Funktionale Differenzierung, soziale Ungleichheit und Exklusion [1, 1 ed.] 9783744507172, 9783867644778


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German Pages 355 Year 2018

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Buchtitel
Impressum
Vorwort
Inhaltverzeichnis
Einleitung
Teil 1 Funktionale Differenzierung und soziale Ungleicheit
1 Der Primat funktionaler Differenzierung und das Problem der sozialen Ungleichheit
2 Soziale Ungleichheit und Individualisierung
3 Die Kopplung von Ungleichheiten
Teil 2 Funktionale Differenzierung und Exklusion
4 Die individualisierte Person und das gesellschaftliche Grenzregime
5 Exklusion in Brasilien
Fazit
Literatur
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Funktionale Differenzierung, soziale Ungleichheit und Exklusion [1, 1 ed.]
 9783744507172, 9783867644778

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Roberto Dutra Torres Funktionale Differenzierung, soziale Ungleichheit und Exklusion

Roberto Dutra Torres

Funktionale Differenzierung, soziale Ungleichheit und Exklusion

HERBERT VON HALEM VERLAG

Diese Arbeit wurde im Jahr 2012 unter dem Titel »Funktionale Differenzierung, soziale Ungleichheit und Exklusion: eine theoretische Analyse und eine Interpretation des Falles Brasiliens« von der Humboldt-Universität zu Berlin am Institut für Sozialwissenschaften als Dissertation angenommen (Betreuer: Prof. Dr. Hans-Peter Müller). Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des DAAD.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Roberto Dutra Torres Funktionale Differenzierung, soziale Ungleichheit und Exklusion Köln: Halem, 2018 ISBN 978-3-7445-0717-2

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. © 2018 Herbert von Halem Verlag, Köln

Zuerst erschienen im UVK Verlag, Konstanz, 2013 (978-3-86764-477-8)

Herbert von Halem Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Schanzenstr. 22, 51063 Köln Tel.: +49(0)221-92 58 29 0 E-Mail: [email protected] URL: http://www.halem-verlag.de

Vorwort Brasilien ist anders. Es ist diese Alteritätsfigur, die seit jeher den Diskurs über dieses große Land bestimmt. Angefangen mit den ersten magischen Reisebeschreibungen, die dem sich modernisierenden Europa nochmals den „Naturzustand“ auch ihrer Gesellschaften in Erinnerung rufen und so die nostalgische Sehnsucht nach einer ursprünglichen Natur wecken konnten, die hierzulande durch Industrialisierung und Urbanisierung unwiederbringlich verloren gegangen ist, setzt sich diese Exotisierungsstrategie bis zum heutigen Tage fort. Vor dieser exotisierenden Alteritätsfigur ist selbst die aktuelle deutsche Soziologie nicht gefeit. Wenn Ulrich Beck angesichts wachsender sozialer Ungleichheit und Prekarität vor der „Brasilianisierung“ deutscher Verhältnisse warnt, muss er diesen Begriff gar nicht näher definieren, da er wie selbstverständlich damit rechnen kann, von seinen Landsleuten verstanden zu werden. Er hat dabei nicht das Bild der Entwicklungsökonomen vor Augen, die Brasilien längst zu den BRICStaaten (Brasilien, Russland, Indien und China) zählen, weil ihre aufstrebenden Märkte globalen Unternehmen gute Absatzchancen verheißen und damit den wirtschaftlichen Aufstieg dieser Länder beflügeln werden. Vielmehr ist es in westlichen Augen die enorme Kluft zwischen Arm und Reich, die den Kassandraruf des bekannten deutschen Soziologen untermauert. Auch Niklas Luhmann hatte seine „brasilianische Irritation“. Der Besuch einer „favela“ beeindruckte den nüchternen Gesellschaftstheoretiker der Moderne so nachhaltig, dass er anfing, über „Inklusion und Exklusion“ nachzudenken. Und diese Leitdifferenz sollte ihn bis zu seinem Tode nicht mehr loslassen. Dabei hatte seine Systemtheorie der Funktionssysteme unter anderem die Aufgabe zu zeigen, dass ähnlich wie Pocken und Masern das Problem der sozialen Ungleichheit seine epidemische Systemgefährdung, wie sie noch Karl Marx angenommen hatte, ein für alle Mal eingebüßt hatte. Wenn eine Gesellschaft einmal ihre institutionellen Weichen von Klassen und Ständen auf Systeme und Funktionen umgestellt hat, dann mögen soziale Unterschiede noch als systemische Begleitmusik anfallen. Sie spielen für die Funktionsweise einer modernen Gesellschaft aber keine entscheidende Rolle mehr. So dachte Luhmann, solange er sein altes Europa und seine ihm wohl geordnete Bundesrepublik Deutschland vor Augen hatte. Seine brasilianische Erfahrung indes wirkte nach und wurde ihm zum „Saulus-Paulus“-Erlebnis. In seinem Opus Magnum „Gesellschaft der Gesellschaft“ räsoniert Luhmann darüber, dass eines Tages die Leitdifferenz „System/Umwelt“ durch die neue Leitdifferenz „Inklusion/Exklusion“ abgelöst werden könnte. Was das für eine Gesellschaftstheorie der Moderne im Allgemeinen und für das Problem sozialer Ungleichheit im Besonderen heißen sollte – diese beiden Grundfragen blieben in seinem Spätwerk weitgehend unbeantwortet.

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Es ist diese Doppelproblematik, die Roberto Dutra Torres Junior in seiner vorzüglichen Arbeit aufgreift. Als gebürtiger Brasilianer, der mit den gesellschaftlichen Verhältnissen ähnlich gut vertraut ist wie Luhmann mit dem alten Europa, und versierter Theoretiker zugleich, der das Verhältnis von Gesellschafts- und Ungleichheitstheorie in neuartiger Weise denken will, rollt er den gesamten Diskurs nochmals auf und versucht, Luhmanns Ansatz für die Analyse Brasiliens fruchtbar zu machen, indem er dessen Gesellschaftstheorie systematisch eine Theorie sozialer Ungleichheit einziehen will. Um dem Zusammenhang zwischen funktionaler Differenzierung, sozialer Ungleichheit und Exklusion auf die Spur zu kommen, setzt er an den „zwei Soziologien“ an. Normalerweise ist damit das Schisma zwischen Handlungs- und Systemtheorie gemeint, hier geht es um die beiden Paradigmen von Differenzierung und Ungleichheit. Seit einiger Zeit schon wird in der soziologischen Theorie die Vereinbarkeit der beiden scheinbar unversöhnlichen Paradigmen diskutiert: Das Paradigma der sozialen Differenzierung einerseits, das Paradigma strukturierter sozialer Ungleichheit andererseits. Nach der ersten Auffassung wird die moderne Gesellschaft als ein Ensemble funktional differenzierter Systeme präsentiert, die nach eigenlogischen und spezialisierten Kriterien den gesellschaftlichen Verkehr regeln. Der prominenteste Vertreter dieser Auffassung ist eben jener Niklas Luhmann, der auf diesem Grundgedanken eine beeindruckende Gesellschaftstheorie errichtet hat. Sie umfasst fast alle Funktionssysteme, die er nach seinem Ansatz einer autopoietischen Systemtheorie ausgearbeitet hat. Da er von drei bzw. vier verschiedenen Formen sozialer Differenzierung ausgeht – der segmentären, geschichteten, Zentrum und Peripherie und der funktionalen Differenzierung –, spielt soziale Ungleichheit eine zentrale Rolle nur in der geschichteten Differenzierung, weil hier Funktion und Stand zusammenfallen. Das dokumentiert etwa das trianguläre Schema von bellatores, oratores und laboratores, also von kämpfendem, betendem und arbeitendem Stand, wie es auf alle indoeuropäischen Gesellschaften traditionalen Zuschnitts zutrifft. In der modernen Gesellschaft – das zeigt Luhmann in seiner Auseinandersetzung mit der Klassenbegrifflichkeit – gibt es zwar nach wir vor so etwas wie soziale Ungleichheit, aber sie spielt keine systemrelevante Rolle mehr. Da Funktionssysteme nach universalisierbaren Kriterien operieren, also Allokation von Personen auf Positionen nach streng meritokratischen Erwägungen funktioniert, wird soziale Ungleichheit entweder akzidentell, oder sie ist ein kumulativer side-effect von Selektions- und Leistungsprozessen. Der Normalfall ist die Vollinklusion von Personen in Funktionssysteme. Erst sein Besuch in einer favela in Brasilien hat – wie gesehen – Luhmann eines Besseren belehrt, was ihn zu der Ausarbeitung von Vorstellungen zu Exklusion und Inklusion führte, die aber nicht recht zu seiner Theorie der Funktionssysteme zu passen schienen. Das andere Paradigma hingegen betont die fortgesetzte Bedeutung und Existenz von strukturierter sozialer Ungleichheit. Die Tatsache, dass moderne Gesell6

schaften funktional differenziert sind (horizontale Differenzierung), bringt Schichtung nicht einfach zum Verschwinden, zumal dann nicht, wenn Produktiveigentum recht asymmetrisch verteilt zu sein pflegt (vertikale Ungleichheit). Selbst wenn moderne Gesellschaften überkommene Vorstellungen von Stand und Klasse verabschiedet haben mögen, existieren weiterhin extrem ungleiche soziale Lagen, soziale Milieus und Lebensstile innerhalb der Bevölkerung eines Landes. Der prominenteste Verfechter dieses Paradigmas strukturierter sozialer Ungleichheit ist Pierre Bourdieu, der zumindest für die französische Gesellschaft eine ziemlich klare vertikale Strukturierung in drei Klassen anhand von deren differenziellen Lebensstilen nachweisen konnte. Dennoch hindert ihn diese Sichtweise nicht daran, eine Theorie der sozialen Felder auszuarbeiten, die durchaus Parallelen zur Theorie der Funktionssysteme von Niklas Luhmann aufweist. Vor diesem Hintergrund einer theoriesystematischen Sackgasse zweier unvereinbarer Paradigmen stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls wie ein Theoriedesign auszusehen hätte, das Differenzierung und Ungleichheit systematisch in einer Theorie der modernen Gesellschaft verknüpft. Und falls das gelingen sollte, ergibt sich die Frage, ob dieses neue Theoriearrangement dann eher im Rahmen eines Ansatzes von Klassen, Milieus und Lebensstilen oder im Rahmen eines Ansatzes von Inklusion und Exklusion erfolgen soll. Die große und gewichtige Herausforderung dieser Problemstellung nimmt Roberto Dutra in seiner Arbeit auf, indem er sich eine doppelte Aufgabe stellt: Auf der einen Seite wählt er den Luhmann‘schen Ansatz und sucht funktionale Differenzierung mit sozialer Ungleichheit über den Begriff der Exklusion zu verbinden. Als Doktorand aus Brasilien versucht er, Luhmanns „brasilianische Irritation“ produktiv, das heißt theoriesystematisch zu wenden. Auf der anderen Seite wählt er Brasilien als Bezugsgesellschaft, an der sich sein Lösungsvorschlag als gangbarer Weg zu erweisen hätte. Wie löst er diese komplizierte und spannende Problemstellung in seiner Analyse ein? Ein Vorwort sollte nicht zu viel verraten, um den Leser nicht um die Entdeckung seiner eigenen Lesefrüchte zu bringen. Nur so viel sei gesagt, dass Luhmann, der in seinem Spätwerk für alle seine Adepten überraschend das Dilemma der „beiden Soziologien“ in seine eigene Gesellschaftstheorie reimportiert, indem er über die Ablösung der Leitdifferenz „System/Umwelt“ durch die Leitdifferenz „Inklusion/Exklusion“ räsoniert, die Frage des Verhältnisses von Differenzierung und Ungleichheit zwar systematisch offenlässt, aber doch einige Hinweise hinterlässt, wie man dieses Verhältnis denken könnte. An diesen Hinweisen setzt Roberto Dutra an und sucht ihnen eine systematische Lesart zu verpassen. Die Grundintention lautet, dass schon die Unterscheidung von Differenzierung und Ungleichheit nicht so eindeutig ist, wie Luhmann meint. Unter Bezugnahme auf den sachlichen, zeitlichen und sozialen Charakter gesellschaftlicher Phänomene verweist die sachliche Dimension auf Differenzierung, die 7

aber aus zeitlicher und sozialer Perspektive häufig mit sozialer Ungleichheit einhergeht. Diese interessante Idee wendet Roberto Dutra sodann für die gesellschaftliche Seite nicht auf die Funktionssysteme selbst, sondern auf deren Organisationen an, um zu zeigen, wie Differenzierung immer auch Ungleichheit miterzeugt. Für die individuelle Seite setzt er am Begriff der Karriere an, um zu demonstrieren, wie aus anfänglich infinitesimalen Unterschieden sich über den gesamten Lebenslauf veritable soziale Ungleichheit durchsetzt – ein Befund, der durchaus mit den Forschungsresultaten der mikrosozialen Ungleichheitsforschung korrespondiert. Im letzten Kapitel versucht Roberto Dutra, die gewonnenen analytischen Unterscheidungen auch für die Entwicklungsgeschichte der brasilianischen Gesellschaft fruchtbar zu machen. Er trägt damit nicht unmaßgeblich zur Entexotisierung des Diskurses über Brasilien bei. Denn dieses Land ist bei allen Eigenheiten, wie er in seinem historisch gehaltenen Abriss zeigt, eine moderne Gesellschaft inmitten einer großen Transformation, die gegenwärtig noch anhält. Die deutsche und europäische Soziologie täten gut daran, diese Transformationsländer, wie sie gegenwärtig unter dem BRIC-Label zusammengefasst werden, nicht gänzlich dem analytischen Auge der Entwicklungsökonomen zu überlassen. Wie eine soziologische Analyse aus der Perspektive einer weiterentwickelten Luhmann‘schen Theorie aussehen könnte, dazu leistet Roberto Dutra Torres Junior einen wichtigen Beitrag. Hans-Peter Müller (Humboldt-Universität Berlin und Università La Sapienza Roma)

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Für meine Frau Djamilla und meinen Sohn Francisco

Danksagung Ich möchte mich an dieser Stelle bei vielen Personen bedanken, die mich bei der Erstellung dieser Arbeit aus verschiedenen Gründen sehr unterstützt haben. Ich danke Professor Hans-Peter Müller für die Betreuung meiner Arbeit. Seine Anregungen und Kommentare waren unentbehrlich für das gute Gelingen dieser Arbeit. Seine Hilfbereitschaft hinsichtlich außerwissenschaftlicher bzw. organisatorischer Fragen war ebenfalls entscheidend. Thorsten Peetz und Bettina Mahlert dank ich für die inhaltlichen Diskussionen sowie für die angenheme Zusammenarbeit. Bei Brand Arenari, Guilherme Gonçalves, João Paulo Bachur, Pablo Holmes und Manuel Saavedra möchte ich mich für die Freundschaft und für die fruchtbare Zusammenarbeit bedanken. Professor Jessé Souza danke ich für die jahrelange anregende Kooperation und Freundschaft. Bei Katharina Damm möchte ich mich für das sorgfältige Korrekturlesen sowie für die Freundschaft bedanken. Ein besonderer Dank gilt meinen Eltern, Roberto Dutra und Maria das Graças, und meiner Schwester Jaqueline Crespo für ihre Unterstützung und ihr vorbehaltloses Vertrauen. Schließlich und keineswegs zuletzt möchte ich meiner Frau Djamilla für die alltägliche Unterstüzung und Nachsicht ganz herzlich danken. Sie wusste mich in den richtigen Momenten zu motivieren, war für mich da und hat immer an mich geglaubt. Nur dank eines Promotionsstipendiums des DAAD war es mir möglich, mich intensiv mit der neusten Literatur zur sozialen Ungleichheit und Gesellschaftstheorie zu beschäftigen. Dem DAAD gilt mein besonderer Dank für die gewährte finazielle Unterstützung.

Inhaltverzeichnis Einleitung............................................................................................................. 15 Teil 1 Funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit ........................... 23 1 Der Primat funktionaler Differenzierung und das Problem der sozialen Ungleichheit ......................................................................... 25 1.1 Ugleichheit als Problem der Moderne...................................................... 25 1.2 Primatthese oder sozialer Ungleichheit? .................................................. 31 1.3 Der Zusammenhang von Ungleichheit und funktionaler Differenzierung ........................................................................................ 37 1.4 Systemdifferenzierung: Einheit als Differenz.......................................... 40 1.5 Ordnung und Kontingenz ......................................................................... 44 1.6 Sinndimensionen und soziale Ordnung.................................................... 53 1.7 Der Primat funktionaler Differenzierung und die Sachdimension........... 60 1.8 Soziale Ungleichheit und die Sozialdimension........................................ 75 2 Soziale Ungleichheit und Individualisierung ........................................... 89 2.1 Die Temporalisierung sozialer Ungleichheit ........................................... 90 2.2 Die Konstruktion des Raums des Möglichen........................................... 96 2.3 Individualisierung, Selbstselektion und Fremdselektion ....................... 100 2.4 Zum Begriff der operativ/strukturierten sozialen Ungleichheit ............. 111 3 Die Kopplung von Ungleichheiten......................................................... 125 3.1 Organisationen und funktionale Differenzierung................................... 127 3.2 Die organisatorische Einschränkung von operativen Möglichkeiten der Funktionssysteme............................................................................. 136 3.3 Das Vorfeld von Entscheidungen........................................................... 142 3.4 Exkurs: Kausalität im Süden? ................................................................ 148 3.5 Die Verknüpfung von Ungleichheiten im Lebenslauf ........................... 155 3.6 Staatsangehörigkeit ................................................................................ 159 3.7 Die strukturelle Kopplung von Erziehung und Wirtschaft .................... 163 Teil 2 4 4.1 4.2

Funktionale Differenzierung und Exklusion.......................................... 177 Die individualisierte Person und das gesellschaftliche Grenzregime .... 183 Person und funktionale Differenzierung ................................................ 183 Der Lebenslauf und die Einheit der Person............................................ 187 13

4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8

Fernsynchronisation: die Person und ihre Zeit....................................... 194 Publikumskonstruktionen und die Selektion von Personen................... 204 Der Mensch als Medium der Gesellschaft ............................................. 215 Die Unterscheidung von Person und „Körper“...................................... 231 Die Funktion von Moral......................................................................... 233 Der Exklusionsbegriff: ein Definitionsvorschlag................................... 237 Exklusion und der Primat funktionaler Differenzierung........................ 251 Exklusion in Brasilien ............................................................................ 253 Der Übergang zu funktionaler Differenzierung in Brasilien ................. 253 Die Herausbildung des Nationalstaates.................................................. 264 Das Erbe der Sklaverei und die Kumulation von Exklusionen.............. 272 Exkurs: die Ontologisierung der Region................................................ 278 Staatsbürgerschaft und Exklusion .......................................................... 285 Die Grenzen des Wohlfahrtsstaates........................................................ 292 Die Beobachtung der Kontingenz von Sozialstrukturen........................ 299 Politische Exklusion und ihre Folgen .................................................... 315

Fazit ................................................................................................................... 329 Literatur ............................................................................................................. 337

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Einleitung Die moderne Gesellschaft ist die erste Gesellschaft, in der soziale Ungleichheit und soziale Exklusion als soziale Probleme wahrgenommen werden. Je trivialer diese Tatsache erscheint, desto mehr werden die gesellschaftlichen Voraussetzungen dieser Problematisierbarkeit vergessen. Eine Theorie sozialer Ungleichheit muss nicht nur die Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheit und Exklusion ursächlich erklären, sondern auch nach den gesellschaftlichen Bedingungen fragen, die eine Problematisierung dieser Phänomene – einschließlich der Problematisierung ihrer Ursache – ermöglichen. Sie muss daher in einer Theorie der Gesellschaft bestehen, die diese Bedingungen thematisiert. Obwohl die Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns (1927-1998) keine Theorie sozialer Ungleichheit enthält, scheint seine Grundthese, dass sich die moderne Gesellschaft durch die Umstellung von stratifikatorischer Differenzierung auf funktionale Differenzierung charakterisieren lässt, instruktiv für das Verständnis der Verortung sozialer Ungleichheit und Exklusion als Probleme der modernen Gesellschaft zu sein. Und dies gerade deshalb, weil die Definition der Moderne Luhmanns keine Identifizierung der Gesellschaft mit einer Schichtungsstruktur vornimmt, d.h. weil das Überschreiten der Grenzen vorfindbarer sozialer Asymmetrien in seiner Gesellschaftsdefinition vorgesehen ist. Hauptziel dieser Arbeit ist es, einen Platz für Phänomene der sozialen Ungleichheit und der sozialen Exklusion innerhalb der Gesellschaftstheorie Luhmanns zu finden. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Nichtexistenz einer klaren und systematischen Bestimmung dieser beiden Phänomene innerhalb der Luhmannschen Theorie der modernen Gesellschaft mit der Unterentwicklung des Themas der Individualisierung der menschlichen Beteiligung am sozialen Leben zusammenhängt. In der Gesellschaftstheorie Luhmanns ist Individualisierung Ergebnis der Auflösung allumfassender stratifikatorischer Zugehörigkeitsverhältnisse im Übergang zur Moderne. Die These, dass sich die moderne Gesellschaft durch den Primat funktionaler Differenzierung von anderen, vergangenen Gesellschaftsformationen unterscheidet, impliziert, dass die soziale Herkunft von Individuen die Art und Weise, wie sie an den ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilsystemen (Wirtschaft, Politik, Recht, Religion, Erziehung, Gesundheit, Intimbeziehungen, Kunst, Sport usw.) teilnehmen, nicht bestimmen kann. Vielmehr führt die Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme dazu, dass die soziale Herkunft selbst die Form eines spezifischen Funktionssystems (die Familie) annimmt. Dabei wird die gängige Vorstellung einer gesamtgesellschaftlichen Sozialstruktur, in der Individuen eine feste und gegebensfalls ontologisch bestimmte Stellung in der Gesellschaft haben, durch das Bild einer Kombination von inkongruenten sozialen Teilhaben an den verschiedenen sozialen Systemen ersetzt. Was das Individuum ausmacht, ist eben die Besonderheit seines Lebens15

laufs d. h., die Besonderheit der Kombination seiner Inklusionen in den ausdifferenzierten Funktionssystemen. Die Schwierigkeiten einer Konzeptualisierung der Phänomene der sozialen Ungleichheit und sozialer Exklusion anhand der systemtheoretischen Begrifflichkeit ergeben sich daraus, dass in der Theorie funktionaler Differenzierung eine systematische Bestimmung des Verhältnisses von Individualisierung und sozialer Selektion fehlt. Zwar formulierte Luhmann verstreute Annahmen über den Individualisierungsprozess, die Anknüpfungspunkte für die Konzeptualisierung der Mechanismen der sozialen Selektion (Ungleichheit und Exklusion) anbieten. Jedoch wurde die Verknüpfung von Individualisierung und sozialer Selektion in der Systemtheorie nie systematisch thematisiert. Die Ausgangsthese dieser Arbeit lautet also, dass sich ein Platz für Phänomene der strukturierten sozialen Selektion in der Theorie funktionaler Differenzierung von Luhmann finden lässt, wenn der Individualisierungsprozess in Beziehung zu der Strukturierung von Partizipationschancen in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen gesetzt wird. Das Verhältnis von gesellschaftlicher Differenzierung und Individualisierung ist ein klassisches Problemfeld der Soziologie. Es spielte eine wichtige Rolle in den Ansätzen von Émile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber. Das Verhältnis von Individualisierung und sozialer Selektion hingegen nicht. In dieser Hinsicht stellt Karl Marx die große Ausnahme dar. Denn der Geldmechanismus als Form der Bewertung und Belohnung individueller Arbeitsleistung sowie die kapitalistische Organisation der Arbeit und der Verteilung des Reichtums als Hauptmerkmal der ausdifferenzierten kapitalistischen Wirtschaft, denen er die Produktion und die Reproduktion sozialer Ungleichheit in der modernen Gesellschaft zurechnet, sind zugleich soziale Mechanismen der Individualisierung im Sinne der Auflösung ontologischer Zugehörigkeitsverhältnisse wie die vormodernen Ständezugehörigkeiten. Da die modernen sozialen Klassen nicht durch die gesamtgesellschaftliche Anerkennung von natürlichen Hierarchien, sondern durch die Machtverhältnisse der ausdifferenzierten und kapitalistisch organisierten Ökonomie produziert und reproduziert werden, sind sie von Anfang an Klassen individualisierter Menschen, welche erst durch ihre individuelle Mitgliedschaft in Organisationen – als bezahlte Arbeitskraft oder als Besitzer der Produktionsmittel – in ihre spezifische Klassenlage unterteilt werden. Doch obwohl Marx der Kontingenz im Verhältnis zwischen der ökonomischen Bestimmung von Klassenlagen und der politischen Mobilisierung von Klassen Rechnung trug1, war er kein Differenzierungstheoretiker. Dennoch hat seine Betrachtung der 1

Siehe MARX, Karl (1848/1978): „Der achtzehnte Brumaire des Luis Bonaparte“. In: Karl Marx Friedrich Engels - Werke Band 8. Berlin: Dietz. Dazu auch: BACHUR, João Paulo (2012): „Desigualdade, Classe Social e Conflito: Uma Releitura a Partir da Teoria de Systemas de Niklas Luhmann“. In: BACHUR, João Paulo/DUTRA, Roberto (Hg): Exclusão e Desigualdade na Sociedade Mundial. Belo Horizonte: UFMG (Im Erscheinen).

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Produktion und Reproduktion gesellschaftlicher Klassenunterschiede eine differenzierungstheoretische Annahme zur Voraussetzung: die Bewertung und die Belohnung individueller Arbeitsleistung innerhalb der kapitalistischen Organisationen der ökonomischen Produktion und damit auch die Verdeckung von Machtasymmetrien und Ausbeutungsverhältnissen setzen die Ausdifferenzierung eines autonom operierenden Wirtschaftssystems voraus, in dem Arbeitsleistungen rein monetär bewertet und entlohnt werden. Das Verhältnis von Individualisierung der Zurechnung von Leistung bzw. Leistungsfähigkeit und sozialer Ungleichheit bzw. sozialer Exklusion ist inzwischen zur Dauerproblematik der Soziologie sozialer Ungleichheit avanciert. Dabei kommt es vor allem darauf an, zu fragen, inwiefern der Zugang von Individuen zu begehrten Positionen, die mit höherem Einkommen und Prestige verbunden sind, nach Leistungskriterien geregelt wird und inwiefern askriptive bzw. partikularistische Strukturen – trotz der am Leistungsprinzip orientierten gesellschaftlichen Selbstbeschreibung – immer noch eine Rolle spielen. Was die Antwort auf diese Frage angeht, ist es bemerkenswert, dass bereits Talcott Parsons im Unterschied zu dem ideologiehaltigen „Belohnungsansatz“ von Kingsley Davis und Wilbert E. Moor 2, der Machtasymmetrien, Einkommensungleichheiten und Prestigehierarchien als (legitimes) Ergebnis ungleichwertiger Leistungen und Beiträge zum Erhalt der Gesellschaft betrachteten, auf eine Verbindung zwischen „der strikt universalistisch-individualistisch-leistungsbezogenen Selektion des Berufssystems“ 3 und der partikularistischen Familiensolidarität verweist. Die Familiensolidarität sorgt dafür, dass Kinder den beruflichen Status ihrer Eltern „erben“. Als eine mit einem spezifischen sozialen Status ausgestattete Verwandtschaftsgruppe konterkariert die Familie – ähnlich wie bei Pierre Bourdieu – das universalistische Prinzip der sozialen Selektion nach Leistungsunterschieden. Denn selbst wenn die Berufswelt Individuen aufgrund ihrer differentiellen Leistungen bzw. Leistungsfähigkeiten prämiert, stellt die Familie seinen Mitgliedern die Möglichkeit einer nicht universalistischen Vorbereitung auf die Schul- und Berufskarriere zur Verfügung. Hinzu kommt, dass die Institutionalisierung des Leistungsprinzips selbst selten auf völlig objektiven Maßstäben beruht, sodass Kriterien begünstigt werden, die den sachlichen Leitungsvergleich durch partikularistische Gesichtspunkte zu beeinflussen erlaubt 4. Die Meritokratie ist immer unvollkommen und die Chancengleichheit nur ein regulativer Wert. Die Frage, ob soziale Selektion (soziale Ungleichheit und soziale Exklusion) durch askriptive Merkmale oder Leistungskriterien strukturiert wird, ist auch für die Theorie funktionaler Differenzierung Luhmanns von großer Bedeutung. Für ihn wird die Teilnahme an den funktionalen Teilsystemen durch teilsysteminterne 2 MÜLLER, Hans-Peter (2002): „Die drei Welten der sozialen Ungleichheit: Belohnungen, Prestige und Citzenship“. In: Berliner Journal für Soziologie 4 (2002), S. 493-494. 3 Ibidem, S. 488. 4 Ibidem, S. 489.

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Kriterien strukturiert. Das wird häufig so verstanden, als könnten die Funktionssysteme externe Einflüsse neutralisieren. Zwar setzt die These des Primats funktionaler Differenzierung tatsächlich voraus, dass die systemeigene Allokation von Ressourcen durch systeminterne Kriterien geregelt wird. Doch das heißt eben nicht, dass diese Kriterien keine Rücksicht auf Faktoren der Umwelt nehmen. Beispielsweise erfolgt die Auswahl der im Unterricht zu vermittelnden Wissensbestände in der Regel durch pädagogische Programme und nicht durch die Präferenzen der Familien oder die Anforderungen des Arbeitsmarkts. Jedoch können die pädagogischen Programme die Relevanz dieser Wissensbestände für den Arbeitsmarkt sowie den Einfluss der familiären Sozialisation auf den Erfolg bzw. Misserfolg ihrer Vermittlung in der Schule nicht ignorieren. Dabei darf die normative Erwartung, dass externe Faktoren zugunsten der Realisierung des Prinzips der Chancengleichheit neutralisiert werden, nicht mit den empirisch vorgefundenen Selektionskriterien verwechselt werden, selbst wenn diese Kriterien der Norm der Chancengleichheit Tribut zollen. Die Erwartung wiederum, dass diese Kriterien der Norm der Chancengleichheit tatsächlich entsprechen, hängt mit dem Prinzip funktionaler Differenzierung zusammen. Funktional ausdifferenzierte soziale Sphären sind dazu gezwungen, sich gegenüber externen Faktoren als autonom zu reproduzieren. So gehört beispielsweise zu den notwendigen Reproduktionsbedingungen von Intimbeziehungen, dass die Beteiligten nicht infrage stellen, dass die Bindung zwischen ihnen auf wechselseitigem Wohlgefallen basiert und nicht auf anderen Gründen (z. B. ökonomischen). Ebendeshalb müssen externe Faktoren invisibilisiert werden. So werden die Interdependenzbeziehungen zwischen den Funktionssystemen in ihren Operationen unsichtbar gemacht, selbst wenn diese Interdependenzen auf der Ebene der (Selbst-)Beobachtung thematisiert werden. Die Tatsache, dass die Teilnahme an der Schulerziehung von ganz spezifischen, hoch kontingenten und voraussetzungsvollen Sozialisationsbedingungen in der Familie anhängig ist, kann im Unterricht nicht thematisiert werden. Die strukturelle Kopplung von Schule und Familie – eines der zentralen Themen der Ungleichheitssoziologie – wird in der schulischen Erziehungspraxis vorausgesetzt. Lediglich die Reflexionstheorien des Erziehungssystems beschäftigen sich damit, und zwar auf einer von der Erziehungspraxis distanzierten Beobachtungsebene, auf der die Unwahrscheinlichkeit des Ausgleiches differenzierter sozialisatorischer Ausgangsbedingungen durch organisatorische Erziehung häufig vergessen wird 5. Was in der Ungleichheitssoziologie als schicht- und milieuspezifische Herkunftsbedingtheit von Lebenschancen thematisiert wird, scheint in der Tat durch intersystemische Interdependenzbeziehungen geformt zu sein. So kann man 5

Siehe dazu BOMMES, Michael (2001): „Die Unwahrscheinlichkeit der Erziehung und die ‚Integration von Migrantenkindern’“. In: AMOS, Sigrid Karin et alli (Hg): Öffentliche Erziehung Revisited: Erziehung, Politik und Gesellschaft im Diskurs. Wiesbaden: Vs Verlag, S. 270.

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behaupten, dass die Tatsache, dass sich die Mittelschichts- und Beamtenkinder wirksamer auf die Anforderungen eines Bildungserfolgs einstellen können, darauf zurückführen lässt, dass ihr Familienleben an die Anforderungen der organisierten Erziehung angepasst ist. Das heißt, die Herkunftsbedingtheit des Schulerfolgs, obwohl sie meist als ein einheitlicher Strukturfaktor dargestellt wird, setzt Interdependenzbeziehungen zwischen verschiedenen teilsystemischen Ressourcen voraus: Der Schulerfolg hängt zumindest in der Form einer „losen Kopplung“ von den Sozialisationsbedingungen der Kinder ab, sowie diese wiederum von der ökonomischen Lage der Eltern abhängig sind. Dabei zeichnen sich bestimmte Ressourcen dadurch aus, dass sie den Zugang zu anderen Ressourcen deutlich erleichtern können. So ist eine gewisse stabile Zahlungsfähigkeit als Bedingung für die Möglichkeit des Schulbesuchs unerlässlich – auch in öffentlichen Schulen. So ist berufliches Wissen umgekehrt entscheidend für eine stabile Regenerierung von Zahlungsfähigkeit am Arbeitsmarkt. Dasselbe scheint für das Kommunikationsmedium Macht zu gelten. Als Einwirken von Handeln auf Handeln ist Macht einerseits eine Ressource des politischen Systems, deren Gebrauch Inklusionsmöglichkeiten in anderen sozialen Bereichen eröffnen oder verschließen kann. So sind beispielsweise diejenigen Bevölkerungsgruppen, die nicht Mitglieder „mächtiger“ Organisationen sind, selten in der Lage, an der Konstruktion kollektiv bindender Entscheidungen teilzunehmen und dadurch Inklusionschancen in anderen Bereichen zu schaffen. Andererseits ist Macht auch innerhalb von Organisationen anwesend, in denen sich Entscheidungen als Entscheidungsprämissen für andere Entscheidungen durchsetzen. Man denke an die Definition dessen, was als Leistungsfähigkeit in einem Rekrutierungsprozess gilt, aber auch an die Situationen, in denen Macht durch die antizipierte Gehorsamkeit der Machtlosen aktualisiert wird: etwa, wenn informale Beurteilungskriterien nicht infrage gestellt werden, ganz einfach aus dem Grund, weil sich diese Kriterien widerstandslos durchgesetzt haben und nun jeder Widerstand als aussichtslos erscheint. Informale Beurteilungskriterien sind beispielsweise Individualitätsmuster. Dabei handelt es sich um Muster der Ausfüllung von sozialen Rollen, mit denen soziale Systeme ihre menschliche Umwelt beobachten und Individuen in ihre Kommunikationen einschließen. Welche Fähigkeiten werden von einem Arzt, einem Lehrer oder einem Manager verlang, die nicht formal mit dem Beruf assoziiert sind? Diese Individualitätsmuster sind häufig Teil der „Kulturen“ von Organisationen und dienen vor allem dazu, die Kontingenz hochindividualisierter Vergleichsoperationen durch die Orientierung an bestimmten Modellen (etwa an „informalen Lebensläufen“) zu reduzieren: die Hochschule, an der man studierte, die Nationalität, die Verbindung von bestimmten „Kulturkreisen“ oder Schichten mit Leistungsfähigkeit oder Leistungsunfähigkeit für bestimmte Tätigkeiten usw. Ist die Entscheidungsroutine von Organisationen an solche Individualitätsmuster gewöhnt, dann ist es unwahrscheinlich, dass sie infrage gestellt werden, selbst 19

wenn nicht deutlich ist, ob diese gewöhnliche Entscheidungsprämisse tatsächlich die Selektion der leistungsfähigsten Individuen begünstigt. Denn unabhängig davon lösen sie sowieso ein zentrales Problem von Organisationen: die Stabilisierung einer Selektivität gegenüber der menschlichen Umwelt, welche der Absorption von Unsicherheit bei Rekrutierungsentscheidungen dient. Für die individuelle Karriere heißt dies, dass der Einzelne neben den formalen Anforderungen auch informale Verhaltenserwartungen erfüllen muss, was in der Regel auf eine Anpassung seiner Selbsterwartung an informale Fremderwartungen hinausläuft. Die Tatsache, dass solche informalen Beurteilungskriterien dem Inklusionsuniversalismus der Funktionssysteme widersprechen können, ist im Prinzip kein Problem für die Organisationen. Es wird erst zu einem Problem, wenn normative Erwartungen aus der Umwelt an sie adressiert werden. So müssen sich Schulen (anders als beispielsweise Arbeitsorganisationen) erst mit Problemen der Chancengleichheit beschäftigen, wenn sich die Politik (mithilfe der Erziehungswissenschaften) auf diese normative Erwartung einstellt und von der Schule verlangt, dass sie ungleiche Ausgangsbedingungen ausgleichen soll. Die damit verbundene soziale Kritik der Chancenungleichheit bezieht sich auf das Gebot der politischen Gleichheit. Diese soziale Kritik wird sozusagen durch die Einführung und Entfaltung universalistischer Staatsbürgerrechte (vor allem universalistischer politischer Rechte) institutionalisiert: Erst dadurch, dass alle Bürger formal den gleichen politischen Status haben, werden Ungleichheiten in anderen Lebensbereichen zum Problem: „Die Distinktion zwischen Gleichheit und Ungleichheit konstituiert ein Paradox. Je gleicher wir werden, so das Paradox, desto mehr Ungleichheiten zum Teil infinitesimaler Natur entdecken wir erst“ 6. Es ist die verfassungsrechtlich regulierte Politik, die den Zugang zu anderen Funktionssystemen durch die Herstellung neuer organisatorischer Entscheidungsprämissen – etwa durch die Schaffung staatlich finanzierter Inklusionsmöglichkeiten – zu erweitern versucht. Doch Ungleichheits- und Exklusionsprobleme können nur dann als Probleme der Politik (und somit der Gesellschaft) auftauchen, wenn sich die Politik als ein gesellschaftliches Funktionssystem ausdifferenziert und wenn der Erhalt der Gesellschaft nicht mehr mit der Existenz und der Reproduktion einer ontologisierten sozialen Hierarchie identisch ist. Das heißt, wenn sich die primäre Form der Bildung gesellschaftlicher Teilsysteme von der Sortierung von Menschen nach einer ontologisierten Hierarchie der Wesen auf funktionale Differenzierung umstellt. Der hier unternommene Versuch, einen Platz für Phänomene der sozialen Ungleichheit und sozialen Exklusion in der Theorie funktionaler Differenzierung zu finden, hat eben zur Voraussetzung, dass eine gesellschaftstheoretische 6 MÜLLER, Hans-Peter (2002): „Die drei Welten der sozialen Ungleichheit: Belohnungen, Prestige und Citzenship“, S. 497.

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Betrachtung dieser Phänomene die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Kritisierbarkeit und Problematisierbarkeit mitreflektieren muss. Eben dies erlaubt die These des Primats funktionaler Differenzierung: Sie postuliert, dass die primäre Form der Systemdifferenzierung der modernen Gesellschaft auf der Reproduktion von an Bezugsproblemen orientierten Teilsystemen beruht, und nicht auf der Reproduktion von bestimmten Schichtungsstrukturen. Das bedeutet zugleich jedoch nicht, dass soziale Ungleichheit für die Herstellung sozialer Ordnung keine Bedeutung mehr hat, sondern nur, dass keine konkrete Schichtungsstruktur als Bedingung der gesellschaftlichen Selbstreproduktion bewahrt werden muss. Die These dieser Arbeit lautet demzufolge, dass sich ein Platz für Phänomene der sozialen Ungleichheit und Exklusion in der Theorie funktionaler Differenzierung Luhmanns finden lässt, weil diese Theorie die gesellschaftlichen Bedingungen der Kritisierbarkeit und Problematisierbarkeit dieser Phänomene erfasst. Die erste Frage einer Theorie sozialer Ungleichheit muss die autologische Frage sein d. h., die Frage nach ihren gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit. Wie ist es möglich, dass das gesellschaftliche Leben uns erlaubt, Ungleichheit als Problem und nicht als Ordnungsgarantie anzusehen? Durch die hier dargebotene Interpretation der Gesellschaftstheorie Luhmanns soll gezeigt werden, dass die Kritisierbarkeit und die Problematisierbarkeit von sozialer Ungleichheit und sozialer Exklusion unter Gerechtigkeits- und Gleichheitsgesichtspunkten eine Gesellschaftsordnung voraussetzen, welche mit der Veränderbarkeit (mit Eliminierbarkeit nicht verwechselbar) dieser Phänomene kompatibel ist. Sowohl die Kritik sozialer Ungleichheit als auch die Vorstellungen über soziale Gerechtigkeit (darunter die politischen Utopien sowie der „primitive Egalitarismus“ von Soziologen 7) setzen also eine Gesellschaftsordnung voraus, in der die Veränderbarkeit und die „Konstruktivität“ von Ungleichheitsstrukturen sichtbar werden können, ohne dass diese Gesellschaftsordnung zusammenbricht. Das heißt, die Idee der Veränderbarkeit und der „Konstruktivität“ von sozialer Ungleichheit ist viel mehr als eine „sozialwissenschaftliche Projektion in die Gesellschaft“ 8, sie ist eine Errungenschaft der modernen Gesellschaft, die mit dem Übergang zum Primat funktionaler Differenzierung und dem normativen Prinzip der Vollinklusion konstitutiv verbunden ist. Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird die Gesellschaftstheorie Luhmanns im Hinblick auf die Frage rekonstruiert, ob die These des Primats funktionaler Differenzierung mit einem Begriff strukturierter sozialer Ungleichheit kompatibel ist. Zunächst (Kap. 1) wird die These vertreten, dass das Primat funktionaler Differenzierung die Selbstverständlichung dieser Form gesellschaftlicher Differenzierung bedeutet. Sie bildet eine Ebene der gesell7

Ibidem, S. 497-498. SACHWEH, Patrick (2011): “Unvermeindbare Ungleicheiten? Alltagsweltliche Ungleichheitsdeutungen zwischen sozialer Konstruktion und gesellschaftlicher Notwendigkei”. In: Berliner Journal für Soziologie 21 (2011), S. 581. 8

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schaftlichen Nichtkontingenz. Das heißt, soziale Ordnung wird ohne die Reproduktion funktionaler Differenzierung unvorstellbar. Das hat zur Folge, dass Strukturen sozialer Ungleichheit als kontingent und veränderbar beobachtet werden können. Das heißt aber nicht, wie bereits angedeutet, dass soziale Ungleichheit keine Bedeutung mehr für die soziale Ordnung hat. Denn obwohl soziale Ungleichheit nicht die primäre Differenzierungsform der Gesellschaft darstellt, reduziert sie doch die Komplexität der menschlichen Umwelt d. h., sie strukturiert den Raum inkludierbarer Individuen in den verschiedenen sozialen Systemen und schränkt damit die Möglichkeiten der Zurechnung der Systemwerte ein. Auf der Basis dieser Interpretation der Primatthese wird ein Begriff sozialer Ungleichheit vorgeschlagen (Kap. 2), der die operative und temporalisierte Konstruktion von personenbezogenen Erwartungsstrukturen in den Mittelpunkt stellt. Die Existenz und die Reproduktion sozialer Ungleichheit werden dabei auf ein zirkuläres Verhältnis zwischen Ereignissen und Strukturen bezogen, das für individuelle Karrieren konstitutiv ist. Die Strukturierung von ungleichen Lebenschancen (Inklusionschancen), so die These, geschieht auf der Ebene der individuellen Karrieren. Im Anschluss daran (Kap. 3) wird versucht, die Verknüpfung bereichsspezifischer Ungleichheiten zu erfassen. Hierbei wird die Rolle der Organisationssysteme und ihrer Entscheidungspraxis sowie der strukturellen Kopplungen zwischen verschiedenen Gesellschaftsbereichen analysiert. Im zweiten Teil wenden wir uns dem Phänomen der sozialen Exklusion zu. Zunächst (Kap. 4) wird gefragt, ob die funktional differenzierte Gesellschaft trotz der Nicht-Koordinierbarkeit zwischen den Selektionen ihrer Funktionssysteme eine gesamtgesellschaftliche Grenze zwischen Inklusion und Exklusion bzw. Person und „Körper“ herstellt. Um eine positive Antwort auf diese Frage zu begründen, rekonstruieren wir den Begriff des Lebenslaufs als teilsystemübergreifendes Schema der Beobachtung von Menschen als relevante/inkludierbare bzw. nicht-relevante/nicht-inkludierbare Individuen. Werden Individuen als Lebensläufe beobachtet, so wird der Wert ihrer sozialen Person konstitutiv mit ihrer sozialen Zukunft verbunden. Entscheidend dabei ist die Unterscheidung zwischen sozialer Ungleichheit und sozialer Exklusion: Handelt es sich bei sozialer Ungleichheit um soziale Klassifikationsformen von Individuen, was ihren Status als soziale Person voraussetzt, so wird ihnen im Fall der Exklusion gerade dieser Status entzogen. Ausgehend von dieser gesellschaftstheoretischen Diskussion wird (Kap. 5) der Fall Brasiliens analysiert, und zwar als Beispiel der Koexistenz zwischen dem Primat funktionaler Differenzierung und der Produktion und Reproduktion massenhafter sozialer Exklusion. Das lateinamerikanische Land, dessen Identität Ergebnis von Vergleichen mit (nord-)westlichen Ländern in fast allen sozialen Sphären ist, zeichnet sich sowohl durch eine unkontrollierbare Kumulation bereichsspezifischer Exklusionen als auch durch die Ohnmacht seines Wohlfahrtsstaats als Hauptmechanismus, der diese Kumulation unterbrechen könnte, aus. 22

Teil 1 Funktionale Differenzierung und soziale Ungleicheit

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1 Der Primat funktionaler Differenzierung und das Problem der sozialen Ungleichheit 1.1 Ungleichheit als Problem der Moderne Der Versuch, die Verbindung von Ungleichheitsanalyse und Gesellschaftstheorie wiederherzustellen, ist heutzutage einer der wichtigsten Schwerpunkte der Theoriebildung in der Soziologie geworden und besonders stark von der Diskussion um den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und funktionaler Differenzierung geprägt 9. Man darf natürlich nicht behaupten, dass diese Thematik ganz neu ist. Schaut man sich diejenigen Klassiker an, die die Soziologie sozialer Ungleichheit am stärksten beeinflusst haben, so findet man keinen, bei dem soziale Ungleichheit als einziges Strukturprinzip moderner Gesellschaft zu sehen ist. Das ist selbst bei Karl Marx der Fall, der keiner Differenzierungstheoretiker ist: Die Klassenanalyse setzt aber eine Differenzierungsdimension voraus, welche zumindest in der Autonomisierung eines Wirtschaftssystems aus vorkapitalistischen Schichtungsstrukturen ihren Ausdruck findet. Explizit wird dieser Zusammenhang zwischen den zwei Konzepten erst in der umfassenden Analyse moderner Gesellschaften Max Webers, der soziale Ungleichheit immer in differenzier-

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Vgl. dazu SCHWINN, Thomas (1998): „Soziale Ungleichheit und funktionale Differenzierung: Wiederaufnahme einer Diskussion“. In: Zeitschrift für Soziologie 27 (1998) S. 3-17; SCHWINN, Thomas (2000):„Inklusion und soziale Ungleichheit“: In: Berliner Journal für Soziologie 10 (2000), S. 471-483; SCHWINN, Thomas (Hg) (2007): Differenzierung und Soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt a. M: Humanities Online, 2004; SCHWINN, Thomas (2007): Soziale Ungleichheit. Bielefeld: Transcript; SCHIMANK, Uwe (1998): „Funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Gesellschaftstheorien und ihre konflikttheoretische Verknüpfung“. In: GIEGEL, H.J (Hg): Konflikt in moderner Gesellschaft. Frankfurt a. M: Suhrkamp, S. 61-89; SCHIMANK, Uwe et al (2008): Das Publikum der Gesellschaft: Inklusionsverhältnisse und Inklusionsprofile in Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag; WEIß, Anja (2004): „Unterschiede, die einen Unterschied machen. Klassenlagen in den Theorien von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann“. In: NASSEHI, Armin/NOLLMANN, Gerd (Hg). Luhmann-Bourdieu. Ein Theorievergleich. Frankfurt a. M: Suhrkamp, S. 208-232; NASSEHI, Armin (2004): „Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik“. In: Zeitschrift für Soziologie 33 (2004), S. 98-118; NASSEHI, Armin. (2004): „Inklusion, Exklusion, Ungleichheit. Eine kleine theoretische Skizze“. In: SCHWINN, Thomas (Hg): Differenzierung und Soziale Ungleichheit: Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt a. M: Humanities Online, S. 323-352; KIESERLING, André (2008): „Felder und Klassen. Pierre Bourdieus Theorie der modernen Gesellschaft“. In: Zeitschrift für Soziologie 37 (2008), S. 3-24; STICHWEH, Rudolf/ WINDOLF, Paul (Hg) (2009): Inklusion und Exklusion. Analyse zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag; STICHWEH, Rudolf (2010): „Funktionale Differenzierung der Weltgesellschaft“. In: KZfSS, Sonderheft 50 (2010), S. 299-306; MÜNCH, Richard (2010): „Funktionale, stratifikatorische und segmentäre Differenzierung der Weltgesellschaft“. In: KZfSS Sonderheft 50 (2010), S. 307-310.

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ten Ordnungen 10 konzipiert hat. Außerdem hat auch die funktionalistische Differenzierungstheorie im Anschluss an Talcott Parsons sich intensiv von den 40er bis in die 60er Jahre „mit Schichtungsproblematik beschäftigt“ 11. Dessen ungeachtet wurden Differenzierungstheorie und soziale Ungleichheitssoziologie in den letzten Jahrzehnten größtenteils als zwei voneinander getrennte Traditionen entwickelt. Es ist heute diesbezüglich sogar von „zwei Gesellschaftstheorien“ 12 die Rede. Die grundlegende Frage nach dem Zusammenhang zwischen den beiden Strukturdimensionen, nachdem Marx sie zugunsten eines Primats von Schichtungsstrukturen durch sein Überbautheorem beantwortet hat, ist von einer anspruchsvolleren Frage nach der „Einheit des Differenzierten“ 13 auf ein subthematisiertes Nebeneinander der zwei Strukturprinzipien umgestellt worden. Selbst Weber und Pierre Bourdieu, die sich systematisch mit Differenzierung und sozialer Ungleichheit beschäftigt haben, haben keine über dieses Nebeneinander hinausgehende Antwort angeboten. In der aktuellen Diskussion wird daher festgestellt – und dies scheint ein Konsens zwischen den verschiedenen mit dem Thema beschäftigten Theorietraditionen zu sein –, dass sich ein ernstzunehmendes gesellschaftstheoretisches Defizit in der Theorie sozialer Ungleichheit eben aus dem „Nichtwahrnehmen der beiden soziologischen Traditionen“ 14 ergibt. Da es zwischen der Ungleichheitsforschung und der Differenzierungstheorie keinen systematischen Austausch gibt, sind viele gesellschaftstheoretische Prämissen der Ungleichheitsforschung weitgehend unhinterfragt, obwohl mittlerweile gesellschaftstheoretische Fortschritte gemacht wurden, die diese anzweifeln 15. Zugespitzt formuliert: Es scheint so, als ob der gesellschaftstheoretische Rahmen, indem das Problem sozialer Ungleichheit als zentrales Thema der Soziologie erscheint, immer schon durch die Tradi10 Zur Aktualisierung seines Programms siehe SCHWINN, Thomas (2001): Differenzierung ohne Gesellschaft: Umstellung eines soziologischen Konzepts. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. 11 SCHWINN, Thomas (1998): „Soziale Ungleichheit und funktionale Differenzierung, S. 3. 12 SCHIMANK, Uwe (1998): „Funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit“. 13 KIESERLING, André (2006):„Schichtung ohne Interaktionsbezug. Eine moderne Sozialstruktur und ihre semantische Korrelate“. In: TÄNZLER, Dirk et al (Hg): Neue Perspektiven der Wissenssoziologie. Konstanz: UVK, S. 174. 14 SCHWINN (2007): Soziale Ungleichheit, S. 7ff. 15 Der wichtigste Fall ist sicherlich der des „methodologischen Nationalismus“. Siehe dazu BERGER, Peter & WEIß, Anja (Hg) (2008): Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag. Bemerkenswert dabei ist, dass weltgesellschaftstheoretische Ansätze – wie die von Luhmann – von Verteidigern des nationalstaatlichen Gesellschaftsbegriffes mit dem Argument abgelehnt werden, sie seien nur „eine neue Weltsicht“, bei der weitgehend unklar bleibe, „inwieweit […] eine konkrete Gesellschaft wie jene der Bundesrepublik zutreffend beschrieben“ werde. HALLER, Max (2007): „Kritik oder Rechtfertigung sozialer Ungleichheit? Die deutsche 'Sozialstrukturideologie' vom Ende der Klassengesellschaft in historischer und vergleichender Perspektive. Eine wissenssoziologische Analyse“. In: NOLLMANN, Gerd (Hg): Sozialstruktur und Gesellschaftsanalyse. Wiesbaden: VS Verlag, S. 118. Zu fragen ist dann, ob die Definition derjenigen „konkreten Gesellschaften“ ihre Plausibilität ohne die vorwissenschaftliche Evidenz „einer alten Weltsicht“ gewinnen könnte.

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tion dieses Forschungsgebiets innerhalb der Disziplin gegeben wäre. Man spricht von sozialer Ungleichheit als der „dominanten Hauptachse“ moderner Gesellschaften 16 , ohne weiteren gesellschaftstheoretischen Fragen nachzugehen, die entscheidend für den Anspruch auf einen derartigen gesellschaftlichen Primat sind. Eng mit diesem Primatsanspruch verknüpft tritt die wichtigste gesellschaftstheoretische Frage auf: Kann man überhaupt noch von einer einheitlichen Struktur sozialer Ungleichheit sprechen, wenn immer mehr Dimensionen sozialer Ungleichheit entdeckt werden: Klasse, Milieu, Geschlecht, Ethnie, Alter, Raum etc.? Könnte man angesichts dieser Vielzahl von Ungleichheiten noch in sich konsistente soziale Lagen erkennen, die die Bündelung und die wechselseitige Verstärkung dieser Ungleichheiten strukturieren? Es geht somit um die Frage nach der Einheit des Gegenstandes. Solange die Einbettung der Ungleichheitsanalyse in eine Theorie des Kapitalismus in starkem Maße 17 unproblematisch erschien, war es nicht schwer, eine einheitliche Struktur sozialer Ungleichheit aus den Produktionsverhältnissen bzw. Beschäftigungssystemen abzuleiten 18 . Von großer Bedeutung war dabei sicherlich auch die nicht hinterfragte Annahme einer nationalstaatlichen Rahmung dieser Struktur sozialer Ungleichheit 19. Die Einheit des Gegenstandes wurde gewissermaßen durch eine unreflektierte Teilhabe an den national- und wohlfahrtsstaatlichen Prämissen bestimmt. Geht man aber von der Differenzierungstheorie aus – in welcher Variante auch immer –, dann wird diese Einheit zumindest fragwürdig, und zwar sowohl in Bezug auf ihre „kapitalistischen“ als auch hinsichtlich ihrer nationalstaatlichen Voraussetzungen. Zum einen betont die Differenzierungstheorie dort, wo die Kapitalismustheorie aus der Perspektive der Verselbständigung der Ökonomie die moderne Gesellschaft betrachtet, die Autonomisierung weiterer Funktionssysteme bzw. Ordnungen (wie Politik, Recht, Religion, Erziehung, Kunst, Sport, Gesundheit, Medien, Familie usw.). Diese differenzierte Sichtweise stellt eine gesellschaftstheoretische Herausforderung für die Soziologie sozialer Ungleichheit dar: Die Struk16

MAYER, Karl Ulrich (1987):„Zum Verhältnis von Theorie und empirischer Forschung zur sozialen Ungleichheit“: In: GIESEN, Bernhard/HAFERKAMP, Hans (Hg): Soziologie der sozialen Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag, S. 374, 376 ff. 17 SCHWINN, Thomas (2007): Soziale Ungleichheit, S. 7. 18 KRECKEL, Reinhard (1985): „Zentrum und Peripherie: ,alte‘ und ,neue‘“ Ungleichheiten in weltgesellschaftlicher Perspektive“. In: GOLDHORPE, John H/STRASSER, Hermann (Hg): Die Analyse sozialer Ungleichheit. Kontinuität, Erneuerung, Innovation. Opladen: Westdeutscher Verlag, S.307 19 Siehe BECK, Ulrich (2008): „Risikogesellschaft und die Transnationalisierung sozialer Ungleichheit”. In: BERGER, Peter/WEIß, Anja (Hg): Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag, S. 22; BERGER, Peter/WEIß, Anja (2008): „Logik der Differenzen – Logik des Austausches. Beiträge zur Transnationalisierung sozialer Ungleichheiten“. In: ders. (Hg): Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag, S. 9 ff; REHBEIN, Boike (2007): Globalization, Culture and Society in Laos. London/New York: Routledge, S. 16ff.

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tur sozialer Ungleichheit – die Ungleichwertigkeit von sozialen Personen 20 – kann nicht mehr aus einem einzigen Funktionssystem – der Ungleichartigkeit der Ordnungen bzw. Funktionssysteme – deduziert werden – so sehr ein zeitdiagnostischer „Ökonomisierungsdruck“ 21 auch der Fall sein kann. Die Vorstellung, dass eine eindeutige, durch die Berufsstellung 22 definierte Ungleichheitsstruktur das menschliche Verhalten bestimmt, wird herausgefordert durch Beobachtungen, die eine Entkopplung des Verhaltens von dieser eindimensionalen Ungleichheitsstruktur in verschiedenen Gesellschaftsbereichen feststellen 23 . Auch wenn die Stellung im Beruf noch immer der wichtigste Kopplungspunkt zu sein scheint, der die „Wahrscheinlichkeitskorridore“ für die Art und Weise, wie konsumiert, an der Politik, den Massenmedien, der Familie, der Religion und der Kunst, teilgenommen wird, bestimmt, gewinnt das konkrete Verhalten in den jeweiligen Funktionsbereichen einen Grad von Autonomie, dem nur ein multidimensionaler Ansatz gerecht werden kann. Der Übergang von einer „Knappheitsungleichheit“ zu einer „Reichtumsungleichheit“ 24 führte zu einer Lockerung des Verhältnisses von ökonomischen Positionszuweisungen und den Lebensstilen in anderen Lebensbereichen. Diese gesellschaftliche Entplausibilisierung der verhaltensbezogenen Erklärungskapazität eines einheitlichen Hierarchiemodells sozialer Klassen und Schichten erreicht seinen Höhepunkt mit der Individualisierungsthese Ulrich Becks 25. Unser theoretischer Versuch, das Verhältnis von funktionaler Differenzierung und sozialer Ungleichheit zu konzeptualisieren, führt nicht zur Ablehnung des Paradigmas strukturierter sozialer Ungleichheit, sondern zu 20

Vgl. MÜLLER, Hans-Peter (1992): Sozialstruktur und Lebensstile. Der neue theoretische Diskus über soziale Ungleichheit. Frankfurt a. M: Suhrkamp, S. 286. 21 SCHIMANK, Uwe (2009): „Die Moderne. Eine funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft“. In: Berliner Journal für Soziologie 3 (2009), S. 343 22 Zwar handelt es sich um ein dreidimensionales Konzept der sozialen Schichtung, das die „objektive Faktoren“ Einkommen, Bildung und Beruf einbezieht. Jedoch werden diese Faktoren als berufliche vermittelte Ressourcen behandelt, sodass in der Forschungspraxis bis in die 70er Jahre hinein in Deutschland zwischen Sozialstruktur und der Berufshierarchie nicht unterschieden wurde. HRADIL, Stefan/BERGER, Peter (1990): „Die Modernisierung sozialer Ungleichheit und die neuen Konturen ihrer Erforschung“. In: Ders. (Hg). Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstille. In: Soziale Welt Sonderband 7 (1990), S. 3-28. 23 HRADIL, Stefan/BERGER, Peter (1990): „Die Modernisierung sozialer Ungleichheit und die neuen Konturen ihrer Erforschung“, S. 12; HRADIL, Stefan (2006): „Soziale Milieus – eine praxisorientierte Forschungsperspektive“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 44/45 (2006), S. 4. 24 HRADIL, Stefan/BERGER, Peter (1990): „Die Modernisierung sozialer Ungleichheit und die neuen Konturen ihrer Erforschung“. 25 BECK,Ulrich (1983): „Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten“. In: KRECKEL, Reinhard (Hg). Soziale Ungleichheit. Göttingen: Schwartz & Co., S. 35-74. Vgl. dazu auch MÜLLER, Hans Peter (2006): „Zur Zukunft der Klassengesellschaft“. In: Merkur 695 (2007), S. 189-199 und KIESERLING,André (2010):„Das Individuum und die Soziologie: zur Geschichte eines soziologischen Reflexionsthemas“. In: BERGER, Peter/HITZLER, Ronald (Hg): Individualisierungen: ein Vierteljahrhundert „jenseis von Stand und Klasse?. Wiesbaden: VS Verlag, S. 311-324.

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der These der Kontingenz der Strukturen sozialer Ungleichheit im Kontext ausdifferenzierter Funktionssysteme, zwischen denen es keine strukturelle Kontinuität gibt. Zum anderen wird zumindest in der neuen systemtheoretischen Variante der Differenzierungstheorie die nationalstaatliche Rahmung sozialer Ungleichheit relativiert, sodass die nationale Staatsbürgerschaft nicht mehr als eine Grenze, die die Einheit der Struktur sozialer Ungleichheit nach innen bestimmen könnte, angesehen wird, sondern als eine spezifische soziale Lage, deren ungleichheitsrelevante Struktureffekte sowohl diesseits 26 als auch jenseits des Nationalstaats 27 zu beobachten sind. Das heißt, der Nationalstaat ist keine gesellschaftliche Grenze mehr, sondern nur eine politische Organisation, die die segmentäre Binnendifferenzierung der weltgesellschaftlichen Politik auf Dauer stellt 28. Zwar trägt der Nationalstaat zur Strukturierung sozialer Ungleichheit bei; diese Strukturierung ist aber kontingent, denn sie kann anders sein, ohne die moderne Gesellschaft in eine „evolutionäre Katastrophe“ zu bringen 29. An dieser Stelle wird deutlich, dass es problematisch ist, den gesellschaftlichen Rahmen strukturierter sozialer Ungleichheit durch eine einheitliche Struktur desselben Typs zu bestimmen. Und das Problem der Einheit der Struktur ist das Problem, mit dem sich der Gesellschaftsbegriff beschäftigen muss, wenn man diesen Begriff nicht aufgeben oder sich bloß mit einer nationalstaatlichen und vorwissenschaftlichen Definition begnügen will 30. Um es anderes zu sagen: Will man den gesellschaftlichen Rahmen strukturierter Ungleichheit selbst als eine Struktur sozialer Ungleichheit definieren, dann müsste man ein „festeres“, „trägeres“ „dominantes Schichtungsprinzip“ erkennen, das den gesellschaftlichen Rahmen für die Änderung sekundärer Schichtungsstrukturen bildet31. Ändert sich aber das „dominante Schichtungsprinzip“, ist die Gesellschaft kaum noch als die gleiche zu betrachten. Die Einheit der (modernen) Gesellschaft, in der soziale 26 Siehe BOMMES, Michael (2004): „Zur Bildung von Verteilungsordnungen in der funktional differenzierten Gesellschaft. Erläutert am Beispiel ,ethnischer Ungleichheit‘ von Arbeitsmigranten“. In: SCHWINN, Thomas (Hg): Differenzierung und Soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt a. M: Humanities Online. 27 WEIß, Anja (2002): „Raumrelationen als zentraler Aspekt weltweiter Ungleichheiten". In: Mittelweg 36 (2002), S.76-91. 28 LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, hg. v. Kieserling, André. Frankfurt a. M: Suhrkamp. S. 196, 243 ff. 29 Ibidem, S. 15 30 Für Luhmann ist die gesellschaftliche Einheit nicht durch eine Integration sichernde Entität oder Instanz, sondern durch die Form der Differenz von Teilsystem und Teilsystemumwelt zu erkennen, also durch die Form der Systemdifferenzierung selbst: „Die Formbestimmung des Verhältnisses der Systeme zueinander ist dafür eine vereinfachte Fassung, die dann als Struktur des Gesamtsystems dient“. LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 611. 31 Wie z. B bei GEIGER, Theodor (1967): Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziografischer Versuch auf statistischer Grundlage. Stuttgart: Enke, unveränderter Nachdruck (zuerst 1932).

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Ungleichheit als ein zu untersuchendes, zu kritisierendes oder zu lösendes Problem auftaucht, kann als eine Struktur sozialer Ungleichheit nicht definiert werden. Denn bei dieser Definition gerät das evolutionäre Potential moderner Gesellschaft in Bezug auf Schichtung in Vergessenheit, nämlich: dass Schichtungsstrukturen als kontingent behandelt werden können, obwohl und weil die Gesellschaft ihre Einheit reproduziert 32. Wenn man die Frage nach einer weltgesellschaftlichen Einheit stellt, wird noch deutlicher, dass man die Einheit der Gesellschaft nur jenseits jeder möglichen Ungleichheitsstruktur begreifen kann. Die These der Kontingenz der Strukturen sozialer Ungleichheit ist zentral für unsere Lesart der Luhmannschen Theorie der funktionalen Differenzierung. Sie ist, wie wir zeigen werden, eine Implikation der These des Primats funktionaler Differenzierung als Hauptmerkmal der Moderne. Kontingenz heißt, dass etwas weder notwendig noch unmöglich ist, dass es also auch anders möglich ist 33. Soziale Ungleichheit wird schon in dem Moment als kontingent wahrgenommen, in dem sie in der Gesellschaft als ein Problem erscheint, weil ihre Problematisierung voraussetzt, dass sie auch als änderbar gesehen wird. Welche sind die Bedingungen dafür, dass Ungleichheit problematisiert wird 34? Aufgrund ihrer eigenen unreflektierten Teilhabe an national-und wohlfahrtsstaatlichen Denkvoraussetzungen 35 neigt die Soziologie sozialer Ungleichheit dazu, „die normative Kultur der modernen Gesellschaft einfach vorauszusetzen“ 36 und so der Frage auszuweichen, wie eine Gesellschaft, deren „dominante Hauptachse“ eine Ungleichheitsstruktur ist, mit einer Kultur belastet ist, die Schichtung missbilligt. Ohne diese Frage wird die soziale Problematisierung von Ungleichheit für selbstverständlich gehalten. Aus welcher Perspektive könnten „diskriminierende Unterschiede in Gestalt von ,Kritik“ skandalisiertǥ 37 und bisweilen als „Ungerechtigkeit“ bezeichnet werden, wenn wir in so einer Gesellschaft lebten? Von welchem Standpunkt aus könnte auch die sich als Fach etablierende Soziologie schon am Ende des 19. Jahrhunderts an dieser Skandalisierung teilnehmen, wäre Schichtung die „Hauptachse“ unserer Gesellschaft? Wie wäre die sogenannte 32

LUHMANN, Niklas (2008): „Zum Begriff der sozialen Klasse.“ In: ders.: Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S.129. 33 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M: Suhrkamp, S. 47, 152. „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist.“(S. 152) 34 NASSEHI, Armin (2004):„Inklusion, Exklusion, Ungleichheit. Eine kleine theoretische Skizze“, S.339. 35 BECK, Ulrich (2008): “Risikogesellschaft und die Transnationalisierung sozialer Ungleichheit”. In: BERGER, Peter/WEIß, Anja (Hg): Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag 2008, S. 22. 36 KIESERLING, André (2006): „Schichtung ohne Interaktionsbezug“, S.175, (FN. 3) 37 MÜLLER, Hans-Peter (1995): „Soziale Differenzierung und soziale Gerechtigkeit. Ein Vergleich von Max Weber und Michael Walzer“. In: MÜLLER, Hans-Peter/WEGENER, Bernd (Hg): Soziale Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit. Opladen: Leske + Budrich, S. 138.

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„soziale Frage“ – auch als Ursprung von an die Soziologie gerichteter soziopolitischer Erwartungen 38 – möglich gewesen, wenn es ein solches Primat von Schichtung gäbe? In der Sprache des späten Luhmann handelt es sich um die Frage der Autologie, d.h., um die „Selbstimplikation“ soziologischer Gesellschaftsbeschreibung. Da ihre Beschreibung der Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft erstellt wird, muss die Soziologie sich stets die Frage stellen, wie es gesellschaftlich möglich ist, dass Schichtung statt als eine Naturgegebenheit als ein etwas problematisch bzw. kontingent beschrieben wird: “Wie für die Moral gilt auch für Soziologie ein Verbot der Selbstexemption“. Sie soll „sich selbst in ihren Gegenstand einbringen“ 39 . Nur: Dass die Problematisierung sozialer Ungleichheit auf ganz spezielle gesellschaftliche Bedingungen zurückzuführen ist, bedeutet nicht, dass eine Lösung unter diesen Bedingungen angeboten wird 40. Diese Bedingungen beziehen sich auf die gesellschaftlichen Sinnhorizonte, die eine Problematisierung von Strukturen sozialer Ungleichheit erlauben. Das setzt aber voraus, dass diese Sinnhorizonte selbst nicht problematisiert werden. In Gesellschaften, die primär in Schichten differenziert waren, war Schichtung kein Problem; sie galt einfach als notwendige Ordnungsgarantie 41, als die gesellschaftliche Einheit. Das spricht stark dafür, die These des Primats funktionaler Differenzierung (Luhmann) ins Spiel zu bringen und die Einheit der Gesellschaft als ihre Form der Systemdifferenzierung zu verstehen.

