließlich aus der Verwaltung kamen und der Rest einen Werdegang durchlaufen hatte, der sich aus unterschiedlichen Kombinationen zusammensetzt, in denen aber auch die Verwaltung neben den Wahl- und Parteiämtern prädominiert.3 Es ist interessant zu beobachten, dass sich dieses Verhältnis durch sämtliche Präsidialperioden zieht, was nur bedeuten kann, dass von Beginn der Professionalisierung an die Verwaltung für die Ausbildung der politischen Elite maßgebend war; das steht im Gegensatz zu der Meinung mancher Beobachter, nach denen diese Tendenz erst seit den achtziger Jahren auftrat, in der gewöhnlich als „technokratisch" bezeichneten Phase der mexikanischen Politik. Genaugenommen waren die Wahlamts- und Parteikarrieren schon immer denen der Verwaltung unterlegen. Wenn die Politiker in diesem Umfeld ausgebildet wurden, sollte man davon ausgehen, dass diese Verfahren durch ein System garantiert waren. Das während der Jahre der Stabilität des autoritären Regimes (1946-1982) geplante und erfolgreich funktionierende System war mit mehreren Bedingungen verknüpft. Die erste bestand darin, dass Politik zur Vollzeitbeschäftigung wurde, das heißt, der Politiker konnte keine andere berufliche Tätigkeit nebenbei ausüben. Mit wenigen Ausnahmen, vor allem während der so genannten technokratischen Kabinette (1982-2000), übernahm ein Politiker ein Ministerium nach einer im Durchschnitt zwanzigjährigen Karriere in der Verwaltung. Im Verlauf dieser zwanzig Jahre bekleidete er verIn der Gesamtzahl von 212 Beamten sind diejenigen, die zu mehr als einem Kabinett gehört haben, nur einmal gezählt worden, weshalb diese Zahl nicht mit den Gesamtzahlen der Kabinettsmitglieder in Schaubild 1 übereinstimmt, in der die Minister nach Präsidialperioden aufgeführt sind, ohne zu beachten, ob ein Amt jeweils zum ersten Mal bekleidet wurde oder nicht. Detaillierte Angaben finden sich bei Hernández Rodríguez (1984 und 1987).

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schiedene Posten, die erstens einen langsamen Aufstieg in der Hierarchie der Verantwortung bedeuteten. Zweitens musste die genaue Reihenfolge eingehalten werden, so dass nie eine Stufe in der Hierarchie übersprungen wurde. Drittens mussten die Posten jeweils mindestens zwei oder drei Jahre lang besetzt werden, bevor man sie abgeben durfte. Und viertens schließlich befanden sich diese Ämter in nicht mehr als drei unterschiedlichen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, die normalerweise in Verbindung zueinander standen. Dieses strenge System der internen Mobilität hatte bedeutsame Konsequenzen für die Gewährleistung der Effizienz der Verwaltung sowie der beruflichen Erfahrung der Politiker. Die Beamten sammelten Erfahrungen in sehr konkreten Bereichen der öffentlichen Verwaltung und konnten sich so auf jeweils ein bestimmtes Gebiet spezialisieren. Wenn ein Beamter dann nach einem Berufsleben in der Verwaltung zum Kabinettsmitglied aufstieg, wurde er fast immer zum Leiter des Ministeriums, in dem er seine gesamte Karriere bis zu diesem Zeitpunkt verbracht hatte. Dieser Umstand erklärt zwei für die Stabilität des Systems wichtige Phänomene: erstens die Kontinuität der Regierungsprogramme mit einem entsprechend akzeptablen Grad an Wirksamkeit, unabhängig vom Wechsel im Präsidialamt, und zweitens die Sicherstellung der Kohärenz der politischen Elite. Das erste dieser zwei Phänomene leitet sich von der Spezialisierung der Minister ab, und das zweite davon, dass die Minister ihr jeweiliges Amt nicht nur besetzten, weil sie von einem bestimmten Präsidenten abhängig waren. Entgegen der Meinung einiger Autoren (Smith 1981, Camp 1984) setzten sich die Kabinette nicht nur aus Freunden des Regierungschefs zusammen, sondern auch aus mindestens einem Drittel ehemaliger Beamter, die bis zum Eintritt in das Kabinett überhaupt keinen Kontakt zum Präsidenten hatten und allein in Anerkennung ihres beruflichen Werdegangs zum Minister ernannt wurden. Das ist von empirischen Daten belegt. Auf diese Weise wurde die Treue zum System gefestigt, denn die Politiker, die es nicht schafften, einen Platz im Kabinett zu erobern, konnten sicher sein, dass bei der Ernennung Chancengleichheit herrschte und dass die Auserwählten entweder dem Präsidenten näher standen oder beruflich besser waren. Am Ende konnte niemand behaupten, er wäre benachteiligt oder willkürlich behandelt worden. Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass es in einem System wie dem mexikanischen, in dem der Präsident keine verfassungsrechtlichen Einschränkungen bei der Ernennung seiner Mitarbeiter zu

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beachten hatte, mehr als einmal passierte, dass Beamte nur aufgrund ihrer persönlichen Beziehungen zum Präsidenten ins Kabinett gerufen wurden, ohne berufliche Erfahrung aufweisen zu können. Statistisch gesehen waren diese Willkürakte jedoch selten und hatten keinen Einfluss auf die Arbeit der Regierungen. Persönliche Beziehungen hatten eine gewisse Bedeutung, aber reichten nicht aus, um allein deshalb auf einen Posten mit Entscheidungskraft aufzurücken. Dieses ausgeklügelte System der Amtsvergabe, internen Flexibilität und beruflichen Spezialisierung stellte darüber hinaus sicher, dass der zukünftige Präsident über die für sein Amt notwendige Erfahrung verfügte. Die Tatsache, dass einschließlich des letzten Präsidenten der PRI alle vorher das Amt eines Ministers innehatten, belegt, dass sämtliche Präsidenten die strengen vom System vorgeschriebenen Bedingungen erfüllten und daher auch keiner von ihnen während ihres Mandats eine andere Rolle spielte, als die dem Präsidialamt entsprechenden Regeln und Pflichten zu erfüllen. Diese Eigenschaft machte sie zu formellen Leitfiguren innerhalb der Elite und des Systems, aber nur schwerlich zu Führungspersönlichkeiten, die in der Lage gewesen wären, der Politik einen eigenen Stempel aufzudrücken. Ihr Sinn für die Zugehörigkeit zur Elite und ihre Verpflichtung zur Erfüllung der Regeln ging so weit, dass nicht ein einziger der langen Liste der Präsidenten auch nur den Versuch unternahm, dieses Verhaltensmuster zu ändern. Dazu gehörte auch, dass in den Jahren der autoritären Herrschaft der Präsident immer seinen Nachfolger aus den Reihen des jeweiligen Kabinetts bestimmte. Es waren zwar nicht immer Innenminister, die später Präsident wurden, denn seit den siebziger Jahren kamen auch Minister für Finanzen, Haushaltsplanung und soziale Entwicklung an die Reihe, aber wichtig ist, dass es sich letztendlich in allen Fällen um frühere Minister handelte. Nicht einmal Carlos Salinas, der Präsident, der die Macht des Regierungschefs bis zum Extrem ausbaute, wagte mit dieser Tradition zu brechen. Sein Nachfolgekandidat Luis Donaldo Colosio, der noch vor dem Wechsel 1994 ermordet wurde, war von Salinas sorgfältig auf die Nachfolge vorbereitet worden und musste trotz seiner langen Amtszeit als Parteivorsitzender und als Senator kurz vor seiner Ernennung zum Kandidaten noch zum Minister für soziale Entwicklung ernannt werden. Das exklusive System der politischen Laufbahnen, das seine Kandidaten fast ausschließlich aus dem Verwaltungsbereich rekrutierte, war das erste der drei Elemente, die die Entstehung politischer Führungsfiguren verhin-

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derte. Die anderen zwei waren, wie bereits erwähnt, das Präsidialsystem, das die Macht des Präsidenten über die sämtlicher anderer Gewalten stellte, deren Befugnisse annullierte und den Handlungsspielraum ihrer Angehörigen einschränkte, sowie die Vorherrschaft der PRI bei den Wahlen, welche zu einer extremen politischen Homogenität führte. Der Mangel an politischen Aufstiegschancen in sämtlichen anderen Tätigkeitsbereichen, die von Wahlen oder Parteien abhingen, machte allen Aspirationen, um den Aufstieg zu kämpfen, ein Ende. Andererseits hatten diese zwei Bereiche spezifische Aufgaben zu erfüllen, die langfristig doch die Hoffnungen der Aspiranten zu befriedigen vermochten. Zu diesen Aufgaben gehörten die Sicherstellung der Systemtreue der Gewerkschaftsorganisationen innerhalb der PRI sowie die Förderung lokaler Eliten. Die höchsten im Wahl- und im Parteibereich zu erreichenden Ämter waren die eines Senators oder eines Gouverneurs. Waren diese auch nicht mit der Stellung eines Kabinettsmitglieds zu vergleichen, so waren sie doch attraktiv genug, um die Erwartungen einer breiten Eliteschicht zu erfüllen, die darauf hoffte, in der Politik eine Rolle zu spielen. Das Ergebnis war für das Entstehen von Führungspersönlichkeiten sehr schädlich, denn es bedeutete die totale Unterordnung sämtlicher politischer Ämter (Gouverneure, Legislative, Gemeinden) unter die Interessen des Präsidialamts. Diese Unterwerfung ermöglichte die Lenkung sämtlicher politischer Einrichtungen, aber führte gleichzeitig dazu, jegliches unabhängige Verhalten zu ersticken; denn den Präsidenten herauszufordern bedeutete, die politische Karriere aufs Spiel zu setzen. Dies fiihrte zu der paradoxen Situation, dass Unterwürfigkeit mehr Freiraum bot als Unabhängigkeit. So überrascht es nicht, dass es nur wenige Beispiele für Führungspersönlichkeiten gab - und auch nicht, die Art und Weise, wie diese beseitigt wurden. Eines der seltenen Beispiele, dem eine gewisse Bedeutung zukommt, denn hier wurde versucht, das Verfahren der Kandidatenauswahl der PRI zu demokratisieren und sich dabei von der Exekutive zu distanzieren, ist der Fall des Carlos A. Madrazo. Im Jahr 1965, also zur Zeit der höchsten Stabilität und des stärksten Wachstums, ging dieser Politiker in eine offene Konfrontation mit Gouverneuren, Gewerkschaftsführern und letztendlich sogar mit dem Präsidenten selbst, so dass Madrazo schließlich abdanken und aus der Partei austreten musste.

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Der Zerfall der Elite Viele Jahre lang vermochte die Elite, sich an der Macht zu halten und sich zu erneuern. Obwohl hierfür viele verschiedene Erklärungen zu finden sind, steht ihr Überleben zweifellos in enger Verbindung zur institutionellen Stabilität, welche wiederum vom Wirtschaftswachstum und von der Gewinnverteilung abhing. Die sorgfältige Untersuchung des Anfangs vom Fall dieser Elite zeigt eine deuliche Relation zwischen der Dauer der Wirtschaftskrisen, welche die Effizienz der Regierung auf die Probe stellten, und der Kritik der Opposition, die mehr politische Freiheit forderte und die Homogenität und Kontrolle der PRI unter Druck setzte. Zu Beginn der achtziger Jahre wurde die traditionelle Elite durch eine andere, neue ersetzt, die das komplexe System der Amtsvergabe und politischen Laufbahnen abschaffte. Diese neue Elite konnte zwar die alte besiegen, aber sie war unfähig, sich so wie jene zu erneuern und der ständig stärker werdenden Opposition die Stirn zu bieten. Wie in Schaubild 1 zu sehen ist, unterscheiden sich die letzten drei PRIRegierungen in Bezug auf die Werdegänge ihrer Mitglieder nicht wesentlich von den ersten sechs als traditionell bezeichneten Kabinetten. Der Unterschied besteht vor allem in der Zeitdauer der in der Verwaltung gewonnenen Erfahrung sowie der Kabinettszugehörigkeit. Tendenziell nehmen beide Werte ab der Regierungszeit von Miguel de la Madrid (1982-1988) systematisch ab, was darauf schließen lässt, dass die Machthaber nun der Universitätsausbildung gegenüber den Jahren praktischer Berufserfahrung den Vorzug gaben. Die damit einhergehende Überbewertung des akademischen Fachwissens gegenüber der Verwaltungslaufbahnen führte dazu, dass die Regierungen dieser Etappe als „technokratisch" bezeichnet wurden (Centeno 1994, Morales Camarena 1994, Lindau 1992). Nach 1982 traten zwei unterschiedliche Phänomene auf, die jedoch zum selben Ergebnis führen. Einerseits ist das ein, wie Pareto es nannte, Zerfall oder Qualitätsverlust der Elite, der auf einer gewissen grundsätzlichen Unfähigkeit dieser Schicht beruht, sich zu erneuern und neue Generationen hervorzubringen, die sie langfristig perfektioniert hätte. Für Pareto liegt in diesem Umstand einer der wichtigsten Gründe für den Austausch der Eliten, d. h. die Ersetzung der traditionellen durch eine neue Elite, wobei letztere nicht unbedingt besser als die alte sein muss, aber eher dazu in der Lage ist, die Möglichkeiten des Moments zu nutzen. Das zweite Phänomen

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besteht in einem Aspekt, der in jüngster Zeit im Zusammenhang der Demokratisierung der achtziger Jahre in mehreren Ländern untersucht worden ist. Im Schöße einer alten Elite entstehen kleine Gruppen von Politikern, die in vielen Eigenschaften mit den traditionellen übereinstimmen, aber aus verschiedenen kulturellen Gründen neue, moderne Gedanken und Konzepte vertreten, liberaler und demokratischer denken und so einen allmählichen Prozess des politischen Wechsels initiieren (O'Donnell 1988, Huntington 1991/92, López-Pintor 1987). Trotz ihrer Bereitschaft zum Wandel sind aber auch diese neuen Gruppen nicht in der Lage, die Prozesse der Veränderung zu kontrollieren, da sie zu sehr mit den autoritären Strukturen verhaftet sind, so dass sie am Ende auch verdrängt werden, diesmal nicht von einer anderen Elite, sondern von Gruppen herausragender Führungspersönlichkeiten. Dies ist im Allgemeinen auch der Fall Mexikos seit den achtziger Jahren. Mit Miguel de la Madrid trat eine Mannschaft auf den Plan, deren wichtigste Eigenschaft darin bestand, dass ihre Mitglieder aus einem einzigen Sektor innerhalb der Regierungsadministration stammten, nämlich aus dem Finanzbereich, ebenso wie der Präsident selbst. Der Hauptgrund de la Madrids, sich für ein solches Kabinett zu entscheiden, obwohl er mit den traditionellen Nonnen vertraut war und sie bei seinem Aufstieg auch erfüllt hatte, bestand in der Notwendigkeit, den Zusammenhalt der Regierung dadurch zu erhalten, dass seine Mannschaft seinem Programm treu blieb. Diese Entscheidung des Präsidenten hatte zwei unmittelbare Folgen für die Zukunft der politischen Elite: erstens die Benachteiligung derjenigen Politiker, die nicht zu der selben Gruppe gehörten und somit nicht vertrauenswürdig waren, auch wenn manche eine lange Karriere in der Verwaltung vorweisen konnten; und zweitens die begrenzte Zahl der zur Verfügung stehenden Politiker, sei es um abdankende Minister ersetzen zu können oder um einen Nachfolger für das Präsidentenamt zu bestimmen und diesen mit einem Kabinett auszustatten (Hernández Rodríguez 1987 und 1992). Am Ende dieser Etappe ermöglichte das alte politische System, das sich in seinen zentralen Eigenschaften, besonders bezüglich der Art der Benennung eines Nachfolgers, noch nicht verändert hatte, den Aufstieg von Carlos Salinas (1988-1994), der das Prinzip der persönlichen Treue und die Bedeutung akademischer Fachkenntnisse bis zum Äußersten treiben sollte. Die Wahl des Nachfolgers stellte das Ende der Vorherrschaft der alten Elite dar, begünstigte aber die Geburt erster oppositioneller Führungspersönlich-

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keiten, die eben aus den Reihen dieser verdrängten alten Elite kommen sollten. Während der letzten Jahre der Regierung de la Madrids fand die tiefste Spaltung dieser Elite statt, als eine Gruppe von PRI-Mitgliedem unter der Führung von Cuauhtémoc Cárdenas und Porfirio Muñoz Ledo aus der Partei ausgeschlossen wurde, nachdem sie das Wirtschaftsmodell des Präsidenten (welches von seinem Nachfolger Carlos Salinas entworfen und durchgesetzt worden war) kritisiert und die Nachfolge eines weiteren Technokraten, eben jenes Salinas, zu verhindern versucht hatte. Ihr Ausschluss war jedoch weit davon entfernt, die Gruppe zu schwächen. Er führte vielmehr zur Gründung der bis dahin wirkungsvollsten und konsequentesten Oppositionspartei, die bei den Wahlen von 1988 die frühere Einheitspartei beinahe besiegt hätte. Das überraschende Auftreten dieser Oppositionsgruppe beweist erneut, in welchem Maß das autoritäre System die Entstehung von natürlichen Führungspersönlichkeiten verhindert, und wie diese systematisch und wirkungsvoll aktiv zu werden beginnen, sobald die Kontrollmechanismen des Systems geschwächt sind und die Treuebande, die das Regime selbst geschaffen hat, brechen (Garrido 1993). Seit 1994 verlor die Elite immer mehr an Kraft. Zum Teil aus ideologischen Gründen, aber auch aufgrund des zweifelhaften Sieges von Salinas bei den Wahlen, bei denen die ausgeschlossenen Politiker eine große Rolle gespielt hatten, bekräftigte der neue Präsident seine Forderungen nach persönlicher Treue und einem akademischen Hintergrund seiner Mitstreiter. Die ideologischen Gründe beziehen sich auf das Prinzip, das die Politiker für alle wirtschaftlichen Probleme verantwortlich macht, ohne andere Gründe zu beachten. Aus dieser Sicht ist die Politik eine schädliche Akthität, die persönlichen Zwecken der Parteien und ihrer Führer dient, womit die Regierung möglichst nichts zu tun haben sollte. In den achtziger Jahrtn hatte diese Theorie viele Anhänger unter populistischen Politikern und b;stimmte die Finanzpolitik des Wirtschaftspopulismus (Dombusch 1991). Eine weitere, eher persönliche Ursache für Salinas war die Fähigkeit seirur Mitarbeiter, der neuen Elite und ihren Interessen zu begegnen. Der neie Präsident musste diese Bedrohung unbedingt beseitigen, weshalb er en Kabinett zusammenstellte, das nur über wenig Erfahrung in der Verwalturg und über noch weniger politische Praxis verfügte, aber dessen Mitglieder n bekannten und renommierten ausländischen Universitäten studiert hattai und möglichst ohne Widerspruch sein Regierungsprojekt entwickeln solten.

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Die Ergebnisse dieser Etappe zeigen sowohl die Mängel als auch die Verdienste dieser Elite. Während sich die Wirtschaft kurzfristig erholte, führten die politischen Probleme das Land in die ärgste aller politischen Krisen. Die Sa/j'was-Regierung erlebte Konflikte, die längst vergangenen Zeiten anzugehören und für die Gegenwart unmöglich schienen: ein extremer Präsidialismus, vermuteter Wahlbetrug, Politikermorde und das Auftreten einer Guerrillatruppe, was zusammen genommen Mexiko an den Rand der Instabilität führte. Die Ereignisse ließen die alte Elite als politisch untauglich erscheinen, unfähig, strukturellen Herausforderungen wirkungsvoll entgegenzutreten. Darüber hinaus erwiesen sich erstaunlicherweise auch die Institutionen, die früher zur Konfliktlösung herangezogen wurden, als hilflos (Serrano 1996, Meyer 1996, Hernández Rodríguez 1994). Dies alles wirkte sich negativ auf den Auswahlprozess des Nachfolgers aus, denn auch wenn das Wahlergebnis nicht in Frage gestellt wurde, war der Sieger doch nicht mehr als das Ergebnis einer Improvisation (Ernesto Zedillo, der kurzfristig für den ermordeten Colosio einspringen musste, hatte seine Beamtenkarriere 1982 als Vorsitzender einer Treuhandkommission der Banco de México begonnen, und wurde später überraschend stellvertretender Minister für Haushaltsplanung und -Kontrolle, dann Leiter des Sekretariats für Haushaltsplanung und schließlich Minister für Bildung; mit dieser beschränkten und unpolitischen Laufbahn wurde er zum Leiter der Wahlkampagne für den Präsidäntschaftskandidaten Colosio). In der gegebenen Eile war Zedillo nicht in der Lage, ein erfahrenes Team zusammenzustellen, das die Probleme des unter starkem Druck stehenden Systems lösen oder gar flexibel reagieren und ein schlüssiges Regierungsprogramm erstellen konnte, welches über die dringlichsten wirtschaftlichen Anforderungen hinaus ging. Der Regierung Zedillos fehlte es an Autorität und an Mut, die politischen Befugnisse anzuwenden, die in der Vergangenheit den Präsidenten zum Zentrum gemacht hatten, von dem aus alle politischen Einrichtungen des Landes gesteuert wurden. Um zu vermeiden, als zu autoritär kritisiert zu werden (als ob ein Präsidialsystem notwendigerweise autoritär sein müsste), berief sich Zedillo auf die Verfassung und die von ihr ausdrücklich zugeteilten Vollmachten. Diese selbst auferlegte Passivität konnte nur zu einer Präsidentschaft ohne Engagement und ohne Präsenz fuhren. Die fehlende Erfahrung des Präsidenten (eine weitere Bestätigung der Unfähigkeit der Elite, Leitfiguren hervorzubringen, die wie in der Vergangenheit nicht nur die Formen erfüllten, sondern obendrein effizient waren) ließ ihn

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Mitarbeiter um sich scharen, die jung und ebenso unerfahren waren, aber so wie er aus der Wirtschaft kamen und politische Verhandlungen ablehnten. Überzeugt von ihrer technischen Kompetenz widmeten sie sich der Verwaltung der Finanzen und überließen die Politik den Parteien und Parteipolitikern. Die Erschöpfung der Elite wird bestätigt von den statistischen Angaben zur Stabilität der Kabinette, gemessen am Wechsel der einzelnen Minister. Eine hohe Anzahl von Wechseln weist auf Inkompetenz oder Fehler in der politischen Administration hin, die zwangsläufig die Amtsführung einer Regierung und folglich auch ihre Fähigkeit zur Erfüllung einer tatsächlichen politischen Leitfunktion negativ beeinflussen müssen. Die Statistik zeigt den Grad der Stabilität und der institutionellen Schwierigkeiten des System im Verlauf der Geschichte: während zwischen 1946 und 1970 die durchschnittliche Frequenz von Wechseln bei 36% liegt, steigt sie zwischen 1976 und 1988 auf 77%, und gerät in der jüngsten Vergangenheit außer Kontrolle, mit 132% unter Salinas und 139% unter Zedillo. Die niedrigen Prozentsätze entsprechen der Etappe höchster politischer Stabilität, während sich die Quote ab den 70er Jahren verdoppelt, eben zu der Zeit, als das System sich großen Problemen gegenüber sah und die Elite unfähig war diese zu lösen. Zur Zeit der Technokraten kam es dann zum Austausch fast des kompletten Kabinetts innerhalb einer Legislaturperiode. Wenn diese Daten die Instabilität der jüngsten Regierungsmannschaften sowie die Unfähigkeit der Präsidenten als Führer aufdecken, gibt es im speziellen Fall der Regierung Zedillos ein weiteres Detail, das praktisch die Auslöschung der technokratischen Elite belegt. Während seine Vorgänger abdankende Minister durch neue Beamte ersetzten, griff Zedillo meist auf die selben zurück: mehr als die Hälfte der ursprünglichen Kabinettsmitglieder wurden vom Präsidenten in andere Ministerien umgesiedelt, die manchmal eine Verbindung zueinander hatten und manchmal nicht. Egal, ob sie wegen mangelnden Vertrauens oder aufgrund von ungenügender Kompetenz abgesetzt wurden, Tatsache ist, dass die zur Verfugung stehende Elite zahlenmäßig nicht mehr groß genug war, um vom Präsidenten frei eingesetzt werden zu können. Die Erschöpfung war offensichtlich, und dazu gesellte sich ein weiterer Faktor, dessen Ursprung ebenfalls in den achtziger Jahren zu finden ist und aus dem die siegreiche Führungsfigur hervorgehen sollte: der demokrati-

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sehe Kampf gegen die Kontrolle der Wahlen durch die PRI, wodurch erreicht wurde, dass sich die Bedingungen des politischen Wettbewerbs nach und nach verbesserten und die Opposition wichtige Ämter besetzen konnte. Die neuen Führungspersonen hatten weder Beziehungen zur alten Elite, noch zu den Technokraten und ermöglichten schließlich die Wende im Jahr 2000. Ihr Ursprung liegt im Wesentlichen in der Privatwirtschaft.

Die Führungspersonen der Wende Der Partido de Acción Nacional (PAN) ist nicht die älteste der Oppositionsparteien Mexikos, aber die mit der größten Beständigkeit und längsten Tradition. Seit ihrer Gründung 1939, als Antwort auf das, was vom konservativen Flügel die „linke Tendenzen" des Generals Lázaro Cárdenas genannt wird, hat die PAN es geschafft, als Alternative zur PRI zu überleben, zunächst mit katholischer und später mit liberaler Ausrichtung, sowie mit engen Beziehungen zur traditionellen Mittelschicht, zum privaten Sektor und zur katholischen Rechten (Mabry 1973, Loaeza 1999, Arrióla 1994). Zu Beginn ihrer Existenz sah sich die PAN nicht als Partei, die bei den Wahlen der Regierung ernsthafte Konkurrenz machen könnte, und äußerte keine wirklichen Machtansprüche, teilweise aufgrund der Stärke des Systems, das in jener Zeit in ständigem Kontakt zu den Volksmassen stand, und teilweise aufgrund der sozialen Zusammensetzung ihrer Gründer (Akademiker, von denen manche liberal dachten, während andere, sehr einflussreiche Personen der katholischen Kirche nahestanden). Ganz im Gegenteil, und obwohl einige ihrer Kandidaten schon sehr früh bei Kommunalwahlen Erfolge erzielten, definierte sich die PAN als bürgerliche Bildungseinrichtung, als eine Art bürgerliches Bewusstsein gegen die autoritäre Herrschaft. Diese passive Rolle als „loyale Opposition" (Loaeza 1974) war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die PAN lange Zeit keine wirkliche Bedrohung für die PRI darstellte. Außerdem machte ihre Ideologie, die ganz ohne Zweifel den konservativen Teilen der Gesellschaft verbunden war, gegen die sich die Revolution erhoben hatte und gegen die die populärsten Maßnahmen des Cardenismus gerichtet waren, die PAN zum natürlichen Repräsentanten des Systemfeinds. Die historischen Umstände jedoch, sowie die geringen Machtansprüche ihrer Mitglieder und Leiter, machten die PAN zu einer Partei, die das Regime passiv legitimierte. Einige Mitglieder störte

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diese Rolle, weshalb sie sie hin und wieder hinterfragten und zu ändern versuchten. Obwohl ihre Anstrengungen keinen Erfolg hatten, schafften sie es aber immerhin, die Autorität der Parteiführung in Frage zu stellen. Vor den Präsidentschaftswahlen 1976 waren die verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei so zerstritten, dass sie sich auf keinen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten und zum ersten Mal seit der Gründung niemanden aufstellten (Arrióla 1977). Der Wandel kam nach dieser Krisenzeit und war das Ergebnis verschiedener Faktoren. In der Regierungszeit von Luis Echeverría (1970-1976) kam es zum ersten Mal zu schweren Auseinandersetzungen mit der Lobby der Unternehmer, zu der das Regime bis dahin eine höfliche Beziehung unterhalten hatte und die teilweise seit den dreissiger Jahren sogar ausdrücklich begünstigt worden waren (Tello 1980, Arrióla 1976). Der Konflikt schien aufgrund der linken Tendenzen des Präsidenten in erster Linie ideologischer Art zu sein, verstärkt durch die Aktionen der Stadtguerrilla, die wichtige Unternehmer entführte und ermordete. Der wahre Grund des Konflikts lag jedoch in der Änderung des staatlichen Wirtschaftsmodells, das bis dahin der Privatinitiative sehr positiv gegenüber gestanden hatte. In diese Zeit begannen auch die Unternehmer, erstmals über ihre Beziehung zum Staat nachzudenken und die Funktionen und Ziele der Organisationen des privaten Sektors mit der Absicht zu hinterfragen, gemeinsame Projekte zu fördern (dazu gehörte unter anderem die Gründung des Untemehmerverbands Consejo Coordinador Empresarial 1975). Der Präsident Echeverría beendete seine Amtszeit mit einer schweren Wirtschaftskrise und der Bodenenteignung in zwei der fruchtbarsten Gebiete des Landes. Sein Nachfolger war José López Portillo (1976-1982), der in seiner Amtszeit, trotz großer Anstrengungen die Beziehungen wieder zu verbessern, nicht verhindern konnte, das sich die Konflikte bis zu dem Extrem verschärften, dass während der Ölkrise zum Ende seiner Amtszeit sogar die Banken verstaatlicht wurden (Tello 1984, Hernández Rodríguez 1988). Als Konsequenz dieser zwölf konfliktreichen Jahre entwickelten einige Unternehmer, vor allem die Inhaber bedeutender Konzerne und die Leiter der Arbeitgeberverbände, den Gedanken, dass die Willkür des Präsidenten von dem Mangel an politischer Intervention der Unternehmer gefordert worden war, ganz im Gegensatz zu ihrer Position in den Jahren des Wachstums und der Stabilität. Erstaunlicherweise behaupteten die Ideologen der Unternehmerlobby, die Unternehmerschaft sei der einzige Sektor, der angesichts der

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Unterordnung der Staatsgewalten unter den Präsidenten, der Kontrolle der Gewerkschaften sowie des Mangels an politischer Partizipation in der Lage sei, den Staat und das System zu bremsen oder gegebenenfalls zu korrigieren. Zum ersten Mal stellte der private Sektor das Präsidialsystem (von dem seine wirtschaftliche Macht auf ebenso willkürliche Weise zwischen 1940 bis 1970 gestützt worden war) und den Mangel an Gleichgewicht, sowie an politischer Konkurrenz in Frage. Angesichts fehlender Partizipation der Parteien sollten die privaten Einrichtungen politische Führungspersönlichkeiten vorbereiten, die sich langfristig als Alternative für die Bürger bereit stellen würden. Dieser Gedankengang hätte vielleicht als Ausdruck der Verärgerung eines Sektors der Gesellschaft über bestimmte Regierungsprogramme keine weiteren Folgen gehabt, wäre nicht die stark kritisierte Verstaatlichung der Banken dazu gekommen. Trotz der offiziellen Anstrengungen, diese Maßnahme als notwendige Antwort auf die überhand genommene Spekulation und als Ausweg aus der Krise darzustellen, wurde die Verstaatlichung als Akt extremer Willkür und Beweis für die Exzesse eines unkontrollierten Präsidialsystems gewertet. Nur aus diesem Grund bekamen die Vorschläge der Unternehmer, die bis dahin als Sektorinteressen betrachtet wurden, eine unerwartete Legitimation, die der politischen Partizipation der Unternehmer Tür und Tor öffnete (Loaeza 1990). Ab diesem Zeitpunkt entschieden mehrere ehemalige Vorsitzende der Arbeitgeberverbände, allen voran Manuel J. Clouthier, sich aktiv politisch zu engagieren. Seit jener Zeit lassen sich zwei grundlegende Aspekte beobachten, die den Erfolg der Strategie der Unternehmer in ihrem Kampf gegen die autoritäre Herrschaft ermöglicht haben. Einerseits ist es die Einverleibung der Forderung nach Demokratie in die unternehmerische Ideologie, die ursprünglich nur auf das Erreichen bestimmter wirtschaftlicher Ziele ausgerichtet und deshalb bis zu diesem Zeitpunkt so angreifbar geblieben war. Der Wunsch nach Demokratie fand bei der Bevölkerung großen Anklang, denn im Gegensatz zu früheren Forderungen anderer Sektoren und Organisationen schlugen die Unternehmer auch die allgemeine Öffnung der Wahlen als Mittel gegen die offensichtlichen Exzesse des Präsidenten vor. Andererseits nutzten die Geschäftsleute ihre charakteristischen Eigenschaften effektiv aus, die sie zum Gegenpol der Politiker machten: als risikofreudige Einzelpersonen, Schöpfer von Reichtum und Privatbesitz, mussten sie sich nicht wie die Politiker der Macht bedienen, um daraus einen Nutzen zu ziehen.

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Dazu gesellte sich noch ein weiterer nachweisbarer Wert: ihr im Privatsektor angesammeltes Prestige als Leiter wichtiger Organisationen. Als parteilose Individuen ohne Beziehungen zur PRI oder zur Regierung und als Eigentümer eines bedeutenden Eigenkapitals, traten die Geschäftsleute als die neuen politischen Führungsfiguren auf, die dazu in der Lage wären, die Wirklichkeit zu verändern, ganz anders als die Politiker der PRI und auch als die der PAN, welche in ihren Augen passive Komplizen des autoritären Systems waren. Als erfolgreiche Geschäftsleute suchten die neuen Führungspersonen unter pragmatischen Gesichtspunkten eine existierende Partei, um keine neue gründen zu müssen, was Jahre in Anspruch genommen hätte. Der natürlichere Schritt war der Eintritt der Unternehmer in die PAN, deren Programm und Ideologie ihren eigenen Ideen und Interessen am nächsten stand. Ab diesem Zeitpunkt spielte diese Partei auch bei den Wahlen wieder eine Rolle und stellte eine wahre Herausforderung für das System dar. Zwischen 1983 und 1988 wurden Unternehmer, die erstaunlicherweise nicht einmal Parteimitglieder der PAN waren, zu Kandidaten bei den Gouvemeurswahlen in den wichtigen Bundesstaaten Chihuahau, Sonora, Sinaloa und Nuevo Leon ernannt. Auch wenn alle ihre Versuche in Niederlagen endeten, hatten sie es doch geschafft, das System, auch auf internationaler Ebene, in Frage zu stellen, Stimmen für die PAN zu gewinnen und sich einen Platz innerhalb der Partei zu schaffen, die ihnen Mandate in Gemeinden, im Abgeordnetenhaus und im Senat überliess.4 Die bedeutendste politische Führerperson dieser Zeit war Clouthier. Als erfolgreicher Landwirt im Bundesstaat Sinaloa (neben Sonora der wichtigste Staat für die Landwirtschaft und Viehzucht) hatte er 1975 unter der Bodenenteignung zu leiden und führte den „Marsch der Traktoren" als Protest gegen diese Maßnahme an. Zwei Jahre später, unter der Regierung von Lopez Portillo, wurde Clouthier zunächst Vorsitzender des Arbeitgeberverbands der Republik (Coparmex, der einzige landesweite Verband dieser Art, 1977-1980) und leitete später den Untemehmerverband CCE, dem Zusammenschluss sämtlicher Organisationen des privaten Sektors (19814

Die Literatur über die Unternehmer, ihre Konflikte mit der Regierung und ihre Teilnahme an der Politik in Mexiko von 1970 bis 1988 ist sehr umfangreich. Sämtliche Studien sind als Referenz zu diesen Themen sehr nützlich, aber besonders erwähnenswert sind die folgenden: Guadarrama (1987), Mizrahi (1992), Loaeza (1999).

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1983). In diesen drei Jahren gründete er unter anderem das Centro de Estudios Sociales (Zentrum für Sozialstudien), das sich der systematischen Analyse der Rolle der Unternehmer im politischen Leben und vor allem der „Vorbereitung von Führungsfiguren für die Politik" widmet. Während seiner Zeit als Vorsitzender des CCE trat Clouthier aktiv gegen die Verstaatlichung der Banken ein, setzte sich, ganz im Gegensatz zu traditionellen Methoden, an die Spitze der Protestaktionen und organisierte sogar Streikmaßnahmen der Unternehmen. Am Ende waren es Geschäftsleute wie früher er selbst, die ihn stoppten und mit samt seinen Mitarbeitern zur Parteipolitik abschoben. Seine Theorie, dass die Unternehmer nicht in ihren Firmen bleiben, sondern in die Politik gehen sollten, setzte er so schließlich selbst in die Tat um: erst trat er in die PAN ein, dann wurde er Gouverneurskandidat für Sinaloa, und schließlich, 1988, Präsidentschaftskandidat; zusammen mit Cuauhtémoc Cárdenas, dem Kandidaten der Frente Democrático Nacional, gewann er bei den Präsidäntschaftswahlen einen beachtlichen Stimmenanteil (Nanti 1998). Aber die Führungsrolle Clouthiers beschränkte sich nicht nur auf seine Nominierung zum Kandidaten und auf den Stimmenzuwachs für die PAN, sondern bewirkte auch die Rekrutierung neuer Unternehmer für die Politik, was dazu führte, dass diese sich immer mehr als Anhänger Clouthiers denn als Politiker der PAN verstanden, selbst wenn sie am Ende alle in die Partei eingetreten waren. Zu dieser Gruppe gehörte auch der heutige Präsident Vicente Fox. Dieser wurde als Sohn einer traditionsreichen Landwirtsfamilie im Bundesstaat Guanajuato geboren, begann seine Karriere als Geschäftsführer von Privatunternehmen (besonders im Bereich der Marktforschung) und brachte es bis zum Vorsitzenden von Coca-Cola Mexiko. Eigenen Angaben zufolge ließ sich Fox (1999) von Clouthier davon überzeugen, in die Politik zu gehen und zwar als Mitglied der PAN, in die er 1987 eintrat. Ab diesem Zeitpunkt arbeitete er an der Seite Clouthiers, und während dieser seine Kampagne zur Präsidentschaft bestritt, kandidierte Fox als Bundesabgeordneter. In seiner Zeit als Abgeordneter (1988-1991) und nach der Anfechtung des Wahlsiegs von Salinas war er Mitglied von Clouthiers Schattenkabinetts, das bis zu dessen Tod bestand. Die Laufbahn von Fox folgte dem Stil seines Vorgängers. 1991 ernannte ihn die Partei zum Gouverneurskandidaten für den Bundesstaat Guanajuato und überging dabei viele langjährige PAN-Mitglieder. Fox verlor gegen

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den PRI-Kandidaten, nutzte aber die Verhandlung mit dem unter Druck stehenden Präsidenten Salinas dazu, den Sieger zum Abdanken zu bewegen. Es gelang Fox nicht, als vorläufiger Gouverneursvertreter eingesetzt zu werden, aber er brachte Salinas dazu, einen anderen Kandidaten der PAN zu akzeptieren, einen Unternehmer wie Fox. So wurde Carlos Medina Plascencia, bis dahin Bürgermeister von León, zum Gouverneur ernannt, der seine dreijährige Amtszeit dazu nutzte, Fox den Weg zu bahnen, so dass dieser bei den nächsten Wahlen einen überwältigenden Sieg feiern konnte. Fox nutzte diese drei Jahre, um seine Partei davon zu überzeugen, eine Verfassungsreform zu fordern, die es den Kindern von Einwanderern, wie Fox, ermöglichen sollte, sich als Kandidaten für die Präsidentschaft aufstellen zu lassen. Diese Kampagne war ein deutliches Zeichen für den Aufstieg von Fox, denn wenn auch das Verfassungsgebot offensichtlich veraltet war, wurde damit doch jedem deutlich, dass ein Wandel vor der Tür stand, zumal Fox selbst die Reform persönlich gefordert hatte. Obwohl die Partei andere wichtigere Projekte zu den Themen Wahlen und Verfassung zu behandeln hatte, nahmen sie den Vorschlag dankend auf und setzte sich für die Reform ein. Nach seinem Amtsantritt als Gouverneur ernannte Fox ein Kabinett aus Unternehmern und Managern, das seine Regierungsgeschäfte weiter führte, während er die Wahlkampagne zum Präsidenten vorbereitete. Fox verstand es, die schwerwiegenden Problem der PAN, die aus der Aufnahme von Unternehmern und der darauf folgenden Verdrängung alter Parteimitglieder resultierte, für seine Zwecke zu nutzen. Die Partei, die bei den Präsidentschaftswahlen 1988 noch hinter PRI und Cárdenas drittplaziert war, errang ein Jahr später den ersten Sieg bei den Gouverneurswahlen in Baja California, mit dem Unternehmer Ernesto Ruffo Appel als Kandidaten. Darauf folgten weitere Siege der PAN in den Bundesstaaten Chihuahua, Guanajuato, Jalisco, Nuevo León, Querétaro, Aguascalientes und Morelos. In allen Fällen waren die Kandidaten frühere Unternehmer, die erst vor kurzem in die Partei eingetreten waren. Dies führte zu Protesten von langjährigen Aktivisten, die von den Siegen der Partei ausgeschlossen wurden, nachdem sie lange dafür gearbeitet hatten. Der Konflikt wurde dadurch verschärft, dass die Wahlsieger auch ihre Kabinette aus der Gruppe der Geschäftsleute zusammenstellten. In Schaubild 2 ist zu sehen, welchen Werdegang die Kabinettsmitglieder in den Staaten, in denen die PAN siegte, und für die Informationen zur Verfugung stehen, hinter sich hatten. Es wird deutlich, dass die Beamten mit Beziehungen zum PRI-Regime praktisch

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völlig verschwanden (zum Beispiel in Nuevo Leon) und die Mehrheit von Leuten aus dem privaten Sektor kam, keine Erfahrung in der öffentlichen Verwaltung vorweisen konnte und auch keine Verpflichtung gegenüber der Partei hatte, die ihnen zum Sieg verhalf. Dieser Umstand mag auf eine gewisse innere Schwäche der Partei hinweisen, zeigt aber auch, dass die zu Politikern gewordenen Unternehmer als Führungsfiguren einer Gruppe fungieren, die nicht fest geformt ist, aber eine starke Macht repräsentiert, und in der Loyalität und persönliche Verpflichtung eine große Rolle spielen, ebenso wie die wirtschaftlichen Interessen, die aus dem direkten ständigen Kontakt mit den Unternehmen entstehen. In dem letztgenannten Umstand liegt die größte Gefahr für die Führungspersönlichkeiten der mexikanischen Demokratie. Sie erkennen keinerlei organische Verpflichtung an, seitdem sie gemerkt haben, dass sie eine kompakte starke Gruppe von Anhängern hinter sich sammeln konnten, mit deren Hilfe sie die Partei und schließlich auch die öffentlichen Ämter übernommen haben. Dies gilt auch für Fox, ebenso wie vorher schon für Clouthier. Fox nutzte die Jahre als Gouverneur dazu, sich ein nationales und internationales Image zu aufzubauen, Gruppen zu seiner Unterstützung ins Leben zu rufen (von denen sich die wichtigste Freunde von Fox nennt und die andere Gruppen koordiniert, deren Hauptaufgabe darin bestand, vor der von der Verfassung vorgesehenen Zeit der eigentlichen Wahlkampagne Geld im In- und Ausland zu besorgen) sowie die internen Spaltungen innerhalb der PAN, die das Entstehen eigener Führungspersönlichkeiten verhinderten, für sich zu nutzen. Nur so erklärt sich, wie Fox in nur dreizehn Jahren Parteimitgliedschaft das erreichte, was viele ältere PAN-Politiker nicht geschafft hatten: Fox trat in die Partei ein, um politische Macht für sich zu gewinnen, nicht um der PAN mehr Macht zu verschaffen. In diesem Sinn war die Partei für ihn nur ein Mittel zum Zweck, das von ihm geschickt manipuliert wurde, bis sie schließlich praktisch dazu gezwungen war, ihn zum Präsidentschaftskandidaten zu machen. Dieses Verständnis der Politik und der Partei, das von den PAN-Gouverneuren ebenso geteilt wird, hat diese Politiker davon überzeugt, dass sie der PAN auf keine Weise verpflichtet sind, sondern einzig und allein der Wählerschaft Rechenschaft schulden. Die Foxsche Führung ist für die Wähler enorm attraktiv, aber gleichzeitig absolut uninstitutionell. Ebenso wie andere Führungsfiguren in Lateinamerika (jüngste Beispiele sind die frühen Menem und Fujimori, und in letzter Zeit auch Hugo Chävez in Venezuela) erkennt Fox nicht die Mittlerrolle einer Partei zwischen ihm und der Gesellschaft an, die

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er selbst persönlich und unmittelbar auf seine Seite gebracht hat. So ist auch die Sprache, die er benutzt: direkt, volkstümlich, umgangssprachlich, in bewusster Abweichung von der für Politiker üblichen Förmlichkeit, die er paradoxerweise als populistisch ablehnt. Die Diskussion um die Eigenschaften des Populismus ist alt und auf der ganze Welt verbreitet, aber in einem einzigen Punkt scheinen sich alle einig zu sein: in der Anstrengung der Führungsfiguren, volksnah zu sein und direkt zum Volk zu sprechen. Auch Fox ist bezüglich dieser „Obsession" unter den lateinamerikanischen Souveränen keine Ausnahme. So trug er zum Beispiel bis zu seiner Kampagne zu den Präsidentschaftswahlen auschließlich Jeans, karierte Hemden und Stiefel. Letztere stammten obendrein aus seiner eigenen Fabrik in Guanajuato, in die er als typischer Ausdruck seines Persönlichkeitskults seinen Nachnamen eingraviert. Auch heute noch greift er gelegentlich auf diese Art von Kleidung zurück. Als Gouverneur nahm Fox selten an Bundesversammlungen teil, und wenn er es tat, dann in gewollter Nichtbeachtung der Etikette in seiner Landwirtskleidung. Nach seiner Wahl zum Präsidenten erklärte er, er werde nicht in der üblichen Präsidialresidenz Los Pinos wohnen und auch nicht im Nationalpalast arbeiten, wie es seine Vorgänger taten, sondern ein kleines Haus auf dem Residenzgelände an seine Bedürfhisse anpassen. Ebenso kündigte er an, dass er die Wochenenden außerhalb des Bundesdistrikts auf seiner Ranch in Guanajuato verbringen werde, unter anderem aus dem Grund, dass er sonst die Bauernkost vermissen würde. Zu diesen Besonderheiten gesellen sich noch weitere, die laut Fox und seinen PR-Beratern dazu dienen sollen, den Präsidenten dem Volk näher zu bringen: Er lässt sich auf seiner Ranch interviewen und melkt nebenbei Kühe, isst regionale Gerichte und singt, wie auch einst Bucaram in Ekuador, rancheras. Fox sagte, er wolle keinen Personenkult, und richtete dennoch ein neues, direkt vom Präsidialamt abhängendes Büro ein, an dessen Spitze ein Marktforscher steht, der vorher in der Leitung eines der wichtigsten privaten Fernsehsender (Televisa) saß, und das sich ausschließlich der Meinungsforschung bezüglich der Person des Präsidenten und seiner Imagepflege widmet. Die Kandidatur von Fox fußte auf scharfer Kritik gegenüber den Maßnahmen der Vorgängerregierung; er kritisierte die Korruption der Politiker und beteiligte sich damit an dem weltweiten Verächtlichmachung der Politik und ihrer Repräsentanten, indem er den Schaden beklagte, den die Politiker dem „Volk" zufugten. Sein Verständnis von „Volk" blieb abstrakt, zwei-

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deutig und soziale Grenzen verwischend, wie es im Populismus üblich ist. Sein Begriff von „Volk" ersetzte nicht nur die sozialen Schichten, sondern gleichzeitig auch Organisationen und Institutionen, wie zum Beispiel Parteien und Parlamente, um so einen direkten Draht zwischen dem „Volk" und seiner charismatischen Führungsfigur herzustellen, die die Demokratie möglich gemacht habe. Kurz gefasst war es Fox allein, weder eine Organisation noch die Umstände des Wahlkampfes, der den Wahlsieg und damit die politische Wende erzielte. Die detaillierten Wahlergebnisse enthüllen die große Distanz zwischen der auf dem Papier siegreichen Partei und dem eigentlichen Sieger der Wahlen. Schaubild 3 zeigt die Prozentzahlen der Wahlen zum Präsidenten, zum Abgeordnetenhaus und zum Senat. Während PRI und PRD in den drei Wahlen ähnliche Stimmenzahlen erzielten, liegt die PAN bei den Präsidentschaftswahlen drei Prozentpunkte über den Parlamentswahlen. Dieser Unterschied entspricht 1.128.118 Wählerstimmen, deren Verlust übrigens dem Kandidaten der PRD und nicht dem der PRI anzurechnen ist. Wenn die Differenz auch gering ist, so macht sie doch deutlich, dass für die Wähler der Kandidat wichtiger war als die Partei, die ihn aufstellte, was wiederum darauf schließen lässt, dass sie eher vom persönlichen Führungscharisma überzeugt waren als vom Parteiprogramm. Dieser Umstand spiegelt sich auch in der Kabinettbesetzung wieder, bei der die PAN klar benachteiligt wurde: In Schaubild 4 ist die Mannschaft zu sehen, die von Fox im November 2000 präsentiert wurde, wenige Tage vor seinem förmlichen Amtsantritt. Von den 17 Politikern wiesen nur vier Erfahrung im öffentlichen Sektor nach, und was noch bedeutender ist, nur drei davon auf dem Gebiet, das sie in Zukunft leiten sollten (der neue Minister für Sicherheit und Justiz hatte zwar Erfahrung im Verwaltungsbereich, aber nicht auf diesem Spezialgebiet). Der Großteil der Minister setzte sich jedoch, wie auch schon bei den PAN-Regierungen auf Einzelstaatsebene, aus Unternehmern und Managern mit Karrieren im privaten Sektor zusammen, die keinerlei Erfahrung im öffentlichen Bereich nachweisen konnten. Dies sind offensichtliche und schwerwiegende Unzulänglichkeiten, denn die Minister übernehmen Ämter, von denen sie keine Ahnung haben oder in denen ihr Mangel an Erfahrung den Normalbetrieb stören wird, wie zum Beispiel im Fall des Ministeriums für Arbeit, für das der neue Präsident ohne jede Scham den ehemaligen Leiter der größten Arbeitgeberorganisation des Landes bestimmt hat.

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Die Verpflichtung gegenüber der eigenen Partei spiegelte sich in der Besetzung von lediglich zwei Ämtern wieder, den Ministerien des Innern und für soziale Entwicklung, für die Fox zwei ehemalige Bundesabgeordnete ausgewählt hat, die auch keinerlei spezifischen Kenntnisse haben. Für die restlichen fünf Ämter wurden mindestens zwei Personen ohne Erfahrung bestimmt: eine Richterin mit langjähriger Erfahrung in Familienangelegenheiten als Ministerin für Agrarreform und ein Schriftsteller und bekannter Systemkritiker sogar als Außenminister. Das Kabinett wird vervollständigt von einem Angestellten der Weltbank, einem Soldaten und einem ehemaligen Universitätsrektor. Die Unerfahrenheit dieses Kabinetts liegt ebenso deutlich auf der Hand wie der Einfluss der Unternehmerschaft, die Distanz zur Partei und die persönliche Verpflichtung der Mitglieder gegenüber der Führungsperson, die zum Präsidenten geworden ist. Fox selbst hat sich seine Mitarbeiter ausgesucht, so wie es vor ihm die Präsidenten der PRI gemacht hatten, aber mit dem großen Unterschied, dass jene auf größtmögliche Erfahrung und Zugehörigkeit zur Elite, das heißt auf gemeinsame Werte und Interessen achteten. Die Präsidenten des alten Regimes folgten persönlichen Präferenzen, stützten sich aber dennoch auf eine Elite, die dem System, das sie zu regieren hatten, aufs engste verbunden war. Fox stützt sich auf das selbe Prinzip, aber unter Berufung von Politikern, die zwar auch die persönliche Beziehung zur Führungsperson unterhalten, aber nicht unbedingt seine Ideen teilen. Das neue Kabinett ist ein klarer Beweis dafür, dass es Führungsfiguren ohne unterstützende Elite oder Institutionen geben kann. Das Muster der Amtsvergabe und internen Mobilität, das Erfahrung, Verantwortlichkeit und Wirksamkeit garantierte, existiert nicht mehr. Es wurde ersetzt durch die persönliche Vision einer Führungspersönlichkeit, die davon überzeugt ist, vom Volk auserwählt zu sein und deshalb die Berechtigung habe, ihre eigenen Projekte und Ziele durchzusetzen. Die mehrheitliche Ernennung von Unternehmern und Geschäftsführern entspricht der ideologischen und professionellen Überzeugung des Präsidenten sowie dem Glauben, dass eine technische Denkweise ausreicht, um jedes mögliche Problem in jedem möglichen Bereich lösen zu können, und dass sich die Prinzipien des privaten Managements ungeachtet der sozialen und besonders der politischen Konsequenzen ohne Weiteres auf die Regierungsgeschäfte übertragen lassen.

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Es ist noch zu früh für eine Bewertung des ersten demokratisch gewählten Präsidenten und der ersten nicht von der PRI gestellten Regierung Mexikos, aber nicht für eine Analyse des Führungsmodells, dem diese Präsidentschaft folgt. Anders als in der Vergangenheit, in der sich eine professionelle Eliteschicht darum kümmerte, effiziente Leiter auszubilden, die die Verwaltung des Systems steuerten, hat die politische Wende die Entstehung einer unbestreitbaren personenzentrierten Führung bewirkt, die sich weit von der bisherigen politischen Praxis entfernt hat und deren Vertreter von der Zweckmäßigkeit ihrer Regierungsform überzeugt sind. Ebenso überzeugt sind sie davon, auf eine direkte und absolute Weise den Willen der Bevölkerung zu repräsentieren, was sie dazu berechtigt, in ihrem Willen und zu ihrem Nutzen frei zu handeln. Aber diese Führungsfiguren verfügen nicht über eine Elite, auf die es sich stützen können, und — was noch gravierender ist — erkennen nicht die Bedeutung der Institutionen zur Lösung von Konflikten und als Quelle politischer Verhaltensregeln an. Ebenso wie andere lateinamerikanische Führungsfiguren jüngster Zeit fühlt sich Fox nicht dazu verpflichtet, sich irgendwelchen Institutionen oder Gewalten gegenüber zu verantworten. Er sieht sich vielmehr als Gesandter des „Volkes", der den Auftrag hat, die von früheren Politikern geschaffenen Probleme zu lösen. Weil jene Politiker schuldig geworden sind und das „Volk" sie satt hat, meidet die neue Führungsfigur die Politik im herkömmlichen Sinn und flüchtet sich in den puren Pragmatismus, ebenso wie vor ihm die PRI-Technokraten. Aus diesem Grund hat er bereits, ebenfalls in Übereinstimmung mit anderen lateinamerikanischen Dirigenten, Initiativen zur Verfassungsreform angestrengt, um Volksbefragung und Volksentscheide einzuführen, mit denen er notfalls den Kongress umgehen könnte, wenn dieser sich seinen Projekten entgegenstellen sollte.5 Die Wende zur Demokratie hat offensichtlich ihren Preis. Teil dieses Preises ist die Eliminierung spezialisierter Bereiche der Gesellschaft — wie zum Beispiel der politischen Elite, die in Verbindung zu dem verfallenden früheren Regime stand —, um Raum zu schaffen für neue Führungspersönlichkeiten, die als Retter der Bevölkerung auftreten. Das grundlegende Problem besteht darin, dass sich das maßlose Verhalten der Führungsfiguren früher oder später gegen die institutionellen Grenzen richDie Fälle Menem und Fujimori führten zu der interessanten und scharfsinnigen Beobachtung der „delegierten Demokratie" bei O'Donnell (1999). Siehe auch den vor kurzem erschienenen Artikel von Glaucio Ary Dillon Soares (2000).

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tet. Die Geschichte hat gezeigt, dass es nicht so sehr die „erleuchteten" Führungspersonen sind, die ein zivilisiertes Zusammenleben in einer Gesellschaft regeln, sondern die Institutionen. Die vorhersehbare Konfrontation zwischen Führungsfigur und Institutionen kann nur zu Instabilität und eventuell Überdruss an der Demokratie fuhren. Es wäre ein tragischer Widerspruch, wenn die Führung, die durch die Demokratie erst möglich wurde, ihr Versagen provozieren würde. Schaubild 1 Präsidialkabinette: Laufbahn der Minister* Präsident

Miguel Alemán Adolfo Ruiz Cortines Adolfo López Mateos Gustavo Díaz Ordaz Luis Echeverría Alvarez José López Portillo Miguel de la Madrid H. Carlos Salinas de Gortari Ernesto Zedillo Vicente Fox Quesada

Nur Verwaltung Privatsektor Akademisch Andere Gesamtzahl Verwaltung und der Parteiamt Minister 11 2 0 22 10 0 (50%) 10 7 0 0 0 17 (58,8%) 11 8 0 0 0 19 (57,8%) 11 (52,3%) 23 (79,3%)

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0

0

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6

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0

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1

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0

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0

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2

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1

4

17

18 (52,9%) 4 (23,5%)

Mit Ausnahme des Kabinetts von Fox sind alle Ministerwechsel eines Präsidenten erfasst; für das Kabinett Fox nur der Beginn seiner Amtszeit. Quelle: eigene Untersuchung, biographische Enzyklopädien und mexikanische Presse.

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Rogelio Hernández Rodríguez Schaubild 2 Kabinette der Bundesstaaten, die von der PAN regiert werden Laufbahn der Minister

Bundesstaat Öffentlicher Privastsektor Sektor

PAN

Andere

ND

1

6

1

0

0

Gesamtzahl der Minister 8

2

5

1

1

0

9

1

7

1

0

2

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4

4

1

0

0

9

2

2

2

2

2

10

0

6

1

1

2

10

Baja California 1989 Chihuahua 1992 Jalisco 1994 Guanajuato 1995 Queretaro 1997 Nuevo Leon 1997

Quelle: Presse mit bundesweiter und einzelstaatsweiter Verbreitung.

Schaubild 3 Bundeswahlen 2000 in Prozent

Präsidentschaft Abgeordnetenhaus Senat

PAN 42,5 38,2 38,1

Quelle: Instituto Federal Electoral de México.

PRI 36,1 36,9 36,7

PRD 16,6 18,7 18,9

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47 Schaubild 4 Erstes Kabinett von Präsident Vicente Fox Laufbahn der Minister

Laufbahn

Ministerium

Privatwirtschaft (6 Minister)

Arbeit und Sozialversicherung Rechnungsprüfung Energie Tourismus Umweltschutz Landwirtschaft und Fischerei Kommunikation und Transport Gesundheit Finanzen Sicherheit und Justiz Inneres Soziale Entwicklung Bildung Außenbeziehungen Allgemeine Verwaltung Agrarreform Wirtschaft

Öffentliche Verwaltung (4 Minister)

PAN (2 Minister) Akademisch Militär Justiz Weltbank

Quelle: Reforma und El Universal, November 2000.

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Dinorah Azpuru Politische Führung in Guatemala: Neuaufbau und Neudefinition Einleitung Zu Beginn des Demokratisierungsprozesses in den frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, den Huntington als die dritte Demokratisierungswelle bezeichnete, erlebten viele Länder in Lateinamerika und auch in anderen Teilen der Welt mit großer Hoffnung die Rückkehr des Militärs in die Kasernen, weil sich nun die Möglichkeit eröffnete, dass erneut eine zivile Führung die Staatsgeschäfte übernehmen könnte. Nach nunmehr zwei Jahrzehnten hat die Demokratie es geschafft, sich in Lateinamerika zu etablieren, aber sie sieht sich nach wie vor verschiedenen Herausforderungen und Hindernissen gegenüber, die in den meisten Ländern ihre vollständige Konsolidierung noch immer verhindern. Hier sollen nicht die verschiedenen Typen der Demokratie detailliert behandelt werden, denn eine solche Diskussion würde über die Ziele dieses Beitrags hinausgehen. Er soll sich vielmehr ganz allgemein auf den Typ beziehen, der von Diamond „Wahldemokratie" genannt wird, das heißt, auf ein ziviles, verfassungsmäßiges System, in dem die Zusammensetzung der Organe der Exekutive und Legislative über rechtmäßige Wahlen unter den Bedingungen des Wettbewerbs zwischen mehreren politischen Parteien bestimmt wird.1 Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurden zwar Fortschritte bei der Durchsetzung der Demokratie in verschiedenen Ländern erzielt, aber die vollständige Verwirklichung einer „zivilen Demokratie" ist bisher noch nicht erreicht worden. Die Staatsstreiche und Putschversuche in Ländern wie Siehe hierzu Diamond (1999), der in der Wahldemokratie die strenge oder minimalistische Form der Demokratie sieht, was zwar als Parameter nützlich sein kann, jedoch von verschiedenen Forschern in Frage gestellt wird. So argumentiert z.B. O'Donneil (2001), dass selbst die minimalistische Form der Demokratie nach Schumpeter und seinen Anhängern ein Rechtssystem voraussetzt, das die Verteidigung der Rechte und Freiheiten der Bürger, die der Definition eines demokratischen Regimes inhärent ist, nicht nur unterstützt, sondern sogar in die Praxis umsetzt.

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Ecuador, Venezuela und Guatemala erregen die Besorgnis der lateinamerikanischen Demokraten. Selbst im Rahmen der Wahldemokratie sind in der Region Probleme aufgetreten, vor allem in Form der Wahl von populistischen Führungsfiguren, die oft Angehörige des Militärs sind oder zumindest dessen Unterstützung haben. Diese agieren im allgemeinen außerhalb oder am Rande der politischen Parteien und tragen damit auf verschiedene Art und Weise dazu bei, dass die Konsolidierung der Demokratie verhindert wird. Verschiedene wissenschaftliche Studien haben die Verantwortung der politischen Parteien für die fehlende Festigung der Demokratie in Lateinamerika unterstrichen (Pirelli 1995), vor allem bezogen auf den Aufstieg zur Macht von autokratischen Führungsfiguren in den letzten Jahren. Diese neuen Führungspersönlichkeiten haben die Strukturen der existierenden politischen Parteien aufgebrochen und den Abbau verschiedener demokratischer Institutionen bewirkt.2 Die Versuche, den Ursprung dieses Problems vom Gesichtspunkt einer fehlenden angemessenen zivilen Führung aus zu betrachten, sind jedoch bisher äußerst gering. Die zivile politische Führung ist in den vergangenen Jahrzehnten ein entscheidender Faktor für den Fortschritt der Demokratie in den meisten Ländern Lateinamerikas gewesen, aber in einigen anderen hat ihre Schwäche ganz im Gegenteil zu den kontinuierlichen Problemen der Demokratie beigetragen. Der Unterschied zwischen diesen zwei Extremen besteht darin, dass in den ersten Fällen die politischen Führungsfiguren, die große Erfolge bei der Konsolidierung von Demokratie erzielt haben, starke Parteiapparate mit klar definierten Zielen hinter sich wussten, während in den anderen Fällen individuelle Führungspersönlichkeiten, die keine Unterstützung von einer stabilen Partei erhielten, dem Druck und der Manipulation durch gewisse privilegierte Bereiche der Gesellschaft oder gar durch die Streitkräfte ausgesetzt waren.3

Die deutlichsten Beispiele hierfür sind Alberto Fujimori in Peru und Hugo Chdvez in Venezuela. Weitere Führungsfiguren, die ebenfalls populistische Züge zeigten und das demokratische System bedrohende Maßnahmen durchführten, sind Fernando Collor und Carlos Menem in Brasilien bzw. Argentinien (Roberts 2000). Zu den Führungspersönlichkeiten, die gewisse Erfolge bezüglich der Durchsetzung der Demokratie erzielt haben, gehören Patricio Aylwin in Chile, Oscar Arias in Costa Rica und Fernando Henrique Cardoso in Brasilien. In dem speziellen Fall

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Der hier vorliegende Beitrag soll sich auf eben die Bedeutung konzentrieren, die die politische Führung bei der Konsolidierung der Demokratie spielt. Im besonderen wird hier die Rolle der politischen Führung in Guatemala analysiert. Die zentrale Fragestellung ist dabei: Welche Typen politischer Führung überwiegen in diesem Land und weshalb? Behauptet wird, dass die Führung überwiegend autoritärer Natur ist, einen hohen Grad an Zersplitterung aufweist und systemzersetzende Wirkung hat. Die Gründe hierfür liegen unter anderem in der Tradition einer autoritären politischen Kultur, einem unangemessenen gesetzlichen bzw. institutionellen Rahmen sowie verschiedenen konjunkturellen Problemen wie zum Beispiel der hohen Kriminalität und weit verbreiteten Korruption innerhalb der öffentlichen Verwaltung. Aus diesen Gründen verlangt ein Großteil der Bevölkerung nach Führungsfiguren, die dazu in der Lage sind, die Geschicke des Landes mit eiserner Hand zu führen. Nach einer kurzen konzeptionellen Diskussion zum Begriff der personalisierten politischen Führung folgt eine Abhandlung des früheren politischen Kontextes in Guatemala, der in Zusammenhang mit der derzeitigen Situation der politischen Führung des Landes steht: das Vermächtnis des Autoritarismus, die Folgen des 35 Jahre dauernden bewaffneten Konflikts und die Aussichten nach der Friedensschließung von 1996. Das Hauptargument besteht darin, dass nach den langen Jahren der bewaffneten Auseinandersetzungen die nationale politische Führung sich derzeit noch in einem Prozess des Neuaufbaus und der Neudefinition befindet. Die Nachkriegsgesellschaft befindet sich nach wie vor in einer Situation, in der zwischen den organisierten Bereichen der Gesellschaft ebenso wie innerhalb der politischen Führung Polarisierung vorherrscht und es über grundlegende Fragen keinen Konsens gibt. Darauf folgt eine Analyse des politischen Systems Guatemalas, bei der in erster Linie der gesetzliche Rahmen für die politischen Parteien und Bürgerkomitees im Mittelpunkt stehen soll, sowie deren Bedeutung für das Entstehen von verschiedenen Typen der politischen Führung. Darüber hinder Situation nach einem Bürgerkrieg kann auch die Politik eines Alfredo Cristiani in El Salvador als Erfolg betrachtet werden, den er unter anderem der kontinuierlichen politischen Unterstützung durch seine Partei ARENA zu verdanken hat. Unter den Gegenbeispielen, den Fällen, in denen Führungspersönlichkeiten ohne Unterstützung durch die Parteien dem Einfluss des Militärs ausgesetzt waren, stechen Alberto Fujimori in Peru und Jorge Serrano in Guatemala hervor (Diamond 1997).

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aus wird die Leistungsfähigkeit des politischen Systems diskutiert, im besonderen die Fähigkeit, die Bürger zu repräsentieren. Angesichts des Umstands, dass der Fortbestand autoritärer Werte als eine bedeutende Konstante des politischen Lebens in Guatemala angesehen wird, die einen Einfluss auf die Auswahl bestimmter Führungsfiguren haben kann, werden Daten zur herrschenden politischen Kultur des Landes angeführt. Ebenso wird eine quantitative Analyse der Erwartungen durchgeführt, die die Bürger an die politische Führung stellen. Einerseits soll dabei das Profil der idealen Führungsfigur in den Augen des guatemaltekischen Bürgers gezeichnet werden und andererseits werden die Variablen untersucht, von denen die gesellschaftliche Unterstützung bestimmter Führungspersönlichkeiten abhängt, unter anderem die des derzeitigen Kongressvorsitzenden Efraín Ríos Montt, der an einem Militärcoup beteiligt war, sowie die des amtierenden Präsidenten des Landes, Alfonso Portillo. Die Beschreibung der derzeitigen politischen Führung in Guatemala bildet den Hauptteil des vorliegenden Beitrags. Besondere Betonung wird hierbei gelegt auf die Zersplitterung der Führung, auf den noch immer existierenden caudillismo und auf die verschiedenen Typen von Führungsfiguren, die derzeit zu beobachten sind. Auch der Entstehungsprozess der neuen Führungspersönlichkeiten sowie die Rolle, die die Massenmedien diesbezüglich spielen, werden untersucht. Abschliessend soll im Sinne eines Fazits herausgearbeitet werden, welcher Typ von politischer Führung nötig wäre, um die Konsolidierung eines stabilen politischen Parteiensystems und somit die Festigung der Demokratie in Guatemala zu ermöglichen.

Der konzeptionelle Rahmen Das Thema der „politischen Führungsfigur" wird seit alter Zeit diskutiert. Seit Piaton und Aristoteles haben Intellektuelle versucht, eine Liste der Eigenschaften und Fähigkeiten zu definieren, die politische Führungspersönlichkeiten zu erfüllen haben. Piaton sprach jemandem die Qualitäten einer Führungsperson im Sinne eines Hüters des Staates aufgrund einer gewissen natürlichen Veranlagung und vor allem nach einer entsprechenden Ausbildung zu. Aristoteles betonte ebenfalls die natürliche Begabung der Führungsfigur und Robert Michels zählte eine Reihe von persönlichen Eigen-

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schafiten auf, die es gewissen Menschen möglich machten, über die Massen zu verfügen und somit die Führung zu übernehmen (Redekunst, Wissen, Tiefe und Festigkeit der Überzeugung, Selbstlosigkeit). In all diesen Fällen standen die Qualitäten der Führungsperson und ihre Rolle im Mittelpunkt und weniger die Beziehung zu ihren Anhängern. In diesem Sinne beschreibt der frühere Präsident Ecuadors Rodrigo Borja die idealen persönlichen Eigenschaften einer politischen Führungsfigur in der heutigen Zeit und weist darauf hin, dass der Begriff der „Führungspersönlichkeit" (lider) in seiner Bedeutung dem des caudillo sehr nahe kommt, allerdings ohne dessen negative Konnotationen. Er spielt die Rolle des Anfuhrers oder Leiters einer gesellschaftlichen Gruppe und steht an der Spitze oder befehligt oder führt eine Regierung, eine Partei, eine Bewegung oder eine politische Handlung. Borja (1997) verleiht dem Begriff eine eher wohlwollende Konnotation, wonach die politische Führungspersönlichkeit ein außerordentliches menschliches Wesen ist, das sich unerschrocken Gefahren und Risiken entgegenstellt, sich mit Gelassenheit auf die Sorgen des öffentlichen Lebens einlässt und in ihrer Person geistige Fähigkeiten mit Lebenskraft und Neigung zur Machtausübung vereint. Er beschreibt sie darüber hinaus als sehr kommunikativ, in der Lage eine Verbindung zur Gesellschaft herzustellen und den Eindruck von Selbstsicherheit, Wissen und Stärke zu vermitteln. Der Führungspersönlichkeit gelingt es, der Bevölkerung den Eindruck von Sicherheit zu geben, nach der sie verlangt. Borja setzt das Vertrauen, das die Gesellschaft in die Führungsperson setzt, das heißt seine Legitimation, in Zusammenhang mit der Aufrichtigkeit, die sie ausstrahlt, mit seiner Nähe zu den Massen sowie dem von ihr vermittelten Eindruck von Solidarität und Aufopferung. Laut Borja zeichnet sich eine Führungspersönlichkeit dadurch aus, dass sie nach dem Aufstieg zur Macht nicht in Routine verfällt, sondern ganz im Gegenteil die Bevölkerung motiviert und stimuliert, um nationale Ziele zu erreichen. Andererseits jedoch kann eine Führungsfigur nicht beurteilt oder definiert werden ohne Beachtung des jeweiligen gesellschaftlichen Kontextes. In dieser Hinsicht ist es Max Weber, der im Rahmen seiner Analyse der verschiedenen Typen von Herrschaft am deutlichsten die Beziehung der Regierenden zu den Regierten definiert hat. In der Vorstellung Webers sind die Konzepte der Autorität und Legitimität fundamental, so dass er zu der

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Überzeugung gelangt, dass eine effektive Herrschaft eine legitime Herrschaft sein muss. Für Petracca (1985) wiederum benötigt eine Führungspersönlichkeit zwar auch gewisse persönliche Eigenschaften, aber ihre Handlungen sind abhängig von den Erwartungen ihrer Anhänger, von den zur Verfugung stehenden Ressourcen und von den Umständen, die sie beeinflussen. Der Autor unterscheidet zwischen dem so genannten „Routineführet' — der sich darauf beschränkt, innerhalb der vorgegebenen Grenzen zu agieren, ohne Veränderungen durchzuführen oder etwas Neues zu schaffen —, der „innovativen Führungsperson" — die die bestehenden Regeln oder auch die gesamte Institution, an deren Spitze sie steht, verändert — und dem „Promotor" — der sich seine eigene Rolle erst schafft und dazu beiträgt, den Kontext, innerhalb dessen er seine Führungsrolle ausübt, zu verändern. In ähnlichem Sinne ist Sánchez Ferrer (1989) der Meinung, dass eine Führungspersönlichkeit über persönliche Eigenschaften und Qualitäten verfügen muss, aber erst wirklich zur Führungsfigur wird, wenn sie in der Lage ist die Werte und Ziele der gesellschaftlichen Gruppe, die sie anführen möchte, richtig zu interpretieren. Die Autorin vertritt auch die Meinung, dass es positive und negative Führungspersönlichkeiten geben kann; letztere kennzeichnen sich dadurch, dass sie die demokratischen Institutionen zerstören und außerhalb des institutionellen Rahmens agieren (wie zum Beispiel Hitler und Mussolini). Für die Argumentation hier wird auch auf das Konzept von Mills und Gerth verwiesen, nach denen es von Vorteil ist, die politische Führung auf bestimmte Arten der Autorität zu beschränken, welche als die Macht zu verstehen ist, die von einer Seite bewusst und gezielt ausgeübt und von der anderen spontan anerkannt und akzeptiert wird. Lasswell und Kaplan führen weiter aus, dass im Falle geringer Wirksamkeit bei der Machtausübung zwar von formeller Autorität gesprochen werden kann, aber nicht von wahrem Führertum (Petracca 1985). In Bezug auf die politische Führung in der heutigen Zeit ist aber vor allem die Definition von Vega Carballo von hohem Nutzen, der die besondere Beziehung betont, die unter bestimmten dynamischen Umständen zwischen einer Führungspersönlichkeit und einer Gruppensituation entsteht und in deren Mittelpunkt die Eroberung und die Kontrolle über die Staatsmacht beziehungsweise über die Instrumente, die der Gruppe dazu dienen können, Einfluss auf die Macht auszuüben, steht. Die politische Führung ist als ein wechselseitiger Prozess zu verstehen, an

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dem Regierende und Regierte beteiligt sind. Die Führung kann nur dann dauerhaft sein, wenn ein Austausch zwischen der Führungsperson und dem Prozess der Formulierung der kollektiven Ziele und Aufgaben der Gruppe stattfindet. Nur so bleibt die Legitimation erhalten, die hier erneut als grundlegendes Element der politischen Führung erscheint. Unter den verschiedenen Typen oder Klassen von politischer Führung, die im Laufe der Zeit definiert worden sind, bieten sich schließlich zwei an, die für die Analyse des Falls Guatemala nützlich sein können: die Differenzierung zwischen konservativer und progressiver Führung sowie die zwischen demokratischer und autoritärer Führung. Die konservative Führung zielt auf die Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung ab und des status quo, während das Interesse der progressiven Führung darin besteht, die gesellschaftliche Ordnung so zu verändern, dass der Reichtum breiter und gerechter verteilt wird (Fairchild 1984). Die demokratische Führung wiederum unterscheidet sich von der autoritären dadurch, dass ihre Ausübung auf gesellschaftlichem Konsens beruht, während letztere viel weniger beratend, beteiligend und horizontal ist (Carballo 1989) 4 Obwohl Carballo es nicht ausdrücklich sagt, zeichnet sich die demokratische Führung in der Regel dadurch aus, dass sie aus freien Wahlen hervorgeht, während die autoritäre Führung das Resultat von Massnahmen des Zwangs oder der Gewalt ist, die die Bevölkerung zu akzeptieren hat. Einige Autoren sind der Meinung, dass die so erzwungene Ausübung der Macht durch einen Diktator dem Konzept der Unterordnung näher steht als dem der Führung, obwohl es durchaus sein kann, dass, wenn die Bevölkerung den Machthaber willig akzeptiert, dieser sich in eine Führungspersönlichkeit verwandeln kann. In den letzten Jahren ist in einigen Ländern Lateinamerikas eine weitere Modalität aufgetreten, die darin besteht, dass eine autoritäre Führung auf demokratischem Weg (freie Wahlen) an die Macht gekommen ist, wobei in erster Linie an die Fälle von Fujimori in Peru, Chävez in Venezuela und Ríos Montt in Guatemala zu denken ist.

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Auf ähnliche Art und Weise differenziert Helmut Schoeck zwischen egalitärer und autoritärer Führung (1981).

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Der historische Kontext der politischen Führung in Guatemala Das Vermächtnis der autoritären Vergangenheit Zum besseren Verständnis gewisser politischer Phänomene im heutigen Guatemala, insbesondere der Schwächen und Besonderheiten bestimmter derzeitiger politischer Führungsfiguren, ist es nötig sich die politische Geschichte des Landes vor Augen zu fiihren. Eine der Konstanten der politischen Geschichte Guatemalas seit der Unabhängigkeit 1821 ist zweifellos das wiederholte Auftreten von caudillos, die in den meisten Fällen aus den Reihen des Militärs stammten. Wie auch in anderen Ländern Lateinamerikas führten sie die Staatsangelegenheiten mit eiserner Hand und auf hochgradig personalisierte Art und Weise. In diesem Zusammenhang sind vor allem Rafael Carrera, der von 1844 bis 1848 und von 1851 bis 1865 regierte (insgesamt 18 Jahre), Justo Rufino Barrios von 1873 bis 1885 (12 Jahre), Manuel Estrada Cabrera von 1898 bis 1920 (22 Jahre) und Jorge Ubico von 1931 bis 1944 (14 Jahre ) zu nennen. Sowohl Carrera als auch Barrios und Ubico hatten eine militärische Vergangenheit. Die Zeit nach diesen caudillos bis zur demokratischen Wende 1985 ist gekennzeichnet von Instabilität und häufigen Regierungswechseln unter den verschiedenen militärischen Führern, oftmals durch einen Putsch. In der Tat sind in dieser vierzig Jahre umfassenden Periode nur zwei zivile Präsidenten zu zählen: Juan José Arévalo (1945-1951) und Julio César Méndez Montenegro (1966-1970).5 Die Regierung von Méndez Montenegro war allerdings auch hochgradig abhängig von den Streitkräften, die einen sehr großen Einfluss auf seine Regierung ausübten. In der Zeit nach Méndez Montenegro folgte der Einfluss des Militärs eher institutionalisierteren Bahnen. Das heißt, dass die militärischen Führer, die die Präsidentschaft in den Jahren von 1970 bis 1982 übernahmen, vorher alle die gleiche Amtsabfolge durchlaufen mussten: Sie wurden erst Vertei-

In der Zeit von 1821 bis 1930 gab es schon einmal zwei Zivilisten, die das Amt des Präsidenten besetzten, aber schon nach kurzer Zeit durch einen Staatsstreich abgesetzt wurden, einer von ihnen der caudillo Manuel Estrada Cabrera. Bemerkenswert ist auch der Fall des Jacobo Arbenz (1951-1954), der zwar auf demokratische Art und Weise gewählt wurde und während seiner Amtszeit versuchte, tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen in Gang zu bringen, aber als Oberst auch zu den Angehörigen des Militärs gerechnet werden muss. Für detailliertere Informationen zu diesem Thema, siehe Azpuru (1994) und Torres (1981).

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digungsminister und danach Präsidentschaftskandidat für eine der offiziellen, vom Militär dominierten Parteien. Im März 1982 begann der Prozess des Übergangs zur Demokratie, der durch den erfolgreichen Staatsstreich des Generals Efraín Ríos Montt eingeläutet wurde. Zunächst jedoch waren die 15 Monate seiner Herrschaft durch eine eiserne Antiguerillastrategie gekennzeichnet, die eine harte Kritik durch Menschenrechtsorganisationen hervorrief. 1983 dann wurde er selbst mit einem Putsch seines Amtes enthoben und durch den General Oscar Mejía Víctores ersetzt, der ein Jahr später Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung ankündigte und der letzte militärische Regierungschef Guatemalas im 20. Jahrhundert sein sollte. Sowohl die militärischen caudillos, die sich mit ihrer personalisierten Politik lange Jahre an der Macht hielten, als auch die Militärregierungen, die sich auf institutionalisierte Weise in schneller Abfolge ablösten, kamen oft nur über die Methode des Wahlbetrugs an die Macht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Großteil der politischen Geschichte Guatemalas seit der Unabhängigkeit von Staatsstreichen und eiserner Regierungspolitik, oftmals mit Unterstützung wirtschaftlich dominanter Gruppen, gekennzeichnet war, mit dem Ziel, den status quo zu erhalten und die politische Opposition und die Masse der Bevölkerung von der Machtausübung auszuschließen. Zivile Führungspersonen haben in Guatemala die Staatsgeschäfte immer nur wenige Jahre lenken können. Darin unterscheidet sich dieses Land von anderen Staaten in Lateinamerika, in denen sich die Demokratie weiter entwickelte, wie zum Beispiel Costa Rica oder Chile, wo die Staatsfuhrung historisch öfter von zivilen Führungspersonen ausgeübt wurde.

Gewaltsame Unterdrückung der oppositionellen Führung Die langen Jahre der autoritären Regierungen haben sich auf vielfache Weise auf die politische Entwicklung des Landes ausgewirkt. Dabei sind zwei Aspekte besonders hervorzuheben: die Schwächung der zivilen politischen Führung, die von den autokratischen Militärregierungen systematisch unterdrückt oder entscheidend beeinflusst wurde, und die Festigung einer

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autoritären Kultur in der Bevölkerung, die sich daran gewöhnte, dass das Land von autoritären Führern geleitet wurde, die den Dialog als politische Option ausschlössen. Die Verfassungen und Wahlgesetze wurden immer wieder diesem ausschließenden Charakter der nationalen Politik angepasst. In Bezug auf die Auswirkungen des autoritären Vermächtnisses auf die heutige politische Führung muss darauf hingewiesen werden, dass nach dem Auftreten der guatemaltekischen Guerillabewegung in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Unterdrückung der politischen und gesellschaftlichen Führer, die nicht unter dem Einfluss des Militärs standen, sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene zunahm. Der so genannte „bewaffnete Konflikt" wurde vor dem Hintergrund des Kalten Krieges geführt, hielt fast 36 Jahre lang an, kostete 200.000 Menschenleben und ist somit einer der blutigsten Bürgerkriege in der jüngeren Geschichte Lateinamerikas.6 Die gegen die Aufständischen gerichteten Maßnahmen der Militärregierungen zielten auf die Auflösung und den Abbau sämtlicher gesellschaftlicher und politischer Bewegungen, die auf irgendeine Weise mit der Opposition in Verbindung gebracht werden konnten, so unscheinbar diese auch gewesen sein mögen, und dazu gehörte selbstverständlich auch die Beseitigung der Anfuhrer dieser Bewegungen. Die Verantwortlichen der Militärregierungen hielten jede Organisation und jeden Führer, die den Status quo in Frage stellten, für subversiv und unterschieden praktisch nicht zwischen den auf legalem Boden operierenden politischen und gesellschaftlichen Organisationen des Landes und der bewaffneten Opposition im Untergrund. Zu den zivilen politischen Führungsfiguren, die während des bewaffneten Konflikts in den Jahren von 1960 bis 1984 beseitigt wurden, sind an erster Stelle Manuel Colom Argueta, Adolfo Mijangos und Alberto Fuentes Mohr zu nennen. Alle drei vertraten progressive Ideen über Politik und Gesellschaft und ihre Popularität hatte eine gewisse mystische Note. Wären sie je an die Macht gekommen, hätten sie wahrscheinlich sehr positiven Einfluss auf die politische Entwicklung des Landes ausgeübt. Außer diesen Führern, die auf dem politischen Spektrum eher in Richtung Mitte-Links anzuordnen Siehe auch den „Bericht der Kommission zur geschichtlichen Aufklärung" (Informe de la Comisión de Esclarecimiento Histórico), der von einer im Rahmen der Friedensabkommen eingerichteten Kommission unter Vorsitz der Vereinten Nationen verfasst wurde, um Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges zu untersuchen.

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waren, fielen auch gemäßigtere Politiker dem Militär zum Opfer wie zum Beispiel Torres Ocampo und Danilo Barillas. Aber am stärksten war die Unterdrückung wahrscheinlich auf lokaler Ebene spürbar, wo vor allem die politischen Parteien, wie zum Beispiel die Democracia Cristiana (Christdemokraten, gegründet 1956), sowie die zahlreichen unpolitischen Basisorganisationen zu leiden hatten. Als direkte Folge der Unterdrückung sahen sich die Führungsfiguren, die der Ermordung entgingen, gezwungen das Land zu verlassen. Das Vakuum, das sie hinterließen, trug weiter dazu bei, die Strukturen militärischer Herrschaft in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft zu festigen. Die zivile politische Elite des Landes wurde durch die Gewalt der autokratischen Regime fast vollkommen zerschlagen. Dadurch entstand in Guatemala im Vergleich zu anderen Ländern eine starke Verzögerung des Demokratisierungsprozesses, die teilweise noch heute zu spüren ist (Cerdas 1995).

Demokratisierung in der Zeit nach Ende des Bürgerkriegs Die demokratische Öffnung Guatemalas begann 1984, als die Regierung unter General Oscar Mejía Víctores Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung ankündigte. Mit Blick auf die Zielsetzung dieses Beitrags ist darauf hinzuweisen, dass diese politische Öffnung nicht die Konsequenz des Drucks gesellschaftlicher Gruppen oder Bewegungen oder eines Großteils der Bevölkerung war. Es handelte sich vielmehr, wie viele Beobachter auch ganz richtig festgestellt haben, um ein Zugeständnis der guatemaltekischen Armee, die unter dem Druck der Demokratisierungswelle in Lateinamerika stand und darüber hinaus mit dem Druck ausländischer Regierungen sowie mit einer Wirtschaftskrise zu kämpfen hatte. Dazu kamen noch die Erfolge der Guerillabewegungen in den mittelamerikanischen Nachbarländern, vor allem in Nicaragua und teilweise auch in El Salvador, so dass das guatemaltekische Militär beschloss, den Weg eines gemäßigteren Wandels zu gehen, um so eine mögliche Revolutionsregierung zu verhindern. Der Beginn der Demokratisierungsphase bewirkte, dass einige Oppositionsführer aus dem Exil zurückkamen. Für sie und die wenigen Führungspersonen, die im Land geblieben waren, bestand endlich die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung. Vor diesem Hintergrund rückten die Politi-

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ker der christdemokratischen Partei in den Vordergrund, die von allen politischen Organisationen diejenige war, deren Struktur, Ideologie und Programm am meisten gefestigt erschien. Einige Sozialdemokraten, unter ihnen viele Akademiker, gründeten im Zuge der Demokratisierung eine weitere politische Partei. Im Januar 1986 ging nach der Verabschiedung einer neuen politischen Verfassung Vinicio Cerezo Arévalo, der Kandidat der christdemokratischen Partei PDCG, als Sieger aus den ersten freien Wahlen hervor und wurde somit zum ersten zivilen Präsidenten nach der demokratischen Wende. Seine Partei erzielte darüber hinaus die absolute Mehrheit im Parlament und stellt auch den Großteil der Bürgermeister im gesamten Land. Die Machtübernahme durch eine neue Regierung führte zu hohen Erwartungen der Bevölkerung, die jedoch am Anfang angesichts des immer noch andauernden Bürgerkriegs nur zaghaft ausgedrückt wurden. Die erste Amtszeit der Zivilregierung war gekennzeichnet von der allmählichen Anpassung der gesellschaftlichen und politischen Kräfte an das neue politische System. Das Andauern des bewaffneten Konflikts behinderte jedoch noch immer das Auftreten neuer politischer Führer, besonders auf der lokalen Ebene. Im Januar 1991 kam es zur ersten Machtübergabe zwischen zwei durch freie Wahlen bestimmte Zivilisten in der Geschichte Guatemalas. Vinicio Cerezo wurde abgelöst von Jorge Serrano, der von vielen als Outsider eingestuft wurde und dessen Erfolg in erster Linie zu erklären ist durch seine geschickte Strategie der Kritik an der vermeintlichen Korruption der christdemokratischen Regierung und der Ausnutzung der ungewöhnlichen Wahlsituation: nach der Disqualifizierung von Efraín Ríos Montt als Kandidat waren viele Wähler unentschieden. Viele der Unentschiedenen stimmten dann für Serrano, vor allem weil er wie Montt der evangelikalen, fundamentalistischen Kirche angehört, die sich seit der Machtübernahme von Ríos Montt im Jahr 1982 zu einer neuen Konstante in der guatemaltekischen Politik entwickelt hat. Der 1983 durch einen Staatsstreich abgesetzte Ríos Montt versuchte, auf dem Weg der Wahlen die Macht zurückzuerobern, aber der Oberste Wahlrat wies seine Kandidatur mit der Berufung auf den Artikel der Verfassung zurück, der besagt, dass jemand, der einmal einen Staatsstreich angeführt hat, nicht für das Präsidentenamt kandidieren darf. Der General und seine Anhänger leiteten juristische Schritte ein, um seine Kandidatur doch noch

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zu ermöglichen, einschließlich der Anrufung internationaler Organe, aber am Ende war alles vergeblich. Dennoch spielt Ríos Montt seitdem, wie sich auch später in diesem Beitrag zeigen wird, eine große Rolle als politische Führungsfigur auf nationaler Ebene in seiner Funktion als Generalsekretär der von ihm 1989 ins Leben gerufenen Partei Frente Republicano Guatemalteco (FRG). Die Partei, die Serrano an die Macht brachte, war keine starke Organisation. Sie war erst kurze Zeit vorher gegründet worden und verfugte weder über große Unterstützung durch die Bevölkerung noch über weitere bedeutende Führungsfiguren. Darüber hinaus hatte sie keine Mehrheit im Parlament und auch kein schlüssiges Arbeitsprogramm. Dieser Hintergrund führte in Verbindung mit der autoritären Persönlichkeit des Präsidenten dazu, dass er selbst im Mai 1993 den Versuch eines Staatsstreiches unternahm, der jedoch aus mehreren Gründen zur Erfolglosigkeit verdammt war. Zum internationalen Druck und der Erklärung der Parlamentsauflösung als unrechtmäßig durch das Verfassungsgericht kam die Tatsache, dass zum ersten Mal in der politischen Geschichte des Landes der Großteil der Führungspersonen der verschiedenen Bereiche der Gesellschaft einen Konsens erzielten, um gemeinsam gegen Serrano eine Oppositionsfront zu bilden. Zu dieser Opposition gehörten auch mehrere politische Führer, die sich zur so genannten Instancia Nacional de Consenso (INC) zusammenschlössen. Diese „Instanz" legte dem Kongress der Republik eine Liste von drei Politikern vor, aus der der Präsident zu bestimmen war, der die verbleibenden zwei Jahre der Amtszeit Serranos zu Ende führen sollte, während dieser ins Exil ging. Die Konsequenz dieser Krise der politischen Institutionen war die Wahl des Beauftragten für Menschenrechte, Ramiro de León Carpió, der die Regierungsgeschäfte bis 1996 führte und dann durch einen weiteren Zivilisten, Alvaro Arzú, abgelöst wurde. In Bezug auf das Thema der politischen Führung machte die Krise von 1993 deutlich, wie groß der Mangel an politischen Führungsfiguren wirklich war, die auf Unterstützung durch die Bevölkerung bauen konnten und in der Lage gewesen wären, den Übergang zur Demokratie zu leiten. Abgesehen von León Carpió war der Rest der Parteiführer über mögliche andere Kandidaten zerstritten. Als Interimspräsident hatte León Carpió keine Partei, die ihn unterstützte, was in vielen Bereichen der Gesellschaft als sehr positiv gesehen wurde, aber in großem Maße die Regierungsarbeit behinderte.

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Als weiteres wichtiges Element des Demokratisierungsprozesses unter der Regierung Serrano begannen 1991 formell die Friedensverhandlungen mit der bewaffneten Guerilla. Dieser Umstand führte zu einer zweiten Welle der Rückkehr früherer Oppositioneller gegen die Militärregierung aus dem Exil. Ihr Einfluss auf die nationale Politik blieb jedoch äußerst gering und der Mangel an Führungsfiguren, die eine Einigung des Landes hätten herbeiführen können, wurde auch dadurch nicht behoben. Auf ähnliche Weise wie in El Salvador reagierten leitende Persönlichkeiten aus der Privatwirtschaft auf die Möglichkeit der Gründung einer politischen Partei durch die ehemalige Guerilla sowie auf den zunehmenden Verdacht der Korruption gegen die seit der Wende gewählten Politiker mit der Gründung einer eigenen Partei, dem Partido Avanca Nacional (PAN). Sie wurde auf Anhieb in den Kongress gewählt und gewann die Präsidentschaftswahlen 1996 sowie einen Großteil der Bürgermeisterämter. Darüber hinaus gelang ihr die Unterzeichnung des Friedensabkommens mit der Guerillaorganisation URNG (Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca) Ende 1996. Trotz der Versuche der PAN, mit der traditionellen Parteipolitik der „politischen Klasse" zu brechen, wurde auch ihre Regierung aufgrund von Korruptionsverdacht zur Zielscheibe heftiger Kritik und verlor die nächsten Wahlen im Jahr 1999 gegen den Kandidaten der Partei von Ríos Montt, der FRG. Da dieser selbst aus den bereits erwähnten verfassungsrechtlichen Gründen nicht kandidieren durfte, unterstützte er einen anderen populistischen Kandidaten, Alfonso Portillo, während er selbst das Amt des Parlamentsvorsitzenden übernahm. Die Regierung der FRG übernahm ihr Amt im Januar 2000 und wird voraussichtlich bis Januar 2004 regieren. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die demokratische Öffnung 1984 zusammen mit den Friedensverhandlungen (1991-1996) und der Etappe des inneren Friedens (seit 1997) dazu beigetragen hat, die Rückkehr der politischen Führungspersonen und Intellektuellen, die Guatemala während der Repression des Militärs verlassen hatten, zu ermöglichen. Zu diesen gehörten sogar ehemalige Guerillaführer, die jetzt versuchten, über den Weg der Politik an die Macht zu kommen. Darüber hinaus hat die allmähliche Einrichtung von politischen Handlungsräumen im Landesinnern das Auftreten von neuen Führungsfiguren auf lokaler wie auch auf nationaler Ebene ermöglicht. Das negative Vermächtnis von 35 Jahren autoritärer Herrschaft und einem blutigen Guerillakrieg, der einen tiefen Keil in die

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guatemaltekische Gesellschaft getrieben hat, ist jedoch noch nicht vollkommen überwunden.

Das politische System Guatemalas und die politische Führung Der gesetzliche Rahmen Die seit Januar 1986 gültige Verfassung der Republik legt fest, dass Guatemala von einem Präsidenten regiert wird. Die gleichzeitige Geltung von einschränkenden Verfahren, wie zum Beispiel die Interpellation sowie die verschiedenen Kontrollfunktionen der Staatsgewalten untereinander, lassen das System als halbparlamentarisch erscheinen. Bezüglich der politischen Repräsentation legt die Verfassung fest, dass die Zusammensetzung der einzigen Kammer des Nationalkongresses über ein Verhältniswahlsystem bestimmt wird. Sie besteht zu 25% aus nationalen Abgeordneten, der Rest wird in den 22 Bezirken des Landes gewählt. Einige der Bezirke {departamentos) stellen so genannte „uninominale" Wahlkreise dar, in denen die Wahl nicht nach dem Verhältnissystem, sondern nach dem der einfachen Mehrheit entschieden wird. Andererseits besteht die Wahl der Gemeinderäte in den 330 Kommunen des Landes in einem Mischsystem, das Eigenschaften beider Mechanismen miteinander verbindet. Die Bürgermeister werden nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt, während die Gemeinderatssitze nach dem Verhältniswahlsystem verteilt werden. Der Präsident und der Vizepräsident der Nation schließlich werden mit Mehrheit gewählt, wobei ein zweiter Wahlgang nötig ist, wenn im ersten Wahlgang keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit erreicht. Die Diskussion unter den Gelehrten über die Auswirkungen eines solchen Wahlsystems auf das politische Leben ist umfangreich und überschreitet den Rahmen dieses Beitrags. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass in Übereinstimmung mit den Überlegungen Sartoris das Verhältniswahlsystem die Ursache für die extrem hohe Anzahl von Parteien bei den Parlamentswahlen sein könnte, welche letztendlich für das demokratische System schädlich ist.

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Das ebenfalls seit 1986 gültige Gesetz über Wahlen und Parteien wurde mit dem Ziel eingeführt, die Transparenz der politischen Prozesse und der Wahlen zu erhöhen und der langen Tradition des Wahlbetrugs vergangener Jahrzehnte entgegenzuwirken. Im Laufe der Jahre hat dieses Gesetz geringe Veränderungen erfahren, aber im Prinzip ist es seit 15 Jahren unverändert in Kraft. Im Zuge des Friedensvertrages von 1996 hat sich eine Reformkommission zum Wahlgesetz formiert, in der Vertreter der im Kongress vertretenen Parteien sitzen. Diese Kommission hat eine Reihe von bedeutenden Vorschlägen zur Reform und Modernisierung des Gesetzes erstellt. Deren Verabschiedungen durch den Kongress sollte sich aber noch um mehr als zwei Jahre verzögern, was ist nicht zuletzt ein Hinweis auf den fehlenden Willen und Mangel an Konsens der Politiker dieses Landes ist. Das geltende Wahlgesetz erkennt drei verschiedene Typen von politischen Organisationen an: politische Parteien, so genannte ,3ürgerkomitees" und schließlich politisch orientierte Vereinigungen. Nur die beiden zuerst genannten Organisationsformen sind berechtigt, Kandidaten für öffentliche Ämter aufzustellen, wobei die Bürgerkomitees sich auf die Kommunen beschränken müssen und im Gegensatz zu den Parteien nur vorübergehenden Charakter haben. Regionale und lokale Parteien gibt es nicht. In jüngster Zeit ist in Guatemala eine umfassende Diskussion über die Erwieterung der Kompetenzen der Wahlkomitees geführt worden. Verschiedene Bereiche der Gesellschaft sind der Meinung, es sollte ihnen gestattet werden, Kandidaten für die Wahlen zum Kongress und sogar zur Präsidentschaft aufzustellen.7 Vor allem die Führungsriegen der politischen Parteien treten gegen erweiterte Kompetenzen für die Bürgerkomitees ein, mit dem Argument, dies würden nur dazu führen, dass die Komitees sich in privilegierte Parteien verwandelten, welche weniger Auflagen hinsichtlich ihrer Organisationsstruktur unterlägen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass nur die Parteien Anspruch auf staatliche Gelder zur Parteifinanzierung haben.

Verschiedene Organisationen haben der Reformkommission zum Wahlgesetz Vorschläge zur Erweiterung der Kompetenzen der Bürgerkomitees vorgelegt, die jedoch von den politischen Parteien, die in der Kommission vertreten sind, abgelehnt wurden. Einige gesellschaftliche Gruppen, vor allem Organisationen der MayaIndianer, drängen weiterhin auf die Durchsetzung dieser Vorschläge.

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Den Bürgerkomitees ist es gelungen, Bürgermeisterämter in einigen wichtigen Gemeinden zu erobern, besonders in Regionen mit vorwiegend indianischer Bevölkerung; auf dem Weg zur Macht stellen sie aber nach wie vor ein eher weniger effektives Vehikel dar. In Schaubild 1 ist der Zuwachs der Anzahl der Wahlkomitees, die sich an den Kommunalwahlen beteiligt haben, dargestellt, auch wenn dieser Entwicklung bisher nur geringe Bedeutung beizumessen ist.

Schaubild 1 Beteiligung der Bürgerkomitees am demokratischen Prozess Beteiligte Gemeinden Teilnehmende Bürgerkomitees Gemeinden, in denen die Bürgerkomitees siegten

1985 325 53

1988* 273 42

1990 300 84

1993* 276 101

1995 300 159

1998* 30 19

1999 330 132

8

12

8

19

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1

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* Vor der Verfassungsreform von 1994 wurden in den kleineren Gemeinden alle 2/4 Jahre Kommunalwahlen durchgeführt. Dieser Modus wurde allmählich geändert und heute finden die Kommunalwahlen in sämtlichen Gemeinden zeitgleich mit den allgemeinen Wahlen zum Kongress statt, also alle 4 Jahre. Quelle: Ausarbeitung der Autorin unter Verwendung von Daten aus „Guatemala: Informe analitico del proceso electoral 1999", in: Revista ASIES, Nr. 1, Jg. 2000 (Guatemala).

Das Ziel dieses Beitrags besteht nicht in der Analyse der Stärken und Schwächen des derzeit gültigen Wahlgesetzes und ebenso wenig in der Bewertung der Reformvorschläge, die zur Zeit im Nationalkongress diskutiert werden. Allerdings ist dieses Wahlgesetzes in Bezug auf die politische Führung weitgehend für das Fortbestehen gewisser Probleme verantwortlich, die zur Verschärfung der Krise der politischen Parteien beitragen. Zu den Artikeln des Wahlgesetzes, die sich negativ auf die Stärkung der nationalen politischen Führung auswirken, gehört zum Beispiel derjenige der uneingeschränkten Wiederwahl der Generalsekretäre der Parteien, obwohl die Stimmen immer lauter werden, die sich für eine Einschränkung der Wiederwahl aussprechen. Die geltende Regelung ist dafür verantwortlich, dass einige Parteien allein auf eine Person, einen caudillo, zugeschnit-

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ten sind, von ihm gegründet werden und oft mit dem Tod oder dem Popularitätsverlust des Parteiführers wieder verschwinden. Zu den Beispielen für solche Parteien gehört die Unión del Centro Nacional (UCN), die ein Jahrzehnt lang eine der stärksten Parteien des Landes war, sich aber nach der Ermordung ihres Parteichefs Jorge Carpió auflöste. Auf ähnliche Weise entwickelte sich die das Movimiento de Acción Solidaria (MAS), das mit der Popularität von Jorge Serrano wuchs, bis dieser nach seinem gescheiterten Staatsstreich ins Exil gehen musste. Auf die eine oder andere Weise hat sich dieses Phänomen bei vielen Parteien wiederholt und zwar nicht nur auf der nationalen Ebene, sondern auch auf der Bezirksebene, wo eine Wiederwahl ebenfalls uneingeschränkt möglich ist.8 Ein weiterer Nachteil des derzeitigen Wahlgesetzes ist die fehlende Regelung über interne Wahlen oder Vorwahlen zur Bestimmung der Kandidaten für die verschiedenen öffentlichen Ämter, sowohl für die Parteien als auch für die Bürgerkomitees. Es ist den Organisationen überlassen, für welche Mechanismen sie sich diesbezüglich entscheiden. Das hat dazu geführt, dass sich die jeweiligen Parteiführer endlos in der höchsten internen Machtposition halten und selbst darüber bestimmen, welche Kandidaten für die verschiedenen Ämter aufgestellt werden. Ein häufiger Nebeneffekt dieser Regelung in den 15 Jahren der Existenz des Gesetzes ist die Zersplitterung der Parteien, wenn Mitglieder, die mit dem Parteiführer unzufrieden sind und keine Möglichkeit zum Ausdruck ihrer eigenen Ideen finden, austreten und eine neue Partei gründen. Diese Problematik ist offensichtlich nicht neu. Politiktheoretiker wie Michels (1962) haben gezeigt, dass die Parteien häufig zu zu großen Organisationen werden, um wirksam funktionieren zu können, und dabei ein bürokratisches System entwickeln, das sich auf die Willensbildung innerhalb der Partei auswirkt und dazu beiträgt, eine geringe Anzahl von Führungsfiguren an der Macht zu halten.9 Dennoch wird für möglich gehalten, dass eine angemessene Wahlgesetzgebung dazu betragen könnte, die interne Demokratie der Parteien zu verbessern und somit Austritte und Zersplitterung zu verhindern.

Guatemala ist unterteilt in 22 Bezirke und 330 Gemeinden. Das Wahlgesetz verlangt von den Parteien, dass sie in mindestens 50 Gemeinden oder mindestens 12 Bezirken über eine Organisation verfügen müssen. Auf der Ebene der Bezirke muss eine Partei in mehr als drei Gemeinden vertreten sein und auf der Ebene der Gemeinde mindestens fünfzehn Mitglieder haben. Siehe hierzu auch Diccionario Electoral (1989: 457).

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Ein weiterer Schwachpunkt des Wahl- und Parteiengesetzes ist die fehlende Klarheit in Bezug auf die Aufgaben der politischen Parteien. Zu oft lässt eine Partei jedes Interesse an der Gesellschaft vermissen und dient lediglich ihrem Gründer zur Aufstellung gewisser Kandidaten, um auf diese Weise öffentliche Ämter besetzen zu können und durch den existierende Klientelismus sich selbst oder der eigenen Gruppe einen Vorteil zu verschaffen. Und schließlich ist am Parteiengesetz auch zu bemängeln, dass es für die Gründung einer neuen Partei zu wenig Anforderungen stellt, was sich ebenfalls verstärkend auf die ständige Tendenz zur Zersplitterung ausgewirkt hat, sobald sich die Parteiführer uneinig werden. In den Zeiten des Autoritarismus waren 50.000 Personen notwendig, um eine Partei zu gründen, während es heutzutage nur noch 4000 sind; das ist eine besonders niedrige Zahl, wenn man die Wachstumsrate der Bevölkerung mit in Betracht zieht. Die Folge dieser Entwicklung ist eine nicht zu leugnende Schwäche des Parteiensystems und ein entsprechender Ansehensverlust bei der Bevölkerung, die sich bei jeder neuen Wahl einer Reihe von neuen Parteien gegenüber sieht, welche weder über eine ideologische Basis noch über ein fundiertes Programm verfügen und keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung haben. Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Wahlgesetz zwar keine spezifischen Angaben zur politischen Führung macht, dass aber gewisse konkrete Schwächen des Gesetzes die Entstehung von Parteien und Führerfiguren einer bestimmten Art zur Folge haben können, die der Festigung der Demokratie in Guatemala nicht dienlich sind.

Die Schwäche des Parteiensystems in der Praxis Obwohl das Wahl- und Parteiengesetz an gewissen Schwächen leidet, ist es dennoch nicht die zentrale Quelle der Schwächen des Parteiensystems in Guatemala. Wenn die großen Hoffhungen, die die Öffnung zur Demokratie 1984 entstehen ließ, nicht erfüllt worden sind, so liegt das größtenteils an der fehlenden Konsolidierung eines stabilen Parteiensystems. In den sechzehn Jahren seit der Einberufung der verfassungsgebenden Versammlung 1984 sind fast fünfzig Parteien auf die eine oder andere Weise auf der Bühne der guatemaltekischen Politik aufgetreten. Die meisten von ihnen waren

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Eintagsfliegen: Während einige wenige Parteien zwei oder mehr Wahlperioden überstanden, ist der Großteil von ihnen wieder verschwunden, ohne je auch nur einen Abgeordneten in einen Stadt- oder Gemeinderat oder das Parlament geschickt zu haben.10 Nur sechs aus dieser langen Liste von fast fünfzig politischen Parteien in den letzten fünfzehn Jahren ist es gelungen, tatsächlich Einfluss auf die Politik des Landes zu nehmen (Azpuru 2000). Die politischen Parteien in Guatemala sind, darin stimmen mehrere Beobachter überein, in erster Linie reine Wahlinstanzen, die die Grundfunktionen der Vertretung gesellschaftlicher Interesse ebenso wenig erfüllen wie die Vermittlung unter den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft. Praktisch allen Parteien fehlt eine komplette und solide Organisationsstruktur. Die meisten von ihnen existieren erst seit relativ kurzer Zeit und sind in ihrer Ideologie inkonsequent. In der Regel bilden sie einen Zusammenschluss von Individuen mit gemeinsamen Interessen, welche sehr häufig denen des Parteiführers entsprechen. Wenn die Demokratie in Guatemala seit nunmehr fünfzehn Jahren überlebt hat, dann hat sie das verschiedenen begünstigenden Faktoren zu verdanken, wie zum Beispiel der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit der Guerilla und der Tatsache, dass der Demokratisierungsprozess von zahlreichen nationalen und internationalen Institutionen begleitet wurde. Es ist argumentiert worden, dass in der jüngeren Geschichte eine wechselseitige Beziehung besteht zwischen dem Prozess der Demokratisierung seit Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts und dem der Friedensverhandlungen, die 1991 begannen." Diese wechselseitige Beziehung dauert auch nach der Beendigung des bewaffneten Konflikts 1996 bis heute an. In den letzten fünf Jahren sind wichtige Fortschritte in Richtung einer weniger autoritären Gesellschaft gemacht worden, aber die Schwächen des Demokratisierungsprozesses sind nach wie vor zahlreich. Eine dieser Schwächen besteht in dem bereits angesprochenen Mangel an einem stabilen Parteiensystem und anderen politischen Organisationen, die in der Lage wären, den Demokratisierungsprozess weiter zu vertiefen.

Laut Wahlgesetz hören die Parteien, die weniger als 4% der Stimmen erhalten und keinen Sitz im Kongress erobern, automatisch auf, als legale Vereinigung zu existieren und dürfen im Falle einer Neugründung nicht den selben Namen benutzen. 11

Eine tiefer gehende Analyse dieser Beziehung findet sich in Arnson (1999).