1.2 Primatthese oder soziale Ungleichheit? Wenn jener Anspruch auf eine gesellschaftstheoretisch primäre Stellung einer bestimmten Ungleichheitsstruktur als unbestrittener Ausgangspunkt für die Beschreibung moderner Gesellschaften unangebracht ist 42 , erscheint Luhmanns These eines Primats funktionaler Differenzierung auch oft als einseitig. Betont wird vor allem 43, dass diese Primatthese mit einer angemessenen Berücksichtigung strukturierter sozialer Ungleichheit inkompatibel sei; dass von „einer Ablösung der vertikal-hierarchischen Form der sozialen Ungleichheit in modernen 38 MÜLLER, Hans-Peter (2007): „Zur Zukunft der Klassengesellschaft“. In: Merkur 695 (2007), S. 191; KRECKEL, Reinhard (2006):„Soziologie der sozialen Ungleichheit im globalen Kontext“. In: Der Hallesche Graureiher 4 (2006) 4, S. 4. 39 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 1132. 40 BOMMES, Michael (2004): „Zur Bildung von Verteilungsordnungen in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 402. 41 KIESERLING, André (2001): „Das Ende der guten Gesellschaft“. In: Soziale Systeme 7 (2001), S. 184. (177-191). 42 SCHWINN, Thomas (2007): Soziale Ungleichheit, S. 7. 43 Ibidem, S. 15

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Wohlfahrts -und Wohlstandsgesellschaften“ 44 die Rede sein müsse; dass alle Studien, die die strukturierte Reproduktion sozialer Ungleichheiten in den differenzierten Ordnungen bzw. Teilsystemen bewiesen, sich nicht mehr rechtfertigen ließen, denn aufgrund der Primatthese funktionaler Differenzierung würden sie einen „unbedeutenden und zweitrangigen Aspekt heutiger Gesellschaften thematisieren“ 45. Die Primatthese wäre mithin kein brauchbares Theoriestück zur Konzeptualisierung des Zusammenhangs von strukturierter sozialer Ungleichheit und funktionaler Differenzierung. Man müsste sich an dieser Stelle entscheiden: entweder die Primatthese Luhmanns oder der Begriff strukturierter sozialer Ungleichheit. Ersteres zu begründen und zugleich einen würdigen Platz für Letzteres in der gleichen Theorieanlage zu finden, ist hier der ausgeschlossene Dritte. Gemäß diesem Entweder-oder sollte sich der Versuch, funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit in einen gesellschaftstheoretischen Zusammenhang zu bringen, letztlich damit begnügen, beide Strukturdimensionen nur als eigenständige und zugleich miteinander relationierbare Größen darzustellen, ohne das spezifisch moderne Verhältnis zwischen ihnen fassen zu können. Ausgeklammert werden dabei vor allem die kognitiven Rahmenbedingungen, die dem Zusammenhang von Ungleichheit und Funktionaldifferenzierung in der modernen Gesellschaft zugrunde liegen, nämlich die kognitiven Spielräume, die durch die Beziehung von Notwendigkeit und Kontingenz festgelegt werden 46. Diese Arbeit beruht auf der Annahme – welche in diesem Kapitel durch eine Interpretation der Primatthese Luhmanns begründet wird –, dass sich der Primat funktionaler Differenzierung am besten verstehen lässt, wenn man das Verhältnis von sozial erzeugter Notwendigkeit und sozial erzeugter und zugelassener Kontingenz, die in der funktional differenzierten Gesellschaft die Reichweite gesellschaftlicher Komplexität bestimmen, in den Blick nimmt. Für den Begriff strukturierter sozialer Ungleichheit ist dies ausschlaggebend. Wir kommen darauf zurück. Wenn man sich manche allzu lapidare, fast plakative Bemerkung von Luhmann zum Thema soziale Ungleichheit anschaut – etwa jene, dass die funktionale Differenzierung „Schichtunterschiede erzeug]t[[e] und vielleicht sogar ver44 HALLER, Max (1986): „Sozialstruktur und Schichtungshierarchie im Wohlfahrtsstaat. Zur Aktualität des vertikalen Paradigmas der Ungleichheitsforschung“. In: Zeitschrift für Soziologie 15 (1986), S. 180. 45 SCHWINN, Thomas (2007): Soziale Ungleichheit, S. 7. Diese Art von Kritik setzt den wissenschaftlichen Wert des Themas mit seiner Position in der Theorieanlage gleich. Wäre das Problem der sozialen Ungleichheit in der Theorie de Moderne Max Webers nur deshalb unbedeutend, weil er das Hauptmerkmal unserer Epoche im Prozess der Rationalisierung erkennt? 46 Darauf m. E. läuft die Position von Thomas Schwinn in dieser Debatte hinaus. „Unser historischer Rückblick und die theoretischen Überlegungen sprechen dafür, dass sich das Verhältnis von sozialer Ungleichheit und Ordnungsbildung im Übergang zur Moderne nicht prinzipiell verändert hat“. Ibidem, S. 40.

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schärf]t[[e], obwohl sie funktional ohne Bedeutung“ 47 seien –, kann man sicherlich den Eindruck gewinnen, dass die neue Systemtheorie keinen Anhaltspunkt, geschweige denn Erkenntnisgewinn für dieses Thema zu bringen hat. An anderen Stellen sind sogar gute Gründe dafür zu finden, warum die Theorie funktionaler Differenzierung von Luhmann zur Auflösung des Begriffs der strukturierten sozialen Ungleichheit führen muss. Da die Logik funktionaler Differenzierung nicht imstande sei, die Frage der Verteilung zu regeln, bleibe, so Luhmann, „die daraus sich ergebende Verteilung dem Zufall überlassen“ 48. Und die Entkopplung der Funktionssysteme könne auch der Grund sein, „weshalb Schichtung für die gesellschaftliche Ordnung nichts mehr besag]t[[e], sondern nur noch individuelle Lebensschicksale form]t[[e]“ 49. Könnte Luhmann die Annahme begründen, dass die Formung von individuellen Lebensschicksalen keine Bedeutung – was mit dem „Funktionsbegriff“ nicht gleichgesetzt werden darf – mehr für die moderne soziale Ordnung hat, dann sollten wir uns entscheiden: entweder die Primatthese oder der Begriff strukturierter sozialer Ungleichheit. Wenn man aber mit Luhmann gegen Luhmann argumentiert und zeigt, dass der Primat funktionaler Differenzierung nur die Sachdimension 50 der modernen sozialen Ordnung darstellt, sieht die Sachlage anders aus. Über diesen Primat hinausgehend ist die Komplexität des Sozialen doch offen für Relationen zwischen den anderen Sinndimensionen 51, nämlich der Sozialdimension und der Zeitdimension. Vielfältige Ungleichheit erzeugende Differenzierungen in der Sozialdimension – Zurechnungsprozesse, ungleiche Verteilung und Monopolisierung von Kommunikationschancen usw. – sollen zusammen mit der sachlichen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Funktionssysteme analysiert werden, und zwar deshalb, weil die gegenseitige Bezugnahme dieser Sinndimensionen unentbehrlich ist für die Ordnung bildenden Sinnoperationen der Gesellschaft, welche sich selbst in jeder Gegenwart dynamisch reproduzieren muss 52. Es heißt: Wenn die Primatthese auf die Sachdimension bezogen ist, führt sie keineswegs zur Schlussfolgerung, dass strukturierte soziale Ungleichheit in der Moderne keine Bedeutung mehr für die soziale Ordnung hat.

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LUHMANN, Niklas (1985): „Zum Begriff der sozialen Klasse.“ S. 151. Ibidem, S. 119. 49 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 632. 50 Ibidem, S.1136. 51 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S.112 ff; LUHMANN, Niklas (1985):„Zum Begriff der sozialen Klasse“, S.109, 119-120; NASSEHI, Armin (1984): „Sozialer Sinn“. In: NASSEHI, Armin/NOLLMANN, Gerd (Hg): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich. Frankfurt. M.: Suhrkamp, S.155-188. 52 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S.113, 114; NASSEHI, Armin (1993): Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Opladen: Westdeutscher Verlag, S.234; NASSEHI, Armin (2004): „Inklusion, Exklusion, Ungleichheit. Eine kleine theoretische Skizze“, S. 334-335. 48

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In einer ersten Annäherung kann unsere Interpretation des Primatthese Luhmanns wie folgt formuliert werden: Nimmt man die Mehrdimensionalität des sozialen Sinnes in den Blick, dann erweist sich Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung als besonders fruchtbar für eine gesellschaftstheoretische Rahmung des Begriffs strukturierter sozialer Ungleichheit. Die Berücksichtigung differenzierter Sinndimensionen im Kontext funktionaler Differenzierung erfordert nur, dass die Definition eines Begriffs moderner sozialer Ungleichheit die Kontingenz – alles, was weder notwendig noch unmöglich ist – von Strukturen explizit und systematisch mit einbeziehen muss. Dass man aber zu diesem Zweck ein zeitdiagnostisches Interesse in den Mittelpunkt stellen muss, welches Luhmann höchstwahrscheinlich niemals für entscheidend gehalten hätte, liegt auf der Hand. Allerdings zielt die These der funktionalen Differenzierung als primäre Differenzierungsform der modernen Gesellschaft darauf ab, zu zeigen, dass die soziale Ordnung in der Moderne auf eine einzig mögliche Struktur der sozialen Ungleichheit nicht mehr angewiesen ist. Dieser Ansatz widerspricht zuerst der klassentheoretischen These, dass es sich bei der „Besonderheit der Moderne“ um den „Aufstieg der bürgerlichen Klasse“ 53 handle. Was das Besondere der modernen Gesellschaft in Bezug auf Schichtung ausmacht, ist eben, dass in der Moderne jede Ungleichheitsstruktur als kontingent beobachtet werden kann 54. Praktisch heißt das, dass das Anderssein dieser Strukturen nicht als „katastrophal“ erfahren wird. Nach der Logik funktionaler Differenzierung ist die soziale Ordnung möglich, auch wenn beschrieben wird, dass sich Schichtungsstrukturen verändern können oder dass der soziale Wandel bzw. die gesellschaftliche Evolution diese Strukturen geändert haben. In den primär auf der Interaktionsebene stratifizierten Gesellschaften ist, so Luhmann, die soziale Ordnung hingegen undenkbar gewesen, wenn sie auf das stabile und unmittelbare Fortbestehen einer bestimmten Schichtungsstruktur verzichten müsste 55. Unsere Interpretation der These des Primats funktionaler Differenzierung ist ein Versuch, den von Luhmann nicht präzis definierten Begriff des Primats zu bestimmen. Die geläufigen Einwände gegen die Primatthese gehen, wie ausgeführt, davon aus, dass sie notwendigerweise zur Auflösung des Begriffs strukturierter sozialer Ungleichheit führt. Dies geschieht aus dem Verständnis heraus, der Primat bei Luhmann bedeute, dass „sekundäre Differenzierungsformen“ (Segmentierung, Stratifikation und Zentrum Peripherie) aus der „primären Differenzierungsform“ abgeleitet werden sollten 56. Es wird angenommen, dass 53

LUHMANN, Niklas (1980): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Band 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 7 54 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 772-773. 55 LUHMANN, Niklas (2008): „Zum Begriff der sozialen Klasse“, S. 86-87, 92, 96-97; LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S.679 56 SCHWINN, Thomas (2007): Soziale Ungleichheit, S. 56; 133.

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die Primatthese die Negation dieser „sekundären Differenzierungsformen“ als Strukturdimension eigener Art impliziert 57. Soziale Ungleichheit sei ein Produkt der Operationen der Funktionssysteme; und sie habe dementsprechend keine Bedeutung für die soziale Ordnung. Diese Einwände lassen sich dadurch rechtfertigen, dass Luhmann den Primatbegriff und folglich das Verhältnis zwischen der primären und den sekundären Differenzierungsformen nicht klar definiert: Von Primat einer Differenzierungsform [...] soll die Rede sein, wenn man feststellen kann, daß eine Form die Einsatzmöglichkeiten anderer reguliert. In diesem Sinne sind Adelsgesellschaften primär stratifikatorisch differenziert, aber sie behalten eine segmentäre Differenzierung in Haushalte bzw. Familien bei, um dem Adel Endogamie zu ermöglichen und Adelsfamilien von anderen Familien unterscheiden zu können. Bei funktionaler Differenzierung findet man auch heute noch Stratifikation in der Form von sozialen Klassen und auch noch Zentrum/Peripherie-Unterschiede, aber das sind jetzt Nebenprodukte der Eigendynamik der Funktionssysteme 58. Dass Stratifikation und Zentrum/Peripherie-Unterschiede mit der Eigendynamik von Funktionssystemen und mit der gegenseitigen Intransparenz zwischen ihren Operationsweisen in Zusammenhang stehen, scheint unbestritten zu sein. Fraglich bleibt jedoch, wie sich das Verhältnis zwischen diesen „sekundären Differenzierungsformen“ und funktionaler Differenzierung fassen lässt. Mit der Annahme, sie seien Nebenprodukte der Eigendynamik der Funktionssysteme wird mehr vom Begriff des Primats verlangt, als er leisten kann. Von solch einem anspruchsvollen Begriff des Primats ausgehend vertritt André Kieserling 59 die These, dass funktionale Differenzierung mit einer Neutralisierung von Herkunftseffekten in den teilsystemischen Sachentscheidungen einhergeht. Ihm zufolge kann die soziale Herkunft einer Person zwar bezüglich der Rekrutierungsfrage für die Funktionssysteme relevant sein, nicht jedoch für ihre Sachentscheidungen bzw. für das Verhalten in funktionsspezifischen Rollen. Die Neutralisierung von teilsystemexternen Ungleichheiten wird als notwendige Bedingung für die operative Autonomie der verschiedenen Funktionssysteme und für den Primat funktionaler Differenzierung verstanden 60. Diese Interpretation möchten wir als die orthodoxe Version der Primatthese bezeichnen. Wenn die Primatthese auf diese Neutralisierung beruht, so ist sie allerdings von Anfang an widerlegt. Für die meisten Gesellschaftsbereiche wurde bereits ausreichend gezeigt, dass die Eigendynamik der Funktionssysteme externe Un57 Für die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie siehe NEVES, Marcelo (2006): „Die Staaten im Zentrum und die Staaten an der Peripherie. Einige Probleme mit Niklas Luhmanns Auffassung von den Staaten der Weltgesellschaft“. In: Soziale Systeme 12 (2006), S. 247-273. 58 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S.612. 59 KIESERLING, André (2008): „Felder und Klassen.Pierre Bourdieu Theorie der modernen Gesellschaft”. In: Zeitschrift für Soziologie 37 (2008), S. 16, FN 32. 60 Ibidem, S. 17.

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gleichheiten nicht neutralisieren kann und dass der Zugang zu Positionen innerhalb eines Funktionssystems, in denen auch teilsystemspezifische Sachentscheidungen getroffen werden, nicht aus der funktionalen Differenzierung selbst ableitbar ist 61. Die Frage ist nun, ob die Regulierung der Einsatzmöglichkeiten von Schichtung durch die primäre funktionale Differenzierung etwas anderes bedeuten kann als die Ableitung sozialer Ungleichheit aus der Eigenlogik der Funktionssysteme, welche wiederum die Neutralisierung externer Ungleichheiten impliziert. Unsere These ist, dass der Primat funktionaler Differenzierung weder eine Ableitung sozialer Ungleichheit aus der funktionalen Differenzierung voraussetzt, noch dass die Funktionssysteme externe Ungleichheit bzw. soziale Herkunft neutralisieren. Da aber die Rede vom Primat ohne eine Asymmetrie zwischen verschiedenen Differenzierungsformen nicht möglich ist, besteht unser Vorschlag darin, diese Asymmetrie auf einen Prozess der Selbstverständlichung der primären Differenzierungsform zurückzuführen. Gemeint ist hiermit, dass funktionale Differenzierung wesentlich die Umstellung gesellschaftlicher Systemdifferenzierung auf einen Primat sachlicher Bezugsprobleme (Sachdimension) 62 bedeutet, wobei sich die funktionale Differenzierung als nicht anders möglich, also als notwendig durchsetzt. Auf der anderen Seite wird die Strukturierung sozialer Ungleichheit (Sozialdimension) und damit auch die Verteilung bzw. Zurechnung von Kommunikationschancen als auch anders möglich, also als kontingent wahrgenommen. Wir werden diese „nicht orthodoxe“ Version der Primatthese ausführlich darstellen. Was die soziale Ordnung betrifft, bedeutet die Kontingenz der Ungleichheitsstrukturen, dass sich die in der Sachdimension von autonomen Funktionsbereichen bestehenden Unterschiede von Systemen und Umwelten 63 mit den Zurechnungs-und Verteilungsstrukturen der Sozialdimension – in der Personen immer klassifizierte und individualisierte Adressaten für Kommunikation sind – nicht zur Deckung bringen lassen. Das Kernproblem liegt unseres Erachtens darin, dass die Theorie funktionaler Differenzierung von einer Trennung zwischen der Sachdimension von Funktionsbereichen und der Sozialdimension von Personen klassifizierenden und individualisierenden Zurechnung- und Verteilungsstrukturen ausgeht, ohne sich systematisch mit der Frage nach den Mechanismen zu beschäftigen, die das Verhältnis zwischen den beiden Sinndimensionen bestimmen. Die neuere Systemtheorie hat das Thema in der deutschen Diskussion angerissen, aber nicht entwickelt. Die Hindernisse resultieren vermutlich daraus, dass die „orthodoxe Version“ der Primatthese die eigentlichen historischen Spezifika 61

SCHWINN, Thomas (2007): Soziale Ungleichheit, S. 51ff. BOMMES, Michael/TACKE, Veronika (2006): „Das Allgemeine und das Besondere des Netzwerkes”. in: Hollstein, Betina/Strauss, Florian. Strauss (Hg): Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 42. 63 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S.1136; NASSEHI, Armin (2004): „Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik“, S. 110.

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in den Schatten stellt, die entstehen, wenn eine gegebene primäre Form von Systemdifferenzierung mit einer zweiten Differenzierungsform kombiniert wird. Auch wenn man feststellen kann, dass es ein Primat funktionaler Differenzierung gibt, ist dieser Primat allein keine „angemessene Beschreibung“ der Moderne. Zusätzlich ist zu fragen, ob sich die Sachdimension funktionaler Differenzierung ohne die Begleitung einer Personen klassifizierenden und individualisierenden Sozialdimension als Ordnungsprinzip durchsetzen kann. Unsere „nicht orthodoxe“ Interpretation der Primatthese impliziert, wie wir sehen werden, eine negative Antwort auf diese Frage.

1.3 Der Zusammenhang von Ungleichheit und funktionaler Differenzierung Das Hauptproblem ist die Bedeutung strukturierter sozialen Ungleichheit für die Reproduktion der modernen sozialen Ordnung autonomer und verselbstständigter Funktionssysteme. Für Thomas Schwinn kann diese Bedeutung in der Systemtheorie nicht angemessen begriffen werden. Die Verknüpfung von funktionaler Differenzierung und sozialer Ungleichheit kann ihm zufolge nur unter Berücksichtigung der Lebenslaufdimension analysier werden 64 . Der Zugang von Personen zu den sachlich differenzierten Funktionssystemen (oder Ordnungen, wie Schwinn mit Weber spricht), der soziale Ungleichheit erzeugt und reproduziert, ist dabei zeitlich limitiert bzw. strukturiert: Was makrosoziologisch synchron differenziert ist, muss vom Individuum diachron durchlaufen werden. Ankunft über Geburt in der Familie, dann Eintritt in Bildungsinstitutionen, anschließend Partizipation im Beschäftigungssystem und schließlich Übergang in die sozialstaatlich garantierte Altersphase. Die differenzierten Bereiche bilden sich als Sequenzen auf dem Lebenslauf ab und dieser Phasenablauf ist in gewissem Grade sachlich strukturiert: Der Erweb von spezifischen Kompetenzen in einem Bereich ist Bedingung für den Eintritt in einen anderen 65. Es sei eben diese zeitliche Verkettung teilsystemspezifischer Kommunikationen, die die These einer systemübergreifenden Koordination durch eine für alle „Ordnung verbindliche Stratifikation“ unterstütze und die die Primatthese widerlege. Wichtig sei dabei auch, dass diese zeitliche Verkettung von Kommunikationen auf der Lebenslaufdimension nur dann zu erklären ist, wenn teilsystemspezifische Ressourcen und Kompetenzen ineinander konvertierbar sind, sodass beispielsweise „Aspekte familiären Lebens auch für Bildungsinstitutionen […] von

64 65

SCHWINN, Thomas (2000):„Inklusion und soziale Ungleichheit“, S. 472. Ibidem, S. 472.

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Belang sind“ 66. Anders als Schwinn bestehen wir darauf, dass der lebenslaufbezogene Zusammenhang zwischen funktionaler Differenzierung und sozialer Ungleichheit mit systemtheoretischen Mitteln begriffen werden kann. Dafür müss man jedoch isolierte Begriffe bzw. Begriffspaare (Karriere, Lebenslauf, Form/Medium, Ereignis/Struktur), die Luhmann zur Thematisierung der modernen individualisierten Person benutzte, miteinander in Verbindung bringen. Der isolierte Charakter der Luhmannschen Überlegungen zu moderner individualisierten Person ist womöglich der Grund, weshalb es seiner Systemtheorie so etwas wie eine ungleichheitssensible Theorie der Lebenslagen fehlt 67. Unserer Ansicht nach lässt sich dieser Zusammenhang von funktionaler Differenzierung und sozialer Ungleichheit auf der Lebenslaufdimension keineswegs als eine intersystemische Koordination der Operationen der Funktionssysteme verstehen, denn der Einfluss externer Ungleichheiten auf diese Operationen ist nur durch die Konstruktion teilsystemspezifischer Strukturen, die die Allokation der funktionalen Codewerte regeln, möglich. Das heißt, der Primat funktionaler Differenzierung – verstanden als die konstruierte Selbstverständlichkeit/Notwendigkeit dieser Differenzierungsform – wird durch die Existenz dieses Einflusses nicht widerlegt. Die individualisierte Laufbahn (Lebenslauf) nimmt eine zentrale Stellung bei der Relation von der Sach-und der Sozialdimension ein, wodurch sich „eine besondere Präferenz für Individuen als Bezugspunkte von Systemoperationen“ 68 institutionalisieren lässt. Mit der Auflösung der vormodernen ständischen Stratifikation entfällt der alte typenfeste Essentialismus, der die kommunikative Selektion von Personen in allen Bereichen durch Schichtzugehörigkeit unmittelbar regulierte. Als Ersatz entsteht im 19. Jahrhundert der Begriff der Population, der sowohl an die funktionale Differenzierung wie auch an eine nichtessentialistische Individualisierung von Personen angepasst ist. Eine Population besteht aus der Varietät von Individuen 69, die gerade durch ihre Unbestimmtheit, ihren Mangel an Typenfestigkeit und ihr Angewiesensein auf Erziehung bzw. auf die Entwicklung individueller Inklusionsansprüche definiert werden. Diese „Varietät“ von bildungs-und anspruchsfähigen Individuen ist, so Luhmann, ein Korrelat von funktionaler Differenzierung, denn das Individuum kann nur dann sozial operieren, wenn es in der Lage ist, bei der Konditionierbarkeit seines Verhaltens im Wechsel von Situation zu Situation dasselbe zu bleiben 70, durch die Ver66

Ibidem, S. 474. NASSEHI, Armin (2004):„Eliten als Differenzierungsparasiten. Skizze eines Forschungsprogramms“. In: HITZLER, Ronald, HORNBOSTEL, Stefan/MOHR, Cornelia (Hg): Elitenmacht. Wiesbaden: VS Verlag, S. 37. 68 LUHMANN, Niklas (1997):„Selbstorganisation und Mikrodiversität. Zur Wissenssoziologie der neuzeitlichen Individualismus“. In: Soziale Systeme 3 (1997), S. 24. 69 Ibidem, S. 25. 70 Ibidem, S. 28. 67

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folgung des eigenen Anspruches an funktionsspezifischen Klientelen teilzunehmen und als „Träger“ eines Bedarfs an Funktionen die jeweiligen Teilsysteme zu reproduzieren 71. Nur damit können die ausdifferenzierten Funktionssysteme (Politik, Recht, Kunst, Wissenschaft usw.) über ein entsprechendes Publikum verfügen, dessen Varietät von Lebenssituationen, Perspektiven und Interessen die Orientierung an der jeweiligen Funktion reproduziert. Es handelt sich um ein Verhältnis zwischen der Selbstorganisation der Funktionssysteme und der Mikrodiversität ihres jeweiligen Publikums 72. Es muss zum Beispiel „gerichtlich ausgetragene Rechtsstreitigkeiten“ geben, „bevor eine juristische Dogmatik mit fein ziselierten Rechtsbegriffen entwickelt werden kann“ 73. Das jeweilige Publikum stellt auf der Ebene der Mikrodiversität einen „Überschuß an operativen Möglichkeiten“ 74 dar, die zur Ordnung auf der Ebene der Selbstorganisation (eigene Strukturbildung) nur beitragen können, wenn sie „im System selbst gebändigt werden“ 75. Das Publikum erzeugt, mit anderen Worten, eine unbestimmte Komplexität in der Sozialdimension, welche, um Operationen überhaupt zu ermöglichen, reduziert werden muss. Vieles spricht dafür, dass die Mechanismen, die den Überschuss an operativen Möglichkeiten zu reduzieren erlauben, sich nicht bloß auf die individualisierende „Abstraktion von schichtmäßigen Unterschieden“ 76 reduzieren lassen. Der Überschuss an operativen Möglichkeiten wird durch diese Abstraktion bzw. Kontingenzsetzung von Schichtung nicht reduziert, sondern gerade erzeugt. Um den Überschuss reduzieren zu können, müssen die Funktionssysteme sich auf Asymmetrien einstellen, die die kommunikative Adressierung von Personen in der Sozialdimension strukturieren. In Bezug auf die Weiterverwendung solcher Asymmetrien können mehr oder weniger verfestigte Strukturen sozialer Ungleichheit sich entwickeln, die sich als karriereförmige „Kumulation von Lagen“ 77 auch über mehrere Teilsysteme hinweg reproduzieren können. Welche Formen solche Ungleichheitsstrukturen auch immer annehmen mögen, sie sind für die soziale Ordnung – auch für die funktional differenzierte Ordnung – von großem Belang, und zwar deshalb, weil Ordnung zunächst die Erhöhung der Anschlusswahrscheinlichkeit kommunikativer Sinnofferten bedeutet, was die 71

LUHMANN, Niklas (1989): „Individuum, Individualität, Individualismus“. In: Ders. Gesellschaftsstruktur und Semantik Band 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 248. 72 LUHMANN, Niklas (1997): „Selbstorganisation und Mikrodiversität“, S. 28. 73 Ibidem, S. 27. 74 Ibidem, S. 25, 27. 75 Ibidem, S. 25. 76 KIESERLING, André (2010):„Das Individuum und die Soziologie. Zur Geschichte eines soziologischen Reflexionsthemas“. In: BERGER, Peter/HITZLER, Ronald (Hg): Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert „Jenseis von Stand und Klasse?“. Wiesbaden: VS Verlag, S. 319. 77 NASSEHI, Armin (2004): „Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik“, S.113.

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Reduktion von Komplexität in allen Sinndimensionen erfordert, inklusive in der Sozialdimension: „Das lässt sich an der Funktion von Hierarchien ebenso ablesen wie an der Tatsache, dass man in Interaktionen zunächst diejenigen anspricht, die man kennt“ 78.

1.4 Systemdifferenzierung: Einheit als Differenz Wie bereits erwähnt, wird der Versuch, funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit miteinander zu verbinden, direkt mit zentralen gesellschaftstheoretischen Problemen konfrontiert, vor allem mit dem Ordnungsproblem. Was ist soziale Ordnung? Wie ist sie möglich? Wie soll man die verschiedenen Ordnungsprinzipien erfassen? Welche Rolle spielt soziale Ungleichheit dabei? Was bedeutet die „soziale Frage“ der „Ungleichheit zwischen den Menschen“ für die gesellschaftstheoretische Frage nach der sozialen Ordnung? Ausgehend von der Luhmannschen Unterscheidung von System und Umwelt, die unserer Beobachtung der gesellschaftlichen Ordnungsbildung zugrunde liegt, lautet unsere Fragestellung wie folgt: Was ist die Bedeutung sozialer Ungleichheit für die soziale Ordnung in der Moderne, also für die Produktion und Reproduktion ihrer primären Form gesellschaftlicher Differenzierung zwischen System und Umwelt? Sicher: Eine präzise Einordnung sozialer Ungleichheit bezüglich des Ordnungsproblems findet man nicht in der Theorie funktionaler Differenzierung Luhmanns. Die „orthodoxe Version“ der Primatthese scheint nur eine Antwort zu erlauben: Soziale Ungleichheit hat keine Bedeutung für die soziale Ordnung, allenfalls für individuelle Karrieren. Für Luhmann gibt es einen Primat einer Form von Systemdifferenzierung, wenn sie den Einsatz anderer Formen sozialer Differenzierung reguliert. In der „orthodoxen Version“ dieser These, deren klarere Formulierung wir Kieserling zuschreiben, heißt dies, dass soziale Ungleichheit aus der Logik funktionaler Differenzierung resultiert und dass teilsystemexterne Ungleichheiten in den Systemoperationen neutralisiert werden. Wie gesehen, lässt sich diese „orthodoxe Version“ gegenüber den Befunden der Ungleichheitsforschung nicht belegen. Die Entwicklung einer anderen Version der Primatthese ist das Zeil dieses Kapitels. Und die Bedeutung der Regulierung des Einsatzes sekundärer Differenzierungsformen durch eine primäre Form der Systemdifferenzierung ist das entscheidende Problem, mit dem wir uns beschäftigen werden. In dieser „nicht orthodoxen“ Version wird der Primat funktionaler Systemdifferenzierung mit der modernen sozialen Ordnung schlechthin nicht gleichsetzt. Bevor wir näher auf die Frage nach der Rolle des Primatbegriffs in der Theorie funktionaler Differenzierung als Ausgangspunkt der soziologischen Beschreibung der Moderne Luhmanns eingehen, müssen wir zuerst die Rolle einer Form 78

Ibidem.

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von Systemdifferenzierung in seiner Gesellschaftstheorie genauer analysieren. Eine Form von Systemdifferenzierung kann als solche bezeichnet werden, so Luhmann, nur wenn sie das Verhältnis der Teilsysteme einer Gesellschaft zueinander bestimmt 79 . Hierbei muss man auf die Unterscheidung zwischen dem Verhältnis eines Sozialsystems zu seiner außergesellschaftlichen Umwelt und den Beziehungen zwischen den Teilsystemen eines Gesellschaftssystems aufmerksam machen. Während wir es bei Beziehungen vom Gesellschaftssystem und seiner außergesellschaftlichen Umwelt mit einer Unterscheidung zwischen der Innenseite einer Form (das System selbst) und ihrem Leerkorrelat (die außergesellschaftliche Umwelt) zu tun haben, das als Leerkorrelat keine Referenz für Selektion von Information für das System bildet, zeichnen sich System-zuSystem-Beziehungen im Kontext einer innergesellschaftlichen Umwelt ihrerseits eben dadurch aus, dass in der Umwelt eines Teilsystems bezeichnungsfähige Einheiten (andere Teilsysteme) auftauchen, die für alle Teilsysteme dieser innergesellschaftlichen System-Umwelt-Beziehungen in spezifischer Weise relevant sind. Es geht also nun weder um das Verhältnis von gesamtgesellschaftlichem System und seiner außergesellschaftlichen Umwelt noch um das Verhältnis von einem Ganzen und seinen Teilen, sondern um die Art und Weise, wie jedes Teilsystem sich selbst in Bezug auf die anderen Teilsysteme seiner innergesellschaftlichen Umwelt wahrnimmt und wie es seine eigenen Grenzen dadurch zieht und sich als Teilsystem definiert – als dieser oder jener Clan, als Adel oder das Volk, als Wirtschaftssystem oder als Familiensystem. Eine Form von Systemdifferenzierung ist eine Form von Grenzziehung, mit der sich gesellschaftliche Teilsysteme produzieren und reproduzieren. In allen Formen von Grenzziehung ist jede Selbstbeobachtung durch den unmittelbaren Primat einer Form von Systemdifferenzierung auf Fremdbeobachtungen bezogen und der Primat entspricht zunächst dem Bestand einer spezifischen Form von Grenzziehung als Resultat und als Prämisse für weitere gesellschaftlichen Operationen. Die Identität eines Teilsystems wird durch die Differenz zu anderen Teilsystemen erreicht. Ohne diese Differenz gibt es kein Teilsystem. Der Primat einer Form von Systemdifferenzierung erzeugt die Identität des Systems durch eine basale Operation, die nicht als kontingent wahrgenommen werden kann. Er weist also darauf hin, dass für die Identität der Teilsysteme einer Gesellschaft eine gegebene Form von Grenzziehung konstitutiv und notwendig ist. Das Verhältnis der Teilsysteme zueinander ist auch deshalb ein wesentlicher Bestandteil der Theorieanlage Luhmanns, weil die Form dieses Verhältnisses, also die Form von Systemdifferenzierung selbst, eben die Einheit des umfassenden Gesellschaftssystems (oder den paradoxen Anspruch auf eine Einheit) letztendlich repräsentiert. Angesichts der Tatsache, dass eine konkurrenzfreie Repräsentation gesellschaftlicher Einheit in der Gesellschaft durch eine Spitze (oder 79

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 609.

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durch ein Zentrum) kein ahistorisches soziales Phänomen ist, auf das man sich gesellschaftstheoretisch stützen kann, um die Einheit jeglicher Form sozialer Ordnungsbildung angemessen zu beschreiben, geht Luhmann davon aus – was übrigens mit der grundlegenden Bedeutung der Differenz System/Umwelt als eigentlichem Gegenstand seiner Systemtheorie übereinstimmt 80 –, dass die Einheit des umfassenden Gesellschaftssystems nichts anderes als die Form der Rekonstruktion dieser Einheit als Differenz 81 ist. Während die Durchsetzung einer konkurrenzfreien Repräsentation gesellschaftlicher Einheit kraft der Herrschaft einer Oberschicht oder eines Zentrums in der Tat nur in stratifizierten bzw. nach Zentrum/Peripherie differenzierten Gesellschaften möglich gewesen ist, soll die Idee von Einheit als interner Rekonstruktion der Differenz (Systemdifferenzierung, Systembildung im System) eine übergreifende Beschreibung erst ermöglichen, die von archaischen, segmentär differenzierten Gesellschaften über stratifizierte und nach Zentrum/Peripherie differenzierten Gesellschaften bis hin zur funktionalen Differenzierung Anwendung finden soll. In diesem Zusammenhang ist die gesellschaftsinterne Rekonstruktion der Differenz von System und Umwelt die eigentliche Rekursivität, auf die jede Art von sozialer Ordnungsbildung letztendlich angewiesen bleibt: „Systemdifferenzierung“, so schreibt Luhmann, “ist somit nichts anders als eine rekursive Systembildung, die Anwendung von Systembildung auf ihr eigenes Resultat“ 82 . Von dieser Grundannahme ausgehend versucht er, die Gesellschaftstheorie (verstanden als Differenzierungstheorie) von der herkömmlichen Unterscheidung von Ganzem und Teil zu befreien, um die soziologische Beschreibung der Moderne von der Selbstdarstellung stratifizierter vormoderner Gesellschaften und besonders von der alteuropäischen Semantik der Repräsentation abzugrenzen. In der Semantik dieser Selbstdarstellung entsprach die Ordnungsvorstellung einer Dekomposition des Ganzen in Teile, wobei ein Teil (die Oberschicht bzw. das politische Zentrum) konkurrenzfrei die Repräsentation des Ganzen beanspruchen konnte und somit auch ein Einheitsgebot verbindlich für alle anderen Teile durchsetzte. Indem Luhmann das Schema Ganzes/Teil durch das Schema System/Umwelt ersetzt, zielt er darauf ab, der Theorie gesellschaftlicher Differenzierung einen Weg zu öffnen, der weder eine teleologische Ausrichtung als Evolutionsvoraussetzung (einschließlich der These zunehmender Differenzierung) noch eine Form von Koordination durch das Gesamtsystem als Ordnungsvoraussetzung (etwa 80 „Wir werden daher immer wieder Anlaß haben, darauf hinzuweisen, dass der primäre Gegenstad der Systemtheorie nicht ein Gegenstand (oder eine Gegenstandsart) „System“ ist, sondern die Differenz von System und Umwelt“. In: LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 115-116. 81 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 618; LUHMANN, Niklas (1988): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdung einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 216-217. 82 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 597.

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Integration von oben) zulässt. Schließlich erfasst das Schema Ganzes/Teil den Prozess gesellschaftlicher Differenzierung nur als Zerlegung eines immer schon etablierten Ganzen 83, also als Emanation der Vielheit aus einer Einheit, sodass die Beschreibung von strukturellen Umbrüchen des Gesamtsystems keinen Platz für die Betrachtung von Veränderungen in der Form von Grenzziehungen findet, die eben die Einheit des Gesamtsystems neu einrichten. Dabei wird die Gesellschaft immer wieder als eine Entität konzipiert und selbst die Ergebnisse gesellschaftlicher Differenzierung – z. B. die ausdifferenzierten Funktionsbereiche – müssen im Sinne eines Keimmodells bereits in diffuser Form vor dem Differenzierungsprozess vorliegen 84. Anhand der Unterscheidung von System und Umwelt gehe man dagegen davon aus, so Luhmann, dass die Einheit des Gesamtsystems erneut hergestellt werde, immer wenn die Form strukturell verändert werde, der die Grenzziehung zwischen jedem Teilsystem und seiner je eigenen innergesellschaftlichen Umwelt entspricht. Die Einheit der Gesellschaft verändert sich mit dem Wechsel der Form von Systemdifferenzierung. Damit versucht dann Luhmann, Diskontinuitäten durch die Differenzierungstheorie zu beobachten und die gängige Vorstellung „zunehmender Differenzierung“ aufzugeben. Nach dem evolutions- und emergenztheoretischen Design, das der Theorie der Systemdifferenzierung Luhmanns zugrunde liegt, gibt es auch keine Koordination des Differenzierungsprozesses durch das Gesamtsystem. Auch wenn man eine Koordination der verschiedenen Systeme untereinander bei bestimmten Formen von Systemdifferenzierung vorfindet – wie es bei Stratifikation durch politische Herrschaft einer Oberschicht der Fall ist –, kann man nicht davon ausgehen, dass Koordination als fortbestehender Evolutionsmechanismus für die Selektion weiterer Formen von Systemdifferenzierung durch die Geschichte fungieren kann. Es ist vielmehr anzunehmen, dass „ohne Fürsorge für ein Ganzes lokale, besonders strukturierte Entitäten entstehen können, die dann Anpassungsbedingungen setzen für andere Entitäten dieser Art“ 85. Die Anpassungsbedingungen, die jedes (neue) ausdifferenzierte Teilsystem für die anderen setzt, können einem gesonderten Teilsystem – z. B. dem neuen ausdifferenzierten – in Form einer Hierarchie überlassen werden, müssen aber nicht. Es kann gut sein, dass die Produktion und die Reproduktion von sozialer Ordnung auch ohne ein koordinierendes System mit der Funktion, die Beziehungen zwischen allen Teilsystemen zu regeln, möglich ist – wie die Ordnung funktionaler Differenzierung zu zeigen scheint. In diesem Fall werden die Anpassungsbedingungen nicht zwangsläufig einem der

83

NASSEHI, Armin (2004): „Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik“, S. 100. 84 So TYRELL, Hartmann (1978): „Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung“. In: Zeitschrift für Soziologie 7 (1978), S. 178. 85 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 918.

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Teilsysteme zugerechnet, sondern durch verschiedene strukturelle Kopplungen auf die Umwelt bezogen 86. Mit dem Verzicht sowohl auf die These der intersystemischen Koordination als auch auf die Annahme zunehmender Differenzierung schließt der Begriff der Form von Systemdifferenzierung keineswegs aus, dass der Übergang von einem Differenzierungsprinzip zu einem anderen mit einer stärkeren Differenzierung kompatibel ist, nicht aber mit mehr Differenzierung in allen Hinsichten, sondern auch mit bestimmten strukturellen Entdifferenzierungen. Es wird also empirisch völlig offen gelassen, wie viele solcher Möglichkeiten von Systemdifferenzierung es gibt, ob und in welchen Formen sie koordiniert werden können und in welcher Hinsicht sie mehr oder weniger stärkere oder schwächere Differenzierungen mit sich bringen.

1.5 Ordnung und Kontingenz Mit dem Übergang zu einer neuen Form von Systemdifferenzierung, die aus gesellschaftsinternen Grenzen zwischen Teilsystemen und ihren jeweiligen Umwelten bestehen, kommt zugleich ein Umbruch in der Art und Weise zustande, wie das Problem der Ordnung in der Gesellschaft selbst auftritt und wie es behandelt wird. Das Verweisen der „Teile“ auf ein „Ganzes“ ist dabei nur eine Möglichkeit, eine semantische Struktur einer Gesellschaft, in der Stratifikation als primäre Form von Systemdifferenzierung etabliert war und wo Ordnung einem integrativen Einheitsgebot entspricht. Dieses Gebot entstammte der von einem der Teile (der Oberschicht) übernommenen Repräsentation des Ganzen. In diesem Zusammenhang war Ordnung ein Synonym für die Möglichkeit, alle Teilsysteme durch ein solches Einheitsgebot ohne Konkurrenz zu koordinieren. In primär stratifizierten Gesellschaften konnte die Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft nur in Interaktionen der Oberschicht stattfinden, denn 86

Ibidem, S. 759; 776 ff. Der Begriff der strukturellen Kopplung soll Luhmann zufolge als Begriff verstanden werden, mit dem die Annahme der Autopoiesis, der operativen Geschlossenheit eines Systems, eben die andere Seite ihrer Form bezeichnet, das heißt die Seite der Offenheit des Systems, die dafür sorgt, dass die aus der Umwelt stammenden Störungen dem System als Leistungsabhängigkeiten und Leistungsbereitschaften in Form von selektiv aufgegriffenen Irritationen erscheinen. Dieser Begriff der strukturellen Kopplung wird zum theoretischen Ersatz für anspruchsvollere, hierarchische Integrationskonzepte. Während diese hierarchischen Konzepte von Integration immer auf ein Koordinieren intersystemischer Abhängigkeiten angewiesen bleiben, verzichtet der Begriff der strukturellen Kopplung ganz offensichtlich darauf, diese Abhängigkeiten auf Koordinationsfälle zu reduzieren – etwa „in der Form von Harmonie – oder Gerechtigkeitsideen“ (S. 759). Daher spricht Luhmann häufig von der „Dynamik der gesellschaftlichen Integration“, von der „Variation der Beschränkungen dessen, was gleichzeitig möglich ist“ (S. 759-760). Schließlich soll das Schema Differenzierung/Integration selbst (Durkheim, Parsons) durch die Unterscheidung von Autopoiesis und struktureller Kopplung ersetzt werden (S. 778).

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nur diese Interaktionen (keine unpersönliche Ebene oder Organisation) konnten als Ort fungieren, in dem die Ereignisse unmittelbar auch für die Abwesenden von Belang waren. Entsprechend waren sie nicht einfach bloße Interaktion. Vielmehr konnte man davon ausgehen, dass die hier Anwesenden, diejenigen, die zur „guten Gesellschaft“ gehörten, die Entwicklung der Gesellschaft in maßgeblicher Weise bestimmten 87. Es wurde beispielsweise immer daran erinnert, dass jede Interaktion mit dem Fürsten unabsehbare Konsequenzen für abwesende Dritte habe 88. Von Oberschichteninteraktionen hing die Gesellschaft „nicht nur in ihrer Entwicklungsmöglichkeit, sondern auch in der Erhaltung schon erreichter Niveaus“ ab 89. Da nur die Oberschicht selbst etwas historisch Wichtiges realisiert konnte, wurde sie als das einzige Teilsystem anerkannt, das die Differenz zur Gesellschaft voraussetzte, und das sich infolgedessen aus der Gesellschaft in der Gesellschaft ausdifferenzierte. Die soziale Ordnung war ohne dieses monopolisierte Einheitsgebot einer interaktionsförmigen „guten Gesellschaft“ (Repräsentation) unvorstellbar. Will man die Art und Weise erfassen, wie das Problem der Ordnung in einen Kontext gestellt und behandelt wurde, wo Stratifikation die primäre Form von Systemdifferenzierung war, wird man die Frage umformulieren müssen: Kann die soziale Ordnung in einer primär stratifizierten Gesellschaft überhaupt als ein legitimes und plausibles Problem erscheinen? Luhmanns Antwort wäre „nein“, und zwar deshalb, weil diese Form von Systemdifferenzierung in einer bestimmten Weltkonstruktion verankert war, nach der jede Art von Ordnung als selbstverständlich zu gelten hatte. Es gehört freilich zu den Rahmenbedingungen einer solchen Gesellschaft, dass die Koordination der gleichzeitigen unterschiedlichen Kontexte einer einheitlichen Weltanschauung zu verdanken ist. Generell gesagt wurde das gesellschaftliche Leben in einem Essenzkosmos – sei es die perfekte Natur oder die Schöpfung Gottes – wahrgenommen, der die Konstanz der Wesensformen und der Elemente, und damit auch der Größenordnungen, garantierte 90. Die soziale Ordnung war in diesen Essenzkosmos eingebettet, sodass die Koordination von Kommunikationen, Handlungen und Erlebnissen durch die für alle Situationen geltende gleichzeitige Unmittelbarkeit der Weltkonstruktion gesichert werden konnte 91. Das Soziale war kein getrennter Ordnungsbereich, sondern ein Teil des Ganzen. Dementsprechend erfüllte die monopolisierte Repräsentanz einzelner 87 KIESERLING, André (2001) „Das Ende der guten Gesellschaft“. In: Soziale Systeme 7 (2001), S. 183-184. 88 KIESERLING, André (1999): Kommunikation unter Anwesenden: Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 407 ff. 89 KIESERLING, André (2001): „Das Ende der gute Gesellschaft“, S. 184. 90 LUHMANN, Niklas (1992): Beobachtung der Moderne. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 131. 91 NASSEHI, Armin (2004): „Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik“, S. 103.

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Systeme für die Umwelt anderer Systeme dabei eine wichtige Funktion: Indem die Repräsentanz der Umwelt der Systeme nur einem einzigen System überlassen wird, kann dieses System allein nicht nur die Umwelt, sondern auch die Welt als Ganzes für andere Systeme interpretieren. Und „diese Funktion von Weltrepräsentanz durch ein System“ war zunächst eine Funktion der Religion 92. Wenn also die Welt als hierarchische Ordnung der Wesen erscheint, was seinerseits nur durch eine konkurrenzfreie Position für die Beschreibung der Welt möglich ist, muss die Kontingenz von Ordnung, also die Möglichkeit von Anderssein jeder Art von Ordnung letztendlich unsichtbar bleiben. Und gerade weil Ordnung in diesem Kontext „die Abgestimmtheit der Welt als Gesamtheit der unsichtbaren und der sichtbaren Dinge“ 93 ist, kann unter solchen Umständen die Gegenmöglichkeit der Unordnung auch nicht miteinbezogen werden. Und auch wenn die Kontingenz der Weltkonstruktion durch die Schöpfung Gottes und folglich durch die Selektivität der Welt selbst aus einer Vielzahl anderer Möglichkeiten anerkannt wird, führt die Vorstellung von einem perfekten Gott dazu, dass die Kontingenz der Selektion, der die hierarchische Ordnung der Wesen zu verdanken ist, nicht in der Weltordnung selbst verortet wird. Als „außerweltliche Garantie von Nicht-Kontingenz“ 94 war diese Vorstellung Gottes in der Lage, die Einheit der Kosmologie des Ganzen und seiner Teile zu begründen, zumindest solange die Ordnung der Teile im Hinblick auf das Ganze den göttlichen Zwecken entsprach. Innerhalb eines derart religiös fundierten Essenzkosmos war die Gleichzeitigkeit von Ordnung und Unordnung nicht möglich. Die sichtbare Kontingenz der Ordnung (ihre Schöpfung durch Gott) konnte nicht Unordnung bedeuten, denn diese Kontingenz war nicht auf irgendeine Umwelt bezogen, die unstrukturierte Komplexität – (unbestimmte Beziehungen zwischen den Elementen) enthält; sie war vielmehr eben die „sinngebende Form der Welt“ 95. Der Bestand dieser Ordnung wird substantialisiert, denn sie ist nicht in Bezug auf die Möglichkeit der nicht reduzierten Komplexität, also der Unordnung, zu verstehen (wie das bei der Unterscheidung von System und Umwelt immer der Fall ist), das heißt, vor dem Hintergrund ihrer historischen Kontingenz: „An der harmonia mundi war nicht zu zweifeln“ 96. Es geht, mit anderen Worten, um eine als von der Zeit aufgehobene wahrzunehmende Ordnung. Und obwohl aus unserer Perspektive dies nicht der Fall sein kann, sind nach Luhmann die Selbst- und Fremdbeobachtungen, 92 LUHMANN, Niklas (1996): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M: Suhrkamp S. 218. 93 LUHMANN, Niklas (1992): Beobachtung der Moderne, S. 131. 94 LUHMANN, Niklas (1992): Funktion der Religion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 179. Der Bezug auf einen „außerweltlichen Gott“ als Mechanismus der Invisbilisierurng von Kontingenz und der Enttemporalisierung der Ordnung der Wesen ist ein spezifisches Produkt monotheistischer Religionen und unterscheidet das europäische Mittelalter von anderen vormodernen stratifizierten Gesellschaften, in denen es es andere, funktional äquivalente Mechanismen gab. 95 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 923. 96 LUHMANN, Niklas (1992): Beobachtung der Moderne,, S. 131.

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sofern sie sich an der Leitunterscheidung der Systemdifferenzierung orientieren, konstitutive Operationen der sozialen Ordnungsbildung. Insofern werden wir die Wahrnehmung von Kontingenz noch fokussieren, die bei der Strukturierung sozialer Ungleichheit im Kontext funktionaler Differenzierung entsteht. Es wird sinnvoll sein, sowohl die Verarbeitung als auch die Einschränkung dieser Kontingenzerfahrung sozialer Ungleichheit in Zusammenhang mit ihrer Bedeutung für die soziale Ordnung der modernen funktional differenzierten Gesellschaft zu berücksichtigen. Die Umstellung der Systemtheorie auf die Unterscheidung von System und Umwelt und die Entscheidung, die Form von Systemdifferenzierung als Ausgangspunkt für die Beschreibung der Grundstrukturen verschiedener Gesellschaften zu nehmen, sollen der Gesellschaftstheorie auch erlauben, die Rolle des Integrationsbegriffs für die gesellschaftliche Ordnung zu relativieren und dadurch präziser zu definieren. Es muss dabei vor allem festgehalten werden, dass soziale Ordnung durch Systemdifferenzierung bzw. Systembildung kein Synonym gesamtgesellschaftlicher Integration ist. Da es in diesem Zusammenhang nicht um die Zerlegung eines Ganzen in seine Teile geht, sondern um die Emergenz neuer ausdifferenzierter Systeme in der innergesellschaftlichen Umwelt, gibt es keine gesetzmäßige Beziehung zwischen Differenzierung und Integration, die dafür sorgen könnte, dass aus dem Prozess von Systemdifferenzierung Integrationseinrichtungen mit der Funktion entstehen, die fehlende bzw. zerlegte Homogenität beständig durch eine integrierte Heterogenität zu ersetzen97. Demgemäß können die ausdifferenzierten Teilsysteme, je nachdem, welche primäre Form die Differenz zwischen ihnen annimmt, sowohl Integration als auch Desintegration erfordern. Um das Verhältnis von Systemdifferenzierung und Integration besser zu verstehen, muss man die Mehrdeutigkeit des Integrationsbegriffs vermeiden und ein klare, strikt an die Grundunterscheidung der Theorie gekoppelte Definition anbieten. Luhmann tut dies, indem er den Begriff von den Vorstellungen von Solidarität, Konsens und Harmonie befreit und ihn einfach als „Reduktion der Freiheitsgrade von Teilsystemen“ 98 definiert, welche wiederum gerade der Form von Systemdifferenzierung zu verdanken ist. Integration bezieht sich nicht auf die Einheit des differenzierten Systems, sie ist keine Sache des „Gehorsams“ der Teilsysteme gegenüber Zentralinstanzen. Dies wäre eine historische Form der Integration der Teilsysteme, die beispielsweise für die Beschreibung der Interdependenzbeziehungen zwischen autonom operierenden Funktionssystemen untauglich ist. Als Einschränkung der Freiheitsgrade von Teilsystemen kommt Integration immer dadurch zustande, dass sich Anschlüsse von Operationen an Operationen und von Operationen an Strukturen einspielen (ohne jeden Bezug 97 98

LUHMANN, Niklas (1997). Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 602 ff. Ibidem, S. 603.

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auf ein Ganzes oder auf einen Konsens zwischen psychischen Systemen), die zugleich in mehreren Systemen als Ereignisse identifiziert werden und durch die diese Teilsysteme sich voneinander irritieren lassen. Aber wenn Irritation nur als beschränkte Leistungsabhängigkeit zwischen operativ geschlossenen Systemen möglich ist, lässt sich Integration nur als eine Art „begrenzte Einschränkung der Freiheitsgrade von Teilsystemen“ begreifen. Die Luhmannsche These, dass sich die Produktion und die Reproduktion sozialer Ordnung mit der Vorstellung einer gesamtgesellschaftlichen Integrationsstruktur nicht zur Deckung bringen lassen, sondern eher in der Form von Systemdifferenzierung zu finden sind, schließt sich empirisch an die Beschreibung funktionaler Differenzierung an. Bei dieser Beschreibung geht der Integrationsbegriff Luhmanns vor allem mit der gesellschaftlichen Differenzierung von Gleichzeitigkeiten einher. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass in der modernen Gesellschaft unterschiedliche funktionale Kontexte gleichzeitig ablaufen 99 und sich dadurch sowohl der gegenseitigen Steuerbarkeit als auch der Koordination einer gemeinsamen Zukunft entziehen. Denn Steuerbarkeit und Koordination setzen die Konstruktion von Kausalbeziehung zwischen Ereignissen und deshalb die Unterbrechung von Gleichzeitigkeit voraus. Auch in vormodernen Gesellschaften kann man natürlich verschiedene Kontexte beobachten, aber nicht Kontexte, mit denen gleichzeitig zu rechnen ist. Erst mit dem Übergang zur funktionalen Differenzierung differenzieren sich Gleichzeitigkeiten voneinander, sodass die Interdependenzen zwischen unterschiedlichen Funktionssystemen nicht durch ein gemeinsames Differenzierungsschema geregelt werden können 100. Und gerade durch diese Differenzierung funktionaler Gleichzeitigkeiten verliert jede Integrationsstruktur an Selbstverständlichkeit. Da es Kausalität nur unter den Bedingungen einer Zeitdifferenz im Sinne eines Überschreitens der Grenzen des Gleichzeitig-Aktuellen geben kann (also unter der Voraussetzung der Bezeichenbarkeit und der Anschlussfähigkeit von Ereignissen), was sich als eine soziale Form von Kausalität in soziale Ursachen und soziale Effekte spaltet, kann es zwischen gleichzeitig ablaufenden Ereignissen keine Kausalbeziehung geben. Also verhindern die Differenzierung und das Ablaufen verschiedener Gleichzeitigkeiten, dass Integration in der Form einer in allen Teilsystemen gültigen kausalen Beziehung, die ihre Freiheitsgrade reduzieren, eingerichtet wird. In diesem Kontext können die Reduktionsvorgänge nur noch 99

NASSEHI, Armin (1993): Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 323ff. 100 Dieses Phänomen ist das, was heute – zumal durch den Einfluß der Systemtheorie Luhmannscher Provenienz – üblicherweise „Polykontexturalität“ genannt wird. Entscheidend dabei ist, dass jede Kontextdefinition mit der gleichzeitigen „Polykontexturalität“ rechnen muss. Vgl. im Blick darauf: TYRELL, Hartmann (1998):„Zur Diversität der Differenzierungstheorie. Soziologiehistorische Anmerkungen“. Soziale Systeme 4 (1998), S. 138. und SCHIMANK, Uwe (1996): Theorie gesellschaftlicher Differenzierung. Opladen: Leske + Budrich, S. 185 ff.

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als ereignishafte Phänomene konzipiert werden, die in sich keine multifunktionale rekursive Anschlussfähigkeit enthalten. Alle Integrationseffekte bleiben auf die Einzelereignisse begrenzt. Aus diesem Grund gibt es keine eindeutige und selbstverständliche, Teilsysteme übergreifende Rekursivität, die dafür sorgt, dass momenthafte integrierende Ereignisse einen integrierten Zusammenhang von teilsystemspezifischen Kommunikationen bilden: Die Vorlage eines Haushaltsplans im Parlament kann ein Ereignis im politischen System, im Rechtssystem, im System der Massenmedien und im Wirtschaftssystem sein. […] Sobald man Vorgeschichten und Konsequenzen mitbeachtet, sobald man also die Zeitgrenzen des gleichzeitig Aktuellen überschreitet und Rekursionen in Betracht zieht, wirkt sich das Magnetfeld der Systeme auf die Identifikation aus; und dann ist der Rechtsakt der Einbringung des Haushaltsentwurfs etwas anderes als der Anlass für Nachrichten und Kommentare in den Medien, etwas anderes auch als die politische Symbolisierung von Konsens und Dissens und etwas anderes schließlich als das, was die Börsen wahrnehmen. Im Pulsieren der Ereignisse integrieren und desintegrieren die Systeme sich von Augenblick zu Augenblick 101. Auch wenn die Wiederholung solcher ereignishafter Integrationsphänomene es den beteiligten autonom gewordenen Teilsystemen erlaubt, anhand der mit der Wiederholung verbundenen Antizipationsmöglichkeiten ihre eigene Strukturentwicklung in Bezug auf die Strukturentwicklungen anderer Teilsysteme zu bestimmen, bleibt die operative Basis für Integration/Desintegration immer das Ereignis, das für den Moment in mehreren Systemen identifiziert wird. In der Sachdimension der Systemdifferenzierung bleibt Strukturbildung also systemintern, was nicht heißen soll, dass sie von außen unbeeinflussbar ist. Das Entscheidende hier ist, dass in der Diagnose Luhmanns (zumindest in Bezug auf die europäische Erfahrung des Wohlfahrtsstaates) die Reproduktion von Integrationsereignissen und die Erhaltung der Autonomie von Funktionssystemen als ein Steigerungszusammenhang aneinander anknüpfen 102 . Durch die Temporalisierung des Integrationsproblems – das heißt, durch die Temporalisierung der Rekursivität, die dafür nötig ist – entwickelt die hochkomplexe moderne Gesellschaft eine Form, um Abhängigkeit und Unabhängigkeit zwischen den Teilsystemen zugleich prozessieren zu können 103; und zwar deshalb, weil die Ereignishaftigkeit jedes Integrationsphänomens, auch bei seiner Wiederholung, einen bestimmten Grad an Desintegration voraussetzt, damit die wechselseitigen Perturbationen die Autonomie der beteiligten Systeme nicht gefährden. Es geht also um einen Steigerungszusammenhang zwischen hoher Sensibilität für bestimmte ausdifferenzierte Sachfragen und Indifferenz für alles Übrige. Mit dem Begriff „structural 101

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 605. Siehe LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M: Suhrkamp, S. 15-16. 103 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 606. 102

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drift“ – der von dem Biologen Humberto Maturana stammt – bezeichnet Luhmann die Tatsache, dass ohne einen Bezug auf eine die gesamtgesellschaftliche Integration gewährleistende Systemhierarchie ein Verhältnis der Koevolution zwischen den verschiedenen strukturellen Kopplungen möglich ist. Diese Koevolution muss jedoch keineswegs den ausdifferenzierten Systemreferenzen und der damit einhergehenden autonomen Herstellung und Wiederherstellung von Strukturen ein einziges Differenzschema oktroyieren 104. Mit Bezug auf unseren Schwerpunkt in diesem Kapitel (der Zusammenhang zwischen funktionaler Differenzierung und sozialer Ungleichheit) werden wir den Integrationsbegriff Luhmanns (strukturelle Kopplung) verwenden (Kap 3), um die Verknüpfung teilsystemspezifischer Ungleichheiten unter dem Primat einer Form von Systemdifferenzierung zu konzeptualisieren, die auf die Koordination von systemspezifischen Ungleichheiten verzichten muss 105. Versucht man nun, zusammenzufassen, was aus der Perspektive der Systemtheorie Luhmanns als soziale Ordnung erscheint und besonders was die Vorstellung einer primären Form von Systemdifferenzierung dabei leistet, sollte man die Annahme eines temporalisierten und rekursiven Zusammenhangs von Ereignissen in den Vordergrund stellen 106. Soziale Systeme werden als gegenwartsbasierte Systeme begriffen, deren Strukturen sich je in einer Gegenwart bewähren müssen. Luhmann lokalisiert die Reproduktion autopoietischer Systeme in den jeweiligen, je gegenwärtigen Ereignissen (Temporalisierung). Die Stabilität einer Differenzierungsform sowie die damit einhergehende Systemidentität sind dementsprechend nicht einfach die Voraussetzung für kommunikative Operationen, sondern sie haben sich je neu in praxi zu bewähren. Diese radikal operative Sozialtheorie 107 setzt aber die Einzelereignisse (Operationen) in einen relationalen Zusammenhang (Rekursivität, Strukturen). Jedes Ereignis nimmt auf vorherige Ereignisse und auf Erwartungen Bezug; nur durch dieses echtzeitliche rekursive Operieren können Strukturen entstehen, die als Selektion der Einschränkungen der Relationierung von Elementen 108 fungieren und somit die „autopoietische Reproduktion des Systems von Ereignis zu Ereignis“ ermöglichen. Kurz: Ordnung ist eine dynamische Beziehung zwischen Kontingenzerzeugung (Ereignis) und Kontingenzeinschränkung (Struktur). 104

Ibidem, S. 607 LUHMANN, Niklas (2008):„Zum Begriff der sozialen Klasse“, S. 119. 106 Siehe LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 388 ff. Dazu auch NASSEHI, Armin (2004): „Sozialer Sinn“. In: NASSEHI, Armi/NOLLMANN, Gerd (Hg): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorievergleich. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 162-164. und NASSEHI, Armin (2004): „Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik“, S. 102. 107 Zur Unterscheidung von Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie siehe LINDEMANN, Gisa (2006): „Die Emergenzfunktion und die konstitutive Funktion des Dritten“. In: Zeitschrift für Soziologie 35 (2006), S. 83. 108 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 387-388. 105

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Was Luhmann als ereignistemporales, auf sich selbst bezugnehmendes Nacheinander sozialer Operationen (in Verbindung mit der Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins Husserls) 109 beschreibt, ist eben der laufend aktualisierte Prozess der Ordnungsbildung. Aus dieser Dynamisierung von sozialer Ordnung kann Systemstabilität nur noch als eine temporalisierte und rekursive Aufrechterhaltung einer Distanz zur Umwelt 110 konzipiert werden. Die Stabilität selbst ist als dynamische Stabilität zu verstehen. Systemdifferenzierung bedeutet dabei, besonders wenn man die funktionale Differenzierung vor Augen hat, einen Zusammenhang von Interdependenzunterbrechung zwischen System und Umwelt (d. h. von selektiver Interdependenz oder struktureller Kopplung zwischen Teilsystemen) und Eigendynamik des jeweiligen Systems 111. Diese ereignistemporale Ordnungsvorstellung ist, wie oben schon erwähnt, nur durch die gesellschaftliche Evolution möglich geworden – und die Soziologie war und ist daran beteiligt. Erst der Übergang zur funktionalen Differenzierung ermöglicht den Teilsystemen, eine bestimmte Distanz zu ihrer Umwelt zu gewinnen, sodass sie in die Lage versetzt werden, bestimme externe System/Umwelt-Beziehungen als Kontingenzen zu erkennen und die Welt anders als eine gegebene Welt wahrzunehmen, ohne die eigene Reproduktion in Gefahr bringen zu müssen 112. Diese Distanz bedeutet, dass die praktischen Weltanschauungen bzw. die Realitätskonstruktionen der Teilsysteme die Kontingenz der Weltordnung miteinbezieht, auch wenn die Teilsysteme eine Schwelle der „relativ invariante[n] Objektwelt“ 113 durch ihre Eigendynamik erreichen. Die Unterscheidung von System und Umwelt ermöglicht eine praktische Beobachtung von Kontingenz, die sich historisch aus dem Komplexitätsniveau funktionaler Differenzierung ergibt. Indem Systeme in der innergesellschaftlichen Umwelt eines Systems als selbstbezeichnungsfähige und beobachtbare Einheiten auftauchen und „dies mit Bezug auf zunehmend mehr und zunehmend unterschiedlichere andere Systeme geschieht und dadurch die Repräsentanz einzelner Systeme für die Umwelt insgesamt zurücktritt“ 114, gibt es keine für alle Systeme geltende kontingenzfreie Weltordnung mehr. Die Welt wird bei der Operationalisierung der Systemidentität nicht mehr ontologisch in verschiedene „Seinsbereiche“ geteilt und im Sinne eines allumfassenden Ganzen geordnet, sondern sie wird erst nach der operativen Unterscheidung eines Systems als Welt konstituiert, die dann nur für dieses System als notwendig zu gelten hat. Denn obwohl aus der je eigenen Systemperspektive (Beobachtung erster Ordnung)

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Siehe NASSEHI, Armin (1993): Die Zeit der Gesellschaft, S. 145 ff. LUHMANN, Niklas (1996): Liebe als Passion, S. 217. 111 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 768. 112 Ibidem, S. 1120 ff; LUHMANN, Niklas (1996): Liebe als Passion, S. 217-218. 113 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 1124. 114 LUHMANN, Niklas (1996) Liebe als Passion, S. 218. 110

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diese Welt noch als eine unentbehrliche und notwendige „Nische“ 115 erscheinen muss, ohne deren Dasein sich die Systemidentität nicht bewähren kann, ist diese Welt aus der Perspektive eines anderen Systems (Beobachtung zweiter Ordnung) eine System/Umwelt-Beziehung unter anderen (eine Weltkonstruktion), und diese Beziehung ist nie die einzige Möglichkeit, Ordnung zu schaffen. Mit anderen Worten: Funktionale Differenzierung ermöglicht eine spezifische Kontingenzerfahrung, die mit der Institutionalisierung einer polykontexturalen Weltbeobachtung zusammenhängt und deren strukturelle Bedeutung in der Pluralisierung verschiedener beobachtbarer System/Umwelt-Beziehungen liegt. Erst auf diese Weise führt die Beobachtung zweiter Ordnung zur (modernen) Erfahrung von Kontingenz. Der Beobachter zweiter Ordnung kann „eine System/UmweltBeziehung erkennen, die in der für ihn gegeben Welt (in seiner Nische) auch anders organisiert sein“ 116 kann. Die Form funktionaler Differenzierung impliziert also die Pluralisierung der Weltkonstruktionen. Und die Einheit der Gesellschaft ist nicht mehr an der Einheit der Welt zu erkennen, sondern an der Form, mit dem jedes System sein eigenes Weltverhältnis konstruiert: als ein Segment in einer Welt gleicher Segmente, als eine Schicht in einer hierarchisch geordneten Welt, als Funktionssysteme in einer funktional differenzierten Gesellschaft, in der alle Teilsysteme in der Ungleichartigkeit ihrer jeweiligen Funktion und Weltkonstruktion gleich sind. Um es zusammenzufassen: Das kognitiv-praktische Niveau einer Form von Systemdifferenzierung ist ein zentrales Thema der Gesellschaftstheorie, weil das Hauptproblem immer der Zusammenhang zwischen Differenzierung und Einheit, zwischen Differenz und Identität eines Gesellschaftssystems ist. Wichtig dabei ist, dass es sich nicht nur um ein soziologisches Problem, sondern auch um ein „logisch-ontologisches“ praktisches Problem der Gesellschaft handelt. Ein System, das nur als Beobachter erster Ordnung (das System in seiner Nische) operiert, muss voraussetzen, um seine Identität zu bewahren, dass es eine geordnete Welt gibt, die man richtig oder falsch beschreiben kann. Nach Luhmann gilt dies insbesondere für die primär stratifizierten Gesellschaften, in denen „jedes Teilsystem sich selbst durch eine Rangdifferenz zu anderen bestimmen mußte und so zu einer eigenen Identität gelangen konnte“ 117. Ein System dagegen, das auch als Beobachter zweiter Ordnung operiert, muss auf diese ontologische Annahme verzichten und voraussetzen, dass die Welt mehrere System/Umwelt-Beziehungen toleriert, sodass sie in jeder Operation des gesellschaftlichen Lebens vor dem Hintergrund einer Vielfalt an teilsystemspezifischen Konstruktionen erfahren wird. Unter diesen Bedingungen kann kein Teilsystem seine eigene Identität durch eine Rangdifferenz zu anderen Teilsystemen be115

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 1120, Fußnote 397. LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 1121. 117 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 745.

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zeichnen. Aber dies gilt nur für eine funktional differenzierte Gesellschaft. Im Falle funktionaler Differenzierung soll jedes Teilsystem seine relativ invariante Objektwelt und die Regelmäßigkeit ihrer Variationen als „Eigenwerte“ 118 des Systems konstituieren und durch diese „Welt für sich“ seine Identität selbst bestimmen – auch „über eine elaborierte Semantik der Selbstsinngebung, der Reflexion, der Autonomie“ 119. Kurz: Beobachtung zweiter Ordnung, die zu einer De-ontologisierung der Welt zugunsten systemspezifischer (Welt-) Konstruktionen führt, wird zum generalisierten Ordnungsprinzip, sie wird also zu einer evolutionären Errungenschaft der Systemdifferenzierung und der Systembildung.