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Ganz i m Gegenteil befinden sich die politischen Parteien zur Zeit in einer schweren Krise, deren z w e i wichtigste Merkmale die Zersplitterung und die Instabilität sind. 1 2 Schaubild 2 macht den Mangel an Institutionalisierang deutlich, an d e m die politischen Parteien Guatemalas in den letzten Jahren leiden. Schaubild 2 D i e Instabilität der Parteien in Guatemala, 1985-2000

Partei

Frente Republicano Guatemalteco (FRG)

Partido de Avanzada Nacional (PAN) Movimiento de Acción Solidaria (MAS)

Democracia Cristiana Guatemalteca (DCG)

Gründungsjahr 1989

1988

Parlamentssitze

Bürgermeister

Bemerkung

1999: 63 von 113 1995:21 von 80 1990: 12 von 116*

153 von 330 46 von 300 16 von 300*

1999: 37 von 113 1995: 43 von 80 1990:12 von 116

108 von 330 107 von 300 16 von 300

1994 aufgelöst; 1990: 18 von 116

14 von 300

1999: 2 von 113 1995: 4 von 80 1990: 27 von 116 1985: 51 von 100

10 von 330 38 von 300 88 von 300 148 von 327

Stellt zur Zeit die Regierung. Parteichef ist General Efrain Rios Montt; innere Spaltung; konservativ Regierte von 1995 bis Januar 2000. Mitte 2000 Spaltung; konservativ. Regierte von 1990 bis 1993. Gründer und Generalsekretär war Jorge Serrano, der 1993 als Präsident einen Staatsstreich versuchte und darauf ins Exil musste; konservativ Regierte von 1985 bis 1990. Später Abnahme des politischen Einflusses und innere Spaltungen. Stellte 1999 keinen Präsidentschaftskandidaten auf; christlich sozial

Quelle: Ausarbeitung der Autorin

12

Zu diesem Thema siehe u. a. International IDEA (1998) und Sistema (1998).

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Die Analyse der in Schaubild 2 enthaltenen Daten macht deutlich, dass es in den letzten fünfzehn Jahren nicht nur viele Parteien gegeben hat, sondern dass darüber hinaus eine starke Fluktuation mit ständigen Neugründungen und Auflösungen herrschte. Zudem litten Parteien, die Wahlen gewannen, an einem schnellen Verschleiß. Das politische System Guatemalas ist nicht gleichberechtigt, sondern diskriminierend. Das zeigt sich daran, dass sich die politischen Parteien größtenteils aus Personen zusammensetzen, die männlichen Geschlechts und nicht indianischen Ursprungs sind.13 Die indianische Bevölkerung (nach der letzten Volkszählung 43% der Gesamtbevölkerung), Frauen und junge Leute sind praktisch von den politischen Entscheidungsprozessen innerhalb der Parteien und anderen gesellschaftlichen Organisationen ausgeschlossen. Daher ist die Repräsentationsfähigkeit des politischen Systems insgesamt stark eingeschränkt, obwohl die Richtlinien für ein repräsentatives System sowohl in der Verfassung als auch im Wahlgesetz theoretisch festgelegt sind. Zusammenfassend kann bestätigt werden, dass in den letzten fünfzehn Jahren zweifellos große Fortschritte hinsichtlich der Verwirklichung von Demokratie in Guatemala gemacht worden sind, besonders im Vergleich zu den Militärregierungen bis Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Dennoch sind weiterhin eine Menge Schwächen zu beklagen, vor allem der Mangel an einem stabilen Parteiensystem, in das die Bevölkerung ihr Vertrauen setzen könnte.14 Wie nicht anders zu erwarten ist, haben die Einstellungen und Handlungen der nationalen politischen Führer einen großen Einfluss auf die Schwächen der politischen Parteien und ganz allgemein auf die mangelnde Konsolidierung der Demokratie in Guatemala.

In Guatemala wird in der Regel zwischen zwei ethnischen Gruppen unterschieden, den sogenannten ladinos, Bezeichnung für die Nachkommen der spanischen Eroberer bzw. Mestizen, und der indianischen Bevölkerung, die sich wiederum in zwei Gruppen teilt, Maya (die Mehrheit) und Garifuna. 14

Für mehr Information zum Thema des Fortschritts und der Schwächen des Demokratisierungsprozesses in Guatemala, siehe Azpuru (2001).

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Legitimation, politische Kultur und Erwartungen der Bevölkerung Eine der wichtigsten Säulen der Demokratie ist die Legitimation des Systems (Azpuru 2000), das heißt, die Überzeugung der Bevölkerung, dass die existierenden politischen Institutionen trotz aller möglichen Schwächen und Fehler die bestmöglichen sind. Nach Easton kann die als gesellschaftliche Unterstützung verstandene Legitimation drei unterschiedliche Ebenen aufweisen: die der politischen Gemeinschaft, die des Regimes und die der jeweils an der Macht befindlichen Regierung. 15 Die Legitimation eines demokratischen Systems lässt sich auf verschiedene Weise messen, vor allem aber mittels wissenschaftlicher Studien zur öffentlichen Meinung. Verschiedene in Guatemala durchgeführte Studien16 haben gezeigt, dass einerseits trotz der ethnischen Vielfalt des Landes eine allgemeine Unterstützung der politischen Gemeinschaft durch die Bevölkerung besteht, das heißt, eine Identifikation mit den bestehenden Landesgrenzen. 17 Die Forderungen der indianischen Bevölkerung nach politischer Unabhängigkeit sind in den letzten Jahren leiser geworden und die Tendenz geht heutzutage eher in Richtung des Anspruchs auf Teilnahme dieser Bereiche der Gesellschaft am politischen Prozess des Landes. Für die Legitimation des demokratischen Regimes und einer demokratische politischen Führung ist es wichtig, dass die Bevölkerung die Demokratie anderen Arten des Regimes vorzieht. In Guatemala haben Untersuchungen zur demokratischen Kultur aber gezeigt, dass die Unterstützung der Demokratie durch die Bevölkerung eher schwach ist und nach wie vor autoritäre Werte vorherrschen. Die verschiedenen Umfragen im Rahmen des barómetro Latinoamericano" haben ergeben, dass die Demokratie in GuateAndere Autoren unterteilen die Ebenen der Legitimation auf andere Art und Weise. Norris (1998) zum Beispiel beruft sich zwar auf Easton, unterscheidet aber insgesamt fünf Ebenen: die politische Gemeinschaft, die Prinzipien des politischen Regimes, die Funktion des politischen Regimes, die Institutionen des politischen Regimes und die jeweils sich an der Macht befindenden Politiker oder Regierungen. 16

In erster Linie die vier Studien zur demokratischen Kultur der Guatemalteken, die in regelmäßigen Abständen 1993, 1995, 1997 und 1999 von der Universität Pittsburgh, ASIES und Development Associates durchgeführt wurden (Veröffentlichungen auf Spanisch bei ASIES).

17

98% der Bevölkerung haben in der vierten Umfrage 1999 ausgesagt, dass sie auf ihre Staatsangehörigkeit stolz sind. Diese Angabe wird in wissenschaftlichen Studien in Beziehung gesetzt zur Unterstützung der politischen Gemeinschaft.

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mala weniger positiv bewertet wird als in fast allen anderen Ländern Lateinamerikas. Eine der Fragen, die im Allgemeinen im Rahmen dieser Meinungsumfragen zur Legitimation des demokratischen Regimes gestellt werden, lautet, ob der oder die Befragte der Meinung wäre, die Demokratie sei immer vorzuziehen, ob es ihm egal sei unter einem demokratischem oder einem autoritären Regime zu leben oder ob er sich Umstände vorstellen könne, unter denen eine autoritäre Regierung vorzuziehen sei. In der Umfrage von 1997 entschieden sich nur 53% der Guatemalteken für die erste Option. Nur in Paraguay und in Ecuador kam die Demokratie noch schlechter davon und der Prozentsatz in Mexiko war in etwa so wie in Guatemala. In den mittelamerikanischen Nachbarländern jedoch war die Unterstützung der Demokratie viel stärker, so zum Beispiel in El Salvador oder Nicaragua, wo 70% der Bevölkerung die Demokratie unter allen Umständen dem Autoritarismus vorzogen. Die vierte und bisher letzte Studie im Jahr 1999 zu diesem Thema wiederholte die selbe Frage und dieses Mal sollte das Ergebnis noch schlechter ausfallen: Nur noch 44% zogen die Demokratie unter allen Umständen vor. Ebenso bedenklich sind die Zahlen, die belegen, dass 37% der Bevölkerung einen Staatsstreich in einer bestimmten Situation für gerechtfertigt halten und 68% der Meinung sind, eine Regierung der eisernen Hand sei besser als eine Regierung, die versucht Lösungen zu finden, an denen sich die gesamte Bevölkerung beteiligen kann. In Bezug auf die dritte Ebene der Legitimation sind die Ergebnisse auch nicht viel ermutigender. Angesichts der Tatsache, dass das Thema dieses Artikels die politische Führung in Guatemala ist, wird im Folgenden besondere Betonung auf die quantitative Analyse der verschiedenen Daten gelegt, die dazu beitragen können, die Variablen besser zu verstehen, von denen die Unterstützung oder der Mangel an Übereinstimmung mit den politischen Führungsfiguren abhängt. In einer im Juli 1999 ausschließlich auf die Hauptstadt beschränkten Umfrage, nur drei Monate vor den Präsidentschaftswahlen18, wurde den Bürgern die Frage gestellt, welches das größte Problem sei, das der nächste 18

Die im Juli 1999 von ASIES durchgeführte Umfrage zum Thema der politischen Führung umfasste 1400 Personen, die nach dem Zufallsprinzip im Großraum von Guatemala-Stadt ausgewählt wurden.

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Präsident als erstes zu lösen hätte. Dabei zeigte sich deutlich, dass die städtischen Guatemalteken von ihren politischen Führungsfiguren und insbesondere vom Präsidenten erwarten, sich auf die sozioökonomischen Probleme zu konzentrieren (51%), also auf die erhöhten Lebenskosten, die Arbeitslosigkeit, die niedrigen Löhne, die Inflation und die Instabilität der Wirtschaft. Erstaunlich ist, dass die mit 34% am zweithäufigsten genannte Anwort die Unsicherheit ist, insbesondere aufgrund der Kriminalität. Weit abgeschlagen rangieren mit nur 8% die sozialen Probleme, also das Gesundheitswesen, das Schulwesen, der Straßenbau und die Umwelt, was in dem Land, das auf dem Kontinent die negativsten Werte bezüglich der sozialen Indikatoren aufweist, extrem niedrig erscheint.19 Alle weiteren Problem, wie zum Beispiel die Erhaltung des Rechtsstaats, die Privatisierung oder die Einhaltung des Friedensabkommens wurden von jeweils weniger als 3% der Bevölkerung angegeben. In der selben Umfrage wurde auch nach der wichtigsten Eigenschaft gefragt, die der zukünftige Präsidenten in den Augen der Befragten haben sollte. Männer und Frauen stimmen mit jeweils 45% darin überein, dass Ehrlichkeit die wichtigste Eigenschaft der Führer sein soll, das heißt, um genau zu sein, dass sie sich wünschten, ihr Präsident hätte diese Eigenschaft vor allen anderen. Diese Zahl kann zur Erklärung beitragen, warum die Bürger im allgemeinen zur Zeit so unzufrieden sind mit den Parteien und mit der politischen Führung, denn häufig ist in den Medien von Korruptionsfällen die Rede. Weit seltener wurde als Antwort gegeben, die Führungsfiguren sollten sich um die Probleme der Bürger kümmern oder ihre Wahlversprechen einhalten. Im Hinblick auf die Meinung der Bürger über die Arbeit der politischen Führungsfiguren im Parlament war zu erkennen, dass diese unabhängig vom Bildungsstand der Befragten mehrheitlich mit „mittelmäßig" bewertet wird, ein Begriff, der im guatemaltekischen Sprachgebrauch eher negative Konnotationen hat, und dass es nur ganz wenige gibt (unter 5%), die die Arbeit der Parlamentarier mit „sehr gut" bewerten. Die Meinung der Befragten wird mit höherem Bildungsgrad kritischer, wobei die Akademiker

19

Auf dem amerikanischen Doppelkontinent liegt Guatemala laut UNO-Berichten nach wie vor hinsichtlich sozialer Entwicklung und Gleichverteilung auf einem der hintersten Plätze. Siehe hierzu den Zeitungsartikel „Ultimos a nivel de desarrollo humano", Prensa Libre, 5. 10. 2000, S. 32.

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die Arbeit der Politiker am negativsten bewerten. Ursache hierfür ist wahrscheinlich der Zugang zu den Massenmedien, insbesondere den Zeitungen, die im allgemeinen den Parteien und der politischen Führung sehr kritisch gegenüber stehen. Anhand der Analyse weiterer Daten20 lassen sich noch andere interessante Themen im Zusammenhang der öffentlichen Meinung zur politischen Führung und zu politischen Institutionen im allgemeinen untersuchen. Diese Daten sind besonders aufschlussreich, da sie im Verlauf von insgesamt sechs Jahren zusammengetragen wurden und sich somit gewisse Tendenzen in den Antworten der Bevölkerung ablesen lassen. In der erwähnten Studie wurde auch nach der Rolle der Abgeordneten und ihrem Einfluss auf die Lösung der wichtigsten Probleme des Landes gefragt. Über einen Zeitraum von sechs Jahren hinweg zeigt sich, dass 1993 weniger als 6% der befragten Bürger der Meinung waren, die Abgeordneten würden viel zur Lösung der wichtigsten Probleme des Landes beitragen, während es von 1995 bis 1999 jeweils weniger als 5% waren. Entsprechend ist die große Mehrheit der Bevölkerung davon überzeugt, dass die Parlamentarier nichts für die Problemlösung unternehmen. Immerhin ist zu beobachten, dass der Prozentsatz dieser letzten Gruppe über die Jahre abgenommen hat, von 71% 1993 auf 62% 1999. Dieser Unterschied von 9% ist statistisch durchaus von Bedeutung. Die Bewertung der politischen Führungspersonen unterscheidet sich deutlich von der der Führung in anderen Bereichen, einschließlich der militärischen. Die Abgeordneten belegen zusammen mit den politischen Parteien 1999 die letzten Plätze in der Gunst der Bevölkerung hinsichtlich ihrer Rolle bei der Lösung der wichtigsten Probleme des Landes. Weit vor diesen beiden Institutionen sind die Kirchen, die Medien und sogar auch die Armee plaziert, und dies bei beiden ethnischen Gruppen, den Nachkommen der Spa20

Diese Daten wurden anlässlich der bereits erwähnten vierten Studie zur demokratischen Kultur zusammengetragen, die von der Universität Pittsburgh, ASIES und Development Associates durchgeführt wurde. Sie enthalten insgesamt 1200 Interviews aus dem gesamten Staatsgebiet Guatemalas. Die Formulierung der Fragen orientiert sich an ähnlichen Studien, die in anderen Ländern seit vielen Jahren durchgeführt werden, und basiert auf der Theorie der angewandten Politikwissenschaften.

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nier und denen der Ureinwohner. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass es zwischen den beiden ethnischen Gruppen kaum einen Unterschied in der Bewertung der Parlamentarier gibt, während die Meinung über die Parteien bei der indianischen Bevölkerung nicht ganz so negativ ist wie bei den Weißen. Die Ursachen für das negative Bild der Parteien und der Abgeordneten in den Augen der Bevölkerung sind sehr zahlreich und eine davon ist sicherlich die Überzeugung, dass das Ausmass der Korruption zu hoch ist. 1999 war mehr als die Hälfte der Bevölkerung 1999 der Meinung, Korruption sei unter den Beamten ein gängiges Phänomen; eine Überzeugung, die sich auch auf die politischen Führungsfiguren einschließlich der höheren Posten in der Regierung übertragen lässt. Diese quantitative Analyse macht darüber hinaus eine weitere interessante Facette der politischen Führung in Guatemala deutlich: Die Bürgermeister in den Gemeinden erwecken bei der Bevölkerung mehr Vertrauen und Sympathie als die nationalen Führerfiguren und sind in den Augen der Wähler eher dazu in der Lage, die Probleme der Menschen zu lösen (Seligson 2000). Eine personenbezogene Analyse der einzelnen Führungsfiguren einen Monat vor den allgemeinen Wahlen im September 1999 liess keine wesentlichen Unterschiede zwischen der Bevölkerung in ländlichen und in städtischen Gebieten bezüglich ihrer Meinung zu einigen der wichtigsten Führungspersonen des Landes erkennen. Was jedoch ebenfalls deutlich wird und in gewissem Maße Anlass zur Sorge gibt, ist die Tatsache, dass keine von ihnen auf mehr als 50% kommt. Das kann nur bedeuten, dass die wichtigen Führungsfiguren über keine ausreichende Unterstützung in der Gesellschaft verfugen. Dass General Ríos Montt, der häufig als eine der führenden Persönlichkeiten des Landes angesehen wird, von weniger Leuten positiv bewertet wird als viele der anderen, ist überraschend. Der Grund hierfür mag in jüngeren Veröffentlichungen liegen, die ihn verschiedener Menschenrechtsverletzungen anklagten. Dennoch erfreut sich der General21 21

Angesichts des verfassungsrechtlichen Verbots seiner Kandidatur für die Präsidentschaft beschloss Rios Montt, in seinem Amt als Generalsekretär der FRG für einen Abgeordnetensitz zu kandidieren und den Parteigenossen Alfonso Portillo als Präsidentschaftskandidaten zu unterstützen. Schon während des Wahlkampfes kündigte er an, dass er Kongressvorsitzender werden wolle, wenn er nur zum Abgeordneten

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nach wie vor einer breiten Unterstützung vor allem in den unteren Einkommens- und Bildungsschichten. Diejenigen, die den Präsidenten Alfonso Portillo und den Parlamentsvorsitzenden General Efraín Ríos Montt unterstützen, ziehen eine Regierung der eisernen Hand einer Regierung vor, die sämtliche Bereiche der Bevölkerung zu beteiligen sucht; zudem sind sie der Meinung, das Militär müsse sich am Kampf gegen die Kriminalität beteiligen und sei auch in der Lage andere Probleme des Landes zu lösen. Zwei weitere Faktoren, die mit der Unterstützung Portillos in Beziehung stehen, sind die Bevorzugung eines autoritären Regimes gegenüber einem demokratischen sowie die Überzeugung, das Gesetz dürfe ruhig gebrochen werden, solange dies dem Kampf gegen die Kriminalität diene. Auch bezüglich der Unterstützung von Ríos Montt sind noch zwei weitere Faktoren zu beobachten: die Einschränkung der Meinungsfreiheit von Extremisten und die Überzeugung, ein Staatsstreich könne unter gewissen Umständen sinnvoll sein. Kenner der Situation Guatemalas und der Umstände, unter denen die FRG die letzten Wahlen gewann, werden von obigen Ergebnissen kaum überrascht. In Guatemala wird eine Diskussion darüber geführt, ob die Bereiche der Gesellschaft, die Portillo unterstützen, sich von denen, die hinter Ríos Montt stehen, unterscheiden, was angesichts der verbreiteten Einschätzung, dass Portillo eher populistische Züge trägt, während Ríos Montt für autoritär gehalten wird, interessant ist. Das Ergebnis der quantitativen Studie zeigt diesbezüglich, dass beide Politiker eher bei Bürgern beliebt sind, die einer autoritären demokratischen Kultur anhängen. Unter den weiteren untersuchten nationalen Führungspersönlichkeiten befindet sich Óscar Berger, als Kandidat der von der Unternehmerschaft unterstützten Fortschrittspartei PAN, der Verlierer der letzten Wahlen. Die gewählt und seine Partei die absolute Mehrheit im Parlament erreichen würde, was dann im Januar 2000 auch tatsächlich eintrat. Als Regierungspartei schaffte es die FRG eine Änderung der Statuten des Kongresses durchzusetzen, so dass Ríos Montt im Januar 2001 als Kongressvorsitzender wiedergewählt werden konnte. Die Rolle, die er in diesem Amt spielt, ist von verschiedenen Seiten stark kritisiert worden. Im Jahr 1994 hatte er dieses Amt schon einmal besetzt. Der Staatspräsident Alfonso Portillo wiederum ist eine populistische Führungsfigur, die mit eiserner Hand regiert. Die Tatsache, dass er einmal in Mexiko zwei Menschen getötet hat — nach eigenen Angaben in Notwehr —, konnte er zu seinem Vorteil nutzen, als er sich der Bevölkerung als ein Mann vorstellte, der weiß, wie er sein Volk zu verteidigen hat.

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Unterstützung für ihn ist interessanterweise größer unter Frauen, unter denen, die das politische System und seine Institutionen befürworten und die Demokratie gegenüber der Politik der eisernen Hand vorziehen, sowie unter denen, die mit ihrer derzeitigen wirtschaftlichen Situation relativ zufrieden sind. Aber auch unter den Anhängern Bergers befinden sich Stimmen, die gegenüber Andersdenkenden nicht sehr tolerant sind und die Einschränkung der Meinungsfreiheit von Extremisten begrüßen. Hinsichtlich des Problems der Korruption waren die Sympathisanten Bergers einen Monat vor den Wahlen der Meinung, diese sei innerhalb der Regierung nicht sehr verbreitet. Portillos gegen die damalige PAN-Regierung gerichtete Antikorruptionskampagne war somit vor allem unter denen erfolgreich, die der Meinung waren, die Korruption sei unter der PAN-Regierung 19961999 ein Problem gewesen. Der Fall Älvaro Colom ist deshalb interessant, weil sich unter statistischen Gesichtspunkten nur zwei Faktoren auf seine Unterstützung beziehen. Colom war der Kandidat eines Bündnisses, der Alianza Nueva Nation, an der unter anderen die ehemalige Guerilla beteiligt war und die hinter FRG und PAN - wenn auch mit großem Abstand - den dritten Platz in der Gunst der Wähler belegte. Der einzige positive Faktor hinsichtlich der gesellschaftlichen Unterstützung dieses Kandidaten ist die Befürwortung des demokratischen Systems und der politischen Institutionen vonseiten seiner Sympathisanten, obwohl sie andererseits dafür sind, dass sich das Militär am Kampf gegen die Kriminalität beteiligt. Der Fall der Rigoberta Menchü ist von besonderer Bedeutung. Sie gehört keiner politischen Partei und keinem an der Wahl beteiligten Bürgerkomitee an, was sich jedoch nicht negativ auf ihre Führungskraft auswirkt. Besonders unter der weiblichen Bevölkerung erfreut sie sich großer Beliebtheit. Unter ihren Anhängern befinden sich viele Befürworter des demokratischen Systems und seiner Institutionen sowie diejenigen, die eine gute Meinung von den Abgeordneten und den politischen Parteien haben.

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Charakterisierung der derzeitigen politischen Führung Zersplitterung der Führung und autoritäre Tendenzen Unter den derzeitigen Problemen der politischen Führung in Guatemala sind mehrere nicht neu in Lateinamerika (Lazarte 1998) und weisen darauf hin, dass die Konsolidierung der Demokratie in diesem Land noch nicht abgeschlossen ist. Dazu gehört die bereits behandelte hochgradige Zersplitterung des politischen Lebens, die sich auch an der Tendenz der politischen Führung zur Gründung neuer Parteien, in denen sie auf direktere Weise Einfluss ausüben können, ablesen lässt. Aus eben diesem Grund führt der Austritt der Führerfigur aus einer Partei häufig zu deren Verschwinden. Dieser Umstand wirft die Frage auf, inwiefern die derzeitige Krise der Parteien eine Folge des Mangels an fähigen Führerpersönlichkeiten ist. Im Folgenden wird eine kurze Charakterisierung der heutigen politischen Führung des Landes vorgenommen, zu der die Kongressabgeordneten, die Generalsekretäre der politischen Parteien, die Bürgermeister, die Mitglieder der Leitungen der Bürgerkomitees und einige Angehörige der Instanzen der Exekutive zählen, insbesondere der Präsident und diejenigen, die in ein politisches Amt berufen worden sind (unter Ausschluss deijenigen, die lediglich ein funktionelles Amt innerhalb der Regierung ausüben). Ohne den konzeptionellen Rahmen dieses Beitrags zu verlassen, lässt sich von einer etwas subjektiveren Perspektive aus sagen, dass in Guatemala eine Tendenz in Richtung der autoritären Führung existiert, auch wenn diese, so wie es bei der jetzigen Regierung der Fall ist, demokratisch gewählt worden ist. Der Mangel an interner Demokratie in der Struktur der politischen Organisationen, selbst in der Partei der früheren Guerilla, belegt jedoch die Existenz von autoritärer Führung innerhalb dieser Organisationen. In den Bürgerkomitees, die sich zu den Wahlen formieren, ist dies nicht viel anders, wenn auch in geringerem Maße. Der gegenteilige Fall, die Förderung der Beteiligung aller Mitglieder einer Organisation durch demokratische (oder gleichberechtigte) Führerfiguren beziehungsweise die Einbeziehung vernachlässigter Bereiche innerhalb der Organisation, zum Beispiel der Indianer, Frauen oder jungen Menschen, tritt im allgemeinen höchst selten ein. Die derzeitige Führung der politischen Parteien ist in den meisten Fällen konservativ. Lediglich in den Parteien der demokratischen Linken, die nach

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wie vor nur eine Minderheit darstellen, sowie in einigen der Bürgerkomitees kann von progressiven Führerfiguren gesprochen werden, die tatsächlich danach streben, tiefgreifende Veränderungen des Status quo herbeizufuhren. In Bezug auf die oben vorgestellte Typologisierung der politischen Führung in Routine-, Innovations- und Promotions-Führer, trifft in Guatemala in der Regel die Bezeichnung der „Routineführer" zu, die nur wenig Fähigkeit zur Erneuerung an den Tag legen. Ebenfalls sticht das Fehlen von Führungsfiguren ins Auge, die dazu in der Lage wären, die in der Gesellschaft existierenden Spaltungen zu überwinden, insbesondere hinsichtlich der multiethnischen Realität des Landes sowie der aus dem noch nicht lange zurückliegenden Ende des bewaffneten Konflikts resultierenden Polarisierung der Gesellschaft. Eine weitere offensichtliche Eigenschaft der derzeitigen politischen Führung ist der hohe Grad an Personalisierung. Die Führungsfiguren von heute haben keine ideologische Konsistenz, ihnen fehlt die Fähigkeit zur Vertretung der Interessen der Bürger, sie sind nicht offen für Veränderungen und fördern negative Praktiken wie zum Beispiel den Klientelismus. Die Anführer der verschiedenen sozialen Bewegungen üben einen gewissen Einfluss auf das politische Leben der Nation aus und können durchaus als politische Führerfiguren angesehen werden, wenn auch nur indirekt. So gesehen unterscheidet sich die so genannte soziale Führung des Landes nicht sehr von der rein politischen. Sie steht zwar den politischen Parteien sehr kritisch gegenüber, leidet aber gleichzeitig an den selben Fehlern: starke Zersplitterung, geringe Fähigkeit zu Konsens und Verhandlung, geringe Fähigkeit zur Vertretung der Interessen des Volkes, Personalisierung und ein gewisser Autoritarismus, die sich unter anderem an der langen Zeit ablesen lassen, in der sich die selben Führungsfiguren an der Spitze der jeweiligen Organisation halten. Allerdings lässt sich auch nicht leugnen, dass die Führung der sozialen Organisationen in der Regel wesentlich progressiver eingestellt ist als die politische Führung. Ebenso ist zu beobachten, dass die sozialen Führungsfiguren in der Regel den Bürgerkomitees viel näher stehen als den Parteien. Zum Abschluss soll gesagt sein, dass sich die führenden Politiker des Landes ebenso wie die Parteien im allgemeinen weit von den sozialen Gruppen entfernt haben, schnell Verschleisserscheinungen zeigen und nur über ein

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sehr geringes Maß an Legitimation verfügen, was sie wiederum der starken Kritik vieler Bereiche der Gesellschaft aussetzt. Dieser Umstand gibt Anlass zur Sorge, besonders wenn die Natur der Führung in Betracht gezogen wird, vor allem die der politischen Führung, die auf dem Prinzip der Legitimation durch die Bevölkerung und auf der Fähigkeit zur Vertretung der gesellschaftlichen Interessen zur Erhöhung des Gemeinwohls basiert. Schon Sánchez Ferrer (1989) verwies darauf, dass sich die moderne politische Führung durch Legitimation und Kompatibilität mit der Demokratie auszuzeichnen hat, die wiederum ausschließlich über funktionierende Beziehungen zwischen den Führungspersonen und ihren jeweiligen sozialen Gruppe erreicht werden kann. Darüber hinaus hat sich in den fünfzehn Jahren der Demokratie in Guatemala gezeigt, dass es dem Land an einer Führungspersönlichkeit mit dem Charakter eines Staatsmannes fehlt, der dazu in der Lage wäre, die polarisierten Flügel der guatemaltekischen Gesellschaft zu vereinen und eine kohärente Politik durchzusetzen, von der das gesamte Land profitieren könnte. Wenn man die Bedeutung von Konsens für das Funktionieren einer Demokratie bedenkt, muss in der jüngeren Geschichte der Demokratisierung Guatemalas festgestellt werden, dass es nur in zwei Fällen gelungen ist, die sich gegenüberstehenden Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen und einen politischen Konsens zu finden. Das erste Mal nach dem missglückten Staatsstreich von Jorge Serrano 1993, als sich nicht nur die politischen Organisationen, sondern auch der Untemehmerverband und andere Gruppen zusammenfanden, um die Demokratie zu verteidigen und zu diesem Zweck die bereits erwähnte Instancia Nacional de Consenso (INC) gründeten (McCleary 1999). Der zweite Fall war die Gründung der so genannten Asamblea de la Sociedad Civil (ASC), die sich mit konkreten Vorschlägen maßgeblich am Prozess der Friedensverhandlungen mit der Guerilla beteiligte. In der ASC waren es jedoch vor allem die sozialen Führungsfiguren, die zur Einigung beitrugen. Die Führung der Unternehmerschaft nahm zum Beispiel in diesem Fall aus eigener Entscheidung nicht an den Verhandlungen teil und auch nur in sehr geringem Maße einige wenige politische Führungsfiguren.

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Die neue Führung und ihre Beziehung zu den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft Wie bereits angesprochen, besteht eines der tragischsten Vermächtnisse des Bürgerkriegs und der Repression in der Beseitigung vieler politischer Führungspersonen auf sämtlichen Ebenen. Nach der demokratischen Wende ist dann langsam ein Prozess in Gang gesetzt worden, der das Auftreten neuer Führungsfiguren sowie den Wiederaufbau und die Neudefmition der alten Führung ermöglichte. Im allgemeinen lässt sich aber sagen, dass nur wenige der derzeitigen Führungsfiguren noch aus der Zeit des autoritären Regimes stammen und die große Mehrheit ihre Karriere nach der Wende begonnen hat. Zu Beginn des Demokratisierungsprozesses Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts übernahmen die Angehörigen der „politischen Klasse" die Rolle der Führung des Landes. Als mit den Jahren jedoch ihre Schwächen bei der Wahrnehmung der Staatsgeschäfte offensichtlich wurden, traten nach und nach neue Führungspersonen unterschiedlicher Art auf den Plan, so dass heutzutage von der Existenz einer Vielfalt von politischen Führungsfiguren gesprochen werden kann. Die politische Klasse bezeichnet die Gruppe deijenigen Politiker, die ihre Karriere größtenteils der Politik gewidmet haben und seit langer Zeit in einer politischen Organisation engagiert sind, obwohl nicht immer in der selben Partei. Auf nationaler Ebene handelt es sich bei den herausragenden Führungsfiguren meist um Akademiker aus der Mittelschicht, deren Haupttätigkeit die Politik ist, obwohl sie auch noch andere Einkommensquellen haben. Häufig werden sie von der jeweiligen Regierungspartei verpflichtet, um ein Amt in der Exekutive zu besetzen. In den vergangenen Jahren können die ehemaligen Präsidenten Virticio Cerezo, Ramiro de León, Jorge Serrano und auch der derzeitige Präsident Alfonso Portillo als Angehörige dieser politischen Klasse bezeichnet werden. Die Politiker aus der Unternehmerschaft widmen sich der Politik aufgrund des Vertrauensverlustes, den die Angehörigen der traditionellen politischen Klasse vor allem wegen des zunehmenden Verdachts der Korruption erlitten haben. Es handelt sich bei ihnen um eine Gruppe progressiv eingestellter Unternehmer, die zu Beginn ihrer Aktivitäten in der nationalen Politik Ehrlichkeit und Effizienz auf ihre Fahne schrieben. Größtenteils haben sie

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sich in einer Partei mit konservativer Tendenz organisiert, der „Partei des Nationalen Fortschritts" (PAN), der auch viele Akademiker der oberen Mittelschicht angehören. Obwohl später auch Führungspersönlichkeiten aus der Unterschicht in diese Partei eingetreten sind, wird sie noch heute von der Mehrheit der Bevölkerung für eine Partei der Elite gehalten. Ihr größter Erfolg während der Zeit, in der sie die Regierung stellte (19961999), war der Friedensschluss nach dem Bürgerkrieg. Die Form der Regierungsführung war, ähnlich wie bei den traditionelleren Parteien, wenn auch in geringerem Ausmaß, sehr stark bezogen auf die Person des Führers, den Präsidenten Alvaro Arzú. Seiner Politik wurde vorgeworfen, sie bevorzuge die mächtigeren Bereiche der Wirtschaft. Darüber hinaus litt die Partei an einem Mangel an weiteren, dem Volk nahestehenden Führungspersönlichkeiten, die dazu in der Lage gewesen wären, andere Bereiche der Gesellschaft an die Partei zu binden. Dies wurde nur bei einigen wenigen Vertretern der Linken und der Intellektuellen erreicht, die die PAN unterstützten. Die früheren Guerillakämpfer stellen die jüngste Gruppe von politischen Führungsfiguren dar und haben sich in der Partei URNG (Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca) zusammengeschlossen. Diese Organisation vertrat die Guerilla zunächst bei den Friedensverhandlungen mit der damaligen Regierung und wurde 1998 zu einer vollberechtigten Partei. Die Führung der URNG wurde von den ehemaligen comandantes, den Befehlshabern der Guerilla, übernommen, die größtenteils der Mittelschicht angehörende Akademiker sind und lange Jahre im Exil verbringen mussten. An der Basis jedoch arbeiten viele Führungspersönlichkeiten aus ländlichen Gebieten, die oft aus bescheidenen Verhältnissen stammen oder Angehörige einer indianischen Ethnie sind und normalerweise von den anderen Parteien ignoriert werden. Die Intellektuellen beteiligen sich an der nationalen Politik seit der demokratischen Wende, die es ermöglichte, dass die aufgrund der Repression exilierten Akademiker aus der Mittelschicht nach Guatemala zurückkehrten. Viele von ihnen engagierten sich nach ihrer Rückkehr in der sozialdemokratischen Partei PSD, die von dem inzwischen verstorbenen Mario Solórzano geleitet wurde. Die intellektuellen Führungsfiguren versuchten eine Annäherung an die so genannten volksnahen Bereiche der Gesellschaft (Gewerkschaften, Bauernorganisationen, usw.), konnten dabei aber keinen besonders großen Erfolg verzeichnen, was teilweise an der Uneinigkeit der

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eigenen Parteiführung lag, sowie an der Zersplitterung der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche, die sich in den ersten Jahren nach der Wende weigerten, einen Teil der so genannten „demokratischen Fassade" zu bilden. Manche Dissidenten der PSD liefen zur PAN über und wieder andere zur URNG. Eine dritte Gruppe wiederum entschied sich ffir die Gründung einer zweiten sozialdemokratischen Partei, die sich zur Zeit noch im Entstehungsprozess befindet. Die indianische politische Führung entstand im Rahmen der Friedensverhandlungen und repräsentiert den offensichtlichsten und tiefgreifendsten Veränderungsprozess in Guatemala. Sie wird vertreten von mehreren Maya-Bewegungen unterschiedlicher Art. Es ist allgemein bekannt, dass Guatemala eins der lateinamerikanischen Länder mit dem höchsten indianischen Bevölkerungsanteil ist. In der Vergangenheit waren die Indianer von den politischen Prozessen ausgeschlossen bzw. von der Führung der Ladino-Kultur manipuliert worden. Den neuen Maya-Führern jedoch ist es gelungen, sich durch die bereits erwähnten Bürgerkomitees einen Handlungsraum für die Teilnahme am politischen Geschehen zu schaffen. Einige haben auch versucht, sich in die existierenden progressiven Parteien zu integrieren, in der Vergangenheit vor allem in der PDCG und heutzutage in der URNG. Die indianische politische Führung ist jedoch noch weit von einer Einigung entfernt, weshalb ihr Einfluss auf die Massenparteien noch immer relativ schwach ist. Zur Zeit befinden sich unter den 113 Kongressabgeordneten nur 13 mit indianischer Abstammung.22 Die in der Politik engagierten Führungsfiguren der Zivilgesellschaft haben sich maßgeblich am Prozess der Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der Guerilla beteiligt, wenn auch nur indirekt. Die Vertreter der wichtigsten gesellschaftlichen Organisationen des Landes schlössen sich in der so genannten Asamblea de la Sociedad Civil zusammen und legten gemeinsame Vorschläge zu verschiedenen Themen von allgemeinem Interesse vor, die später in das Friedensabkommen aufgenommen wurden. Diese zivilen Führungsfiguren vermochten es jedoch nicht, den nächsten Schritt zu tun und sich nach der Unterzeichnung des Abkommens direkt an der Politik zu beteiligen. In den wenigen Ausnahmefällen, in denen sie es Das guatemaltekische Parlament besteht aus einer einzigen Kammer, dem Kongress der Republik, dessen Abgeordnetenzahl in den vergangenen Jahren entsprechend den Ergebnissen der Volkszählungen schwankte.

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versucht haben, sahen sie sich der Kritik anderer volksnaher Führungspersönlichkeiten und oft sogar aus den Reihen der eigenen Organisation ausgesetzt. Die Gruppe dieser Führungspersonen stammt größtenteils aus der Unter- bzw. unteren Mittelschicht und findet ähnlich wie auch die ehemalige Guerilla in den ländlichen Gebieten mehr Unterstützung als die traditionellen Parteien. Als traditioneller Bündnispartner dieser volksnahen Gruppen bietet sich die demokratische Linke an, aber die Führung dieser Bereiche der Gesellschaft ist sich uneinig und in den meisten Fällen herrschen noch Einzelinteressen vor.23 Das guatemaltekische Militär hat, anders als zum Beispiel in El Salvador, den Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Guerilla nicht deshalb zugestimmt, weil es die Guerilla militärisch nicht besiegen konnte, sondern aufgrund einer starken institutionalistischen Strömung innerhalb des Militärs, die sich vorgenommen hatte, das negative Image der Streitkräfte Guatemalas in den Augen der internationalen Gemeinschaft aufzubessern. Aus diesem Grund spielt die Institution der Armee und einige ihrer Führungsfiguren auch heute noch eine bedeutende Rolle in der nationalen Politik. Auf nationaler Ebene sind verschiedene Angehörige des Militärs zu leitenden Repräsentanten von Parteien geworden, die sie selbst gegründet haben. Das wichtigste Beispiel dieser Art ist der bereits erwähnte General Efrain Rios Montt, der 1982 durch einen Staatsstreich an die Macht kam und heute Generalsekretär der FRG ist. Aber es gab noch andere ähnliche Fälle von kleineren Parteien, die entweder von Angehörigen des Militärs geleitet wurden oder zumindest einen Soldaten als Kandidaten aufstellten.24 In ländlichen Gebieten hat das lange Andauern des bewaffneten Konflikts zu einer starken Militarisierung geführt, mit der Folge, dass in vielen Fällen die Führung in den Gemeinden von autoritären so genannten Militärkommissaren oder Angehörigen der „Patrouillen zur zivilen Selbstverteidigung" über-

In dieser Kategorie werden Führungsfiguren so unterschiedlicher Organisationen zusammengefasst wie zum Beispiel die der Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, Indianerbewegungen, regierungsunabhängige Entwicklungsorganisationen (NGOs), Frauenorganisationen, usw. Nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens hat sich keine Partei gefunden, durch die sie vertreten werden, weshalb sie es schwer gehabt haben, gemeinsame Ziele zu finden. Es sollte an dieser Stelle zur Klärung gesagt werden, dass in der Regel unter militärischen Führungsfiguren diejenigen zu verstehen sind, die sich im Ruhestand befinden, denn die derzeitige Verfassung untersagt den Angehörigen der Streitkräfte und der Polizei, sich aktiv an der Politik zu beteiligen und sogar zu wählen.

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nommen wurde. Diese beiden Institutionen existieren zwar heute nicht mehr, aber ihre Angehörigen üben noch immer einen großen Einfluss auf das Leben in den ländlichen Gebieten aus, und das, obwohl sie häufig verdächtigt worden sind, Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben. Die derzeitige Regierungspartei FRG hat in ihren Reihen mehrere Angehörige des Militärs in Ruhestand, die früher in der Guerillabekämpfung aktiv waren und von denen heute manche sogar Kongressabgeordnete oder Bürgermeister sind. Andererseits ist die militärische Führung derzeit zerstritten zwischen einem konservativen und einem progressiven Flügel. Angehörige des letzteren, zu dem sich auch die so genannten Institutionalisten zählen, haben versucht sich hinsichtlich der personalisierten Führung neue Handlungsräume zu schaffen, zum Beispiel als Kolumnisten in der Presse. Es ist möglich, dass die bisher angeführten Kategorien nicht die gesamte Bandbreite der derzeitigen politischen Führung in Guatemala abdecken, aber auf jeden Fall repräsentieren sie die wichtigsten Typen sowie diejenigen gesellschaftlichen Bereiche, aus denen sie stammen. Weibliche Führungsfiguren werden nicht als eine gesonderte Kategorie behandelt, denn auch wenn es bestimmte Gruppen gibt, die sich für eine stärkere Beteiligung der Frauen und eine Quotenregelung einsetzen, ist die reale Situation zur Zeit noch so, dass die Frauen auf der allgemeinen politischen Bühne nur eine Nebenrolle spielen. Ähnlich geht es den jungen Politikern, die ebenfalls noch nicht über eine Nebenrolle in den politischen Organisationen hinauskommen. Der Großteil der Parteiführungen besteht aus Politikern mittleren Alters und für die Führung der Bürgerkomitees und der anderen gesellschaftlichen Organisationen gilt Ähnliches. Vor wenigen Jahren wiesen junge Teilnehmer des Seminars „Jugend und Parteien" darauf hin, dass die politischen Parteien nicht die gesamte Bevölkerung vertreten, sondern lediglich bestimmte Gruppen und Bereiche, und dass sie im allgemeinen geschlossene Organisationen sind, die keine wirkliche Partizipation der Bevölkerung zulassen {Memoria 1999). Von den Führungspersönlichkeiten erhofften sich die Vertreter der Jugend in Zukunft vor allem Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Kenntnis der Probleme des Landes, sowie Toleranz, demokratische Entscheidungsprozesse und ständige Kommunikation mit der Bevölkerung. Die politische Führung in Guatemala unterscheidet sich von der in anderen Gesellschaften aufgrund der besonderen Eigenschaften einer multikulturellen Gesellschaft und durch die Auswirkungen des langen und blutigen Bür-

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gerkriegs. Diese zwei Ursachen haben in Guatemala eine veränderte soziodemographische Struktur und eine starke Polarisierung der politischen Führung bewirkt, die die politische Verhandlungsfáhigkeit stark einschränkt. Andererseits ist positiv zu beobachten, dass ein Phänomen anderer Länder Lateinamerikas bisher in Guatemala nicht aufgetreten ist und zwar die Tendenz zu einer neuen Art von politischen Führungsfiguren, die aufgrund ihrer scharfen Kritik an den politischen Parteien als demokratische Institutionen als outsider bezeichnet werden können (Pirelli 1995). In Guatemala haben die neuen Führungspersonen, die nicht zur traditionellen „politischen Klasse" gehören, neue politische Parteien gegründet, die ihnen als Mittel zur Eroberung der Macht und zur politischen Verhandlungsführung dienen. Dies ist selbst in einem Fall wie dem des Generals Ríos Montt zu beobachten, der anders als Hugo Chävez in Venezuela oder Alberto Fujimori in Pe-

ru versucht hat, seine Popularität durch ein charismatisches Führertum und Kritik an den traditionellen Parteien zu stärken, aber nicht die Institution der politischen Parteien an sich angegriff.25 Abgesehen davon gibt es natürlich auch Stimmen unter den nicht politischen Führungsfiguren, die das Parteiensystem kritisieren und zur Suche nach Alternativen der Machtausübung jenseits der politischen Parteien aufrufen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass in Guatemala kein einheitliches Muster auszumachen ist, nach dem sich der Aufstieg der derzeitigen oder die Suche nach den zukünftigen Führungspersönlichkeiten richtet. In den meisten Fällen haben diese ihren Erfolg ihren eigenen persönlichen Anstrengungen zu verdanken. Im allgemeinen sind zwischen den verschiedenen Typen der Führung sowie zwischen der lokalen und der nationalen Ebene wenig Beziehungen festzustellen. Die Parteien unternehmen zwar einige wenige Anstrengungen zur Verpflichtung neuer Führungsfiguren in den ländlichen Gebieten (Monografía 2001), aber die lokalen Anfuhrer sind dennoch meist das Produkt eines natürlichen Prozesses, während die Führungsfiguren auf nationaler Ebene das Produkt entweder von Werbekampagnen oder von individuellen Anstrengungen der Betroffenen sind.

Sanchis et. al. (o. J.) argumentieren, dass Chävez in Venezuela an die Macht gekommen ist, indem er den gesamten „antipolitischen" Raum belegt und sich gegen die klassischen Parteien gestellt hat. Er verkörpert den Typ des Kämpfers gegen die korrupte Bürokratie, der keine Ideen nötig hat, um die Wählerschaft von sich zu überzeugen.

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Die Massenmedien und die politische Führung Die Massenmedien üben einen starken Einfluss auf die öffentliche Meinung aus und verfügen in Guatemala über mehr Glaubwürdigkeit als andere Institutionen, zum Beispiel die politischen Parteien. Die Medien, und allen voran die Zeitungen und Zeitschriften, beziehen in der Regel eine sehr kritische Haltung gegenüber den politischen Führungsfiguren und öffentlichen Amtsträgern, was häufig zu deren schnellem Verschleiss beiträgt. Einige Leitartikler haben aufgrund ihrer Texte sogar selbst indirekt den Rang einer politischen Führungsfigur erreicht. Manche Journalisten führen ihre Kritik an den Parteien so weit, dass sie die Suche nach Alternativen zur Machtausübung durch die Parteien vorgeschlagen haben. Angesichts der Unzufriedenheit mit der amtierenden Regierung haben einige sogar öffentlich für einen Staatsstreich plädiert, was natürlich im Widerspruch zur demokratischen Rolle des freien Journalismus steht. Einige Eigentümer von Massenmedien haben versucht, sich in der Politik zu engagieren und haben dabei jeweils ihr eigenes Medium als Werbeträger benutzt, zum Beispiel Jorge Carpió oder auch in jüngster Zeit Óscar demente Marroquin. In gewissem Maße hatten sie damit auch Erfolg. Die traditionellen Parteiführer auf nationalem Niveau haben im Gegensatz dazu in der Regel keinen Zugang zu den privaten Medien, um diese zu Zwecken der Werbung zu benutzen, es sei denn während des Wahlkampfes, wenn sie die staatlichen Mittel zur Wahlkampffinanzierung sowie private Ressourcen zur Finanzierung nutzen können.26 Die Führungsfiguren, die es bis in die Regierung schaffen, verfügen andererseits natürlich über ausreichende eigene Mittel zur Bezahlung von Werbekampagnen oder sogar über eigene Nachrichtensendungen zur Verbreitung und Unterstützung der Regierungsprogramme.27

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Nur diejenigen Parteien, die bei den Wahlen mehr als 4% der abgegebenen Stimmen erhalten, haben ein Anrecht auf staatliche Finanzierung. Andererseits müssen die Parteien, die weniger Stimmen erhalten und auch keinen Sitz im Parlament gewinnen, automatisch ihre Aktivitäten einstellen und von der politischen Bühne verschwinden.

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Unter der derzeitigen Regierung der FRG ist eine praktisch vollkommene Kontrolle der Fernsehsender durch die Regierung festzustellen. Der amtierende Informationsminister Luis Rabbe ist einer der Inhaber der Anstalten.

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Schlussfolgerungen: Welche Richtung soll die zukünftige politische Führung verfolgen? Guatemala ist zur Zeit noch weit davon entfernt, mit einer stabilen politischen Führung demokratischen Charakters rechnen zu können, die sich für die Festigung der Demokratie einsetzt. Sowohl die Unterdrückung der progressiven Führungspersönlichkeiten früherer Jahrzehnte als auch ein unangemessener gesetzlicher und institutioneller Rahmen und das Fortbestehen der Kultur des Autoritarismus bei einem Großteil der Bevölkerung haben dazu geführt, dass eine weitgehend autoritäre Führung weiter bestehen bleiben konnte, der es bisher nicht gelungen ist, gewisse Elemente des Populismus, des caudillismo und des Personalismus vollständig zu eliminieren. Aus diesem Grund leidet die derzeitige politische Führung in Guatemala an einer mangelnden Repräsentationsfähigkeit und es sieht in der nahen Zukunft nicht so aus, als ob sich das Verhalten und die Einstellungen der Führungsfiguren so ändern könnten, dass eine umfassendere Unterstützung durch die Bevölkerung möglich würde. Um eine Konsolidierung der Demokratie Guatemalas zu ermöglichen, sind neue Führungspersonen notwendig, die eine Politik der Integration verfolgen und gleichzeitig die Probleme der Nation kennen. Die Förderung dieser Art von Führungspersönlichkeiten wird in den kommenden Jahren eine der großen Herausforderungen für das Land darstellen. Eine der Voraussetzungen zur Erfüllung dieser Herausforderung ist sicherlich die Reform des gesetzlichen Rahmens für das Parteiensystem im Sinne der in diesem Beitrag ausgedrückten Ideen. Aber das darf noch nicht alles sein. Auch die Programme zur Bildung und Bewusstmachung der Jugend müssen darauf zielen, das Interesse für die Politik zu wecken. Wenn die politische Führung weiterhin ihren autoritären, konservativen Charakter behält und wenn sich vor allem ihre Vertreter auch künftig der Korruption bedienen, um sich selbst zu bereichern, dann wird sie nie das für eine angemessene Staatsführung notwendige Niveau der Legitimation erreichen. Ein sehr konkreter Aspekt, mit dessen Hilfe schnell ein höheres Niveau der Legitimation erreicht werden könnte, betrifft die Verwirklichung der Inhalte des Friedensabkommens von 1996. Bisher trägt die Distanzierung vom Geist des Abkommens, die von der Mehrheit der Vertreter der politischen

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Führung praktiziert wird, nur dazu bei, dass die Konsolidierung der Demokratie weiter behindert wird. Von der Herausforderung, die Demokratie zu stärken und eine angemessene politische Führung durchzusetzen, sind aber nicht nur die politischen Parteien betroffen. Auch die gesellschaftlichen Organisationen und die Massenmedien müssen sich bewusst machen, dass eine destruktive Kritik an den Parteien als Institution der Konsolidierung der Demokratie nur schädlich sein kann. Sie sollten lernen, zwischen der Kritik an der jeweiligen Regierung und der Kritik an den demokratischen Institutionen zu unterscheiden. Schließlich darf auch nicht vergessen werden, dass ein großer Teil der guatemaltekischen Bevölkerung nach einer Führung mit autoritären Zügen verlangt. Es ist daher von besonderer Bedeutung mittels entsprechender Bildungsmaßnahmen ein demokratisches Bewusstsein in den derzeitigen und zukünftigen Bürgern des Landes zu schaffen, denn nur so kann ermöglicht werden, dass die Demokratie in Zukunft durch eine demokratische politische Führung gestärkt wird. Eine Bevölkerung mit demokratischem Bewusstsein ist in der Lage, eine wohlüberlegte Stimme abzugeben und die Mechanismen des demokratischen Staates zum Erreichen ihrer Ziele zu nutzen. Das soll heißen, dass die Lösung des Problems der unangemessenen politischen Führung zum Teil - wenn auch nicht ganz - in der Reform dieser Mechanismen bestehen kann.

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Luis Gömez Calcano Politische Führung im Wandel: Der Fall Venezuela Einleitung Die venezolanische Gesellschaft befindet sich zur Zeit in einem Prozess des soziopolitischen Wandels, der eine tiefgreifende Auswirkung auf die Struktur der politischen Führung hat. Dieser Prozess begann gegen Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und äußerte sich zunächst im Verlust der Glaubwürdigkeit der wichtigsten Politiker. Die Auswirkungen dieses Wandels zeigten sich mit der Zeit immer deutlicher, bis er schließlich im Dezember 1998 in eine zweite Phase überging, die mit dem Aufstieg einer neuen Gruppe von Politikern an die Spitze der politischen Macht begann, die jetzt versuchen, das Fundament dieser neuen Herrschaft zu festigen. Innerhalb dieses Prozesses kam es zu einem Bruch mit der herkömmlichen Funktionsweise eines stabilen politischen Systems, in dem sich die Parteien und die Politiker innerhalb eines institutionellen, hochgradig bürokratisierten Rahmens bewegen, der von „Spielregeln" definiert wird, die sich auf die Legitimität der festgelegten Ordnung stützen. Die derzeitige Phase der Veränderung ist jedoch von der Abwesenheit eines solchen stabilen politischen Systems gekennzeichnet. Die Zeit des alten System ist definitiv abgelaufen und das neue System hat es noch nicht geschafft, sich vollends zu etablieren und volle Legitimation und Funktionsfähigkeit zu erreichen. Die Politiker und Parteien wiederum, auf die sich das alte System stützte, haben die Spitze der Dekadenz erreicht, während die Vertreter der neuen Ordnung noch weit davon entfernt sind, stabile, zusammenhängende Strukturen aufzubauen zu können. Vor diesem Hintergrund der Schwäche und Veränderlichkeit der Institutionen kommt der Rolle der politischen und gesellschaftlichen Führung eine höhere Bedeutung zu als unter normalen Umständen, denn sie kann dazu beitragen, einen großen Teil der Prozesse der Dekadenz der einen Gruppe von Politikern sowie des Aufstiegs der anderen zu erklären. Schon die erste

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Annäherung an den Fall des Wandels in Venezuela macht eine Gemeinsamkeit mit den Prozessen auf anderen Breitengraden deutlich: den Glaubwürdigkeitsverlust der Parteien und anderen formellen Organisationen und den gleichzeitigen Aufstieg neuer personalisierter und charismatischer Führungsfiguren (O'Donnell 1999).

Vorgeschichte Der historische Rahmen, der zur Erklärung der aktuellen Eigenschaften der politischen Führung Venezuelas herangezogen werden kann, lässt sich zusammenfassend als Krise des „Ertrags- und Verteilungsmodells" bezeichnen, des Modells, das für die Gesellschaft Venezuelas die letzten sechzig Jahre lang bestimmend gewesen war. Diese Krise muss nicht unbedingt das Ende dieses Modells bedeuten, denn es kann durchaus sein, dass es nicht durch ein anderes ersetzt, sondern lediglich mit einem neuen Aussehen ausgestattet wird. Das erwähnte Modell hat über viele Jahre hinweg zur Existenz des Ausnahmefalles beigetragen, den Venezuela im Vergleich zu seinen lateinamerikanischen Nachbarn darstellte. Zu den Eigenschaften dieses Ausnahmefalles gehörten ein hohes Pro-Kopf-Einkommen, das Fehlen gewaltsamer politischer Konflikte, die Stabilität der demokratischen Institutionen und eine hohe Beteiligung der Bevölkerung an der Politik. Das Modell beinhaltete Mechanismen zur staatlichen Nutzung eines hohen Prozentsatzes der Erdölgewinne sowie dessen Umverteilung, wobei die Klüngelwirtschaft innerhalb der Parteien eine große Rolle spielte und zwar nicht nur in den unteren Schichten, sondern auch in der Mittelschicht und unter den Unternehmern (Rey 1988, Lopez 1989). Innerhalb des allgemeinen Entwicklungs- und Herrschaftsmodells repräsentierte der Staat den Mittelpunkt, um den sich das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben des Landes drehte. Dieser Zentralismus, der den Staat zum Hauptnutznießer der Gewinne aus der Erdölindustrie machte, hat seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zur Durchführung von politischen Modernisierungsprojekten geführt, deren Ziel darin bestand, den Reichtum des Staates in die Entwicklung des Landes zu investieren. Der Mangel an Einstimmigkeit darüber, welche gesellschaftlichen Gruppen dabei beson-

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ders zu beachten sind, führte jedoch zu starken politischen Konflikten, besonders in der Zeit vom Tod des Diktators Gómez 1935 bis zum Fall des Pérez Jiménez 1958. In diesen Jahren kam es zu Massenmobilisierungen, zur Gründung von neuen Parteien und Gremien sowie zu einer schnellen Abfolge von Regierungswechseln aufgrund einer Reihe von Staatsstreichen durch das Militär mit mehr oder weniger Unterstützung durch die Zivilbevölkerung (1945, 1948, 1952 und 1958). Der durch das Erdöl erreichte Reichtum allein verhinderte nicht die politischen Konflikte um die Macht, obwohl eine gewisse abschwächende Wirkung im Vergleich zu anderen Ländern der Region durchaus möglich ist. In jener Zeit polarisierten sich die Probleme des genannten Entwicklungsund Herrschaftsmodells in zwei Tendenzen: die der gemäßigten und bis zu einem gewissen Grad restriktiven Modernisierung, die versuchte, die Entwicklung der Kontrolle durch die aufgeklärte Elite bzw. das Militär unterzuordnen, und die Tendenz der offenen Demokratisierung, zu deren Forderungen das allgemeine Wahlrecht und die Einfuhrung von modernen Parteien zählten, die zum Vehikel einer umfassenden Modernisierung werden sollten. Die so genannten „drei Jahre der demokratischen Aktion" von 1945 bis 1948, die durch einen Staatsstreich von jungen Offizieren mit Unterstützung der Partei „Acción Democrática" eingeleitet wurden, fanden zu einer Zeit statt, in der es in Lateinamerika noch andere populistische Bewegungen gab, die es ebenso darauf abgesehen hatten, den Massen der Bevölkerung mehr Macht auf Kosten der Oligarchie zu geben, die zumindest im Fall Venezuelas nicht über die Stärke oder die Tradition verfugte, die sie in anderen Ländern Lateinamerikas besaß. Der Populismus der,»Acción Democrática" hatte großen Erfolg unter den breiten Schichten der Bevölkerung aufgrund ihrer aggressiven Botschaft, die sich gegen die Reichen und Mächtigen richtete. Die Partei erhielt so die Mehrheit in der Verfassungsgebenden Versammlung, aus der eine für die damalige Zeit sehr fortschrittliche Verfassung hervorging, die eine ganze Reihe von bis dahin unbekannten oder eingeschränkten politischen und sozialen Bürgerrechten beinhaltete (Ellner 1997). Der aus dem Erdölboom der Nachkriegszeit geschöpfte Reichtum ermöglichte die Finanzierung der Projekte der .Acción Democrática" zur Verteilung der Gelder und zur Entwicklung des Landes. Es gelang der Partei jedoch nicht, ihrer Herrschaft Stabilität zu verleihen. Der Versuch der sich auf eine Mehrheit bei den Wahlen stützenden Regierung, das System zu ändern und Regeln einzuführen, die deutlich auf

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die Einbeziehung der politischen Gegner zielten, war einer der Faktoren, der dazu beitrug, das Regime 1948 zu stürzen (Gömez/Arenas 2000). Aufgrund der Erfahrung der zugespitzten politischen Konflikte bekam das Militär eine größere Bedeutung. Es konnte sich nach einem erneuten Staatsstreich 1952 insgesamt zehn Jahre in der Regierung halten, bevor auch seine Macht sich abnutzte. Dieser Umstand erklärt, warum bei der Gestaltung und Einrichtung des institutionellen politischen Systems nach 1958 die Suche nach einem Konsens so eine hohe Priorität genoss. Die Verteilung der Macht und ein breiterer Zugang zu den Erdölgewinnen verliehen dem System eine höhere Stabilität, bis zu dem Höhepunkt in den sechziger Jahren, als Bereiche, die bis dahin gegeneinander gekämpft hatten, wie zum Beispiel die AD und die christlich soziale Partei COPEI, die Unternehmerverbände, das Militär und die Kirche, auf einmal gemeinsame Sache gegen die radikale Linke machten, die wiederum die AD beschuldigte, breite Schichten der Bevölkerung verraten zu haben, und daher für den Sturz der Regierung arbeitete. Dieser Konsens zwischen den verschiedenen Eliten sollte jedoch erst langfristig Konsequenzen haben. In erster Linie war zu seiner Erhaltung ein hoher Grad an Machtkonzentration in den höchsten Führungsschichten der Parteien und anderen gesellschaftlichen Organisationen, wie zum Beispiel den Gewerkschaften, nötig. Die Macht konzentrierte sich fast immer auf die Gründergeneration der jeweiligen Partei, wodurch verhindert werden sollte, dass zu viele Dissidenten aus der Partei ausschieden, damit die Allianzen nicht gefährdet wurden, die mit so viel Mühe aufgebaut worden waren. Im Falle der „Demokratischen Aktion" jedoch konnte dies nicht immer verhindert werden und so kam es von 1960 bis 1967 zu insgesamt drei Spaltungen, bei denen jeweils ein großer Teil der Generation der potentiellen Reformisten verloren ging. Am Ende blieb die AD in den Händen der so genannten ,Alten Garde", die sich treu um den Gründer der Partei, Romulo Betancourt, scharte. Im Fall der COPEI-Partei trennte sich die Gruppe der relativ radikalen Christen vom Gros der Partei, aber der starke Einsatz des Parteigründers Rafael Caldera für den Machterhalt gegenüber den aufsteigenden jüngeren Generationen führte zu schwerwiegenden inneren Spannungen. Ein weiteres deutliches Beispiel für die Unfähigkeit des politischen Systems Venezuelas zur Erneuerung seiner Führung ist die Tatsache, dass drei der Hauptakteure der dekadenten Phase, die 1998 das Ende des alten Systems mit sich brachte, Politiker waren, die seit den 40er Jahren

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in der Politik aktiv gewesen waren und entweder selbst Parteigründer waren oder ihre Karriere in einer der großen Parteien jener Zeit begonnen, AD, COPEI bzw. PC: Luis Alfaro Ucero, Generalsekretär und Kandidat der Demokratischen Aktion; Caldera, zu dieser Zeit Präsident am Ende seines zweiten Mandats; und Luis Miquilena, der Stratege der erfolgreichen Wahlkampagne von Chävez.

Die Auswirkungen des Erdölbooms: die Entropie des politischen Systems Während sich das auf den Erdölgewinnen aufbauende Ertrags- und Verteilungsmodell positiv entwickelte, hielten sich die politischen Spannungen innerhalb vernünftiger Grenzen. Paradoxerweise waren es jedoch gerade die Höhepunkte des Booms der 70er und zu Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, die es vermochten die Grenzen des Modells deutlich zu machen. Der Überfluss an zur Verfügung stehenden Ressourcen führte zu dem Versuch, das Modell der Importsubstitution auszubauen in Richtung eines Modells der Eingliederung in den Weltmarkt, in dem Venezuela die Rolle eines Exporteurs von Industriegütern, ohne Verbindung zur Erdölindustrie, spielen sollte. Eine solche Strategie setzte eine verstärkte Anstrengung im staatlichen Produktionssektor voraus, der jedoch aus Industriebetrieben bestand, die nicht dazu in der Lage waren, die Pläne und Ressourcen, die für sie bereitgestellt wurden, in Produktivität umzusetzen. Nach wenigen Jahren waren nicht nur die außergewöhnlichen Einnahmen aus der Erdölproduktion verbraucht, sondern darüber hinaus hatte die Verschuldung des Landes stark zugenommen (Mommer 1988). Aber nicht nur der öffentliche Bereich profitierte eine Zeit lang von den erhöhten Staatseinnahmen, auch die restlichen Bereiche der Produktion erhielten Kredite zu außergewöhnlich günstigen Bedingungen und ein Teil der Schulden der privaten Industrie beim Staat wurde erlassen. Auch die öffentlichen Ausgaben allgemein verbuchten einen Anstieg. Die Verteilerrolle des Staates in diesen Jahren verstärkte sich. Dies führte jedoch nicht, wie vielleicht hätte erwartet werden können, zu einem Anstieg der Legitimation des Regimes und der Regierungen, sondern ganz im Gegenteil kam es durch den Ölboom zu immer höher steigenden Erwartungen in sämtlichen Bereichen der Bevölkerung, die letztlich nicht erfüllt werden konnten.

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Weder der Staat noch die Gesellschaft selbst verfugten über ausreichende organisatorische Ressourcen zur geordneten und realistischen Erfüllung von so ehrgeizigen Wachstums- und Anpassungsplänen (Karl 1997). Die tatsächlichen Folgen des Ressourcenüberflusses bestanden in der Zunahme der Verschwendung in Form von unnützen Investitionen, von Korruption, besonders bei der Privatisierung der einnahmestarken Staatsbetriebe, und in der Isolierung der politischen Eliten von ihrer gesellschaftlichen Basis, in dem Moment, als die Führungsriegen der Parteien zu Umschlagplätzen für alle möglichen Geschäfte rund um die staatlichen Ressourcen wurden. Die Regierung unter Jaime Lusinchi (1984-1989) war sich dieser Problematik bewusst und schuf aus diesem Grund die „Comisión Presidencial de Reforma del Estado" (COPRE: Präsidentschaftskommission für die Staatsreform), deren Aufgabe darin bestand, die grundlegenden Richtlinien für eine Modernisierung des Staates festzulegen. Die Vorschläge dieser Kommission zur Modernisierung und Demokratisierung fanden jedoch nur langsam und zaghaft Anwendung, da sie auf großen Widerstand durch die Eliten trafen.

Die Dekadenz der großen Parteien der Mitte Die allgemeine Atmosphäre der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verschlechterung der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts nahm mit der Zeit wegen der wachsenden Unfähigkeit der maßgeblichen Politiker an der Spitze des Systems, eine Staatsreform durchzuführen, noch weiter zu. Basierend auf Untersuchungen der Reformkommission COPRE kam es zu einem äußerst vorsichtigen Dezentralisierungsprozess, der zur Folge hatte, dass die Gouverneure in der Zukunft direkt gewählt wurden und dass die Institution des Bürgermeisteramts eingeführt wurde. Bis dahin war es so, dass die Gouverneure zwar nach der Verfassung von 1961 von den Einwohnern des jeweiligen Bundesstaates gewählt werden sollten, aber aus praktischen Gründen auf Drängen der Parteien, die ihre Macht gefährdet sahen, vom Präsidenten ernannt wurden. Der real existierende Zentralismus hatte sich also weit von der föderativ geplanten Verfassung entfernt. Nur dem Glaubwürdigkeitsverlust der Politiker und der Tendenz der zuneh-

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menden Enthaltung der Bevölkerung war es schließlich zu verdanken, dass die politischen Eliten nach fast dreißigjähriger Vorenthaltung die Ausübung dieses verfassungsmäßigen Rechts doch noch zuließen. Wie sich im Folgenden zeigen wird, war der Anfang dieses Prozesses der Dezentralisierung zwar noch sehr vorsichtig, aber es sollte sich herausstellen, dass er zur Grundlage für das Erscheinen einer neuen politischen Führungsweise mit Ambitionen auf nationaler Ebene werden sollte. Es kann jedoch auch nicht abgestritten werden, dass sich die Reformen letztlich auf die Wahl der Gouverneure und Bürgermeister und einige wenige Gesetze zur Regelung einer allmählichen Dezentralisierung von Staat und Gemeinden beschränkten (Mascareño 1998). In anderen Bereichen wurden entsprechende Vorschläge überhaupt nicht umgesetzt, zum Beispiel die Reform der ineffizienten und durch und durch korrupten Justizgewalt. Die zentrale Säule des Systems der Kontrolle der Parteiführungen über die Volksvertreter und das Wahlsystem der geschlossenen Listen blieb bis zum Ende der 90er Jahre unangetastet. Das politische System Venezuelas beschränkte sich in jener Zeit auf das Zusammenspiel der durchaus sehr geschickten Parteien untereinander, politische Verhandlungen zu führen, die nach einem Muster abliefen, das sämtliche Bereiche der Gesellschaft bestimmte, egal ob Gewerkschaftsbewegung, Berufsvereinigungen, Bürgerinitiativen oder andere gesellschaftliche Organisationen (Coppedge 1993). Andererseits jedoch hatten diese Parteien, allen voran AD und COPEI, ihre ideologischen Programme so sehr zusammengestrichen, dass kaum noch etwas davon übrig blieb. Obwohl sie weiterhin ihren großen internationalen politischen Familien angehörten und dies auch heute noch tun, der sozialdemokratischen bzw. der christdemokratischen, haben sie sich bezüglich ihrer Doktrinen so sehr angenähert, dass sie kaum noch zu unterscheiden sind. Die bürokratischen Mechanismen innerhalb der Parteien, besonders im Fall der „Acción Democrática", ermöglichen eine strenge Kontrolle der Parteiführung über den gesamten Parteiapparat. Das Streben der nachfolgenden Generationen nach der Ablösung der Gründer wird dadurch weitestgehend gebremst.

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Wirtschaftliche Liberalisierung und politischer Legitimationsverlust 1988 war das Jahr, in dem nach drei Jahrzehnten des Regimes des demokratischen Konsenses sich zum ersten Mal klar die Anzeichen der nahenden Krise bemerkbar machten, die schließlich zehn Jahre später zum Debakel fuhren sollte. In jenem Moment begann das Pendel der allgemeinen politischen Einstellung umzuschlagen, vom bis dahin sehr hohen Grad an Identifikation der Bevölkerung mit den Parteien hin zum politischen „Personalismus" Der frühere Präsident Carlos Andrés Pérez forderte den Apparat seiner eigenen Partei, der „Acción Democrática" heraus, die versuchte, ihm den Weg zu verstellen, indem er sich auf seine eigene noch aus der Zeit des Erdölbooms stammende Popularität stützte, um sich die Kandidatur für das Amt des Präsidenten zu sichern. Zur selben Zeit wurde Rafael Caldera, der historische Parteiführer der COPEI, von seinem früheren Zögling Eduardo Fernández überholt und setzte sich daraufhin vom Wahlkampf und von seiner Partei ab. Es ist allgemein bekannt, dass Pérez die Unterstützung der Massen aufgrund seiner Meinungsänderung zu den wirtschaftlichen Anpassungsplänen des IWF verlor, in der Zeit von der Ankündigung dieser Pläne bis zu deren Anwendung. Die Geschehnisse im Februar und März 1989, die als unorganisierte Proteste begonnen hatten und sich zu allgemeinen Plünderungen entwickelten, machten nicht nur die Schwäche seiner persönlichen Führung offensichtlich, sondern waren darüber hinaus ein Zeichen dafür, dass die ehemals großen politischen Parteien ihre Fähigkeit verloren hatten, die Rolle der Volksvertretung zu übernehmen und der Bevölkerung die Richtung zu weisen. Diese Entwicklung ging sogar so weit, dass die Partei der Demokratischen Aktion, die offiziell noch immer die stärkste Partei des Landes war und über eine große Mehrheit in den Verwaltungsorganen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene verfugte, von der Regierung Pérez geradezu an den Rand des politischen Geschehens gedrängt wurde, die ihre Politik von jungen, in der Politik unerfahrenen „Technokraten" anstatt von der Partei tragen liess. Ab diesem Zeitpunkt war die Partei nur noch eine Beobachterin von Perez' Niedergang und musste mit ansehen, wie ihr Präsident erst seine Popularität, dann auch sein Amt verlor, und schließlich der Korruption verdächtigt wurde.

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Wie die folgende Tabelle zeigt, ist seitdem ein starkes Führungsvakuum zu erkennen, das sich sowohl in Bezug auf die Personen als auch in den Institutionen deutlich macht. Seit dem missglückten Putschversuch des Kommandanten Chävez im Februar 1992 hat sich dieses Vakuum noch mehr ausgebreitet. Tabelle 1 Bewertung einiger politischer Führungsfiguren auf nationaler Ebene 1989-1992 Ñame

Januar 1989

Mai 1992

% positiv

% negativ

% positiv

% negativ

Carlos Andrés Pérez (AD)

79

15

25

69

Eduardo Fernández (COPEI)

48

41

35

56

Teodoro Petkoff (MAS)

48

48

-

-

80

15

Rafael Caldera Luis Herrera Campins (Pras. 1979-84)

77

Jaime Lusinchi (Pías. 1984-89)

85

Quelle: nach Myers (1993: 47), mit eigenen Anpassungen.

Aus diesen Angaben geht hervor, wie das Ansehen des ehemaligen Präsidenten Pérez, der vor seinem Amtsantritt über eine solide Unterstützung durch das Volk verfügte, nach seiner Wahl schnell zurückging. In geringerem Maße trifft dies auch auf Eduardo Fernández zu, während die beiden früheren Präsidenten aus der Zeit des relativen Wohlstands im Nachhinein sehr negativ bewertet werden. Nur die positive Bewertung Calderas im Mai 1992 fällt aus diesem Rahmen deutlich heraus, was sich, wie später gezeigt werden wird, im Wesentlichen auf seine Reaktion auf den versuchten Staatsstreich von Chávez zurückführen lässt.

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In der Zeit von Februar 1989 bis Februar 1992 versuchte Pérez dem umfassenden Druck, der aus unterschiedlichen Richtungen auf seine Regierung ausgeübt wurde, gerecht zu werden. Einerseits hatte er gegen die hohe Auslandsverschuldung zu kämpfen, die ihn dazu zwang, ein Programm des IWF zur strukturellen Anpassung zu akzeptieren. Die darin vorgesehenen Maßnahmen waren mit den bisherigen Richtlinien des venezolanischen politischen Systems unvereinbar und stellten sogar einen Bruch mit dem Regierungspakt von 1958 dar. Die vorgesehene Öffnung des Handels, zum Beispiel, nahm dem industriellen Bereich den bis dahin genossenen staatlichen Schutz durch protektionistische Maßnahmen und staatlichen Subventionen. Andererseits führte die Kürzung der öffentlichen Ausgaben und im besonderen der Sozialausgaben zur Einschränkung der im Staatshaushalt versteckten Subventionen und der nach den Prinzipien der Klüngelwirtschaft verteilten staatlichen Stellen, was zur Nichterfüllung der Erwartungen großer Teile der Bevölkerung führte. Die Aufhebung der Preisschranken und die gleichzeitige Einschränkung des Lohnanstiegs widersprachen deutlich der Überzeugung, der Staat sei dazu fähig bzw. verpflichtet, den Lebensstandard seiner Bürger durch den Ölreichtum zu garantieren. Der Druck, Venezuela so schnell wie möglich in ein „normales" kapitalistisches Land zu verwandeln, das heißt, in ein Land, in dem die Konsumkapazitäten und die Möglichkeiten Vermögen anzuhäufen von der Produktionstätigkeit abhängen und nicht vom Staatseinkommen, stiess praktisch in allen Bereichen der Gesellschaft auf starken Widerstand, sogar bei manchen Anhängern des „liberalen" Diskurses.1 Viele der Schwierigkeiten, die die Einwohner Venezuelas in dieser Zeit erleiden mussten, sowohl durch objektive Faktoren wie Preisschwankungen des Erdöls, als auch wegen der Fehler früherer Jahre in der Wirtschaftspolitik oder aufgrund des Plans zur Anpassung und Stabilisierung, wurden dem „neoliberalen" MaßnahmenpaEin Experte kommentierte, nachdem er die Art und Weise kritisiert hatte, wie die wirtschaftspolitischen Maßnahmen ergriffen wurden: „Ein besonders wichtiges Problem ... stellt das negative Image dar, das der Vorschlag der allgemeinen Liberalisierung der Wirtschaft in letzter Zeit immer mehr in der öffentlichen Meinung hat. In dem Maß, wie die Probleme der Wirtschaftspolitik in jüngster Zeit, insbesondere die Verschlechterung einiger öffentlicher Dienstleistungen und die Höhe der Inflation, mit der wirtschaftlichen Öffnung und dem Abbau des staatlichen Eingriffs assoziiert werden, steigt die Wahrscheinlichkeit einer mehr oder weniger radikalen Rückkehr zu Interventions- und Kontrollpolitik, die wiederum zu einer Stimmung fuhren kann, die den Investitionen und Privatisiemngsprozessen nicht dienlich sein könnte" (Zambrano 1993: 100).

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ket des Präsidenten Pérez angekreidet. An die neuen Anwärter auf die Machtpositionen wurden als Reaktion darauf die Anforderung gestellt, sich von den genannten Maßnahmen abzusetzen und Alternativen anzubieten (Templeton 1995).

Der 4. Februar 1992: Auftritt einer neuen Führung Die Umstände, die zum Putschversuch des Kommandanten Chávez und seiner Anhänger führten, sind ausreichend bekannt und sollen daher an dieser Stelle nicht ausführlich behandelt werden. Die für die Untersuchung der Entstehung einer neuen Führung bedeutenden Aspekte sind die ideologische und institutionelle Herkunft der Putschisten und die Reaktion der venezolanischen Bevölkerung auf den Staatsstreich. Die Figur des „Kommandanten"2 Chávez umfasst eine ganze Reihe von Identitäten, die einerseits auf den Traditionen der politischen Kultur Venezuelas und andererseits auf der institutionellen Entwicklung der vergangenen vierzig Jahre aufbauen. In gewisser Weise ist Chávez der Vertreter des Lebenswegs der Venezolaner seiner Generation. Er wurde 1954 im Schöße einer ländlichen Lehrerfamilie geboren und genoss die Vorzüge der Programme zum Ausbau des öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesens. Seine Eltern gehörten der beamteten Mittelschicht an, der das staatliche Verteilungsmodell besonders zugute kam.3 Nach der Beendigung der Sekundarstufe an öffentlichen Schulen besuchte Chávez die Militärakademie, die er 1975 abschloss, inmitten des Erdölbooms während der ersten Legislaturperiode von Carlos Andrés Pérez. Danach setzte er seine Karriere fort und stieg in der Militärhierarchie weiter auf, obwohl er durch ungewöhnliches Verhalten, unter anderem durch seine übertriebene Verehrung von Simón Bolívar, auffiel. Chávez selbst hat zugegeben, dass er in starkem Maße von revolutionärer und marxistischer Literatur beeinflusst wurde, ebenso wie von den nationalistischen Strömungen der 60er Jahre des 20.

„Kommandant" (comandante) ist die umgangssprachliche Bezeichnung für einen Oberstleutnant in Venezuela. 3

Chavez' Vater war in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts unter einer COPEIRegierung in der Regionalpolitik tätig und galt als Sympathisant dieser Partei.

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Jahrhunderts, besonders von Velasco Alvarado aus Peru und Torrijos aus Panama (Blanco 1998). In der Zeit von den 60er bis zu den 90er Jahren hat das venezolanische Militär einen Prozess des institutionellen Zerfalls erlebt, der sich in zwei miteinander in Verbindung stehenden Aspekten äußert: einerseits das Eindringen der parteilichen Konfrontation in die militärischen Strukturen, was sich besonders beim Besetzen der höheren Führungsposten bemerkbar macht, und andererseits die zunehmende Korruption in der militärischen Verwaltung. Die Pakte, die die Gründer der Demokratie seit 1958 mit dem Militär geschlossen haben, ließen den Streitkräften bezüglich der Verwaltung ihrer Finanzmittel große Unabhängigkeit, was praktisch jede zivile Kontrolle über den Militärhaushalt verhinderte. Einige Offiziere haben diese Freiheit zur eigenen Bereicherung missbraucht. Ebenso kam es häufig zum Einsatz von Truppen oder militärischen Ausrüstungen und Materialien zu persönlichen Zwecken der Offiziere. Andererseits bestimmte die Verfassung, dass die Beförderung der höheren Dienstgrade vom Oberst aufwärts vom Senat vorgenommen werden musste, was wiederum den amtierenden Präsidenten und den Parteien AD und COPEI einen großen Einfluss auf die entsprechenden Beförderungen in dieser Zeit verschaffte. Die Konsequenz dieser Regelung war eine stärkere Beziehung zwischen den Parteien und den hohen Dienstgraden, sodass teilweise beobachtet werden konnte, dass die Treue zu der einen oder anderen Partei über die berufliche Kompetenz gestellt wurde, was wiederum von den Putschisten als ein Grund für ihren Staatsstreich genannt wurde (Zago 1992). Es wurde behauptet, es bestehe eine Parallele zwischen der allgemeinen Korruption, unter der das Land zu leiden hatte, und der des Militärs und darüber hinaus wurde die gesamte Verantwortung für diese Situation den Parteien zugeschrieben, ohne zu beachten, wie weit eine gewisse Eigendynamik eine Rolle spielen konnte (Agüero 1993). Dazu kam eine starke Unzufriedenheit unter verschiedenen Angehörigen der Streitkräfte über viel konkretere Umstände, wie zum Beispiel der Kaufkraftverlust ihres Solds durch die Inflation oder die Einschränkungen bei der Anschaffung militärischer Ausrüstungen und die Schwierigkeiten bei der Instandhaltung aufgrund von Etatkürzungen. Die mittleren Offiziersgrade, die sich um Chävez und weitere drei Kommandanten gruppierten, nannten aber auch soziale Gründe, vor allem das

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Ungleichgewicht zwischen dem Reichtum des Erdölbooms und der allgemeinen Verarmung der Bevölkerung. Dabei ist das Thema des Kontrasts zwischen einem „reichen" Land, das seine hohen Staatseinnahmen aus dem Erdölexport bezieht, und der Armut, die in diesem Land herrscht, einer der Allgemeinplätze des politischen Diskurses im Venezuela des gesamten 20. Jahrhunderts. Sämtliche Politiker haben ihn irgendwann einmal in ihre Rhetorik eingebaut, besonders wenn es sich um Politiker der Opposition handelt. Es ist allerdings durchaus richtig, dass dieses Missverhältnis in den letzten zwanzig Jahren noch zugenommen hat, denn die Kaufkraft sämtlicher Bereiche der Gesellschaft nahm ab und die Armut erreichte ein zur Zeit des Ölbooms in Venezuela unbekanntes Niveau.4

Der Wandel von 1992 bis 1998: Letzte Versuche der Systemerhaltung Die offene Zustimmung, die die Putschisten von der Bevölkerung erhielten, besonders der unteren Schichten, verstärkte die Besorgnis der politischen Elite. Als Antwort auf den Zerfall der Institutionen wurde erneut die Diskussion um eine Verfassungsreform angefacht, die dazu dienen sollte, die Beteiligung der Bevölkerung an den Institutionen zu vergrößern: Referendum, Personenwahl und Ausweitung der Dezentralisierung. Diese Reformversuche wurden nach ihrer sorgfältigen Aushandlung durch die verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Akteure jedoch dadurch behindert, dass die Parteien Angst davor hatten, einen Teil ihrer Kontrolle über das System abzugeben. Ebenso negativ für die Reform war die Diskussion um die Amtsenthebung und den Prozess gegen Carlos Andrés Pérez, der als Sündenbock hingestellt wurde, um andere Beteiligten zu entlasten (Gómez 1995). Der hauptsächliche Nutznießer des Putschversuchs war der frühere Präsident Caldera. Von Beginn an versuchte er den Staatsstreich auf subtile Art und Weise zu rechtfertigen und setzte sich offen für den Widerstand gegen 4

Eine jüngere technische Studie besagt: „Während in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts 22% der Haushalte Venezuelas unter der Armutsgrenze lebten und 7% der Einwohner obdachlos waren - Zahlen, die weit unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt liegen —, betrugen diese Quoten 1994 40% bzw. 15%, was wiederum weit mehr ist als Durchschnitt des Kontinents. Die Armut ist 1994 in Venezuela viel weiter verbreitet als in Chile, Costa Rica, Mexiko oder Brasilien" (Cartaya 1998).

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die „neoliberalen" Maßnahmen des IWF ein. Der verwegene Bruch des Parteigründers Caldera mit seiner Organisation brachte ihm den erwarteten Nutzen: entsprechend der allgemeinen antiparteilichen Tendenz lenkte er die volle Aufmerksamkeit auf seine persönlichen Qualitäten als ehrlicher Mensch, der dazu in der Lage wäre, der Korruption der vergangenen Regierungen ein Ende zu bereiten. Calderas Versuche sich der Wirtschaftsorthodoxie zu widersetzen hielten jedoch nur zwei Jahre an und dann war auch er gezwungen, ein Stabilisierungs- und Anpassungsprogramm durchzuführen. Auch sein Versuch einer Verfassungsreform wurde gestoppt, da es ihm nicht gelang, eine entsprechende Mehrheit im Parlament zu erreichen. Ebenso wenig gelang es ihm, dem Eindruck, die Korruption wäre noch nicht abgeschafft, ein Ende zu bereiten. Während der letzten Jahre seiner Regierung ging nicht nur seine Popularität zurück, sondern darüber hinaus verspielte er das gesamte noch vorhandene Prestige der früheren demokratischen Regimes. Vor diesem Hintergrund hatte es Chavez leicht, mit seinem Diskurs des radikalen Bruches mit der Vergangenheit das Land auf seine Seite zu ziehen.

Charismatische Führung und zentralisierte Organisation Die charismatischen Züge der Führung des Hugo Chávez sind so deutlich, dass vergessen werden könnte, dass hinter seinem Erfolg eine starke Organisation steht, die aus Veteranen der marxistischen bzw. der sozialdemokratischen Partei von früher und aus militärischen Kadern bestehen. Zu Chávez' unumstrittener Fähigkeit, in seinen Gesprächspartnern starke Emotionen hervorzurufen, die er bereits bei seinem ersten Auftritt in der Öffentlichkeit unter Beweis stellte, kommt die geduldige Arbeit von Luis Miquilena hinzu, der von Chávez 1994 verpflichtet wurde, nachdem er wegen des Putschversuchs bis zu seiner Begnadigung durch den Präsidenten Caldera zwei Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Miquilena, der inzwischen über achtzig Jahre alt ist, begann seine politische Laufbahn in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts als Gewerkschaftsführer und gehörte dem Kader der kommunistischen Partei an. Aus dieser Zeit stammt seine erbitterte Feindschaft mit der .Acción Democrática". Später übernahm er die Führung der Mitte-Links-Partei URD, die in den

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60er Jahren die stärkste Partei der radikalen Opposition war, bis er sich schließlich zurückzog, um sich seinem Privatleben widmen zu können. Während der Zeit, die Chávez im Gefängnis verbrachte, gesellte sich Miquilena zur „Patriotischen Front", einer zivilen Organisation, die sich der Konspiration gegen die Regierung verpflichtet sah, und half Chávez dabei, seine Beziehungen zu zahlreichen, vor allem linken Politikern aufzubauen. Nach 1994 bereiste er mit Chávez das gesamte Land und beurteilte die Chancen, die dieser als Kandidat bei Wahlen hätte. Der erste Bereich der Gesellschaft, aus dem die Partei von Chávez in ihren Anfangen Mitglieder rekrutieren konnte, war selbstverständlich der des Militärs, der ihn bei seinem Putschversuch am 4. Februar unterstützt hatte. Dazu zählten etwa hundert Offiziere und Unteroffiziere sowie einige weitere, die im November 1992 einen zweiten Versuch unternommen hatten. In den ersten zwei Jahren nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis hielt die Bewegung an ihrer systemfeindlichen Haltung radikal fest und weigerte sich dementsprechend, 1995 an den Regional- und Kommunalwahlen teilzunehmen. Einige der Anführer des Staatsstreiches einigten sich zwar mit der Regierung Calderas darauf, öffentliche Ämter zu übernehmen, aber Chávez selbst hielt sich konsequent im Abseits. Die nächste Quelle, aus der sich Nachwuchs für seine politische Bewegung gewinnen ließ, waren die Kader der Linken, und zwar aus allen ihren verschieden Splittergruppen, die seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden waren. Der Diskurs von Chávez näherte sich sehr dem revolutionären nationalistischen Gedankengut der vergangenen Jahrzehnte an und er versteckt auch nicht seine Bewunderung für Fidel Castro, von dem er mit Ehren in Havanna empfangen wurde. Aus diesem Grund entwickelte sich Chávez für viele Anhänger der Linken zur Hauptbezugsperson, so zum Beispiel für die Mitglieder der Parteien MAS und PPT, wenn diese Sympathien auch erst nicht von deren Parteiführern geteilt wurde. Und schließlich gelang es Chávez auch im Rahmen der Zunahme seiner Popularität, in die Gruppen der Mitglieder der beiden großen Parteien einzudringen, sowohl der langjährigen Anhänger als auch der Neueingetretenen, bei denen sich mehrere Jahrzehnte der Frustration angestaut hatten. Dieser Prozess des Wachstums war nicht einfach. Als die revolutionäre Bewegung „Movimiento Bolivariano Revolucionario-200" (MBR) sich im

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April 1996 dazu entschied, die Unterorganisation „Movimiento Quinta República" (MVR) zu gründen, deren einzige Aufgabe darin bestehen sollte, die Bewegung bei den Wahlen zu vertreten, kam es zu internen Konflikten zwischen den radikalen „Puristen" und den politikorientierten „Realos". Bis Ende 1997 wurde die Kandidatur von Chávez in den Massenmedien nicht richtig ernst genommen und in Umfragen spielte er zunächst keine bedeutende Rolle. Zu jener Zeit schienen noch andere Kandidaten dazu auserwählt zu sein, die Führung des Landes in den folgenden Jahren zu übernehmen.

Die modernen Kandidaten und ihr Sturz Hätten die Präsidentschaftswahlen im Dezember 1997 stattgefunden, hieße die Präsidentin heute wahrscheinlich Irene Säez, die frühere Schönheitskönigin und heutige Bürgermeisterin der wohlhabenden Gemeinde Chacao in Caracas. Der zweite Kandidat mit Aussichten war Henrique Salas Römer, Exgouverneur des Staates Carabobo. Schon weiter abgeschlagen befand sich Claudio Fermin, der frühere Bürgermeister von Caracas, der sich kurz zuvor mit der AD und Chävez überworfen hatte. Allen drei Kandidaten war gemeinsam, dass sie entweder als Unabhängige oder mit der Unterstützung einer neu gegründeten Organisation auftraten und alle die Wahlerwartung der traditionellen Parteien AD und COPEI bei weitem übertrafen. Ein Journalist kommentierte diese Situation wie folgt: „Wir stehen hier vor einem deutlichen Prozess des Verfalls der traditionellen Parteien, während sich gleichzeitig neue Kräfte herausbilden, wie es auch in Peru, Italien oder Japan passiert ist" {El National, 15.12.97). Die Auswirkungen der antiparteilichen Tendenzen innerhalb der öffentlichen Meinung zeigten sich besonders deutlich, als Irene Säez gegen Eduardo Femändez bei den parteiinternen Wahlen zum Präsidentschaftskandidaten der COPEI antrat, ihn schlug und somit zur offiziellen Kandidatin der Partei wurde. Ab diesem Zeitpunkt jedoch ging ihr Stimmenanteil bei Umfragen zurück. Die Demokratische Aktion wiederum ernannte den siebzigjährigen Luis Alfaro Ucero zu ihrem Kandidaten „per Akklamation" in einer Art von hochmütiger Herausforderung der Realität. Das Gründungsmitglied hatte seine Herrschaft über die Partei zu einem solchen Extrem

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geführt, dass viele seiner Genossen in der Parteiführung zugaben, in ihm einen caudillo zu sehen. Das Rennen um die Präsidentschaft wurde dann zu einer polarisierenden Angelegenheit, in der sich die Meinungen der beiden Extreme sowohl ideologisch als auch sozial deutlich voneinander unterschieden. An einem Ende befand sich Salas Römer, der Unternehmer, der aus einer wohlhabenden Familie aus dem Staat Carabobo stammte, in den USA studiert hatte und auf eine lange Laufbahn im Unternehmerverband zurückblicken konnte. In der Politik war er seit den 80er Jahren tätig, zunächst als unabhängiger Abgeordneter mit Unterstützung der COPEI. 1992 schlug er die Demokratische Aktion bei den Gouverneurswahlen und wurde 1995 aufgrund seiner Modernisierungspolitik, die sich die Vorteile der Dezentralisierungspolitik zunutze machte, wiedergewählt. Sein ideologisches Programm ist im Grunde genommen liberal, aber er hat auch eine populistische Dimension, der er sich in seinem direkten Kontakt zu den Wählern seines Staates bediente. Angesichts des Stimmenverlusts von Irene Sáez und des Stillstands von Fermín gelang es Salas, die Stimmen der konservativen Wähler und eines großen Teils der Mitte, der sich gegen die traditionellen Parteien richtete, aber Angst vor der Radikalität von Chávez hatte, auf sich zu konzentrieren. In der Zwischenzeit baute die Kandidatur von Chávez auf seinen Stimmenzuwachs bei den Umfragen, um neue Alliierte zu finden. Die Parteiführung der PPT („Patria Para Todos": Vaterland für Alle) und später auch die der Partei MAS beugten sich dem Druck ihrer Mitglieder und folgten den Prognosen, die einen Sieg von Chávez für immer wahrscheinlicher hielten und erklärten schließlich Chávez zu ihrem offiziellen Kandidaten. Auf diese Wiese formierte sich zusammen mit der kommunistischen Partei und anderen kleineren linken Gruppierungen die Allianz, die Chávez an die Macht bringen sollte, der „Polo Patriótico" (Patriotischer Pol). Der Grad der Polarisierung des politischen Spektrums wuchs noch mit der Zeit, sodass die AD und die COPEI schließlich wenige Tage vor der Wahl zum Präsidenten einsehen mussten, dass sie vor einer erniedrigenden Niederlage standen, und ihre Stimmen dem Kandidaten Salas Römer zur Verfügung stellten. Diese plötzliche Unterstützung verwandelte sich jedoch in einen Nachteil für Salas, denn seine Anhänger wurden dadurch schwer enttäuscht. Auch wenn Chávez sowieso gewonnen hätte, wurde der Abstand,

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mit dem er schließlich siegte, aufgrund dieses taktischen Manövers der Gegner nur noch größer.

Dezentralisierung und alternative politische Führung Von Dezember 1998 bis Juli 2000 haben der Präsident Chávez und seine Gefolgsleute an zwei Referenden und zwei Wahlen teilgenommen und in allen Fällen eine große Mehrheit erzielt. Bei den Gouverneurswahlen haben sie ebenso wichtige Siege erringen können. Sie kristallisieren sich somit als die zur Zeit stärkste politische Kraft des Landes heraus. In diesen ersten zwei Jahren der Amtszeit gibt es keine einzige politische Kraft, die sich der Herrschaft von Chávez als ernsthafte Opposition entgegenstellen könnte. Dieser Umstand scheint den jüngsten Dezentralisierungsanstrengungen zu widersprechen, die vor etwa einem Jahizehnt begonnen und gewissermaßen zu einer Quelle von neuen Führungsfiguren wurden, die sich als Gouverneure und Bürgermeister landesweit einen Namen gemacht haben (Arenas 1997, Laiander 1998). Auch wenn die Wiederwahlquoten 1992 und 1995 hoch waren, waren die regionalen Kandidaten bei ihrem jeweiligen späteren Versuch, die Präsidentschaft zu erlangen, bisher nicht sehr erfolgreich. So wurde zum Beispiel Oswaldo Alvarez Paz, der äußerst bekannte Parteiführer der COPEI, 1992 zum Gouverneur gewählt, musste aber als Präsidentschaftskandidat 1993 gegen Caldera eine Niederlage hinnehmen. Irene Sáez wurde 1995 zwar mit einem hohen Prozentsatz als Bürgermeisterin von Chacao wiedergewählt, verlor aber bei den Präsidentschaftswahlen 1998. Salas Römer wurde 1992 in seinem Amt als Gouverneur von Carabobo bestätigt und schaffte es, sich dank der Wahl seines Sohnes zum Gouverneur die Macht bis 1998 zu erhalten, zog aber bei den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 den Kürzeren. Claudio Fermín, der ehemalige Bürgermeister von Caracas, wurde bei den Präsidentschaftswahlen 1993 als Kandidat der AD besiegt und zog sich 1998 zurück, nachdem er seine Kandidatur nicht aufrecht erhalten konnte. Andrés Velásquez, Parteiführer der Gruppierung „La Causa R", wurde 1992 als Gouverneur des Staates Bolívar wiedergewählt und unterlag bei den Präsidentschaftswahlen 1993 gegen Caldera.

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Die Bürgermeister wiederum waren bei Gouverneurswahlen erfolgreicher. Eduardo Lapi zum Beispiel war erst Bürgermeister und übt inzwischen sein zweites Mandat als Gouverneur von Yaracuy aus. Enrique Mendoza war zunächst zweimal Bürgermeister der Gemeinde Sucre, eine der größten und komplexesten Gemeinden des Landes, die einen Großteil des Großraums Caracas einschließt, bevor er sich danach zweimal zum Gouverneur des Staates Miranda wählen ließ, das letzte Mal 1998. Sergio Omar Calderón stieg zum Gouverneur auf, nachdem er Bürgermeister der Hauptstadt des Andenstaates Táchira gewesen war. Alle drei der hier genannten Beispiele hatten vorher Führungspositionen innerhalb der christlich sozialen Partei COPEI besetzt, aber Lapi folgte mit seinem Austritt 1993 dem Beispiel Calderas, Mendoza identifiziert sich nur noch in geringem Maße mit der Partei und lediglich Calderón steht ihr noch immer nah.5 Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass die Dezentralisierungsanstrengungen seit dem Amtsantritt von Chávez gebremst worden sind. Die Gründe dafür sind zahlreich. An erster Stelle ist die Meinung des Präsidenten zu nennen, nach der die Gouverneurs- und Bürgermeisterämter die letzten Zufluchtsorte der AD und COPEI sind, weshalb sie weniger Mittel erhalten sollten. In der Tat brachten die vorletzten Gouverneurswahlen folgende Ergebnisse: die AD gewann in acht Staaten, die COPEI stellt drei Gouverneure, der „Polo Patriótico" sechs und das „Projekt Venezuela" siegte in einem Staat. Diese hohe Vielfalt steht in starkem Kontrast zu den Präsidentschaftswahlen und scheint der Tendenz zur Vereinheitlichung des Chavismus zu widersprechen (Gómez/Patruyo 2000). In diesem Umstand liegt der wahre Grund, warum die von einer überwältigenden Mehrheit des Chavismus regierte Verfassungsgebende Versammlung im Dezember 1999 beschloss, dass sämtliche regionale und kommunale Regierungen „relegitimiert" werden sollten, um mit der neuen Verfassung übereinzustimmen, obwohl die Wahlen der Gouverneure und Bürgermeister gemäß der alten Verfassung absolut rechtmäßig waren. Dieser Anlass wurde von der politischen Mehrheit genutzt, um zu versuchen, die Vertreter der traditionellen Parteien aus ihren Hochburgen zu vertreiben. Präsident Chávez nahm persönlich an der Kampagne teil und besuchte in erster Linie die Regionen, in denen seine Gegner besonders stark waren. Calderón unterlag in den „Megawahlen" am 30. Juli 2000 mit knapper und sehr umstrittener Differenz dem Kandidaten des Chavismus.

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Die Finanzmittel der Zentralregierung, die rechtmäßig den Gouverneursund Bürgermeisterämtern zugestanden hätten, wurden gekürzt, so dass es diesen schwerer gemacht wurde, ihre Ziele zu erreichen, und die Kompetenz für regionale Sozial- und Bürgerprogramme wurde den Militärgarnisonen verliehen, wodurch eine parallele Machtstruktur neben den Gouverneursämtern entstand. Diese Strategie hatte großen Erfolg, besonders in den Staaten, die aufgrund der Bedeutung des jeweiligen Gouverneurs der Oppositionsparteien Symbolcharakter hatten. Bei den letzten Gouverneurswahlen am 30. Juli 2000 stieg der Anteil der MVR von sechs auf 14 Staaten, während die AD und COPEI auf nur noch zwei bzw. einen Gouverneur abrutschten.6 Einige dieser Wahlerfolge wurden jedoch von der Opposition wegen Wahlbetrugs als unrechtmäßig bezeichnet, was zu schweren Spannungen in den betroffenen Staaten führte, deren juristisches Nachspiel bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Trotz dieser Politik der MVR und der Erfolge auf regionaler Ebene konnte sie aber der AD die Mehrheit der Bürgermeisterämter noch nicht abspenstig machen. Unter den neuen Gouverneuren der MVR-Bewegung befindet sich eine Mehrheit von Offizieren, die Chävez beim Putschversuch 1992 unterstützten oder ihm zumindest nahe standen, was zu dem Verdacht führt, dass sie sich dem Präsidenten viel mehr verpflichtet fühlen werden als der Bevölkerung ihres Staates, aus Dankbarkeit dafür, dass sie praktisch nur durch ihn auf einen Posten aufsteigen konnten, den sie aufgrund ihrer vorherigen Unbekanntheit sonst nie erreicht hätten.

Die politischen Parteien und die Teilnahme der Bevölkerung an der Demokratie Es erscheint paradox, dass trotz des herrschenden soziopolitischen Kontexts, in dem kontinuierlich von der Ausweitung der repräsentativen Demokratie gesprochen wird, in der der Bürger nicht nur Teilnehmer, sondern

Und von diesen zwei Siegen wurde einer, der im Staat Amazonas, vom Nationalen Wahlrat später wegen Verdachts auf Wahlbetrug dem Kandidaten der AD aberkannt und dem der PPT zugesprochen.

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sogar Hauptperson ist, die Handlungen der politischen Parteien die selbe Exklusivität und Hierarchie an den Tat legen wie in den letzten 40 Jahren. Im Fall der MVR sind noch nie interne Wahlen durchgeführt worden, bei denen die Basis der Partei sich ihre Führung wählt. Die Auswahl der Kandidaten für die Verfassungsgebende Versammlung und für die „Megawahlen" (Bürgermeister, Stadt- und Stadtteilräte, Gouverneure, Abgeordnete des nationalen Parlaments und der regionalen Parlamente) wurde von den regionalen Parteiführungen der MVR unter Absprache mit der zentralen Führung, dem so genannten „Comando Táctico Nacional" (Nationales Taktikkommando) getroffen, in dem die Stimme des Präsidenten Chávez, der gleichzeitig Parteivorsitzender ist, die letzte Entscheidungsgewalt hat. In der MAS gibt es verschiedene Mechanismen, um nach der Meinung der Parteibasis zu fragen, aber interne Wahlen hat es seit der Zeit vor den Wahlen 1998 auch nicht mehr gegeben. Die Demokratische Aktion wiederum verlegt ihre Wahlen immer wieder und das nun schon seit vielen Jahren, was vor kurzem zu einer Spaltung der Partei geführt hat, da es nicht möglich war, sich auf einen bestimmten Termin zu einigen. Und in der COPEI ist es aufgrund der derzeitigen schweren Überlebenskrise besonders unwahrscheinlich, dass gerade jetzt die formellen Mechanismen zur Teilnahme der Basis in Gang gesetzt werden.

Die Fiihrungsfigur Chávez und die interne Demokratie der MVR Verschiedene Untersuchungen und Befragungen haben gezeigt, wie wichtig das Charisma und die Leidenschaft für die Führungsfigur Chávez ist, der von einigen seiner Anhänger geradezu vergöttert wird (Zago 1992, Montero 1994, Arvelo 1998, Uzcátegui 1999, Gutiérrez 2000). Diese Verehrung verleiht Chávez ein Privileg, das nur schwer von anderen Führungsfiguren erreicht werden kann: die Treue gegenüber seiner politischen Bewegung funktioniert größtenteils über die Identifikation mit seiner Person, vielmehr als mit einem bestimmten Programm. Das soll natürlich nicht heißen, dass sämtliche Personen, die ihn unterstützen oder einmal unterstützt haben, dies nur aufgrund der persönlichen Identifikation getan hätten. Vielmehr existieren in den Kadern und in der Führung verschiedene ideologische Tendenzen, die versuchen, die Handlungen der Bewegung und die Aktionen der Regierung in die Richtung der einen oder anderen Tendenz zu

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lenken. Aber der Großteil der Anhänger des Präsidenten, das heißt, diejenigen, die immer wieder für ihn oder einen seiner Kandidaten gestimmt haben, tun dies in der Regel, um ihr Vertrauen in seine Person auszudrücken und weniger in sein Programm. Im Verlauf der letzten zwei Jahre ist diese persönliche Identifikation mehrmals auf die Probe gestellt worden. Verschiedene Personen oder auch ganze Gruppen unter den Anhängern von Chávez haben sich von ihm getrennt, im allgemeinen, weil sie der Meinung waren, bestimmte Programmpunkte oder politische Maßnahmen widersprächen dem ursprünglichen Kompromiss, den Chávez und seine Gefährten eingegangen waren. Der erste Anlass dieser Art bot sich 1999 während des Projekts zur Verfassungsgebenden Versammlung, das von einigen Individuen für autoritär gehalten wurde. Später spaltete sich eine Fraktion der MVR unter dem früheren Kameraden von Chávez, dem Hauptmann William Izarra, von der Partei ab, der nicht mehr mit den politischen Prioritäten des Präsidenten übereinstimmte und schließlich noch im selben Jahr die Bewegung für direkte Demokratie („Movimiento por la Democracia Directa") gründete. Anfang 2000 kam es dann zu der bisher schlimmsten Spaltung unter der Führung eines der Gefährten von Chávez während des Putsches vom 4. Februar, Francisco Arias Cárdenas, der soweit ging, die „Relegitimierungskampagne" in Frage zu stellen. Und schließlich kam es während des Wahlkampfes im Juli zum Bruch mit der PPT, die bis zu diesem Zeitpunkt eine der treusten Alliierten dargestellt hatte. In allen hier angeführten Fällen war das Ergebnis des Konflikts ein unbestreitbarer politischer Sieg für Chávez über seine ehemaligen Mitstreiter, vor allem gemessen an den erhaltenen Stimmen. Jenseits der gemeinsamen Ideale oder der politischen Differenzen ist es keinem einzigen der Dissidenten gelungen, die Wähler von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich gegen Chávez zu stellen und dabei gleichzeitig an den Werten und Zielen des revolutionären „Projekts" festzuhalten. Der Prozess der Veränderung, der Reinigung und Erneuerung der politischen Szene Venezuelas wird allein mit dem in Chávez gesetzten Vertrauen identifiziert. Seine Anhänger sehen in der Person des Präsidenten und seiner direkten Vertrauten die Erfüllung des Schicksals der Nation. In den Parteien der „radikalen Linken", die ihr Vertrauen auf den Sieg von Chávez gesetzt hatten, kam es zum Scheitern sämtlicher Führungsansprü-

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che, auch wenn sie am Anfang noch so solide erschienen, wie zum Beispiel in den Fällen von Aristóbulo Istúriz und Pablo Medina, beide von der PPT, oder Andrés Velásquez, von „La Causa Radical". Diese Führungsfiguren wurden vom Präsidenten einerseits mit kritischer Unterstützung behandelt und waren andererseits seiner Herrschsucht ausgesetzt und wurden schließlich mit der politischen Isolation bestraft. Die Rückeroberung ihrer Führungsrolle wäre nur mittelfristig möglich und bei einer allgemeinen Desillusionierung bezüglich des Chavismus. Die negativen Erfahrungen der Dissidenten haben eine starke Wirkung auf die mit Chávez verbündeten Politiker und alliierten Gruppen gehabt, die mit zunehmender Vorsicht vermeiden, sich gegen den caudillo zu stellen. Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens neuer autonomer Führungsfiguren mit politischen Projekten und Programmen auf der Basis unabhängiger Ideologien und Doktrinen wird dementsprechend immer geringer. Den Politikern bleibt lediglich die Bestätigung der bestehenden charismatischen Führung des Präsidenten.

Die neue politische Elite: Die Mitglieder der Nationalversammlung und das revolutionäre Militär Das formelle politische System: Die neue Nationalversammlung Sollte es sich in Venezuela tatsächlich um die Entstehung eines neuen politischen Systems mit neuen politischen Eliten handeln, dann lässt sich das am ehesten anhand der am 30. Juli 2000 gewählten Nationalversammlung erkennen, denn deren Zusammensetzung spiegelt mehr oder weniger (abgesehen vom Verdacht auf Wahlbetrug) die neue politische Landkarte wider. Das neue Parlamente besteht aus nur einer Kammer und die Sitze verteilen sich wie folgt:

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Partei MVR (*) AD MAS (*) Proyecto Venezuela COPEI Primero Justicia La Causa R Lapy Vertreter der indianischen Bevölkerung (**) Andere Insgesamt

Anzahl der Sitze 77 33 20 6 5 5 3 3 3 10 165

Sitze in Prozent 46,66 20,0 12,1 3,63 3,03 3,03 1,81 1,81 1,81 6,06 99,94

(*) Parteien der Regierungskoalition „Polo Patriótico" (**) Nicht formelle Mitglieder des „Polo Patriótico", aber Mitglieder der regierungsfreundlichen Organisation CONIVE. Quelle: El Universal Digital, nach Informationen des Nationalen Wahlrats.

Die Regierungspartei MVR verfugt zusammen mit ihrem Koalitionspartner MAS und den Vertretern der indianischen Bevölkerung über eine bequeme Mehrheit, die ihr erlaubt Dreifunftel- oder in manchen Fällen sogar Zweidrittelmehrheiten (99 bzw. 110 Stimmen) zu erhalten, die sie zur Verabschiedung bestimmter Gesetze benötigt, wie zum Beispiel die Erteilung von besonderen Vollmachten an den Präsidenten. Bezüglich der Eigenschaften der Abgeordneten ist in der Zeitung El Nacional (1.8.2000) zu lesen gewesen: „Von den 165 Abgeordneten haben nur 43 Parlamentserfahrung, entweder als Abgeordnete oder Senatoren im früheren Kongress der Republik oder in der Verfassungsgebenden Versammlung. Die restlichen 122 Parlamentarier sind Vertreter einer neuen Führung (74%). Von 162 Befragten sind nur 14 Frauen (8,6%)."