1.6 Sinndimensionen und soziale Ordnung Auf der Ebene der operativen Reproduktion der Teilsysteme einer Gesellschaft sorgt die Form von Systemdifferenzierung dafür, dass die Einheit und die Identität der Teilsysteme durch die Grenzen definiert werden, die innerhalb ihrer innergesellschaftlichen Umwelt und gegenüber anderen Teilsystemen als selbstverständliche sachliche Grenzen 120 gezogen werden. Entscheidend dabei ist, dass diese Grenzziehung innerhalb des Systems – also als Wiedereintritt („re-entry“) der Unterscheidung von System und Umwelt in das durch sie Unterschiedene, in das System, das dann auch zur Umwelt von Teilsystemen wird – eine „primäre Disjunktion“ 121 zwischen „diesem“ und „anderem“ zur Verfügung stellt, die die Themen sinnhafter Kommunikation unmittelbar darstellt, ohne dass die Form der Grenzziehung selbst zum Thema wird. Man kann, wie wir sehen werden, die Primatthese Luhmanns mit der Feststellung auf den Punkt bringen, dass der Primat einer Form von Systemdifferenzierung gerade auf diese „primäre Disjunktion“ verweist. Es handelt sich hier um Zwei-Seiten-Formen (Georg Spencer Brown), die der Differenz von Teilsystem und innergesellschaftlichen Umwelt entspricht und die innerhalb der Teilsysteme Bezugnamen entweder auf die innere Seite der Form (auf das System, Selbstreferenz) oder auf ihre äußere Seite (auf die Umwelt, Fremdreferenz). In der Tat ermöglicht die „primäre Disjunktion“ Anschlussoperationen, die entweder noch auf derselben Seite der Disjunktion verweilen oder zur anderen Seite übergehen. Die Reproduktion der Differenzierungsform schließt die Oszillation der Verweisungen zwischen den beiden Seiten der Form nichts aus, sondern mit ein. Was sie nicht einschließen kann, ist dagegen die Bezeichnung der Form von Systemdifferenzierung als etwas Kontingentes. Erreicht wird diese Invisibilisierung von Kontingenz dadurch, dass die Identität des Systems, die nichts anderes als die Differenz zur Umwelt ist, im 118

Ibidem, S. 1124. Ibidem, S. 745. 120 Ibidem, S. 1136 ff. 121 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 114. 119

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ereignistemporalen Nacheinander sozialer Operationen nur operationalisiert, nicht aber vergessen oder erinnert wird 122. Die Differenz zur Umwelt ist dann jene Form von Reduktion von Komplexität, die die Systemidentität gewährleistet, indem sie das Vergessen und das Erinnern so strukturiert, als ob sie als Form einfach da wäre, in ihrer Unmittelbarkeit. Die Form von Systemdifferenzierung bilden die Unterscheidungen, die Themen und Probleme der Kommunikation (Sachdimension) definieren, ohne als Form zum Thema oder zum Problem zu werden. Sie ist der blinde Fleck. Dank ihres Bezugs auf die Sachdimension der Sinnerfahrung spielt das, was Luhmann als Form der Systemdifferenzierung beschreibt, eine spezifische Rolle in seiner Gesellschaftstheorie. Jedoch lassen sich die Mechanismen der Reduktion der Komplexität, die für Produktion und Produktion sozialer Ordnung nötig sind, nicht darauf reduzieren. Das „weite Feld menschlicher Vergesellschaftung“, wie George Simmel 123 es nennt, schließt immer andere Art sozialer Systeme und Sinndimensionen mit ein. Neben der sachlichen Ausdifferenzierung von System/Umwelt-Beziehungen, die die gesellschaftliche Erreichbarkeit von Kommunikation strukturieren, gibt es auch andere Formen von Systembildung (Organisationen, Interaktionen) 124, auf die die moderne soziale Ordnung nicht verzichten kann. Hinzukommt die Autonomisierung der Sozialdimension 125 und der Zeitdimension mit ihren jeweiligen (sozialen, zeitlichen) Komplexität: In der Sozialdimension wird die Differenz der Perspektiven (die Unterscheidung Alter-Ego) und in der Zeitdimension die Differenz vorher/nachher zu eigenständigen (gesellschaftlichen) Ordnungsdimensionen, in denen Sinneinheiten (Konsens oder Dissens zwischen „Alter“ und „Ego“ in der Sozialdimension, Synchronisation zwischen Vergangenheit und Zukunft in der Zeitdimension) nur mithilfe der jeweiligen dimensionsspezifischen Mechanismen der Komplexitätsreduktion (Einschränkung der möglichen Beziehungen zwischen Elementen) konstruiert werden können. Und obwohl die Autonomisierung der Sinndimensionen von Luhmann nach dem Paradigmenwechsel in seiner Sozialtheorie (1984) nicht mehr als ein zentrales Thema behandelt wird 126, nicht zuletzt, weil die gesellschaftliche Differenzierung der Sachdimension von diesem Zeitpunkt an im Vordergrund steht, sollte man den Zusammenhang zwischen den beiden Dimensionen der soziologischen Analyse nicht vernachlässigen. Zu diesem Zweck 122

LUHMANN, Niklas (1996): „Zeit und Gedächtnis“. In: Soziale Systeme 2 (1996), S.313. SIMMEL, Georg (1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig: Duncker & Humblot, S. 6. 124 TYRELL, Hartmann (2008):„Zweierlei Differenzierung. Funktionale und Ebenendifferenzierung im Frühwerk Niklas Luhmanns“. In: HEINZ, Betina et. alli (Hg): Soziale und gesellschaftliche Differenzierung. Aufsätze zur soziologischen Theorie. Wiesbaden: VS Verlag, S. 55-74. 125 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 119; LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 102-105; 180 ff; 249. 126 TYRELL, Hartmann (2008):„Zweierlei Differenzierung“, S. 58. 123

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muss die systemtheoretische Grundunterscheidung zwischen System und Umwelt nicht notwendigerweise aufgegeben werden. Der gesellschaftstheoretische Ertrag dieser Grundunterscheidung muss lediglich mit der Annahme verbunden werden, dass Differenzierung in der Gesellschaft in verschiedenen Sinndimensionen zu beobachten ist. Gerade durch die gesellschaftstheoretische Wiederherstellung dieser Verbindung zwischen Differenzierung und Mehrdimensionalität des sozialen Sinns eröffnet man einen Spielraum, in dem die These des Primats funktionaler Differenzierung und die Existenz strukturierter sozialer Ungleichheit als zwei moderne soziale Sachverhalte miteinander verknüpft werden können. Der erste und entscheidende Punkt hier ist, dass die Verbindung zwischen Differenzierung und Mehrdimensionalität des Sinns für eine soziologische Beschreibung der modernen Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Denn eben diese Verbindung kann die kognitiven Rahmenbedingungen sichtbbar machen, die die Ambivalenz bzw. die Beziehung zwischen sozialer Notwendigkeit und sozialer Kontingenz bestimmen. Schon die Tatsache, dass bei Luhmann die kognitiven Rahmenbedingungen der Erhaltung und des evolutiven Lernens einer bestimmten Gesellschaft 127 der Kern seiner Gesellschaftstheorie zu sein scheinen, ist ein Hinweis auf die Bedeutung einer theoretischen Vermittlung zwischen Differenzierung und Mehrdimensionalität des Sinns. Für unsere These ist diese Vermittlung auch deshalb wichtig, weil wir davon ausgehen, dass die Primatthese Luhmanns nicht im Sinne eines Entweder-oder zwischen funktionaler Differenzierung und strukturierter sozialer Ungleichheit verstanden werden soll. Es geht vielmehr bei der Primatthese um die Bestimmung derjenigen sachdimensionalen Rahmenbedingungen, die den Zusammenhang zwischen Notwendigkeit und Kontingenz im Strukturaufbau sozialer Ungleichheit mitregulieren. Gerade dieser Zusammenhang zwischen Notwendigkeit und Kontingenz im Strukturaufbau sozialer Ungleichheit sollte genauer analysiert werden, um das Verhältnis von funktionaler Differenzierung und sozialer Ungleichheit zu konzeptualisieren. Bei Luhmann ist das Verhältnis von Notwendigkeit und Kontingenz immer asymmetrisch in dem Sinne, dass es Notwendigkeit nur als Kontingenzeinschränkung geben kann. Es gibt in der Gesellschaft weder Notwendiges noch Unmögliches per se. Da die elementaren Operationen des sozialen Geschehens echtzeitliche Ereignisse sind, die bei ihrem Entstehen sofort verschwinden, müssen ihre Beziehungen (einschließlich notwendige Beziehungen) als Einschränkung ihrer Anschlussmöglichkeiten verstanden werden. Es geht bei Notwendigkeit aber um eine bestimmte Art von Beziehungen zwischen Systemelementen, deren Besonderheit darin liegt, dass ihre Kontingenz unsichtbar gemacht werden muss. Die Beziehung zwischen Recht und Unrecht ist beispielsweise unverzicht127 EDER, Klaus (2007): „Cognitv sociology“. In: European Journal of Social Theory 10 (2007), S. 389 – 408. S. 403. Eder spricht von „social systems as key to a cognitive sociology“ (S. 402).

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bar für die Identität jedes Rechtes und jedes Unrechtes und deshalb konstitutiv auch für die Identität des Rechtssystems. Es ist die Invisibilisierung der Kontingenz dieser Art von Beziehungen, die die Reproduktion der Systemidentität als etwas Notwendiges ermöglicht. Unsichtbarmachen darf jedoch nicht mit Vernichtung verwechselt werden. Ersteres bedeutet nur, dass die Kontingenz spezifischer Beziehungen eines Systems von diesem System selbst nicht bezeichnet und beobachtet wird; Letzteres hat überhaupt keinen Platz in der Systemtheorie Luhmanns, weil ein Beobachter zweiter Ordnung, deren Perspektive in einer anderen Systemreferenz verankert ist, dieses Unsichtbarmachen sehen und somit die Kontingenz des Notwendigen entdecken kann. Das Verhältnis von Notwendigkeit und Kontingenz setzt also voraus, dass soziale Trägheiten, die je nach der Systemreferenz als Notwendigkeiten behandelt werden, als ob sie keinen Anfang hätten und nicht anders sein könnten, die grundlegende Kontingenz der sozialen Welt nicht negieren 128. Die Frage ist, wie diese sozialen Notwendigkeiten im Laufe der Geschichte in der Gesellschaft konstruiert werden und wie diese Konstruktion invisibilisiert wird – oder eben nicht. Es gibt mehrere Möglichkeiten, dieser Frage evolutionstheoretisch nachzugehen. Es lässt sich zum Beispiel feststellen, dass durch die Entstehung von Verbreitungsmedien – besonders Schrift und Buchdruck – gerade der Bedarf an Nichtnegierbarkeiten und die entsprechende Suche nach Notwendigem, wenn sie als Suche beobachtet werden kann (und das erlauben die Schrift und der Buchdruck), immer neue Kontingenzen produzieren 129. Wir werden an dieser Stelle jedoch keine ausführliche evolutionstheoretische Beschreibung über das Verhältnis von Notwendigkeit und Kontingenz vornehmen. Uns interessiert in erster Linie, wie dieses Verhältnis durch den Zusammenhang zwischen Differenzierung und Mehrdimensionalität des Sinns strukturiert wird, vor allem wie die mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung einhergehende Zunahme der sichtbaren Kontingenz von Strukturen in der Ausdifferenzierung der Sinndimensionen zum Ausdruck kommt. Konkreter: Uns interessiert, wie der Übergang zu funktionaler Differenzierung als primäre Differenzierungsform die Bildung einer Sinndimension ermöglicht, deren Notwendigkeit als Modus sinnhafter Existenz mit der Möglichkeit der Beobachtung sozialer Ungleichheit als kontingente Strukturen einhergeht. Eine wenig entwickelte Grundannahme der Systemtheorie Luhmanns ist unseres Erachtens eben diese der Ausdifferenzierung der drei Sinndimensionen, nämlich die Sachdimension, die Sozialdimension und die Zeitdimension 130. Mit Aus128

GALINDO, Jorge (2006): Zwischen Notwendigkeit und Kontingenz. Theoretische Selbstbeobachtung der Soziologie. Wiesbaden: VS Verlag, S. 130. 129 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 469. 130 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S.111-122.

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nahme von Armin Nassehi 131 und Elena Esposito 132 bekommt dieses Thema selbst seitens der Luhmann-Schule wenig Aufmerksamkeit. Zunächst muss festgehalten werden, dass die prinzipielle Unterscheidbarkeit der drei Sinndimensionen nicht schon ihre reale Ausdifferenzierung unterstellt. Diese Ausdifferenzierung ist bereits Ergebnis der soziokulturellen Evolution 133. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, dass die Unterscheidungen von „diesem“ und „anderem“ (Sachdimension), von Vergangenheit und Zukunft (Zeitdimension) und die Reduplizierung von Auffassungsmöglichkeiten (Sozialdimension) in jeder Gesellschaft als eigenständige Sinndimensionen existierten. Die Autonomisierung dieser Dimensionen muss als Sinnevolution, die mit der Evolution der Form von Systemdifferenzierung zusammenhängt, verstanden werden. In vormodernen Gesellschaften war die soziale Ordnung 134 gerade auf die Unmöglichkeit dieser Autonomisierung angewiesen. Für segmentäre Gesellschaften gilt ja gerade, dass das sachlich Identische als zeitliche Konstanz und als soziale Übereinstimmung erscheint. Einerseits war die Differenz von Vorher und Nachher nicht von sachlichen Ereignissen zu trennen 135 und andererseits erschienen Auffassungsunterschiede wie reine Ignoranz der Natur der Dinge. Diese Untrennbarkeit der Sinndimensionen gilt spezifisch für interaktionsbedingte schriftlose Gesellschaften. Infolgedessen lässt sich die Differenzierung dieser Dimensionen nur dann verstehen, wenn man die Bedeutung der Schrift für die Evolution des sozialen Sinns bedenkt. Erst mit dem Schriftgebrauch und mit der entsprechenden Autonomisierung der Sinnerfahrung gegenüber dem interaktionsbedingten Horizont der gegenseitigen Wahrnehmung können sich die Sinndimensionen gegeneinander differenzieren. Es handelt sich beim Schriftgebrauch um eine Differenzierung der „Materialität der Kommunikation“ 136. Die Interaktion unter Anwesenden ist nicht mehr der einzige Sinnträger und die gesprochene Sprache nicht mehr das einzige „mediale Substrat“ 137. Der geschriebene Text legt es nahe, Sache und Auffassung der 131 NASSEHI, Armin (2004):„Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik“, S. 98-118 und NASSEHI, Armin (2004): „Sozialer Sinn“, S. 155-188. 132 ESPOSITO, Elena (2007): Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007. 133 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 113. 134 Die Rede von Gesellschaft bzw. sozialer Ordnung im Bezug auf vormodernen Epochen ist natürlich eine Projektion unserer Denkeweise auf die Vergangenheit. 135 Bekanntlich hat Anthony Giddens diese Trennung unter dem Stichwort „Raum-ZeitDistanzierung“ begriffen. Siehe GIDDENS, Anthony (1990): The Consequences of Modernity. Cambridge, S. 21. 136 Siehe LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 271; GUMBRECHT, Hans Ulrich/ PFEIFFER, Karl Ludwig (Hg) (1998): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M: Suhrkamp, 1988 und ELSNER, Monika; et al. „Zur Kulturgeschichte der Medien“ (1994): In: MERTEN, Klaus et al.,(Hg). Die Wirklichkeit der Medien. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 163-187. 137 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 267.

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Sache zu trennen, was auf die Trennung zwischen Sache und Person hinausläuft. Was durch die Schrift mitgeteilt wird, kann sich als objektivierbarer und kontextunabhängiger Themenbereich verfestigen. Die schriftbedingte Objektivierung ermöglicht es, dass die beim Verstehen einer Mitteilung gelegentlich erzeugten Dissense der individuellen Subjektivität zugeschrieben werden, sodass sie nicht mehr bloße Ignoranz der Wesen der Dinge bedeuten müssen. Man kann sagen, wenn man vom „Luhmanschen Habitus“ Abstand nimmt, dass ein „Sachkonsens“ den Hintergrund für jeden (sozialen) Dissens bildet. In Luhmanns Worten:„Schriftliche Texte haben ein objektiviertes Verhältnis zu ihrem Thema, was es dann wieder möglich macht, die subjektive Art der Behandlung des Themas zu bemerken und dem Autor zuzurechnen. Der ,Gegenstandǥ – und jetzt erst gibt es ,Gegenständeǥ – hält still und lässt sich von allen Seiten behandeln“ 138. So können Sachdimension und Sozialdimension gegeneinander differenziert und aufeinander bezogen werden. Diese wechselseitige Bezugsnahme zwischen Sach-und Sozialdimension geschieht beispielsweise durch die kommunikative Zurechnung subjektiver Orientierungen an bestimmten Themen und Gegenstände auf Individuen, die damit als soziale Adresse für weitere Kommunikationen klassifiziert werden. Was die Autonomisierung der Zeitdimension angeht, spielt die Schrift auch eine entscheidende Rolle. Das hängt damit zusammen, dass die Differenz von Vorher und Nachher, die an allen Ereignissen unmittelbar erfahrbar ist, durch den Schriftgebrauch auf spezifisch zeitliche Sonderhorizonte bezogen wird, nämlich auf die Vergangenheit und auf die Zukunft 139. Um diese schriftbedingte Autonomisierung zu erfassen, muss man deshalb immer die „universell erlebbare Differenz von Vorher und Nachher“ 140 von einem eigenständigen Doppelhorizont von Vergangenheit und Zukunft unterscheiden. Während Ersteres, so die Sozialtheorie Luhmanns, eine Voraussetzung für die Ereignishaftigkeit aller Sinnoperationen in jeder Gesellschaft ist, entsteht Letzteres nur, wenn die soziokulturelle Evolution es erlaubt, die Zeit von der Bindung an das unmittelbar Erfahrbare zu lösen, sodass sie zu einer eigenständigen Dimension werden kann, die „nur noch das Wann und nicht mehr das Wer/Was/Wo/Wie des Erlebens und Handelns ordnet“ 141. Zukunft und Vergangenheit können somit intendiert bzw. thematisiert, nicht aber erlebt oder behandelt werden. Kommunikation ist und bleibt ein gegenwärtiges Ereignis, daran ändert sich nichts, auch wenn der Schriftgebrauch sich verbreitet. Der Einfluss der Schrift liegt in der räumlichen und zeitlichen Entkopplung von Mitteilung und Verstehen und in der enormen Explosion von Anschlussmög138

Ibidem, S. 276. Ibidem, S. 290. 140 BOHN, Cornelia (1999): Schriftlichkeit und Gesellschaft. Kommunikation und Sozialität der Neuzeit. Wiesbaden: Opladen, S. 44. 141 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 116. 139

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lichkeiten, die jetzt nur mit einer Neuordnung von Sequenzen und ohne die selbstverständliche und unmittelbare Grenzziehung des räumlichen Kontextes eines Interaktionssystems strukturiert und reduziert werden müssen; denn die unmittelbare Verkettung von Ereignissen durch den Raum, im dem sie vorkommen, wird aufgrund der schriftlichen Vermittlung kontingent gesetzt. Diese räumliche und zeitliche Entkopplung der konstitutiven Selektionen der Kommunikation – Mitteilung und Verstehen einer Information – bedeutet, dass die Information, die an einem bestimmten Ort mitgeteilt wurde, viel später und an einem anderen Ort verstanden werden kann. Die Schrift dient zur Differenzierung der Zeitdimension, indem sie mit der Unmittelbarkeit der Sequenzen von Mitteilung und Verstehen bricht. So entsteht ein Spielraum, in dem die Kontingenz von Sequenzen als Entscheidung zugerechnet und in der Zeit als irreversibel – als schon getroffene Entscheidung – gesetzt wird, wenn die Gesellschaft noch Irreversibilitäten produziert und reproduziert 142. Notwendigkeit muss jetzt eben die Form von Irreversibilität (unveränderbare Vergangenheit) annehmen, was konstitutiv für die Kommunikationsform Entscheidung ist. Die Entstehung einer eigenständigen Zeitdimension auf der Basis der Schrift bedeutet eine neuartige Präsenz von Zeit, die aber auf keinen Fall als eine Überwindung der Gegenwärtigkeit und der Gleichzeitigkeit von Sinnoperationen zu verstehen ist. Die Schrift ändert nichts daran, dass alles, was geschieht, gegenwärtig geschieht und gleichzeitig geschieht. Bei Luhmann gibt es nach wie vor kein Sozialsystem, das außerhalb seiner Gegenwart und in einer ungleichzeitigen Welt operieren kann 143. Diese neuartige Präsenz von Zeit ist nirgends anders als in der Gegenwart verortet, und zwar als eine in der Gegenwart in Anspruch zu nehmende Rekursivität. Denn über Schrift ist nun in jeder Gegenwart eine Kombination verschiedener Gegenwarten möglich, die jeweils füreinander Zukunft bzw. Vergangenheit sind. Was beim Schreiben des Textes Zukunft war, kann beim Lesen schon Vergangenheit sein. Daher erzeugt die Trennung zwischen Mitteilung und Verstehen die Präsenz der bloß virtuellen Zeit der Vergangenheit und der Zukunft, die eben als Präsenz einen Informationswert in der Gegenwart gewinnen. Es geht, so Luhmann, um „die Illusion der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ 144, deren Auswirkung darin besteht, dass wir – da wir in einer Schriftkultur leben – an diese Illusion gewöhnt sind. In diesem Kontext führt die Virtualität der Zukunft beispielsweise zu einer Steigerung der Unsicherheit in Bezug auf das Verstehen eines mitgeteilten Sinns. Dies gilt nicht nur für den Leser, sondern erst recht für die „Antizipation des Verstehens durch den Verfasser des Textes“ 145 . Es wird deshalb zunehmend wichtig, semantische Schemata zu entwickeln, die in der Gegenwart diese zu142

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 1010 ff. LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 264. 144 Ibidem, S. 265 (Kursiv des Autors). 145 Ibidem, S. 269. 143

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kunftsbezogene Unsicherheit reduzieren können. Die Virtualität der Zeitdimension lässt sich auch an der Vergangenheit als geschriebene Geschichte gut beobachten. Das Vergangene gewinnt eine zuvor unbekannte Macht über die Gegenwart. In der alteuropäischen Tradition ermöglicht die Symbolisierung der Vergangenheit durch die Schrift unter anderem die Aktualität des Ursprungs des Adelsgeschlechts. Damit wird jedoch nicht nur die legitimierende Kraft der Arche in den Vordergrund gerückt, sondern auch die Notwendigkeit, die durch das Aufschreiben potentialisierte sichtbare Kontingenz 146 einzuschränken. Bleibt die Kontingenz der Vergangenheit bzw. der Zukunft unsichtbar, was z. B. dadurch gesichert werden kann, dass ein ausdifferenziertes System die Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft monopolisiert, kann die Schrift die Autonomisierung einer Zeitdimension nicht hervorbringen. Wenn das Gesellschaftssystem seine Zeitsemantik nicht von Zeitmodellen ablöst, nach denen Zukunft letztlich in Vergangenheit übergeht und Zeitläufe nichts anderes als die Repetition immer gleicher Ereignisverknüpfungen sind, kann sich die Zeitdimension als solche nicht durchsetzen. Erst wenn Vergangenheit und Zukunft sich von den sach -oder sozialdimensionalen Kategorien des Anwesenden und des Abwesenden, seien es Gegenstände oder Personen, lösen, können sie kontingent werden. Ohne diese Kontingenz kann nicht die Rede von einer eigenständigen Zeitdimension sein. Bei Luhmann ist diese Kontingenz der Horizonte Zukunft und Vergangenheit auch konstitutiv für die Geschichte (sei es „soziale“ oder „biographische“ Geschichte). Denn nur der kontingente Zugriff auf den Sinn von vergangenen bzw. künftigen Ereignissen – also die Möglichkeit eines Überspringens notwendiger Sequenzen – ermöglicht es Systemen, sich selbst in der Zeitdimension zu beschreiben, sei es durch bestimmte vergangene Ereignisse, sei es durch die Finalisierung der Zukunft (Zwecksetzung), sei es durch Entscheidungen aller Arten 147. Nach Luhmann gibt es Geschichte nur bei diesen Unterbrechungen der notwendigen Sequenz von Ereignissen.

1.7 Der Primat funktionaler Differenzierung und die Sachdimension Der Übergang zu einer primär funktional differenzierten Gesellschaft und die Autonomisierung der Sinndimensionen bedingen sich wechselseitig. Der Primat funktionaler Differenzierung liegt gleichsam in der Überlegenheit der Sachdimension gegenüber der Sozialdimension. Dabei mündet die Autonomisierung der

146

Ibidem, S. 271, 273, 277. LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 118; LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 441 (Band 1), 573 ff (Band 2). 147

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Sachdimension in eine Entkopplung verschiedener funktionaler Bezugsprobleme sowohl voneinander wie auch von der Sozialdimension 148. Die Überlegenheit der Sachdimension besteht darin, dass erstens die wichtigsten Themen und Gegenstände der Kommunikation zu funktional spezialisierten Bezugsproblemen werden und dass zweitens den Individuen die Notwendigkeit auferlegt wird, solche sozial erzeugte Bezugsprobleme als individuelle Probleme zu lösen. Anders gesagt: Die individuellen Perspektiven auf die Welt trotz ihrer sozial unterstellten Einzigartigkeit sind gezwungen, mit diesen Bezugsproblemen zu beschäftigen, wodurch die Sach- und die Sozialdimension aufeinander bezogen werden. Beim Primat funktionaler Differenzierung handelt es sich um einen Horizont sachlicher Bezugsprobleme 149 (Sicherstellung künftiger Versorgung unter Bedingungen von Knappheit, Treffen von kollektiv bindenden Entscheidungen, organisatorische soziale Selektion bzw. Vorbereitung auf das spätere Leben, Sicherung normativer Erwartungen, Bildung von auf Liebesbeziehungen beruhenden Familien usw.), der alle möglichen Kommunikationen in ihrer thematischen Hinsicht umfasst. Unabhängig von sozialer Klasse bzw. Herkunft werden Rechnungen mit Geld, und nicht mit Liebe bezahlt. Und auch Prostituierten müssen sich auf Liebesgeschichten einstellen, wenn sie die eigene Familie legitim gründen wollen. Funktional spezialisierte Bezugsprobleme lassen sich also nur mittels funktional spezialisierter Kommunikationsmedien (Geld, Liebe, Macht) lösen. Die Autonomisierung der Sinndimensionen stellt eine Sinnevolution dar, welche der operativen Geschlossenheit der Funktionssysteme zugrunde liegt. Es ist die Trennung zischen sachlichen, sozialen und zeitlichen Sinndimensionen, die das Komplexitätsniveau, das Sichtbarmachen von Kontingenz und die ständige Produktion individueller Variation und Mikrodiversität 150 ermöglicht, die die Ausdifferenzierung und die Reproduktion autonom operierender Funktionsberei-

148

Ibidem, S. 133ff. Ich greife hier den Vorschlag Armin Nassehis auf, dass man bei funktionaler Differenzierung den Gesellschaftsbegriff nur noch als einen „Horizont aller möglichen Kommunikationen“ definieren kann: „So kann sich eben keine Geldzahlung der Logik des Ökonomischen entziehen, wie sich Glauben immer „religiös“ vorfindet oder wie sich noch die ästhetische Dementierung der Kunst an der Kunst zu bewähren hat. Aber erreicht werden kann die Struktur dessen, was als Ökonomie, Religion oder Kunst einen kommunikativen Sog erzeugt, nicht. Man muss sich die funktional differenzierte Gesellschaft also als einen unerreichbaren Horizont von Kommunikationen vorstellen – wäre er erreichbar, er wäre kein Horizont –, in dem mit Hilfe symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien Anschlusszusammenhänge höherer Wahrscheinlichkeit entstehen, die sich als Funktionssysteme dann schließen, wenn sie im Hinblick auf ihre Funktion nicht-substituierbar geworden sind NASSEHI, Armin (2004): „Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik“, S. 102. 150 LUHMANN, Niklas (1997): „Selbstorganisation und Mikrodiversität. Zur Wissenssoziologie des neuzeitlichen Individualismus“, S. 28. 149

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che in Gang halten. Gleichfalls kann man die Evolution des Mediums Sinn ohne funktionale Differenzierung nicht verstehen. Die Spezialisierung und Monopolisierung von Bezugsproblemen werden dadurch erreicht, dass jedes Teilsystem sich bei der Erfüllung einer eigenen Funktion von ihrer gesellschaftlichen Umwelt differenziert. Alle anderen Teilsysteme, die zur innergesellschaftlichen Umwelt gehören, werden hinsichtlich dieser Funktionserfüllung für nicht zuständig oder inkompetent gehalten 151. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil die funktionale Spezialisierung ein anspruchsvolles Leistungsniveau für die Erfüllung von Funktionen absichert. Eigene Techniken 152 der Funktionserfüllung werden in jedem Funktionssystem entwickelt; und wenn man die entsprechenden Bezugsprobleme bewältigen will, darf man diese Techniken nicht ignorieren. Die Politik mag beispielsweise die Illusion haben, „selbst Geld ,machenǥ zu können. Aber dann nimmt die Wirtschaft dieses Geld nicht oder nur unter Abwertungsbedingungen an, und das Problem kehrt als ,Inflationǥ in die Politik zurück“ 153. Funktionale Differenzierung geht mit der Steigerung systeminterner Komplexität (Überschuss an Möglichkeiten der Relationierung der Elemente) einher, sodass sich jede Systemoperation durch eine selektive Relationierung, d. h. durch Reduktion von Komplexität vor dem Hintergrund anderer möglichen Relationierungen durchsetzt. Diese Steigerung der zu reduzierenden internen Komplexität setzt voraus, dass die jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme von einer zu punktuellen Kopplung mit seiner Umwelt (mit anderen Teilsystemen) befreit werden. Eine Entpunkualisierung von Zwischen-System-Beziehungen wird durch strukturelle Kopplungen erreicht. Dabei geht es um die Konstruktion eines selektiven Verhältnisses zu umweltlichen Irritationen, das eine Interdependenzunterbrechung zwischen dem System und seiner Umwelt stabilisiert. Der Verzicht auf Multifunktionalität und die Interdependenzunterbrechung gegenüber der Umwelt ermöglichen es den sich ausdifferenzierenden Teilsystemen, eine Eigendynamik zu erzeugen und weiter fortzusetzen 154 , welche sich nicht zuletzt auf Eigenzeiten und auf interne Differenzierungen bzw. Ungleichheiten begründet: „Ein allgemein systemtheoretisches Theorem besagt, dass Ausdifferenzierung durch interne Differenzierung bedingt ist. Die interne Differenzierung findet keine Umweltkorrelate“ 155. Deshalb folgt die interne Komple151

LUHMANN,Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 746. „Unter Technik soll jede feste Kopplung von Ursachen und Wirkungen verstanden werden, gleichgültig, ob es sich um Materialien physischer, chemischer oder biologischer Art oder um Symbole handelt wie im Recht oder in der Computertechnologie“. In: LUHMANN, Niklas (1994/1995): „Das Risiko der Kausalität“. In: Zeitschrift für Wissenschaftsforschung Band 9/10 (1994/1995), S. 112. 153 LUHMANN,Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 762. 154 Ibidem, S. 761, 768. 155 LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, hg. v. Kieserling, André. Frankfurt a. M, Suhrkamp, S. 222. 152

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xitätssteigerung der Funktionssysteme keinem notwendigen gemeinsamen Muster. Die Binnendifferenzierung von Märkten im Wirtschaftssystem ist zum Beispiel mit der segmentären Differenzierung der Weltpolitik in Territorialstaaten nicht gleichzusetzen, obwohl im Allgemeinen eine Art segmentäre Binnendifferenzierung vorzuherrschen scheint 156 . Entscheidend ist, dass die Einwirkung externer Ungleichheiten auf die Operationen der Funktionssysteme nicht mehr unmittelbar erfolgen kann; sie wird stattdessen durch systemeigene Strukturen (Programme) 157 mediatisiert, nicht aber neutralisiert. So haben beispielsweise reiche Menschen nicht unmittelbar aufgrund ihres Reichtums die Kompetenzen für die Besetzung von Positionen, in denen Entscheidungen über die Allokation der Codewerte des Wissenschaftssystems (wahr/unwahr) getroffen werden. Die Tatsache, dass es eine Reihe von schichtspezifischen Umwandlungsstrategien und Schließungsprozessen gibt, die über die Teilsysteme hinweg den Zugang zu verschiedenen Positionen, wie diejenigen des Unternehmers, des Professors, des Richters, des Politikers etc., zugunsten spezifischer Milieus verschließen, steht nicht im Widerspruch zu den Eigendynamiken der Funktionssysteme. Dies liegt darin begründet, dass Umwandlung und Schließung die systemeigenen Strukturen und voraussetzen, statt sie zu ignorieren. Die Entkopplung verschiedener funktionaler Bezugsprobleme kommt allerdings nur zum Abschluss, wenn sich die exklusive Zuständigkeit eines Funktionssystems durch eine teilsystemspezifische binäre Codierung von allen anderen funktionalen Kommunikationszusammenhängen unmittelbar differenzieren kann. Binäre Codes – wie Recht/Unrecht, Zahlung/Nichtzahlung, wahr/unwahr, Regierung/Opposition, stimmig/unstimmig, krank/gesund usw. – sind hoch abstrakte Schematismen, die gegeneinander differenziert sind und den Fortgang der Autopoiesis von Funktionssystemen durch die exklusive Orientierung an der jeweiligen eigenen Differenz sichern. Es geht um die Projektion einer positiv/negativen Unterscheidung, mit deren Hilfe jede Operation, jede Bewertung als kontingent behandelt und in einem Gegenwert reflektiert wird. Die Funktionssysteme beziehen jede Operation auf eine Unterscheidung zweier Werte – eben den binären Code – und stellen damit sicher, dass immer eine Anschlusskommunikation möglich ist, die zum Gegenwert übergehen kann 158 Es handelt sich um Zwei-Seiten-Formen, in deren Anwendungsbereich der Übergang von der einen zur anderen Seite, vom Wert zum Gegenwert, dadurch erleichtert wird, dass sie sich als Formen von anderen Formen unterscheiden. So kann das Wirtschaftssystem, indem sich die soziale Form Zahlungsoperation bei ihrem Eintreten ohne zusätzliche Kommunikationen von Intimbeziehungen un156

TÜRK, Klaus (1995): Die Organisation der Welt. Herrschaft durch Organisation in der modernen Gesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 211. 157 Die Unterscheidung von Codierung und Programmierung ist zentral für unsere Auffassung des Zusammenhangs von funktionaler Differenzierung und sozialer Ungleichheit. 158 LUHMANN,Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 749.

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terscheidet, sowohl Zahlung als auch Nichtzahlung als systemrelevantes Ereignis behandeln. Die extreme Reduktion von Möglichkeiten auf nur zwei Werte erlaubt es dem System, nur das als Information zu behandeln, was schon mithilfe des Codes selektiert wurde. Die Selektivität des Codes schließt aus, dass Information aus der Umwelt importiert wird. Jeder binäre Code ist auch eine „Sofern-Abstraktion“, was ihn zu universeller Anwendung befähigt. Sofern es um wissenschaftlichen Wissensgewinn geht, handelt es sich immer um die Anwendung des Codes wahr/unwahr. Die Autopoiesis eines Funktionssystems ist nichts anders als das Konstanthalten des Codes und damit die Reproduktion einer Kommunikationsweise, die nur zu diesem Funktionssystem gehört. Ein soziales System besteht immer in der Art und Weise, wie sich ein Kommunikationszusammenhang von anderen Kommunikationszusammenhängen unterscheidet und so eine Grenze zur Umwelt aufrechterhält. Was der Code dabei leistet, ist eben, dass der positive und der negative Wert in ein zirkuläres Verhältnis gebracht werden, sodass in ihrem Kontingenzbereich alle Ereignisse ihren Anschlusswert nur dank der Differenz zwischen den beiden Werten erhalten können. So wird der Code durch jegliche Operationen des Systems, sei es die Zuordnung des positiven oder des negativen Werts, laufend reproduziert. Daher werden die Operationen stets vor dem Hintergrund ihres Negativkorrelats als kontingent angesehen 159. Anders als die Zuordnung des einzelnen Wertes kann der Code selbst für das System nie als kontingent gelten. Der Code muss sich als eine invariable 160 , notwendige Einrichtung bewähren. Sonst könnte das System nicht existieren. Aber es geht hier nicht um Notwendigkeit im Sinne einer vorgegebenen Natur. Vielmehr handelt es sich um eine gleichsam „temporalisierte Notwendigkeit“, wobei die Einheit der Unterscheidung, die dem Code seine Form verleiht und in jeder seiner Operationen verwendet und reproduziert wird, in diesen Operationen nie als Einheit bezeichnet wird. Würde die Code-Differenz unter einem operationellen Gesichtspunkt als Einheit auftauchen, so wäre die Operation des Systems unmöglich. Dies deshalb, weil die Einheit der Unterscheidung eine Paradoxie oder eine Tautologie darstellt, die, wenn als solche bezeichnet, die Operation blockiert. Die Operationen, die den Code verwenden, können nicht gleichzeitig den Code als Einheit einer Unterscheidung bezeichnen, also ihn auf sich selbst anwenden. In allen binär codierten Teilsystemen entsteht dieses Problem. Das Rechtssystem, das sich durch die Unterscheidung Recht/Unrecht ausdifferenziert, würde sich in einer paradoxen oder tautologischen Lage befinden, wenn in seinen Operationen die Frage gestellt würde, mit welchem Recht das System feststellt, wer Recht hat und wer nicht. Mit dieser Selbstanwendung würde die Ein159

Ibidem, S. 750. Ibidem, S. 771; LUHMANN, Niklas (1987):„Codierung und Programmierung. Bildung und Selektion in Erziehungssystem“: In: Ders. Soziologische Aufklärung Band 4. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 184. 160

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heit entweder in der Form einer Tautologie (Recht ist Recht) oder in der Form einer Paradoxie (man hat nicht das Recht, sein Recht zu behaupten) als etwas Unerträgliches erscheinen und jede Operation sabotieren. Die Unterscheidung wird strukturell immer als Einheit aktualisiert, weil in jeder Operation auch die nicht bezeichnete Seite mitgemeint sein muss, damit das System, das nur auf einer Seite der Unterscheidung operieren kann, diese Operation selbst als kontingent behandelt. Das Oszillieren innerhalb der Unterscheidung, also die Aktualisierung beider Seiten, kann jedoch nur im Nacheinander der Operationen geschehen. Die Selbstreferenz des Codes muss in der Zeit asymmetrisiert und der Kurzschluss der Verweisungen innerhalb der Unterscheidung vermieden werden. Im Rechtssystem wird die Selbstreferenz beispielsweise durch eine politische Verfassung asymmetrisiert. Sie ersetzt Außenanlehnungen wie das Naturrecht durch die Konstruktion einer internen Hierarchie normativer Quellen, die als fremdrefentielle Prämisse für das Entscheiden über Recht und Unrecht benutzt wird. Sie ist zwar eine politische Lösung des Selbstreferenzproblems des Rechts. Aber das Recht kontrolliert durch den eigenen Code, wann und wie die Politik Änderungen in der Verfassung einführen kann. So können die Operationen sich am binären Schematismus des Codes orientieren, indem sie ihn als widersprechende Differenz und nicht als Einheit annehmen: Damit wird erreicht, dass die Selbstreferenz sich entfalten lässt und nicht unmittelbar und kompakt als Einheit in Anspruch genommen werden muss (obwohl sie gleichsam dialektisch spielt, da jede Position sich selbst mit Bezug auf die Gegenposition identifiziert) 161. Im Wirtschaftssystem muss die paradoxe Einheit der Unterscheidung Haben/Nichthaben entfaltet und invisibiliert werden. Die Paraxodie besteht darin, dass Beseitigung von Knappheit bzw. Zahlungsunfähigkeit zugleich Herstellung von Knappheit bzw. Zahlungsunfähigkeit ist 162. Die Systemoperationen schaffen das, was sie beseitigen wollen. Aber diese Paradoxie würde nur dann sichtbar werden, wenn die Selbstreferenz des Systems unbeschränkt und als Einheit in ihren basalen Operationen bezeichnet werden würde. Entparadoxiert wird das System teilweise dadurch, dass eine Bifurkation zwischen Positionen des Habens und des Nichthabens entsteht und kondensiert wird, welche jede Beziehung zwischen den beiden Codewerten verdeckt. Die Differenz zwischen Zahlungsunfähigkeit (Knappheit) und Zahlungsfähigkeit (Überschuss) wird von Situation zu Situation wiederholt und bildet damit ein geschichtetes Arrangement. Da man sich also immer schon in einer „durch Zugriffe vorstrukturierten Bifurkation“ 163 befindet, orientieren sich die wirtschaftlichen Operationen an der Code-Differenz; die Frage nach der Einheit der Unterscheidung wird durch die faktischen Vertei161 LUHMANN, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 77. 162 LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M: Suhrkamp, S. 134 163 Ibidem, S. 182.

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lungen von Überschüssen und Knappheiten auf Individuen, Familien und Organisationen ersetzt. Damit wird die Entparadoxierung des Systems jedoch noch nicht vollständig erreicht. Es muss eine systemeigene Knappheit hinzukommen, die unabhängig von den Zugriffen auf Güter, also unabhängig von Gegebenheiten der Umwelt, die Systemoperationen orientiert. Es geht bestimmt und die Knappheit des Geldes. Nur weil sich die Geldmenge nicht dadurch verändert, dass sich die Besitzverhältnisse durch Tauschbeziehungen verschieben, bleibt diese systeminterne Knappheit erhalten, sodass jeder Zugang zu der ursprünglichen Paradoxie, nach der die Knappheit von Gütern erst dann entsteht, wenn man auf diese Güter zugreift, blockiert wird. So erscheint Knappheit als Folge von Geldverteilung, und nicht als ein Problem, das durch ein auf seine Lösung spezialisiertes System erst erzeugt wird. Diese systeminterne Knappheit wird zu einer Kontingenzformel des Wirtschaftssystems, die für das System, indem sie seine Paradoxie invisibilisiert, eine Notwendigkeit ist 164. Beide Beispiele zeigen, wie sich die Codewerte der Funktionssysteme durch die Invisibilisierung ihrer jeweiligen konstitutiven Paradoxien als notwendige Einrichtungen moderner Gesellschaften etablieren. Und dies, wie gesagt, nicht in der Form eines notwendigen Naturordnung, in deren Rahmen Kontingenz nur als Akzidenz zugelassen wird, sondern in Form einer sich selbst begründenden Unterscheidung auftritt. Das Operieren auf der einen Seite der Unterscheidung ist immer kontingent in Bezug auf die Möglichkeit, die andere Seite im Nacheinander in Anspruch zu nehmen: Allein die Differenz selbst gibt ihren beiden Seiten Halt, und dies deshalb, weil sie auf einen bestimmten Funktionskontext bezogen, weil sie mit ihm ausdifferenziert ist und für ihn notwendig zu sein scheint 165. Im Fall funktionaler Differenzierung wird Notwendigkeit durch die Verhinderung der Frage nach dem Ursprung der teilsystemischen Codes erreicht. Die sachliche Ausdifferenzierung der Funktionssysteme mit ihren Codewerten setzt sich durch als eine Notwendigkeit moderner Gesellschaft, aber es geht hier um eine „nicht-stationäre Gesellschaft“ 166, in der selbst die Notwendigkeiten immer gegenwärtig bestätigt werden sollen. Das führt zu einem neuen Verhältnis zwischen Kontingenz und Notwendigkeit: In vormodernen Adelsgesellschaften wurden die Notwendigkeiten auf eine aus der Zeit enthobene Natur oder Schöpfung bezogen, während in der modernen funktional differenzierten Gesellschaft der Bezugspunkt temporalisiert wird. Im ersten Fall wurde Kontingenz als Akzidenz im Laufe einer Bewegung begriffen, wobei das „nichttemporalisierte“ Konstanthalten von Objekten, beschrieben mit Begriffen wie Natur, Wesen, Sein oder Gattung, immer vorausgesetzt werden musste 167 . Im 164

Ibidem, S. 191. Ibidem,S. 209. 166 LUHMANN,Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 1141. 167 Ibidem. 165

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zweiten Fall wird Kontingenz rekursiv in die Kommunikationen eingeführt: Änderungen werden nicht nur beschleunigt, sondern auch erwartet. Die „temporalisierte Notwendigkeit“, die funktionale Differenzierung kennzeichnet, bedeutet eine normalisierte Beobachtung von Kontingenzen. Beide Seiten der Unterscheidungen, die binäre Codes ausmachen, werden immer kontingent eingesetzt. Nichtkontingent ist nur die Beziehung zwischen den Kontingenzen, also die Unterscheidung selbst. „Temporalisierte Notwendigkeiten“ sind binäre Codes, da anderes nicht mehr möglich ist. An dieser Stelle spricht Uwe Schimank 168 in Anlehnung an Harmut Esser von einer „Verdinglichung der binären Codes“: „Dass sie kontingentes Menschenwerk sind, wird nicht gesehen – sie werden vielmehr als etwas nicht anders Mögliches eingestuft“ 169. Ohne auf das Dingschema zurückgreifen zu müssen, sieht auch Luhmann, wie Nichtkontingenz (Notwendigkeit) durch funktionale Differenzierung eingerichtet wird. Der Bezugspunkt der Asymmetrie zwischen funktionaler Differenzierung und anderen Differenzierungsweisen, die für den Primat funktionaler Differenzierung konstitutiv ist, ist also eine Sinngrenze, an die alle gesellschaftsinternen Ordnungsvorstellungen stoßen und über die hinaus keine Ordnung mehr für möglich gehalten wird. Diese Sinngrenze bildet die unerreichbare Außengrenze des Gesellschaftssystems, das dementsprechend nicht als eine Entität, sondern nur als der Horizont aller möglichen Kommunikationen definiert werden kann. Mit dieser Definition des Gesellschaftsbegriffs wird auch der Tatsache Rechnung getragen, dass funktionale Systemdifferenzierung eine „selbstsubsitutive Ordnung“ 170 darstellt, in der alle gesellschaftsinternen Vorstellungen von Strukturänderungen (auch jede Art von Gesellschaftskritik) auf eine Restrukturierung der jeweiligen Funktionserfüllung bzw. der gesellschaftlich institutionalisierten Zugänge zu den Lösungen differenzierter Bezugsprobleme hinweist, also auf die „Selbstsubstitution“ von Funktionssystemen, nicht auf deren Auflösung. Luhmann schreibt dazu: Entsprechend fällt es schwer, sich unsere Gesellschaft ohne Staat, ohne Recht, ohne Geld, ohne Forschung, ohne Massenkommunikation vorzustellen. Funktionen mit dieser Reichweite begründen selbstsubstitutive Ordnungen. Und erst recht ist es schwierig, sich eine gesellschaftliche Ordnung ohne ausdifferenzierte Funktionssysteme vorzustellen, dass heißt: für die Funktion funktionaler Differenzierung eine Alternative zu finden 171. Das alternativlose Ordnungsmuster funktionaler Differenzierung stellt gerade die oben erwähnte Überlegenheit der Sachdimension gegenüber der Sozialdimension 168

SCHIMANK, Uwe (2009): „Wie sich funktionale Differenzierung reproduziert. Eine akteurtheoretische Erklärung“. In: HILL, Paul et al. (Hg): Hartmut Essers Erklärende Soziologie. Kontroversen und Perspektiven. Frankfurt a. M.: Campus, S. 201-226. 169 Ibidem, S. 203. 170 LUHMANN,Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 158. 171 LUHMANN, Niklas (1992): Beobachtung der Moderne. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 47-48.

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dar. Diese Überlegenheit liegt darin, dass die Codewerte, wenn sie die eigenen Paradoxien entfalten und invisibilisieren, aus den Perspektiven bzw. den Interessenlagen der Sozialdimension als etwas Selbstverständliches erscheinen. So erlangt die über alle Differenzen von Perspektiven, Interessenskonflikte, Machtkämpfe usw. hinausgehende Sachdimension ihre Überlegenheit dadurch, dass die Kontingenz des Ursprungs des jeweiligen binären Codes im unerreichbaren Horizont aller möglichen Kommunikationen versteckt wird. Daher neigen Varietät und Vielfalt in der Sozialdimension dazu, die Selbstverständlichung der Sachdimension zu reproduzieren. Luhmann schreibt dazu: Die Disjunktion von Recht und Unrecht ist – ähnlich wie in anderen Fällen gesellschaftlich bedeutsamer binärer Schematismen, etwa der zweiwertigen Logik oder der Differenz von Eigentum und Nichteigentum – in der Gesellschaftsstruktur so hoch und in solchem Maße kontextfrei abgesichert, dass sich kein Interesse gegen die Disjunktion mehr formieren und verständlich machen lässt, sondern allenfalls ein Interesse an Recht, an Wahrheit, an Eigentum. Damit ist man indes schon auf eine Alternative festgelegt, ohne ihre Herkunft und ihre Relevanz geprüft zu haben 172. Der Übergang zum Primat funktionaler Differenzierung bedeutet, wie wir es schon sahen, eine Umstellung der Systemdifferenzierung auf die Sachdimension, welche sich wiederum erst mit dieser Umstellung als eine spezifische Sinndimension differenziert. Dabei nimmt die funktionale Spezialisierung sachlicher Bezugsprobleme die Form eines thematischen Horizont an, der sich aufgrund seiner konstitutiven Unerreichbarkeit – wäre er erreichbar, dann wäre er kein Horizont – als eine selbstverständliche Dimension der sozialen Ordnung durchsetzt. Diese Überlegungen erlauben es, die Regulierung der Einsatzmöglichkeiten anderer Formen der Differenzierung als Kriterium, mit dem man den Primat einer Differenzierungsform erkennt, für die Theorie funktionaler Differenzierung präziser zu definieren. Diese Regulierung ist eben die gesellschaftsinterne Unerreichbarkeit funktionaler Differenzierung: Die Tatsache, dass diese Differenzierungsform als Grundlage für jede gesellschaftsinterne Konstruktion und Dekonstruktion von Sinn, Strukturen, Interessenlagen, Individualisierungsformen usw. dient, wodurch sie sich als eine selbstverständliche Differenzierungsform reproduziert. Anders gesagt: Diese Unerreichbarkeit, welche nicht einmal durch Bildung von Organisationen überwunden werden kann, heißt, dass funktionale Differenzierung zu einer „temporalisierten Notwendigkeit“ der modernen Gesellschaft geworden ist. Es handelt sich dabei, wie schon mehrmals festgestellt, um eine Notwendigkeitsebene, die sich daraus ergeben, dass sowohl die Einheit von Funktionssystemen als auch die Einheit der Gesellschaft als Gesamtsystem unter einem opera172

LUHMANN, Niklas (1981):„Symbiotische Mechanismen“. In: Ders. Soziologische Aufklärung 3. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 228 (228-244).

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tiven Gesichtspunkt als solche nicht bezeichnet werden. Die Einheit der Gesellschaft und ihrer funktionalen Teilsysteme wird nur im Nachhinein der temporalisierten Operationen als operative Latenz, als Selbstplatzierung von ausdifferenzierten Wertungsschemen 173, entfaltet, invisibilisiert und reproduziert. Der Primat funktionaler Differenzierung liegt in eben dieser Fähigkeit zur Selbstvalidierung der Systemgrenzen, die die ausdifferenzierten Funktionssysteme davon entlasten, ihre jeweilige Code-Differenz begründen zu müssen. Die Differenziertheit von Funktionssystemen, Codewerten und sachlichen Bezugsproblemen wird in einem Ausmaß generalisiert, dass ihre Existenz als entkoppelt von jeder Strukturierung der Sozialdimension, von jeder spezifischen Konditionierung der Zuordnung der Codewerte (Programmierung) erfahren wird. Die an Funktionen orientierte Systemordnung wird zu „einer auf Existenz reduzierten Gegenkontingenz“ 174. Auf dieser Grundlage kann man, so Luhmann, von Gesellschaft nur im Singular sprechen, also sie nur als eine Weltgesellschaft definieren, die unerreichbar ist.“Die Gesellschaft hat keine Adresse“ 175 . Der Primat funktionaler Differenzierung besagt in diesem Kontext, dass es in der modernen (Welt) Gesellschaft Kommunikationsmöglichkeiten jenseits der Sinngrenzen von Ungleichheitsstrukturen wie jenseits der Sinngrenzen von segmentär differenzierten Sozialsystemen (wie beispielsweise Nationalstaaten) gibt, nicht aber jenseits der Sinngrenzen funktionaler Differenzierung. Und gerade deshalb ist funktionale Differenzierung derjenige Horizont aller möglichen Kommunikationen und die Einheit der Gesellschaft nichts anderes als die primäre Form von Systemdifferenzierung. Die hier vorgeschlagene Präzisierung des Begriffes des Primats, die auf die Rekonstruktion einer Notwendigkeitsebene als „temporalisierte Notwendigkeit“, als operative Latenz, als Fähigkeit zur Selbstplacierung von Funktionssystemen und ihren Codewerten beruht, verzichtet darauf, die Produktion und die Reproduktion von Ungleichheitsstrukturen aus der Logik funktionaler Differenzierung abzuleiten, d. h., soziale Ungleichheit als bloßes Nebenprodukt der Teilsystemoperationen zu betrachten, so als könnten die Funktionssysteme externe Ungleichheit neutralisieren. Diese Neutralisierungsannahme, die der „orthodoxen Version“ der Primatthese zugrunde liegt, hat zur Folge, dass die Bedeutung sozialer Ungleichheit für die soziale Ordnung verneint wird: Sie habe eine Eigenleistung für individuelle Karriere, nicht für die Strukturierung der Operationen der Funktionssysteme. In unserer „nicht orthodoxen“ Interpretation ist der Primat funktionaler Differenzierung Luhmanns dagegen voll kompatibel mit einem Begriff sozialer Ungleichheit, der ihre Bedeutung für die soziale Ordnung mitberücksichtigt. Ein 173

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 369. LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 465. 175 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S.866. 174

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solcher Begriff kann also eine wichtige Erwartung erfüllen, die man an die Ungleichheitsanalyse richtet. Die Erwartung aber, dass der Ungleichheitsbegriff auch die Einheit ihres gesellschaftstheoretischen Rahmen bezeichnet, d .h, dass der Gesellschaftsbegriff als eine spezifische Ungleichheitsstruktur – etwa nach dem Drei-Klassen-Modell, mit dem man in der Ungleichheitsanalyse ohne weitere gesellschaftstheoretische Begründung arbeitet – bestimmt wird, wird hier unzweideutig aufgegeben. Der Grund dafür ist, dass soziale Ordnung in der modernen Gesellschaft auch bei der Überschreitung von Sinngrenzen, die sich auf Schichtung beziehen, für möglich gehalten wird. Die Strukturen sozialer Ungleichheit sind kontingent. Die moderne Gesellschaft kann sich auch dann reproduzieren, wenn relativ stabile Erwartungsstrukturen, von denen die Reproduktion von Privilegien in verschiedenen Funktionssystemen abhängt, enttäuscht bzw. widersprochen werden. Ein Beispiel ist die Civil-Rights-Bewegung in den USA. Wichtig ist, dass diese Möglichkeit Auswirkungen auf die realen Kommunikationen haben, sodass man die Fortsetzung der teilsystemischen Operationen auch bei Änderung etablierter Ungleichheitsstrukturen erwarten kann. In primär stratifizierten Gesellschaften galt die Unterscheidung von oben und unten als ein selbstverständliches und notwendiges Differenzierungsprinzip. Der Primat der Schichtung zeigte sich darin, dass Ordnung in allen Gesellschaftsbereichen von der Superdetermination durch eine allumfassende stratifikatorische Differenzierung abhängig war. Ohne die jeweilige konkrete hierarchische Systemordnung, in der das oberste System mithilfe einer statischen, religiösmoralischen Legitimation politische Herrschaft über die unteren Schichten ausübte, konnte Ordnung nirgendwo für möglich gehalten werden: Von Stratifikation wollen wir nur sprechen, wenn die Gesellschaft als Rangordnung repräsentiert wird und Ordnung ohne Rangdifferenzen unvorstellbar geworden ist 176 .[...]Und ein Primat stratifikatorischer Differenzierung liegt nur vor, wenn andere Differenzierungsweisen (vor allem: die segmentäre Differenzierung der Familienhaushalte) sich an Stratifikation ausrichten 177. Dementsprechend ist die Umstellung gesellschaftlicher Systemdifferenzierung auf den Primat funktionaler Differenzierung nur dann möglich, wenn soziale Ordnung auch bei der Überschreitung der Sinngrenze konkreter Schichtstrukturen hergestellt werden kann. Dies geschieht durch die Entwicklung (Ausdifferenzierung) teilsystemspezifischer Code-Differenzen von Ja und Nein (Haben/Nicht-haben, Recht/Unrecht usw.), die es den jeweiligen gesellschaftlichen Teilsystemen erlauben, Schichtstrukturen als kontingent, als änderbar zu behandeln, ohne eine „evolutionäre Katastrophe“ zu erfahren d. h., ohne dass ihre Existenz als Funktionssysteme bedroht wird. Vom Primat funktionaler Differenzierung soll die Rede sein, wenn andere Differenzierungsweisen (vor allem: 176 177

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 679. Ibidem, S. 685-686.

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soziale Schichtung) nicht mehr als selbstverständlich rechtfertigbar sind, sondern sich an den Leitunterscheidungen der Funktionssysteme ausrichten, also wenn die Selbstverständlichkeit der funktionalen Differenzierung an die Stelle der Selbstverständlichkeit von Schichtung tritt. Mit dem Umbau von Stratifikation auf funktionale Differenzierung wird zwar die Differenzierungsform der Gesellschaft geändert, keineswegs aber Schichtung beseitigt […] Geändert hat sich aber, dass dies nun nicht mehr die sichtbare Ordnung der Gesellschaft schlechthin ist, nicht mehr die Ordnung, ohne die überhaupt keine Ordnung möglich wäre. Daher verliert Schichtung ihre alternativenlose Legitimation und findet sich seit dem 18. Jahrhundert mit dem Postulat der Gleichheit aller Menschen konfrontiert, an dem sich Ungleichheiten zu messen und gegebenenfalls funktional zu rechtfertigen haben. Semantisch wird diese Umstellung registriert durch Übergang vom Schichtungsbegriff des Standes zum Schichtungsbegriff der sozialen Klasse, der deutlicher die bloße Willkür der Einteilung markiert 178 . Die Kontingenz sozialer Ungleichheit, die sich aus dem Übergang zum Primat funktionaler Differenzierung ergibt, impliziert, dass Bewertung und Selektion von Personen nicht mehr als Grundoperation der Funktionssysteme behandelt wird. Ungleichheit heißt jetzt Ungleichheit zwischen Personen, nicht aber die primäre Form der Systemdifferenzierung. Sie steht „quer“ zur Logik funktionaler Differenzierung und sie stützt sich auf Strukturen und Operationen, die aus der Differenziertheit von Codewerten und der Spezialisierung funktionaler Bezugsprobleme nicht ableitbar sind. Dies bedeutet aber nicht, dass soziale Ordnung sich auf eine beliebige, völlig unstrukturierte Selektion von Personen einstellen kann. Wie oben schon erwähnt, muss Reduktion von Komplexität in jeder Sinndimension erreicht werden, damit soziale Ordnung überhaupt entstehen kann 179. Dass Luhmann die Strukturen, die diese Reduktion von Komplexität in der Sozialdimension ermöglichen, nicht thematisierte, hängt vermutlich mit der Vernachlässigung der Kombination der Sinndimensionen als unerlässliche Ordnungsvoraussetzung zusammen. Sozialtheoretische Über-legungen über das Angewiesensein sozialer Ordnung auf diese Kombination sind zwar in „Soziale [r] Systeme“ 180 zu finden, sowie ihre Anwendung auf spätere Analysen einzelner Funktionssysteme 181. Jedoch ist unklar geblieben, was dies für den Primat funktionaler Differenzierung und somit für eine Theorie der modernen Gesellschaft bedeutet. Jürgen Markowitz 182 betont dabei, dass diese Unklarheit sogar auf der sozial178

Ibidem, S. 772-773. LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 133-134. 180 Ibidem, S. 134. 181 Siehe z .B LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 203. 182 MARKOWITZ, Jürgen (2007): „Referenz und Emergenz. Zum Verhältnis von psychischen und sozialen Systeme“. In: KRANZ, Olaf/ADERHOLD, Jens (Hg): Intention und Funktion. Probleme der Vermittlung psychischer und sozialer Systeme. Wiesbaden: VS Verlag, S. 21-45. 179

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theoretischen Ebene angesiedelt ist. Ohne die Kombination zwischen den Sinndimensionen könne man die Emergenz sozialer Systeme als Lösung für die psychische Erfahrung doppelter Kontingenz nicht verstehen 183. Denn der geschlossene Zirkel der „verdoppelten doppelten Kontingenz“, in dem sowohl Alter als auch Ego die Unbestimmbarkeit des eigenen Verhaltens auf die Unbestimmbarkeit des Verhaltens des jeweiligen anderen verweisen, bleibe nur eine unstrukturierte Referenz der Sozialdimension, die in der Zeitdimension nichts weiter als ihren Unterbrechungseffekt auslösen kann, wenn ein Sachbezug damit nicht assoziiert würde. Es muss etwas Neues hinzukommen, dessen Sinndimension über die „zugeordnete Unendlichkeit ichhafter Innenhorizonte“ 184(Sozialdimension) hinausgeht. Die Zeitdimension resultiert aus dem Unterbrechungseffekt des Zirkels und artikuliert sich als unbestimmte Gegenwärtigkeit sowie als immanente Kurzfristigkeit des zirkulären Referierens. Die Sozialdimension entsteht mit der Tautologie des Referierens auf Referieren und der daraus resultieren Unbestimmbarkeit. Das Soziale artikuliert sich als Symmetrie des Bezugs der Teilnehmer aufeinander, als ihre Gleichheit in der tautologischen Unbestimmbarkeit. Was dem zirkulären Referieren fehlte, nämlich die dritte Dimension, das wird erst jetzt hinzugefügt. Also: Enttautologisieren lässt sich fassen als Assoziieren der Sachdimension. Nur so, in dieser Dreidimensionalität, ist das referentielle Geschehen für Sinnverwendung hinreichend präpariert 185. Die Emergenz sozialer Systeme als enttautologisierte Entfaltung des Problems der doppelten Kontingenz wird dann, so Markowitz, auf das Assoziieren der Sachdimension zurückgeführt. Wichtig dabei ist auch, dass dies Assoziieren nicht voraussetzt, dass die Sachdimension als eigenständige Sinndimension immer schon differenziert war. Die Autonomisierung der Sinndimensionen wird als Ergebnis soziokultureller Evolution aufgefasst. In primitiven Gesellschaften z. B. erzeugt der Rekurs auf einen Sachbezug gerade ein Identitätskontinuum zwischen der Sach-und der Sozialdimension. Der Totemismus – wie wir seit Durkheim 186 wissen – bindet Person und Dinge (meistens Tiere) per Identifikation aneinander, sodass die Eigenschaften von Dingen zugleich als Personeneigenschaften zu gelten hatten. Mit der Differenzierung der Sinndimensionen wird dieses Identitätskontinuum abgebrochen und das Verhältnis von Sachdimension und Sozialdimension der Kontingenz temporalisierter Ereignissen ausgesetzt. Die Eigentumsform bietet dafür ein präzises Beispiel an, wie Gegenstände und Person in einem Kontext, in dem die Sinndimensionen bereits differenziert sind, 183

Ibidem, S. 38. LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 129, F.N 63. 185 MARKOWITZ, Jürgen (2007): „Referenz und Emergenz, S. 38. 186 „Der Mensch nimmt an der Natur des Tieres teil; er hat seine Eigenschaften wie im übrigen seine Fehler“. DURKHEIM, Émile (1984): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a. .M: Suhrkamp, S. 220. 184

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nur selektiv und kontingent miteinander verknüpft werden. Die feudale Konzeption von Eigentum war noch durch die Vorstellung geprägt, dass alle bedeutsamen Gegenstände – vor allem Grundeigentum – mit ihren Eigentümern ontologisch verbunden sind. Es gab eine Art von „natürlicher“, sinnvoller und unveränderlicher Nutzung des Eigentums, die gerade in der „standesgemäßen“ Lebensführung ihren Ausdruck findet. „Der Genuß (fruitio) des Eigentums war nicht etwas, was man hätte rechtfertigen müssen“ – etwa in Bezug auf das Wachstum der zur Verfügung stehenden Menge –; er war die Rechtfertigung selbst“ 187 . Diese Kompaktannahme, die Eigentum von ihrer „standesgemäßen“ Nutzung nicht trennen lässt, bringt zugleich alle Sinndimensionen in Einklang, weil diese nicht-kontingente Verbindung von Sach-und Sozialdimension in der Zeitdimension als Konstanz einer hierarchischen Ordnung der Wesen wahrgenommen wurde. Erst die sich ausbreitende Geldwirtschaft und die neuartigen Nutzungsmöglichkeiten, die diese Ausbreitung sowohl voraussetzten als auch stimulierten, konnten diese selbstverständliche, „natürliche“ Relationierung der Sinndimensionen zerbrechen. Der Liberalismus hat die Assoziationsformel Eigentum derart umgearbeitet, dass „beliebig Nutzung instituiert werden kann“ 188. Die Kriterien, die jetzt die Aneignung des Eigentums rechtfertigen, fügen sich nicht mehr der kosmologischen Rahmenvorstellung, in der die Aneignung als ontologisierten standesgemäßen Genuss, als konkurrenzfreie Repräsentation der Gesellschaft im Sinne von Freude an gutem Leben unmittelbar akzeptiert wurde. Die Kriterien werden zunehmend als wirtschaftsinterne Programme formuliert, als Profiorientierung, als Wachstumorientierung usw., sodass jedes Assoziieren von Sach- und Sozialdimension sich nur noch als kontingent, als auch anders möglich betrachten lässt. Dementsprechend vermehren sich die möglichen Formen des Assoziierens ebenso wie ihr Auflöse- und Rekombinationsvermögen außerordentlich. Das führt dazu, dass sich die soziale Konstruktion des Sinns und die sinnhafte Konstruktion des Sozialen nach der Differenzierung der Sinndimensionen richten, um diese miteinander verbinden zu können. Zwar hat die Reduktion von Komplexität in einer Dimension immer Auswirkungen auf die Reduktionsmöglichkeiten der anderen Dimensionen, aber An der Stelle von Kompaktannahmen, die in allen Dimensionen zugleich binden, scheint ein kombinatorisches Bewußtsein gefordert zu sein, das sich am besten vielleicht durch Optionsbelastungen charakterisieren läßt: Wenn man sich in sachlicher Hinsicht festlegt (zum Beispiel „investiert“), hat das in zeitlicher und in sozialer Hinsicht nichtbeliebige Folgen. Wenn Zukunftshorizonte variieren, etwa infolge eines zu raschen Fluktuierens der Verhältnisse stärker an die Gegenwart heranrücken, hat das Konsequenzen sowohl für Konsens187 188

LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 193. MARKOWITZ, Jürgen (2007): „Referenz und Emergenz, S. 41.

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chancen (man kann die kurzfristig Benachteiligten nicht mehr „abfinden“, alle wollen alles sofort) als auch für das, was sachlich in so kurzer Zeit noch möglich ist 189. Das Auflöse- und Rekombinationsvermögen in der Relationierung der Sinndimensionen wird beispielsweise dadurch erreicht, dass die Formel des Eigentums mittels der Sachbezüge Haben/Nichthaben die Sozialdimension derart asymmetrisiert – meines ist nicht deines und umgekehrt –, dass ein Wechsel der Perspektiven und damit auch eine Rekombination des Assoziierens zwischen Sach- und Sozialdimension nicht nur möglich, sondern gerade auch erwartbar werden. Wer z.B. seine Position im Wirtschaftssystem verbessern will, muss bereit sein, sein Eigentum (und zwar sogar das Eigentum an Grund und Boden) zu monetarisieren, nämlich als wiederauflösbare (verkaufbare) Investition zu behandeln 190. Die Sachverhaltsvorstellungen, die als Bezugspunkte für die Asymmetrisierung der Sozialdimension in diesem Kontext dienen, lösen das Problem der doppelten Kontingenz nicht durch eine ontologische Fixierung von Verhaltensmöglichkeiten. Sie lösen dieses Problem vielmehr dadurch, dass Codewerten sich gegeneinander differenzieren und in ihren unterschiedlichen Anwendungsbereichen eine „Welt für sich“ bilden. Es geht bei diesen Sachverhaltsvorstellungen nicht um eine Welt mit verschiedenen „Seinsbereichen“, sondern es geht darum, dass die Welt erst mit Verwendung von Unterscheidungen, erst mit den Operationen, die Unterscheidungen verwenden, als Welt konstituiert wird, und zwar als paradoxe Einheit einer jeden Unterscheidung 191 . Deshalb bedeutet die Umstellung von Systemdifferenzierung auf eine eigenständige Sachdimension, dass aus einer Mehrheit von codierten Kommunikationszusammenhängen eine Pluralität von Welten resultiert. Man wird davon ausgehen müssen, dass das, was als Sachverhalte den Perspektiven der Sozialdimension (Alter und Ego) einen Halt gibt, der die Unbestimmbarkeit des Referierens auf Referieren ….in Bestimmbarkeit umsetzt, nicht Dinge sind, sondern Sachverhalte, die nur im Anwendungsbereich eines Codewertes Verhaltensorientierungen festlegen. Daher ist Zahlung nur ein verhaltensrelevanter Sachverhalt, weil Nichtzahlung auch möglich ist. Gerade die Selektivität des Geschehnisses macht ihre Relevanz aus. Vor dem Hintergrund dieses selektiven Assoziierens der Sachdimension kann nur die sachliche Differenziertheit von Codewerten selbst als Nichtkontingenz, als Notwendigkeitsebene fungieren, nicht aber die konkrete Zuordnung des einen oder des anderen Wertes.

189

LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 134. LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 316. 191 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 154. 190

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1.8 Soziale Ungleichheit und die Sozialdimension Als alternativloses Ordnungsmuster bildet funktionale Differenzierung den Rahmen, in dem die Ressourcen, die den modernen Formen sozialer Ungleichheit ihren sachlichen Sinn geben, hergestellt werden. Die Ressourcen liegen jetzt nicht mehr unmittelbar in der Schicht, auch nicht in den überlokalen Interaktionskompetenzen der Oberschichten. Sie liegen vielmehr in der Sachdimension, und zwar in den positiven Werten der jeweiligen binären Codes, denn nur Werten wie Wahrheit, Recht, Eigentum und Macht sind anschlussfähig 192. Strukturen sozialer Ungleichheit sind in diesem Kontext kein selbstreferentieller rekursiver Kommunikationszusammenhang, wie es bei Funktionssystemen der Fall ist. Ungleichheitsverhältnisse leben von der Zuordnung der Codewerte, aber die Strukturen, die diese Zuordnung regeln, lassen sich nicht mit der sachlichen Differenzierung zwischen den Funktionssystemen selbst zur Deckung bringen. Dabei spielt der Zugang zu Positionen in Organisationen eine entscheidende Rolle 193, weil er die Sachdimension mit der Sozialdimension verbindet, wobei diese Verbindung temporalisiert wird, d .h, als eine kontingente Relation beobachtet wird 194. Dabei kann strukturierte soziale Ungleichheit nur durch die temporalisierte Produktion und Reproduktion sozialer Adresse entstehen. Soziale Adresse sind kommunikativ erzeugte Referenzen, die auf Individuen zugerechnet werden. Es handelt sich um die Konstruktion von Personen als attribuierte Einschränkungen der Verhaltensmöglichkeiten 195 . Wie wir noch sehen werden, nimmt die Konstruktion von Personen die Form eines Lebenslaufes im Sinne einer Inklusions- und Exklusionsgeschichte an, der zugleich den Raum von Inklusionsmöglichkeiten strukturiert. Diese Form sozialer Personalisierung ist vor allem in Organisationen relevant. Durch die Beobachtung von Lebensläufen wird die Vergangenheit von Personen zu einer Information, anhand derer Erwartungen über ihre Zukunft gebildet werden. Ungleichheit wird hier eben durch bewertende Beobachtungsformen produziert, deren Leistung darin besteht, durch die Zuschreibung von Merkmalen (Mentalitäten, kulturell differente Lebensformen usw.) das Spektrum von Karrieremöglichkeiten zu reduzieren und Verteilung der Individuen auf Positionen zu strukturieren. Diese bewertende Beobachtungsform kann sich auch informell in Netzwerke kondensieren und damit zu einem Mechanismus der Selektion von Personen

192 LUHMANN, Niklas (1990): „Der medizinische Code“. In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Konstruktivistische Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 185. 193 LUHMANN, Niklas (1995): „Kausalität im Süden“. In: Soziale Systeme 1 (1995), S. 7-28; NASSEHI, Armin (2004): „Inklusion, Exklusion, Ungleichheit. Eine kleine theoretische Skizze“, S. 338. 194 LUHMANN,Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band, S. 829. 195 LUHMANN, Niklas.“Die Form „Person“. In: Soziale Welt 42 (1994) S. 170.

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werden, die als Entscheidungsprämissen innerhalb von Organisationen dient 196. In Entscheidungen über Inklusion und Exklusion können die attribuierten Verhaltensmöglichkeiten, die als Grundlage für die „solidarité par similitude“ von Netzwerken 197 fungieren, die Vergabe von Stellen konditionieren, in denen die sachlichen Ressourcen der jeweiligen Funktionssysteme (Macht, Geld) zur Verfügung stehen 198. Der Einfluss solcher Attributionen auf Entscheidungen erfolgt vor allem auf der Ebene der „latenten Kommunikation von Einstellungen“ 199 im Vorfeld von Entscheidungen. Es handelt sich dabei um die Reduktion der Komplexität der Sozialdimension mittels der (informellen) Konstruktion sozialer Adresse. Entscheidend ist, dass diese Reduktionsleistung soziale Ungleichheit erzeugt und reproduziert. Dass strukturierte soziale Ungleichheit erzeugende Formen der Asymmetrisierung in der Sozialdimension unentbehrlich für die soziale Ordnung sind, lässt sich präziser bestimmen, wenn man die Differenz von Codierung und Programmierung in den Blickpunkt rückt. Zwar stellt die Codierung eines Funktionsbereiches eine für die Systemidentität konstitutive Bifurkation dar, aber der Code selbst enthält kein Kriterium der Selektion, das die Richtigkeitsbedingungen für die konkrete Zuschreibung der Codewerte definiert. Folglich kann der Code allein keine Systemoperation hervorbringen. Dafür sind Programme vonnöten. Sie spezifizieren die Bedingungen, unter denen die Zuschreibung der Codewerte richtig ist. Sie legen Entscheidungsregeln fest, welche die Richtigkeit der Zuschreibung von Codewerten bestimmen 200 . Die Systemoperationen verlaufen immer blind auf der Ebene der Codierung und Kontrollmöglichkeiten können nur dann entstehen, wenn sie durch Regeln für richtiges oder brauchbares Verhalten als dritter Wert im Anwendungsbereich einer binären Differenz konditioniert werden. Die Selbstregulierung und -kontrolle des Systems beruht auf der Ebene der Programme, und zwar deshalb, weil nur die Programme andere Unterscheidungen als diejenigen, an denen die Operationen sich orientieren, zur Verfügung stellen, mit deren Hilfe das System den Verlauf seiner Operationen beobachten 196

Siehe BOMMES, Michael (2004): „Zur Bildung von Verteilungsordnungen in der funktional differenzierten Gesellschaft: Erläutert am Beispiel „ethnischer Ungleichheit“ von Arbeitsmigranten“: In: SCHWINN, Thomas (Hg): Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. 2. Auflage. Frankfurt a. M: Humanities Online, S.399-428 197 WINDOLF, Paul (2009): „ Einleitung: Inklusion und soziale Ungleichheit“: In: STICHWEH, Rudolf/ WINDOLF, Paul (Hg): Inklusion und Exklusion. Analyse zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag, S. 23. 198 Netzwerkförmige Asymmetrisierungen der Sozialdimension sind kein lokales Phänomen Brasiliens oder Süditaliens, wie Luhmann und anderen unterstellen. Michael Bommes (F.N 196) zeigt, dass Netzwerke gerade auch in Deutschland im Kontext des neokorporativen Arrangements des Wohlfahrtsstaates entscheidende Einrichtungen sind, was die Selektion von Personen angeht. 199 LUHMANN, Niklas (1995). „Kausalität im Süden“, S. 7-28. 200 LUHMANN, Niklas (1986):Ökologische Kommunikation, S.83; LUHMANN, Niklas (1987): „Codierung und Programmierung“, S. 182.

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kann. Es geht hierbei um die Wiedereinführung von einem durch den binären Code ausgeschlossenen dritten Wert in das System. Auch wenn das System seine eigenen Operationen nur an seinem eigenen Code orientiert – sonst könnte es nicht existieren –, muss es einen dritten Wert auf der Ebene der Programmierung eben deshalb zulassen, weil dieser Wert die Bedingungen für die Realisierbarkeit und Beobachtbarkeit einer Operation angibt. Obwohl die Wirtschaft beispielsweise ihre Zahlungsoperationen nicht in Übereinstimmung mit politischen Entscheidungen generiert, kann sie Investitionen durch bestimmte politische Anreize – wie die Entscheidung für erneuerbare Energien – programmieren lassen, wobei die politische Intervention üblicherweise auf Fremd- und Selbstbeobachtungen der Wirtschaft basiert ist. Ebenso können dritte Werte wie die „Umwelt“ oder das „menschliche Leid“ Gegenstand von Forschungsprogrammen oder rechtlicher Entscheidungen sein, ohne dass die jeweiligen binären Codes (wahr/unwahr, Recht/Unrecht) mit diesen Werten gleichgesetzt werden. Sofern die Ausdifferenzierung des binären Codes gesichert ist, bringen andere Werten auf der Ebene der Programmierung die Autopoiesis des Systems keineswegs in Gefahr. Während Codierung die operative Geschlossenheit von Funktionssystemen gewährleistet, besteht die eigentliche Leistung der Programme darin, die Systemoffenheit so zu strukturieren, dass externe Gegebenheiten selektiv in Betracht gezogen werden, welche die Bedingungen fixieren, unter denen der eine oder andere Codewert gesetzt wird. Diese Differenz von Codierung und Kriterien für richtige Operation (oder von Codierung und Programmierung) ermöglicht eine Kombination von Geschlossenheit und Offenheit im selben System 201. Das Erziehungssystem operiert z. B. mit dem Code besser/schlechter 202, also mit sozialer Selektion von Personen im Hinblick auf Schulkarrieren, welche übrigens einen erheblichen Einfluss auf die Zuweisung von Positionen auch außerhalb dieses Systems hat. Nur dank dieser Codierung kann nicht zuletzt die eigentliche Funktion dieses Teilsystems – die Vorbereitung des Einzelmenschen auf sein späteres Leben 203 – erfüllt werden. Die Systemoperationen können aber nur dann stattfinden, wenn Programme zur Verteilung besserer und schlechterer Positionen eingesetzt werden. Und das

201

LUHMANN, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation, S.83. LUHMANN, Niklas (2002): Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 73. Darüber besteht kein Konsens. Für Jochen Kade z. B operiert das Erziehungssystem durch die Codierung von Wissensbeständen anhand der Unterscheidung „vermittelbar/nicht – vermittelbar“. KADE, Jochen (1997):„Vermittelbar/nicht-vermittelbar: Vermitteln: Aneignen. Im Prozeß der Systembildung des Pädagogischen“: In: LENZEN, Dieter/LUHMANN, Niklas (Hg): Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 32. 203 LUHMANN, Niklas (2002): Die Erziehungssystem der Gesellschaft, S.47.

202

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geschieht nicht ohne Bezug auf Umwelt, auf anerkanntes Wissen, auf geschätzte Fähigkeiten, auf mögliche Anschlusskarrieren; aber es geschieht primär unter dem Gesichtspunkt der Strukturierung der systeminternen Karriere 204. Lehr- und Lernprogramme werden dementsprechend derart eingerichtet, dass die Beurteilungsformen, die in diese Programme aufgenommen werden, auf Umweltfaktoren wie z. B. schichtspezifische Sozialisationsleistungen in der Familie Bezug nehmen 205 - u.a mit der Folge, dass Ungleichheiten der Startbedingungen in der Schule sanktionieren werden. Das Verhältnis zwischen Codierung und Programmierung betrifft die Beziehung zwischen Notwendigkeit und Kontingenz, die für den Primat funktionaler Differenzierung typisch ist. Codierung stellt, wie schon oben erwähnt, eine „temporalisierte Notwendigkeit“ funktionaler Differenzierung dar. Im Gegensatz dazu wird Programmierung als kontingent behandelt. Die Autopoiesis eines ausdifferenzierten Funktionssystems hängt nur davon ab, ob der Code konstant bleibt oder nicht, ob die Werte des Codes als Orientierung einer funktional spezialisierten Kommunikationsweise reproduziert werden oder nicht, ob diese Werte mehr miteinander zu tun haben als mit anderen Werten. So wird die Wissenschaft immer dann autopoietisch reproduziert, wenn man sagen kann: „Nicht wahr, sondern unwahr“, ohne eine dritte Alternative zu haben, etwa: 'Nicht wahr, sondern hässlich'. Die Codes sind geschlossene 'contrast sets'“ 206. Beim Konstanthalten des Codes kann das Komplexitätsniveau des Systems strukturelle Veränderungen auf der Ebene der Programme nicht nur zulassen, sondern auch davon profitieren. Ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel und die neuen Theorien und Methoden, die sich daraus ergeben, bedeutet beispielsweise keine „evolutionäre Katastrophe“ für die Reproduktion des wissenschaftlichen Codes „wahr/unwahr“, sondern nur eine Strukturänderung innerhalb von Programmierungsmöglichkeiten. Nur die Codes definieren die Einheit des Funktionssystems durch eine spezifische Differenz, „während die Programme wechseln können“ 207. Die Differenz von Codierung und Programmierung artikuliert die Offenheit der Zukunft als das Apriori der funktional differenzierten Gesellschaft 208. Auf dem Wege zur Zukunft, die immer unerreichbar ist, kann das System durch die Änderung seiner Programme lernen, weil in der Zukunft die Garantie dafür liegt, dass Operationen auf der einen Seite des Codes oder auf der anderen immer 204

LUHMANN, Niklas. „Codierung und Programmierung“, S. 190. LUHMANN, Niklas/SCHORR, Karl Eberhard (1979):„Kompensatorische Erziehung“ unter pädagogischer Kontrolle?“ In: Bildung und Erziehung 32 (1979), S. 554, 559.; LUHMANN, Niklas (2002): Die Erziehungssystem der Gesellschaft, S.126. 206 LUHMANN, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation, S.91. 207 LUHMANN,Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 362, 363, 377 ff. 208 Das ist nur eine andere Formulierung dafür, dass die funktional differenzierte Gesellschaft eine „nicht stationäre“ Gesellschaft ist. 205

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wieder möglich sind. Die unerreichbare Zukunft ist deshalb das Apriori, weil sie das Konstanthalten des Codes gegenüber der Kontingenz von Programmen in der Zeit symbolisiert 209. So kann auf der Ebene der Programme „in gewissem Umfange Lernfähigkeit organisiert werden“ 210. Luhmann betont hierbei, dass solche Programme nur codespezifisch eingerichtet werden können 211 , was wiederum bedeutet, dass die Allokation der Codewerte der unterschiedlichen Funktionssysteme keinen gemeinsamen Nenner finden kann. Zweifelsohne folgen daraus erhebliche Einwände gegen einen Begriff strukturierter sozialer Ungleichheit, der teilsystemspezifische Ungleichwertigkeiten von Personen auf eine einheitliche Sozialstruktur zurückführt. Doch auch wenn die Asymmetrisierung der Sozialdimension durch die Programmierung erfolgt, weil die Festlegung der Bedingungen der Richtigkeit einer Operation nicht auf Mechanismen der Selektion von Personen verzichten kann, bleibt die Frage offen, ob und wie eine einzige Programmstruktur verschiedene partielle Inklusionen in den unterschiedlichen Funktionssystemen regeln könnte. Oder anders formuliert: Können sich die Mechanismen der Selektion von Personen, derer sich codespezifische Programme (Lehr- und Lernprogrammen im Erziehungssystem, politische Programme in der Politik, Theorien und Methoden im Wissenschaftssystem, Gesetze und Verträge im Rechtssystem, Investitionsprogramme und Konsumprogramme im Wirtschaftssystem, Liebesgeschichten in Intimbeziehungen usw.) zur Allokation der Codewerte bedienen, teilsystemübergreifend auswirken und wenn ja, wie? Welche Interdependenzen gibt es z. B zwischen der Selektion von Personen in der Wirtschaft und ihrem Schulerfolg? Wenn im Wirtschaftssystem bei der Allokation des positiven Codewertes durch Programme zur Herstellung von Zahlungsfähigkeit aus Zahlungsunfähigkeit im Zentrum des Systems – das sich durch Operationen der finanzökonomischen Geldschöpfung auszeichnet 212 – zwischen kreditwürdigen und kreditunwürdigen Personen differenziert wird, stellt der Kreditmechanismus eben eine Repersonalisierung der Geldkommunikation dar. Die typische Unpersönlichkeit des Geldes kann kein Entscheidungskriterium für die Herstellung von Zahlungsfähigkeit in Kreditform angeben. Die Programmierung der Wirtschaft ist auf Kriterien der Selektion von Personen angewiesen. Für die Entscheidung über die Allokation von Geld ist eine Asymetrisierung der Sozialdimension in Form einer selektiven Zuschreibung von (Rück)Zahlungserwartungen bzw. Kreditwürdigkeit notwendig. Die Frage ist dann, ob und, wenn ja, wie die damit einhergehende Ungleichheit an andere Selektionsmechanismen anschließt, sodass teilsystemübergreifen209

LUHMANN, Niklas (1987): „Codierung und Programmierung, S.184. LUHMANN, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation, S.91 211 LUHMANN,Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S.377. 212 BOHN, Cornelia (2009):„Geld und Eigentum – Inkludierende und exkludierende Mechanismen in der Wirtschaft“. In: STICHWEH, Rudolf/WINDOLF, Paul (Hg): Inklusion und Exklusion. Analyse zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag, S. 249. 210

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de Kriterien für die Allokation von Codewerten eine Einheit aus unterschiedlichen Ungleichheiten bilden können; ob es z .B eine Kopplung von Zurechnung von Zahlungserwartungen und Erfolg in der Schulkarriere gibt. Zwar ist die Existenz einer (intersystemischen) Beziehung zwischen Schulkarriere und ökonomischem Status unbestritten. Jedoch scheint sie eher die Form einer losen Kopplung anzunehmen, wodurch keine erzieherische Bestimmung von ökonomischen Operationen möglich ist, sondern nur bessere Vorbereitung auf den Kampf um ökonomische Positionen durch den Erwerb sozial anerkannter Wissensbestände. Der Einfluss der Schulkarriere auf den ökonomischen Status (und umgekehrt) kann also nur mittelbar durch erziehungsspezifische Programmstrukturen geschehen. Während der späte Luhmann kein systematisches theoretisches Interesse an der Frage nach strukturierter sozialer Ungleichheit hegt – mit Ausnahme der Faszination am exotisierten „Exklusionsbereich“ 213, der aber nicht Gegenstand einer umfassenderen Analyse war –, thematisierte er in einem früheren Aufsatz 214 einige Herausforderungen für die gesellschaftstheoretische Rahmung eines Begriffes strukturierter sozialer Ungleichheit. Mit der Absicht, einen Platz für den Klassenbegriff in der Theorie funktionaler Differenzierung zu finden 215, formuliert Luhmann drei zentrale Ausgangsthesen: 1) Soziale Klassen resultierten, abstrakt gesehen, aus einer Clusterbildung aufgrund einer wechselseitigen Verstärkung von verschiedenartigen Besser- bzw. Schlechterstellungen; 2) Die Beobachtung von Klassendifferenzen dient zur Kontingenzsetzung individueller Lebenslagen, also zur Problematisierung der Verteilung von Individuen auf bessere bzw. schlechtere soziale Positionen; 3) Unter dem Primat funktionaler Differenzierung müssen Klassendifferenzen jeden Zugriff auf Interaktion unter Anwesenden aufgeben. Wir werden unsere Überlegungen über den Begriff strukturierter sozialer Ungleichheit an der Ausarbeitung und Überprüfung dieser Ausgangsthesen orientieren. Unseres Erachtens bieten die zwei ersten Thesen fruchtbare Anschlüsse für einen Begriff strukturierter sozialer Ungleichheit, die das Problem der Kontingenz von Strukturen zu berücksichtigen erlauben. Für die dritte These gilt dies jedoch nicht. Träfe die These zu, dass Klassenunterschiede (verstanden als wechselseitige Verstärkung verschiedener Ungleichheiten) keinen Zugriff mehr auf Interaktionen haben, dann müsste man voraussetzen, dass diese Strukturen bzw. Clusterbildungen außerhalb der Operationen, außerhalb der Ereignisse, außerhalb der Praxis anzusiedeln sind. Dies würde auch bedeuten, dass man entweder 213 LUHMANN, Niklas (1995): „Inklusion und Exklusion“. In Ders. Soziologische Aufklärung Band 6. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 237-264. 214 LUHMANN, Niklas (2008): .“ In: KIESERLING, André (Hg).: Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 72-131. 215 Ibidem, S.129.

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den Luhmannschen temporalisierten Strukturbegriff selbst aufgeben oder zugestehen müsse, dass die über mehrere Funktionssysteme hinweg wechselseitige Verstärkung von Ungleichheiten keine Strukturen bilde, sondern aus Beliebigkeit entstehe 216. 1) Für Luhmann ist Ungleichheit als solche keine Klassenbildung bzw. kein Schichtungsprinzip. Funktionssystemspezifische Sozialdifferenzierungen zwischen Leistungsrollen bzw. Funktionssystemeliten und Publikumsrollen 217 deuten schon darauf hin, dass es Ungleichheit überall geben kann, ohne dass sie in Prozesse der Klassenbildung münden muss: Schichten und soziale Klasse entstehen erst durch die wechselseitige Verstärkung einer Mehrzahl von Ungleichheiten […]. Derjenige, der reicher ist als andere, hat dadurch auch größere Chancen, im Streitfalle Recht zu bekommen, ins Ausland zu reisen, Kunst zu genießen […]. Erst Multidimensionalität ermöglicht Clusterbildung, ermöglicht eine Steuerung von Verteilung 218. Diese Definition wirft die Frage auf, wie man von teilsystemspezifischen Ungleichheiten zu einer Bündelung, zu einer Abweichungsverstärkung dieser Mehrzahl von Ungleichheiten kommen kann. Luhmann selbst nennt drei Mechanismen, die zur Klassenbildung im oben erläuterten Sinne führen können: „Der wohl wichtigste ist Geld, denn an Geldbesitz lassen sich viele nichtökonomische Vorteile und sogar Persönlichkeitsmerkmale anschließen“ 219. Der zweite ist die Karriere in Organisationen verschiedener Art (Schule, Beruf, politische Parteien):„Hier werden Individuen auf Güter verteilt nach einem allgemein Maßtabe des Lebenslaufs. Schießlich gibt es eine Art Reputation oder Prominenz, die sich vor allem den Massenmedien verdankt“ 220. Die Frage, wie sich diese Mechanismen auf teilsystemübergreifende Ungleichheiten tatsächlich auswirken, wird bei Luhmann jedoch nicht beantwortet. In diesem Zusammenhang hebt Schwinn 221 hervor, dass nur unter der Voraussetzung einer Konvertierbarkeit von teilsystemspezifischen Ressourcen im Lebensverlauf dieser Frage nachgegangen werden kann. Soziale Ungleichheit, so argumentiert er, wird im Lebenslauf dadurch strukturiert, dass der Zugang zu einem Funktionssystem Auswirkungen auf weitere teilsystemspezifische Inklusi216

So die Kritik Thomas Schwinns. SCHWINN, Thomas (2000): „Soziale Ungleichheit und funktionale Differenzierung: Wiederaufnahme einer Diskussion“,S. 11; SCHWINN, Thomas (2000): „Inklusion und soziale Ungleichheit“, S. 479. 217 Siehe STICHWEH, Rudolf (2010): „Funktionale Differenzierung der Weltgesellschaft“, S. 299306; STICHWEH, Rudolf (2005): „Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft“. In: Ders.: Inklusion und Exklusion. Bielefeld: Transcript Verlag, S. 13; SCHIMANK, Uwe et al (2008): Das Publikum der Gesellschaft. 218 LUHMANN, Niklas (2008): „Zum Begriff der sozialen Klasse“, S.73 219 Ibidem, S.119. 220 Ibidem. 221 SCHWINN, Thomas (2007): Soziale Ungleichheit, S.51ff.

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onschancen haben 222. Die Konvertierbarkeit von Ressourcen gibt dem Einzelnen die Möglichkeit, seine künftige soziale Inklusionen durch die früheren zu strukturieren. Insofern erweisen sich, so Schwinn, drei Ressourcen als besonders ineinander konvertierbar: Geld, Bildung und politische Macht 223. Eine in sich konsistente soziale Lage, die imstande ist, die drei Ressourcen ineinander konvertierbar zu machen, ist der Beruf, der sowohl durch Sachkompetenz als auch durch Schichtzugehörigkeit geprägt wird 224. So treffend die Antwort Schwinns sein kann, es gilt auch, dass wichtige funktionale Äquivalente den Beruf als nur eine von verschiedenen „in sich konsistenten sozialen Lagen“ 225 erscheinen lassen, welche heterogene Ungleichheitsdimensionen in einen Zusammenhang bringen können. Anja Weiß betont insbesondere herrschaftsförmige Abweichungsverstärkungen, die eher auf Geschlecht und Ethnizität beruhen 226. Luhmann selbst – und dies hat erhebliche Bedeutung für seine weltgesellschaftstheoretische Perspektive – hat darauf hingewiesen, dass auch Regionalisierung eine äquivalente Lösung für Klassenbildung im abstrakten Sinne einer wechselseitigen Verstärkung unterschiedlicher Ungleichheiten ist: Auch in Bezug auf das Gebiet gibt es jene Clusterbildung. Bei mehr Wohlstand ist noch mehr Wohlstand, aber auch anspruchsvolle Erziehung, politische Stabilität, bessere Volksgesundheit […].Zur Erhaltung dieses Verteilungssystems und seiner politischen Konsensbildung ist Staatsbildung, das heißt segmentäre Differenzierung des politischen Systems, unerlässlich. So gesehen sind denn die Staaten weniger ein Instrument der Klassenherrschaft als vielmehr ein funktionales Äquivalent einer über Klassen gebündelten positiven bzw. negativen Verteilung 227. In die gleiche Richtung zielt Michael Bommes Argumentation. Er zeigt, wie in Deutschland die Mitgliedschaft in Organisationen im Kontext des neokorporativen Arrangements des Wohlfahrtsstaates von der Teilnahme an Netzwerken abhängig gemacht wird. Um Entscheidungen über die Rekrutierung von Personen zu steuern, operieren diese Netzwerke auf der Basis der Zuschreibung von Merkmalen und Eigenschaften. Diese sind vor allem in ethnische oder nationale Semantiken („Ausländer“, „Asylbewerber“) eingebettet. Durch diese Art von Zuschreibung ziehen die Netzwerke „deutscher Arbeiter“ ihre Grenze, wodurch für die Gastarbeiter und ihre Kinder unter anderem die Inklusion in einen „ethnisch differenzierten Dienstleistungssektor für niedrig bezahlte und wohlfahrts-

222

SCHWINN, Thomas (2000): „Inklusion und soziale Ungleichheit“, S. 473 SCHWINN, Thomas (2007): Soziale Ungleichheit, S.54. 224 SCHWINN, Thomas (2000): „Inklusion und soziale Ungleichheit“, S. 477. 225 WEIß, Anja (2004):. „Unterschiede, die einen Unterschied machen“, S. 208-232. 226 Ibid. 227 LUHMANN, Niklas (2008): „Zum Begriff der sozialen Klasse“, S.123. 223

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staatliche deregulierte Tätigkeiten“ 228 reserviert wird. Angesichts mehrerer funktionaler Äquivalente wird evident, dass eine umfassendere Beschreibung der Mechanismen von Abweichungsverstärkungen auf keine konkrete soziale Lage reduziert werden sollte, von deren Struktureffekten eine kausale Verbindung von verschiedenen Ungleichheiten zu erwarten wäre. Die Aufgabe besteht vielmehr darin – und hier liegt eine zwingende Folgerung aus der Annahme der Kontingenz von Strukturen sozialer Ungleichheiten –, nach diesen Mechanismen in der ereignishaften, temporalisierten und selektiven „sozialen Konstruktion von Kausalität“ 229 zu suchen. Mit diesem Terminus wollte Luhmann über die essenzialistische Idee hinausgehen, dass kausale Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen objektive Sachverhalte der Welt darstellen, die man als richtig oder falsch beschreiben könnte, als ob Ursachen ein unmittelbarer Zugriff der Vergangenheit auf die Zukunft sein könnten. Diese Vorstellung von Kausalität wird zumindest implizit von der Sozialstrukturanalyse vorausgesetzt, wenn man zum Beispiel die objektive Klassenlage als eine soziale Herkunft begreift, die Bildungs- und Mobilitätschancen bestimmt 230. Die „soziale Konstruktion von Kausalität“ muss keine Abschwächung der strukturellen Wichtigkeit sozialer Herkunft für den Lebenslauf bedeuten. Doch was infrage gestellt, oder präziser: abgelehnt wird, ist die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugriffs einer vergangenen Herkunft auf eine kommende Zukunft. Sozial konstruierte Kausalität ist immer eine relationale Form, die in der Gegenwart – und nicht in der Vergangenheit – einen Zusammenhang zwischen bestimmten Ursachen und bestimmten Wirkungen spezifiziert und auswählt. Statt eine direkte kausale Fähigkeit vergangener Ereignisse vorauszusetzen, geht Luhmann davon aus, dass die Kausalformen nur dann wirken, wenn Kausalereignisse (Entscheidungen) Ursache und Wirkung in einem Punkt zusammenbringen, sodass beide gewissermaßen gleichzeitig passieren, obwohl die Ursachenketten in die Vergangenheit verweisen (aber sie werden erst jetzt wirksam) und die Wirkungsketten in die Zukunft (aber sie werden schon jetzt verursacht). Diese auffällige Gleichzeitigkeit zeitferner (im Moment inaktueller) Ursachen und Wirkungen ist eine praktisch hochbedeutsame Auflösung der Paradoxie der Zeit, die Paradoxie also, dass auch die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft

228

BOMMES, Michael (2004):„Zur Bildung von Verteilungsordnungen in der funktional differenzierten Gesellschaft“, S. 424. 229 LUHMANN, Niklas (1995): „Kausalität im Süden“, S. 7-28. 230 Siehe BECKER, Rolf/HADJAR, Andreas (2010): „Das Ende von Stand und Klasse? 25 Jahre theoretische Überlegungen und empirische Betrachtungen aus der Perspektive von Lebensverläufen unterschiedlichen Kohorten“. In: BERGER, Peter/HITZLER, Ronald (Hg): Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert „jenseits von Stand und Klasse?”. Wiesbaden: VS Verlag, S. 63.

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immer nur gegenwärtig gemacht wird, immer nur gegenwärtig aktuell sein kann 231. So kommt man zum Ergebnis, dass sich die Struktureffekte der sozialen Lagen, auf die man zurückgreift, um die wechselseitige Verstärkung heterogener Ungleichheiten zu erklären, nur selektiv auswirken können, je nachdem, welche Kausalform dabei aktualisiert wird. Um dies am Beispiel der netzwerkförmigen Zuschreibung von askriptiven Merkmalen zu illustrieren: Wenn einem Arbeiter mit Migrationshintergrund ein „bildungsfernes Verhalten“ zugerechnet und dies auf seinen „Kulturkreis“ zurückgeführt wird, was durch sein Verhalten bestätigt werden kann oder auch nicht, und wenn diese Zurechnung als Prämisse für Entscheidungen über seine Anschlusskarrieren in Arbeitsorganisationen dient, haben wir es nicht mit einer unmittelbaren kausalen Folge seiner Vergangenheit (der sozialen Herkunft) zu tun. Vielmehr handelt es sich um eine durch Entscheidungen konstruierte Kausalität 232, wobei die sozialen Erfahrungen der Vergangenheit selektiv als fehlende Ressource (fehlendes „kulturelles Kapital“, um mit Bourdieu zu sprechen) ausgelegt wird, ohne dass die fehlenden Lern- und Aneignungsprozesse selbst erinnert werden 233. Das heißt: Soziale Kausalität von Ungleichheit erfolgt über Entscheidungen, auch wenn die infrage kommenden Kausalformen so kondensiert und wiederholt werden, sodass ihre Kontingenz vergessen wird und kaum noch andere Erwartungen kommuniziert wird 234. Aufgrund dessen muss der Begriff der strukturierten sozialen Ungleichheit durch die Differenz Ereignis/Struktur definiert werden. Dies hat zur Folge, dass die Reproduktion von Strukturen – auch derjenigen, die manche Ungleichheitsverhältnisse gewissermaßen als notwendig erscheinen lassen – nicht mehr tautologisch mit Bezug auf ihre eigene Reproduktionskraft erfasst werden können. Vielmehr muss die ereignishafte Invisibilisierung ihres kontingenten Charakters berücksichtigt werden, also das Treffen von Entscheidungen, die bestimmte Kausalformen unhinterfragt als Prämisse voraussetzen und reproduzieren. Wenn Erwartungsstrukturen so reproduziert werden, dass sie die Form einer festen Kopplungen zwischen Ereignissen (etwa zwischen der Geburt in einer privilegierten Familie und Karriereerfolg) annehmen, dann deshalb, weil die Kontingenz dieser Strukturen bzw. Kausalannahmen in den Operationen, in denen sie sich reproduzieren, unsichtbar gemacht werden. 2) Der Begriff der sozialen Klasse ist auch ein historischer Begriff, mit dem die moderne Gesellschaft beschrieben wird. Er ist, so Luhmann, ein Begleitbegriff des modernen Individualismus. Seitdem man in der Moderne von „sozialer Klasse“ bzw. von „Klassengesellschaft“ spricht, wird eben die Willkür von Ungleichheitsstrukturen, welche die individuelle Selbstbestimmung beschränken, 231

LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, S.23. LUHMANN,Niklas (1997):Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S.1011 233 LUHMANN,Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 588. 234 LUHMANN, Niklas (1995): „Kausalität im Süden“, S. 7.

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bezeichnet 235. Und dies nicht nur theoretisch, sondern auch als eine gesellschaftliche Selbstbeschreibung, die die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenkt, dass individuelle Karrieren anders sein könnten, wenn Individuen andere biografische Startpositionen hätten, als diejenigen, die faktisch zu beobachten sind. Mit anderen Worten: Der Begriff sozialer Klasse – abstrakt als Clusterbildung verschiedenartiger Vorteile bzw. Nachteile bezeichnet – dient zur Beobachtung zweiter Ordnung von individuellen Karrieren durch den Vergleich von sozialen Lagen. Voraussetzung dafür ist die Kontingenzsetzung der zu vergleichenden sozialen Lagen. In diesem Zusammenhang bedeutet funktionale Differenzierung zuallererst, dass soziale Lagen größtenteils zu kontingenten bzw. problematischen Inklusionslagen werden. Zum einen kann das Individuum seine Identität nicht mehr durch eine invariante Zugehörigkeit zu einem einzigen Sozialsystem definieren, wie es beim Primat der Stratifikation der Fall war. Die verschiedenen funktionssystemspezifischen Inklusionsverhältnisse 236 werden temporalisiert und kein Funktionssystem kann die Inklusionsgeschichte eines Individuums monopolisieren. Damit wird das Individuum außerhalb aller Funktionssysteme verortet 237. Der „Mensch“ wird zur Umwelt des Gesellschaftssystems und die Individualität wird als „Exklusionsindividualität“ 238 definiert, d .h, als eine gesellschaftsexterne Einheit, die sich auf die partiellen Inklusionen in den ausdifferenzierten Teilsystemen nicht reduzieren lässt. Zum anderen werden auch Rollen und Personen unterschieden, wobei das Verhältnis von Selbstselektion (eigenen Interessen, Ansprüchen) und Fremdselektion (Entscheidungsprämissen, organisatorische Programme usw.) die Besetzung von Rollen regelt. Individuum-Sein ist dabei keine Wahl, sondern eine Pflicht, eine Zumutung 239. Auf diese Weise wird das Individuum zur Zurechnungsinstanz für alle Funktionssysteme. Es muss sich als Ausgangspunkt für das setzen, „was es seinem Glauben, seiner Vernunft und seiner Organisationsmitgliedschaft schuldig zu sein meint“ 240. Es muss beim Gebrauch seiner Freiheit sich selbst als Ursache für das eigene Schicksal einbringen. Es muss lernen, bei der kommunikativen Selektion seiner Person durch die Darstellung bzw. Kapitalisierung der eigenen Geschichte helfen zu können 241 . Vor allem muss das Individuum auf der Ebene seiner 235

LUHMANN, Niklas (2008): „Zum Begriff der sozialen Klasse“, S. 86-87. Siehe SCHIMANK, Uwe et al (2008): Das Publikum der Gesellschaft: Inklusionsverhältnisse und Inklusionsprofile in Deutschland 237 LUHMANN, Niklas (1989):„Individuum, Individualität, Individualismus“, S.212. 238 Ibidem, S. 158. 239 SCHROER, Markus (2010):„Individualisierung als Zumutung. Von der Notwendigkeit zur Selbstinszenierung in der visuellen Kultur“. In: BERGER, Peter/HITZLER, Ronald (Hg): Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert „jenseits von Stand und Klasse?” Wiesbaden: VS Verlag, Wiesbaden, 2010, S. 275-289. 240 LUHMANN,Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 740. 241 LUHMANN, Niklas (1989): „Individuum, Individualität, Individualismus“, S. 235. 236

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Selbstbeschreibung an der „Abstraktion von schichtmäßigen Unterschieden“ 242 teilnehmen, was zum Beispiel im Erziehungssystem heißt „die Fiktion der Startgleichheit“ 243 als Entscheidungsprämisse und sich selbst als Ursache des eigenen Erfolgs/Misserfolgs zu akzeptieren. Durch eben diese individuelle Zurechnungsweise, die funktionsspezifisch die Berücksichtigung von Personen als kontingent zu beobachten erlaubt, werden soziale Lagen miteinander vergleichbar, sodass Verteilungen der Codewerte auf Personen sich direkt aus den Vergleichsoperationen ergeben. Von dieser Zurechnungsweise hängt nicht zuletzt auch das Postulat der Inklusion aller Individuen in alle Funktionssysteme ab. Und zwar insofern, als dass die Fiktion der Gleichheit und die dadurch ermöglichte potenzielle Beobachtung aller Personen durch die Relevanzkriterien jedes spezifischen Funktionssystems eine Kapitalisierung/Invisibilisierung der Herkunft hervorbringen. Dies läuft wiederum darauf hinaus, dass Ungleichheit als kontingente Selektion der Teilsysteme beschreiben wird, auch wenn diese Ungleichheit schon durch eine klassenbildende Monopolisierung von systemübergreifenden Teilnahmevoraussetzungen vorstrukturiert wurde. Die Funktionssysteme setzen „Schwellen der legitimen Indifferenz“ 244 in ihren intersystemischen Beziehungen voraus, sodass auch die Beobachtung systemübergreifender Teilnahmevoraussetzungen bei der teilsysteminternen Zurechnung blockiert wird. Diese Blindheit ist konstitutive für die Systemoperationen. Die Bedeutung dieser Zurechnungsweise für die Inklusionsverhältnisse in der funktional differenzierten Gesellschaft ist auch ein Beleg dafür, dass strukturierte soziale Ungleichheit nicht allein durch Klassenstrukturen reproduziert wird. Es geht bei dieser Zurechnungsweise um einen wechselseitigen Bezug zwischen der Sach- und der Sozialdimension, wodurch die Reproduktion von Ungleichheit mehr als sozialdimensionale Asymmetrisierungen verlangt. Die entsprechenden Klassenstrukturen reproduzieren sich über basale Ereignisse (Zahlungen, Entscheidungen, Erwähnungen), wobei diese Ereignisse zugleich für Funktionssysteme relevant sein mögen, das Sichhalten in der Klasse aber darauf beruht, dass die Zurechnung der Ereignisse auf die Person bezogen wird, die damit ihre Auszeichnung verdient 245. Aber die Nichtbeobachtung von teilsystemübergreifenden Teilnahmevoraussetzungen, die mit der individualisierenden Zurechnungsweise einhergeht, führt dazu, dass die klassenbildende wechselseitige Verstärkung von Vorteilen und 242

KIESERLING, André (2010): „Das Individuum und die Soziologie. Zur Geschichte eines soziologischen Reflexionsthemas“. In: BERGER, Peter/HITZLER, Ronald (Hg): Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert „jenseis von Stand und Klasse“? Wiesbaden: VS Verlag, S. 319. 243 LUHMANN, Niklas (2002): Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 127. 244 TYRELL, Hartman (1978); „ Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung“, S. 175–193. 245 LUHMANN, Niklas (2008): „Zum Begriff der sozialen Klasse“, S.119-120.

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Nachteilen invisibilisiert wird. Damit entsteht eine paradoxe Lage: indem die Funktionssysteme interne Ungleichheiten als kontingente Selektion beobachten, obwohl externe Faktoren darauf einwirken, trägen sie zur Unsichtbarmachung der Kontingenz dieser externen Einwirkungen. Denn zu den nicht beobachteten Ursachen kann keine Alternative gefunden werden, sodass sich die Teilsysteme blind an externe Gegebenheiten anpassen. Wenn z. B in der Schulerziehung klassen- und milieuspezifischen sozialisatorischen Voraussetzungen für erfolgreiche Vermittlung von Wissen nicht thematisiert werden, wird niemand daran denken, nach Alternativen zu suchen. Diese unsichtbar gemachte Kontingenz lässt sich mit der Semantik der Klassendifferenzen sichtbar machen. Als Fremdbeobachtungsinstrument hat diese Semantik seine begriffliche Karriere in der Soziologie gemacht. Dabei war und bleibt das Erziehungssystem (sowie „die für die Schulerziehung konstitutive Fiktion der Chancengleichheit“) ein zentraler Beobachtungsgegenstand: Es gehört zum gesicherten Bestand soziologischen Wissens, dass die in der Schule und im Berufsleben gezeigten Leistungen nicht allein von den Individuen abhängen, denen man sie zurechnet, sondern auch von der Schichtzugehörigkeit ihres jeweiligen Elternhause 246. Doch als Fremdbeobachtung kann diese Begrifflichkeit den Schichtungseinfluss auf individuelle Leistung dort nicht als kontingent setzen, wo seine Nichtbeobachtung zu dessen spontaner Reproduktion beiträgt. Erst wenn die Semantik der Klassendifferenzen zum Selbstbeobachtungsinstrument wird – also erst wenn bei der Zurechnung der Leistungen auf Individuen, wobei die individualisierte Person sich selbst als Ursache des eigenen Schicksals zu präsentieren neigt (Selbstselektion), dem geltenden individualisierenden Selektionsmodus die Kausalität von Klassenlage entgegengesetzt wird –, findet eine Kontingenzsetzung von Schichtungseinflüssen statt. Wichtig dabei ist, dass diese Kontingenzsetzung, obwohl und weil sie an einer andersartigen Beobachtung von individuellen Lagen orientiert ist, die Konstruktion von Kollektivitäten in Anspruch nimmt, sei es zum Sichtbarmachen der schon vorhandenen Klassendifferenzen, sei es zur Mobilisierung gegen diese Klassendifferenzen: Theoretisch konsequenter wäre es zu fragen, ob und wie die Klassendifferenzen es ermöglichen, die eigene Lage als kontingent, die eigene Benachteiligung als Willkür zu erfahren und, darüber erbost, nach Gleichgesinnten zu suchen 247. Die dritte Ausgangsthese Luhmanns zum Begriff der sozialen Klassen lautet, dass in einer primär funktional differenzierten Gesellschaft Klassenunterschiede keinen Zugriff auf Interaktionen haben. Im nächsten Kapitel wollen wir – „mit Luhmann gegen Luhmann“– diese These widerlegen. Wir werden versuchen, 246 247

KIESERLING, André (2010): „Das Individuum und die Soziologie“, S.320. LUHMANN, Niklas (2008):.„Zum Begriff der sozialen Klasse.“, S. 89.

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mithilfe der Überlegungen Luhmanns zur Konstruktion der modernen individualisierten Person zu zeigen, dass in Interaktionen Klassendifferenzen nicht neutralisiert werden, vor allem wegen des Verhältnisses von sozialer Ungleichheit und Individualisierung. Ausgehend von dieser Interpretation des Individualisierungsprozesses in der Gesellschaftstheorie Luhmanns werden wir auch einen Begriff sozialer Ungleichheit vorschlagen.

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2 Soziale Ungleichheit und Individualisierung Die im ersten Kapitel vorgeschlagene Interpretation der Theorie funktionaler Differenzierung Niklas Luhmanns verknüpft die These des Primats dieser Form der Systemdifferenzierung mit der Berücksichtigung der Bedeutung sozialer Ungleichheit für die Konstruktion der sozialen Ordnung in der Moderne. Soziale Ordnung wird dabei nicht nur als Emergenz und Reproduktion eines bestimmten Prinzips der Systemdifferenzierung begriffen, sondern darüber hinaus als jede soziale Sinnkonstruktion, die zur Reduktion der sozialen Komplexität in den verschiedensten Sinndimensionen beiträgt. In dieser Hinsicht liegt die Bedeutung sozialer Ungleichheit für die soziale Ordnung darin, dass sie die Komplexität der Sozialdimension reduziert und somit die Selektion von Personen in unterschiedlichen sozialen Systemen strukturiert. Anders als in vormodernen, primär stratifizierten Gesellschaften gibt es in der Moderne keine bestimmte Struktur sozialer Schichtung, die für soziale Ordnung als notwendig wahrgenommen wird. Für die Reproduktion funktionaler Differenzierung ist jede Struktur soziale Schichtung und jede soziale Asymmetrie kontingent. Diese Kontingenz, die eine Voraussetzung für Kritisierbarkeit, Problematisierbarkeit und Veränderbarkeit von Ungleichheit bildet, setzt sich auch auf der Ebene der individuellen Karrieren durch. Dennoch, ebenso wie auf der Ebene der funktionalen Differenzierung, handelt es sich auch hier keineswegs um „wilde Kontingenz“ 248, sondern um reduzierte Kontingenz. In diesem Kapitel sollen die Mechanismen analysiert werden, die die Kontingenz der Verteilung ungleicher Inklusionschancen (Chancen der Teilnahme an Kommunikationen) auf der Ebene der Individualisierung von sozialen Personen (sozialen Adressen) erzeugen und reduzieren. Die zentrale These dieses Kapitels lautet: Es gibt keine Ebenendifferenz zwischen strukturierter Ungleichheit und individuellen Karrieren, was sich daran erkennen lässt, dass die Strukturierung sozialer Ungleichheit, die durch die Konstruktion und Aktualisierung einer Übereinstimmung zwischen Selbsterwartungen und Fremderwartungen bzw. zwischen Selbstselektion und Fremdselektion geschieht, an Verhaltensrelevanz gewinnt. Ausgehend von dieser Verknüpfung von Individualisierung und sozialer Ungleichheit, die die temporalisierte Produktion und Reproduktion von Erwartungsstrukturen auf der Ebene von individuellen Karrieren in den Mittelpunkt der Analyse stellt, wird ein Begriff der sozialen Ungleichheit vorgeschlagen, der die Existenz und die Reproduktion sozialer Strukturen auf die Zurechnung von Kommunikationskompetenzen auf Individuen zurückführt d. h., auf die operative Konstruktion von sozialen Adressen. Dieser begriffliche Vorschlag versucht die Konsequenzen aus der Differenz zwi248 FUCHS, Peter (1994): „Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?“. In: FUCHS, Peter/GÖBEL, Andreas (Hg): Der Mensch – das Medium der Gesellschaft? Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 39.

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schen der autopoietischen Reproduktion sozialer Systeme als notwendiger Prozess der ständigen Wiederherstellung der Anschlussfähigkeit des sozialen Sinnes einerseits und der Konstruktion von kontingenten Erwartungsstrukturen d. h., der Selektion von Anschlussmöglichkeiten anderseits zu ziehen.

2.1 Die Temporalisierung sozialer Ungleichheit In diesem Abschnitt geht es darum, zu analysieren, wie der Primat funktionaler Differenzierung zu einer Temporalisierung sozialer Ungleichheit führt. Gemeint ist damit, dass sich jede ungleiche Verteilung von Inklusionschancen in der Zeit reproduzieren muss: Vorteile und Nachtteile der Startposition werden in der Gegenwart als Vergangenheit betrachtet, die für die soziale Zukunft des Individuums, d .h, für die Strukturierung künftiger Inklusionschancen bedeutsamen sind. In der systemtheoretischen Sprache: Es handelt sich um die Umstellung von Herkunft auf Karriere als Sinnform, die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit strukturiert. Die grundlegende Kontingenzsetzung sozialer Ungleichheit durch den Primat funktionaler Differenzierung bedeutet, dass die Reproduktion sozialer Ungleichheit nicht auf die bloße Reproduktionskraft von Schichtungsstrukturen zurückgeführt werden kann. Damit ist nichts anderes gemeint, als die Tatsache, dass der Zugang zu Ressourcen, die Kommunikationschancen strukturieren, durch das Hineingeborenwerden in eine bestimmte soziale Lage nicht gesichert werden kann. Nicht einmal die größeren Chancen einer erfolgreichen Umstellung von sozialisatorischen Vorteilen auf funktionsrelevante Ressourcen können als Quelle von Sicherheit bezeichnet werden, weil die faktischen Umstellungsvorgänge ihren vorteilhaften Charakter der Möglichkeit verdanken, das noch nicht Erreichte zugunsten der eigenen Karrieren zu konditionieren. Das heißt, die Konstruktion von Erwartungssicherheit wird temporalisiert, sodass jedes karriererelevante Ereignis einen neuen Raum von Möglichkeiten mit sich bringt. Die Fiktion der gegenwärtigen Zukunft, also des noch nicht Erreichten als Bezugspunkt des eigenen Verhaltens, wirkt als reale Unsicherheit in der Gegenwart 249. Die Strukturierung besserer bzw. schlechterer Karrieren wird notwendigerweise in die für Funktionssysteme relevanten Ereignisse, deren Sequenz die Karrieren bilden, übertragen. Und genau dieses Angewiesensein auf eine ereignishafte Ressourcenbeschaffung sorgt dafür, dass Strukturen sozialer Ungleichheit nur unter der Voraussetzung ihrer Kontingenzsetzung erfasst werden können, also unter der Voraussetzung, dass diese Strukturen wechseln, je nachdem, welche Karrieremöglichkeiten im Verlauf des Lebens in Aussicht gestellt werden. Die Konstruk249

Siehe dazu die Überlegungen Espositos . ESPOSITO, Elena (2007): Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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tion und die Rekonstruktion karriererelevanter Erwartungen werden gleichsam von „fremden Faktoren“, vor allem von Entscheidungen in Organisationen, abhängig gemacht. Daher kann soziale Ungleichheit kaum nur durch soziale Herkunft erklärt werden. Wie oben erwähnt, wird die soziale Kausalität von Ungleichheit temporalisiert, und dies impliziert einen gewissen Vorsprung von Operationen (Ereignissen) gegenüber Strukturen. Dabei wird die Inklusion in die ausdifferenzierten Funktionsysteme auf funktionsspezifische Begründung angewiesen. Auch und gerade wenn teilsystemexterne Ungleichheiten auf die Operationen der Funktionssysteme einwirken, müssen sie als systeminterne Ungleichheiten beobachtet und beschrieben werden. Als verdeutlichendes Beispiel kann hier das Kunstsystem dienen: Die durch den distinktiven Geschmack entstehenden Ungleichheiten im Kunstsystem verbinden sich mit der extern bestehenden Ungleichheit der individuellen Möglichkeiten, einen solchen Geschmack zu erlernen in Klassifikationen, die aber gesellschaftlich im Kunstsystem verwurzelt gesehen und begründet werden und auf diese Weise den Herkunftseffekt invisibilisieren 250. Diese im Primatbegriff implizierte Asymmetrie wird bei der Unmöglichkeit einer Umkehrung des Arguments deutlich: Die Operationen der Funktionssysteme können nicht auf externe Ungleichheiten begründet werden. Der Einfluss externer Ungleichheiten ist an sich nicht legitim. Indem wir diese These vertreten, beabsichtigen wir nicht, Klassenstrukturen als „Zombie-Kategorien“ 251 zu betrachten, sondern zu zeigen, wie mit dem Primat funktionaler Differenzierung Strukturen sozialer Ungleichheit sich selbst nicht begründen können. Der Vergleich mit primär stratifizierten Gesellschaften zeigt, dass in diesen auch in Bezug auf die individuelle Lebensführung Schichtung als selbstverständlicher Ordnungsfaktor zu gelten hatte. Und dies nicht nur, weil keine Teilnahme an Interaktionen ohne die explizite Kenntnis von Schichthierarchien möglich war 252 , sondern auch, weil keine Vergleichsoperationen zwischen Schichtungslagen zu erwarten waren, aus denen sich eine Problematisierung dieser Lagen ergeben könnte. Da in diesen vormodernen, stratifizierten Gesellschaften die Welt als hierarchische Ordnung der Wesen erschien 253, und diese Beschreibung eine konkurrenzfreie Position einnahm, darf man nicht davon ausgehen, dass die Schichten ihr Verhältnis zueinander als Ungleichheit wahrgenommen hätten; denn das würde ja voraussetzen, dass Angehörige verschiedener Schichten sich gegenseitig vergleichen, dem

250

BOURDIEU, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. BECK, Ulrich(2000): „Freiheit statt Kapitalismus. Interview mit Beck und Sennet“. http://zeus.zeit.de/text/2000/15/200015.beck sennett .xml (letzter Besuch am 10.10.2012), S. 2 252 LUHMANN, Niklas (2008): „Zum Begriff der sozialen Klasse“, S. 96-97. 253 LUHMANN, Niklas (1992): Beobachtung der Moderne, S. 131. 251

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Vergleich gemeinsame Kriterien zu Grunde legen und im Ergebnis zur Festlegung von Ungleichheit kommen 254. Unter den kognitiven Rahmenbedingungen dieser Art von Ordnung war die aus der Natur abgeleitete Adelsqualität ebenso wie die jeweilige, an sie angepasste Schichtungsstruktur eine Notwendigkeit (Nichtkontingenz). Es wird nur das verglichen, was als kontingent erscheinen kann. Die gesellschaftliche Beobachtung von Ungleichheit ist deshalb nur möglich, wenn man sich selbst mit Bezug auf Kontingenzen beschreibt und vermutet, dass das eigene Lebensschicksal anderes sein könnte: Für die alltäglichen Verständnismöglichkeiten jener Zeit handelte es sich […] einfach um verschiedenartige, um andersartige Menschen, und Anderssein ist eine Qualität, nicht eine Relation 255. Erst mit dem Übergang zur funktionalen Differenzierung (die von der Ausbildung von Organisationen begleitet wurde 256) müssen sich alle Schichtmerkmale in der Praxis als Aneignungsfähigkeit von funktional spezialisierten Kompetenzen und Ressourcen beweisen. Dabei spielen Orgnisationssyteme eine entscheidende Rolle: sie temporalisieren die Strukturierung von Karrieren, und zwar dadurch, dass jeder Vorteil (auch und gerade Herkunft) durch Entscheidungen bestätigt und aktualisiert werden muss. Der traditionelle Adel „war, und blieb, für Interaktionskompetenzen erzogen“ 257 , welche auch in Interaktionen der Oberschicht zu erwerben waren 258 . Im Zuge der funktionalen Differenzierung (Sachdimension) und der Ausbreitung der Mitgliedschaft in Organisationen (Sozialdimension) als Zugangsform zu systemrelevanten Ressourcen musste er um 1800 „im genauen systemtheoretischen Sinne eine evolutionäre ,Katastrophe’“ 259 erfahren, denn „an die Stelle eines universal führenden Standes mussten tendenziell funktional ausgerichtete Eliten treten 260“. Doch auch die spätere „Umformung des Adels in ein Staatsinstitut“ 261 zeigte nichts anderes als eine erfolgreiche Anpassungsstrategie an die neue, primär funktional differenzierte Ordnung. In der Zeitdimension bedeutet die Beobachtung von neuen Kontingenzen und die Unsicherheit von Schichtungsstrukturen die Umstellung der Perspektive auf eine

254

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 693-694. Ibidem, S. 684. 256 Ibidem, S. 833. 257 Ibidem, S. 823. 258 „Man wurde dort sozialisiert, wo man sein gesellschaftliches Leben zu führen hatte: im Haus“. LUHMANN, Niklas (1989): „Individuum, Individualität, Individualismus“,S. 167. 259 LUHMANN, Niklas (1994): “Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen“.Iin: FUCHS, Peter/GÖBEL, Andreas (Hg): Der Mensch - das Medium der Gesellschaft? Frankfurt. M.: Suhrkamp, S. 47. 260 FRIE, Ewald. „Adel um 1800 (2005): „Adel um 1800: Oben bleiben?“. In: Zeitenblicke Nr. 3(2005), S. 10. 261 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 711, F.N 221. 255

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offene Zukunft, und genau dafür braucht man Klassenstrategien im Sinne von Bourdieu 262. Der Primat funktionaler Differenzierung bedeutet hier einfach nur, dass „Obenbleiben“ Qualifikationen, Ausbildung, Einpassung und Zurichtung verlangt, also Fertigkeiten, deren Herstellung mehr und mehr von Haushalten auf organisatorische Erziehung umgestellt wurde. Daher ist Schichtung nicht mehr selbstverständlich; sie wird der Vergleichbarkeit von durch organisierte Entscheidungen kontingent gesetzten sozialen Lagen ausgesetzt. Aus dem erzieherischen Vergleich, der von der „Fiktion der Startgleichheit“ ausgeht, ergibt sich beispielsweise meist eine ungleiche Verteilung von Karrierechancen in einer Mehrzahl von Funktionssystemen 263. Trotzdem kann die bloße Zugehörigkeit zu einer „adeligen“ Familie den Erwerb funktionssystemspezifischer Kompetenzen und Ressourcen nicht ersetzen. Und das heißt: Die Ungleichheitsstrukturen, die in einem bestimmten Zeitpunkt einer konkreten Verteilung von Inklusionschancen entsprechen, können durch soziale Systeme (vor allem durch Organisationen) entweder bestätigt oder nicht bestätigt werden. Sie werden kontingent. Aufgrund der stärkeren Differenzierung zwischen dem Sozialisationskontext und dem Inklusionskontext 264 bringt die Herkunftsposition bestenfalls Sozialisationsvorteile, deren Bedeutung für das Lebensschicksal von kontingenten Ereignissen, insbesondere von Entscheidungszusammenhängen in Organisationen, abhängig ist. Geburt, häusliche Sozialisation und schichtmäßige Lage reichen nicht mehr aus, „um den Normalverlauf des Lebens erwartbar zu machen“ 265. Strukturierte soziale Ungleichheit kann jetzt nur heißen, dass eine soziale Lage Struktureffekte im Lebenslauf hervorbringt, also es den Individuen erlaubt, sich auf (mögliche) künftige Ereignisse vorzubereiten. So ist die Herkunft nur dadurch rekursiv, dass sie es den Individuen ermöglicht, sich echtzeitlich auf die Besetzung von Positionen und Leistungsrollen umzustellen, die erst mit der Sukzession von selektiven Ereignissen im Lebenslauf erreichbar werden. Es geht um eine temporalisierte und dynamische Steuerung von Karrieremöglichkeiten, deren Erfolg darin liegt, dass man auf Kontingenzen vorbereitet wird 266. Eine 262

„Die Ungewißheit wieder einzuführen, bedeutet die Wiedereinführung der Zeit mit ihrem Rhythmus, ihrer Gerichtetheit, ihrer Unumkehrbarkeit, wobei die Mechanik des Modells ersetzt wird durch die Dialektik von Strategien“. BOURDIEU, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 183; “In other words, nothing must be absolutely sure, but not everything must be possible. There has to be some degree of indeterminacy, contingency in the game, some 'play', but also a certain necessity in the contingency, and therefore the possibility of knowledge, a form of reasonable anticipation, the one provided by custom”. BOURDIEU, Pierre (2000): Pascalian Meditations. California: Stanford University Press, S. 213; BOURDIEU, Pierre (1996): The State Nobility. Elite Scholls in the Field of Power . Cambridge: Politiy Press, S. 272-278. 263 LUHMANN,Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Band 2, S. 774-776. 264 LUHMANN, Niklas (1989): „Individuum, Individualität, Individualismus“, S.171, 220. 265 Ibidem, S. 232. 266 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 742.

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Karriere besteht aus Ereignissen, die weitere Ereignisse positiv oder negativ ermöglichen 267 . Dazu gehört nicht nur der Wechsel beruflicher Positionen in organisierten Sozialsystemen, sondern auch das Durchlaufen von Ausbildungsstationen, Krankheitskarrieren, Karrieren der Kriminalität usw. Auch Stagnation, Absteigen und Aussteigen sind karrierebestimmende Sukzessionen von Ereignissen insofern, als auch hier das Erreichte das noch Mögliche konditioniert. Der Karrierebegriff bringt also zum Ausdruck, dass der Orientierungsschwerpunkt der Zeitdisposition zunehmend in die noch unbestimmte Zukunft verlagert wird, was auch bedeutet, dass jeder Vorteil der Startposition – sei er durch „ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital“ 268 oder wie auch immer gewährleistet – je neu in der Gegenwart als individuelle Geschichte bzw. als Entscheidungsspielraum aktualisiert werden muss 269. Luhmann schreibt dazu: Karrieren sind mithin Formen, in denen soziale Unterschiede der Startposition und der Selbst-/Fremdselektion in allen Änderungspunkten temporalisiert, das heißt: Zu einer Vergangenheit werden, die für die Zukunft bedeutsam ist 270. Diese neuartige Präsenz von Zeit ist aber nirgendwo anders als in der Gegenwart verortet, und zwar als eine in der Gegenwart in Anspruch zu nehmende Rekursivität. Die geforderte – aber nicht immer vollzogene – Synchronisation von Vergangenheit und Zukunft ist nur als ein sich aktualisierendes, rekursives Netzwerk der Erinnerungen und der Antizipationen möglich, das von Moment zu Moment

267 LUHMANN, Niklas (1989): „Individuum, Individualität, Individualismus“, S.171, 220. Ibidem, S. 233. 268 BOURDIEU, Pierre (1983): „Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital“. In: KRECKEL, Reinhard (Hg). In: Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt Sonderband 2 (1983). Göttingen, S. 183-198. 269 Diese Aussage schließt es keineswegs aus, dass z. B. schichtspezifische Sozialisationsvorteile Anwendung bei der Aneignung wichtiger funktionaler Ressourcen finden und so den Ausschlag für die Strukturierung sozialer Ungleichheiten geben können. Die Temporalisierung der Anwendungsmöglichkeiten dieser Vorteile ist voll kompatibel mit Begriffen – wie der des Habitus bei Bourdieu –, die die ungleiche Verteilung und Inkorporation von Lebenschancen zu erfassen versuchen. Betont wird aber, dass die Übertragbarkeit von Dispositionen auf unterschiedliche Kontexte und die übergreifenden Struktureffekte einer bestimmten Klassenlage auf die Inklusionsformen der verschiedenen Funktionsbereiche nicht als etwas bezeichnet werden können, das die „Einverleibung des Sozialen“ (der Habitus) von selbst und unmittelbar erzeugt. Funktionale Differenzierung bedeutet an dieser Stelle, dass die rekursiven Effekte solcher einverleibter Dispositionen immer selektiv und kontingent erfolgen, je nachdem, welches Funkionensystem die „Logik der Situation“ definiert. Trotz seiner Feldtheorie tendierte Bourdieu dazu, die Übertragbarkeit von Dispositionen einfach vorauszusetzen und die Kontingenz ihrer rekursiven Effekte auszuklammern. Siehe BOURDIEU, Pierre (1987): Sozialer Sinn, S. 98. Eine Kritik dazu findet sich bei LAHIRE, Bernard. O Homem Plural. Editora Vozes, Petrópolis, 2002, S. 27, 60, 198. Nach Lahire hat Bourdieu das Habitusmodel einer „wenig differenzierten Gesellschaft“ (Algerien in den 60er Jahren) auf „Gesellschaften mit stärkerer Differenzierung“ angewendet. Cornelia Bohn hat auch schon eine ähnliche Kritik formuliert: BOHN, Cornelia (1991): Habitus und Kontext. Ein kritischer Beitrag zur Sozialtheorie Bourdieus. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 145. 270 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 742.

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selektiv operieren muss 271. Nicht einmal die zentrale Stellung der unbekannten Zukunft als „imaginärem Raum“, in dem die Moderne sich selbst als ein „nichtstationäres Gesellschaftssystem“ beschreibt, ändert etwas daran, dass alles, was geschieht, gegenwärtig geschieht und gleichzeitig geschieht. Bei Luhmann gibt es nach wie vor kein Sozialsystem, das außerhalb seiner Gegenwart und in einer ungleichzeitigen Welt operieren kann 272 . Diese neuartige zeitdimensionale Rekursivität, die individuelle Karrieren kennzeichnet, besteht einfach aus der Möglichkeit, die Gegenwart als Nichtübereinstimmung von Vergangenheit und Zukunft begreifen zu können. Als Differenz zwischen den beiden Zeithorizonten wird die Gegenwart zu einer individualisierenden Entscheidungssituation, in der die Vergangenheit als Bereitstellung von Zukunftsmöglichkeiten selektiv aktualisiert wird. Dadurch also, dass eine selektiv erinnerte Vergangenheit mit einer selektiv projektierten Zukunft synchronisiert wird, erscheint die Welt aus ihrer Vergangenheit heraus nicht alternativlos, sondern als eine Welt mit Alternativen, über die man entscheiden kann. Deshalb ist es notwendig genauer zu erläutern, was in der hier zugrunde gelegten systemtheoretischen Perspektive unter "Entscheidung" und "Entscheidungssituation" zu verstehen ist. Nachdem wir hier abschließend das grundlegende Verständnis von Entscheidungen erläutern, wenden wir uns im nächsten Abschnitt der genauen Konstruktion von Entscheidungsspielräumen zu. Entscheidungssituationen können nicht subjektivistisch beschrieben werden. Zweifellos ist die Entscheidung, wie alle Kommunikationen, auf Bewusstseinsleistungen angewiesen. Man muss hören, was gesagt und lesen, was geschrieben wird. Mit den Regelmäßigkeiten dieser Leistungen entstehen „strukturelle Kopplungen“ zwischen psychischen und sozialen Systemen 273 , die ebenfalls unentbehrlich sind für die Reproduktion rekursiver Entscheidungszusammenhänge. Konstitutiv für diese „strukturellen Kopplungen“ sind auch oftmals weniger das Wahrnehmen sprachlicher Sachverhalte und das Denken (als eine der Bewusstseinsoperationen, aber nie die einzige und vielleicht nicht einmal die „primäre“) als die Wahrnehmung nichtsprachlicher Sachverhalte wie die Auge-HandKoordination in der Industriearbeit und die allgemein sichtbaren, körperlichen und unmittelbar verständlichen Wahrnehmungen 274. Auch individuelle Motivation zu den Organisationstätigkeiten wird in diesem theoretischen Kontext als eine „Allianz zwischen der Rigidität von Organisationen und der Rigidität psychi-

271 Ausführlicher LUHMANN, Niklas (1990): „Gleichzeitigkeit und Synchronisation. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 5. Opladen: Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 95-130. 272 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 264. 273 LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 318-319; LUHMANN, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Westdeutscher Verlag, Opladen, 2000, S.148. 274 LUHMANN, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 148 ff; LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S.832, 833.

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scher Systeme“ definiert 275. Dadurch wird jedoch ausgeschlossen, dass psychische Systeme die Kommunikation von Entscheidungen bestimmen können. Indem die „strukturellen Kopplungen“ die Leistungsinterdependenzen und somit die Offenheit des Systems bestimmen und beschränken, tragen sie zur operativen Geschlossenheit der gekoppelten Systeme bei 276. Entscheidungssituationen sind deshalb nicht subjektivistisch zu verstehen, weil die Kommunikation von Entscheidungen nur als organisiertes Sozialsystem 277 möglich ist, welches durch strukturierende Entscheidungsprämissen 278 die Anschließbarkeit einzelner Entscheidungen und folglich ihren sozialen Sinn selektiv bestimmt. Dass die Zurechnung und damit auch die Kommunikation von Entscheidungen nachträglich geschehen kann – „Man hatte entschieden, ohne es zu merken; oder über Alternativen entschieden, die man gar nicht gesehen hatte“ – 279 , deutet schon darauf hin, dass der soziale Sinn einer Entscheidung nicht von psychischen Systemen produziert wird. Die Entscheidungen, die psychischen Systemen zugerechnet werden, sind immer von Entscheidungsprämissen vordefiniert. Dazu zählt auch die soziale Konstruktion der biographischen Vergangenheit als irreversible Entscheidungsprämisse 280.

2.2 Die Konstruktion des Raums des Möglichen Der jetzt folgende Abschnitt analysiert die Konstruktion des Raums von Alternativen in Entscheidungssituationen als ein grundlegender Moment der temporalisierten Reduktion von Kontingenz individueller Karrieren und Strukturierung sozialer Ungleichheit. Ziel ist es, zu zeigen, wie die Konstruktion des Raums von Möglichkeiten (von „zukünftigen Gegenwarten“) konstitutiv für soziale Lagen ist. Die Produktion und die Reproduktion des sozialen Sinns von Entscheidungen lassen sich durch die Festlegung der Bedingungen der Möglichkeit (Possibilisierung), die einer Entscheidungssituation zugrunde liegen, erfassen. Möglichkeit ist hier keine subjektive Projektion auf die Welt, sondern das Ergebnis von sozialen Sinnfestlegungen, die eine Ebenendifferenz von Wirklichkeit und Möglich-

275

LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 319. LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Band 1, S. 100 ff. 277 LUHMANN, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung, S.63. 278 Entscheidungsprämissen „werden in sich unterschieden nach verschiedenen Typen, nämlich Entscheidungsprogrammen, Personal und Kommunikationswegen, die Kompetenzen (Arbeitsteilung) in Entscheidungszusammenhänge umsetzen“ (Ibidem, S. 9-10). 279 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 831. 280 ESPOSITO, Elena (2007):„Die Konstruktion der Zeit in der zeitlosen Gegenwart“. In: Rechtsgeschichte: Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte 10 (2007), S. 32. 276

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keit schaffen 281 . So fiktiv diese Realitätsverdoppelung 282 erscheinen kann, so sehr gilt auch, dass sie ganz konkrete Auswirkungen auf die alltäglichen Kommunikationen moderner Gesellschaften hat. Vor dem Hintergrund einer unsicheren Zukunft bezieht sich die Möglichkeitsebene auf die „zukünftige Gegenwart“, d .h. auf die mögliche Verwirklichung einer Gegenwart, von der man nur weiß, dass sie auch anders als erwartet sein kann. Es handelt sich also um eine Sinnebene, auf der sich die Unsicherheit der Zukunft (präziser: der „zukünftigen Gegenwart“) als eine Vielzahl von Möglichkeiten (Alternativen) ausdrückt. Die Generalisierung einer Ebene des Möglichen, welche auf den Verlust von Kongruenz bzw. auf die Differenzierung zwischen den sozialen, den sachlichen und den zeitlichen Sinndimensionen zurückzuführen ist 283, konstituiert auch die Selektivität bzw. die Kontingenz des Wirklichen, das dementsprechend im Lichte anderer Möglichkeiten beobachtet werden kann. Aber diese Selektivität führt nur dann zu einer Entscheidungssituation, „wenn schon auf der Ebene des Möglichen Ausschließungsverhältnisse, das heißt Schranken der Kompossibilität definiert werden“ 284 . Auch auf der Ebene des Möglichen muss Komplexität reduziert werden. Diese Reduktion von Komplexität ist zugleich eine Spezifikation der Bedingungen, unter denen die Ebene des Möglichen relevant wird. Dabei wird auf bestimmte Aspekte der wirklichen Welt Bezug genommen, zum Beispiel auf die sachliche funktionale Differenzierung, je nach dem also, ob man rechtlich Mögliches, wirtschaftlich Mögliches oder politisch Mögliches meint. Als Ergebnis dieser Spezifikation werden manche Möglichkeiten ausgeschlossen. Man rechnet nie damit, dass man einmal hungern muss oder von der Polizei ermordet wird. Dabei handelt es sich, so Luhmann, um die Differenz von bestimmter und unbestimmter Komplexität: Während die bestimmte Komplexität den Raum von Alternativen, die sich „als Wirklichkeiten wechselseitig ausschließen würden“ 285, schafft, verweist die unbestimmte Komplexität auf das mangelnde Wissen und auf die Intransparenz der Umwelt. Unbestimmte Komplexität bedeutet Unsicherheit der Entscheidungssituation. Entscheidungen, die für individuelle Karriere relevant sind, setzen die Ansorption dieser Unsicherheit voraus 286. 281

LUHMANN, Niklas (2009): „Zur Komplexität von Entscheidungssituationen“. In: Soziale Systeme 15 (2009), S. 8 (F.N 9). 282 Siehe ESPOSITO, Elena (2007): Die Fiktion der Wahrscheinlichen Realität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 283 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S.112 ff; ESPOSITO, Elena (2007): Die Fiktion der Wahrscheinlichen Realität, S. 27ff. 284 LUHMANN, Niklas (2009): „Zur Komplexität von Entscheidungssituationen“, S. 10. 285 Idem, S. 23-24. 286 Zur Reduktion dieser Unsicherheit – die sich ohnehin durch die Kontingenz getroffener Entscheidungen, die als eine Auswahl aus Alternativen präsentieren werden, sichtbar wird – müssen Entscheidungsgrundlagen gegen diese intransparente und unsichere Umwelt geschaffen werden. Siehe LUHMANN, Niklas: (2000): Organisation und Entscheidung, S.27, 183 ff. Wenn dies auf Dauer gelingt, entsteht eine Unsicherheitsabsorption leistende autopoietische Produktion von Entscheidungen aus

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Bestimmend für die Anschlussfähigkeit einer Entscheidung und folglich für ihren sozialen Sinn sind nicht jegliche vorstellbare Möglichkeit, sondern nur wirklich selektierbare Möglichkeiten. Beispielsweise bei der Berufswahl sind die Bedingungen der Möglichkeiten, unter denen der Entscheidungsraum reduziert und definiert wird, typischerweise folgende: die Existenz des Berufs als gesellschaftlich klassifizierte bzw. bewertete Tätigkeit; die Zugänglichkeit aufgrund der eigenen Ausbildung; die Ermutigung relevanter Personen, etwa in der Familie; die ökonomische Dringlichkeit, die zu einem früheren Eintritt in den Arbeitsmarkt und somit zu einer Vernachlässigung der zukünftigen Aussichten zwingt usw. Ausgehend von diesen Bedingungen wird nicht beliebig, sondern im Hinblick auf ein mehr oder weniger wahrscheinliches Szenario entschieden. Und da ein in der Gegenwart spezifizierter und eingeschränkter Raum selektierbarer Alternativen ein wesentlicher Teil einer Entscheidungssituation ist, kann man „bei Möglichkeitsaussagen von Wirklichkeit nur partiell abstrahieren“ 287 . Man wird „dadurch genötigt, bei der Definition der Möglichkeitsspielräume des Entscheidenden in Rechnung zu stellen, was die Gesellschaft an strukturellen Bedingungen der Möglichkeit und an Grenzen der Möglichkeit (= Bedingungen der Unmöglichkeit) vorgibt“ 288. Auf diese Weise ist man theoretisch ausgestattet, um auf die Frage eingehen zu können, wie strukturierte soziale Ungleichheit im Kontext individueller Karrieren und kontingenter Entscheidungen entstehen kann. Denn die Definition von Möglichkeitsspielräumen, die in der Gegenwart immer als personengebundene und ungleich verteilte Erwartungen stattfindet, mündet häufig in Schließungsprozesse 289 ebenso wie in andere Modi der Abweichungsverstärkung 290, die Lebensschicksale durch mehr oder weniger verwehrte bzw. eröffnete Inklusionschancen in unterschiedliche Funktionsbereiche gestalten. Strukturbildung ist hier nichts anderes als Kontingenzeinschränkung. Es ist wichtig zu betonen, dass sich die Erzeugung der Möglichkeitsspielräume von individuellen Karrieren, die über die Konstruktion und die Zurechnung von Verhaltenserwartung auf Individuen erfolgt, mithilfe des Luhmannschen Strukturbegriffs sehr gut erfassen lässt. Die Strukturierung von Erwartungen ist Entscheidungen, also ein Organisationssystem. Siehe ibidem, S. 185; LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S.830. 287 LUHMANN, Niklas (2009): „Zur Komplexität von Entscheidungssituationen“, S. 12 288 Ibidem, S. 12 289 Siehe PARKIN, Frank (1982): „Social Closure and Class Formation“. In: GIDDENS, Anthony/ HELD, David (Hg.): Classes, Power, and Conflict. Classical and Contemporary Debates. Berkeley/Los Angeles: University of California Press, S. 175-184. Vgl. GROß, Martin/WEGNER, Bernd (2004): „Institutionen, Schließung und soziale Ungleichheit“. In: SCHWINN, Thomas (Hg): Differenzierung und Soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt a. M. : Humanities Online, S.173-206. 290 WEIß, Anja (2004): „Unterschiede, die einen Unterschied machen“, S. 208-232.

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Luhmann zufolge die Lösung für das Problem der Dauerlosigkeit der Elemente sozialer Systeme. Da einzelne Operationen (Ereignisse) eines sozialen Systems keine zeitliche Dauer haben, kann Struktur nur durch Rückgriffe und Vorgriffe auf andere Operationen entstehen. Jedes Ereignis nimmt auf vorherige Ereignisse und auf Erwartungen Bezug; dieses echtzeitliche rekursive Operieren bildet Strukturmomente, eben weil Rekursivität als Selektion von Einschränkungen der Relationierung von Elementen 291 fungiert. Aber dadurch wird zugleich die Anschlussfähigkeit einzelner Operationen ermöglicht, denn die Reduktion möglicher Relationierungen bildet die Voraussetzung dafür, dass bestimmte Relationsformen als wirklich selektierbare Möglichkeiten erscheinen und genutzt werden können. Die Kontingenz von Strukturen besteht darin, dass die Selektion einer Relationierung von Grundelementen als eine Auswahl zwischen mehreren Möglichkeiten 292 behandelt wird. Das ist jedoch nur möglich, weil diese Kontingenz die Identität des Systems nicht betrifft. Diese wird auf der Ebene seiner Grundoperationen, welche durch ihre eigene Selektivität eine Grenze gegenüber der Umwelt ziehen, bestimmt. In diesem Kontext entspricht die strukturelle Einschränkung auf der Ebene des Möglichen der Bildung von Zukunftsstrategien 293 , die eine soziale Lage hinsichtlich ihrer „typischen“ Entscheidungssituationen kennzeichnet. Der in jeder Gegenwart vorgegebene Möglichkeitshorizont wird dadurch strukturiert, dass eine soziale Lage eine Perspektive miteinbezieht, aus der manche Alternativen und Szenarien wahrscheinlicher als andere erscheinen. Es geht natürlich selten um „theoretische Wahrscheinlichkeitsberechnungen“ und häufiger um ein „praktisches Erkennen“ von ungleich verteilten Chancen, wobei die Erreichbarkeitserwartungen unmittelbar durch das schon Erreichte bestimmt werden. Zukunftsstrategien sind Bestandteil von sozialen Lagen. Für die Strukturierung ungleicher Inklusionschancen im Kontext von individuellen Karrieren heißt es: Es gehört zu der gegenwärtigen sozialen Position einer Person, dass bestimmte 291 Siehe LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 387-388, 398-399. LUHMANN, Niklas (1997):. Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 74. Dazu auch NASSEHI, Armin (2004): „Sozialer Sinn“, S. 162-164. Und NASSEHI, Armin (2004): „Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik“, S. 102. 292 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 384. 293 Der Begriff der Strategie hat eine zentrale Stellung in der Ungleichheitssoziologie Pierre Bourdieus eingenommen, und zwar als ein Versuch, in Abgrenzung zur strukturalistischen Anwendung des Regelbegriffs die Reproduktion sozialer Ordnung bzw. sozialer Ungleichheit in der Praxis und in der Zeit zu verorten, ohne auf die subjektivistische Vorstellung eines bewussten und rationalen Kalküls als Grundlage sozialer Ordnung zurückzugreifen. Während der Regelbegriff soziale Strukturen bzw. Ordnungen außerhalb der Praxis und der Zeit impliziert, bezieht sich der Strategiebegriff eben auf die Temporalisierung des Sozialen. Und dies schließt die Berücksichtigung der Kontingenzen von Strukturen ein. Kontingenz und Temporalisierung setzen sich wechselseitig voraus. Vgl. BOURDIEU, Pierre (1987): Sozialer Sinn, S.113, 120, 182-183; und BOURDIEU, Pierre (1990): In Other Words. Essays to a reflexive Sociology. Stanford: University Press, S. 59-76.