Eine von dem Journalisten Carlos Subero durchgeführte Umfrage zeichnet ein etwas genaueres Bild der Abgeordneten. Demnach beträgt das Durchschnittsalter 43 Jahre, zwei weniger als das des früheren Kongresses. Mehr als drei Viertel der Parlamentarier haben einen Universitätsabschluss und über 40% absolvierten Postgraduiertenstudien. Bezüglich des sozioökonomischen Niveaus, schreibt Subero {El Universal, 13.8.2000):

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„Mindestens 38,8 %der Volksvertreter stammen aus Familien der Mittelschicht und 46,6% aus der Unterschicht oder unteren Mittelschicht. Dieses Verhältnis ist während des 1998 in Gang gesetzten politischen Prozesses mehr oder weniger konstant geblieben. Die Zusammensetzung der Verfassungsgebenden Versammlung zeigte einen etwas höheren Prozentsatz der unteren Schichten, aber die derzeitige Nationalversammlung hat sich wieder dem 1998 gewählten Kongress angenähert."

Es sollte aber auch darauf hingewiesen werden, dass die Abgeordneten der Regierungspartei MVR mit 65% einen deutlich höheren Anteil an Angehörigen der Unterschicht und unteren Mittelschicht aufweisen. Bezüglich der politischen Meinungen drückten sich die meisten Parlamentarier für ein Gesetz zur Bevollmächtigung des Präsidenten aus, das ermöglichen würde, dringende Gesetze zur Bekämpfung wirtschaftlicher und sozialer Schwierigkeiten schnellstens zu verabschieden. Eine andere Form der Klassifizierung der Abgeordneten ist nach ihrer Mitgliedschaft in „traditionellen" oder „neuen" Organisationen. Wird „neu" definiert als vor 1998 nicht existierend, dann trifft dies auf 100 Parlamentarier zu (60%). Zu diesen neuen Organisationen gehören außer der Regierungspartei zwei Gruppen der Opposition, die beide eine liberale Tendenz repräsentieren: einerseits das Projekt Venezuela („Proyecto Venezuela"), das 1998 für 40% der Stimmen für die Kandidatur von Salas Römer verantwortlich war, aber seitdem an Stärke verloren hat, und andererseits die Partei Gerechtigkeit Zuerst („Primero Justicia"), die aus einer regierungsunabhängigen Organisation (NGO) hervorging, die sich für die Justizreform in den 90er Jahren eingesetzt hatte und der vor allem junge Akademiker angehören.

Die Macht hinter dem Thron: Die Rolle des Militärs Das derzeit in Venezuela entstehende politische System ist nicht zu verstehen, wenn nur die formellen Institutionen der Machtausübung untersucht werden. Es darf nicht vergessen werden, dass hinter der Regierungspartei die noch nicht offiziell aufgelöste Bewegung MBR steht, deren internen Entscheidungsmechanismen von den demokratischen Anforderungen, die heutzutage an eine moderne Partei gestellt werden, weit entfernt sind. Und darüber hinaus gibt es auf einer noch weniger formellen, versteckteren Ebene Beziehungen zwischen der Armee und der Präsidialmacht, die sich

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auch auf die Entscheidungsprozesse auswirken. Bisher sind diese versteckten Beziehungen nur anhand ihrer indirekten Konsequenzen zu beobachten und es zeigt sich, dass zwischen den beiden Institutionen eine Allianz besteht, die zum Teil auf dem Respekt vor den demokratischen Formen und Methoden beruht, durch die die Regierung Chävez legitimiert wird. Gleichzeitig beruht diese Allianz aber auch auf der Rückeroberung einer großen Unabhängigkeit der Armee gegenüber den politischen Parteien als Gegenleistung für die Übertragung der gesamten Autorität auf die Person des Präsidenten. Eine Auswirkung dieses Abkommens ist unter anderem die Erhaltung gewisser ökonomischer Vorteile und Privilegien für die Angehörigen der Streitkräfte, zum Beispiel ein eigenes Sozialversicherungssystem und eine besondere Beachtung des Militärhaushalts im Staatsbudget. Und schließlich zeigt auch die Allgegenwart von Angehörigen der Armee auf sämtlichen Ebenen des Staates, von den Vorsitzen der Staatsbetriebe bis hin zu den vom Präsidenten eingesetzten Gouverneuren, dass Chävez seinen bewaffneten Kampfgefährten mehr Vertrauen schenkt als den Zivilisten. Die jüngsten Beispiele der Ernennung von aktiven Generälen zu Vorsitzenden der staatlichen Erdölindustrie bzw. des größten staatlichen Industriekomplexes bestätigen diese Tendenz.

Das Verhalten der Führungsfiguren im Parlament Sowohl im früheren politischen System als auch in dem, das gerade entsteht, lässt die hohe Machtkonzentration innerhalb der Parteien den Parlamentariern nicht viel Handlungsspielraum. Im allgemeinen bestimmt die Parteiführung die Fraktionsvorsitzenden, auch wenn es formelle Mechanismen gibt, um sämtliche Mitglieder einer Fraktion zu konsultieren. Nichtsdestotrotz hat es vereinzelte Fälle gegeben, in denen bestimmte Politiker sich durch geschicktes Verhalten einen gewissen Freiraum schaffen konnten. In der jüngsten Zeit lassen sich drei Etappen unterscheiden: der Kongress, der im November 1998 gewählt und im August 1999 aufgelöst wurde, die Verfassungsgebende Versammlung, die von August bis November 1999 amtierte, und die am 30. Juli 2000 gewählte Nationalversammlung, die ihre erste Sitzung im August des selben Jahres hatte. Jede dieser Etappen hat ihre eigenen Führungsfiguren hervorgebracht, sowohl auf der Regierungs- als auch auf der Oppositionsseite. Das Parlament

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zeichnet sich bezüglich der Führung durch eine hohe Fluktuationsquote aus, die als Zeichen für die Instabilität des politischen Systems gewertet werden kann. Der zunächst konstituierte Kongress hat es in der kurzen Zeit seiner Existenz von Februar bis August 1999 nicht vermocht, seine Legitimität gegen die Angriffe und Abwertungen durch den Präsidenten und seine Anhänger zu verteidigen. Er wurde unter anderem durch den Rückzug der Regierungsfraktion und die offene Drohung der Regierung, sie würde die Beförderung der Offiziere ohne Rückfrage an den Senat durchsetzen, unter Druck gesetzt. Außerdem wurde der Kongress vom Entstehungsprozess der Verfassungsgebenden Versammlung ausgeschlossen. Diese übernahm dann nach und nach die gesetzgebenden und kontrollierenden Funktionen des Kongresses, bis dieser schließlich aufgelöst wurde. Dieser Prozess wurde begleitet von ständigen Einschüchterungsaktionen durch Regierungsanhänger, zum Beispiel in Form von Beleidigungen der Abgeordneten am Eingang des Kongresspalasts, die als korrupte Verräter, etc. bezeichnet wurden. Angesichts der Entschiedenheit der Regierung, sich über die Institution hinwegzusetzen, protestierten nur wenige Kongressabgeordnete und die Mehrheit nahm schließlich die Auflösung unterwürfig hin. Die Verfassungsgebende Versammlung war im Grunde nichts weiter als der Resonanzboden für die Wünsche des Präsidenten, wenn man sich vor Augen führt, dass von den 128 Mitgliedern 121 von der MVR gestellt wurden, nach einem Wahlsystem, das keine Verhältnismäßigkeit garantierte und praktisch die gesamte Opposition außen vor liess (Gomez/Patruyo 2000: 224-226). Unter Druck von Präsident Chävez verabschiedete die Versammlung, deren Vorsitzender Luis Miquilena war, in nur vier Monaten einen Verfassungsentwurf, der anfänglich auf eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung an der Politik zielte, aber letztlich auf die Schnelle fertiggestellt wurde mittels Abstimmungen, bei denen die regierungsfreundlichen Abgeordneten auf mechanische Art und Weise alle Artikel verabschiedeten, die von der Parteiführung vorgeschlagen wurden. Die Nationalversammlung, die schließlich im August 2000 ihre Arbeit aufnahm, sieht sich einer komplexeren Realität gegenüber, die es nötig macht, zu verhandeln und einen gewissen Grad an Konsens zu erreichen. Aus die-

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sem Grund wurde die Partei „Proyecto Venezuela" in den Vorsitz der Versammlung aufgenommen und es wurde ein Konsens gefunden, um ein Gesetz zur Bevollmächtigung des Präsidenten zu verabschieden, für das eine besonders hohe Mehrheit erforderlich war. Andererseits gibt es Spannungen und Unstimmigkeiten sogar innerhalb der Regierungsftaktion bezüglich der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung, so dass diese die Versammlung nicht mit der selben Vertikalität ausnutzen kann wie sie es mit der Verfassungsgebenden Versammlung gemacht hat. Der Veteran Miquilena ist inzwischen durch jüngere Führungskräfte ersetzt worden, von denen aber keine über die Erfahrung und über die unbestrittene Autorität des alten Parteiführers verfügt. Daran liegt es, dass trotz der überwältigenden Mehrheit der Regierung und der Angst der Parteiführer, als „Verräter" verdächtigt zu werden, sobald sie einmal anderer Meinung sind als der Präsident, die Nationalversammlung zu einem Ort der Debatte geworden ist, der die Erhaltung der demokratischen Meinungsvielfalt garantiert.

Die Rolle der Massenmedien und die neuen Führungsfiguren Die Massenmedien haben in den letzten Jahren eine sehr wichtige Rolle für die Entstehung der neuen Führung in Venezuela übernommen. Die meisten großen Medien waren sich im vergangenen Jahrzehnt in ihrer kritischen Haltung gegenüber den „traditionellen" politischen Parteien einig. Sie setzten sich für eine politische Reform ein und behandelten die neuen Führungspersönlichkeiten mit Sympathie, besonders wenn diese die liberale Orientierung der Medien teilten. Darüber hinaus ermöglichte der Handlungsspielraum mancher Medien und ihre ideologische Vielfalt die Existenz alternativer Sichtweisen. Auch der Aufstieg des heutigen Präsidenten ist ohne sein überraschendes Auftreten am 4. Februar 1992 kaum zu erklären. Seit der Übernahme der Regierung benutzt Chävez die staatlichen Medien offen zur Verbreitung seines Images und seiner Botschaft und hält sich damit selbst während des Wahlkampfes nicht zurück. Im Radio unterhält er eine eigene wöchentliche Sendung unter dem Titel „Alö Presidente" („Hallo Präsident)", mittels der er Informationen verbreitet, seine Gegner angreift und auch Anrufe von einfachen Leuten entgegennimmt. Die Anrufer bitten Chävez meist um seine direkte Hilfe bei den verschiedensten Problemen, meistens im Bereich

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der Gesundheit, Bildung, Wohnung oder Arbeit. Der Präsident leitet diese Fälle an seine Mitarbeiter weiter und erweckt so den Eindruck, dass mit der telefonischen Kontaktaufnahme jedes mögliche Problem zu lösen sei. Dieses Image beginnt jedoch langsam abzubröckeln, nachdem mehrere Fälle nicht zu lösen waren, da sie offensichtlich die realen Möglichkeiten der Regierung überstiegen. Ein anderes Medium, das von Chävez häufig benutzt wird, ist die so genannte Fernsehkette („cadena televisiva"), eine Sendung, die von allen Sendern ausgestrahlt werden muss und in der er die Pläne der Regierung in lehrhaftem Ton und manchmal über drei oder vier Stunden lang erklärt. Diese „Ketten" spielten während des ersten Jahres seiner Regierungszeit eine besonders wichtige Rolle, als die hohen an ihn gestellten Erwartungen und seine große Beliebtheit ihm sehr hohe Einschaltquoten einbrachten, aber inzwischen hat sich der Effekt ein wenig verlaufen und das Interesse der Bevölkerung ist zurückgegangen. Einmal abgesehen vom Medieneinsatz der Regierung haben die Massenmedien in Venezuela schon immer eine sehr wichtige Rolle im politischen Leben gespielt. So war zum Beispiel der Tauschhandel von Werbung für eine Partei in der Presse gegen einen Sitz im Kongress schon immer eine gängige Praxis unter den Führungskräften der großen Presseverlage. Andererseits ist es auch häufig vorgekommen, dass die Regierungen die Medien, die ihnen zu kritisch erschienen, wirtschaftlich unter Druck setzten oder mit politischen Drohungen bedachten. Während des letzten Wahlkampfes hatte Chävez die Mehrheit der privaten Medien direkt oder indirekt gegen sich, wovon wiederum seine hauptsächlichen Kontrahenten profitieren konnten, wobei jedoch noch nicht untersucht worden ist in welchem Ausmaß. Daraufhin ist es zu Spannungen zwischen der Regierung und vielen privaten Medien gekommen. Auf staatlicher Seite verfugt der Präsident über einen Fernseh- und einen Radiosender, die er zur Verbreitung regierungsfreundlicher Nachrichten einsetzt. Der Inhalt der Sendungen und Veröffentlichungen der privaten Medien besteht aus Information und Unterstützung der Opposition, wobei ein gewisser Umfang für die Diskussion reserviert bleibt. Die neu auftretenden Führungsfiguren finden in den Medien die Möglichkeit, ein breites Publikum zu erreichen. Ein besonders interessanter Fall in diesem Zusammenhang ist die Beziehung zwischen einer der neuen Führungspersönlichkeiten, Julio

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Borges, Leiter der Partei „Primero Justicia", und dem Sender Radio Caracas Télévision, einer der zwei Anstalten, die sich um die Marktfiihrung in Venezuela streiten. Wie bereits erwähnt, entstand „Primero Justicia" zunächst als NGO mit dem Ziel, eine Reform des Justizsystems durchzusetzen, die vor allem die Einrichtung von Friedensrichtern und Schiedsgerichten beinhalten sollte. Zu diesem Zweck kontaktierte die Organisation andere NGOs und internationale Organisationen und trug maßgeblich zum Erfolg der Reform bei. Um die Vorteile eines Schiedsgerichts einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen, entwarf Borges eine Fernsehsendung nach nordamerikanischem Muster, in der echte Fälle verhandelt wurden und er selbst als Schiedsrichter auftrat. Radio Caracas Télévision strahlte das Programm aus und in wenigen Monaten entwickelte es sich aufgrund seiner Merkmale einer Reality Show zu einer der Sendungen mit den höchsten Einschaltquoten. Sowohl die Sendeanstalt als auch Borges und seine Organisation zogen einen großen Nutzen aus dieser Zusammenarbeit. „Primero Justicia" erreichte eine Präsenz in der Öffentlichkeit, die sie ohne die Hilfe des Fernsehens nie bekommen hätte. Diese Präsenz wiederum trug dazu bei, dass die Organisation in eine Partei umgewandelt wurde und dass diese wiederum bei ihrer ersten Wahl mit fünf Abgeordneten einen außerordentlichen Erfolg feiern konnte.

Typen von Führungsfiguren und Typen von Parteien: Venezuela zwischen Populismus und Bürgertum Eine Betrachtung der Gesamtheit der Führung von Hugo Chävez, die seinen politisch-ideologischen Werdegang und den Inhalt seines Diskurse ebenso berücksichtigt wie seine politischen Methoden und die Orientierung seiner Regierungsfuhrung, wäre nicht komplett, wenn sie nicht auf die überraschenden Parallelen zwischen seinem Stil und dem des Populismus eingingen. Seine populistischen Züge lassen sich wie folgt zusammenfassen: der Glaube an eine zweigeteilte Gesellschaft, in der sich das Volk und die Oligarchie gegenüberstehen; nationalistische und antiimperialistische Einstellungen, auch wenn letzteres heutzutage unmodern klingt und sich eher in der Kritik an Globalisierung und Neoliberalismus ausdrückt; sein Anspruch, eine „ E m a n a t i o n " des Volkes zu sein, das sich direkt an ihn

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wenden kann und dabei sogar über seiner Partei steht;7 der Vorzug, den er dem Staat bezüglich des Wiederaufbaus der nationalen Identität gibt; die Referenzen an die Helden und Gründungsmythen der Nation; sein Auftreten als Vermittler zwischen einfachem Volk und privilegierteren Bereichen der Gesellschaft, der als einziger dazu in der Lage ist, Gewaltausschreitungen und Chaos zu vereiteln.8 Zu diesen allgemeinen Merkmalen des Populisten kommt bei Chävez noch eine gehörige Dosis Militarismus hinzu, nicht unbedingt im Sinne einer Militärdiktatur, sondern eher so, dass er sich die Führung des Landes ohne die aktive Teilnahme der Streitkräfte nicht vorstellen kann, oder mit anderen Worten, dass er sich weigert anzuerkennen, dass sich die Armee der Zivilmacht bedingungslos unterzuordnen hat. Abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass die Frage noch offen steht, ob sich der Chavismus weiterentwickeln kann in Richtung einer Strömung, die als „Neopopulismus" bezeichnet wird und unter der eine Kombination von Elementen des klassischen Populismus sowie des Neoliberalismus zu verstehen ist, so wie sie in anderen Ländern, zum Beispiel in Peru unter Fujimori, in Argentinien unter Menem oder in Brasilien unter Collor de Melo, Anwendung gefunden hat (Roberts 1998, Knight 1998, Burbano 1998). In der Tat führt eine Analyse der Wirtschaftspolitik unter Chävez zu dem Ergebnis, dass sich seine Maßnahmen, jenseits der Rhetorik gegen den „wilden Neoliberalismus" und die Globalisierung, in erster Linie in recht orthodoxen Schienen bewegen. In seinen Reden, besonders denen, die er im Ausland hält, taucht immer wieder der Ruf nach internationalem Kapital auf, das in Venezuela investiert werden soll, und bis auf die Erdölindustrie sind alle wichtigen Staatsbetriebe inzwischen privatisiert worden, was in seinem Programm „strategische Assoziationen" genannt wird. Es wäre jedoch unvorsichtig, das historische Phänomen Chävez zu einfach in eine Schublade zu packen, denn es enthält zu viele einmalige und nie wiederkehrende Merkmale. Er ist weder eine Fidel-Castro- noch eine Fujimori-Kopie, sondern vielmehr ein spezifisches Produkt einer bestimmten Hier zeigt sich der ideologische Einfluss seines argentinischen Beraters Norberto Ceresole, der darauf besteht, dass das venezolanischen Volk Chävez zu seinem caudillo bestimmt hat und dass er entsprechend zu handeln hat. Diese Eigenschaft des Populismus ist nach Pecaut (1987) besonders deutlich im Fall Gaitän zu erkennen gewesen.

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Kultur, Geschichte und Konjunktur. Daher kommt es nicht so sehr darauf an, in diesem politischen Phänomen eine wesentliche Identität zu entdecken, sondern vielmehr darauf, dieses Phänomen auf dynamische Art und Weise unter Anwendung verschiedener Wertmaßstäbe, die heutzutage unabdingbar sind, zu beurteilen: Menschenrechte, Chancengleichheit, Freiheit und das Recht auf Teilnahme an den Entscheidungen. Der Schlüssel dieser Beurteilung liegt darin, dass sie nicht nur eine Analyse der politischen Führung und der staatlichen Institutionen zu beinhalten hat, sondern darüber hinaus die Interaktion zwischen der Führung, dem Staat und den Bürgern beobachten muss, also im grundlegenden Sinne des Wortes die Beziehung zwischen sämtlichen Bürgern mit ihren Rechten und Pflichten und dem institutionellen Rahmen, der deren Ausübung ermöglicht. Mit anderen Worten heißt das, dass die Interaktion zwischen dem Staat als politischer Organisation, die die gesellschaftliche Gesamtheit vertreten soll, und der Zivilgesellschaft und ihren Repräsentanten der kollektiven Handlung, die die Forderungen der Bürger in organisierter Form ausdrücken, zu untersuchen ist. An eben diesem Aspekt lassen sich unabhängig davon, ob die Schublade „Populismus" nun zutrifft oder nicht, mehrere Punkte festmachen, die dazu beitragen können, das Phänomen des Chavismus zu verstehen und seine weitere Entwicklung vorauszusehen. Im Diskurs von Chävez lässt sich immer wieder eine Verurteilung der repräsentativen Demokratie finden, die in seinen Augen ein betrügerischer Ersatz für die wahre Demokratie ist, die in den Worten der neuen Verfassung dem Bürger die Möglichkeit bieten soll gleichzeitig „Teilnehmer und Hauptperson" zu sein. In diesem Diskurs dient der repräsentative Charakter der Demokratie dazu, zu erlauben, dass sich die Parteien zu den Herrschern eines wehrlosen Landes machen. Daher kommt der pausenlose Aufruf zur Teilnahme des Volkes, egal ob als Ankläger gegen die Korruption, als Mitarbeiter der Regierung oder als jemand, der seinen Beitrag zum Gemeinwohl leistet. Gleichzeitig aber verspürt Chävez ein tiefes Misstrauen gegenüber vielen Organisationen der Zivilgesellschaft, die in den vergangenen Jahrzehnten in Venezuela entstanden sind. Dazu gehören alle, die nicht wirklich im Volk ihren Ursprung haben oder nicht sehr volkstümliche Merkmale zeigen, alle, die einen Großteil ihrer Mitglieder aus der Mittelschicht beziehen oder die in ihren Ideen liberalen Idealen nahe stehen. Diesen Organisatio-

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nen wird von Chävez und vielen seiner Mitstreiter mit Misstrauen und Verdacht begegnet und es wird ihnen direkt oder indirekt vorgeworfen, in der Vergangenheit zu leben oder Alliierte des Neoliberalismus und der Globalisierung zu sein. Diese Furcht mag unrealistisch erscheinen bei einem Regierungschef, der sich einer breiten Unterstützung des Volkes erfreut, aber dennoch widmet er diesem Bereich große Aufmerksamkeit und fährt harte, geradezu unverhältnismäßige Angriffe gegen diese Organisationen, die in vielen Fällen kaum ein paar hundert Mitglieder und entsprechend wenig Einfluss haben. Vielleicht ist dieses starke Misstrauen auf das Verlangen nach Einstimmigkeit zurückzuführen, das viele Vertreter des Populismus miteinander teilen. Die Populisten sind häufig nicht dazu in der Lage, zu akzeptieren, dass eine Bewegung, deren Aufgabe es ist, die Nation zu retten, bei ihrer erlösenden Mission auf Gruppen treffen kann, die sich ihr widersetzen. Oder es liegt an der politischen Unerfahrenheit des Präsidenten, der in einer militärischen Institution ausgebildet wurde, die keine Dissidenten und nicht einmal Diskussionen zuließ. Ein anderer Grund könnte die Furcht davor sein, dass die Eliten sich seines „reinen", volkstümlichen Projektes annehmen könnten, um es zu verderben. Was auch die richtige Antwort sein mag, sämtliche erwähnten Einstellungen führen zu Zweifeln bezüglich der Zukunft des Präsidenten und seiner Reaktion auf eine eventuelle Abkühlung der Sympathien des Volkes, in denen er sich zur Zeit noch badet. Wird er es verkraften, wenn sein politisches Projekt nur noch eins unter vielen ebenso legitimen anderen ist? Wird er akzeptieren können, wenn die Bürger zu Recht oder Unrecht eine andere politische Alternative wählen, ohne sie als Verräter des Vaterlandes oder Opfer perverser Eliten zu abzustempeln? Wird er einsehen, dass Äußerung von Kritik und Ausüben von Opposition keine Anzeichen für Konspiration sind, sondern allgemeine Menschenrechte. Der Moment der größten Beliebtheit ist nicht die richtige Zeit, um den demokratischen Charakter einer Führungsfigur zu beurteilen, sondern der, wenn seine Führungsqualitäten in Frage gestellt werden. Und aus eben diesem Grund darf zwischen dem Präsidenten und den zur Zeit euphorischen Massen kein institutionelles Vakuum entstehen. Um dies zu verhindern, müssen alternative Organisationsformen in ihrer ganzen Verschiedenheit erhalten und ausgebaut werden, auf politischer ebenso wie auf sozialer und kultureller Ebene. Es ist wichtig, eine politische Kultur der Toleranz und des Dialogs zu erhalten, jenseits der ideologischen oder sozialen Differen-

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zen. Die Achtung vor dem Gesetz und vor den demokratischen Methoden müssen über dem Selctierertum stehen. Die politische Kommunikation muss offen und vielfältig sein und darf nicht nur in vertikaler Richtung stattfinden. Aus diesen Gründen braucht die venezolanische Demokratie nicht nur die unumgängliche politische Führung, sondern auch starke und unabhängige zivile Organisationen und Führungspersönlichkeiten.

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Simón Pachano Politische Parteien und Klientelismus in Ecuador Einleitung Die politischen Parteien gehören zu den Institutionen, die von der Bevölkerung Ecuadors am stärksten abgelehnt werden. Sowohl in Umfragen als auch in den Massenmedien haben sie, zusammen mit dem Nationalkongress, den geringsten Grad an Akzeptanz. Am häufigsten kritisiert wird ihr Mangel an Erneuerung — besonders hinsichtlich der Parteiführungen, aber auch im Hinblick auf ihre Programme —, daneben aber auch die Korruption der Politiker sowie eine Reihe von Faktoren, die sich zusammenfassend als mangelnde Fähigkeit zur Kenntnisnahme und Befriedigung von Erwartungen der Gesellschaft beschreiben lassen. Trotz dieser Kritik und der in jüngerer Zeit durchgeführten Reformen der Wahlgesetze, die die Kandidatur von unabhängigen Politikern zu praktisch gleichen Bedingungen ermöglicht haben, erzielen die Parteien nach wie vor die besseren Wahlergebnisse, und ihre Mitglieder besetzen noch immer die Mehrzahl der öffentlichen Ämter.1 Es besteht somit ein Widerspruch zwischen zwei Komponenten der politischen Kultur: den Überzeugtingen und dem Verhalten der Bürger. Das eröffnet ein weites Feld für eine Analyse, die auf zwei Ebenen stattfinden kann: einerseits kann sie sich auf der Ebene der politischen Kultur im engeren Sinne bewegen, wobei gewisse Aspekte wie Orientierungen, Werte, Überzeugungen, Identitäten, Einstellungen und Erwartungen eine Rolle spielen; andererseits kann man sich um ein Verständnis und die Aufklärung der Ursachen und Hintergründe für die Einstellungen der Bürger bemühen. Seit 1996 können Parteilose und Unabhängige ihre Kandidatur zu den Wahlen anmelden, ohne Mitglied einer Partei zu sein oder von dieser gefordert zu werden. In vielerlei Hinsicht haben sie es leichter als die Parteien, da sie nicht dazu verpflichtet sind, Kandidaten für mehrere Provinzen aufzustellen, und auch weniger Voraussetzungen für die Wahlteilnahme erfüllen müssen als die Parteien. Der Nachteil der Parteilosen besteht darin, dass sie keine staatlichen Mittel der Finanzierung erhalten.

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Aufgrund der zur Verfugung stehenden Informationen, vor allem aber auch zum Zwecke einer besseren Erklärung, wird sich dieser Artikel in der letztgenannten Richtung bewegen, das heißt, auf der Suche nach den Elementen, die die politische Kultur von außen her bestimmen und beeinflussen und somit auch, unter anderem, den bereits erwähnten Widerspruch ermöglichen. Dieser Widerspruch zwischen kollektiven Meinungen und Verhaltensweisen zeigt sich bei großen Gruppen der Bevölkerung. Auf einer allgemeineren Ebene wird daher untersucht, welche Bedingungen zu den genannten Anschauungen und Handlungsweisen fuhren.2 Ausgangshypothese dieses Artikels ist, dass der besagte Widerspruch zwischen Überzeugungen und dem Verhalten der Bürger aus dem Zusammenfluss verschiedener Elemente entsteht. Darunter sind besonders die Faktoren institutionellen Charakters hervorzuheben, die sich auf Normen, Verfahren und Gestaltung der Partizipation und Repräsentation beziehen. An zweiter Stelle stehen Faktoren, die sich aus dem gesellschaftlichen und politischen Alltag ergeben, das heißt, der Art und Weise, wie die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft die Institutionen nutzen und wie sie sich gegenüber den Instanzen der politischen Entscheidungsfindung und der Machtausübung verhalten. Wichtig ist zudem die Leistungsfähigkeit des politischen Systems, die Forderungen der Gesellschaft zu kanalisieren und zu befriedigen. Besonders hervorzuheben ist auch, dass sich diese Umstände vor dem Hintergrund eines Entwicklungsmodells gestalten, welches einen zentralen Erklärungsfaktor darstellt, da sich mit seinem Einfluss ein ganz spezifischen Wahrnehmung des Verhältnisses zu Staat und Gesellschaft gefestigt hat. Da dieses Modell also die Rahmenbedingung sowohl für die Entstehung als auch für die Entwicklung der gesellschaftlichen und der staatlichen Strukturen abgibt, soll es hier zu Beginn kurz beschrieben werden.

Sehr häufig wird diese Art von Phänomenen mit Hilfe der Charakteristika der politischen Kultur erklärt, so zum Beispiel, wenn gesagt wird, dass diese Konfrontationen fordere oder einer bestimmten Orientierung folge, ob autoritärer oder demokratischer Richtung.

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Der allgemeine Hintergrund und die institutionellen Rahmenbedingungen Seit Anfang der siebziger Jahre dreht sich die Wirtschaft Ecuadors um den Erdölexport, der sich zur Hauptquelle für Deviseneinnahmen entwickelte und den größten Teil des Staatshaushalts deckt. Über die volkswirtschaftliche Bedeutung hinaus führte die staatliche Kontrolle über diese Industrie zu einem grundlegenden Wandel in den politischen Wahrnehmungen Handlungen, besonders nach der erneuten Einrichtung eines verfassungsmäßigen Regimes im Jahre 1979. Die Verfügung über umfangreiche finanzielle Ressourcen ermöglichte dem Staat eine größere Autonomie und verschaffte ihm eine zentrale Stellung in der Wirtschaft des Landes. Über seine regulierenden Aufgaben hinaus begann der Staat eine Reihe von wirtschaftlichen Aktivitäten auszuüben — mit einem in der Geschichte des Landes bis dahin unbekannten Interventionsgrad. Daraus ergaben sich nicht nur staatliche Eingriffe in die Produktion, die Verarbeitung und den Vertrieb des Öls, sondern es führte auch zur Umverteilung von Ressourcen und zur Neuorientierung der politischen Prozesse. Die Struktur des Landes veränderte sich in Richtung eines zentralistischen Staatsmodells, dessen charakteristische Elemente bereits oben erwähnt worden sind (Cavarozzi 1998). Ein positiver Aspekt dieser Veränderung war in Ecuador, ebenso wie auch in allen anderen Ländern, in denen ein ähnliches Modell eingeführt wurde, dass nun verschiedene Gruppen der Gesellschaft an der Politik und den politischen Prozessen teilhaben konnten, die unter den oligarchischen Verhältnissen davon ausgeschlossen waren. Denn bis zur Einführung des neuen Entwicklungsmodells drehte sich die politische Auseinandersetzung, wie sie von den Linksparteien, aber auch dem Populismus unter Velasco vor allem von den dreißiger bis zu den sechziger Jahren geführt wurden, um die Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten für die ausgeschlossenen Schichten (Maiguashca 1991: 79-94). Doch die bestehenden Strukturen und die Mechanismen zur Machterhaltung der Oligarchie verhinderten entsprechende Reformen. Im Gegensatz dazu baut das Modell, das den Staat in den Mittelpunkt der Entwicklung stellt, auf die Beteiligung jener Schichten auf, ja sein Überleben hängt geradezu davon ab, denn es bezieht seine

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Legitimität aus der Fähigkeit, die Forderungen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu befriedigen.3 Die Rückkehr zu einem verfassungsmäßigen Regime 1979 bedeutete eine weitreichende rechtliche und institutionelle Bestätigung dieses unter der reformistischen Militärregierung eingeführten Modells. Selbst in der durch ein Plebiszit bestätigten Verfassung lässt sich dieses Modell wieder erkennen, besonders anhand der Rolle, die dem Staat zukommt, sowie einer Reihe von Regulierungsmechanismen der Wirtschaft.4 Die Einsetzung einer rechtmäßigen Regierung bedeutete nicht nur die Einbeziehung der bis zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossenen Schichten der Gesellschaft, sondern machte es gleichzeitig notwendig, Formen für die politische Partizipation und Repräsentation dieser Gruppen zu finden. Das führte zu einer gespannten Situation, weil es auf der einen Seite darum ging, das zentralstaatliche Modell mit seiner besonderen Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft ebenso zu konsolidieren wie auf der anderen Seite die junge Demokratie als Form der Partizipation und Repräsentation sowie als Mechanismus der Machtverteilung. Es handelt sich in Ecuador zweifellos um eine repräsentative, liberale Demokratie mit Aufgabentrennung und Gewaltenteilung, mit politischen Parteien als zentralen Instanzen der Partizipation und mit der Idee des Individuums als Bürger und Inhaber von Rechten usw. Aber gleichzeitig soll diese Demokratie als Ordnungsrahmen ein Wirtschaftsmodell legitimieren und stärken, das zumindest in manchen Teilen nicht sehr liberal war und staatliche Interventionen zuließ. Aufgrund der zentralen Rolle des Staates in der Wirtschaft waren die Möglichkeiten zur Konsolidierung der demokratischen Repräsentation stark eingeschränkt: denn eine so zentrale Rolle des Staates verlangt nach spezifischen Mechanismen der Beziehung zur Gesellschaft und nach entsprechenden Formen der Repräsentation. Jeder Bereich der Gesellschaft sah sich daher gezwungen, eigene direkte Beziehungsmuster zum Staat aufeuDiese Eigenschaft kann zur Unterscheidung des zentralistischen Staatsmodells von sämtlichen anderen Staatsformen dienen, zum Beispiel auch von jenen, die unter den Militärdiktaturen der siebziger Jahre in Argentinien, Chile und Uruguay entstanden. 4

Die Verfassung von 1979 enthält strenge Bestimmungen zur Organisation der Wirtschaft, unter anderem die Definition der natürlichen Ressourcen und der öffentlichen Dienstleistungen als „strategische Bereiche" (Artikel 46). Die neue Verfassung von 1998 verzichtet auf diesen Begriff.

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bauen, um seine spezifischen Forderungen zu kanalisieren. Aus diesem Grund trafen alle Anstrengungen zur Strukturierung der Repräsentation und der Partizipation nach demokratischen Konzepten, besonders über die Parteien und die institutionelle Repräsentation des Volkes, wie z.B. über den Kongress, auf große Hindernisse, die es entweder zu überwinden galt oder denen sich angepasst werden musste. Wie weiter unten gezeigt werden wird, wurde größtenteils der Weg der Anpassung gewählt. Die Anstrengungen zur Schaffung von demokratischen Partizipations- und Repräsentationsformen waren bezüglich ihres Umfangs und ihres Inhalts bedeutend. Mit der Rückkehr zur Demokratie konzentrierten sich die Gestalter der staatlichen Institutionen vor allem auf die politischen Parteien, denen das Monopol der politischen Repräsentation zugesprochen wurde. Von ihnen wurde landesweite Präsenz verlangt.5 Diese Stärkung der Rolle der Parteien lässt sich vor allem auf den Versuch zurückfuhren, den Populismus zu überwinden, der über mehr als vierzig Jahre die nationale Politik bestimmt hatte.6 Ein Mittel gegen dieses negative, die Demokratie destabilisierende Phänomen sah man in den Parteien. Nicht erkannt wurde dabei allerdings das enge Verhältnis zwischen den politischen Partizipationsformen des Populismus und den Strukturen des zentralistischen Staates. Diese hatten in der Praxis den Populismus eher gestärkt, den man ja ausmerzen wollte und der ein schwieriges Umfeld für die Parteien darstellte. Die Möglichkeiten ihrer Konsolidierung blieben in diesem Umfeld, in dem andere Formen der Partizipation und Repräsentation notwendig waren, sehr eingeschränkt.

Die Verfassung von 1979 schrieb vor: „Nur die vom Gesetz anerkannten politischen Parteien können Kandidaten zu den Wahlen aufstellen. Um zu einer Wahl aufgestellt werden zu können, muss jeder Kandidat seine Parteimitgliedschaft nachweisen sowie sämtliche andere von der Verfassung erwähnten Bedingungen erfüllen" (Artikel 37). Das Parteiengesetz legte fest, dass diese über eine Mitgliederzahl von mindestens 1,5% der im Wählerverzeichnis registrierten Einwohner verfügen mussten sowie verpflichtet waren nachzuweisen, dass sie über eine landesweite Organisation verfügten (Artikel 9 und 10), das heißt, dass sie jeweils in mindestens zehn, also in der Hälfte der zu diesem Zeitpunkt existierenden Provinzen präsent sein mussten (Artikel 12). Ebenso schrieb das Gesetz vor, dass zu allen Wahlen Kandidaten in wenigstens zehn Provinzen aufgestellt werden mussten (Artikel 39). Die Literatur zum Thema Populismus in Ecuador ist sehr umfangreich, z. B. Maiguashca (1991), De la Torre (1993), Burbano (1998), Cueva (1980), Hurtado (1979).

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Im Übrigen war der Kampf gegen den Populismus nutzlos. Wie nicht anders zu erwarten, war ein Modell, das die direkte Interessenvertretung einzelner gesellschaftlicher Sektoren begünstigt, wenig geeignet, eine neue Form institutionalisierter Repräsentation über die politischen Parteien zu stärken. Dagegen war dieses Modell für personalisierte, direkte, nicht institutionalisierte Formen der Repräsentation, wie sie unter dem Mantel des Populismus zu finden sind, sehr gut geeignet. Daher lässt sich behaupten, dass zwischen der Beständigkeit jenes Modells der direkten Interessenvertretung und der langen Geschichte des Populismus in Ecuador eine enge, wechselseitige Beziehung besteht. Im Falle Ecuadors muss die Erklärung für die Dauer des Populismus und des Klientelismus offensichtlich in der langen Geschichte des staatlichen Zentralismus gesucht werden. Diesen Zentralismus selbst gilt es durch andere Formen der Partizipation, der Repräsentation und der Umsetzung von gesellschaftlichen Forderungen zu erneuern. Als letztes Element im Rahmen der Beschreibung des Hintergrunds, vor dem die Rückkehr zu einer verfassungsmäßigen Ordnung stattfand, ist auf die gleichzeitigen tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen zu verweisen. Der wirtschaftliche Aufschwung und die Umverteilung der Einkommen durch den Erdölboom (zumindest bis Anfang der achtziger Jahre) und die nachfolgende Industrialisierung und Modernisierung führten zur Entstehung neuer Gesellschaftsschichten mit eigenen Forderungen und spezifischen Erwartungen. Als sich aber zu Beginn der achtziger Jahre die ersten Zeichen der Wirtschaftskrise bemerkbar machten, kam es emeut zu Veränderungen. Neue soziale Forderungen wurden erhoben, sei es aufgrund der Entstehung neuer Schichten oder wegen der Enttäuschung derer, die im Moment des Aufschwungs entstanden waren.7 Wie weiter unten gezeigt werden wird, setzte diese Entwicklung das politische System und seine Mechanismen der Repräsentation und der Befriedigung von Ansprüchen stark unter Druck. Zusammenfassend lässt sich beobachten, dass die Bedingungen, unter denen sich das politische System in Ecuador im Allgemeinen und die Parteien

Besonders deutlich ist die Entstehung eines breiten informellen Sektors in den Städten aufgrund der Migration von Industriearbeitern, öffentlichen und privaten Angestellten sowie durch Landflucht. Der unterschiedliche Hintergrund der Gruppen führt zu ebenso vielseitigen Bedürfnissen, Forderungen und Ansprüchen.

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im besonderen entwickelten, nicht sehr vorteilhaft waren. Die Probleme, die sich ihnen entgegen stellten, lagen nicht in der neuen Verfassung, sondern in den tiefgreifenden Strukturen, und konnten bis heute nicht zufriedenstellend gelöst werden. Die wiederholten Versuche, neue Formen der Repräsentation sowie Alternativen für die Beziehungen zwischen den staatlichen Entscheidungsinstanzen und der Gesellschaft zu finden, mussten immer wieder an dieser Realität scheitern.

Die Probleme der Parteien Auf einer strikt politischen Ebene lag der Dreh- und Angelpunkt der neuen Demokratie in der Repräsentation und Art und Weise, in der die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft ihre Forderungen formulieren und befriedigen konnten. In diesem Sinn war die zentrale Rolle der Parteien gerechtfertigt. Durch die Einführung strenger Regeln für die Aktivitäten der Parteien wurde versucht, auf zwei grundlegenden Ebenen bestimmte Wirkungen zu erzielen: dem Verhalten der Bevölkerung und den Strukturen der staatlichen Institutionen. In Bezug auf die Bevölkerung bestand das Ziel darin, ein Verhalten zu fordern, das sich von dem Personalismus, vom caudillismo und anderen Praktiken des Populismus deutlich unterscheiden sollte. Auf der strukturellen Ebene wurde versucht, die staatlichen Institutionen und die demokratischen Verfahrensweisen zu stärken und zu konsolidieren, besonders die Mechanismen der Partizipation und Repräsentation und speziell die Parteien und das Wahlsystem. Die Ergebnisse konnten jedoch die hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllen. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass trotz der inzwischen schon relativ langen Zeit, die seit der Einführung jener Gesetze verstrichen ist, die Entwicklung nicht in der gewünschten Richtung verlief. Die Analysen sind in ihrer Mehrheit zu folgenden Ergebnissen gekommen: a) die politischen Parteien folgen nicht den so sorgfältig ausgearbeiteten Richtlinien; b) das Parteiensystem hat den erwarteten Grad an Repräsentation der Gesellschaft nicht erreicht und ist von anderen Kanälen der Interessenvertretung überholt worden; c) die Bedingungen für eine Führungsrolle bewegen sich innerhalb der traditionellen Muster der personalistischen Politik; d) die Art der Rekrutierung von Parteimitgliedern und des Wettbewerbs um Wählerstimmen entspricht weiterhin den früheren Praktiken, die eigentlich ü-

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berwunden werden sollten; e) gewählte Vertreter der Parteien haben wiederholt mit der Parteidisziplin gebrochen; f) die Parteien besitzen keine ausreichenden Fähigkeiten, in ihre Programme und Aktionen die Forderungen der Gesellschaft aufzunehmen, und sie konnten den Verlust von Wählerstimmen nicht vermeiden; g) Spaltung und Zersplitterung sind zwei Konstanten des Parteiensystems; h) die Parteien haben sich von ideologischen und programmatischen Positionen entfernt, um zu catch all parties zu werden; i) von sporadischen Ausnahmen abgesehen haben die Parteien es praktisch nicht geschafft landesweite Unterstützung zu finden (Conaghan 1994, Mejia 1998, Anas 1995, Freidenberg 2000, Pachano 1995). Folglich sah sich die Gesellschaft gezwungen, ihre Beziehungen zum politischen System über andere Kanäle und Verfahrensweisen als die von der Verfassung vorgesehenen zu leiten. Die Parteien wiederum kamen nicht umhin, sich dieser veränderten Situation anzupassen und somit ihre eigene Rolle zu verleugnen. In der Tat sahen sich die Parteien in mindestens vier ihrer Grundfunktionen beeinträchtigt: die Repräsentation, die Aggregation von Interessen, die Ausarbeitung politischer Vorschläge und Programme sowie die Regierungsbildung.8 Außer dem oben bereits erwähnten Legitimitätsverlust hat dies auch zu spezifischen Problemen auf jeder einzelnen der von diesen Funktionen betroffenen Ebenen gefuhrt. Gerade diese Probleme sollen hier hervorgehoben werden, denn dadurch wird es möglich sein, die Gründe Ahden Verschleiß der Parteien in Bezug auf ihre Aufgabe als legitime Vertretung der Bürger des Landes zu finden. Die Probleme der Repräsentation beziehen sich auf die vielleicht grundlegendste Rolle der Parteien, die gleichzeitig einer der wichtigsten Faktoren der Demokratie ist. Der Wert einer modernen Demokratie lässt sich daran messen, welchen Grad an Repräsentation der Gemeinschaft ihrer Bürger sie erreicht hat, oder in anderen Worten, wie sehr das politische System dazu in der Lage ist, die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen zu vertreten und zu verarbeiten. Der Fortschritt eines demokratischen Systems kann an der Qualitätsverbesserung der Bedingungen, Mechanismen und Verfahrensweisen der Repräsentation abgelesen werden. Wenn man sich gleichzeitig vor Augen hält, dass die heutige Gesellschaft, so klein sie im Hinz u den Funktionen der Parteien, siehe Sartoti (1992: 55ff.) und Garretön (1998:

17fr.).

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blick auf Bevölkerungszahl oder das bewohnte Gebiet auch sein mag, ein äußerst komplexes Gebilde ist, wird deutlich, dass die Möglichkeiten der Einflussnahme durch direkte Partizipation relativ beschränkt sind. Das wiederum verleiht der Repräsentation eine fundamentale Bedeutung (Sartori 1999: 2ff.). In diesem Zusammenhang spielen die Parteien, weil sie die einzigen sind, die diese Aufgabe in einem demokratischen System zufriedenstellend erfüllen können, eine zentrale Rolle. In ihrer Eigenschaft als zentrale Elemente des politischen Systems übernehmen sie eine ganze Reihe von Charakteristika, die sie von anderen Gruppen innerhalb der Gesellschaft unterscheiden und für die Aufgabe der Interessenvertretung unerlässlich machen. Aufgrund einer Reihe von Gründen hat sich die Fähigkeit des politischen Systems Ecuadors zur Interessenvertretung und Konfliktlösung verringert; das wiederum hat die Rolle der Parteien eingeschränkt. Im nächsten Abschnitt werden diese Faktoren ausführlich behandelt, weshalb sie hier nur kurz umrissen werden. Der erste Grund für die eingeschränkte Fähigkeit des Systems, das Volk zu vertreten, liegt in der allgemeinen politischen Praxis, zu der in erster Linie der Klientelismus und der Korporativismus gehören. Der zweite Faktor besteht in der unangemessenen Gestaltung der politischen Institutionen und gesetzlichen Bestimmungen, die ungeeignet sind, die Demokratie und im Besonderen ihr repräsentatives System zu stärken. An dritter Stelle stehen die internen Probleme der Parteien, speziell ihre Unfähigkeit zur Erneuerung und das Fehlen innovativer Programme. Und schließlich hängt der Verlust an Repräsentationsfähigkeit auch von der Dauerhaftigkeit des zentralistischen Systems in Wirtschaft und Politik ab, das direkte Beziehungen der Entscheidungsinstanzen zur Gesellschaft ermöglicht und damit die Dominanz von Interessengruppen über die Parteien. Auch die Probleme der Aggregation von Interessen stehen in Zusammenhang mit einer der grundlegenden Aufgaben der Parteien, denn sie sind praktisch die einzigen Institutionen, die mit der direkten Vertretung der Interessen Einzelner Schluss machen könnten, um somit zur Bildung eines Allgemeininteresses beizutragen. Das politische System allgemein und im Besonderen die Parteien sind diejenigen Instanzen, die durch den Wählerauftrag von der Bindung an Einzelinteressen befreit werden. Hierin besteht eine der zentralen Eigenschaften der modernen Demokratie; denn so wird einerseits die Gefahr der Konfrontation zwischen gesellschaftlichen Interessen und politischen Instanzen ausgeschlossen und andererseits das Risi-

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ko verringert, dass wirtschaftlich oder gesellschaftlich mächtige Teile der Gesellschaft die Repräsentationsmöglichkeiten der politischen Instanzen überproportional dominieren. Die Aggregation von Interessen trägt also zur Verringerung der Konflikte innerhalb des politischen Systems bei und ermöglicht die Bildung eines einzigen gemeinsamen Interesses, das über dem einzelnen Gruppen oder Sektoren steht. Ihr Erfolg hängt entscheidend davon ab, in wie weit die Parteien es schaffen, sich von den Einzelinteressen zu distanzieren und gleichzeitig der gesamten Gesellschaft sinnvolle neue Vorschläge vorzustellen. In dem Maße wie die Einzelinteressen das politische System bestimmen und die Parteien bloß als ihre Vermittler fungieren, verschlechtert sich die Situation Ecuadors. Dies drückt sich in der direkten Konfrontation sozialer und wirtschaftlicher Interessen innerhalb des politischen Systems aus, was wiederum zum Ausschluss einzelner gesellschaftlicher Gruppen führt und somit Konflikte provoziert. Die Chancen für Übereinstimmung und Konsens sind äußerst gering, denn die Dominanz der Einzelinteressen macht den Gegner automatisch zum Feind, der ausgeschaltet werden muss. Da jedoch die Bedingungen nicht gegeben sind, dass ein einzelner Sektor über alle anderen dominiert, kann sich ein Verhandlungsspielraum öffnen, der zwar nicht direkt zur Aggregation der Interessen oder zur Bildung eines Allgemeininteresses fuhrt, aber immerhin zur Stärkung der verschiedenen Einzelinteressen beiträgt. Die Vertreter dieser verschiedenen Einzelinteressen gewinnen so an Bedeutung innerhalb eines Spiels, das anderen Regeln als denen des politischen Systems folgt.9 Das geht so weit, dass das Überleben der Parteien davon abhängt, ob sie dazu in der Lage sind, sich diesen neuen Regeln und Bedingungen anzupassen. Die dritte Problemgruppe, die Ausarbeitung politischer Vorschläge und Programme, hängt direkt mit den zwei bereits erwähnten Punkten zusammen, da es sich hier einerseits um eine Funktion handelt, die den Repräsentationsinstanzen und -mechanismen eigen ist, und anderseits ein hohes Maß an Interessenaggregation bedingt. Anders als in sonstigen gesellschaftliEin Beispiel dafür, wie der Eintritt in dieses Spiel den Teilnehmern Bedeutung verleiht (und dass das Problem nicht nur die Parteien betrifft), ist die Entwicklung der indigenen Bewegung. Nachdem diese anfangs als ein Vorschlag zur allgemeinen Veränderung der Gesellschaft Ecuadors gedacht war (mittels eines Diskurses zur Erweiterung der Bürgerrechte und Anerkennung der Gemeinschaftsrechte), ist sie später zu einer Interessengruppe mit sehr konkreten Absichten geworden.

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chen Bereichen, bei denen jeder Sektor oder jede Gruppe ihre eigenen Vorschläge entwirft und sie dann über die internen Wege der jeweiligen Organisation weiterleitet, sind auf der politischen Ebene Vorschläge auszuarbeiten, die von der gesamten Gesellschaft akzeptiert werden können. Die zentrale Rolle bei der Ausarbeitung dieser Vorschläge fällt den politischen Parteien zu, eben aufgrund ihrer Fähigkeit der Interessenaggregation, ihrer Distanz zu Einzelinteressen sowie ihrer Eigenschaft als privilegierte Interessenvertreter. Darüber hinaus verlangt der repräsentative Charakter der Demokratie, dass die politischen Vorschläge einen integrierenden Charakter haben und unabhängig sind von spezifischen gesellschaftlichen Interessen. In dieser Hinsicht zeigen die Parteien in Ecuador vielleicht ihre größten Unzulänglichkeiten. Ihre geringe Fähigkeit, Themen zu identifizieren, die in Form politischer Vorschläge und Programme der Gesellschaft vorgestellt werden können, ist inzwischen zu einem Kennzeichen der Parteien geworden; dadurch wird ihre feste Verankerung in der Gesellschaft erschwert.10 Die Parteien in Ecuador sind deshalb immer mehr dazu übergegangen, sich reaktiv zu verhalten, anstatt eigene Vorschläge vorzutragen. Sie tendieren mehr und mehr dazu, sich in ihren Programmen auf kurzfristige Handlungen mit stark begrenzten Zielen zu beschränken. Diese Entwicklung ist Folge davon, dass sich die Parteien in erster Linie in Vermittler von Einzelinteressen zum Schaden ihrer ursprünglichen Rolle bei der Interessenaggregation verwandelt haben. Da sie nur stark begrenzte Sektoren der Gesellschaft repräsentieren, können die Parteien lediglich begrenzte Vorschläge anbieten und bestenfalls noch Antworten auf die Vorschläge anderer Gruppen."

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Dieses Thema wird von Freidenberg (2000) ausführlich behandelt. Die Autorin betont besonders die Mängel der Parteien beim Ausarbeiten von issues und die damit zusammenhängende geringe Kohärenz zwischen den Vorschlägen und den von den Parteien eingenommenen oder zugewiesenen Positionen.

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Folge davon ist die geringe Reichweite der politischen Handlungen der Parteien sowie der flüchtige Charakter der Diskussionspunkte. Die großen Themen, wie z. B. die Staatsreform oder die Definition des Wirtschaftsmodells, fehlen oder verstecken sich hinter spezifischeren, kurzfristigeren Themen. Wenn diese wichtigen Themen doch einmal auf der politischen Bühne auftauchen, dann ist es aufgrund der Dominanz der Einzelinteressen und des Fehlens programmatischer Vorschläge der Parteien unmöglich, eine Einigung zu erzielen.

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Die letzte Problemgruppe schließlich, die der Regierungsbildung, lässt sich ebenfalls von den drei erst genannten ableiten; doch kommen noch einige weitere Ursachen dafür hinzu. In einer repräsentativen Demokratie sollte die Regierung von denen gebildet werden, die die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Zahl der Wählerstimmen, sondern auch als Ausdruck einer Bündelung vielfältiger Interessen. Über die ideologische oder programmatische Einstellung derer hinaus, die mit der Regierungsbildung beauftragt werden, besteht die Verpflichtung, die Interessen der gesamten Gesellschaft zu respektieren. Dies ist nicht nur eine elementare Regel der Demokratie, sondern dient auch dem Erfolg der Regierung; denn Vorschläge und Handlungen, die nur einem Teil der Bevölkerung nutzen, erschweren den Erfolg. Wie oben mit Blick auf die Interessenaggregation sowie die Bildung eines Allgemeininteresses erwähnt, sind die Parteien für die Regierungsbildung unerlässlich. Aber die Regierungsarbeit kann ohne die Ausarbeitung politischer Programme nicht funktionieren (Przeworski 1999: 227 ff.). Faktoren wie Klientelismus, Korporativismus, schwache Parteistrukturen, mangelhafte Gestaltung der Institutionen sowie die zentrale Rolle des Staates in der Wirtschaft haben die Parteien bei der Erfüllung ihrer Funktionen behindert. Dazu kommt noch die Streuung und Zersplitterung des Parteiensystems sowie das Fehlen von Parteien mit nationaler Reichweite.12 Sämtliche Parteien sind durch die Verfolgung kurzfristiger Ziele gekennzeichnet. Die Unterstützung der Wähler, die kaum eine feste Parteienbindung kennen, hängt ab von konkreten Gefälligkeiten. Infolgedessen werden keine langfristigen Strategien über mehrere Legislaturperioden hin entwickelt; vielmehr halten politische Programme nicht einmal über eine Wahlperiode.13 Die Zersplitterung der Parteien behindert darüber hinaus die Bildung 12

Seit 1979 waren durchschnittlich 16 Parteien offiziell registriert. Von diesen schafften es 11 bis 13, ihre Abgeordneten in den Nationalkongress zu schicken, je nach Legislaturperiode. Abgesehen von sporadischen, sehr kurzen Zeiträumen, in denen eine Partei Stimmen über das gesamte Land verteilt erzielt hat, beziehen alle Parteien Ecuadors den Großteil ihrer Wähler aus einer einzigen Provinz oder bestenfalls aus einer geringen Anzahl von Provinzen.

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Das beste Beispiel für diese These ist das Fehlen auch nur der geringsten Kohärenz in der Wirtschaftspolitik, die in Zeiten wie der gegenwärtig schon 20 Jahre andauernden Krise des Landes unerlässlich ist. Diesbezüglich besitzen die Schlussfolgerungen einer bereits zehn Jahre alten Untersuchung noch heute hohe Geltung, in der der Mangel an Kontinuität als Hauptgrund für das wirtschaftliche Chaos genannt wird (Thoumi 1992).

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von Koalitionen. Aus diesem Grund hat keine Partei eines Präsidenten je über eine Mehrheit im Kongress verfugt und folglich auch keine stabile Regierungspolitik betreiben können. Ihre Strategie war immer auf das nackte Überleben ausgerichtet, und zu diesem Zweck waren alle Regierungen dazu gezwungen, Kompromisse mit anderen politischen Kräften einzugehen und ihre eigenen Programme zu vernachlässigen.14 Gewiss können nicht alle Probleme allein den Parteien angekreidet werden. Diese sind vielmehr am meisten von den Problemen betroffen. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die Parteien bei der Aufrechterhaltung der schädlichen Praktiken die Hauptrolle spielen. Die politischen Organisationen Ecuadors haben es immer vorgezogen, sich den äußeren Bedingungen anzupassen, anstatt sich den Problemen entgegen zu stellen, und verzichten somit darauf, einen Großteil ihrer grundlegenden Funktionen zu erfüllen. 15 Da diese Aufgaben voneinander abhängen, haben Mängel bei der Ausübung einer Funktion auch Auswirkungen auf alle anderen. So bedingt zum Beispiel die Unfähigkeit bei der Aggregation von Interessen unmittelbar die Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung von Programmen und bei der Bildimg einer Regierung. Ohne Zweifel lässt sich jedoch beobachten, dass die Probleme der Repräsentation von zentraler Bedeutung sind, weswegen diesem Thema besondere Beachtung geschenkt werden soll. Die Bedingungen und Umstände der Repräsentation sind ein Hauptthema der Diskussion um die gegenwärtigen Demokratien. Dabei geht es nicht nur um die Beziehung zwischen den Repräsentierten und den Repräsentanten, sondern auch um das Mandat, das die Wähler den Abgeordneten erteilen. Diese Bedingungen und Umstände bestimmen wer, wie, was, wofür und durch wen repräsentiert wird. Sie entscheiden darüber, wie hoch der Grad der Repräsentation ist, das heißt, wie groß die Fähigkeit ist, gesellschaftliche und politische Interessen auszudrücken und zu aggregieren, Forderungen zu erfüllen und Konflikte zu lösen. In dem Maße wie die Antwort auf wer, wie, etc. für die Gesamtheit der Bevölkerung deutlich wird und Trans14

Hierfür spielen sowohl das Präsidialsystem als auch die zwei Wahlgänge bei der Präsidentschaftswahl (ballotage) eine Rolle, neben anderen Eigenschaften der politischen Institutionen, auf die weiter unten eingegangen wird.

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Diese Beobachtung bezieht sich nicht nur auf die Parteien, sondern schließt auch andere politische Gruppierungen ein, so zum Beispiel die Organisationen der unabhängigen Kandidaten oder Initiativen, die die Parteien kritisieren und entgegengesetzte Meinungen vertreten.

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parenz besteht, die keinen Raum für Auslegungen lässt, kann man von einer starken Repräsentation des politischen Systems sprechen. Anders als im privaten Bereich, wo die Repräsentation normalerweise eindeutig ist, besteht im öffentlichen Bereich immer die Möglichkeit, die Anworten auf die oben genannten Fragen zur Repräsentation auf verschiedene Art zu deuten. Daher ist es praktisch unerlässlich, diese Anworten so klar wie möglich zu geben. Repräsentation bedeutet, dass eine Person im Namen und im Auftrag einer anderen handelt, die nicht anwesend ist oder sich aufgrund fehlender spezifischer Kenntnisse nicht selbst vertreten kann. Über diese allgemeine Definition hinaus präsentiert sich die Auslegung des Begriffs „Mandat" aber als problematisch. Im privaten Bereich erteilt der Repräsentierte seinem Repräsentanten einen direkten, expliziten und bestimmten Auftrag, der von letzterem aufs Genaueste ausgeführt werden muss, denn sonst läuft der Repräsentant Gefahr, das Mandat zu verlieren oder bestraft zu werden. Diese Art von Mandat ist folglich bindend und widerruflich. Auch im öffentlichen Bereich besteht die Repräsentation darin, dass eine Gruppe von Personen einem oder mehreren Repräsentanten einen Auftrag erteilt, mit dessen Hilfe bestimmte Ziele erreicht werden sollen. In zwei Punkten unterscheidet sich das öffentliche Mandat jedoch vom privaten. Erstens ist das Mandat nicht bindend, da es nicht den direkten Ausdruck eines bestimmten Interesses darstellt. In einer Gesellschaft existieren verschiedene und oft gegensätzliche Interessen, und daher ist es nicht nur unmöglich, sondern geradezu absurd zu erwarten, dass ein Mandat bindenden Charakter haben könnte. Um dieses zu erreichen, müsste der Auftrag sich auf ein bestimmtes Ziel oder einen bestimmten Teil der verschiedenen Interessen beschränken, unter Ausschluss sämtlicher anderer. Damit würde das Mandat auf der Stelle seine Legitimität gegenüber den Personen, deren Interessen nicht vertreten werden, verlieren. Genau aus diesem Grund muss eines der Ziele der Repräsentation die Bildung eines Allgemeininteresses sein.16 Der zweite Unterschied des öffentlichen im Vergleich zum privaten Mandat besteht darin, dass es nicht direkt und unmittelbar widerruflich ist. Die 16

Ein Allgemeininteresse besteht zwar nicht als solches in einer Gesellschaft, aber im Rahmen der Repräsentation wird es geschaffen. Daher spielt die Repräsentation eine so wichtige Rolle als Vehikel der Auftragserteilung und der Personenvertretung sowie auch bei der Regierungsbildung und bei der Führung der Gesellschaft.

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Auftraggeber können ein erteiltes Mandat nur über Verfahren annullieren, die letztendlich auf die Erteilung eines anderen Mandats hinauslaufen. Der Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Leistung eines Abgeordneten trifft auf große Hindernisse, von der Dauer der Legislaturperiode über die komplizierten Bedingungen der Abberufung bis hin zu der Eigenschaft des Repräsentanten als Vertreter eines Allgemeininteresses. Um ihn abzusetzen, muss das Allgemeininteresse durch ein neues ersetzt werden, denn er repräsentiert ja nicht nur ein einzelnes Interesse. Das nicht bindende Mandat und die Schaffung eines Allgemeininteresses sind die Grundvoraussetzungen für die Legitimität der Repräsentation, das heißt dafür, dass die Gesamtheit der Gesellschaft diese akzeptiert. Folglich sind diese zwei Bedingungen auch die Grundvoraussetzung für die Legitimität des politischen Systems und der Parteien, durch die sich die demokratische Repräsentation ausdrückt. Von diesem Standpunkt aus hängt die Legitimität der Parteien und des Systems gegenüber der Gesellschaft von deren Fähigkeit ab, sich von Einzelinteressen zu distanzieren und dementsprechend ein Allgemeininteresse zu schaffen. Die Verbindung zwischen der Repräsentation und den anderen Funktionen der Parteien hängt von der Art ihrer Ausübung ab, bei deren Bewertung wiederum Aspekte wie Leistungsfähigkeit, Wirksamkeit und Pflichterfüllung anhand der von der Gesellschaft aufgestellten Maßstäbe in Betracht gezogen werden müssen.17 Diese Aspekte beziehen sich jedoch auf die Gesamtheit der Gesellschaft und nicht auf einen bestimmten Bereich allein. Wenn die Parteien bezüglich des Allgemeininteresses versagen, gerät das gesamte politische System in eine Krise und die Parteien müssen als erste die Konsequenzen dieser Situation erleiden. Dies genau ist der Fall Ecuadors.

Die Ursachen des Verfalls Die politischen Parteien Ecuadors weisen bei der Erfüllung der eben genannten Funktionen große Defizite auf. Sie stehen deshalb im Fadenkreuz

Andererseits kann diese Problematik auch von der Sichtweise der Repräsentation als Mandat und Rechnungslegung aus betrachtet werden. Siehe hierzu Przeworski (1999).

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der Kritik der Bevölkerung. Das belastet die Entwicklung des gesamten politischen Systems. Das Problem ist im Falle Ecuadors jedoch komplexer und die Ursachen für den Vertrauens- und Legitimitätsverlust liegen nicht nur bei den Parteien selbst. Im Fall Ecuadors misst die Gesellschaft die Leistungsfähigkeit der Parteien und des politischen Systems allgemein nicht an der Erfüllung der hier aufgezählten Funktionen. Vielmehr orientieren sich die Erwartungen der Gesellschaft aus einer Vielzahl von Gründen an Erwägungen, die den politischen Parteien und den anderen demokratischen Einrichtungen andere Rollen und Aufgaben zuweisen. Damit soll gesagt werden, dass die Bewertung der Parteien durch die Bevölkerung Ecuadors weniger von den „normalen" Funktionen der Parteien bestimmt wird als von einem neuen Verständnis der Rolle der Parteien innerhalb einer Demokratie. Die Parteien werden nicht entsprechend der Pflichten bewertet, die sie gemäß der Theorie oder in jedem modernen demokratischen System zu erfüllen haben, sondern entsprechend spezifischer Erwartungen, die aus Einstellungen und Werten herrühren, welche einer spezifischen Weltsicht folgen. Auf diese Weise wird der erwähnte Gegensatz zwischen der repräsentativen Demokratie und ihren Bestandteilen einerseits und dem Problem der politischen Kultur, das heißt, den Einstellungen, Orientierungen, Werten und Erwartungen der Bürger andererseits, ersichtlich. Dementsprechend liegen die Ursachen für die Krise der Parteien und des Systems im Allgemeinen nicht in den Beschränkungen der Demokratie, wie häufig behauptet wird, sondern in der Art und Weise, wie die Gesellschaft die demokratischen Instanzen und Verfahrensweisen sieht und nutzt.18 Diese Sichtweise hängt hauptsächlich ab von dem gesellschaftlichen und politischen Alltag, von den internen Verhältnissen der Parteien selbst und teilweise auch von dem institutionellen Rahmen. Die Gründe für die Krise der repräsentativen Demokratie und somit auch der Leistungsfähigkeit des politischen Systems werden besonders im politischen Bereich, aber durchaus auch in akademischen Zirkeln, den demokratischen Institutionen und deren Eigenschaften (Beteiligungsmechanismen, Wahlsystem, etc.) zugeschrieben. Auch ein Großteil der Befürworter des Staatsstreichs vom 21. Januar 2000 argumentierte in dieser Richtung. Diese Gründe haben eine gewisse Bedeutung, sind aber nicht die einzigen Ursachen und stehen auch nicht im Kern der Sache. Um eine Metapher zu benutzen, die der Wirklichkeit Ecuadors sehr nahe kommt, lässt sich sagen, dass die Probleme nicht nur im Straßenbau zu suchen sind, sondern darin, wie die Leute auf den Straßen fahren.

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Der Klientelismus als dominierende Praxis in der Politik Ecuadors trägt mit zu jenem in der Gesellschaft verbreiteten Verständnis bei, denn er begünstigt ein Beziehungsmuster zwischen Gesellschaft und politischem System, das neben dem institutionalisierten Rahmen besteht. Sowohl die Umsetzung gesellschaftlicher Forderungen als auch die Konfliktlösung finden auf Wegen statt und benutzen Mechanismen, die außerhalb der normalen politischen Regeln verlaufen. Die Klientelbeziehung fördert direkte Verbindungen, bei denen der persönliche Kontakt eine grundlegende Rolle spielt und die dem Vermittler eine herausragende Bedeutung zuweisen.19 Der Klientelismus fordert so die Personalisierung der Politik und schwächt die Institutionen, wobei er diese als Vehikel und als Handlungsraum durchaus benutzt. Er zieht seinen Nutzen aus den politischen Institutionen und ihren formalen Verfahren, missbraucht sie aber zu anderen Zwecken. Gerade dieser zweckentfremdete Missbrauch der Institutionen und Verfahren, einschließlich der Parteien, ist das Hauptproblem; denn die Institutionen des politischen Systems bleiben zwar bestehen, werden aber ihrer Inhalte und Fähigkeiten beraubt. Formal nehmen sie weiterhin ihren Platz im System ein, aber praktisch haben sie ihre wichtigsten Bestandteile verloren. Die wesentlichen Elemente sind in das Netzwerk des Klientelismus verlagert worden, wo sie auf andere Anregungen reagieren, einer neuen Logik folgen und sich anderer Mechanismen bedienen. Dennoch dienen die Institutionen der Gesellschaft weiterhin als Referenz für das politische Handeln. Folge ist, dass den politischen Institutionen Rechenschaft abverlangt wird fiir Handlungen, zu denen sie nicht befähigt sind und die sich in der Praxis außerhalb ihrer Reichweite und ihrer Maßstäbe abspielen.20 Dieser Raum wird durch den Klientelismus ausgefüllt, der sich mit eigenen Methoden um die gesellschaftlichen Forderungen und die Lösung von Konflikten kümmert. Die Parteien und das politische System allgemein werden somit zu Instrumenten des Klientelismus und seiner Logik und können dieser 19

In einer Untersuchung, die auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet hat, heißt es: „Einer der herausragenden Züge des politischen Systems in Ecuador ist die 'strukturbedingte personalisierte Politik' in einem Kontext, in dem die Massen keinen institutionalisierten Zugang zur Macht haben, weshalb sie sich dazu gezwungen sehen, in einem Umfeld, das keine ausreichende kollektive Befriedigung ihrer Gmndbedürfnisse ermöglicht, alternative Mechanismen zum Zwecke des individuellen Überlebens zu suchen" (Menéndez 1986: 45).

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Dieses Phänomen wird treffend als „Informalisierung der Politik" bezeichnet (Lazarte 1992, Laserna 1992).

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Entwicklung nicht entkommen, ohne die Unterstützung ihrer Wähler aufs Spiel zu setzen.21 Das Spannungsverhältnis zwischen den formalen Richtlinien des Systems und der politischen Praxis des Klientelismus hat prinzipiell drei Konsequenzen. Die erste ist die bereits erwähnte Personalisierung der Politik, die wiederum zu caudillismo, caciquismo oder autoritärer Herrschaft führt und die Erneuerung der Parteien verhindert. An zweiter Stelle steht die Schwächung der politischen Institutionen selbst, vor allem aufgrund ihrer Einschränkungen bei der Verwirklichung deijenigen Ziele, die sich nicht mehr in ihrer Reichweite befinden, wofür sie aber dennoch zur Rechenschaft gezogen werden. Die dritte Konsequenz ist die Schwierigkeit bei der Aggregation von Interessen, da der Klientelismus normalerweise die Beziehung zwischen den politischen Instanzen und einer spezifischen gesellschaftlichen Gruppe verkörpert. Alle drei Konsequenzen des Klientelismus zielen in die Richtung der im vorigen Abschnitt beschriebenen Probleme, denn sie führen zu Verzerrungen bezüglich der Repräsentation, behindern die Aggregation von Interessen und erschweren die Ausarbeitung von politischen Programmen, die der Gesamtgesellschaft dienen könnten. Außerdem bewirken sie die Einschränkung des Handlungsspielraums einer jeden Regierung, die unter solchen Bedingungen arbeiten muss. Aufgrund dieser übergeordneten, doppelten, d.h. formalen und informellen Struktur der Partizipation, Repräsentation, Verarbeitung von Forderungen und Konfliktlösung, die hier aufeinander treffen, werden die Parteien dazu gedrängt, sich zwischen zwei Regelwerken zu bewegen. Das zwingt sie dazu, sich pausenlos den verschiedenen Mechanismen anzupassen und einen doppelten Diskurs zu benutzen, der für jede der zwei Ebenen eine spezifische Interpretation zulässt. Betroffen ist davon zwangsläufig die Leistungsfähigkeit der Parteien als Instanzen der Partizipation und der Kanalisierung gesellschaftlicher Forderungen sowie das politische System Das politische System und insbesondere die Parteien müssen sich Handlungsweisen anpassen, die ihnen fremd sind und die letztendlich zu ihrem Verfall beitragen. Andererseits laufen die Wahlen und sämtliche andere Formen der politischen Partizipation innerhalb der formal erstellten Bahnen des Systems ab. Die Parteien und anderen Einrichtungen sehen sich also gezwungen, die rechtlichen Bestimmungen zu befolgen, die ihnen eine bevorzugte Stellung für das Erreichen bestimmter Ziele gewährt. Das Ergebnis ist eine Kombination von formalen Strukturen und informellen Praktiken, was zu ständigen Spannungen fuhrt.

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generell. Die Legitimität der Parteien - und entsprechend ihre Unterstützung durch die Wähler — hängt von der Einschätzung ihrer Leistungsfähigkeit im informellen Bereich ab und weit weniger von ihren Leistungen in formalen Bereichen, die eher zweitrangig und nur für bestimmte Zwecke wichtig sind. Letzten Endes trägt der Klientelismus dadurch, dass er das politische System ausnutzt, zu dessen Schwächung, zu seinem Legitimitätsverlust und seinem Verfall bei. Der Korporativismus, der als eine andere Praxis die Politik Ecuadors beherrscht, trägt ebenfalls zum falschen Verständnis der Parteien in einem demokratischen System bei. Er geht zwar nicht so weit, eine eigene parallele Struktur der Partizipation und Repräsentation aufzubauen, aber er nutzt das politische System genauso für seine eigenen Zwecke aus, nämlich die unmittelbare Vertretung einzelner Interessen sowie die Bereicherung der Beteiligten. In diesem Sinne beeinträchtigt der Korporativismus direkt die grundlegenden Aufgaben der Parteien: Verzerrung der Repräsentation und Behinderung der Aggregation von Interessen sowie der Erarbeitung von politischen Vorschlägen und Programmen, die der Gesamtgesellschaft dienen. Vor allem aber beraubt der Korporativismus die Parteien der Fähigkeit, eine Regierung zu bilden. Der Korporativismus an sich kann als das direkte Abbild der Interessengruppen angesehen werden. Auch in dieser Beziehung behindert er die Parteien bei ihrer Aufgabe. Die Interessengruppen unterwandern die Parteien und machen sie zum verlängerten Arm ihrer eigenen Organisationen (Unternehmerverbände, Gewerkschaften, Berufsvereinigungen) oder zumindest zu ihrem Sprachrohr.22 Das politische System wird auf diese Weise von einer Vielzahl von Interessen unterlaufen, ohne dass diese vorher einem Prozess der Filterung und Aggregation innerhalb der Parteien unterzogen werden. Das System wird zum Schauplatz, auf dem die unterschiedlichen Interessen ihre Kämpfe direkt austragen, was zu Radikalisierung, dem Ausschluss von Minderheiten und der Verringerung der Möglichkeiten einer Kompromissfindung führt.

Dies geht soweit, dass in Ecuador oft ironisch von den parlamentarischen Gruppen der Garnelenfanger, Bananenpflanzer, Ölgewerkschaftler oder Lehrer gesprochen wird. Diese Ironie spiegelt durchaus die Realität wider.

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Die Verhandlungsmechanismen in einem solchen Zusammenhang sind kompliziert und laufen auf ein Nullsummenspiel hinaus, bei dem der Gewinn einer Seite gleichzeitig den Verlust der anderen bedeutet. Die Vielzahl der einander gegenüber stehenden Interessen fuhrt hier nicht zu einer pluralistischen Ordnung mit Kompromissfindung und Integration, sondern ganz im Gegenteil zur gegenseitigen Ausgrenzung. Auf der allgemeinen Ebene des politischen Systems sind Verfall und Zersplitterung die Folge, die sich in Bezug auf die Parteien sogar an den Zahlen ablesen lässt. Das politische System Ecuadors kann folglich als „plural", nicht aber als „pluralistisch" bezeichnet werden. Auf der praktischen Ebene werden bestenfalls punktuelle Übereinkommen getroffen, aber nur selten kommt es zu einem wahren Konsens. Vielleicht sollte noch hinzugefugt werden, dass das politische System als spezielle Version der korporativen Repräsentation auch den Druck regionaler Interessen ertragen muss, die ebenfalls über das Sprachrohr der Parteien ihren Ausdruck finden. Die regionalen Identitäten sind in der Geschichte Ecuadors schon immer eine Konstante gewesen, aber im Verlauf der letzten zehn Jahre haben sie sich in eine politische Kraft verwandelt und die Parteien dazu gezwungen, sie noch stärker in Betracht zu ziehen. Besonders bei den Parteien mit einer traditionell starken geographischen Bindung hat die Vertretung regionaler Interessen den jeweiligen Charakter als Regional-, Provinz- oder Distriktspartei noch verstärkt. Weiter oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass es praktisch keine der Parteien Ecuadors geschafft hat, landesweit Unterstützung zu finden, und die meisten nur in einer Provinz oder bestenfalls einer Region funktionieren.23 Aus dem selben Grund sind die Parteien nicht in der Lage, Programme oder Ideologien mit einer landesweiten Perspektive zu erstellen. Der regionale Charakter garantiert einerseits die Unterstützung durch eine bestimmte Zahl von Wählern, behindert die Parteien aber ständig bei der Entwicklung einer weiterreichenden Dimension. Die Dichotomie zwischen der Erhaltung der Wählerschaft einerseits und dem Wachsen zu einer nationalen Partei andererseits

23

Die Wählerschaft der Parteien konzentriert sich in immer stärker werdendem Maße auf einzelne Provinzen oder teilweise sogar auf einen einzigen Kanton, was diese Gebiete zu wahren Hochburgen bezüglich der Stimmenzahl macht und den Zugang anderer Parteien äußerst erschwert, aber gleichzeitig auch den Zugang der starken Partei auf andere Gebiete behindert (Pachano 1999).

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zwingt die Parteien kontinuierlich dazu, auf einer der beiden Seiten Opfer zu bringen. Der Korporativismus beeinflusst die Aufgabenerfullung der Parteien negativ und behindert die Vertretung der Gesamtgesellschaft. In Verbindung mit den anderen genannten Faktoren wirkt sich dies auf die Fähigkeit der Regierungsbildung aus, und zwar nicht nur, weil die notwendige Übereinstimmung fehlt, sondern auch wegen der ungenügenden Fähigkeit, ein Programm zu erstellen und umzusetzen, das der ganzen Gesellschaft Vorteile bringen würde. Im Gegenteil bewirkt der Korporativismus den Ausschluss von Minderheiten, die Polarisierung und die Konfrontation. Ein weiterer wichtiger Faktor ist das in Ecuador dominierende Parteienkonzept. Die Strukturen, die Art und Weise, wie neue Mitglieder und auch die Führungsriege rekrutiert werden, die Beziehungen zur Gesellschaft und die internen Funktionsweisen folgen in großem Maße der beschriebenen Praxis des Klientelismus und des Korporativismus und fuhren zu den erwähnten Problemen. Das Hauptproblem ist der geringe Spielraum zum Formulieren politischer Programme und vor allem der unzureichende Freiraum zum Umsetzen von Programmen, in den seltenen Fällen, in denen es einmal ein Programm gibt (Freidenberg 2000). Dies folgt notwendigerweise daraus, dass die Parteien auf die Forderungen ihrer Auftraggeber direkt und unmittelbar reagieren und dabei die Einzelinteressen, von denen ihre Organisation beherrscht und ihre Strukturen benutzt werden, immer im Auge behalten müssen. Ein weiteres schwieriges Problem für die Parteien besteht in der Disziplinlosigkeit ihrer Mitglieder, die bis in die Führungspositionen reicht und drei Hauptursachen hat. Erstens machen die Beziehungen, die im Rahmen des Klientelismus entstehen, aufgrund der schnelleren, direkteren und effizienteren Befriedigung der Bedürfhisse den Parteien viele Mitglieder abspenstig. Zweitens fungieren die Parteien zwar als Interessengruppen, sind aber nicht in der Lage, diese Interessen ideologisch und programmatisch zu untermauern. Und drittens schließlich erscheinen die unpersönlichen Formen der Repräsentation der Parteien weniger attraktiv als die Treue zu bestimmten Individuen. Diese drei Gründe bringen die Parteien in eine Situation der

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kontinuierlichen Spannung und Instabilität, gekennzeichnet durch eine hohe Austrittsquote und ein ständig wechselndes Wählerverhalten.24 Die Gestaltung der politischen Institutionen hat mit zu dem oben beschriebenen Verständnis der Repräsentation, der Parteien und des Gesamtsystems beigetragen. Die Art des Regimes, das Wahlsystem, das vorherrschende Bild der Rolle des Abgeordneten, der zweite Wahlgang bei der Präsidentenwahl sowie einige andere rechtliche Bestimmungen haben sich auf die politische Kultur der Bevölkerung ausgewirkt. Der Umfang dieses Artikels reicht zwar nicht aus, alle diese Punkte in ihren Einzelheiten zu behandeln, aber sie sollen doch zumindest kurz umrissen werden. Die Art des Regimes ist der zentrale Punkt innerhalb der Gruppe der genannten Faktoren, die unter der Überschrift „Gestaltung der politischen Institutionen" zusammengefasst werden, da fast alle anderen unter seinem Einfluss stehen.25 Das Präsidialsystem beeinflusst die politische Einstellung in mindestens dreifacher Hinsicht. Erstens fuhrt es ein System der doppelten Legitimität ein, in dem sich der Präsident und die Abgeordneten gegenüber stehen, denn sowohl der eine als auch die anderen werden durch allgemeine, unmittelbare Wahlen bestimmt, haben aber darüber hinaus keine Beziehung zueinander. Sowohl der Präsident als auch die Parlamentarier sind in der Lage, sich bei Konflikten auf ihre legitime Wahl zu berufen, was Volksabstimmungen nötig macht, die wiederum das System negativ beeinflussen und es instabil machen.26 Die zweite Wirkung des Präsidialsystems besteht darin, dass die Parteien gegenüber der Exekutive nur eine unbedeutende Rolle spielen, da es keinen formalen Zusammenhang zwischen der Zusammensetzung des Kongresses und der Regierungsbildung gibt. Folglich ist es auch nicht notwendig, die 24

Conaghan stellt fest, dass die Quote der Parteimitgliedschaft sehr niedrig und zudem zweckgebunden ist, was sich an der Tatsache ablesen lässt, dass viele Parteien nur als Mittel zur Wahl eines Einzelkandidaten eingesetzt werden (1994: 258). Zu den Themen Parteiaustritt und Wechselwähler, siehe Mejia (1999).

25

Die Auswirkungen des Präsidialsystems hat Pachano (1998) analysiert. Siehe auch Linz (1993).

26

Diese Spannungen haben zu einem Phänomen geführt, das als „Ringen um die Macht" bezeichnet wird, und sich in Extremsituationen widerspiegelt, wie die, die zum Beispiel die Absetzung von Abdalá Bucaram durch den Kongress provozierte (vgl. Sánchez 1998).

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Parteien an der Regierungsbildung zu beteiligen oder ihnen Verantwortung zu übertragen. Rein theoretisch wäre also sogar eine Regierung denkbar, die ganz ohne Parteien auskommt, während letztere vom Schützengraben des Kongresses aus alles Mögliche unternehmen, um die Regierung zu bekämpfen.27 Das ist die Ursache für das verantwortungslose und illoyale Verhalten, das die Zusammenarbeit zwischen den zwei Instanzen erschwert. Die wenigen Elemente, die einen Ausgleich zwischen beiden Instanzen herbeifuhren sollen, haben eher die Wirkung, das Ringen um die Macht noch zu verschärfen (wie zum Beispiel die Beteiligung des Kongresses an der Ernennung der Kontrollinstanzen und anderer Beamter, das Recht auf Anfrage an die Minister und das Mitspracherecht bei der Haushaltsplanung). Drittens schließlich verschärft das Präsidialsystem die Personalisierung der Politik. Die Schwächung der Parteien korrespondiert mit der Personalisierung als der einzigen Form, Legitimation von Seiten des Volkes zu erlangen. Der Präsident vereinigt in einer Person die Funktionen des Staatschefs und des Regierungschefs und ist daher viel eher als die Parteien in der Lage, Zustimmung zu erhalten — er ist aber gleichzeitig auch einem schnelleren Verschleiß ausgesetzt. Entsprechend der Rolle des Präsidenten ist auch in allen anderen Bereichen der Politik eine Personalisierung zu beobachten. Die Einfuhrung einer Stichwahl bei den Präsidentschaftswahlen verstärkt noch den Personalismus. Ursprünglich zur Stärkung der Legitimität des gewählten Kandidaten gedacht, hat sie letztendlich mehr negative als positive Folgen, weil die Parteien und die Parteibindungen schwach sind. So hat der zweite Wahlgang nie den Effekt einer Allianz der politischen Kräfte zugunsten eines Kandidaten, sondern eher den einer Union gegen einen Kandidaten hervorgebracht. Damit wurde ein negatives Wahlverhalten der Bevölkerung provoziert und als Folge die Verantwortungslosigkeit der Parteien bei der Regierungsbildung erhöht.

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Im Januar 2001 wurde diese Theorie zu einer Realität: die Regierung des Präsidenten Guslavo Noboa, der das Amt nach einem Staatsstreich verfassungsmäßig übernahm, gehört keiner Partei und keiner Koalition an. Ebenso wenig stützt sie sich auf eine offizielle und kontinuierliche Unterstützung einer parlamentarischen Gruppe (was, nebenbei bemerkt, unter einem parlamentarischen Regime eine unmögliche Situation wäre).

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Auch das Wahlsystem hat nichts zur Stärkung der Parteien in Ecuador beigetragen. Trotz zahlreicher Versuche, das System zu reformieren, hat sich an der Situation der Parteien wenig geändert. Von 1979 bis 1994 lag das Monopol der politischen Repräsentation bei den Parteien, und bis 1996 schrieb das Wahlrecht geschlossene Listen und Verhältniswahlen vor.28 Die Ergebnisse der Reformen blieben jedoch hinter den Erwartungen zurück. Das neue System führte zu einer hohen Anzahl kleiner Parteien, die jeweils nur mit einer geringen festen Wählerschaft rechnen können, und leidet an ständiger Instabilität. Die Reformen von 1994 und 1996 erlaubten die Beteiligung unabhängiger und parteiloser Kandidaten an den Wahlen und ermöglichten die Persönlichkeitswahl mit offenen Listen, wodurch die Probleme sich aber nur noch verschärften. Die beiden Wahlreformen haben die Tendenz zur Personalisierung verstärkt, indem sie die Fundamente der Parteien untergraben und dazu beigetragen haben, dass die Politik sich immer mehr um einzelne Politiker dreht. Die Persönlichkeitswahl mit offenen Listen lädt geradezu ein, mit der Idee der Parteizugehörigkeit zu brechen, denn der Wähler ist jetzt theoretisch in der Lage, für jedes zu wählende Amt oder jeden Parlamentssitz einem anderen Kandidaten bzw. einer anderen Liste seine Stimme zu geben. Die Ergebnisse der Wahlen nach diesem neuen System sind für das politische System und für die Konsolidierung der Parteien katastrophal gewesen und haben die Zersplitterung verstärkt.29 Hinzu kommen noch andere Faktoren auf der Ebene der formalen Gestaltung der Institutionen, die zur Schwächung der Parteien beigetragen haben und bei der Bevölkerung falsche Vorstellungen nähren. Dazu gehört der Zwang, dass die Parteien landesweit präsent sein müssen. Anstatt zu ermöglichen, dass Provinz- und Regionalorganisationen nur in ihrem jeweiligen Distrikt tätig werden, wurde im Gegenteil erreicht, dass lokale Interessen jetzt auf nationaler Ebene diskutiert werden. Gleichzeitig erhöhte sich dadurch die Zahl der Parteien und somit der Grad der Zersplitterung des Systems in seiner Gesamtheit sowie der Korporativismus bezüglich spezifischer Interessen. Außerdem war seit der Rückkehr zur Demokratie lange Die entsprechenden Bestimmungen entsprachen der Verfassung, ebenso wie die, durch die sie inzwischen ersetzt wurden (siehe Fußnote 5 dieses Artikels). 29

Der Zweck dieser Reform sollte wohl sein, ein System der Vorzugswahl einzuführen, aber aufgrund irgendeines begrifflichen oder einfach nur sprachlichen Fehlers wurde die schlechteste aller Alternativen gewählt, die unter der Bezeichnung panachage bekannt ist. Für mehr Information zu den Auswirkungen dieses Wahlsystems, siehe Pachano (1999).

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Zeit eine gesetzliche Bestimmung gültig, die bei den Wahlen in Gemeinden, Provinzen und im Kongress Koalitionen untersagte, was die beschriebenen Probleme noch verschärfte. Der letzte Faktor aus der Gestaltung der Institutionen, der ebenfalls als Folge des Klientelismus zu begreifen ist und zudem die Parteien negativ beeinflusst hat, ist das Wahlsystem der Provinzabgeordneten. Dadurch, dass die Provinzen mit dem Wahldistrikt übereinstimmen, besteht die Auffassung, die gewählten Abgeordneten hätten territoriale Interessen zu vertreten. Ihre Eigenschaft als nationale Gesetzgeber gerät so in den Hintergrund und tritt hinter der Vorherrschaft lokaler Interessen zurück, die das Parlament als ihr Sprachrohr missbrauchen.30

Ein mögliche Entwicklung Wenn, wie in diesem Beitrag behauptet wird, die Ursachen für die Probleme der Parteien auf verschiedenen Ebenen zu suchen sind und ihre Auswirkungen so vielfältige Formen annehmen, dann kann daraus nur abgeleitet werden, dass sich das politische System Ecuadors einer schwierigen Situation stellen muss, die nicht durch vereinzelte Reformen allein zu beheben sein wird. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass die Lösungen nicht hauptsächlich auf der Ebene der Gestaltung der politischen Institutionen zu finden sind, denn die Ursachen liegen vor allem in den politischen und gesellschaftlichen Verfahren und Verhaltensweisen, das heißt im Sumpf der politischen Kultur. Andererseits muss man sich der Tatsache bewusst sein, dass jede Korrektur in diesem Bereich nur in sehr langfristiger Perspektive Ergebnisse hervorbringen kann, denn es sind so unterschiedliche Variablen wie Bildung, Normen, Werte, usw. in Betracht zu ziehen. Darum sollte auch auf das Verhältnis zwischen diesen Elementen und der Gestaltung der politischen Institutionen aufmerksam geachtet werden, das heißt, auf die Regeln und Verfahren, welche die politische Praxis bestimmen und sie beeinflussen.

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Dieser Umstand verschärft sich ab 2002 noch, denn ab diesem Zeitpunkt wird eine verfassungsmäßige Bestimmung Anwendung finden, nach der die auf nationaler Ebene gewählten Abgeordneten abgeschafft werden und es nur noch Provinzabgeordnete geben wird.

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Eine bedeutende Reform des Regierungssystems, welche die im Kongress vertretenen Parteien dazu zwingt, Regierungsverantwortung zu übernehmen — was nicht unbedingt heißen muss, dass ein parlamentarisches Regime eingeführt wird —, könnte dazu beitragen, den Einfluss der institutionellen Faktoren in Bezug auf die politischen Einstellungen und Orientierungen zu verringern.31 Auch der Verzicht auf den zweiten Wahlgang bei den Präsidentschaftswahlen wäre ein Schritt, um innerhalb des Parlaments zum Zweck der Regierungsbildung Übereinkommen zu fördern. Andere Reformen des Wahlsystems könnten ebenso hilfreich sein, besonders diejenigen, die zur Einschränkung der Personalisierung und des Klientelismus in der Politik beitragen. Solche Maßnahmen sind jedoch sehr schwer durchzuführen, denn sie finden äußerst geringe Unterstützung, weil sie einem Schwimmen gegen den Strom gleichkommen. Die institutionellen Reformen müssen auf jeden Fall zwei Bedingungen erfüllen, um eine zentralen Bedeutung zu erlangen: sie müssen auf eine Überwindung der erwähnten Praktiken gerichtet sein und sich gleichzeitig auf das gesamte politische System beziehen. Auf den Punkt gebracht heißt das, die Reformen in Ecuador sollten auf die Formalisierung der Politik abzielen, denn zum jetzigen Zeitpunkt ist die Demokratie des Landes alles andere als formal.

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Fernando Tuesta Soldevilla Politische Führung in Peru: ein Lehrstück Einleitung Viele derjenigen, die sich als Führende erheben, enden in der Wahrnehmung der Bevölkerung oftmals als Persönlichkeiten mit fragwürdigen Charakterzügen. So wird zum Beispiel Perus Expräsident Alberto Kenyo Fujimori Fujimori heutzutage von den meisten Peruanern als Betrüger der Nation angesehen, der sich unrechtmäßig bereicherte, im Laufe der Zeit zur Marionette seines Beraters Vladimiro Montesinos1 wurde und das Land regierte, obwohl er zusätzlich zur peruanischen noch die stets geheimgehaltene japanische Staatsbürgerschaft besaß. Lange Zeit jedoch sahen viele Peruaner in ihm den Mann, der Peru vom Terrorismus und der Hyperinflation befreite. Die politisch Führenden symbolisieren Kompetenz, Nationalismus, Erwartungen, Tugenden und Laster und tragen auf diese Weise dazu bei, dass die Bürger die Welt der Politik, die für die meisten unüberschaubar ist, verstehen (Edelman 1991). Diese Führungspersönlichkeit hat eine besondere Beziehung zum Volk: sie gewährt Sicherheit und nährt Hoffnung. Als Gegenleistung wird dafür massive Unterstützung und Engagement erwartet. Diese Person gilt zudem als mutig und intelligent und verkörpert Veränderung und paternalistischen Schutz. Wahrscheinlich hebt deshalb die politische Theorie besonders hervor, dass die Führungspersönlichkeiten von der Gesellschaft den Auftrag erhalten, den Kurs des Landes zu bestimmen. Als Entscheidungsträger sind sie zugleich Symbol des Guten und des Bösen, der Liebe und des Hasses und werden daher oft mit positiven oder negativen Entwicklungen in Verbindung gebracht. Gemäß ihrer Handlungen un-

Vladimiro Lenin Montesinos Torres war der Hauptberater des Präsidenten Fujimori. Einige Journalisten sind der Meinung, er repräsentiere die wahre Machtfigur des Fujimori-Regimes. Nach dem Sturz Fujimoris floh er ins Ausland und wurde schließlich in Venezuela verhaftet und nach Peru gebracht, wo er sich wegen verschiedener Vergehen vor Gericht verantworten muss.

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terstützen wir sie oder lassen sie unsere Kritik und unsere Abneigung spüren (Edelman 1991). Mit der Erhebung einer Person zu einem Uder wird von diesem erwartet, die Verantwortung für Regierungsgeschäfte übernehmen zu können, darüber hinaus soll er Eigenschaften besitzen, über die seine Anhänger nicht verfügen: Er muss erfolgreich sein, wo seine Vorgänger gescheitert sind, und er muss Hindernisse überwinden, die ihm seine Gegner und Feinde in den Weg gestellt haben. Um Uder zu werden, muss man eine Werteskala opportunistisch handhaben, auf der die Macht selbst zu einem Wert wird. Die Uder, die am Rande des politischen Systems aufsteigen, müssen den Diskurs der Erlösung beherrschen und die Aussicht auf gesellschaftlichen Wandel verkörpern. Ihr Aufstieg zur Macht ist ein Ausdruck des Vertrauensverlusts der repräsentativen Institutionen und des Fehlens stabiler politischer Identitäten. In diesem konzeptionellen Rahmen bewegt sich auch die Problematik politischer Führung in Peru.

Die Bewegung der Unabhängigen Nach 12 Jahren Militärregierung und großen gesellschaftlichen Veränderungen kehrte das Land 1980 zur Demokratie zurück. Ein Jahr vorher hatte der General Francisco Morales Bermúdez Cerruti allgemeine Wahlen ausrufen lassen, aus denen der Architekt Fernando Belaúnde Terry als Sieger hervorging, der schon einmal vor dem Staatsstreich von 1968 das Amt des Präsidenten bekleidet hatte. Der Übergang zur Demokratie erweckte bei den ärmeren Bevölkerungsgruppen und der Mittelschicht die Hoffnung, dass ihre Forderungen endlich erfüllt werden könnten. In den achtziger Jahren vermochten aber weder die Regierung der Partei Acción Popular (AP, 1980-1985) noch die der Partei Allianza Popular ReDer General Francisco Morales Bermúdez Cerruti war von 1968 bis 1980 Vorsitzender der regierenden Militäijunta. Während dieser Zeit berief er eine verfassunggebende Versammlung ein. Die von ihr ausgearbeitete Verfassung war von 1979 bis 1993 in Kraft. Fernando Belaúnde Terry, Gründer und Leiter der Partei Acción Popular, bekleidete das Amt des verfassungsmäßigen Präsidenten der Republik zweimal, von 1963 bis 1968 und von 1980 bis 1985.

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volucionaria Americana (APRA, 1985-1990), den wirtschaftlichen Niedergang unter Kontrolle zu bekommen und dem Terrorismus, der das gesamte Land erschütterte, ein Ende zu bereiten. Beide Regierungen waren nicht in der Lage, der Bevölkerung auch nur ein Mindestmaß an politischer und wirtschaftlicher Sicherheit zu gewährleisten. Die politischen Parteien wiesen in den achtziger Jahren noch sehr autoritäre Züge auf und ihre Strukturen waren von Klientelismus und Personalisierung bestimmt. Diese Umstände erschwerten es ihnen, ihre repräsentative Rolle zu erfüllen. Sie gerieten zudem gleichzeitig immer mehr mit den Basisorganisationen in Konflikt, die in ländlichen Regionen und in den Städten entstanden. Gegen Ende der achtziger Jahre bestand die Demokratie weiter, aber das Land litt an einem allgemeinen Verfall der Institutionen. Die politischen Parteien waren in einen gefährlichen Mißkredit geraten und ihre führenden Mitglieder wurden der Korruption in sämtlichen Instanzen der Regierung angeklagt. Inmitten dieses Chaos stellte sich der unabhängige Politiker Ricardo Belmont Cassinelli zur Wahl. Zur Unterstützung seiner Kandidatur für das Bürgermeisteramt von Lima und Umgebung gründete er das Movimiento Obras („Bewegung Werke")und erreichte bei den Wahlen 1989 47% der Stimmen. Seine informelle Art im Umgang mit den Wählern brachte ihm den Spitznamen broadcaster ein und war gleichzeitig der Grundstein seiner Kampagne, die ansonsten weder ein Programm noch eine Ideologie aufwies. Sein einziges Versprechen bestand darin, die Lebensbedingungen für Millionen in der Stadt lebender Bürger zu verbessern. Der Name seiner Partei, „Bewegung Werke", war sein Versprechen und seine Visitenkarte war die Tatsache, dass bereits mehrmals bei seinen Spendenaktionen für verschiedene Hilfswerke die Spendenziele, trotz der allgemeinen schweren Wirtschaftskrise, übertroffen worden waren (Planas 2000, Lynch 1999). Wenn er Tausenden von kranken Kindern wieder auf 4

Ricardo Belmont Cassinelli war zum Zeitpunkt seiner Kandidatur ein bekannter Medienstar und Unternehmer. Als Eigentümer des Fernsehsenders Canal 11 und der Radiostation RBC sowie als Showmaster bestand sein größter Verdienst darin, Fernsehmarathonshows zu organisieren, deren Erlös einer Klinik für behinderte Kinder zugute kam.

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die Beine geholfen hatte, warum sollte er dann nicht auch die tiefgreifenden Probleme der Großstadt Lima in den Griff bekommen? Für die Wähler verwandelte sich der „Unabhängige" ohne Programm - angesichts der bisher nie eingehaltenen Versprechen und der ungelösten Probleme — in ein Symbol der Tugend. Ricardo Belmont Cassinelli, der populäre colorado, war seit 50 Jahren die erste unabhängige politische Figur, die in freien Wahlen in ein öffentliches Amt gewählt wurde. Belmont wurde als Antithese des bisher bekannten politischen Stils gewählt: er sprach Umgangssprache, trug Jeans und diskutierte über populäre Sportarten wie Fußball oder Boxen. Mit anderen Worten: Belmont brach mit den engen Mustern, denen die Politiker in den zehn Jahren vorher gefolgt waren. Aufgrund der Unfähigkeit der auf demokratischem Weg gewählten Regierungen befand sich Peru am Ende der achtziger Jahre in der schwersten Krise seiner Geschichte, die nur mit der Phase der wirtschaftlichen, institutionellen und gesellschaftlichen Krise nach dem Krieg gegen Chile Ende des 19. Jahrhunderts zu vergleichen war. In den Augen der Bevölkerung gehörten die Politiker der Achtziger einer irrationalen Elite an, der jeder gesunde Menschenverstand fehlte. Sie galten als korrupt, ungerecht, lügnerisch und unverschämt. 1990, ein Jahr nach dem Misserfolg sämtlicher Parteien bei den Bürgermeisterwahlen, traten bei den Präsidentschaftswahlen zwei unabhängige Kandidaten an. Es handelte sich um zwei absolute Neulinge in der Politik: zum einen der weltweit bekannte Romanschriftsteller Mario Vargas Llosa und zum anderen der bis dahin unbekannte Landwirtschaftsingenieur Alberto Kenyo Fujimori Fujimori. Vargas Llosa gründete das Movimento Libertad (Freiheitsbewegung) und fand vor allem bei der katholischen Kirche, den Unternehmern und den Bankeigentümern5 Unterstützung sowie bei den Mitte-Rechts-Parteien wie dem Partido Popular Cristiano (PPC) und der Acción Popular (AP), mit denen er die Koalition der Frente Democrático (FREDEMO, „Demokratische Front") gründete. Sein Gegner Fujimori gründete die Bewegung 5

Vargas Llosa ist der berühmteste Schriftsteller in der Geschichte Perus. 1987 setzte er sich an die Spitze eines landesweiten Kreuzzuges gegen die vom damaligen verfassungsmäßigen Präsidenten Alan Garcia Pérez vorgeschlagene Verstaatlichung der Banken.

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Cambio 90, die über kein politisches Programm verfugte, und wußte einige evangelische Kirchenführer, Kleinunternehmer sowie seine ehemaligen Mitarbeiter aus seiner Zeit als Rektor der Staatlichen Universität fur Landwirtschaft (UNA) und aus der Rektorenversammlung (ANR) hinter sich. Fujimori war zu Beginn dieses Zweikampfes vollkommen unbekannt: So wurden die Meinungsforschungsinstitute erst drei Wochen vor dem ersten Wahlgang auf ihn aufmerksam. Der Kandidat der Bewegung Cambio 90 bot den Wählern wenig Versprechungen und seine Reden waren durch Formulierungen und Widersprüche gekennzeichnet, die Rückschlüsse auf mangelnde Erfahrung und fehlende Unterstützung durch eine solide Organisation zuließen. Beim zweiten Wahlgang jedoch konnte der Kandidat japanischen Ursprungs schon mit der Unterstützung sämtlicher politischer Kräfte zählen, die daran interessiert waren, dass Vargas Llosa sein neoliberales Projekt, das auf einer wirtschaftspolitischen Schocktherapie basierte, nicht umsetzte. Zu den politischen Kräften, welche die Kandidatur Fujimoris offen unterstützten, gehörten sogar die aus der APRA hervorgegangene Partei PAP sowie die Izquierda Unida (IU, „Vereinigte Linke"). Die Wahl Fujimoris zum Präsidenten Perus lässt sich somit vor allem auf sein Versprechen zurückfuhren, keine ökonomische Schocktherapie durchzufuhren, wie es sein Gegner von der Demokratischen Front versprochen bzw. angedroht hatte.

Fujimori: ein Unabhängiger an der Macht Mit dem überraschenden Sieg des Alberto Fujimori begann eine neue Phase in der politischen Geschichte des Landes: die Regierung der Unabhängigen. Die Kombination von Hyperinflation, Arbeitslosigkeit, dem schier unaufhaltsamen Vormarsch der blutigen Terroristenorganisationen - sowohl des kommunistischen Sendero Luminoso (SL, „Leuchtender Pfad") als auch des Movimiento Revolucionario Túpac Amará (MRTA, „Revolutionäre Bewegung Túpac Amarú") —, und der Vertrauensverlust gegenüber den politischen Parteien hatte eine Atmosphäre geschaffen, in dem eine unabhängige Führungspersönlichkeit als Hoffhungsträger auftreten konnte. Mit an-

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deren Worten: das von den Regierungen der AP und APRA ausgelöste Chaos ergab ein geeignetes Szenario für das Auftreten eines unabhängigen Kandidaten. Während der Wahlkampagne und der ersten neun Monate seiner Regierungszeit basierte die Legitimation Fujimoris darauf, eine Verbindung zur breiten Mehrheit der Bevölkerung einschließlich sozialer Randgruppen zu knüpfen, die sich mit ihm identifizieren sollten, da er „wie sie" war: ein Einwanderer, der Wohlstand und Fortschritt suchte. Von großer Bedeutung war dabei, ein Gefühl der Nähe und des Vertrauens herzustellen und somit eine Beziehung zu erschaffen, die der breiten Unterstützung der Regierung dienen sollte (Sanborn 1996). Fujimori inszenierte sich als politisches Waisenkind als er an die Regierung kam. Er verfügte in keiner der zwei Kammern des Kongresses, weder im Senat noch im Abgeordnetenhaus, über eine Mehrheit. Keine Partei verschaffte ihm organisierte gesellschaftliche Unterstützung. Die Bewegung Cambio 90 war nur ein Name zu Wahlzwecken, hinter dem in Wirklichkeit keine landesweite Organisationsstruktur stand. Dieses Bild verschärfte sich durch die kontinuierlichen Angriffe des Staatschefs auf die politischen Parteien und die demokratischen Institutionen der Zeit vor seinem Regierungsantritt, die er für sämtliche Probleme, unter denen die Bevölkerung litt, verantwortlich machte. Mit dieser Strategie verfolgte der Präsident das Ziel, die Nonnen des politischen Zusammenlebens unabhängiger von den Institutionen zu machen und die Erwartungen des Volkes an seine Person zu binden. Gleichwohl entsprach die Popularität der Führungspersönlichkeit Fujimoris durchaus einer Tradition in der peruanischen Politik: dem Glauben daran, dass eine starke und entschiedene Persönlichkeit, ein Uder, an der Spitze des Staates große Veränderungen erreichen kann, und das zumal in einer Gesellschaft, die bisher wenig wandlungsfähig gewesen war und breite Schichten von den politischen Prozessen ausschloss. Obwohl die Bindung zwischen Uder und Volk anfangs aufgrund von Hoffnungslosigkeit, Instabilität und Mangels an Alternativen eher schwach war, hatten die Erfolge des Präsidenten eine immer größere Wirkung und führten dazu, diese Beziehung zu festigen. Die Führung Fujimoris repräsentier-

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te in den Augen vieler Peruaner die „starke Hand", die das Land brauchte, um mit der Krise fertig zu werden und den Grundstein für den zukünftigen Wohlstand zu legen (Sanborn 1996). Da er bei seinem Amtsantritt über keine ausreichende Unterstützung durch die Parteien verfügte, bildete Fujimori eine Allianz aus Militär, führenden Großunternehmern und internationalen Kreditinstituten, um seine Macht zu stablisieren. Diese Allianz bediente sich der Staatsmacht, um eine neoliberale Wirtschaftspolitik durchzusetzen, zu der die Privatisierung von Staatsbetrieben und die Stärkung der Position von Armee und Polizei gehörten. Dieser zivil-militärische Pakt führte angesichts der allgemeinen Schwäche der Parteien zu einer Vorspiegelung von Regierungsfähigkeit. Fujimori kombinierte mit viel Geschick politischen Populismus - der sich in der Ablehnung der traditionellen Sektoren (z. B. private Monopolunternehmer und bürokratisierte Gewerkschaften, die die Verbindung zur Arbeitnehmerschaft verloren hatten), in der Erklärung des Krieges gegen Steuerhinterziehung oder in der Verherrlichung des einfachen Menschen (Arbeitslose, informelle Straßenhändler, Verbraucher und Kleinunternehmer) ausdrückte — mit der zentralisierten Macht im Präsidialsystem. Damit erreichte er eine Machtkonzentration, wie es sie nie zuvor in der peruanischen Demokratie gegeben hatte. Mittels einer liberalen Wirtschaftspolitik und Maßnahmen, die mit dem sogenannten „Fujischock" die bisherigen Grundlagen der Volkswirtschaft zerstörten, erreichte er im Vergleich zu den Regierungen vor ihm einen erstaunlichen Grad an Stabilität und Wachstum. Trotz der unmittelbaren Kosten, welche die wirtschaftlichen Maßnahmen Fujimoris mit sich brachten, nahm die Bevölkerung die Herausforderung mit Hoffnung und im Glauben an, dass die positiven Konsequenzen die hohen Kosten mehr als ausgleichen würden. Schon wenige Monate nach Einführung der Wirtschaftsmaßnahmen begann die Inflation zu fallen und die Popularität des Präsidenten stieg. Bis zu 60% der Bevölkerung unterstützten die Maßnahmen der Regierung öffentlich. Aufgrund dieses Erfolges gewann der Landwirtschaftsingenieur auch das Vertrauen der internationalen Kreditinstitute und den Respekt der internationalen Gemeinschaft allgemein. Es zeigte sich deutlich, dass der Optimismus der Massen stets in sehr engem Zusammenhang mit dem Erfolg oder dem Scheitern des Wirtschaftsprojekts der Regierung stand. Fujimori wurde zum „Retter des Va-

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terlands" und seine Figur als „Unabhängiger" bescherte ihm ein überraschendes Maß an Autonomie (Cotler 1995). Diese Autonomie ermöglichte dem Präsidenten das Ministerkabinett umzuformen: Er entließ die Anhänger und Sympathisanten anderer politischer Gruppen und ernannte statt dessen Technokraten und Unternehmer, die die Vorschläge multilateraler Finanzinstitutionen umsetzten, welche wiederum die einzelnen Schritte der peruanischen Regierung genau verfolgten und begleiteten. Ab diesem Moment setzte Fujimori auch Verwandte und langjährige engste Vertraute, die nur ihm und seinen Beratern gegenüber verantwortlich waren, auf die Schaltstellen der Regierungsgeschäfte und machte so seine Ablehnung der demokratischen Spielregeln deutlich. Alberto Fujimori setzte auf eine Konfrontation der Staatsgewalten, die sich verstärkte, als er, im Zuge seiner vom Kongress bewilligten Befugnisse, dem Militär als Maßnahme gegen den sich reaktivierenden Terrorismus Vollmachten erteilen wollte, die die verfassungsmäßigen Bürgerrechte erheblich einschränkten. Die Oppositionsparteien reagierten einstimmig, und der Präsident musste die geplante Erweiterung der Vollmachten zurückziehen. Mit dieser Situation im Hinterkopf entwickelte Fujimori eine konsequente Strategie zur „Rettung der Nation". Die „Rettung" wurde zur Rechtfertigung des verfassungswidrigen Staatsstreichs mit Unterstützung des Militärs vom 5. April 1992. Bei dieser Gelegenheit wiederholte er seine Anklage gegen die „formale Demokratie", insbesondere gegen diejenigen Parteien, die gegen seine Maßnahmen im Kongress gestimmt hatten. Nach den Ergebnissen einiger Meinungsforschungsinstitute befürworteten 80% der Bevölkerung diesen extremen Schritt. Nach dem Staatsstreich konnte Fujimori sich damit rühmen, fast das gesamte Land hinter sich zu haben, nicht nur Militärfiihrung, Unternehmer und Banken im In- und Ausland, sondern auch den einfachen Bürger. Nie zuvor hatte es eine vergleichbare Übereinstimmung zwischen Volk und „wahrem Machthaber" gegeben. Die traditionellen politischen Parteien waren an den Rand des Geschehens gedrängt worden und mussten ihre Niederlage eingestehen (Cotler 1995). Währenddessen setzte der Präsident im Verborgenen die Vorschläge und Strategien seines Geheimdienstes SIN {Servicio de Inteligencia Nacional) in die Tat um, lobte die Streitkräfte für

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ihre Mitarbeit im Kampf gegen die Subversion und missachtete die immer häufiger werdenden Anklagen, diese würden Menschenrechte verletzen und seien in den Drogenhandel verwickelt. Die Macht Fujimoris über den Obersten Gerichtshof wurde 1992 deutlich. Um diesen unter seine Kontrolle zu bekommen, setzte der unabhängige Präsident eine Kampagne in Gang, die darauf zielte, neue Gesetze zur Einschränkung der Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs zu rechtfertigen. Dabei stützte er sich auf die allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Rechtswesen aufgrund von Korruption und politischem Missbrauch der Gerichte. Die Unterstützung von Seiten der Bevölkerung festigte sich und zeigte sich erneut im November 1992 bei den Wahlen zu einem sogenannten Demokratischen Verfassungskongress (CCD, Congreso Constituyente Democrático). Die den Präsidenten unterstützenden politischen Bewegungen erhielten die absolute Mehrheit der Sitze und somit stand einer neuen, ganz auf ihn persönlich zugeschnittenen Verfassung nichts mehr im Wege. Die wichtigsten Veränderungen bestanden in der Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten und in der neuen Struktur des Parlaments mit nur einer Kammer. 1993 wurde die neue Verfassung per Referendum verabschiedet. Die militärischen Niederlage des Sendero Luminoso und der MRTA, die Kontrolle der Inflation, die Wiedereingliederung des Landes in die internationale Finanzgemeinschaft und das Aufleben der Investitionen aus dem Ausland (zum Beispiel der Aufkauf der peruanischen Telefongesellschaft CPT durch die spanische Telefónica für eine Summe von 2 Milliarden USDollar) konsolidierten Fujimori endgültig in der Rolle des effizienten caudillo, den Teile der Bevölkerung immer wieder gefordert hatten. Mit seinen Erfolgen beeindruckte der Präsident sogar die angeschlagene Opposition und konnte sich so als Fahnenträger der Ordnung und der Ehrlichkeit darstellen, jener Werte, die den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprachen. Bei den Präsidentschaftswahlen 1995 siegte Fujimori mit einer großen Mehrheit über den Botschafter Javier Pérez de Cuéllar, ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen und neben Vargas Llosa eine der bedeutendsten peruanischen Persönlichkeiten der letzten fünfzig Jahre. Die Wiederwahl festigte Fujimoris Führungsanspruch auch vor der internationalen Gemeinschaft und verlieh ihm die demokratische Legitimation. Nach lan-

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ger Zeit bestand erstmals die Aussicht auf politische und rechtliche Stabilität. Die Parteien, die nach seiner fünfjährigen Regierungszeit stark geschwächt waren, rutschten durch den erneuten Sieg an den Rand des Abgrunds.