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andere Positionen (durch den Zugang zu Ressourcen definiert) erreichbar sind, andere dagegen nicht. Für Individuen bedeutet dies, dass individuelle Zukunftsstrategien (obwohl sie Ergebnis psychischer Operationen sind) mit dem gegenwärtigen Horizont sozialer Inklusionsmöglichkeiten in verschiedenen sozialen Systemen gekoppelt ist. Denn es ist unentbehrlich für die autopoietische Reproduktion von Individuen, dass die aktuellen Kommunikationen, an denen sie teilnehmen, ihnen die Möglichkeit geben, künftige Inklusionschancen vorzustellen. Das heißt, ihre autopoietische Reproduktion ist von der Reproduktion der Bedingungen ihrer sozialen Relevanz abhängig. Da also die Reproduktion ihrer sozialen Relevanz „überlebenswichtig“ für Individuen als mit der Gesellschaft strukturell gekoppelt autopoietische psychische Systeme ist, sind ihre Zukunftsstrategien konstitutiv mit dem Raum von Inklusionschancen in der Gesellschaft verbunden.

2.3 Individualisierung, Selbstselektion und Fremdselektion In diesem Abschnitt geht es darum, die Verknüpfung von Individualisierung und sozialer Ungleichheit durch die Formung individueller Inklusionsansprüche als Ergebnis einer temporalsierten Übereinstimmung zwischen Selbsterwartungen und Fremderwartungen bzw. Selbstselektion und Fremdselektion zu veranschaulichen. Damit soll es gezeigt werden, dass es keine Ebenendifferenz zwischen strukturierter Ungleichheit und individueller Karrieren gibt. Eine der wichtigsten Folgen der Kontingenzsetzung sozialer Ungleichheit ist die institutionalisierte Individualisierung als Form der Adressierbarkeit und Selektion von Personen in der modernen Gesellschaft. Daher spielt das Thema Individualisierung eine ganz zentrale Rolle in der Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung. Die leitende These lautet diesbezüglich, dass der Übergang von einem Primat der Stratifikation zu einem Primat funktionaler Differenzierung die Individualität von Personen nur noch als „Exklusionsindividualität“ 294 zu betrachten erlaubt. Damit ist Folgendes gemeint: Da der Einzelne in der modernen Gesellschaft über keine gegebene Definition dessen, was die Einheit seiner Person konkret ausmacht, verfügt, kann er nur „außerhalb der Gesellschaft leben, nur als System eigener Art in der Umwelt der Gesellschaft sich reproduzieren, wobei für ihn die Gesellschaft eine dazu notwendige Umwelt ist“ 295 . Exklusion hier bedeutet also, dass die primäre Differenzierungsform der Gesellschaft kein notwendiges Zugehörigkeitsverhältnis zwischen der Person und irgendeinem Teilsystem vorsieht. Keine Person kann einem und nur einem gesellschaftlichen Teilsystem angehören, wie es beim Primat der Stratifikation wegen 294 295

LUHMANN, Niklas (1989): „Individuum, Individualität, Individualismus“, S. 158 ff. Ibidem, S. 158.

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der sich wechselseitig ausschließenden Schichtzugehörigkeiten der Fall war. Die funktionale Differenzierung von Inklusionsverhältnissen bedeutet, dass Personen nur partiell inkludiert (d. h. im Kommunikationszusammenhang nach spezifischen Relevanzkriterien bezeichnet) werden, also nur unter der Berücksichtigung derjenigen Aspekte, die jeweils für die Teilsysteme relevant sind. Eine Einheitsformel, mit der der Einzelne die verschiedenen partiellen Inklusionsverhältnisse zusammenbringen könnte, bietet die funktionale Differenzierung nicht 296. Diese Einheit wird „zum höchsten individuellen Problem, das jeder für sich zu lösen hat“ […] Die Gesellschaft zeichnet nicht mehr die Lösungsrichtung vor, sondern nur noch das Problem“ 297. Diese Sichtweise ist alles andere als neu. Das Problem der Einheit der Person nimmt in Webers und in Simmels Zeitdiagnosen schon eine zentrale Stellung ein. Bei Weber geht es um die Inkommensurabilität der differenzierten Lebensordnungen, wobei die Einheit der „Persönlichkeit“ – nicht aber die Einheit der Gesellschaft – in erster Linie von den Spannungsverhältnissen zwischen den ausdifferenzierten Ordnungen bedroht wird 298.Für Simmel war die moderne Individualisierung gewissermaßen ein Korrelat gesellschaftlicher Differenzierung. Er führt sie auf die „Kreuzung sozialer Kreise“ zurück: Mit der Diversifizierung von Teilnahmemöglichkeiten wird die Unwahrscheinlichkeit normalisiert, dass verschiedene Personen die gleiche Kombination von Partizipationen aufweisen, dass also die „vielen Kreise sich noch einmal in einem Punkt schneiden“ 299. Die Einzelperson wird durch ihr einzigartiges „Rollen-Set“ als Schnittpunkt von verschiedenen sozialen Teilhaben definiert, für deren Kombination keine soziale Vorgabe zur Verfügung steht. Kein Wunder also, dass man 300 neuerdings versucht, den Ansatz Simmels mit der Theorie funktionaler Differenzierung Luhmanns zu verbinden. Nach dieser „Exklusionsindividualität“ muss das Individuum sich selbst bestimmen und mit der Reflexionslast dieser Selbstbestimmung zurechtkommen301. Sowohl in Bezug auf das gegenwärtige Rollenmanagement in unterschiedlichen Funktionssystemen als auch in Bezug auf die zeitliche Verkettung der Inklusionsverhältnisse bedeutet diese Art von Individualität eine kontingente und unsi296

Ibidem, S. 225, 245. Ibidem, S. 225. 298 WEBER, Max (1989): „Zwischenbetrachtung. Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung“. In Ders.: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915-1920. Tübingen, S. 479-522; Siehe dazu auch TYRELL, Hartmann (1993): „Max Weber. Wertkollision und christliche Werte“. In: Zeitschrift für Evangelische Ethik 37 (1993), S. 121138; MÜLLER, Hans-Peter (2007): Max Weber. Köln/Weimar/Wien: UTB, S. 254 ff. 299 SIMMEL, Georg (1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig: Duncker & Humblot Verlag, S. 412ff. 300 SCHIMANK, Uwe. et all (2008): Das Publikum der Gesellschaft, S. 157 ff. 301 LUHMANN, Niklas (1995). „Gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum“. In Ders.: Soziologische Aufklärung 6. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 133. 297

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chere Lebensform. Luhmann betont hierbei, dass es auch keine „kollektive Identität“ als Gegenhalt und Maß für „individuelle Identität“ mehr gibt 302, was im Übrigen mit seiner These, dass funktionale Differenzierung die Beeinflussung von Interaktionen durch Ungleichheitsverhältnisse nicht zulässt 303, in Einklang steht. An dieser Stelle gewinnt man den Eindruck, dass die Luhmannsche Beschreibung des modernen Individualisierungsprozesses einen eindeutigen Beweis liefert, dass seine Theorie funktionaler Differenzierung zur Auflösung des Begriffes der strukturierten sozialen Ungleichheit letztendlich führt 304 . Wie bei Ulrich Beck 305 findet man auch bei Luhmann die Entgegensetzung von Verhaltensrelevanz von Ungleichheitsstrukturen und dem „individualisierten Individuum“ 306. Diese Beobachtung ist insofern richtig, als dass Strukturen ohne Verhaltensrelevanz tatsächlich nichts anderes als „Zombie-Kategorien“ eines veralteten wissenschaftlichen Diskurses sein können. Will man der strukturierten sozialen Ungleichheit einen Platz in der Theorie funktionaler Differenzierung einräumen, dann muss gerade ihre Verhaltensrelevanz nachgewiesen werden. Die Verhaltensrelevanz sozialer Ungleichheit, so unsere These, liegt im Verhältnis zwischen den Inklusionserwartungen eines Individuums und den Selektionskriterien/Fremderwartungen, die seine Inklusionsmöglichkeiten in sozialen Systemen strukturieren. Bei diesem Verhältnis zwischen Selbsterwartungen und Selektionskriterien/Fremderwartungen handelt es sich um die Plausibilisierung von Inklusionsansprüchen durch die Auswahl von Vergleichen d h., durch die Einschränkung von Vergleichsmöglichkeiten: Man vergleicht sich mit Bezugspersonen, mit Individuen, die ähnliche Karrieren oder Biographien haben, und erkennt damit einen Raum von Möglichkeiten, der auch für die eigene Karriere und Biographie als plausibel erscheint. Dabei tendieren die individuellen Inklusionserwartungen, welche individuelle Karriereentscheidungen orientieren, dazu, an ihren Erfüllungschancen, welche durch die Selektionskriterien von sozialen Systemen/Fremderwartungen bestimmt werden, anzupassen. Dies bedeutet, dass ungleich verteilte Inklusionschancen als Orientierung für die Bildung der eigenen Inklusionserwartungen fungieren und dadurch Verhaltensrelevanz gewinnen, vor allem in Entscheidungssituationen. Um diese Verhaltensrelevanz zu erfassen, ist es also nicht notwendig, Strukturen sozialer Ungleichheit als eine eigenständige Makrostruktur in Konkurrenz zur funktionalen Differenzierung zu betrachten. Gesellschaftlicher Status ist nicht als Ordnungsstruktur für soziale Prozesse institutionalisiert. Funktionale 302

LUHMANN, Niklas (1989): „Individuum, Individualität, Individualismus“, S.245; LUHMANN, Niklas (1995): „Gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum“, S.138. 303 LUHMANN, Niklas (2008): „Zum Begriff der sozialen Klasse“, S. 95-96. 304 So SCHWINN, Thomas (2007): Soziale Ungleichheit. Bielefeld, S. 61ff. 305 BECK,Ulrich (1983): „Jenseits von Stand und Klasse?“, S. 36. 306 BECK, Ulrich (2010): “Risikogesellschaft und die Transnationalisierung sozialer Ungleichheit”, S. 21.

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Differenzierung dagegen schon. Soziale Asymmetrien sind eben Ergebnis sozialer Prozesse, in denen die Ungleichwertigkeit bzw. die Relevanz von Individuen für Teilsysteme konstruiert wird. Die Temporalisierung sozialer Ungleichheit impliziert, dass sie keinen Ort für die eigene Reproduktion außerhalb der Karrieren bestimmenden Entscheidungen finden kann. Es gibt keine Ebenendifferenz zwischen strukturierter Ungleichheit und individueller Karrieren. Beispielsweise formuliert Thomas Schwinn dazu: Was Luhmann in der Makroperspektive auf die funktionale Differenzierungsform nicht zu erklären vermag: Wie soziale Ungleichheit entsteht, soll in der Mikroperspektive individuellen Karrieren zugerechnet werden. Das ist nur eine Verschiebung des Problems auf eine andere Aggregatebene, aber nicht seine Lösung 307. Unseres Erachtens sollte strukturierte Ungleichheit gerade im Verhältnis von individualisierender Karriere und Entscheidungszusammenhängen lokalisiert werden. Soziale Ungleichheit ist die Bewertung von Personen anhand von Zurechnungsschemen, die nicht auf einer Ebene oberhalb oder unterhalb der individuellen Laufbahnen angesiedelt sind; diese Schemen entstehen vielmehr im Individualisierungsprozess selbst. Sie sind Ergebnis der operativen Konstruktion von Individualitätsmustern und ihrer Generalisierung in der Sozialdimension. Dieser operative Vollzug sozialer Ungleichheit auf der Ebene der Individualisierung von Personen steht im Mittelpunkt des Begriffs sozialer Ungleichheit, den wir im nächsten Abschnitt zu entwickeln versuchen. Bevor wir auf diese begriffliche Formulierung eingehen, müssen wir jedoch die Elemente der Luhmannschen Auffassung des modernen Individualisierungsprozesses derart rekonstruieren, dass Anschlusspunkte für einen Begriff der sozialen Ungleichheit sichtbar werden. Zuerst ist anzumerken, dass die leitende These einer „Exklusionsindividualität“ sich nur schwerlich von der Vorstellung eines losgelösten, selbstdistanzierten, „protestantisch sich in sich selbst suchenden bürgerlichen Individuums“ 308 befreien kann. Es besteht kein Zweifel, dass Luhmann diese Vorstellung absichtlich nicht pflegen wollte. Aber die Unklarheiten bei der Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem modernen Individuum und der funktional differenzierten Gesellschaft tragen dazu bei, dass dieser Vorwurf weitgehend Plausibilität gewinnt – und nicht ohne Recht. Luhmann hat einige Begriffe zur Erfassung dieses Verhältnisses entwickelt, wie „Interpenetrationெ 309, „Personெ 310, „Inklusionெ und „symbiotische Mechanismenெ 311. Dem Interpenet-

307

SCHWINN, Thomas (2007): Soziale Ungleichheit, S. 35. NASSEHI, Armin (2004): „Inklusion, Exklusion, Ungleichheit“, S. 328. 309 LUHMANN, Niklas (1981): „Interpenetration: zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme.“ In: Ders:. Soziologische Aufklärung 3. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1981, S. 151-169. 310 LUHMANN, Niklas (1995): "Die Form Person“. In: Ders. Soziologische Aufklärung 6. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 142-154. 308

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rationsbegriff wurde dabei eine prominente Rolle unterstellt: Er sollte die KoEvolution zwischen psychischen und sozialen Systemen 312 beschreiben. Interpenetrierende Systeme sind strukturell gekoppelte Systeme, die nur zusammen existieren können, weil sie die jeweils füreinander notwendige Umwelt sind. Jede Evolution in der Komplexität der Kommunikation setzt also eine entsprechende Evolution der Komplexität von psychischen Systemen voraus und umgekehrt, wobei die strukturelle Komplexität des einen Systems jeweils „für den Aufbau der strukturellen Komplexität eines anderes Systems zur Verfügung gestellt wird“ 313 . Die operative Geschlossenheit der beiden Systeme wird in diesem Kontext nicht infrage gestellt, sondern eher begründet. Denn das Interpenetrationsverhältnis schafft innerhalb von sozialen Systemen keinen direkten Bezug auf psychische Systeme. Dieser Bezug erfolgt stets mittelbar über kommunikative Strukturen sozialer Systeme, nämlich über die individuell attribuierte Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten, die Luhmann mit dem Bebriff „Person“ bezeichnet 314. Dabei handelt es sich um die Konstruktion von Zurechnungspunkten bzw. Mitteilungsinstanzen 315, die unentbehrlich für die Selbstbeobachtung und die Selbststeuerung von Kommunikationssystemen mittels der Feststellung von Handlung und ihrer Zurechnung auf Individuen sind 316. Nach Luhmann zeichnet sich jede Form von Systemdifferenzierung durch einen entsprechenden Modus der Konstruktion von Personen aus. Was als Besonderheit der modernen funktional differenzierten Gesellschaft gilt, ist aber, dass die primäre Differenzierungsform keine Angaben dafür liefert, wie der Einzelne die verschiedenen Inklusionsverhältnisse miteinander verbinden soll. Die sogenannte „Exklusionsindividualität“ zeichnet sich eben dadurch aus, dass das Individuum selbst – und nicht seine Schicht oder irgendein anderes Sozialsystem – als Einheit der differenzierten partiellen Inklusionen bezeichnet wird. Dieses Ansatzes erfasst jedoch nur die Art und Weise, wie die ausdifferenzierten Funktionssysteme Individuen als Personen berücksichtigen, nicht aber die Formen, die ihre jeweilige umfassende Inklusionslage bestimmen und die verschiedenartigen Interdependenzen zwischen den partiellen Inklusionsverhältnissen entstehen lassen. Für die hier zu bearbeitende Fragestellung ist dies deshalb von Bedeutung, weil die Vernachlässigung dieser umfassenden Inklusionslage

311

LUHMANN, Niklas (1981): „Symbiotische Mechanismen“. In: Ders. Soziologische Aufklärung 3. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 228-244. 312 LUHMANN, Niklas (1989): „Individuum, Individualität, Individualismus“, S.245; LUHMANN, Niklas (1995): „Gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum“, S. 162. 313 Ibidem. 314 LUHMANN, Niklas (1995): "Die Form Person", S. 148. 315 FUCHS, Peter (1997): Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie. In: Soziale Systeme 3 (1997), S. 57-79. 316 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 227.

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mit der Nichtberücksichtigung sozialer Ungleichheit einhergeht 317 . Der blinde Fleck ist hier die soziale Bedeutung einer Individualitätsform, die nach der Logik funktionaler Differenzierung eigentlich „von vornherein als extrasozietal gedachtெ 318 wird. Anders gesagt: die Luhmannsche Beschreibung des Verhältnisses von funktionaler Differenzierung und „Exklusionsindividualität“ blendet aus, dass diese „extrasozietale“ Individualität im Prozess der Konstruktion von Inklusionserwartungen – durch das Zusammenspiel von Selbstzurechnung und Fremdzurechnung – paradoxerweise wieder sozial eingefangen wird 319. Unsere These in diesem Zusammenhang ist: Diese paradoxe Lage – die soziale Bedeutung einer als nichtsozial gedachten Individualitätsform – kann nur angemessen thematisiert werden, wenn man das Zusammenwirken von Selbstselektion und Fremdselektion bei der Strukturierung von Karrieren in den Vordergrund rückt. Es gehört zu den wichtigsten Merkmalen einer Karriere, dass das Erreichen einer jeden Position durch dieses Zusammenwirken sozial beobachtet und definiert wird. Das ist ein genaues Korrelat der Tatsache, dass Herkunft nur rekursiv als eigene Entscheidung wirken kann, und dies nicht beliebig, sondern nach den jeweils aktuellen Entscheidungserfordernissen. Selbstselektion heißt: dass man einen eigenen Antrieb kommunizieren muss – sei es positiv (man zeigt Interesse), sei es negativ. Karrieren mögen in Tagträumen simuliert werden, aber karrierewirksam wird das eigene Interesse nur durch Kommunikation. Fremdselektion heißt: dass es nicht allein von der Selbstselektion abhängt, wie die Karriere verläuft. Ein externer Faktor – und praktisch immer, direkt oder indirekt, eine Organisation – wirkt mit 320. Vorhersehbarkeit und Planung von Karrieren, wenngleich nicht unmöglich gemacht, werden aufgrund des Zusammenwirkens von Selbstselektion und Fremdselektion doch unvorhersehbaren bzw. ungeplanten künftigen Bedingungen untergeordnet. Das Verhältnis von Selbst- und Fremdselektion setzt also jeden individuellen Lebenslauf einer langfristig unsicheren und kontingenten Perspektive aus, was allerdings keinesfalls eine Situation hervorbringt, in der die Unsicherheit und die für ihre Reduktion geeigneten Ressourcen gleich auf die Individuen verteilt werden. Der systemtheoretische Diskurs ignoriert diese ungleiche 317 NASSEHI, Armin (1996): „Inklusion oder Integration?. Zeitdiagnostische Konsequenzen einer Theorie von Exklusions-und Desintegrationsphänomenen“. In: REHBERG, Karl Siegbert (Hg): Differenz und Integration. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 622-623. 318 LUHMANN, Niklas (1989): „Individuum, Individualität, Individualismus“, S.245; LUHMANN, Niklas (1995): „Gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum“, S. 160. 319 Dabei ist wichtig, die hier angemahnte Lücke hinsichtlich des Begriffs der “Exklusionsindividualität” nicht voreilig mit nur einer Kategorie von strukturierter Ungleichheit zu schließen. Die Strukturierung der umfassenden Inklusionslage von Individuen d .h., ihrer Inklusionsperspektiven in verschiedenen Funktionssystemen kann über sehr unterschiedlichen Faktoren und Zurechnungsschemata erfolgen, etwa durch geschlechtsspezifische Stereotypen, Nationalität, ökonomische Lage etc. 320 LUHMANN, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung,S. 103.

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Verteilung weitgehend 321, auch wenn die Vernachlässigung von Ungleichheitsfragen nur um den Preis einer Unterentwicklung des eigenen theoretischen Apparats bewahrt werden kann. Die wichtige gesellschaftstheoretische Konsequenz dieses Versäumnisses besteht unseres Erachtens nach darin, dass man die soziale Konditionierung von Zurechnungsprozessen, die das Verhältnis von Selbstselektion und Fremdselektion bestimmen, aus dem Blick verliert. Die Konditionierung von Zurechnung fungiert, indem sie die ereignishafte soziale Konstruktion bzw. Lokalisierung von Kausalität 322 steuert, als ein Mechanismus der Strukturierung von Karriere. Hierbei handelt es sich die Antizipation der Bedingungen, unter denen die Attribution von kausalen Wirkungen, die für individuelle Karrieren in einen funktional definierten Kontext relevant sind, auf bestimmte Personen zumindest wahrscheinlicher gemacht wird. Die Frage aber ist: Wie kann eine Person erwarten, dass sein Verhalten auf künftige Ereignisse seines Lebens wirken kann, wenn das Auftreten dieser Ereignisse nicht allein von Selbstselektion abhängt? Die einzige Lösung liegt in einer gewissen Übereinstimmung zwischen Selbstselektion und Fremdselektion, also zwischen der Art und Weise, wie eigene Interessen und Ansprüche kommuniziert werden, und der Selektivität eines Beobachters, die die Annahme solcher Sinnangebote strukturiert. Luhmann thematisiert diese Übereinstimmung in seinen Überlegungen über die Formung individueller Inklusionsansprüchen. Zunächst wird erläutert, welche Rolle diese Übereinstimmung von Selbstselektion Fremdselektion für individuelle Karriere spielt und anschließend wie dies über die Selektion von Vergleichsmöglichkeiten hinsichtlich der eigenen Inklusionschancen erfolgt. Luhmann setzt die Entwicklung der individuellen Ansprüche mit konkreten Erfahrungen von Erfüllung und Enttäuschung dieser Ansprüche in Verbindung. Ihm zufolge asymmetrisieren Ansprüche das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zugunsten des Individuums. Es wird daher keine explizite gesellschaftliche Grenze gegen die Anspruchshaltungen gezogen, was durch die postulierte Vollinklusion aller Individuen in alle Funktionssysteme zum Ausdruck kommt. Bei funktionaler Differenzierung gibt es, so Luhmann, einen von zusätzlicher Legitimation entlasteten Steigerungszusammenhang zwischen Funktion und Anspruch 323 , wobei die autonome Funktionserfüllung eines jeden Teilsystems sozusagen als „Wunsch der Individuen“ institutionalisiert wird. Beispielsweise

321

Ein offenkundiges Beispiel ist ESPOSITO, Elena (2007): Die Fiktion der Wahrscheinlichen Realität. 322 Und damit auch von Handlung. Siehe dazu HEIDENESCHER, Mathias (1992): „Zurechnung als soziologische Kategorie. Zu Luhmanns Verständnis von Handlung als Systemleistung“. In Zeitschrift für Soziologie 21 (1992), S. 440-455. 323 LUHMANN, Niklas (1989): „Individuum, Individualität, Individualismus“, S.245; LUHMANN, Niklas (1995): „Gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum“, S. 249.

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mag das Gesundheitssystem heute wie nie zuvor Ansprüche auf Schmerzbeseitigung hervorrufen bzw. befriedigen und damit sich selbst reproduzieren: Funktionsautonomie und Anspruch verzahnen sich ineinander, begründen sich wechselseitig, steigern sich in Bezug aufeinander und gehen dabei eine Symbiose ein, der gegenüber es keine rationalen Kriterien des richtigen Maßes mehr gibt 324. Kurzum: Die Bewertung von Individualität dient als Letztbegründung für funktionale Differenzierung. In diesem Steigerungszusammenhang wird Anspruchsindividualität nicht durch Identität, sondern durch Differenz reguliert. Der Anspruch individualisiert insofern, als dass man sich an einer Differenz zwischen dem, was aktuell besteht, und dem, was erreicht werden soll, orientiert. Damit wird die individuelle Reflexion direkt einem Defizit unterworfen, also einer Differenz zwischen dem, was man ist, und dem, was man nicht ist. „Individualität ist Unzufriedenheit“ 325. Mit Reflexion ist hier die Tatsache gemeint, dass die für Anspruchsindividualität konstitutiven Differenz nicht nur „von außen“, sondern auch „von innen“ beobachtet wird. Der Einzelne muss in der Lage sein, seine eigene Ansprüche zu beobachten, und dies bedeutet, dass er sich selbst als Beobachter beobachten muss, dass er also als Beobachter zweiter Ordnung operiert. Daneben eröffnet sich auch die Möglichkeit, die Beobachtung der anderen zu beobachten und, was Ungleichheit betrifft, die eigene Strategie daran auszurichten. Im Wirtschaftssystem lässt sich z. B. anhand von Preisen nachvollziehen, wie andere Teilnehmer den Markt beobachten; man kann sich also über fremde Zahlungserwartungen informieren. Dadurch entsteht eine Konkurrenzsituation, in der von einer Interaktion zwischen den Konkurrenten abgesehen werden kann. Diese Situation der wechselseitigen Beobachtungen von Beobachtungen erlaubt es, „das Einwirken anderer auf das Erreichen eigener Ziele angesichts knapper Ressourcen einzuschätzen“ 326. Es handelt sich dabei um „eine Struktur der Sozialdimension des Erlebens und Handelns“ 327, um eine interaktionsfreie Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdselektionen. Die Struktur besteht in der Justierung der Ansprüche (der Zahlungserwartungen) von Markteilnehmern. Die Entwicklung der individuellen Ansprüche ist keineswegs beliebig. Die Erfahrungen von Erfüllung und Enttäuschung – sowohl die eigenen als auch die der Bezugspersonen, die man beobachten kann – geben Auskunft über das, was die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme nicht festlegen: nämlich über den Horizont der jeweils realisierbaren Ansprüche, der eine individuelle Karriere auszeichnet. Angesichts dieser Erfahrungen kann die Person ihre eigenen Erwartungen auf einen mehr oder weniger verschlossenen Möglichkeitsspielraum einstellen, wobei eine Reduktion auf der Ebene des Möglichen (der „gegenwärtigen 324

Ibidem, S. 141. LUHMANN, Niklas (1989): „Individuum, Individualität, Individualismus“, S.243. 326 LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 102. 327 Ibidem. 325

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Zukunft“) der Palette den wirklich selektierbaren, zur Verfügung stehenden Lebensentwürfen erst eine Form gibt. Diese temporalisierte Konstruktion des Raums des Möglichen, der sich im Laufe der Karriere aktualisiert, ist schon ein Beweis dafür, dass die Einschränkung der individuellen Ansprüche als eine ungleichheitsrelevante Strukturvorgabe und die damit einhergehende Strukturierung individueller Karrieren nur innerhalb der Karriere selbst stattfinden kann. Indem man also erfährt, dass gewisse Lebenswege bzw. Inklusionsverhältnisse außerhalb des eigenen Horizonts zu liegen scheinen, dass z. B. eine Teilnahme an den Leistungsrollen und an den Entscheidungsprozessen des politischen Systems – wie Bourdieu sagen würde – nicht „für uns“ ist, stößt man an eine Grenze, die eine Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdselektion als Bedingung der Möglichkeit einer Konditionierung 328 der Zurechnungsprozesse, die die Karriere bestimmen, erfordert. Die Konditionierung der Karriere sorgt dafür, dass manche Inklusionsverhältnisse in bestimmten Funktionssystemen nicht in Aussicht gestellt werden. So geht jede Erfahrung mit der eigenen Karriere in die Selbstselektion ein. „Man traut sich mit einer karrieregünstigen Biographie mehr, mit einer entmutigenden Biographie weniger zu“ 329. Die Beobachtung von Erfahrungen der Erfüllung und Enttäuschung von Ansprüchen übernimmt also die Aufgabe, die die primäre Differenzierungsform der Gesellschaft den Individuen als sozial „ortlose Personen“ überlassen: Sie legt den Horizont der plausiblen individuellen Inklusionsansprüche fest. Inklusionsansprüche setzen nicht voraus, dass man die Gesellschaft kennt und weiß, was sie zu bieten hat; und sie setzen nicht voraus, dass man sich selbst kennt: Ansprüche können zum Sondieren in unbekanntem Terrain benutzt werden, und an den Resultaten, an Erfüllungen und Enttäuschungen, formt sich dann die Person und ihr Gesellschaftsbild 330. Hier deutet sich an, wie das sogenannte Postulat der Vollinklusion gerade dort an Verhaltensrelevanz verliert, wo erfahrene Ungleichheit von Inklusionschancen in Erscheinung tritt. Aber an dieser Stelle befindet sich die systemtheoretische Begrifflichkeit in Verlegenheit. Denn wenn die individuelle Identitätsreflexion von einem externen Gegenhalt abhängig gemacht wird, um eine Übereinstimmung von Selbst- und Fremdselektion herzustellen und somit die Kontingenz der eigenen Karriere zu reduzieren, muss man fragen, wie ein solcher Gegenhalt gefun328

Bei Luhmann bedeutet Konditionierung eben die Festlegung von Irreversibilitäten, die als Bedingungen für Anschlusselektionen dienen. Siehe LUHMANN, Niklas (1981): „Schematismen der Interaktion“. In: Ders., Soziologische Aufklärung 3. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 84. 329 LUHMANN, Niklas (1994): „Copierte Existenz und Karriere. Zur Herstellung von Individualität“: In: BECK, Ulrich/BECK-GERNSHEIM, Elisabeth (Hg). Riskante Freiheiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 197. 330 LUHMANN, Niklas (1995): „Gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum“. In Ders.: Soziologische Aufklärung 6. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 138-139.

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den werden kann. Eine Antwort auf diese Frage bietet die Systemtheorie Luhmanns kaum. Statt eines begrifflichen Zugangs zur Entstehung und zur Reproduktion dieses „externen Gegenhalts“ findet man nur eine Irritation der theoretischen Sprache durch den Einsatz einer literarischen Metapher („homme-copie“) 331 , die aber wie die Metapher „Exklusionsbereichெ eine „Öffnung der Theorie für systematisch ausgeschlossene Wissensbestände ermöglicht“ 332. Mit dieser Metapher versucht Luhmann der Tatsache Rechnung zu tragen, dass gerade eine Grenze der Realisierbarkeit des Individualisierungsprogramms Bedingungen von Möglichkeit ihrer Realisierung ist: Herstellung von Individualität ist nur möglich bei der Unterbrechung der „inneren Reflexion der eigenen Identität“ durch den Rekurs auf eine Differenz, die sich aus dem Vergleich mit anderen ergibt. Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass das Angewiesensein auf Vergleichsoperationen schon in der Vorstellung der „Anspruchsindividualität“ miteinbezogen ist. Eine durch Ansprüche regulierte Individualität besteht immer aus einer Differenz zwischen dem, was schon erreicht wurde, und dem, was sich jeweils aktuell als Erreichbares präsentiert. Diese Differenz ist aber nur feststellbar im Kontext von Vergleichen mit anderen. So kann das Individuum schon in der Schule feststellen, „wie gut, beziehungsweise wie schlecht es ist im Vergleich zu anderen, die unter gleichen Bedingungen in Jahrgangsklassen starten“ 333. Den Gegenhalt zur Bestimmung der eigenen Individualität findet man mithin nicht in einem losgelösten Ich, das sich in Distanz zu jeder sozialen Bestimmung befindet, sondern in den sozial eröffneten Möglichkeiten, sich mit anderen zu vergleichen bzw. verglichen zu werden. Zwar spricht die Abhängigkeit des Einzelnen von einer sozialen Beschränkung bzw. Ermöglichung seiner Individualität nicht gegen die These, dass das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft eine „lose Kopplung“ darstellt. Denn diese lose Kopplung ist Bedingungen dafür, dass das Individuum über einen Raum von Möglichkeiten verfügt, d. h., dass sein Lebenslauf gesellschaftlich nicht bestimmt wird. Es handelt sich jedoch dabei um eine Kopplung, in der es Freiheiten und Spielräume nur auf der Ebene partieller bzw. teilsystemspezifischer Inklusionsverhältnisse gibt – sodass die Inklusion in einem Funktionssystem die Inklusion in anderen Funktionensystemen nicht festlegt –, nicht aber auf der Ebene des jederzeit aktualisierten, beschränkten strukturierten Raums des Möglichen. Hier herrscht das Prinzip der Notwendigkeit, der irreversiblen Situation, in der nur bestimmte Alternativen selektierbar sind. Die Entscheidung erzeugt Kontingenz auf der Basis eines für sie notwendigen Raums von Möglichkeiten. Individualisierungstheoretisch formuliert heißt es noch einmal: Die Realisierung von Individualität kann nur über Strukturierung bzw. Einschränkung von Individualisierungsmöglichkeiten erfol331

Ibidem, S. 133; LUHMANN, Niklas (1994): „Copierte Existenz und Karriere“, S. 766. FARZIN, Sina (2008): „Sichtbarkeit durch Unsichtbarkeit. Die Rhetorik der Exklusion in der Systemtheorie Niklas Luhmanns“. In: Soziale Systeme 14 (2008), S. 191. 333 LUHMANN, Niklas (1989): „Individuum, Individualität, Individualismus“, S. 247. 332

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gen. Wie schon mehrmals betont, wird diese Einschränkung auf keinen Fall direkt aus der funktionalen Differenzierung abgeleitet. Woraus dann? Die Antwort lautet: aus den sich anbietenden Vergleichsmöglichkeiten, die im Laufe der Karriere die Ebene der möglichen Inklusionsverhältnisse reduzieren, in Bezug auf die der Einzelne seine Inklusionsansprüche bildet. Damit wird das Problem aber nur umformuliert, weil man nun auf die Frage nach der Festlegung der Vergleichsmöglichkeiten stößt. Obwohl die Spezifikation funktionaler Bezugsprobleme die Reichweite von Vergleichsmöglichkeiten für individuelle Karrieren nicht determinieren kann, legt sie die sachliche Dimension fest, innerhalb derer die Ergebnisse der Vergleiche als zugeordnete Codewerte festgelegt werden 334. In der Sachdimension wird jedoch nicht bestimmt, wer über diese Zuordnung entscheiden soll und wem die Codewerte unter einem operativen Gesichtspunkt zugerechnet werden. Hier kommt die Sozialdimension ins Spiel. Denn die Reichweite von Vergleichsmöglichkeiten hängt zuerst davon ab, mit wem man sich vergleicht bzw. mit wem man verglichen wird, wobei die Grenzen von Vergleichsoperationen als soziale Grenzen begriffen werden können, die das Ausmaß der sichtbaren Kontingenz des eigenen Lebensschicksals bestimmen. Wenn Andersseinkönnen eben „so sein können wie ein anderer“ 335 heißt, liegt der Grund dafür vermutlich darin, dass die Reduktion von sichtbarer Kontingenz bezüglich des eigenen Lebenslaufes, der eigenen Ansprüche und die damit einhergehende Justierung der Selbstselektion ihren Maßstab in den beobachtbaren Erfahrungen mit der Ebene des Möglichen finden. Die Entwicklung eines spezifischen „Copie-Verhaltens“, die für Luhmann allen individualisierten Lebensformen in der funktional differenzierten Gesellschaft zugrunde liegt, hängt also damit zusammen, dass nicht jegliche Vergleichsoperation die Palette von möglichen Inklusionsverhältnissen ausmacht, sondern nur diejenigen, die auf wirklich selektierbare Möglichkeiten verweisen. Mit anderen Worten: nur diejenigen, die auf Möglichkeiten verweisen, deren Selektion und Aktualisierung sowohl im Hinblick auf die eigene Erfahrung als auch in Bezug auf beobachtbare Erfahrungen anderer eine gewisse Plausibilität erlangen. Dass z. B. in vormodernen stratifizierten Gesellschaften jeder Vergleich zwischen Personen von unterschiedlichen Schichten als Unsinn erschien, deutet darauf hin, wie sehr Schichtung damals als notwendige Sinngrenze zu gelten hatte. Vergleichsoperationen setzen immer Kontingenz voraus, weil das Verglichene unmittelbar vor einem Hintergrund anderer funktionaler Äquivalente336 beobachtet wird. Man kann vermuten, dass die modernen Formen sozialer Ungleichheit, wenngleich sie, wie wir gesehen haben, nicht mehr als die primäre, als notwendig wahrgenommene Differenzierungsform gelten, sich in den ereig334

Ibidem, S. 246. LUHMANN, Niklas (1994): „Kopierte Existenz und Karriere“, S. 191-192. 336 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 84 ff., 242, 463. 335

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nishaften Sinnoperationen dadurch reproduzieren, dass bestimmte Vergleiche zwischen bestimmten Personen als nicht aktualisierbare Operationen beobachtet werden. Diese Vergleiche werden, so die Vermutung, in die Palette der wirklich selektierbaren Möglichkeiten nicht aufgenommen, sodass die Aktualisierung der Vergleichsgrenzen in die Selbstselektion eingeht und dadurch an Verhaltensrelevanz gewinnt. Im Kapitel 4 (Abschnitt 4.2) kommen wir auf die Rolle der Einschränkung von Vergleichsmöglichkeiten für die Bildung individueller Selbsterwartungen zurück.

2.4 Zum Begriff der operativ/strukturierten sozialen Ungleichheit In diesem Abschnitt soll eine Definition des Begriffs strukturierter sozialer Ungleichheit innerhalb der Luhmannschen Systemtheorie formuliert werden. Strukturierte Ungleichheit wird dabei nicht mit dem gesellschaftlichen Rahmen ihrer Entstehung verwechselt und auf die Existenz einer gesamtgesellschaftlichen Schichtungsstruktur zurückgeführt, sondern als Ergebnis temporalisierter und systemspezifischer sozialer Praxen definiert, die Strukturen entweder reproduzieren oder verändern. Um diesen begrifflichen Vorschlag zu begründen, wird die These der Temporalisierung der Strukturen sozialer Ungleichheit auf den Strukturbegriff Luhmanns und seinen Stellenwert in seiner Sozialtheorie bezogen. Luhmann versteht seine soziale Theorie als einen radikal operativen Ansatz, in dessen Architektur der Operationsbegriff vor dem Strukturbegriff einen Vorsprung hat. Grundelemente sozialer Systeme sind ihre Operationsweisen, also ihre selektive Kommunikationsformen, die in jeder Gegenwart die Welt in zwei teilt: Auf der einen Seite gibt es die Kommunikation, die das System konstituiert, und auf der anderen Seite gibt es dessen Umwelt, die keine für das System konstitutive Kommunikation darstellt. Das Anderssein dieser Grundelemente würde bedeuten, dass das jeweilige soziale System nicht mehr existiert. Damit wird die „soziale Realität“ unmittelbar auf diese operative Ebene bezogen und das Hauptproblem jedes sozialen Systems als Problem der Anschlussfähigkeit jeder seiner aktuellen Operation aufgefasst 337. Diese untergeordnete Stellung des Strukturbegriffes ergibt sich daraus, dass er die Einheit des Systems als Differenz zur Umwelt nicht bestimmt. Es geht bekanntlich um eine Umkehrung des theoretischen Arrangements des Strukturfunktionalismus 338. Anders als bei Parsons hat der Bezug auf soziale Funktionen 339 337

Ibidem, S. 59, 62ff, 199. BARALDI, Claudio/CORSI, Giancarlo/ESPOSITO, Elena (1997): Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 62. 339 Und anders als bei Parsons sind soziale Funktionen bei Luhmann historische und kontingente Beziehungen zwischen Problemen und Problemlösungen. Es gibt bei Luhmann also keinen festen 338

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bei Luhmann den Vorrang vor der Reproduktion von Sozialstrukturen: Soziale Strukturen erfüllen eine unerlässliche Funktion, nämlich die Funktion der Ermöglichung selektiver Verknüpfung von Kommunikationen 340, und können im Hinblick darauf eventuell gewechselt werden, ohne die autopoietische Reproduktion der Systemelemente abzubrechen. Sofern die neuen Strukturen diese selektive Verknüpfung weiter ermöglichen können, werden die Systemoperationen auch weiter reproduziert. Mit anderen Worten: Die Verknüpfung von Operationen (die Funktion) ist notwendig für die Reproduktion eines sozialen Systems und deswegen erscheint als Erfordernis jeder Systemoperation, weil diese sich selbst nur in Bezug auf ihre Anschlussmöglichkeiten bestimmen kann 341. Aber die Strukturen d .h, die Selektion von Anschlussmöglichkeiten, können kontingent gesetzt werden. Was erhalten werden muss, ist die Anschlussfähigkeit einzelner Operationen, nicht die Strukturen selbst. Nicht irgendwelche Grundstruktur macht jenen Moment aus, in dem Erkenntnis und Gegenstand des sozialen Lebens zusammenfallen, sondern die systemspezifischen Operationen 342 . Im Kontext der Theorie funktionaler Differenzierung bedeutet dies, dass die Reproduktion der Grundoperationen der Funktionssysteme letztendlich auf der Nichtidentität ihrer Kommunikationsformen d .h., auf ihrer je spezifisch binären Codierung beruht. In vormodernen Gesellschaften konnte die Kommunikationsform des jeweiligen Sozialsystems (Klans, Schichten, Familien) ohne die Bestimmung der Zugehörigkeitsverhältnisse der Kommunikationspartner von anderen Kommunikationsformen nicht unterschieden werden. Die Einheit der sozialen Systeme war also konstitutiv damit verbunden, dass der Einzelne seine personale Ganzheit in die Kommunikationen der Gruppe oder Schicht, denen er angehört, „einbringen“ konnte. Die kommunikative Selektion von Personen wurde durch ihre Herkunft unmittelbar vorbestimmt und Kommunikation bzw. soziale Ordnung würden ohne diese Vorbestimmung an ihre Grenze der Möglichkeit gestoßen. In stratifizierten Gesellschaften war dieser nicht-kontingente Selektionsmodus von Personen Bedingungen für die Ausdifferenzierung einer Oberschicht als kommunikativ geschlossene Einheit. Nur Fremden konnten auf Trägern funktionaler Rollen (Händler, Richter), in denen die Person als ganze nicht relevant ist, reduziert werden 343. Vormoderne soziale Systeme waren „ganz wesentlich Personenverbände“ 344, sodass die für die Systemzugehörigen bestehenden Tabutätigkeiten Katalog von Funktionen – wie das Parsonsche Vier-Funktionen-Schema (AGIL). Gesellschaftlich relevanten Funktionen sind dementsprechend induktiv (und nicht deduktiv) zu erkennen. 340 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 384 ff. 341 Ibidem, S. 123. 342 Ibidem, S. 382. 343 HAHN, Alois (1993): „Identität und Nation in Europa“. In: Berliner Journal für Soziologie 3 (1993), S. 199-200. 344 Ibidem, S. 1999, Kursiv des Autors.

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nur gegenüber denjenigen, die dem jeweiligen Sozialsystem nicht angehören, ausgeübt werden durften. In diesen Gesellschaften lässt sich die Selektion der Kommunikationspartner von den teilsystemischen Grundoperationen nicht trennen. Die Ausdifferenzierung operativ geschlossener Funktionssysteme ist dagegen gerade auf diese Trennung angewiesen: Die Grundoperationen der Funktionssysteme differenzieren sich voneinander durch eine je spezifische Codierung des Verhaltens. Funktionssysteme ordnen kommunikative Ereignisse nicht dadurch, dass bestimmte Personen askriptiv als Kommunikationspartner in Betracht kommen müssen, um eine funktionsspezifische Kommunikationsweise auszudifferenzieren. Sie ordnen kommunikative Ereignisse vielmehr dadurch, dass ein Nebeneinander unwahrscheinlicher Anschlussroutinen ihre Wahrscheinlichkeit mittels einer funktionalen Codierung dieser Routinen erhöhen kann. Konstitutiv für diese Codierung ist nicht eine nicht-kontingente Selektion von Personen als Elemente sozialer Systemen, sondern die Differenzierung sachlicher Bezugsprobleme, die es erlaubt, unterschiedliche abwesende und gleichzeitige Kontexte zu trennen und auf diese Weise mit der gegenwärtigen Differenzierung zwischen ihnen rechnen zu können 345. Die laufende Reproduktion der Differenzierung zwischen den funktionsspezifischen Codes ist notwendige für die Identität bzw. Einheit der Funktionssysteme. Dagegen ist die Selektion von Personen, die im Übrigen nur als Trägern teilsystemischer Rollen infrage kommen, eine kontingente Operation für die funktional differenzierten Teilsysteme. Auch wenn die Funktionssysteme auf sie angewiesen sind, können die Selektionskriterien sowie die Personen, die an ihren Kommunikationsformen teilnehmen, gewechselt werden. Aufgrund dieser „Depersonalisierung“ sozialer Ordnung auf der Gesellschaftsebene, also auf der Ebene der Erreichbarkeit funktionsspezifischer Kommunikationen, wird dann die Teilnahme von Personen an Kommunikation kontingent gesetzt in dem Sinne, dass sie keinem Teilsystem angehören, dessen Grundoperationen aus einer festen und allumfassenden askriptiven Selektion von Personen bestehen. Luhmann zufolge ist sogar dasjenige Funktionssystem, dessen Funktion in der Selektion von Personen besteht – das Erziehungssystem –, nicht in der Lage, solche Art askriptiver Selektion gegen die Kontingenz künftiger Ereignisse sicherzustellen 346 . Die Kontingenz der Strukturen sozialer Ungleichheit ergibt sich unmittelbar aus der Kontingenzsetzung von Selektion von Personen durch die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen. Soziale Ungleichheit wird insofern gesellschaftlich kontingent gesetzt, als dass die Art und Weise, wie Personen in unterschiedliche Funktionssysteme inkludiert werden, nicht unmittelbar von ihrer Herkunft oder von der Inklusion in einem einzigen Funktionssystem abhängt. 345

NASSEHI, Armin (2004): „Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik“, S. 105. 346 LUHMANN, Niklas (2002): Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 70.

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In der funktional differenzierten Gesellschaft ist soziale Ungleichheit keine „Struktur für sich“, die die Beziehung der Funktionssysteme zueinander festleget. Diese Beziehung wird gerade in der Sachdimension als ein Verhältnis zwischen operativ autonomen Teilsystemen bestimmt, die in ihrer Ungleichheit hinsichtlich der je eigenen Funktion gleich sind 347. Ungleichheit im Sinne einer eindeutigen – und das würde auch bedeuten: immer explizit und selbstverständlich vollzogenen – Form der Grenzziehung bzw. als Prinzip der Konstruktion von Teilsystemidentität ist genau das, was mit dem Primat funktionaler Differenzierung überwunden wird. Die Rolle, die soziale Ungleichheit in der modernen sozialen Ordnung spielt, betrifft das Verhältnis der Person zur Gesellschaft und setzt voraus, dass dieses Verhältnis mit der Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung schlechthin nicht gleich gesetzt werden darf 348 . Ungleichheiten trägen zur Reduktion von Kontingenz der Zuordnung von Codewerten bei, indem sie Adressierung bzw. den Raum der möglichen Inklusionsverhältnisse von Personen einschränken. Aber die Differenzierung von Funktionssystemen bildet eine autonome Dimension der sozialen Ordnung, nämlich die Sachdimension, deren Besonderheit gerade darin liegt, dass sie von der Aufgabe, Personen zu selektieren, entlastet wird. Es wird also eine unpersönliche Ordnungsebene ausdifferenziert, deren Relationierung mit Personen kontingent, weil durch änderbare und funktionsspezifische Programme geleitet, wird. Ungleichheit ist jedoch auch kein Programm. Ihre Reduktionsleistung bezieht sich auf die Kontingenz von individuellen Karrieren, und zwar auf die Notwendigkeit, diese Kontingenz zu reduzieren – v.a. dadurch, dass Selbstselektion und Fremdselektion ständig aufeinander abgestimmt werden. Der Bezug auf den Begriff der Karriere ist nicht beliebig. Eine Karriere besteht aus Ereignissen, die „nur dadurch, dass sie die Karriere positiv oder negativ fördern und weitere Ereignisse dieser Art ermöglichen, zur Karriere gehören“ 349. 347 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 615. Dass bestimmte Funktionssysteme eine dominante Rolle übernehmen können, hängt nicht damit zusammen, dass Hierarchie als Prinzip der Systemdifferenzierung auch in der modernen Gesellschaft fungiert. Die Dominanz eines Funktionssystems lässt sich eher auf seine „höchste Versagensquote“ zurückführen, „weil der Ausfall von spezifischen Funktionsbedingungen nirgendwo kompensiert werden kann und überall zu gravierender Anpassung zwingt[…] Wenn Recht nicht mehr durchsetzbar wäre oder wenn Geld nicht mehr angenommen werden würde, wären auch andere Funktionssysteme vor kaum mehr lösbare Probleme gestellt.“ Ibidem, S. 769. Das dominante Funktionssystem ist dann dasjenige, das in der Lage ist, folgenschwere Krise derart zu erzeugen, dass in seiner Umwelt Aufmerksamkeit zunehmend auf das (möglich) Auftreten solcher Krisen gelenkt wird.: „Funktionale Differenzierung garantiert also keineswegs gleich gute Chance für alle Funktionssysteme, für Wirtschaft ebenso für Religion, für Recht ebenso wie für Kunst. […] Und es bleibt der Evolution überlassen, welche Entwicklungsschwerpunkte, welche Funktionssysteme, welche Strukturen sich unter Bedingungen mehr bewähren als andere“. Ibidem, S. 770-771. 348 LUHMANN, Niklas (1992): „Arbeitsteilung und Moral. Durkheims Theorie“ (Einleitung). In: DURKHEIM, Emile (1992): Über Soziale Arbeitsteilung. Frankfurt a. M.:Suhrkamp, S. 28. 349 LUHMANN, Niklas (1994): „Copierte Existenz und Karriere“, S. 196.

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Eine Karriere ist also ein zirkuläres Verhältnis zwischen Ereignis und Struktur. Dementsprechend ist die Reproduktion sozialer Ungleichheit nicht als Zeitbeständigkeit von Strukturen, sondern als Produkt dieses zirkulären Verhältnisses zu verstehen. Dabei geht es darum, das primäre Verhältnis von Struktur zur Zeit 350 und zur Kontingenz 351 in den Mittelpunkt zu stellen. Im Einklang mit dem Stellenwert des Strukturbegriffes in der Systemtheorie Luhmanns gehen wir davon aus, dass selektive Verknüpfung von Ereignissen nur in der Gegenwart stattfinden kann. Es gibt keine Struktur, die aufgrund einer ihr innewohnenden Kraft aus der Vergangenheit heraus die Zukunft bestimmen kann. Strukturen sind gegenwärtige selektive Relationierung von Ereignissen und diese Relationierung besteht nur aus Erwartungen von Erwartungen 352, die die Anschließbarkeit einzelner Ereignisse – Handlungen als Selbstsimplifizierung von Kommunikationsprozessen, die auf Personen zugerechnet werden – erzeugen. Sie determinieren nicht, was geschehen wird, weil jedes Ereignis immer mit einem Mindestmoment an Überraschung auftreten muss 353. Nur in Abhebung von dem, was bisher geschah, hat ein Ereignis Informationswert. Nur so ist etwas ein Ereignis. Und das gilt auch für karrierebezogene Ereignisse. Streng genommen ist der Strukturbegriff ein „Komplementärbegriff zur Ereignishaftigkeit von Elementen“ 354: Der destruktive Effekt der Zeitgebundenheit von Ereignissen ist nur dadurch zu verhindern, dass der Sinn jeder Handlung aus dem Horizont der Erwartungen weiterer Handlungen resultiert. Struktureffekte müssen im Ereignis selbst erzeugt werden, insofern als dass von jeder Handlung aus bestimmte andere (und nicht: beliebig andere) Handlungen zugänglich sein müssen. Gerade aus dieser Zugänglichkeit ergibt sich die „Qualität“ von Handlungen 355. Dieses zirkuläre Verhältnis zwischen Struktur und Ereignis bedeutet auch, dass Strukturen gleichzeitig Vorbedingung und Resultat von Ereignissen sind 356, wobei Ereignisse immer eine Doppelfunktion haben. Einerseits haben sie die Funktion, das System zu reproduzieren. Denn die Reproduktion von sozialen Systemen ist ja doch die laufende Produktion von Ereignissen aus Ereignissen, die systembezogenen Informationswert haben. Anderseits ist nur mit Bezug auf 350

LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 390. Ibidem, S. 387. 352 Ibidem, S. 411 ff. 353 Ibidem, S. 390. 354 Ibidem, S. 392-393. 355 Ibidem, S. S. 384. 356 Dass der Ansatz Luhmanns in dieser Hinsicht mit der Strukturierungstheorie von Antony Giddens übereinstimmt, liegt auf der Hand. „Wir finden uns hier in voller Übereinstimmung mit Anthony Giddens Theorie des „structuration" - mit der einzigen Ausnahme, dass Giddens eine systemtheoretische Grundierung dieses Begriffs ablehnt.“ LUHMANN, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung, S. 50 (F.N 33). Dazu auch GALINDO, Jorge (2006): Zwischen Notwendigkeit und Kontingenz, S.107 ff und TANG, Chih-Chieh (2007): „Struktur/Ereignis: Eine unterentwickelte, aber vielversprechende Unterscheidung in der Systemtheorie Luhmanns“. In: Soziale Systeme 13(2007), S. 86-98. 351

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Ereignisse zu wissen, ob Strukturen erhalten oder geändert werden. Wichtig dabei ist, dass sich der Begriff der Autopoiesis auf die Ebene der Ereignisse bezieht. Ein autopoietisches System kommt dann nur vor, wenn Ereignissen dieses Systems sich aneinander rekursiv anschließen, d. h, wenn Rückgriffe und Vorgriffe auf jeweils nicht aktuelle Ereignisse im selben System möglich sind. Der Begriff der autopoietischen Reproduktion artikuliert die Temporalisierung der Systemelemente und verweist auf die ständige Rekonstruktion der Anschlussfähigkeit einzelner Ereignisse, nicht auf die Erhaltung von Strukturen. Es kann gut sein, dass Strukturen, um die operative Rekonstruktion der Anschlussfähigkeit der Systemoperationen wahrscheinlicher zu machen, geändert werden müssen. Deshalb impliziert der Begriff der Autopoiesis keinen Strukturkonservativismus. Nur die Funktion, Anschlussfähigkeit zu erneuern, muss konstant gehalten werden, nicht die Strukturen. Dies besagt, dass es in jeder Situation eine dreifache Differenz gibt, nämlich (1) Anschlusshandeln im Rahmen der vorhandenen Erwartungsstrukturen, (2), Anschlusshandel auf Grund von abweichenden Erwartungsstrukturen und (3)Aufhören. Zwischen (1) und (2) wird unter dem Gesichtspunkt Konformität/Abweichung gewählt; zwischen (1,2) und (3) unter dem Gesichtspunkt der autopoietischen Differenz 357. Autopoiesis ist also Voraussetzung dafür, dass Strukturen geändert oder nicht geändert werden. Deshalb sind auch die Produktion und die Beobachtung von strukturellen Widersprüchen ohne die autopoetische Reproduktion der Grundelemente sozialer Systeme nicht möglich 358. Und sich widersprechende Erwartungen müssen nicht zum Aufhören der systemischen Selbstreproduktion führen. Sie stellen nur die schon erreichte strukturelle Sinnbestimmtheit eines Systems infrage und öffnet dadurch sich wechselseitig ausschließende Anschlussmöglichkeiten 359. Damit erreicht das System mehr Anschlussfreiheit: Die Zukunft wird als Unbestimmtheit des Erwartens aktualisiert, sodass es nicht feststeht, „welche der ausschließenden Möglichkeiten gewählt wird“ 360. Aber der Widerspruch hält die autopoetische Reproduktion des jeweiligen Systems in Gang; er stellt nur eine momentane Zerstörung der Selbstbeschreibung des Systems als geordnete bzw. reduzierte Komplexität dar. Er ist ein Moment der Selbstreferenz sozialer Systeme und nicht ein von außen kommender Angriff, und zwar schon deshalb, weil jeder Sinn die eigene Negation als Möglichkeit mit einschließt 361. Einerseits wahrt der Widerspruch die Formeinheit bzw. die Reproduktion eines sozialen Systems und andererseits löst er seine Erwartungssicherheit bzw. seine Strukturstabilität auf: 357

LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 475. Ibidem, S. 497 ff. 359 Ibidem, S. 493, 502, 503 360 Ibidem, S. 503. 361 Ibidem, S. 494. 358

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Man weißt nicht, ob ein Absatzziel mit einer bestimmten Preisfestlegung erreichen wird oder nicht; ob die eigene Partei die Wahlen gewinnen wird oder nicht – und all dies letztlich, weil widersprüchlichen Erwartungen im Spiel sind 362. Dabei ist die Unterscheidung zwischen Selbstreproduktion und Strukturstabilität zu betonen. Die Existenz sich widersprechender Erwartungslinien bedeutet deshalb keine Unterbrechung der systemischen Autopoiesis, weil Widersprüchen die Strukturstabilität des Systems infrage stellt, nicht aber seine Selbstreproduktion: Auf sich wechselseitig ausschließende Möglichkeiten wird im System mit dem entsprechenden Anschlussverhalten reagiert, wenngleich mit der Absicht, den Widerspruch zu lösen und Erwartungssicherheit wiederherzustellen 363. Der Begriff der Autopoiesis bezieht sich auf den operativen Vollzug sozialer Systeme und er gibt keinen Hinweis auf Systemstrukturen. Deshalb ist er nicht nur voll kompatiblen mit Strukturänderung und Evolution. Autopoietische Reproduktion ist zudem Voraussetzung für die kommunikative Herstellung von Widersprüchen, die stabile Erwartungsstrukturen infrage stellen. Umgekehrt erhalten diese Widersprüche die autopoietische Reproduktion. Sie ermöglichen Anschlusshandeln, obwohl unsicher ist, welche Erwartungen gelten. Anders gesagt: Widersprüche können in ein System inkorporiert werden, weil es diese Differenz gibt zwischen Selbstreproduktion und Struktur, zwischen Handlung und Erwartung 364. Die Herstellung und die Beobachtung von Widersprüchen setzten die Temporalisierung sozialer Komplexität, also den ereignishaften Charakter der Relationierung von Systemelementen voraus. Es gibt keinen „strukturellen Widerspruch“ im Sinne von relativ zeitbeständigen Strukturen, die sich einander unabhängig der einzelnen Ereignisse widersprechen 365 . Widersprüche werden im Verhältnis von Struktur und Ereignis hergestellt. Sie nimmt die Form eines widerspruchsvollen Ereignisses an. Das heißt, sie kommen nur vor, wenn Ereignisse von strukturierten Verhältnissen abweichen, sodass zwei Erwartungslinien als unvereinbar herausgestellt werden. Sie setzen eine strukturelle Vermittlung der Selbstreferenz des Ereignisses voraus. Nur durch Umleitung ihres Sinnes über strukturiertes Anderes können Ereignisse sich selbst widersprechen. In unstrukturierten Verhältnissen wäre weder kontradiktorisches Widersprechen möglich, noch Ironie, noch Paradoxierung, noch Kommunikation von Absicht unter Mitkommumikation von Zweifeln an eben dieser Absicht 366. 362

Ibidem, S. 501. Ibidem, S. 491-492; 502. 364 Ibidem, S. 503. 365 Ibidem, S. 507. 366 Ibidem, S. 508. 363

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Gesellschaftssysteme können Einrichtungen entwickeln, die eine mehr oder weniger sichere Umgangsform mit Widersprüchen erlaubt 367. Es handelt sich um soziologische 368 Konditionierungen, die die Selektion von Sinnverweisungen und ihre Zusammenfugung zu sich widersprechenden Erwartungslinien unter Bedingungen setzt: „Eine Rose ist keine Rose – wenn sie...“ 369. Auch strukturen sozialer Ungleichheit können widersprochen, negiert werden. Die Möglichkeit, Erwartungen zu negieren, d. h. in Konflikt mit bestehenden Systemstrukturen zu geraten, ist jedoch auch nicht gleich verteilt. Das hat vor allem mit Exklusion aus dem Rechtssystem und der Politik zu tun. Aber auch die Wirtschaft kann dazu führen, dass derjenige, der Eigentum besitzt, sich Konflikte leisten kann 370, während die Eigentumslose sie vermeiden müssen. Umgekehrt kann es sein, dass die Negation bestimmter Strukturen, die auf Realisierung von Gleichheit und Vollinklusion abzielen (etwa die Bürgerrechte) implizit geschieht, sodass das „Nein“ unsichtbar bleibt und damit gegen einen zweiten Widerspruch (etwa eine formelle/rechtsmäßige Behauptung gegen informelle/rechtswidrige Erwartungen, die normativ zu bewährende Erwartungen widersprechen) geschützt wird. Aus der Differenz von Selbstreproduktion und Strukturentwicklung ergibt sich, dass das Verhältnis zwischen Struktur und Ereignis auch ein Verhältnis zwischen Reversibilität und Irreversibilität ist. Ereignisse drücken, weil deren Identität an einen Zeitpunkt gebunden ist, die Irreversibilität der Zeit aus 371, während Strukturen die Zeit für reversibel festhalten. Strukturen garantieren trotz der Irreversibilität der Ereignisse eine Sinnebene, auf der kommunikative Anschlüsse nicht nur vorbereit, sondern auch geändert, variiert werden können. Denn Änderbarkeit setzt voraus, dass es eine Ebene von relativ dauerhaften Relationierungen gibt, die gerade wegen ihrer Dauer Zeit für Änderungen zur Verfügung stellen. Auf der Ebene der Erwartungen, nicht auf der Ebene seiner Ereignissen, ist ein

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Für Luhmann können sich in Gesellschaftssystemen Immunosysteme ausdifferenzieren, die die Selbstreproduktion des Systems unter sich ändernden Erwartungsstrukturen garantieren (ibidem, S. 504ff). „Soziale Immunologie“ heißt also nicht Erhaltung der attackierten Strukturen, sondern vielmehr konditioniertes Akzeptieren brauchbarer Änderungen. In der modernen Gesellschaft wird diese Immunofunktion durch das Rechtssystem erfüllt (ibidem, S. 509ff). 368 Aus soziologischer Perspektive muss die Logik, so Luhamnn, nicht als ein System von Regeln, die der Beseitigung von Widersprüchen dient: „Unter Logik ließe sich ein System von Regeln verstehen, das die Konstitution von Widersprüchen konditioniert. Das positive Leitbild der Logik, ein widerspruchsfreies Denkgebäude aufzuführen, wäre danach der Negativabzug ihrer Funktion, sozusagen ein notwendiges Nebenprodukt auf dem Weg der Erfüllung ihrer Funktion der Konditionierung von Widersprüchen“(ibidem, S. 495-496). Und dieser Logikbegriff liegt der Luhmannschen Sozialtheorie zugrunde: „Wenn das soziale Leben selbst nicht logisch sauber arbeitet, lässt sich auch eine Theorie des Sozialen nicht logisch widerspruchsfrei formulieren“(ibidem, S. 491). 369 Ibidem, S. 494. 370 Ibidem, S. 542. 371 Ibidem, S. 472.

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System lernfähig, ist es also in der Lage, Festlegungen wieder aufzulösen, sich externen oder internen Veränderungen anzupassen 372. Der Zusammenhang von Ungleichheit und Karriere, den wir als Schritt zu einer Neudefinition des Ungleichheitsbegriffs im Kontext einer Theorie funktionaler Differenzierung gewählt haben, kann gewissermaßen unter dem Gesichtspunkt einer Erweiterung des Kontingenzbewusstseins von Strukturen betrachtet werden. Mit anderen Worten: Die Umstellung der Strukturierung der Ungleichheit von Herkunft auf Karrieren hat zur Folge, dass Individuen, um sozial relevant zu sein, sich auf die Kontingenz von Strukturen vorbereiten müssen: Als soziale Zwangsläufigkeit entstehen Karrieren dadurch, dass Geburt, häusliche Sozialisation und schichtmäßige Lage nicht mehr ausreichen, um den Normalverlauf des Lebens erwartbar zu machen 373. Das heißt: Wer auf die Temporalisierung von Strukturen, auf die Rekonstruktion von Erwartungen im Kontext kontingenter und unerwarteter Ereignisse, also auf Strukturänderung nicht vorbereit ist, hat keine vielversprechende Karriere in Aussicht. Eine Vorwegdisposition für den Fall, dass Erwartungsstrukturen enttäuschet werden, wird somit zu einer entscheidenden Ressource. Man kann vermuten, dass je mehr Herkunftspositionen auf diese Vorwegdisposition für Erwartungsunsicherheit eingestellt werden, desto karrieregünstiger sind sie. Damit stehen wir erneut vor dem Problem, das die in dieser Arbeit angestrebte begriffliche Definition katalysieren soll: Soziale Ungleichheiten, sogar und gerade diejenigen Ungleichheiten, die sich dadurch auszeichnen, dass sie auf die Zuordnung einer Mehrheit von funktionssystemspezifischen Codewerten einzuwirken scheinen, können auf die Reproduktionskraft von Strukturen nicht zurückgeführt werden. Der Grund dafür ist, dass der individuelle Zugang zu unterschiedlichen, teilsystemspezifischen Medien im Lebensverlauf den Umgang mit Kontingenz von Strukturen bzw. die Vorbereitung auf strukturelle Diskontinuitäten zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen voraussetzt. Das gilt auch für intergenerationelle Mobilitätsprozesse, in denen die Konvertierbarkeit von Ressourcen sichtbarer wird. Unser Vorschlag lautet: Wir müssen den Begriff der strukturierten sozialen Ungleichheit durch die Differenz Ereignis/Struktur definieren. So wird nicht nur die intergenerationelle Weitergabe ungleicher Lebenschancen, sondern auch die lebenslaufbezogene Ungleichheit von Lebenschancen des Einzelnen auf eine temporalisierte Strukturierung verwiesen, d. h., auf das zirkuläre Verhältnis zwischen Ereignis und Struktur, wobei die Konstruktion und die Rekonstruktion ungleichheitsrelevanter Erwartungsstrukturen immer in Abhängigkeit von ereignishaften Operationen beobachtet werden. Mann kann deshalb dies als operativ/strukturierte Ungleichheit bezeichnen. Im Mittelpunkt unserer Definition steht nicht die Beobachtung, dass es Ungleichheit gibt und 372 373

Ibidem. LUHMANN, Niklas (1994): „Copierte Existenz und Karriere“, S. 195.

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dass sie häufig auf die Inklusionschancen in verschiedenen Funktionssystemen einwirken. Entscheidend hier ist vielmehr die Beobachtung, dass Ungleichheit nur operativ strukturiert wird, dass Ungleichheitsstrukturen Bezugspunkte der Systemoperationen sind, die im temporalisierten operativen Vollzug der Systemexistenz konstruiert und rekonstruiert werden können. Auch und gerade die Bedeutung der Vergangenheit und die Konstruktion der Zukunft individueller Lebensläufe sind ungleichheitsrelevante Strukturmomente, die nur in der operativen Gegenwart sozialer Systeme existieren. Die entscheidende Frage, die sich aus dieser Definition ergibt, ist, wie das Verhältnis von Person und Gesellschaft Ungleichheit zwischen Personen erzeugt und reproduziert. Die Annahme, dass sie durch die Platzierung von Individuen in einer gesellschaftlichen Ungleichheitsstruktur hervorgebracht wird, ist eine mehr oder weniger tautologische Antwort, die dazu tendiert, eben das zu verbergen, was eine operative Sozialtheorie beobachten will: die operative Konstruktion von Strukturen als Korrelat der Strukturierung von Operationen. Der Begriff von „operativ/strukturierter sozialer Ungleichheit“ bedeutet gerade, dass jede Platzierung von Individuen als kontingent beobachtet wird. Hier geht es um ein theoretisches Instrumentarium, das es uns erlaubt, die Ungleichheit zwischen Personen als eine temporalisierte Konstruktion von sozialen Adressen zu definieren, die dazu dienen, Kommunikationsmöglichkeiten auf Individuen ungleich zuzurechnen und damit den Fortgang von Kommunikation zu Kommunikation erwartbar zu machen. Unsere Antwort auf die obige Frage lautet: Soziale Ungleichheit zwischen Personen wird durch Adressierung von Individuen erzeugt. Mit dem Begriff der Adressierung ist die Tatsache gemeint, dass jedes Sozialsystem genötigt ist, Identitäten zu entwerfen, denen Kommunikationsfähigkeit zugerechnet wird 374. Es kommt darauf an, durch Zurechnung von Kommunikationsfähigkeit, also durch die Konstruktion von sozialen Adressen, Anschlüsse für weitere Kommunikation zu finden. In der Systemtheorie wird Kommunikationsfähigkeit als ein Konstrukt sozialer Systemen aufgefasst. Es wird davon ausgegangen, dass psychische Systeme Umwelt sozialer Systemen sind und dass zwischen ihnen strukturelle Kopplungen bestehen, welche wiederum die wechselseitige Leistungsabhängigkeit und Irritabilität beider Systeme strukturieren. Deshalb muss man auch die Vorstellung aufgeben, dass die Existenz von Kommunikationsfähigkeit einer bestimmten psychischen Begabung entspricht, obwohl Kommunikation ohne Beteiligung psychischer Systemen unmöglich ist 375. Welche Abstützung in den psychischen Systemen Kommunikationssystemen auch immer brauchen, kommt Kommunikationsfähigkeit aber erst dadurch zustande, dass auf jemanden/etwas Mitteilungsverhalten zugerechnet wird, der/was in der 374 FUCHS, Peter (1997): „Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie“. In: Soziale Systeme 3 (1997), S. 57-79. 375 LUHMANN, Niklas (2001): „Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?“ In: Ders.: Aufsätze und Reden, hg. v. JAHRAUS, Oliver. Stuttgart: Reclam Universal Bibliothek, S. 114.