Die Unabhängigen Die Regierung Fujimoris bewirkte keinen grundsätzlichen Wandel in der Einstellung gegenüber politischen Führern, hatte aber zur Folge, dass unabhängige Kandidaten auch über die Grenzen des „Fujimorismus" hinaus mehr Bedeutung erhielten. Unabhängige hatte es immer gegeben, aber vor den neunziger Jahren hatten sie in Meinungsumfragen und bei den Wahlen nie eine Rolle gespielt (Sanborn 1996). Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Zunahme von Unabhängigen eine breite Schicht in der Bevölkerung voraussetzt, die jedem politischen Diskurs gegenüber skeptisch eingestellt ist und stattdessen konkrete Ergebnisse erwartet. Das politische Panorama im Peru der neunziger Jahre bot ein Bild der Vielfalt und der Zersplitterung. Es gab keine starken Mittlerorganisationen, die in der Lage gewesen wären, die verschiedenen Interessen jenseits der allgemeinen politischen Programme zu artikulieren, Einfluss auf Entscheidungsprozesse zu nehmen und ein Gegengewicht zu Fujimori zu bilden. Die immer deutlicher werdende Vielfalt der Identitäten und Interessen innerhalb der Bevölkerung zwang die Führenden dazu, auf gesellschaftliche Forderungen einzugehen, zumindest in Form eines „neuen" politischen Diskurses. Neue Führungsfiguren tauchten in den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft auf und trugen dazu bei, das — für manche Beobachter veraltete — Phänomen des caudillismo wieder zum Leben zu erwecken. Die Mehrheit von ihnen erlangte jedoch keine größere Bedeutung, da sie über keine soliden Vermittlerinstitutionen verfugten; so verloren sie sich in einer veralteten populistischen Wahlrhetorik. Die politische Klasse beschränkte sich daher auf einen engen Kreis von Personen, welche die Macht ausübten und sich darüber verständigten, die Spielregeln einzuhalten, die ihnen ermöglicht hatten, in diesen Kreis aufzusteigen.

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Die Politiker, die sich um Fujimori gesellten, begründeten ihren Eintritt in die politische Laufbahn mit ihrer Sorge um das Land. Sie wurden wegen ihrer „Berufung zum Dienen" ausgewählt. Ebenso wie die Vertreter der verschiedenen Bewegungen, die Fujimori unterstützen, waren sie der Meinung, dass ihre Gegner, die sie als „traditionelle Politiker" bezeichneten, am Chaos im Peru der achtziger Jahre schuld waren und keine Lösungen für die Probleme des Landes zu bieten hatten. Die Riege des Präsidenten war davon überzeugt, dass der Moment gekommen war, um sich den Problemen endlich mit Ernsthaftigkeit und Verantwortung zu stellen. In dieser neuen Einstellung lag ihrer Meinung nach der Hauptunterschied zwischen ihnen und den traditionellen Politikern (Grompone 1998). Für die Mitarbeiter des neuen politischen Führers bedeutete Politik nicht, über spezielle Kenntnisse zu verfügen; vielmehr setzten sie Politik mit korruptem Verhalten gleich, das zu Chaos und allgemeiner Inkompetenz führe (Grompone 1998). Sich selbst sahen sie nur umständehalber als Gelegenheitspolitiker, die nur vorübergehend ihre jeweilige Arbeit unterbrachen, um etwas für den Fortschritt Perus zu tun. Die Krise der achtziger Jahre hatte sie quasi dazu gezwungen, an einem Spiel teilzunehmen, das nicht ihr Spiel war. Wie Grompone und Mejia deutlich zeigen, sahen sich die Unabhängigen als Sprachrohr der Forderungen des Volkes und stürtzten sich nur in die Politik, um ihre Distanz und ihre Abscheu gegenüber den früheren politischen Praktiken auszudrücken. In ihren Augen führten die Ideologien nur zu nicht gehaltenen Versprechen. Im Gegensatz dazu suchten sie selbst pragmatische Ansätze zur Lösung der alltäglichen Probleme. Das Vertrauen in ihre Führungskapazität hing im wesentlichen ab von ihrer Handhabung der wirtschaftlichen Variablen und ihren Entscheidungen im Zusammenhang der Wirtschaftsentwicklung. Die Justiz sollte gemäß dieser Kriterien den Auftrag erfüllen, die Privilegien der politischen und gesellschaftlichen Organisationen abzubauen, um langfristig ein Land entstehen zu lassen, in dem Chancengleichheit herrschen sollte. Für die neuen Führungsfiguren bestand ein großer Unterschied zwischen der „formalen Demokratie" und ihren Institutionen, Normen und Vorgehensweisen einerseits und andererseits der „eigenständigen Demokratie", die dem Zweck des guten Regierens verpflichtet ist. Die Unabhängigen besaßen für eine Mehrheit der Bevölkerung die Fähigkeit, die traditionellen, überholten Formen der Politik und ihre Parteien zu überwinden und das politische und öffentliche Leben des Landes zu erneuern. In dieser neuen Ära sollte die Politik den politischen Kuhhandel ablehnen, der den

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Fortschritt des Landes aufs Spiel setzte und den Staatsapparat lahm legte. In Präsident Fujimori sah diese neue Klasse von aufsteigenden Führungsfiguren den Repräsentanten der nationalen Einheit im Kampf gegen die von den traditionellen Politikern und oppositionellen Minderheitsorganisationen verfochtenen Einzelinteressen. Die Entwicklung der Demokratie in Peru nahm einen neuen Kurs. In der Zeit vor dem „Fujimorismus" beschränkte sich die Bedeutung von Demokratie auf die Präsenz der politischen Parteien und ihr Wechselspiel zwischen Wahlkampf und Parlamentsarbeit. Nach dem Regierungsantritt Fujimoris wurde Demokratie als der Raum verstanden, in dem die neuen politischen Akteure ohne parteipolitische Vergangenheit ihre „Berufung zum Dienst für die Öffentlichkeit" auslebten. Der Grund für diesen Richtungswechsel lag darin, dass die traditionellen Politiker keine Lösungen für die Probleme des Landes fanden, und die Wählerschaft die Geduld mit ihnen verloren hatte. Eben diese Wählerschaft begab sich jetzt auf die Suche nach „Technikern", welche die Probleme durch schnelle und richtige Entscheidungen überwinden sollten. Die Wähler erwarteten von ihnen keine aufregenden Reden, sondern schnelles Handeln. Die neuen Führerfiguren kamen dieser Forderung nach und widmeten sich der Suche nach Lösungen, indem sie eine neue, „technische" Sprache benutzten und die Probleme des Landes mit extremer Geschwindigkeit anpackten. Die große Mehrheit dieser neuen Politiker drang nicht bis in die Medien durch und erlangte keinerlei gesellschaftliche Bedeutung. Ihre politische Reichweite beschränkte sich auf ihren Herkunftsort oder das Gebiet ihrer Wahlkampagne, die ein Bestandteil der permanenten Kampagne Fujimoris war. Die Verbindung zwischen diesen sekundären Führungspersonen und dem Volk lässt sich mit dem Konzept des Klientelimsus beschreiben. Die Rolle jener Uder beschränkte sich darauf, den Präsidenten auf seinen Kampagnen zu begleiten, bei denen er den Wählern unterschiedliche Dinge schenkte. Die lokale Führerfigur war nichts weiter als eine Mittelsperson zwischen dem Volk und dem allmächtigen Präsidenten, konnte aber selbst keine Beziehung zu den Wählern aufbauen. Das politsche Profil dieser neuen Politiker blieb immer hinter dem des allmächtigen Fujimori zurück. Bei allen

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öffentlichen Auftritten, bei denen sie Urteile, Meinungen oder Gefühle hinsichtlich des Präsidenten ausdrückten, mussten sie das gesellschaftliche Ansehen seiner Person mit der Anerkennung seiner intellektuellen Überlegenheit verbinden. Für die Angehörigen der neuen Führungsriege bestand kein Unterschied zwischen öffentlichem Interesse und privater Tätigkeit. In ihrem Selbstverständnis ging die Ausübung ihres Berufs in ihre politische Aktivitäten über und dementsprechend arbeiteten sie in beiden Feldern auf die selbe Art und Weise. Der einzige Unterschied lag in der Zielsetzung, denn während die berufliche Arbeit persönlichen Erfolg bezweckte, war das Ziel des politischen Engagements der Fortschritt des Vaterlands. Die neuen Politiker unterschieden sich von den traditionellen auch dadurch, das letztere schon sehr früh in ihrem Leben begonnen hatten, sich für die politischen und sozialen Probleme Perus zu interessieren und sich in Studentenvereinigungen oder Gewerkschaften organisierten. Die Mitarbeit in einer Parteiorganisation besaß für sie große Bedeutung. Viele der heutigen Parteiführer waren bereits in den sechziger und siebziger Jahren in die Organisation eingetreten. Ein weiterer Unterschied bestand in der Tatsache, dass die traditionellen Politiker zwar in der Lage sind, Fehler ihrer Partei anzuerkennen, aber gleichzeitig den Mitgliedern, die keine Führungsverantwortung übernehmen, große Bedeutung beimessen. Ihnen wird die Erhaltung der Ideologie und der Prinzipien der Partei übertragen, sie stellen die moralische Basis der Organisation dar. Von ihnen werden uneigennütziges Verhalten und persönliche Opfer erwartet. In den Augen der neuen Politiker war die Mitgliedschaft in einer Partei dagegen nur ein Ausdruck des Klientelismus, der opportunistischen Zwecküberlegungen folgte. Allerdings gibt es unter der großen Menge neuer politischer Führer eine nicht unbedeutende Anzahl von Opportunisten, deren Hauptziel es ist, Macht zu erlangen. Dazu beschränken sie sich darauf, den Vorschlägen der Regierung zu folgen, um bestimmte Posten zu besetzen und sich dort zu halten. Diese opportunistischen Politiker sind keine politischen Führer im eigentlichen Sinne, denn laut Definition müssen diese gegen den Strom schwimmen und Hindernisse überwinden, um die Wählerschaft von sich und seinem Programm zu überzeugen. Der Unabhängige schafft oder erfin-

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det neue Umstände; der Führer dagegen muss mit seinem Diskurs überzeugen, denn auf dieser Grundlage schafft er eine dauerhafte Verbindung zur Bevölkerung. Abgesehen von den zwei beschriebenen Gruppen existierte noch eine dritte Klasse von Politikern in Peru, die so genannten „Bekehrten". Hierbei handelt es sich um diejenigen, die ihre politische Karriere in den Parteien und Organisationen begannen und teilweise sogar in hohe Posten aufgestiegen sind, sich aber danach als „Unabhängige" vorstellen und entweder auf lokaler Ebene oder im Parlament arbeiten. Diese Gruppe beteiligt sich an der Kritik der politischen Organisationen, denen sie früher selbst angehörten und fordern teilweise sogar ihre Abschaffung. Ihr Agieren auf der politischen Bühne, wo sie auf einmal Ideale vertreten, die ihren eigenen früheren Einstellungen widersprechen, ist möglich aufgrund der schwachen, undemokratischen Struktur der Parteien, in denen Entscheidungen allein von der Parteiführung gefällt werden, ohne die Basis zu konsultieren. Die gekehrten" versuchen ihre Parteivergangenheit zu vergessen und kämpfen für ihre Anerkennung als „Techniker" anstatt als Berufspolitiker. Ein weiteres, neues Phänomen, das seit Mitte des Jahres 2000 zu beobachten ist, sind die „Überläufer". Unter diesem Begriff wird ein Politiker verstanden, der von einer Partei zur anderen wechselt, ohne der Verpflichtung gegenüber den Wählern seiner Liste nachzukommen. Der Begriff „Überläufer" ist im Allgemeinen negativ besetzt, da besonders die jüngeren Fälle von Parteiwechseln nicht nur reine „Gewissensentscheidungen" waren, sondern auch mit Käuflichkeit der Betroffenen verbunden waren. In dieser Beziehung hat der Fall des Kongressabgeordneten Luis Alberto Kouri besonders viel Aufmerksamkeit erregt. Nachdem er ursprünglich sein Mandat für die Partei Peru Posible (PP) erhalten hatte, wurde er in den Räumen des Geheimdienstes SIN gefilmt, als er von Vladimiro Montesinos Torres, dem Berater des Geheimdienstes sowie des Präsidenten, 15.000 US-Dollar als Gegenleistung für eine Unterschrift erhielt, mit der er sich verpflichtete, seine Partei zu verlassen und zur Allianz des Präsidenten Peru 2000 überzuwechseln. Seit der Veröffentlichung dieser Videoaufnahme sind die offiziell angegebenen Beweggründe sämtlicher Politiker, die für Oppositionsparteien kandidiert hatten und in den ersten drei Monaten nach ihrer Wahl - noch vor

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der ersten Sitzung des neuen Kongresses im Juli 2000 - zur Peru-2000Allianz übergelaufen sind, sehr stark in Zweifel gezogen worden.

Neue Formen der Politik Zu Beginn der neunziger Jahre gewannen die Werte der Demokratie und der Menschenrechte in Lateinamerika breite gesellschaftliche Anerkennung. Aber die Bevölkerung verlangte zugleich nach direkter Repräsentation anstatt lediglich parlamentarischer Vertretung. Aus diesem Grund verloren die Parteien in mehreren Ländern ihre Massenunterstützung. Die neuen Formen der Politik verstärkten den Niedergang „traditioneller" Repräsentationsformen, die auf eine bloße Formalität reduziert wurden; Entscheidungen wurden mehr und mehr von Massenmedien beeinflusst und gleichzeitig verbeiteten sich bestimmte Mechanismen der direkten Demokratie wie Plebiszite, Referenda und Bürgermeisterabsetzungen. Das beeinflusste auch die Stärkung des personalisierten Führertums gegenüber den Parteiorganisationen (Perelli 1995). Im Zuge dieser Entwicklung wechselten viele regionale Führer, mehrheitlich Leiter der Provinzregierungen, von der Parteipolitik zur unabhängigen Politik und gründeten lokale und/oder regionale Bewegungen, von denen sie in vielen Fällen auf Parlamentssitze katapultiert und in einigen Fällen sogar zu Kandidaten für das Amt des Präsidenten oder des Vizepräsidenten erhoben wurden. Diese lokalen caudillos verstehen heute unter Unabhängigkeit die Freiheit, nach ihren eigenen Entscheidungen handeln zu können und nicht nur als zweitrangige Beamte Befehle innerhalb einer Organisation ausführen zu müssen. Beispiele dafür sind Angel Bartra, Tito Chocano und Luis Cäceres Veläsquez, ehemalige Leiter der Regierungen in den Provinzen Chiclayo, Tacna bzw. Arequipa, die dank ihrer regionalen Arbeit einen Sitz im Kongress der Republik besetzen konnten. Die peruanische Gesellschaft entzog den ehemals bedeutenden Parteien die Massenunterstützung und wurde zu einer segmentierten Gesellschaft, die neuen Interessen folgte und neue Forderungen gegenüber der politischen

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Klasse erhob. Die „traditionellen" Parteien und Politiker waren diesen neuen Ansprüchen im Hinblick auf den Kampf gegen die Folgen der gescheiterten Politik der achtziger Jahre — Terrorismus, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise - nicht gewachsen. Die politischen Parteien verloren ihre Rolle als Vermittler zwischen Staat und Bevölkerung (Perelli 1995). Der Prestigeverlust der politischen Institutionen in Lateinamerika hat die Bindungen zwischen den Parteien und der Gesellschaft aufgelöst und zu einer gewissen „Krise der Werte" und „gesellschaftlichen Anomie" geführt, besonders bei den Jugendlichen (Cotler 1995). Die durch den Mangel an konkreten Ergebnissen der „traditionellen" Politik provozierte Frustration fiel zeitlich zusammen mit dem Auftreten neuer gesellschaftlicher Akteure, welche die unerfüllten Bedürfhisse der Bevölkerung zu befriedigen suchten. Das Ergebnis der Kombination dieser politischen Veränderungen waren die „unabhängigen" Politiker als Gegenpol zu den Berufspolitikern und deren politischen Versprechungen. Die „Unabhängigen" tauchten plötzlich und unerwartet auf. Sie kritisierten die Probleme des bestehenden Parteiensystems und deren Misserfolge und versprachen gleichzeitig, die Probleme der Nation zu lösen. Dadurch weckten sie nicht nur die Aufmerksamkeit der Massen, sondern gewannen auch deren Unterstützung. Die traditionellen Politiker und Institutionen lehnten die „Unabhängigen" ab. Nach ihrer Meinung befanden sie sich in einem anachronistischen Widerspruch zu der neuen Realität. Dies erklärt die Ineffizienz und den Prestigeverlust der Parteien. Vor diesem Hintergrund ergab sich die Notwendigkeit, die unabhängigen, politisch unbefleckten „Techniker", deren Kenntnisse und Arbeit keinen ideologischen Einschränkungen unterlagen, zu den Protagonisten der neuen Politik zu machen. Mit der Zeit standen die Meinungen der Experten höher im Kurs als die der traditionellen Berufspolitiker. Die Gesellschaft hörte nicht länger auf den ideologisierten Diskurs der Parteien, sondern schenkte ihre Aufmerksamkeit jetzt den Ansichten der „Unabhängigen", deren Meinungen zu den Problemen des Landes nicht von den Parteien zensiert wurden. Alberto Fujimori repräsentierte für einen Teil der Gesellschaft den Ingenieur, der unter Anwednung „technischer" Kriterien auf die Lösung der Probleme hinarbeiten konnte, ohne von einem Parteiapparat abhängig zu sein,

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dessen Ansprüche es zu befriedigen galt. Das Motto „Ehrlichkeit, Technologie und Arbeit" unterstrich sein Profil als „Techniker" und stellte den Aspekt des Politikers in den Hintergrund.

Massenmedien und Politik Politik spielte sich in den neunziger Jahren in erster Linie im Fernsehen ab, da die wichtigsten Nachrichten aus Politik und Regierung hier veröffentlicht wurden. So wurden sich zu Beginn der neunziger Jahre die Politiker der wahren Macht des Fernsehens bewusst und erkannten den großen Einfluss, den das Medium auf die Bevölkerung ausübte und damit auf die Wählerschaft, die es zu erreichen galt. Das Fernsehbild wurde zu einem Instrument der politischen Macht, Politik zu einer Show, und die Bilder dieser Show zur täglichen Realität. Die Massenmedien, allen voran das Fernsehen, führten so zu einer neuen Form der Kommunikation zwischen Politikern und dem Volk (Perelli 1995). Diese Veränderung der Kommunikationsformen und der Darstellung von Politik kam den Unabhängigen zugute, die dank der Medien den Massen jetzt ihre Botschaften vermitteln konnten, ohne dabei auf die umständlichen Mechanismen zur Gewinnung von Anhängern und auf die komplizierte politische Maschinerie angewiesen zu sein, die man braucht, um Straßen und Plätze zu füllen. Seit den neunziger Jahren untersuchen die Experten in politischer Kommunikation mittels Meinungsumfragen und Zielgruppenanalyse die Dynamik, die zwischen den politischen Führungsfiguren und der öffentlichen Meinung besteht. Mittels quantitativer und qualitativer Analysen wird den auf Politik spezialisierten Kommunikationsexperten die Möglichkeit geboten, die Wählerschaft nach Interessen und Bedürfnissen zu unterteilen und somit ihre Strategien besser zu planen und Entscheidungen so zu treffen, dass sie den Einfluss auf die Wähler erhöhen. In Peru konzentrieren die Kandidaten und Parteien ihre Anstrengungen zur Verbreitung ihrer Vorstellungen darauf, Sendezeit zu erobern, entweder in Form unmittelbarer Werbung oder aber mittels spektakulärer Aktivitäten, die ihnen einen Platz in den Nachrichtensendungen mit den höchsten Ein-

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schaltquoten verschafften, was dazu beitrug, dass Politik für die Zuschauer zu einem täglichen Ereignis wurde. Fujimori wusste nicht nur, wann er auf dem Bildschirm zu erscheinen hatte, sondern er schaffte es auch, seine Abwesenheit ebenso geschickt auszunutzen. Im richtigen Augenblick wurde gesendet, wie er eine Schule oder eine Straße in einem verarmten Viertel einweihte. Doch wenn die Arbeit seiner Regierung im Kreuzfeuer der Kritik stand, verschwand er aus den Medien. Teilweise waren die Medien eine ganze Woche lang nicht in der Lage, etwas über den Staatschef zu berichten. Die Medienmaschinerie der Regierung unter der Leitung von Montesinos nötigte bestimmte Massenmedien dazu, einen festen Platz in der Tagesordnung für Fujimori zu reservieren, um so das Image des Präsidenten zu verbreiten und zu pflegen. Eine weitere Strategie dieser Medienmaschine bestand darin, die Politiker der Opposition in Verruf zu bringen, besonders diejenigen, die zu potentiellen Gegenkandidaten bei den Präsidentschaftswahlen werden konnten. Außerdem übernahm die Maschinerie des Geheimdienstes SIN die Kontrolle über mehrere Sensationstageszeitungen6, in denen Dutzende von Oppositionspolitikern und unabhängige Journalisten beschimpft und verleumdet wurden. Der SIN wollte nicht die Wahrheit, sondern die Wiederholung seiner Meldungen in soviel Medien als möglich. Die neuen, unabhängigen caudillos mussten lernen, sich ausserhalb der Massenveranstaltungen an die Wähler in ihrer privaten häuslichen Umgebung zu wenden. Die Botschaft wurde dadurch persönlicher und für den Durchschnittsbürger zugänglicher. Sie sprach die Gefühle der Wähler an und versuchte, allgemein und leicht verständlich zu sein. Die Art und Weise, wie der Fujimorismus - als wichtigste aller unabhängigen Bewegungen - die technischen Möglichkeiten der Medien zur Einflussnahme auf die Bevölkerung nutzte, grenzte an Vollkommenheit. Keine Entscheidung wurde getroffen und keine Veranstaltung wurde durchgeführt, ohne dass die Strategen innerhalb der politischen Maschinerie des Präsidenten die qualitativen und quantitativen Analysen in Gang setzten, um die voraussehbaren Reaktionen der Wähler nach Interessengruppen zu testen. Die Boulevardpresse in Peru ist unter der Bezeichnung diarios chichas bekannt.

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Die Inszenierung von Politik im Fernsehen führte in den neunziger Jahren zu ihrer Personalisierung. In den Augen der Wähler waren die Parteien nicht mehr die Massenorganisationen der Vergangenheit sondern Vereinigungen von Individuen, in denen die Parteiführer weniger um Ideologie und Programm ihrer Organisation als um ihr Fernsehimage gegenüber der Gesellschaft besorgt waren. In den Augen der Gesellschaft haben sich die Parteien nicht mehr durch programmatische Positionen definiert, sondern durch die Gefolgschaft gegenüber einem caudillo. Das führte unweigerlich dazu, dass die Existenzberechtigung der Parteien grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Aus der Überbewertung des politischen caudillo folgten daher die Identitätskrise und der Verfall der Parteien. Zu Beginn der neunziger Jahre verschärfte sich die Krise der Parteien aufgrund einer großen Kampagne des SIN in den Massenmedien, die von Fujimori dazu genutzt wurde, den „traditionellen" Parteien die Schuld für die peruanische Krise zuzuschieben. Das begünstigte die Vervielfältigung der „unabhängigen" Bewegungen, von denen viele über kein politisches Programm verfügten, sondern lediglich dazu dienten, einen bestimmten Kandidaten im Wahlkampf zu unterstützen. Beispiele hierfür sind die Bewegungen, die Fujimori bei seiner Kandidatur unterstützten. Nueva Mayoria, Cambio 90, Vamos Vecinos und Alianza Peru 2000 hatten der öffentlichen Meinung kein politisches Programm vorzulegen, zumindest nicht in den Medien. Ihr einziger Inhalt war die bedingungslose Unterstützung sämtlicher von Fujimori in seiner Funktion als Staatschef getroffener Entscheidungen. Die wichtigsten Prozesse innerhalb der Regierung blieben ausserhalb des Wahrnehmungsvermögens der Mehrheit der peruanischen Bevölkerung, die ihre Aufmerksamkeit auf die Massenmedien konzentrierte. Die Regierenden und die Politiker allgemein praktizierten neue Formen der Machtausübung, die von den Medien nicht wahrgenmmen wurden und verhindern sollten, dass bestimmte Entscheidungen ihren guten Ruf in der öffentlichen Meinung gefährdeten. In den Massenmedien wurde nur noch das erwähnt, was die Wähler positiv aufnahmen. Die Unabhängigen, die in den neunziger Jahren der Regierung angehörten, nutzen die Medien in ihrem Interesse. Sie beeinflussten die Presse so, dass

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die Erfolge der Regierung übertrieben und die Misserfolge, Korruptionsskandale und internen Probleme verschwiegen wurden. Das Ergebnis war ein Führungsimage von beispielloser Wirksamkeit und Leistungsfähigkeit. Die öffentliche Meinung wurde von den tatsächlichen durch künstliche und ausschließlich für die Medien konstruierte Ereignisse abgelenkt. Mit Hilfe von Montesinos baute der Präsident eine Medienmaschinerie auf, die nicht nur auf die kommenden Wiederwahlen programmiert war, sondern dazu diente, die Unterstützung von Seiten des Volkes zu festigen und die öffentliche Meinung davon zu überzeugen, dass alle Meinungen, die von denen der Regierung abwichen, keine Probleme lösen könnten. Zum Politikspektakel gehörte, dass Helden und Bösewichte zur Identifikation bzw. Verurteilung geschaffen wurden. Es sollte jedoch auch darauf hingewiesen werden, dass die Massenmedien keine vollkommene Manipulation des Publikums vollbrachten. Die Präsenz von politischen Führern in den Medien allein garantiert noch nicht den Wahlsieg. Dies zeigte sich bei den Präsidäntschaftswahlen von 1990 mit den Hauptkandidaten Mario Vargas Llosa und Alberto Fujimori. Der Schriftsteller war in sämtlichen Medien präsent, während Fujimori eine Randfigur blieb. Dennoch siegte der Kandidat von Cambio 90, der Ingenieur Alberto Fujimori, mit einer Differenz von über 20% der gültigen Stimmen.

Personalisierung der Macht Die zunehmende Distanz zwischen Parteien und Staat einerseits und den Bürgern andererseits führt dazu, dass die Gesellschaft nach starken, von der „Vorsehung" gesandten Führungsfiguren zu suchen beginnt, die einen neuen Politikstil vertreten und die alten, in ihren Augen unfähigen Politiker ersetzen können. Seit den neunziger Jahren war es für die Gesellschaft wichtiger, einen Uder zu finden, der breite Sektoren der Bevölkerung vertreten konnte, als eine Partei, mit der sie sich identifizieren wollte. Es kam nun auf die Fähigkeit des politischen Führers an, eine rasche Antwort für die Bedürfnisse der Gesellschaft zu finden. Dieser sollte eine deutliche und direkte Botschaft ha-

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ben, als normaler Durchschnittsmensch auftreten und sich eindeutig von dem Gehabe eines Halbgottes, das die früheren Politiker an den Tag legten, absetzen. Fujimori zum Beispiel hat immer die Sprache des einfachen Menschen benutzt. Seine Ausdrucksweise war nie gekünstelt oder verschnörkelt. Seine Reden waren einfach, gefüllt mit volkstümlichen und umgangssprachlichen Ausdrücken, wodurch sie für sämtliche Schichten der Bevölkerung zu verständlichen Botschaften wurden. Ein weiterer „unabhängiger" Politiker, der sich durch seine volkstümliche Sprache kennzeichnet, ist der Anführer des Movimiento Independiente Somos el Perú (MISP, „Unabhängige Bewegung Wir Sind Peru") und Bürgermeister von Lima, Alberto Andrade Carmona, der den für die Hauptstadt - besonders für die ärmeren Stadtviertel - typischen Soziolekt „Criollo" spricht. Das Image der Führungspersönlichkeiten ist in einer multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft wie der peruanischen von großer Bedeutung. Das Image des Ingenieurs Fujimori erinnerte an den japanischen Einwanderer aus bescheidenen Verhältnissen, der sich unter großer Anstrengung ein kleines familiäres Geschäft aufbaute, vielleicht einen Friseursalon oder einen Eisenwarenladen. Dieses Bild war den Bewohnern der ärmeren Stadtrandsiedlungen, besonders in der Hauptstadt, sehr vertraut. Ein weiterer „unabhängiger" Politiker, Alejandro Toledo Manrique1, Kandidat der Partei Perú Posible, hat ebenfalls das Image des normalen Durchschnittsbürgers. Mit seiner geringen Körpergröße und rötlichen Hautfarbe ist er der typische Repräsentant der peruanischen Andenbewohner. Er wurde unter dem Spitznamen el cholo8 bekannt. Viele seiner Anhänger sehen eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Toledo und Pachacútec, dem kriegerischen Inkaherrscher, unter dem das Reich seine größte Ausdehnung hatte. Die Personalisierung der Politik bedeutet jedoch nicht, dass eine Führungsfigur keine Organisation braucht, um regieren zu können. Allerdings ist 7

Alejandro Toledo kandidierte bei den Präsidialwahlen 2001 zum dritten Mal.

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Cholo ist die in Peru übliche Bezeichnung für die Bewohner des andinen Hochlands.

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diese Organisation ganz auf eine Person zugeschnitten und alle Macht konzentriert sich auf sie. Die Führungspersönlichkeit trifft sämtliche Entscheidungen, was nicht unbedingt heißen muss, dass sie den Rahmen der Verfassung überschreitet, so wie es bei Fujimori der Fall war. Die neue Führungsfigur bietet ihre Person als Alternative an. Ihre Verlautbarungen stimmen im Wesentlichen mit der öffentlichen Meinung überein. Sie spricht davon, dass mehr soziale Gerechtigkeit nötig sei, und versichert gleichzeitig, dass sie zur Verwaltung des Staates befähigt ist. Alberto Fujimori schuf eine direkte Beziehung ohne Mittelsmänner zwischen seiner Person als Staatschef und den wirtschaftlich rückständigsten Schichten Perus. Diese Beziehung entstand nicht aufgrund der messianischen Komponente der Persönlichkeit des Präsidenten - Fujimoris Charakter war eher zurückhaltend und seine Reden, voller Fehler, die ein Schuljunge machen könnte, ließen viel zu wünschen übrig —, sondern basierte vielmehr auf einem Charisma, das aus der Krisensituation, der Instabilität und der Gewalt heraus entstand. Diese äußeren Umstände führten dazu, dass die Peruaner für seine Botschaft empfänglich waren, geneigt, in ihm den zukünftigen Staatschef zu sehen, der das Rezept für den Ausweg aus der Krise in der Hand hatte, und bereit, ihm zu folgen. Der neue „unabhängige" politische Führer machte eine populistische Politik und baute den Klientelismus, den er bei seinen Vorgängern noch kritisiert hatte, weiter aus. Er konzentrierte die Macht auf seiner Person und zeigte nie auch nur das geringste Interesse am Aufbau einer soliden Parteistruktur — wahrscheinlich weil er fürchtete, dass eine gesicherte Basis seiner Bewegung später dazu in der Lage sein könnte, ihn selber abzuwählen. Fujimori ist ein deutliches Beispiel für das Modell des Klientelismus. Er führte ein Programm der Verteilung von Lebensmitteln ein, das den Bedarf von vier Millionen Peruanern aus minderbemittelten Verhältnissen abdeckte, und weigerte sich, eine politische Partei zu gründen. Zu seiner Unterstützung gründete er immer nur Bewegungen" ohne bedeutende politische Kader, die ihm als Fassade während der Wahlkämpfe dienten. Während seiner Regierungszeit benutzte Fujimori den Staatsapparat als Parteiersatz, den er ganz in seine Abhängigkeit brachte und über den er nach Belieben verfügte. Als Folge der Konzentration der gesamten Leitung

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des Staates auf seine Person verloren die Parteien innerhalb des politischen Systems an Bedeutung. Das einzige Problem, das die Personalisierung mit sich brachte, war die Unfähigkeit Fujimoris, die Kandidaten seiner „unabhängigen" Bewegungen, die ihm als Fassade dienten, bei Kommunalwahlen zu unterstützen. Es gelang ihm nicht, die Wahlergebnisse der regionalen Kandidaten zu verbessern. Selbst in den stärksten Krisenzeiten sank der Rückhalt für Fujimori in der Wählerschaft nie unter ein Drittel. Dennoch gelang es ihm nie, diese Unterstützung auch auf den Kandidaten seiner Wahl zu übertragen, so wie es seine beiden Vorgänger geschafft hatten: der damalige Präsident Fernando Belaúnde Terry unterstützte den Kandidaten Eduardo Orrego Villacorta bei den Bürgermeisterwahlen in Lima 1980 erfolgreich, und auch der andere ehemalige Präsident Alan García Pérez vermochte mit nur einer einzigen Rede die Anhänger der PAP und einen Großteil der Bevölkerung zu einem Zeitpunkt zu bewegen, ihre Unterstützung dem Kandidaten Jorge del Castillo zu schenken, als die Wahlen den Meinungsumfragen nach schon verloren schienen. Ein deutliches Beispiel für den Misserfolg Fujimoris bei der Unterstützung seiner Kandidaten sind die Kommunalwahlen in Lima 1997. Der Kandidat Jorge Yoshiyama war Anhänger Fujimoris und galt als sein natürlicher Nachfolger: ein charismatischer „Techniker", der aus dem blassen Kabinett des Staatschefs herausstach. Trotz eines soliden Wahlkampfes als Kandidat für die von Fujimori unterstützte „unabhängige" Bewegung Nueva Mayoría verlor Yoshiyama gegen den Kandidaten der Movimiento Independiente Somos el Perú, Alberto Andrade Carmona. Die „unabhängige" Führungspersönlichkeit steht außerhalb des Systems der politischen Parteien und muss im Wahlkampf die etablierte politische Elite angreifen. Fujimori folgte diesem Muster, indem er die etablierten Parteien als „traditionell" bezeichnete und für die Krise Perus verantwortlich machte. Er wurde zur wichtigsten Entscheidungsinstanz innerhalb seiner Regierung, verlangte von seinen Kabinettsmitgliedern absolute Treue und Unterordnung und war sehr wenig dazu geneigt, Kompetenzen abzugeben.

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Das Ministerkabinett war für Alberto Fujimori nichts weiter als eine Ratifizierungsinstanz für seine Befehle. Aus diesem Grund setzte sich die Ministerriege im Allgemeinen aus Mitarbeitern zusammen, die sein absolutes Vertrauen genossen. Der Präsident vermied es, anerkannte Persönlichkeiten, auch wenn sie ihm noch so nahe standen, ins Kabinett zu holen, da sie mit anderen politischen Kräften hätten koalieren können. Die autoritäre und personalisierte Herrschaftsform Fujimoris erschwerte es ihm, bestimmte Aufgaben anderen zu übertragen. Aus diesem Grund ließ er ein Informationssystem aufbauen, das sämtliche staatliche Stellen miteinander verknüpfte und ihn über alle möglichen punktuellen und spezifischen Themen vollständig informierte. Dieses System trug maßgeblich zu Fujimoris Image des allwissenden Führers bei (Grompone 1999). Für seine Kampagne zur Personalisierung der Macht war die Verschiebung der Gewalten in Richtung der Exekutive von großer Bedeutung. Er führte die Möglichkeit der direkten Wiederwahl des Präsidenten ein, reduzierte die Kontrollmöglichkeiten des Parlaments über das Kommando der Streitkräfte und erweiterte die Macht der Polizei und der Armee. Fujimori nutzte die ihm zur Verfugung stehenden Ressourcen zur Festigung seines Rufes, besonders in den Augen der ärmeren Schichten und Randgruppen der Bevölkerung. Durch teure Unterstützungsmaßnahmen verschaffte er sich Zugang zu den Bevölkerungsgruppen mit einem geringen Niveau an Organisation, vor allem in den Slums am Rand der Hauptstadt und in den Anden und Hochanden. Auch wenn es aufgrund der Wirtschaftskrise nicht möglich war, sämtliche Kosten für die Grundbedürfnisse weiter Schichten der Gesellschaft abzudecken, hielt der Präsident die Lebensmittelverteilung in den armen Gebieten aufrecht; damit schuf er sich über die Jahre eine starke Wählerhochburg. Der Prädisent personalisierte die Lebensmittelhilfe. Während der Wahlkampagne im Jahr 2000 ging er sogar so weit, den Arbeitern, die zum Verteilen der staatlichen Lebensmittel eingeteilt waren, aufzutragen, direkt für seine Wiederwahl zu werben. Der bedürftigen Bevölkerung wurde gesagt, dass im Falle einer Niederlage Fujimoris auch das Lebensmittelprogramm enden würde.

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Alle wichtigen Projekte der Regierung wurden von Fujimori persönlich eingeweiht. Sogar die weniger wichtigen, wie zum Beispiel Schulen oder staatliche Volksküchen in kleinen Dörfern, weihte der Präsident selbst ein, um in der Bevölkerung den Glauben entstehen zu lassen, er hätte das Projekt eigenhändig vorangebracht. Die Funktion des jeweiligen Staatsministers wurde bei diesen Anlässen auf die eines zweitrangigen Begleiters reduziert. Jede darüber hinausgehende Rolle der Minister wäre als Attentat auf die Bedeutung des Präsidenten interpretiert worden. Der „unabhängige" politische Führer Alberto Fujimori entwickelte sich zu einem personalisierten Herrscher, der ein Regime lenkte, dem jede Instanz zur Einhaltung eines Machtausgleichs gänzlich fehlte. Der Präsident bewies, dass er in der Lage war eine neuartige Beziehung zum Volk aufzubauen. Seine Popularität hielt sich permanent auf einem sehr hohen Niveau, obwohl er auf den ersten Blick keineswegs die Eigenschaften einer Führerfigur besaß. Sein Charisma basierte auf einem nach außen bescheidenen Verhalten und auf dem Ruf der Ehrlichkeit und des Erfolgs. Seine ständige Sorge um die Interessengruppen hatte ihre Ursache im Bedürfnis nach Legitimation (Cabtree 1999). Die „Unabhängigen" sind in Peru während einer Entwicklungsphase der jungen, gerade erst zehn Jahre alten Demokratie entstanden, in der das Militär noch eine sehr wichtige Rolle spielte, während die Parteien und andere politische Institutionen eine Krise erlebten. Der Großteil der „Unabhängigen" trat unerwartet auf den Plan und erfreute sich einer nur sehr kurzlebigen Existenz. Ihre Wahlkampagnen waren gekennzeichnet durch populistische Versprechungen, die in den meisten Fällen nach dem Amtsantritt vergessen wurden. Die Konzentration der Macht in der Person Fujimoris wurde von der neoliberalen Logik verstärkt, die eine Zentralisierung der Macht und der wirtschaftlichen Ressourcen anstelle einer gleichmäßigen Verteilung begünstigt. Daneben wird das Auftreten der „Unabhängigen" vom Präsidialsystem begünstigt, denn sie präsentieren sich der öffentlichen Meinung in der gleichen Weise wie der Präsident als die Verkörperung des Volkswillens und als Retter der Nation, der über den Parteien steht. Das peruanische Präsidialregime vereinigt die Funktionen des Staats- und des Regierungschefs in einer Person, dem Präsidenten, der durch Direktwahl für jeweils fünf Jahre

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bestimmt wird. Der Präsident hängt nicht vom Kongress ab und genießt absolute Freiheit bei der Zusammenstellung seines Kabinetts. Diese Regelungen haben sich negativ auf die Konsolidierung der peruanischen Demokratie ausgewirkt. Der Fall Fujimoris ereignete sich zu Beginn seiner dritten, ungesetzmäßigen Amtszeit - und nach der umstrittensten und irregulärsten Wahl in der Geschichte des Landes. Die Veröffentlichung einer Videoaufnahme, die Vladimiro Montesinos im Moment der Übergabe von 15.000 US-Dollar an einen oppositionellen Abgeordneten zeigte, um diesen zum Überlaufen zu bewegen, provozierte einen öffentlichen Skandal und löste die bedeutendste Volksauflehnung der letzten Jahrzehnte aus. In weniger als zwei Monaten brach die autoritäre Struktur um den Präsidenten zusammen. Fujimori setzte sich nach Japan ab und wurde in seiner Abwesenheit aus dem Amt entlassen. Montesinos ergriff die Flucht, und die parlamentarische Allianz des Expräsidenten verlor durch den Mandatsverzicht des Großteils der Abgeordneten ihre Mehrheit. Dr. Valentin Paniagua Corazao übernahm provisorisch das Amt des Präsidenten und am 28. Juli 2001 fanden Neuwahlen statt, aus denen ein weiterer Unabhängiger, Alejandro Toledo, als Sieger hervorging. So endete die Erfolgsgeschichte des bedeutendsten, autoritärsten und populistischsten politischen Führers in der Geschichte Perus - und versank in tiefer Korruption. Zurück blieb ein Land mit schwer wiegenden Problemen: der Identitätskrise der politischen Institutionen, der Unzufriedenheit der Bevölkerung und der mangelnden Anerkennung der demokratischen Werte, die Basis einer stabilen, blühenden Gesellschaft sind.

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Benjamín Fernández Bogado Paraguay: politische Führung in Krisenzeiten Die tiefgreifenden Veränderungen der Wirtschaft und das veränderte Verständnis des Nationalstaates haben eine Reihe von Konsequenzen für das Konzept der politischen Führung und den Typ des Führers mit sich gebracht. Für Paraguay bedeutet das, dass die Gesellschaft weiter nach einem Typ von Führungspersönlichkeit sucht, der diesen Veränderungen gerecht wird und in der Lage ist, sie als Chance zu begreifen und nicht nur als Bedrohung und Chaos. Einige Beobachter der Gesellschaft, wie zum Beispiel der Journalist Ignacio Ramonet (1997), sind der Meinung, dass sich die heutigen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in der jüngeren Geschichte nur mit der Renaissance und der industriellen Revolution vergleichen lassen. Eine Zeit, in der das, was wir wissen , nicht ausreicht, um genau zu verstehen, wie das gesellschaftliche Gebäude funktioniert, das an allen Ecken knirscht und bald zusammenzubrechen droht. Wir sind ängstlich, weil wir auf die Fragen der Zukunft keine klaren Antworten geben können und weil wir auch nicht die darin enthaltenen Möglichkeiten erkennen. Die wichtigsten Vertreter eines Modells wirtschaftlicher Reformen, wie zum Beispiel der Internationale Währungsfonds, schämen sich nicht einzugestehen, dass ihre neoliberalen Rezepte nicht ausgereicht haben Reichtum entstehen zu lassen, wie es ihre Berater vorausgesagt hatten; inzwischen bitten sie um Verzeihung oder kritisieren sogar das von ihnen geschaffene System. Der Gedanke der Integration der Nationen als neue Alternative ist jedoch in einigen Ländern auf harten Widerstand gestoßen; so in Paraguay, wo einige Führer im Rahmen der Transformation nur deshalb eine wichtige Rolle spielen konnten, weil sie sich gegen ein Modell aussprachen, von dem sie behaupteten, es könne nur „Not und Isolation" mit sich bringen. 1

Der Diskurs des ermordeten Vizepräsidenten Argana basierte auf der nationalen Isolation und der Verstärkung des Nationalismus in Paraguay. Mit diesem Gedan-

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Das Konzept der Souveränität wird immer unbedeutender und verändert sich zudem ständig; aber es ist noch keine Alternative in Sicht, die deutliche erklären könnte, welche Chancen die Integration von Nationen bietet, die zwar in Reden der Politiker als Ausweg gepriesen wird, aber in der Praxis noch lange nicht verwirklicht ist. Die schwierige Situation, in der sich der Mercosur derzeit befindet, bestätigt diese Zweifel. Die neuen Führungsfiguren, die inmitten dieses wirtschaftlichen und politischen Chaos auftreten, haben auch keine andere Antworten parat als in einen Diskurs der Isolation zu flüchten, der ihnen hilft, die Macht an sich zu reißen. Dennoch haben sie später kein Problem damit, ihre im Wahlkampf präsentierten Vorstellungen gegen einen unbarmherzigen Pragmatismus auszutauschen, der oft ein größeres Durcheinander und Chaos provoziert als jenes, das sie anfänglich zu kontrollieren versprachen. Die gesellschaftlichen Konsequenzen des Zerfalls der alten wirtschaftlichen und politischen Ordnung sind mehr als offensichtlich. Die Armut der Region hat in alarmierendem Maße zugenommen, was einige wichtige Politiker zu der Feststellung führte, dass Lateinamerika zwar demokratischer denn je, aber auch ärmer denn je ist. In Paraguay zum Beispiel ist der Anteil der Armen auf 40% der Bevölkerung gestiegen und findet in der Landflucht seinen grausamsten und drastischsten Ausdruck (Censo Nacional 1992). Ein Großteil der Bevölkerung hat heute nach den langen Jahren der Diktatur den Eindruck, die Demokratie könne keine Antwort auf die zunehmende Armut finden, und beginnt daher, sich nach der Diktatur zurück zu sehnen, unter der es zwar weniger Freiheiten gab, aber „man wenigstens etwas zu essen hatte und ruhig schlafen konnte"2. Es verwundert also nicht, wenn messianische Anführer wie der General Oviedo einen fruchtbaren Boden vorfinden, auf dem sie ihre autoritären Gedanken hegen können, und versuchen, die Macht auf demokratischem Weg an sich zu bringen. Ihre apokalyptische Botschaft bewirkt, dass viele bei dieser Art von Führungsges-

ken unterstützte er den Generalstreik am 4. Mai 1994, in dessen Verlauf er in einer Rede den Austritt seines Landes aus der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur forderte, weil die Mitgliedschaft den nationalen Interessen schade. Hierauf beruht im wesentlichen der Diskurs der Nachfolger Stroessners, wie er zunächst von Argana und dann auch von den Anhängern Oviedos geführt wurde, die keinen Widerspruch darin sahen, so zu argumentieren und sich gleichzeitig damit zu brüsten, am Militärputsch beteiligt gewesen zu sein, der Stroessner 1989 absetzte.

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talten Zuflucht suchen, die Reichtum und Glück versprechen, sobald sie an die Macht kommen.3 Die offensichtlichen wirtschaftlichen Probleme, die sich in Paraguay in einer viel zu geringen Wachstumsrate von unter 2,5% in den letzten 15 Jahren und einem Rückgang der Wirtschaftsentwicklung von 0,5% in 1998, 0,4% in 1999 sowie 0,3% im Jahr 2000 ausdrücken, hat eine Verarmung der Bevölkerung zur Folge, die in der gleichen Zeit um durchschnittlich 3% jährlich angestiegen ist. Der Mangel an neuen Arbeitsplätzen für Jugendliche, von denen sich jährlich 70.000 zum Heer der Arbeitsuchenden gesellen, hat zu großer sozialer Ungerechtigkeit sowohl auf dem Land, als auch in den Städten geführt. Viele sind in nahegelegene Großstädte wie Buenos Aires abgewandert, was die argentinische Regierung vor dem Hintergrund der schwierigen Wirtschaftskrise im eigenen Land dazu bewegt hat, die Einwanderungsbedingungen zu verschärfen. Die Krise in Paraguay wird noch dadurch genährt, dass die Hauptexportprodukte wie Baumwolle und Soja auf dem Weltmarkt immer niedrigere Preise erzielen, was sich direkt auf die 400.000 Beschäftigten in der Textilindustrie im Landesinneren auswirkt. Für eine Bevölkerung von 5,5 Millionen Menschen, eine Volkswirtschaft, die abhängig ist von Produkten, welche auf ihrem Weg von einem Nachbarland ins andere durch Paraguay transportiert werden, und mit dem Preisverfall bei den Agrarprodukten sind die wirtschaftlichen Aussichten äusserst deprimierend und es gibt nicht viele Alternativen. Der Umstand, dass der Staat der größte Arbeitgeber des Landes ist, der insgesamt 178.000 Menschen im öffentlichen Dienst beschäftigt, gibt auch nicht viel Hoffnung in einer Zeit, in der die Tendenz weltweit in Richtung Privatisierung geht (Telekommunikation, Wasser, Strom, Eisenbahn); Verwirrung und Angst in der Bevölkerung nehmen dadurch eher noch weiter zu. Diese Staatsangestellten sind in ihrer Gesamtheit der Co/orado-Partei verpflichtet, die seit 1947 das Land ununterbrochen regiert hat. Weiterhin für diese Partei zu stimmen, heißt für die Angestellten im öffentlichen Dienst, ihre Arbeitsplätze zu erhalten, auch wenn sich dadurch gleichzeitig die Chancen ver-

Vgl. die Rede des Richters des Oberen Gerichtshofs Raul Sapena Brugada von 1998 anlässlich der Vorstellung eines Buches über Folter und Verfolgung unter dem Siroeriner-Regime.

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ringern, die Produktionsprozesse zu erneuern, deren Lethargie sich an den negativen Wachstumszahlen ablesen lässt. Der Diskurs zugunsten von Veränderung fällt sehr schwer in einer Gesellschaft, die als „extrem konservativ" bezeichnet wird (Censo Nacional 1992) und die nicht in der Lage ist, ihre politische Elite zu veranlassen der Demokratie neue Möglichkeiten zu eröffnen und gleichzeitig die nostalgische Sehnsucht nach autoritären Herrschaft zu beenden, welche die noch schwächliche Demokratie seit dem Staatsstreich gegen Stroessner 1989 täglich erneut bedroht. Das Land weigert sich nach wie vor, in dem Projekt Mercosur die Möglichkeiten zu sehen, die es vielleicht einmal bieten kann. Nicht wenige sehen statt dessen die Wirtschaftskrise als eine Folge des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integrationsprozesses, der mit dem Abkommen von Asunción am 26. März 1991 begann. Nur als eine Information am Rande soll hier kurz erwähnt werden, dass in den nenziger Jahren die Güter, die allein durch Ciudad del Este transportiert wurden, einen Wert von 10 Milliarden Dollar jährlich hatten, was dem Land Einnahmen in Höhe von 7% bescherte — während gleichzeitig ein Schmuggelnetz entstand, das die staatlichen Mechanismen zur Verhinderung des Schmuggels durch Korruption außer Kraft setzte. Die großen Veränderungen in der Weltwirtschaft überraschten Paraguay zu einem Zeitpunkt, als das Land sehr stark von seiner inneren Transformation vereinnahmt war. Die doppelte Belastung der internen Modernisierung und der Anpassung nach außen an die „neue Weltordnung" verschaffte der jungen Demokratie in ihrer ersten Entwicklungsdekade große Probleme. Die von der Gesellschaft geforderten notwendigen Veränderungen wurden durch diese Doppelbelastung stark gebremst. Die etablierten politischen Führungspersonen waren nicht in der Lage die Veränderungen zu fördern und die neu entstehenden Führungspersönlichkeiten waren dazu noch zu schwach.

Ffihrungspersonal für Krisenzeiten Während der langen Übergangszeit zur Demokratie entstammte die Mehrheit der politischen Führungsfiguren noch der „alten Schule". Der erste war Andrés Rodríguez, enger Mitarbeiter Stroessners, der im Februar 1989 den

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Staatsstreich gegen seinen Schwager plante und durchführte, sich dann aber auf politische Veränderungen beschränkte und die für das Land notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Transformationen unterliess. Die politische Öffnung ermöglichte aber immerhin eine Reform der Wahlordnung und der Verfassung. So wurden die Direktwahl und eine neue Form der Mandatsverteilung im Verhältnis zur Bevölkerung eingeführt und neue Parteien konnten sich zur Wahl stellen. Schon bei den Kommunalwahlen 1991 war zu beobachten, wie sich neu auftretende Führungsfiguren einen Platz in den traditionellen Parteien erkämpften, die diese Entwicklung hinnehmen mussten, sowie auch in den sozialen Bewegungen, die sich zu neuen Parteien entwickelten. Diese neuen Parteien errangen in manchen Gemeinden und Städten bedeutende Siege, auch in der Hauptstadt Asunción. Die neuen Führungsfiguren kamen aus dem Umfeld der Bürgerinitiativen, die gegen die Diktatur gekämpft hatten, aus Gewerkschaften und Studentenbewegungen. Das beste Beispiel für eine dieser neuen Führungspersonen ist Carlos Filizzola. Während der letzten Jahre der Diktatur leitete er die Studentenstreiks von der medizinischen Fakultät aus, wo er sich in einem Krankenhaus für Arme verschanzte, das gleichzeitig als Schulkrankenhaus diente und in dem das Bild der Not und Verwahrlosung mehr als deutlich war. Filizzola wurde unter Stroessner von dem Regime verfolgt, zweimal zu Gefängnisstrafen verurteilt und war nach dem Sturz des Diktators eine der lautesten und fundiertesten Stimmen auf der politischen und gesellschaftlichen Bühne Paraguays. So war es nicht verwunderlich, dass nach den Wahlen 1991 unter den neuen Politikern mehrere Ärzte zu finden waren. Die medizinische Fakultät war eines der Zentren des Widerstands gegen die Diktatur und die Bevölkerung sah die Ärzte als diejenige Berufsgruppe, die Unglück und Missstände aus nächster Nähe miterlebte. Filizzola gewann die Wahl im Mai 1991 gegen den offiziellen Kandidaten und zusammen mit vielen anderen Ärzten in anderen Gemeinden, zum Beispiel dem heutigen Vizepräsidenten des Landes, Julio César Franco, zeigten sie, wie die neue innere Dynamik der Parteien funktionierte. Die neuen Führungspersonen des Landes entstanden aus dem Zentrum der sozialen Probleme, nämlich dem Gesundheitswesen und den gesellschaftlichen Bewegungen, die dem Diktator kritisch gegenüber gestanden hatten. Interessanterweise wurden die Dissidenten der Colorado-Partei, die eine genauso wichtige Rolle gespielt hatten und sich nach der Wende zur De-

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mokratie erneut der Politik zuwandten, von den Wählern nicht so wohlwollend behandelt. Sowohl bei den Vorwahlen innerhalb der Partei als auch bei den späteren Parlamentswahlen auf nationaler Ebene wurden sie von der Stimme des Volkes nicht berücksichtigt und gerieten innerhalb der Partei in Vergessenheit. Der wichtigsten Oppositionspartei zu Zeiten der Diktatur, den Liberalen, und ihrem Führer Domingo Laino brachte die politische Öffnung auch keine breite Anerkennung. Seine Partei errang zwar einige Siege bei den Kommunalwahlen, war aber nicht dazu in der Lage, außer dem Parteiführer andere neue Politiker hervorzubringen, und ihre kritische Haltung unter Stroessner reichte nicht aus, die Partei zu einer Alternative zu den Colorado-Regierungen zu machen. Der Diskurs der Colorado-Partei zu den Wahlen von 1991 war voller Drohungen, die die junge Demokratie verängstigten. Dadurch wurden drastische Entscheidungen, die das demokratische System eventuell aufs Spiel gesetzt hätten, verhindert. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Partei sich nach dem Verlust wichtiger Gemeinden und Städte 1991 gegenüber neuen Strömungen innerhalb der Gesellschaft öffnete und dadurch bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung 1992 einen großen Sieg erzielte. Trotz der Mehrheit der Colorado-Partei wurde anhand der ersten in Freiheit und Demokratie verabschiedeten Verfassung deutlich, dass die Partei nicht mehr die absolute Kontrolle in der Hand hatte. Als erste unmittelbare Konsequenz erschienen auf der politischen Szene neue Persönlichkeiten, wie zum Beispiel die Gruppe der Unternehmer aus dem Bauwesen, die mit der Konstruktion von Wasserkraftwerken so viel Geld verdient hatten, dass sie eigene Kandidaturen finanzieren und bei den Gemeindewahlen, bei denen der wirtschaftliche Faktor eine große Rolle spielt, einige Siege erzielen konnten. Zu dieser Gruppe gehörte auch der Ingenieur Juan Carlos Wasmosy, der zunächst auf betrügerische Weise die parteiinternen Vorwahlen im Dezember 1992 gegen Dr. Luis María Argana gewann, und dann mit Unterstützung seiner Colorado-Partei gegen Domingo Laino bei den Parlamentswahlen 1993 siegte. Die Möglichkeit, die immer teurer werdenden Kampagnen zu den internen und den öffentlichen Wahlen aus eigener Tasche zu finanzieren, erklärt den Aufstieg vieler neuer Führungsfiguren in Paraguay nach der Regierung von Andrés Rodríguez. Allerdings besteht ein großer Unterschied zwischen den

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Wahlen auf nationaler Ebene und den Kommunalwahlen. Große Schwierigkeiten gibt es zudem für den Aufstieg neuer Führungsfiguren innerhalb der traditionellen Parteien, da die internen Kontrollapparate mit betrügerischen Methoden viele Politiker von einer Kandidatur zurückhalten. Das Phänomen des erfolgsgekrönten reichen Geschäftsmanns, der seine eigene Kampagne finanziert, lässt sich in Paraguay anhand einer dritten Partei, Encuentro Nacional, beobachten. Bei den ersten Wahlen, zu denen sie antrat, erzielte sie 1993 immerhin einen nicht zu verachtenden Stimmenanteil von fast 20%. Ihr Kandidat Guillermo Caballero Vargas war allerdings nicht sehr zufrieden mit diesem Ergebnis. Die späteren wirtschaftlichen Probleme seiner Firmen in der Landwirtschaft zwangen ihn dann dazu, sich wieder mehr auf die Genesung seiner Unternehmen zu konzentrieren als auf den Versuch, das über 100 Jahre alte Zweiparteiensystem Paraguays um eine dritte Kraft zu bereichern. Aber trotz der Langsamkeit des Reformprozesses in Paraguay machten neue Führungsfiguren, die aus der Zivilgesellschaft kamen, auf sich aufmerksam. Bei den Kommunalwahlen 1996 in Asunciön beispielsweise erhielt Martin Burt, ein Geschäftsmann, der Kredite für Kleinbetriebe vergab und mit Themen des Umweltschutzes zu tun hatte, zunächst die Unterstützung der Partei Encuentro Nacional, mit der er sich über eine Beteiligung der Bürgerinitiativen an den Listen zu den Bürgermeisterwahlen verständigte. Danach einigte er sich mit dem Kandidaten der Partei, Alfredo Boccia, auf eine Umfrage darüber, wer von den beiden mit mehr Sympathien bei den Wählern rechnen könne. Burt schnitt bei dieser Umfrage besser ab als Boccia und wurde zum alleinigen Kandidaten der Oppositionskoalition bestimmt. Sowohl das postmodern anmutende System der Kandidatenwahl per Umfrage als auch die Herkunft des Kandidaten waren Neuerungen in einem Land, das bis dahin in manchen Regionen noch vorfeudale soziale Strukturen aufwies. Ebenso originell wie der Mechanismus der Kandidatenauswahl war die Herkunft der neuen Führungsperson, mit deren Hilfe eine Stiftung die Unterstützung eines Teils der Wählerschaft gewann und eine Repräsentation in der Verwaltungsstruktur des Staates erlangte. Burt wurde zum Bürgermeister von Asunciön gewählt. Doch in seiner Amtszeit wurde deutlich, welche Konflikte und Verwirrungen von einer Führungsfigur provoziert werden, die über keinerlei Erfahrung in Bezug auf die für die öffentliche Verwaltung so notwendige politische Verhandlungs- und Kompromissfähigkeit verfügt.

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Die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise, die das Land 1995 erschütterte, brachte die Bürger dazu, Führungspersonen zu wählen, welche im Namen des Volkes das demokratische System dafür bestrafen wollten, dass es nach ihrer Meinung nicht in der Lage war, die schweren sozialen Probleme in Folge des Zusammenbruchs des Bankensystems in Paraguay zu lösen. Das Auftreten messianischer Führungsfiguren wie zum Beispiel General Oviedo beweist, wie hoch das Ausmaß an Enttäuschung, Verstimmung und Angst eines großen Teils des Landes war. Oviedo wurde 1997 zum Kandidaten der Colorado-Paitei bestimmt und machte dann seinen bisherigen Vizepräsidenten Raul Cubas nach den Wahlen im Mai 1998 zum Präsidenten.4 Diese „negative" Führung, d. h. die Führung, die aus dem Vertrauensverlust der Wähler gegenüber den traditionellen Politikern entstanden ist, führte zu einer schweren politischen Krise, die in der Ermordung des Vizepräsidenten Argana gipfelte (der dieses Amt seit der Verurteilung Oviedos wegen des Putsches vom April 1996 bekleidete) und mit dem Abdanken der Regierung Cubas im März 1999 vorerst beendet zu sein scheint. Da es noch sehr schwierig ist, allgemeinen Charaktereigenschaften zu nennen, mit denen sich das Profil der neuen Führungsfiguren in der Zeit der Demokratie Paraguays einheitlich beschreiben Hesse, müssen wir uns mit ein paar Faktoren begnügen, die in unterschiedlichen Kombinationen immer wieder auftreten: der Kenntnis darüber, wie der interne Apparat der Partei mit Hilfe von Betrug und Erpressung manipuliert werden kann, um den Status quo zu erhalten; dem Ausnutzen der Verzweiflung der Bevölkerung über das Fehlen von Politikern, die das Land aus der Krise fuhren könnten; und nicht zuletzt der Herkunft der Führer aus sozialen Bewegungen, Privatunternehmen und sogar Stiftungen und regierungsunabhängigen Organisationen, die im richtigen Augenblick die passende Rede halten oder das Richtige tun und dadurch die Gunst der Wähler, insbesondere auf kommunaler Ebene, gewinnen. Auch die Umstände beeinflussen den Typ der Führungspersönlichkeit. Während in den ersten Jahren der Demokratie Personen Erfolg hatten, die ihren Mut durch Kritik am Regime bewiesen hatten, besonders innerhalb der neuen Parteien und sozialen Bewegungen, spielte danach der wirtschaftliche Faktor die entscheidende Rolle bei der Auswahl der FührungsOviedo konnte aufgrund einer Anklage wegen des von ihm angefühlten Putschversuches von 1996 das Präsidentenamt nicht übernahmen (Anm. des Hrsg.).

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figuren durch die Parteien, ehe in den letzten Jahren ein messianischer oder negativer Typ von Führungspersönlichkeit auftrat, der zum Sprachrohr der Bevölkerung und ihrer Unzufriedenheit mit den demokratischen Strukturen wurde und die Unzulänglichkeiten der Demokratie teilweise mit Argumenten und teilweise mit extremer Gewaltanwendung, wie in den ersten Monaten 1999, bestrafen wollte.

Die Herkuoft der Führungspersonen Die neuen Führungspersonen treten zunächst, infolge des Mangels an interner Dynamik der Parteien, außerhalb dieser Organisationen auf, bevor sie von ihnen vereinnahmt werden. Die fehlende Dynamik macht die Parteiorganisationen unattraktiv für die Diskussion der Themen, die von nationalem Interesse sind. Die „neuen" Führungsfiguren sind meist entweder die Nachkommen früherer bekannter Persönlichkeiten oder werden aufgrund ihrer Finanzstärke in die Parteien aufgenommen, um die teuren Wahlkampagnen bezahlen zu können, wie zum Beispiel Angel Barchini, der bei den Kommunalwahlen 1996 offizieller Kandidat der Partei war. Auch lässt sich eine deutlich höhere Dynamik bezüglich der Diskussion progressiver Werte bei den Kommunal- und Gouverneurswahlen feststellen als bei den Wahlen zur Abgeordnetenkammer und zum Senat. Das Präsidentenamt ist nach wie vor das Monopol der traditionellen Parteistrukturen und die hohen Kosten haben bisher eine unabhängige Kandidatur bei den Präsidentenwahlen verhindert. In Bezug auf die Rekrutierung neuer Führungspersonen auf kommunaler Ebene und auf die Auswahl der Kandidaten innerhalb der Parteien hat sich eine Tendenz gezeigt, Personen, die nicht das Parteiestablishment vertreten, den älteren Parteirepräsentanten vorzuziehen, was innerhalb der Opposition noch häufiger der Fall war als in der Colorado-Partei. Die Jugendorganisationen der Parteien haben sich bei der Förderung neuer Politiker als nicht sehr nützlich erwiesen. Oft haben die Parteien sich erst dazu hinreissen lassen, ihren Nachwuchs aufzustellen, als sie merkten, dass ihre jeweilige Konkurrenz mit einem Kandidaten warb, dessen Jugend neben seinen anderen Eigenschaften genug Aufmerksamkeit unter der Wählerschaft erregte. Aber diese Entwicklung ist nur punktuell und nicht die Folge einer gezielten Nachwuchsforderung. Sie lässt sich nicht auf das System der Vergabe

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von wichtigen Ämtern innerhalb der Parteistruktur verallgemeinem. Es ist vielmehr so, dass die alten Parteiführer von der Gesellschaft anerkannte Personen außerhalb der Parteistrukturen gesucht und sie mit Listenplätzen und Kandidaturen für Kommunalwahlen als Köder in die Partei gelockt haben. Das hat zu einer gewissen Dynamik bei der Förderung einer neuen Führung auf kommunaler Ebene geführt. Andere gesellschaftliche Einrichtungen wie Kirche, Unternehmerverbände, Handelskammern und Vereine bilden den Hintergrund, aus dem die Parteien ihre neuen Führungspersönlichkeiten rekrutieren, da diese das Vertrauen der Bürger im Gegensatz zu den traditionellen Organisationen noch nicht verspielt haben. Beachtung sollte auch der Rolle geschenkt werden, die die Familienzugehörigkeit für die Aufstiegschancen innerhalb der Parteien spielt. In konservativen Gesellschaften wie der Paraguays sind die Parteien normalerweise die Verlängerung der Familien. Daher ist es nicht selten, dass in den Personallisten der öffentlichen Verwaltung wiederholt die selben Familiennamen erscheinen. In diesem Umstand liegt einer der Gründe für die Unzufriedenheit breiter Schichten und die Suche nach neuen gesellschaftlichen Bezugspunkten. Gleichzeitig wird aber dadurch auch deutlich, wie schwer die Mechanismen des öffentlichen Dienstes zu verändern sind, um dem Land neue Möglichkeiten zu eröffnen. Auch der Verruf, in den die Politiker in moralischer und sozialer Hinsicht geraten sind, hält heute viele Menschen davon ab, sich an der Politik und an der öffentlichen Verwaltung aktiv zu beteiligen. Die niedrigen Löhne und die geringe soziale Anerkennung, die jedes öffentliche Amt mit sich bringt, haben dazu beigetragen, dass die Rekrutierung neuer Führungsfiguren meist nicht über den familiären Rahmen hinausgeht, welcher wiederum klare Zeichen von Erschöpfung zeigt, wie an den jüngeren Beispielen deutlich abzulesen ist. Die hohe Anzahl von Verwandten, die sich um jedes öffentliche Amt herum sammeln, zeugt vom Mangel an Dynamik in den Mechanismen der Ämtervergabe, und dies gilt in den kurzen Jahren der Demokratie Paraguays nicht nur für die Colorado-Partei. In Ländern mit geringer demokratischer Tradition ist die Familie der einzige zuverlässige Bezugspunkt, und trotz der Offenkundigkeit der Vetternwirtschaft scheint dieses Thema in der öffentlichen Diskussion nicht die notwendige Präsenz zu erreichen, die es möglich machen würde, dieser Praxis ein Ende zu be-

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reiten. Anstatt die Parteien von innen heraus zu erneuern, fuhrt diese Kombination von wirtschaftlichen Faktoren, gesellschaftlichem Ansehen und auf die Familien beschränktem Vertrauen dazu, dass jede stärkende und belebende Dynamik im Keim erstickt wird.

Der Weg zur Macht Die Möglichkeiten, in Paraguay Zugang zur Macht zu erhalten, sind verschiedene, zeichnen sich aber eher durch Vereinzelung und Unregelmäßigkeit als durch solide einheitliche Strukturen aus. Das bedeutet, dass die gesellschaftliche Dynamik teilweise so stark ist, dass die Parteien sich vor ihr beugen, ohne jedoch ihre innere Struktur anzupassen. Die Notwendigkeit, einen jungen Kandidaten zur Wahl aufzustellen, wird zwar gesehen, aber die Parteien schaffen es nicht, die Mechanismen ihrer Nachwuchsförderung zu erneuern und den Forderungen der Wählerschaft anzugleichen. Sie reagieren ohne zu agieren. Es gelingt den Parteien nicht, im Geföge ihrer Organe den Nachwuchs so auszubilden, dass er erstens in der Lage ist, führende Ämter zu übernehmen, und zweitens der Ideologie der Partei treu bleibt. Wobei letzteres wiederum von sekundärer Bedeutung ist, denn die Parteien haben es vermieden, ihre wirtschaftlichen und politischen Programme inhaltlich den neuen Zeiten anzupassen. So bezeichnet sich zum Beispiel die Colorado-Partei weiterhin als Partei der Landbevölkerung, während die Tendenz der Paraguayaner in die Städte zu ziehen klar auf der Hand liegt.5 Auch der Kongress ist nicht dazu in der Lage, mit Richtungswechseln ideologischer Art oder mit Antworten zumindest auf die wichtigsten Fragen, wie zum Beispiel die Staatsreform, die Privatisierung oder die neuen wirtschaftlichen Herausforderungen, die die Landflucht mit sich bringt, zu reagieren. Angesichts dieser Umstände wissen viele der neuen potentiellen Führungsfiguren nicht, ob der Stimmenzuwachs ihrer Parteien eine Folge der Originalität ihres Programms oder der Dynamik einer Partei ist, die auf der Höhe der Zeit sein will.

Der Bericht zur Volkszählung weist darauf hin, dass die derzeitige Tendenz darauf schließen lässt, dass im Jahr 2006 80% der Bevölkerung in städtischen Gebieten wohnhaft sein wird (Volkszählung 1992).

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Als Folge dieser Probleme hängen die Wege zur Macht im Wesentlichen von drei Faktoren ab: den familiären Beziehungen zu den alten Führungsfiguren, der Finanzstärke zur Deckung der Kosten der Wahlkampagne und den Umständen, die es notwendig machen einen akzeptablen Kandidaten zu präsentieren, der „anders" und in der Lage ist, gegen den Vertreter der anderen Partei zu bestehen. Aufgrund des Mangels an Dynamik und Entscheidungskraft in den Parteien fuhren die Wege zur Macht noch immer über die Treue zum Parteichef oder die bei früheren gemeinsamen Geschäften bewiesene Zuverlässigkeit. Bei den Präsidentschaftswahlen 1998 wurde Raul Cubas vom Exgeneral Oviedo zum Kandidaten bestimmt, weil beide früher verschiedene Geschäfte miteinander gemacht hatten. Wasmosy und seinen Kandidaten Facceti verband eine ähnliche Beziehung durch ihren gemeinsamen Hintergrund als Ingenieure und Bauunternehmer während der Arbeiten am Wasserkraftwerk Itaipü. Laino liess sich in seiner Kampagne von seiner Ehefrau Rafaela Guanes Gondra und seinem Schwager Luis Guanes Gondra unterstützen. Guillermo Caballero Vargas, der Kandidat der Oppositionspartei Encuentro National, setzte mehrere ehemalige Angestellte auf seine Liste, die im Falle des Wahlsiegs zu Senatoren geworden wären. Dieses Verhalten hört bis heute nicht auf, wie man am heutigen Vizepräsidenten Franco sehen kann, der seinen Bruder zum Bürgermeister der Stadt Fernando de la Mora und seine Frau zur Stadträtin und potentiellen Nachfolgerin des Bruders gemacht hat. Die Colorado-Vaitei machte Felix Argana, Sohn des ermordeten Vizepräsidenten, nur deshalb zum Kandidaten, weil, wie auf dem Wahlplakat zu lesen war, ein Argana den anderen Argana ersetzen sollte. Innerhalb der Parteien folgen die Wege zur Macht nach wie vor den Familienbanden oder Geschäftsfreundschaften, aber richten sich nach keinem in der Struktur der Parteien fest verankerten Mechanismus. Auffällig ist in den vergangenen Jahren auch, dass Vertreter von Firmen aus der Baubranche den Zugang zur Macht gefunden haben, da sie über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, um die teuren Wahlkampagnen bezahlen zu können, wie im Fall des ECOMIPA-Konzerns. Sie stehen damit in der Tradition derjenigen Parteien, die in der Vergangenheit auf ähnliche Weise von den reichen Viehbaronen und Großgrundbesitzern finanziert worden waren. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die modernen Unternehmer ihr Vermögen mit öffentlichen Bauaufträgen gemacht haben. Als einziges Beispiel für den enormen Umfang ihrer Gewin-

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ne soll in diesem Zusammenhang die Tatsache erwähnt werden, dass allein die Firma des Ingenieurs und späteren Präsidenten Juan Carlos Wasmosy in einem Zeitraum von 10 Jahren insgesamt über 500 Millionen Dollar am Wasserkraftwerk Itaipü verdiente. Wenn man sich vor Augen hält, dass eine Kampagne für den Wahlkampf vor Präsidentschaftswahlen in Paraguay in den neunziger Jahren nicht mehr als 20 Millionen Dollar kostete, wird deutlich, welche bedeutende Rolle ein solches Vermögen in einem armen Land spielt.

Unlauterer Wettbewerb An die Einfuhrung der Direktwahl durch das neue Wahlgesetz von 1990 knüpfte die Gesellschaft Paraguays eine ganze Reihe von Hoffnungen. So wurde zum Beispiel erwartet, dass unabhängige Kandidaturen außerhalb der Parteien begünstigt würden, um auch eine Öffnung der Parteistrukturen zu fordern. Dieser Effekt wurde jedoch dadurch eingeschränkt, dass die neuen Kandidaten über bedeutende Geldmittel verfugen mussten, um die Hürde der parteiinternen Vorwahlen nehmen zu können. Die Parteiführung verfügte außerdem, dass die Kandidaten nicht nur die Kosten ihrer Kandidatur selbst übernehmen, sondern darüber hinaus mit Finanzinstituten einen Vertrag abschließen mussten, der festhielt, wieviel sie später, nach ihren Siegen in den internen und den allgemeinen Wahlen, als Senator, Abgeordneter oder Gouverneur verdienen würden. So wurde unglücklicherweise eine Art der Demokratie geschaffen, die in erster Linie vom Geld abhängt, so dass es nicht überrascht, dass es im Kongress häufig zu Korruptionsfällen kommt. Um diese Umstände zu korrigieren, wird zur Zeit die Möglichkeit einer Änderung des Wahlgesetzes diskutiert. Die Einfuhrung eines Systems der offenen Listen soll dazu fuhren, das Wahlsystem dynamischer zu gestalten und die Politiker der Bevölkerung näher zu bringen. Dem Wähler soll die Möglichkeit gegeben werden, die Erfüllung der während des Wahlkampfes gemachten Versprechungen einzufordern. Nach dem bisherigen System sind die gewählten Vertreter der 17 Bezirke {departamentos; die Zahl der Sitze pro Bezirk richtet sich nach der Einwohnerzahl) allein ihrem jeweiligen Parteiführer verantwortlich, dem sie ihren Sitz nach der Zahlung eines gewissen Betrags zur Deckung der Wahlkampfkosten zu verdanken haben.

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Daraus folgt, dass der Wettbeweib um Posten in der Exekutive vor allem von wirtschaftlichen Faktoren abhängt, insbesondere auf nationaler, in geringerem Ausmaß aber auch auf kommunaler Ebene. Auf beiden Ebenen jedoch zeigt sich, welchen Einfluss die Nachteile des Systems auf die Parteien haben, die ihre Fähigkeit zur Entwicklung einer nationalen Politik über die inneren Streitigkeiten verlieren. Sollte das geplante System der offenen Listen wirklich eingeführt werden, bleibt abzuwarten, ob es wirklich in der Lage ist, die Parteien zu stärken, oder ob sie dadurch erst recht geschwächt werden. Da die Bürgermeister- und Gemeinderatswahlen zeitlich nicht mit den Kongress- und Präsidentschaftswahlen übereinstimmen, nutzen viele der kommunalen Kandidaten die Umstände eines billigeren Wahlkampfes zur Mobilisierung der lokalen Bevölkerung und zum Aufbau einer neuen personenzentrierten Führung sowie im Falle ihrer Wahl das spätere Amt zur Äußerung von Kritik an der Zentralregierung. Es ist zu beobachten, dass die Bedingungen einer repräsentativen Demokratie auf kommunaler Ebene viel eher erfüllt werden als auf nationaler Ebene, trotz der zahlreichen Beispiele fehlenden Kontakts zwischen Bevölkerung und gewählten Politikern auch in den Gemeinden. Die große Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren hat zu einem Mangel an Verantwortungsbewusstsein bei den gewählten Politikern geführt, denn diese sehen die verschiedenen Bereiche der Bevölkerung häufig lediglich als Handelsware, die während des Wahlkampfes ge- und verkauft werden kann. Aus den entsprechenden Äußerungen der Kandidaten spricht nicht nur Zynismus, sondern auch eine starke Amoralität, wodurch die für eine Demokratie notwendige gesellschaftliche Dynamik stark eingeschränkt wird. Viele Bürger weigern sich aufgrund des korrumpierenden Faktors, den die Bedeutung des Geldes bei den Wahlen mit sich bringt, an den Wahlen teilzunehmen. Trotz der zu beobachtenden negativen Aspekte haben die Jahre des Übergangs zur Demokratie in Paraguay gezeigt haben, dass die Dynamik bei den Prozessen der Verteilung öffentlicher Ämter zumindest auf kommunaler Ebene langsam zugenommen hat. Innerhalb der Parteien ist die Treue aufgrund ideologischer Gemeinsamkeiten abgelöst worden durch wirtschaftliche Gesichtspunkte und der Respekt gegenüber dem Kandidaten durch seine Partei ist nur noch gewährleistet, wenn seine finanzielle Sol-

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venz sichergestellt ist, zum Beispiel in Form von finanzstarken Alliierten, die für die Kosten seines Wahlkampfes aufkommen, als Gegenleistung für die wirtschaftlichen Vorteile, die die späteren guten Beziehungen zum Staat im Falle seiner Wahl mit sich bringen. Schließlich ist in Paraguay nach wie vor der Staat der größte Arbeitgeber und das Unternehmen, welches das meiste Geld bewegt.

Vom Speziellen zum Allgemeinen Die Verfassung von 1992 legte fest, dass die künftige Staatsform eine „einheitliche dezentralisierte" Republik sein sollte, was jedoch aufgrund der Zweideutigkeit der Definition und wegen großer wirtschaftlicher Probleme bei der praktischen Umsetzung zu Schwierigkeiten geführt hat. Das Ziel bestand darin, den alles kontrollierenden Staat in eine repräsentative Republik umzuwandeln, die sich auf angemessene Weise der Verwaltung des Landes widmet und dabei insbesondere den Belangen der ländlichen Bevölkerung mehr Aufmerksamkeit schenkt. Es wurden jedoch viele Fehler gemacht. Entgegen der guten Absichten wurde zum Beispiel nicht die unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der einzelnen Bezirke beachtet, ebenso wenig wie der hohe Grad der Abhängigkeit der Bezirke von der Zentralverwaltung oder die Willkür bei der Verteilung von staatlichen Geldern. Die Einführung der Verwaltungsebene der so genannten gobernaciones nach föderativem Muster zur Vertiefung der Dezentralisierung führte zudem zu einer Benachteiligung der Kommunen. Die von der Verfassung vorgeschriebene Dezentralisierung begann genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Kommunen anfingen, als Förderer der Beteiligung der lokalen Bevölkerung tätig zu werden. Es war gerade erst ein Jahr her, dass zum ersten Mal die Bürgermeister in Paraguay durch Direktwahl bestimmt worden waren, da wurde mit den gobernaciones eine neue Institution ins Leben gerufen, deren Abgeordnete 1993 zum ersten Mal gewählt werden mussten. Seitdem bestehen die beiden Institutionen neben einander her, ohne dass bisher klar definiert ist, wie sich die Vermittlerrolle der gobernaciones zwischen Region und Zentralverwaltung konkret gestaltet. Darüber hinaus ist es den neu entstandenen Gemeinden nicht gelungen, sich in ihrer Rolle als dezentralisierende, bürgernahe

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Einrichtung mit eigenen Einnahmen aus der Immobiliensteuer zu konsolidieren. Der Grund für die Störung des Konsolidierungsprozesses der Kommunen liegt in den gobernaciones. Die geplante Dezentralisierung, die darauf abzielte, die große Distanz zwischen zentralistischem Staat und Bevölkerung zu verringern, wird durch sie stark behindert. Die Ineffizienz des Staates bezüglich der Entwicklung von Projekten zur Lösung der Probleme des Landesinnern wird durch sie nicht aufgehoben. Aufgrund der unzureichenden Konsolidierung der Gemeinden sind diese wiederum nicht in der Lage, die erwarteten neuen Führerfiguren hervorzubringen, und sie schaffen es auch nicht, sich auf Bezirksebene zu organisieren und ihre Belange über ihre Bezirksabgeordneten in den Kongress einzubringen. Das Ergebnis ist eine unkoordinierte Dreiteilung der Verwaltung in Bezirk, gobernación und Gemeinde, die verhindert, dass die regionalen und lokalen Interessen bis ins Zentrum der Diskussion und der Entscheidungsprozesse vorstoßen. Anstatt die Wirksamkeit und den Grad der Repräsentation des ohnehin schon schwachen demokratischen Systems zu erhöhen, wurde lediglich die Effizienz der Institutionen weiter eingeschränkt. Es gibt nur wenige Beispiel für das Erreichen eines wahren Konsenses und für eine wirksame Arbeit der öffentlichen Verwaltung. Eins davon ist das des früheren Bürgermeisters Julio César Franco, der aus den Kommunalwahlen 1991 siegreich hervorging und seine effiziente und wenig kritisierte Amtsführung dazu nutzte, sich als eine nationale Führungsfigur zu projezieren. Sein Weg führte dann über das Amt eines Senators und über den Sieg bei den parteiinternen Vorwahlen nach dem Debakel bei den Wahlen 1998 bis ins Amt des Vizepräsidenten, das er seit 2000 innehat. Ein Jahr zuvor war dieser Posten nach der Ermordung von Luis María Argana frei geworden. Franco ist nicht nur ein Beispiel für einen erfolgreichen Politiker, sondern gleichzeitig das beste Beispiel für den gelungenen Sprung von der lokalen in die nationale Politik. Ein weiteres Beispiel für einen solchen Wechsel, aber leider nicht mit dem selben Erfolg, ist das des Arztes Carlos Filizzola. Der frühere Bürgermeister der Landeshauptstadt Asunción ließ sich von der Liberalen Partei 1998 als Kandidat für die Vizepräsidentschaft aufstellen, musste jedoch an der Seite des Präsidentschaftskandidaten Domingo Laino eine deutliche Niederlage einstecken.

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Der Grund für den Erfolg der politischen Führungsfiguren beim Sprung von der lokalen auf die nationale Ebene liegt meist in einer erfolgreichen und effizienten Amtsführung. Unter den jungen Politiker, die diesen Schritt unternommen haben, konnten in der Mehrzahl nur diejenigen Erfolg verbuchen, die es vorher geschafft hatten, bei den Wählern den Eindruck zu hinterlassen, dass sie gut arbeiten, ehrlich sind und dazu fähig, Lösungen für die Probleme der Gemeinschaft zu finden und dabei einen Konsens im Gemeinderat zu erzielen. So mancher Anwärter auf einen Posten in der nationalen Politik hat sich jedoch durch seinen Ehrgeiz von den wesentlichen Punkten der Lokalpolitik ablenken lassen. Dazu kommt, dass es die Parteien häufig nicht schaffen, den Erfolg eines ihrer Mitglieder als Bürgermeister gebührend zu unterstützen. Ganz im Gegenteil sehen sich die Parteiführer oft durch einen solchen Erfolg bedroht und fürchten um die Stabilität der Partei. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet ist die Wahl Francos zum Vorsitzenden der wichtigsten Oppositionspartei ein Grund zur Hoffnung, dass sich in Zukunft die Zusammenarbeit zwischen Parteiführung und Bürgermeistern wieder verbessern wird. Die Anerkennung der guten Amtsführung der Bürgermeister durch die eigene Partei würde sich auch positiv auf die Wahlen auf nationaler Ebene auswirken. Leider gab jedoch Franco sein Amt in der Führung der Liberalen Partei wieder ab, als er das des Vizepräsidenten übernahm. Dadurch ist nur schwer zu verfolgen, wie sich der Aufstieg eines ehemaligen Kommunalpolitikers auf die interne Struktur der Partei auswirken kann.

Die Wahlen der politischen Führung Einer der am meisten kritisierten Aspekte der Demokratie Paraguays ist die Schwierigkeit der Parteien, gerechte Wahlmechanismen festzulegen, die dazu in der Lage wären, den Willen der Wähler zu respektieren. Wenn es darum geht, neue Kandidaten zu fordern, gesellt sich diese Problematik erschwerend zu der Frage des Geldes hinzu. Nach dem gültigen Wahlgesetz sind die Parteien selbst dafür verantwortlich, wie sie ihre internen Vorwahlen organisieren. Diese Regelung hat zu geringer Transparenz geführt und hält viele Bürger davon ab, sich aktiv an der Parteipolitik zu beteiligen. Keine der Führungen der drei großen Parteien hat sich daher in den elf Jahren der Demokratie dem Vorwurf des Betrugs bei den Vorwahlen entziehen können. Genau hier liegt der Grund dafür, dass es in manchen Partien zwar

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aussichtsreiche junge Führungsfiguren gibt, diese aber keine Chance erhalten, die Hürde der Vorwahlen zu überwinden. Dem Kongress ist der Vorschlag vorgelegt worden, diesen Abschnitt des Wahlgesetzes zu ändern. Die Mitglieder des Nationalen Wahlrats könnten zum Beispiel die Überwachung der Vorwahlen in den verschiedenen Parteien übernehmen. Eine solche Regelung würde gleichzeitig mit den Hindernissen für den Aufstieg neuer Führungsfiguren Schluss machen und die Korruption innerhalb des demokratischen Systems beenden. Da eine solche neue Regelung aber noch nicht verabschiedet worden ist, waren bisher sämtliche internen Vorwahlen vom Vorwurf des Wahlbetrugs begleitet, was wiederum automatisch zur Kritik an der parteiinternen Demokratie allgemein fuhrt. Häufig ist der Eindruck geweckt worden, dass die Parteiführer eigentlich gar nicht dazu da sind, eine bestimmte Politik durchzusetzen oder den Kontakt zu den Wählern zu erhalten, sondern lediglich dazu dienen, den Wahlapparat zu betätigen und die jeweiligen Kandidaten zu bestimmen. Daraus erklärt sich auch der Ehrgeiz der Parteipolitiker, dem Wahlrat der Partei anzugehören. Die Mehrzahl der politischen Krisen in Paraguay entstehen als Konsequenz der betrügerischen Machenschaften der Parteien, allen voran der ColoradoPartei. So erkannte zum Beispiel die Regierung das Ergebnis der parteiinternen Wahlen im Dezember nicht 1992 an. Mit Unterstützung eines Teils des Militärs unter Führung des Generals Oviedo zweifelte die Regierung an der Rechtmäßigkeit der Wahl Arganas, bis dieser schließlich durch Juan Carlos Wasmosy, den späteren Präsidenten, ersetzt wurde. Fünf Jahre später drehte sich dann der Spieß um. Diesmal unterlag Argana bei den Vorwahlen dem General, weigert sich aber, die Ergebnisse anzuerkennen und schrak nicht einmal davor zurück, seinem eigenen Wahlrat vorzuwerfen, er arbeite den Interessen Oviedos zu. Es ist dabei durchaus bemerkenswert zu beobachten, dass zwar der Wahlrat über die Jahre mit zunehmender Vertrauenswürdigkeit die Wahlen überwacht, die Parteien jedoch absolut unfähig zu sein scheinen, die Wahlergebnisse anzuerkennen. Dem Nachwuchs wird dadurch jede Lust genommen, sich bei den Vorwahlen als alternative Kandidaten aufstellen zu lassen.

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Die Annäherung des Kongresses an die Belange der Bevölkerung Eine der Absichten der Verfassung von 1992 bestand in der Dezentralisierung, die mit den bereits erwähnten Einschränkungen eingeführt wurde. Entsprechend schreibt das neue Wahlgesetz ein Verhältnissystem sowie die Verteilung der Abgeordneten auf die Verwaltungsbezirke des Landes fest. Die 80 Sitze des Abgeordnetenhauses verteilen sich auf die 17 Bezirke entsprechend ihrer Einwohnerzahl und die Hauptstadt stellt einen getrennten Wahlbezirk dar. Mit dieser Neuregelung wurde auch auf eine bessere Integration der gesamten Nation gehofft, indem den früher häufig vernachlässigten Themen des Landesinnem mehr Beachtung geschenkt wird. Das wurde auch damit erreicht, dass nach dem neuen Wahlgesetz die Abgeordneten aus den jeweiligen Regionen kommen müssen und nicht, wie früher, von der Parteiführung auf die Liste irgend eines Bezirks gesetzt werden konnten. Andererseits beinhaltete das neue Gesetz aber auch Schwierigkeiten, die seine Durchsetzung komplizieren sollten. Diese bestehen einerseits in der Kostenregelung, die dazu führt, dass viele der Kandidaten sich bei ihren Parteien hoch verschulden, und andererseits in der unklaren Regelung zur Anmeldung des Wohnsitzes, die es den reicheren Kandidaten ermöglicht, sich in Wahlkreisen aufstellen zu lassen, in denen sie Grundbesitz oder einen Landsitz haben, sich aber in Wirklichkeit nur zwei oder drei Mal im Jahr aufhalten. Die Wirksamkeit der Regelung, die von den Kandidaten eine Herkunft aus der jeweiligen Region verlangt, wird so häufig unterlaufen. Dazu kommt die Einschränkung der Leistungsfähigkeit der neuen Gesetze durch das Fortbestehen unzeitgemäßer Parteistrukturen. Die Folge ist eine Abgeordnetenkammer, die durch Inkompetenz und starke Zweifel an der Ehrlichkeit vieler ihrer Mitglieder gekennzeichnet ist. Skandale sind an der Tagesordnung im politischen Geschehen des Landes und kennzeichnen insbesondere auch das Parlament. Die Flügelkämpfe innerhalb der Parteien, die in der Regel vor den Wahlen auftreten, halten nach den Wahlen an und beeinträchtigen die Arbeit des Parlaments mit der Konsequenz, dass keine Antworten auf längerfristige allgemeine Probleme gefunden werden, sondern fast immer nur die Interessen einzelner Gruppen oder Individuen befriedigt werden können. In Krisenzeiten ist diese Tendenz noch deutlicher, wie sich zum Beispiel im März 1999 nach der Ermordung des Vizepräsidenten Argana und des darauf folgenden Rücktritts des Präsidenten Cubas zeigte. Um sich vor möglichen Untersuchungen zu schützen, schlössen sich die Angehörigen

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ihres Flügels mit denen anderer Bewegungen innerhalb der eigenen Partei oder auch mit Oppositionellen zusammen. Auch eine gemeinsame Strategie zur Tilgung der Wahlkampfschulden oder bei der Vergabe von höheren Posten der Gerichtsbarkeit sind eher ein Grund zur Koalitionsbildung als die Suche nach politischen Lösungen für die Probleme des Landes. Ein großes Problem, das dem politischen System in Paraguay seit Beginn der Demokratisierung anhaftet, ist das der Repräsentativität, das sich besonders stark im Kongress zeigt. Da die Parteien nicht dazu in der Lage sind, eine Rolle bei der Formulierung von Regierungsprojekten zu spielen, beschränken sich die verschiedenen Flügel innerhalb jeder Partei darauf, den Grad der Zersplitterung noch zu erhöhen und somit das Regieren immer schwieriger zu machen. Wäre eine Partei dazu fähig, ein Regierungsprogramm zu verfassen, das die verschiedenen Flügel hinter sich vereint und gleichzeitig die Strategie der Dezentralisierung berücksichtigt, so dass auch die regionalen Interessen nicht unbeachtet bleiben, würde das nicht nur die Effizienz des Kongresses erhöhen, sondern darüber hinaus dazu beitragen, das angeschlagene Bild des paraguayanischen Kongresses in der Öffentlichkeit zu verbessern. Jeder einzelne der unteren Führungsfiguren, die es zum Abgeordneten gebracht hat, ist eher dem über ihr stehenden Parteiführer verpflichtet als den Bürgern, die sie gewählt haben; entweder aufgrund der Finanzierung ihres Wahlkampfes oder als Belohnung dafür, dass sie von ihm aufgestellt worden ist. Wo es keine Beziehung zum Bürger gibt, besteht auch keine Verpflichtung zur Erfüllung eines konkreten politischen Programms. Um diesen Missstand zu beseitigen, wird zur Zeit im Kongress diskutiert, welche Regelung getroffen werden könnte, um eine Erhöhung der Repräsentativität und eine klarere Verteilung der Zuständigkeiten zu erreichen. Diese Diskussion gestaltet sich allerdings aufgrund der Unfähigkeit der Parteien, gemeinsame Kriterien zu finden und ihre Uneinigkeit zu überwinden, als äußerst schwierig. Im allgemeinen ist die Debatte im Abgeordnetenhaus von einem unerträglich niedrigen Niveau und die Bearbeitung der wirklich wichtigen Themen wird über die Streitigkeiten vergessen. Die in der Verfassung enthaltenen Ziele sind nicht erreicht worden. Das Thema der unabhängigen Kandidaten innerhalb der Parteien ist nie in das neue Wahlgesetz aufgenommen worden, denn viele Beobachter sind der Meinung, eine solche Maßnahme würde die Zersplitterung der Parteien im

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Kongress nur noch verstärken. Es gibt allerdings auch Stimmen, die die Meinung vertreten, dass durch unabhängige Kandidaturen das Verantwortungsbewusstsein der Abgeordneten erhöht werden könnte, wodurch wiederum ganz allgemein die Demokratie gefestigt würde. Ein Beispiel für die geringe Effizienz des Kongresses, trotz seiner Zusammensetzung nach regionalen Gesichtspunkten, ist die Tatsache, dass die Abgeordneten bisher nicht in der Lage gewesen sind ein Programm zur Regionalpolitik zu erarbeiten, ebenso wenig wie die Gouverneure und Bezirksversammlungen. Letztere haben die Politiker der Abgeordnetenkammer aufgrund ihrer Unfähigkeit und der häufigen Skandale um Bestechung und Korruption zur Zielscheibe ihrer Kritik gemacht und fordern die Aufhebung der Immunität der Parlamentarier und Verurteilung der Schuldigen. Der Hauptgrund für das Scheitern der Umsetzung der in der Verfassung vorgesehenen Änderungen besteht in der Unfähigkeit der Parteien, diese voranzutreiben und gleichzeitig als Vermittler der Interessen der verschiedenen Regionen und gesellschaftlichen Bereiche aufzutreten. Zwischen dem politischen Diskurs und dem tatsächlichen Handeln der Parteien besteht keinerlei Zusammenhang, ebenso wenig wie zwischen dem Handeln und der Ideologie, wobei über letztere erst gar nicht mehr diskutiert und nur höchst selten als Referenz im Wahlkampf erwähnt wird. Die Parteien dienen weder zur Verbreitung von Ideen noch zur inneren Diskussion über politische Programme. Konsens fördern sie nicht. Sie dienen einzig und allein der Repräsentation einzelner Gruppen oder Individuen, zum Beispiel der wirtschaftlichen Interessen der Abgeordneten. Die verschiedenen Flügel einer Partei haben oft keine Gemeinsamkeiten aufzuweisen und sind daher nicht in der Lage gegenüber ihrer Wählerschaft ein auf einem Konsens basierendes Programm zu vertreten und gegenüber der gesamten demokratischen Gemeinschaft noch viel weniger. Der Mangel an gefestigten Parteistrukturen macht die Konsolidierung des politischen Systems an sich praktisch unmöglich.

Die Führung in den Medien, oder die Macht der Presse In demokratischen Systemen, und noch viel deutlicher in entstehenden Demokratien wie in Paraguay, hat die Presse die Rolle der öffentlichen Plätze übernommen, auf denen früher Versammlungen und Demonstratio-

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nen stattfanden. Dort wurde früher das politische Geschehen diskutiert und dort wurden auch die Gedanken und Programme der politischen Parteien vorgestellt. Wenn heute noch einmal ein öffentlicher Platz zum Schauplatz einer politischen Veranstaltung wird, dann vor allem unter dem Gesichtspunkt, ob der Platz für Fernseh- und Fotokameras „fotogen" genug ist. Die Bilder erscheinen dann am nächsten Tag im TV und in den Zeitungen. Bei den Radioprogrammen ist die Interaktivität das Schlagwort, das die Zuhörerquoten erhöht, und in dem neuesten Medium, dem Internet, spielt diese eine ganz besonders große Rolle, wobei gleichzeitig die Zahl derer, die durch dieses Mediinn die Möglichkeit bekommen, ihre Meinung zu äußern, ungleich höher ist als vor seiner Erfindung. Es lässt sich also sagen, das die Massenmedien heutzutage die öffentlichen Plätze von damals darstellen. Ein Nebeneffekt dieser Entwicklung ist, dass häufig die Medien einen eigenen Kandidaten aufstellen und nicht vor Lügen, Betrug und Fehlinformation zurückschrecken, wenn es darum geht, diesen in ein öffentliches Amt zu schleusen, egal welche Folgen ein solches Verhalten für ihre Glaubwürdigkeit hat. Die Presse ist sich ihrer Rolle als vierte Staatsgewalt so sicher, dass sie ihre Aufgaben des Diensts an der Gesellschaft und als Vermittlerin zwischen den verschiedenen existierenden Ideen scheinbar vergessen hat. Anstatt dem Bürger die verschiedenen Standpunkte objektiv zur Beurteilung vorzulegen, so dass dieser sich dann gut informiert für die für ihn beste demokratische Option entscheiden kann, ist die Presse zu einer Attraktion in der Manege des Wahlkampfes geworden, die nur zur Verwirrung des Wählers beiträgt. Nicht zufällig ist in der Verfassung von 1992 vorgesehen, dass kein Inhaber einer Zeitung oder Zeitschrift als Kandidat für das Amt eines Abgeordneten oder des Präsidenten aufgestellt werden darf. In der Praxis ist diese Regel jedoch schnell zu umgehen, indem zum Beispiel die Eigentümerschaft des Unternehmens verschleiert wird. Eine ebenfalls oft praktizierte Alternative sind Abkommen zwischen Politikern und einzelnen Medien. Um mit den Worten McLuhans zu sprechen: Die Presse selbst ist heute die Botschaft. Die Auswirkungen dieser Beziehung zwischen Politik und Presse sind in Paraguay immer wieder deutlich geworden, insbesondere in den ersten Jahren der Demokratisierung, aber auch in der Gegenwart. Mehrere Kongressmitglieder und politische Führungsfiguren sind von der Presse während ihres Aufstiegs direkt unterstützt worden, vielfach sogar auch später, nach ihrer Wahl, und manche haben es geschafft, die Presse zu nutzen, um ihre privilegierte Situation sogar noch zu festigen. Nicht selten sind Politi-

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ker in den Medien zu beobachten, die sich so verhalten, als ob dauernd Wahlkampf wäre. Viele Politiker sind nicht in der Lage, mit ihren Wählern zu kommunizieren, wenn nicht über Telefon oder Fernsehen. Oft geht es bei diesen Anlässen um polemische Nebensächlichkeiten und die von den Politikern geäußerten Meinungen sind häufig Effekthascherei oder schlicht zweideutig. Darüber hinaus sind sie bei solchen Auftritten nicht ihren Parteien gegenüber verpflichtet, sondern ganz allein sich selbst. Aufgrund der Vereinfachung ihrer Rolle als Vermittler neigen die Massenmedien im allgemeinen dazu, Kandidaten zu unterstützen, die die Fähigkeit besitzen, ihre Ideen auf eine attraktive Art und Weise auszudrücken, um dadurch eine höhere Einschaltquote zu erzielen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Journalisten zu politischem Engagement berufen fühlen, da sie daran gewöhnt sind, Ideen und Konzepte zu verbalisieren. Diese an und für sich nicht verwerfliche Tatsache trifft jedoch auf Schwierigkeiten, wenn es darum gehen soll, ein Programm zu entwerfen, das sich der Förderung neuer Führungsfiguren widmet, und zwar nicht nur weil sie einen medienwirksameren Diskurs repräsentieren, sondern vielmehr wegen ihrer neuartigen Ideen. Andererseits ist in den Medien doch auch viel Kritik an den Parteistrukturen laut geworden und die gesellschaftlichen Bewegungen haben in den Medien ein Sprachrohr zur Förderung unabhängiger Kandidaturen gefunden. Dies hat sich im Fall Filizzola in der Hauptstadt Asunciön gezeigt oder auch bei den guten Wahlergebnissen der Partei Encuentro Nacional im Jahr 1993. Unglücklicherweise ist die Situation noch immer häufig so, dass die Betroffenen nach dem Erreichen der Macht in mehreren Kommunen an der mangelnden Effizienz des Parteiapparats scheitern. Umgekehrt dienen die Medien und insbesondere die Presse natürlich auch dazu, die Frustrationen der Bevölkerung widerzuspiegeln, die von den kleinsten Nebensächlichkeiten bis hin zu komplexen Problemen reichen, die von den Politikern nicht in der erhofften Zeit beantwortet werden konnten. Dabei ist zu beachten, dass der Zugang zu den Massenmedien nicht von einer entsprechenden Strategie der Parteien oder der einzelnen Politiker begleitet worden ist. In Zeiten des Wahlkampfes haben die Medien die Möglichkeit, sich zur Verbreitung von Propaganda anzubieten, und schließen entsprechende Abkommen, aber sobald die Politiker die angestrebten Ämter besetzten, kommen die Medien aufgrund dieser Verbindung in Verruf. Die gedruckten Medien haben sich aufgrund ihres Machtstrebens und

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des Verlusts ihrer Unparteilichkeit weit von den Bürgern entfernt. Die Verkaufszahlen der Presse sind stark zurückgegangen und derzeit haben Radio und Fernsehen die Presse in ihrer Rolle als wichtigste Informationsquelle des Bürgers in der Demokratie abgelöst. Die Tendenz zum Aufbauschen von Skandalen und der Mangel an journalistischer Genauigkeit in sämtlichen Medien fuhrt jedoch dazu, dass die Bürger nicht immer vollständig informiert und daher auch nicht immer in der Lage sind, ihr Umfeld zu verstehen und die entsprechenden Entscheidungen zu treffen. Hinter dem Großteil der Kandidaturen, die von den gedruckten Medien unterstützt werden, steht die Hoffnung auf wirtschaftliche Vorteile, sobald der Politiker seinen Posten eingenommen hat. Für die meisten Eigentümer der Medienfirmen stellt die Presse nicht ihre einzige Einkommensquelle dar, sondern ist nur eins unter vielen ähnlichen Geschäften. Für andere wiederum dient die eigene Zeitung dazu, das angeschlagene Bild ihrer anderen Firmen reinzuwaschen oder die Regierung anzuklagen, wenn sie diese anderen Geschäfte behindert. In beiden Fällen jedoch ist die Folge für die Presse der Verlust ihrer Glaubwürdigkeit, was wiederum eine Gefahr für die Demokratie darstellt. Das gefährlich hohe Niveau der Zersplitterung und Uneinigkeit in der Presselandschaft Paraguays führte zu einer Reihe von Umfragen und Meinungsäußerungen auf nationaler und internationaler Ebene, in denen die Leser, Zuhörer und Zuschauer Gelegenheit hatten, ihre Kritik und Unzufriedenheit auszudrücken. Es lässt sich nicht sagen, dass die Medien Kandidaten „machen", aber doch, dass sie mit verantwortlich sind für deren Denk- und Handelsweise. Die Konsequenzen für die Gesellschaft und insbesondere für die Glaubwürdigkeit des demokratischen Systems sind mehr als deutlich. In jüngster Zeit hat es Beispiele für die Schaffung von Alternativen zu den traditionellen Medien gegeben, so zum Beispiel die Volksradiosender, die bestimmte Bürgergruppen vertreten, aber bisher nur über eine geringe Reichweite verfügen. Es handelt sich bei ihnen eher um die Reaktion auf die bestehenden Umstände als um eine reale, gefestigte Alternative. Die Presse Paraguays, die sich während der Diktatur als sehr mutig erwiesen hatte, ist dem Land bisher noch eine weniger leidenschaftliche Berichterstattung über die Politiker und ihre Programme schuldig geblieben. Auch

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die Reflexion über ihre eigene Rolle lässt eine gewisse Ernsthaftigkeit und Nüchternheit vermissen. Die Presse sollte weniger Wert auf eine Beteiligung an der Machtausübung legen und ihre Rolle nicht mit der der politischen Parteien vergleichen. Sie sollte vielmehr versuchen, einen Gegenpol zu den Parteien zu bilden, und mehr Wert auf die Information des Bürgers über die politische Realität legen, so dass diesem ermöglicht wird, fundierte politische Entscheidungen zu treffen. Die Suche nach skandalträchtigen und polemischen Themen, die die Zuschauer- bzw. Zuhörerzahlen in die Höhe treiben, widerspricht der Aufgabe der Medien, zu Reflexion und Kritik anzuregen. In der Polemik ist oft nicht das bessere Argument entscheidend, sondern die geschicktere Anwendung der Sprache. Viele journalistische Programme beschränken sich daher in letzterer Zeit darauf, zwei Personen einzuladen, die entgegengesetzte Standpunkte vertreten, um das Publikum mit einer hitzigen Diskussion zu unterhalten, anstatt es zu informieren. Dieser Programmtyp ist derzeit sowohl im Radio als auch im Fernsehen sehr weit verbreitet. Eine weitere Tendenz in der Medienlandschaft besteht zur Zeit darin, dass lokale Fernsehsender von multinationalen Gruppen aus dem Ausland aufgekauft werden. Da die neuen Eigentümer Ärger mit der lokalen Regierung vermeiden wollen, beschränken sie Informations- und Diskussionssendungen auf ein Minimum. In einem Land wie Paraguay, in dem das Fernsehen in den letzten Jahren einen hohen Zuschauerzuwachs verbuchen konnte und mit einer hohen aktiven Zuschauerbeteiligung rechnet, ist diese neue Tendenz nicht zu unterschätzen. Die Unlust in den gedruckten Medien, tiefgreifende Recherchen anzustellen, hat dazu geführt, dass die überprüften und nachgewiesenen Tatsachen durch Gerüchte ersetzt werden. Häufig geben die dicken Schlagzeilen der Presse nichts anderes wieder als die persönliche Meinung eines bestimmten führenden Politikers über einen Vertreter der Gegenseite und am nächsten Tag wird der Opponent gefragt, was er von den Äußerungen seines Gegners hält. Die Information ist dementsprechend unvollständig und ermöglicht dem Leser nicht, sich eine eigene Meinung zu bilden und sich zwischen den beiden abgedruckten Meinungen zu entscheiden. Die Rolle der Medien in Paraguay ist also nicht sehr positiv für die Konsolidierung einer demokratischen Führungsschicht mit zukunftsweisenden Ideen und Programmen. Dieser Mangel hatte einen Rückgang der Aufla-

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gen-, Zuschauer- und Zuhörerzahlen zur Folge; nur in den ersten Jahren der Demokratisierung konnten die Medien zunehmendes Interesse verbuchen. Die zu enge Beziehung der Medien zu den Machtinhabern hat dazu geführt, dass es beide Gruppen nicht geschafft haben, ihre Aufgabe im Rahmen der Konsolidierung der Demokratie in Form von konstruktiver Kritik und aktiver Reflexion befriedigend zu erfüllen.

Gläubige an Stelle von Wählern Angesichts des absoluten Fehlens einer internen ideologischen Diskussion in den Parteien und ihrer Unfähigkeit zur Förderung neuer Führungsfiguren haben sich die politischen Organisationen ganz auf die Erhöhung ihrer Mitgliederzahlen konzentriert, anstatt sich um eine Annäherung der ideologischen Standpunkte an die Interessen der Wähler in diesen Zeiten des Wandels zu kümmern. Die traditionellen Parteien in Paraguay können als „Kapellen-Parteien" bezeichnet werden, in denen die Treue zu den Farben, zur Musik und zur Tradition eine größere Bedeutung hat als die Identifikation mit den Ideen und Prinzipien der Organisation. Die Mitglieder der Parteien sind weniger Anhänger aufgrund der programmatischen Position der Parteien als vielmehr Gläubige im theologischen Sinne des Wortes, die nicht nach dem Warum der Parteizugehörigkeit fragen, sondern in erster Linie der Tradition der Familie oder des engeren sozialen Umfelds folgen. Andererseits hat sich in vielen Fällen die politische Führung vor allem aufgrund der messianischen Eigenschaften und Einstellungen der Politiker festigen können, was durch den Staat selbst teilweise noch gefordert wurde. Die Colorado-Partei brüstet sich damit, die politische Organisation Lateinamerikas mit den meisten Mitgliedern zu sein. Die anderen Parteien sind in Bezug auf die Mitgliederwerbung diesem Vorbild gefolgt und prompt den selben Unsitten des Klientelismus verfallen, die sie bei der Colorado-Partei noch kritisiert hatten. Das Fehlen alternativer Führungsmodelle und die Unzufriedenheit mit den unzureichenden internen Aufstiegsmöglichkeiten halten viele Leute davon ab, sich aktiv am öffentlichen Leben zu beteiligen, und bewirken gleichzeitig, dass die Parteien sich auf die Erhaltung ihrer

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Rituale und ihrer Symbole beschränken, anstatt neue Ideen und Programme zu entwickeln. Die Möglichkeit, nach der demokratischen Öffnung neue Parteien zu gründen, brachte in den ersten Jahren frischen Wind ins politische Leben des Landes, aber der Rückfall in die gleichen Methoden der Mitgliederwerbung und zur Führung der Parteigeschäfte führte schnell zu großer Enttäuschung. Das vorherrschende Führungsmodell, das auf den Prinzipien der Pfründe und der gelegentlichen gesellschaftlichen Unterstützung baut, hat bewirkt, dass populistische Führerfiguren wie zum Beispiel Oviedo von den Kasernen aus aktiv sind. Den zahlreichen Anhängern reicht es im allgemeinen, sich auf eine gelegentliche Unterstützung zu beschränken angesichts der Tatsache, dass der Staat keine Bereitschaft zeigt, eine wirkliche Veränderung zu bewirken, geschweige denn dynamischer und effizienter zu werden bei der Suche nach Lösungen für die Probleme der Not und Armut. Aus dem selben Grund weisen die verschiedenen Parteien nur wenig spezifische Eigenheiten auf. Bei allen handelt es sich um politische Organisationen, in denen Platz für Vertreter aus sämtlichen Schichten ist. Innerhalb der Hierarchie aller Parteien ist die Frage des Machterwerbs und der Machterhaltung eine Ehrensache, die die Möglichkeit zur Änderung dieses mangelhaften Systems von vornherein ausschließt.

Eine engagierte politische Führung mit Zukunftsperspektive In einem alten Land, das sich gegen Veränderungen strikt wehrt, werden neue Führungspersonen gebraucht. Das alte System baut seine Rechtfertigung auf eine Mischung aus historischen Anekdoten und seiner besonderen geographischen Lage, die von Paraguays berühmtestem Schriftsteller Augusto Roa Bastos als „eine von Land umgebene Insel" beschrieben wurde. Eine Bedingung, die diese neuen Führungsfiguren erfüllen müssten, wäre die Erneuerung der Strukturen und Programme ihrer Parteien. Wird das alte Modell weiter beibehalten, sind auch die neuen Politiker gezwungen, die alten Fehler zu wiederholen, und werden nichts anderes erreichen als die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Demokratie.

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Die Wahl Oviedos ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Wähler ihren Ressentiments gegenüber der Demokratie Ausdruck geben wollten, indem sie für jemanden stimmten, der das demokratische System bestrafen kann; denn dieses System hat gezeigt, dass es nicht mit der notwendigen Wirksamkeit funktioniert und dass es die von der Bevölkerung benötigte Leistungsfähigkeit und Ehrlichkeit nicht erreicht. Aber dieses Modell gibt nach wie vor den Ton an, trotz der Vorkommnisse im Jahr 1999, als es 25.000 Jugendlichen und Landbewohnern gelang, die Regierung zu stürzen. Die Wähler verlangen nach positiven Führerfiguren, die die demokratischen Mechanismen nicht nur ausnutzen, um an die Macht zu kommen und dann doch ein autoritäres oder sogar deutlich faschistisches Projekt durchzusetzen. Die Arbeit, die es ermöglicht alternative Modelle zu entwickeln, muss nicht nur in den Parteien, sondern vor allem in den parallelen Organisationen stattfinden. Und die Parteien müssen sich diesen Organisationen gegenüber öffnen, um ihre eigene Erneuerung von innen heraus möglich zu machen und so langfristig die Konsolidierung der Demokratie zu fordern. Wenn weiterhin nichts anderes unternommen wird als die Fehler von früher zu wiederholen, wird die Demokratie immer an ihrer derzeitigen Schwäche und Phantasielosigkeit leiden und der Gefahr ausgesetzt bleiben, die die vergangenheitsbezogenen Projekte eines Landes darstellen, das unter einer langen autoritären Herrschaft gelitten hat. Es werden moderne Führungspersönlichkeiten gebraucht, die in der Lage sind, die langfristigen Vorteile einer sich verändernden Welt zu erkennen und in Zusammenarbeit mit Anderen Entwicklungsprojekte für die Zukunft zu erstellen. Aber vor allem brauchen sie ein Gespür für die Situation, in der die Sozialstruktur inmitten eines wirtschaftlichen Chaos auseinander bricht, und das ist alles andere als eine gute Voraussetzung für politische Stabilität. Die neuen Führungspersonen müssen darüber hinaus in der Lage sein, integrierende Projekte zu entwickeln, die sich der Politik der nationalen Isolation entgegen stellen, die dem Land bisher nur Rückschritt beschert hat. Die Bevölkerung Paraguays hat durch ihre Teilnahme an den demokratischen Wahlen in den Jahren nach der Wende den klaren Willen bewiesen, dass sie über die notwendige Geduld und Ausdauer verfügt, um die Fehler vieler Politiker zu überstehen und sich an die Folgen der eklatanten Miss-

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stände in Bezug auf das Bildungssystem zu gewöhnen,6 auch wenn dieser Willen noch nichts über die Fähigkeit zur Reflexion oder über eine kritische Einstellung gegenüber den Politikern aussagt. Um noch einmal das Bild der „Kapellen-Partei" anzustrengen, lässt sich sagen, dass die politischen Organisationen zwar über viele gläubige Anhänger verfügen, diese aber in den meisten Fällen noch gar nicht bekehrt sind. Die Existenz einer hohen Zahl von Parteimitgliedern, denen die Mitgliedschaft abgesehen von bestimmten Symbolen nicht bewusst ist, macht deutlich, wie lang der Weg ist, den die politischen Parteien noch zurückzulegen haben, um ihr eigenes Fortbestehen und somit die Konsolidierung der Demokratie auf lange Sicht garantieren zu können. Diese Veränderungen im eigenen Land stellen eine der größten Herausforderungen an Paraguay dar, ein Land, das daran gewöhnt ist, den Rest der Welt aus seiner Position der Isolation heraus zu sehen. Aus dieser Position werden die großen weltweiten Veränderungen erklärt und verstanden. Das bringt dem Land aber oft nur Nachteile und keine Vorteile. Paraguay braucht neue politische Führungspersönlichkeiten mit modernen Anschauungen, die in der Lage sind, die „extrem konservative" Bevölkerung zu überzeugen, und denen gleichzeitig bewusst ist, dass dieser Prozess nur über von innen heraus erneuerte Parteien möglich ist, die größeren Wohlstand für das Land und seine Menschen anstreben und nicht der Sehnsucht nach längst vergangenen Zeiten verhaftet sind. Die Zeichen des Wandels sind sichtbar, aber es gilt jetzt, sie auch zu erkennen. Bibliographie Fernández Bogado, Benjamin (1993): La pena y la libertad, Asunción: Ediciones Fundación Libre. Ramonet, Ignacio (1997): Unveröffentlichter Vortrag anlässlich der Konferenz 'Encuentro Internacional de la Radio', Santiago de Chile: Universidad Católica, 6. Oktober. Censo Nacional (1992): Censo Nacional de Población y Vivienda, Paraguay.

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Laut Angaben des Ministers für Bildung betrug im Jahr 1993 der Anteil der tatsächlichen und praktischen Analphabeten in Paraguay fast 56%. (Fernández 1993).

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René Antonio Mayorga Demokratie und politische Führung in Bolivien „(...) der Wettbewerb bei den Wahlen garantiert nicht die Qualität der Ergebnisse, sondern lediglich ihren demokratischen Charakter. Alles andere - der Wert des Ergebnisses — hängt von der Qualität (und nicht nur von der Sensibilität) der politischen Führung ab. Aber obwohl die Bedeutung der Rolle, die die Führung spielt, stets anerkannt wird, bleibt ihr Status im Rahmen der Demokratietheorie unbedeutend." Giovanni Sartori, The Theory of Democracy Revisited

(1987)

Einführung Während verschiedene Länder Lateinamerikas, wie zum Beispiel Peru oder Venezuela, in den achtziger und neunziger Jahren einen schwierigen Prozess der Schwächung und des Zerfalls ihrer demokratischen Systeme durchliefen, erlebte die Demokratie in Bolivien eine Entwicklung der institutionellen Reformen des politischen Systems und des Staates, die im Vergleich zur Unsicherheit des restlichen Kontinents, trotz gewisser Schwierigkeiten, als Erfolg für die Konsolidierung der Demokratie gewertet werden kann. Diese Reformen begannen im Jahr 1985 und umfassten ein breites Spektrum an Veränderungen von historischer Bedeutung, die sich auf die Regierung, das Wahlsystem und auch die Parteien bezogen. Angesichts der komplizierten und schwierigen Umstände der Demokratisierung, die auf dramatische Weise deutlich machten, dass das Land nicht über die zum Aufbau eines demokratischen Systems notwendigen institutionellen Ressourcen verfügte, war der Wandel, den Bolivien erlebte, durchaus überraschend. Die Parteienlandschaft war extrem zersplittert und auf unvereinbare Weise polarisiert. Die politischen Verhaltensweisen wurden von einer Logik der Konfrontation bestimmt, die zur Radikalisierung und zum Ausschluss des politischen Gegners führte. Die Regeln des Wahlsystems waren unklar und widersprüchlich und trafen nicht auf volle Zustimmung der Parteien, was in der Regel zu gegenseitigen Beschuldigungen wegen Wahlbetrugs führte. Das Verfahren zur Wahl des Präsidenten im Parlament, wie es

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in der Verfassung des Staates vorgesehen war und zum ersten Mal bei der Wahl von Hernán Siles Zuazo 1980 angewandt wurde, führte zu einer Minderheitsregierung, die weder der starken parlamentarischen Opposition noch der mächtigen Gewerkschaftsbewegung gewachsen war. Trotz der allgemeinen politischen Krise unter der Regierung Zuazo, die die Demokratie zu erschüttern drohte, entstand ein politischer Lemprozess. Nach den Wahlen von 1985 kam es zu einer Änderung des Verhaltens der Parteien und des politischen Wettbewerbs und es wurden die Rahmenbedingungen für den Wiederaufbau des demokratischen Systems geschaffen. Auf der Grundlage von Kompromissen und Abkommen zwischen den wichtigsten politischen Akteuren wurden Entscheidungen von bisher unbekannter Tiefe und Intensität getroffen, die den institutionellen Rahmen und die Voraussetzungen für Stabilität und Regierbarkeit stärkten. Diese Entschiedungen führten zu wichtigen politischen Änderungen, die folgendermaßen zusammengefasst werden können: 1. Ein Prozess der Bestätigung der strategischen Rolle der politischen Parteien innerhalb des demokratischen Systems als diejenigen Institutionen, die einerseits die gesellschaftlichen Interessen kanalisieren und andererseits ein Faktor der Regierungsmacht sind — und dies trotz der bestehenden Legitimitätsprobleme und des Vertrauensverlusts der Parteien. 2. Die Institutionalisierung kohärenter und transparenter Regeln für den politischen Wettbewerb durch neue Formen der Interaktion und ein neues Wahlsystems, das die demokratische Legitimation der Regierungsbildung garantiert. 3. Die allgemeine Anerkennung der Tatsache, dass die politischen Parteien für das Funktionieren einer Demokratie unverzichtbar sind, egal wie unvollkommen oder wenig vertrauenswürdig sie auch sein mögen. 4. Die Möglichkeit des politischen Machtwechsels durch Wahlmechanismen, so wie es anlässlich der Präsidentschaftswahlen 1985, 1989, 1993, 1997 und 2002 praktiziert wurde. 5. Eine Politik, die sich auf Abkommen zwischen den politischen Kräften über Verfassungsänderungen stützt, mit denen die politischen Spielregeln verändert wurden und die zur Bildung von parlamentarischen Koalitionen

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und Regierungskoalitionen führten, welche die Regierbarkeit des Staates garantierten. Dies führte zum Ende der Konfrontation der Parteien gegenüber dem Staat und zur Überwindung der Kluft zwischen Regierung und Parlament. 6. Die Schwächung systemfeindlich sind.

deijenigen

politischen

Kräfte,

die

eindeutig

7. Die Kontrolle ziviler Kräfte über das Militär und dessen - wenn auch noch „negative" — Integration in das demokratische System. 8. Eine nachhaltige Politik institutioneller Reformen, die auf eine Modernisierung des politischen Systems und des Staates abzielt. Vor diesem Hintergrund des strukturellen Wandels wird der hier vorliegende Beitrag versuchen, zwei zentrale Fragen bezüglich der wechselseitigen Beziehung zwischen der Entwicklung des demokratischen Systems und der Entwicklung der politischen Führung zu beantworten. Erstens wird versucht, die grundlegenden Veränderungen darzustellen, denen sich das demokratische System in seinen drei Erscheinungsformen unterzogen hat: Parteiensystem, Wahlsystem und Regierungssystem. Diese drei Bereiche bilden den institutionellen Rahmen, in dem die politischen Führungsfiguren handelten und die politische Veränderungen erfuhren, welche auf die eigenen politischen Entscheidungen und Orientierungen der Führungspersonen zurückgingen. Zweitens wird die Frage gestellt, inwiefern die Funktionsweise des politischen Systems die Entwicklung und die derzeitigen Probleme der demokratischen Führung beeinflusst bzw. beeinträchtigt. Ist die derzeitige Form politischer Führung für die Demokratie Boliviens förderlich und angemessen? Welche Typen politischer Führung sind aufgetreten? Welche Spannungen und Widersprüche hat es zwischen den Führungsfiguren und den Herausforderungen des demokratischen Systems gegeben? Welche bedeutenden Veränderungen hat die politische Führung erfahren hinsichtlich der demokratischen politischen Kultur, der Organisation der Parteien, ihrer Mitgliederwerbung und der Erneuerung ihrer Führungsriege, der Regierungsfähigkeit, der Glaubwürdigkeit und der Legitimation?

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Das Parteiensystem: vom zersplitterten Mehrparteiensystem zum gemäßigten Mehrparteiensystem Eines der bemerkenswertesten Phänomene der jungen bolivianischen Demokratie ist, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ein gemäßigtes Mehrparteiensystem entstand, das im Gegensatz zum stark zersplitterten und polarisierten Mehrparteiensystem zum Zeitpunkt der Demokratisierung steht. Die Veränderung hätte kaum tiefgreifender sein können. Vor der Revolution von 1952 litt das Land unter einem Mehrparteiensystem mit schier unvereinbarer Polarisierung und extrem niedriger Repräsentationsfähigkeit im Rahmen eines von der Oligarchie beherrschten politischen Systems. Die Folge der Revolution war dann nicht die Einrichtung eines Parteiensystems, sondern die absolute Vorherrschaft einer einzigen Partei, des Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR), das praktisch mit dem Staat identisch war, ähnlich der mexikanischen PRI, jedoch ohne deren Stärke und Langlebigkeit zu erreichen. Erst durch den Übergangsprozess der Demokratisierung bildete sich wieder ein Mehrparteiensystem heraus, das zunächst eine gewisse Zersplitterung und Polarisierung aufwies, bevor es allmählich gemäßigter wurde, wobei keine Partei eine vorherrschende Stellung einnahm. Von den zur Zeit im „politischen Zentrum" agierenden Parteien kann allein die 1942 gegründete MNR auf eine längere Geschichte zurückblicken. Die anderen beiden wichtigen Parteien entstanden zu einem späteren Zeitpunkt: das Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR) 1971 noch unter der Diktatur, und die Acción Democrática Nacionalista (ADN) wurde vom ehemaligen Diktator Banzer 1979 während der Demokratisierungsphase gegründet. Das heutige politische System dreht sich um die Achse dieser drei Parteien und basiert auf einem Grundkonsens, der die Notwendigkeit der Förderung der repräsentativen Demokratie und der Marktwirtschaft beinhaltet. Auf diese Weise konnten die ideologischen und politischen Gegensätze der Vergangenheit deutlich reduziert werden. Während die Übergangsphase zur Demokratie noch gekennzeichnet war von harten Konflikten und Konfrontationen der Parteien untereinander und zwischen Parteien und sozialen Bewegungen, schafften es die Parteien danach, sich auf eine Form des Zusammenlebens zu einigen, das den gegenseitigen Wettbewerb um die Macht unter Einhaltung von politischen Spielregeln, die mit der Zeit immer stabiler wurden, ermöglichte. Mit anderen Worten, es gelang, den Grundstein für ein System des politischen Wettbe-

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werbs zu legen, dessen Spielregeln eine starken Verpflichtung zur Demokratie von den Parteien verlangten. Das derzeitige Parteiensystem Boliviens weist eindeutig Bestandteile eines gemäßigten Mehrparteiensystems nach der Definition Sartoris (1976) auf: eine relativ geringe ideologische Distanz zwischen den großen Parteien; eine Tendenz zur Koalitionsbildung bei Parteien, die sich nicht sehr nahe stehen; und eine Konkurrenzsituation unter den Parteien, die sie zur Mitte streben lässt. Um diese tiefgreifende Veränderung verstehen zu können, muss man sich die folgenden drei wichtigen historischen und gesellschaftlichen Faktoren vor Augen fuhren: 1) der Misserfolg und die politische Verdrängung der traditionellen Linksparteien und der Gewerkschaftsbewegung, die seit den fünfziger Jahren für radikale gesellschaftliche und politische Veränderungen gekämpft hatten; 2) eine radikale Hinwendung zu gemäßigten Positionen der Mitte in der bolivianischen Gesellschaft; 3) die Krise der auf die zentrale Rolle des Staates fixierten Wirtschaft und die Änderung der wirtschaftspolitischen Strategien, die auf eine Annäherung an die Marktwirtschaft zielen. Der entscheidende Faktor aber ist institutioneller Art: der enge Zusammenhang zwischen den neuen Formen der Konzentration einerseits und dem verfassungsmäßigen Rahmen, der einen optimalen Handlungsraum für die Bildung von Koalitionsregierungen und für die Wahl des Präsidenten durch den Kongress schuf. Die Parteien sind somit nicht länger - wie noch bei den ersten beiden Präsidentschafts wählen 1979 und 1982 - ein Hindernis für die Bildung einer politisch stabilen Mehrheitsregierung. Durch den Artikel 90 der Verfassung wurden die Voraussetzungen für eine Dynamik geschaffen, nach der sich die Parteien immer mehr in Richtung der Mitte orientieren, womit Zersplitterung und Polarisierung zurückgehen (Mayorga 2001a). Die Verhaltensmuster der Zusammenarbeit und des Wettbwerbs der Parteien zeigt sich an der Übereinstimmung der verschiedenen Parteiprogrammen hinsichtlich der Wirtschaftspolitik und der politischen Reform. Das ermöglicht eine Form des Wettbewerbs, der sich nach pragmatischen und konkreten Gesichtspunkten richtet, anstelle der früheren sterilen Konfrontation utopischer Modelle. Diese Verhaltensmuster verweisen wiederum auf qualitative Veränderungen der politischen Führungsmodelle, die nicht nur mit dem Generationswechsel und dem allmählichen Verschwinden der Po-

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litiker der Revolution von 1952 zu tun haben. Die Veränderungen gründen sich vielmehr grundlegend auf die Verbreitung einer demokratischen Überzeugung mit entsprechender Kompromissbereitschaft der Parteien untereinander, die die frühere Bereitschaft zur ideologischen Kriegsfiihrung ersetzte. So wurde erstmals innerhalb eines Mehrparteiensystems die Voraussetzung geschaffen, Koalitionen der Parteien untereinander zu bilden, aus denen Mehrheitsregierungen hervorgehen können. Wie kam es zu diesem Mehrparteiensystem? Erstens wurde die Anzahl der Parteien deutlich reduziert und somit die Zersplitterung der Parteienlandschaft abgebaut, obwohl nach wie vor sporadisch neue kleine Parteien gegründet werden, die meist populistischen und persönlichen Charakter haben. Die Parteienlandschaft hat die Struktur eines „gemäßigten Mehrparteiensystems" angenommen, das relative Mehrheiten ermöglicht und im Prinzip aus den fünf größeren der im Parlament vertretenen Parteien besteht. Die Reduzierung der Parteienanzahl begann nach den Wahlen von 1985. An den Wahlen nahm jeweils die im folgenden aufgeführte Anzahl von durch den Nationalen Wahlrat (CNE) anerkannten Parteien teil: 8 (1979), 13 (1980), 18 (1985), 10 (1989), 14 (1993) und 10 (1997). Die Möglichkeit zur Regierungsbildung konzentrierte sich jedoch bei allen sechs Wahlen auf eine „Parteientriade", das heißt auf drei Parteien, die normalerweise im Bündnis mit anderen kleineren Parteien zwischen 54 und 84% der Parlamentssitze gewinnen konnten: UDP, MNR, ADN (1979/ 1980); ADN, MNR, MIR (1985/1989/1993/1997). Bei den allgemeinen Wahlen von 1985, 1989 und 1997 erreichte letzteres Bündnis der demokratischen Mitte eine Gesamtprozentzahl von 63%, 65% bzw. 57%. Es zeigt sich also, dass sich das Parteiensystem Boliviens trotz der Entstehung neuer politischer Formationen im letzten Jahrzehnt, wie zum Beispiel Condepa, UCS und anderer kleiner Parteien, seit 1985 permanent um eine „politische Achse" dreht, zu der drei Parteien gehören, von denen die Regierungsbildung abhängt: MNR, ADN und MIR. Es stimmt zwar, dass sich durch die Wahlergebnisse von 1993 und 1997 die Anzahl der zu dieser „Achse" gehörenden Parteien von drei auf fünf erhöhte (Condepa und UCS kamen dazu); wenn man aber genau hinsieht und untersucht, welche Partei seit 1985 jeweils an der Spitze der Regierung stand, dann spielten wiederum nur drei Parteien eine Rolle, die sich zudem auf zwei Blöcke verteilen: entweder MNR oder ADN-MIR. Diese zentrale Gruppe oder , Achse" von drei Parteien gleicht das Fehlen einer dominanten Partei bzw. eines Zwei-

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parteiensystems aus. Die verschiedenen Koalitionen und ihr Auseinanderbrechen — insbesondere das Ende des „Paktes fiir die Demokratie" zwischen MNR und ADN 1989 - brachten Verhaltensmuster mit sich, die auf eine bipolare Konkurrenzsituation hinausliefen, welche sich in abwechselnden Regierungen von MNR einerseits und ADN-MIR andererseits ausdrückte. Ein gemäßigtes Mehrparteiensystem ist durch die Eigenschaft gekennzeichnet, dass keine absoluten Mehrheiten zu Stande kommen. Das bedeutet, dass keine der Parteien eine Vormachtstellung besetzen kann. Dies widerspricht allerdings nicht dem Phänomen in Bolivien, wo lediglich drei Parteien über das „Potential zur Regierungsbildung"' sowie über das „Potential zur Druckausübung"2 verfugen. Zweitens wurde auch die Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien reduziert, das heißt, die Anzahl der Parteien, die zu den Wahlen antreten und gewählt werden können, stimmt nicht mit der Anzahl der tatsächlich im Parlament vertretenen Parteien überein. Drittens basiert das Parteiensystem auf einer „Art des Wettbewerbs, der sich an der Mitte orientiert" und der traditionellen Polarisierung und ideologischen Distanz der Parteien untereinander stark entgegenwirkt. Konsequenterweise werden seit 1989 — also nach der ersten Legislaturperiode mit der neuen Wirtschaftspolitik - die traditionellen Streitigkeiten und Antagonismen der Modernisierung, des Marxismus und des Populismus ersetzt durch weniger radikale ideologische Auseinandersetzungen zwischen den ,.Potential zur Regierangsbildung" ist ein Ausdruck, der von Sartori (1987: 156) geprägt wurde, um einen Maßstab für die Bedeutung einer Partei innerhalb eines Mehrparteiensystems, in dem die Regierung durch Koalitionsbildung zu Stande kommt, aufzustellen. Im hier behandelten Kontext erscheint es passender und nützlicher, diesen Maßstab zu verwenden als die „effektive Parteienzahl", um die Stellung und Stärke einer bestimmten Partei zu bewerten. Es sollte jedoch unterstrichen werden, dass Parteien wie die ADN oder die MIR Bündnisse eingegangen sind, denen sogenannte „Taxiparteien" oder andere unbedeutende Gruppierungen mit geringem lokalen oder regionalem Einfluss angehören. Die Wahlgesetzgebung hat keinen Einfluss auf das Format oder die Anzahl der Parteien im engeren Sinne ausgeübt. Ganz im Gegenteil ist sie weiterhin sehr großzügig bei der offiziellen Anerkennung einer politischen Partei. So verlangt das geltende Wahlgesetz zur Registrierung einer Partei lediglich, dass sie eine Mitgliedschaft von mindestens 0,1% der insgesamt bei den letzten Wahlen abgegebenen Stimmen vorweisen muss (vor der Verabschiedung dieses Gesetzes wurden 0,5% verlangt).

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politischen und wirtschaftlichen Eliten, die eine Modernisierung und Liberalisierung der Wirtschaft, der Gesellschaft und des Staates befürworten, und den neuen Populisten, die teilweise noch immer am traditionellen Populismus festhalten. So wurden im letzten Jahrzehnt die folgenden ideologischen Streitpunkte zu den neuen Trennlinien zwischen den politischen Lagern: repräsentative Demokratie, Marktwirtschaft, aktives Eingreifen in der Wirtschafts- und Außenpolitik, Staat als regulierende und fördernde Instanz im Gegensatz zum Populismus, offene, partizipationsfördernde Demokratie im Gegensatz zu Kommunitarismus und Verteidigung der ethnisch-kulturellen Identitäten. Die traditionelle Linke, die einst einen zerstörerischen Einfluss auf die UDP-Regierung ausgeübt hatte, ist von der politischen Bühne verschwunden. Die traditionellen Gegensätze zwischen der marxistisch-populistischen Linken und den rechten Strömungen sind fast komplett aufgelöst. Das derzeitige politische Spektrum ist gekennzeichnet von dem fast vollständigen Fehlen marxistischer Parteien und von einem zwiespältigen Prozess der Rückkehr bzw. Schwächung neopopulistischer Politiker und Bewegungen. Die ehemalige regionale Condepa-Partei, die von 1989 bis 1997 im Bezirk La Paz aktiv war, ist nach dem Tod ihres Parteiführers im Zerfall begriffen. Die Entstehung zweier populistischer Parteien mit unterschiedlichem Vorzeichen - Condepa bzw. UCS - im Jahre 1989 läutete ein Jahrzehnt der Auseinandersetzung ein zwischen den Zielen der wirtschaftlichen und politischen Modernisierung des Landes, die von ADN und MNR propagiert wurden, und den beiden erwähnten populistischen Parteien mit zu Beginn eindeutig gegen das System gerichteten Tendenzen. Der Effekt des neuen Parteien- und Regierungssystems, das eine Orientierung zur Mitte hin fördert, führte jedoch zu einer Eingliederung dieser Parteien in das Parteienspektrum der Mitte und zum Verschwinden der marxistischen Organisationen und populistischen Bewegungen (Mayorga 1995, Lazarte 1993). Andererseits haben die Anstrengungen zum Aufbau von Parteien ausschließlich auf der Grundlage ethnisch-kultureller Aspekte bzw. des Fundamentalismus keine Erfolge gezeigt. Dies soll allerdings nicht bedeuten, dass die etablierten Parteien dazu in der Lage gewesen wären, ethnischkulturelle Bedürfnisse sowie die Forderungen der mehrheitlich indianischen Bevölkerung aufzunehmen. Die Integration dieser Gruppen ist noch immer eine Aufgabe, die in der Zukunft gelöst werden muss. Nichtsdesto-

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trotz hat die Erweiterung des ideologischen Diskurses und der politischen Programme der bedeutenden Parteien dazu geführt, dass sich die indianische Bevölkerungsmehrheit teilweise einer stärkeren Präsenz erfreuen kann, die sich in einzelnen Integrationsprogrammen ausdrückt, welche auf den Respekt und die Förderung einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft hinzielen. Die Programme und Diskurse des MNR und des Movimiento Bolivia Libre (MBL) enthalten beispielsweise Reformabsichten zugunsten einer Dezentralisierung und stärkeren Beteiligung breiter Volksschichten. Von Bedeutung ist diesbezüglich auch die mehrheitliche Ablehnung fundamentalistischer und puristischer Parteiprogramme durch die indianische Bevölkerung (Mayorga 1995). Die großen Parteien Boliviens stehen derzeit unter dem Einfluss eines dramatischen Wandels auf internationaler Ebene, dem sie mit je nach Partei unterschiedlich gearteten Strategien der politischen und wirtschaftlichen Modernisierung entgegen zu treten versuchen. Dabei verfolgen sie vor allem zwei historische Ziele: 1) den Aufbau einer repräsentativen liberalen Demokratie mit hoher Integrationsfähigkeit mittels Reform sämtlicher drei Staatsgewalten; und 2) die Entwicklung einer Marktwirtschaft mit hoher Wachstumsrate, die international wettbewerbsfähig sein und gleichzeitig mittels höherer Löhne und Schaffung von Arbeitsplätzen zur Verbesserung der sozialen Bedingungen beitragen soll. Nach einer Phase des Abbaus des interventionistischen Staates zeigen die ideologischen Tendenzen derzeit in Richtung einer Neudefinition der Regierungspolitik im Sinne einer aktiven Rolle des Staates im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft. Der Staat soll eine regulierende und fördernde Funktion ausüben, um das Vakuum zu füllen, dass durch die Privatisierung der Staatsbetriebe entstanden ist. Der Konsens bezüglich der repräsentativen Demokratie und der Marktwirtschaft bewirkt, dass die politischen und ideologischen Differenzen verschwimmen oder sogar reduziert werden. Nach dem Verschwinden der früheren Konfrontationslinie entlang des Populismus verwandeln sich die ideologischen Gegensätze zu einfachen Abweichungen bezüglich der neuen Rolle des Staates innerhalb einer Marktwirtschaft und des Ausbaus und der Vertiefung der repräsentativen Demokratie mittels Dezentralisierung des Staates und stärkerer Bürgerbeteiligung. Die extremen Gegensätze innerhalb des generellen Konsenses werden einerseits von der MNR und andererseits von der ADN/MIR repräsentiert.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die derzeitigen Tendenzen in Bolivien in Richtung der Erhaltung der grundlegenden Strukturen des Mehrparteiensystems gehen, was sich direkt auf das Regierungssystem mit seinem parlamentarischen Charakter auswirkt: -

Effektiv nur vier bis fünf bedeutenden Parteien (siehe Tafel 1 im Anhang),

-

gemäßigter Pluralismus,

-

relative Mehrheiten und „natürliche Minderheiten",

-

Vorherrschaft von drei Parteien, die bei der Regierungsbildung dominieren (MNR, ADN, MIR),

-

Regierungsbildung mittels Koalitionen aus zwei, drei oder sogar vier Parteien.

Im Gegensatz zur Interpretation der Autoren Mainwaring und Scully ist das bolivianische Parteiensystem in zweifacher Hinsicht durchaus erfolgreich gewesen. Erstens ist es ihm gelungen, stabile Bedingungen für den Wettbwerb der Parteien untereinander zu schaffen, und zweitens ist erreicht worden, dass die am System beteiligten Elemente diese Bedingungen akzeptieren und die Rechtmäßigkeit der Wahlen anerkennen. Entsprechend den Überlegungen eben dieser Autoren zur Unterscheidung der politischen Parteien in Lateinamerika, lassen sich folgende Kriterien aufstellen, die eine objektive Beschreibung des Grades der Institutionalisierung der Parteien in Bolivien ermöglichen: 1) Stabilität der demokratischen Spielregeln und Festigung des Wettbewerbs der Parteien untereinander; 2) feste Verankerung der Parteien in der Gesellschaft; 3) Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Wahlen und der Parteien durch sämtliche politischen Akteure; 4) Existenz stabiler Parteiorganisationen (Mainwaring 1995: 4-6). Trotz der Anwendung dieser Kriterien kommen die erwähnten Autoren in Bezug auf Bolivien jedoch zum selben Ergebnis wie für Ecuador oder Brasilien, d. h. dass das System der Parteien noch unausgereift sei. Dieser Interpretation wird hier widersprochen, denn die zweite und vierte Bedingung werden teilweise erfüllt und die erste und dritte vollständig. Wäre dies nicht der Fall, hätten die Parteien es wohl kaum geschafft, die Fähigkeit zu entwickeln, Abkommen zu treffen und stabile Koalitionsregierungen zu bilden.

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Das politische System in Bolivien ist nicht negativ von Außenseitern und systemfeindlichen Kräften beeinflusst worden, wie es in Peru und Venezuela der Fall war. Die einzigen zwei Fälle von Außenseitern - die inzwischen verstorbenen Gründer der Parteien Condepa und UCS, Carlos Palenque bzw. Max Fernández - haben sich letztendlich auch in das Parteiensystem integriert und sogar an Regierungskoalitionen beteiligt.3 Unabhängige Politiker spielen im allgemeinen nur auf kommunaler Ebene eine Rolle. Das politische System leidet jedoch an anderen Problemen, die seine Stabilität gefährden: die Verletzlichkeit der Beziehungen der meisten Parteien zur Gesellschaft, die Schwäche ihrer inneren Organisation und die immer noch existierenden Strukturen des Klientelismus in der Regierung.4 Die Fortschritte bezüglich der Modernisierung des politischen Systems wurden nicht von einer entsprechenden Erneuerung auf dem Gebiet der inneren Parteistruktur begleitet. Wenn auch eine gewisse äußere Modernisierung bei sämtlichen Parteien des Spektrums von links bis rechts zu beobachten ist, existieren die alten Praktiken der Pfründewirtschaft und die autoritären Strukturen in den Entscheidungsprozessen innerhalb der Parteien weiter.5

Repräsentationsprobleme der Parteien Das Parteiensystem hat ein erstaunliches Maß an Stabilität erreicht. Das heißt aber nicht, dass die Parteien die grundlegenden Aufgaben der Bürgerrepräsentation und der Regierungsfuhrung zufriedenstellend erfüllen. Der Großteil ihrer Probleme liegt in ihrem Mangel, sich von innen heraus zu Zu den Gründen, warum die Außenseiter als solche in der bolivianischen Politik keine Erfolge erzielen konnten, siehe Mayorga (1995). Diese in Verbindung zur zunehmenden Korruption stehenden Praktiken zerstören die Glaubwürdigkeit der politischen Parteien, wie aus zahlreichen Umfragen in den 90er Jahren hervorgeht (Pronagob 1995, Latinobarömetro 1996). Wenn die Parteien und der Staat nicht rechtzeitig wirkungsvolle Maßnahmen gegen die Korruption ergreifen, kann der Zusammenbruch des Parteiensystems, wie in Peru, oder die Abwahl der traditionellen Parteien, wie in Venezuela, langfristig nicht ausgeschlossen werden. Die langsame und unzureichende Demokratisierung innerhalb der bolivianischen Parteien bestätigt die Gültigkeit der von Robert Dahl aufgestellten Behauptung, die Parteienkonkurrenz sei viel wichtiger für das Funktionieren eines demokratischen Systems als die innere Demokratie der Parteien (1990: 5).

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erneuern und an die komplexen, vielseitigen Bedürfnisse der Gesellschaft anzupassen, sowie im Mangel an Politikern, die zur wirksamen Regierungs- und Staatsführung fähig sind. Die Parteien sind nach wie vor in erster Linie „Wahlmaschinen", die zur politischen Mobilisierung benutzt werden, sich staatliche Ressourcen aneignen und politische Ämter nach den Gesichtspunkten des Klientelismus verteilen. Die Notwendigkeit, die inneren Strukturen zu modernisieren, und festere, komplexe und kreative Beziehungen zur Gesellschaft aufzubauen, ist bisher noch nicht auf breite Anerkennung gestoßen. Die Ergebnisse der sechs seit 1979 durchgeführten Präsidentschaftswahlen (siehe Anhang) zeigen, wie zerbrechlich die Verbindungen zwischen den Parteien und der Gesellschaft, die sich in Unterstützung bei den Wahlen ausdrückt, wirklich sind. Die Stimmenabgabe ist jeweils das Ergebnis konkreter Erwartungen, die in starkem Maß von der Persönlichkeit der Kandidaten und von spezifischen Interessen und Leistungen der Regierungspartei abhängen. Die Wählerschaft in Bolivien setzt sich nicht aus Gruppen mit gefestigter politischer Identität zusammen, sondern ist gekennzeichnet von der Existenz breiter, verarmter Schichten, die konkrete soziale Forderungen stellen, zu denen die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Bildung, Einkommen und Wohnung gehören. Für einen Großteil der bolivianischen Gesellschaft sind nicht die von den Parteien formulierten politischen Alternativen von Bedeutung, sondern allein die Wahrscheinlichkeit, mit der sie die täglichen Probleme der Menschen lösen werden. Aus diesem Grund haben die politischen Parteien in der Regel weder eine hohe Anzahl von festen Mitgliedern noch eine stabile Wählerschaft innerhalb einer bestimmten sozialen Schicht. Lediglich die weniger bedeutenden Parteien verfügen jeweils über regionale Hochburgen. Alle Parteien beziehen ihre Wähler aus den verschiedenen sozialen Klassen und lehnen daher Klassenideologien ab, so dass sie die Bezeichnung catch-all-parties verdienen. Sowohl für die Parteien, als auch für ihre Wähler, sind die politischen Forderungen verhandelbar und ihre Handlungen werden von Pragmatismus bestimmt.6 In Bolivien tritt das selbe Phänomen auf, das sich 6

Pizzomo schreibt über Europa (1990: 65): „Starke Parteien mit gestalteten Programmen und fester Mitgliederschaft sind ein vorübergehendes Phänomen. Sie werden ins Leben gerufen, um den Eintritt neuer Massen ins politische System zu fördern und zu kontrollieren, aber sobald der Zugang und die Kontrolle erreicht sind, werden sie überflüssig."

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auch anderenorts auf der Welt wiederfinden lässt: der Wandel der Natur der politischen Repräsentation bewirkt den häufigen Wechsel und die Zweckgebundenheit der Unterstützung, die die Wähler den Parteien zukommen lassen.7 Da sie nicht über stabile Wählerschaften verfügen, unterliegen die Parteien starken Schwankungen bei den Wahlen. Das Phänomen der Wechselwähler ist stark verbreitet, was jedoch weder zur Unfähigkeit bei der Koalitionsbildung noch zur Instabilität der Regierungen seit 1985 geführt hat. Nach Angaben von Mainwaring und Scully liegt die mittlere Wechselwählerrate bei Präsidial- und Parlamentswahlen in Bolivien in der Zeit von 1979 bis 1993 bei 36,1%, während die höchste Rate in Lateinamerika in der selben Zeit in Peru und Brasilien erreicht wurde (54,2 bzw. 70%). 8 Der Grund für dieses Wahlverhalten ist wohl in der Veränderung der Funktion der Repräsentation zu suchen, die es dem politischen System nicht gestattet hat, sich auf institutioneller Ebene noch mehr zu konsolidieren. Darüber hinaus ist es eine direkte Konsequenz des natürlichen Verschleisses der Parteien in der Regierungsposition aufgrund ihrer Unfähigkeit, sich nach dem Amtsantritt durch gute Leistungen Legitimation zu verschaffen, vor allem aufgrund ihres Versagens beim Kampf gegen die Armut sowie der Ausbreitung der Korruption. Besonders im Bereich der informellen Wirtschaft ist die Wechselwählerrate und die Fluktuation extrem hoch. Die Schwierigkeit, die Angehörigen dieser Schicht mittels einer Ideologie zu repräsentieren, ist offensichtlich. 9 Mit Ausnahme der Condepa-Partei in der Zeit von 1989 bis zu ihrer Krise hat es seit der Demokratisierung Boliviens keine Partei gegeben, die fest in eiDie Repräsentation ist zweckgebunden und beruht weniger auf Identifizierung mit einer Ideologie oder einem Programm. Andererseits stellen besonders radikale Minderheitengruppen, die oft in Beziehung zur traditionellen Gewerkschaftsbewegung stehen und eine direkte, korporative Beteiligung an den Staatsangelegenheiten befürworten, die nicht „organische" und nicht vom imperativen Mandat abhängige Form der politischen Repräsentation in Frage. Nach den Berechnungen des Autors sank die mittlere Wechselwählerrate bei Präsidial- und Parlamentswahlen anlässlich der Wahlen im Juni 1997 in Bolivien weiter auf 21,07%. Das soll aber nicht heißen, dass die informellen Bereiche oder die unteren Gesellschaftsschichten nicht repräsentiert werden können, wie O'Donnell (1993) und Weffort (1990) behaupten.

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nem spezifischen Bereich der Gesellschaft verwurzelt gewesen ist. Das macht sich zum Beispiel am Wahlverhalten der Mittelschicht deutlich, die in der Zeit von 1979 bis 1989 bevorzugt ADN wählte, bei den Wahlen 1993 aber mehrheitlich die MNR unterstützte, bevor sie 1997 erneut wechselte, um ihre Stimmen wieder der ADN und dem MIR zu geben. Zusammenfassend lässt sich bemerken, dass die Probleme des Parteiensystems in Bolivien nicht in der Zerbrechlichkeit oder der fehlenden Reife der Institutionen zu suchen sind, sondern vielmehr in dem fortschreitenden und gleichzeitig widersprüchlichen Prozess der Institutionalisierung, in dem die Parteien zu den Schlüsselfiguren des demokratischen Staates geworden sind. Die Tatsache, dass sie in der Regel nicht einen einzigen gesellschaftlichen Bereich repräsentieren, widerspricht nicht der Existenz einer ganzen Reihe von schwerwiegenden, negativen Problemen und Entwicklungen. Zu diesen gehören die Unfähigkeit, ihre politische Führung zu erneuern, der Mangel an innerer Demokratie, die geringe Beziehung der Parteien zu gesellschaftlichen Organisationen, die geringe Fähigkeit zu einer wirksamen Regierungspolitik gegen Armut und Korruption, der Mangel an Übereinstimmung zwischen politischem Diskurs und praktischem Handeln, der Missbrauch der staatlichen Ressourcen, die Tendenz zur Streuung der Stimmen für die Parteien der Mitte, der zunehmende Regionalismus, die Personalisierung der Parteien und Kandidaten bei Kommunalwahlen sowie die Häufigkeit, mit der machthungrige Einzelkandidaten ad-hoc-Gruppierungen gründen. In jüngster Zeit sind zwar Anzeichen eines Vertrauensverlustes der Parteien zu beobachten, aber es ist trotzdem nicht zu leugnen, dass die Parteien einen großen Erfolg hinsichtlich der Schaffung stabiler Bedingungen für die vereinbarte Demokratie, die Stärkung des Wettbewerbs unter den Parteien und die Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Wahlen erzielt haben.

Das Wahlsystem und sein Einfluss auf das Regierungs- und Parteiensystem Die Wahlen haben eine grundlegende Rolle im Prozess der institutionellen Bestätigung des entstandenen Mehrparteiensystems gespielt. Die Parteien und die Führungsfiguren bestätigen in zunehmendem Maß die Bedeutung und die Notwendigkeit demokratischer Wahlen zur Erhöhung der Legiti-

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mation des demokratischen Systems und zur Garantie verfassungsmäßiger Verfahren bei der Auswahl und Bestätigung rechtmäßiger, stabiler Regierungen. Nach der Regierungskrise der UDP (Unión Democrática Popular, 1982-85) waren die folgenden Wahlen (1985, 89, 93 und 97) von Stabilität gekennzeichnet und die vier entsprechenden demokratischen Regierungsund Präsidentenwechsel ermöglichten eine Kontinuität des demokratischen Systems, die das Land seit 1960 nicht mehr gesehen hatte. Darüber hinaus hatten die Wahlen trotz gewisser Schwächen des Systems tiefgreifende und dauerhafte Auswirkungen auf die Entwicklung des Parteiensystems, seine Funktionen und Tendenzen, sowie auf die Kontinuität der politischen Führung. Einerseits wurde ermöglicht, einen institutionellen Rahmen für den demokratischen Wettbwerb der verschiedenen politischen Kräfte zu konstruieren, der die Rolle der Parteien als Organisationen der Repräsentation und Kanalisation der gesellschaftlichen Interessen und Forderungen stärkte. Auf diese Weise wurden die Verhandlungsmechanismen des politischen Systems wieder hergestellt. Das bedeutet, dass ohne die Wahlverfahren diese allmähliche Entwicklung des politischen Systems und die Schlüsselrolle der Parteien in diesem Prozess undenkbar gewesen wären. Wenn diese Entwicklung auch voller Widersprüche und nicht immer gradlinig gewesen ist, so hat sie den Parteien doch immerhin eine stärkere Unabhängigkeit gegenüber den Gewerkschaften, den Privatunternehmen und den Regionalbewegungen gebracht. Das soll nicht heißen, dass die Gefahren der alten, starken Tradition des Korporativismus und der Unterordnung des Staates unter den korporativen Druck der Gewerkschaften, Unternehmer und anderer gesellschaftlicher und regionaler Gruppen für immer gebannt sind. Andererseits verlief diese Entwicklung parallel zu einem Reform- und Anpassungsprozess des Wahlsystems. Das heute gültige System ist das Resultat eines weit greifenden Prozesses der Reform des politischen Systems, der in den Jahren von 1990 bis 1994 durchgeführt wurde. Dieser Prozess wurde ausgelöst von den ernsten Problemen, die sich aus der Anwendung des früheren Systems der proportionalen Repräsentation ergaben. Das damalige Verhältniswahlrecht beeinträchtigte die Legitimität der Wahlen und die Glaubwürdigkeit der Parteien und politischen Führerfiguren, besonders nach der Manipulation der Wahlergebnisse von 1989. Die Reform der

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neunziger Jahre bedeutete eine bis dahin in der jüngeren Geschichte Boliviens unbekannte Veränderung.10 Die allgemeinen Wahlen fanden früher meist in einer beunruhigenden Atmosphäre der Instabilität der äußeren Bedingungen statt. Bolivien war keine Ausnahme unter denjenigen Ländern Lateinamerikas und Südeuropas, die einen Demokratisierungsprozess durchliefen." Das erste Wahlgesetz der Übergangszeit, 1980 verabschiedet und 1986 teilweise reformiert, war äußerst unzureichend und erfüllte die modernen Anforderungen nach Transparenz und Eindeutigkeit nicht, die die Legitimität der Wahlergebnisse sowie die Umformung der Stimmen in politische Macht garantiert hätten. Es ist nicht zu leugnen, dass die Wahlrechtsreformen von 1986, 1991 und 1996 nicht von politischen Strategien, sondern von Improvisation und vom Druck, der von verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Gruppen ausging, abhingen. Die politischen Führerfiguren hatten darüber hinaus wenig Erfahrung auf dem Gebiet der politischen Reformen. Sartori schreibt, die Veränderung durch Reformen stelle sich immer als schwierig dar, da sie zwangsläufig auf das Problem stoße, dass die Agenten der Veränderung nicht wissen, wie sie es anstellen sollten (1995: 28). Gleichwohl muss anerkannt werden, dass die Wahlrechtsreformen zwei sehr positive Konsequenzen hatten. Erstens ermöglichten sie verschiedene politische Abkommen unter den im Parlament vertretenen Parteien, deren bedeutendstes das „Nationale Abkommen zur Modernisierung des Staates" vom Juli 1992 war, das zu einer Reihe von dringenden Reformen der Verfassung führte. Zweitens hatten die neuen Wahlgesetze zur Folge, dass die Tendenzen zur Konfrontation unter den Parteien eingeschränkt bzw. ganz eliminiert wurden. Die Veränderungen brachten neue politische Verhaltensmuster mit sich, die weniger auf Extremismen und eher auf einer Ori10

Im Verlauf des 20. Jhdt. hat Bolivien auch vor der Verabschiedung des derzeitigen Gesetzes von 1996 viele Veränderungen des Wahlgesetzes erlebt. Die wichtigsten waren die der Jahre 1924, 1956 und 1980.

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Wie O'Donnell und Schmitter zeigen, erlebte die Gestaltung der politischen Spielregeln ständige Veränderungen, was zu starken Auseinandersetzungen führte; andererseits kämpften die politischen Agenten nicht nur um die sofortige Befriedigung ihrer Interessen und/oder der Interessen der Gruppen, die sie zu repräsentieren vorgaben, sondern auch darum, die Vorgehensweisen der Prozesse zu definieren, von denen die Bestimmung der zukünftigen Sieger und Verlierer abhingen (O'Donnell 1986: 6).

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entierung zur Mitte hin bauten, wodurch die Bildung von parlamentarischen und Regierungskoalitionen ermöglicht wurde. Ein entscheidender Schritt in dieser Richtung war eben die Lösung der Probleme des Wahlsystems, indem klare Spielregeln aufgestellt wurden (Mayorga 1994). Das vor der Reform von 1996 bestehende Wahlsystem unterschied sich nicht grundsätzlich von ähnlichen Verfahren in anderen Ländern Lateinamerikas. Es handelte sich um ein Verhältniswahlsystem mit geschlossenen Listen nach d'Hondt. Gewählt wurden 130 Mitglieder der Abgeordnetenkammer in neun so genannten „plurinominalen" Wahlkreisen, die den neun Bezirken (departamentos) des Landes entsprachen. Für die 27 Sitze des Senats bestimmte der Artikel 63 der Verfassung, dass in jedem Bezirk diejenige Partei, die eine relative Mehrheit erzielte, zwei Senatoren stellen durfte, während der dritte Sitz der jeweils zweitstärksten Partei zugeordnet wurde. Eine weitere sehr wichtige Bestimmung war der Artikel 90 der CPE, der vorschrieb, dass der Präsident, wenn bei der Direktwahl kein Kandidat eine absolute Mehrheit erzielte, vom Parlament unter den zwei Kandidaten mit den meisten Stimmen gewählt wurde (vor der Reform von 1994 unter den drei Kandidaten mit den meisten Stimmen). Die verschiedenen Reformen von 1996 griffen das Verhältniswahlsystem nicht an, sondern beschrieben lediglich verschiedene Versionen der proportionalen Repräsentation, teilweise widersprüchlich. Die aus dem Jahre 1956 stammende d'Hondtsche Formel wurde 1979 ersetzt durch den so genannten „doppelten Quotienten zur Beteiligung und Sitzverteilung", dessen Hauptabsicht darin bestand, kleineren Parteien den Zugang zum Kongress zu sperren.12 Eine genau entgegengesetzte Absicht stand hinter der Einfiih12

Der „doppelte Quotient" zur Umrechnung der abgegebenen Stimmen in Sitze der Abgeordnetenkammer, der für die kleineren Parteien eine unüberwindbare Hürde darstellte, bestand darin, dass nur die Parteien an der Sitzverteilung im Parlament teilnehmen konnten, die eine Mindeststimmenzahl erreichten, die dem Quotienten aus der Gesamtzahl der gültigen Stimmen durch die Anzahl der Sitze entsprach. Zu diesem Verteilungsquotienten kam noch eine weitere Bestimmung, die die restlichen Sitze entsprechend der Reststimmenanzahl an sämtliche Parteien verteilte, wobei jedoch auch die großen Parteien bevorzugt wurden. Allerdings beinhaltete eben dieser Artikel 156 des Wahlgesetzes eine zweideutige Klausel, die die Zulassung von Minderheitenparteien „in Ausnahmefallen" wiederum zuließ. Zu diesen Ausnahmefällen kam es nur, wenn spezielle augenblickliche Interessen dafür sprachen und die drei großen Parteien ADN, MIR, MNR ihre Zustimmung gaben. Diese drei Parteien übten praktisch die Kontrolle über den Nationalen Wahlrat und somit über die Verfassungsänderungen aus.

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rung der Saint-Lagüe-Formel 1991 für die Parlaments- und Präsidialwahlen 1993, die die Repräsentation der kleinen Parteien fördern sollte. Innerhalb eines Verhältniswahlsystems, das die Bezirke in verschiedene Distrikte unterteilte, wurde es den kleinen Parteien leichter gemacht, einen Parlamentssitz zu gewinnen, sobald sie 1 bis 1,5% der Stimmen erhielten. Darüber hinaus war das politische System, jenseits der d'Hondt- oder Saint-LagüeFormel sehr offen für die kleinen Parteien. Die erste Reformwelle mit weit reichender Wirkung im Jahre 1991 hatte widersinnigerweise keine Auswirkungen auf das herrschende System der Repräsentation, sondern führte vielmehr zu folgenden Veränderungen: 1) Einrichtung eines unabhängigen Nationalen Wahlrats, der aus sechs Mitgliedern bestand, von denen fünf keine Beziehungen zu einer bestimmten Partei unterhielten und die mit Zweidrittelmehrheit vom Kongress gewählt wurden, während ein weiteres Mitglied direkt vom Präsidenten bestimmt wurde; 2) Einführung von Verfahren zur Auswertung der Stimmen unter Anwendung des zentralen Prinzips der Präklusion (Art. 171 des Wahlgesetzes); 3) Abschaffung der Verfahren zur Stimmenauszählung, die Manipulation und Verfälschung der Wahlergebnisse ermöglichten, sowohl in den Bezirkswahlräten als auch im Nationalen Wahlrat. Für den Wandel war die Verfassungsreform im August 1994 - ihrerseits Konsequenz des „Nationalen Abkommens zur Modernisierung des Staates" von 1992 — äußerst wichtig, da sie den bedeutendsten Richtungswechsel aller Zeiten für das Wahlsystem bewirkte. Mit wenigen Änderungen handelte es sich um die Übernahme des Verhältniswahlsystems nach deutschem Muster. Aus welchem Grund wurde dieses Vorbild ausgewählt? Unter den Gründen und Ursachen sind vor allem die folgenden zu nennen: 1) die Sorge bezüglich der Repräsentation der politischen Parteien aufgrund der Dominanz der geschlossenen Kandidatenlisten, die von der Parteiführung bestimmt wurden und keine Beziehung zwischen den Abgeordneten und ihren Wählern entstehen ließen; 2) die Enttäuschung auf Seiten der Wähler über die fehlende Verantwortlichkeit auf Seiten der Parteien in der Regierung; 3) die Gefahr einer zunehmenden Entfremdung zwischen Parteien und Gesellschaft; 4) die Notwendigkeit, Verfahren einzuführen, die diese Entwicklung stoppten, indem die Stimmenabgabe personalisiert wurde, das heißt, dass Volksvertreter und vertretenes Volk sich einander annäherten und eine kohärente Ausdrucksform für die Interessen und Forderungen der Wähler gefunden wurde.

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Im August 1996 verabschiedete der Kongress ein Gesetz, das die Wiedereinführung der proportionalen Repräsentation nach d'Hondt bedeutete und darüber hinaus erstmalig eine Dreiprozentklausel fur die den „plurinominalen" Wahlkreisen entsprechenden Sitze der Abgeordnetenkammer einführte. Nach diesem neuen System werden 68 der insgesamt 130 Sitze entsprechend der einfachen Mehrheit in kleineren, so genannten „uninominalen" Wahlkreisen besetzt, während die restlichen 62 Sitze in größeren, den neun Bezirken entsprechenden „plurinominalen" Wahlkreisen mittels Listenwahl nach d'Hondt verteilt werden. Anders als in Deutschland oder Venezuela jedoch sieht das Gesetz keine Regelungen für Überhangmandate vor. Ein Sitz wird in Bolivien direkt dem Kandidaten zugesprochen, der in einem „uninominalen" Wahlkreis gewonnen hat, auch wenn seine Partei in keinem anderen Wahlkreis die Mehrheit hat. Abgesehen davon erfolgt die Sitzverteilung nach d'Hondt unter Berücksichtigung der Drei-Prozent-Hürde. Wenn beispielsweise eine Partei zehn Sitze über die Listenwahl in den „plurinominalen" Bezirken erhält und fünf in „uninominalen" Wahlkreisen, so besetzt sie am Ende insgesamt zehn Sitze, um die Verhältnismäßigkeit zu wahren.13 Durch die Kombination von Pluralität in den „uninominalen" Wahlkreisen und proportionaler Repräsentation in den neun „plurinominalen" Wahlkreisen ist dieses Wahlsystem der „personalisierten proportionalen Repräsentation" (fälschlich auch „gemischtes System" genannt) zu einer funktionierenden Alternative für die Erhöhung der Legitimation und Stärkung der Repräsentationsfunktion der Parteien geworden. In erster Linie ging es darum, die geschlossenen Kandidatenlisten für die Wahl zur Abgeordnetenkammer, die vorher meist von den Parteiführern nach subjektiven Kriterien zusammengestellt wurden, zu verändern und somit die Personalisierung der StimJeder Wähler hat eine Erststimme für den „uninominalen" Wahlkreis und eine Zweitstimme für die Liste der Abgeordneten, die den Kandidaten für die Präsidentschaft, die Vizepräsidentschaft und die Senatoren einer jeden Partei zugeordnet sind. Theoretisch ermöglich dieses System eine „gemischte" Stimmenabgabe, das heißt, das Verteilen der zwei Stimmen des selben Wählers auf Kandidaten unterschiedlicher Parteien. Es darf aber nicht vergessen werden, dass dieses System trotzdem ein Verhältniswahlsystem darstellt, da es, wie zum Beispiel in Deutschland, die Sitze auf die Parteien verteilt, indem von der Anzahl der über die Listenwahl in den Bezirken gewonnenen Sitze die Anzahl der durch Mehrheit in den „uninominalen" Wahlkreisen gewonnenen Sitze abgezogen werden. Dieses System ist in erster Linie ein Verhältniswahlsystem, das jedoch auf gewisse Weise durch das System der einfachen Mehrheit kompensiert wird (Nohlen 1995: 108-109).

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menabgabe zu stimulieren. Das neue System hat den Vorteil, dass die gewählten Kandidaten eine engere Beziehung zu ihrem jeweiligen Wahlkreis haben, wodurch die Repräsentationsfähigkeit der Parteien erhöht und die Beziehung zwischen Vertretenen und Vertretern verbessert wird (Mayorga 2001b).14

Die Regierung im parlamentarischen Präsidialsystem Die Entwicklung des gemäßigten Mehrparteiensystems und das Verhältniswahlsystem mit seinen verschiedenen Varianten stehen in enger Beziehung zur Entwicklung eines Regierungssystems sui generis, das hier „parlamentarisches Präsidialsystem" genannt werden soll. Diese Art der Regierung wird in zeitgenössischen Analysen der Demokratie und des Präsidialsystems in Lateinamerika oft missverstanden oder falsch interpretiert, und ist dennoch von entscheidender Bedeutung, um das Verhalten der politischen Führerfiguren verstehen zu können.15

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Die „uninominalen" Wahlkreise wurden nach folgenden drei Kriterien eingerichtet: 1) Bevölkerungszahl; 2) geografische Kontinuität, territoriale Gleichmäßigkeit und Harmonie; 3) Rücksichtnahme auf die Bezirksgrenzen (Art. 4 des Gesetzes zur Anwendung von Art. 60 der Verfassung). Die „plurinominalen" Wahlkreise entsprechen wie in früheren Systemen den neun Bezirken des Landes. Angesichts der Bevölkerungszunahme der letzten drei Jahrzehnte jedoch wurde auch eine Anpassung des Verhältnisses zwischen Sitzzahl und neuer Bevölkerungszahl gemäß der Volkszählung von 1992 durchgeführt, was zu einer Erhöhung der Sitzzahl vor allem in den Bezirken La Paz, Cochabamba und Santa Cruz führte. Das Wahlsystem für den Senat hat keine Veränderung erfahren. Entsprechend dem Prinzip der mehrheitlichen Repräsentation, die den ländlichen Gegenden einen gewissen Vorteil gegenüber den Städten bringt, werden die Senatoren nach dem Mehrheitssystem gewählt. Ebenso wie in den „plurinominalen" Wahlkreisen erscheinen die Kandidaten zum Senat auf den Listen der Präsidentschafts- und Vizepräsidentschafitskandidaten.

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Im Rahmen der Diskussion um präsidiale und parlamentarische Systeme hat sich die Mehrheit der Politologen in Bezug auf Bolivien immer schwer getan, wenn es darum ging, das bolivianische System zu definieren. Sartori, der Bolivien noch immer als ein instabiles Land mit „hoher Wahrscheinlichkeit für einen Zusammenbruch" betrachtet, bezeichnet das System mit seiner Alternative der Wahl des Präsidenten durch das Parlament, wenn die Direktwahl keine Mehrheit ergibt, als „einen fraglichen Fall, der sich stark der Direktwahl annähert" (1994a; 107). Lijphart interpretiert Bolivien als einen „problematischen Fall", denn „die Kompetenz des Kongresses ist durch die vorhergehende Direktwahl durch das Volk stark beeinträchtigt" (1994: 94). Mainwaring wiederum definiert das bolivianische Präsidial-

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Der Autor Juan Linz legte die Betonung ausdrücklich auf die parlamentarischen Züge des bolivianischen Regierungssystems: „In einer politischen Ausgangssituation, die aufgrund des Präsidialsystems als grundsätzlich inkonsequent bezeichnet werden kann, hat die bolivianische Politik in vielfacher Hinsicht eher als ein parlamentarisches System funktioniert, das heißt mit politischen Abkommen und Mehrparteien-Regierungen, aber ohne viele der charakteristischen Elemente eines wahren Parlamentarismus" (1994: 37-38). Wieso aber kann das bolivianische Präsidialsystem wie ein parlamentarisches System funktionieren und gleichzeitig mit der Funktionsweise eines reinen Präsidialsystems brechen? Die Antwort auf diese Frage muss in Betracht ziehen, dass der grundlegende Richtungswechsel innerhalb des bolivianischen Präsidialsystems im Schritt von zersplitterten Minderheitsregierungen zu einem parlamentarischen Präsidialsystem besteht, das auf Regierungskoalitionen baut, die Mehrheitsregierungen ermöglichen. Das parlamentarische Präsidialsystem ist von den Parteienkoalitionen und von der Wahl des Präsidenten durch den Kongress abhängig. Und eben diese Abhängigkeit definiert auf positive Art die Struktur und die Funktionsweise des derzeitigen bolivianischen Regierungssystems. Diese Abhängigkeit ist sogar in den politischen Verhaltensweisen der Parteien und der politischen Elite stark institutionalisiert.16

system zurecht als ein für das zeitgenössische Lateinamerika „höchst ungewöhnliches", aber begeht dann den Fehler, es als „wechselhaftes System" zu bezeichnen (1990: 4-5). Im Rahmen dieser Diskussion sind nur zwei löbliche Ausnahmen zu finden. Shugart und Carey bemerken als positiv, dass das bolivianische System „die Koalitionen eines Mehrparteien-Parlamentarismus mit der Regierungsstabilität eines Einparteien-Parlamentarismus oder eines (wahren) Präsidialsystems verbindet" (1992: 84-85, 161). Die Autoren halten den Erfolg der Wirtschaftspolitik seit 1985 den Mehrparteien-Koalitionen zugute, ohne die keine demokratische Regierung zu Stande gekommen wäre, und stellen diesen Umstand als eine wichtige Lektion dar, die sich aus der jüngeren bolivianischen Geschichte ziehen lässt. Andererseits beschreiben sie das Regierungssystem im Vergleich zu dem der Schweiz als „unabhängige Regierung der Legislative", da die Regierung weder vom Parlament abhängt noch diesem Rechenschaft schuldig ist. 16

Linz schreibt über das parlamentarische Präsidialsystem im Zusammenhang eines Vorschlags zur Änderung des Regierungssystems mit dem Ziel, „das Risiko und die Nachteile einer Minderheits-Präsidentschaft" zu reduzieren, „dem Mangel an Flexibilität des Präsidialsystems abzuhelfen und das Risiko der Unregierbarkeit zu verringern, indem die Möglichkeit zum konstruktiven Misstrauensvotum im Fall von Minderheits-Präsidentschaften geschaffen wird und, falls die Situation keinen anderen Ausweg zulässt, der Kongress die Entscheidungsgewalt den Wählern in Form von Neuwahlen zur Präsidentschaft und zum Parlament überlässt". Der Autor nennt

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Das zentrale Argument des hier vorliegenden Beitrags besteht darin, dass die politischen Abkommen, die die Parteien zur Regierungsbildung schließen, die grundlegenden Mechanismen des neuen bolivianischen Regierungssystems bilden. Sie funktionieren auf der Ebene des Parlaments und sind daher das Ergebnis einer besonderen Mischung aus Grundstrukturen der zwei Systeme, des präsidialen und des parlamentarischen. Das Regierungssystem ist ein präsidiales, da der Präsident als Staats- und Regierungschef ein festes Mandat erteilt bekommt und trotz seiner Wahl durch den Kongress nicht vom Vertrauen des Parlaments abhängt. Dennoch spielt das Parlament eine sehr wichtige Rolle, denn erstens ist es die Quelle, aus der die demokratischen Regierungen entstehen und zweitens ist es die Institution, die diese Regierungen für verfassungsmäßig erklärt. Auch wenn der Präsident nach seiner Wahl nicht vom Parlament abgesetzt werden kann und sein Mandat während eines parlamentarischen Misstrauensvotums zunächst weiterläuft, so ist seine Legitimität doch nicht unabhängig von der des Kongresses und seine Regierungsgewalt ist ebenso wenig unabhängig von der parlamentarischen Mehrheit. In diesem Zusammenhang erscheint das Adjektiv „parlamentarisch" als Zusatz zum Präsidialsystem passend, denn der Präsident wird vom Kongress gewählt, aber seine Handlungsmöglichkeiten sind von der parlamentarischen Mehrheit - die nach den Wahlen durch Verhandlungen der Parteien untereinander erreicht wird — abhängig, wodurch die parlamentarische Unterstützung der Regierungsführung des Präsidenten und somit die Kompatibilität zwischen Exekutive und Legislative gesichert ist. Die grundsätzliche Dynamik des hier vorliegenden Regierungssystems unterscheidet sich also nicht von der Politik der Koalitionen eines parlamentarischen Systems (Laver 1991: 1-14). Diese Politik entspricht außerdem der Funktionsweise des nested game, das heißt, eines doppelten Spiels im Rahmen einer doppelten Zweckmäßigkeit des Wettbewerbs bei den Wahlen (Tsebelis 1990). Die bolivianischen Parteien beabsichtigen, ebenso wie die anderer Ländern, ihren Stimmenanteil zu maximieren, aber sie unterscheiden sich dadurch, dass sie damit rechnen, dass der Moment der Stimmenabgabe nicht der entscheidende Zeitpunkt ist, sondern lediglich eine Vorstufe, die die Startpositionen der Pardieses Modell „alternatives Präsidialsystem" im Sinne Sartoris zur Lösung der vom Präsidialsystem provozierten politischen „Sackgassen" (Linz 1994: 86).

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teien festlegt, bevor die entscheidende Phase der Verhandlungen nach den Wahlen beginnt, in der bestimmt wird, welche Parteien es schaffen, sich zu einer Mehrheitskoalition zusammenschließen, aus der dann die Regierung hervorgeht. Dieses Verhaltensmuster hat eine Harmonisierung der Beziehungen der Kongressparteien untereinander sowie zwischen ihnen und der Exekutive ermöglicht und so die Stabilität der Regierungen gefestigt. Artikel 90 der Verfassung, der das Schlüsselelement der Wahl des Präsidenten darstellt, legt das Verfahren fest, mit dem das Parlament den Präsidenten der Republik wählt. In diesem Artikel sind keine spezifischen Maßnahmen zur Verhandlung von politischen Abkommen enthalten, aber die Tatsache, dass die Verfassung bestimmt, der Präsident sei durch den Kongress zu wählen, wenn kein Kandidat bei der Direktwahl eine absolute Mehrheit erzielt hat, schafft einen institutionellen Rahmen, der der Zusammenarbeit der Parteien untereinander dienlich ist und die Bildung von Koalitionen fordert. Dieser Artikel 90 ist somit von entscheidender Bedeutung für die Entstehung des derzeitigen Regierungssystems. Seit der Verfassungsreform von 1994 legt er fest, dass der Kongress den Präsidenten mit absoluter Mehrheit aus den zwei Kandidaten (vor 1994: drei Kandidaten) wählt, die bei der Direktwahl die meisten Stimmen erhalten haben, wenn keiner von ihnen bei dieser Direktwahl eine absolute Mehrheit erreicht hat. Diese Regelung war zum ersten Mal in der Verfassung von 1851 enthalten und kam im 19. Jahrhundert zweimal zur Anwendung, ebenso wie zweimal in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts und bis 1970 auch in Chile. Seit der Demokratisierung 1979 jedoch wird dieser Artikel ständig angewandt und ist zum wichtigsten Grundstein der Wahl des Präsidenten geworden. Die Anerkennung dieser Maßnahme durch die Gesellschaft und sogar auch durch viele Politiker stellte sich als komplizierter Prozess heraus und ging zunächst nur allmählich und mit großen Schwierigkeiten von statten. Die zunächst unterlegenen Parteien und sogar das „Patriotische Abkommen" (AP) waren nach der Wahl von Paz Zamora 1989 gegen diese Bestimmung. Sowohl die MNR wie das AP unternahmen 1990 und 1991 den Versuch, den Artikel 90 durch das System eines zweiten Wahlgangs oder durch eine Mehrheitsformel zu ersetzen. Aber die Ironie der Geschichte verfügte, dass sich das parlamentarische Präsidialsystem ohne weitere Anpassungen der Verfassung durchsetzte, quasi als unbeabsichtigte, ja un-

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vermeidbare Konsequenz aus der Unstimmigkeit der Parteien über die Verfassungsänderung. Die tiefer liegenden Gründe für diese allmähliche und zunächst widerwillige Anerkennung sind in zwei strukturellen Prozessen zu finden, die in enger Beziehung zueinander stehen. Erstens hat es seit der ersten freien Wahlen 1979 nie eine absolute Mehrheit gegeben. Zweitens hat die Struktur des bolivianischen Mehrparteiensystems nie die Vorherrschaft einer einzigen starken Partei erlaubt, die dazu in der Lage gewesen wäre, eine absolute Mehrheit zu erzielen. Es ist also die Tradition der relativen Mehrheiten bei Parlaments- und Präsidialwahlen seit der Rückkehr zur Demokratie, die das Parlament und die Führerfiguren in einen verfassungsmäßigen Rahmen hineingeführt hat und die privilegierte Situation schuf, dass der Präsident der Republik vom Kongress gewählt wird. Die Verfassung wurde so zu dem schützenden institutionellen Rahmen, der die Bildung von parlamentarischen und Regierungskoalitionen ermöglichte. Durch die Orientierung der Parteien hin zur politischen Mitte und das besondere Verfahren der Wahl des Präsidenten haben sich praktisch sämtliche Parteien, die seit 1989 im Parlament vertreten gewesen sind sogar kleinere Parteien, wie die MBL - zu potentiellen Regierungsmitgliedern entwickelt, und derzeit sind praktisch alle denkbaren politischen Abkommen theoretisch möglich. Diese Entwicklung hat mit sich gebracht, dass das „Nullsummenspiel" beseitigt wurde und dass das Parteien- und das Wahlsystem in der Lage gewesen sind, den politischen Agenten Anreize und Ausgleiche zu bieten, die diese dazu bewegten, die herrschenden Spielregeln zu unterstützen. Die Notwendigkeit, das Risiko der politischen Zerstörung, die die erste verfassungsmäßige Regierung unter Siles Zuazo (1982-1985) beendete, zu verhindern, führte dazu, dass die Parteien bei Verhandlungen und Diskussionen von Abkommen immer offener wurden. Eben in dieser Offenheit besteht die Besonderheit des Regierungssystems von Bolivien, die es von anderen lateinamerikanischen Präsidialsystemen unterscheidet. Es ist der Verdienst des bolivianischen Systems, dass die grundlegenden Probleme des Präsidialsystems überwunden wurden, speziell die Probleme des Präsidialsystems in einem Mehrparteien-Kontext mit einer Minderheitsregierung, die einer parlamentarischen Mehrheit gegenüber steht. Die dadurch bedingten Probleme der Konfrontation zwischen Exekutive und Legislative und ihre Konsequenzen — Stagnation, Lähmung der Institutionen und Regierungsunfähigkeit —

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Institutionen und Regierungsunfähigkeit - scheinen im Präsidialsystem Boliviens der Vergangenheit anzugehören. Aufgrund des Umstands, dass das parlamentarische Präsidialsystem im Rahmen eines gemäßigten Mehrparteiensystems mit drei bedeutenden, zur Mitte orientierten Parteien funktioniert, bewegt sich das Spiel der Konkurrenz der Parteien untereinander auf einer verfassungsmäßigen Ebene. Das bedeutet, dass das bolivianische Präsidialsystem mit seinen parlamentarischen Zügen eine deutliche Abweichung vom „reinen Präsidialsystem" darstellt. In den Worten Sartoris könnte man sagen, das bolivianische Präsidialsystem funktioniert in gewissem Sinne um so besser, je weniger „präsidial" es ist. Widerlegt wird damit die These Lijpharts, nach der jedes Präsidialsystem an sich „den zur Demokratisierung und Konfliktlösung notwendigen Kompromissen und Abkommen gegenüber feindlich" eingestellt ist (1994: 97). Die Auswirkungen des Verhältniswahlsystems auf das gemäßigte Mehrparteiensystem, besonders die Reduzierung der Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien, sind in erster Linie eine Konsequenz der Wahl des Präsidenten durch den Kongress und weniger des Verhältniswahlsystems an sich. In mehrerer Hinsicht hat das gemäßigte Mehrparteiensystem eine Stärkung trotz dieses Wahlsystems erfahren, aber nicht wegen des Wahlsystems. Die Reduzierung der Parteienanzahl aufgrund des Wahlsystems ist eher als unbedeutend einzuschätzen. Artikel 90 der Verfassung ist der eigentlich entscheidende Faktor für diese Reduzierung. Dieser Artikel hat nicht nur dazu geführt, dass die Anzahl der Parteien abgenommen hat, sondern hat darüber hinaus die Orientierung der Parteien in Richtung der Mitte und die Bereitschaft zur politischen Kompromissfindung verstärkt. Das demokratische Systems Boliviens hat sich vor allem dadurch hervorgetan, dass es Verfahren entwickelt hat, um die schwierige „Gleichung" Präsidialsystem / zersplittertes Mehrparteiensystem / Verhältniswahlsystem zu lösen. Damit wurde eine Störquelle, die permanent politische Konflikte und dadurch die Instabilität der Regierung provoziert und die Zukunft der Institutionalisierung der Demokratie in Frage gestellt hatte, zunächst stillgelegt (Mainwaring 1990: 4). Dank des Systems der Präsidentenwahl durch den Kongress und der Kompromissbereitschaft der Parteien stellen sich in Bolivien seit 1985 nicht mehr die Probleme, mit denen andere lateinamerikanische Präsidialsysteme zu kämpfen haben: die Unvereinbarkeit von Exe-

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kutive und Legislative, die institutionelle Lähmung und vor allem die Verletzlichkeit von Minderheitsregierungen (Linz 1994). In diesem Sinne stellt die bolivianische Methode der parlamentarischen Mehrheitsbildung eine bedeutende Abweichung von anderen Präsidialsystemen Lateinamerikas dar, in denen es laut Linz keine institutionellen Verfahren der Kooperation zur Koalitionsbildung gibt, für den Fall, dass keine Partei über eine absolute Mehrheit verfügt, mit der sie regieren könnte. Die Eigenschaften des Parlamentarismus, die dieses besondere präsidiale Regierungssystem aufweist, bestehen darin, dass der Präsident durch den Kongress mit einer parlamentarischen Mehrheit gewählt werden muss, die sich aus Verhandlungen der Parteien untereinander ergibt, nachdem die Direktwahl stattgefunden hat und es keinen Wahlsieger mit absoluter Mehrheit gibt. Diese Verhandlungen nach der Wahl garantieren die parlamentarische Unterstützung des zukünftigen Präsidenten und die Vereinbarkeit von Exekutive und Legislative. Aus diesem Grund ist „parlamentarisches Präsidialsystem" die treffende Bezeichnung für das bolivianische Regierungssystem. Aufgrund der Orientierung zur Mitte sämtlicher Parteien sind sie alle zu potentiellen Mitgliedern einer Regierungskoalition geworden und derzeit lässt sich durchaus sagen, dass praktisch alle denkbaren politischen Abkommen theoretisch möglich sind. Das bedeutet, dass sowohl Wahl- als auch Parteiensystem in ausreichendem Maße in der Lage gewesen sind, den politischen Parteien, unabhängig von der Größer der Organisation, Anreize und Ausgleiche zu bieten, die sie dazu bewegen, die herrschenden Spielregeln zu unterstützen. Die Notwendigkeit, das Risiko der politischen Zerstörung, die die erste verfassungsmäßige Regierung stürzte, die von 1982 bis 1985 an der Macht war, zu verhindern, führte dazu, dass die Parteien bei Verhandlungen und Diskussionen von Abkommen immer offener wurden. Das parlamentarisches Präsidialsystem hat es geschafft, die reale Funktionsweise der Staatsgewalten und das Prinzip der Unabhängigkeit tatsächlich neu zu definieren. Die Regierungsbildung auf der Basis von Parteienkoalitionen hat der Exekutive die Schaffung parlamentarischer Mehrheiten ermöglicht. Auf diese Weise wurde eine bis dahin unbekannte Art des Politikverständnisses eingeführt, das parlamentarischen Grundsätzen folgte und über die parlamentarische Regierungsmehrheit eine notwendige Verbindung zwischen Exekutive und Kongress herstellte. Angesichts der charakteristischen Form der für parlamentarische Zwei- und Mehrparteiensysteme

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kennzeichnenden Interaktion (Laver 1992 und 1996) besteht die Rolle und die Verantwortlichkeit der parlamentarischen Mehrheit vor allem darin, die Regierung zu unterstützen und die Durchführbarkeit der Regierungspolitik zu garantieren. Es ist also nicht zu bezweifeln, dass das bolivianische Parlament zum prinzipiellen Schauplatz der Entscheidungsprozesse der Regierung geworden ist. Dennoch hat sich ein Widerspruch entwickelt, der allen parlamentarischen Systemen innewohnt: die parlamentarischen Mehrheiten folgen den Strategien der Regierungsparteien und führen nicht nur zu einer parlamentarischen Überlegenheit, sondern zu einer Dominanz der Exekutivgewalt über das Parlament sowie, im Fall Boliviens, zu einer Stärkung der Präsidialmacht. Sartori hat auf diesen Widerspruch als einem Bestandteil aller parlamentarischen Systeme, inklusive des bolivianischen, aufmerksam gemacht: eine parlamentarische Regierung funktioniert, wenn nicht das Parlament regiert und wenn es faktisch „einen Maulkorb angelegt bekommt". Das bedeutet, dass eine solche Regierung nicht die Souveränität des Parlaments voraussetzt. Es ist vielmehr so, dass die Regierung um so besser funktioniert, je weniger parlamentarisch sie ist (1995: 109-110). In Bolivien kann nur so die Grundvoraussetzung der Regierbarkeit erreicht werden, mit der die Obstruktion der Parlaments verhindert und die Fähigkeit zur gesetzgebenden Initiative des Präsidenten verstärkt wird.

Die Entwicklung der politischen Führung: Typen und ihre ideologischen und politischen Eigenschaften Nach Diamond, Linz und Lipset sind für die Analyse der jüngsten Entwicklung der Demokratie in Lateinamerika vier Elemente von Bedeutung, die in Verbindung zu den Möglichkeiten und Fähigkeiten der politischen Führung stehen: 1) die Entscheidungen, Initiativen und Verhaltensweisen bei der Einrichtung und beim Ausbau der demokratischen Regime; 2) die Fähigkeit der Führungspersönlichkeiten, sich an ein politisches System anzupassen und dieses auszubauen, um die Forderungen nach politischer Beteiligung zu befriedigen; 3) die Antworten der Führung auf Wirtschaftskrisen; 4) die Antworten der Führungsfiguren auf Polarisierung und politische Lähmung (Diamond 1989: 15).

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Wird dieser Ansatz angewandt, ist nicht länger anzuzweifeln, dass die politische Führung in Bolivien seit 1985 Entscheidungen getroffen und Bedingungen geschaffen hat, die sowohl auf politischer als auch auf wirtschaftlicher Ebene die Entwicklung der Demokratie gefordert und gestärkt und die von der UDP geschaffene explosive Situation entschärft haben. In der Übergangszeit zur Demokratie herrschte eine von vielen negativen Faktoren gekennzeichnete Situation: Uneinigkeit über die politischen Spielregeln, destruktive Konfrontation, Unfähigkeit zu Kompromissen auf Seiten der Parteien und ihrer Parteiführer. Aber diese anfänglichen Tendenzen konnten in ihr Gegenteil umgekehrt werden, nachdem der Veränderungsprozess auch auf die Verhaltensregeln der politischen Führung Einfluss genommen hatte. In den bisherigen Abschnitten dieses Beitrags ist gezeigt worden, dass der Grund für das Überleben der bolivianischen Demokratie und für ihre spätere Stabilität in ihrer Fähigkeit liegt, auf politische und wirtschaftliche Krisen mit institutionellen, sowohl formellen als auch informellen, Reformen zu reagieren. Ebenso ist gezeigt worden, dass der beschriebene Wandel ohne die Veränderungen innerhalb der politischen Führung unmöglich und unerklärlich gewesen wäre. An dieser Stelle der Argumentation ergeben sich die folgenden wichtigen Fragen: Inwiefern hat sich die politische Führung wirklich verändert, um einen neuen institutionellen Rahmen zu schaffen? Welche Konsequenzen und Implikationen haben das parlamentarische Präsidialsystem, das Wahlsystem und das gemäßigte Mehrparteiensystem für die Entwicklung der politischen Führung gehabt? Worin bestehen die Verdienste und die Begrenzungen dieser Entwicklung? Spielt die politische Führung weiterhin eine Rolle für die Stärkung der Demokratie? Stellt die politische Führung vielleicht sogar heutzutage eine Gefahr oder eine Bedrohung für die Demokratie dar? Ist die politische Führung fähig, vorauszuschauen und Ziele abzustecken, die von den Mitgliedern der jeweils eigenen Partei und von anderen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen anerkannt werden können? Als Antwort auf die erste dieser Fragen geht aus den bisherigen Ausführungen dieses Beitrags deutlich hervor, dass die Parteiführer des „demokratischen Zentrums" wichtige Veränderungen verschiedener Art erreicht haben: a) die Definition demokratischer Spielregeln im Konsens; b) Förderung der „verhandelten" Demokratie, d. h. eine Politik der Abkommen und Verhandlungen über wirtschaftliche und politische Reformen; c) Modernisierung der politischen Verhaltensweisen in Richtung zu einem Wett-

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bewerbsstil, der durch Verhandlungsbereitschaft, Zusammenarbeit und Suche nach Konsens gekennzeichnet ist und die Voraussetzung für die Bildung von Koalitionsregierungen darstellt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Kurswechsel stattfand, der von einer Strategie der Konfrontation und Polarisierung zu einem Stil der Suche nach Übereinstimmung führte. Diese Veränderung ist selbstverständlich nicht die Folge einer moralischen Bekehrung oder plötzlichen politischen und intellektuellen Erneuerung. Sie ist vielmehr auf die Suche nach pragmatischen Antworten auf die damals bestehende Krise des Zusammenbruchs und Chaos zurückzuführen, die von der UDP-Regierung provoziert worden war, der ersten Regierung nach der Demokratisierung. Die Führungsriegen der Politik und der Wirtschaft erlebten eine Grenzsituation am Rand des Abgrunds und hatten praktisch keine andere Wahl als einzusehen, dass sie bei einer Fortsetzung der Krise alle verlieren würden und dass sie aus diesem Grund ihr eigenes Verhalten ändern mussten. Ganz gleich, ob dieser Wandel auf Überzeugung oder einfach nur auf Opportunismus beruhte, es kann nicht übersehen werden, dass der Großteil der politischen Führung begann, sich allmählich — und in vielfacher Hinsicht zunächst noch widersprüchlich und spannungsgeladen — in Richtung Demokratie und Modernisierung zu orientieren. Auch wenn sich die bolivianischen Parlamentarier selbst ideologisch in einer Skala von 1 (links) bis 10 (rechts) durchschnittlich etwas weiter rechts von der Mitte (6,1) einstufen als die anderer Länder Lateinamerikas (Élites Parlamentarias Iberoamericanas 1997: 48), so zeigen die erreichte Stabilität der politischen Spielregeln und die auf Konsens aller Parteien beruhenden institutionellen Reformen doch, dass sich die demokratischen Verhaltensmuster ausreichend durchgesetzt haben. Meinungsumfragen der letzten Jahren zur politischen Kultur der Bürger haben darüber hinaus gezeigt, dass ein bedeutender Bruch mit den traditionellen antidemokratischen Verhaltensweisen erreicht worden ist. In den Aktionen der politischen Führung schlägt sich diese Entwicklung wie folgt nieder: a) Vorzug allmählicher politischer und gesellschaftlicher Veränderungsprozesse gegenüber revolutionärem Wandel; b) Rutsch zur Mitte als Reaktion auf das Verschwinden des früheren radikalen Links-Rechts-Antagonismus; c) Förderung der Bürgerbeteiligung und Erfüllung des Wunsches der Bevölkerung nach mehr Zusammenarbeit zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen; d) gesellschaftliche Integration innerhalb des Rahmens der repräsentativen Demo-

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kratie und im Gegensatz zu radikalen Positionen, die heute wie auch schon früher für eine Staatsreform eintreten, die auf ethnischer Identität basieren (Seguridad Humana 1996, Latinobarómetro 1996, Cultura ciudadana 1996). Der Demokratisierungsprozess beinhaltet jedoch bezüglich sämtlicher Aspekte, die hier angesprochen wurden, nach wie vor eine Zweideutigkeit, die in der Tatsache besteht, dass trotz allen Wandels in der politischen Kultur sowohl der Gesellschaft als auch der politischen Elite die traditionelle Form der politischen Führung weiter existieren kann. Einerseits hat die Modernisierung der politischen Führungsfiguren nicht vermocht, sämtliche Elemente ihrer traditionellen politischen Kultur verschwinden zu lassen. Und andererseits hat diese eingeschränkte Modernisierung den Parteien erlaubt, starke konservative Elemente des „Patrimonialismus" und seiner Ausprägungen zu erhalten: die Pfründewirtschaft und den Klientelismus. Sie haben sich nicht nur erhalten, sondern sind anscheinend sogar dazu benutzt worden, die Modernisierung des politischen Systems voranzutreiben. Ebenso ist weiterhin ein nicht zu unterschätzendes Potential an Populismus vorhanden, wenn auch in veränderter, weniger einheitlicher Form. Ebenso wie in anderen Ländern des Kontinents sind populistische Führungspersönlichkeiten mit antidemokratischen und gegen das System gerichteten Tendenzen zu neuem Leben erwacht (Mayorga 1995). Analytisch betrachtet lassen sich drei Varianten der politischen Führung unterscheiden: ein demokratisch-modernisierendes, eine traditionellpatrimoniale und eine neopopulistische, die sich gegen das System richtet. In der Realität sieht es allerdings so aus, dass sich diese drei Varianten zu einem schwer überschaubaren Gemisch vermengt haben. Selbst die demokratischen Parteien wie MNR, ADN und MIR lassen in ihren Praktiken stark patrimoniale und personalisierte Elemente durchblicken, in unterschiedlichem Maße je nach Grad der Modernisierung ihrer Beziehungen zur Gesellschaft oder zum politischen System allgemein bzw. der internen Parteistrukturen. Andere Parteien hingegen, wie Condepa oder UCS, die nur über eine unzureichende Organisation verfugen, basieren eindeutig auf einer Struktur des Klientelismus, des caudillismo und des Paternalismus. Der Demokratisierungsprozess ist in Hinsicht auf die Führung in erster Linie von den Auseinandersetzungen zwischen modernisierenden und neopopulistischen Führungsfiguren gekennzeichnet gewesen. Während die einen

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- mit jeweils unterschiedlicher Schattierung und Wirkung — auf die Modernisierung des politischen Systems setzten, führten die anderen einen dualistischen Diskurs, der sich einerseits gegen die Parteien und gegen die repräsentative Demokratie richtete, aber andererseits nicht eindeutig gegen das System gewandt war, so dass sich am Ende auch letztere in das demokratische System integriert und sogar an Regierungskoalitionen beteiligt haben. Während der Übergangsphase zur Demokratie stammten sowohl die Führungspersönlichkeiten, die entscheidenden Einfluss auf den Demokratisierungsprozess ausübten (Paz Estenssoro, Sites Zuazo, Guevara Arce), als auch die sekundären Führungsfiguren aus der „alten Garde", die die Revolution von 1952 angeführt hatten. Zu diesen gesellten sich jüngere Führungsfiguren, die ihre Laufbahn in den sechziger und siebziger Jahren im Bereich des Militärs begonnen hatten, und ganz neue Persönlichkeiten, die beispielsweise den MIR gründeten, eine wichtige Partei, die sich unter anderen mit Jaime Paz Zamora und Antonio Aranibar stark für die Demokratisierung des Landes eingesetzt hat. Untersucht man diejenigen Parteien näher, die während der Demokratisierungsphase eine Schlüsselrolle spielten, so war in den ersten zehn Jahren, also in der Zeit von 1979 bis 1989, nur ein sehr begrenzter Generationswechsel in den Führungsriegen zu beobachten. Der MNR mit seinen verschiedenen Ablegern und Spaltungen hielt größtenteils an den Führungsfiguren fest, die schon von 1952 bis 1964 an der Spitze der Partei gestanden hatten. Die ADN wurde erst im März 1979 gegründet, aber von niemand anderem als dem ehemaligen Diktator Banzer (1971-1978), und ist seitdem von ihm und seinen ehemaligen Regierungsmitgliedern geleitet worden. Nur der 1971 gegründete MIR machte eine Ausnahme, weil er sich aus Politikern einer neuen Generation zusammensetzte, die zu jener Zeit aus unterschiedlichen politischen und ideologischen Strömungen (von der Christdemokratie bis zum Marxismus) zusammenkamen. Es wäre falsch zu behaupten, dass die genannten Führungsfiguren, die das politische System damals umformten, sich in ideologischer Hinsicht der repräsentativen Demokratie verpflichtet gefühlt hätten. Der MNR hatte sich in seiner Geschichte viel mehr dem Aufbau einer populistischen Demokratie im Stile der mexikanischen PRI gewidmet, das heißt einer sozialen, korporativen Demokratie in einem Staat mit stark autoritären Zügen. Die Parteiführer der ADN wiederum repräsentieren eine konservative Rechte, die versucht hat, sich zu demokratisieren und das Bild des ehemaligen Dikta-

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tors Banzer rein zu waschen, was der Partei durchaus gelungen ist. Banzer überzeugt in seiner neuen Rolle als demokratischer Politiker und die Partei ist zu einem unbestrittenen Faktor in der jungen Demokratie Boliviens geworden. Dieser Wandel vom früheren General und Diktator zum Demokraten ist übrigens im lateinamerikanischen Kontext durchaus ein bemerkenswertes Phänomen, auch wenn nach wie vor Zweifel bestehen, ob es sich um einen wirklichen ethischen und politischen Wandel handelt oder nur um politischen Opportunismus. Auf ideologischer Ebene lässt sich beobachten, dass die Veränderung der Führungspersönlichkeiten im Rahmen des Kampfes gegen die Militärdiktatur und für die Rückeroberung der Demokratie stattfand, was jedoch nicht bedeutet, dass die Traditionen des caudillismo und des Klientelismus gänzlich überwunden sind. Aber bei objektiver Beobachtung stellt die Veränderung immerhin einen bemerkenswerten Bruch mit der politischen Tradition dar. Der Bruch ist deutlich, aber nicht vollständig, und in der derzeitigen Politik existieren einige Elemente der undemokratischen Tradition weiterhin (Mayorga 2000a). Das Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart zeigt sich nicht nur in den Parteien und in der politischen Führung der „demokratischen Mitte", sondern auch in der populistischen und plebiszitären Führung, die sich unter der indianischen Bevölkerung in den Städten gebildet hat und einen starken Einfluss auf die demokratische Dynamik ausübt. Seit dem Auftauchen zweier Outsider gegen Ende der achtziger Jahre, den inzwischen verstorbenen Carlos Palenque und Max Fernändez, hat es innerhalb des Demokratisierungsprozesses immer wieder Führungspersönlichkeiten gegeben, die dem selben Typus entsprechen und sich auf dem schmalen Grad zwischen Integration und Ablehnung des Systems bewegen.17

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Während der gesellschaftlichen und politischen Krisen im April bzw. September 2000 erschienen zwei Führungsfiguren, deren Diskurs sich auf starke Weise gegen das System richtet: Óscar Olivera aus Cochabamba und Felipe Quispe aus den ländlichen Gebieten des Bezirks La Paz, der vor allem in Provinzen mit AymaräBevölkerung Unterstützung findet. Zu ihnen gesellte sich der ehemalige Justizminister René Blattmann, der den doppelten Diskurs beherrscht, das System gleichzeitig anzugreifen und zu verteidigen.

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Von Anführern gesellschaftlicher Organisationen zu politischen Ffihrungsflguren Die politischen Parteien sind keine flexiblen Organisationen mit offenem Charakter, die die Fähigkeit besitzen, neue Führungsfiguren mit regionaler oder nationaler Projektion hervorzubringen. Es erscheint höchst ambivalent, dass die Parteien eine konservative und autoreferenzielle politische Position annehmen, sobald sie sich einen Platz im Mittelpunkt der politischen Arena erkämpft haben. Ihre traditionellen Kader bleiben unverändert und ein Generationswechsel findet nicht statt. Die internen Wahlen der MNR, MIR und ADN beweisen, dass von Seiten der Parteien keine Bereitschaft besteht, junge Politiker, die potentiell zu den politischen Führungsfiguren der Zukunft werden könnten, in ihren Reihen heranzuziehen bzw. von außen aufzunehmen. Der Druck auf die Parteien im Sinne einer Erneuerung vor allem auf lokaler und regionaler Ebene kommt von außen. Die Parteien selbst ziehen Politiker vor, die bereits über Erfahrung und ein gewisses Prestige in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen verfügen. Aus diesem Grund entscheiden sie sich dazu, gesellschaftliche Führungspersonen zu verpflichten, die aus dem Bereich der Bürgerkomitees stammen, derjenigen Organisationen, die seit den sechziger Jahren eine wichtige Rolle bei der Äußerung von regionalen Forderungen gegenüber der Zentralregierung gespielt haben, sowie aus den Bereichen der Massenmedien, Arbeitgeberorganisationen, den inzwischen aufgelösten Korporationen zur Entwicklung der Bezirke, sowie, wenn auch in geringerem Maße, aus den Gewerkschaften und indianischen Bauernorganisationen. Die Anführer dieser Bürgerorganisationen werden so zu politischen Führungsfiguren und ihre ursprünglichen Initiativen und Organisationen üben dabei eine Trittbrettfiinktion aus, die deutlich macht, dass die Parteien nicht dazu fähig sind, den direkten Zugang zur Politik zu ermöglichen. In sämtlichen wichtigen Parteien lassen sich über die letzten zwei Jahrzehnte eine Menge Beispiele finden, die zeigen, wie dieser Verwandlungsprozess von gesellschaftlichen zu politischen Anfuhrern vor sich ging. Drei Typen von Organisationen haben sich hierbei

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besonders hervorgetan: Bürgerkomitees, Arbeitgeberverbände und Massenmedien.18 Ebenso große Bedeutung für die Demokratisierung kommt den früheren Gewerkschaftsführern zu, besonders denjenigen, die aus den Bauernorganisationen stammen und heute an der Spitze sozialer Bewegungen stehen und in manchen Fällen sogar Kommunalpolitiker oder Parlamentsabgeordnete sind, entweder für ihre eigenen politischen Organisation oder für eine der großen Parteien, wie zum Beispiel René Joaquino oder Óscar Olivera.19

Probleme der Institutionalisierung der Parteiführungen Der Modernisierungsprozess des Mehrparteiensystems ist auf zwei schwerwiegende Hindernisse gestoßen: einerseits auf die weiter bestehenden Praktiken des Patrimonialismus und der Pfründewirtschaft, und andererseits auf die Existenz autoritärer Strukturen in den Entscheidungsprozessen der Parteien. Im Hinblick auf eines der Kriterien der Institutionalisierung der Parteien von Mainwaring und Scully (1995) — die Stärke der Beziehung zwischen den Parteien und der Gesellschaft — bestätigt sich, dass die Praktiken des Patrimonialismus nicht nur den Aufbau oder Wiederaufbau dieser Be-

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Die bemerkenswertesten Fälle sind der Parteiführer der MNR und ehemalige Präsident der Republik Gonzalo Sánchez de Lozada, der früher Mitglied der Vereinigung der Minenbesitzer sowie der CEPB war, der regionale Parteiführer der MNR Percy Fernández, ehemals Vorsitzender der Korporation zur Entwicklung des Bezirks Santa Cruz, der Besitzer einer Zementfirma und Parteiführer der MIR Samuel Doria Medina, der Parteiführer der ADN Jorge Landivar, der früher Vorsitzender des Bürgerkomitees des Bezirks Santa Cruz war, der Gründer der UCS Max Fernández, der früher an der Spitze der größten Brauerei des Landes stand, der Eigentümer eines Radio- und Fernsehsenders und Gründer der Condepa-Partei Carlos Palenque, der Unternehmer und ehemalige Minister unter Paz Estenssoro und Sánchez de Lozada, Fernando Illanes, der vorher Vorsitzender der CEPB war, sowie der Bankier und ehemalige Minister Fernando Romero.

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In dieser Grupe haben sich besonders der Gründer der MRTKL und ehemalige Vizepräsident Victor Hugo Cárdenas, der früher die Bauerngewerkschaft Confederación Sindical Unica de Campesinos de Bolivia angeführt hat, der Abgeordnete Evo Morales, der vorher Leiter der Organisation der Coca-Produzenten war und der Anführer der vor kurzem gegründeten MIP Felipe Quispe, der vorher Generalsekretär der Bauerngewerkschaft war, hervorgetan.

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ziehung verhindert, sondern sogar eine weitere Entfernung oder sogar den vollständigen Verlust dieser Beziehung bewirkt haben. In diesem Aspekt ist ein weiterer Widerspruch enthalten, der darin besteht, dass bei zunehmender Festigung des demokratischen Systems die Parteien immer selbstbezogener geworden sind und besonders die großen Parteien die Beziehungen zu Gewerkschaften, Nachbarschaftsgruppen, Bürgerkomitees, usw. verloren haben. Die Parteien haben seit der Rückkehr zur Demokratie ihre Beziehungen zur Gesellschaft durch engere Beziehungen zum Staat ersetzt. Der MNR, zum Beispiel, die ehemals stärkste Massenpartei, die sich massiver Unterstützung der Minen-, Bauern- und anderer Gewerkschaften erfreute, hat schon seit langem keine Unterstützung mehr von Seiten breiter Schichten der Bevölkerung und wird derzeit fast ausschließlich von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht gewählt. Diese Tendenz lässt sich auch bei den anderen Parteien der „demokratischen Mitte" beobachten, der ADN und dem MIR. Sie unterhalten keine dauerhafte Beziehung zur Bevölkerung und streiten um die Gunst der selben Bereiche der Gesellschaft, wobei sie sich der selben traditionellen Methoden der Pfründe- und Klüngelwirtschaft bedienen. Dazu kommt, dass sich die Probleme der verschiedenen Regierungen, besonders der ADN und MIR, im Hinblick auf Wirkungslosigkeit, Unfähigkeit und Korruption negativ auf das Verhältnis zwischen Parteien und Gesellschaft ausgewirkt haben, mit der Konsequenz, dass sich beide nicht nur voneinander entfernt, sondern praktisch vollkommen getrennt haben. Die Folge ist ein tiefes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Politik, wechselhaftes Wahlverhalten und besonders in jüngster Zeit eine Welle heftiger Protestaktionen. Seit der anarchischen Zeit der UDP-Regierung hat das Land nicht mehr so heftige soziale Bewegungen erlebt wie im Jahr 2000.20 Dahinter steht die Unzufriedenheit über die Tatsache, dass sich sowohl die Parteiführer als auch besonders die mittleren und niedrigeren Beamten zu Vertretern eines Parteiapparats und nicht zu Vertretern der Gesellschaft entwickelt haben, die dazu in der Lage wären, deren Forderungen zu artikulieren und zu kanalisieren. In der Tat ist die Fähigkeit der derzeitiDie folgenden Daten sind repräsentativ nicht nur für das betroffene Jahr, sondern für das gesamte Jahrzehnt der Neunziger: laut der Meinungsumfrage Latinobarömetro (1998) stehen 41% der Bevölkerung der Politik mit Misstrauen gegenüber und 29% mit Gleichgültigkeit. Im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas liegen diese Zahlen durchaus im Durchschnitt.

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gen Führerfiguren dermaßen beschränkt, dass es nicht übertrieben ist zu behaupten, eines der schwersten Probleme der bolivianischen Demokratie bestehe eben in der Schwäche der politischen Führung.

Parteiführung und Parlamentssitze Die politische Führung hat sich vor allem in drei institutionellen Bereichen entwickelt, in Parteien, Exekutive und staatlicher Verwaltung, im Bereich der gesellschaftlichen Organisationen hingegen nicht. Überraschenderweise hat auch eine so wichtige Institution wie das Parlament — abgesehen von der Rolle, die es für die Wahl des Präsidenten spielt — nicht zur Bildung oder Erneuerung der politischen Führung beigetragen. Der Grund hierfür ist in folgenden zwei Sachverhalten zu suchen: Erstens üben die Parteiführungen mit dem Wahlsystem der geschlossenen Listen eine strenge Kontrolle über die Nominierung der Kandidaten für das Parlament und andere staatliche Ämter aus. Und zweitens bleibt diese Kontrolle auch während der Ausübung des Amtes, zum Beispiel im Fall der Parlamentarier, erhalten. Die Parteiführer sind immer diejenigen, die die Entscheidungen des Parlaments kontrollieren, auch wenn sie selbst nicht Abgeordnete sind. Die Abgeordneten der Parteien halten sich im Parlament an die Entscheidungen, die die Autoritäten der Partei getroffen haben. Sie sind absolut abhängig von der Führungsriege und ordnen sich ihr unter. Die einzige positive Konsequenz dieser Abhängigkeit ist die Disziplin bei Abstimmungen über Gesetze, entsprechend der von den Parteiführern festgelegten Linie. Aber gleichzeitig wirkt sie sich negativ auf die Beziehungen zwischen Parteiführung und Abgeordneten und zwischen Exekutive und Parlament aus. Die internen Organisationsstrukturen weisen keine demokratischen Kriterien auf und fordern nicht die Diskussion und die Prozesse der Beschlussfassung im Kongress, was offensichtlich das Entstehen von parlamentarischen Führungsfiguren auf nationaler Ebene behindert. Die Parlamentarier müssen meist Gehorsam zeigen und können weder eigene Beschlüsse fassen noch kritisches Urteilsvermögen hinsichtlich der von der Führung angeordneten Gesetzesvorschläge an den Tag legen. In der Tat hat das Parlament keine Bedeutung für die Entstehung nationaler Führungspersönlichkeiten, was wiederum zur geringen Zusammenarbeit zwischen den nationalen Führungsfiguren und dem Parlament führt. Mit der Ausnahme einiger Expräsidenten des MNR wie Siles Zuazo, Guevara Arce, Paz Estenssoro und

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Sánchez de Lozada hatte keiner der Präsidenten seit der Rückkehr zur Demokratie Erfahrung als Parlamentarier vorzuweisen.

Interne Demokratisierung und Parteiengesetz Die vorangehenden Ausführungen stehen in Verbindung zum zweiten der erwähnten Hindernisse für die Modernisierung der Parteien: dem Mangel an innerer Demokratie, oder anders gesagt, der Existenz autoritärer Strukturen in den Entscheidungsprozessen der Parteien. In Übereinstimmung mit Robert Dahl, der begründete Zweifel hinsichtlich der Auswirkungen der indirekten Wahl mittels Wahlmänner auf die innere Demokratisierung der Parteien in den USA anmeldet (1990: 5), hat auch in Bolivien das Spiel der demokratischen Konkurrenz der Parteien untereinander mehr positive Auswirkungen auf die Stabilität und die Funktionsweise des demokratischen Systems gehabt als auf die innere Demokratie der Parteien. Auch Arend Lijphart ist von der Möglichkeit überzeugt, dass in einem demokratischen Regime politische Parteien existieren können, die im Inneren keine demokratischen Strukturen aufweisen (1999). Im hier vorliegenden Beitrag soll jedoch eine etwas andere Fragestellung verfolgt werden, nämlich die, ob die innere Demokratisierung, die erst vor wenigen Jahren mit dem neuen Parteiengesetz begonnen hat, positive Auswirkungen nicht nur auf die Parteistrukturen, sondern auch auf die Erneuerung der politischen Führung hatte. Der durch das Parteien- und das Wahlgesetz in Gang gesetzte Demokratisierungsprozess ist noch sehr jung und unausgereift. Ohne normativ vorzuschreiben, welche konkreten Bestimmungen und Verfahrensweisen von den Parteien anzuwenden sind, legen die Artikel 19 und 20 des Parteiengesetzes fest, dass die Parteien allgemein die innere Demokratie respektieren müssen, indem sie Bestimmungen festlegen und einhalten, die die demokratische Nominierung und Wahl der Kandidaten garantieren sollen. Weder dieses Gesetz, noch das Wahlgesetz, definieren jedoch feste Vorschriften zur Durchsetzung einer inneren Demokratie. So wird beispielsweise nicht festgelegt, ob die Wahlen der Wahlmänner offen oder geschlossen erfolgen soll und ob sie die Wahl der Parteiführer einschließen sollen oder nicht. Dies erscheint angesichts der negativen Auswirkungen des Wahlsystems der USA auf die Parteien sinnvoll (Lijphart 1999, Polsby 1983, Dahl 1990).