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Kommunikation unabhängig von seiner Binnenorganisation (z. B. von psychischen Operationen) als soziale Adresse angesprochen werden kann. Jede Operation eines sozialen Systems bleibt, schon weil sie nichts anderes ist als ein Emergenzphänomen, eine „eigenständige Selektivität“ 376, die, indem sie auf die Teilnehmer zurückprojiziert wird, der psychischen Erfahrung der doppelten Kontingenz einen Halt gibt, auf Leistungen des psychischen Systems angewiesen. Soziale und psychische Systeme co-evoluieren und durch ihre Co-evolution – besonders durch die Evolution von Kommunikationsmedien – verändert sich auch diese wechselseitige Leistungsabhängigkeit. Mit der Auflösung der vormodernen dinghaft konzipierten Vorstellung, Menschen seien ein Sonderding mit einem schichtungsmäßigen Vorrat von Eigenschaften und Verhaltensmöglichkeiten, gewinnt sogar die Problematisierung der Leistungsmöglichkeiten von psychischen Systemen an Bedeutung. An die Stelle einer typenfesten, unproblematischen kommunikativen Beteiligung von psychischen Systemen tritt dann das Problem der „subjektiven Innerlichkeit“, der Andersartigkeit der Perspektiven auf die Welt. Diese Analogie von eigenem und fremdem Bewusstsein ist jedoch selbst ein Ergebnis der Evolution und der Differenzierung der Sinndimensionen. Nur wenn und nur in dem Maße, als es in der Kommunikation selbst möglich wird, zwischen Subjekten und Objekten, Personen und Dingen, Sozialdimension und Sachdimension zu unterscheiden, wird die Inkongruenz der Perspektiven zum Problem 377: Als Ergebnis ist eine Art De-naturalisierung der Sozialdimension zu beobachten, die der Selbstreflexion der Gesellschaft als Kommunikationssystem zugute kommen kann 378. In diesem Zusammenhang wird zwar mehr und mehr über subjektive Einstellungen kommuniziert, die man präsentieren muss, um als ansprechbare soziale Adresse behandelt zu werden. Wohlgemerkt handelt es sich dabei um die soziale bzw. kommunikative „Entdeckung“, oder vielleicht besser, um die soziale Erfindung von Einstellungen (Motiven, Absichten, Ansprüche) als Kriterien für die Konstruktion von sozialen Adressen, für Zurechnungen von Kommunikationsfähigkeit auf Individuen. Auch die Überprüfung von psychischen Vermögen wie das Lesenkönnen bedeutet gerade nicht, dass Kommunikationsfähigkeit als das Vorliegen dieses Vermögens definiert werden kann. Kommunikationsfähigkeiten 376

LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 413. LUHMANN, Niklas (2001): „Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?“, S. 128. 378 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 766. Mit der DeNaturalisierung der Sozialdimension verbindet sich eine „De-Sozialisation“ der Welt, die es nicht mehr erlaubt, nicht-menschliche Wesen als soziale Adressen zu behandeln. Vgl. dazu LUHMANN, Niklas (1992): Funktion der Religion, S. 95. Der Terminus „De-Sozialisation“ der Welt wurde von Thomas Luckmann formuliert. Vgl. dazu LUCKMANN, Thomas (1970): „On the Boundaries of the Social World”. In: NATASON, Maurice (Hg): Phenomelogy and Social Reality: Essays in Memory of Alfred Schutz. Haag: Martiuns Nijhoff, S. 73-100.

377

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sind Erwartungsstrukturen, die, um Anschlusskommunikationen ermöglichen zu können, adressiert werden müssen 379. Da jede Kommunikation aus der Differenz zwischen Mitteilung und Information resultiert, und da Anschlusskommunikation nur beim Verstehen dieser Differenz zu erreichen ist, besteht die Aufgabe der Adressierung von Erwartungsstrukturen eben darin, Weltvorkommnisse irgendwelcher Art – was individuelles Verhalten einschließt, aber auf es nicht reduziert werden kann – als Mitteilungen zu bezeichnen, die sich damit dann von der mitgeteilten Information unterschieden werden 380 . Jemand/Etwas muss begriffen werden als Quelle einer Äußerung, einer Verlautbarung, sodass weitere Kommunikationen sich auf der Identität solcher Quelle von Mitteilungserwartungen stützen können 381. Für die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit ist von Bedeutung, dass die Konstruktion sozialer Adresse eine Art temporalisierter Strukturbildung darstellt, die kommunikative Anschlussfähigkeit auf Motive individueller psychischer Systeme zurechnet und damit sie auf dem Bildschirm sozialer Systeme als Personen erscheinen lässt. Es handelt sich bei Personen also um individuell zugerechnete Verhaltenserwartungen, die nur durch die jeweilige Person erfüllt oder enttäuscht werden können. In der funktional differenzierten Gesellschaft kann die Bildung individuell zugerechneter Verhaltenserwartungen nicht mehr durch eine allumfassende Systemzugehörigkeit gesichert werden, die wie die vormoderne Schichtzugehörigkeit lebenslange kommunikative Anschlussfähigkeit erzeugen konnte. Damit Individuen für die ausdifferenzierten Teilsysteme, in denen grundverschiedene individuelle Verhaltensweisen erwartet werden, anschlussfähig werden und bleiben, müssen sind in der Lage sein, im Lauf des Lebens durch Verhaltenserwartungen geformt zu werden, die für die sich öffnenden Inklusionschancen erforderlich werden. Ebendaher wird die Konstruktion von Personen als aktuell auf Individuen zugerechnete Verhaltensmöglichkeiten temporalisiert. Was man als Person ist, wird in jeder Teilnahme an Kommunikation mitbestimmt. Anders gesagt: Die soziale Adresse eines psychischen Individuums wird in jeder sozialen Situation, in der ihm bestimmte kommunikative Kompetenzen attribuiert werden, konstruiert, bestätigt, geändert oder dekonstruiert. Diese Temporalisierung der Konstruktion von Sozialstrukturen setzt seitens der Individuen die Antizipation von Fremderwartungen voraus, vor allem von denjenigen Fremderwartungen, die für Besetzung von Positionen in Organisationen erforderlich sind. Diese Antizipation nimmt die Form einer Übereinstimmung zwischen Selbstselektion und Fremdselektion an, wobei Selbstselektion über die Auswahl und die Einschränkung von Vergleichsmöglichkeiten und 379

LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S.415. FUCHS, Peter (1999): „Moderne Identität - im Blick auf das europäische Mittelalter“. In: WILLEMS, Herbert/HAHN, Alois (Hg): Identität und Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 276. 381 LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 426 ff. 380

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Fremdselektion über Annahme/Ablehnung der Selbstselektion im kommunikativen Kontext erfolgt. Dabei wird die Vorbereitung auf die Besetzung von Positionen in Organisationen zu einer notwendigen Bedingung für die Stabilisierung von Inklusionschancen in die Funktionssysteme. Was soziale Ungleichheit anbelangt, heißt es, dass der Zugang zu weiteren Inklusionschancen von den Positionen, die Personen aktuell okkupieren, abhängig sind. Das liegt nicht nur an den organisatorischen Hierarchien, die den Zugang zu einer Stelle durch die aktuell besetzten konditionieren; sondern auch daran, dass Personen selbst durch die Okkupierung von Positionen neu geformt werden, und zwar in dem Sinne, dass Positionen in Organisationen neben den formal definierten Verhaltenserwartungen fast immer einen Spielraum für die Konstruktion informeller Verhaltenserwartungen zur Verfügung stellen, die von Individuen als Teil ihrer Verhaltensmöglichkeiten benutzt werden 382. Sie können z. B den Raum von Informalität als Vorfeld für Entscheidungen über die Rekrutierung von Personal benutzen und dabei informelle Verhaltenserwartungen als „Entscheidungsprämisse“ durchsetzen. Entscheidend ist, dass diese informelle Verhaltenserwartungen zu den individuell attribuierten Verhaltensmöglichkeiten zählen können, die Luhmann als Person definiert. Auch der Raum von Vergleichen, mit denen man plausible Inklusionsmöglichkeiten erkennt, wird durch den Zugang zu formalen Positionen verändert. Personen, mit denen man sich nie verglichen hatte, sowie Inklusionsmöglichkeiten (z. B: Publikationen in bestimmten Zeitschriften), die zuvor als unplausibel erschienen, können vergleichbar mit der eigenen sozialen Person bzw. mit den eigenen (neuen) Inklusionsmöglichkeiten werden. Also: Die soziale Adressabilität von Individuen, ihr Personstatus, wird stärk durch ihre organisatorische Positionen mitgeprägt.

382

Dazu PAETZ, Stephan (2010): Der Begriff der Organisation in der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns. Bacherlorarbeit. Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt Universität zu Berlin. Berlin

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3 Die Kopplung von Ungleichheiten In diesem Kapitel wird analysiert, wie die Interdependenzbeziehungen zwischen den Funktionssystemen Interdependenzen zwischen den individuellen Inklusionschancen in diesen Funktionssystemen ermöglichen. Hierbei spielen Organisationen eine entscheidende Rolle. Die Konstruktion von Inklusionschancen in einem Funktionssystem hängt direkt mit der Zuordnung seiner Codewerte zusammen. Was soziale Ungleichheit angeht, wird hier zunächst an die Kumulation von Mediencodes gedacht 383, die funktionssysteminterne Ungleichheiten erzeugt. So heißt es bei Stichweh 384: In den Codes aller Funktionssysteme scheint es Effektkumulationen zu geben, die damit zu tun haben, dass dort, wo bestimmte Leistungen einmal erbracht worden sind, die Wiederholbarkeit von Leistungsfähigkeit vermutet wird und diese Vermutung funktionssystemspezifische Matthäus-Effekte erzeugen, die gerade dort, wo Macht oder Zahlungsfähigkeit verausgabt worden sind, die Regeneration der jeweiligen kommunikativen Fähigkeit erleichtern. Das Hauptmotiv der Ungleichheitsforschung sind jedoch nicht diese bereichsspezifischen Ungleichheiten, die übrigens gerade aufgrund ihres isolierten Charakters immer als bereits „unproblematische“, d. h. spontan legitimierte Ungleichheiten erscheinen. Es ist vielmehr die wechselseitige Verstärkung unterschiedlicher Ungleichheiten, die die Legitimität der Ungleichheitsforschung ebenso wie ihren gesellschaftskritischen Antrieb begründet hat. Die kritische Ablehnung der Selbstbeschreibungen funktionaler Teilsysteme, auf die die Ungleichheitsforschung abzielt, setzt voraus, dass sie die Kumulation bzw. die wechselseitige Verstärkung teilsystemspezifischer Ungleichheiten sichtbar macht. Dies geschieht, indem die teilsystemischen Selbstbeschreibungen, die systeminterne Ungleichheiten rein auf individuelle Leistungen zurechnen und damit den Einfluss externer Faktoren invisibilisieren, durch eine wissenschaftliche Fremdbeschreibung infrage gestellt werden. Diese Aussage kann gewissermaßen als eine Selbstverständlichkeit desjenigen Forschungsgebietes angesehen werden, und zwar umso mehr, je unproblematischer die gegenseitige Verstärkung bereichsspezifischer Ungleichheiten zu sein scheint. So wird davon ausgegangen, dass es eine Struktur sozialer Ungleichheit gibt, die eben aus der Verbindung unterschiedlicher Ungleichheiten (beispielsweise Einkommen, Bildung, berufliche Stellung) besteht und die zugleich in der Lage ist, die eigene Reproduktion voranzutreiben oder dies zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit tut. Die Kon383

GALINDO, Jorge (2006): Zwischen Notwendigkeit und Kontingenz, S. 18 STICHWEH, Rudolf (2004):. „Zum Verhältnis von Differenzierungstheorie und Ungleichheitsforschung. Am Beispiel der Systemtheorie der Exklusion“: In: SCHWINN, Thomas (Hg): Differenzierung und soziale Ungleichheit: die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt a. M.: Humanities Online, S. 354. 384

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tingenz von Sozialstrukturen wird damit ausgeblendet. Im Kontext der Theorie funktionaler Differenzierung besteht die Aufgabe der Ungleichheitsforschung darin, die Operationen in den Blick zu nehmen, die die wechselseitige Verstärkung funktionssystemspezifischer Ungleichheiten in Gang setzen. Der Ausgangspunkt ist hier also nicht die Bestimmung einer allumfassenden Struktur sozialer Ungleichheit, die solche Verstärkungsvorgänge von vornherein problemlos als notwendig erfassen lässt. Es wird im Gegenteil ihre Kontingenz vorausgesetzt. Die Kontingenz der Strukturen sozialer Ungleichheit ergibt sich daraus, dass der Einfluss externer Faktoren auf die Funktionssysteme nur möglich ist, wenn er durch die teilsystemischen Operationen zugelassen und in systeminterne Strukturen (Selbstorganisation) übersetzt wird. Trotzdem ist die wechselseitige Verstärkung bereichsspezifischer Ungleichheiten möglich und prägt die Evolution der modernen Gesellschaft. Das liegt daran, dass es zwischen den Funktionssystemen strukturelle Kopplungen gibt. Strukturelle Kopplungen ermöglichen es, dass der Zugang zu Ressourcen eines Funktionssystems den Zugang zu Ressourcen anderer erleichtert. Das ändert aber nichts daran, dass Operationen eines Funktionssystems nur durch andere Operationen desselben Systems strukturiert werden können. So strukturieren beispielsweise nur Zahlungsoperationen den Spielraum für weitere Zahlungsoperationen. Das heißt, auch die Wirksamkeit der strukturellen Kopplungen beruht auf der operativen Geschlossenheit der gekoppelten Systeme. Die Geldmenge, die der Staat ausgibt, um die Wirtschaft zu stimulieren, kann nur dann wirtschaftliche Operationen strukturieren, wenn die staatlichen Ausgaben in der Wirtschaft als Prämisse für neue Zahlungsoperationen angenommen werden. Der Strukturierungseffekt entsteht also nur in dem Moment, in dem die Ausgaben als genuine wirtschaftliche Operationen den Raum möglicher Anschlüsse begrenzen und damit das Chaos der Beliebigkeit der Selektionen von neuen Operationen überwinden. Auf diese Weise können die strukturellen Kopplungen die Strukturentwicklung von Politik und Wirtschaft durch die wechselseitige Leistungsabhängigkeit der beiden Funktionssysteme einigermaßen in Einklang bringen. Was sie nicht leisten können, ist eine Übertragung von Strukturen des einen Funktionssystems auf ein anderes. Die Verknüpfung bereichsspezifischer Ungleichheiten erfolgt nicht über eine strukturelle Kontinuität, sondern über Operationen, die vor dem Hintergrund einer notwendigen strukturellen Diskontinuität zwischen den ausdifferenzierten Funktionsbereichen vorteilhafte Strukturänderungen ermöglichen. Es handelt sich um Operationen, die die Teilnahme an einem Funktionssystem als Anlass zur Strukturierung von Kommunikationschancen in einem anderen Funktionsbereich nutzen. Beispielsweise erleichtert die politische Inklusion von Individuen als Burger eines Nationalstaates ihre Inklusionschancen in vielen anderen Bereichen (Erziehung, Gesundheitswesen, Sport etc.).

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Hierbei spielen Organisationen eine äußerst zentrale Rolle. Strukturelle Kopplungen zwischen Funktionssystemen werden durch Organisationen (Staat, Schule, Universitäten, Kirche, Unternehmen) eingerichtet. Die strukturelle Kopplung von Recht und Politik – die Verfassung – wird z. B. durch die Organisation des Staates konstruiert. Auch die Strukturen (Programme), die die Zuordnung der systemischen Codewerte regeln, werden durch den organisatorischen Komplex, der sich an den Kommunikationsformen der jeweiligen Funktionssysteme orientiert, ausgewählt. So werden die Operationen der Wirschaft durch Budgets strukturiert, die als organisatorische Entscheidungsprämisse (durch Unternehmen, Staaten, Banken etc.) festgelegt werden. Das Kapitel wird wie folgt gegliedert: Zunächst wird das Verhältnis von Organisation und funktionaler Differenzierung (3.1) analysiert. Danach (3.2) gehen wir auf die Rolle von Organisationen für die Herstellung und Verknüpfung von Ungleichheiten im Zugang zu Funktionssystemen sowie für die Programmierung ihrer Operationen ein. Im Anschluss (3.3) beschäftigen wir uns mit dem Wechselspiel zwischen formalen und informalen Erwartungsstrukturen für die Inklusion in Organisationen. Am Ende (3.5, 3.6 und 3.7) soll gezeigt werden, wie die Verknüpfung bereichsspezifischer Ungleichheiten im individuellen Lebensverlauf erfolgt.

3.1 Organisationen und funktionale Differenzierung Bevor wir die Rolle von Organisationen für die Herstellung und Verknüpfung von Ungleichheiten im Zugang zu Funktionssystemen analysieren, möchten wir zunächst das Verhältnis von Organisation und funktionaler Differenzierung erläutern. Obwohl korporative Organisationen bereits in vormodernen Ständegesellschaften, wie beispielsweise dem europäischen Mittelalter, eine wichtige Rolle spielten, war es unter dem Primat der Stratifikation unmöglich, die sozialen Geschehnisse innerhalb solcher Korporationen von den schichtspezifischen Kommunikationen zu unterscheiden. Dementsprechend erschien ein organisiertes Sozialsystem, das seine Mitglieder nur partiell inkludiert, d. h. ohne die kommunikative Bezeichnung seiner ganzen Person, als unvorstellbar. Es gab kein kontingentes Mitgliedschaftsverhältnis, dessen Auflösung im Lebenslauf als eine erwartbare Operation möglich gewesen wäre. Als verbreitete Inklusionsform gab es nur das notwendige Zugehörigkeitsverhältnis; und dessen Auflösung in die Erwartungsstrukturen einer primär stratifizierten Gesellschaft zu installieren, würde eine zwangsläufige Kontingenzsetzung der Grundlagen dieser Ordnung bedeuten, was seinerseits den Übergang zu einer anderen Differenzierungsform schon voraussetzt. Aus diesem Grund betrachtet Luhmann die Verbreitung von

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Organisationen als Systemtypus eigener Art als Begleitphänomen im Übergang zur funktionalen Differenzierung Die Verbindung von Organisation und funktionaler Differenzierung liegt in der Normalisierung von Entscheidungssituationen, mit denen jeder Einzelne im Lauf seines Lebens konfrontiert wird, wenn die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Sozialsystem die Strukturierung des Lebenslaufs nicht monopolisieren kann. In dem Maße, wie die individuellen Lebensläufe nicht mehr in einem Zuge durch Haus und Familie bestimmt werden können, sondern durch Schulerziehung, Berufswahl, wie auch durch andere Entscheidungssituationen, unausweichlichen Diskontinuitätserfahrungen ausgesetzt werden, entsteht eine fruchtbare Konstellation für die soziale Konstruktion von Entscheidungsverhalten als attribuierte Wahloperationen. Die Selektionen, die sich daraus ergeben, können von Organisationen als Entscheidungsmöglichkeiten interpretiert werden, die der Heranwachsende nutzt, um sich eine Spezialausbildung, einen Beruf und einen Arbeitsplatz zu wählen […]. Organisationen setzen die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstbeschränkung im Sektor Ausbildung und Beruf voraus und nehmen nur das Ergebnis solcher Prozesse ab 385. Das konstitutive Verhältnis zwischen Entscheidungssituationen und Organisation wird – und nur deswegen existiert dieses Verhältnis – in den Operationen aktualisiert, mit denen die Organisation ihre Grenzen gegenüber der Umwelt erzeugt und aufrechterhält. Genau wie bei jeder systembildenden Grenzziehung bildet sich auch hier eine spezifisch geschnittene relevante Umwelt. Als Ergebnis der Systembildung muss die Umwelt als Fülle von lose gekoppelten Elementen auf dem Bildschirm des Systems auftauchen, das wiederum diese Elemente mit seinen eigenen Operationen in strikt gekoppelte Formen bringt. Eine für Organisationen relevante Umwelt besteht also aus Elementen, die auch als Entscheidungen interpretiert werden können. Die Systemgrenze wird schließlich gezogen, indem die lose gekoppelten Elemente ausschließlich dann als Systemoperationen behandelt werden, wenn sie sich der rekursiven Vernetzung, d. h. der strikten Kopplung von Operationen unterwerfen, also wenn man sie als Prämisse für weitere Operationen annimmt. Organisationen beobachten ihre Umwelt als eine von Entscheidungen bevölkerte Umwelt. Mit den eigenen Verkettungen von Entscheidungen, die als Entscheidungsprämisse füreinander fungieren, können sie zugleich eine interne Ordnung aufbauen. Die Umwelteinflüsse werden dabei nicht neutralisiert, denn Organisationen behandeln externe Entscheidungen als Anlass zur Erzeugung eigener Entscheidungen. Der soziale Sinn solcher Einflüsse jedoch hängt davon ab, ob und wie daran anschließende Entscheidungen dadurch ermöglicht und eingeschränkt werden. Es ist gerade die Rekursivität der Elemente, und nicht ihrer isolierten Beschaffenheit, die sie zu Systemelementen 385

LUHMANN, Niklas (1981): „Organisation und Entscheidung“. In: Ders. Soziologische Aufklärung 3. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1981, S. 361.

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macht. Folgerichtig liegt die Grenzziehung in der Selektivität der Verknüpfungen zwischen den Elementen. Dieses Ordnen von Entscheidungssituationen, das zur Emergenz eines Organisationssystems führt, beginnt „mit der Suche nach Vorentscheidungen, die den Entscheidungsspielraum limitieren; und das veranlasst die Organisation, von Entscheidungen ihrer Umwelt auszugehen“ 386. Die Umwelt wird durch strukturelle Kopplungen selektiv wahrgenommen, wobei das System sowohl Personen als auch andere Organisationen als Einheit für die Zurechnung von Entscheidungen beobachtet, die den Raum von Anschlussoperationen einschränken. Das durch strukturelle Kopplungen ermöglichte selektive Verhältnis zur Umwelt und die operative Geschlossenheit des Systems setzen einander voraus. Bei der Ordnungsbildung in Entscheidungssituationen, also bei der Konstruktion von Organisationssystemen, findet ein selektiver Zugriff auf Personen statt. Bei diesem selektiven Zugriff wird ihr Verhalten als eine Entscheidung interpretiert, wobei keine Rücksicht darauf genommen wird, ob eine „subjektive Sinngebung“ diese Unterstellung begleitet und bestätigt oder nicht. Der soziale Sinn von Entscheidungen wird bereits in dem Moment festgelegt, in dem Zurechnungsoperationen, von der „Qualität“ des daran beteiligten Bewusstseinszustandes abstrahierend, es erlauben, menschliches Verhalten als Entscheidung zu beobachten und diese Beobachtung als Prämisse für weitere Entscheidungen anzunehmen. Es ist an dieser Stelle wichtig anzumerken, dass diese semantische Konstruktion einer Entscheidung eine gleichzeitige Strukturierung der Systemoperationen bewirkt. Obwohl diese Konstruktion nur nachträglich auf das Verhalten Bezug nehmen kann, um es als getroffene Entscheidung zu bezeichnen, ist sie für die Systemoperationen gerade deshalb konstitutiv, weil neue Entscheidungen sich an das Zugrechnungsergebnis anschließen können. Wenn die Fiktion als Prämisse für weiteres Verhalten akzeptiert wird, wird sie zur sozialen Wirklichkeit. Dass organisierte Sozialsysteme, deren autopoietische Selbstreproduktion über die sinnhafte und rekursive Konstruktion von Entscheidungen aus Entscheidungen erfolgt, die Produktions_und Reproduktionsweise sozialer Ungleichheit charakterisieren, hat vor allem damit zu tun, dass Entscheidungssituationen eine eigentümliche Individualisierung der Zugänge zu den wichtigsten gesellschaftlichen Ressourcen herstellen. Waren die Ungleichheiten vormoderner Gesellschaften wegen ihres natürlichen und selbstverständlichen Charakters in ihrer Sichtbarkeit gerechtfertigt und als notwendige Prämisse für das soziale Leben anerkannt, ist die Legitimierung der modernen sozialen Ungleichheiten gerade auf die Unsichtbarkeit ihrer wechselseitigen Verstärkung in den Operationen, von denen diese Verstärkung abhängt, angewiesen. Anders gesagt: Die gesellschaftlichen Teilsysteme benötigen die Invisibilisierung des Einflusses externer Un386

Ibidem, S. 359.

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gleichheiten auf die eigenen Operationen, um die eigenen Ungleichheiten zu legitimieren. Man kann diesen Einfluss beobachten und die Interdependenzunterbrechungen zwischen den Funktionsbereichen als bloße Ideologie entlarven. So sehr derartige entlarvende Beobachtungen die Wirklichkeit irritieren können, so sehr gilt auch, dass Entscheidungen es ermöglichen, die Isolation von individuell zugerechneten Leistungen als Prämisse für weitere Entscheidungen zu institutionalisieren. Der Grund dafür liegt darin, dass Entscheidungen die Herkunftseffekte durch individualisierende Zurechnungen invisibilisieren: Da jede Entscheidung eine Diskontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft unterstellt und als Prämisse für neue Operationen festlegt, als ob die Vergangenheit durch die Projektion der Zukunft in ihrem Einfluss neutralisiert werden könnte, muss jeder Herkunftseffekt die Form individueller Leistung annehmen. Diese Metamorphose kommt durch Entscheidungen zustande, und zwar als eine Zumutung an das Individuum, durch das eigene Verhalten die Herkunftsvorteile bzw. Nachteile als individuelle Leistung zu präsentieren und sich selbst als Zurechnungspunkt für die Allokation der positiven bzw. der negativen Werte der Codes einer Entscheidungssituation zu unterwerfen. Im Anwendungsbereich solch individualisierter Zurechnungsweisen können die Herkunftseffekte nur verdeckt wirken. Luhmann unterscheidet zwei historische Momente in der Verbreitung von Organisationen. Das erste Moment ist durch die Angewiesenheit der funktionalen Differenzierung auf eine Lösung für das Problem der Strukturierung des Lebenslaufs in einer Gesellschaft charakterisiert, in der Herkunft, Haus und Familie als Quellen von Erwartungen nicht mehr ausreichen. Die Teilnahme an den Kommunikationsformen unterschiedlicher Funktionssysteme setzt die Individuen einer Erfahrung von Diskontinuität der Strukturierung ihres Verhaltens aus, weil die Inklusion in jedem Funktionssystem der Erfüllung grundverschiedener Verhaltenserwartungen entspricht. Diese Erfahrung von Diskontinuität wird dadurch amplifiziert, dass die Interaktion unter Anwesenden nicht mehr als Prinzip von Synchronisation des sozialen Geschehens gelten kann, weil die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien die Kommunikation unter Abwesenden als Synchronisationshorizonte etabliert haben. Wenn die Kommunikationschancen eines Individuums vom Zugang zu diesen Medien abhängig gemacht werden, so reicht ein Muster von Interaktionen unter Anwesenden, das in stratifizierten Gesellschaften ein hierarchisches Muster nach Maßgabe von notwendigen Zugehörigkeitsverhältnissen sein musste, nicht mehr aus, um Inklusion zu sichern. Der Übergang zum Primat funktionaler Differenzierung führt auf der Ebene individueller Lebensläufe dazu, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer Schicht keine Sicherheit mehr für die Teilnahme an den gesellschaftlich relevanten Kommunikationen bieten kann. Ob man als Person bezeichnet wird oder nicht, hängt nun primär von Zurechnungskriterien ab, die nicht als schichtspezifische, sondern als funktionsspezifische Kriterien definiert werden. Schichtung kann in 130

diesem Kontext nur noch auf ein vorteilhaftes (oder unvorteilhaftes) Verhältnis zu Kriterien der Personalselektion bezogen werden, wie beispielsweise die Affinität zwischen dem, was man zu Hause lernt, und dem, was man in Schulorganisationen leisten muss. Die Herkunft allein erzeugt keine Schichtung mehr, sie bringt aber ungleiche Vorbereitungschancen auf das spätere Leben hervor. Gemeint ist damit, dass ein Zugehörigkeitsverhältnis, welches sich nicht auf funktional differenzierte Inklusionsmöglichkeiten umstellen lässt, und nicht auf die Differenzierung von Kompetenzen für die Inklusion in unterschiedlichen Funktionsystemen vorbereitet, eine Schlechterstellung bedeutet. Es muss an dieser Stelle der Unterschied zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft betont werden, vor allem weil er konstitutiv mit dem Entscheidungsbegriff verbunden ist. Ist man Mitglied einer Organisation, so ist man in der Lage, Kommunikationschancen durch das Erzeugen einer Synchronisationsleistung mit der Zukunft 387 zu erbringen, denn damit werden Prämissen für weiteres Entscheiden festgelegt. Andere Organisationen können diese Prämissen entweder annehmen oder ablehnen, mit der Folge, dass Inklusion immer unsicher ist. Bei Zugehörigkeitsverhältnissen dagegen hat man mit Prämissen zu tun, die überall (gesamtgesellschaftlich) angenommen werden. In diesem ersten Moment entsteht Organisation als Antwort auf das Problem der Fernsynchronisation, d. h. der Sicherung von Kommunikationschancen in einer Gesellschaft, in der die Erwartungsstrukturen mehr und mehr als kontingent gelten. Das bedeutet einen erhöhten Entscheidungsbedarf in den ausdifferenzierten Funktionssystemen 388. Um einige Beispiele hierfür zu nennen: In der Wirtschaft braucht man Entscheidungen über die Allokation von Geldüberschüssen sowie über Arbeitsverträge, in der Politik muss Kollektivbindung auch durch Entscheidungen erzeugt und gesichert werden, bereits mit der Reformation musste religiöse Konfession als Gegenstand der Entscheidung behandelt werden und das Rechtssystem schließlich unterstellt gerade die Selbstständigkeit im Entscheidungsverhalten als Voraussetzung für die Erhaltungs– und Fortsetzungsbedingungen der Lebensführung in einem Kontext, in dem Mitgliedschaft als Inklusionsform in den Vordergrund gerückt wird. Das zweite Moment zeichnet sich dagegen gerade dadurch aus, dass Organisationen aufgrund der Tatsache entstehen, dass es in ihrer Umwelt schon Organisationen gibt und sie zur Vermehrung neigen. Heute hat diese sekundäre Form der Organisationsgenese sich durchgesetzt. Das Bestehen von Organisation ist unerlässlich Voraussetzung, ja Hauptmotiv für das Entstehen von Organisationen geworden […] Verbände und Interessenvertretungen gründen sich auf die Voraussetzung entscheidungsfähiger

387 388

LUHMANN, Niklas (1990): „Gleichzeitigkeit und Synchronisation“, S. 95-130. LUHMANN, Niklas (1981): „Organisation und Entscheidung, S.361.

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Organisationen in ihrer Umwelt, die es ihnen möglich machen, über Kooperation oder Konflikte zu entscheiden 389. Der Zusammenhang von Organisation und funktionaler Differenzierung wird in diesem zweiten Moment zu einem Form/Medium-Verhältnis, welches allerdings je nach Funktionssystem eingeschränkt oder freigesetzt werden kann 390 . Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Momenten liegt darin, dass sich Organisationen jetzt in einer Umwelt bilden, die schon durch die Zirkulation eines funktional spezialisierten Kommunikationsmediums bestimmt ist. Zirkulation heißt hier gerade, dass ein Überschuss an operativen Möglichkeiten und an lose gekoppelten Elementen zur Verfügung steht, die unter bestimmten strukturierten Bedingungen realisiert werden können oder auch nicht. Wichtig ist, dass die Differenz zwischen Aktualisierung und Potentialisierung bei jeder neuen Aktualisierung reproduziert wird, und damit auch die Differenz von Form/Medium. Die Zirkulation des entsprechenden Mediums wird gerade dadurch reproduziert, dass die Vermehrung von Organisationen dazu beiträgt, dass eine organisierte Kontrolle der Umweltereignisse, die die Menge von voneinander unabhängigen Elementen bis zur Vernichtung der zwischen ihnen bestehenden lose Kopplung reduzieren könnte, als aussichtslos erscheint. So wird die Umwelt sowohl als eine von anderen Organisationen bevölkerte Umwelt wie auch als ein Ort der Regenerierung des Mediums beobachtet. Dies geschieht deshalb, weil die dort operierenden Organisationen den Überschuss an nicht aktualisierten Möglichkeiten nicht nur verbrauchen, sondern auch wiederherstellen. Das Medium regeneriert sich durch die lose Kopplung zwischen seinen Elementen, denn nur die lose gekoppelten Elemente stehen zur Verfügung für die Konstruktion von neuen festen Kopplungen, d. h., für die Selektion neuer Formen 391. Die Regenerierung der lose gekoppelten Elemente erfolgt über die Bildung von Formen, die einige Möglichkeiten aktualisiert und andere potentialisiert. Wenn sich das Verhältnis von Organisation und funktionaler Differenzierung als ein Verhältnis von Form und Medium betrachten lässt, bedeutet dies, dass Organisationen als Systeme operieren, die aus dem Überschuss an lose gekoppelten Ereignissen, die erst im Anwendungsreich eines funktional differenzierten 389

Ibidem, S. 361. LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 302 ff. Die Freisetzung des Verhältnisses zwischen Medium und Form, das sich in der Binnendifferenzierung von Funktionssystemen ausdrückt, ist stärker im Wirtschaftssystem, was mit dem größeren Auflösungs-und Rekombinationsvermögen des Mediums Geld zusammenhängt. 391 Die Unterscheidung von Medium und Form betrifft die Art, wie Elemente kombiniert werden, d .h., wie Komplexität entfaltet und organisiert wird: „Ein Medium kann Formen aufnehmen. Das Medium ist durch eine relativ lose Kopplung von Elementen charakterisiert, die Form dagegen stellt eine rigide und dadurch stärkere Kopplung her“(Ibidem, S. 303). Es geht aber immer um eine Unterscheidung. Denn das Medium „hält Formbarkeit bereit. Und ebenso ist eine Form immer Form in einem Medium, also an ihr selbst sichtbare Selektion“(Ibidem, S. 303). 390

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symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Ereignisse sein können, strikte gekoppelte Formen erzeugen. Daher ist die für Organisationen relevante Umwelt immer zugleich die interne Umwelt eines oder mehrerer Funktionssysteme, und die Binnendifferenzierung der meisten Funktionssysteme wird nicht zuletzt deshalb durch den Unterschied zwischen „organisierten“ und „nichtorganisierten Bereichen“ bestimmt. Der organisierte Bereich umfasst die durch rekursiv aneinander anschließende Entscheidungen strikt gekoppelter Formen, d. h, die Aktualisierung operativer Möglichkeiten eines Funktionssystems durch Organisationssysteme. Der nicht-organisierte Bereiche dagegen verweist auf die Menge von operativen Möglichkeiten, deren rekursiver Anschluss „noch nicht“ entschieden ist – oder nie stattfinden wird. Während der organisierte Bereich die bereits aktualisierten Operationen in ihren rekursiven Anschlüssen bezeichnet, geht es beim nicht-organisierten Bereich gerade um die „Mikrodiversität“ 392 von individuellen Ansprüchen, die auf funktional differenzierte Kommunikationen gerichtet sind. Mit anderen Worten: Es handelt sich vom organisierten Bereich her um ein Publikum von Individuen, wobei die Reproduktion und die Potentialisierung der darin liegenden Anschlussoperationen die Offenheit der Zukunft für die Evolution der Teilsysteme markiert. Mit Ausnahme von Intimbeziehungen gilt dieses Muster von Binnendifferenzierung für alle Funktionssysteme. In der Wirtschaft entspricht das Verhältnis von Medium und Form genau der Differenz zwischen dem Markt als interne Umwelt dieses Funktionssystems einerseits und allen Formen organisierten Kapitaleinsatzes andererseits 393. Der Markt ist der Ort der Regenerierung des Mediums Geld. Damit er diese Funktion überhaupt erfüllen kann, werden die Preise dort nicht von hoch organisierten Anbietern und Nachfragern definiert, sondern von der wechselseitigen Beobachtung zwischen dem „organisierten Bereich“ und dem anonymen Publikum. Es ist offensichtlich, dass man es hier zudem mit einer der wichtigsten Asymmetrien zu tun hat, die es in der funktional differenzierten Gesellschaft gibt: die Asymmetrie zwischen den „Leistungsrollen“, in denen über die Allokation von Codewerten entschieden wird, in denen man sozusagen „im Namen des Codes“ eines Funktionssystems sprechen darf, und den „Publikumsrollen“, in denen solche Entscheidungen zur Durchsetzung von Programmen zwar erlebt, aber nicht getroffen werden können. Beispielsweise setzt die Unterscheidung von funktionssystemischem Medium und Organisation im Wirtschaftssystem voraus, dass in einer voll ausdifferenzierten Geldwirtschaft Geld und Organisation aufeinander angewiesen sind so wie Auflösung und Rekombination. Das rigi-

392 393

LUHMANN, Niklas (1997): „Selbstorganisation und Mikrodiversität“, S. 23-32. LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 313.

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der gekoppelte Substrat (Organisation) beherrscht das loser gekoppelte Substrat 394. Anders als bei Bourdieu, der die Unterscheidung zwischen Organisation und Publikum mit der von Weber formulierten religionssoziologischen Dichotomie von „Spezialisten“ und „Laien“ verbindet, um seine Feldtheorie für Fragen der Macht und sozialen Ungleichheit offen zu halten, wird bei Luhmann diese für die Binnendifferenzierung der wichtigsten Funktionssysteme konstitutive Differenz mit solchen Fragen nicht verknüpft. Dies, obwohl die Annahme, „das rigider gekoppelte Substrat (Organisation)“ beherrsche das „loser gekoppelte Substrat“, genau auf diese Verknüpfung hinweist. Diesem Theoriestück des Verhältnisses von Form und Medium kam ein zunehmend wichtigerer Stellenwert innerhalb der Theorie Luhmanns zu. Es ist kein Zufall, dass die Beziehung zwischen funktionaler Differenzierung und Organisation als eine spezifische System-Umwelt-Beziehung im Rahmen dieses Verhältnisses analysiert wird, denn die Unterscheidung Form/Medium und die Differenz System/Umwelt können, so heißt es bei dem späten Luhmann, „sich wechselseitig begründen“ 395. Es besteht im Verhältnis von Form und Medium, ebenso wie in der Beziehung zwischen System und Umwelt, ein Komplexitätsgefälle: Das Medium ist komplexer als die Form und die Umwelt komplexer als das System. Medium und (die für ein System relevante) Umwelt stellen einen Überschuss an Möglichkeiten von anschlussfähigen Elementen dar. Eine Form wird durch die selektive Kopplung von Elementen in einem Medium gewonnen 396 und ein System reduziert durch seine Grenzziehung den Bereich dessen, was in ihm möglich ist. In beiden Fällen geht es immer um eine Differenz, wobei die Bezeichnung der einen Seite als Form bzw. als System ein Medium bzw. eine Umwelt voraussetzt. Medium und Umwelt seinerseits existieren auch nur in Bezug auf die selektiven Kopplungen bzw. Grenzziehungen, die durch Formbildung bzw. Systembildung vorgenommen werden. Das heißt: Die Bezeichnung von Etwas als Medium oder als Form, als System oder als Umwelt hängt davon ab, welche Selektion und Grenzziehungen man in den Blick nimmt. So kann eine Form, die sich durch die selektive Kopplung von Elementen eines Mediums durchsetzt, auch als Medium behandelt werden, wenn und soweit sie selbst als Element für weitere, auf höherer Ebene angesiedelte Formbildung fungiert. Voraussetzung dafür ist, dass die Formen, die als Elemente eines neuen Mediums behandelt werden sollen, massenhaft zur Verfügung stehen, damit sie die Anforderung eines Überschusses an operativen Möglichkeiten erfüllen können. Die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme sind Kommunikationsformen, die Luhmann als Ergebnis fester Kopplungen von Elementen des Mediums Sinn 394

Ibidem, S. 312. HUBER, Hans Dieter (1991): „Interwiew mit Niklas Luhmann“. In: Text zur Kunst N. 4 Vol 1. (1991), S. 121. 396 LUHMANN, Niklas (1998): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 169. 395

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betrachtet. Sie sind zugleich aber auch Medium für gesellschaftsinterne Systembildung auf der Organisations- und auf der Interaktionsebene 397. Zum einen bildet sich die Sinnform Kommunikation im Medium Sinn und zum anderen wird diese Sinnform zum Medium für weitere Formbildung, d. h, für weitere Systembildung innerhalb der Gesellschaft und ihrer Funktionssysteme: Das Medium, das die Gesellschaft schafft, sind Kommunikationsmöglichkeiten. Mit anderen Worten bietet die Gesellschaft die Möglichkeit konkrete Kommunikationen zu formen. Das Medium schränkt ein, welche Formen in ihr realisiert werden können, es legt aber keine konkreten Formen fest. In diesem Sinne sind in der Gesellschaft nur Kommunikationen möglich – und zum Beispiel keine Gedanken –, aber es wird keine bestimmte Kommunikation festgelegt 398. In einer geschichtlichen Perspektive sollte das „Medium Gesellschaft“ mit den Übergängen vom Primat einer Differenzierungsform zum Primat einer anderen verbunden werden. Die die Einheit einer Gesellschaft bestimmende primäre Differenzierungsform legt fest, welche Kommunikationsmöglichkeiten für die weitere Formbildung zur Verfügung stehen. Primat einer Differenzierungsform heißt, dass diese Differenzierungsform das Medium, also die lose gekoppelten Elemente, bereitstellt, von denen die Konstruktion jeder weiteren Kommunikationsform ausgehen muss. So stellt die Gesellschaft, um noch einmal an die Definition Nassehis 399 zu erinnern, den unhintergehbaren Horizont aller möglichen Kommunikationen dar. In diesem Kontext reproduziert jede Formbildung auch die Unerreichbarkeit dieses Horizontes mit, sodass keine Position in der Gesellschaft geschaffen werden kann, in der man ihn „von außen“ beobachten und als etwas bezeichnen kann, das auch anders möglich ist. Die Gesellschaft kann nur von innen beobachtet werden, d. h., mit den Kommunikationsmöglichkeiten, die sie selbst anbietet. Die Teilsysteme sind zwar in der Lage, andere Teilsysteme von außen zu beobachten, sie müssen jedoch von der Differenzierungsform ausgehen, die für sie als Teilsysteme konstitutiv sind. Die primäre Differenzierungsform bildet, anders formuliert, den blinden Fleck jeder möglichen Beobachtung. In der funktional differenzierten Gesellschaft heißt es: Die Differenzierung der Funktionssysteme bzw. ihrer Mediencodes erzeugt den Horizont aller möglichen Kommunikation und damit die unbeobachtbaren, unhintergehbaren und unerreichbaren Medien für die Konstruktion weiterer Kommunikationsformen und Beobachtungsmöglichkeiten. Während in vormodernen stratifizierten Gesellschaften die Unerreichbarkeit der primären Differenzierungsform auf den 397 SEIDL, David (2003): „Organisation im Medium der Kommunikation. Zum Verhältnis von Organisation, Gesellschaft und Interaktion in Luhmanns Theorie sozialer Systeme.“In: Münchner betriebswirtschaftliche Beiträge. Ludwig-Maximilians-Universität München. Munich School of Management, S. 1-27. 398 Ibidem, S. 8. 399 NASSEHI, Armin (2004): „Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik“, S. 102.

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„enttemporalisierten heiligen Grund“ bezogen war, der als eine Art „ewige Kausalität“ die Chain of Beeing 400 vor jeder Kontingenzsetzung schützen konnte, ist funktionale Differenzierung in der Moderne gerade deshalb unerreichbar, weil die gesamtgesellschaftliche Offenheit der Zukunft als „imaginärer Raum“ für die unabschließbare Regenerierung der operativen Möglichkeiten der Funktionssysteme fungiert. Genau in diesem Sinne haben wir oben den Primat funktionaler Differenzierung als eine „temporalisierte Notwendigkeit“ der Moderne definiert. In diesem Zusammenhang stellt der historisch durchgesetzte Primat funktionaler Differenzierung eine Pluralität von Medienkontexten, die mit der Ausdifferenzierung der Mediencodes korreliert. Dabei findet jedes Funktionssystem seine Einheit in seinem exklusiven Medium und erzeugt interne Varietät durch eine Mehrzahl von Organisationen, deren Entscheidungen an die Kopplung von Elementen, für die das Medium konstitutiv ist, gerichtet sind. Aber kein Funktionssystem kann organisiert werden, sonst wäre die Regenerierungsfähigkeit seines Mediums nicht mehr möglich, und damit einhergehend seine eigene Reproduktion. Die Einheit von Funktionssystemen (ebenso wie die Einheit der Gesellschaft) lässt sich nur als Entkopplung erfassen: Eine funktional differenzierte Gesellschaft reproduziert sich mit Hilfe der Differenz von Gesellschaft und Organisation, also aufgrund dieses Unterschiedes, also nicht als Organisation von Gesellschaft 401.

3.2 Die organisatorische Einschränkung von operativen Möglichkeiten der Funktionssysteme In diesem Abschnitt wird beschrieben, wie die operativen Möglichkeiten der Funktionssysteme durch Organisationen reduziert werden und wie diese Reduktion mit der Konstruktion von sozialen Adressen und der Strukturierung ungleicher Inklusionschancen in diesen Funktionssystemen zusammenhängt. Durch Organisationen können Ungleichheitsstrukturen die Programmierung der Funktionssysteme beeinflussen. Funktionale Differenzierung erzeugt in jedem gesellschaftlichen Teilsystem eine unstrukturierte Komplexität, die nur auf anderen Ebenen der Systembildung (Organisation und Interaktion) reduziert werden kann. Funktionale Differenzierung ist natürlich Reduktion von Komplexität, weil sie als die primäre Differenzierungsform, welche die Einheit der Gesellschaft als Sozialsystem eigener Art bestimmt, immer die realisierbaren Kommunikationsformen bereits durch die Ausdifferenzierung bestimmter Kommunikationsmedien einschränkt. Aber im 400 LOVEJOY, Arhur (1970): The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. Harvard: Harvard University Press. 401 LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 321.

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Zuge der ständigen Regenerierung des eigenen Mediums erzeugen die Funktionssysteme einen Überschuss an operativen Möglichkeiten, der durch ihre Einheit, d .h., ihre Mediencodes, nicht gebändigt werden kann. Diese unstrukturierte Komplexität wird zur Umwelt von Organisationen und Interaktionen und gewinnt eine strukturierte Form in den Operationen dieser Arten von Sozialsystemen 402. Die Gesellschaft garantiert nur die Reproduktion und die Verfügbarkeit des Mediums, was für alle Funktionssysteme mit ihren jeweiligen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien gilt. Die Organisationen wiederum bilden Formen im Medium Kommunikation d h., im Horizont eines Überschusses an für sie anschlussfähigen Kommunikationen. Sie entstehen also in einer innergesellschaftlichen Umwelt, die durch die Existenz und die Zirkulation symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien definiert ist: „Die Organisation muß die Leistungen der Gesellschaft voraussetzen, sie spezialisiert sich auf die Formbildung innerhalb des Kommunikationszusammenhangs“ 403. Vor dem Hintergrund dieses Verhältnisses zwischen funktionaler Differenzierung und Organisation wird verständlich, weshalb die Produktion und die Reproduktion sozialer Ungleichheit auch in der modernen Gesellschaft eine unentbehrliche Ordnungsleistung erbringt. Genau in diesem Punkt muss man mit Luhmann gegen Luhmann argumentieren. Fassen wir das Argument zusammen, um es durch das Wechselspiel von funktionaler Differenzierung und Organisation zu spezifizieren: Wenn 1) funktionale Differenzierung eine Umstellung von Systemdifferenzierung auf die Sachdimension darstellt, wenn 2) die damit vorangetriebene Differenzierung der Sinndimensionen (Sachdimension, Sozialdimension und Zeitdimension) eine einzige Strategie der Komplexitätsreduktion, die für alle Sinndimensionen verbindlich sein kann, nicht mehr zulässt 404, und wenn 3) die Bildung sozialer Ordnung als kommunikatives Sinnphänomen auf die Reduktion von Komplexität in allen Sinndimensionen angewiesen ist, dann wird deutlich, dass funktionale Systemdifferenzierung eben nur die Komplexität in der Sach402 SEIDL, David (2003): „Organisation im Medium der Kommunikation“, S. 9; GÖBEL, Markus (2001): „Die Rolle der Universitäten in der Ausdifferenzierung der Wissenschaft. Soziologie in Deutschland und in den USA“. In: TACKE, Veronika (Hg): Organisation und gesellschaftliche Differenzierung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 86. 403 SEIDL, David (2003): „Organisation im Medium der Kommunikation“, S. 15. 404 Dass man hier „Luhmann gegen Luhmann“ benutzen kann, wird gerade durch seine Beschreibung der Autonomisierung der Sinndimensionen ermöglicht: „Das Auflöse- und Rekombinationsvermögen in Bezug auf Sachverhalte nimmt ebenso zu wie der Umfang des historischen Bewußtseins, und im gleichen Zuge wächst das, was man als reflektierte soziale Sensibilität bezeichnen könnte. Dadurch wird es schwieriger, die Sinndimensionen noch miteinander zu vermitteln, und es drängt sich auf, Komplexität nur noch je nach Kontext als entweder sachliche oder zeitliche oder soziale Komplexität zu denken mit der Folge, daß die Reduktionsstrategien entsprechend diversifiziert werden“. LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 133-134. Wie oben festgestellt, hat Luhmann die Verbindung von Autonomisierung der Sinndimensionen und dem Übergang zu funktionaler Differenzierung nicht ausreichend thematisiert, was auch mit der Schwierigkeit einhergeht, der Frage nach der Bedeutung sozialer Ungleichheit für die funktional differenzierte Ordnung nachzugehen.

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dimension reduzieren kann. In diesem Kontext muss Komplexität in der Sozialdimension und in der Zeitdimension, da diese Sinndimensionen konstitutiv für jeden konkreten Sinn sind, mit jeweils spezifischen, auf sie bezogenen Strategien reduziert werden. Denn die sachliche Unterscheidung zwischen Funktionsbereichen bringt keine Unterstellung der Kongruenz bzw. Divergenz von Perspektiven in Bezug auf Verhaltenserwartungen (Sozialdimension) und auch keine Sinnfestlegung im Bereich der Differenz Vergangenheit und Zukunft (Zeitdimension) hervor. Zwar bilden die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, deren Differenzierung den differenzierten Horizont möglicher Kommunikationen darstellt, Zurechnungskonstellationen, in denen die Komplexität der Sozialdimension durch eine Verbindung zwischen der Unterscheidung von Handeln und Erleben und den Perspektiven von Alter und Ego reduziert wird. Aber es geht hier um interne Zurechnungskonstellationen, die das Zurechnungsproblem, wie und wem die eine oder die andere Seite eines jeden Mediencodes zugeordnet wird, nicht lösen können. Wer bekommt Geld und wer nicht, wer Recht und wer Unrecht? Wie sollen die Codewerte auf Personen bzw. Positionen in unterschiedlichen Funktionsbereichen verteilt werden und wie werden die inkongruenten Codierungen auf der Lebenslaufebene zeitlich geordnet? Die funktionale Differenzierung von Mediencodes bietet keine Antwort auf diese durch sich selbst erzeugten Fragen. Sie legt nur fest, dass bei der Zuordnung des positiven Werts auch der negative Wert zugeordnet wird. So wird im Kontext wirtschaftlicher Praxis durch den Eigentumscode (Haben/Nicht-haben) festgelegt, dass das Eigentum eines Individuums zugleich das Nichteigentum aller anderen ist. Der wirtschaftliche Mediencode stellt jedoch kein Zuordnungskriterium zur Verfügung, das die Verteilung von Eigentum auf Individuen strukturiert. Wenn die Lösungen in Strukturen liegen, die die Allokation der Codewerte orientieren (Programme), so haben wir es mit einer andersartigen Zurechnungsweise zu tun, deren Besonderheit die Einführung von externen Wertungen in die Operationen der Funktionssysteme ist. Solche Wertungen können sehr unterschiedlich sein, sie müssen aber die Komplexität der Sozialdimension zwecks sozialer Selektion reduzieren und, obwohl die Programme variabel und kontingent sind, dieser Reduktion von Komplexität eine gewisse Dauer verleihen. Als Beispiel dient der Kreditmechanismus in der Wirtschaft. Programme zur Herstellung von Zahlungsfähigkeit aus Zahlungsunfähigkeit im Zentrum des Wirtschaftssystems – wo Zahlungsfähigkeit finanzökonomisch als Geldschöpfung erzeugt und verteilt wird 405 – sind darauf angewiesen, zwischen kreditwürdigen und kreditunwürdigen Personen bzw. Organisationen (Staaten, Unternehmen, Banken) zu unterscheiden. Das heißt, die binär codierten Operationen der Wirtschaft benötigen den Bezug auf einen dritten Wert – eben Kreditwürdigkeit –, um stattfinden zu 405

BOHN, Cornelia (2009):„Geld und Eigentum – Inkludierende und exkludierende Mechanismen in der Wirtschaft“, S. 249.

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können, weil dieser Wertbezug soziale Selektion und Entscheidungen über die Allokation der Codewerte (Zahlung/Nichtzahlung) strukturieren. Dabei wird soziale Ungleichheit dadurch erzeugt, dass die Komplexität der Sozialdimension in Verbindung mit der Sach-und Zeitdimension reduziert wird: Personen 406 (Sozialdimension) werden hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur künftigen Wiederherstellung (Zeitdimension) von Ressourcen (Sachdimension) ungleich bewertet. Wenn die Reduktion der Komplexität in der Sozialdimension die Herstellung sozialer Ungleichheit impliziert, dann ist Ungleichheit auch mit den Programmstrukturen der Funktionssysteme verknüpft: Die Strukturierung der Allokation der Codewerte (Zahlung/Nichtzahlung, Recht/Unrecht, Wahrheit/Unwahrheit, Machtüberlegenheit/Machtunterlegenheit) scheint in der Praxis mit der Konstruktion sozialer Adresse durch die Zurechnung von Kommunikations_Leistungs_ und Inklusionsfähigkeit konstitutiv verbunden zu sein 407. Hinzu kommt, dass sich die Selektion von Programmen sozialer Ungleichheit bedient. Es gibt mehrere teilsystemische mögliche Programme (wie Prämisse für politische, ökonomische und juristische Entscheidungen), und die Durchsetzung eines Programms ist in der Regel mit Ungleichheiten verknüpft, die sich auf umweltliche Faktoren beziehen. So werden politische Programme sowohl auf nationaler als auch auf globaler Ebene von Machtstrukturen, die in der Organisation der Wirtschaft erzeugt und reproduziert werden, stark beeinflusst 408. Das Argument lautet also wie folgt: Funktionssysteme können nur operieren, wenn Programme die Zuordnung ihrer Codewerte strukturieren. Solche Programmstrukturen sind konstitutiv mit sozialer Ungleichheit verknüpft. Deshalb trägt soziale Ungleichheit zu sozialer Ordnung in der Moderne bei, obwohl sie nicht die primäre Differenzierungsform darstellt.

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Das gilt auch für Organisationen, also für Staaten auch. Luhmann selbst verweist darauf. Siehe LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, S. 397ff. Die Tatsache, dass die Existenz eines Zusammenhangs zwischen Programmierung/ Strukturierung der Funktionssysteme und der Herstellung sozialer Ungleichheit (unter Einfluss umweltlicher Faktoren) zu Wissensbeständen der Systemtheorie nicht gehört, rechtfertigt keine Umkehrung der Beweislast. Denn die Ungleichheitsforschung dokumentiert seit geraumer Zeit, dass die Strukturierung des Zugangs zu Ressourcen in einigen Bereichen mit Ungleichheiten in anderen Bereichen korreliert. Ein weiterer Versuch, die Beweislast umzukehren, besteht darin, die Sachentscheidungen bzw. die Entscheidungsprogramme der Funktionssysteme von dieser unleugbaren Verknüpfung von Ungleichheiten zu isolieren. Siehe dazu KIESERLING, André (2008): „Felder und Klassen. Pierre Bourdieus Theorie der modernen Gesellschaft”, S. 16, FN 32. Man denke nur am wechselseitigen Einfluss zwischen Reichtumskonzentration und der inoffiziellen Machtasymmetrien, die einen bedeutsamen Einfluss auf die Strukturierung wichtiger politischen Entscheidungen zum Privileg der Finanzelite und ihrer „Experten“ machen. Siehe MÜLLER, Hans-Peter (2008): “Wem gehört die Welt: David Hotkopf über die internationale Machtelite”. In: Merkur 715 Sonderdruck (2008), S. 1139-1143. 408 Siehe dazu MAYNTZ, Renate/SCHARPF, Fritz W (2005): „Politische Steuerung - Heute?“. In: Zeitschrift für Soziologie 34 (2005), S. 236-243. 407

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Diese Ordnungsleistungen sozialer Ungleichheit werden in Organisationen d. h., in Entscheidungszusammenhängen erzeugt. Dass Organisationssysteme in der Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit eine zentrale Rolle spielen, haben bereits Luhmann und andere Systemtheoretiker der Bielefelder Schule betont. Im Unterschied zu Funktionssystemen, die über keine Diskriminierungsfähigkeit verfügen und die Inklusion aller Personen voraussetzen, sind Organisationen in der Lage, diese Voraussetzung außer Kraft zu setzen und durch ihre Operationsweise Personen zu diskriminieren. Die Logik funktionaler Differenzierung ist offen für alle Inklusionsansprüche, denn die Ausdifferenzierung von Mediencodes ist prinzipiell von jedem Kriterium der Personalselektion entkoppelt. Wie in den letzten Abschnitten gesehen, ist diese Logik jedoch nicht fähig, Operationen zu erzeugen, ohne durch Strukturen programmiert zu werden, die die Selektion von Personen ermöglichen. Das bedeutet, dass die Aktualisierung der durch die funktionale Differenzierung ermöglichten Kommunikationen eine Rückkopplung mit der Sozialdimension erfordert. Konkret ist jedes Funktionssystem immer ein programmiertes System, wodurch die Aktualisierung seiner Kommunikationsmöglichkeiten durch die selektive Logik von Organisationen konditioniert wird. Organisationen können die Personen auswählen, die für eine Tätigkeit in ihren Organisationen in Betracht kommen, und andere ausschließen. Nicht alle Bürger werden Beamte. Funktionssysteme können also mit Hilfe ihrer Organisationen dem Inklusionsdruck der Gesellschaft widerstehen. Jeder ist rechtsfähig, aber nicht jeder bekommt vor Gericht Recht. Das Gleichheitsgebot ist kein Konditionalprogramm. Jeder hat die Schule zu besuchen; aber da es sich um eine Organisation handelt, kann intern entschieden werden, auf welchem Niveau und mit welchem Erfolg. Über Organisationen macht die Gesellschaft sich diskriminationsfähig, und zwar typisch in einer Weise, die auf Funktion, Code und Programme der Funktionssysteme abgestimmt ist. Innerhalb der Organisationen und mit ihrer Hilfe läßt die Gesellschaft die Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit scheitern 409. Hierbei muss deutlich zwischen Ungleichheit hinsichtlich der Inklusion in Organisationen und hinsichtlich der Inklusion in Funktionssysteme unterschieden werden. Die Inklusion in Organisationen ist ein Mitgliedschaftsverhältnis und kann – wie wir unten sehen werden – sowohl durch formale als auch durch informale Verhaltenserwartungen konditioniert werden. Die Inklusion in Funktionssysteme ist kein Mitgliedschaftsverhältnis. Vielmehr wird sie durch die Konstruktion teilsystemischer Publika geregelt. Dabei handelt es sich um Vorstellungen über inkludierbare Konsumenten, Patienten, Schüler, Lesern, Angeklagter, 409 LUHMANN, Niklas (1994): „Die Gesellschaft und ihre Organisationen“. In: DERLIEN, H-u; GEHRHARDT, Uta & SCHARPF, Fritz W. (Hg.): Systemrationalität und Partialinteresse. Festschrift für Renate Mayntz. Baden-Baden: Nomos, S. 192.

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Wohlfahrtsberechtigten etc. Entscheidend ist also, ob Individuen als potenzielle Publikumsrollenträger klassifiziert werden, ob sie als Adresse von Gütern, Dienstleistungen, Gesundheitsprogramme, Rechtsschutz, Sozialpolitik etc. in Betracht kommen. Zwischen den beiden Inklusionsformen gibt es auch Interdependenzen. Einerseits wird der Zugang zu den Leistungen der Funktionssysteme in Organisationen strukturiert. So wird die Grenze zwischen inkludierbaren und nicht inkludierbaren Patienten, Schülern, Konsumenten etc. durch organisatorische Entscheidungsprämisse gezogen. Andererseits strukturiert die Inklusion in einigen Funktionssystemen die Chancen, Mitglieder bestimmter Organisatinen zu werden. So ist die Inklusion im Erziehungssystem weltweit zu einer notwendigen Voraussetzung für die Inklusion in jeder Organisation als Erwerbsarbeiter geworden. Die Bedeutung von Organisationen für Inklusion und Ungleichheit im Zugang zu Funktionssystemen liegt auch darin, dass sie die Beeinflussung der Programmierung der Funktionssysteme durch informale Entscheidungsprämissen erlauben. Ein gutes Beispiel dafür ist die Tatsache, dass die bloße organisierte Vertretung von Interessen für ihre Durchsetzung als politisch relevante Interessen entscheidend ist. Wer im inoffiziellen Machtkreislauf des politischen Systems 410 seine Interessen nicht durch Organisationen vertritt, auf deren Kooperation die öffentliche Verwaltung bzw. die Regierung angewiesen ist, hat keine Chance, diese Interessen zu öffentlich relevanten Interessen zu machen und Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Die Organisation der Interessenvertretung konterkariert die formale Norm der politischen Gleichheit aller Bürger. Das Paradebeispiel ist natürlich die Finanzindustrie. Dabei handelt es sich um eine selektive Öffnung des politischen Systems für Geschichtspunkten der Wirtschaft, und zwar der mächtigen organisierten Sektoren der Wirtschaft. Am diesem Beispiel wird auch deutlich, wie Ungleichheit sowohl Ergebnis als auch Bedingung der Programmierung der Teilsysteme ist. Als Ergebnis: Programme strukturieren ungleiche Chancen der Durchsetzung von Interessen in der Politik. Als Bedingungen: Es gibt immer Varietät, Kontingenz und Konflikt im Bereich der Programmierung, weil es mehrere Programme gibt, die das System strukturieren können. Einige von ihnen werden als Systemstruktur ausgewählt, andere dagegen nicht. Und ökonomische Ungleichheiten haben einen entscheidenden Einfluss auf die Auswahl von Programmen, an denen sich politische Entscheidungen orientieren. In diesem Sinne liegt die soziale Macht nicht mehr direkt in der Schichtung, sondern in Organisationen und ihren Stellen, vor allem in denen mit Entscheidungskompetenz über Personalselektion bzw. über Entscheidungsprogramme, welche den Zugang zu den Leistungen der Funktionssysteme strukturiert. Dabei ist eine bedeutende Varietät hinsichtlich dieser Entscheidungsprogramme zu 410

Im Kapitel 5 (Abschnitt 5.7) kommen wir darauf zurück.

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erwarten, und zwar deshalb, weil diese sich an historische und regionale Unterschiede in der Weltgesellschaft anpassen. So gesehen ist funktionale Differenzierung nicht die Bedingung der Möglichkeit von Systemoperationen, sie ist vielmehr die Möglichkeit ihrer Konditionierung 411. Sie stellt die Differenzierung von Kommunikationsmöglichkeiten zur Verfügung, deren Aktualisierung, Virtualisierung und Einschränkung lokal konditioniert werden. Die Strukturen, die solche lokale Konditionierungen erzeugen, können dabei als Entscheidungsprämissen in Organisationssystemen angenommen und reproduziert werden. Der Zugang zu Funktionssystemen wird damit durch organisierte Entscheidungspraxen strukturiert, die sich lokaler sozialer Asymmetrien bedienen d. h., die diese Asymmetrie organisationsintern als Entscheidungsprämissen benutzen. In diesem Sinne vertritt Peter Fuchs die These, dass die explosive Verbreitung von Organisationen gerade als eine Reaktion auf den Zusammenbruch der mittelalterlichen stratifizierten Ordnung gefasst werden kann. Zum einem sind sie via Mitgliedschaft mit Inklusion_ und Exklusionsbefugnis ausgestattet, zum anderen übernehmen sie die Hierarchieform zur Reduktion ihrer eigenen Komplexität 412 . Im nächsten Abschnitt beschäftigen wir uns mit der Rolle des Wechselspiels zwischen formalen und informalen Erwartungsstrukturen für die Inklusion in Organisationen. Dabei möchten wir zeigen, wie der Einfluss sozialer Herkunft die Form einer Übereinstimmung zwischen Selbstselektion und Fremdselektion annimmt und damit als Einflussfaktor in der organisatorischen Entscheidungspraxis invisibilisiert wird.

3.3 Das Vorfeld von Entscheidungen Der Eintritt einer Person in eine Organisation ist stets an die Anerkennung bestimmter formaler Erwartungen gebunden, die dort als Entscheidungsprämissen gelten. In der Sozialdimension wird ein Konsens für diese formalen Erwartungen unterstellt. Gleichzeitig werden damit auch die interne Rangordnung der Stellen und die Hierarchie der Entscheidungskompetenzen akzeptiert. Ferner erzeugen die Kommunikationsroutinen auch informale Verhaltenserwartungen, und dies nicht nur in den Favelas Lateinamerikas oder in Netzwerken des italienischen Südens. Dabei ist die Informalität von Verhaltenserwartungen nicht als ein Überbleibsel vergangener Zeiten zu verstehen, sondern als eine Dimension der Strukturierung des Verhaltens, die erst durch die Formalisierung einiger Erwartungs-

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LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 812. FUCHS, Peter (2009): „Hierarchie unter Druck. Ein Blick auf ihre Funktion und ihren Wandel“. In:WETZEL, Ralf/ADERHOL, Jens & RÜCKERT-JOHN, Jana (Hg): Die Organisation in unruhigen Zeiten. Über die Folgen von Strukturwandel, Veränderungsdruck und Funktionsverschiebung. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag, S. 53-72.

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strukturen entsteht 413. Sie gewinnt ihre soziale Existenz nur im Rahmen einer sinnhaften Unterscheidung, deren präferierte Seite die formalisierten Erwartungen sind. Im Gegensatz zu formalen können solche informalen Verhaltenserwartungen nicht als entscheidbare Entscheidungsprämissen gesehen werden. Das heißt, ihre Entstehung wird nicht auf eine Entscheidung zurückgeführt, sondern ganz einfach nicht thematisiert 414. Sie greifen auf schriftlich basierte Gedächtnismechanismen nicht zurück. Und so wird es schwer einzusehen, dass es sich um kontingente Strukturen handelt – mit der Folge, dass sie von weiteren Entscheidungsbegründungen entlastet werden. Ihr informaler Charakter ist besser auf Strategien zur Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheiten, auch im Bereich der formalisierten Stellen, zugeschnitten. Durch das Wechselspiel von formalen und informalen Erwartungsstrukturen haben Organisationen, so formuliert Nassehi 415, in der Tat die Funktion übernommen, Individuen im sozialen Raum zu positionieren. Die Inklusion in Organisationen (Mitgliedschaft), deren andere Seite (die Exklusion der Nichtmitglieder) der Normalfall ist, wird nicht nur durch formale Verhaltenserwartung und ihre Erfüllung (oder Enttäuschung) geregelt. Vielmehr scheint der Erwerb und die Sicherung von Positionen, noch mehr natürlich der Aufstieg in der Positionshierarchie etwa eines Wirtschaftsunternehmens, in einem Interessenverband, einer politischen Partei oder einer Kirche, an kommunikative Fertigkeiten gebunden zu sein, das Wechselspiel von formaler und informaler Kommunikation parasitär zu nutzen oder sich darin zu verfangen. Was in der Sprache Pierre Bourdieus als die Handhabung kulturellen und sozialen Kapitals bezeichnet wird, findet sich im Kontext der Organisationsinklusion als eine zweite Ungleichheit generierende Form organisierter Kommunikation wieder, die sich jeder Formalisierung entzieht 416. In diesem Zusammenhang lässt sich die Frage stellen, ob die Tatsache, dass sich die Zuweisung von Positionen in Organisationen auch an informalen Strukturen orientiert, nicht ein Beweis dafür wäre, dass die Produktion und die Reproduktion sozialer Ungleichheit am besten durch die Rückführung auf eine diesen in413 HOLZER, Boris (2004): „Spielräume der Weltgesellschaft. Formale Strukturen und Zonen der Informalität“. In: SCHWINN, Thomas (Hg): Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen. Wiesbaden: VS Verlag, S. 259 - 279. 414 Dass informale Entscheidungsprämissen nicht thematisiert werden, ist natürlich kein Problem in der Entscheidungspraxis von Organisationen. Im Gegenteil: Diese Entscheidungsprämissen bringen einen hohen Maß an Sicherheit mit sich, was der Entscheidungspraxis zugutekommt. Die Nichtthematisierung solcher Organisationsstrukturen ist also nur für Fremdbeobachter (darunter Soziologen) relevant. Hier wird diese Nichtthematisierung als ein Beispiel der Invisibilisierung der Kontingenz von Sozialstrukturen behandelt. 415 NASSEHI, Armin/NOLLMANN, Gerd (1999): “Inklusionen. Organisationssoziologische Ergänzungen der Inklusions-/Exklusionstheorie“. In: NASSEHI, Armin. Differenzierungsfolgen. Beiträge zur Soziologie der Moderne. Opladen: Westdeutscher Verlag, S.141. 416 Ibidem, S. 143-144.

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formalen Strukturen innewohnende Reproduktionsfähigkeit erklärt würden. In der Tat hat man es hier mit Strukturen zu tun, deren Kontingenz und Veränderbarkeit zu verschwinden scheinen, denn sie werden als Entscheidungsprämisse angenommen, ohne dass beobachtet werden kann, wie sie einst zur Geltung gekommen sind. Es entsteht also der Eindruck, sie bezögen sich nicht auf eine Operation, auf eine Entscheidung. Als unentscheidbare Entscheidungsprämissen, so würde man sagen, zeigen sie eindeutig, dass sie sich dem Prinzip einer operativen Sozialtheorie nicht fügen müssen, ja nicht fügen können. So wäre der Begriff der operativ/strukturierten Ungleichheit unbrauchbar. Die Brauchbarkeit unseres Begriffes ist jedoch gerade darin begründet, dass informale Strukturen als unentscheidbare Entscheidungsprämisse nur reproduziert werden können, wenn und soweit ihre Kontingenz operativ in jeder Entscheidung, die sie strukturieren, invisibilisiert wird. Dementsprechend ergibt sich die Stabilität solcher informalen Strukturen daraus, dass Operationen existieren, die den Orientierungswert dieser Strukturen aktualisieren, als gäbe es keine andere Möglichkeit. Ein Beobachter kann ihre Kontingenz sehen und Orientierungswissen für einen Änderungsprozess anbieten. Dennoch können Strukturveränderungen in einem Organisationssystem – ebenso wie in jedem Sozialsystem – nur mit seinen eigenen Operationen durchgesetzt werden. Die Frage lautet also, wie in einer Organisation, in der bereits eine Gewöhnung an die latente und selbstverständliche Reproduktion informaler Strukturen eingetreten ist, eine Situation entstehen kann, in der man bereit wird, die Last der Initiative einer Entscheidung, etwas Selbstverständliches zu ändern, zu übernehmen. Schließlich steht jedem Änderungsversuch der Konsensdruck entgegen, der sich auch auf interne konkurrenzlose Selbstbeschreibungen 417 stützt, um die Kontingenz der an die organisatorische Hierarchie angepassten Verhaltenserwartungen unsichtbar zu machen. Das Wechselspiel von formalen und informalen Verhaltenserwartungen, durch die informale Erwartungen als unentscheidbare Entscheidungsprämissen operativ genutzt werden, um Positionszuweisungen auch im Bereich der formalisierten Stellen zu konditionieren, findet zwischen der Bezeichnung einer Entscheidung in einem Entscheidungszusammenhang und ihrem Vorfeld statt. Das Vorfeld von Entscheidungen besteht aus Kommunikationen, die besonders geeignet sind, nachträglich als Entscheidung interpretiert und in den Entscheidungszusammenhang integriert zu werden. Wichtig ist, dass diese „NichtEntscheidungskommunikationen“ nicht durch die Organisation, sondern durch ihre Umwelt – die Gesellschaft und die Interaktionen unter Anwesenden – produziert werden. Zu dieser nachträglichen Interpretation, die Entscheidungen konstituiert und zurechnet, passen jedoch nicht jegliche „NichtEntscheidungskommunikationen“. Es kommen vielmehr nur diejenigen in Frage,

417

FUCHS, Peter (2009): „Hierarchie unter Druck“, S. 69.