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Es lässt sich nicht leugnen, dass das System der indirekten Wahlen der internen Demokratisierung der Parteien nicht unbedingt dienlich ist.21 Der Prozess der Demokratisierung der Parteien Boliviens begann 1999 und brachte zunächst höchst unterschiedliche und umstrittene Ergebnisse in den drei bedeutenden Parteien MNR, MIR und ADN. Die Demokratisierung der Parteien ist eine alte Forderung der Gesellschaft, aber sie begann erst im Zuge der Veränderungen, die das Gesetz zur Bürgerbeteiligung mit sich brachte, das zum ersten Mal die Kommunen zu einem wichtigen Schauplatz der Politik werden ließ. Die Parteiorganisationen sahen sich plötzlich gezwungen, ihre Strukturen den neuen Gegebenheiten auf lokaler Ebene anzupassen. Die von den drei genannten Parteien gegebenen Antworten auf die Forderung nach mehr innerer Demokratie waren sehr unterschiedlich. Die erste Differenz bestand in der Reichweite der internen Wahlen: Sollten sämtliche hohen Parteiämter neu gewählt werden, einschließlich des Parteivorsitzenden, oder nicht? Der nächste Unterschied lag im geschlossenen oder offenen Charakter der Wahlen, das heißt, ob nur die Parteimitglieder zur Wahl berechtigt sein sollten oder auch Sympathisanten oder sogar, wie in den USA, sämtliche Bürger im wahlberechtigten Alter. Der MNR veranstaltete die internen Wahlen bereits im Juli 1999, noch vor der Veröffentlichung des neuen Parteiengesetzes im August. Entsprechend den Statuten der Partei wurden unmittelbare Wahlen zu leitenden Ämtern in sämtlichen nationalen und regionalen Organen der Partei durchgeführt, zum Beispiel zum Nationalen Parteitag (bestehend aus 642 regionalen Delegierten und 100 Funktionären), zum Nationalen Kommando (bestehend aus 100 regionalen Delegierten und 20 Funktionären) und zum Nationalen Exekutivkomitee (dem höchsten Führungsorgan, bestehend aus Vorsitzendem, zwei Stellvertretern, den Vorsitzenden der neun Bezirke, neun vom Nationalen Kommando gewählten Delegierten und dem Generalsekretär). Die einzige Ausnahme bei diesen Wahlen ist der Vorsitzende, der nach wie vor vom Nationalen Parteitag gewählt wird. Wahlberechtigt waren alle Par-

Der hier vorliegende Beitrag widerspricht damit entschieden der positiven Bewertung der Auswirkungen der indirekten Wahlen auf die Demokratisierung bei Daniel Zovatto (2000: 2).

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teimitglieder, aber auch die Sympathisanten, die im Moment der Stimmenabgabe ihren Eintritt in die Partei unterschreiben mussten. Vergleicht man die internen Wahlen der drei Parteien untereinander, zeigt sich, dass es lediglich das MNR schaffte, seine inneren Strukturen zu demokratisieren und gleichzeitig eine weit reichende Erneuerung der Führungsorgane durchzuführen. Zwar traten auch bei den Wahlen dieser Partei Regelverstöße auf, aber diese hatten keine negativen Folgen. Ganz im Gegenteil waren sie hinsichtlich des Generationswechsels und der Erneuerung von größter Relevanz, denn sie bedeuteten Niederlage und Abwahl der so genannten „alten Garde" der Partei und ermöglichten den Aufstieg neuer Parteiführer auf die entscheidenden Posten, besonders in den Schlüsselorganen der Partei, wie dem Nationalen Kommando und dem Exekutivkomitee. Bezüglich der „historischen" Parteien sollte außerdem darauf hingewiesen werden, dass der MNR die einzige Partei ist, die es geschafft hat, ihren „historischen Parteiführer", Paz Estenssoro (1942-1988), zu ersetzen. Sein Nachfolger ist seit 1989 Sánchez de Lozada. Ungeachtet des Erfolgs der neuen Generationen ist nicht zu leugnen, dass sich zwischen ihnen und den traditionellen Bereichen der Partei ein tiefer Graben aufgetan hat und gegenseitiges Misstrauen vorhanden ist. So sind zum Beispiel die neuen Führungsfiguren, wie Carlos Sánchez Berzaín, nicht sehr glücklich über die Wiederwahl von Sánchez de Lozada zum Parteivorsitzenden durch den Nationalen Parteitag. Die internen Wahlen der MIR und ADN litten an geringerer Reichweite und ihre Durchfuhrung war gekennzeichnet von zahlreichen Überraschungen und Regelverstößen. Ihre Rechtmäßigkeit wurde mehrfach in Frage gestellt aufgrund von Stimmengewinn durch Bestechung und Verstoß gegen die demokratischen Regeln. Die Kandidaten bezichtigten sich gegenseitig dieser Verstöße, besonders die Vorsitzenden auf Bezirksebene. Im Fall der Parteiführung des MIR, das sich selbst als sozialdemokratisch bezeichnet, sind die Übertretungen besonders überraschend, denn seine Vorgehensweisen haben wiederholt gegen die demokratischen Grundregeln verstoßen. Seit ihrer Gründung 1971 hat diese Partei eine stark autoritäre Struktur entwickelt, die sowohl auf Statuten als auch auf Parteitage völlig verzichtet. Die Struktur ist absolut vertikal organisiert und die Abhängigkeit von dem Parteichef Jaime Paz ist extrem. Dieser ernennt selbst die

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Mitglieder des Nationalen Exekutivkomitees. Sein Verhalten wird bestimmt von den Traditionen der Klüngel- und Pfnindewirtschaft. Deutlich wird das in einigen Bezirken, in denen der jeweilige Bezirksvorsitzende, der so genannte „Kardinal", schaltet und waltet wie die Kaziken von früher. Vor diesem Hintergrund wurde die Rechtmäßigkeit der internen Wahlen, die sich auf die Bezirksführung beschränkten und bei denen alle Bürger des Landes stimmberechtigt waren, in vielen Städten in Frage gestellt, so auch in der Hauptstadt La Paz — wo sie sogar schließlich aufgrund von Wahlbetrug und Manipulation für ungültig erklärt wurden — sowie in Santa Cruz und in El Alto. Darüber hinaus kam es zu internen Streitigkeiten zwischen den „Kardinälen" und den Erneuerern, die sich gegenseitig der Manipulation und Bestechung beschuldigten. Aus diesem Grund kann nicht behauptet werden, dass die internen Wahlen des MIR wirklich eine innere Demokratisierung der Partei durchgesetzt haben. Ebenso wenig wurde ein Generationswechsel in der Führung erreicht. Lediglich in einigen Regionen haben sich jüngere Führungspersönlichkeiten an die Spitze der Partei gesetzt. Vielmehr ist die Partei aus den Wahlen mit noch größerer Abhängigkeit von ihrem Vorsitzenden Paz hervorgegangen, ohne es geschafft zu haben, diejenigen Führungsfiguren, die schon seit vielen Jahren in Korruptionsfálle verstrickt sind, zur Rechenschaft zu ziehen. Die internen Wahlen der ADN sind in ihrer Durchführung nicht weniger fragwürdig gewesen. Auch bei dieser Partei beschränkten sich die Wahlen auf die Bezirksvorsitzenden, aber stimmberechtigt waren in diesem Fall ausschließlich die Parteimitglieder. Die Durchführung war ebenso wie im Fall des MIR von Problemen und Skandalen gekennzeichnet. Die Wahlen in La Paz und in Potosí wurden von der Bezirksfuhrung bzw. vom Nationalen Wahlrat für ungültig erklärt. Der Präfekt des Bezirks Cochabamba, Mitglied der ADN, wurde beschuldigt, finanzielle Mittel und Personal der Bezirksregierung missbraucht zu haben, um die Wahlen zu gewinnen, was zu Massenaustritten führte. Im Fall der ADN wird besonders deutlich, dass der Demokratisierungsversuch der inneren Strukturen ein Misserfolg war, denn es gelang nicht, die Mitglieder der regionalen Führung durch einen transparenten Wahlvorgang zu bestätigen. Die betroffenen Parteiführer selbst verstießen gegen die Statuten und institutionellen Normen. Die Erneuerung der Führungsspitze blieb in den inneren Streitigkeiten zwischen Erneuerern und Traditionalis-

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ten stecken. Wie auch der MIR, war die ADN weiterhin extrem abhängig von ihrem Vorsitzendem, dem ehemaligen General Banzer. Es gelang nicht, die berechtigten Vorwürfen gegen Banzer, er würde als Vorsitzender bestimmten Kandidaten besondere Unterstützung zukommen lassen, durch die Wahlen zu zerstreuen. Zusammenfassend lässt sich bemerken, dass der innere Demokratisierungsprozess der Führungsriegen der drei großen Parteien zu sehr verschiedenen Ergebnissen geführt hat. Nur im Fall der MNR wurde eine tatsächlich weit reichende Demokratisierung und Erneuerung der lokalen und regionalen Führungskader durchgesetzt. In den anderen zwei Parteien hingegen wurden durch die unrechtmäßigen Verfahrensweisen und die parteiinterne Zersplitterung weder das eine noch das andere Ziel erreicht. In allen drei Fällen ist jedoch eine Gemeinsamkeit zu beobachten, die darin besteht, dass durch die Wahlen in allen Parteien interne Konflikte ausgelöst wurden, die - in mehr oder weniger großem Maße - die innere Einheit der Partei sowie die Akzeptanz der verschiedenen inneren Strömungen in Frage stellen.22 Außerdem hält die Zukunft der inneren Demokratisierung eine weitere Herausforderung bereit: die Aufgabe, aus den neuen Führungspersönlichkeiten in den Parteiapparaten wahre Vertreter der Gesellschaft zu machen.

Das Gesetz zur Bürgerbeteiligung und die lokale Aufsplitterung der Führung Unabhängig von den inneren Entwicklungen der politischen Parteien ist in Bolivien seit April 1994 ein langwieriger Erneuerungsprozess der Führung auf lokaler Ebene zu bemerken, der institutionelle Veränderungen in Folge der Anwendung des Gesetzes zur Bürgerbeteiligung in Gang gesetzt wurde. Zwar gab es schon vor der Durchsetzung dieser Reform auf lokaler Ebene einen hohen Prozentsatz von Amtsträgern, die aus den jeweiligen Gemein22

Dies führt zur Bestätigung der These Lijpharts, nach der interne Wahlen zur Konkurrenz der Kandidaten der selben Partei untereinander führen und somit die Einheit und den Zusammenhalt der Partei nach außen hin belasten. Lijphart ist außerdem der Meinung, dass die internen Wahlen nach nordamerikanischem Muster die Parteien in ihrer wichtigsten Funktion, nämlich die der Nominierung der Kandidaten für öffentliche Ämter, schwächen (Lijphart 1999: 6).

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den stammten, aber bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie keinen Einfluss auf die nationale Politik (Ayo 2000: 10, 20f.). Durch das neue Gesetz erhielt der Prozess der Erneuerung jedoch einen stärkeren Anstoß, der nicht zuletzt auch durch die politische Stabilität und die Regelmäßigkeit der Wahlen seit 1985 ermöglicht worden war. Darüber hinaus hat dieses Gesetz noch eine andere Dynamik des politischen Strukturwandels mit sich gebracht, und zwar die Umorientierung des traditionell zentralistischen Staates in Richtung auf die Lokalpolitik. Trotz zahlreicher Probleme auf der Verwaltungsebene setzt das Gesetz zur Bürgerbeteiligung deutlich auf eine Politik der Dezentralisierung des Staatsapparats, indem viele Zuständigkeiten den Gemeinden übertragen werden, z. B. in den Bereichen der Gesundheitsversorgung, des Bildungswesens und der Infrastruktur. Die entsprechenden finanziellen Mittel werden gemäß der jeweiligen Bevölkerungszahl vom Staatshaushalt direkt an die Gemeinden verteilt, und so genannte Überwachungskomitees, die sich aus Mitgliedern örtlicher Organisationen zusammensetzen, kontrollieren die korrekte Verwendung dieser Gelder. Die Dezentralisierung der Staatsfinanzen durch diese Reform hat wiederum zu einer Dezentralisierung der Schauplätze geführt, auf denen die nationale Politik stattfindet; dadurch ist die Rolle der lokalen Politiker und Führungsfiguren neu definiert worden. Die Aufwertung der Lokalpolitik hat die Parteien dazu gezwungen, umzudenken und eine neue Form der lokalen Organisations- und Handlungsweise zu finden, die darauf hinausläuft, die neu entstehenden lokalen Führungspersönlichkeiten in die jeweilige Partei zu integrieren. Dementsprechend haben alle bedeutenden Parteien bereits damit begonnen, ihre Strukturen an diese neuen Verhältnisse anzupassen und auf die Gemeinden auszudehnen, nachdem sie bisher ausschließlich auf die größeren Städte begrenzt gewesen waren. Der Prozess, durch den die Demokratie gegenüber den traditionellen Formen der Volksvertretung über Gewerkschaften und Landwirtschaftsgenossenschaften an Boden gewinnt, ist allerdings zweideutig, denn hier treffen zwei unterschiedliche, einander entgegengesetzte Funktionsweisen aufeinander. Auf der einen Seite steht die Dezentralisierung des Staates, die den Gemeinden neue Zuständigkeiten überträgt, während diese bisher als Schauplatz der Politik praktisch inexistent gewesen waren und statt dessen andere Formen der Interessenvertretung genutzt hatten. Auf der anderen

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Seite ermöglicht die Öffnung dieses neuen Schauplatzes den Parteien die Integration der neuen Führungsfiguren und der Vertreter lokaler Interessen, sowie den Zugang zu den traditionellen lokalen Organisationen. Die Kommunalwahlen haben einen Raum für die Konkurrenz der Parteien untereinander geschaffen, der in zweifacher Hinsicht Konsequenzen für die landesweite Politik hat. Wie auch auf nationaler Ebene ist die Regierungsbildung auf lokaler Ebene abhängig von Abkommen und Koalitionen der verschiedenen Parteien, wenn diese auch auf eine andere Art und Weise zu Stande kommen. Nur in seltenen Fällen ist ein Bürgermeister mit absoluter Mehrheit gewählt worden. Fast immer ist eine Koalition verschiedener Parteien nötig gewesen, um eine Regierung auf lokaler Ebene bilden zu können. Die Verhandlungsrichtlinien sind in diesem Zusammenhang aber in viel größerem Maß von den Bedingungen der Pfründe- und Klüngelwirtschaft, abhängig als es auf nationaler Ebene der Fall ist. Dies hat sich in einer nicht zu unterschätzenden Anzahl von Amtsenthebungen von Bürgermeistern mittels der Maßnahme des „konstruktiven Misstrauensvotums" ausgedrückt, die obendrein in vielen Fällen unrechtmäßig angewandt wurde.23 Andererseits sahen sich die Parteien aufgrund des Mangels an lokalen politischen Führungsfiguren und Organisationen gezwungen, in vielen Fällen bei der Wahlkampagnen und bei der Regierungsbildung auf lokale Anführer gesellschaftlicher Gruppen, die nicht direkt der Politik angehörten, zurückzugreifen. Auf diese Weise ist eine zweischneidige Bewegung in Gang gesetzt worden: einerseits die Entstehung lokaler Führungspersönlichkeiten außerhalb der Parteien in Folge des Gesetzes zur Bürgerbeteiligung, was bei den Kommunalwahlen 1995 und 1999 sehr deutlich wurde, und andererseits eine erkennbare „Ausbeutung" dieser neuen, auf nationaler Ebene gänzlich unbekannten Führungsfiguren durch die politischen Parteien. Dieser zweischneidige Prozess ermöglicht die Bindung der lokalen Führung an die nationale Führung der Parteien, welches zumindest im Moment die Oberhand Dieser Mechanismus wurde durch die Verfassungsreform von 1994 ermöglicht, was sich auf die Kommunalregierungen äußerst destabilisierend ausgewirkt hat. Jüngsten Studien zufolge wurden in der Zeit von 1996 bis 1998 39% der Bürgermeister der insgesamt 311 Gemeinden des Landes ihres Amtes enthoben. Von diesen Fällen wurde die Hälfte durch Streitigkeiten zwischen Bürgermeistern und Stadträten entweder persönlicher Art oder aufgrund von Pfründezahlungen ausgelöst. Lediglich die andere Hälfte der Fälle basierte auf begründeten Anschuldigungen des Komitees zur Überwachung der Gemeinderegierung (Ayo 2000: 122-125).

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behält. In den meisten Fällen geschieht dies über die Mechanismen des Klientelismus (Blanes 2000). Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Abgabe von Kompetenzen an die Gemeindeverwaltungen zur Entstehung neuer Führungsfiguren auf lokaler Ebene geführt hat, sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten, die jedoch in den meisten Fällen nicht aus den Parteien selbst stammten. In anderen Fällen ist es zur Gründung neuer Parteien mit lokaler Reichweite gekommen. Die neuen Politiker, die sich am stärksten hervorgetan haben, sind Reyes Villa, der Bürgermeister von Cochabamba, und René Joaquino, der Bürgermeister von Potosi, aber es gibt eine ganze Reihe von weniger bekannten Fällen in ländlichen Kleinstädten. Die Frage, die aufgrund dieser Entwicklung gestellt werden muss, ist, ob sich die Kommunalpolitik, besonders in den drei größten Städten des Landes, La Paz, Santa Cruz und Cochabamba, für diese neuen Führungsfiguren als ein Sprungbrett zur nationalen Politik oder sogar zur Präsidentschaft entwickeln kann. Im Gegensatz zu anderen Ländern Lateinamerikas gibt es hierfür in der Geschichte Boliviens bisher keine Präzedenzfälle.

Schlussfolgerungen: Grenzen der politischen Führung und ungelöste Probleme Die Veränderung der Regeln für den Wettbewerb der politischen Parteien untereinander und deren Festigung durch die Stärkung der demokratischen Mechanismen haben in den inzwischen schon fast zwei Jahrzehnten der Demokratie einen weit reichenden Wandel des Regierungs-, des Parteienund des Wahlsystems ermöglicht. In einer für das Überleben der Demokratie äußerst kritischen Phase hat die politische Führung die Fähigkeit entwickelt, sich den Bedingungen zur Ermöglichung von Stabilität und Regierbarkeit anzupassen. Die Institution der Führung haben einen bedeutenden Orientierungswechsel erlebt. Der neue Stil deutet in Richtung einer demokratischen Entwicklung und ist gekennzeichnet von mehr politischer Flexibilität, mehr Kompromissbereitschaft und der Suche nach politischem Konsens (Diamond 1989: 5). Diese Veränderungen sind jedoch auf verschiedene Hindernisse gestoßen, die die Kontinuität des Modernisierungsprozesses der politischen Führung,

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und somit auch der Parteien und des Staates, beeinträchtigen. Die Gefahr besteht zur Zeit darin, dass der Prozess gelähmt oder gänzlich unterbrochen werden könnte, falls es der politischen Führung nicht gelingen sollte, sich mit Kreativität und Phantasie auf die alten und neuen Herausforderungen der Demokratie einzustellen. Zu der Frage nach den Gründen für die Grenzen der Modernisierung der politischen Führung sind vor allem die folgenden drei Ursachen zu nennen: Erstens bestehen trotz der Modernisierungsversuche der inneren Parteistrukturen die alten auf den Parteiführer fixierten Hierarchien in fast allen Parteien fort, wodurch die Bestrebungen zur Erneuerung der Führung aufs äußerste eingeschränkt werden. Der Widerspruch zwischen einem auf Wettbewerb beruhenden demokratischen System und der antidemokratischen Struktur der Mehrzahl der Parteien ist offensichtlich. Die regionale und lokale Erneuerung der Parteien, in den meisten Fällen ausgelöst von gesellschaftlichen Druck „von unten", aufgrund des neuen Gesetzes zur Bürgerbeteiligung, hat nicht in ausreichendem Maße zur Anpassung der Strukturen der politischen Führung der Parteien auf nationaler Ebene geführt. Die einzige Partei, die diesbezüglich eine Ausnahme darstellt, ist der MNR. Zweitens hat sich das von den Parteien durch Verhandlungen und Absprachen geschaffene demokratische System bereits als unzureichend erwiesen. Ahnlich wie in Kolumbien oder Venezuela, wo die Koalitionen der „Nationalen Front" bzw. des „Fixpunkt-Paktes" ein Klima der Zusammenarbeit und des Konsenses geschaffen haben, wurde auch in Bolivien eine Politik der Kompromisse erreicht, etwa in Form eines „Gentlemen-Agreement". Aber diese Demokratie der Kompromisse dreht sich inzwischen im Kreis, weil sie sich auf eine hermetische Politik beschränkt und die Beziehung zu den Bürgern verloren hat. Zur Vervollständigung der repräsentativen Demokratie müssten dringend die Beziehungen zwischen Führungsfiguren und den gesellschaftlichen Organisationen wieder hergestellt werden. Den Parteien kommt bei der Ausarbeitung einer öffentlichen, bürgemahen Politik eine wichtige Rolle zu. Nur auf diese Art und Weise könnten wieder dynamische, auf Zusammenarbeit basierende Beziehungen zwischen Gesellschaft und Parteien aufgebaut werden.

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Drittens beeinflusst das Fortbestehen der erwähnten Probleme die bolivianische Demokratie in einem weiteren wichtigen Aspekt auf sehr negative Weise: Die Qualität der politischen Führung hat sich in den letzten Jahren nicht verbessert, sondern ganz im Gegenteil dramatisch verschlechtert, und hat ein bisher unbekanntes Niveau an Oberflächlichkeit und Verantwortungslosigkeit erreicht. Die Koalitionsregierung unter Präsident Banzer (1997-2002) ist ein weiteres Beispiel für die Unfähigkeit der Führungsfiguren angesichts der Komplexität der wirtschaftlichen und sozialen Probleme und bei der Lösung von Konflikten und in Verhandlungen mit den Vertretern der Gesellschaft. Die Regierungsfunktionäre und Parlamentarier der Parteien dieser Regierungskoalition sind nur in wenigen Fällen Berufspolitiker und ihre politische Kompetenz muss als fragwürdig betrachtet werden, da sie ihr Amt aufgrund von familiären und Klientelbeziehungen bekommen haben. Persönliche wirtschaftliche Vorteile bestimmen oft die politischen Entscheidungen, dem politischen Konzept der Betroffenen mangelt es an Prinzipien und Programmen, und es kann behauptet werden, dass die Politiker zwar von der Politik, aber keinesfalls für die Politik leben. Die Anwendung des neuen Wahlgesetzes in den „uninominalen" Wahlkreisen hat zwar zur Neubesetzung von 70% der Sitze der Abgeordnetenkammer geführt, aber gleichzeitig dazu beigetragen, dass der Anteil der Berufspolitiker noch weiter zurückgegangen ist. Die Abgeordneten aus den „uninominalen" Wahlkreisen sind zwar repräsentativer fiir die Wähler, die sie vertreten sollen, aber nichtsdestotrotz wesentlich inkompetenter (Mayorga 2000). Das Problem der Qualität der Führung in Hinsicht auf Kenntnisse, Voraussicht, Fähigkeit zur Mobilisierung der gesellschaftlichen Unterstützung, Führungsfähigkeit, berufliche Kompetenz und Verantwortlichkeit ist das zentrale Problem der bolivianischen Demokratie. Sie unterscheidet sich diesbezüglich nicht von anderen zeitgenössischen Demokratien. Aber in einem armen Land sind die Konsequenzen ungemein viel schwerwiegender.24

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Der Grund für die mangelnde Qualität liegt laut Sartori in Folgendem (1988: 180): „Die Mehrheitsregierung ist zu einer reinen Frage der Menge geworden unter dem Motto, so viele Stimmen wie möglich — und egal wie." Diese Regel folgt Greshams Gesetz, das besagt, dass die Quantität die Qualität abwertet.

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Zusammenfassend ist die Entwicklung der letzten Jahre als rückläufig zu bewerten, wie sich an folgenden Indizien ablesen lässt: •

die Degeneration der Politik der Kompromisse mit dem Ziel, Koalitionsregierungen zu bilden, zugunsten einer Politik, die Pfründe in der Regierungspolitik höher bewertet als gemeinsame Übereinkommen; die geringe Fähigkeit der politischen Führungsfiguren zur Regierungsfiihrung und ihr Vertrauensverlust durch die schwachen Leistungen in den Bereichen, die der Bevölkerung am wichtigsten sind: Kampf gegen die Armut und die Arbeitslosigkeit, Transparenz der Regierungsfiihrung und Kampf gegen die Korruption;



der Widerspruch zwischen den institutionellen Reformen (Wahlreform, Bürgerbeteiligung, Dezentralisierung, Justizorgane, etc.) und den wiederholten Versuchen, sich gleichzeitig die Nischen zu erhalten, aus denen Pfründe und Gewinne zu erwarten sind. Hier liegt das Schlüsselproblem der Institutionalisierung. Die Einrichtung neuer Institutionen ist nicht von einer Veränderung des traditionellen Verhaltens der Führungsfiguren und ihrer Parteien (Patrimonialismus, Klientelismus, Ausschluss und Diskriminierung der indianischen Bevölkerung, etc.) begleitet gewesen und ebenso wenig von einer Umstrukturierung der staatlichen Bürokratie zum Zwecke von mehr Effizienz und Kompetenz. Eine so wichtige politische Reform wie das Gesetz zur Bürgerbeteiligung ist von der Regierung Banzer gestoppt worden;



der mit zunehmender Geschwindigkeit fortschreitende Vertrauensverlust der politischen Parteien durch Korruption und Straflosigkeit verschiedener demokratischer Regierungen, der eine regelrechte Zeitbombe für das gesamte Parteiensystem darstellt.

Alle diese Probleme haben gleichzeitig verschiedene negative Folgen gehabt: die Enttäuschung und das Misstrauen gegenüber den Parteien und ihren Anführern, das Erscheinen neuer neopopulistischer Führungsfiguren mit gegen das System gerichteten Tendenzen, der daraus resultierende neue politische Konflikt aufgrund der Konfrontation der systemfreundlichen Kandidaten wie Sánchez de Lozada und Paz Zamora mit den neuen systemfeindlichen Politikern, die sicherlich ein Hauptthema der Wahlen im Jahr 2002 sein wird. Angesichts des wachsenden Misstrauens und der zuneh-

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menden Verbreitung systemfeindlicher Haltungen wird in der Zukunft die hauptsächliche Herausforderung für die Führung in der eigenen ideologischen, kulturellen und organisatorischen Anpassung bestehen, mit dem Ziel, den neuen Problemen gewachsen zu sein, Lösungsvorschläge anbieten zu können und eine erneute Legitimation des Parteiensystems zu erreichen. Das größte Risiko besteht derzeit sicherlich im zunehmenden Legitimationsverlust der Führung der politischen Parteien und des demokratischen Systems. Aus den bisherigen Ausführungen kann geschlossen werden, dass sich die politische Führung in Bolivien in einer dramatischen Übergangsphase befindet: Die früheren Schlüsselfiguren im Demokratisierungsprozess üben mehr und mehr einen schädlichen Einfluss auf die Demokratie aus. Es häufen sich die Anzeichen dafür, dass ein großer Teil der politischen Führungsfiguren für das Funktionieren und die Kontinuität des politischen Systems nicht mehr tauglich und nützlich sind. Wenn die politische Demokratie eine „Konkurrenzmethode zur Rekrutierung von Führungspersönlichkeiten" ist (Sartori 1988: 198), dann ist im Fall Bolivien offensichtlich, dass zumindest in den letzten zehn Jahren dieser Zweck nicht ausreichend erfüllt worden ist. Seit den Protestbewegungen der Monate April und September 2000, die eindeutig nach Aufruhr aussahen, ist nicht mehr daran zu zweifeln, dass die bolivianische politische Führung in einer Krise steckt. Die staatlichen Institutionen wurden klar herausgefordert von den systemfeindlichen Tendenzen, die im Zuge der Proteste geäußert wurden und nach radikalen Reformen des politischen Systems verlangten (Mayorga 2001). Nicht nur die Exekutivgewalt, sondern auch das Parlament, die Lokal- und Regionalregierungen und die Oppositions- und Regierungsparteien haben die Fähigkeit, die gesellschaftlichen Forderungen und Konflikte zu artikulieren und zu kanalisieren, größtenteils verloren. Das bedeutet, dass sich praktisch alle wichtigen Institutionen des demokratischen Systems derzeit in einer Krise befinden, denn die anfängliche Orientierungslosigkeit und Krise der Regierungskoalition unter Banzer ist allmählich zu einer Staatskrise (Krise der Exekutive und des Parlaments) geworden.25

Vor diesem wenig verheissungsvollen Hintergrund — in mitten einer schweren Wirtschafts- und Gesellschaftskrise - hat die Politik der Regierung unter Banzer in jüngster Zeit geradezu skandalöse Dimensionen angenommen. Die Regierungskoa-

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Carla Carrizo Präsidenten, Parteien und politische Führung in Argentinien: von der Regierung der Parteien zur kompetitiven Regierung (1983-2000) Einleitung' Im Rahmen der kritischen Debatte über die Rolle der Parteien in der modernen Demokratie, die die Unterscheidung zwischen alten und neuen Demokratien verschleiert, erscheint als der zentrale Punkt das Phänomen der Personalisierung der Politik. Dieses Phänomen mag als Antwort auf das Problem der „Parteienherrschaft" 2 oder als Indikator eines gesellschaftlichen Integrationsprozesses - Auflösung der Klassengrenzen, Unabhängigkeit der Wähler, Expansion der Massenmedien —, in dem die Parteien nicht nur Täter, sonder auch Opfer sind, angesehen werden. In jedem Fall erneuert es die Diskussion um die Grenzen der Demokratie und zielt dabei auf das labile Gleichgewicht zwischen Quantität und Qualität. Das politische System ist durch die Personalisierung in zweifacher Hinsicht betroffen: einerseits in seiner Funktion als Volksvertretung in Form der Konkurrenz der Parteien untereinander, und andererseits im Sinne der Kontrollfunktion durch die Konkurrenz bei den Wahlen (Jackisch 1994: 100). Dahinter steckt die alte Angst vor dem Risiko der Autonomie der Führungsfigur, was von Bobbio als Spannung zwischen der Regierung der Personen und der Regierung der Gesetze bezeichnet (Bobbio 1987: 106-116). Eine erste Fassung dieses Beitrags wurde anlässlich des vom Studienzentrum der brasilianischen Vertretung der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführten Seminars „Politische Führung in Lateinamerika" im Oktober 2000 vorgestellt. Der Dank der Autorin gilt den wertvollen Anregungen in Folge des Seminars sowie den Kommentaren von Ana Maria Mustapic, Carlota Jackisch und Eugenio Kvatemik. Dennoch ist für die hier vorliegende Fassung einzig und allein die Autorin verantwortlich. Unter „Parteienherrschaft" (spanisch partidocracia) ist eine Veränderung der spezifischen Rolle der politischen Parteien zu verstehen: Sie sind nicht mehr nur ein Mittel zur Staatsführung, sondern werden zum Nutznießer der Regierung (Hernández 1997: 26).

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In Lateinamerika hat sich durch die Fälle von Brasilien, Peru und Venezuela die Möglichkeit ergeben, vergleichende Studien anzustellen. Eine erste Annäherung ermöglichte zwei unterschiedliche Lesarten zu diesem Thema: Die erste interpretiert die Institutionalisierung der Parteien und der Parteiensysteme als unabhängige Variable und die andere bezweifelt die Reichweite dieser Erklärung. Für die Befürworter der Theorie der Institutionalisierung liegt in den Fällen Brasilien und Peru der Grund im Fehlen von starken Parteien, die dazu in der Lage wären, die Forderungen der Wähler zu artikulieren und eine wirkungsvolle Regierungsarbeit zu leisten (Mainwaring 1995). Die Gegner der teleologischen Anwendung des Konzepts der Institutionalisierung hingegen sehen im Fall Venezuela den Grund in einer entgegengesetzten Logik: nicht ein geringer, sondern ein exzessiver Grad an Institutionalisierung fuhrt hier dazu, dass dem Wähler nicht ausreichend Alternativen innerhalb des Systems angeboten werden.3 Schmitter (1993: 3-4) hat die Aufgabe, die sich für die Zukunft stellt, vielleicht am sinnvollsten zusammengefasst: „Very substantial changes have taken place in the nature and role of parties in well established Westem democracies. It would be anachronistic to presume that parties in today's neodemocracies will have to go through all the stages and perfom all the functions of their predecessors."

Abgesehen von diesen Unterschieden im Ansatz lässt sich jedoch in der Literatur ein Element finden, das die verschiedenen Fälle miteinander vereint und das in der Rolle der Führungsfigur besteht. Diese Rolle beinhaltet die Mechanismen, mit deren Hilfe das kollektive Handeln gelenkt wird, wenn keine Partei zur Verfügung steht oder keine Alternativen geboten werden (Scott 1996, Cavalli 1992, Shepsle 1997). Der Fall Argentiniens stellt im Rahmen dieser Debatte in zweifacher Hinsicht einen Sonderfall dar. Erstens haben jüngere Untersuchungen gezeigt, dass die Institutionalisierung der zwei traditionellen argentinischen Parteien — „Radikale" und „Peronisten" — im Vergleich zu denen anderer Länder Lateinamerikas ein hohes Niveau erreicht hat (Mainwaring 1998). Das bedeutet in den Worten Zelazniks (1998: 310), dass die argentinischen PolitiSchedler (1995) zeichnet ein durchgängiges Spektrum, in dem der Idealfall sich in der Mitte zwischen den Extremen der für consoziative Demokratien typischen „Überinstitutionalisierung" und der „Unterinstitutionalisierung" wie in den Fällen Brasilien und Peru befinden würde. Ein solcher Idealfall würde die Möglichkeit zur Veränderung beinhalten. Mainwaring argumentiert inzwischen ähnlich (1998) und setzt sich damit von der dichotomischen Sichweise seiner früheren Arbeiten ab.

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ker „tatsächlich Parteipolitiker sind".4 Dieser Umstand schwächt die Argumentation derjenigen, die zur Analyse der politischen Führung die Variable der Institutionalisierung heranziehen. Und zweitens ist anzumerken, dass nichtsdestotrotz das Thema der „Personalisierung der Politik" durchaus eine große Rolle spielt. Dies ist besonders seit der Zeit des „Menemismus" der Fall, also seit der zwei Amtszeiten des Präsidenten Carlos Saúl Menem (1989-95 und 1995-99). Eine der bemerkenswertesten Konsequenzen der Regierung Menems ist die Entstehung der neuen Frepaso-Partei („Front für ein solidarisches Land") im Jahr 1993, die bei den ersten Wahlen 1995 den beiden großen Parteien Konkurrenz machte und nach den Wahlen 1999 als Koalitionspartner die Radikalen bei der Regierungsbildung unterstützte.5 Dieser Umstand schwächt wiederum die Argumentation deijenigen, die zur Erklärung des Auftretens politischer Führungspersönlichkeiten die Überinstitutionalisierung heranziehen. Aus diesem scheinbaren Widerspruch ergibt sich die folgende Fragestellung: Welcher Ansatz kann zur Analyse der politischen Führung in einem Land wie Argentinien herangezogen werden, wenn einerseits die Parteien eine stärkere Stellung einnehmen als in Peru oder Brasilien, aber andererseits diese Position nicht so unanfechtbar ist wie in Venezuela, wo die Möglichkeit der Erneuerung des Systems ausgeschlossen ist? In diesem Sinne spielt die Wechselwirkung zwischen der Regierung Menems und dem Entstehen der Frepaso eine wichtige Rolle und ist richtungsweisend für die auf den folgenden Seiten entwickelte Argumentation. Diese beruht auf dem neoinstitutionellen Ansatz, der die Institutionen als handelnde Agenten ansieht. Der folgende Beitrag stellt die These auf, dass die Entstehung einer politischen Führung in Argentinien in der Zeit von 1983 bis 2000 im Licht des jeweiligen Modells 4

Auch die letzten drei argentinischen Präsidenten - Raúl Alfonsin (1983-1989), Carlos Menem (1989-1999) und Fernando de la Rúa (2000) - gehörten einer der zwei traditionellen Parteien Argentiniens an, waren entweder „Radikaler" oder , Jeronist".

5

Die Frente País Solidario (Frepaso) entstand 1993, als eine Gruppe von acht peronistischen Abgeordneten des Nationalparlaments die Wirtschaftspolitik des Präsidenten Menem in Frage stellte. Sie repräsentiert ein Mitte-Links-Bündnis und spielte zum ersten Mal bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung 1994 eine Rolle. Bei den Präsidentschaftswahlen 1995 war sie bereits die zweitstärkste Partei, und 1999 spielte das Bündnis eine unerlässliche Rolle bei der Regierungsbildung. Dennoch hat es die Frepaso noch nicht geschafft, die Struktur einer landesweiten Partei aufzubauen. Die beiden Kandidaten, die das Bündnis zu den Wahlen 1995 aufstellte, Bordón und Alvarez, begannen ihre Laufbahn ebenfalls in der peronisrischen Partei.

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der Regierbarkeit zu erklären ist, welches von den verschiedenen Präsidenten angewendet wurde. Dies unter der Voraussetzung, dass die Institution des Präsidenten eine bedeutende Rolle für das Regierungssystem und für die Konkurrenz der Parteien untereinander spielt. Nach dieser These gehen aus der politischen Praxis in Argentinien Präsidenten hervor, die jeweils mittels gewisser Strategien zur Erneuerung der Institutionen die von ihnen benötigte Regierungspartei entstehen lassen und dann mit der Zeit dem Präsidialsystem ein funktionelles Muster der politischen Führung aufdrücken. Dieses Führungsmuster auf nationaler Ebene wiederholt sich dann auf der Ebene der Provinzen, da die politischen Strukturen sich gleichen (Corbacho 1998), außer in den Fällen, in denen die Anstrengungen des Präsidenten auf besondere institutionelle Hindernisse stoßen, die die Durchsetzung dieses Musters verhindern. Aus dieser Sicht lässt sich die Entwicklung der politischen Institutionen Argentiniens mit folgender Abfolge beschreiben: Alfonsin beginnt 1983 mit einer „Regierung der Partei, Partei der Parteileitung und Parteipolitikern", Menem geht 1989 über zu einer „Regierung der Führungsperson, Partei der Führungsperson und antiparteilichen Politikern", und de la Rüa folgt der Formel „kompetitiven Regierung, Partei der Kandidaten und parteilose Politiker". Der folgende Beitrag besteht aus fünf Abschnitten. Der erste unterteilt die Diskussion über die politische Entwicklung Argentiniens in drei Thesen — Lateinamerikanisierung, Europäisierung und Nordamerikanisierung —, die den Regierungszeiten Alfonsins, Menems und de la Rüas entsprechen, nicht, weil die Entwicklung der Institutionen sich jeweils linear in diese oder jene Richtung bewegt hätte, sondern um die Logik des institutionellen Wandels innerhalb der voneinander unabhängigen Phasen näher zu beschreiben. Der zweite Abschnitt definiert die analytischen Kategorien des verwendeten Ansatzes und beschreibt drei unterschiedliche Modelle der Präsidialregierung, um auf theoretischer Ebene das Spektrum der verschiedenen Regierungskonzepte zu erweitern und gleichzeitig die argentinischen Besonderheiten herauszustellen. Im nächsten Kapitel wird der Grad der Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis für jede einzelne der drei Regierungen ausgewertet. Hierbei findet auch die Frepaso Beachtung, die in einer der untersuchten Regierungen den Koalitionspartner stellt. Das vierte Kapitel enthält die Schlussfolgerungen, die unter Aufnahme der im ersten Abschnitt vorgestellten Diskussion die Ergebnisse der Regierungsarbeit unter den drei Präsidenten bezüglich der Funktion des demokratischen Systems beurteilen.

Argentinien 1.

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Der Menemismus: Personalisierung der Politik und politische Debatte in Argentinien

Horowicz (1985) beschreibt mit seiner Metapher der „leeren Schachtel" die unterschiedlichen politischen Strömungen innerhalb des Peronismus und kommt zu dem Schluss, dass es nicht einen, sonder vier verschiedene „Peronismen" gibt. Nach der Rückkehr zur Demokratie 1983 erweckte der Wahlsieg des peronistischen Kandidaten Carlos Menem und die Art und Weise, wie er die Macht während seiner zwei Amtszeiten ausübte, diese Metapher wieder zu neuem Leben. So werden auch bezüglich des Menemismus in akademischen Kreisen unterschiedliche politische Strömungen diskutiert. Eigentlich verstecken sich jedoch hinter dieser Vielseitigkeit verschiedene Arten, das allgemeine Phänomen der „Personalisierung der Politik" zu verstehen. In diesem Abschnitt sollen daher zunächst die verschiedenen Bedeutungen dieses Phänomens beschrieben werden, um danach die politische Debatte, die in Argentinien über den Menemismus als politische Praxis geführt wird, systematisieren zu können. Innerhalb der Literatur zum Thema der Personalisierung der leadership6 in der Demokratie lassen sich vier unterschiedliche Definitionen des Begriffs differenzieren. Die erste der Bedeutungen der Personalisierung steht in Verbindung mit der „geschichtlichen Laufbahn" des Konzepts, wie sie Lübbe (1965: 13)7 beschreibt, wonach sich die Zweideutigkeit eines Ausdrucks mit seiner Entstehungsgeschichte erklärt. Unter diesem Gesichtspunkt hat die erste Definition des Begriffs eine negative Konnotation, denn sie bezieht sich auf die Spannung zwischen der Regierung der Personen und der Regierung der Gesetze, zwischen dem plebiszitären und dem bonapartistischen System. In diesem Zusammenhang soll auf Max Weber verwiesen werden, der argu-

6

Hierbei wird der Definition von Fabbrini (1999: 10) gefolgt, der zwischen Führungsfigur (Handelnder) und Führung (Handlung) unterscheidet. Unter Führung versteht sich „eine Beziehung, die eingegangen wird, um ein bestimmtes Problem zu lösen oder ein gewünschte Entscheidung zu fordern (...) Die Differenzierung der zwei Begriffe ermöglicht nicht nur den Unterschied zwischen Führungsfigur {Uder) und leadership zu erkennen, sondern zeigt gleichzeitig, dass letztere eine Handlung ist, die in einem bestimmten Kontext (...) und zu einer bestimmten Zeit durchgeführt wird."

7

Zitiert nach von Beyme (1995: 11).

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mentierte, dass sowohl der charismatische Herrscher als auch die plebiszitäre Demokratie die selbe Rolle bei der Entstehung erfüllen.8 Cavalli (1992: 28) fasst die Kriterien der plebiszitären Demokratie nach Weber wie folgt zusammen: „Die Führungsfigur erfreut sich (...) eines Machtumfangs, der ihr erlaubt, sich über die Verfassungsorgane hinwegzusetzen oder ganz auf sie zu verzichten, (...) sie hat diese Machtbefugnisse aufgrund der Unterstützung durch die Masse oder zumindest eines Teils von ihr bekommen." In diesem Kontext besteht die negative Konnotation der Personalisierung der Politik in den neunziger Jahren, wenn man die Entstehungsgeschichte des Begriffs untersucht, in ihrer Beziehung zum unzureichenden Niveau der Institutionalisierung in vertikaler Richtung, die sich an der charismatischen Autorität ablesen lässt, sowie zum unzureichenden Niveau der Kontrolle in horizontaler Richtung, die man am hohen Grad der Ungesetzlichkeit erkennt. Die zweite Definition bezieht sich auf eine weiter reichende Perspektive, in der die Analyse sich nicht auf bekannte Spannungen, d. h. auf die geschichtliche Laufbahn, konzentriert, sondern auf unbekannte. In diesem Rahmen versteht sich die Personalisierung der Politik als Auswirkung gewisser struktureller Veränderungen im politischen Bereich auf technologischer, kultureller, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene. Die neuen Formen der Politik finden sich als Begleiterscheinungen einer allgemeinen geschichtlichen Tendenz in einem weiten Spektrum von Themen wieder: Wahlsystem, „Videopolitik", neue gesellschaftliche Bewegungen, Demokratie im „Nachparteienzeitalter", „Exekutivismus". Manin (1995) und andere Autoren sehen darin den Ausdruck eines Epochenwandels von der Demokratie der Parteien zur Demokratie der Öffentlichkeit. Die dritte und vierte Bedeutung von Personalisierung der Politik haben ihre analytischen und empirischen Vorläufer in den USA. Auf analytischer Ebene bezieht sich die dritte Bedeutung auf die Politik, die von den Kandidaten, anstatt von Parteien, betrieben wird, während die vierte Bedeutung an die Rolle anknüpft, die die Exekutive für die Regierungsführung spielt, im Gegensatz zu der des Parlaments für die Regierungen in Westeuropa zum Beispiel. Auf empirischer Ebene bezieht sich die dritte Bedeutung auf das Angesichts der Tatsache, dass in der Typologie Webers verschiedene politische Strömungen Beachtung finden, zeigen Autoren wie Panebianco (1990) oder Cavalli (1992) seine Reichweite in Bezug auf konkrete Anwendungen.

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System, nach dem die Präsidentschaftskandidaten ausgewählt werden, nämlich mittels der direkten Wahl von Wahlmännern. Auf vergleichbare Weise knüpft die vierte auf der Ebene der Exekutive an die Beziehungen dreier Institutionen untereinander an: Präsident, Parteien und Kongress.9 Die Tendenz in den achtziger Jahren, nach der die Parlamente Bedeutung an die Präsidenten abgaben, führte auch in Europa zu einer Diskussion über die Revision des als typisch europäisch angesehenen Regierungssystems, der Regierung der Parteien. In Amerika wiederum gewann durch die Unterscheidung zwischen dem europäischen Modell (Regierung der Partei) und der amerikanischen Besonderheit der Ausdruck „Regierung der Führungsfigur" an Relevanz, mit dem Ziel, einen Namen für die Dominanz der Exekutivgewalt über die politischen Organe (Cavalli 1992) und/oder die Personalisierung der Exekutivgewalt zu finden (Fabbrini 1999). In den Arbeiten zum Menemismus ist es unter dem Gesichtspunkt der Auswirkung der institutionellen Entwicklung möglich, verschiedene Diskurse zu identifizieren, die sich auf die erwähnten vier Arten, die Personalisierung der Politik zu verstehen, beziehen. Es soll versucht werden, diese Debatte mittels der drei ebenfalls erwähnten Thesen zu ordnen: Lateinamerikanisierung und Regierung der Führungsfigur, Europäisierung und Regierung der Parteien, Nordamerikanisierung und kompetitive Regierung.

l.a.

Die These der Lateinamerikanisierung und die Regierung der Führungsflgur

Zur These der Lateinamerikanisierung der argentinischen Politik und Regierung der Führungsfigur gehören die Studien zum Menemismus, die vor dem Hintergrund der ersten der oben genannten vier Bedeutungen der Personalisierung durchgeführt wurden. In diesem Rahmen fußt die charismatische Autorität auf einem niedrigen Niveau der Institutionalisierung in vertikaler Richtung, während sich die Stärkung der Position des Präsidenten bezüglich der Entscheidungsfindung auf ein niedriges Niveau der Kontrolle 9

In Kap. 2 und 3 seiner Studie bezieht sich Fabbrini (1999) auf das Verhältnis der nordamerikanischen Institutionen untereinander: getrenntes Regierungssystem, starkes Bundessystem, schwache Parteien und ein System zur Auswahl der politischen Führung, das die Bedeutung der Kandidaten über die Identität der Parteien stellt.

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in horizontaler Richtung zurückführen lässt. Das Verständnis von „Regierung der Führungsfigur4' im hier vorliegenden Beitrag stimmt allerdings nicht mit dem von Cavalli (1992) und Fabbrini (1999) überein. Während Cavalli diesen Ausdruck benutzt, um einen Demokratietypus zu bezeichnen10, handelt es sich bei Fabbrini um eine Form der Regierungsführung, d. h. Personalisierung der Exekutivgewalt mit horizontaler Kontrolle. In diesem Beitrag jedoch wird „Regierung der Führungsfigur" verstanden als eine Form der Regierungsführung, bei der die Personalisierung sich lossagt von der horizontalen Kontrolle, und „kompetitive Regierung" als das nordamerikanische Modell11, um somit der Überzeugung Ausdruck zu geben, dass die Personalisierung der Exekutivgewalt in letzterem Fall abhängt von der Ohnmacht des Präsidenten als Führungsfigur gegenüber den Institutionen sowie von einer wirkungsvollen horizontalen Kontrolle durch den Kongress und die Justizorgane. Eben diese Wirksamkeit führt zur Konkurrenz in der Interaktion zwischen den Gewalten der Regierung (Lijphart 1999: 135). Innerhalb dieses begrifflichen Rahmens stimmen mehrere Autoren (de Riz 1993, Torre 1994, Cheresky 1995, Portantiero 1995, Sidicaro 1995, O'Donnell 1997 und 1998 sowie Iazzeta 1997) darin überein, dass ein Defizit an Freiheiten unter dem Menemismus zu Spannungen geführt hat. Der Grund für diesen Mangel liegt in gewissen Elementen, die vom Peronismus der neunziger Jahre und vom ursprünglichen Peronismus (1946-55) übernommen wurden, sowie in der Logik, die bestimmten Ausnahmesituationen im Kontext der schwachen Institutionalisierung zugrunde liegt. Zu diesen 10

Cavalli (1992) erstellt zwei Muster der Demokratie: einerseits die personalisierte leadership oder Regierung einer Führungsfigur, in der sich die Parteien der Exekutive unterordnen, und andererseits die führerlose Regierung der Partei, in der die Führungsfiguren sich den Parteien unterordnen. Bespiele für das erste Muster sind Großbritannien, Frankreich und die USA, ein Beispiel für das zweite Muster ist Italien.

11

Bei Fabbrini (1999: 133) bezieht sich die Regierung der Fühningsfigur auf die Personalisierung der Exekutivgewalt und/oder auf die Identifikation der Wählerschaft mit der Regiemngsführung des Präsidenten. Dieses Format beinhaltet keine Personalisierung der Macht an sich, da der Präsident der Kontrolle durch andere staatliche Organe wie Oberster Gerichtshof und Kongress ausgesetzt ist. Im hier vorliegenden Artikel allerdings wird Regierung der Fühningsfigur verstanden als eine Situation, die sich der Personalisierung der Macht sehr annähert, da die Personalisierung des Präsidialsystems mit keiner wirksamen Kontrolle durch die erwähnten Organe verknüpft ist.

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Situationen gehören zum Beispiel Wirtschaftszyklus und Hyperinflation (Torre 1994). Mehrere Studien erwähnen in diesem Sinne empirische Indikatoren, die auf eine geringe horizontale Kontrolle der Regiemngsfiihrung Menems hinweisen: „der Gebrauch und Missbrauch der Notstands- und Dringlichkeitsdekrete" von 1989 bis 1995 (Ferreira 1995), das „Teilveto" als zusätzliches Instrument zur Neutralisierung der Kontrolle durch den Kongress (Mustapic 1995), die Erweiterung der Mitgliederzahl des Obersten Gerichtshofs von fiinf auf neun und die Neutralisierung der Justizgewalt (Mollinelli 1999). Wenn wahr ist, dass sich hinter jedem Pessimisten ein gut informierter Optimist versteckt, wie Przeworski vermutet (1995), dann bieten diese Studien gute Informationen zur Entwicklung der argentinischen Institutionen und zur Gültigkeit gewisser politischer Traditionen. Wenn unter Lateinamerikanisierung der argentinischen Politik zu verstehen ist, dass die Handlungsfähigkeit der Institutionen in horizontaler und vertikaler Richtung geschwächt wird, dann kann daraus geschlossen werden, dass der wirtschaftliche Erfolg der Regierung der Führungsfigur sich nicht proportional auf die Ebene der politischen Institutionen hat übertragen lassen. In diesem Sinne liegt die Ursache für die Spannungen, denen sich de la Rüa seit 1999 entgegenzustellen hat, in der erwähnten ersten Lesart.

l.b.

Die These der Europäisierung und die Regierung der Partei

Zur These der Europäisierung der argentinischen Politik und Regierung der Partei gehören die Arbeiten, die die Auswirkungen der Politik Menems vor dem Hintergrund der zweiten, dritten und vierten Interpretation des Begriffs der Personalisierung der Politik bewerten. Diese Arbeiten befassen sich zwar mit unterschiedlichen Aspekten des Menemismus, stimmen aber darin überein, dass sie die Entwicklung der argentinischen Institutionen etwas optimistischer sehen, da sie sich von den Modellen sowohl Lateinais auch Nordamerikas fortbewegen (Schwächung der Institutionen in beiden Richtungen bzw. nur in vertikaler Richtung) hin zum europäischen Modell der Regierung der Partei. Dieses Modell schließt eine Form der Regierungsführung ein, die den Parteien eine Schlüsselrolle im Prozess der Entscheidungsfindung überträgt, im Gegensatz zur Regierung der Führungsfigur mit Autonomie des Präsidenten sowie zur kompetitiven Regie-

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rung zwischen Präsident und Kongress. Das heißt, dass der Präsident weder autonom ist noch mit dem Parlament konkurrieren muss, sondern vom Kongress abhängt, entweder weil er als , Agent" der Parteien auftritt oder weil diese .Agenten" der Exekutive sind.12 Die Autoren Nun (1995), Novaro (1994 und 1995), Abal (1997) und Cheresky (1999) finden ausgehend von einem Ansatz, der die Personalisierung der Politik als Begleiterscheinung eines strukturellen Wandels versteht, in verschiedenen Aspekten sowohl des Menemismus als auch des Postmenemismus Indikatoren für die Erschöpfung eines historischen Zyklus und für den Beginn einer neuen Art und Weise, wie Politik betrieben wird. Nun weist auf die Grenzen der Interpretation des Menemismus als eine Form des Populismus hin, denn letzterer gehört einer ganz bestimmten Epoche und Staatsform an. Novaro sieht jedoch im Menemismus einen Neopopulismus, der mit der peronistischen Tradition bricht und den Peronismus mit dem Liberalismus versöhnt. Abal und Castiglioni sprechen von der Tendenz zur catch-all-partyu. Und Cheresky schließlich identifiziert eine politische Situation, in der sich die Art der Volksvertretung und die Mechanismen des kollektiven Handelns verändern. Andere Autoren sehen jedoch, ausgehend von einem Ansatz, der auf die Konkurrenz der Parteien untereinander abzielt, im Menemismus ein Phänomen, das zur Normalisierung dieser Konkurrenz nach europäischem Muster fuhrt, da er in der Lage ist, als Mitte-Rechts-Partei eine Lücke im Parteienspektrum zu füllen. Das bedeutet, dass durch den Menemismus der Grad an Institutionalisierung nicht verringert, sondern erhöht würde. Abal (1994), Kvaternik (1995) und Novaro (1998) betonen diejenigen Elemente, die den Bruch zwischen Peronismus und Menemismus deutlich machen: von einer Konkurrenz der Bewegungen zu einer Konkurrenz der Programme bei Abal, von einem Zentrumsprogramm zu einer Zentrumsposition bei Kvaternik, vom Populismus ohne Institutionalisierung (rechts und links) zu einem Populismus mit Institutionalisierung (Menemisten in den achtziger

Für eine umfassende Untersuchung der Entwicklung der Theorie zur Regierung der Partei, siehe Botto (1999). 13

Diese von Kirchheimer (1971) erdachte Kategorie dient der Bezeichnung der Form, die von den politischen Parteien Europas zum Ende der sechziger Jahre angenommen wurde, als der Wohlfahrtsstaat die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten durch wirtschaftliche Angleichung auflöste.

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Jahren bzw. Progressive Allianz in den Neunzigern14) bei Novaro und Palermo.15 Wird jedoch von einem Ansatz ausgegangen, der sich mit den Entscheidungsprozessen in der öffentlichen Politik befasst, so zielt die Diskussion mittels Fallstudien auf die Frage, welcher Regierungsform die Entscheidungsdynamik unter Menem entsprach: Regierung der Führungsfigur oder Regierung der Partei? Llanos (1998), Botto (1999), Maurich (1998) und Etchemendy (1998) sind diesem Ansatz gefolgt. Es muss diesbezüglich darauf hingewiesen werden, dass das Konzept der Regierung der Führungsfigur bei diesen Autoren unterschiedlich ist. Llanos und Botto verstehen es als eine Situation der „kontrollierten Delegation", die bei den zwei Autoren im Zusammenhang mit der englischen Tradition des pilot of the storm16, bzw. für eine Regierung der Partei mit Dominanz der Exekutivgewalt steht. Die implizite Definition in der Studie von Etchemendy und Palermo nähert sich eher der des hier vorliegenden Beitrags an („unkontrollierte Delegation"). Und Maurich und Liendo schließlich unterscheiden zwischen Entscheidungsstrategie und Regierungsform. Der Schnittpunkt, in dem diese vier Untersuchungen übereinstimmen, ist die Relativierung der Assoziation zwischen Menem-Regierung und Regierung der Führungsfigur. Diese Relativierung drückt sich in der Unterscheidung zwischen verschiedenen Modi der Entscheidungsfindung aus, die in Zusammenhang mit den zwei Regierungsformen stehen. Die Autonomie des Präsidenten der Anfangsphase, die einer Regierung der Führungsfigur entspricht, wird nach dem Abbau der Krise ersetzt durch den Umstand, dass der Präsident von den Parteien abhängt, um regieren zu können, was einer Regierung der Partei entspricht. In diesem Sinne zeugen die erwähnten Studien von der Überzeugung von einem höheren Grad der Institutionalisierung der Entscheidungsprozesse. Diese drei Argumentationslinien — die der zweiten, dritten und vierten Definition der Personalisierung der Politik entsprechen - stimmen überein in

14

Anlässlich der Parlamentswahlen 1997 schlössen sich UCR (Radikale Bürgerunion) und Frepaso unter dem Namen „Allianz für Arbeit, Gerichtigkeit und Bildung" zu einer Koalition zusammen, die seit den Präsidentschaftswahlen 1999 die Regierung bildet. Im weiteren wird diese zur Vereinfachung Allianz genannt.

15

Der Populismus gilt als politische Reaktion auf die Auswirkungen der marktfreundlichen Wirtschaftsreformen. Die Personalisierung weist auf eine politische Anpassung, aber nicht auf ein niedriges Niveau der Institutionalisierung hin.

16

Siehe Llano (1998: 746-747). Zu der erwähnten Tradition, siehe Cavalli (1992: 66).

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der optimistischen Sichtweise der argentinischen Politik. Unter diesem Gesichtspunkt fällt den Parteien eine bedeutende Rolle in zweifacher Richtung zu: vertikal und horizontal. Trotz der umfangreichen Informationen zu den Themen, die jeweils von den erwähnten Studien untersucht werden, liefern diese jedoch keinerlei Erklärung für die derzeitigen institutionellen Spannungen. Wenn wir auch einverstanden sind mit der Meinung, dass sich die Regierung der Führungsfigur im Falle Menems in einer Ausnahmesituation herausgebildet hat - Hyperinflation und Verlangen nach einer Lösung — und somit keine allgemeine Richtlinie, sondern einen Einzelfall darstellt, der sich wohl kaum wiederholen wird, so fällt es doch schwer, die Idee der Regierung der Partei als Widerspiegelung der Regierung Menems auf institutioneller Ebene mit den derzeit im Argentinien des „Postmenemismus" entstehenden Spannungen zu vereinbaren.

I.e.

Die These der Nordamerikanisierung und die kompetitive Regierung

Zur These der Nordamerikanisierung der argentinischen Politik und der kompetitiven Regierung gehören die Arbeiten, die sich bei der Untersuchung der Entwicklung der Institutionen auf die verschiedenen Aspekte der horizontalen Dimension beziehen, auch wenn sie sich nicht ausschließlich auf den Menemismus konzentrieren. Das besondere an diesen Untersuchungen ist das Aufzeigen einer Alternative jenseits des Gegensatzes Lateinamerikanisierung/Europäisierung bzw. Regierung der Führungsfigur/der Partei: Nordamerikanisierung und kompetitiven Regierung. Das Geheimnis dieser Alternative besteht in dem verwendeten Ansatz. Dieser geht davon aus, dass der Neoinstitutionalismus die Institutionen als Agenten - Präsident, Kongress - betrachtet, weswegen der Wandel nicht nur ein Anpassungsprozess an äußere Restriktionen - Wirtschaftskrise - sein muss, sondern ein Erschaffen neuer, andersartiger Institutionen sein kann. Die Agenten passen sich nicht nur einer bestimmten Kombination von Umständen an, sondern verändern diese öfter als erwartet, oder schaffen sogar selbst neue Situationen. An dieser Stelle sollte emeut die Bedeutung der zwei oben erwähnten Thesen erklärt werden. Wenn wir unter Lateinamerikanisierung und Regierung der Führungsfigur eine Situation verstehen, die zum Abbau der vertikalen

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und horizontalen Institutionen neigt, und Europäisierung und Regierung der Partei sehen als die Stärkung der Institutionen in beiden Richtungen, dann nimmt die Nordamerikanisierung und die kompetitiven Regierung eine Mittelstellung ein: Sie neigt zum Abbau der vertikalen Dimension (der Parteien gegenüber den Kandidaten), ohne gleichzeitig die horizontale Dimension (Gleichgewicht der Gewalten) zu schwächen. Das besondere am nordamerikanischen Modell ist, dass seine Strukturen sich sowohl der Funktionsweise der Regierung der Führungsfigur mit Autonomie des Präsidenten als auch der bipolaren Situation der Theorie der Regierung der Partei - Regierung als Agent der Parteien oder Parteien als Agenten der Regierung — entzieht. Die Logik dieses Modells entzieht sich ihnen, weil die kompetitive Regierung eine Dynamik entwickelt, in der niemand Agent für niemanden ist. Anstelle von Autonomie des Präsidenten und Dominanz des Kongresses steht die Konkurrenz zwischen den beiden Institutionen jenseits von den Parteien: es regiert sowohl der Präsident als auch der Kongress. Zwei der zentralen Indikatoren für die Konkurrenz der Institutionen sind einerseits die Inkonsequenz der öffentlichen Politik und andererseits das erneute Erstarken der Diskussion um die Verantwortung der Regierung (Fabbrini 1999: 186-192). In diesem begrifflichen Rahmen sind die Untersuchungen von Smulovitz (1995), Miranda (1999) und Mustapic (2000) anzusiedeln. Trotz unterschiedlicher Interessen - Justizgewalt, Kongress bzw. Parteidisziplin stimmen diese Autoren in ihrer alternativen Sichtweise überein: Sie zeigen weder Pessimismus noch Optimismus, sondern das Potential der institutionellen Entwicklung. Anhand der Differenzierung der unterschiedlichen Mechanismen, die der Justizgewalt zur Ausübung der horizontalen Kontrolle zur Verfügung stehen, zeigt Smulovitz die Möglichkeit einer geringeren Unterordnung der Justizorgane unter die anderen Staatsgewalten. Miranda unterstreicht die Konkurrenzfähigkeit dieser Institutionen in Beziehung zur Exekutivgewalt und schlägt ein symmetrisches Schema der Gewalten vor, das er wie folgt beschreibt: „vom ,Plaza de Mayo' zum Kongressplatz". Und Mustapic schließlich schreibt, die Disziplin hänge nicht ausschließlich von der Tradition der Parteien ab, sondern sei eine Folge der Fähigkeiten der führenden Politiker, die Disziplin durchzusetzen, die er „Produktion der Parteidisziplin" nennt. Die Schlussfolgerung der drei Autoren ist die selbe: Wenn das System die Bedingungen verändert, aber diese Veränderung bezüglich der dem System eigenen Logik eine Inkonsequenz darstellt - für die Führungsriege der Partei offene interne Wahlen in

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einer auf die Kandidaten zugeschnittenen Partei, aber für die Abgeordneten geschlossene interne Wahlen in einer auf die Parteiführer zugeschnittenen Partei —, verändern sich auch die Bedingungen der Parteidisziplin und somit nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass sich die Disziplin nicht nur aufgrund von äußerem Druck — Veränderung der traditionellen Identität —, sondern eben aufgrund der absichtlichen Schaffung neuer Bedingungen wandelt. In diesem Sinne liefern die erwähnten Arbeiten zusätzliches Werkzeug nicht nur zur Bewertung der politischen Führung von 1983 bis 2000, sondern auch für die Suche nach der Ursache für die institutionellen Spannungen in der ersten Legislaturperiode nach Menem.

2.

Präsidialsystem, Föderalismus und Regierungsfähigkeit: der neoinstitutionelle Ansatz

2.a.

Der Fall Argentinien und die Vorteile des Neoinstitutionalismus

Es ist gezeigt worden, dass eine der Besonderheiten des Falls Argentinien in der Existenz der institutionalisierten Parteien und der Parteipolitiker besteht. Die traditionellen argentinischen Parteien - Radikale und Peronisten — zeichnen sich durch Langlebigkeit und Regierungsfähigkeit aus, was sich daran ablesen lässt, dass sie nicht nur die durch Staatsstreiche eingesetzten autoritären Regierungen überlebt17 und in den letzten zwei Jahrzehnten beide abwechselnd die Regierungsgeschäfte zu einem jeweils kritischen Zeitpunkt - Demokratisierung (UCR) bzw. Staatsreform (PJ) - übernommen haben, sondern dazu in den achtziger und neunziger Jahren einen unglaublichen Zuwachs an Mitgliedern verzeichnen konnten: UCR 2.571.096 und PJ 3.888.644.18 Diese zwei Eigenschaften allein vermochten jedoch 17

Die Radikale Burgerunion UCR (Unión Cívica Radical) entstand 1890 und regierte von 1916 bis 1930, bis sie durch den ersten Militärcoup abgesetzt wurde. Die peronistische Organisation PJ (Partido Justicialista) wurde 1945 gegründet und regierte von 1946 bis 1955. Von 1955 bis 1966 war die Partei verboten. 1973 gelangte sie erneut an die Macht und wurde 1976 durch einen zweiten Staatsstreich abgesetzt. Seit 1983 bestimmen diese zwei Parteien fast ausschließlich das politische Geschehen des Landes: Bei den Wahlen 1983 und 1989 erhielten sie zusammen 91,6 bzw. 86,3% der Stimmen. Bei den Wahlen 1995 sanken sie zwar vorübergehend auf 66,9% ab, aber erreichten 1999 erneut einen historischen Prozentsatz (86,5; einschließlich der Stimmen des Koalitionspartners der UCR, Frepaso).

18

Die Daten beziehen sich auf das Jahr 1999. Siehe auch Anhang, Tafel 1.

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nicht die Personalisierung der Politik in einem Land zu verhindern, in dem die Parteien das Monopol der Volksvertretung sowie der Kandidatenbestimmung'9 innehaben und darüber hinaus die ersten offenen internen Wahlen zur Bestimmung eines Kandidaten für die Präsidentschaft erst 1998 stattfanden.20 Somit ergeben sich drei Widersprüche: Warum findet eine Personalisierung statt, wenn die institutionellen Bedingungen keine Anreize dazu geben? Warum führt eine identische Gestaltung der Institutionen zu unterschiedlichen Regierangsmodi unter Alfonsin und unter Menem?21 Wie lässt sich die Existenz der institutionalisierten Parteien und der Parteipolitiker mit dem Auftreten von institutionellen Spannungen in der Zeit nach Menem vereinbaren?22 Die Antworten auf diese Fragen finden sich zum Teil bei Panebianco (1990) und zum Teil im Neoinstitutionalismus. Ersterer stellt den Typus der Partei in den Mittelpunkt der Problematik um die Spannungen zwischen Theorie und Praxis, während Letzterer in den Institutionen die verantwortlichen Agenten sieht. Werden diese beiden Argumente miteinander kombiniert, so ergibt sich die Hypothese, die in dem hier vorliegenden Beitrag aufgestellt werden soll, und nach der die erwähnten Widersprüche im Licht der vom jeweiligen Präsidenten eingesetzten „politischen Formel", mit der er versucht, die mit dem Präsidialsystem implizit verbundene „Unmöglichkeit zu regieren" zu überwinden, sowie im Licht der institutionel-

19

Die Verfassung erteilt in Artikel 38 den Parteien die alleinige Kompetenz zur Bestimmung der Präsidentschaftskandidaten. Diese werden mittels geschlossener Listenwahlen gewählt.

20

An diesen offenen internen Wahlen beteiligten sich die Parteimitglieder der Allianz sowie unabhängige Kandidaten. Die Frepaso führte bereits 1995 neutrale interne Wahlen durch, an denen sich sämtliche Bürger beteiligen konnten, da die Partei zu diesem Zeitpunkt weder über interne Regeln noch über eine bedeutende Mitgliederzahl verfügte. Siehe auch Anhang, Tafel 1.

21

In der Zeit von 1983 bis 1994 galt die Verfassung von 1853, die die mittelbare Wahl des Präsidenten und eine Amtszeit von sechs Jahren vorsah, wobei eine direkte Wiederwahl nicht möglich war. Seit der Verfassungsreform von 1994 sind die Präsidialwahlen direkt, die Amtszeit dauert 4 Jahre und eine direkte Wiederwahl ist möglich. Trotzdem bestehen die Spannungen zwischen Theorie und Praxis weiter. Die Politologen kritisieren an der neuen Gestaltung, dass sie die Macht des Präsidenten erweitere.

22

Ein Beispiel für diese Spannungen ist der Rücktritt des Vizepräsidenten Carlos Alvarez nach weniger als einem Jahr im Amt und seine Ankündigung, er werde seine zukünftige Mitarbeit vom Café "Varela Varelita" aus betreiben.

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len Instrumente, die er benutzt, um diese Formel anzuwenden, zu verstehen sind. An dieser Stelle sollten jedoch zwei erklärende Anmerkungen gemacht werden, die mit der in diesem Beitrag aufgestellten Assoziation zwischen der Regierung der Führungsfigur und der Menems zusammenhängen. Zunächst sei gesagt, dass die Art der Regierungsfiihrung sich nicht mit den Entscheidungsprozessen der öffentlichen Politik erschöpft, sondern dass die Handlungen des Präsidenten auch andere von der Regierung abhängige politische Prozesse beeinflusst, besonders die Parteien und die Art, wie Politik betrieben wird, also nicht nur die Führung des Präsidenten, sondern das der gesamten politischen Elite.23 Darüber hinaus wird im hier vorliegenden Artikel die Meinung vertreten, dass eine Entscheidungsstrategie, zum Beispiel durch Vereinbarung oder durch Bestimmung, nicht unabhängig von der Regierungsführung sein kann. Das heißt, dass die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden und der Regierungstyp voneinander abhängig und nicht zufällig sind. Also sollen im folgenden die Formeln der drei argentinischen Präsidenten analysiert werden, mit denen sie versuchten, das Land regierbar zu machen, und zwar ausgehend von ihrer Auswirkung auf die Parteien, auf das Handeln der politischen Elite und damit auch auf die Dynamik der politischen Konkurrenz. Diese Erweiterung der Perspektive auf die Art und Weise der Regierungsführung ermöglicht es, bezüglich der jüngeren Entwicklung der Institutionen in Argentinien Fortschritte zu erzielen. Im zweiten Abschnitt des vorliegenden Artikels soll die hier verwendete begriffliche Struktur vorgestellt werden. Also werden in Abschnitt 2.b. die Konzepte des Ansatzes und die Variablen, die für die einzelnen Präsidenten eine Rolle gespielt haben, umrissen. In 2.c. sollen kurz die impliziten Elemente dargestellt werden, die es so schwierig machen, innerhalb eines Präsidialsystems zu regieren. Und in 2.d. schließlich werden die drei Regierungsmodelle entwickelt, die den Schritt von der Theorie zur Praxis im dritten Kapitel ermöglichen.

23

Unter Elite oder politischer Führung ist die „soziale Gruppe, die sich aufgrund der Funktionen, die sie erfüllt, mit dem allgemeinen Prozess der Aufteilung der politischen Arbeit identifiziert", zu verstehen (Fabbrini 1999: 5).

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2.b. Die Prämissen des Ansatzes Der Neoinstitutionalismus ist eine von vielen Alternativen, die sich zur Analyse anbieten.24 Seine Besonderheit im Vergleich zum traditionellen Ansatz liegt vor allem in einem anderen Verständnis der institutionellen Entwicklung. Demnach erhalten die Institutionen ihre Hierarchie und ihre Eigenschaft als unabhängige Variablen, aber sind nicht gegen den äußeren Einfluss anderer Agenten immun. Das bedeutet, dass die Entwicklung der Institutionen nicht als linear angesehen werden kann, sondern als komplexer, instabiler und teilweise selbstzerstörerischer Prozess. Darüber hinaus müssen die Agenten sich oft mit knappen Mitteln der schwierigen Aufgabe des Ausgleichs einander entgegengesetzter Funktionsweisen stellen. Zu diesem Zweck stehen ihnen gewisse Strategien der institutionellen Entwicklung zur Verfugung, von denen jede wiederum ihre eigen KostenNutzen-Analyse mit sich bringt. Lanzara (1999: 926) identifiziert drei unterschiedliche strategische Verhältnisse, die sich auf die Erklärung der Entwicklung der Institutionen anwenden lassen: Nutzung/Erforschung, Erforschung/Nutzung, und Brennpunkt/Kombination. Im ersten dieser drei Verhältnisse dominiert die „Nutzung und Perfektionierung" existierender Institutionen über die „Erforschung neuer Konfigurationen", die sekundär bleibt. Es zielt auf das „Vertrauen", auf die Kontrolle der „Vergangenheit", und minimiert das kurzfristige Risiko auf Kosten langfristiger Erfolge. Im zweiten Verhältnis hingegen dominiert die „Erforschung neuer Konfigurationen" über die jetzt sekundäre Nutzung existierender Institutionen. Es zielt auf „Veränderlichkeit", auf die Ausdehnung des „Schattens der Zukunft", und erhöht das kurzfristige Risiko, um langfristige Erfolge zu erzielen. Da diese strategische Rechnung jedoch „suboptimal"25 ist - nicht nur aufgrund der unvollständigen Information, sondern auch weil die kognitive Komplexität „in dem Maße zunimmt, wie die Zeitabstände größer werden, (...) wodurch die Kohärenz (...) zwischen der Nutzung und der Erforschung problematischer

24

Im Sinne von March (1998 und 1997).

25

Unter optimalem Gleichgewicht können zwei Situationen verstanden werden: eine, in der alle gewinnen, und eine, in der einer gewinnt, aber die anderen nicht verlieren. Der Neoinstitutionalismus geht davon aus, dass der Austausch der Institutionen meistens „suboptimal" ist, d. h. es gibt Verlierer, aber diese sind nicht ständig die selben.

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wird" —, ist es durchaus möglich, dass im Laufe der institutionellen Entwicklung Krisenzyklen auftreten. Das heißt, dass wenn der Erfolg der Nutzung sich in Stabilität ausdrückt, dann muss diese damit bezahlt werden, dass die „Regierbarkeit" abnimmt.26 Wenn im Gegenteil der Erfolg in einer hohen Regierbarkeit besteht, dann muss diese mit Instabilität bezahlt werden. Und wenn sich schließlich die Agenten in einer kritischen Situation befinden, die entweder unter einer übermäßigen Erneuerung (Instabilität) oder einer zu geringen Regierbarkeit (Sperrung) leidet, dann kann das dritte der oben erwähnten Verhältnisse Anwendung finden: Brennpunkt und Kombination. ,3rennpunkt" bedeutet, dass die komplexe Situation angegangen wird, indem einige „Schlüsselthemen" ausgewählt werden.27 „Kombination" hingegen heißt, dass Elemente der Erforschung mit denen der Nutzung verbunden werden, aber ohne, dass eine der beiden über die andere dominiert. Letzteres bedeutet dennoch, dass wenn der Erfolg sich in Regierbarkeit ausdrückt, diese dann mit Inkongruenz bezahlt werden muss.28 Daraus ergibt sich folgende Fragestellung: Wie sind die Zyklen zu vermeiden? Zur Beantwortung sollten zwei Konzepte herangezogen werden: der historische Werdegang (path dependent) und der institutionelle Lernprozess. Der erste dieser beiden Begriffe schränkt die Reichweite der Erneuerung ein und erklärt darüber hinaus, warum Ausnahmesituationen nicht nur aufgrund von Veränderungen in großem Umfang („mit der Tradition brechen") entstehen, sondern auch, wie die Geschichte sich wiederholt, wenn auch in unterschiedlichen Varianten.29 Der institutionelle Lernprozess verweist auf eine positive Bewertung dieser Abhängigkeit: Die Agenten bedienen sich der Informationen der Geschichte, um die Kosten der Ungewissheit zu minimieren. Die Entscheidung für eine dieser drei Strategien wird demnach von vier voneinander abhängigen Variablen bedingt: den Zielen des Agenten und seiner kollektiven Identität; dem Modell der histo-

26

Unter Regierbarkeit wird die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen, verstanden (Pappalardo 1998).

27

Alle Ausdrücke in Anführungszeichen nach Lanzara (1999: 926, 930, 931).

28

Zu „Brennpunkt" siehe Schelling (1980), und zu „Kombination" siehe Levi-Straus (1962), nach Lanzara (1999).

29

Die erneuernde Handlung hängt von verschiedenen politischen Situationen ab, ebenso wie umgekehrt die Situationen von der Erneuerung. Sie kann nie „ein für allemal" stattfinden. Die Varianten sind veränderlich (Intensität, Rhythmus, Deutlichkeit), nicht aber die Handlung selbst.

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rischen Abhängigkeit, dem institutionelle Rahmen und der Verteilung der damit zusammenhängenden Ressourcen. Da der Inhalt dieser Variablen vom Bereich abhängt, auf den sich der Ansatz bezieht, soll an dieser Stelle kurz geklärt werden, was sie im hier behandelten Zusammenhang bedeuten. Unter den Zielen des Agenten sind die Absichten des Präsidenten zu verstehen, die sich wiederum in vier Kategorien unterteilen lassen: Veränderung der Politik ohne das Land zu verändern, Veränderung des Landes ohne die Politik zu verändern, Veränderung des Landes und der Politik, Veränderung weder der Politik noch des Landes.30 Kollektive Identität bezieht sich in diesem Fall auf die Partei des Präsidenten, und das Modell der historischen Abhängigkeit ist das, was von Panebianco (1990) das „Originalmodell" genannt wurde: Die Gründungsumstände einer Partei bestimmen ihre Entwicklung. Auch hier sind vier Kategorien zu unterscheiden: Oppositionspartei mit starker oder schwacher Institutionalisierung und Regierungspartei mit starker oder schwacher Institutionalisierung.31 Der institutionelle Rahmen bezieht sich auf die Bedingungen, die die Konkurrenz regulieren, sowie auf den Typus des föderativen Präsidialsystems, d. h. entweder stark oder schwach. Die Verteilung der Ressourcen schließlich unterscheidet sich in vier verschiedene: institutionelle, außerinstitutionelle, politische und wirtschaftliche. Mit institutionellen Ressourcen sind die Machtverteilung im Kongress gespaltene oder vereinte Regierung32 — sowie die Vorrechte des Präsidenten gemeint. Die Bezeichnung der außerinstitutionelle Ressourcen bezieht sich auf die außergesetzliche Anwendung der Vorrechte des Präsidenten 30

Fabbrini (1999) benutzt die Formulierung „Umgestaltung des Landes ohne die Politik umzugestalten" für die Vereinigten Staaten. Die folgenden Überlegungen im Text stammen von der Autorin dieses Beitrags. Der Begriff „Land" steht hier fiir die Wirtschaftspolitik.

31

Bei dem Grad der Institutionalisierung gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Oppositions- und Regierungsparteien (Panebianco 1990). Erstere sind aufgrund ihrer „externen Entstehungsgeschichte" dazu gezwungen, ihre einzige Ressource, ihre Organisation, zu maximieren, weshalb sie zu starker Zentralisierung neigen und dazu, innerhalb ihrer Handlungen diejenigen vorzuziehen, die die kollektive Identität stärken. Die Regierungsparteien dagegen verfügen meist über eine „interne Entstehungsgeschichte", sind weniger stark zentralisiert und neigen dazu selektive Handlungen vorzuziehen.

32

Von gespaltener Regierung wird gesprochen, wenn der Präsident nur in einer der Parlamentskammem mit einer Mehrheit rechnen kann. Eine vereinte Regierung ist vorhanden, wenn er in beiden Kammern über eine Mehrheit verfügt (Molinelli 1998).

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ßergesetzliche Anwendung der Vorrechte des Präsidenten - Teilveto, Notstands- und Dringlichkeitsdekrete — und auf die Machtverteilung außerhalb des politisch-institutionellen Wirkungskreis: Interessengruppen und Massenmedien. Die politischen Ressourcen wiederum stehen in Verbindung zur Konkurrenz der Parteien untereinander: man spricht von komplexer Konkurrenz, wenn die Parteien um die selbe Zielgruppe (gesellschaftliche Basis) kämpfen, und von einfacher Konkurrenz, wenn sie sich in unterschiedlichen „Jagdgebieten" bewegen und das der anderen jeweils respektieren (Panebianco 1990). Die wirtschaftlichen Ressourcen schließlich beziehen sich auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Staats. Die folgende Tabelle zeigt eine Zusammenfassung der Bedeutungen der Variablen, die bei der Entscheidung des Präsidenten für die eine oder andere Formel der Regierbarkeit eine Rolle spielen. Erklärung der voneinander abhängenden Variablen 1. Ziele des Präsidenten

Veränderung der Politik ohne das Land zu verändern, Veränderung des Landes ohne die Politik zu verändern, Veränderung des Landes und der Politik, Veränderung weder der Politik noch des Landes

2. Partei des Präsidenten (Originalmodell)

Stark/schwach institutionalisierte Oppositionspartei Stark/schwach institutionalisierte Regierungspartei

3. Institutioneller Rahmen

Regeln der Konkurrenz unter den Parteien Starkes/schwaches föderatives Präsidialsystem

4. Verteilung der Ressourcen Institutionell: gespaltene/vereinte Reg.; Präs.-Vorrechte Extrainstitutionell: außergesetzl., Interessengruppen, Massenmedien Politisch: komplexe/einfache Konkurrenz der Parteien Wirtschaftlich: Leistungsfähigkeit des Staats.

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Wie bereits erwähnt, besteht zwischen einer Entscheidungsstrategie - Vereinbarung oder Bestimmung — und ihrer Umgebung — Art der Regierungsfuhrung - keine ad-hoc-Beziehung, sondern eine wechselseitige Abhängigkeit (vgl. 2.a.). Diese Behauptung verweist auf die Einschränkungen, die eine Interpretation der verschiedenen Arten der Regierungsfuhrung als unterschiedliche „Stile der Präsidenten" mit sich bringt. Nur solange die verschiedenen Variablen konstant bleiben, erscheint die Erklärung durch den Stil plausibel und kann sogar zur Unterscheidung dienlich sein. Wenn aber die Variablen sich verändern, führt die Beobachtung des Stils allein zur Vernachlässigung sämtlicher Informationen, die zur Bewertung seiner Auswirkungen notwendig sind, und die hier als „Form der politischen Führung" zusammengefasst werden sollen. Zwischen Stil und der politischen Führung besteht folglich das gleiche Verhältnis wie zwischen einer Tendenz und einer empirischen Tatsache. Im Sinne des Ansatzes, dem dieser Beitrag folgt, sind die Art und Weise, wie der Präsident Entscheidungen trifft - die Entscheidungsstrategie - , und die Form, wie er Erneuerungen durchfuhrt — institutionelle Entwicklungsstrategie —, die zwei Indikatoren der „Regierungsform" des Präsidenten. Es geht also darum, zu zeigen, welches Modell der Regierungsführung in Verbindung zu welcher institutionellen Entwicklungsstrategie und zu welcher Entscheidungsstrategie steht.

2.c. Die Regierbarkeit in einem föderativen Präsidialsystem Das Präsidialsystem baut auf Bedingungen, die die Konkurrenz fördern, indem sie die zum Regieren notwendigen Institutionen voneinander trennt: einerseits werden der Präsident und die Abgeordneten unmittelbar gewählt, andererseits sind die Mandate unabhängig. Die schwerwiegendsten Konsequenzen dieser Spannung, die in der Literatur ausgiebig behandelt worden sind, sind die Entscheidungslähmung („gespaltene Regierung") und das „Spiel der Nullsumme" (Mayoritarismus). Fabbrini weist darauf hin, dass die Konkurrenz zunimmt, nicht etwa weil Präsident und Abgeordnete den gleichen Legitimationsanspruch hätten, sondern weil sie unterschiedliche Interessen repräsentieren33: der Präsident das Allgemeininteresse und der Kongress verschiedenen Einzelinteressen, wie zum Beispiel die der Parteien, der Interessengruppen, der Provinzen, etc. In diesem Umstand liegt der 33

In seinem Kapitel 6 äußert sich Fabbrini (1999) zum Präsidialsystem.

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Grund dafür, dass die institutionelle Konkurrenz in einem Präsidialsystem stärker ist. Wenn allerdings unter Allgemeininteresse der Wunsch der Bürger nach einem neuen Gleichgewicht bei der Verteilung knapper Ressourcen verstanden wird, dann besteht für den Präsidenten die Möglichkeit, den Wandel durch eine Änderung des Status quo der im Parlament vertretenen Interessen zu erreichen. Für diese Fähigkeit des Präsidenten zur Koordination des Wandels spielt die Struktur der Bedingungen, die die Konkurrenz der Parteien regelt, eine Schlüsselrolle, denn in einem Präsidialsystem sind die drei Aspekte der Parteientätigkeit — Wähler, Organisation und Regierung — gespalten. Bezüglich der Regierungstätigkeit, zum Beispiel, ist zu unterscheiden zwischen Regierungspartei und Kongressparteien. Wenn also die Struktur der Bedingungen auf diesen drei Ebenen nicht gleich ist, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit eines glatten Verlaufs der Regierungsgeschäfte und damit die Regierbarkeit. Und wenn umgekehrt die Strukturen sich gleichen, dann steigt die Regierbarkeit und die Inkongruenz nimmt ab. Daraus erklärt sich auch, warum zum Beispiel in einem Präsidialsystem die Stärkung einer Partei mit dem Ziel, sie zur Unterstützung des Präsidenten zu bewegen, zum Gegenteil fuhren kann, wenn der Präsident einer Struktur der Bedingungen - offene interne Wahlen, Ballotage - gehorcht, die sich von der der Partei — geschlossene interne Wahlen — unterscheidet. Eine solche Situation verstärkt die Konkurrenz zwischen den zwei Polen der Regierungspartei. Handelt es sich beim Präsidialsystem um ein föderatives, dann kommt zu der Konkurrenz der Institutionen auch noch die territoriale Konkurrenz zwischen Provinzen und Nation hinzu, weshalb noch mehr Konflikte auftreten und eine weitere Institution eingerichtet werden muss, der Senat. Die Instabilität der Präsidialsysteme ist sozusagen vorprogrammiert.34 Wenn jetzt die Regierbarkeit von einer glatt verlaufenden Parteienkoordination abhängt, wird deutlich, warum sich für den Präsidenten der Umbau der Institutionen als Strategie anbietet.35 Das bedeutet, der Präsident nimmt die Gründung von Parteien und das Einsetzen funktioneller 34

Unter den 36 von Lijphart (1999) untersuchten lang anhaltenden Demokratien befinden sich nur fünf Präsidialsysteme, von denen wiederum zwei in den Augen des Autors als „zweifelhafte" Demokratien angesehen werden müssen (Venezuela und Kolumbien).

35

Im Gegensatz hierzu konzentriert sich in parlamentarischen Demokratien die Kontrolle des Wandels auf eine einzige Stelle, was eine höhere Stabilität ermöglicht. Gleichzeitig sind Führungsfiguren, die eine Erneuerung anregen, die Ausnahme: zu diesen untypischen Führungspersönlichkeiten der achtziger Jahre gehören zum Beispiel Thatcher, Craxi, Mitterrand und Felipe González.

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Parteiführer in sein Programm auf, je nach der spezifischen Kombination der oben angeführten Variablen. Dazu kommt, dass die Verfassung von 1853 als „hyperpräsidial" angesehen wird, da sie den Präsidenten zu einem Agenten des Wandels der Institutionen macht (Botana 1977, Nino 1992), und die Konstitution von 1994 diese Tradition fortsetzt (Serrafero 1995). Die Kombination dieser Gründe erklärt, warum sich im Fall Argentinien die Hypothese der „präsidialen Innovation" einer so hohen Plausibilität erfreut.

2.d. Modelle präsidialer Regierungsführung Auf theoretischer Ebene können drei Modelle der Regierungsführung unterschieden werden, die das Dilemma der Regierung in einem föderativen Präsidialsystem auf jeweils unterschiedliche Art und Weise lösen. Diese Modelle haben zunächst das unmittelbare gemeinsame Ziel, als Elemente der Heuristik eine Annäherung an die Besonderheiten des Falls Argentinien zu ermöglichen, aber gleichzeitig erweitern sie auch das konzeptuelle Spektrum für verschiedene Arten der Regierungsführung und dienen zur Bewertung ihrer Konsequenzen für das demokratische System. In den Kapiteln 1 .a. bis 1 .c. dieses Beitrags ist gezeigt worden, dass es neben der Regierung der Partei noch zwei weitere Regierungsformen gibt, die der Führungsperson und die der Konkurrenz. Diese Alternativen werden angesichts der Einschränkungen notwendig, die die Theorie der Regierung der Partei mit sich bringt. Sie ermöglichen die Beschreibung einer integralen institutionellen Dynamik, die über die Interpretation hinaus geht, die die Nordamerikanisierung lediglich als die die Regel bestätigende Ausnahme sieht, und die gleichzeitig in der Lage ist, konkrete Fälle in Lateinamerika zu erklären, wie zum Beispiel Fujimori in Peru, Menem in Argentinien oder Chävez in Venezuela. Anstatt zu behaupten, dass sämtliche Fälle sich auf einem durchgängigen Spektrum der selben Theorie befinden, mit maximalem Einfluss der Parteien und der Exekutive als Agent der Parteien in einem Extrem und minimalem Einfluss der Parteien und Parteien als Agenten der Exekutive als Gegenpol, ermöglichen es die alternativen Modelle, zu vermeiden, verschiedene Logiken unter ein und den selben Hut zu stecken. Ein einzelnes Modell mag die Beschreibung der Phänomene bereichern, aber nur auf Kosten der Präzision bei den Erklärungen. So wür-

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den bei einer Interpretation mit der Theorie der Regierung der Partei im Fall des Menemismus wichtige Konsequenzen für das System unbeachtet bleiben. Angesichts der Absicht, die Auswirkungen der verschiedenen Regierungsmodelle auf die verschiedenen Aspekte des demokratischen Systems abzuwägen — Stabilität, Regierbarkeit, Kongruenz der öffentlichen Politik, Verantwortlichkeit der Regierung36 - , müssen die entwickelten Modelle dazu in der Lage sein, verschiedene Formen der institutionellen Dynamik widerzuspiegeln und einen hohen Grad sowohl an konzeptueller Präzision als auch an empirischer Vielfältigkeit zu erreichen. In diesem Sinne eignet sich das Modell der kompetitiven Regierung zum Beispiel zur Beschreibung der Fälle de la Rüa in Argentinien, Cardoso in Brasilien und G. W. Bush in den USA; das der Regierung der Partei lässt sich auf Argentinien unter Alfonsin und auf Uruguay nach der Diktatur anwenden; und das Modell der Regierung der Führungsfigur dient zur Erklärung der Fälle Menem und Fujimori. Die Reichweite dieser Modelle mag den Eindruck erwecken, sie würden über die Absicht dieses Beitrags hinausschiessen, aber es soll lediglich gezeigt werden, welches analytische Potential dieser Ansatz enthält, um einen Anreiz für zukünftige Studien zu liefern. Der Fall der drei demokratischen Regierungen Argentiniens ist nicht mit verschiedenen Positionen auf der selben Skala, die sich nur graduell voneinander unterscheiden, zu erklären, sondern verlangt vielmehr nach einer Differenzierung der Regierungsmodi, deren Indikator der Einfluss ist, den das jeweilige Modell auf die Funktion des Systems ausübt. Im folgenden werden die drei Modelle anhand ihrer vergleichbaren institutionellen Elemente beschrieben. Die Regierung der Partei minimiert die Konkurrenz der Institutionen und ersetzt sie durch die Konkurrenz zwischen Regierung und Opposition, während das zweidimensionale System über den Aufbau starker nationaler Parteien zu einem eindimensionalen System wird. Die miteinander konkurrierenden Institutionen - Präsident, Abgeordnete, Senatoren - werden „vereint". Die Organisationen, die zu einer solchen „starken" Partei werden können, sind einige: Massenorganisationen, caic/i-a//-Parteien, Berufs-

36

Das „Verantwortungsbewusstsein der Regierung" beinhaltet zwei Aspekte, den der „vertikalen Verantwortung" (die Fähigkeit des Wählers, die Arbeit der Parteien und der Politiker zu belohnen oder zu bestrafen) und den der „horizontalen Verantwortung" (die Verfahren zur Kontrolle der Regierungsarbeit) (Bartolini 1996).

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gruppen, Wählerinitiativen, Kartellparteien.37 Aber alle haben gemeinsam, dass sie ihre Stärke aus der Eigenschaft beziehen, dass das Monopol der Repräsentation und der Auswahl der Elite in der Parteistruktur liegt. Davon lässt sich folgendes ableiten: ein Zweiparteiensystem, die Rolle der Partei als „Torhüter" für gesellschaftliche Gruppen38; ein Präsident als explizite Führungsfigur in der Position eines Insiders, der die institutionellen Ressourcen nutzt39; und ein parteiliches Führungsmuster, das von Parteipolitikern bestimmt wird, die wiederum eine vertikale Laufbahn durchmachen und sich durch Parteierfahrung auszeichnen. Dieses Modell steht in Verbindung zu zwei Entscheidungsstrategien (Konkurrenz und Absprache40) und zu einem Entwicklungsverhältnis (Nutzung/Erforschung). Entsprechend verteilen sich die Nutzen und Kosten: einerseits Stabilität, andererseits „Verhärtung"41 und „Einfrieren" der Führungsfiguren. Die Auswirkungen dieses Modells auf die Funktion des demokratischen Systems sind zweischneidig: einerseits werden die Bedingungen für Stabilität und verantwortungsbewusstes Handeln der Regierung — sowohl horizontal als auch vertikal — geschaffen, andererseits besteht eine Tendenz zu „Sperrung" und Parteienherrschaft. Die kompetitive Regierung minimiert die Konkurrenz der Institutionen untereinander und verstärkt andererseits die Konkurrenz zwischen Provin37

Siehe Kirchheimer (1980), Panebianco (1990), Katz (1994). In dieser Art von Parteien gibt es keine offenen internen Wahlen (Fabbrini 1999). Die Parteien geben das Monopol der politischen Handlung nicht ab.

38

Morlino (1991) argumentiert, dass die Parteien, wenn sie die Schlüsselfiguren im politischen Prozess sind, sich zu „Torhütern" (gatekeeper im Original) des Staates für gesellschaftliche Gruppen entwickeln, indem sie die Liste der politischen Ziele und die Entscheidungen kontrollieren. Das Ausmaß der Kontrolle variiert: Beherrschung oder Unterordnung der Gruppen, kontrollierte Beherrschung (Symmetrie) oder Neutralität (Autonomie). An diesem letzten Punkt beginnt das pluralistische Modell: anstatt „weniger, repräsentativer, vertikaler, starker Interessengruppen" gibt es viele, analoge, miteinander konkurrierende Gruppen (Lijphart 1999).

39

Zum Thema der Präsidenten als Führerfiguren, siehe Blondel (1987) und Jones (1989), nach Fabbrini (1999).

40

Die Logik dieser zwei Strategien zum Treffen einer Entscheidung besteht darin, miteinander zu konkurrieren, um zu einer Vereinbarung zu gelangen. Das Prinzip der Konkurrenz ist der Mechanismus, der die Agenten lenkt, um die politischen und sozialen Themen aufeinander abzustimmen.

41

Unter diesem Begriff versteht Panebianco (1990: 364) eine exzessive Institutionalisierung, die zu einem gefährlich hohen Maß an Autonomie fuhrt.

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zen und Nation sowie zwischen Präsident und Kongress. Durch die Schaffung schwacher nationaler Parteien werden stabile kollektive Identitäten im Kongress zerstört. Die Spaltung zwischen Präsident, Abgeordneten und Senatoren wird weiter vertieft. Der diesem Modell entsprechende Parteityp ist die Partei der Kandidaten. Die Repräsentation und Auswahl der politischen Elite wird den Bürgern übertragen. Davon lässt sich folgendes ableiten: ein fragmentarisches Zweiparteiensystem oder Mehrparteiensystem, ein pluralistisches System von Interessengruppen, ein Präsident als Führungsfigur mit einer „Mikroregierung"42 in der Position eines Insiders, der die institutionellen und außerinstitutionellen Ressourcen nutzt; sowie ein parteiliches Führungsmuster, das von parteilosen Politikern bestimmt wird, die wiederum eine parallele Laufbahn hinter sich haben und sich durch außerparteiliche Erfahrung, zum Beispiel im Bereich der Kultur, der Wirtschaft oder eines konkreten Berufs, auszeichnen. Dieses Modell steht in Verbindung zu zwei Entscheidungsstrategien (Konkurrenz und Verhandlung43) und zu einem Entwicklungsverhältnis (Brennpunkt/Kombination). Entsprechend verteilen sich die Nutzen und Kosten: einerseits „Entsperrung", andererseits Inkongruenz und Streit um Lösungen und Führung. Die Auswirkungen dieses Modells auf die Funktion des demokratischen Systems sind ebenso zweischneidig: Einerseits werden die Bedingungen für Stabilität - horizontales Verantwortungsbewusstsein — und „EntSperrung" durch die Partei der Kandidaten — geschaffen, andererseits besteht eine Tendenz zur Inkongruenz, die das vertikale Verantwortungsbewusstsein annulliert. Die Regierung der Führungsfigur schließlich minimiert die Konkurrenz der Institutionen und fuhrt aber gleichzeitig eine zusätzliche Dimension der Konkurrenz ein - die der eigenen Legitimation während das zweidimensionale System durch die Zersplitterung der Parteien zu einem eindimensionalen System wird. Dieses Modell zielt auf die Reduzierung der Konkurrenz, indem sie die gespaltenen Institutionen - Präsident, Abgeordnete, Senatoren — um die politische Führung herum vereinigt. Der diesem Modell 42

Dieser Ausdruck stammt von Fabbrini (1999: 85) und bezieht sich auf die Typologie der US-Präsidenten.

43

Die Logik dieser zwei Strategien zum Treffen einer Entscheidung besteht darin, miteinander zu konkurrieren, um zu verhandeln. Das Prinzip der Konkurrenz ist der Mechanismus, der die Verhandlung lenkt. Die Existenz verschiedener Interessen unter den Kandidaten und Gruppen ermöglicht ein Ergebnis, das gleichzeitig Gewinner und Verlierer zulässt.

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entsprechende Parteityp ist die Partei der Führungsfigur, d. h. Parteien, die der charismatischen Führungspersönlichkeit die Repräsentation und Auswahl der politischen Elite übertragen. Davon lässt sich Folgendes ableiten: ein System mit einer einzigen dominanten Partei; die Rolle der Führungsfigur als „Torhüter" für gesellschaftliche Gruppen, ein Präsident als Führungsfigur, der das System umgestaltet, in der Position eines Outsiders, der die außerinstitutionellen Ressourcen nutzt; und ein parteiliches Führungsmuster, das von „antiparteilichen" Politikern44 bestimmt wird, die wiederum eine horizontale Laufbahn durchmachen und sich durch ihre Unterstützung der Führungsfigur auszeichnen. Dieses Modell steht in Verbindung zu zwei Entscheidungsstrategien (Zersplitterung und Bestimmung45) und zu einem Entwicklungsverhältnis (Erforschung/Nutzung). Entsprechend verteilen sich die Nutzen und Kosten: einerseits Regierbarkeit, andererseits Instabilität und Zerstreuung der politischen Führung. Die Auswirkungen dieses Modells auf die Funktion des demokratischen Systems sind ebenso zweischneidig: einerseits werden die Bedingungen für Regierbarkeit — Entscheidungsfreiheit der Führungsperson — geschaffen, andererseits besteht eine Tendenz zur Instabilität und das Verantwortungsbewusstsein wird in beiden Richtungen annulliert, vertikal (Wähler) und horizontal (Institutionen). Die folgende Tabelle fasst die institutionellen Elemente der drei verschiedenen Regierungsmodelle zusammen:

Die Beschreibung der Muster der politischen Elite folgen den Ausführungen von Panebianco (1990: 417). Während der Parteipolitiker dem Parteimitglied gleichkommt, entspricht der parteilose Politiker dem unverbindlichen Anhänger und der „unpolitische" Politiker dem Emporkömmling. Da alle drei Typen in allen Parteien vorkommen, können diese Ausführungen nur eine mehrheitliche Tendenz anzeigen, auf die sich die Muster stützen. Der unverbindliche Anhänger entspricht der Rolle deijenigen, die von Interessengruppen aus Beziehungen zu einer Partei aufbauen, ohne dass eine institutionelle Verbindung besteht. Die Logik dieser zwei Strategien zum Treffen einer Entscheidung besteht darin, zu teilen und zu herrschen. Der zur Durchsetzung der Meinungen der Führungsfigur verwendete Mechanismus besteht in der Zersplitterung der kollektiven Agenten.

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Variablen der drei Regierungsformen in föderativen Präsidialsystemen Institutionelle Einheiten 1. Art der Partei

Regierung der Partei Partei mit Parteileitung

2. Art der Konkurrenz

Eindimensional (Regierung/ Opposition) Zwei Parteien Parteien als „Torhüter"

3. Parteiensystem 4. System der Interessengruppen 5. Politische Führung des Präsidenten 6. Vorherrschende Ressourcen 7. Führung der politische Elite 8. Erneuerungsstrategie a. Nutzen b. Kosten 9. Entscheidungsstrategien 10. Auswirkung auf das System a. positiv b. negativ

Explizit (Insider)

Regierung der Führungsfigur Partei der Führungsfigur Eindimensional (Führungsfigur/ Antiführer) Dominante Partei Führungsfigur als „Torhüter" Umgestaltend (Outsider)

institutionell

außerinstitutionell

Parteipolitiker Nutzung/Erforschung Stabilität Einfrieren der Führungsfigur Konkurrenz und Absprache

Regierung der Konkurrenz Partei der Kandidaten Zweidimensional (Präs./Kongress; Nation/Provinzen) Zwei oder mehr Parteien Pluralistisches System Formell (Insider)

Institutionell/ außerinstitutionell „antiparteiliche" Poli- Parteilose Politiker tiker Erforschung/Nutzung Brennpunkt/Kombination Regierbarkeit Zerstreuung der Führung Zersplitterung und Bestimmung

verantwortungsbewusste Regierung Parteienherrschaft Instabilität ohne verantwortungsbew. Regierung

Entsperrung Streit um Führung Konkurrenz und Verhandlung

horizontale Verantwortung ohne vertikale Verantwortung

Diese Modelle und ihre Variablen, die für die Umstände und Eigenschaften der Präsidialsysteme — Absichten des Präsidenten, Partei des Präsidenten, institutioneller Rahmen und Verteilung der Ressourcen — eine große Rolle spielen, ermöglichen den Schritt von der Theorie zur Praxis im folgenden Kapitel. Dort wird sich die Reichweite der hier dargestellten Hypothese zeigen, nach der die Entwicklung des politischen Systems in Argentinien nicht kontinuierlich ist - von der Regierung der Partei über das Zwischenspiel einer Führungsfigur zurück zur Norm sondern unterbrochen und ungleichförmig, abhängend von der gewählten Regierungsform: Partei, Führungsfigur, Konkurrenz. Die Logik dieser Entwicklung folgt dem Be-

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darf des Umfeldes (exogen) und dem davon abhängigen Lemprozess spezifischer politischer Traditionen (endogen). Die Entwicklung entfernt sich von vorschnellen Erklärungsversuchen wie Populismus und Institutionalisierung und nähert sich einer neuen Art von Partei und konkreten institutionellen Alternativen an. Bevor dieser Schritt unternommen werden kann, sollen aber noch einige routinemäßigen Vorbehalte eingeschoben werden. Erstens darf nicht vergessen werden, dass es sich bei den beschriebenen Modellen um Idealtypen handelt, die hypothetische Beziehungen repräsentieren und in der Realität nicht die hier angenommene Starrheit aufzeigen. Zweitens beeinflussen die beschriebenen Variablen innerhalb des empirischen Kontrollprozesses die Besonderheiten der verschiedenen Regierungsformen. Drittens handelt es sich hier um die Untersuchung eines provozierten Erneuerungsprozesses, dem zwar keine geplante Logik oder Absicht der Agenten zu Grunde liegt, der aber andererseits bereits über das Stadium des Experiments weit hinaus ist, denn das Objekt der Erneuerung ist schließlich die Demokratie (Ordeshook 1998) und die Konsequenzen gewisser Optionen sind somit voraussehbar und die entsprechenden Informationen verfügbar. Die hier analysierten Politiker verfügen über langjährige Parteierfahrung und es wäre naiv zu erwarten, dass sie ausschließlich von der Kontingenz ausgehen, bzw. sich völlig von ihr befreien. Die Realität ist in der Mitte zwischen diesen Extremen angesiedelt: Die Präsidenten gehen jeweils von einer anderen Formel der Regierbarkeit aus, und zwar von der, die sie persönlich vorziehen. Und der letzte Vorbehalt schließlich besteht darin, dass es in diesem Beitrag nicht darum gehen soll, sich auf die öffentlichen Entscheidungsprozesse zu beschränken, sondern darum, dass die Perspektive auf die Elemente, von denen die Arbeit einer Regierung abhängt, verbreitert werden muss, um die Regierungsmodi von einem möglichst weiten Horizont ableiten zu können. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Weise, wie ein Präsident Entscheidungen trifft, gleichzeitig Indikator und Konsequenz der Art von Beziehungen ist, die er zu den Parteien und der politischen Elite unterhält, welche wiederum sowohl von seinen persönlichen politischen Präferenzen als auch vom geschichtlichen und institutionellen Kontext abhängen.

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2.e. Die Rolle einiger Provinzen Es werden vier Provinzen ausgewählt (Buenos Aires, Córdoba, Santa Fé und der Distrikt der Bundeshauptstadt), deren gesellschaftliche Struktur sowie wirtschaftliche und politische Relevanz46 sie geeignet erscheinen lassen, die für die Nation aufgestellten Thesen auf provinzialer Ebene zu überprüfen und so den Grad der Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis festzustellen. Dabei soll jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Provinzen in Bezug auf die drei verschiedenen Präsidenten jeweils bestätigende und widersprechende Resultate bringen.

3. Regierungen und Parteien: die Führungsarbeit der Präsidenten Die Klassifizierung des argentinischen Präsidialsystems in ihrer Originalfassung - Verfassung von 1853 - und in ihrer derzeitigen Version - Verfassung von 1994 - als „hyperpräsidial" ist eine Reaktion auf die institutionellen Bedingungen, die sich von denen anderer amerikanischer Länder unterscheiden. Auf gesetzlicher Ebene verfügen die argentinischen Präsidenten ebenso über Vorrechte — gesetzgebende Initiative, Intervention, Ausnahmezustand, Vetorecht - wie auf der Ebene der informellen Praxis Teilveto und Notstands- und Dringlichkeitsdekrete (Botto 1999).47 Die institutionelle Macht konzentriert sich dadurch in der Person des Präsidenten. Trotzdem lassen sich in der Geschichte Argentiniens immer wieder historische Zyklen erkennen: der Zyklus der „gespaltenen Regierungen" unter den Radikalen 1916-30 und 1963-66, als die erreichte Stabilität mit Entscheidungslähmung bezahlt werden musste, und der Zyklus der „vereinten Regierungen" unter den Peronisten 1946-55 und 1973-76, als die errungene Regierbarkeit auf Kosten der Instabilität ging. Dazwischen lagen immer wieder bürgerliche und militärische Regierungszyklen: 1930-45, 1955-58, 1966-72, 1976-82. In diesem Zusammenhang lässt sich die gegenwärtige Periode seit 1983 als Szenario zur Aktualisierung der Vorgeschichte inter46

Von den 257 Sitzen in der Abgeordnetenkammer entsprechen 70, 18, 19 bzw. 25 den vier hier aufgeführten Provinzen.

47

Der Unterschied zwischen einem regulären Dekret aufgrund eines verabschiedeten Gesetzes und einem „Notstands- und Dringlichkeitsdekret" besteht darin, dass in letzterem Fall die gesetzgebende Kompetenz dem Präsidenten und nicht dem Parlament zufallt.

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pretieren, das die neuen Präsidenten dazu zwingt, die Wiederholung der Geschichte zu vermeiden. Ihnen stellt sich die Herausforderung, zu zeigen, was sie in mindestens zwei Zusammenhängen gelernt haben: erstens bezüglich der Einschränkungen ihrer Parteien in den jeweiligen Regierungen, und zweitens bezüglich der Art und Weise, wie ihre Vorgänger es geschafft haben, die durch das föderative Präsidialsystem voneinander getrennten Aspekte der Partei — Wähler, Organisation und Regierung —, zu vereinigen, um regieren zu können. Unter diesen drei Aspekten ist folgendes zu verstehen: der Aspekt der Wähler bezieht sich auf die gesellschaftliche Basis und die Strategie der politischen Konkurrenz, und der der Organisation auf die internen Normen der Partei für Führung, Zutritt und Auswahl der Elite und das daraus resultierende bürokratische Format. Bei diesen zwei Aspekten ist der Prozess der Erneuerung des Präsidenten sehr wichtig, denn es muss davon ausgegangen werden, dass die Wirksamkeit einer Partei bezüglich des dritten Aspektes, des der Regierung, vom Erfolg des Präsidenten bei der „Vereinigung" der ersten zwei Aspekte zugunsten des von ihm gewählten Regierungsmodells abhängt. In diesem dritten Kapitel beabsichtigt dieser Beitrag sich mit den aufgestellten Hypothesen den jeweiligen Regierungsmodellen und deren Umsetzung unter den drei Präsidenten — Alfonsin, Menem und de la Rüa — anzunähern. Zu diesem Zwecke werden der jeweilige Erneuerungsprozess hinsichtlich der Aspekte der Wähler und der Organisation in der Regierungspartei beschrieben und die Auswirkungen der Regierung auf das System bewertet. In diesem Sinne ermöglichen die herausgearbeiteten Variablen die Rekonstruktion des historischen und institutionellen Kontexts, in dem der jeweilige Präsident zu handeln hat, und die Beschreibung des Resultats seines Modells auf nationaler und provinzialer Ebene. Dazu sollen qualitative48 und quantitative Methoden herangezogen werden.