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die sich im Nachhinein als Wahl unter Alternativen beschreiben lassen 418, denn dieses zusätzliche Kommunikationselement der Kontingenz ist konstitutiv für jede Entscheidung. Es handelt sich bei diesen Kommunikationen um Verhaltensweisen, die eine gewisse Übereinstimmung zwischen Fremdselektion und Selbstselektion, also zwischen den (informalen) Selektionskriterien der jeweiligen Organisation und den personengebundenen Handlungs_und Erlebensmöglichkeiten erzeugen. Damit ist gemeint, dass das selektive Verhalten von Personen, etwa ihr spontanes Interesse an bestimmten Tätigkeiten oder die Leichtigkeit, mit der rollengebundene Verhaltenserwartungen antizipativ als Teil der eigenen Person präsentiert werden, mit den Prämissen organisatorischer Personalselektion synchronisiert sein kann. So kann das eigene Verhalten rückblickend an Entscheidungszusammenhänge angeschlossen werden und als Prämisse für weitere Entscheidungen, besonders für Personal_und Beförderungsentscheidungen, angenommen werden. Das Vorfeld von Entscheidungskommunikationen ist also ein Ort für die Kontingenzeinschränkung bezüglich der Zuweisung von Positionen: Das, was die Affinität zwischen der Selektivität des eigenen Verhaltens und der Selektivität der institutionellen Anforderungen leistet, ist genau diese Reduktion der Kontingenz. Und das ist nur möglich, wenn im Vorfeld von Personalentscheidungen Verhaltensweisen vorhanden sind, die als Entscheidungsprämissen dienend Anschluss und Kontingenzeinschränkung erzeugen können. In diesem Sinne spricht man auch von „latenten Entscheidungen“ 419. Geht man von der operativ erzeugten Übereinstimmung von Selbstselektion und Fremdselektion als strukturierendes Vorfeld von Karrierechancen aus, gewinnt der klassische Unterschied von „ascription“ und „achievement“, mit dem die Diskussion über das Problem der Chancengleichheit als normative Grundlage der Ungleichheitsforschung geführt wird 420 , ebenfalls eine neue Bedeutung. Üblicherweise wird dieser Unterschied als ein „Entweder-oder“ verstanden und es wird danach gefragt, ob der Zugang zu begehrten Positionen und Ressourcen durch „ascription“ oder durch „achievement“ bestimmt wird. So zeigt z. B. Michael Hartmann in seiner Elitestudie 421, wie in Deutschland die aus dem Elternhaus ableitbare Herkunft noch immer einen entscheidenden Faktor der sozialen Selektion für Führungspositionen in der Wirtschaft darstellt. Das von ihm verwendete multivariate Verfahren beweist den Zusammenhang zwischen der Klassenherkunft und den Chancen, eine Führungsposition in der Wirtschaft zu errei418

SEIDL, David (2003): „Organisation im Medium der Kommunikation“, S.13-14. SEIDL, David (2003): „Organisation im Medium der Kommunikation“, S. 15. 420 NOLLMANN, Gerd (2004): „Leben wir in einer Leistungsgesellschaft? Neue Forschungsergebnisse zu einem scheinbar vertrauten Thema“. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 3 (2004), S. 24-48. 421 HARTMANN, Michael/KOPP, Johannes (2001): „Elitenselektion durch Bildung oder durch Herkunft? Promotion, soziale Herkunft und der Zugang zu Führungspositionen in der deutschen Wirtschaft“. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 3 (2001), S. 436–466.

419

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chen. Bourdieu folgend interpretiert er diesen Zusammenhang als Ergebnis einer Habitusaffinität: Wer in die Vorstandsetagen deutscher Konzerne aufsteigen möchte, sollte den Habitus derjenigen aufweisen, die dort schon sitzen. Man wählt von seiten der Entscheider ganz überwiegend jene Kandidaten aus, die aus demselben bürgerlichen Milieu stammen. Die Auswahl findet in erster Linie anhand von Persönlichkeitsmerkmalen statt 422. Das Problem dieser Argumentationsweise liegt nicht im Nachweis des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Karrierechancen. Es liegt vielmehr darin, wie man den Unterschied von „Herkunft“ und „Leistung“ konzipiert, um diesen unbestreitbaren Zusammenhang zu beschreiben. Die Darstellung Hartmanns setzt eine Gleichsetzung von Habitusaffinität („die Chemie muss stimmen“, sagen die Spitzenmanager) und Herkunftsselektion voraus, als ob die evaluative Beobachtung von Persönlichkeitsmerkmalen im Gegensatz zur „Leistung“ stünde. Fragt man danach, warum die Herkunftsselektion nicht als solche erscheint, d. h., warum Persönlichkeitsmerkmale wie die Souveränität des Bewerbers und die Selbstverständlichkeit, „mit der er sich in den Chefetagen eines großen Unternehmens bewegt“ 423, anstelle einer expliziten Darstellung der Zugehörigkeit zur Oberschicht als Entscheidungsprämisse fungieren, dann kann die Beschreibung des Verhältnisses von Herkunft und Leistung als ein „Entweder-oder“ keine Antwort geben. Denn wenn die soziale Herkunft in Entscheidungen über Personalselektion nicht direkt zutage treten kann, sondern auf Eigenschaften umgeleitet werden muss, die individuell zugerechnet werden, dann haben wir es nicht mit einer schlichten Herkunftsselektion zu tun, wohl aber mit einer Operation, die Herkunft in individualisierte Persönlichkeitsmerkmale umwandelt. Selbst wenn die Zurechnung von Fähigkeiten und Merkmalen durch informale Kriterien (wie im Fall der Elitestudien Hartmanns) konditioniert wird, handelt es sich um individualisierende Zurechnungsoperationen, die das Individuum und seine unterstellte Selbstreferenz (und nicht seine Herkunft) als Ursache für bestimmte Verhaltensweisen annimmt, die ihrerseits wiederum als Prämisse für Personalentscheidungen fungieren, wobei auch die Selbstzurechnung eine zentrale Rolle spielt. Es ist daher kein Zufall, dass Selbstexklusion der effizienteste Mechanismus der sozialen Selektion ist. Die bei der Übereinstimmung von Selbstselektion und Fremdselektion entstehende Kontingenzeinschränkung ergibt sich nicht einfach daraus, dass eine gemeinsame Herkunft persönliche Solidarität schafft. Auch wenn Solidarität, wechselseitiges Wohlwollen oder Hilfsbereitschaft auftauchen und zu Entscheidungs422

HARTMANN, Michael (2005): „Eliten und das Feld der Macht“. In: COLLIOT-THÉLÈNE, Chaterine et alli (Hg): Pierre Bourdieu. Deutsche-französische Perspektiven. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S.268. 423 HARTMANN, Michael/KOPP, Johannes (2001): „Elitenselektion durch Bildung oder durch Herkunft?“, S. 459.

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prämissen werden, so werden sie nicht durch herkunftsbedingte personale Bekanntschaft erzeugt. Natürlich spielen personale Beziehungen eine Rolle, aber die Frage ist vielmehr, wie das Verhalten von Personen in Situationen koordiniert wird, deren Komplexität über persönliche Beziehungen hinausgeht. Denn sollte die persönliche Bekanntschaft ausreichend sein: Woher sollte man wissen, ob „die Chemie stimmt oder nicht“? Die Übereinstimmung von Selbstselektion und Fremdselektion hat also eine unpersönliche Dimension, eine Sachdimension, um es systemtheoretisch zu sagen. Gerade weil man im Lebenslauf ständig mit unpersönlichen Entscheidungssituationen konfrontiert wird und gerade weil solche Situationen nicht durch die Zugehörigkeit zu einem Netzwerk personaler Beziehungen definiert werden, muss man sich auf abstraktere und generalisierbare Mechanismen stützen. Es kommt nicht darauf an, aus Herkunft stammende Zugehörigkeitsverhältnisse zu präsentieren, sondern darauf, durch den Umgang mit unpersönlichen (obwohl an die Person gebundenen) Ressourcen wie inkorporiertes und institutionalisiertes Wissen, Entscheidungen zu konditionieren. Die Bedeutung des Elternhauses liegt nicht in der Zugehörigkeit zu ihm, sie liegt in den herkunftsbedingten Möglichkeiten der Vorbereitung auf das spätere Leben. Es ist richtig, dass Herkunft ein entscheidender Faktor der sozialen Selektion ist und bleibt. Es ist aber falsch, dass sie darüber entscheidet. Die Organisationen entscheiden. Die Herkunft kann nur dann wirken, wenn sie als Leistungsfähigkeit individuell zugerechnet wird. Sie erzeugt zwar Strukturen, da Individuen durch die Attribution milieuspezifischer Erwartungen seit frühester Kindheit zu sozialen Adressen gemacht werden. Das bedeutet weiterhin, dass sie mit bestimmten Kommunikationsmöglichkeiten ausgestattet werden und mit anderen nicht – ob diese Erwartungen letztendlich aber erfüllt oder enttäuscht werden, hängt von Operationen ab. Dass die dadurch strukturierte soziale Selektion nicht als Ergebnis personaler Beziehungen zu verstehen ist, wird noch deutlicher, wenn man nachvollzieht, wie die Übereinstimmung von Selbstselektion und Fremdselektion auf einen Sachbezug angewiesen ist. Personen werden inkludiert oder exkludiert, befördert oder versetzt, entlastet oder eingestellt je nachdem, ob und wie ihnen die Erwartungen, bestimmte Leistungen erbringen zu können, attribuiert werden. Das ist der Grund, weshalb es beim Phänomen der Habitusaffinität, also der personengebundenen Symbolisierung von Gemeinsamkeiten, auf die Darstellung von Interessen, Leistungsfähigkeit, Vorlieben, Geschmack usw. ankommt. So kann die Herkunft nur mittelbar durch die individualisierende Zurechnung solcher Eigenschaften wirken 424. Sie kann, mit anderen Worten, nur verdeckt signa424 Michael Hartmann zitiert einen von ihm interviewten Topmanager, der diesen Sachverhalt verdeutlicht: „Die Gespräche mit dem Vorstand laufen doch so, dass der nicht viel mehr macht als herauszufinden, ob man miteinander kann, und wenn jemand ähnliche Interessen hat wie jemand vom Vorstand, dann der Großteil des Gesprächs nur noch darum kreist.“ HARTMANN, Michael/KOPP, Johannes (2001): „Elitenselektion durch Bildung oder durch Herkunft?, S. 458.

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lisiert werden. Diese Invisibilisierung der Herkunft durch individualisierende Zurechnung ist keine bloße Form der Selbstbeschreibung: Sie konstruiert das, was als „Realität“ in der Kommunikation akzeptiert wird. Die Semantik der „Kompetenz“ und der „Intelligenz“, mit der sogar der „Bussinnes-Adel“ sich selbst beschreibt, ist konstitutiv für das, was sie beschreibt.

3.4 Exkurs: Kausalität im Süden? Wie bereits festgestellt, hat Luhmann die Verbindung von Individualisierung und sozialer Selektion nicht thematisiert. Eben darin liegt sicherlich auch die Schwäche seiner Gesellschaftstheorie. Der wichtigste (theoretische) Grund dafür scheint die Annahme gewesen zu sein, dass das individuelle Verhalten in der funktional differenzierten Gesellschaft nicht mehr durch soziale Ungleichheit strukturiert wird 425. Da es in dieser Gesellschaft nur darauf ankomme, die funktionale Einbettung von Interaktionen zu kennen, um an der jeweiligen Kommunikationsweise teilnehmen zu können, müssten die Klassenunterschiede den Zugriff auf die Interaktion aufgeben. Auf diese Weise gebe es keine Möglichkeit, durch das kommunikative Verhalten von Individuen, Mechanismen der sozialen Selektion zu aktivieren. Auch wenn Luhmann zugesteht, dass diese Unterschiede „verdeckt signalisiert“ 426 werden können, zieht er jedoch keine weitere Folgerung daraus, die es ihm erlauben könnte, die Verbindung von Individualisierung und sozialer Selektion innerhalb seiner Theorie funktionaler Differenzierung zu beobachten. Dieses Problem zeigt sich mit aller Deutlichkeit in seiner Beschreibung der „Kausalität im Süden“ 427. Die Probleme des „Mezzogiorno“ Italiens sollten mit seiner Theorie funktionaler Differenzierung so betrachtet werden. Es sollte auf diese Weise die Reproduktionsfähigkeit von personalisierten sozialen Netzwerken in einer funktional differenzierten Gesellschaft erklärt werden. Wie konnten diese Netzwerke einen Modernisierzungsprozess überleben, der den Komplex Familie/Eigentum als Quelle der gesellschaftlich wichtigsten Ressourcen durch formale Organisationen ersetzt hat? Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg wird auch in dieser Region soziale Schichtung von Positionen in Organisationen abhängig gemacht. Es werden Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Gefängnisse, politische Parteien, Gerichtsorganisationen und Arbeitsorganisation gebildet. Es entstehen also organisatorische Einrichtungen, die durch ihre Entscheidungszusammenhänge die Versorgung jeder Art von Klientel in unterschiedlichen Funktionssystemen regulieren. Dabei werden die funktional differenzierten Kommunikationsmöglichkeiten zu Ressourcen, die den sachlichen Gehalt der sozialen 425

LUHMANN, Niklas (2008): „Zum Begriff der sozialen Klasse“, S. 95-96, 98. Ibidem, S. 98. 427 LUHMANN, Niklas (1995): „Kausalität im Süden“, S. 7-28. 426

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Ungleichheiten bestimmen. Die Zugangschancen zu ihnen sind nun Gegenstand von Entscheidungen in Organisationen. Wie überall, wo dieses Verhältnis von Organisation und funktionaler Differenzierung an die Stelle vormoderner Schichtungsprinzipien trat, müssen die Produktion und Reproduktion eines ungleichen Zugangs zu funktional definierten Kommunikationschancen auch im Süden Italiens die Form von Entscheidungsprämissen annehmen. Dass der Gebrauch solcher Entscheidungsprämissen im Wechselspiel von informalen und formalen Strukturen stabilisiert wird, ist ebenso wenig ein regionales Spezifikum wie die Tatsache, dass die formalen Rollenerwartungen durch informal reproduzierte Entscheidungsprämissen geprägt werden. In diesem Sinne könnten die Verhältnisse des „Mezzogiorno“ als Anlass zu einer Analyse der Mechanismen der sozialen Selektion in einer funktional differenzierten (Welt) Gesellschaft dienen. Es könnten beispielsweise die dort generalisierten Entscheidungsprämissen mit denen verglichen werden, die in den Wohlfahrtsstaaten in Kraft sind, um herauszufinden, wie die funktional differenzierten Kommunikationsmöglichkeiten lokal durch unterschiedliche Arrangements von Entscheidungsprämissen konditioniert werden können. Darüber hinaus konnte untersucht werden, wie diese Unterschiede der Konditionierungen auf die Stabilisierung einer Mehrheit von organisationsvermittelten strukturellen Kopplungen hinauslaufen, die die Strukturentwicklung der gekoppelten Systeme beeinflussen 428 . Dadurch wäre es möglich aufzuzeigen, dass die weltweit etablierte Logik der funktionalen Differenzierung mit ganz unterschiedlichen Mechanismen der sozialen Selektion rückgekoppelt werden kann, oder im Gegensatz dazu, dass bestimmte Mechanismen universelle Relevanz haben. Für eine solche Sichtweise spricht vor allem das Luhmannsche Projekt, eine Theorie der Weltgesellschaft gegen das Paradigma der Modernisierungsforschung zu erstellen. Luhmann ging demnach nicht von einem Modell funktionaler Differenzierung aus, in dem die Teilsysteme harmonisch co-evoluieren, als würde die Autonomisierung der Wirtschaft, der Politik, des Rechtes, der Erziehung, der Wissenschaft usw. „wechselseitige Stützfunktionen erfüllen“ 429. Er ging vielmehr davon aus, „dass gerade die hohe Spezialisierung und Autonomisierung der Funktionssysteme zu wechselseitigen Belastungen führen wird“ 430. Daran anschließend können die regionalen Unterschiede kaum mehr als eine Art lokaler Wiederholung des Prinzips funktionaler Differenzierung beschreiben werden, sondern nur noch als Ergebnis spezifischer Einschränkungen der operativen Möglichkeiten der Funktionssysteme durch regionale strukturelle Kopplungen. Als „universelle Annahme“ gilt: 428

Luhmann nennt diesen Zusammenhang zwischen den strukturellen Kopplungen, denen ein System ausgesetzt ist, und ihren Strukturentwicklungen einen „structural drift“. LUHMANN, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung, S. 397; LUHMANN, Niklas (2009): Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: Carl -Auer-Verlag, S. 116. 429 LUHMANN, Niklas (1995): „Kausalität im Süden, S. 24. 430 Ibidem, S. 25.

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Die strukturellen Kopplungen schränken die operativen Möglichkeiten der Funktionssysteme ein. Wie bereits gesehen, würde dies bedeuten, dass die Einschränkung der operativen Möglichkeiten der Teilsysteme durch Mechanismen der sozialen Selektion nicht als lokale, sondern als universelle Ordnungsleistung betrachtet werden soll. Auf diese Ordnungsleistung ist die funktionale Differenzierung in Italien, in Brasilien, in China, aber auch in Deutschland und in den USA angewiesen. So stellt es keine regionale Besonderheit dar, Personen durch Zurechnung von erwartbaren Leistungen selektiv zu behandeln, sei es im Rahmen der formalisierten Selektionsregeln, sei es informal im Vorfeld der „unentscheidbaren Entscheidungsprämissen“. Die regionalen Unterschiede setzten die Zurechnung von Leistungen auf Personen voraus, um sie von zusätzlichen Differenzen abhängig zu machen. Auf diese Weise kann auch Rassismus zur Konditionierung werden: Die schwarze Bevölkerung wird nicht einfach dadurch diskriminiert, dass man ihre Hautfarbe und/oder ihre Herkunft an sich missachtend betrachtet, sondern dadurch, dass ihre Hautfarbe und/oder ihre Herkunft mit dem Fehlen von bestimmten Leistungsfähigkeiten verknüpft werden. Wesentlich ist, dass es sich stets um Mechanismen handelt, die jenseits persönlicher Zugehörigkeitsverhältnisse wirken können, obwohl sie für die Konstruktion und Erhaltung personaler Kontakte entscheidend sind. Auch wenn Luhmann die Probleme des „Mezzogiorno“ als moderne Probleme beschreiben will 431, so verwendete er doch eine Terminologie, die eine Verortung des allgemeinen Phänomens der sozialen Selektion in der Theorie funktionaler Differenzierung nicht zulässt. Die Annahme, dass das Scheitern der auf rechtlichen und monetären Mechanismen basierten Entwicklungspolitik auf regionale Gewohnheiten zurückzuführen ist, „Kausalität in personalisierten sozialen Netzwerken zu lokalisieren und Erfolge bzw. Mißerfolge vom Gebrauch dieser spezifischen Form von Kausalität zu erwarten“432, legt nahe, dass die Durchdringung von Organisationsroutinen mit informalen Entscheidungsprämissen nur ein Merkmal des Südens ist. Der vielleicht unbestreitbare Sachverhalt, dass personale Kontakte und Interaktionen in solchen Regionen relativ wichtiger sind, wird überbetont, die Tatsache, dass informale Mechanismen der sozialen Selektion ebenso in den Organisationen von Industrieländern wie Deutschland 433 als Entscheidungsprämissen fungieren, wird hingegen vergessen. So wird soziale Selek-

431

„Inzwischen gibt es jedoch Anhaltspunkte genug dafür, daß die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft solche Tatbestände erst produziert. Typisch verstärken die Funktionssysteme der Weltgesellschaft vorgefundene Ungleichheiten, weil es für sie rational ist, Unterschiede zu nutzen. Nur wer zahlungsfähig zu sein scheint, erhält Kredite. „ Ibidem, S. 18. 432 Ibidem, S. 7. 433 Siehe Siehe BOMMES, Michael (2004): „Zur Bildung von Verteilungsordnungen in der funktional differenzierten Gesellschaft.

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tion letztendlich auf Personalismus reduziert 434. Dieses Verständnis hängt damit zusammen, dass Luhmann die unpersönliche (sachliche) Dimension der Kommunikationsweise, die die Netzwerke reproduzieren, ausblendet. Ihm zufolge zeichnet sich diese Kommunikationsweise durch die Selektion der Mitteilungskomponente beim Verstehen und beim Anschluss der einzelnen Kommunikationen aus, wobei die Informationskomponente vernachlässigt wird. Da die Folgekommunikationen an die Mitteilungskomponenten anschließen, werden auch die Einstellungen der Beteiligten zueinander betont. Es kommt also darauf an, das wechselseitige Wohlwollen und die Hilfsbereitschaft als Mitteilungsmotiv zu bezeichnen. Die Mitteilungskomponente auszuwählen, bedeutet, den mitteilenden Personen Motive und Gründe zuzurechnen, und zwar dergestalt, dass diese Zurechnungsoperation eine Funktion der sozialen Selektion übernimmt: Die attribuierten Motive und Gründe sind personenbezogene Erwartungsstrukturen, die es erlauben, Personen als entweder anschlussfähig oder nicht-anschlussfähig für weitere Kommunikationen zu bezeichnen. Zentral ist jedoch, dass diese Kommunikationsweise nur dann zur organisatorischen Entscheidungsprämisse wird, wenn sie implizit praktiziert wird. Sie findet auf der „Ebene der latenten Kommunikation von Einstellungen“ 435 statt. Eben deshalb kann die Selektion von Personen nicht direkt über Zugehörigkeitsverhältnisse erfolgen, sondern nur mithilfe der Sachdimension. Gerade dieses Assoziieren der Sachdimension wird vergessen, wenn von „personalisierten Netzwerken“ als eine spezifische „Kausalität des Südens“ gesprochen wird. Dass es sich hier nicht um „Personalismus“ der unterentwickelten Regionen, sondern um eine allgemeine Zurechnungsoperation mit Bezug auf die Sachdimension handelt, kann man der Beschreibung Luhmanns selbst entnehmen: „Die ansprechbaren Ressourcen, so schreibt er, „liegen jetzt nicht im Eigentum, im Prestige der Familie, in der Verpflichtung durch Herkunft und in den sozial weiterreichenden, überlokalen Kontakten einer Oberschicht. Sie werden vielmehr aus den Kompetenzen abgezweigt, die Positionen in Organisationen zur Verfügung stellen“ 436 . Wenn Netzwerke, um sich über die Beeinflussung von Entscheidungen reproduzieren zu können, ihre Vermittlungsrollen in den Organisationen finden müssen, so haben wir es mit einer unpersönlichen Dimension zu tun, aus der die unterstellten Kompetenzen abgeleitet werden. Von diesen unpersönlichen Kompetenzen, die Personen attribuiert werden, hängt die personalisierte Einstellungskommunikation ab. Zu Inklusionsbedingungen solcher Netzwerke gehört daher nicht die bloße Zurechnung von Kausalität auf Personen. Maßgebender ist vielmehr der Umstand, dass durch die Besetzung von Positionen sachlich bestimmt wird, welche Kommunikationsmöglichkeiten von wem erwartet 434 SOUZA, Jessé (2011): „Jenseits von Zentrum und Peripherie“. In: Berliner Journal für Soziologie 1 (2011), S. 23-38. 435 LUHMANN, Niklas (1995): „Kausalität im Süden, S. 2 436 Ibidem, S. 2

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werden können. Die Zurechnung von Verursachungskapazität auf eine Person ist demnach darauf angewiesen, was ihre gegenwärtige Position im Sinne von Kommunikationsmöglichkeiten in Aussicht stellt. Kausalität wird nur dem zugerechnet, der in Organisationen etwas bewegen können. Dasselbe gilt für die Rolle von Kultur in der Symbolisierung von Gemeinsamkeit: Wissenschaft und Kunst werden in erster Linie als Kultur gefördert. Die öffentliche Präsentation von Kultur ermutigt zu einer Rhetorik, die riesige Bedeutungsüberschüsse produziert […] Es geht, könnte man vermuten, um die Schokoladenseite des Netzwerks oder auch um die Symbolisierung von Gemeinsamkeit bei stark divergierenden Interessen. Oder um es paradox zu formulieren: das Interesse an Kultur darf kein Interesse werden 437. Auch hier zeigt sich, dass die Reproduktion von Netzwerken sachdimensionale Sinnverweise in Anspruch nehmen muss. Denn die Inklusion von Personen in Netzwerke, und damit auch die Möglichkeit, die Teilnahme an den funktional differenzierten Kommunikationen durch informale Beeinflussung organisatorischer Entscheidungsprozesse zu konditionieren, kann nur über den Umweg der Unterstellung von Dispositionen zur Anerkennung des Werts einiger Funktionssysteme (Kunst, Wissenschaft) erfolgen. Die Sozialdimension, d. h., die Unterscheidung der Perspektiven von Alter und Ego, kann nur mittels dieses Sachbezugs strukturiert werden, wobei die Verbindung zwischen der Formung der eigenen Perspektive und der erwartbaren Perspektive des Gegenübers zur Entstehung von Erwartungen über die Verstehbarkeit zwischen den Kommunikationspartnern in Form von „Ego/alter Spiegelungen“ 438 führt. Was die Unterstellung von gemeinsamen „kulturellen Interessen“ erzeugt, ist ein Konsens zwischen den Perspektiven. Konsens bedeutet Akzeptanz bestimmter erwarteter Identitätsmuster, die sich in der Form von „Personen“, von sozialen Adressen niederschlagen, und genau darin liegt die Wirksamkeit der „latenten Kommunikation von Einstellungen“ als Moment der Reproduktion von Netzwerken. Umgekehrt wirkt die Unterstellung von Dissens als ein Mechanismus der sozialen Abgrenzung. Beides, die Unterstellung von Konsens und die Unterstellung von Dissens, setzen den Sachbezug voraus. Da die Autonomisierung der Sinndimensionen es nicht mehr zulässt, das Problem der Unterscheidung von Perspektiven durch die Vorstellung zu ersetzen, dass Menschen ein Sonderding mit gegebenen Verhaltensmöglichkeiten sind, ist die Strukturierung der Sozialdimension auf die Besetzung der Perspektiven von Alter und Ego mit bestimmten Sachorientierungen angewiesen: mit „interesselosen Interessen“ an Wissenschaft, an Kunst, mit ökonomischer Rationalität usw. Spätestens seit Bourdieus „La Distinction“ (1979) weiß man, dass und wie der Umgang mit Kultur auch „im Norden“ zum Mecha437 438

Ibidem, S. 2. LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 130.

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nismus der sozialen Schließung und Abgrenzung werden kann, wobei gerade die Unterstellung von Interesselosigkeit und Uneigennützigkeit eine zentrale Rolle spielt. Bourdieu zeigte zudem, dass solche „Strategien der Distinktion“ davon abhängig sind, dass die Herkunft mit all ihren konstitutiven Vorteilen als individueller Geschmack wahrgenommen wird. Damit wird nicht verkannt, dass die von Bourdieu analysierten Strategien der Distinktion auf anonymen und standardisierten Klassifikationsformen – auf „kulturelles Kapitel“ – beruhen, während Luhmann eine Netzwerkslogik vor Augen hat, in der Personen als “Ursache” für den Zugang zu Ressourcen gesehen werden –„soziales Kapital“. Es wird lediglich betont, dass die Zurechnung von Kausalität auf Personen von einem Verweis auf die Sachdimension abhängt. Im Fall des Umgangs mit “Kultur” geht es um den Verweis auf eine Ressource, mit der Gemeinsamkeiten bei divergierenden Interessen unterstellt werden können. Der Punkt ist, dass auch Netzwerke sich an anonymen und standardisierten Kriterien der sozialen Selektion orientieren, selbst wenn ihre interne Logik auf personalen Beziehungen basiert ist: Ohne organisatorische Positionen, in denen über den Zugang zu Funktionssystemen entschieden wird, kann man nichts bewegen und deshalb ist man irrelevant für Netzwerke; ohne “Kultur” kann man an ihrer “Schokoladenseite” nicht teilnehmen. Das heißt, Netzwerke orientieren sich an Kriterien der sozialen Selektion, die durch die Expansion der modernen Gesellschaft generalisiert werden und die soziale Selektion auch “im Norden” regeln. Wenn Luhmann diesen Sachverhalt nur als ein regionales Phänomen ansieht, hängt das vermutlich damit zusammen, dass er auf Fragen der sozialen Ungleichheit nur post festum eingegangen ist. Hätte er seine Theorie funktionaler Differenzierung von Anfang an mit diesen Fragen konfrontiert, hätte er sicherlich nicht nach Italien oder Brasilien reisen müssen, um die Schwerpunktverschiebung in Richtung auf latente Einstellungskommunikation ebenso wie den Umgang mit Kultur als Mechanismen der sozialen Selektion zu beobachten. Womöglich hätte er auf diese Weise auch den Zusammenhang von Individualisierung und sozialer Selektion in den Blick genommen. Dieser Zusammenhang von Individualisierung und sozialer Selektion ist durch Netzwerke nicht auflösbar. Auch wenn der Einzelne als ganze Person im Kontext persönlicher Bekanntschaft angesprochen wird, und auch wenn sich ein Netz der wechselseitigen Dienste daraus ergibt, das in der Lage ist, auf unterschiedliche Organisationen Einfluss zu nehmen, stellt die Umstellung von Herkunft auf Positionen in Organisationen nicht nur eine Veränderung der zentralen gesellschaftlichen Machtgrundlage dar, sondern auch eine Individualisierung der sozialen Adressen. Der Grund dafür liegt darin, dass die Auflösung der Herkunftsbestimmung als ausreichende Quelle von lebenslaufbezogenen Erwartungen durch eine Karriere als Sequenz selektiver Ereignisse die individualisierende Selbstselektion in den Vordergrund rückt. So sehr das Netzwerk diese Selbstselektion mittels informaler Entscheidungsprämissen mit Fremdselektion in Einklang bringen 153

kann, so sehr gilt auch, dass die Besetzung von Positionen immer noch ein Moment der individuellen Zurechnung ist. Es hängt von dieser Zurechnungsweise, und nicht von der Herkunft an sich, ab, dass das Netzwerk als ein „Netzwerk der Nuztfreundschaften“ 439 operieren kann. Es geht also nicht bloß um Freundschaften, sondern um Freundschaften, die aufgrund ihrer Position innerhalb der Organisation als „Freunde“ nützlich sind. Kurz: Nutzfreundschaft setzt die operative Transformation von Herkunftsbestimmung in (organisationsbedingte) Leistung voraus. Geht man davon aus, dass der Einfluss informaler Entscheidungsprämissen auf Organisationen kein regionales Phänomen ist, dann macht es keinen Sinn, in Bezug auf Netzwerke davon zu sprechen, dass sie „die normale Regulative der Organisationen stören“ 440. Denn auch wenn Organisationen nur als „Zuteilung von Positionen, dank derer man etwas zu bieten hat“ 441, funktionieren, haben sie immer noch die Möglichkeit, Entscheidungen aneinander anzuschließen und sich als Netz ebendieser Entscheidungen zu reproduzieren. Dass aus Netzwerken stammende informale Erwartungen die Entscheidungsprozesse mitstrukturieren, ändert nichts daran. Solange die Organisationen nicht durch die Netzwerke ersetzt werden, und solange die Netzwerke nur die Strukturentwicklung von Organisationen beeinflussen, ohne die Entscheidungen selbst zu bestimmten 442, funktionieren Organisationen als operativ geschlossenes System. Ihre operative Autonomie setzt nicht voraus, dass externe Gegebenheiten wie Netzwerke als Entscheidungsprämissen nicht akzeptiert werden können. Die operative Autonomie hängt nur von der internen Integration der berücksichtigten umweltlichen Gegebenheiten in die Entscheidungsprozesse, und zwar dergestalt, dass diese Gegebenheiten erst dann zur Prämisse weiterer Entscheidungen werden, wenn Organisationen sie als solche akzeptieren. Luhmann definiert die operative Geschlossenheit von Organisationen als ein „Entscheidungen verknüpfende [r] Prozess“ 443 der Unsicherheitsabsorption, der die unbekannte Welt in eine bekannte, mit einer ersten Entscheidung (etwa eine Zwecksetzung) angeschnittenen Welt überführt 444. Unsicherheitsabsorption, der letztendlich die Autopoiesis von Organisationen entspricht, kann wohl davon profitieren, dass es in der Umwelt der Organisationen Netzwerke als Quelle von Entscheidungsprämissen gibt. Handelte es sich um eine „Übergangssituation“ 445, 439 LUHMANN, Niklas (1995): „Inklusion und Exklusion“. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 254. 440 LUHMANN, Niklas (1995): „Kausalität im Süden“, S. 26. 441 LUHMANN, Niklas (1995): „Inklusion und Exklusion“, S. 254. 442 „ Natürlich kommt es zu Ablehnungen. Ohne die Möglichkeit, nicht zu helfen, wäre die Hilfe keine Hilfe, keine Gefälligkeit, keine Freundschaftsdienst“. Ibidem, S. 251-252, FN 40. 443 LUHMANN, Niklas (1993): "Die Paradoxie des Entscheidens". In: Verwaltungsarchiv 2 (1993), S. 300. 444 Ibidem, S. 302. 445 LUHMANN, Niklas (1995): „Kausalität im Süden“, S. 26.

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sollte diese Beschreibung nicht nur für eine Region, sondern auch für die moderne funktional differenzierte Gesellschaft im allgemein gelten.

3.5 Die Verknüpfung von Ungleichheiten im Lebenslauf Die folgenden Abschnitte (3.5; 3.6 und 3.7) sollen zeigen, wie die Verknüpfung bereichsspezifischer Ungleichheiten im Lebensverlauf erfolgt. Zunächst (3.5) wird gezeigt, wie diese Verknüpfung von strukturellen Kopplungen zwischen den Funktionssystemen abhängig ist. Danach (3.6 und 3.7) werden zwei zentrale Formen der Verknüpfung von Ungleichheiten analysiert: die Staatsangehörigkeit und die strukturelle Kopplung von Erziehung und Wirtschaft. Unsere Überlegungen über die Rolle von Organisationen für Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit ermöglichen es, den hier vorgeschlagenen Begriff der operativ/strukturierten Ungleichheit durch die Unterscheidung von Entscheidung/Entscheidungsprämisse zu spezifizieren. Das heißt: Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Unterscheidung nicht nur für die „rekursive Inanspruchnahme von Entscheidungsergebnissen als Struktur für die Selektion weiterer Entscheidungen“ 446 als Grundvoraussetzung der autopoietischen Reproduktion von Organisationssystemen konstitutiv ist, sondern auch für die Verknüpfung bereichsspezifischer Ungleichheiten. Da dies vor dem Hintergrund einer notwendigen strukturellen Diskontinuität zwischen den ausdifferenzierten Funktionssystemen stattfinden soll, muss die Handhabung der Differenz Entscheidung/Entscheidungsprämisse Strukturänderungen hervorbringen. Die Verknüpfung bereichsspezifischer Ungleichheiten erfolgt nicht über irgendeine strukturelle Kontinuität, sondern über Operationen, die vor dem Hintergrund einer notwendigen strukturellen Diskontinuität zwischen den ausdifferenzierten Funktionsbereichen vorteilhafte Strukturänderungen ermöglichen. Dies erfordert eine Analyse des Lebenslaufs als Schnittstelle zwischen funktionaler Differenzierung und sozialer Ungleichheit, und zwar eine, die strukturelle Kopplungen in den Mittelpunkt stellt, auf die die operativen Strukturänderungen Bezug nehmen. Die Beobachtung des Lebenslaufs ist von zentraler Bedeutung, weil er gerade durch die kumulative Kombination von Inklusionen in verschiedenen funktional spezialisierten Kommunikationen bestimmt wird. Natürlich muss davon ausgegangen werden, dass es synchron auch in der alltäglichen Lebensführung eine solche Kombination gibt: Man besucht die Schule und gehört zugleich zu einer Familie; an massenmedialen, wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen, gesundheitlichen und sportlichen Kommunikationen nimmt man zumindest als Publikum teil. Ferner wirkt sich die Art, wie diese ausdifferenzierten Inklusionsverhältnisse im Alltag synthetisiert werden oder zu unlösbaren Spannungen führen, 446

LUHMANN, Niklas (1993): „Die Paradoxie des Entscheidens“, S. 308.

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maßgeblich auf die Inklusionschancen im Lebenslauf aus; oder, um es mit Uwe Schimank 447 zu sagen: Die zum gleichen Zeitpunkt erlebten multiplen Partialinklusionen bilden ein „Inklusionsprofil“, das die Inklusionsmöglichkeiten einer Person mitstrukturiert. So lässt sich zeigen, dass eine zeitintensive Inklusion in der Wirtschaft, etwa als Folge unsicherer Einkommensquellen, die Teilnahme an familiären Beziehungen erschwert 448 . Typischerweise ist die Schulbildung in unteren Schichten von dieser „Ökonomisierung der Lebensführung“ 449 betroffen. Aber gerade die Kumulation der funktionsspezifischen Ressourcen (Liebe, Geld, Wissen, Macht, Recht usw.), einschließlich der negativen Kumulation, kann nur durch die Beobachtung des Lebenslaufs erfasst werden. Dies hängt damit zusammen, dass funktionale Differenzierung, Umstellung von Herkunft auf Zukunft und Organisations_und Entscheidungsabhängigkeit der Inklusionsverhältnisse zu einer Temporalisierung sozialer Ungleichheit führt, wobei eine offene Zukunft mit spezifischen Inklusionschancen für soziale Positionen konstitutiv wird. Der Fokus auf den Lebenslauf ist zunächst also eine gesellschaftsinterne Beobachtungsperspektive, die sich aus der konstitutiven Kontingenz der sozialen Positionen ergibt. Dabei verkennt die Suche nach stabilen Soziallagen, dass „die Raummetaphorik der festen, besetzbaren und besitzbaren Plätze“ 450 durch eine temporalisierte und dynamische Strukturierung der besseren und schlechteren Positionen ersetzt wurde: „Es gibt dann keine Platzkämpfe mehr, die der Verteidigung des eigenen Platzes dienen, wohl aber Kämpfe um Vorankommen und Zurückbleiben“ 451 . Die Verdrängungsgefahr wird durch das Risiko abgelöst, durch Entscheidungen – sowohl die eigenen als auch die der anderen – „auf ungünstige Positionen zu geraten“ 452. Es geht darum, Zeit zu kapitalisieren, um von dieser temporalisierten Strukturierungsweise profitieren zu können. In diesem Zusammenhang kommt den strukturellen Kopplungen zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen eine zentrale Rolle zu: Sie ermöglichen die Konvertierbarkeit der funktionsspezifischen Ressourcen im Lebenslauf. Die Ungleichheitsforschung dokumentiert, dass die Teilnahme an bestimmten Lebensbereichen die Teilnahmemöglichkeiten an anderen Bereichen beeinflusst. In der Regel zeigen sich Zusammenhänge zwischen drei Teilbereichen, die den Lebenslauf prägen: Familie, Bildung und Beruf. Ferner lassen sich auch Verbindungen zwischen Bildungsniveau und Partnerwahl 453, Berufspositionierung und 447

SCHIMANK, Uwe et alli (2008): Das Publikum der Gesellschaft. Darauf ist der Begriff von Hyperinklusion geschnitten. Siehe GÖBEL, Markus/SCHMIDT, Johannes F. K. (1998): „Inklusion/Exklusion. Karriere, Probleme und Differenzierungen eines systemtheoretischen Begriffspaars. In Soziale Systeme 4 (1998), S. 87-118. 449 HARDERING, Friedericke (2011): Unsicherheiten in Arbeit und Biographie. Zur Ökonomisierung der Lebensführung. Wiesbaden: VS Verlag. 450 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 1013. 451 Ibidem 452 Ibidem 453 SCHWINN, Thomas (2007): Soziale Ungleichheit, S. 52. 448

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Wahlverhalten, Arbeitsmarktpositionierung und Kriminalitätsrisiko, Bildungsund Berufsniveau und Geschmack nachweisen. Schwinn 454 betont, dass solche Phänomene nur dann zu erklären sind, wenn davon ausgegangen wird, dass die funktionsspezifischen Ressourcen und Kompetenzen ineinander konvertierbar sind und er behauptet, dass mit dem begrifflichen Apparat der Systemtheorie dieser Sachverhalt nicht zu fassen sei 455 . Dabei vergisst wer jedoch, dass der Begriff der strukturellen Kopplung genau auf einen solchen Leistungsaustausch zwischen den gesellschaftlichen Funktionssystemen bezogen ist. Strukturelle Kopplungen sind Einrichtungen, die von jedem System in Anspruch genommen werden, aber von jedem in unterschiedlichem Sinne. Sie haben die Funktion, autonom operierende Systeme voneinander irritieren zu lassen. Sie erlauben es, operative Geschlossenheit mit struktureller Offenheit zu kombinieren. Wie bereits ausgeführt, handelt es sich nicht um die Möglichkeit, Strukturen eines Systems auf ein anderes zu übertragen. Strukturelle Offenheit heißt hier, dass verschiedene, systemspezifische Strukturentwicklungen in einer Weise miteinander verbunden werden, dass die Strukturen systemspezifische Strukturen bleiben. Strukturell gekoppelte Systeme werden durch Operationen irritiert, die in beiden Systemen Informationswert gewinnen. Doch der Sinn dieser Operationen wird in jedem System durch seinen eigenen rekursiven Anschluss von Operationen je unterschiedlich bestimmt. Jedes System interpretiert das gleiche Ereignis ja nachdem, was es für die Fortsetzung der eigenen Kommunikationsweise bedeutet. Damit wollte Luhmann eine dynamische Fassung des Integrationsbegriffes formulieren, die mit der These der operativen Autonomie der funktional ausdifferenzierten Teilsysteme kompatibel wäre. Integriert werden somit dann zwei oder mehrere Systeme, wenn die Operationen des eine den Freiheitsgrad der Operationen des anderen einschränken. Der Begriff wird temporalisiert: Alle Integrationseffekte bleiben auf Ereignisse beschränkt, und es gibt keine selbstverständliche, die Teilsysteme übergreifende Rekursivität, die dafür sorgt, dass integrierende Ereignisse ohne Weiteres einen integrierten Zusammenhang funktionsspezifischer Kommunikationen bilden. Die strukturelle Offenheit besteht nur darin, dass die wechselseitige Irritierbarkeit der gekoppelten Systeme, obwohl an Ereignisse gebunden, durch Wiederholung ebendieser Ereignisse die Strukturentwicklung verschiedener Systeme miteinander verbinden. Strukturelle Kopplungen stellen Lernmöglichkeiten durch einen erwarteten Leistungsaustausch zur Verfügung, die ohne ein koordinierendes System auf abgestimmte Strukturänderungen hinauslaufen können. In Luhmanns Worten: Soweit die Einrichtung struktureller Kopplungen gelingt, läuft der gesamtgesellschaftliche Einfluß auf die strukturelle Entwicklung von Funktionssystemen auf diese Bahnen. Langfristige Tendenzen des „structural drift“ der 454 455

Ibidem, S. 51ff. Ibidem, S. 53.

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Funktionssysteme können deshalb nur erklärt werden, wenn man dies mit in Betracht zieht. Obwohl es keine Möglichkeit des Durchgriffs auf Strukturen von außen mehr gibt, spielt eine wesentliche Rolle, mit welchen Irritationen ein System sich immer und immer wieder rechnen muß – und welche Indifferenzen es sich leisten kann 456. Wie wir unten noch sehen werden, sind besonders die Programmstrukturen der gekoppelten Systeme gefordert, sich angesichts der Irritationen aus der relevanten Umwelt Lernprozessen auszusetzen. Da strukturelle Kopplungen aufgrund der Wiederholbarkeit und der Erwartbarkeit von Leistungen die operativen Möglichkeiten des jeweiligen Systems einschränken, können die Strukturen, die die Zuordnung der Codewerte der Funktionssysteme orientieren, den Zustand dieser Kopplungen nicht ignorieren. Denn jede Einschränkung der operativen Möglichkeiten limitiert die möglichen Zuordnungen. Für die Verkettung teilsystemspezifischer Ungleichheiten ist vor allem der Umstand von Bedeutung, dass strukturelle Kopplungen zu Asymmetrien führen können, die sich in einem Ungleichgewicht zwischen den Freiheitsgraden der Funktionssysteme ausdrücken. Der Normalfall funktionaler Differenzierung dürfte, so Luhmann, ein Zustand sein, in dem eine Mehrheit von strukturellen Kopplungen mit verschiedenen Segmenten der Umwelt die Systeme davor schützt, dass eine dieser Interdependenzen eine Führungsposition übernimmt oder dass Engpassprobleme auf Dauer gestellt werden 457. Die Geschichte der funktionalen Differenzierung ist aber durch intersystemische Asymmetrien geprägt, wobei die Ökonomisierung der anderen Funktionssysteme 458 eine deutliche Dominanz hat. Der Grund hierfür liegt vor allem (aber nicht nur) darin, dass Organisationen, in denen die wichtigsten strukturellen Kopplungen der funktional differenzierten Gesellschaft stattfinden, durch ihre konstitutive Geldabhängigkeit zu einer belastenden Geldabhängigkeit der Funktionssysteme führen können 459. Das schließt aber historische und regionale Variationen nicht aus. Als Gegentendenz zur Ökonomisierung kann beispielsweise der Wohlfahrtsstaat gelten. So ist zu vermuten, dass auch die Relevanz der funktionsspezifischen Ressourcen für die Kumulation von Ungleichheiten im Lebenslauf davon abhängig ist, welche strukturelle Kopplung diejenigen Irritationen erzeugt, mit denen sich die gekoppelten Systeme prioritär beschäftigen müssen. Luhmann selbst erkennt einige strukturelle Kopplungen, die ungleichheitsrelevant sind, betont aber auch, dass man es der Geschichte und der empirischen Beobachtung der modernen Gesellschaft überlassen muss, welche von ihnen eine „dominierende Rolle“ übernehmen wird. 456

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 780. Ibidem. 458 Siehe SCHWIMANNK, Uwe (2008): „Die Moderne. Eine funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft“. In: Berliner Journal für Soziologie 3 (2009), S. 327-351. 459 LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 306-307. 457

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3.6 Staatsangehörigkeit In seinem Beitrag zum Begriff der sozialen Klasse 460 macht Luhmann den Vorschlag, die segmentäre Differenzierung der Weltpolitik in Staaten 461 als funktionales Äquivalent der Klassenbildung anzusehen. Die Mitgliedschaft in der Organisation Staat (Staatsangehörigkeit) ermöglicht eine Vielzahl von strukturellen Kopplungen, welche die Lebenschancen von Menschen in unterschiedlichen Funktionssystemen beeinflussen können. Die segmentäre Differenzierung des politischen Systems führt zur Kumulation von Vorteilen und Nachteilen, die auf einen globalen „Matthäuseffekt“ hinausläuft. Wo es mehr Wohlstand gibt, wird es leichter, weiterhin mehr Wohlstand zu haben. Die vorteilhafte ökonomische Lage eines Landes steht in Zusammenhang mit der Qualität seines Bildungswesens, mit der Gesundheit der Bevölkerung, mit körperlicher Sicherheit und mit der Lebenserwartung seiner Bürger. Dieselben Interdependenzen finden sich auch in der Kumulation von Nachteilen, ein Phänomen, das in den sogenannten „failed states“ mit aller Deutlichkeit zu beobachten ist. Empirische Studien zeigen, dass die Bedeutung der nationalen Verortung für die Bestimmung des individuellen Einkommens im 19. und zu großem Teil des 20. Jahrhunderts an Relevanz gewonnen hat 462. Wendet man den Begriff der operativ/strukturierten sozialen Ungleichheit an, so wird deutlich, dass die Staatsangehörigkeit qua „Geburt“ als eine „unentscheidbare Entscheidungsprämisse“ für eine enorme Varietät von ungleichheitsrelevanten Entscheidungen angenommen wird. Vor allem der Wohlfahrtsstaat fungiert als ein Inklusionsvermittler 463, indem er seine Leistungen auf die Erhöhung bzw. Universalisierung von Inklusionschancen in unterschiedlichen Funktionsbereichen richtet. Dies wird generell durch die Finanzierung der teilsystemischen Leistungsproduktion tragenden Organisationen, durch rechtliche Schutzmechanismen, durch Wirtschaftspolitik und durch die Dekommodifizierung des Zugangs zum Erziehungssystem und zum Gesundheitssystem erreicht. Aber auch durch den Schutz des Familienlebens gegen eine punktuelle Kopplung mit Zahlungsoperationen, die die spezifische Kommunikationsform der Intimbeziehungen einem destruktiven Ökonomisierungsdruck aussetzt. Der 460

LUHMANN, Niklas (2008): „Zum Begriff der sozialen Klasse“, S. 123. Die segmentäre Differenzierung der Weltpolitik lässt sich nicht ohne die sie begleitende Konstruktion nationaler Identitäten verstehen, die dem Entgrenzungsanspruch der Funktionssysteme ein kompensatives „Wir“ und eine fiktive territoriale Einheit der ausdifferenzierten Gesellschaftsbereiche entgegensetzt. HAHN, Alois (1993): „Identität und Nation in Europa“. In: Berliner Journal für Soziologie 3 ( 1993), S. 198-199. 462 GREVE, Jens (2010): „Globale Ungleichheit. Weltgesellschaftliche Perspektive. In: Berliner Journal für Soziologie 2 (2010), S. 76. 463 STICHWEH, Rudolf (2004): „Zum Verhältnis von Differenzierungstheorie und Ungleichheitsforschung. Am Beispiel der Systemtheorie der Exklusion“. In: SCHWINN, Thomas (Hg): Differenzierung und Soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt a. M: Humanities Online, S. 363-364. 461

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Wohlfahrtsstaat wirkt mittels sozialer Rechte als ein Gegengewicht zur Ökonomisierung der Inklusionsverhältnisse, sodass die Autonomie der anderen Funktionssysteme gegen eine „Kolonialisierung“ des Ökonomischen gesichert wird 464. Dabei werden sowohl Organisationen (Schule, Hochschulen, Krankenhäusern usw.) wie auch Individuen von einer zu punktuellen Kopplung mit der Wirtschaft befreit. Diese Entpunktualisierung von Zwischen-System-Beziehungen ist somit zur Voraussetzung für die Erhöhung der teilsystemischen operativen Möglichkeiten geworden, und zwar deshalb, weil eine feste Kopplung mit Zahlungsoperationen eine dauerhafte Fremdkonditionierung (durch Geld) der anderen Teilsysteme bedeutet. So werden die Operationen eines Systems praktisch nicht durch eigene Programme konditioniert, sondern durch das Vorliegen von Operationen des Wirtschaftssystems 465. Ohne öffentliche Finanzierung müssten Universitäten und Forschungszentren beispielsweise die Erkenntnissuche nicht an wissenschaftlichen Programmen, sondern nur an Forschungsaufträgen nichtwissenschaftlicher Organisationen orientieren. Während die Theorien sozialer Ungleichheit meist dazu tendieren, die Nationalstaaten als gesellschaftliche Rahmung der Sozialstrukturanalyse anzunehmen, mit der Folge, dass die Staatsangehörigkeit als eine unhinterfragte Bestimmung der sozialen Lagen akzeptiert wird 466 , fokussiert der Begriff der operativ/strukturierten sozialen Ungleichheit genau auf die kontingente Konstruktion dieser Lage. Wie die operative Zurechnung von Staatsangehörigkeit und Nationalität Strukturen sozialer Ungleichheit erzeugt, steht im Zentrum der durch diesen Begriff ausgelösten Fragestellung. Auf diese Weise kann man beobachten, dass die operative Zurechnung als eine askriptive Form sozialer Schließung, also eine Monopolisierung von Lebenschancen fungiert, und zwar nicht nur in den nationalen Sozialräumen, sondern auch als Kriterium der Mobilität bzw. Immobilität zwischen verschiedenen Nationalstaaten 467. Das an der segmentären Differenzierung des politischen Systems orientierte Zurechnungsprinzip lässt sich nicht durch nationale Demokratien politisieren, denn diese finden ihren „blinden Fleck“, ihren unthematisierbaren Ursprung, gerade in territorial segmentierten Nationalstaaten. Wer zum Volk gehört und wer nicht, ist eine nicht-politisierbare, ja eine nicht-demokratisierbare Entscheidungsprämisse aller demokratischen Politik. Die wohlfahrtsstaatliche Inklusions464

Siehe KUCHLER, Barbara (2006): „Bourdieu und Luhmann über den Wohlfahrtsstaat. Die Autonomie gesellschaftlicher Teilbereiche und die Asymmetrie der Gesellschaftstheorie“. In: Zeitschrift für Soziologie 1 (2006), S. 5-23; SCHIMANNK, Uwe (2009): „Vater Staat“. Ein vorhersehbares Comeback. Staatsverständnis und Staatstätigkeit in der Moderne. In DMS – der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management 2 (2009), S. 249-269. 465 KUCHLER, Barbara (2006): „Bourdieu und Luhmann über den Wohlfahrtsstaat“, S. 19. 466 WEIß, Anja (2002): „Raumrelationen als zentraler Aspekt weltweiter Ungleichheiten. In: Mittelweg (2), 2002, S. 86. 467 Ibidem, S. 84.

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logik, die sich aus dem erkämpften Wahlrecht in verschiedenen Nationalstaaten 468 ergeben hat, ist, wenn man sie aus einer weltgesellschaftlichen Perspektive beschreibt, ein Privileg der Populationen reicher Länder. Die Staatsangehörigkeit ist eine Struktur sozialer Ungleichheit, doch sie ist nicht unmittelbar aus der primären Differenzierungsform der Gesellschaft abgeleitet; sie wird vielmehr operativ durch eine Zurechnungsweise des politischen Systems erzeugt, und zwar indem diese politische Operation Inklusionen in unterschiedlichen Funktionssystemen konditioniert 469. Sie ist eine durch politische Operationen strukturierte soziale Lage. In der Weltgesellschaft sind soziale Lagen deshalb maßgeblich dadurch strukturiert, zu welchen nationalen Sozialräumen eine Person als Staatsbürger Zugang hat. So zeichnen sich die privilegiertesten Lagen eben durch die weltweite Anschlussfähigkeit der sie definierenden Ressourcen aus, sodass die nationalstaatliche Grenzregulation zu einer Formalie wird 470, während die unterprivilegiertesten Lagen diejenigen sind, in denen der „Makel“ einer peripheren Staatsangehörigkeit nicht nur „einheimische“ Schlechterstellung konditioniert, sondern auch den Zugang zu besseren sozialen Räumen versperrt oder, sofern sie zugänglich sind, so unter den Bedingungen einer Entwertung der Ressourcen, die in der Peripherie erworben wurden. Menschen aus peripheren und (semi-)peripheren Ländern sehen ihre Lebenschancen gerade durch räumliche Grenzen der Einsetzbarkeit ihrer Ressourcen beschränkt, selbst wenn sie die gleiche Ressourcenausstattung haben. Das heißt: Der Zugang zu diesen sozialen Räumen ist für die Ungleichheitsforschung so wichtig wie die Ressourcenausstattung innerhalb eines spezifischen sozialen Raums selbst, denn der Wert von Ressourcen hängt von den Räumen ab, in denen sie wirksam werden können: In einer sich globalisierenden Welt hängt der Wert von Ressourcen von den diversen national und transnational organisierten sozialen Räumen ab, in denen sie sich in Lebenschancen umsetzen 471. Wichtig ist festzuhalten, dass die im Zusammenhang mit der segmentären Differenzierung der Weltpolitik stehenden Raumrelationen nicht gegeben sind. Sie entstehen vielmehr durch Zurechnung von Nationalität/Ethnizität auf Personen. Wenn also in Regionen, in denen der Wohlfahrtsstaat die Aufgabe der Inklusionsvermittlung besser erfüllen kann, die Zurechnung einer peripheren oder auch semi-peripheren Nationalität oft mit Beschränkungen der Anerkennung von Ressourcen, vor allem von kulturellem Kapital, einhergeht, haben wir es mit einer operativen Strukturierung ungleicher Lebenschancen zu tun. Wird in der Soziologie davon ausgegangen, dass die Nationalstaaten gesellschaftliche Grenzen von Ungleichheitsstrukturen sind, dann lässt man die Perspektive von Orga468

SCHIMANNK, Uwe (2009):„Vater Staat. Ein vorhersehbares Comeback, S. 265. WEIß, Anja (2002): „Raumrelationen als zentraler Aspekt weltweiter Ungleichheiten“, S. 81. 470 Ibidem, S. 84. 471 Ibidem, S. 77. 469

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nisationen der Weltpolitik zur Perspektive der Soziologie werden. Mit dem Begriff der operativ/strukturierten Ungleichheit soll dagegen die Staatsangehörigkeit als eine sich aus der Binnendifferenzierung des politischen Systems ergebende operative Konstruktion von Strukturen in der Weltgesellschaft bezeichnet werden. In diesem theoretischen Kontext gibt es keinen Grund für das Entgegensetzen einer weltgesellschaftlichen Perspektive und einer Sichtweise, die regionale Unterschiede und Konditionierungen betont. Die Luhmannsche Theorie der Weltgesellschaft postuliert weder nationale Konvergenzen, als ob es sich um regionale Wiederholungen des Prinzips funktionaler Differenzierung handelte, noch eine globale Kausalität der lokalen Strukturen 472. Im Gegenteil nimmt er an, dass die Aktualisierung der operativen Möglichkeiten, die sich aus der funktionalen Differenzierung ergeben, durch die regionalen Geschichten konditioniert wird, denn die Funktionssysteme sind nicht zielorientiert, sondern orientieren sich an dem jeweiligen historischen Zustand eines jeden regionalen Kontextes, der durch spezifische Möglichkeiten des Operierens der Funktionssysteme charakterisiert ist. Insofern ist es völlig irregeführt, Luhmann deshalb zu verwerfen, weil er für eine globale Konditionierung der regionalen Strukturen plädiert 473. Um zu dieser falschen Annahme zu kommen, muss Luhmann missverstanden sein. Greve sah die These einer globalen Konditionierung folgendermaßen: Eher dürfte die Annahme zutreffen, dass die auf der Ebene der Weltgesellschaft durchgesetzte funktionale Differenzierung die Strukturen vorzeichnet, welche die Bedingungen für regionale Konditionierung vorgeben 474. Dass Luhmann hier genau das Gegenteil behauptet wird deutlich, wenn er gleich im Anschluss an die von Greve zitierte Passage die regionale Konditionierung der funktional ausdifferenzierten Kommunikationen hervorhebt: Funktionale Differenzierung ist, so gesehen, nicht die Bedingung der Möglichkeit der Systemoperationen, sondern eher die Möglichkeit ihrer Konditionierung. Daraus ergibt sich zugleich eine Systemdynamik, die zu extrem ungleichen Entwicklungen innerhalb der Weltgesellschaft führt 475. Beseitigt man dieses Missverständnis, so zeigt sich ein theoretischer Ansatz, der offen für die Beobachtung regionaler Unterschiede bleibt. Eine vielversprechende Analyserichtung bietet sich an, wenn man die segmentäre Differenzierung der Weltpolitik als Schnittstelle einer Mehrheit struktureller Kopplungen betrachtet: 472

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 811. So Jens GREVE: „Konditionieren die Strukturen der Weltgesellschaft die der Regionen, oder muss nicht vielmehr davon ausgegangen werden, dass die regionalen Strukturen die der Weltgesellschaft konditionieren? Luhmanns These ist – und sie ergibt sich konsequent aus dem Ausgangspunkt der Weltgesellschaft im Ganzen -, dass die erste Lesart gilt“. GREVE, Jens (2011): „Globale Ungleichheiten“, S. 73. 474 Ibidem. Die zitierte Passage befindet sich in Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 811. 475 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 811.

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Nicht nur jeder Nationalstaat, sondern gerade auch „die Stärke“ und „Schwäche“ von Nationalstaaten können in Bezug darauf analysiert werden, ob und wie soziale Ungleichheit durch die nationale Politik beeinflusst wird. Man wird vor allem fragen müssen, welche strukturelle Kopplung in welchem nationalstaatlichen Kontext einen Vorsprung hat und wie dies auf unterschiedliche Formen sozialer Ungleichheit hinausläuft. So wird hier die These vertreten werden, dass die Spezifika der sozialen Ungleichheit in Brasilien auf die Schwäche der wohlfahrtsstaatlichen Inklusionsvermittlung im Vergleich zu anderen strukturellen Kopplungen, insbesondere der Geldabhängigkeit, zurückgeführt werden kann. Denn ohne die wohlfahrtsstaatliche Vermittlung, von der vor allem die Lebenschancen der Unterschichten abhängen, werden die Inklusionen in unterschiedlichen Funktionssystemen direkt mit ökonomischem Kapital verbunden: „Ein großer Teil der Weltbevölkerung ist den Wirkungen globaler Märkte ohne Vermittlung eines starken Nationalstaates ausgesetzt“ 476.

3.7 Die strukturelle Kopplung von Erziehung und Wirtschaft Eine weitere strukturelle Kopplung, die für die Kumulation von funktionsspezifischen Ressourcen im Lebenslauf entscheidend ist, ist diejenige zwischen Erziehung und Wirtschaft. Spätestens seit Max Weber wird die Klassen -und Ungleichheitsanalyse auf ökonomischen Kapitalbesitz und auf Bildungsqualitäten bezogen. Bei Bourdieu gewinnt die Konvertierbarkeit zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital eine zentrale Bedeutung für die Produktion und die Reproduktion sozialer Ungleichheit. Dabei macht der Fokus auf die wechselseitige Interdependenz zwischen beiden Kapitalformen darauf aufmerksam, dass der Wert und der soziale Sinn einer bestimmten Kapitalausstattung konstitutiv mit den Umwandlungsmöglichkeiten in die jeweilige andere Kapitalart verbunden sind 477. Die Umwandlung von ökonomischem in kulturelles Kapital beginnt schon in der Familie und hängt vor allem von der für die familiäre Erziehung zur Verfügung stehenden Zeit ab. Bildungsinvestition setzt voraus, dass eine Umkehrbarkeit dieser Umwandlung von ökonomischem in kulturelles Kapital zumindest teilweise durch den Arbeitsmarkt garantiert ist. Ohne die Konsequenzen daraus zu ziehen, sieht auch Luhmann in der strukturellen Kopplung von Wirtschaft und Erziehung, die durch Zeugnisse und Zertifikate eingerichtet wird, ein zentrales Moment für die Reproduktion sozialer Ungleichheit 478 . Als weiteres

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WEIß, Anja (2002). „Raumrelationen als zentraler Aspekt weltweiter Ungleichheiten“, S. 85. BOURDIEU, Pierre (1983): „Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital“. In: KRECKEL, Reinhard (Hg). In: Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt Sonderband 2 (1983). Göttingen, S. 183-198. 478 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S.786. 477

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Beispiel der Kopplung von Wirtschaft und Erziehung kann auch der Beruf 479 dienen, da er eine pädagogische Seite (Bildung, Qualifikation) und eine wirtschaftliche Seite (Erwerbsarbeit) hat. Das Funktionssystem Erziehung gewinnt durch die Ausdifferenzierung einer pädagogischen Praxis seine Einheit als operativ geschlossene Kommunikationsform. Wie bei allen Funktionssystemen gilt auch hier, dass die Systemeinheit nicht durch (schulische) Organisation erreicht wird 480, sondern durch die Orientierung an einer absichtsvolle [n] Kommunikation unter Anwesenden, bei der in Form einer Vermittlung von bewahrenswertem Wissen und Werten über die anderen Bereiche der Gesellschaft Individuen auf das Leben in der Gesellschaft und seiner Subsysteme vorbereitet werden 481. Es handelt sich dabei um die Weitergabe des kulturellen Gedächtnisses 482 einer Gesellschaft, in der die Vermittlung von Wissen und Werten über ausdifferenzierte Funktionssysteme nicht im Kontext ihrer eigenen Operationen erfolgen kann. Die Ausdifferenzierung einer pädagogischen Praxis findet dann statt, wenn die Erzeugung von Kompetenzen bei nachwachsenden Generationen, die sie zur Teilhabe und zur (Re) Produktion der Kultur befähigen, zu einem spezifischen Bezugsproblem wird, mit dem sich erzieherische Organisationen und Professionen, aber auch Familien, Betriebe usw., beschäftigen müssen. Das Erziehungssystem reproduziert sich über die laufende systeminterne Markierung einer Grenze zwischen dem Pädagogischen und seiner Umwelt. Konstitutiv für die Reproduktion dieser Systemgrenze ist, dem Vorschlag Jochen Kades 483 folgend, der Code „vermittelbar/nicht-vermittelbar“, der die Systemreproduktion durch die Reproduktion seines Bezugsproblems sichert. Vermittlung wird erst dann zum Problem, wenn die Welt durch die pädagogische Unterscheidung zwischen „vermittelbar“ und „nicht-vermittelbar“ beobachtet wird. „Vermittelbar“ ist der positive Codewert und sichert die Anschlussfähigkeit von Systemoperationen. 479 KURTZ, Thomas (2001): „Form, strukturelle Kopplung und Gesellschaft“. In: Zeitschrift für Soziologie 2 (2001), S. 135-156. 480 LUHMANN, Niklas (1997): „Erziehung als Formung des Lebenslaufs“. In: LENZEN, Dieter/LUHMANN, Niklas (Hg): Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 11; KADE, Jochen (1997): „Vermittelbar/nicht-vermittelbar: Vermitteln: Aneignen. Im Prozeß der Systembildung des Pädagogischen“. In: LENZEN, Dieter/LUHMANN, Niklas (Hg): Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 31. 481 KURZ, Thomas (2006): „Erziehung, Kommunikation, Person. Zur Stellung des Erziehungssystems in einem besonderen Quartett gesellschaftlicher Funktionen“. In: EHRENSPECK, Yvonne/LENZEN, Dieter (Hg): Beobachtungen des Erziehungssystems. Systemtheoretische Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag, S.116. 482 ASSMANN, Aleida (1993): Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Frankfurt a. M./New York: Campus, S. 8. 483 KADE, Jochen (1997): „Vermittelbar/nicht-vermittelbar: Vermitteln. Aneignen. Im Prozeß der Systembildung des Pädagogischen“, S. 32.

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„Nicht-vermittelbar“ ist der Reflexionswert und bezeichnet die Möglichkeit der Nichtvermittlung, die das System nicht ausschließen kann. Das System reproduziert sich, indem seine Vermittlungsaufgaben und Vermittlungsversprechen durch die Codierung von Wissen anhand der Unterscheidung „vermittelbar/nichtvermittelbar“ verbindlich formuliert und reformuliert werden. Obwohl das System nicht sehen kann, dass es das gesellschaftliche Problem, über das es sich begründet, selbst erzeugt, ist seine Reproduktion darauf angewiesen, dass ungelöste gesellschaftliche Vermittlungsprobleme stets neu gestellt werden. Das Eintreten von Nichtvermittlung bzw. von misslungener Vermittlung gefährdet also nicht die Reproduktion des Systems, solange die Fortsetzung von Systemoperationen über den Wert „vermittelbar“ möglich bleibt: „Seine Reproduktion ist eine Form der Lösung/Nichtlösung des ihm vorausgesetzten gesellschaftlichen Vermittlungsproblems“ 484. Der Code „vermittelbar/nicht-vermittelbar“ ermöglicht eine inhaltliche Öffnung des Erziehungssystems. Dies führt zu strukturellen Kopplungen, die das System sensibel für externe Anforderungen machen. Intern werden solche Anforderungen auf pädagogische Programme umgestellt, die die Selektion von Wissen als „vermittelbar“ bzw. „nicht-vermittelbar“ strukturieren. Die strukturellen Kopplungen sorgen dafür, dass die Strukturbildung, d .h. die Programmbildung – Auswahl von zu vermittelndem Wissen, von Vermittlungsmethode usw. – eines Systems durch die Strukturentwicklung des jeweils anderen lernen kann. So ermöglicht der Beruf als strukturelle Kopplung von Erziehung und Wirtschaft eine strukturelle Coevolution der beiden Systeme, die sich auch im Globalisierungsprozess beobachten lässt: Neue Tätigkeitsfelder erfordern neue Qualifikationen (neue Fremdsprache, Anpassungsfähigkeit im Ausland etc.), das Erziehungssystem beobachtet diese durch die strukturelle Kopplung Beruf und reagiert schließlich mit neuen Ausbildungsformen (neuen FremdsprachenAngeboten, Aufenthalten im Ausland etc.) 485. Gelernt wird im Erziehungssystem also auf der Programmebene, dem Ort, wo neue, zu vermittelnde Wissensfiguren und Praktiken des Vermittelns erfunden werden können. Die Ausdifferenzierung eines Erziehungssystems im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde zunächst durch die Bedarfe der Politik und der Wirtschaft gefordert und gefördert 486. Dabei ging es vor allem um die schnelle Expansion der Schulerziehung durch den Aufbau von nationalen Unterrichtssystemen und Schulorganisationen. Zum heutigen Zeitpunkt wurde in der Weltgesellschaft eine erstaunli-

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Ibidem, S. 43. KURTZ, Thomas (2001):. „Form, strukturelle Kopplung und Gesellschaft“, S. 146. 486 TYRELL, Hartmann/VANDERSTRAETEN, Raf (2007): „Familie und Schule: zwei Orte der Erziehung“. In: ADERHOLD, Jens/KRANZ, Olaf (Hg): Intention und Funktion. Probleme der Vermittlung psychischer und sozialer Systeme. Wiesbaden: VS Verlag, S.159. 485

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che organisatorische und curriculare Uniformität erreicht 487, die trotzt aller nationalstaatlichen Grenzen zur Entstehung von weltweit anerkannten beruflichen Feldern als strukturelle Kopplung zwischen Erziehung und Wirtschaft beigetragen hat. Auch wenn der Beruf andere Verknüpfungen als die genannte Ausgangskopplung zwischen Qualifikation und Erwerbsarbeit einschließen kann, beispielsweise zwischen Erziehung und Politik oder, allgemeiner formuliert, solche zwischen Erziehung und anderen Funktionssystemen (Kunst, Gesundheitssystem, Religion usw.), so ist der Beruf doch in erster Linie eine strukturelle Kopplung von Erziehung und Wirtschaft. Dies begründet sich darin, dass die berufliche Tätigkeit auch in nicht primär wirtschaftlich operierenden Organisationen bezahlt und das berufliche Wissen angewandt werden muss 488. Ohne seinen „klassischen“ Stellenwert innerhalb der Ungleichheitssoziologie als die gesellschaftliche Position des Individuums 489 (Stichwort: Berufszentrierung) erneut zu beanspruchen, ist doch festzuhalten, dass der Beruf, wenn er als strukturelle Kopplung von Erziehung und Wirtschaft verstanden wird, eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung für die Frage nach der Strukturierung von Ungleichheit in verschiedenen Funktionsbereichen hat. Zum einen nimmt das Wissen, das durch erzieherische Kommunikation vermittelt wird, auf unterschiedliche Funktionsbereiche 490 Bezug. Es kann zudem den Erwerb weiterer Wissensbestände, die erst im Verlauf des Lebens in konkreten funktionsspezifischen Inklusionen erforderlich werden, erleichtern. So lässt sich beobachten, dass beispielsweise die Partnerwahl 491, der Kunstgeschmack492 und die politische Partizipation 493 in Zusammenhang mit dem Bildungsniveau stehen. Dem Begriff der operativ/strukturierten Ungleichheiten folgend wird nicht behauptet, dass eine bestimmte Wissensform Inklusionen in verschiedenen Funktionssystemen strukturieren kann. Die der funktionalen Differenzierung zugrunde liegende strukturelle Diskontinuität zwischen den Subsystemen schließt eine solche einheitliche Strukturierung aus. Damit das in einer früheren Lebensphase erworbene Wissen vorteilhaft für spätere funktional differenzierte Inklusionsformen genutzt werden kann, muss es eben den Umgang mit dieser strukturellen Diskontinuität erleichtern, also als ein vorteilhafter Ausgangspunkt für den Erwerb weiterer Wissens487

MEYER, John. W (1997): “World Society and the Nation State”. In: American Journal of Sociology 103 (1997), S. 144-181 488 KURTZ, Thomas (2001): „Form, strukturelle Kopplung und Gesellschaft“, S. 145. 489 BERGER, Peter/HRADIL, Stefan (1990): „Die Modernisierung sozialer Ungleichheit und die neuen Konturen ihrer Erforschung“, S. 3-28. 490 KADE, Jochen (1997): „Vermittelbar/nicht-vermittelbar: Vermitteln“, S. 35. 491 TECKENBERG, Wolfgang (1999): Wer heiratet wen? Sozialstruktur und Partnerwahl. Opladen: Leske + Budrich. 492 BOURDIEU, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Vgl. GEHARDS, Jürgen 81997): Soziologie der Kunst. Produzenten, Vermittler und Rezipienten. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997. 493 BOURDIEU, Pierre (2001): Das politische Feld. Konstanz: UKV, S. 69.