3.a.

Das Modell Alfonsins (1983-89): Regierung der Partei, Partei der Parteileitung und Parteipolitiker

Im Gegensatz zur offenen Diskussion um den Menemismus sind die Interpretationen der Regierung Alfonsin übereinstimmender. Die Mehrheit der Reden, Dokumente, Zeitungen und Fachliteratur zu den drei Regierungen.

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Beobachter beschreibt seine Amtszeit als „Regierung der Partei" und als seinen Hauptverdienst die Hinterlassenschaft einer gewissen politischen und institutionellen Legitimation49 des Systems (Novaro 1996 und 1999). In der selben Linie bestätigen mehrere Arbeiten die Existenz bestimmter institutioneller Elemente, die zu diesem Modell gehören: die Entscheidungsstrategie der „Konkurrenz und Absprache" (Acuna 1995); die Qualität des Präsidenten als explizite politische Führungsfigur und Insider, der institutionelle Ressourcen nutzt, was sich am Gebrauch der außergesetzlichen Vorrechte nur in Ausnahmefällen ablesen lässt, besonders wenn man ausschließlich die ersten zehn Jahre der Demokratie betrachtet und die Amtszeit Alfonsins mit einem Teil der ersten MenemRegierung vergleicht (12 Teilvetos und 10 Notstands- und Dringlichkeitsdekrete unter Alfonsin gegenüber 38 bzw. 308 unter Menem (Mustapic 1995, Ferreira 1995)); und die Entstehung eines Zweiparteiensystems in den Jahren von 1983 bis 1989 als Ausdruck einer eindimensionalen Dynamik mit der Achse „Regierung/Opposition" als entscheidendem Instrument, das die Parteien gegeneinander stellt (Catterberg 1989, de Riz 1990). In den drei Bereichen Präsident, Abgeordnete und Senatoren ermöglicht der von Laakso und Taagapera entwickelte Maßstab die Bestätigung der Auswirkung des Zweiparteiensystems.50 Die Erneuerungspolitik des Präsidenten hatte zum Ziel, aus der UCR eine effiziente Regierungspartei zu machen, aber wirkte sich auch auf die stärkste Partei der Opposition aus: Der Peronismus machte nach 1985 ebenfalls einen wichtigen Erneuerungsprozess durch, der sich in einer deutlichen Demokratisierung der Partei, die ursprünglich zur Unterdrückung der Gewerkschaften gedacht war, zeigte. Auch wenn die Diskussion darum, was für eine Partei die peronistische PJ seitdem ist und in der Zukunft sein kann, noch nicht abgeschlossen ist, wird doch immerhin deutlich, dass sie als „Regierungspartei mit niedrigem Niveau der Institutionalisierung" eingestuft werden kann. Sie war in den Jahren von 1943 bis 1945 entstanden und baute ihre Vormachtstellung um die charismatische Figur des Berufssoldaten Juan D. Perön auf, der 1946 das 49

Unter „politischer Legitimation" ist der allgemeine Respekt gegenüber dem demokratischem System auf dem Niveau der breiten Massen zu verstehen, während „institutionelle Legitimation" Respekt gegenüber den formellen Spielregeln der Politik auf dem Niveau ausschließlich der Elite bedeutet.

50

Gemessen werden die Anzahl der Parteien und ihre Größe. Bei einer dominierenden Partei liegt der Wert unter 1,7, in einem Zweiparteiensystem schwankt er zwischen 2,0 und 2,5 und in einem Mehrparteiensystem liegt er höher.

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Amt des gesetzmäßig gewählten Präsidenten antrat. In den Jahren, in der die Partei an der Macht blieb und die heutzutage als „Originalperonismus" bezeichnet werden, bis 1955, wurde eine neue Art der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft aufgebaut, die auf korporativer, personalisierter Vermittlung basierte. Mit anderen Worten bildete die enge Beziehung zwischen Volksmassen und Führungsfigur die Achse der Legitimation, auf der sich Staat, Armee und Gewerkschaften bewegten. Das bedeutet, dass der Peronismus jenseits der Traditionen des liberalen Pragmatismus, der sich schwacher Parteien bediente, und des Radikalismus, der mit starken Parteien funktionierte, einen dritten Weg als Alternative bot: einen antiliberalen Pragmatismus, dessen Motto die „parteilose Demokratie" war.51 In der Kombination von Eigenschaften beider Traditionen liegt der Grund für die Schwierigkeit, den Peronismus in eine der Klassen der starken (Massenparteien, cafcA-a//-Parteien) oder der schwachen Parteien einzuordnen (Parteien der Führungsfiguren und/oder der Kandidaten). Aufgrund ihrer spezifischen Beziehung zur Wählerschaft — hohe Mitgliederzahl, starke Subkultur, starke gesellschaftliche Basis in unteren städtischen und mittleren und hohen nicht-städtischen Schichten, d. h. in der städtischen Gewerkschaftsbewegung und im provinziellen Konservatismus (Mora 1980) — erscheint die PJ als eine Partei der Massen, aber aufgrund ihrer Konkurrenzstrategie, die die Treue zur Führungsperson zum wichtigsten politischen und ordnenden (Peronismus/Antiperonismus) Aspekt macht, sowie wegen ihrer Organisationsform (Zentralismus ohne Institutionalisierung), erscheint sie eher als „charismatische Partei" (Mustapic 1998).52 Dieser scheinbare Widerspruch — stabile Wählerschaft bei gleichzeitiger charismatischer Struktur - erklärt in Levitskys Augen die Entwicklung der Peronisten zu einer „unterinstitutionalisierten Massenpartei" (1997). Unterinstitutionalisierung soll hier die Abwesenheit stabiler Normen zur Regulierung der Aktivitäten der Partei Für mehr Information zum Unterschied zwischen dem liberalen Konservatismus und der UCR, siehe Alonso (2000). Zum Peronismus allgemein, siehe Halperin (1994). Während der liberale Pragmatismus mit der Niederlage in der Zeit von 1930 bis 1943 starb, lebte der antiparteiliche Pragmatismus im Originalperonismus (1946-55) sowie in den Jahren 1973-76 fort und dominierte die Politik sogar in diesen letzten Jahren bis zum Coup 1976. j2

Sie kennzeichnet sich durch Treue zur Führungsfigur, geringe Bürokratisierung, zentralistische Organisation, schlecht definierte Grenzen zwischen den verschiedenen zur Bewegung gehörenden Organisationen, antiparteilichen Charakter und Bonapartismus. Die Institutionalisierung bringt den Ersatz der charismatischen Autorität durch eine neue legale, durch Regeln festgelegte Ordnung mit sich (Panebianco 1999: 267).

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— Führung, Zutritt und Auswahl der Elite - und informelle Bindung zur gesellschaftlichen Basis bedeuten. Informelle Bindung heißt dabei aber nicht Schwäche, sondern ein Bürokratie ersetzendes doppeltes Band: situationsbedingte Führungspersonen und Klüngelwirtschaft. Levitsky unterscheidet vier Typen von Parteien: die bürokratische Massenpartei (institutionalisiert, bürokratisch und mit stabiler Wählerschaft), die catch-all- oder „Wählerpartei" (institutionalisiert, aber unbürokratisch und ohne stabile Wählerschaft), die unterinstitutionalisierte Massenpartei wie z. B. die PJ (unterinstitutionalisiert, aber mit stabiler Wählerschaft) und schließlich die „Parapartei" (unterinstitutionalisiert und ohne stabile Wählerschaft, wie z. B. in Peru). Somit befindet sich die PJ mit in der Gruppe der „schwachen" Parteien, die sich dadurch kennzeichnen, dass die Aufgabe der Kontrolle der politischen Handlungen der Führungsfigur und/oder der Wählerschaft übertragen wird (vgl. I.e.). In dieser Hinsicht ist es interessant zu beobachten, welche Veränderungen die „Erneuerung" der peronistischen Tradition für die Stärke der Partei und die Rolle der Parteipolitiker53, als Reaktion auf den von Alfonsin initiierten Wandel, mit sich gebracht hat. Diese Indikatoren weisen in Richtung der Regierung der Partei und verstärken den über Alfonsin herrschenden Konsens. Über die Konsequenzen der Regierungspolitik jedoch beginnen die Meinungsunterschiede: Hyperinflation, soziale Konflikte und verfrühte Machtabgabe an die Peronisten.54 Diesbezüglich lassen sich im Wesentlichen drei Interpretationen unterscheiden. Die erste dieser Auslegungen betont das Problem des Bruchs zwischen dem vom Präsidenten gewählten Regierungsmodell und den Umständen, die eine andere Entscheidungsstrategie erfordert hätten.55 Die zweite Interpretation konzentriert sich auf das Problem der „institutionellen Unfähigkeit": die Regierung habe den schmalen Weg, den ihr ihre einzige zur Verfugung stehende Ressource - die Partei — öffnete, gehen müssen, aber diese Ressource reichte nicht aus (Nun 1987, de Riz 1993). Und die dritte Auslegung schließlich nennt als Grund für das Versagen einen „poli-

Die Erneuerer setzten auf die Institutionalisierung des Peronismus und machten die PJ von einer schwachen zu einer starken Partei. Dieser Erneuerungsprozess wurde jedoch vom Untergang Alfonsins und dem Sieg Menems bei den ersten geschlossenen internen Wahlen der Parteigeschichte am 8. Juli 1988 unterbrochen. 54

Angesichts der Krise wurde die Regierungsübergabe von Dezember auf Juli 1989 vorverlegt.

55

Palermo (1990), zitiert nach Novaro (1994: 53-59, Fußnoten 7 und 15).

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tischen Fehler": nach dem Erfolg des Austral-Plans und dem entsprechenden Wahlerfolg 1985 wurde auf die Verteidigung der Macht gesetzt und die Wirtschaftspolitik wurde dem Ziel einer neuen Vormachtstellung untergeordnet (O'Donnell 1991). Im Licht dieser noch nicht abgeschlossenen Diskussion kommt der Regierung Alfonsins eine besondere Bedeutung als Beispiel einer Regierung der Partei zu. Die Diskussion muss als nicht abgeschlossen betrachtet werden, denn obwohl die These des Bruchs bezüglich der Unterinstitutionalisierung des Peronismus, Existenz der korporativen Gewerkschaften und Pluralismus des privatwirtschaftlichen Bereichs (Acuña 1995) zutrifft, weist sie doch gleichzeitig eine Einschränkung auf. Sie geht davon aus, dass die Wertigkeit der Ressourcen exogen ist, obwohl sie tatsächlich von den politischen Absichten und Traditionen abhängt, und geht darüber hinweg, dass die Ergebnisse nicht einheitlich sind: Die Anwendung der selben Ressourcen hatte in einer der vier untersuchten Provinzen, in Córdoba, in der selben Periode (1983-89) andere Ergebnisse als in den restlichen drei Provinzen. Andererseits sind auch die restlichen zwei Thesen nicht schlüssig, denn sie weisen einen Widerspruch in der Bewertung der Ausnutzung der Partei und deren Folgen auf: Während eine behauptet, die Ausnutzung sei unzureichend gewesen, besagt die andere, sie sei übertrieben worden. Die tatsächliche Anwort auf diese Frage könnte eventuell dazu beitragen die Logik im Widerspruch der Politik Alfonsins zu finden: Einerseits erreichte er seine politischen Ziele — Legitimation und Stabilität - , andererseits versagte er bezüglich der wirtschaftlichen Ziele — Kampf gegen die Inflation — und bewirkte obendrein die Stärkung des Peronismus - Wahlniederlage sowie die Schwächung der eigenen Partei. Um diese Logik erklären zu können, gilt es zwei Vorarbeiten zu leisten: Untersuchung der Variablen, die hinter der Politik Alfonsins stehen, und Beantwortung der Frage, warum eine Provinz, Buenos Aires, zum Sinnbild der Emeuerungsstrategie des Präsidenten - Stabilität, Niederlage und „Einfrieren" der politischen Führung — wird, während gleichzeitig eine andere, Córdoba, genau das Gegenteil darstellt.

306 3.a.l.

Carla Carrizo Die Variablen Alfonsins: von knappen Ressourcen zur „Autonomie des Apparats"

i. Die Ziele des Präsidenten: Alfonsin wurde Ende 1983 mit 52% der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Die PJ verlor damit ihre ersten Wahlen seit 1946, zu denen sie zugelassen war, und die UCR bekam die Mehrheit zurück, der sie sich von 1916 bis 1930 erfreut hatte. Vor diesem Hintergrund eines zersplitterten Peronismus, dem eine nationale Führungsfigur fehlte, und eines starken und vereinten Radikalismus mit Alfonsin an der Spitze steckte der neu gewählte Präsident seine Ziele ab: 1) Abbau der institutionellen Basis des argentinischen Korporativismus: Armee, Privatunternehmer, peronistische Gewerkschaften; 2) Stärkung der eigenen Partei, der „neuen" radikalen gesellschaftlichen Basis56; 3) Aufbau einer neuartigen Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft, die er als „pluralistisches Modell" definierte: Zweiparteiensystem mit starken „Torhütei"-Parteien für gesellschaftliche Gruppen.57 Aufgrund der Öffnung zur Demokratie hatte der Präsident einen nie zuvor dagewesenen Freiraum zur Erneuerung der Institutionen unter dem Motto „Veränderung der Politik, ohne das Land zu verändern". Aber bald stellte sich heraus, dass dieser Prozess asymmetrisch war58 und dass die Politik Abbau des Korporativismus — nicht ohne einen Wandel des Landes von einer Staats- zu einer Marktwirtschaft zu verändern war. Dieser Punkt behinderte jedoch wiederum die anderen beiden oben genannten Ziele im Programm des Präsidenten, die Stärkung der eigenen Partei als Schlüsselinstrument zur Ordnung der politischen Konkurrenz im pluralistischen Staat. Die Durchfuhrung einer Wirtschaftsreform, ausgehend von der politischen Reform, schuf ein zusätzliches Element der Konkurrenz, die zwischen Staat und Markt, die der Präsident zu den gegebenen Umständen nicht kontrollie56

Für Catterberg (1989) war die Unterstützung Alfonsins durch die unteren, traditionell peronistischen Schichten verantwortlich für den Sieg der Radikalen. Mit dieser Diagnose sind jedoch nicht alle Beobachter einverstanden (vgl. Mora 1985). Nichtsdestotrotz liegt in diesem Wechsel der Schlüssel für die Veränderung der UCR als Partei.

57

Quellen: Novaro (1994), Acuña (1995), Novaro (1996), Alfonsin (1996).

58

Dies lässt sich an zwei Indikatoren erkennen: an der Niederlage bezüglich des Gesetzes zur Neuordnung der Gewerkschaften und am Versagen hinsichtlich des erwarteten Wirtschaftswachstums in den ersten eineinhalb Jahren der Regierung (Acuña 1995).

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ren konnte. Hier blieb ihm gar keine andere Möglichkeit, als zu versagen, nicht aufgrund der entstehenden, ungelegen kommenden Diskussion innerhalb der eigenen Partei, sondern weil die PJ auf diesem Gebiet einfach stärker war. Die PJ hatte den doppelten Vorteil, dass sie zum einen die staatlichen Gewerkschaften kontrollierte und zum anderen auf eben diese Möglichkeit wartete: die Chance zum Neuaufbau der zersplitterten Partei durch die Politisierung derjenigen, die von der neuen Marktwirtschaft ausgeschlossen wurden. Angesichts der Unmöglichkeit, seine Ziele vollständig durchzusetzen, begnügte sich der Präsident mit der Zwischenlösung der Einführung des pluralistischen Modells, ohne das Land wirklich zu verändern. iL Die Partei des Präsidenten: Originalmodell und bestehende Alternativen: Im Gegensatz zur PJ galt die UCR als eine „Oppositionspartei mit hohem Grad an Institutionalisierung". Sie war im Jahr 1890 nicht von einer charismatischen Führungsfigur gegründet worden, sondern von einer Gruppe von Politikern, die die Achtung vor der Verfassung und das Eintreten gegen den Betrug zum Ziel ihres Kampfes gegen das Regime machten. Nach der Verfassungsreform von 1912 übernahm die UCR zum ersten Mal 1916 die Regierung. 59 Das Originalmodell der Partei beinhaltete Elemente, die mit dem Muster einer starken Partei übereinstimmen. Bezüglich des Aspekts der Wählerschaft sind Eigenschaften sowohl einer Massenpartei, als auch einer catch-all-Partei zu erkennen: hohe Mitgliederzahl und starke Subkultur, bzw. wechselhafte gesellschaftliche Basis in den städtischen mittleren und hohen Schichten und eine aufs Zentrum zielende Konkurrenzstrategie, die auf Werten wie Verfassung und Demokratie fußt. 60 Hinsichtlich der Organisation zeigt die UCR die Institutionalisierung einer Massenpartei, lässt aber die kollaterale Struktur vermissen, die durch eine stabile gesellschaftliche Basis ermöglicht würde. Diese wird durch einen hohen Grad an Bürokratie ausgeglichen, durch den sie sich wiederum von den cafcA-a//-Parteien unterscheidet. Kollektive Anreize, wie z. B. Parteiämter, gleichen das Fehlen von Selektions- und Regierungsmaßnahmen

59

Das Gesetz „Saénz Peña" beinhaltete die allgemeine Wahlpflicht für Männer, ein dauerhaftes Wählerverzeichnis und die Wahl mittels unvollständiger Listen.

60

Die Geschichte der Wählerschaft der UCR folgt der Richtlinie „Fortschritt und Verlassen" (Cantón 1973). Unter einer „aufwerten fußenden Konkurrenzstrategie" ist eine Strategie zu verstehen, die nicht polarisiert und zersplittert, sondern vereint, indem sie an unteilbare Werte apelliert (Bartolini 1996).

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aus, was wiederum die erstaunliche Selbstbezogenheit einer Partei erklärt, die sich gerne selbst als Volkspartei bezeichnet.61 Auf diese Art und Weise zeigen sich bei beiden traditionellen Parteien Argentiniens erstaunliche Widersprüche: die PJ ist eine unterinstitutionalisierte Massenpartei (stabile Wählerschaft und institutionelle Formlosigkeit) und gehört gleichzeitig zur Gruppe der schwachen Parteien, während die UCR eine überinstitutionalisierte catch-all-Partei (wechselnde Wählerschaft mit fester institutioneller Form) ist, die der Gruppe der starken Parteien angehört. Aus diesen Gegensätzen heraus erklären sich die Besonderheiten ihrer Parteiführer: antiparteiliche Politiker in der PJ und Parteipolitiker in der UCR. Die Überinstitutionalisierung der Radikalen drückt sich in einer autoritären Struktur aus, sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Hinsicht. Der föderative Charakter der Partei bringt mit sich, dass sich die hierarchischen Strukturen der nationalen Partei in den Provinzen und Gemeinden wiederholen. Die politische Laufbahn baut auf Anreize zum Aufstieg, die klare Grenzen aufstellen und die Karriere mittels geschlossener interner Wahlen vorantreiben. Diese Kombination von Föderalismus und hochgradiger Institutionalisierung erklärt, warum die Koordination innerhalb der Partei sich als so äußerst komplex darstellt, wenn sie an der Regierung ist. So war zum Beispiel die Periode von 1916 bis 1930 von den Spannungen zwischen dem jeweiligen Präsidenten, Yrigoyen bzw. Alvear, und der Partei im Kongress gekennzeichnet (Zersplitterung), während im vorzeitig beendeten Mandat in den Jahren von 1963 bis 1966 eine doppelte Führung mit dem Staatspräsidenten Illia einerseits und dem Parteivorsitzenden Baibin andererseits herrschte. Das beschriebene sogenannte Originalmodell ließ der Partei unter Alfonsin zwei Alternativen, um ihre eigene Leistungsfähigkeit in den Dienst des Regierungsmodells zu stellen: entweder die Elemente zu betonen, die sie zu einer starken catch-all-Partei machten, oder zu versuchen, die Wähler in die Partei zu integrieren und sie so zu einer Massenpartei zu machen. Wie sich zeigen wird, wählte Alfonsin die zweite Option. iii. Der institutionelle Rahmen. Durch die Regeln, die die politische Konkurrenz auf nationaler Ebene bestimmen, besteht für die Präsidenten die Möglichkeit, die Wahlkalender zu vereinheitlichen und ihre Autorität mittels langer Kandidatenlisten zu erhöhen. Gleichzeitig sollten sie versuchen, 61

Unter Selbstbezogenheit ist die Unnachgiebigkeit der Partei bei der Koalitionsbildung anlässlich von Wahlen oder zur Regierungsbildung zu verstehen (Canizo 2000).

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vier Einflüsse zu neutralisieren, die die Einigung der Regierung behindern können: die Verkürzung des Wahlscheins, das Verhältniswahlsystem, die zweijährliche partielle Neuwahl der Abgeordneten und die ungleiche Proportion im Senat (zwei Sitze pro Provinz). Hier liegt der Grund für die Machtlosigkeit Alfonsins: er hatte in den bevölkerungsstarken Provinzen gewonnen, aber wurde von den weniger bevölkerten Provinzen im Senat durch Veto gebremst.62 Er musste folglich gleichzeitig an zwei Fronten kämpfen und einerseits die Abgeordneten mittels einer „permanenten Kampagne" koordinieren, während er andererseits versuchte, die Senatoren mittels der Neutralisierung des aktiven Föderalismus in Griff zu bekommen. iv. Verteilung der Ressourcen: Auf der Ebene der institutionellen Ressourcen fand der Präsident eine „gespaltene Regierung" vor: Mehrheit in der Kammer, Minderheit im Senat. Dadurch wurde ihm die Nutzung der gesetzlichen Vorrechte eingeschränkt. Auf der Ebene der außerinstitutionellen Ressourcen verbot ihm seine Parteitradition die außergesetzliche Aktivität und kollaterale Strukturen waren nicht vorhanden. Zu dieser Situation gesellten sich die Probleme der Finanzschwäche des Staats und der komplexen Konkurrenzlage: der Kampf gegen die PJ um die Gunst der unteren Gesellschaftsschichten. Dem Präsidenten blieb zu diesem Zweck allein das staatliche Fernsehen. Die folgenden Grafik verdeutlicht den Kontext, in dem der Präsident zu operieren hatte, um seine Ziele durchzusetzen.

62

In den Jahren von 1983 bis 1987 war die UCR in neun Provinzen am stärksten, darunter Buenos Aires, Cördoba und der Distrikt der Bundeshauptstadt, die PJ in elf, und in drei Provinzen hatten regionale Parteien gesiegt. Nach 1987 behielt die UCR nur noch drei, darunter den Distrikt der Bundeshauptstadt und Cördoba, ebenso wie die verschiedenen regionalen Parteien, während die PJ den gesamten Rest übernahm. Ab 1990 ist Feuerland eigene Provinz. Die jetzt 24 Provinzen stimmen mit den 24 Wahlkreisen übeiein.

310

Carla Carrizo Die Variablen der Politik Alfonsins

Ziele des Präsidenten: Veränderung der Politik, ohne das Land zu verändern: vom Argentinien des Korporativismus zum Argentinien des Pluralismus Verteilung der Ressourcen

Pro

Contra

Institutionelle Ressourcen

Institutionelle Ressourcen

UCR

„Permanente Kampagne"

(Catch-all-Partei,

Aktive föderative Präsidentschaft

Überinstitutionalisierung)

Gespaltene Regierung

Parteipolitiker Eingeschränkter Gebrauch der gesetzlichen Vorrechte

Außerinstitutionelle Ressourcen

Außerinstitutionelle Ressourcen

Staatliche Fernsehkanäle

Nichtnutzung außergesetzlicher Vorrechte Fehlen kollateraler Strukturen Komplexe Konkurrenzlage Finanzschwäche des Staats

Alfonsins Dilemma bestand darin, die Leistungsfähigkeit seiner Partei erhöhen zu müssen, ohne seine eigene Rolle innerhalb des Umbaus der Institutionen zu verändern, denn aufgrund der politischen Tradition spielt der Präsident eine Schlüsselrolle im Wandlungsprozess. Die Struktur der Institutionen stand der Festigung der Zentralisierung entgegen. Der Handlungsspielraum des Präsidenten wurde durch die Überinstitutionalisierung der eigenen Partei und die Unterinstitutionalisierung der gegnerischen Peronisten eingeschränkt. Die Strategie des „dritten Weges" der UCR drückte sich in dem Slogan „Peronisierung des Radikalismus" aus, was aber nicht eine Angleichung an die PJ bedeuten, sondern vielmehr auf eine „Radikalisierung" der Peronisten zielte und gleichzeitig die UCR ins Zentrum des poli-

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tischen Systems stellen sollte.63 Damit sollte versucht werden, die nachteilige Verteilung der institutionellen Ressourcen auszugleichen. Da die PJ zu Beginn der Amtszeit Alfonsins eine unterinstitutionalisierte Massenpartei war, versuchte dieser, diese Schwäche des Gegners auszunutzen und die eigene Partei zu stabilisieren, indem er sie zu einer institutionalisierten Massenpartei machte. In diesem Sinne sind die folgenden Sätze aus einer Rede des Präsidenten zu interpretieren, die richtungsweisend für die Entwicklung der Institutionen ist: „(...) die Beziehungen, die zwischen Modernisierung und sozialer Gerechtigkeit einerseits (das heißt: zwischen der Zukunft und den unteren Schichten) und Modernisierung und Demokratie andererseits (das heißt: neuer Radikalismus) aufgebaut werden sollen, werden für dieses Projekt (...) des Populismus (das heißt: Peronismus) von entscheidender Wichtigkeit sein"64. Die normalerweise in der Literatur als ein Schritt in Richtung einer catch-all-Partei interpretierte Erneuerung Alfonsins muss also genau entgegengesetzt interpretiert werden. Ebenso diente der Eintritt von Nichtparteimitgliedern ins Kabinett und in die Staatssekretariate einem ganz anderen Grund, nämlich dem Aufbau einer kollateralen Struktur, um die UCR zu einer Massenpartei zu machen. Wenn also Alfonsin von 1983 bis 1985 versuchte, die Effizienz der Partei zu erhöhen und aus der caicA-a//-Partei mit wechselnder Wählerschaft im Bereich der Mitte eine Massenpartei mit stabiler Basis im Mitte-LinksBereich zu machen65, dann drückte sich diese Strategie nach dem Erfolg des Austral-Plans und dessen Auswirkungen auf die Wahlen auch organisatorisch aus. Der bemerkenswerteste Teil dieser Erneuerungsstrategie war der Aufruf zu einer „aktiven Mobilisierung", die dazu dienen sollte, die Partei von innen heraus zu erneuem, indem neue Mitglieder gewonnen und Raum für eine öffentliche Diskussion eingerichtet wurde. In diese Diskussion sollten auch Gesellschaftsbereiche einbezogen werden, die bisher keinen Kontakt zur Partei hatten, die aber von ihr benötigt wurden: der Bereich der Bildung, der Pädagogenkongress, der Rat zur Festigung der

63

Die gegenseitigen Anschuldigungen bezüglich des von Journalisten geprägten Slogans „Peronisierung des Radikalismus" spiegelten sich in der Sprache der beiden Bewegungen wider. Der Ausdruck des „dritten Weges" bezieht sich darauf, dass Alfonsin der dritte prägende Präsident nach Yrigoyen und Perón ist (siehe Leitartikel der Zeitung La Nación, 1983-85, sowie Sidicaro (1993)).

64

Alfonsin, La Nación, 2.12.1985.

65

Dieser Prozess wird auch als „Sozialdemokratisierung" der Partei, das heißt als Annäherung der Radikalen an die europäischen Mitte-Links-Parteien, bezeichnet.

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Demokratie (CCD), die Intellektuellen, der Umzug der Hauptstadt in den Süden, die Provinzparteien, der Nationale Ernährungsplan (PAN), die unteren Gesellschaftsschichten, die Kommission der unter der Militärdiktatur Verschwundenen, die Linke und die Menschenrechtsorganisationen. Im Zuge dieses Veränderungsprozesses wurde auch der Artikel 38 der Parteistatuten geändert, der bisher den Mitgliedern untersagte, gleichzeitig ein öffentliches und ein parteiinternes Amt auszuüben. Seitdem kann auch die Präsidentschaft der Nation und der Parteivorsitz in einer Person vereinigt werden. Die Spannungen der Vergangenheit in Folge einer „doppelten Führung" wurden damit ebenso vermieden wie die Konsequenzen der Überinstitutionalisierung und deren Auswirkung auf die Regierung. Die hierarchische Struktur „von oben nach unten" und der übertriebene Föderalismus wurden geschwächt. Diese Entwicklung der UCR zu einer zentralisierten Massenpartei wirft jedoch eine Frage auf: Warum führte sie zu der paradoxen Situation, die von einer spannungsreichen Koordination gekennzeichnet war und in der Buenos Aires als Symbol des Erfolgs der Erneuerung erschien und Córdoba als sein genaues Gegenteil.66 Unter den Ursachen hierfür sind in erster Linie die Natur der Partei in den verschiedenen Zusammenhängen, die Strategie der „induzierten Nutzung" und der institutionelle Rahmen zu nennen. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in Buenos Aires und im Land allgemein kann die Radikale Partei in der Provinz Córdoba auf eine längere Regierungstradition zurückblicken: unter Sabattini (1935-39) und del Castillo (1939-43). Als 1946 Perón an die Macht kam, verlor die UCR in Córdoba nur 183 Stimmen. Während die UCR in der gesamten Zeit der peronistischen Hegemonie (1946-83) in Buenos Aires und in der Nation nur eine unbedeutende Oppositionsrolle spielte, sank sie in Córdoba nie unter 23% und war immer eine ernst zu nehmende Konkurrenz für die Peronisten mit durchaus realistischen Regierungsambitionen. Diese Eigenschaft hat auch auf der peronisrischen Seite eine Entsprechung: die PJ Córdobas ist eher politisch und weniger korporativ ausgerichtet als die nationale Organisation. Die Gewerkschaften der Provinz sind ebenfalls eher links orientiert als peronisrisch und setzten dem Originalperonismus in Córdoba gewisse Grenzen. Aus diesem Grund lässt sich die nationale Originalstruktur des 66

Die „spannungsreiche Koordination" bezieht sich auf das mangelnde Einverständnis zwischen dem historischen Sektor des Präsidenten (Erneuerung und Wandel) und dem neuen leitenden Sektor (Koordinationsjunta) (Botto 1999).

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Peronismus in dieser Provinz nicht wiederfinden: Die wählende Basis ist weniger abhängig vom Charisma der Politiker, es handelt sich in geringerem Maße um eine unterinstitutionalisierte Massenpartei, und die PJ Córdoba bewegt sich mehr in Richtung einer unbürokratischen catch-allPartei. Diese besonderen Umstände für beide Parteien in Córdoba ermöglichen eine effizientere Regierung der Partei auf der Provinzebene. Zwei weitere Faktoren gesellen sich außerdem dazu und machen diese Provinz zu einem Sonderfall: eine andere Nutzungsstrategie und ein institutioneller Rahmen, der das Regierungsprofil der Parteien akzentuiert. Daher kommt der Unterschied zwischen dem Ziel des Präsidenten, die Partei zu zentralisieren und bürokratischer zu machen, und dem des Gouverneurs, die UCR zu einer Volkspartei werden zu lassen, mit schwächerer Zentralisierung, weniger Bürokratie und mehr innerparteilicher Konkurrenz, um mehr Volk zu mobilisieren und dabei nicht an Integrationsfähigkeit zu verlieren. Präsident und Gouverneur arbeiteten also gegeneinander: einer versuchte neue Bereiche der Gesellschaft, auf Kosten eines Abbaus der alten Partei anzusprechen, während der andere die alte Partei aktivierte, um den neuen Radikalismus von unten her zu integrieren. Während der Präsident eine MitteLinks-Strategie verfolgte, zielte der Gouverneur auf die Mitte. Hieraus erklärt sich der Unterschied zwischen dem unzureichenden „nationalen Wunder" und der fünfzehn Jahre andauernden Hegemonie der Radikalen in der Provinz Córdoba (1983-98). Es zeigt sich auch, wie unterschiedlich die Strategien der jeweiligen Parteiführung bezüglich der Nutzung der Ressourcen der Partei waren. Während in den Jahren von 1983 bis 1985 der Abbau des „alten" Radikalismus in Buenos Aires und auf nationaler Ebene dem schnellen Aufstieg der neuen Führungsriege und ihres Präsidenten diente, standen die neuen Politiker in Córdoba weiterhin im Schatten der alten Führung. 67 Die neue Parteiführung, die im politischen Klima der siebziger Jahre ihre Karriere begonnen hatte, verfügte über keine Regierungserfahrung, aber durchaus über Erinnerungen an den Staatsstreich von 1966, der der UCR-Regierung ein Ende gesetzt hatte (Herrera 1985). Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung setzten sich diese Politiker für eine Modernisierung der Partei ein, um eine stärkere ideologische Kohärenz zu erzielen, auf Kosten der weniger programmatischen Ideen und der Effizienz der älte-

67

Der Gouverneur Angeloz gründete die „Linea Córdoba" als Zusammenschluss verschiedener Fraktionen (Anhänger Sabattinis und Balbins sowie Alfonsins, die sich für Erneuerung und Wandel einsetzten) gegen die Linie des Präsidenten („La Coordinadora") und hatte auf Provinzebene die Mehrheit der Partei hinter sich.

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ren Generation. Die neue Linie stand ganz in der Tradition der paradoxen Mischungen der argentinischen Parteien, die einen Diskurs, der die Massenpartei befürwortete, mit einer innerparteilichen Mechanik, die die UCR den eurokommunistischen Parteien annäherte, kombinierte: zentralisierte Führung, Zugang durch Kooptierung und Aufstieg nach Nützlichkeit (umgekehrte Vertikalität).68 Die Mitglieder der Koordinationsjunta wurden zum „Team des Präsidenten" und übernahmen zwei Aufgaben: die Verwaltung der Präsidialmacht und die Koordination des Aufbaus der neuen Partei auf nationaler Ebene. Das Ergebnis dieser Arbeit ist bekannt und es kann nützlich sein, auf das Risiko hinzuweisen, dass sich hinter einer Strategie der „kreativen Zerstörung" verbergen kann (Bacetti 1998), nämlich die vom Ballast der Tradition ausgehende Einschränkung der Renovierungsfähigkeit „von oben". In diesem Fall wurden die Grenzen einer von der politischen Elite und der Führungsriege „angeordneten" Einverleibung der unteren, „unstrukturierten" Schichten deutlich. Wenn es stimmt, dass der Triumph der UCR von 1983 nicht auf die Unterstützung eines Teils der Peronisten zurückzuführen ist (unter 5%), sondern auf den Erfolg der Radikalen bei der Eroberung der Stimmen von Nichtperonisten (Malamud 1998: 91), dann zeigt sich das Risiko, das eine Politik mit sich bringt, die nicht auf die Wähler gerichtet ist. Auf diese Art und Weise wird darüber hinaus verständlich, in wie fem das Treffen einer günstigen oder ungünstigen Entscheidung innerhalb der selben politischen Tradition die Ergebnisse beeinflusst. In den Provinzen, wo „La Coordinadora" am stärksten war, wie zum Beispiel in der Provinz Buenos Aires, war der negative Effekt am stärksten. Die UCR verlor hier nicht nur das Gouverneursamt bei den Wahlen 1987, sondern verlor in diesem Bezirk außerdem auch bei sämtlichen Parlamentswahlen seitdem.69 An den Ergebnissen bei den Parlamentswahlen 1997 lässt sich das „Einfrieren" der Führungsfiguren deutlich ablesen: Alfonsin blieb als am besten abschneidender Kandidat hinter den Kandidaten der PJ („Chiche" Duhalde) und der Frepaso (Fernández Mejide) zurück (Acuña 1998: 114). Andererseits hat die anders geartete Situation in Córdoba den Niedergang verzögern, aber nicht aufhalten können. 1995 versuchte der Gouverneur Ramón Mestre die Leistungsfähigkeit der Partei voll zu nutzen 68

Zu dem ungewöhnlichen Format dieser Parteien, dessen typischer Vertreter die Kommunistische Partei Italiens ist, siehe Bacetti (1998).

69

Die Stimmenzahl der UCR sank bei den Gouverneurswahlen von 52% (1983) auf 17,3% (1995) und bei den Wahlen zum nationalen Parlament von 49,38% (1983) auf 17,97% (1995).

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und zentralisierte die Führung, um dann 1998 prompt der PJ zu unterliegen. Die Presse warnte schon während der Kampagne und urteilte danach wie folgt: „Nicht die PJ hat die Wahlen in der Provinz Córdoba gewonnen, sondern die UCR hat sie verloren"70. Der Fall Córdoba unterscheidet sich aber vom Rest der Nation nicht nur aufgrund einer speziellen Nutzungsstrategie, sondern vielmehr durch eine ganze Reihe von Bedingungen, die die Möglichkeiten, Politik im Reagenzglas zu machen, einschränkten und gleichzeitig eine bereits begonnene Entwicklung auf institutioneller Ebene beschleunigten. Auch wenn das Gouverneurssystem auf provinzialer Ebene ein Abbild des Präsidialsystems auf nationaler Ebene ist und wenn das Provinzparlament ebenso zwei Kammern hat, dann bedeutet das nicht, dass der Gouverneur durch die teilweise Erneuerung eingeschränkt wurde; die Abgeordneten werden nach dem Mehrheitssystem gewählt71, wodurch die Regierungsspaltung erschwert wird: Der Präsident wird von der Notwendigkeit der „permanenten Kampagne" befreit und hat es bei gesetzgebenden Beschlüssen einfacher. Im Senat gibt es keine Überrepräsentierung (d. h. die 26 Bezirke der Provinz sind entsprechend ihrer Einwohnerzahl vertreten) und die Senatoren werden unmittelbar gewählt. Und schließlich wird der provinziale Föderalismus ausgeglichen durch Dezentralisierung und Kooperation der Gemeinden und Kommunen.72 Wenn sich das „Wunder Córdobas" auf eine breite gesellschaftliche Basis stützte, die die Hälfte der unstrukturierten Unterschichten sowie einen Großteil der Mittelschicht einschloß (López 1998), dann hat der Widerspruch bezüglich der Politik Alfonsins seine Ursache nicht nur im Gegensatz zwischen seinem Modell und den Bedingungen und ebenso wenig nur in der institutionellen Machtlosigkeit und den widrigen Umständen, sondern auch im Erfolg der Strategie der „induzierten Nutzung". Der Wider70

La voz del inferior, November/Dezember 1998.

71

Bis 1987 stand der Siegerpartei die Mehrheit der Sitze zu und der Rest wurde nach dem Verhältnissystem entsprechend der Wahlergebnisse verteilt (D'Hondt). Seit 1987 wird die Sitzverteilung vorher festgesetzt, d. h. die Mehrheit ist nach wie vor für die Siegerpartei, aber der Rest wird unter den Minderheiten aufgeteilt (de Riz 1990: 42-43).

72

Der institutionellen Rahmen der Provinz Buenos Aires ist ein Abbild der nationalen Gegebenheiten mit den gleichen vier Bedingungen, die die einigende Kraft der Exekutive behindern: teilweise Erneuerung der Sitze, Verkürzung des Wahlscheins, Verhältniswahlsystem bei Abgeordneten und Überrepräsentation bei Senatoren. Außerdem ist in dieser Provinz der Grad der Zentralisierung am höchsten.

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spruch besteht darin, dass der Misserfolg der Partei bei der Konsolidierung als Achse des politischen Systems eine direkte Folge des Erfolgs bei der inneren Erneuerung war. Das lässt sich daran sehen, dass zu Beginn der Regierungszeit darauf gesetzt wurde, die Eigenschaften der überinstitutionalisierten catch-all-Partei — Föderalismus und hohe Institutionalisierung abzubauen, und dass am Ende dieser Zeit die Partei des Präsidenten durch die neue Formel — Zentralismus und hohe Institutionalisierung - nicht nur destabilisiert war, sondern außerdem auch noch zwei Eigenschaften aufwies, die als Extreme des Originalmodells zu werten sind, nämlich die Flüchtigkeit der Wählerschaft und die Selbstbezogenheit der Partei. Die paradoxe Situation drückt sich außerdem in der Tatsache aus, dass die Partei in den letzten zehn Jahren an Mitgliedern genau in dem Maße zugenommen hat, wie sie Wähler verloren hat (Adrogue 1995: 56).73 Und schließlich wirkt sich der „alfonsinistische Zyklus" auch auf die Wiederwahl der Abgeordneten des Nationalparlaments aus. Einerseits könnte zwar vermutet werden, dass die niedrige Wiederwahlrate in Argentinien eine Eigenschaft des Systems ist, die sich mit der niedrigen Institutionalisierung der Parteien erklären lässt, aber andererseits bekommt diese Zahl eine besondere Bedeutung, wenn man den Umstand in Abhängigkeit von der Gestaltung der Institutionen — föderatives Präsidialsystem — und der Logik der Funktionsweise des Systems betrachtet: Präsidentschaften des Wandels. So gesehen ist die Wiederwahlrate nicht eine Eigenschaft des Systems, sondern eine „Besonderheit", die in Beziehung steht zum Zyklus der Ablösung der Präsidenten. Genau betrachtet heißt das, dass die Wiederwahlrate der Abgeordneten davon abhängt, ob sich die jeweilige Partei in der Regierung oder in der Opposition befindet: ist sie in der Regierung, steigt die Rate, und ist sie in der Opposition, sinkt sie. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass sich im Vergleich der zwei Parteien untereinander auch auswirkt, um was für einen Parteityp (UCR stark, PJ schwach) und um welches Modell der Regierbarkeit es sich handelt: Das Modell Alfonsins, das auf starken Parteien basierte, führte zur Erhöhung der Wiederwahlrate sowohl bei der PJ als auch bei der UCR, während das Modell Menems, das auf schwachen Parteien basierte, zum abrupten Sinken der Rate bei beiden Parteien in seiner ersten Amtszeit führte. In seiner zweiten Periode jedoch, als der Präsident an Koordinationsstärke verlor und sein Regierungsmodell von der Op73

Siehe Anhang: Entwicklung der Mitgliederzahl der UCR auf nationaler Ebene (Tafel 1) und den Stimmenverlust „von über 50% 1983 auf nur 17% 1995" (Levitsky 1997).

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Position wirksam in Frage gestellt wurde, begann die Wiederwahlrate erneut langsam zu steigen.

3.b.

Das Modell Menems (1989-95/1995-99): Regierung der Führungsfigur, Partei der Führungsfigur und antiparteiliche Politiker

Während die Regierungszeit Alfonsins unter Politologen einerseits Einigkeit über das Regierungsmodell und die Auswirkung auf das System - Legitimation durch Stabilität - und andererseits Uneinigkeit über die Pflichterfüllung — Hyperinflation und mangelnde Entscheidungsfähigkeit — hervorruft, sind die Meinungen hinsichtlich der zwei Amtszeiten Menems genau anders herum verteilt. Die Übereinstimmung bezieht sich hier auf die Pflichterfüllung — Regierbarkeit und wirtschaftliche Stabilität — und die Uneinigkeit auf das Regierungsmodell und die Auswirkung auf das System: Lateinamerikanisierung und Regierung der Führungsfigur bzw. Europäisierung und Regierung der Partei (vgl. Kap. l.a. bzw. l.b.). Dieses Kapitel widmet sich der Erforschung dieser Uneinigkeit im Licht des in diesem Beitrag verwendeten Ansatzes, nach dem die Pflichterfüllung der Regierung vom Erfolg des Präsidenten bei der Koordination der Bedingungen, die die Konkurrenz der Parteien untereinander zum Zwecke der Einigung der Regierung regeln, abhängt. Unter diesem Gesichtspunkt fällt die Entscheidung des hier vorliegenden Artikels gegen die These der Europäisierung und für eine Interpretation der Menemschen Politik als Annäherung an das Modell der Regierung der Führungsfigur zum Zweck der Einigung der Regierung, womit sich sowohl der Erfolg der Exekutive - Lösung für das Problem der Unregierbarkeit mittels der Entscheidungsunabhängigkeit der Führungsfigur - als auch die Auswirkung auf das System erklären lässt: Verringerung der Institutionalisierung in vertikaler Richtung und Bruch mit der vertikalen Verantwortung (von starken Parteien mit Parteipolitikern zu schwachen Parteien mit antiparteilichen Politikern) sowie Verringerung der Institutionalisierung in horizontaler Richtung und Bruch mit der horizontalen Verantwortung (Abwesenheit formeller Kontrolle), oder, mit anderen

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Worten, Instabilität und mangelndes Verantwortungsbewusstsein der Regierung.74 Wenn auch nicht anzuzweifeln ist, dass der Beitrag Menems zur Festigung der Demokratie in Argentinien — mittels der „Demokratisierung des Peronismus" (Novaro 1996)75 — einen großen Fortschritt darstellt, so muss doch an dieser Stelle mit Deutlichkeit gesagt werden, dass das Ergebnis nicht eine Demokratie nach westeuropäischem Muster sein kann, die auf der Institutionalisierung des kollektiven Handels in beiden Richtungen, horizontal und vertikal, und auf dem Modell der Regierung der Partei baut. Die Demokratie des Postmenemismus neigt vielmehr zum nordamerikanischen Modell: vertikale Deinstitutionalisierung und horizontale Kontrolle. Aus diesem Grund lässt die fehlende Gleichmäßigkeit bezüglich der Unabhängigkeit bei der Entscheidungsfindung der Führungsfigur - von mehr Unabhängigkeit am Anfang (bis '93) zu weniger am Ende (ab '94) — nicht auf einen „anderen Stil" innerhalb des selben Regierungstypus - Regierung der Partei - schließen, sondern auf einen anderen Regierungstyp: die Regierung der Führungsfigur in Form des Präsidenten. Innerhalb dieses Modells lässt sich eine Variation bezüglich der Ordnung feststellen: Angesichts der Unabhängigkeit der Führungsfigur als allgemeine Richtlinie findet sich hier ein Verschiebung von der delegierten Unabhängigkeit zur forcierten Unabhängigkeit. In diesem Sinne kommt den Unterschieden zwischen Menems Argentinien und Fujimoris Peru (Novaro 1999, Levitsky 1997) eine große Bedeutung zu, nicht um eine systematische Institutionalisierung, sondern vielmehr eine Besonderheit der Regierung der Führungsfigur in Argentinien abzuleiten. Der Fall Argentiniens weist tatsächlich eine besondere Art der Abfolge auf: Während Alfonsin an Menem ein hohes Maß an politischem Konsens auf Kosten enormer Inflation und „Verhärtung" der Partei

74

Unter Instabilität soll nicht etwa der Bruch mit den Regeln des demokratischen Systems verstanden werden, sondern vielmehr eine Veränderung dieser Regeln innerhalb des Rahmens der Demokratie (Morlino 1985). In dem hier vorliegenden konkreten Fall findet dieser Wandel von einer auf Institutionalisierung des kollektiven Handels basierenden Demokratie zu einer auf Abbau des kollektiven Handels basierenden Demokratie statt.

75

Unter „Demokratisierung des Peronismus" ist zu verstehen, dass die PJ die Legitimität der Vorgehensweisen anerkennt, die von den Parteiführern „Formaldemokratie" und/oder „liberale Parteienherrschaft" genannt wird: Gewaltenteilung auf horizontaler Ebene und Konkurrenz unter den Parteien als Mittel zur Legitimation der politischen Autorität in vertikaler Richtung.

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vererbte, hinterließ Menem de la Rúa ein hohes Maß an wirtschaftlichem Konsens auf Kosten der Zersplitterung der Partei und des Rückgangs der Institutionalisierung des politischen Systems. Das bedeutet, dass das Erbe der Legitimation, das Menem von Alfonsin als Folge der „Nutzung" der Tradition der Radikalen in der Regierung übernahm, den Rahmen für die Handlungsfreiheit Menems absteckte, der ihm erlaubte, die Partei zu zersplittern, während es ihm gelang, gewisse Punkte des Originalperonismus Partei der Führerfigur - in einem neuen Kontext der Marktwirtschaft und politischen Konkurrenz durchzusetzen. Und das Erbe der Deinstitutionalisierung, das de la Rúa von Menem als Folge der „Erforschung" der peronistischen Tradition in der Regierung übernahm, steckte den Rahmen für die Handlungsfreiheit de la Rúas ab, der ihm ermöglichte, im Sinne einer kompetitiven Regierung zu arbeiten, als Konsequenz der zwei politischen Traditionen und der zwei spezifischen institutionellen Alternativen: Abbau der vertikalen Institutionalisierung im Sinne der Peronisten und horizontale Kontrolle im Sinne der Radikalen, das heißt Konkurrenz zwischen Präsident, Kongress und Justizgewalt. Verschiedene Untersuchungen bestätigen die Existenz von Elementen des Regierungsmodells der Führungsfigur in den Vorgehensweisen der Regierung Menems, so zum Beispiel eine Entscheidungsstrategie, die auf die Zersplitterung der kollektiven Agenten (politische und Interessengruppen) zielte, um die Ideen der Führungsfigur durchzusetzen (Botto 1999, Murillo 1997, Gerchunoff 1992, Barcia 1991)76, und eine „Führung der Umwandlung" mit einem „Outsider"-Präsidenten (Novaro 1996: 207), der sich meist außerinstitutioneller Ressourcen bediente, was sich nicht nur am außergesetzlichen Gebrauch seiner Vorrechte - Teilveto, Notstands- und Dringlichkeitsdekrete, föderative Intervention - zeigt (Mustapic 1995, Ferreira 1995, Novaro 1996), sondern auch an der Neutralisierung der Kontrollinstanzen, zum Beispiel mittels der Erweiterung der Mitgliederzahl des Obersten Gerichtshofs von fünf auf neun, der unrechtmäßigen Ernennung von Bundesrichtern sowie der Auflösung des Nationalen Rechnungshofs. Der Gebrauch von außerinstitutionellen Ressourcen findet sich ebenso im Verhalten der Führungsfigur als „Torhüter" für gesellschaftliche Gruppen wieder (Novaro 1996: 370). Ein weiteres Element der Regierung der Füh76

Die Autoren behandeln jeweils verschiedene Gebiete der Entscheidungsfindung: Privatisierung bei Botto, Gewerkschaften bei Murillo, Privatunternehmer bei Gerchunoff, Peronismus bei Barcia.

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rungsfigur ist die Ersetzung des Zweiparteiensystems durch ein Mehrparteiensystem (Kvaternik 1997) mit einer „dominanten" Partei (Zelaznik 1995) als Ausdruck einer eindimensionalen Dynamik der Konkurrenz auf institutioneller Ebene, die die charismatische Legitimation der Führungsfigur zu dem Instrument macht, das das System der konkurrierenden Parteien politisiert und ordnet (Menemismus/Antimenemismus). Der „LaaksoTaagapera-Index" bestätigt den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Mehrparteiensystem in der Abgeordnetenkammer und Dynamik der dominanten Partei im Senat und bei den Wahlen zum Präsidenten.77 In diesem Sinne bestätigt die sekundäre Rolle, die die UCR in der Regierungszeit Menems spielte, das Phänomen, dass sämtliche Parteien, die sich nicht der einzigen tatsächlich wichtigen Eigenschaft — dem Charisma des Präsidenten - anpassten, von der Dynamik der dominanten Partei an den Rand gedrängt wurden. Und mittels dieser Dynamik lässt sich auch erklären, warum in dieser Zeit so viele neue Parteien entstanden, die entweder in ihrer Struktur dem Muster des Peronismus folgten („Frente Grande", PAIS, MODIN)78 oder sich von der peronistischen Regierung ableiten ließen: schwache Parteien, auf eine Führungsfigur oder einen Kandidaten fixiert („Nueva Dirigencia", „Acción para la República").79 Diese Dynamik der gegenseitigen Konkurrenz wird vielleicht am besten von Torre (1995 und 77

Burdman (1997 und 1998) beobachtet anlässlich der Präsidentschaftswahlen 1995 eine Dynamik der dominanten Partei, da die argentinische Ballotage, die aufgrund des Paktes zwischen Alfonsin und Menem zum Zweck der Verfassungsreform 1994 eingeführt worden war, vorschreibt, dass die Siegerpartei im ersten Wahlgang entweder 45% der Stimmen erhalten muss oder 40% der Stimmen und mindestens 10% Vorsprung vor der Partei mit den zweitmeisten Stimmen, um einen zweiten Wahlgang zu vermeiden.

78

Die „Große Front" (Frente Grande, FG), Vorläufer der Frepaso unter der Führung des Abgeordneten „Chacho" Alvarez, wurde mit dem Ziel gegründet, über die Linke zum wahren Peronismus zurückzufinden, im Gegensatz zum Liberalismus Menems. Die Partei „Offene Politik für soziale Integrität" (Política Abierta para la Integridad Social, PAIS) unter dem ehemaligen Gouverneur Octavio Bordón koalierte bei den Wahlen 1995 mit der FG. Die MODIN unter der Führung des ehemaligen Obersten Aldo Rico wurde mit dem Ziel gegründet, über die autoritäre Rechte den nationalistischen Flügel der Peronisten für sich zu gewinnen.

79

Die „Neue Führung" (Nueva Dirigencia, ND) unter Gustavo Béliz, einem ehemaligen Innenminister unter Menem, setzte auf die Zerstreuung, die der Menemismus unter den Peronisten bewirkt hatte, in diesem Fall in Buenos Aires. Im Gegensatz dazu suchte Domingo Cavallo, Menems ehemaliger Wirtschaftsminister, mit seiner „Aktion für die Republik" (Acción para la República, AR) landesweite Präsenz als Vertreter eines ernsthaften Reformprogramms.

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1997) beschrieben, der am Peronismus eine Besonderheit feststellt, wenn er an der Regierung ist: Der Peronismus baut ein eigenes System in sich selbst auf, das heißt, er formiert seine eigene Opposition, wodurch die eigentliche Opposition, also die nicht peronistischen Parteien, an den Rand gedrängt werden. Entweder spielen sie unter veränderten Regeln mit, auf Kosten des Verlusts der eigenen Identität, oder sie bleiben am Rand und spielen nicht mit. Die Kurzlebigkeit der genannten neuen Parteien bestätigt diese Logik. Von denjenigen, die dem Muster des Peronismus folgten, überlebt derzeit nur die FG innerhalb der Frepaso als ein Bündnis von Minderheits- und lokalen Parteien, die nicht dem Peronismus entstammen (Sozialisten und Christdemokraten). Sowohl die PAIS als auch die MODIN gingen schon vor dem Ende der Ära Menem ein. Von den Ablegern der MenemRegierung erreichte nur die AR eine gewisse Wählerschaft auf nationaler Ebene bei den Wahlen 1999. Aber selbst wenn die FG und die AR weiterhin existieren, leiden sie doch am Syndrom der schwachen Parteien. Ihr Dilemma besteht darin, dass sie innerhalb eines demokratischen Systems existieren, aber weder über eine gesellschaftliche Basis noch über Parteistrukturen verfugen. Ihre parteiinternen Wahlen sind offen und neutral, das heißt, dass auch Mitglieder anderer Parteien und Parteilose kandidieren dürfen, womit versucht werden soll, die Vorherrschaft der PJ und der UCR in bestimmten Gebieten aufzubrechen. Ihre Politik wendet sich gegen die beiden traditionellen Parteien, die sie der Parteienherrschaft bezichtigen. Ihre zukünftige Ausdehnung hängt von der Einführung veränderter Regeln ab, wie sie von diesen Parteien gefordert werden: neutrale, simultane, obligatorische interne Wahlen. Das würde zu einer Annäherung an das amerikanische System führen: Abbau der vertikalen Institutionalisierung und Bruch mit der vertikalen Verantwortlichkeit.80 Der Menemsche Zyklus wird auch mit einem Muster der politischen Elite in Verbindung gebracht, das dem der sich erneuernden „alfonsinistischen Antielite" entspricht (Sidicaro 1995). Wenn die Ära Menem die genannten Elemente einer Regierung der Führungsfigur aufweist, muss die folgende Frage gestellt werden: Warum schaffte es Menem, auf der Ebene der Institutionen neue Konfigurationen 80

Die einzigen nicht peronistischen Parteien des Bündnisses Frepaso sind die Sozialdemokraten und die Volkssozialisten. Die Christdemokraten spielten bis 1995 die Rolle einer Zwillingspartei der Peronisten bei Wahlen und bei der Verabschiedung von Gesetzen, sowohl auf nationaler als auch auf provinzieller Ebene.

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zu erforschen und durchzusetzen, anstatt sich darauf zu beschränken, die bestehenden Institutionen auszunutzen, und worin besteht seine Strategie bei dieser „Erforschung", die er zur Koordination seiner Partei benutzt, um das von ihm gewählte Regierungsmodell durchzusetzen? Um diese Frage beantworten zu können, gilt es zwei Vorarbeiten zu leisten: Untersuchung der Variablen, die hinter der Politik Menems stehen, und Suche nach dem Grund, warum eine Provinz, Santa Fe, zum Sinnbild der Erneuerungsstrategie des Präsidenten - Regierbarkeit, Zerstreuung der Führung, Instabilität und Fehlen einer verantwortungsbewussten Regierung — wird, während gleichzeitig eine andere, Buenos Aires, genau das Gegenteil darstellt.

3.b.l.

Die Variablen Menems: vom Überfluss der Ressourcen zur Zersplitterung der Partei

i. Die Ziele des Präsidenten: Menem übernahm das Amt des Präsidenten im Juli 1989 mit einer Mehrheit von 47% gegenüber den 37% des Kandidaten der Radikalen, dem Exgouverneur Cordobas, Eduardo Angeloz, inmitten einer katastrophalen Wirtschaftskrise (Novaro 1996). Auf institutioneller Ebene stellte sein Wahlsieg, ebenso wie der Alfonsins 1983, eine Neuigkeit dar. Nie zuvor hatte es in Argentinien einen friedlichen Regierungswechsel zwischen den beiden traditionellen Parteien gegeben. Vor diesem Hintergrund einer durch die Regierungsverantwortung ausgelaugten UCR und einem Peronismus, der sich als die Alternative innerhalb des Systems darstellte und die Wirksamkeit der Demokratie unter Beweis stellen musste, steckte der neu gewählte Präsident seine Ziele ab: 1) Lösung für die Steuerkrise und ihre Konsequenzen (Hyperinflation und Autoritätsverlust) durch Abbau der Ursachen: übertriebener Staatsapparat und zu hohe Staatsausgaben; 2) Verhinderung der Entwicklung der PJ zu einem weiteren Problem angesichts ihrer Mitverantwortung für die Krise: da ihre Machtübernahme vom Staat abhing, der vom Präsidenten reformiert werden sollte, und weil sie mit 13 Streiks und der Opposition im Senat zur Krise maßgeblich beigetragen hatte; 3) Verstärkung der Legitimation der PJ

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durch Anpassung der Partei an die Rolle der systemintemen Alternative, zu der sie von der Krise gezwungen wurde.81 Im Gegensatz zu Alfonsin eröffnete sich Menem aufgrund der Schwere der Krise nicht die Möglichkeit, sich mittelfristige Ziele zu setzen („Veränderung des Landes, ohne die Politik zu verändern"). Wie schon Novaro (1996) erwähnt hatte, repräsentierte der Peronismus weniger einen Teil der Lösung als vielmehr einen Teil des Problems. Deswegen galt es für Menem, das Land und die Politik zu verändern, denn wenn der Peronismus aufgrund seines Gewerkschaftskollateralismus ein Teil des Problems war, dann war die Übernahme der Präsidentschaft ein zusätzliches Problem, weil sie die Partei dazu zwang, ihre geringe Institutionalisierung auszubauen, was wiederum die Autonomie der parlamentarischen Führung gegenüber dem Präsidenten stärkte. Die Umsetzung dieser Ziele — Veränderung des Landes und der Politik — bedeutete also einerseits den Abbau der peronistischen Strukturen des Landes - Veränderung des Landes von Staatswirtschaft zu Marktwirtschaft - und andererseits die Umleitung des Kurses, den Alfonsin gesteuert hatte — von starken Parteien und Parteipolitikern zu schwachen Parteien und antiparteilichen Politikern. ii. Die Partei des Präsidenten, Originalmodell und bestehende Alternative,n: Anhand der Gründung der PJ wurde gezeigt, dass ihre ursprüngliche Rolle die einer Regierungspartei mit geringer Institutionalisierung war, das heißt, dass die selektiven Anreize zur Mitgliedschaft und Zugehörigkeit wichtiger waren als die kollektiven Anreize. Ebenso wurde gezeigt, dass ihre Parteigeschichte eine paradoxe Entwicklung durchlaufen hat: von einer charismatischen Partei mit stabiler Wählerschaft in den ersten Jahren (1946-1955) über Nachfolgekonflikte und die Rolle der „Leibwachenpartei" (1974-1976) zur Massenpartei mit geringer Institutionalisierung nach der Niederlage bei den 83er Wahlen.82 Dieser Prozess begann mit einem Modell, dessen Struktur sich um die charismatische Autorität drehte und bezeichnenderweise als „peronistische Vertikalität" bekannt war (Mustapic 1998: 59). Er war gekennzeichnet durch Zentralisierung und völlig fehlen-

81

Quelle für die Auflistung der Ziele des Präsidenten: Novaro (1996), Kapitel 1 und 2.

82

Der Ausdruck „Leibwachenpartei" bezieht sich auf den bewaffneten Konflikt zwischen dem linken und dem rechten Flügel (Montoneros bzw. Gewerkschaften) um die Nachfolge Perons in der dritten Generation.

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de Institutionalisierung.83 Die extrem zentralisierte Struktur erleichtert den Zugang zur Partei und garantiert den schnellen Aufstieg, so lange die Treue zur Führungsfigur eingehalten wird. Diese paradox anmutende Kombination von Zentralisierung und fehlender Institutionalisierung erklärt auch die Besonderheit dieser Partei, wenn sie an der Regierung ist, nämlich die der meisterlichen, wenn auch vergänglichen, Koordinationsfähigkeit: Von 1946 bis 1955 schaffte es Perón, die Partei mittels verschiedener Mechanismen zu seinem Agenten im Kongress zu machen und die Koordination zu maximieren, aber nach 1973, nach 18 Jahren im Exil, war es unmöglich, daran anzuknüpfen, und der Peronismus fand sich plötzlich in einer Situation, in der es weder Regeln noch eine Führungsfigur gab, ein Peronismus ohne Perón.84 Vor diesem Hintergrund boten sich Menem vier Optionen zur Erforschung neuer Modelle, die dem Peronismus in seiner Rolle als Alternative des Systems dienlich sein konnten, nämlich die Umwandlung der Struktur der Partei, um sie zu einer starken Partei (Massen- oder catch-allPartei) oder zu einer schwachen Partei (Partei der Führungsfigur oder der Kandidaten) zu machen. Wie sich zeigen wird, wählte Menem eine Kombination aus Option 3 und 4: Einerseits gab er der Partei die Struktur einer Partei der Führungsfigur zurück, andererseits wählte er für pragmatische Zwecke das Modell einer Partei der Kandidaten. iii. Der institutionelle Rahmen: Durch die Regeln, die die politische Konkurrenz auf nationaler Ebene bestimmen, bestand für Menem, ebenso wie vor ihm für Alfonsin, die Möglichkeit, die Wahlkalender zu vereinheitlichen, um seine Autorität mittels langer Kandidatenlisten zu erhöhen. Andererseits musste er sich Mechanismen wie der Verkürzung des Wahlscheins, der partiellen Neuwahl und dem Verhältniswahlsystem stellen, das heißt, dass er die „permanente Kampagne" ebenso nutzen musste wie Pakte zur Einigung der Abgeordneten. Aber andererseits bot ihm, im Gegensatz zu

83

In der Gründungscharta der Partei von Januar 1954 steht: „Die Peronistische Partei beruft sich auf die Doktrinen des Generals Perón (...) und ist eine Massenpartei (...), die als politische Institution handelt und alle möglichen Opfer bringt, wenn diese dem General Perón dienlich sind" (Mustapic 1998: 59).

84

Zu den von Perón benutzten Mechanismen zur Verstärkung der Zentralisierung gehören: Gesetz Nr. 13.645 zur Behinderung der Neugründung von Parteien und zum Verbot von Bündnissen, Gesetz Nr. 13.569 zur Festsetzung von Strafen für Beamtenbeleidigung und Gesetz Nr. 13.985 zur Erweiterung der Spionage.

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Alfonsin, die Überrepresentation im Senat die Möglichkeit der „eingeschränkten föderativen Präsidentschaft" 85 . iv. Verteilung der Ressourcen: Auf der Ebene der institutionellen Ressourcen fand der Präsident eine „geeinigte Regierung" vor, das heißt, dass er im Gegensatz zu Alfonsin über eine Mehrheit sowohl in der Kammer als auch im Senat verfugte. 86 Dies führte zu mehr Effizienz bezüglich der Vorrechte des Präsidenten: Gesetzinitiativen, föderative Interventionen und Vetorecht. Auf der Ebene der außerinstitutionellen Ressourcen ermöglichte ihm seine antiliberale Tradition den außergesetzlichen Gebrauch der Vorrechte und brachte die Unterstützung von Seiten der Gewerkschaften mit sich 8 ', schränkte aber gleichzeitig die der Unternehmer ein. Dazu kam eine Situation der vereinfachten Konkurrenz: Die UCR hatte einen Großteil ihrer Wählerschaft verloren und war kurzfristig nicht dazu in der Lage, sie zurückzuerobern, was die Ausdehnung des Peronismus auf traditionelle Bereiche der Radikalen über staatliche Kanäle möglich machte. Und schließlich gelang es dem Präsidenten trotz der schweren Wirtschaftskrise, die Finanzkraft des Staates durch die Privatisierung von Staatsbetrieben gesunden zu lassen (Gerchunoff 1992). Die folgenden Grafik verdeutlicht den Kontext, in dem der Präsident zu operieren hatte, um seine Ziele durchzusetzen.

85

Die Repräsentation der PJ im Senat ist regelmäßiger als die der UCR, was den Senat zu einem sicheren Instrument der PJ macht. Zu dieser Vorherrschaft kommt noch dazu, dass viele der kleineren Parteien als „Zwillingsparteien" der PJ agieren (Lijphart 1999), d. h. kontinuierlich für die Initiativen der Peronisten stimmen: die MPN im Senat und die PI sowie die Christdemokraten in der Abgeordnetenkammer (Palanza 1997).

86

Aufgrund des vorgezogenen Regierungswechsels verlangte Menem von den Radikalen in der Kammer Unterstützung für seine Notmaßnahmen. Dies führte zur sogenannten „delegierten oder autorisierten Autonomie" des Präsidenten in seiner ersten Amtszeit. Ab Dezember 1989 verfügte seine Partei über die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer.

87

Die Haltung der Gewerkschaften gegen Alfonsin und für Menem, das heißt für einen Reform-Peronisten, stellt für Novaro (1996: 346) ein dominierendes Element der peronistisehen Identität dar.

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Carla Carrizo Die Variablen der Politik Menems

Ziele des Präsidenten Veränderung der Politik und des Landes: vom Argentinien des Peronismus zum Argentinien des Menemismus Verteilung der Ressourcen

Pro Institutionelle Ressourcen PJ (Massenpartei, Unterinstitutionalisierung) Antiparteiliche Politiker Wirksamer Einsatz der gesetzlichen Vorrechte Eingeschränkte föderative Präsidentschaft „Geeinigte" Regierung

AuOerinstitutionelle Ressourcen Außergesetzliche Nutzung der Vorrechte Kollaterale Strukturen der Gewerkschaft

Contra Institutionelle Ressourcen „Permanente Kampagne"

Außerinstitutionelle Ressourcen Traditionelles Misstrauen von Seiten der Unternehmer

Vereinfachte Konkurrenzlage Staatliche Fernsehkanäle Gesundung der Staatsfinanzen (Privatisierung der Staatsbetriebe)

Menems Dilemma war umgekehrt proportional zu dem Alfonsins. Es bestand darin, die Fähigkeit seiner Partei, ein institutionelles Veto einzulegen, zu umgehen, ohne dabei ihre Rolle als wirksame Alternative vor dem Hintergrund der schweren Krise einzuschränken. Dem Peronismus kam als Ausweg aus der Krise eine besondere Bedeutung innerhalb des politischen Systems zu, aber der damalige Zustand der Partei - Dezentralisierung, fehlende Institutionalisierung - machte es ihr schwer, dieser Aufgabe gerecht zu werden, denn er machte den Überfluss an institutionellen Ressourcen zur Einigung der Regierung wirkungslos. Die Unfähigkeit der Partei, diese Ressourcen zu nutzen, einerseits und die außerinstitutionelle Unterstützung der Gewerkschaften sowie das Tief der Radikalen andererseits steckten den Handlungsspielraum ab, der Menem zur Verfügung stand, um für den Pe-

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ronismus neue Formen zu erschließen, ohne sich dabei darauf beschränken zu müssen, nur die institutionelle Leistungsfähigkeit einer unterinstitutionalisierten Partei nutzen zu können. Die Strategie des Präsidenten beinhaltete einen „Rechtsrutsch" des Peronismus, der ihn mit dem Wirtschaftsliberalismus versöhnte, indem historische Feinde in die Regierung aufgenommen wurden.88 Diese Versöhnung ging weit über die von Novaro (1996) beschriebene Notwendigkeit hinaus, den Unternehmern zu beweisen, dass Menem nicht den ursprünglichen Peronismus neu auflegen wollte. Andererseits zielte das neue Programm der PJ weniger darauf, die Partei als konservative Volkspartei und/oder als Mitte-Rechts-Partei der Massen darzustellen, sondern vielmehr darauf, die von den Radikalen aufgegebenen Gruppen der Gesellschaft im zentralen und Mitte-Rechts-Bereich des Spektrums für sich zu gewinnen und so ihre außerinstitutionelle Basis auszubauen und zur Partei der Führungsfigur zurückkehren zu können. An dieser Stelle ist es interessant, sich vor Augen zu führen, dass Menem zwar diesen vakanten Platz der konservativen Volkspartei erfolgreich besetzen konnte, aber dass es sich hierbei nicht um ein institutionelles, sondern um ein konjunkturelles Phänomen handelte, nämlich um eine Partei der durch die Situation bedingten Führungsfigur. Aus diesem Grund wäre es falsch zu vermuten, dass Menem unter dem Strich eine Europäisierung, das heißt, eine stärkere Institutionalisierung der Parteien und des Parteiensystems, bewirkt hätte. Zwischen den Alternativen der Institutionalisierung der Partei zur Erhöhung ihrer Leistungsfähigkeit und der Nichtinstitutionalisierung, um den Originalperonismus auf einen neuen Kontext anwenden zu können, wählte der Präsident die zweite Option. Er erneuerte nicht die Partei, sondern lediglich die Mechanismen, die es ihm ermöglichten, das Regierungsmodell der charismatischen Führerfigur auszubauen, mit dessen Hilfe er die Regieibarkeit erhöhte, so wie es lange Zeit vorher Perön mit dem Originalperonismus gemacht hatte. Das bedeutet, dass der interessanteste Aspekt des Menemismus in eben diesen Mechanismen bestand, die er nutzte, um sein Regierungsmodell mit der Demokratie und dem Prinzip der Konkurrenz der Parteien vereinbar zu machen (und die gleichzeitig sein Modell von dem Fujimoris in Peru unterschieden). Entsprechend dieser Überlegungen gilt es zu untersuchen, welcher Einrichtungen sich Menem

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Das deutlichste Beispiel hierfiir ist die Regierungsbeteiligung der UCD, einer Minderheitenpartei, die traditionell mit liberaler Wirtschaftspolitik und politischem Antiperonismus in Verbindung gebracht wird, sowie die Verpflichtung von Ingenieuren der Bunge-Born-Gruppe im Wirtschaftsministerium.

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bediente, um unter diesen dem Originalperonismus entgegengesetzten Voraussetzungen (Marktwirtschaft statt Staatswirtschaft und pluralistische statt zwangsmäßiger Demokratie) die selbe Formel zur Einigung der Regierung anzuwenden wie einst Perón: Zentralisierung ohne Institutionalisierung. Der Erfolg der auf Charisma beruhenden Zentralisierung ist umgekehrt proportional zum Grad der Institutionalisierung der restlichen politischen Agenten. Daher musste der Präsident Mechanismen fmden, die einerseits die Institutionalisierung des Peronismus verhinderten und andererseits den Abbau der Institutionalisierung der anderen Parteien förderten. Es waren in erster Linie die folgenden fünf Einrichtungen und Mechanismen, die dem Präsidenten die Zentralisierung ohne Institutionalisierung des Peronismus erleichterten, ohne die PJ dabei in eine Massen- oder catch-all-Partei zu verwandeln: das „System der selektiven Kompensation", das Gesetz „Ley de lemas", die internen Parteiwahlen, die Unterordnung der Partei und die Massenmedien. Das System der selektiven Kompensation diente der Privatisierung der Staatsbetriebe und dem Ausbau der Marktwirtschaft (Novaro 1996: 355). Es erlaubte dem Präsidenten einen Konsens im Sinne seiner Führung zu erreichen und das gemeinsame Handeln der Unternehmer, der Gewerkschaften und des Senats zu bremsen. Der politische Arm der Partei wurde vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen (Mustapic 1995) und das Auftreten von Führungsfiguren im Parlament wurde erschwert. Das als „Ley de lemas" bekannte Gesetz provozierte die Zersplitterung der Parteien, inklusive der des Präsidenten. In den Jahren von 1990 bis 1995 wurde es in acht Provinzen eingeführt (Misiones, Chubut, Santa Fé, Jujuy, Salta, La Rioja, Santiago del Estero und San Juan). Tula (1997: 7) sieht in diesem Gesetz „ein deutliches Beispiel für die extreme Manipulation des Wahlsystems (...), denn (...) anders als in Uruguay beinhaltet es die Möglichkeit, eine unendliche Zahl von ,sublemas' vorzustellen". Demnach habe die PJ sich nicht von der traditionellen vertikalen Hierarchie verabschiedet, sondern sie erzielte sie lediglich auf eine neue Art und Weise: „Die PJ erlaubt sich interne Kämpfe unendlich aufzuschieben und sich gleichzeitig aufgrund der bei Wahlen erzielten Mehrheiten, die sie sonst nicht bekommen hätten, an der Macht zu halten". Die Tatsache, dass Menem 1995 nach seiner ersten und einzig möglichen Wiederwahl - ankündigte, dass

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der Zyklus des „Ley de lemas" abgeschlossen sei, ist für seine Art zu denken und zu handeln typisch. Die internen Parteiwahlen dienten als zusätzlicher Mechanismus zur Zentralisierung dort wo das „Ley de lemas" sich nicht anwenden ließ und standen im Zeichen des Wandels der PJ zu einer Partei der Kandidaten. In den Fällen, in denen die peronistischen Kandidaten sich weigerten, der Führungsfigur treu zu sein, dienten die internen Wahlen dazu, die interne Opposition auszuschalten. Die Parteiführer auf allen Ebenen wurden dadurch dazu angehalten, sich nicht institutionell zu verhalten, um „Karriere" machen zu können. Diese „Drohung" beinhaltete die Aufhebung des Stimmrechts, die staatliche Parteienfinanzierung sowie obligatorische und simultane interne Wahlen.89 Wenn also die gesellschaftliche Basis der UCR traditionell in den mittleren und oberen Schichten der Stadtbevölkerung zu finden war, dann wird deutlich, dass die Strategie der „Transparenz des Systems" der PJ nicht nur darauf zielte, die Institutionalisierung der eigenen Partei zu verhindern, sondern gleichzeitig die Institutionalisierung der stärksten Oppositionspartei zu schwächen, indem die Parteiführer der Opposition dazu angehalten wurden, sich weniger institutionell zu verhalten, um sich der „neuen Situation" anzupassen. Bezüglich der Unterordnung der Partei zu Beginn der charismatischen Zentralisierung weist Levitsky (1997: 12) daraufhin, dass „die Übernahme der Macht innerhalb der Partei durch Menem nach 1989 begleitet wurde vom Aufstieg einer Reihe von sekundären Führungsfiguren, die aufgrund ihrer engen persönlichen Beziehung zu ihm leitende Posten auf höchster Ebene besetzten", so zum Beispiel in der Landesregierung bzw. im Nationalrat der Partei Eduardo Bauzá, César Arias und Alberto Kohan. Das Prinzip der Unterordnung innerhalb der Partei wurde zum Verhaltensmuster, das dem der Reformisten widersprach. Es diente gleichzeitig der Bindung an die neue nationale Führerfigur und der Ausschaltung der Konkurrenz um den Posten des Präsidentschaftskandidaten. Beispiele für Provinzen, in denen dieses Muster der unpolitischen und/oder antiparteilichen Politiker zu beobachten war, sind der Distrikt der Bundeshauptstadt, Santa Fé, Tu-

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Alle peronistischen Vorschläge zur Reform des politischen Systems während der gesamten Amtszeit Menems sind in der gleichen Tonart gehalten, einschließlich des letzten angekündigten Projekts, das jedoch wie auch viele andere vorher letztlich doch nicht bis zur Vorlage gelangte (Zeitung Clarín, 22. 03. 1999).

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cumán und San Juan: Gustavo Béliz und sein Kreuzzug gegen die Parteienherrschaft, der ehemalige Formel-1-Fahrer Carlos Reutemann, der frühere Schauspieler und Sänger „Palito" Ortega bzw. der Unternehmer Jorge Escobar. Die Massenmedien sind der Ausdruck der außerinstitutionellen Macht, die zur Neutralisierung der institutionellen Macht des Peronismus sowie der Oppositionsparteien im Kongress genutzt wurde, indem sie die „Parteienherrschaft" kritisierten, sobald die angekündigten Projekte der Regierung in Frage gestellt wurden bzw. sich verspäteten (Novaro 1996). Diese fünf Mechanismen ermöglichten Menem eine Neuauflage der peronistischen Formel durchzusetzen, allerdings in einem Kontext, der eine Umdrehung der ursprünglichen Voraussetzungen darstellte. Das Vermeiden der Institutionalisierung der eigenen Partei und der Abbau der Institutionalisierung der gegnerischen Parteien ermöglichten Menem eine spannungsfreie Führung der eigenen Partei, die sich auch in einem hohen Maß an Regierbarkeit widerspiegelte. Die Einigung der Regierung mittels Deinstitutionalisierung hatte jedoch einen Preis: Verbreitung der Führung, Instabilität und Abwesenheit einer verantwortungsbewussten Regierung. Als Indikator für die Verbreitung der Führung sei hier nur die eine Tatsache erwähnt, dass die PJ bei den Präsidentschaftswahlen 1999 einen Kandidatenüberfluss zu beklagen hatte und außerdem keine „Regeln" vorhanden waren, um unter ihnen eine Auswahl zu treffen: Duhalde (Gouverneur der Provinz Buenos Aires), Ortega (Exgouverneur Tucumán) und Reutemann (Exgouverneur Santa Fé). Das Beispiel Duhaldes bestätigte die Auswirkung der Menemschen Strategie auf die Partei: Einerseits musste er an die innerparteilichen Organe zur Konfliktlösung appellieren, um seine Nominierung als Kandidat durchzusetzen, andererseits sah er sich gezwungen, von einem Gouverneur seiner Partei zum anderen zu pilgern, um deren minimale Unterstützung zu erreichen.90 Als Indikator für die Instabilität mag die vom Präsidenten angeregte Diskussion um seine Wiederwahl dienen, die dazu führte, dass sich die Kandidaten, die sich gegen Menem aufstellen ließen (Duhalde, de la Rúa, Cavallo), zu einer gemeinsamen Erklärung gegen den Verfassungsverstoß zu-

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Zeitung Clarín, 25.02.1999, 03.03.1999, 28.05.1999, 29.05.1999.

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sammenschlossen.91 Wenn diese Verteidigung der verfassungsmäßigen Spielregeln auch als löblich anzusehen ist, kann sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Präsidenten zwei Monate lang erreichte, dass zwischen ihm und seinen Gegnern innerhalb der Partei, zwischen Regierung und Opposition, nicht unterschieden werden konnte, denn Duhalde war bis 1991 Vizepräsident und Cavallo bis 1995 Minister gewesen. Die Bedeutung dieses Verwirrungsspiels des Präsidenten lag nicht in der Täuschung selbst, sondern in der Tatsache, dass es eine Voraussage über die Parteienlandschaft in der Zeit nach Menem darstellte. An diesem Punkt soll erneut darauf hingewiesen werden, dass dieser Beitrag nicht die Meinung anderer Beobachter teilt, nach der die Emeuerungsstrategie Menems den Schritt der Peronisten von einer Volksbewegung zu einer catch-all-Partei darstelle (Novaro 1996: 374). Die Veränderung geht vielmehr in die entgegengesetzte Richtung: von einer unterinstitutionalisierten Massenpartei zu einer an die Zeit angepassten Neuauflage der Partei der Führungsfigur mit stabiler Wählerbasis und dem charismatischen Präsidenten im Mittelpunkt.92 Von diesem Ansatz aus liegt der Unterschied zwischen Perón und Menem nicht im Typus ihrer Partei, sondern in den von ihnen verwendeten Mechanismen zum Aufbau des selben Parteitypus. Aus diesem Grund sind die Auswirkungen auf das politische System unterschiedlich: Während bei Perón das Ergebnis seiner Regierung unter dem Strich ein „unmögliches Spiel" war (O'Donnell 1976), steht bei Menem als Endergebnis ein „mögliches Spiel", das jedoch dem Modell der Regierung der Parteien widerspricht. So zeigt sich, dass der Wandel vom Peronismus zum wirtschaftlichen und politischen Liberalismus (Zulassung von Marktwirtschaft bzw. Parteienkonkurrenz) unter Menem nicht eine Absage an seine parteienfeindliche Überzeugung darstellt, sondern vielmehr die Parteienfeindlichkeit weiter ausbaut, in dem Sinn, dass die miteinander konkurrierenden Parteien „Antiparteien" sind, so zum Beispiel die MitteRechts-Parteien ND (Neue Führung) und AR (Aktion für die Republik) sowie die Mitte-Links-Partei Frepaso (Front für ein solidarisches Land).

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Zeitung Clarin, 19.03.1999.

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In der insgesamt neunjährigen Regieiungzeit Menems musste die PJ nur bei zwei Wahlen Niederlagen hinnehmen, bei den Abgeordnetenwahlen 1997 und bei den Präsidentschaftswahlen 1999. Für mehr Information zur Stabilität des traditionellen Peronismus, siehe Ostiguy (1997).

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Die für diesen Erneuerungsprozess beispielhafte Provinz ist Santa Fe. Der ehemalige Gouverneur Reutemann ist einer der aussichtsreichsten Kandidaten für die Wahlen im Jahr 2003. Es stellt sich jedoch die Frage, warum ein Kandidat, der im Gegensatz zum langjährigen PJ-Politiker Duhalde erst 1993 unter Menem seine politische Laufbahn begann, einen so dermaßen großen Erfolg erzielen kann. Die Peronisten hatten sowohl in Santa Fe als auch in der wichtigsten Provinz des Landes, Buenos Aires, in der Duhalde regiert, Erfahrung als Regierungspartei. In letzterer näherte sich Duhalde mit seiner Politik jedoch eher der Strategie der Erforschung der Leistungsfähigkeit der Partei in ihrer Eigenschaft als institutionalisierte, starke catch-all-Partei an, als der der Führungsfigur mit schwachem Parteiapparat. Dies lässt sich auf die Anstrengungen Duhaldes zurückfuhren, sich seit der Aufgabe der Vizepräsidentschaft 1991 von der Strategie des Präsidenten abzusetzen, nicht nur bezüglich seines Gouverneursamts, sondern auch mit der Absicht, seine eigene Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen vorzubereiten. Die zwei unterschiedlichen Strategien innerhalb der PJ, Duhaldismus und Menemismus, verstärken die Vetomöglichkeiten sowohl in der Provinz als auch im Kongress.93 Im Gegensatz zur Nation und zur Provinz Santa Fe jedoch gab es in der Provinz Buenos Aires unter dem Vorgänger Duhaldes auf dem Posten des Gouverneurs, Cafiero (1987-91), keine Krisensituation, die Duhalde hätte ausnutzen können. Sein Vorgänger hatte keinen Versuch unternommen, den protektionistischen Apparat der Peronisten in der Provinz abzubauen, und Duhalde führte diese Tradition weiter fort, indem er über den „Fond zur historischen Reparation" eine Million Dollar täglich ausgab (Novaro 1996: 438). Zu diesen unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen gesellten sich weitere Gründe, die in der Provinz im Gegensatz zur Nation eine Institutionalisierung der Partei begünstigten. Wie bereits erwähnt, fanden sich in Buenos Aires die vier Bedingungen, die auf nationaler Ebene die Einigimg der Regierung behinderten, was wiederum die Koexistenz der zwei traditionellen Parteien forderte: die Verkürzung des Wahlscheins, das Verhältniswahlsystem, die zweijährliche teilweise Neuwahl der Abgeordneten und die un93

Zu der Rolle der Anhänger Duhaldes im Senat und in der Abgeordnetenkammer und ihre Vetos zur Blockierung der Initiativen des Präsidenten, siehe Novaro (1996: 436).

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gleiche Proportion im Senat. Während sich auf nationaler Ebene die PJ dieser Überrepräsentation erfreute, war in Buenos Aires die UCR die Nutznießerin dieses Umstands. Für Duhalde bedeutete das, ebenso wie vor ihm für Cafiero, die selbe institutionelle Machtlosigkeit, unter der Alfonsin auf nationaler Ebene litt: Trotz der Mehrheit in den bevölkerungsstarken Bezirken wurde er von den Senatoren der bevölkerungsschwachen Bezirke durch Vetos behindert. In Santa Fe wiederum war die Situation anders. Die Voraussetzungen behinderten hier nicht, sondern förderten bzw. begünstigten eine Regierung der Führungsfigur. So hat die PJ seit 1983 sämtliche Gouverneurswahlen gewonnen, was einen einzigartigen Erfolg darstellt, den keine der beiden traditionellen Parteien in keiner anderen wichtigen Provinz geschafft hat. Trotzdem endete die Regierung des Victor Reviglio (1987-91) mit Korruptionsbeschuldigungen und mit der Absetzung des Vizegouverneurs, mit einer Situation also, die die Anwendung des Gesetzes „Ley de lemas" und eines Regierungsmodells, das Regierbarkeit über Legitimität stellte, begünstigte.94 Der Fall Santa Fe war also gleichzeitig ein Beispiel für die Vorherrschaft einer Partei mit Mehrheit in beiden Kammern und Zersplitterung der Konkurrenz bei den Wahlen und ein Beispiel für die erfolgreiche Zersplitterung der eigenen und der anderen Parteien, das heisst, für die Deinstitutionalisierung des Systems und den Verlust an Verantwortlichkeit sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Richtung. Dies machte sich zum Beispiel bei den Gouverneurswahlen 1995 bemerkbar, als das EDVSystem ausfiel und das vorläufige Wahlergebnis 38 Tage auf sich warten ließ. In dieser Zeit stritten sich die beiden Kandidaten um den Sieg, nachdem die Meinungsumfragen vor den Wahlen ihnen ähnliche Chancen eingeräumt hatten (Tula 1997: 15). Eine der Voraussetzungen in Santa Fe, die das Auftreten einer Führungsfigur noch mehr begünstigten, war, im Gegensatz zur Nation und zu Buenos Aires, die Tatsache, dass die Verkürzung des Wahlscheins durch das „Ley de lemas" ersetzt wurde. Ebenso gab es keine partielle Neuwahl im Zweijahresrhythmus, sondern einheitliche Wahlen alle vier Jahre, und die Sitz-

Bei den ersten Wahlen nach der Verabschiedung des „Ley de lemas" siegte der Kandidat der Opposition trotz des höheren Stimmenanteils der PJ. Bei den letzten Wahlen 1999 bekam Reutemann die meisten Stimmen und wurde somit zum zweiten Mal wiedergewählt.

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Verteilung der Abgeordneten war nicht nach dem Verhältnissystem, sondern nach dem Mehrheitssystem geregelt: 28 Sitze für die Mehrheit, 22 für die Minderheiten. Wenn auch die Sitzverteilung der Senatoren unproportionell war - einer pro Bezirk —, so wurde dieser Effekt durch die Simultanwahl ausgeglichen, die die Kommunen an den Gouverneur banden und die Zentralisierung ohne Institutionalisierung garantierten. Der Unterschied zwischen den zwei geschilderten Fällen Santa Fe und Buenos Aires macht deutlich, wie sehr die Parteitraditionen die Pläne Menems zur Umwandlung der PJ in eine catch-all-Partei einschränkten, sei es aufgrund der nationalen Erneuerung seines Amtsvorgängers der gegnerischen Partei von 1983 bis 1989 oder wegen der Konkurrenz innerhalb der eigenen Partei durch den Gouverneur Duhalde in Buenos Aires in der Zeit von 1991 bis 1999. Darüber hinaus zeigte der Fall Santa Fe auf provinzialer Ebene die Auswirkungen der vom Präsidenten auf nationaler Ebene verfolgten Strategie in einer extremen Form. Und schließlich zeigt sich durch den Vergleich der zwei Provinzen auch die strategische Variationsbreite bei der Verteilung und Anwendung der Ressourcen und der wahrscheinlichen Konsequenzen entsprechend dem historischen und institutionellen Kontext, innerhalb der selben Tradition.

3.c.

Das Modell de la Rúas (1999-2003): kompetitive Regierung, Partei der Kandidaten und parteilose Politiker

Angesichts des Umstands, dass ein einziges Regierungsjahr nicht die ausreichende zeitliche Tiefe bietet, um das Ausmaß an Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis zu beurteilen, soll an dieser Stelle weniger eine empirische Kontrolle des Modells stattfinden, als vielmehr eine Untersuchung der Unterschiede durchgeführt werden, die das erste Regierungsjahr de la Rúas im Vergleich zum Vorgänger auszeichnen, vor dem Hintergrund des Regierungsmodells des Präsidenten. Wie bereits dargelegt wurde, ist das Modell der konkurrierenden Regierung eine Folge der institutionellen Auswirkungen von zwei sich in der Regierung abwechselnden, unterschiedlichen politischen Traditionen, einerseits der peronistischen mit ihrer vertikalen und horizontalen Deinstitutionalisierung — Entwicklung von starken zu schwachen Parteien bzw. Zentralisierung der Macht in der Person des Präsidenten — und andererseits der radikalen Tradition mit ihrer

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vertikalen und horizontalen Institutionalisierung — Entwicklung zur „verhärteten" catch-all-Partei bzw. Verschiebung der Macht zugunsten des Parlaments.95 Ebenso hat sich gezeigt, dass erstaunlicherweise das Erbe Alfonsins - Vorschuss an Legitimation und „Verhärtung" der Radikalen Partei - den Rahmen darstellte - delegierte Autonomie —, der es Menem ermöglichte, ein Modell durchzusetzen, das auf Abbau der Institutionalisierung zielte, statt auf deren Verstärkung. Diese Überlegung fuhrt zu der Frage, inwiefern das Erbe Menems de la Rüa bei der Durchsetzung seines Modells beeinflusst: „geeinigte" Regierung, institutionelle und föderative Konkurrenz, vertikale Deinstitutionalisierung der Parteien. Um diese Frage beantworten zu können, gilt es zwei Vorarbeiten zu leisten: Untersuchung der Variablen, die hinter der Politik de la Rüas stehen, und Bewertung der Unterschiede, die das erste Jahr der Amtszeit im Vergleich zur Regierung Menems auszeichnen.

3.c.l.

„All the President's Men": zwischen der Partei der Führungsfigur und der catch-all-Partei

i. Die Ziele des Präsidenten: De la Rüa übernahm das Amt des Präsidenten im Dezember 1999, nachdem seine Allianz aus UCR und Frepaso im ersten Wahlgang einen Stimmenanteil von 48% erzielt hatte. Der Gegenkandidat der PJ Eduardo Duhalde erhielt 38% der Stimmen. Wie schon bei seinen beiden Vorgängern ist auch bei de la Rüas Amtsantritt eine Neuheit auf institutioneller Ebene zu beobachten. Nie zuvor in der Geschichte Argentiniens hatte es eine Koalitionsregierung gegeben. Dazu kommt eine weitere

95

Während die „Zentralisierung der Macht in der Person des Präsidenten" durch die neue Verfassung Maßnahmen wie zum Beispiel die verfassungsrechtliche Anerkennung der Notstands- und Dringlichkeitsdekrete beinhaltet (für die Verabschiedung eines Dekrets ist eine einfache Mehrheit notwendig, um es in Frage zu stellen aber eine Zweidrittelmehrheit), bezieht sich die „Verschiebung der Macht zugunsten des Parlaments" auf folgende Maßnahmen: die Einrichtung des Amts des Kabinettsvorsitzenden, der das Entstehen von Parteikoalitionen in einem mehrparteilichen Kontext anregen soll; die Selbstständigkeit der Stadt Buenos Aires, die somit nicht länger eine weitere Ressource des Präsidenten darstellt; die Direktwahl der Senatoren, drei pro Provinz, zwei für die jeweilige Mehrheit und einen für die Minderheit zur Verstärkung der vertikalen und horizontalen Kontrolle; sowie die Einrichtung des „Colegio de la Magistratura", die den Ernennungsprozess der Richter entpolitisieren soll.

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Neuheit wirtschaftlicher Art. Noch nie hatte Argentinien eine so starke Rezession, verbunden mit einer schweren Finanzkrise, erlebt. Zu der Krise gesellte sich nach der mit Menem gemachten Erfahrung die Forderung der Bevölkerung nach mehr Transparenz in der Staatsfuhrung und eine sozialere, weniger liberale Marktwirtschaft. Vor diesem bis dahin noch nie so dagewesenen Hintergrund stellte de la Rüa seine Ziele auf: 1) Lösung der Steuer- und Finanzkrise, um die Einstellung der Zahlungen zu verhindern und die Situation der Wirtschaft und der Beschäftigung zu verbessern; 2) Festigung der Regierungskoalition und Vermeidung der Entwicklung der Koalition zu einem Problem für die Regierung; 3) Erhöhung der Legitimation durch Ausbau der Autorität durch die doppelte Legitimation interner Wahlen zur Nominiening als Kandidat und allgemeiner Wahlen zur Präsidentschaft. Die Wahlkampagne und die Neuheit einer Koalitionsregierung ließen zwar darauf schließen, dass die Ziele der neuen Regierung wie auch die Menems umfassend sein würden, d. h. die Veränderung des Landes und der Politik beinhalteten — von der Rezession zum Wachstum und von einer alten zu einer neuen Politik - , aber es sollte sich schnell herausstellen, dass der Rhythmus der Veränderung der Wirtschaft hinter dem der Politik zurückstehen musste. Dieser Schritt führte zu Spannungen zwischen den Koalitionspartnern. Die Gradwanderung der Koalitionsregierung bewegte den Präsidenten, sein Programm zu verändern und auf einige wenige „Minimalziele" zusammenzustreichen, was eher dem Rhythmus einer kompetitiven Regierung entsprach. Die neue Regierung zeichnet sich nicht nur durch das Programm des Präsidenten aus, sondern ebenso sehr durch ihr Verhältnis zum Kongress, das heisst sie funktioniert in erster Linie aufgrund der Konkurrenz zwischen den beiden Zweigen der Regierung. Die Minimalziele der Regierung spiegeln die Strategie wider, die die Veränderung des Landes mittels „Brennpunkt" vereint, d. h. die Auswahl von bestimmten Schlüsselproblemen, mit der Veränderung der Politik durch die „Kombination" der Erforschung neuer Institutionen mit der Nutzung der bestehenden, ohne dass ein Faktor den anderen übertrifft. ii. Die Koalition des Präsidenten, Parteitypen und bestehende Alternativen'. Die Regierungskoalition setzt sich aus Parteien unterschiedlicher Art zusammen. Die UCR ging aus der Regierungszeit Alfonsins als verhärtete catch-all-Partei hervor, während die Frepaso sich auf halbem Weg zwischen einer Partei der Führungsfigur, in diesem Fall Alvarez, und einer Par-

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tei der Kandidaten befindet. Das bedeutet, dass die UCR auf institutioneller Ebene leistungsfähiger, disziplinierter, ist - mit dem Risiko, dass ihre Führung zu unabhängig werden könnte - , während die Frepaso aufgrund ihrer Unterinstitutionalisierung keinerlei Disziplin garantieren kann und die Wahrscheinlichkeit ihrer Unabhängigkeit sehr hoch ist.96 Für de la Rüa bedeutet das, dass er einerseits mit der radikalen Form der Nutzung der Institutionen und ihrer Konsequenz, der „Sperrung", und andererseits mit der peronistischen Form der Nutzung der Institutionen und ihrer Konsequenz, der Instabilität, zu kämpfen hat, oder die Alternative der Politik der „kleinen Schritte" wählen kann. Nicht nur war die Situation der Partei zum Amtsantritt de la Rüas noch schlechter als zu Zeiten Alfonsins („Verhärtung" der Partei statt Überinstitutionalisierung und doppelte Führung - Parteivorsitzender und Staatspräsident — statt einer einzigen Führungsfigur, die beide Posten besetzt), sondern darüber hinaus war der Grad an Institutionalisierung des Peronismus niedriger als zu Beginn der Amtszeit Menems und die neu entstandenen Parteien waren ebenso wenig institutionalisiert wie die PJ.97 Vor diesem Hintergrund boten sich de la Rüa also die folgenden Alternativen: 1) „Erforschung" der Leistungsfähigkeit der Koalition innerhalb einer neuartigen Konfiguration, d. h. Angleichung der UCR an die Frepaso und Abbau der „Verhärtung" der radikalen Partei und/oder Angleichung der Frepaso an die UCR und Verstärkung der Institutionalisierung des Koalitionspartners; 2) „Nutzung" der Leistungsfähigkeit der Koalition unter Einführung einer neuartigen Konkurrenz, die den beiden Parteien Bedeutung entzieht, aber gleichzeitig den Handlungsspielraum erweitert und zwar nicht mehr für die Politiker der Koalition — UCR-Parteipolitiker

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Wie hoch die Neigung der Frepaso zur Unabhängigkeit ist, hat sich vor der Regierungsübemahme bei der Abstimmung über die Einberufung eines Volksentscheids zur Wiederwahl Menems in der Stadt Buenos Aires gezeigt. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Provinz von der heutigen nationalen Koalition regiert, mit de la Rüa als Gouverneur und Alvarez als Koalitionspartner. Trotz kritischer Stimmen innerhalb der Koalition, die auf die Annäherung der beiden Politiker an Menem hinwiesen, stimmten die UCR-Abgeordneten geschlossen ab, im Gegensatz zur Frepaso, weswegen die UCR auf die Unterstützung der ND („Neue Führung") angewiesen war (Zeitung Clarin, 19 .03. 1999).

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Einer der Indikatoren für die zunehmende Zersplitterung der Opposition sowie für das Fehlen eines Verhandlungspartners ist die hohe Anzahl von Flügeln und Bereichen innerhalb des Peronismus: Menemisten, Duhaldisten, die Gouverneure der 14 von der PJ regierten Provinzen, die sich wiederum in zwei Gruppen der starken bzw. der schwachen Provinzen aufteilen, Senatoren, Abgeordnete sowie Gewerkschaftler, die sich auch in zwei Gruppen teilen, in Befürworter und Gegner.

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und antiparteiliche Frepaso-Politiker sondern für das Team der parteilosen Politiker um den Präsidenten herum („AH the President's Men"). Wie sich zeigen wird, hat sich de la Rúa für beide Alternativen entschieden, jedoch nicht gleichzeitig, sondern nacheinander. iii. Der institutionelle Rahmen: Von den Regeln, die die politische Konkurrenz bestimmen, ist nur eine nicht konstant, die der aktiven föderativen Präsidentschaft. Andererseits kann der Präsident dieses Jahr mit einer neuen Zusammensetzung des Senats rechnen.98 i'v. Verteilung der Ressourcen: Auf der Ebene der institutionellen Ressourcen fand der Präsident eine „gespaltene Regierung" vor: relative, zersplitterte Mehrheit im Abgeordnetenhaus, Minderheit im Senat. Die Effizienz des gesetzlichen Gebrauchs der Vorrechte wurde damit vollkommen neutralisiert. Auf der Ebene der außerinstitutionellen Ressourcen kann er durch die Verfassungsreform von 1994 mit der Rechtmäßigkeit der Notstandsund Dringlichkeitsdekrete rechnen. Ebenso spricht für ihn der Zerfall des peronistischen Staats mit mehr Pluralismus in der Unternehmerschaft und in den Gewerkschaften. Zu dieser Situation gehört auch eine komplexere Konkurrenzlage, und zwar intern und generell: in der Koalition zwischen Frepaso und UCR, und bezüglich der Präsidentschaftswahlen 2003 gegen die Kandidaten der PJ, die derzeitigen Gouverneure der „starken" Provinzen Córdoba, Santa Fé und Buenos Aires. Und schließlich verfügt der Präsident über einen staatlichen Fernsehkanal, aber hat mit dem Problem der staatlichen Finanzkrise zu kämpfen. Die folgenden Grafik verdeutlicht den Kontext, in dem der Präsident zu operieren hat, um seine Ziele durchzusetzen.

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Die derzeitige Zusammensetzung ist wie folgt: 14 Provinzen haben eine Mehrheit der PJ, 8 eine der Allianz und in 2 Provinzen regiert jeweils eine regionale Partei.

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Ziele des Präsidenten Veränderung der Politik und des Landes: vom Argentinien des Menemismus zum Argentinien der Konkurrenz Verteilung der Ressourcen

Pro Institutionelle Ressourcen

Contra Institutionelle Ressourcen

Koalitionsregierung „Permanente Kampagne" U C R (Catch-all-Partei, verhärtet) Aktive föderative Präsidentschaft Frepaso (zwischen Partei der Führungsfigur „Gespaltene" Regierung und Partei der Kandidaten) Eingeschränkter Gebrauch der gesetzlichen Vorrechte

Außerinstitutionelle Ressourcen Legalisierung der außergesetzlichen Praxis der Vorrechte Pluralistisches Modell im Unternehmerbereich Eingeschränkter Gewerkschaftskorporativismus Staatlicher Fernsehkanal

AuOerinstitutionelle Ressourcen Fehlen kollateraler Strukturen Komplexe Konkurenzlage (innerhalb und außerhalb der Koalition) Erschöpfung der Finanzkraft des Staats

Das Dilemma, dem de la Rúa gegenübersteht, ist dem Menems teilweise sehr ähnlich. Wo Menem vor dem Hintergrund der Krise institutionelle Ressourcen zur Verfügung standen, die er aber aufgrund des Typus seiner Partei nicht nutzen konnte, verfügt de la Rúa vor dem Hintergrund der Zahlungseinstellung über institutionelle Ressourcen, die er ebenso wenig nutzen kann, und zwar nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Muster politischer Herkunft der Parteien, die zur Koalition gehören und wegen der unterschiedlichen Modelle politischer Führung - parteilich bzw. antiparteilich —, sondern weil zwischen den Koalitionspartnern eine sehr komplexe Konkurrenzsituation herrscht: Sie ringen um die selbe Zielgruppe unter den Wählern. Aus diesem Grund besteht das Dilemma des Präsidenten darin, wie er die Verhandlungen über seine Minimalziele führt, angesichts des Risikos, dass sich seine Koalitionspartner im Parlament wegen ihres Bedürfnisses gegenüber der UCR keinen Identitätsverlust einzubüßen und

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sich von ihr abzusetzen zu sehr der Opposition annähern. Dieses Problem ist für eine Regierung, die während des Wahlkampfes versuchte, sich von der Entscheidungsstrategie eines Menem abzusetzen, nur schwer zu lösen. Während des ersten Jahres seiner Amtszeit hat der Präsident versucht, diese Lösung mittels einer Reihe von Schlüsselproblemen der Wirtschaftspolitik innerhalb seiner Minimalziele zu finden. Die Verfolgung dieser Strategie weist in groben Zügen auf die Absicht des Präsidenten hin, die traditionelle Konkurrenzsituation zwischen Präsident und Kongress zu neutralisieren, in dem er die Konkurrenz auf das Verhältnis zwischen Staat und Provinzen verlagert. Die Verhandlungen mit den peronistischen Gouverneuren sind die Konsequenz des Umstands, dass der Kongress nicht die einzige Instanz mit Vetorecht ist. Die Ursache für diese zur kompetitiven Regierung gehörende Vereinigungsstrategie, nach der die institutionelle Konkurrenz minimiert und die föderative Konkurrenz aktiviert wird, liegt in der Tatsache, dass der zur Verfügung stehende Teil des Minimalprogramms von mehreren miteinander konkurrierenden Agenten geteilt werden muss, um den Verhandlungsspielraum des Präsidenten zu erweitern und gleichzeitig den Kern des Programms zu erhalten. Angesichts der Beobachtung, dass sich de la Rüa in der ersten Phase seiner Amtszeit auf Regierungsebene der Strategie der „Einigung" bei gleichzeitiger Einfuhrung einer zusätzlichen Konkurrenz und der Verwendung des Brennpunkt-Ansatzes annähert, sollte als Nächstes untersucht werden, inwiefern der zweite Teil dieser Regierungsformel, die „Kombination" auf der Ebene der Partei ihre Anwendung gefunden hat. Auf der Ebene der Parteiorganisation spiegelt sich eine kompetitive Regierung in der Partei der Kandidaten wider, welche die Auswahl der politischen Elite der Wählerschaft und nicht der Partei überlassen. Das Führungsmuster dieser Parteien ist das der parteilosen Politiker. In diesem Zusammenhang ist die Situation de la Rüas der, die Menem vorgefunden hatte, genau entgegengesetzt, ebenso wie der von ihm benutzte Ausweg. Die Alternativen sind einerseits die Institutionalisierung der Übereinstimmungen zwischen den Koalitionspartnern zur besseren Nutzung ihre gemeinsamen Leistungsfähigkeit im Kongress und andererseits die Deinstitutionalisierung der verhärteten, unkontrollierbaren eigenen Partei, indem sie der Frepaso angeglichen wird, das heisst eine Deinstitutionalisierung in vertikaler Richtung, von der catch-all-Partei zur Partei der Kandidaten und zum parteilosen Politiker. De la Rüa geht diesbezüglich den Menem entge-

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gengesetzten Weg, also nicht Zentralisierung ohne Institutionalisierung, sondern Dezentralisierung ohne Institutionalisierung, oder mit anderen Worten nicht Lateinamerikanisierung, sondern Nordamerikanisierung. In dieser Hinsicht lässt sich das erste Regierungsjahr de la Rüas sogar in drei Etappen unterteilen, die sich drei unterschiedlichen Strategien bezüglich der Parteiorganisation zuordnen lassen. Die erste Etappe reichte vom Amtsantritt im Dezember 1999 bis zum Rücktritt von Alvarez im Oktober 2000 und bestand in der „einfachen Erforschung": Angleichung der UCR an die Frepaso, d. h. Entwicklung der UCR zur Partei der Kandidaten. Die nächste Etappe begann mit dem besagten Rücktritt und endete mit der Abdankung von Santibänez und war durch den Übergang des Präsidenten zur „komplexen Erforschung" gekennzeichnet: Angleichung der Frepaso an die UCR und Minimierung ihrer Unabhängigkeit durch Neutralisierung des Einflusses der antiparteilichen Politiker. Und die dritte Etappe schließlich reichte vom Rücktritt von Santibanez bis zur Ernennung des „Teams des Präsidenten". In dieser Etappe wechselte er von der Erforschung zur „Nutzung" der Leistungsfähigkeit der Koalitionsparteien mittels der Einführung einer zusätzlichen Dimension der Konkurrenz, wodurch die Bedeutung der beiden Parteien minimiert wird: von Parteipolitikem einerseits und Antipartei-Politikern andererseits hin zum Team des Präsidenten, das sich aus parteilosen Politikern zusammensetzt. Die erste Etappe der Strategie der einfachen Erforschung entsprach einem verkleinerten Szenario, das jedoch schon sämtliche Dimensionen der kompetitiven Regierung enthielt. Das deutlichste Zeichen für die vom Präsidenten gewählte Option der Angleichung der UCR an die Frepaso war seine Entscheidung, zu verhindern, dass das Abkommen mit der Frepaso geändert wurde, nach dem ein Frepaso-Kandidat auf Platz eins der Liste für die Wahl zum Bürgermeister von Buenos Aires stehen sollte. Diese „Alianza Portena" in der Hauptstadt ist darüber hinaus ein Zeichen für einen Wechsel in der Beziehung zwischen den Koalitionspartnern im Vergleich zur ursprünglichen Allianz auf nationaler Ebene von 1999, da sie parteilose Politiker in die Koalition aufnahm, wodurch eine frühe Version der Partei der Kandidaten entstand: vereinzelte Kandidaten, die zuvor Anhänger Menems oder Duhaldes gewesen waren, ehemalige Peronisten oder auch ehemalige UCR- oder Frepaso-Politiker, die der Formel folgen, die nach zwei Politikern „Ibarra-Felgueras-Formel" genannt wird und sich auf Politiker bezieht, die ihre politische Laufbahn in den 90er Jahren begonnen hatten und zwar nicht in der Partei, sondern in akademischen Berufen. In dieser

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Etappe fanden auch die härtesten Kämpfe um die Führungsposten innerhalb der Koalition statt. Außerdem war sie dadurch gekennzeichnet, dass Alfonsin Abstand nahm von der IPA und vom Präsidenten, nach dem dieser seine Partei der Frepaso untergeordnet hatte. Vom Rücktritt von Älvarez bis zur Abdankung von Santibanez fand dann die entgegengesetzte Entwicklung statt: „Radikalisierung" der Frepaso, d. h. Angleichung an die UCR und Neutralisierung der Unabhängigkeit des Koalitionspartners. Die ausdrückliche Unterstützung des Präsidenten durch das nationale Parteikommitee der UCR bestätigte diese Entwicklung. Die dritte und bisher letzte Etappe war gekennzeichnet durch die Nutzung der Leistungsfähigkeit beider Koalitionsparteien gemeinsam, indem ihr jeweiliger Protagonismus minimiert wurde. Dieser wurde durch die Effizienz der Politiker ersetzt, die zum Team des Präsidenten gehörten und denen es gelang, Schluss mit den Kämpfen um die Führung zu machen. Dieser Wandel drückte sich in einer Umbesetzung des Kabinetts aus: Wo zu Beginn der Amtszeit de la Rüas wenig UCR-Politiker („Radikale") und viele Politiker anderer Parteien saßen, befanden sich jetzt mehr „Radikale" und das sogenannte Team des Präsidenten. Angesichts der Überlegung, dass die Strategie der Erforschung der Institutionen immer der Koordination der Parteien im Sinne des gewählten Regierungsmodells dienen soll, stellte die Entwicklung zum Modell der Regierung der Partei eine Sackgasse dar. Diese Entwicklung müsste immer auch eine Tendenz zur Kombination diese Modells mit dem der kompetitiven Regierung beinhalten. Aber selbst, wenn diese „gemischte Strategie" durchführbar sein sollte, heisst das noch nicht, dass sie allein mit der Durchfuhrung des derzeitigen Reformprojekts in die Tat umgesetzt werden könnte. Mit Umsetzung der gemischten Strategie ist die Abschwächung des Modells der kompetitiven Regierung durch Aufnahme von Elementen des Modells der Regierung der (starken) Parteien gemeint, denn wie schon in Kapitel 2.c. gezeigt worden ist, verstärkt diese Kombination von Elementen die Strategie der Konkurrenz, statt sie zu schwächen. Die Durchfuhrung der Reform garantiert statt der Umsetzung der gemischten Strategie vielmehr die Maximierung der horizontalen Kontrolle über den Präsidenten und die Verringerung der Fähigkeit des Präsidenten, die Regierung zu einigen. An diesem Punkt wird deutlich, dass von der Definition dieser politischen Reform, egal ob von den neuen postmenemistischen Parteien (mit neutralen offenen, obligatorischen und simultanen internen Wahlen) oder von einer

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Mischform der zwei traditionellen Parteien (mit offenen internen Wahlen für die Führungsriege und geschlossenen internen Wahlen für die restlichen Ämter) ausgegangen wird, nicht nur die Form der Regierung der Partei, sondern auch die Form der kompetitiven Regierung abhängt, ebenso wie die Beantwortung der Frage, ob eine Annäherung an das nordamerikanische System stattfinden wird oder nicht. Hierbei lässt sich allerdings beobachten, dass die Parteien des neuen Typs eine stärkere Neigung zum nordamerikanischen Modell zeigen als die traditionellen. Es darf aber trotzdem nicht vergessen werden, dass das nordamerikanische Muster die Ungleichheit stärker betont, was allerdings durch die Fähigkeit, eine Vielfalt von Interessen nicht parteilich, aber sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich zu integrieren, wieder ausgeglichen wird. Allerdings widerspricht dieses umfassende Modell der derzeit in Argentinien dominierenden Richtlinie des gesellschaftlichen Ausschlusses und ihrer geringen Fähigkeit zur sozialen Vereinigung.

4.

Schlussfolgerungen: von der Regierung der Partei zur kompetitiven Regierung

Existiert eine elektive Verwandtschaft zwischen den verschiedenen Typen der politischen Führung, der Parteitypen und der Formen der Demokratie? Die Absicht des vorliegenden Beitrags bestand in der Formulierung einer positiven Antwort auf diese Vermutung mittels der heuristischen Methode der Beschreibung dreier Regierungsmodelle, mit deren Hilfe es möglich sein sollte, die Reichweite der Parallelen, die diese drei Kategorien aufzeigen, abzuschätzen. Im Rahmen dieser Überlegungen zeigt das folgende Schema die Entwicklung der politischen Institutionen in Argentinien in den Jahren von 1983 bis 2000 unter dem Gesichtspunkt der drei in Kapitel 1 beschriebenen Thesen der Europäisierung, Lateinamerikanisierung und Nordamerikanisierung.

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Carla Carrizo Entwicklung der Institutionen in Argentinien: Präsidenten, Parteien und politische Führung (1983-2000) (Dimensionen des kollektiven Handelns in der Demokratie)

Vertikale Dimension

Horizontale Dimension

Institutionalisierung

Deinsti tu tionalisierung

Institutionalisierung

(A) Europäisierung und Regierung der Partei Partei der Parteiführer und Parteipolitiker Regierung Alfonsin (1983-1989)

(B) Parteienherrschaft und „Kartellpartei" Partei der Parteiführer und „autoreferenzielle" Politiker (Buenos Aires 1983-87)

Deinstitu tionalisierung

(C) Nordamerikanisierung und Regierung der Konkurrenz Regierung de la Rüa (2000) Partei der Kandidaten und parteilose Politiker

(D) Lateinamerikanisierung und Regierung der Führungsfigur Regierung Menem (1989-95/1995-99) Partei der Führungsfigur und antiparteiliche Politiker

Von obigem Schema lässt sich folgendes ableiten: Erstens sind die sich gegenüberstehenden Pole in den Positionen A und D zu finden, die zwei Regierungsmodelle darstellen, die sich sowohl in der horizontalen als auch in der vertikalen Richtung unterscheiden. Zweitens stellen die Positionen A und B zwei Modelle dar, die sich beide auf der Achse der vertikalen Institutionalisierung befinden, sich aber bezüglich der Horizontalen unterscheiden: In A drückt sich die vertikale Institutionalisierung (Belohnung und Bestrafung durch Wahlen) in horizontaler Kontrolle aus, während in B die vertikale Institutionalisierung die horizontale Kontrolle einschränkt und zu einem Modell führt, das von Katz (1995) als „Kartellpartei" bezeichnet wird und sich durch die Symbiose von Staat und

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wird und sich durch die Symbiose von Staat und Partei kennzeichnet (Parteienherrschaft). Drittens stellen die Positionen C und D zwei Modelle dar, die sich beide auf der Achse der vertikalen Deinstitutionalisierung befinden und sich ebenso bezüglich der Horizontalen unterscheiden: In C aktiviert die fehlende Institutionalisierung die horizontale Verantwortlichkeit (formelle Kontrolle der Regierung) auf Kosten der vertikalen Verantwortlichkeit (Belohnung und Bestrafung durch Wahlen), während in D die fehlende Institutionalisierung die Verantwortlichkeit in beiden Richtungen verhindert. Im Rahmen dieser vier Modelle durchlaufen die politischen Institutionen in Argentinien eine Reihenfolge, die sich wie folgt darstellt: von A (1983-89) über die diagonal entgegengesetzte Position D (1989-99) zu C (ab 1999), also zum Modell, das innerhalb der vertikalen Deinstitutionalisierung das kleinere Übel darstellt. In diesem Sinne macht es der heuristische Wert dieser Reihenfolge möglich, mit relativer Deutlichkeit einerseits verschieden geartete Strategien zu systematisieren und andererseits die unerwünschten Auswirkungen der von den Präsidenten gewählten Optionen auf die politischen Agenten und aufs System allgemein einzuschätzen. Mit Hilfe dieser Einschätzung ist es möglich, diese nicht beabsichtigten Nebenwirkungen der politischen Maßnahmen besser vorauszusehen und möglicherweise zu kontrollieren oder sogar zu minimieren. Als Beispiel hierfür sei die Entscheidung des ehemaligen Vizepräsidenten Carlos Alvarez erwähnt, der infolge einer fehlerhaften Diagnose der Situation abdankte, als er das Verhältnis zwischen Präsident und Senat als „Parteienherrschaft" kritisierte. Seine Kritik beinhaltete den Fehler, den negativsten Aspekt des Modells der kompetitiven Regierung zu maximieren. Einerseits betonte er die Konkurrenz zwischen den Institutionen, hier zwischen Präsident und Kongress bzw. Justizgewalt, andererseits betonte er die negativen Folgen eines Aspekts, den dieses Modell gar nicht leisten kann: die Fähigkeit des Wählers, die Arbeit der Parteien und der Politiker in der Regierung zu belohnen bzw. zu bestrafen."

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Dies wird durch die öffentliche Meinung bestätigt: 11,2% der Wähler sehen in Alvarez einen Gegner der Regierung, während er sich selbst als Vizepräsident als ein Teil der Regierung sah. Andererseits missbilligen 39% seinen Rücktritt, weil sie darin eine Vernachlässigung der bei den Wahlen zur Präsidentschaft eingegangenen Regierungsverpflichtung sehen (Zeitung Clarín, 10. 12. 2000).

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5. Anhang

Tafel 1 Entwicklung der Parteimitgliedschaft auf nationaler Ebene 1987-1999 (PJ, UCR, Frepaso) 1987 (*) 1994 1995 19% 1997 1998 1999 3.009.505 3.691.884 3.736.314 1.644.279 3.526.735 2.273.475 3.888.644 P.J. 1.529.468 2.661.999 2.771.405 1.198.294 2.576.158 1.717.401 2.571.096 U.C.R. 58.897 221.087 0 o. Ang. 15.856 27.501 63.139 Frente Grande 0 0 o. Ang. 9.252 o. Ang. 4.980 20.111 PAIS (*) Zeitung Clarin, 22.02.1987 (Carlota Jackisch), a) Daten über die Jahre von 1983 bis 1993 fehlen (vom Innenministerium noch nicht verarbeitet), b) Hier sind nur die Parteien aufgenommen worden, die zu den Präsidentschaftswahlen antraten, c) Hier sind nur die Parteien des Frepaso-Bündnisses aufgenommen worden (Frente Grande und PAIS), da die Daten zu den anderen Parteien in de meisten Provinzen noch nicht verarbeitet sind. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Frepaso 1994 zum ersten Mal zu Wahlen auf nationaler Ebene antrat, anlässlich der Wahlen zur Versammlung zur Verfassungsreform. Quelle: Innenministerium. Tafel: eigene Herstellung.

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Vicente Palermo Wie wird Brasilien regiert? Die Debatte um politische Institutionen und Regierungsführung in Brasilien Der Ausgangspunkt der Debatte Die Analyse der Funktionsweise der politischen Institutionen in Brasilien wird begleitet von einer umfangreichen und komplexen Debatte, in der unterschiedliche Interpretationen eine wichtige Rolle spielen. Die verschiedenen Untersuchungen offenbaren deutliche Meinungsunterschiede, wenn es darum geht, die Art der Formulierung und Umsetzung von politischen Entscheidungen in der gegenwärtigen brasilianischen Demokratie zu deuten. Der hier vorliegende Beitrag möchte diese Debatte wiedergeben und gleichzeitig einen konzeptionellen Rahmen beschreiben, der dazu dienen soll, die Vorgänge auf der Regierungsebene zu verstehen, insbesondere die Entscheidungsprozesse im Bereich der Wirtschaftspolitik, der Wirtschaftsorganisation und der staatlichen Strukturreformen.1 Glücklicherweise ist die bestehende Kontroverse aus zwei Gründen übersichtlich: erstens, weil sämtliche Beteiligten von denselben grundlegenden Fragestellungen und konzeptionellen Voraussetzungen ausgehen und zweitens, weil es eine gemeinsame Grundlage in Form einer grundlegenden Übereinstimmung bezüglich der Analyse und Interpretation gibt. Die grundlegenden Fragestellungen folgen im Wesentlichen den klassischen Richtlinien der politischen Analyse und zielen auf zwei Punkte: die politischen Institutionen und die Regierungsfuhrung. Wie konzentriert oder zerstreut ist die Macht der Regierung bei Entscheidungsprozessen unter Berücksichtigung der geltenden formellen und informellen Spielregeln, und wie groß ist die tatsächliche Fähigkeit der Regierung, Entscheidungen zu Mein Dank gilt den Kommentaren und Vorschlägen von Octavio Amorim Neto, Mariana Llanos, Ana Maria Mustapic, Francisco Panizza, Celina Souza und Juan Carlos Torre zu der früheren Version dieses Beitrags.

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treffen und diese umzusetzen? Der erste Punkt, die Beschreibung der Funktionsweise der Institutionen, muss unter analytischen Gesichtspunkten abgehandelt werden: Welche Einrichtung verfügt über welche Macht unter Anwendung welcher Regeln? Der zweite Punkt hingegen spielt auf die Entscheidungen an, die eine Regierung bei Anwendung dieser Regeln trifft, und muss daher auf einer Grundlage behandelt werden, die im Wesentlichen empirischer Natur ist. Die zwei erwähnten Bereiche stellen die Parameter der Kontroverse dar. Allerdings besteht bei der Analyse des Grundmusters des politischen Systems vollständige Übereinstimmung darüber, dass es präsidial und föderativ ist. Mit derselben Einstimmigkeit wird die Zersplitterung des Systems der politischen Parteien anerkannt. Diese drei Punkte bilden die zentralen Elemente der Spielregeln, nach denen das brasilianische politische System funktioniert und die einen deutlichen Einfluss auf die Regierungsführung haben. Jeder dieser Punkte soll zunächst im Einzelnen betrachtet werden.

Das Präsidialsystem Das Präsidialsystem ist der erste institutionelle Parameter. Brasilien war eines der wenigen Länder Lateinamerikas, in dem die Diskussion um die Art des Regimes nach dem Ende der Phase der autoritären Regierungen in den siebziger und achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts eine hohe politische Dichte erreichte und die Verfechter des Parlamentarismus mit der entschiedenen Unterstützung wichtiger Parteien rechnen konnten; dennoch sprachen sich die Wähler in der Volksabstimmung von 1993 mit knapper Mehrheit für die Beibehaltung des Präsidialsystems aus. Nach Shugart (1992) und Sartori (1994) spielen in einem Präsidialsystem die folgenden Eigenschaften eine Rolle: die Wahl des Regierungschefs durch das Volk; die Mandate der Exekutive und Legislative sind auf einen bestimmten Zeitraum festgelegt und hängen nicht vom gegenseitigen Vertrauen ab; die Regierungsmitglieder werden vom Regierungschef ernannt; der Präsident besitzt durch die Verfassung festgelegte gesetzgeberische Befugnisse. Daraus lässt sich ableiten, dass das grundlegende politische Problem eines Präsidialsystems weniger von der Gewaltenteilung abhängt als von der Zusammenarbeit der Institutionen, denn sowohl die Legislative als auch die Exekutive verfugen über gesetzgebende Kompetenzen. Das bedeutet, dass

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die verschiedenen Gewalten auf eine Art und Weise zusammenarbeiten müssen, die die Verabschiedung von Gesetzen möglich macht. Es ist folglich von großer Bedeutung, wie und wann die anderen Elemente des politischen Systems Brasiliens, der Föderalismus und die Struktur des Parteiensystems, das grundlegende politische Problem des Präsidialsystems beeinflussen. So wie auch in den meisten anderen Ländern Lateinamerikas verfügt der Präsident in Brasilien gegenüber dem Kongress über umfangreiche gesetzgeberische Befugnisse (Mainwaring/Shugart 1997). Besonders seit der Verfassung von 1988 (Mainwaring 1997) besitzt der Präsident weit reichende „proaktive" Befugnisse, die ihm die Initiative in verschiedenen Bereichen zugestehen. 2 Aber nicht nur in Bezug auf die Gesetzgebung, sondern auch bezüglich der Verwaltung und der Ernennung hoher Beamter hat der Präsident eine sehr mächtige Stellung (Almeida 1998, Limongi 1998, Monteiro 1997, Pessanha 1997, Power 1998, Santos 1999a, Panizza 1999).

Der Föderalismus Obwohl der brasilianische Föderalismus auf einer langen Tradition starker Regionalregierungen (hinsichtlich Finanzressourcen, Verwaltungsstruktur des Staates und Organisation der Parteien) im Vergleich zur Zentralregierung aufbaut, was besonders die República Velha kennzeichnete, änderte sich dieses Verhältnis im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Zur Zentralisierung der Macht trugen vor allem die Jahre des Varguismo (Präsident Getülio Vargas, 1930-1945) bei, die einhergingen mit dem Aufbau eines modernen Staates und der entsprechenden Bürokratie (Gouvéa 1994). Das Vermächtnis der späteren Militärregierungen ist im Gegensatz dazu zwiespältiger. Einerseits versuchten sie zwar der Zentralisierung eine institutionelle staatliche Grundlage zu verschaffen und hatten dabei auch weitgehend Erfolg, aber gleichzeitig führte ihr Bestreben nach Legitimation zur Zusammenarbeit mit den lokalen Eliten, was wiederum den Ausbau der politischen und ökonomischen Macht dieser Gruppen zur Folge hatte. Politische Gruppie-

Der Präsident verfügt auch über „reaktive" Befugnisse, allen voraus das Vetorecht des Präsidenten; diese sind jedoch weniger wirkungsvoll, da sie durch eine einfache Mehrheit im Kongress gestoppt werden können.

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rungen auf der Ebene des Bundesstaates waren dann die wichtigsten Protagonisten des Transformationsprozesses, so dass in der jüngsten Zeit Demokratisierung praktisch mit der Dezentralisierung der politischen Macht gleichgesetzt wurde. Daher wurde der Föderalismus mit der Demokratisierung ab 1985 besonders betont (Abrucio 1994). Entsprechend spiegelt die Verfassung von 1988 diese Veränderung des Verhältnisses zwischen dem Präsidenten und den Bundesstaaten wider (Mainwaring 1997). So legt sie zum Beispiel substantielle finanzielle Transferleistungen vom Zentralstaat an die Bundesstaaten und Gemeinden fest (Kinzo 1999, Souza 1998). Nur in wenigen Ländern steht den Lokal- und Regionalverwaltungen ein so großer Anteil der Steuereinnahmen zu wie in Brasilien (Dain 1995). In der Literatur besteht eine vollkommene Übereinstimmung bezüglich der Bedeutung des Föderalismus für die Gesamtheit der politischen Institutionen Brasiliens (Couto 1997, Mainwaring 1997, Souza 1998, Stepan 1999, Kinzo 1999, u. v. a. m.). Im Vergleich zu den anderen drei lateinamerikanischen Fällen Argentinien, Mexiko und Venezuela hält Mainwaring den brasilianischen Föderalismus für den „robustesten" (1997). Seiner Meinung nach ist der Föderalismus ein wichtiges Element der Kontinuität zwischen der demokratischen Regierung vor 1964 und der Gegenwart und beeinflusst die Funktion des Präsidialsystems maßgeblich.

Das Parteiensystem Das brasilianische Parteiensystem leidet an einer starken Zersplitterung. Vielleicht gibt es hier sogar mehr Parteien als in jedem anderen Land der Erde (Nicolau 1996).3 Zu dem Problem der Zersplitterung kommt das der Instabilität und Schwäche (Kinzo 1999, Panizza 1999, u. v. a. m.). Die Parteienlandschaft ist starken und schnellen Veränderungen ausgesetzt. Die Zusammensetzung des Parlaments verändert sich praktisch jeden Monat. Die Zersplitterung und die Veränderlichkeit machen es den Wählern schwer, die Parteiprogramme zu identifizieren und voneinander zu unterscheiden. Die Politiker wechseln häufig die Parteizugehörigkeit oder bilden 3

Im Kongress sind derzeit zwanzig Parteien vertreten, davon sind acht wirklich relevant. Das komplexe Wahlsystem besteht aus einer Verbindung von Verhältniswahlrecht und offenen Listen mit der Möglichkeit, Bündnisse zu schließen (Kinzo

1999).

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kurzlebige Koalitionen, so dass die Parteien nicht in der Lage sind, eine Identität zu entwickeln (Kinzo 1999). Die politische Kultur wird darüber hinaus von „antiparteilichen" Elementen beherrscht (Fausto 1995). Dazu kommt, dass praktisch alle Parteien, obwohl sie im gesamten Land repräsentiert sind, eine ausgeprägte „Regionalisierung" aufweisen, wodurch ihre Machtbasis (hinsichtlich Organisation und Wählerschaft) sehr unregelmäßig über das Land verteilt ist (Nicolau 1996). Die Schwäche der Parteien beruht im Wesentlichen darauf, dass ihre grundlegenden Elemente noch sehr ungenau definiert sind: geringe Verankerung in der Wählerschaft, geringe Identifikation der Wähler mit den Parteien, organisatorische Schwäche (mit Ausnahme der Arbeiterpartei — Partido dos Trabalhadores —, die über eine starke Parteiführung verfiigt, in der aber die Parteimitglieder und Anhänger nur geringe Partizipationsmöglichkeiten haben). In praktisch allen Fällen handelt es sich um catch-all-Paiteien mit klientelistischen internen Organisationen. In Verbindung mit anderen Regelungen wie dem derzeitigen Wahlsystem führen alle diese Eigenschaften dazu, dass die brasilianischen Parteien sehr indiszipliniert sind. Bis vor kurzem gab es breite Übereinstimmung darüber, dass das Verhältnis zwischen den Staatsgewalten durch ein Konfliktmuster bestimmt sei. Manche Analysen gehen davon aus, dass sich eine Reihe bestimmter grundlegender institutioneller Eigenarten zu einer Konfliktsituation zusammenfügen, die zu einer gewissen Regierungsunfähigkeit führt, das heißt, zu einer Situation, in der Entscheidungen und Veränderungen extrem schwierig sind. Eine andere Sichtweise, die in den Massenmedien sowie in der öffentlichen Meinung stark vertreten ist, meint, der Präsident wolle das Land zwar modernisieren, doch seien ihm durch einen konservativen Kongress die Hände gebunden; der Präsident versuche daher, das Allgemeininteresse gegen die sich gegenseitig im Kongress bekämpfenden Einzel-, Lokal- und Privatinteressen zu verteidigen. Schon der damalige Präsident Sarney habe anlässlich der Verabschiedung der Verfassung 1988 vorausgesagt, dass eine solche Konfliktkonstellation das Land unregierbar machen würde.

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Erster Erklärungsansatz: Zerstreuung der Entscheidungsgewalt und Probleme der Regierbarkeit Diejenigen, die Brasilien für unregierbar halten, verweisen in erster Linie auf die grundlegenden institutionellen Muster, die dem politischen Regime seine Form geben. Viele Analysen, die sich dem politischen System Brasiliens widmen oder dieses mit anderen Systemen vergleichen, kritisieren es aufgrund seiner Unfähigkeit hinsichtlich der Entscheidung und Durchsetzung politischer Maßnahmen, die das Land schwer oder sogar unregierbar mache (Lamounier 1994, Mainwaring 1991 und 1997, Sartori 1994, Mainwaring/Shugart 1997, Shugart 1992). In vielen vergleichenden Studien taucht Brasilien als Extremfall auf: „eines der ineffizientesten Systeme" (Mainwaring 1997), „Extremföderalismus" (Stepan 1999), etc. Für viele Beobachter liegt der Grund für die Probleme, die sich bei der Konsolidierung der Demokratie bemerkbar machen, in eben dieser Ineffizienz (Stepan 1999). Eine Reihe institutioneller Faktoren spielten nach dieser Betrachtungsweise zusammen und trügen dazu bei, „die Macht innerhalb eines zersplitterten politischen Systems noch weiter zu zerstreuen" (Mainwaring 1997). Es herrsche ein „übertriebener Konsoziativismus" innerhalb des politischen Systems, sozusagen eine verschwörerische Zusammenarbeit der Beteiligten aufgrund der Verbindung zwischen Zersplitterung der Parteien und Disziplinlosigkeit im Parlament, wodurch das System eher dazu neigt, sich durch Vetos zu blockieren als Entscheidungen zu treffen. Die zentralen Elemente dieser Interpretation drehen sich um die angesprochenen Dimensionen (Präsidialsystem, Föderalismus und Parteiensystem) als den entscheidenden Faktoren, die sich maßgeblich auf die Eigenschaften des Entscheidimgsprozesses auswirken. Eine erste Annäherung setzt den Regimetyp in Beziehung zum Wahlsystem. Das Präsidialsystem bringt diesbezüglich seine spezifischen ernsten Probleme mit sich: Die Regierung benötigt die Unterstützung durch das Parlament im Rahmen eines Systems, das dafür nicht besonders viele institutionelle Anreize anbietet (Mainwaring 1991, Lamounier 1991). Diese Probleme werden noch verstärkt durch das Wahlsystem mit Verhältniswahlrecht und offenen Listen (im Allgemeinen als schlechteste Lösung angesehen, siehe Lijphart 1994, Jones 1995), wodurch ein Mehrparteiensystem gefordert wird. Ebenso negativ wirkt sich in diesem Zusammenhang der Föderalismus aus (Kinzo 1999).

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Die am weitesten verbreitete Interpretation stellt die föderative Struktur des brasilianischen Staates als Extremfall dar, als „Zentrifugalföderalismus". Nach Mainwaring (1997) vermehrt ein starker Föderalismus die durch die Zersplitterung der Parteien entstandene Zerstreuung der Macht. In einer komparativen Studie zum Föderalismus bewertet Stepan (1999) die politischen Institutionen Brasiliens als Extrem auf der Skala der Demokratie einschränkenden Fälle. Im Allgemeinen besteht Übereinstimmung bezüglich der Schwierigkeiten, die die Verfassung von 1988 mit sich brachte, als sie das Verhältnis zwischen der Zentralregierung und den Bundesstaaten mit der Absicht der Stärkung des Föderalismus änderte (Mainwaring 1997). Der Transfer von Finanzmitteln des Zentralstaats an die Bundesstaaten und Gemeinden führte zu neuen Unstimmigkeiten, da die Maßnahme nicht von der entsprechenden Neudefmition der Verwendung der Gelder auf den drei Verwaltungsebenen begleitet wurde. So schuf die neue Verfassung Grauzonen, indem sie Zuständigkeiten im Bereich des Gesundheitswesens, der Bildung und des Wohnungsbaus neu verteilte, diese aber auf keiner der drei Ebenen konkret definierte (Kinzo 1999). Die Umverteilung von Steuermitteln durch die Verfassung, ohne die Zuständigkeiten geklärt zu haben, entspricht einer „ungewöhnlichen Dezentralisierung: automatische Verteilung großer Summen, fehlende Zweckgebundenheit, Besteuerungsmechanismen auf regionaler Ebene und mangelnde Definition der Zuständigkeiten" (Willis 1999). Die Stärke des Föderalismus wird außerdem in Brasilien durch die Eigenart des Parteiensystems nicht gerade gemäßigt. Ganz im Gegenteil beziehen die Parteien historisch gesehen ihre Stärke über die regionalen Machtzentren aufgrund der Kooperation mit den lokalen Eliten (Murilo 1993). Im Laufe der Zeit haben sich die Hochburgen der verschiedenen Parteien bezüglich ihrer Wählerschaft noch akzentuiert. Aus diesem Grund ist häufig zu beobachten, dass sich die einzelnen Parlamentarier eher ihrem Bundesstaat verpflichtet fühlen als einer Partei oder nationalen Zielen (Mainwaring 1997, Abrucio 1997). Folglich haben die Gouverneure der Bundesstaaten einen sehr großen Einfluss auf die Abgeordneten (Kinzo 1999). Die zitierten Autoren meinen, die verfassungsmäßigen Befugnisse des Präsidenten seien sehr weitreichend und die Merkmale des Parteiensystems führten dazu, dass der Einfluss der Parteien eher schwach sei (Mainwaring

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1997). Dies liege an der Zersplitterung des Parteiensystems ebenso wie an ihrer Disziplinlosigkeit. Die Zersplitterung, Instabilität, Schwäche und Disziplinlosigkeit des brasilianischen Parteiensystems wird allgemein betont. Das Parteiensystem wird folglich als unterentwickelt (Mainwaring 1993 und 1997) und ungefestigt (Kinzo 1999) angesehen. Die bereits angesprochene Regionalisierung der Parteien macht sie darüber hinaus sehr anfällig für lokale und bundesstaatliche Forderungen. Mainwaring vertritt die Meinung, dass sowohl die Parteien als auch die Politiker „hyperfoderativen" Strategien folgten, das heißt, die nationalen politischen Parteien seien größtenteils noch immer nichts weiter als Vereinigungen der Parteien auf Bundesstaatsebene (1997). Als catch-all-Yaxteiea seien sie von dem gleichen hohen Grad der Spaltung der Gesellschaft betroffen und litten an Disziplinlosigkeit. Die Politiker wiederum seien zu sehr gezwungen, sich mit lokalen und bundesstaatlichen Angelegenheiten zu beschäftigen und folglich weniger dazu geneigt, den Richtlinien der nationalen Führung der Partei zu folgen. Konsequenz aus all dem ist die Zersplitterung der nationalen Macht. Bundesstaatlichen und lokalen politischen Programmen wird der Vorzug vor bundesweiten Angelegenheiten gegeben. Quer durch alle politischen Parteien gibt es Gruppen, die bundesstaatliche anstatt nationale Interessen vertreten. Die Bundesstaaten und Gemeinden können die Effizienz der nationalen Regierung beeinträchtigen. Die Bürgermeister und Gouverneure verfügen gegenüber der Bundesregierung über Macht, Einfluss, Mittel und Unabhängigkeit (Mainwaring 1993 und 1997) und sind dazu in der Lage, die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung stark einzuschränken (Stepan 1999). Aufgrund ihres Einflusses auf die Parlamentarier ihrer Partei können die Gouverneure die Absichten des Präsidenten entweder behindern oder unterstützen (Abrucio 1994) und besitzen mittels ihrer Vetomöglichkeiten eine bedeutende Machtposition (Abrucio 1994, Kinzo 1999). Die auf Konzentration ausgerichteten Befugnisse des Präsidenten sind nur ein schwacher Ausgleich für die mächtigen Faktoren der Zersplitterung. Mainwaring fasst dieses ungleiche Verhältnis wie folgt zusammen: „Die weit reichenden Rechte des Präsidenten kompensieren die von der Beschaffenheit der anderen Institutionen verursachte Zersplitterung nur teilweise" (1997).

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Der Präsident hat als Regierungschef bekanntlich das Recht das Kabinett zusammenzustellen. Die Regierung ist somit vom Präsidenten abhängig und nicht von der Partei oder Parteienkoalition. Das Recht zur Ernennung von Amtsträgern ist in Brasilien von großer Bedeutung, aber andererseits braucht die Regierung die Unterstützung des Parlaments. Der Präsident muss also hohe Ämter und umfangreiche Ressourcen anbieten, um sich diese Unterstützung zu sichern. Wenn ein Präsident dieser Strategie folgt und einen Platz in seinem Kabinett einer Partei anbietet, kann es passieren, dass die nationale Parteiführung ihm als Gegenleistung ihre Unterstützung gewährt, nicht aber die Führung der verschiedenen Bundesstaaten der selben Partei. Wenn die Parlamentarier dieser Partei sich mehr ihrem jeweiligen Staat verpflichtet fühlen als der nationalen Parteiführung, sieht sich der Präsident gezwungen, auf deren Forderungen mit lokalem oder bundesstaatlichem Bezug einzugehen und weniger auf die zentrale Führung, um eine parlamentarische Mehrheit zu erreichen (Loureiro 1999). Aufgrund dieser Merkmale des Parteiensystems ist der Präsident in der Regel von einer informellen Parteienkoalition abhängig oder bildet in Ausnahmefällen eine Minderheitsregierung. Die Koalitionen leiden meist unter der starken Zersplitterung der Parteien untereinander sowie unter der Zersplitterung als Folge der Regionalisierung. In der Regel ist eine solche Situation daher entsprechend enttäuschend, denn der Präsident muss beide Faktoren ständig im Auge behalten, um die Gefahr eines Vetos abzuwenden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Kombination aus Schwäche der Parteien (Vielfalt, Disziplinlosigkeit, Parteiwechsel) und „Zentrifugalföderalismus" den Präsidenten dazu zwingt, eine heterogene, schwer zu kontrollierende und ineffiziente Regierung zu bilden, um sich einer dauerhaften Unterstützung des Kongresses zu vergewissern. Die Bildung einer Koalition bedeutet häufig, jeden einzelnen Abgeordneten individuell zu überzeugen, indem ihm ein hoher Posten oder Ressourcen versprochen werden (Mainwaring 1997). Aufgrund der Eigenschaften der catch-all-Parteien und der Disziplinlosigkeit bringt eine Mehrparteienkoalition aber immer auch das Risiko mit sich, dass „die Unterstützung durch die Politiker nicht länger anhält als die Popularität des Präsidenten; sobald seine Beliebtheit nachlässt, bekommt er Schwierigkeiten, die notwendige parlamentarische Mehrheit für seine Projekte zu erreichen" (Mainwaring 1997).

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Auf einer allgemeineren Ebene erscheint die Koalitionsbildung aufgrund der erwähnten Zersplitterung des Parteiensystems und wegen des starken Föderalismus nicht als eine effiziente Lösung im Rahmen eines präsidialen Regimes (Kinzo 1999, Jones 1997). Aufgrund des Umstands, dass „es in einem Präsidialsystem keine formellen Mechanismen zum Erreichen von effizienten Koalitionsabkommen gibt, wie zum Beispiel der kollegiale Charakter des Regierungskabinetts oder der Misstrauensantrag, wie sie in parlamentarischen Systemen vorgesehen sind" (Mainwaring 1993),

neigen die Parteienkoalitionen in einem Präsidialsystem zwangsläufig eher dazu, instabil zu sein. Die Kombination der formellen Rechte und informellen Werkzeuge, die dem Präsidenten zum Zwecke der Koalitionsbildung zur Verfugung stehen, ist nicht dazu in der Lage, diese strukturellen Schwierigkeiten, die im Fall Brasiliens besonders deutlich auftreten, auszugleichen. Die hier vorliegende Interpretation der Funktionsweise der politischen Institutionen Brasiliens zeigt ein konfliktreiches Gegeneinander von Regime und Parteiensystem anstatt der koordinierten Zusammenarbeit, wie sie in einem parlamentarischen System vorzufinden ist: „In parlamentarischen Systemen sind Koalitionsregierungen im Fall eines zersplitterten Parteiensystems notwendig. (...) Die Zersplitterung verstärkt die Instabilität des Kabinetts, aber verhindert nicht unbedingt die Zusammenarbeit beim Treffen von Entscheidungen. (...) Der Fall Brasilien ist anders. (...) Die Dynamik der Koalitionsregierung in einem Präsidialsystem ist nicht unbedingt die Konsequenz der Zusammenarbeit zwischen Parteien und Regierung wie es im Parlamentarismus der Fall ist" (Kinzo 1999).

Die Bildung einer Koalition im präsidialen System ist zum Erreichen der Mehrheit notwendig, aber löst nicht endgültig das Problem, sondern erhält den Konflikt aufrecht und reproduziert ihn. Angesichts des hohen Grads der Zersplitterung im Parteiensystem Brasiliens ist eine einheitliche Regierung als Wahlergebnis undenkbar, aber andererseits herrscht auch keine typische Situation einer gespaltenen Regierung vor, denn es gibt keine oppositionelle Mehrheit im Kongress. Folglich wird versucht, „mittels der für den Parlamentarismus typischen Mechanismen eine Regierungskoalition zu formieren, mit der Hoffnung, dass auf diese Weise eine Beziehung der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Präsident und Kongress aufgebaut werden kann (...), aber im Kontext eines Präsidialsystems ist eine Koalition etwas anderes als eine Parteienkoalition, die ein Kabinett

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in einem parlamentarischen System stellt (...) und sie unterscheidet sich auch von einer Einheitsregierung nach nordamerikanischem Muster, denn selbst als Mitglieder einer Koalition verlieren die spezifischen Ziele der einzelnen Parteien nie vollkommen ihren Einfluss auf die Haltungen und Strategien der Beteiligten. Angesichts dieses Panoramas zeigt sich, dass die Situation in Brasilien der einer gespaltenen Regierung ähnlicher ist als der einer einigen Regierung, und dass zwischen Kongress und Regierung eine Dynamik des Konflikts herrscht, die auf gegenseitigen Drohungen aufbaut. Als Konsequenz einer solchen Situation ist die Aussicht auf politische Veränderungen sehr gering und der Prozess der Verfassungsreform gestaltet sich als äußerst schwierig. Vielmehr wird häufig die Alternative der provisorischen Maßnahme als einzig durchführbarer Schritt zur Veränderung und Reform gewählt."

Die Situation des politischen Systems in Brasilien lässt sich mit Machtzerstreuung und Unregierbarkeit (das heißt, extreme Schwierigkeiten während der Entscheidungsprozesse und Durchsetzung der Beschlüsse) beschreiben. Mainwaring (1997) schreibt: „Zwischen 1985 und 1994 führte die Kombination von extremer Zersplitterung des Parteiensystems, Disziplinlosigkeit, fehlender Parteitreue, Präsidialsystem und Zentrifugalfoderalismus zur Instabilität der demokratischen Regierungen und zur Unmöglichkeit, eine Reform des Staates durchzuführen. Diese Eigenschaften der politischen Institutionen beschränkten die Fähigkeit der Präsidenten zur Ausfuhrung von durchgreifenden Reformen

Die Unregierbarkeit lässt sich am Misserfolg der verschiedenen Versuche zur Bekämpfimg der Inflation ablesen (Lamounier 1994; Lamounier/Bacha 1994). Dieser Misserfolg in Bezug auf die Stabilisierung, Anpassung und Reform wird in erster Linie auf die Eigenschaften des Systems der Institutionen zurückgeführt (Lamounier, Mainwaring, Stepan). Ein gängiges Problem dieser Art von Studien ist die Bewertung der Effizienz der Regierungsmaßnahmen. Denn wenn sich seit 1994 keines der wesentlichen Merkmale der Institutionen geändert hat, wie konnte sich dann der politische Prozess in dieser Zeit ändern, und noch dazu auf so drastische Art und Weise? Vor einem unveränderten institutionellen Hintergrund sind nämlich seit 1994 zwei bedeutende Neuerungen hinsichtlich der Regierungsmaßnahmen eingetreten (Palermo 1998).4 Die erste besteht in der erreichten Stabilisierung und den durchgeführten Reformen und die zweite 4

Zur Analyse der ersten Legislaturperiode des Präsidenten Fernando Henrique Cardoso hinsichtlich der Regierbarkeit, siehe Faucher (1998).

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in der relativ hohen Stabilität der Regierungskoalition. Diesbezüglich kann ein Hinweis auf die Erfahrung von 1999 nützlich sein: In jenem Jahr sank die Popularität des Präsidenten Fernando Henrique Cardoso erheblich, aber der Rückhalt der Koalition blieb bestehen (lediglich der Rhythmus der Reform ging etwas zurück; Palermo/Gomes 2000). Demnach existiert ein schwerwiegendes analytisches Problem bei der Interpretation, wonach die Zerstreuung der Entscheidungsfähigkeit in Brasilien die Regierbarkeit verringert. Es wird deutlich, dass diese Interpretation den politischen Prozess nicht auf befriedigende Art und Weise erklären kann. Angesichts dieses analytischen Problems sollen zwei weitere Interpretationsansätze vorgestellt werden, denen gemeinsam ist, dass sie davon ausgehen, dass der Präsident doch über eine gewisse Entscheidungsfähigkeit verfügt.

Zweiter Erklärungsansatz: Konzentration der Entscheidungsgewalt und Unregierbarkeit Diese zweite Interpretation steht in sehr enger Beziehung zum vorhergehenden Ansatz, so dass manche Beobachter die beiden Interpretationen als die zwei Seiten derselben Medaille ansehen. So wird erneut von der Konfliktsituation bezüglich der Zusammenarbeit der Staatsgewalten ausgegangen, von den selben Merkmalen der politischen Institutionen und der selben Struktur des Parteiensystems. Der Unterschied besteht jetzt darin, dass der Präsident angesichts des extremen Risikos der Entscheidungslähmung seine spezifischen Rechte voll nutzt (wobei diese von unterschiedlichen Beobachtern mit verschiedenen politischen Faktoren in Verbindung gebracht werden). Dadurch gelingt es dem Präsidenten, in seinem Amt Macht zu konzentrieren, allerdings in dem Sinne, dass gleichzeitig andere politische Akteure vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen werden. Der Preis, der hierfür gezahlt werden muss, ist äußerst hoch. Einerseits wird das System der Repräsentation beeinträchtigt und somit auch die Demokratie schlechthin (aufgrund des damit verbundenen ständigen Risikos, dass die verfassungsmäßigen Spielregeln gebrochen werden könnten). Und andererseits ist diese Lösung doch immer nur eine vorübergehende, denn früher oder später werden sich die vom Entscheidungsprozess Ausgeschlossenen am Präsidenten dafür rächen, was wiederum zwangsläufig erneut zu einer Situation der Unregierbarkeit führen muss.

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Das zentrale Element dieses zweiten Erklärungsansatzes ist die weit reichende Nutzung der umfassenden Befugnisse hinsichtlich Gesetzesinitiativen, der Verwaltung und der Ämtervergabe, über die der Präsident verfugt. Angesichts eines derart starken Pols auf einer Seite (in der Person des Präsidenten) und einem hohen Grad an Zersplitterung auf der Gegenseite, die jedoch über Vetorechte verfugt (Kongress, Bundesstaaten und Parteien), sieht sich der Präsident einer Situation gegenüber, die geradezu einlädt, die zur Verfugung stehenden Ressourcen einzusetzen, um die politischen Gegner auszuschließen. Genau dies ist den Präsidenten seit 1985 gelungen, indem sie „Dekrete" erlassen. Diese Dekrete zur Verabschiedung von „provisorischen Maßnahmen" in fast allen Bereichen der staatlichen Politik sind zur üblichen Methode der Gesetzgebung unter praktisch vollständigem Ausschluss der Staatsgewalt der Legislative geworden.5 Viele Beobachter sind der Meinung, dass nicht die verfassungsmäßige Einfuhrung von „provisorischen Maßnahmen" an sich, sondern vielmehr die äußerst effiziente Anwendung dieser Methode durch die Präsidenten seit 1985 eine Machtüberschreitung der Exekutive auf Kosten des Kongresses darstellt, um Letzteren zu unterdrücken (Diniz 1997, Monteiro 1997, Santos 1999a, Pessanha 1997). Das bedeutet, dass die gesetzgebenden Aktionen des Präsidenten als eine Maßnahme zur Zentralisierung der Entscheidungsmacht und zum Ausschluss der anderen Institutionen zu verstehen sind: „Brasilien ist ein Extremfall (...) komplexer Entscheidungsprozesse vor dem Hintergrund der hochgradigen politischen Zersplitterung. (...) Das Endergebnis entspricht nicht den Erwartungen. (...) Das erwartete Ziel wird nur selten erreicht, nämlich wenn die Exekutive gesetzgebende Maßnahmen anwendet, die ihr die Zentralisierung der Entscheidungsgewalt garantieren" (Kinzo 1999).

Auf diese Weise erhöht sich das Konfliktrisiko erheblich, denn das ständige Erlassen von „provisorischen Maßnahmen" stellt den Kongress vor das DiPessanha (1999) fuhrt diesbezüglich aus: „Die Möglichkeit der Einführung ständig neuer Auflagen der provisorischen Maßnahmen durch die Exekutive ermöglicht deren lange Lebensdauer, ohne dass der Kongress die Möglichkeit hat, sich über sie zu beraten. Während der Regierung des Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1994-1998) sind insgesamt 135 neue provisorische Maßnahmen eingeführt worden, die insgesamt 2179 Neuauflagen nach sich zogen. Von diesen wurden nur ganze 122 vom Kongress bestätigt (in gemeinsamer Sitzung der Abgeordnetenkammer und des Senats)."

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lemma, entweder eine Funktionsweise der Exekutive als normal zu akzeptieren, die sich jeder institutionellen Kontrolle entzieht, oder sich dagegen zu wehren. Die Art und Weise, in der sich Brasilien, wenn es notwendig ist, den Beschränkungen (speziell denen, die sich vom Föderalismus und von den Merkmalen des Parteiensystems ableiten lassen) entzieht, besteht in der „Delegation" der Vollmachten - nach der ¡Definition von O'Donnell (1994) —, das heißt im Erlass von Dekreten, die mit Unterstützung der Bevölkerung rechnen, aber von Minderheiten innerhalb der Institutionen blockiert werden können (Stepan 1999). Dieser Fall tritt laut manchen Autoren, wie zum Beispiel Kinzo (1999), ein, wenn ein Präsident ohne Partei und/oder ohne bedeutenden Rückhalt im Parlament (wie zum Beispiel Collor) gewählt wird: „Im Fall einer gespaltenen, von Konkurrenz gezeichneten Regierung, stehen dem Präsidenten Mittel zur Verfügung, die von der Zentralisierung der Macht (im Fall der USA begrenzt) bis zur direkten Berufung auf die öffentliche Meinung reichen."

Es ist einzusehen, dass in einem politischen System mit Präsidialregime, das gleichzeitig von starken „proaktiven" Befugnissen und ebenso starken institutionellen Einschränkungen gekennzeichnet ist, eine Regierung, die über eine breite Unterstützung von Seiten der Bevölkerung verfugt (und nicht über eine parlamentarische Mehrheit), dazu neigt, ihre Möglichkeiten zum Ausschluss der Kontrahenten zu nutzen, um gewisse Reformen zum Zwecke der Modernisierung durchsetzen zu können,6 auch wenn dies zu einem Konfliktkreislauf und zum Verfall des demokratischen Systems fuhrt. Aber als Art und Weise der Interpretation der politischen Institutionen und Regierungsfuhrung in der Neuen Republik Brasiliens bringt dieser Ansatz gleichzeitig analytische Probleme mit sich. Auf die bedeutende Diskontinuität im politischen Prozess ab 1994/95 wurde in diesem Beitrag bereits hingewiesen. In diesem Zusammenhang verweist die zur Verfügung stehende empirische Information darauf, dass während der Regierungszeit Cardosos die „proaktiven" politischen Werkzeuge (wie zum Beispiel die erwähnten „provisorischen Maßnahmen") mit nicht geringerer Intensität als unter seinen Vorgängern im Amt des Präsidenten eingesetzt wurden. Gleichwohl stellt Cardosos Regierungsfuhrung einen gewissen Erfolg beEben diese theoretische Diskussion wird von Carey und Shugart (1998) geführt.

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züglich der Stabilisierung des Regimes, der Durchführung von Reformen und der Kontinuität der Koalition dar, ohne dass es gleichzeitig zu offenen politischen Konflikten zwischen den Institutionen der Exekutive und der Legislative gekommen wäre. Diese beiden Phänomene können jedoch von dem hier vorgestellten Erklärungsansatz nicht erläutert werden.7

Dritter Erklärungsansatz: Konzentration der Entscheidungsgewalt und Regierbarkeit Die beiden folgenden Interpretationen gehen im Gegensatz zu den ersten zwei Ansätzen nicht von einer konfliktreichen Beziehung zwischen den Institutionen aus. Sie unterstellen keinen unüberwindbaren Interessenkonflikt zwischen der Exekutive und der Legislative. Ebenso sehen beide den Präsidenten als die zentrale Institution an. Sowohl in der dritten als auch in der vierten Interpretation wird vorausgesetzt, dass angesichts der Repräsentationsstruktur (hohe Parteienzahl, schwache Organisationsstruktur der meisten Parteien, Verhalten der Kongressabgeordneten zugunsten von Einzel- anstatt Allgemeininteressen) die Probleme der Koordination nicht zu lösen sind wie im Fall einer einheitlichen Regierung, in der eine einzige starke Mehrheitspartei sowohl den Präsidenten stellt als auch das Parlament kontrolliert. Aufgrund der spezifischen Bedingungen eines Präsidialsystems und seiner individuellen Eigenschaften ist der Präsident praktisch die einzige Institution, die als Vermittler und Drehscheibe des politischen Systems agieren kann. Im Gegensatz also zu anderen Fällen, in denen eine Partei, eine Koalition oder eine Staatsbürokratie die Rolle des Protagonisten übernehmen kann, spielt der Präsident eine dominante Rolle. Ein weiteres gemeinsames Element der letzten zwei Interpretationen besteht in der Identifizierung der wesentlichen institutionellen und politischen Instrumente, die die brasilianische Präsidentschaft auszeichnen (und von vielen anderen Ländern unterscheiden): einerseits die Bedeutung der Bildung von Koalitionskabinetten (Abranches 1988, Amorim 1995, Deheza 1997, Mainwaring 1997, Thibaut 1998, Meneguello 1998), wodurch die Parteien an der Regierung beteiligt werden und ihr den parlamentarischen Rückhalt verschaffen, und andererseits die „proaktiven" Befugnisse des Präsidenten. Die Form Zur Diskussion über die Beschränkungen dieses analytischen Ansatzes in Bezug auf die Fälle Brasilien und Argentinien, siehe Palermo (1999 und 2000).

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der Zusammenarbeit zwischen Legislative und Exekutive erscheint plötzlich als einheitlich und unterscheidet sich somit deutlich von der in der öffentlichen Meinung vorherrschenden Ansicht, die entweder den Kongress als Hindernis für die Arbeit der Regierung versteht oder aber der Exekutive vorwirft, sie würde versuchen, den Kongress vom Entscheidungsprozess auszuschließen. Dennoch sind von diesem Punkt an zwei Meinungen zu unterscheiden; denn in einem entscheidenden Punkt stimmen die letzten beiden Interpretationen wiederum nicht überein, nämlich darin, wie sich der Präsident in seiner zentralen Rolle zu verhalten hat: entweder in Richtung einer Konzentration der Entscheidungsfähigkeit, die die anderen Institutionen zur Unterordnung bzw. Kooperation zwingt, oder im Sinne der Koordination der Entscheidungen und Vermittlung zwischen den verschiedenen Institutionen von seiner zentralen Position aus. Einige der repräsentativsten Autoren, die diese letztgenannte Meinung teilen, sind Diniz (1997), Figueiredo (1995 und 1997), Limongi (1998) und Santos (1999a und 1999b). Für sie ist der Kongress weit davon entfernt, ein Hindernis für die Regierungsarbeit darzustellen. Laut Diniz sind die Begriffe der Unregierbarkeit und Entscheidungslähmung unangebracht, seitdem sich die Regierungen der Neuen Republik durch eine Vielzahl von Entscheidungen auszeichnen, basierend auf einer gewissen „Inselsituation" der Bürokratie sowie auf den weit reichenden gesetzgebenden Befugnissen der Regierung. Für Figueiredo und Limogi ist das Argument, nach dem der Kongress für die Absichten des Präsidenten zu einer unüberwindbaren Mauer wird, nicht haltbar, weder im Hinblick auf die Gesetzestexte, noch angesichts der empirischen Erfahrungen. Tatsächlich sind die empirischen Fakten mehr als deutlich: Der Kongress hat die große Mehrheit der ihm vorgelegten „provisorischen Maßnahmen" gebilligt und nur wenige abgelehnt. Der Grund dafür liegt in den von der Verfassung von 1988 eingeführten institutionellen Mechanismen, die dem Regierungschef zur Verfügung stehen. Eine kooperative Beziehung zwischen den Institutionen in einem System, das weder einheitlich noch gespalten ist, hängt davon ab, ob die Exekutive über Entscheidungsinstrumente verfügt, die zur Erhaltung einer solchen Beziehung beitragen, und ob sie darüber hinaus erstens eine Koalitionsbildung fordert und zweitens diese Instrumente so benutzt, dass sie es schafft,

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die Kooperation der Koalitionsmitglieder zu erzwingen. Der entscheidende Beitrag, den die erwähnten Autoren zum Umdenken hinsichtlich der Analyse des brasilianischen Systems geleistet haben, kann nicht genügend unterstrichen werden; sie machen den Gegensatz zu den weit verbreiteten gängigen Interpretationsmustern deutlich, die noch bis vor kurzem vorherrschten. Der Theorie von der Entscheidungslähmung und konfliktreichen Beziehung stellt dieser neue Ansatz entgegen, dass das Land doch regierbar ist - oder immer regierbarer wird - , ausgehend von einer Achse der Machtkonzentration auf einer institutionellen Basis. Betrachtet man diejenigen Aspekte und Dimensionen, denen von der herkömmlichen Literatur bisher kaum Beachtung geschenkt wurde, so wird sehr deutlich, dass die Konstellation der Institutionen, so wie sie von der Verfassung von 1988 konstruiert wurde (unter Beibehaltung vieler Eigenschaften der Regierungsinstitutionen, die schon von den Militärregierungen nach 1964 eingerichtet worden waren), dem Präsidenten mehrere Werkzeuge zur Verfügung stellt, die nicht nur Entscheidungen ermöglichen, sondern darüber hinaus dazu dienen, die Mitarbeit des Parlaments zu erzwingen, wobei die „provisorischen Maßnahmen" zwar das wichtigste Instrument, aber durchaus nicht das einzige sind. Limongi schreibt wie folgt: „In verschiedenen Präsidialsystemen sind Variationen hinsichtlich der gesetzgebenden Befugnisse des Präsidenten zu beobachten. (...) Laut Shugart und Carey beschränken sich diese Variationen lediglich auf die Struktur der vom Präsidenten eingebrachten Vorschläge, aber in Wirklichkeit sind die Auswirkungen ganz anderer Art: Die Befugnisse bestimmen das Programm in dem Sinn, dass der Präsident entscheidet, zu welchen Themen dem Kongress Vorschläge vorgelegt werden und wann. Das bedeutet also einen direkten Einfluss auf die gesamte Arbeit des Kongresses, und eine gleichzeitige Verringerung der Trennung zwischen den Staatsgewalten und somit auch eine Verstärkung der Mitarbeit der Parlamentarier" (1998).

Ein weiteres in der herkömmlichen Literatur häufig behandeltes großes Problem wird mittels der Gestaltung der Spielregeln, d.h. der internen Verfahren des Kongresses neutralisiert: der Vorwurf, das Wahlsystem würde nicht genügend Anreize bieten, um ein diszipliniertes Verhalten der Parlamentarier entsprechend ihrer Parteizugehörigkeit zu fordern. Die Prozesse der Gesetzgebung im Kongress sind in hohem Maß zentralisiert (Limongi 1998, Santos 1999a und 1999b), was dazu beiträgt, die Überlegenheit der Exekutive zu sichern. Auf diese Art und Weise wird es möglich, andere

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Schwächen der Exekutive, die eine Folge spezifischer institutioneller Merkmale des politischen Systems sind, zu kompensieren. Dieser Theorie nach hätte der brasilianische Präsident in den Begriffen von Mainwaring und Shugart (1997) eine starke Position sowohl gegenüber den Parteien als auch unter verfassungsmäßigen Gesichtspunkten. Diese Kombination von institutionellen Instrumenten - einerseits die gesetzgebenden Befugnisse des Präsidenten und andererseits die Regelungen, die ihm erlauben, Einfluss auf die legislativen Prozesse im Kongress zu nehmen - ermöglicht es der Exekutive, in zwei verschiedenen Aktionsbereichen konsequent zu handeln. In einem Bereich besteht ihre Handlungsmöglichkeit in der Fähigkeit zur eigenen unabhängigen Initiative. So schreibt Couto (1999) in einer Weiterentwicklung einiger der Beiträge der bereits zitierten Autoren, dass im Fall Brasilien „hinsichtlich der unilateralen Durchsetzung von Gesetzen in Form der 'provisorischen Maßnahmen' von einer Mehrheitslogik gesprochen werden kann". Die Passivität des Kongresses angesichts der extrem häufigen Vorlage bzw. Neuauflage von „provisorischen Maßnahmen" durch die Regierung ist demnach die bereits erwähnte Form der erzwungenen Zusammenarbeit des Kongresses mit der Exekutive auf dem Gebiet der Gesetzgebung, da das Parlament aufgrund seiner Zersplitterung und des fehlenden Zusammenhalts der Parteien zu keiner anderen Form der Gesetzgebungstätigkeit fähig ist. Der zweite Aktionsbereich der Exekutive hinsichtlich der Gesetzgebung bezieht sich auf diejenigen Themen, die nicht über „provisorische Maßnahmen" zu regeln sind, insbesondere die Verfassungsreformen. An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass die Besonderheit Brasiliens nicht in den „provisorischen Maßnahmen" besteht, sondern vielmehr in ihrer „Konstitutionalisierung" durch die Verfassung von 1988. Hierin liegt die Ursache für die starke Einschränkung der Exekutive, unabhängige Initiativen einzubringen. Angesichts der Zersplitterung des Parteiensystems ist es fast unmöglich, dass aus den Wahlen eine „einheitliche Regierung" hervorgeht (in dem Sinne, dass eine einzige Partei die Regierung stellt und gleichzeitig über die Mehrheit im Parlament verfügt), aber gleichzeitig besteht die Verfassung auf einer Dreifünftelmehrheit für Verfassungsänderungen, so dass eine hohe Anzahl von Parteien notwendig ist, um eine entsprechende Mehrheit zu erreichen.

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Im Zusammenhang dieses Problems verweist Santos (1999a) auf die Bedeutung der Art und Weise, wie die Bestimmungen der Parlamentskammern den gesetzgebenden Prozess regeln, um die Risiken der Entscheidungslähmung und Unregierbarkeit zu umgehen, die entsprechend den in der herkömmlichen Literatur beschriebenen Eigenschaften des Systems eventuell eintreten könnten (Präsidialregime, Föderalismus, Wahlsystem, Parteien). Dieser Interpretation folgend kommt es weniger zum Ausschluss der jeweils anderen Institution, sondern vielmehr zur erzwungenen Kooperation. Santos (1999a) spricht daher zum Beispiel von „(...) Nachgiebigkeit der Legislative gegenüber der Exekutive" und hält es für ausreichend bewiesen, dass die Struktur der Entscheidungsprozesse im politischen System Brasiliens sehr stark konzentriert ist.8 Diese neue Interpretation der Funktionsweise der politischen Institutionen und der Regierungsführung ist eine deutliche und überzeugende Widerlegung der bisher allgemein anerkannten Sichtweise. Sie ist umso überzeugender, da sie das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet, denn wer die Theorie vertritt, dass die Zersplitterung der politischen Szene in Brasilien zur Unregierbarkeit fuhrt, tut dies, weil er nicht alle relevanten Variablen mit eingerechnet hat. Schenkt man allen Variablen die angemessene Aufmerksamkeit, wird deutlich, warum es einer Regierung gelingt, Reformen durchzusetzen und Stabilität zu erreichen — auch wenn die von Mainwaring, Kinzo, Stepan u. a. benutzten Variablen vor allem zugunsten der von ihnen beabsichtigten Zwecke funktionieren. Andererseits wird ebenso üSchon die Sprache der Beiträge legt offen dar, welcher Interpretation die Autoren jeweils anhängen. So enthält zum Beispiel einer der Texte von Figueiredo und Limongi im Titel die Begriffe „Verzicht" und „Delegation" und die Autoren kommen zu dem Schluss, dass der Kongress nicht verzichtet, sondern vielmehr delegiert (Figueiredo 1997). „Verzicht" steht in Verbindung zu Ausschluss, denn wer verzichtet, wird vom Spiel ausgeschlossen: aufgeben, resignieren, verlassen, im brasilianischen Umgangsportugiesisch abrir mäo, was heißen würde, dass der Präsident den Kongress dazu zwingt aufzugeben und ihn so vom Entscheidungsprozess ausschließt. Im entgegengesetzten Fall kann „delegieren" zwei unterschiedliche Bedeutungen haben: erstens die umgangssprachlichere und von O'Donnell auch auf die lateinamerikanische Politik angewendete Bedeutung der Befähigung eines Anderen zum Handeln, der Erteilung einer Vollmacht, des Beauftragens, und zweitens die, die mit der „Delegationstheorie" zu tun hat, die sich um das Ungleichgewicht zwischen Delegierendem und Delegiertem kümmert und darum, wie dieses ausgeglichen werden kann. In beiden Fällen ist das Ergebnis jedoch, dass der Präsident die institutionellen Mittel, die ihm zur Verfugung stehen, nutzt, um den Kongress zu zwingen, „delegiert" zu kooperieren, also nicht zu verzichten.

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berzeugend der zweite in diesem Beitrag diskutierte Ansatz widerlegt, wonach behauptet wurde, dass der Präsident es nur schafft, Entscheidungsgewalt auf sich zu konzentrieren, indem er andere Institutionen vom Prozess ausschließt, die sich dann wiederum an ihm rächen, so dass ein Kreislauf des Konflikts in Gang gesetzt wird, der schließlich zur Unregierbarkeit führt. Die dem Präsidenten zur Verfügung stehenden Instrumente funktionieren vielmehr in erster Linie so, dass sie den Anreiz zur Kooperation für die anderen Institutionen verändern und diese dadurch zur Mitarbeit gezwungen werden (Limongi 1998). Gänzlich ausgeschlossen werden sie jedoch nicht. Der große Verdienst dieses Interpretationsansatzes besteht darin, dass er die Aufmerksamkeit auf diejenigen Variablen lenkt, die von den früheren Beobachtern eher unbeachtet geblieben waren. Andererseits beinhaltet er aber auch ein Problem, das dem des ersten Ansatzes nicht unähnlich ist, und zwar aus zweierlei Gründen. Erstens unterscheiden sich die unternommenen Stabilisierungs- und Reformanstrengungen in der Zeit von 1988 bis 1994 in der Tat sehr von denen nach 1994. Das bedeutet, dass die Unterschiede in anderen als den in diesem neuen Ansatz untersuchten Variablen liegen müssen, denn diese haben sich für die Zeit vor und nach 1994 nicht verändert. Und zweitens ist trotz dieser offenkundigen Unterschiede bei den Regierungsmaßnahmen die Dynamik der Entscheidungsprozesse in den letzten Jahren noch immer weit davon entfernt, so flüssig, schnell und sicher zu sein wie bei einer konzentrierten zentralen Autorität, die mit Institutionen zusammenarbeitet, die sich ihr unterwerfen.

Vierter Erklärungsansatz: Zerstreuung der Entscheidungsgewalt und Regierbarkeit Es soll einmal davon ausgegangen werden, dass das Risiko der Lähmung der Institutionen eine untrennbar mit dem Präsidialsystem verknüpfte Begleiterscheinung ist.9 Wenn dann aber beobachtet werden kann, dass die Das soll aber nicht bedeuten, dass hier Partei für den Parlamentarismus ergriffen wird innerhalb der Debatte um die Frage, die in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Politikwissenschaften beschäftigt hat (eine Debatte, die übrigens in Brasilien mit besonderer Intensität geführt wurde). Auch der Parlamentarismus birgt das Risiko der Lähmung der Institutionen in sich und nicht nur die Ge-

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brasilianischen Regierungen seit der Demokratisierung nicht der Lähmung verfallen sind, so kommt die Frage auf, was diese Regierungen unternommen haben, um dies zu vermeiden. Es ist besprochen worden, was sie nicht getan haben, um es zu vermeiden: Diejenigen Autoren sind zumindest teilweise im Recht, die argumentieren, dass die Versuche der Konzentration und des Ausschlusses durchaus kurzfristig ihre Wirkung haben können, langfristig aber zum Scheitern verurteilt sind, auf Dauer keine Regierbarkeit garantieren können und lediglich zum Verfall der demokratischen Institutionen beitragen. Falls das Präsidialsystem aufgrund von potentiellen Vetofaktoren tatsächlich diese Risiken birgt, dann rät die politische Intelligenz dazu, „dass sich die gesamte Dynamik des Systems darauf konzentrieren muss, Formen der Kooperation zwischen dem Präsidenten und dem Kongress zu suchen" (Mustapic 1999), was nicht heißen muss, dass dies tatsächlich immer geschieht. Falls jedoch der Präsident die Drehscheibe des politischen Systems ist, dann lautet die Frage, in welche Richtung er seine Anstrengungen lenken soll:10 entweder in die Richtung der auf Unterwerfung basierenden Kooperation oder in die der Verhandlung und der Suche nach Konsens. Die Interpretation, nach der Brasilien wegen der Konzentration der Entscheidungsgewalt in Händen der Exekutive regierbar sei, macht deutlich, wie falsch die dem Präsidenten zur Verfügung stehenden legislativen Mittel oft interpretiert worden sind, nämlich als Mittel zum Ausschluss. Demgegenüber sollten sie jedoch eher als Mittel zur Veränderung der Einstellungen der Abgeordneten angesehen werden, als Anreize zur Kooperation (die gleichzeitig auch ihren eigenen Interessen nützt) und zur Anpassung der Schritte des Kongresses an das Programm des Präsidenten. Mit dieser Argumentation bewegt sich die Analyse nun fort von der These des Ausschlusses hin zu der der Kooperation. Aber handelt es sich nun wirklich um Anreize zur Unterwerfung der Abgeordneten oder um Anreize zur Gestaltung der Verhandlung von Seiten der Präsidentschaft? Die Komponente der Verhandlung scheint dabei nicht allzu stark zu sein. fahr der Instabilität der Regierung (zu jüngeren Debatten zu diesem Thema, siehe Sartori [1994] und Nohlen [1998]). 10

Das „soll" in diesem Satz ist nicht normativ zu verstehen, sondern spielt auf die Effizienz seiner Anstrengungen an, das heißt, unter machiavellistischen Gesichtspunkten, auf das, was die politische Vorsicht entsprechend dem Umfeld der politischen Institutionen, in dem sich der Präsident zu bewegen hat, raten würde.

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Zur Verteidigung dieser Interpretation des politischen Prozesses und der Beziehungen der brasilianischen Institutionen untereinander soll an dieser Stelle teilweise zurückgekehrt werden zum harten Kern des allgemein vorherrschenden Ansatzes, nämlich der Zerstreuung der Entscheidungsgewalt innerhalb der politischen Institutionen auf die verschiedenen Akteure, die über ein virtuelles Vetorecht verfugen. Aber selbst wenn dieses Merkmal als grundlegend für das politische System Brasiliens angesehen wird, muss trotzdem darauf hingewiesen werden, dass große Unterschiede bestehen in Bezug auf die Wahrnehmung der jeweiligen Akteure in der öffentlichen Meinung, speziell der politischen Parteien. Die weit verbreitete Meinung besagt, dass die politischen Parteien im Allgemeinen schwach sind und gekennzeichnet von Zersplitterung und Disziplinlosigkeit etc. Diese Schwierigkeiten fuhren dazu, dass sie die Funktion nicht erfüllen können, die von der herkömmlichen Literatur als unbedingt notwendig innerhalb eines Systems der Gewaltenteilung bezeichnet wird: die Aufgabe des Brückenbaus zwischen der Legislative und der Exekutivgewalt über den Graben der Gewaltenteilung hinweg. Aus diesem Grund wäre es wünschenswert, wenige stabile und disziplinierte Parteien zu haben. Weder gering an Zahl, noch stabil oder gar diszipliniert spielen die Parteien in Brasilien nach Meinung einiger Beobachter dennoch eine Rolle, die wichtig für das Funktionieren der Demokratie ist und sich der „Brückenfunktion" durchaus annähert (und ihnen zudem ein Vetorecht zuspricht). Die zentrale Frage in einem vor wenigen Jahren erschienenen Buch besteht darin, ob die Parteien für die Bildung und die Entwicklung der Regierungen nach 1985 in Brasilien wichtig gewesen sind oder nicht (Meneguello 1998). Die Autorin kommt zu folgendem Ergebnis: „Die Parteien spielen eine zentrale Rolle für die Organisation und die Funktionsweise der Exekutivgewalt. (...) Die Dynamik der Parteienkoalitionen, die von den am stärksten im Kongress vertretenen Parteien gebildet werden und die sich durch einen hohen Grad an ideologischer Übereinstimmung auszeichnen, repräsentiert die vorherrschende Organisationsform und ist von grundlegender Bedeutung für die Beziehungen der Legislative zur Exekutivgewalt." Eine der Grundvoraussetzungen für eine solche Dynamik ist die Disziplin der Parteien. Die früher weit verbreitete Meinung, dass die brasilianischen

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Parteien an Disziplinlosigkeit leiden würden, wird somit stark in Zweifel gestellt. Die Arbeiten von Jairo Nicolau (1999) und anderen verweisen auf die bedeutende Disziplin, die unter den Parteien im Parlament herrscht.11 Der Grund für das disziplinierte Verhalten der Parteien ist teilweise in dem asymmetrischen Verhältnis zu suchen, das von den Verfahrensregeln des Kongresses verursacht wird und die Parteiführer im Parlament gegenüber den gewöhnlichen rank-and-flle-Abgeordneten bevorzugt (Santos 1999a). Es zeigt sich folglich, dass das allgemeine Panorama des politischen Systems in Brasilien bestimmt wird von der Zerstreuung der Entscheidungsgewalt und der Pluralität der politischen Akteure, wobei zu beachten ist, dass Letztere konsequenter und gefestigter auftreten, als allgemein geglaubt wird. Gefestigte Politiker und Parteien besitzen eine größere politische Handlungsfähigkeit, sei es bei der Ausübung des Vetorechts oder bei der Verhandlungsfuhrung. Dieser Umstand soll aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die politischen Prozesse des Landes weiterhin von Unsicherheit gekennzeichnet sind, die viel stärker ist als die, die von den Autoren des behandelten dritten Ansatzes (Konzentration/Regierbarkeit) bemerkt wurde. Für Autoren wie Figueiredo und Santos trägt die Disziplin der Parteien im Parlament dazu bei, dass die Prozesse der Gesetzgebung voraussehbarer werden, was im krassen Gegensatz zur Hypothese der Unsicherheit steht. Unter „Disziplin" wird in den empirischen Arbeiten zum Thema zunächst einmal die Treue des Abgeordneten zur Position seines Fraktionsführers bei den Abstimmungen verstanden. Das bedeutet, dass es sich hierbei um einen äußerst wertvollen Indikator für die Analyse handelt, der jedoch noch nichts über eventuelle Schwierigkeiten der Parteiführer bei der Kontrolle ihrer Fraktionsmitglieder aussagt. Wenn zum Beispiel die Exekutive ihr Recht auf ein schnelles Verfahren in Notfällen anwendet, muss die Ab"

Nicolau untersuchte die Disziplin der Parteien unter den Regierungen von Itamar Franco und Cardoso (erstes Mandat). Seine Ergebnisse zeigen, dass sieben Parteien einen Grad an Disziplin von über 88% aufweisen (PT (98,7), PCdoB (98,8), PFL (93,3), PDT (92,1), PSDB (91,4), PSB (90,9), PTB (88,1)), während nur drei niedrigere Werte zeigen (PPR/PPB (82,9), PMDB (80,0), PL (77,9)). Im Vergleich zu der von Figueiredo (1995) untersuchten Zeit von 1989 bis 1994 beobachtet Nicolau gewisse Unterschiede: drei Parteien haben den Grad an Disziplin erhöhen können (PFL, PSDB, PTB), während andere drei disziplinloser geworden sind (PDT, PDS (heute PPB), PMDB) und bei einer Partei keine Veränderungen festzustellen sind (PT).

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Stimmung in einem Zeitraum von maximal 45 Tagen stattfinden, unabhängig davon, in welchem Zustand sich die Fraktion in dem Moment befindet. In solchen Fällen wäre die von den Abgeordneten einer Partei an den Tag gelegte Disziplin ein Indikator der tatsächlichen Kontrolle der Fraktionsführer über den „niederen Klerus".12 Das Problem wird dadurch jedoch erneut nicht gelöst, denn der Antrag auf ein solches beschleunigtes Notverfahren kann durchaus von der gemeinsamen Einschätzung des Abstimmungsverhaltens durch die regierungsfreundlichen Parlamentsführer und die Regierung abhängen. Folglich erscheint es nicht richtig, die Sicherheit oder Unsicherheit nur mittels einer Analyse der letzten Phase der Verabschiedung eines Gesetzes, also des Verhaltens bei der Abstimmung, bewerten zu wollen. Eine mehr oder weniger hohe Disziplin verleiht der Funktionsweise des Parlaments Sicherheit (auch wenn es immer wieder bedeutende Ausnahmen gibt) und stellt zweifellos einen wichtigen politischen Wert dar, aber sie geben dem Präsidenten oder der Regierung keine Garantie in dem Moment, wenn sie entscheiden, einen politischen Vorschlag zur Abstimmung zu bringen. Stepan (1999) schreibt dazu: „Die politischen Führerfiguren verfügen über ein großes Kapital und viele politische Ressourcen und sind in der Lage abzuwägen. Wenn eine kleine, aber mächtige Gruppe sich gegen sie und viele ihrer Projekte stellt, muss die Führung zwangsläufig zurückhaltend damit sein, geplante Maßnahmen zur Abstimmung vorzulegen. Welche der zwei folgenden Strategien ist vom methodischen Gesichtspunkt aus wichtiger: dass die Mehrheit der vom Präsidenten vorgelegten Maßnahmen verabschiedet werden, oder dass der Präsident entscheidet, einen Großteil seiner Vorschläge erst gar nicht dem Kongress vorzulegen, weil er eine Obstruktion befurchtet? Diese letzte Möglichkeit hat unter politischen Gesichtspunkten größere Bedeutung."13

Aber von noch größerer Bedeutung ist die Tatsache, dass die Disziplin der Parteiabgeordneten kein Indikator dafür ist, dass sich die Partei bzw. die Parteien einer Koalition gegenüber dem Präsidenten diszipliniert verhalten. Hier bekommt das Problem der hohen Anzahl von Parteien erneut Rele12

Bei Amorim und Tafner (1999) wird diese Fähigkeit zum Beispiel in Frage gestellt. Die Autoren bestehen auf der Schwäche der Parteien unter dem Gesichtspunkt der geringen Kontrolle, die die nationalen Parteiführer über den baixo clero („niederen Klerus") ihrer Parteien ausüben.

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Stepan fugt hinzu, dass seine Behauptung von Ministern des Kabinetts Cardosos in Interviews bestätigt wurde.

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vanz, jener Variable, der schon von Autoren wie Mainwaring so große Bedeutung zugesprochen wird. Es gibt durchaus Parteien, die eine gewisse Disziplin beweisen, obwohl ihre Situation in einem Mehrparteiensystem ganz anders ist als die einer Partei in einem Zweiparteiensystem (Regierung und Opposition). Wenn eine größere Anzahl von Parteien es tatsächlich so weit bringt, ein Abkommen zu unterzeichnen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieses auch eingehalten wird, sicherlich größer, wenn die Parteien diszipliniert sind. Es geht hier um Organisationen, die über Einfluss und Vetorecht verfügen.14 Mit anderen Worten: die Disziplin der Fraktionen allein garantiert noch nicht die Effizienz einer Koalitionsregierung. Wenn die Parteien, die in Brasilien an Koalitionen beteiligt gewesen sind, wirklich eine Brückenfiinktion zwischen Exekutive und Legislative erfüllt haben, dann heißt das noch lange nicht, dass die Vormachtstellung der Exekutive über den Kongress als Konzentration des Entscheidungsprozesses auf den Präsidenten und als eine Unterordnung des Kongresses unter dessen Macht zu interpretieren ist. Es scheint auch nicht vernünftig zu sein, die Mechanismen, die innerhalb des dritten hier behandelten Ansatzes (Konzentration/Regierbarkeit) ganz richtig herausgearbeitet worden sind, nämlich die Möglichkeit, „die Kontrolle über die Gesetzgebung einigen wenigen Verantwortlichen zu übertragen, zum Beispiel dem Präsidenten und den Parteiführern" (Santos 1999a), in diesem Sinne zu interpretieren: Wenn die Parteiführer wirklich über Macht verfugen, dann hat auch der Kongress eine gewisse Macht, die umso zerstreuter ist, je mehr Parteien in ihm vertreten sind. Die Konsequenz dieser Verhältnisse ist aber nicht die Gefahr, dass, wie Stepan (1999) behauptet, unter einem Präsidenten mit beschränkten Fähigkeiten, der sich der Demokratie weniger verpflichtet fühlt (als Cardoso), die Komponente, die die Demokratie einschränkt, zu einer Situation führt, die von O'Donnell „delegierende Demokratie" genannt wird, so wie es im zweiten hier behandelten Interpretationsansatz (Konzentration/Unregierbarkeit) vermutet wird. Ganz im Gegenteil ist es die Exekutivgewalt, die als Drehscheibe des politischen Systems über die Formulierung ihrer politischen Initiativen und deren Durchfuhrung verhandeln muss, egal ob diese von der Unterstützung des Parlaments abhängen oder nicht. Bei diesen 14

Meneguellos Studie (1998) macht deutlich, welche Bedeutung den Parteien Ansatzes zukommt, indem er ihnen eindeutig die Rolle des veto player in einem System der Regierungskoalitionen zuschreibt.

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Verhandlungen sollten die folgenden verschiedenen Gesichtspunkte beachtet werden.

a) Die „proaktiven" oder unabhängigen Befugnisse der Präsidentschaft Es gibt drei gute Gründe für die Annahme, dass die intensive Nutzung dieser Befugnisse durch den Präsidenten nicht bedeutet, er würde andere Institutionen ausschließen (wie im zweiten Ansatz behauptet wird) oder unterwerfen (wie es der dritte Ansatz sieht). Erstens ist bereits gezeigt worden, dass es Bereiche gibt, in denen diese Befugnisse, zum Beispiel die „provisorischen Maßnahmen", gar nicht zu gesetzgebenden Zwecken angewendet werden können. Dieser Umstand ist von großer analytischer Bedeutung, denn viele Autoren glauben nach wie vor an die simple Logik, dass ein blockierender Kongress zur Durchsetzung „provisorischer Maßnahmen" führt. Diese Meinung ist jedoch weder analytisch noch empirisch aufrecht zu erhalten - aus dem einfachen Grund, dass viele der Inhalte, die im Kongress blockiert werden, auch nicht durch „provisorische Maßnahmen" durchzusetzen sind. Zweitens bringen die „provisorischen Maßnahmen" ein Problem der politischen Effizienz mit sich. Figueiredo hat ganz richtig erkannt, dass sie zu Situationen fuhren können, die nur schwer wieder rückgängig zu machen sind. Aus institutionellen Gründen lassen sich diese Maßnahmen außerdem nicht in jedem denkbaren Bereich anwenden: Wenn zum Beispiel Veränderungen für komplexe, weit reichende Regelungen durchgeführt werden sollen, deren Effizienz davon abhängt, ob sie langfristig genug angelegt werden und alle beteiligten Institutionen sie akzeptieren, dann kann ihre Verabschiedung mittels einer provisorischen Maßnahme dazu fuhren, dass sie ineffizient oder sogar kontraproduktiv bleiben (besonders, wenn sie durch Abstimmung durchgesetzt werden, was mit sich bringt, dass sie monatlich erneuert werden müssen).15 Die strategischen Vorteile für die Exekutivgewalt (jenseits der bisher angeführten Einschränkungen) sind ebenfalls von Bedeutung aufgrund der hohen Anforderungen, die an die Ablehnung einer provisorischen Maßnahme gestellt werden. Diese AnforIn diesem Zusammenhang ist auch die Diskussion über die Notstands- und Dringlichkeitsdekrete in Argentinien interessant (Palermo 1996).

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derungen sind jedoch nicht unerfüllbar und es hat mehrere Fälle gegeben, in denen sie tatsächlich durch Abstimmung abgelehnt worden sind, selbst in der Regierungszeit Cardosos. Wie zu sehen ist, wird das Problem erneut auf den politisch-parlamentarischen Bereich verlagert. Die Frage lautet: Rechtfertigt die Anwendung der „provisorischen Maßnahmen" die Bezeichnung des politischen Entscheidungsprozesses als „zweigleisig", dual (Castro 1997) oder als „doppelte Logik" (Couto 1998)? Der dritte und wichtigste Grund besteht in der Untersuchung der Beziehung, die durch die Anwendung der „provisorischen Maßnahmen" als Mittel der Verabschiedung von Gesetzen entsteht. Wie bereits gezeigt worden ist, interpretiert der zweite Ansatz diese Maßnahmen als Mittel zum Ausschluss des Kongresses von der Gesetzgebung. Der dritte Ansatz wiederum sah in ihnen einen Weg, um den Kongress zur Kooperation zu zwingen, ohne ihn auszuschließen. Es gibt jedoch auch noch eine andere Gruppe von Beobachtern, die die Anwendung der „provisorischen Maßnahmen" im Sinne des vierten hier behandelten Ansatzes interpretiert (Zerstreuung/ Regierbarkeit): Ihre Vorlage seitens der Exekutive enthält demnach wichtige Elemente der Verhandlung. So argumentiert zum Beispiel Nobre (1998), dass zumindest in der Regierungszeit Cardosos „die Vorlagen und Neuauflagen der provisorischen Maßnahmen im Allgemeinen von Parlamentariern und Interessengruppen gemeinsam verhandelt wurden, was in der Praxis einen starken Einfluss auf ihre Anwendung hatte und ihnen somit eine neue Bedeutung verlieh".16

Und worin genau besteht diese neue Bedeutung? Um die Antwort auf diese Frage zu finden, sollte zunächst die Dynamik der Koalitionen untersucht werden. Amorim und Tafher (1999) liefern hierzu einige Hinweise: „Die Folgen einer provisorischen Maßnahme (...) setzen sich in den Berechnungen der Parlamentarier nicht vollständig über den Status quo hinweg. (...) Der Zeitraum, der von der Vorlage der Maßnahme durch die Regierung bis zur Abstimmung im Kongress vergeht, entspricht genau der Periode, die dem Parlament zur Verfügung steht, um eventuelle Alarmmeldungen der durch die Maßnahme betroffenen Gruppen der Gesellschaft anzuhören. Das bedeutet (...), dass es sich hierbei um einen effizienten und preiswerten MeDiese Information entstammt einem Gespräch, das Francisco Panizza mit dem damaligen Abgeordneten Nelson Jobim über die Neuauflagen der „provisorischen Maßnahmen" und die dazu notwendigen Verhandlungen führte. Jobim ist der Autor eines der Projekte zur Regelung dieser Maßnahmen.

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Vicente Palermo chanismus der Rückkopplung handelt, den der üblicherweise in technischer Hinsicht schlecht vorbereitete Kongress nutzen kann, um die Auswirkungen der Regierungsentscheidungen abzuwägen. (...) In dieser Hinsicht kann die hohe Frequenz der Neuauflagen der provisorischen Maßnahmen verstanden werden als die Folge der Entscheidung der Mehrheit des Parlaments nach angemessener Informationssammlung, aber nicht als das Resultat der Passivität des Kongresses. (...) Angesichts dieser Verhältnisse (...) ist der Kongress also durchaus dazu in der Lage, abzuschätzen, ob eine provisorische Maßnahme eine Verbesserung gegenüber dem Status quo zur Folge hat oder nicht. (...) Nicht umsonst wird der Text der provisorischen Maßnahmen in den Neuauflagen eben deshalb geändert, weil auf die Reklamationen der Regierungsalliierten im Parlament eingegangen werden soll."

Aus den Analysen von Autoren wie Nobre und Amorim/Tafner geht hervor, dass die „provisorischen Maßnahmen" ein Teil der Mechanismen sind, die die Exekutivgewalt zum Verhandeln ihrer Initiativen nutzt. Das heißt, dass die Regierung Initiativen über Verhandlungen einfuhrt, ohne eine andere Institution zu unterdrücken oder auszuschließen. In dem Maße, wie der Erlass von „provisorischen Maßnahmen" sich auf eine parlamentarische Parteienkoalition stützt, nehmen diese die Reaktionen der an der Koalition beteiligten Parteien in sich auf. Durch die entsprechenden Modifikationen wird verhindert, dass die Initiative im Parlament blockiert wird und Konflikte entstehen, die wiederum zur Folge hätten, dass die Maßnahme abgelehnt oder die Durchsetzung der „provisorischen Maßnahmen" reglementiert werden könnte.17 Diese Beobachtung nähert sich der Thibauts an, der feststellt, dass „die Präsidenten (Itamar Franco und Cardoso) ihre Machtressourcen (...) im Großen und Ganzen nicht genutzt haben, um sich über die Institution des Parlaments hinwegzusetzen, sondern um mit den parlamentarischen Fraktionen zu verhandeln" (Thibaut 1998).

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Auch wenn der Sinn dieses Artikels nicht der analytische Vergleich mit dem Fall Argentinien sein soll, kann auf folgende Gemeinsamkeit hingewiesen werden: Sowohl bei den „provisorischen Maßnahmen" als auch bei den „Notstands- und Dringlichkeitsdekreten", die 1988 bzw. 1994 verfassungsmäßig eingeführt wurden, handelt es sich um Verfahren, deren Reglementierung nach wie vor aussteht, obwohl sie bereits häufig von der jeweiligen Regierung angewendet worden sind.

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b) Gesetzesvorschläge, die die Exekutivgewalt dem Parlament im Rahmen der geregelten Verfahren zur Verabschiedung von Gesetzen vorlegt In den Fällen, in denen die Regierung dem Kongress Gesetzesvorschläge vorlegt, hat Couto (1999) beobachtet, dass sie sich rein technisch gesehen in einer Situation befindet, in der sie sich zwei institutionellen und mehreren parteilichen veto players gegenüber sieht, den zwei Kammern des Nationalkongresses bzw. den verschiedenen parlamentarischen Fraktionen. Das Einspruchsrecht besteht nicht nur formell. Nicolau (1999) weist daraufhin, dass „selbst nachdem die Regierung 90% der Abstimmungen im Parlament zu ihren Gunsten entschieden hat, die Beziehung zwischen der Legislative und der ersten Regierungsmannschaft Cardosos nach wie vor von Unsicherheit gekennzeichnet ist. (...) Bei einigen Abstimmungen, besonders im Fall der Verfassungszusätze, reichte die theoretische Mehrheit der Regierung nicht, um sich des Sieges sicher sein zu können, und in 10% der Fälle unterlag sie sogar."

Diese Unsicherheit scheint sowohl eine vertikale als auch eine horizontale Dimension zu haben. Die vertikale Größe ist eine Folge der hohen Anzahl von Koalitionsmitgliedern, die entweder für oder gegen die Regierung stimmen können. Die horizontale wiederum hat mit der Fähigkeit jeder einzelnen Partei zu tun, in ihren eigenen Reihen Einigkeit zu erzielen. Diese zwei Dimensionen unterhalten zwar eine wechselseitige Beziehung, sind aber dennoch klar voneinander zu unterscheiden. Werden die beiden Aspekte miteinander verknüpft, also die Fähigkeit der Parteiführer, in ihrer jeweiligen Fraktion fiir Disziplin zu sorgen, und die Unsicherheit, die die Notwendigkeit des Erreichens einer Dreifiinftelmehrheit mit sich bringt, dann lässt sich die Hypothese aufstellen, dass die Parteiführer diesen Umstand als strategische Ressource in ihrer Beziehung zum Präsidenten einsetzen können.18

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Wie gezeigt wurde, ist die Organisation der gesetzgebenden Verfahren im Kongress ein wichtiger Bestandteil des dritten Interpretationsansatzes. Für Santos (1999a) sind diese Verfahren in Brasilien sehr stark in den Figuren der Parteiführer im Parlament zentralisiert, die über die Zusammensetzung der temporären Kommissionen entscheiden, welchen die Gesetzesvorschläge vorgelegt werden müssen. In der Tat haben sie auf diese Weise einen gewissen Einfluss. Welchen Einfluss aber haben diese Sonderkommissionen? Jeder Gesetzesvorschlag muss auch mindestens drei

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Der Präsident verfugt seinerseits über Ressourcen zum Ausgleich dieser Quellen der Unsicherheit. Diese sind allerdings reichlich kostspielig und nicht immer zuverlässig. Nicolau spricht davon, dass „die fehlende Sicherheit hinsichtlich der Unterstützung durch die regierungsfreundlichen Abgeordneten dazu fuhrt, dass die Regierung auch von anderen Abgeordneten und Parteien abhängt und folglich mit ihnen verhandeln muss" (1999). Kinzo wiederum beobachtet, dass die Fraktionsführer als Ansprechpartner dem Präsidenten sehr häufig nicht ausreichen und dass „er die 300 Abgeordneten einzeln überzeugen muss", ein Umstand, der der Theorie, dass die Parteiführer die Prozesse der Legislative fest in ihrer Hand haben, widerspricht (1997). Auch Nicolau weist daraufhin, dass „die Studien über die Beziehung zwischen Exekutive und Legislative in Brasilien bisher das Thema der Einzelverhandlungen zwischen dem Regierungschef und den Abgeordneten des Parlaments, die nicht der Regierungskoalition angehören, vernachlässigt haben" (Nicolau 1999).

c) Die Bildung von Koalitionskabinetten, wichtigstes Mittel zur Verhinderung der Entscheidungslähmung, und ihre Auswirkungen Die Koalitionsparteien sind der Rückhalt der Koalitionsregierung im Parlament und als Gegenleistung üben sie Einfluss auf die Regierungsfuhrung aus. Die Bildung einer regierungsfähigen Koalition ist ein Verfahren, das eine Erweiterung des Präsidialsystems im engeren Sinne darstellt und gleichzeitig bedeutende Folgen für die Struktur der Exekutivgewalt hat. Die Beschaffenheit der politischen Arena wird durch sie grundlegend neu definiert, so dass im Prinzip zwei Begriffe unterschieden werden müssen: der Präsident und die Präsidentschaft. Der Präsident hat im Kabinett die Vertreter der Parteien anzuhören (und dabei auch ihre regionale Dimension zu beachten) als Gegenleistung für ihre Unterstützung im Kongress. Der Präsident ist offensichtlich nach wie vor eine Einzelfigur, aber die Präsidentschaft muss fortan als kollektive Institution angesehen werden. Daraus ergibt sich natürlich ein Problem der Kohäsion. Theoretisch können die Minister, auch wenn sie vom Präsiden-

permanenten Kommissionen vorgelegt werden und außerdem existieren insgesamt mehr als 50 Sonderkommissionen, so dass der Einfluss der Parteiführer nicht so groß sein kann, dass man von einer Zentralisierung der gesetzgebenden Verfahren im Parlament sprechen könnte.

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ten ernannt worden sind, als „Repräsentanten" ihrer Parteien und/oder Regionen Interessen und Richtungen vertreten, die von denen des Präsidenten abweichen, und sie verfugen über eine relative Unabhängigkeit bei der Formulierung ihrer Politik. Die Gefahr, die diese Regelung mit sich bringt, wird in der klassischen Literatur zur öffentlichen Politik und/oder Reformpolitik wie folgt beschrieben: Wenn innerhalb der Regierungsmannschaft Spaltungen auftreten, wird der Entscheidungsprozess langsamer und schwieriger, wodurch sich das Risiko der Blockierung erhöht.19 Mit anderen Worten: der Ausweg der Kooperation mit dem Ziel, Regierungslähmung und Unregierbarkeit zu verhindern, hat sich vom Parlament in die Exekutive hinein verlagert. Es wäre daher ein Irrtum zu meinen, die Exekutive habe durch die Mehrheit im Parlament mehr Unabhängigkeit erlangt. Hierzu existiert empirisches Material, so zum Beispiel im Zusammenhang mit der Privatisierungspolitik (Tavares 1996 und 1997), ein Fall, an dem deutlich wurde, dass die größten Hindernisse innerhalb des Kabinetts auftraten und nicht in der Beziehung zwischen Exekutive und Legislative. Die Unabhängigkeit des Präsidenten stößt folglich in zwei Richtungen auf ihre Grenzen, erstens als „Präsidentschaft" im Kongress und zweitens als Präsident innerhalb der Präsidentschaft / des Präsidialamtes. Dies bedeutet natürlich auf keinen Fall, dass der Präsident unbedingt seine Fähigkeit, Initiativen zu ergreifen, verlieren würde. Er wird lediglich gezwungen zu verhandeln und innerhalb der Institution der Präsidentschaft auf den Einfluss der an der Koalition beteiligten Parteien einzugehen. Die Ressourcen, die dem Präsidenten innerhalb dieses komplexen Verhältnisses zur Verfügung stehen, um seine Fähigkeit zur Initiative zu erhalten, sind vielseitig und bei geschickter Anwendung letztendlich entscheidend. Gleichzeitig wird durch die Natur dieser Ressourcen das Wesen des Entscheidungsprozesses entblößt, denn sie legen offen dar, dass der Präsident nicht in allen Bereichen, in denen er sie anwendet, bei der Gestaltung seiner Politik über absolute Freiheit verfugt. In manchen Fällen schafft er es gerade einmal zu verhindern, dass ein Kurs eingeschlagen wird, der seinen Interessen widerspricht, oder dass seine Ziele schrittweise nach und nach vorangetrieben werden, teilweise äußerst langsam. Durch diesen Umstand wird die Aufmerksamkeit auf eine neue Institution gelenkt, deren Rolle für das Verhältnis zwischen Präsident und Präsidentschaft bei der FormulieZur ausführlichen Diskussion dieser Literatur mit besonderer Anwendung auf die Verhältnisse in Lateinamerika, siehe Torre (1998).

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rung und Durchsetzung der Refoimpolitik eine bedeutende Rolle spielt: die Bürokratie. Unter den Elementen, die in Brasilien das politische System mit der Bürokratie verbinden, sind einige, die deutlich werden lassen, welche Gestaltungsmöglichkeiten es qua Bürokratie gibt (Loureiro/Abrucio 1999; Panizza 1999). Erstens verfügt der Präsident in seiner Rolle als Chef seines Kabinetts aufgrund der entsprechenden Regelungen des Präsidialsystems über eine bedeutende Kapazität zur Organisation und Reorganisation der Verwaltungsstrukturen im Sinne seines politischen Projekts sowie über unabhängige Vollmachten zur Ernennung der dauerhaften Führungsriege der Bürokratie (spoil system). Zweitens wird er durch die ihm zur Verfügung stehenden umfangreichen gesetzgebenden Befugnisse in Verbindung mit der Tatsache, dass die Karriere der politischen Klasse in erster Linie auf das Besetzen eines Amtes in der Exekutive ausgerichtet ist, begünstigt: „In Brasilien besteht das Hauptziel des Abgeordneten nicht in der Wiederwahl, sondern im Besetzen eines Amtes in der Exekutive, auf allen Ebenen der Regierung, die seiner politischen Karriere dienen können" (Abrucio und Samuels 1997). Loureiro/Abrucio (1999) zum Beispiel zeigen den entscheidenden Einfluss des Finanzministeriums bei der Kontrolle des Verhaltens der Minister, die nicht als Freunde des Präsidenten gelten, sowie über die Bereiche, die nicht von „seinen Männern" geleitet werden; das heißt, all die Bereiche und Posten, die den anderen Parteien der Koalition „überlassen" wurden, und sogar auch über die Flügel der eigenen Partei, die nicht unbedingt vollständig mit dem Inhalt einer bestimmten Politik des Präsidenten übereinstimmen. Das Wirtschaftsministerium wiederum lenkt, limitiert oder beeinflusst die anderen Ministerien, sofern dies nötig wird, mittels des Einsatzes von im Budget vorgesehenen Finanzressourcen (contingenciamento). Von ebenso großer Bedeutung ist das Recht des Präsidenten, hohe Beamte auch unterhalb der Ministerebene zu ernennen. Loureiro/Abrucio kommentieren dazu wie folgt: „Es kann durchaus vorkommen, dass ein Minister nicht der Wahl des Präsidenten entspricht, sondern nur ernannt wird, weil die Verhandlungen zum Zweck der Sicherstellung der parlamentarischen Unterstützung der Regierung durch dessen Partei es so verlangen. (...) In manchen besonderen Fällen ist sogar schon der Finanzminister hiervon betroffen gewesen, ein Amt, das unter normalen Umständen von den Verhandlungen mit dem Parlament ver-

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schont bleibt. Wenn es tatsächlich einmal so weit gekommen ist, drückt sich als Ausgleich die Macht des Präsidenten in der Ernennung des Staatssekretärs und anderer strategischer höherer Posten im jeweiligen Ministerium aus" (Loureiro/Abrucio 1999).

Dabei ist es wichtig zu beachten, dass die höchste Ebene der brasilianischen öffentlichen Verwaltung - die sich nicht auf bürokratische Karrieren, sondern auf Ämter stützt — immer von einer Schicht von Beamten besetzt ist, die über eine sehr hohe fachliche Qualifikation, umfangreiche politische Erfahrung und gute Kenntnisse der Beamtenmaschinerie verfügen (bons esplanadeiros). Diese Beamten rotieren ständig zwischen verschiedenen Ministerien bzw. zwischen verschiedenen Posten innerhalb eines Ministeriums.20 Das bedeutet, dass die Möglichkeit des Präsidenten, die ernannten Beamten der zweiten und dritten Ebene zum Zwecke der effizienten Kontrolle der Durchführung seiner Politik in den „abgegebenen" Ministerien zu nutzen, in erster Linie von dem politisch-bürokratischen Kapital abhängt, das er bis zum Moment seiner Amtsübernahme angesammelt hat. Wenn das Netz der esplanadeiros, denen er persönlich vertraut, nicht sehr umfangreich ist, wirkt sich das negativ auf seine Fähigkeit aus, die Kohäsion der Präsidentschaft zu erhalten. Alles in allem wirkt sich die Bürokratie nicht immer positiv auf die Fähigkeiten des Präsidenten aus, Koalitionen zu bilden und Reformen durchzusetzen. Die Präsidentschaft sollte versuchen, mit der zersplitterten Bürokratie und ihren unterschiedlichen Interessen und Absichten zurechtzukommen. Die Unabhängigkeit des Präsidenten wird dadurch in gewisser Weise beschnitten, wenn auch nicht vollständig. Eine Beobachterin spricht zum Beispiel in ihrer Studie über die Reform des Sozialversicherungsgesetzes einerseits von den Ressourcen, die es dem Präsidenten ermöglichen, die Bürokratie unter Kontrolle zu halten, und andererseits von seinen Schwierigkeiten, die gesamte Bürokratie zu mobilisieren, um ein Reformprojekt durchzusetzen. Die Autorin stellt fest, dass es innerhalb des bürokratischen Apparats Gruppen mit unterschiedlichen Zielen gibt, die gegeneinander wirken und um die Unterstützung durch den Präsidenten kämpfen. Anstatt das Pro und das Kontra der verschiedenen einzelnen Projekte gegeneinan20

Zur Analyse der informellen Funktionsweise des bürokratischen Systems in Brasilien, der „Karrieren und Emennungen", siehe Schneider (1994).

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der abzuwägen, beziehen sie in ihrem Streit immer radikalere Positionen. Auf diese Zersplitterung ist zurückzuführen, dass es Cardoso zwar geschafft hat, einzelne Reformprojekte (in diesem Bereich) durchzusetzen, die von unterschiedlichen Fachgruppen ausgearbeitet worden waren, aber dass „er es nicht geschafft hat, deren Mitarbeit bei der Formulierung eines Gesamtprojekts sicherzustellen, das die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Reform gleichmäßig verteilt. Statt einer ausgeglichenen Reform hat er zwei unterschiedliche, schwache Projekte durchgesetzt" (Coelho 1999). An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, die drei oben diskutierten Aspekte gemeinsam zu betrachten, das heißt, die unabhängigen Entscheidungsbefugnisse der Präsidentschaft, das Verhältnis zum Kongress beim Gesetzgebungsverfahren (einschließlich der Verfassungsreform) und die Bildung der Koalitionskabinette. Ergibt diese Kombination ein Bild des verfassungsmäßigen Präsidenten mit starker Unterstützung der Parteien, so wie es von einigen Beobachtern gezeichnet wird? Das scheint nicht der Fall zu sein. Obwohl die Initiative zur Formulierung von politischen Programmen und Maßnahmen durchaus in der Hand des Präsidenten liegt, befindet sich das Zentrum der Entscheidungsgewalt doch eher in der Koalition und nicht an der Spitze der Regierung. In dem Maße, in dem bei der Organisation des Kabinetts die dauerhafte Funktionsfähigkeit der Koalition zu berücksichtigen und der Präsident dem potentiellen Veto der Koalitionsparteien ausgesetzt ist, die wiederum die Präsidentschaft mit dem Kongress verbinden, werden auch die starken verfassungsmäßigen Befugnisse des Präsidenten durch die Natur der Koalitionsparteien eingeschränkt. Ein Mechanismus zur Überprüfung dieser Interpretation ist die Beobachtung der Beziehung zwischen Präsident und Kongress hinsichtlich der „provisorischen Maßnahmen". Immer wieder wird von den Parteiführern im Kongress die Frage nach den Verfahrensregeln für die Vorlage und Neuauflage dieser Maßnahmen angesprochen, um die Freiräume auszufüllen, die der Regierung erlauben, dieses Mittel für Entscheidungen immer wieder neu aufzulegen. In einigen Fällen, wie zum Beispiel unter der Regierung des Präsidenten Collor, hatten die von ihnen formulierten Warnungen durchaus bemerkbare politische Folgen. Die Rhetorik zur Begründung dieser Warnungen bezieht sich in der Regel immer wieder auf die geläufige Ansicht, dass der Präsident versuche, den Kongress, „dessen Geduld jedoch nicht unendlich ist", von den Entscheidungsprozessen auszuschließen usw.

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Die Artikulation solcher Warnungen scheint ein deutliches Zeichen für die bestehenden Spannungen innerhalb der Koalition zu sein: Die parlamentarische Mehrheit (oder zumindest ein Teil von ihr) hält den Mechanismus der Neuauflagen der „provisorischen Maßnahmen" für einen Missbrauch nicht grundsätzlich, aber doch häufig, nämlich immer dann, wenn bedeutende inhaltliche Differenzen zwischen der Politik der Präsidentschaft und der der jeweiligen Partei auftauchen und/oder wenn der Präsident sich gegenüber den Forderungen des Kongresses hinsichtlich der Änderung der Inhalte konkreter politischer Programme störrisch zeigt. Wenn andererseits die Mitglieder der Koalition eine gemeinsame programmatische Richtung verfolgen — wie beispielsweise im Fall der Privatisierung —, dann ist der Weg frei. Wenn der allgemeine Kurs von einer parlamentarischen Mehrheit getragen wird und die Vorlagen und Neuauflagen der „provisorischen Maßnahmen" aus der Verhandlung zwischen Regierung und Parlament hervorgegangen sind, dann hält der Kongress diese Maßnahmen in der Regel nicht für einen Missbrauch (abgesehen von den Oppositionsparteien). Zusammenfassend lässt sich beobachten, dass - im Gegensatz zu den herkömmlichen Sichtweisen — für diesen vierten Interpretationsansatz der Verbindung zwischen Zerstreuung der Entscheidungsgewalt und Regierbarkeit die Rolle der Präsidentschaft sehr wichtig ist. Theoretisch wird in einem Präsidialsystem der Präsident gewählt und dann bestimmt dieser die Zusammensetzung des Kabinetts mit dem Ziel, „seine" Politik durchsetzen zu können. Dies ist auch in Brasilien sicherlich der Fall. Gleichwohl hat er bei der Auswahl seines Kabinetts zwei Aspekte zu beachten, die dem brasilianischen Präsidialsystem seine Eigenheit verleihen: einerseits muss er die Ziele seiner allgemeinen und spezifischen politischen Programme beachten und andererseits darf er nicht vernachlässigen, dass er zum Durchsetzen seiner Politik die Unterstützung der politischen Parteien im Kongress benötigt. Diesen Rückhalt im Parlament darf er nicht für selbstverständlich halten (was selten genug vorkommt), nicht einmal, wenn er bei der Zusammenstellung seines Kabinetts sorgfältig auf diesen Aspekt Acht gegeben hat. Wie Amorim (1995) durchaus richtig feststellt, hat das Verteilen von Kabinettsposten mit dem Ziel, sich den Rückhalt des Parlaments zu sichern, einen paradoxen Effekt: „Der Präsident sichert sich die Mehrheit, aber seine Position innerhalb des Kabinetts wird geschwächt." Für den bisher dominierenden Interpretationsansatz (Zerstreuung/Unregierbarkeit) folgt aus diesem Problem das Dilemma der Unregierbarkeit (Mainwaring 1993). Die institutionelle Landschaft Brasiliens beinhaltet jedoch genügend

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Elemente, die den Präsidenten begünstigen und ihm in gewissem Maße ermöglichen, sowohl die Koalition als auch die Kohärenz seiner Politik zu erhalten, solange sein Stil bei der Formulierung und Durchsetzung konsequent bleibt und mit der Struktur der politischen Institutionen übereinstimmt.

Synthese und Schlussfolgerungen Um den konzeptuellen Rahmen der Debatte um das Problem der Regierbarkeit in Brasilien zu definieren, genügte es, zwei Variablen auszuwählen, die sich auf die eine oder andere Weise durch den gesamten Beitrag ziehen: der Grad der Konzentration der Entscheidungsgewalt entsprechend den geltenden politischen Spielregeln und die effektive Fähigkeit Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, die an der Regierungsführung abzulesen ist. Die vier Interpretationsansätze, die in diesem Beitrag diskutiert wurden, lassen sich anhand der unterschiedlichen Kombination dieser zwei Variablen darstellen, indem einfach für jede einzelne von ihnen zwei Kategorien aufgestellt werden, womit sich folgendes Schema ergibt: geringe Fähigkeit zur Entakzeptable Fähigkeit zur scheidung und Implementie- Entscheidung und Implerung mentierung

zerstreute Entscheidungsgewalt

konzentrierte Entscheidungsgewalt

Zerstreuung/Unregierbarkeit

Zerstreuung/Regierbarkeit

(die Regierbarkeit ist unter den geltenden Umständen der Institutionen unerreichbar)

(die Regierbarkeit wird aufgrund der Fähigkeit, über Verhandlung zu Entscheidungen zu kommen, erreicht)

Konzentration/Unregierbarkeit Konzentration/Regierbarkeit (der Versuch, die Regierbarkeit durch Ausschluss der anderen Institutionen zu erreichen, scheitert)

(die Regierbarkeit wird aufgrund der Fähigkeit des Präsidenten erreicht, die anderen Institutionen zur Mitarbeit zu zwingen)

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Angesichts dieser Erkenntnisse ergibt sich der Eindruck, dass in der jüngeren Literatur eine deutliche Veränderung bezüglich der in der Debatte über die Institutionen verwendeten Begriffe stattgefunden hat. Bis vor kurzem drehte sich die zentrale Diskussion um die Achse der Regierbarkeit und um die Frage, ob Brasilien regierbar ist oder nicht. Das ist inzwischen anders geworden. Jetzt wird nicht mehr diskutiert, ob es möglich ist, Brasilien zu reagieren, denn diese Frage wird heutzutage meist bejaht. Es geht inzwischen vielmehr darum, mit welcher Struktur der Staatsgewalten diese Regierbarkeit erreicht werden kann: wie und unter welchen Bedingungen ist Brasilien zu regieren? Darüber hinaus hat eine Schwerpunktverlagerung bezüglich der Absicht der Literatur vom Normativen zum Deskriptiven stattgefunden, das heißt, es wird nicht mehr gefragt, „was muss geändert werden, damit die Institutionen funktionieren?", sondern „wie funktionieren die Institutionen?" Wenn die Regierbarkeit in Beziehung zu den Entscheidungsprozessen gesetzt wird, dann gibt es keinen Grund dafür anzunehmen, Brasilien sei unregierbar. Innerhalb der Grenzen der Politik hat das politische System in Brasilien einen Collor hervorgebracht, aber es hat auch vermocht, ihn wieder abzusetzen. Das bedeutet, dass eine gewisse Ähnlichkeit zwischen bestimmten Formen des politischen Stils und konkreten institutionellen Strukturen existiert. Diese Beziehung ist jedoch von verschiedenen Einflüssen abhängig, die in einigen Fällen von entscheidender Bedeutung sein können (dazu gehören unter anderen die Spannweite der politischen Führung sowie das politische Kapital, das der gewählte Präsident bei seinem Regierungsantritt mitbringt). Sie macht außerdem gleichzeitig deutlich, wie nützlich die Analyse der Institutionen und die Notwendigkeit, sie mit anderen Variablen zu kombinieren, sein können, um ein Verständnis der politischen Prozesse zu erreichen. Unter den vier behandelten Interpretationsansätzen ist der vierte deijenige, der den Eigenschaften des politischen Prozesses in Brasilien in den Zeiten der Neuen Republik am nächsten kommt. Seit der Verfassung von 1988 ist die Struktur der politischen Institutionen praktisch unverändert geblieben. Die Merkmale der Koalitions- und der Regierungsführung allerdings haben sich verändert. Dieser Unterschied scheint seinen Ursprung in einer größeren oder geringeren Ähnlichkeit zwischen den Richtungen des politischen Stils und den institutionellen Strukturen zu haben.

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Autoren

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Autoren Dinorah Azpuru: Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Asociación de Investigación y Estudios Sociales (ASIES), Guatemala Carla Carrizo: Professorin der Universidad de Buenos Aires und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Instituto de Investigación (IDICSO) der Universidad del Salvador, Buenos Aires, Argentina Benjamín Fernández Bogado: Journalist, Anwalt und Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten, Asunción, Paraguay Luis Gómez Calcaño: Wissenschaftler am Centro de Estudos del Desarrollo (CENDES) der Universidad Central de Venezuela Rogelio Hernández Rodríguez: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Colegio de México Wilhelm Hofmeister: Leiter des Studienzentrums der Konrad-AdenauerStiftung in Rio de Janeiro, Brasilien Rene Antonio Mayorga: Direktor des Centro Boliviano de Estudios Multidisciplinarios (CEBEM), La Paz, Bolivien Simón Pachano: Professor an der Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales (FLACSO), Quito, Ecuador Vicente Palermo: Unabhängiger Wissenschaftler des Consejo de Investigaciones Científicas y Técnicas (CONICET) am Instituto Torcuato di Telia, Buenos Aires, Argentinien Fernando Tuesta Soldevilla: Professor an der Universidad de Lima (1995-2000), danach Direktor des nationalen Wahlbüros Oficina Nacional de Processos Electoral (ONPE), Lima, Peru