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formen dienen, die zu den spezifischen Inklusionsbedingungen des jeweiligen Funktionssystems passen. Zwischen den verschiedenen Wissensformen besteht eine Art von Kopplung, die Luhmann als lose Kopplung bezeichnen würde. Eine Person mit höherem Bildungsniveau hat zwar die Möglichkeit, einen „feinen Kunstgeschmack“ zu entwickeln, aber diese Möglichkeit wird nur dann aktualisiert, wenn aus dem bestehenden Wissen ein „Kunstwissen“ entsteht. Das setzt eine Umwandlungsarbeit voraus, die nur mithilfe von Operationen des Kunstsystems selbst durchgeführt werden kann. Das bedeutet, dass die Strukturen, die als zugerechneter „feiner Kunstgeschmack“ das Eintreten weiterer Operationen (und Inklusionen) zugunsten der durch ihn ausgezeichneten Person zu steuern in der Lage sind, nicht außerhalb von Kunstoperationen erzeugt werden, sondern nur durch diese Operationen selbst. Zum anderen bleibt der Beruf trotz aller Veränderung in der Arbeitswelt entscheidend für die Monopolisierung von Inklusionschancen in (Arbeits) Organisationen. Der Beruf ermöglicht nicht nur die Umwandlung von Wissen in Geld durch Erwerbsarbeit; er kann auch eine Monopolisierung solcher Umwandlungschancen ermöglichen, indem es bestimmten Berufsgruppen gelingt, formelle und/oder informelle Schließungskriterien als Prämisse für organisatorische Rekrutierungsentscheidungen durchzusetzen 494. Die Berufsgruppen haben doch die Chance, ihre partikulären Verhaltensweisen zu Entscheidungsprämissen für die Besetzung von Positionen in Organisationen zu machen, sei es als politischrechtlich garantiertes Beschäftigungsmonopol, sei es als informell anzuerkennende Kompetenz. Das führt in der Regel nicht zu einer Aufhebung der Unterscheidung von Person und Rolle, sondern zu einer praktischen Definition von Rollen, die auf spezifischen, der Person zugerechneten Verhaltenserwartungen beruhen. Im Kontext der sogenannten „Wissensgesellschaft“ schlägt sich diese selektive Übereinstimmung zwischen rollengebundenen und personengebundenen Verhaltenserwartungen in einer Art organisatorischen Definitionsmacht nieder, die das bestimmt, was als sozial inklusives Wissen im Sinne von Selektionskriterien für Mitgliedschaftsrollen zu gelten hat 495. Entgegen der Utopie der „Wissensgesellschaftssemantik“ 496 hatte der Bedeutungsgewinn von Wissen als erforderte Inklusionsbedingungen in Arbeitsorganisationen keinen egalisierenden Effekt. Die prinzipiell nicht notwendige Beziehung zwischen Wissen und Knappheit wird in der Tat gerade wegen der strukturellen Kopplung von Erziehung und Wirtschaft ständig produziert und reproduziert. Das liegt daran, dass die ökonomische Knappheit, also auch die Knappheit von Arbeitsstellen als Quelle sicherer Erwartung auf Regenerierung eigener

494

SCHWINN, Thomas (1997): Soziale Ungleichheit, S. 54 ff. SUCHANEK, Justine (2006): Wissen-Inklusion-Karrieren. Göttingen: V&R unipress, S. 144. 496 Ibidem, S. 140. 495

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Zahlungsfähigkeit, im Erziehungssystem als Knappheit der Verwertungschancen von Wissen im Arbeitsmarkt beobachtet wird. Um als Basis für strukturierte soziale Ungleichheit oder für Vorteile im ökonomischen Wettbewerb fungieren zu können, muss Wissen also so organisiert werden, dass es nicht für alle gleichermaßen zugänglich ist - die zunehmenden Streitigkeiten um die Patentierung wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Verfahren sprechen hier eine deutliche Sprache 497. Auch wenn es sich um Forderungen nach personengebundenen Qualifikationen handelt, wie beispielsweise die Forderung nach unternehmerisch denkenden und handelnden Arbeitskräften, so löst sich der Zusammenhang von Wissen und Knappheit dennoch kaum auf. Zumindest marktverwertbares Wissen bleibt auch hier ungleich verteilt und knappt. Was sich ändert, ist nicht das „organisationsbasierte Knappheitsregime“, das Ungleichheiten der ökonomischen Verwertungschancen auch hinsichtlich dieser personengebundenen Wissensformen produziert, sondern lediglich die Art, wie auf die Person zugegriffen wird. Das Menschenbild der wissensgesellschaftlichen Semantik macht die Wissensbestände zu einer Sache der Person, wobei Inklusion und Exklusion immer weiter der Verantwortung des Individuums zugerechnet werden: Denn dort, wo formale Qualifikationen für eine normale Karriere nicht mehr ausreichen und durch einen schier unendlichen Katalog von Schlüsselqualifikationen ergänzt werden, wird eine strukturelle Überforderung erzeugt, die dem Einzelnen permanente Inklusionsbemühungen abfordert 498. Diese individualisierende Beobachtungsweise von Wissen lässt in Vergessenheit geraten, dass gerade die wichtigsten informalen Wissensformen, allein schon wegen ihrer nicht-schulischen Vermittlungsweise, weitreichenden Ungleichheitsfaktoren darstellen. Ein Beispiel dafür bietet die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen 499 , die zum Erkennen und Nutzen von Inklusionschancen entschei497

BERGER, Peter/HRADIL, Stefan (1990): „“Die Modernisierung sozialer Ungleichheit und die neuen Konturen ihrer Erforschung, S. 87. 498 SUCHANEK, Justine (2006): Wissen-Inklusion-Karrieren, S. 150. Das Phänomen wird unter dem Schlagwort „Subjektivierung der Arbeit“ diskutiert. Siehe dazu PEETZ, Thorsten/LOHR, Karin (2010): „Arbeit und Organisation in der funktional differenzierten Gesellschaft Ein theoretischer Rahmen zur Analyse von Arbeit, illustriert am Beispiel von Unternehmen und Schulen“. In: Berliner Journal für Soziologie 20 (2010), S. 462-463. 499 Für Berger und Hradil (BERGER, Peter/HRADIL, Stefan (1990): „Die Modernisierung sozialer Ungleichheit und die neuen Konturen ihrer Erforschung“) gibt es drei Schlüsselkompetenzen, die für soziale Ungleichheit am wichtigsten zu sein scheinen: 1) Die Kompetenz, Ermessensspielräume zu instrumentalisieren: „Man denke hier nur an die bundesdeutschen Steuergesetze mit ihrer Unzahl an Schlupflöcher, deren geschickte Nutzung freilich erhebliches Wissen voraussetzt. Oder an das ja selbst mitunter teuer gehandelte Wissen darum, welche Art der Vermögensanlage die „sicherste" oder gewinnbringendste ist.“(S. 95); 2) Milieuspezifische kommunikative Fähigkeiten: „Dabei setzt die Nutzung von Spielräumen, die ja nach Bell in postindustriellen Gesellschaften nach der Logik eines „Spiels zwischen Personen" abläuft, oftmals besondere kommunikative Fähigkeiten und ein erhebliches „Verhandlungsgeschick" voraus, wodurch meist auch eine Abgrenzung gegenüber denjenigen

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dender geworden sind. Diese Qualifikationen, allgemein verstanden als „Können in der Alltagspraxis“, also als die Fähigkeit, mehr oder weniger gut mit den Unwägbarkeiten des Lebens zurechtzukommen, werden durch milieuspezifische Erziehungspraktiken vermittelt, d. h. durch Erziehungsformen, die meistens durch Familie, Nachbarschaft, und Netzwerke 500 erzeugt werden. Dabei wird der erweiterte Zugriff auf personenbezogene Qualifikationen und Verhaltensmöglichkeiten auch zum Moment der „neuen Eliten“, die ihren partikulären, auf hochkulturelle Bewertungs- und Wahrnehmungsschemata basierten Kommunikationsstil mit der Fähigkeit kombinieren, „die Codierung der Funktionssysteme in Entscheidungsalternativen aufzunehmen und damit reflexiv die Perspektivendifferenzen zwischen den Funktionssystemen in Betracht zu ziehen“ 501. Die Ungleichheitsrelevanz informaler Wissensformen hängt mit der Binnendifferenzierung des Erziehungssystems zusammen. Als eine Kommunikationsform, die sich auf das „Personwerden“ von Menschen im Sinne ihrer Vorbereitung auf das späteres Leben 502 spezialisiert hat, lässt sich Erziehung nicht auf ihre schulische Variante reduzieren. Trotz der Vielfalt der Bildungsinstitutionen und Bildungsangebote (Schulen, Universitäten, Volkshochschulen, Fortbildungsveranstaltungen, Bildungsreisen, berufsspezifische und allgemeinbildende Angebote etc.) sind Familie und Schule als die wichtigsten „Orte“ 503 der Erziehung zu nennen. Dabei handelt es sich um einen weltweit verbreiteten Binnendifferenzierungsvorgang des Erziehungsbereichs, der für die Konstruktion und die Legitimation von Ungleichheit im Lebenslauf eine zentrale Rolle spielt. Die Diskontinuitätserfahrung, die diese Binnendifferenzierung hervorbringt, drängt sich dem Einzelnen auf. So schreiben Luhmann und Schorr: Die Differenzierung von Familie und Schule – sowohl im Nacheinander der Biographie als im Nebeneinander des Lebensvollzugs – ist die erste Differenzierung von Differenzen, die erste Systemdifferenzierung, der der Heranwachsende sich ausgesetzt sieht, und es muss von unabschätzbarer Auswirkung gegeben ist, die z. B. nicht über die verbalen und nonverbalen Fertigkeiten verfügen, ihre Interessen als Einzelne oder im Namen eines „Kollektivs" zu vertreten.“(S. 95, kursiv der Autoren) und 3) Das Geschick, Widerstand zu mobilisieren und so eine vorteilhafte Ungleichverteilung von Risiken zu schaffen. Paul Windolf zufolge zeichnet diese dritte Kompetenz den heutigen „Eigentümer ohne Risiko“, die neue „Dienstklasse des Finanzmarkt-Kapitalismus“ aus. WINDOLF, Paul (2008): „Eigentümer ohne Risiko. Die Dienstklasse des Finanzmarkt-Kapitalismus“. In: Zeitschrift für Soziologie 6 (2008), S. 516-535. 500 BERGER, Peter/HRADIL, Stefan (1990): „Die Modernisierung sozialer Ungleichheit und die neuen Konturen ihrer Erforschung“, S. 96. 501 NASSEHI, Armin (2004): „Eliten als Differenzierungsparasiten. Skizze eines Forschungsprogramms“. In: HITZLER, Ronald, HORNBOSTEL, Stefan/MOHR, Cornelia (Hg). Elitenmacht. Wiesbaden: VS Verlag, S. 34. 502 LUHMANN, Niklas (2002): Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 38, 47. 503 TYRELL, Hartmann/VANDERSTRAETEN, Raf (2007): „Familie und Schule: zwei Orte der Erziehung“, S.159-174.

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sein, wenn jedermann heute auf diesem und keinem anderen Wege seine Identität suchen und binden muss 504. Ohne das Sozialsystem Familie 505 als ein Subsystem der Erziehung begreifen zu wollen, lässt sich die Aussage, dass es sich um einen Ort der Erziehung handelt, damit begründen, dass die Vorbereitung auf das spätere Leben, die eine kommunikative Konstruktion und Veränderung von Personen bewirken soll, stillschweigend schon durch die frühkindlichen non-verbalen Kommunikationen beginnt. Die die Inklusion der ganzen Person charakterisierende thematische Offenheit der familiären Alltagskommunikation wird in der Tat antizipierend mit Bezug auf Themen beschränkt, die sich als zukunftsentscheidend erweisen. Auf diese Weise wird die Familie in der modernen Gesellschaft pädagogisch sensibilisiert. Sie muss sich unter anderem an die Zeitorganisation der Schule anpassen 506, was zugleich bedeutet, sich die in der Schule verlangte Zeitdisziplin zu eigen zu machen 507. Es geht eben um Versuche, mit der Intransparenz, die aus der Differenzierung von Familie und Schule entsteht, umzugehen, weil beide Seiten ein Informationsdefizit im Hinblick aufeinander aufweisen. In diesem Zusammenhang wird das Kind durch die pädagogischen Reflexionstheorien „entdeckt“ und zu einer relevanten Umwelt der Schule gemacht. Das Kind könnte ohne die Vorbestimmtheit seiner Herkunft erzogen werden 508. Die als Natur konzipierten ständischen Differenzen werden dekonstruiert und der Umstand, dass alle hilflos auf die Welt kommen und durch ihre Umwelt erzogen werden müssen, hingegen wird betont. Damit wird zumindest prinzipiell eine Neutralisierung der sozialen Hierarchien gewollt. In diesem Zusammenhang tauchen Begriffe wie „Neigung“, „Kraft“ und „Talent“ auf, um individuelle Dis-

504

LUHMANN, Niklas/SCHORR, Karl Eberhard (1982): „Personale Identität und Möglichkeiten der Erziehung.“ In: Ders. (Hg): Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a, M.: Suhrkamp, 1982, S. 246. 505 Luhmann definiert die Familie als ein Funktionssystem, das sich durch „enthemmende Kommunikation“ auszeichnet. Ihm zufolge hat eine solche intime Kommunikationsform die Funktion, die ganze Person zu inkludieren. LUHMANN, Niklas (1990): „Sozialsystem Familie. In: Ders. Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 196–217. 506 TYRELL, Hartmann/VANDERSTRAETEN, Raf (2007): „Familie und Schule. Zwei Orte der Erziehung“, S. 169. 507 Die pädagogische Sensibilisierung der Familie sowie ihre Mobilisierung für die organisierte Erziehung erzeugen freilich eine Reihe von Dauerbeschädigungen im Familienleben. Die Konditionierung des Geliebt-werden der Kinder durch erzieherische Leistung ist vermutlich das Paradebeispiel. Siehe dazu BOMMES, Michael (2001): „Die Unwahrscheinlichkeit der Erziehung und die ‚Integration von Migrantenkindern’“. In: AMOS, Sigrid Karin et alli (Hg): Öffentliche Erziehung Revisited: Erziehung, Politik udn Gesellschaft im Diskur. Wiesbaden: Vs Verlag, S. 267-268. 508 LUHMANN, Niklas (1995): „Das Kind als Medium der Erziehung.“ In: Ders. Soziologische Aufklärung 6 . Die Soziologie und der Mensch. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 205.

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positionen zu bezeichnen, die als schichtneutrale Dispositionen verstanden werden 509. Bei diesen unterstellten Dispositionen handelt es sich um einen Zurechnungsmechanismus der Personifizierung des Erziehungssystems. In erzieherischen Kommunikationen soll dieser Mechanismus nicht nur einen selektiven Zugriff auf psychische Systeme ermöglichen, sondern auch einen Ausgangspunkt für gezielte Einwirkungen auf diese schaffen. Bei der Vermittlung von Wissen und Werten geht es nicht nur um gelingende Kommunikation im Sinne von Anschlussfähigkeit, sondern darüber hinaus um Eingriffe in die psychische Umwelt des Gesellschaftssystems. Die Systemoperation des Vermittelns setzt die Operation des Aneignens aufseiten der Psyche, die das System als seine Adressaten beobachtet, voraus. In der Familienerziehung werden Kinder wohl nur sehr selten nach ihrer Aneignungsleistung bewertet. In der Schulerziehung dagegen sind die Kontrolle und die Bewertung der Aneignung unverzichtbar, weil die Organisation Schule an soziale Selektion gebunden ist. In diesem Kontext erlaubt es der Selektionscode besser/schlechter, Aneignungsleistungen vergleichend zu bewerten und die Schüler auf hierarchische Positionen zu verteilen. Wichtig ist festzuhalten, dass die Unterscheidung von Vermitteln und Aneignen eine Differenz von Systemen darstellt, welche eine Übereinstimmung zwischen pädagogischen Zielen und psychischen Motiven zu einem eher unwahrscheinlichen Phänomen macht 510. Wie das Vermittelte angeeignet wird und die Frage, ob und welche Veränderungen von Psychen durch die Aneignung ausgelöst werden, kann die erzieherische Kommunikation des Vermittelns nicht steuern. Vor diesem Hintergrund wird es deutlich, dass die erziehungsspezifische Konstruktion von Personen, als individuell attribuierte Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten, ein Versuch ist, mit der kommunikativen Unsteuerbarkeit der Aneignung umzugehen. Daran anschließend ergibt sich eine in der Systemtheorie viel diskutierte Problemlage des Erziehungsbereichs daraus, dass sich die Vermittlung von Wissen und Werten schwer von organisatorischen Entscheidungsprämissen strukturieren lässt. Es wird der Interaktion zwischen Lehrern und Kindern (Unterricht) überlassen, ob und wie das Vermittelte angeeignet wird. Das bedeutet, dass der Vermittlungsprozess, der auf die Änderung der Adressaten durch die Aneignung des Vermittelten abzielt, kein technisierbarer Prozess sein kann, der unabhängig davon, wie die Interaktion zwischen Lehrer und Schülern abläuft, sichere Ergebnisse bringen könnte. Es gibt im Erziehungssystem keine Technologie, die es ermöglichen könnte, Kommunikation gegen die Struktur des Interaktionssystems zu differenzieren und weitgehend unabhängig von ihnen laufen zu lassen 511. 509 TYRELL, Hartmann & VANDERSTRAETEN, Raf (2007): „Familie und Schule. Zwei Orte der Erziehung“, S. 166. 510 KADE, Jochen (1997): „Vermittelbar/nicht-vermittelbar: Vermitteln“, S. 55. 511 LUHMANN, Niklas (1995): „Das Kind als Medium der Erziehung.“, S. 204.

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Aufgrund seines „Technologiedefizits“ muss das System sich auf professionelle Praktiker stützen: Es wird erwartet, dass sie in der Interaktion mit den Klienten den Übergang zum positiven Codewert – der erfolgreichen Vermittlung – ermöglichen 512. Angesichts der Unwahrscheinlichkeit, dass die pädagogischen Vermittlungsprogramme, wie sie von den Lehrern praktiziert werden, mit den Bildungsmotiven der Schüler übereinstimmen, ist die Erziehungspraxis auf die Einstellungen angewiesen, die die Interaktionspartner zueinander haben. Der Unterricht muss eine Art von Interaktion sein, die eine gewisse Eingestimmtheit, ja Identifikation der Interagierenden herstellt und aktualisiert, wobei die reflexive Wahrnehmung (die Wahrnehmung des Wahrgenommenwerdens) eine zentrale Rolle spielt. Daher ist der Unterricht besonders offen für attribuierte Verhaltensmöglichkeiten, die das Individuum in der Familienerziehung geprägt haben. Das bedeutet nicht die Abschaffung der strukturellen Diskontinuität zwischen Familie und Schule, sondern nur, dass über die Person eine strukturelle Kopplung zwischen beiden „Orten“ der Erziehung entstehen kann. Etwa dadurch, dass die pädagogische Sensibilisierung der Familie eine Vorwegnahme der schulischen Verhaltensanforderungen im Kontext der Familienerziehung ermöglicht. Solange die Adressaten der Schulerziehung nur Kinder waren, die die Voraussetzung für schulische Verhaltenserwartungen erfüllten, konnte vergessen werden, dass die Überstimmung von Vermittlung und Aneignung riskant, kontingent und milieuspezifisch ist, dass also die positiv beurteilte Aneignung des Vermittelten davon abhängt, dass die Pädagogik und ihre Adressaten durch ein geteiltes sozio-kulturelles Milieu verbunden waren. Soziale Exklusion war somit eine Bedingung dafür, dass auf der Seite der Adressaten dieselben Bildungsmotive und Interessen bestanden wie auf der Seite der Pädagogik. Auch war damit die Wahrscheinlichkeit erzeugt, dass die Adressaten über die kognitiven Kompetenzen verfügten, die vom zu vermittelnden Wissen vorausgesetzt waren 513. Dabei ist es naiv zu erwarten, dass eine „rationale Didaktik“ 514 partikularistische Erziehungsformen durch universalistische Praxen ersetzen kann, wenn das Technologiedefizit, das jede Strukturierung von Unterrichtsinteraktionen durch organisatorische Vorgaben konterkariert, und seine Bedeutung für die Professionalisierung nicht thematisiert werden: Die professionelle Tätigkeit des Lehrers kann dieses Technologiedefizit nicht überwinden. Das Ziel, psychische Systeme durch Kommunikation zu verändern, bleibt angesichts der Nicht-Identiät zwischen dem Funktionssystem Erziehung und seinen Adressaten, die jeweils füreinander intransparente operative Zusammenhänge (Umwelten) sind, ein unsicheres Unternehmen 515. Diese Unsicherheit betrifft gerade die Organisation Schule und ihre 512

KURZ, Thomas (2006): „Erziehung, Kommunikation, Person“, S.119. KADE, Jochen (1997): „Vermittelbar/nicht-vermittelbar“, S. 54-55514 KIESERLING, André (2008): „Felder und Klassen“, S. 11 515 KURZ, Thomas (2006): „Erziehung, Kommunikation, Person“, S. 119. 513

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formal entwickelten Erziehungsprogramme. Die im Unterricht mögliche milieuspezifische Übereinstimmung zwischen Vermittlungsprogrammen der Pädagogik einerseits und Bildungsmotiven und Kompetenzen der beteiligten Psychen andererseits stellt eine „unentscheidbare Entscheidungsprämisse“ dar, die unterschiedlich zu bewertende Aneignungsweisen des Vermittelten erzeugt. Man kann, wie Kade vorschlägt, von einer doppelten Programmierung der Aneignung reden: „Einer Programmierung durch das pädagogische System und einer Selbstprogrammierung der Adressaten“ 516. Das bedeutet, dass die schulische Erziehungsroutine, auch und gerade wenn die pädagogischen Vermittlungsprogramme und die Selbstprogrammierung der Kinder sich wechselseitig stützen und die gewünschte Art der Aneignung wahrscheinlich machen, externe Gegebenheiten als (unentscheidbare) Entscheidungsprämissen annimmt, um die Unsicherheit der Erziehungspraxis zu reduzieren. Ein Rest an Unsicherheit bleibt allerdings immer bestehen: Da der Reduktionsmechanismus sich direkt auf Personenkonstruktionen bezieht, die mit den konkreten sozialisierenden Operationen der psychischen Systeme nicht identisch sind, können Variationen und Abweichungen auch innerhalb der „bildungsnäheren Milieus“ auftauchen, die den als wahrscheinlich erwarteten individuell zugerechneten Verhaltensmöglichkeiten widersprechen. Das Unwahrscheinliche ist ebenso möglich und die operative Konstruktion von Strukturen ist in der Lage, aus dem Eintreten des Unerwarteten neue Erwartungen herzustellen. Ein technisierbarer Mechanismus der Unsicherheitsabsorption hat sich nur im Bereich der organisatorischen sozialen Selektion durchsetzen lassen: die Autonomiezumutung an Individuen, die ihre postulierte Entscheidungsfreiheit als Ursache jeder Schulleistung annimmt. Durch die fiktive „Homogenisierung des Anfangs“ 517 ersetzt die Schule den Blick auf das, was vorher passiert ist, durch den Blick auf die Zukunft, sodass jeder auftretende Unterschied den Individuen selbst zugerechnet wird. Die Verantwortung für den Erfolg oder den Misserfolg der gezielten Aneignung wird jedem Einzelnen überlassen. Wie kaum eine andere formale Organisation verlangt die Schule eine individuell zurechenbare Leistung 518. Der Einzelne soll die Anschlussfähigkeit des vermittelten Wissens an seinen Lebenslauf außerhalb der pädagogischen Interaktion selber organisieren können. Er wird zum Aneignungssubjekt gemacht. Diese individualisierende Zurechnungsweise, durch die die Schule eine „zu akzeptierende Selbstreferenz“ als allgemeine Eigenschaft seiner Adressaten betont, begünstigt eine milieuspezifische Zurechnungsgewohnheit. Die Schüler sollen lernen, „Schulergeb516

KADE, Jochen (1997): „Vermittelbar/nicht-vermittelbar“, S. 59, FN 67. LUHMANN, Niklas/SHORR, Karl Eberhard (1990):„Die Homogenisierung des Anfangs. Zur Ausdifferenzierung der Schulerziehung“. In: Ders.:Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 73-111. 518 NOLLMANN, Gerd (2003): „Warum fällt der Apfel nicht weit vom Stamm? Die Messung subjektiver Intergenerationeler Mobilität“. In: Zeitschrift für Soziologie 2 (2003), S. 129. 517

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nisse als durch eigene variable Anstrengungen beeinflussbar zu behandeln“ 519, also das Handeln Anderer als durch das eigene Verhalten beeinflussbar wahrzunehmen. Dafür muss plausibel erscheinen, dass man „etwas bewegen“ kann. Gerade bei Schülern „niedriger“ Herkunft verliert diese Selbstzurechnung von Leistung ihre Plausibilität, und dies vor allem deshalb, weil das Handeln Anderer (der Lehrer) sowie die Schulergebnisse aufgrund der Zurechnungsgewohnheiten ihrer Bezugsgruppen eher als unkontrollierbare Ereignisse erlebt und auf konstante, also auf mangelnde eigene Fähigkeiten kausal attribuiert werden. In der Regel wird diese sozial konstruierte Kausalität in Interaktionen als latente Kommunikation von Einstellungen, als implizit gezeigte Zurechnungsgewohnheit aktualisiert, wobei die Übereinstimmung zwischen Fremdzurechnung und Selbstzurechnung einen Wiedererkennungseffekt zwischen Lehrer und Schüler erzeugt, der dann als Entscheidungsprämisse im Alltag des Unterrichts fungieren kann. Das also, was die Organisation für universalistisch hält – eben die Selbstzurechnungsgewohnheit – erweist sich im Unterricht als partikularistisch 520. In diesem Zusammenhang wird auch dem selbstselektiven Verhalten des Lernenden entnommen, ob er das, was gelehrt wurde, gelernt hat oder nicht. Die Bewertung von Aneignungen, die alttäglich als Lob und Tadel kommuniziert wird, lässt sich durch Zurechnungsgewohnheiten strukturieren, die mit den formalen Entscheidungsprämissen der Schule wenig zu tun haben. Der Einfluss, den der Lehrer auf die Schüler nimmt, soll ihrer Freiheit nicht schaden, denn die Bildung autonomer Individuen bildet ein Zweckprogramm des Erziehungssystems, das sich bisher als fast alternativlos durchgesetzt hat. Um mit diesem Paradox umzugehen, nimmt das System eine Art von Kommunikation in Anspruch, die Luhmann „taktvolle Kommunikation nennt“ 521: Die Einflussnahme des Lehrers muss latent erfolgen und das Lernen muss in der Freiheit der Schüller seine Kausalität finden. Verdeckt wird damit, dass solche Zurechnungsweisen Lernprozesse voraussetzen, die seit der frühen Kindheit diejenigen emotionalen Bedingungen der Möglichkeiten hervorbringen, die es plausibel erscheinen lassen, dass man „etwas bewegen“ kann. Der Unterricht ist der Ort, wo Außenwirkungen als individualisierte und individualisierende Zurechnungsgewohnheiten, die auf selbstselektive Verhaltensmöglichkeiten hindeuten, beobachtet und zu unentscheidbaren Entscheidungsprämissen gemacht werden. Die „konzedierte Autonomie“ 522 von Unterrichtsinteraktionen bedeutet, dass die Rolle des Lehrers nicht mit organisatorisch zugewiesenen Aufgaben programmiert wird, sondern eher mit Eigenarten von Personen, die die „taktvolle Kommunikation“ erleich519

Ibidem, S. 130. NOLLMANN, Gerd (2003): „Warum fällt der Apfel nicht weit vom Stamm? Die Messung subjektiver Intergenerationeler Mobilität“, S. 130. 521 LUHMANN, Niklas (2004): „Takt und Zensur im Erziehungssystem“. In LENZEN, Dieter (Hg): Niklas Luhmann Schriften zur Pädagogik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 245-259. 522 LUHMANN, Niklas (1993): „Die Paradoxie des Entscheidens, S. 306-307. 520

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tern. In dem Maße, in dem die Schulergebinisse organisatorisch festgelegt und als Prämisse für weitere soziale Selektionen verfügbar gemacht werden, werden die herkunftsbedingten Ungleichheiten formal – und das heißt auch: rechtlich legitim – invisibilisiert. Die strukturelle Diskontinuität, die sich aus der Differenzierung von Familie und Erziehung ergibt, wird in eine Entscheidungssituation transformiert, in der das zum Entscheider gemachte Kind die entscheidende „unentscheidbare Entscheidungsprämisse“ darstellt 523, die die Umwandlung des in der Familie erworbenen Wissens in Form von Bildungszertifikaten strukturiert.

523

„Der Entscheider selbst ist keine Alternative“. Ibidem, S. 289.

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Teil 2 Funktionale Differenzierung und Exklusion Im letzten Kapitel wurde der Begriff der operativ/strukturierten sozialen Ungleichheit anhand von zwei Mechanismen der Kopplungen teilsystemspezifischer Ungleichheiten ausgearbeitet: die Kopplung von Wirtschaft und Erziehung und die Staatsangehörigkeit. Diese Mechanismen verweisen auf drei zentrale Ressourcen, deren Bedeutung für die soziale Existenz bzw. für die Lebenschancen von Individuen auch jenseits ihrer spezifischen Anwendungsbereiche (ihren Funktionssysteme) von der Ungleichheitsforschung dokumentiert wird: Geld, Wissen und Macht. Die Theorie funktionaler Differenzierung postuliert, dass die Inklusion in ein Funktionssystem nicht die Art und Weise bestimmt, wie an anderen Funktionssystemen teilgenommen wird. Die Inkludierten, so die These, kennen nur eine lose Kopplung, eine „schwache Integration“ zwischen ihren partiellen Teilnahmen an den verschiedenen Lebensbereichen. Damit ist nicht gesagt, dass z. B. Bildungstitel nichts für die berufliche Karriere bedeuten, sondern lediglich, dass die Inklusion in eine Hochschule nicht die berufliche Karriere bestimmen kann, obwohl der Beruf als strukturelle Kopplung von Wirtschaft und Erziehung die Konstruktion einer gewissen Erwartungssicherheit hinsichtlich des Einflusses von Bildung auf die Karriere erlaubt. Es handelt sich aber um eine lose Kopplung. Zwar strukturieren Bildungstitel den Raum möglicher Karrierewege; sie lassen aber offen, welche der möglichen „zukünftigen Gegenwarten“(Szenarien) sich verwirklichen wird. Lose Kopplung heißt Offenheit der Zukunft. Schaut man sich die Wirklichkeit der „entwickelten Länder“ nach dem Zweiten Weltkrieg an, so wird deutlich, dass das Ungleichheitsproblem vorwiegend als ein Problem der Chancenungleichheit thematisiert wurde. Exklusion war kein Thema der Ungleichheitsforschung. Diese beschäftigte sich mit Problemen des ungleichen Zugangs zu sozial begehrten Gütern und Leistungen innerhalb des „Inklusionsbereichs“. Mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates setzt sich die Vorstellung durch, die normativ postulierte Vollinklusion aller Individuen in die Gesellschaft sei schon realisiert. Die Lockerung des Kostendrucks auf die wohlfahrtsstaatliche Aufgabe der Inklusionsvermittlung in den verschiedensten sozialen Sphären war in einigen Ländern – etwa im Deutschland der 1960er – so weit gegangen, dass die Kontingenz und die Unwahrscheinlichkeit der Erfüllung solcher normativen Erwartungen zeitweilig vergessen wurden. Es war die Zeit des „kurzen Traums der immerwährenden Prosperität“ 524, der Umstellung von

524

LUTZ, Burkart (1984): Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell- kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M./New York: Campus.

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einer „Knappheitsungleichheit“ auf eine „Reichtumsungleichheit“ 525 und der „nivellierten Mittelstandgesellschaft“ (Schelsky) 526 . Dieser Fortschrittsglaube gewann seine Plausibilität in der sozial generalisierten Erfahrung, dass die „gegenwärtige Zukunft“ trotz der sich reproduzierenden Ungleichheiten für alle Bürger in allen für die Lebensführung bzw. den Lebenslauf relevanten Lebensbereichen (von der Wirtschaft, über die Politik bis hin zum Erziehungssystem) Inklusionsmöglichkeiten in sich trägt. Nicht Exklusion, sondern die ungleiche Verteilung von Inklusionschancen war ein erfahrbares Problem. Die gesellschaftsstrukturell bedingten Fortschrittsverheißungen erreichten auch die soziologisch informierte Gesellschaftsbeschreibung: Es wurde von dem Paradigma strukturierter sozialer Ungleichheit als Erklärungsweise „lebensweltlicher Phänomene“ (Lebensstile, Milieubildung, Wertepräferenzen, Identitätsbildung usw.) Abschied genommen: „An die Stelle einer ständisch-klassenkulturell geprägten trete eine feinkörnig privatisierte Lebenswelt“ 527. Die Individualisierungsthese Ulrich Becks 528 kündigte eine Entkopplung von „objektiven Merkmalen“ wie Einkommen und Stellung in der beruflichen Hierarchie und „subjektiven Merkmalen“ wie politischer Einstellungen, Freizeitgestaltung und Lebensstilen an. Strukturierte Ungleichheit, zumindest in ihrer berufszentrierten Definition, habe in den verschiedensten sozialen Sphären ihre Relevanz für die Verhaltensorientierung verloren. Im Rahmen der Theorie funktionaler Differenzierung hieße es: Die Inklusion in ein Funktionssystem bestimmt nicht die Art und Weise, wie Inklusion in anderen Sphären abläuft. Aber anders als bei Ulrich Beck muss hier nicht von einer „Entkopplung“ die Rede sein. Bei Luhmann heißt die Auflösung unmittelbarer Interdependenzbeziehungen zwischen den Funktionssystemen gerade nicht, dass es keine Interdependenz bzw. Kopplung mehr gibt; es bedeutet lediglich, dass diese Interdependenzen durch strukturelle Kopplung spezifiziert und filtriert werden. Damit wird die konkrete Bedeutung externer Einflüsse auf die internen Geschehnisse eines Teilsystems von eigenen Operationen dieses Systems, mit denen es umweltliche Störungen sinnhaft verarbeitet, abhängig gemacht, sodass es keine notwendige Verkettung zwischen den relevanten Faktoren der Umwelt und der Systemoperationen mehr geben kann. Damit ist nicht gesagt, dass keine Kopplung mehr existieren kann, wohl aber, dass sie kontingent wird. Zwar kann beispielsweise keine notwendige Interdependenz zwischen Berufsstellung und Wahlentscheidung postuliert werden, es ist aber durchaus möglich, dass bestimmte Interdependenzen entstehen, 525

HRADIL, Stefan/BERGER, Peter (1990): „Die Modernisierung sozialer Ungleichheit und die neuen Konturen ihrer Erforschung“ 526 MÜLLER, Hans Peter (2006): „Zur Zukunft der Klassengesellschaft“. In: Merkur 695 (2007), S. 194. 527 Ibidem, S. 195. 528 BECK, Ulrich (2008): „Jenseits von Klasse und Nation: Individualisierung und Transnationalisierung sozialer Ungleichheit“. In: Soziale Welt 59 (2008), S. 307.

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die auch anders hätten entstehen können. Das ergibt sich aus der Steigerung der Handlungs- und Inklusionsmöglichkeiten in Funktionssystemen durch die Abschaffung ihrer unmittelbaren Interdependenzbeziehungen: Die interne Komplexität nimmt zu, gleichzeitig kann diese nur durch interne Mechanismen reduziert werden. Die Strukturbildungskraft externer Faktoren verliert an Bedeutung und jeder externe Einfluss muss die Form systemeigener Erwartungsstrukturen annehmen, was zudem bedeutet: Der externe Einfluss kann nur als interne Rekonstruktion dieses Einflusses durch die Systemoperationen geschehen. Diese Kontingenzsetzung von Erwartungsstrukturen durch die Autonomisierung der operativen Strukturbildungsprozesse der gesellschaftlichen Teilsysteme stellt das Problemthema unseres Begriffs der operativ/strukturierten sozialen Ungleichheit dar. Was Beck als eine Entkopplung zwischen strukturierter Ungleichheit und Lebensstil bezeichnet, müsste also eigentlich als eine Lockerung der Kopplung 529 zwischen den Strukturkonfigurationen der verschiedenen Funktionssysteme durch ihre je eigene operative Konstruktion von Strukturen beschrieben werden. Ebenfalls in Auseinandersetzung mit der Entkopplungsannahme Becks benutzt Michael Vester eine Metapher, die dieser Interpretation zuzustimmen scheint: In größeren empirischen Studien ist für Frankreich wie für die Bundesrepublik nachgewiesen worden, dass der Habitustyp immer noch eng auf das jeweilige Berufsfeld abgestimmt ist, allerdings auf dynamische und flexible Weise, gleichsam über ein Gummiband 530. Dabei handelt es sich um die Erhöhung der Kontingenz im Abhängigkeitsverhältnis zwischen teilsystemspezifischen sozialen Asymmetrien bzw. um die Erhöhung der Unsicherheit der Erwartungen, dass die Inklusion in einem Funktionssystem die Inklusion in anderen beeinflusst. Diese Interpretation hat den Vorteil, dass sie die Formation sozialer Einheiten (Klassen, Schichten, Milieus) mit der Kontingenz bzw. der Reduktion der Kontingenz individualisierter Lebensformen wieder in Beziehung setzt. Zwar sprechen Phänomene wie die Entstehung und die Reproduktion teilsystemspezifischer Ungleichheiten – die weiteren Ungleichheiten in anderen Teilsystemen nach sich ziehen – sowie die trotz aller „Entkopplungsthesen“ immer noch bestehenden Verknüpfungen zwischen der Position in der beruflichen Arbeitsteilung, der Bildung politisch relevanter „sozialer Bewegungen“ 531 und der Emergenz neuer Lebensstilgruppierungen bzw.

529

Luhmann spricht von „loser Kopplung“ als Merkmal, das die Interdependenzbeziehung zwischen den Funktionssystemen im Inklusionsbereich charakterisiert. Der Exklusionsbereich ist dagegen durch die „strikte Kopplung“ zwischen teilsystemischen Exklusionen bestimmt. 530 VESTER, Michael (2006): „Soziale Milieus und Gesellschaftspolitik“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 44/45 (2006), S. 11.Kursiv von R. D. 531 EDER, Klaus (1985): „The New Social Movements: Moral Crusades, Political Pressure Groups, or Social Movements? In: Social Research 4(1985), S. 869-890.

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sozialen Milieus 532 nicht gegen die These einer Lockerung der Kopplung zwischen den Teilnahmeformen verschiedener Gesellschaftsbereiche. Solche Phänomene sprechen aber freilich gegen die Vorstellung einer „wilden Kontingenz“ im Verhältnis zwischen den bereichsspezifischen Partizipationen: Obwohl die Inklusion in einige soziale Bereiche (z. B. Erwerbsarbeit) nicht die Form der Inklusion in andere (z. B. politische Wahlen) bestimmt, kann sie einen Raum von Möglichkeiten strukturieren, in dem Kontingenz als reduzierte Kontingenz erscheint. In diesem Sinne könnte der Begriff der sozialen Klasse auch definiert werden als Gruppierung von Individuen nach für ihre Lebensläufe typischen Formen der Kontingenzreduktion und nach der damit einhergehenden typischen Strukturierung von Lebenschancen. Eine andere Form der Verknüpfung bereichsspezifischer Ungleichheiten gewann im späten Werk Luhmanns zunehmend an Bedeutung: das Exklusionsphänomen bzw. die Kumulation von Nachteilen. Dieses Phänomen verweist jedoch auf eine Tatsache, die es von sozialen Ungleichheiten im Exklusionsbereich kategorisch trennt: Wenn es zur Exklusion im Sinne des späten Luhmanns kommt, werden Individuen nicht bloß als Personen „gleichen“ oder „ungleichen“ Werts (in welchem Lebensbereich auch immer) behandelt; sie werden vielmehr nicht als Personen beobachtet, sondern auf ihre körperliche Existenz reduziert. Folgt man Hans-Peter Müller 533 und definiert soziale Ungleichheit als Ungleichwertigkeit (von Personen), so wird deutlich, dass es sich dabei um eine soziale Klassifikationsform von Individuen handelt, die gerade ihren Status als soziale Person voraussetzt. Im Fall von Exklusion dagegen geht es um die Negation dieses Status. Schaut man sich die Wirklichkeit der „unterentwickelten Länder“ als Produkt der Expansion moderner Gesellschaft an, so kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Exklusionsphänomen ein Problem der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist, das zu einer „Desillusionierung in Bezug auf Fortschrittsverheißungen der industriellen Moderne“ 534 der entwickelten Länder führt. Obwohl die Semantik, mit der wir das Problem beschreiben, seit Mitte der sechziger und verstärkt seit den 1990er Jahren als Selbstbeschreibungsformel nordwestlicher Länder (exclusion soziale in Frankreich, underclass in den USA, Randgruppe in Deutschland) entstanden ist, die den Bruch mit optimistischen Fortschrittsideologien sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den Sozialwissenschaften mar532 HRADIL, Stefan (2006): „Soziale Milieus – eine praxisorientierte Forschungsperspektive“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 44/45 (2006), S. 3-9; VESTER, Michael (2006): „Soziale Milieus und Gesellschaftspolitik“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 44/45 (2006), S. 10-17. 533 MÜLLER, Hans-Peter (1992): Sozialstruktur und Lebensstile, S. 286. 534 LEISERING, Lutz (2004): „Desillusionierungen des modernen Fortschrittsglaubens. Soziale Exklusion als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und soziologisches Konzept“. In: SCHWINN, Thomas (Hg): Differenzierung und Soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt a. M.: Humanities Online, S. 261 (238-265).

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kiert, ist die Kumulation von Nachteilen ein altes bekanntes Problem der „peripheren Moderne“ 535. Heute ist es vollkommen klar, dass es sich dabei um ein Problem der Moderne handelte, das aber in den Sozialwissenschaften und der Öffentlichkeit der „zentralen“ und der „peripheren Moderne“ nicht als solches thematisiert wurde. Dabei soll die Unterscheidung von der Ungleichheit zwischen Personen im Inklusionsbereich und der Negation des Personstatus nicht im Sinne zweier ontologisch getrennter Bereiche behandelt werden. Der Exklusionsbegriff muss derart definiert werden, dass er den Einbezug von Prozessen der Kumulation von Exklusionen ermöglicht, die im Inklusionsbereich beginnen. Die von Reinhard Kreckel 536 längst diagnostizierte ungleichheitssoziologische Trennung zwischen „normalen“ Ungleichheiten im Kernbereich der Gesellschaft und „abweichenden“ Ungleichheiten an der Peripherie kann nur durch eine Analyse der Mechanismen zur Reduktion der Individualität auf ihre körperliche Existenz, die im „Inklusionsbereich“ selbst entstehen, überwunden werden. Auch kann lediglich im Rahmen einer solchen Analyse beispielsweise der soziale Sinn des sozialen Abstiegs derjenigen unterprivilegierten Volksmilieus begriffen werden, die in der alten Bundesrepublik sowie in der DDR Beschäftigung finden konnten und (auch wenn in ungelernten und körperlich belastenden Arbeitsplätzen) kraft der wohlfahrtsstaatlichen sozialen Leistungen über relativ stabile Inklusionschancen in andere Funktionssysteme (System der Krankenbehandlung, Intimbeziehungen) verfügten, die aber mit dem Abbau des Wohlfahrtsstaates und der Verlagerung ihrer Arbeitsplätze in andere Länder jede sichere Inklusionsperspektive verloren. Dabei geht es nicht nur um den Verlust von Einkommensquellen und sozialen Rechten, sondern auch um den Verlust des Status einer sozialen Person. Was hat dieses Phänomen mit den Lebenslagen der brasilianischen Exkludierten gemeinsam? Die Gemeinsamkeit liegt darin, dass die Individuen durch eine Art sozialer Zukunftslosigkeit geprägt werden, die eine Enthumanisierung in fast allen Gesellschaftsbereichen zur Folge hat.

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SOUZA, Jessé (2008): Die Naturalisierung der peripheren Ungleichheit. Ein neues Paradigma zum Verständnis peripherer Gesellschaften. Wiesbaden: Vs Verlag. 536 KRECKEL, Reinhard (1992): Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit. Frankfurt a .M: Campus

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4 Die individualisierte Person und das gesellschaftliche Grenzregime In diesem Kapitel soll eine theoretische Analyse der sozialen Reduktion von Individuen auf „bloße Körper“ erfolgen, indem der Verbindung zwischen sozialer Zukunftslosigkeit und sozialer Enthumanisierung rekonstruiert wird. Statt weiterhin die strukturellen Kopplungen, die für die Verknüpfung von Ungleichheiten relevant sein können, zu analysieren, wollen wir unseren begrifflichen Vorschlag einer Definition sozialer Ungleichheit als operative Konstruktion von Strukturen auf die Frage anwenden, ob die moderne funktional differenzierte Gesellschaft allgemeine Attribute für eine sozial relevante Person festlegt, die eine gesamtgesellschaftliche Selektivität gegenüber der „menschlichen Umwelt“ ermöglicht. Wir fragen also, ob es nicht allgemeine Voraussetzungen gibt, die trotz der funktionalen Differenzierung von Inklusionsverhältnissen in Teilinklusionen für alle Funktionssysteme gelten. Unsere Antwort ist bejahend: die soziale Konstruktion des individuellen Lebenslaufs als ein Medium der Gesellschaft ist diese allgemeine Voraussetzung. Damit wollen wir eine für den Fall Brasiliens geeignete Begrifflichkeit ausarbeiten, die zugleich zur Konzeptualisierung des Verhältnisses von funktionaler Differenzierung und Exklusion im allgemein beitragen kann.

4.1 Person und funktionale Differenzierung Luhmann definiert die soziale Person als eine individualisierte soziale Adresse, die durch die Zurechnung eingeschränkter Verhaltensmöglichkeiten generiert wird und die sich für den Umgang mit dem Problem der doppelten Kontingenz eignet: Die Zurechnung von Verhaltensmöglichkeiten erlaubt es, mit dem zirkulären Referieren von Alter und Ego auf die Unbestimmbarkeit ihrer jeweiligen Verhaltensweisen zu brechen, und zwar dadurch, dass aus gelungenen Zurechnungsprozessen Erwartungssicherheit in Bezug auf die Verhaltensmöglichkeiten der Teilnehmer entsteht 537. Das ist aber nur möglich, weil die soziale Person als strukturelle Kopplung von psychischen und sozialen Systemen dient und somit auch an psychischer Relevanz gewinnt. Die Verdoppelung der Kontingenz, die sich daraus ergibt, dass jeder Teilnehmer sein Verhalten von dem Verhalten des Anderen abhängig macht, ist nicht nur das grundlegende Problem, dessen Lösung die Emergenz sozialer Systeme katalysiert; sie ist auch ein Problem der psychischen Systeme, denn diese würden die Situation als „unbestimmbar, un537 LUHMANN, Niklas (1995): „Die Form Person“. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 6. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 149.

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stabil, unerträglich“ 538 erfahren, gäbe es keine Möglichkeit, aus dem zirkulären Referieren auf Referieren heraus zu kommen. Personenkonstruktionen sind als strukturelle Kopplung zwischen beiden Sinnsystemen deshalb psychisch relevant, weil sie das gemeinsame Interesse der Psychen an Erwartungssicherheit hinsichtlich der möglichen Verhaltensweisen der Teilnehmer befriedigen. Die soziale Attribution von eingeschränkten Verhaltensmöglichkeiten, d. h., die personenbezogene Erwartungsbildung stellt eine notwendige Fremdreferenz für die Selbstbeobachtung der psychischen Systeme dar. Diese Systeme können sich selbst nur im Rahmen der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz beobachten. Sie müssen sich selbst intern von einem relevanten Anderen unterscheiden, um in der Lage zu sein, sich selbst bezeichnen zu können. Dieses relevante Andere ist immer ein kommunikatives Konstrukt, eine soziale Person. Das psychische Selbst ist also nicht die Person. Es gewinnt seine „Selbstheit“ durch die Einschränkungen, die ihm durch die Fremdreferenz Person aufgezwungen werden. So schreibt Luhmann: „Das Selbstkonzept der Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz wird durch das Personsein eingeschränkt, wird durch eine andere Form überformt“ 539. In diesem Zusammenhang entspricht die historische Entwicklung der strukturellen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen den Personenkonstruktionen, die zu den Inklusionsmustern der jeweiligen Differenzierungsformen passen 540. Jede Differenzierungsform zeichnet sich durch ein spezifisches Inklusionsmuster aus, also durch eine spezifische Art und Weise, Personen in der Kommunikation zu konstruieren. Ist die Person als eine auf Sozialität und Kommunikation bezogene Fremdreferenz konstitutiv für die Selbstbeobachtung psychischer Systeme, so ist sie auch für die Selbstbeobachtung sozialer Systeme unverzichtbar. Sie ermöglicht ein „re-entry“ der Unterscheidung von Kommunikation und Bewusstsein in der Kommunikation. Dies geschieht, indem die kommunikative Selektion der Mitteilung eine soziale (Re) Konstruktion der Psychen als eine zugerechnete und zurechenbare handelnde Instanz ermöglicht, von der weitere Handlungen erwartet werden können 541. Dass es sich dabei immer um eine soziale Konstruktion handelt, lässt sich am deutlichsten daran ablesen, dass die Identifikation der sozialen Person als menschliches Individuum keine historische Konstante ist. In segmentären und in stratifizierten Gesellschaften wurden auch nicht-menschliche Wesen als potenzielle Träger sozialer Persönlichkeit 538

LUHMANN, Niklas (1984):Soziale Systeme, S. 172. LUHMANN, Niklas (1995): „Die Form Person“, S. 153-154. 540 „Entsprechend mag variieren, ob und in welchen Hinsichten man sich auf die körperliche Erscheinung verlassen kann und wie weit man Einstellungen präsentieren bzw. ermitteln muss, um Personalität zu konstruieren“, ibidem, S. 150. 541 FUCHS, Peter (2004): „Die Konditionierte Koproduktion von Kommunikation und Bewusstsein“. In: FUCHS, Marie-Christin (Hg): Peter Fuchs: Theorie als Lehrgedicht – Systemtheoretische Essays 1. Bielefeld: transcript Verlag, S. 95 – 120. 539

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angesehen. Tiere, Götter, Pflanzen und Verstorbene wurden als Mitteilungsinstanz bzw. soziale Adresse bezeichnet 542. Mit der Umstellung auf funktionale Differenzierung und der Autonomisierung der Sinndimensionen schließlich hat sich der Horizont möglicher sozialer Adressen geändert. Der Mensch wird zum exklusiven Träger sozialer Persönlichkeit 543. Zum einen wird die (Aus) Differenzierung von Funktionssystemen durch die Differenzierung von Personenkonstruktionen begleitet, mit denen jedes Funktionssystem jeweils andere menschliche Eigenschaften beobachtet und bezeichnet, selbst wenn es sich konkret um den gleichen Menschen handelt. Funktionsspezifische Relevanzkriterien entstehen: Kunstgeschmack, wirtschaftliche Rationalität, wissenschaftliche Neugier, religiöse Frömmigkeit etc. Zum anderen erhöht sich die soziale Sensibilität für die Innerlichkeit der Psychen und für die Unterscheidung von Perspektiven derart, dass die Verhaltensmöglichkeiten von Menschen nicht mehr durch ein ontologisiertes Zugehörigkeitsverhältnis definiert werden können, sondern nur noch durch die Unterstellung von Konsens und Dissens über Verhaltenserwartungen. Damit läuft die kommunikative Rekonstruktion der psychischen Umwelt sozialer Systeme auf die „Entdeckung“ und Thematisierung der Singularität von Bewusstseinssystemen hinaus. Jedes Subsystem erfindet sich sozusagen seine eigene Sozialpsychologie, die je eigene Relevanzkriterien besitzt, um Informationen über die beteiligten Menschen zu schaffen. Dieser Prozess hat die historische Entwicklung unserer Gesellschaft entscheidend bestimmt. Die Umstellung von der Schichtengesellschaft, in der mit Bewusstsein nur summarisch umgegangen wird, hin zur individualisierten Gesellschaft war eine Folge der Entstehung von unterschiedlichen Personenkonstruktionen, mit denen die Subsysteme auf Fähigkeiten einzelner Bewusstseine zugreifen können 544. Die soziale Rekonstruktion der Psychen führt zu der Paradoxie, dass diese kommunikativ unzugängliche psychische Singularität nur dann zum Thema werden kann, wenn ausreichend standardisierte Formen zu ihrer Thematisierung zur Verfügung stehen. Die Exklusivität des Menschen als mögliche soziale Adresse ist vor allem Folge davon, dass der Wiedereintritt der Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation in die Kommunikation das menschliche psychische System als eine einzigartige Instanz von Verhaltenserwartungen auszeichnet. Die Komplexität der erwarteten Verhaltensweisen, die durch das operativ erforderliche Unterscheidungsvermögen der funktional differenzierten Gesellschaft 542 LINDEMANN, Gesa (2009).“ Gesellschaftliche Grenzregime und soziale Differenzierung“, S. 94112. 543 Auch Organisationen können einen Akteurstatus erhalten. Siehe HUTTER, Michael/TEUBNER, Gunther (1994): „Die Gesellschaft fette Beute. Homo juridicus und homo oeconomicus als kommunikationserhaltende Fiktionen“.In: FUCHS, Peter/GÖBEL, Andreas (Hg). Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?. Frankfurt a .M.: Suhrkamp, S. 131ff. 544 Ibidem, S. 121.

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und durch die Fähigkeit zur Selbstselektion erzeugt und strukturiert wird, wird allein dem Menschen zugerechnet und unterscheidet ihn kategorisch von anderen Entitäten. Die historische Entwicklung hin zu diesem Verständnis des menschlichen Individuums als autonomes Subjekt kann an dieser Stelle nicht rekonstruiert werden. Jedoch ist es wichtig festzuhalten, dass die Entstehung und die Generalisierung dieser Form der sozialen Personifizierung nur durch ganz spezifische institutionelle Mechanismen der (Selbst-)Thematisierung des Selbst, die die Standards für die kommunikative Bezeichnung des psychischen Systems herstellen, möglich gewesen ist. In der frühen Moderne vermittelte die Religion die Grundlagen für diese Mechanismen, indem sie durch die Dramatisierung der Heilsunsicherheit zu Alltagspraktiken der Selbstanalyse und Selbstthematisierung führte, die wie die Beichte 545 die Selbstreferenz der Individuen zum Thema machen. Dabei spielte die Thematisierung der Sexualität eine entscheidende Rolle: Sie erfand die Selbstanalyse, also die Beobachtungsform, mit der die Individuen ihre inneren Zustände, vor allem ihre Begierden wahrnehmen und beurteilen sollen. So wird der Leib zur wichtigsten Quelle von Neigungen und Einstellungen, deren Überwachung und Kontrolle der hier als Bewusstsein konzipierten Selbstreferenz überlassen werden. Auf Basis dieser zu akzeptierenden Selbstreferenz wird das Bewusstsein zu einem „Verfügungszentrum der Person“ 546, das als Zurechnungspunkt für Handlungen und Unterlassungen behandelt werden kann. Es geht also um eine neuartige Form der Personifizierung, die mithilfe der kommunikativen Konstruktion des Bewusstseins als sozial standardisierte Beobachtungsweise der psychischen Selbstreferenz die Gewohnheit zur Selbstzurechnung und damit auch das Selbst als Adresse für Attributionen generiert. So heißt es bei Alois Hahn: Die sorgfältige Selbstanalyse der leiblichen Regungen, der sexuellen Wünsche und Taten im Lichte der Sündenlehre stiftet in gewisser Weise eine neue Form der Identität von Ich und Leib. Sie macht den Leib als Quelle von Lustmöglichkeiten zum Ausgangspunkt zur Selbstthematisierungen. Der Kampf mit dem Körper, die Siege und Niederlagen, aber auch die nur anhand des Sündenkonzepts möglichen Formen des leiblichen Glücks werden zum Schlüssel der biographischen Autopoiesis 547. Als Folge der Institutionalisierung von Entscheidungssituationen in allen Funktionsbereichen ist dieses Modell in der späten Neuzeit kopiert und generalisiert

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HAHN, Alois (2009): „Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen der institutionalisierten Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozess“. In: Ders.: Körper und Gedächtnis. Wiesbaden: VS Verlag, S. 165-196. 546 HAHN, Alois/JACOB, Rüdiger (1994): „Der Körper als soziales Bedeutungssystem“. In: FUCHS, Peter/GÖBEL, Andreas (Hg).: Der Mensch – das Medium der Gesellschaft? Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 147. 547 Ibidem, S. 162.

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worden 548. Nicht nur derjenige, der durch die Vergebung seiner Sünden in der Gegenwart eine Bindung in Richtung zum Jenseits aufbauen will, muss die Vergangenheit als einen Raum von Alternativen für die Zukunft rekonstruieren und die Gegenwart als eine Entscheidung zwischen diesen Alternativen begreifen. In dem Moment, in dem die Funktionssysteme und Organisationen die soziale Herkunft als Vergangenheit wahrnehmen, die nur noch als Raum von Möglichkeiten eine Bedeutung für die Zukunft haben kann, wird die individuell attribuierte Entscheidung zu einer gesamtgesellschaftlichen Praxis. Sie begleitet alle Wendepunkte im Lebenslauf, da die Inklusion in ein Funktionssystem alle weiteren Teilnahmen als Teil der Vergangenheit definiert. Dafür ist die Individualisierung der Person durch den selektiven Zugriff auf ihre Vergangenheit unverzichtbar. Jedes Funktionssystem ist auf diesen selektiven Zugriff angewiesen, da es menschliche Individuen nur nach den eigenen Relevanzkriterien als Person bezeichnet. Obwohl ein Beobachter sehen kann, dass externe Faktoren Einfluss auf die Inklusionschancen in einem Teilsystem haben, bleiben die funktionsspezifischen Inklusionen immerfort auf diese Art der Individualisierung angewiesen. Das gilt auch, wenn Funktionssysteme diese externen Einflüsse beobachten, etwa durch eigene Reflexionstheorien, und sie zu neutralisieren versuchen. Das Erziehungssystem beispielsweise kann zwar kompensatorische Erziehung oder pädagogische Begleitung als Maßnahmen gegen Ungleichheiten, die mit der Familienerziehung zu tun haben, durchsetzen, muss aber, auch bei erfolgreichen Ergebnissen, noch einmal das Individuum als Zurechnungsinstanz in Anspruch nehmen.

4.2 Der Lebenslauf und die Einheit der Person Die Unverzichtbarkeit einer individualisierenden Zurechnungsweise für die Inklusionsformen der Funktionssysteme geht mit der Externalisierung der Einheit der Individualität von Personen einher. Das Individuum, seine gesamte Person betreffend, wird zur Umwelt der Funktionssysteme. Die Frage, ob es gesamtgesellschaftliche, teilsystemübergreifende Inklusionsvoraussetzungen gibt, muss reformuliert werden, weil die Funktionaldifferenzierung die Einheit der Person außerhalb der Gesellschaft verortet. Die Frage lautet demnach: Setzt die soziale Konstruktion der externalisierten Individualität Operationen voraus, die eine gesamtgesellschaftliche Grenze zwischen Inklusion und Exklusion bzw. zwischen Person und Unperson („bloßen Körpern“) ziehen? Luhmanns These, dass der Lebenslauf zum Schema der Personenwahrnehmung geworden ist, bietet einen vielversprechenden Ausgangspunkt an. Wie im Folgenden gezeigt wird, kann die Einheit der Person in der funktional differen548

LUHMANN, Niklas (1993). „Die Paradoxie des Entscheidens“, S. 309.

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zierten Gesellschaft als die Einheit des Lebenslaufs definiert werden. Der Lebenslauf wird bei Luhmann durch die Differenz von Medium und Form konzipiert. Anders als der Begriff der Karriere steht hier gerade die Kumulation von Inklusionen in verschiedenen Funktionssystemen im Mittelpunkt. Da es sich bei diesem Schema der Beobachtung von Personen um eine Differenz handelt, muss auch die Einheit von Personen als die Einheit einer Differenz angesehen werden. Das bedeutet, die Person kann nicht als Form, sondern nur als die Differenz von Form und Medium betrachtet werden. Damit ist ein gesellschaftlich allgemein verwendbares Medium etabliert, in dem Individuen sich als gewonnene und geronnene Form einrichten können – zugleich mit der Garantie einer offenen, noch nicht bestimmten Zukunft, die zu einer laufenden Wiederbegegnung mit der eigenen Vergangenheit führen kann. Das mag zu einer Neufassung des Begriffs der Person führen 549. Der Begriff des Lebenslaufs sollte Luhmann ermöglichen, das Medium des Erziehungssystems zu erkennen und die Schwierigkeiten zu überwinden, die mit seinem ersten Vorschlag verbunden waren, der das Kind als das Medium der Erziehung ansah 550. Schaut man genauer hin, so ist der Lebenslauf letztlich ein gesamtgesellschaftliches Medium, und nicht lediglich ein funktionsspezifisches Medium wie etwa Geld, Macht oder Liebe. Anders als diese Medien stellt der Lebenslauf ein allgemeines Schema der Formbildung dar. Er erlaubt es, die Komplexität der Sozialdimension in verschiedenen funktionalen Teilsystemen zu reduzieren. Dies geschieht, indem der Lebenslauf die teilsystemspezifischen Personenkonstruktionen – d. h., die sozialen Formen, mit denen jedes Teilsystem Individuen als Adresse für die Zurechnung strukturierter Verhaltensmöglichkeiten bezeichnen – als Medium für die Personenkonstruktionen anderer Teilsysteme zur Verfügung stellt. Die Individuen werden im Hinblick darauf beobachtet, was ihre Vergangenheit im Sinne der Inklusionsformen, die ihre bisherige Biographie definieren, zur Verfügung stellt, um neue Formen der Inklusion zu ermöglichen. Damit kann eine systemspezifische Inklusionsform eine große Bedeutung für das Eintreten anderer systemspezifischer Inklusionen gewinnen, auch wenn zwischen ihnen nur eine lose Kopplung hergestellt wird. Die grundlegende gesellschaftliche Signifikanz des Lebenslaufes als Schema der Personenwahrnehmung ergibt sich daraus, dass er Personen zu einer systemübergreifenden Rekursivität macht: Die Konstruktion von Person ist nicht nur eine Form der 549 LUHMANN, Niklas (1997): „Erziehung als Formung des Lebenslaufs“. In: LENZEN, Dieter/LUHMANN, Niklas (Hg): Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 25. 550 Die Unterscheidung zwischen Kinder und Erwachsenen ist teleologisch orientiert und bedeutet, dass, sobald Kinder ins Erwachsenenalter geführt werden, die Erziehungsbemühungen aufhören sollen. Aber diese Zäsur ist inzwischen nicht mehr deutliche bestimmbar. „Da wir immer alter werden, werden wir immer jünger; noch Dreißigjährig gelten als jung und machen Ansprüche auf Erziehung oder zumindest auf finanziellen Unterstützung ihrer Erziehung geltend“, ibidem, S. 12.

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Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten, sie ist auch eine lose Kopplung zwischen dieser Form und denjenigen Formen, die aufgrund einer Synchronisation mit der Zukunft im Kontext jeder Formbildung als möglich erscheinen. Formbildung im Medium Lebenslauf reduziert die Kontingenz der Zukunft durch eine temporalisierte Strukturierung, d. h., durch einen temporalisierten Gebrauch vergänglicher Formen als Medium weiterer Formbildung. Der Lebenslauf ist insofern eine Konjektural-Biohraphie. Die Einheit des Lebenslaufs muss also Vergangenheit und Zukunft umgreifen, ohne doch eine teleologische Struktur aufzuweisen. Sie liegt in einer Integration von Nichtselbstverständlichkeiten. [...] Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschieht, was nicht hätte geschehen müssen. Das beginnt mit der Geburt. Sie wird als Faktum deklariert, ist aber zugleich, wenn man mitberücksichtigt, wie es dazu gekommen ist, ein extrem unwahrscheinlicher Zufall. Deshalb muss sie erwähnt werden. [...]Das Muster wiederholt sich von Ereignis zu Ereignis. Immer gewinnt etwas Bestimmtes eine Form. Man erhält einen Namen, lernt seine Eltern kennen (oder nicht), lässt sich durch dieses oder jenes beeindrucken, arbeitet sich spielend in die Welt hinein, beginnt eine Karriere mit der Erfahrung von Erfolgen und Misserfolgen und schiebt sich mit all dem eine noch nicht bestimmte Zukunft vor sich her. Das Grundmuster der bedingten und bedingenden Aktualisierung kann sich nur wiederholen 551. Wird von einem funktionsspezifischen Medium im Luhmannschen Sinne gesprochen, so geht es immer um die Frage nach dem Überschuss an operativen Möglichkeiten, der durch die Aktualisierung von Form bildenden Operationen eines Systems regeneriert wird und somit seine Reproduktion in Gang hält. Das Medium ist dabei die Verfügbarkeit von lose gekoppelten Elementen. Formen dagegen sind strikte Kopplungen, überzeugende Kombinationen innerhalb eines Mediums, die Wiederholungsmöglichkeiten versprechen. In dem Maße, wie Formbildung weitere Formbildungen in Aussicht stellt, ohne die Kopplung zwischen den aktualisierten und den virtualisierten Formen strikt zu bestimmen, reproduziert sich das Medium ebenso wie das System, deren Operationen durch dieses Medium ermöglicht werden. Die Unterscheidung von loser und fester Kopplung ist also eine Unterscheidung in der Zeit, wobei die Auflösung und die Wiederverwendung der in einem Medium eingeprägten Formen Systembildung und Rekursivität ermöglichen. Auch und gerade das allgemeine Medium Sinn wird durch diese rekursive Verknüpfung von Aktualisierung von Sinnformen und Verweisung auf andere Möglichkeiten definiert 552. Funktionale Differenzierung ist nicht trennbar von der Spezialisierung dieses allgemeinen Mediums. Sie ist „daher vor allem eine Dynamik der Reproduktion 551 552

Ibidem, S. 19. Ibidem, S. 15.

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der Medien durch ständigen Wechsel der Formen“ 553 . Der Lebenslauf ist ein Medium, weil durch die ihn prägenden Formen spezifische Möglichkeiten der Formbildung eröffnet und verschlossen werden. Er bezeichnet zugleich die Vergänglichkeit und die Rekursivität von Formen. Er besteht aus vergänglichen Formen, die ihn rekursiv als Medium der Formbildung reproduzieren. Das heißt, dass die kommunikative Bezeichnung von menschlichen Individuen als Person (Inklusion) auf weitere Inklusionsmöglichkeiten verweist, allerdings ohne sie bestimmen zu können. So nehmen schon die alltäglichen Kommunikationen, mit denen die Familie die soziale Person des Kindes durch Zurechnung und Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten formt, auf andere Möglichkeiten des Personseins Einfluss. Man denke nur an die Entwicklung der Fähigkeit zum selbstständigen Lernen, die durch den Umgang mit Büchern gefördert wird und die in der Schule als Medium für weitere Formbildung, insbesondere für den Wissenserwerb, wichtig ist. Deshalb kann der Analphabetismus, aber auch alle Verhaltensgewohnheiten 554, die den fortschreitenden Erwerb von Wissen hindern, als Zerstörung des Mediums Lebenslauf angesehen werden, da die mit diesem Fehlen ausgezeichnete und geformte Person aus anderen Möglichkeiten der Personifizierung ausgeschlossen wird. Der Begriff umfasst Vergangenheit und Zukunft: Er beobachtet vergängliche Formen im Hinblick auf die Möglichkeiten, die diese Formen bereitstellen. Pädagogische Kommunikationen, so Luhmann, sind darauf spezialisiert, den Lebenslauf zu formen und somit im Individuum die Ressourcen zur Teilnahme an anderen Funktionssystemen zu erzeugen. Die wichtigste Ressource, auf die es bei der pädagogischen Formung des Lebenslaufs ankommt, ist das Wissen. Durch die Aneignung von Wissen wird die individuelle Person auf das spätere Leben in anderen sozialen Systemen vorbereitet. Vor allem bedeutet das: Vorbereitung auf eine offene Zukunft, auf Kontingenz. In Luhmanns Worten: Vor allem aber kommt es in unserem Zusammenhang darauf an, dass Wissen dem Lebenslauf Form gibt und ihn damit zugleich als Medium der Formbildung reproduziert. Damit ist nicht nur gemeint, dass man Wissen bei Bedarf anwenden kann, sondern auch und vor allem: dass es eine Art Sicherheit gibt, mit der man sich auf neue, unvertraute Situationen einlassen kann 555. Der Lebenslauf wird nicht nur im Erziehungssystem als temporalisierte Strukturierung von Inklusionschancen durch die Dynamik zwischen Form und Medium gebraucht. Er kann in verschiedenen Funktionssystemen Strukturwert gewinnen. Als systemspezifisches Beobachtungsschema, mit dem Individuen als Person (und als Unperson) bezeichnet werden, und als Schema der Selbstbeobachtung dient er der Reduktion der Freiheitsgrade sowohl von sozialen wie auch von 553

Ibidem. Siehe dazu WILLIS, Paul (1979): Spaß am Widerstand. Lernen in der Arbeiterschule. Frankfurt a. M.: Syndikat. 555 Ibidem, S. 27. 554

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psychischen Systemen, weshalb hier von struktureller Kopplung gesprochen wird. Auf dem Bildschirm sozialer Systeme erscheinen individuelle Personen als Medium für die Bildung systemspezifischer Formen d. h., für systemspezifische Personkonstruktionen, wobei der Vergleich von Lebensläufen soziale Selektion ermöglicht. Dabei handelt es sich nicht nur um explizite Vergleichsoperationen, sondern auch um „paradoxe Kommunikationen“ 556, die mit Hilfe von ambivalenten Sinnofferten Vergleiche durchführen und Grenzen möglicher Formbildung suggerieren. Für die Selbstbeobachtung der Individuen bedeutet dies, dass der Einzelne seine Inklusionsansprüche, d. h. den Raum möglicher Formbildung, der ihm als plausibel erscheint, durch den Horizont einschränken lässt, der ihm suggeriert wird. Er kann also die eigenen Ansprüche dadurch beobachten, dass der Vergleich von Lebensläufen Auskunft darüber gibt, mit wem man sich sinnvoll vergleichen soll, wenn es darum geht, den Raum der möglichen Inklusionen zu erkennen, die die gegenwärtige soziale Position des Individuums zur Verfügung stellt. Die für die Anspruchsindividualität konstitutive Differenz zwischen dem, was schon erreicht wurde, und dem, was sich als erreichbar darbietet, wird im Lebenslauf durch plausible Vergleiche mit anderen Lebensläufen konstituiert. Dabei führt die Entwicklung von Verhaltensweisen, die eine „kopierte“ Reduktion der Individualisierungsmöglichkeiten als Voraussetzung für die Realisierung von Individualität ermöglicht, dazu, dass nicht jegliche Vergleichsoperation die Palette von möglichen Inklusionsverhältnissen ausmacht, sondern nur diejenigen, die auf Möglichkeiten verweisen, deren Selektion sowohl im Hinblick auf eigene Erfahrungen als auch in Bezug auf beobachtbare Erfahrungen von Bezugspersonen als plausibel erscheint. Die Formung des Lebenslaufes erfolgt also nicht nur über Fremdselektion, also über die Beobachtung von Individuen durch soziale Systeme, sondern auch über Selbstselektion, also über die Selbstbeobachtung (zweiter Ordnung) durch Individuen. Die Relevanz solcher Vergleichsoperationen für die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit liegt auf der Hand. Gerade weil sich individuelle Ansprüche nicht beliebig, sondern mithilfe von Vergleichsoperationen zwischen sozial nahen Personen und Lebensläufen bilden, sodass z. B. Mobilitätsentscheidungen 557 im Kontext einer Bezugsgruppennormalität hinsichtlich der zu erwartenden Kombination und Kumulation von Inklusionen im Lebenslauf vorbereitet und getroffen werden, können die Ungleichheiten von Inklusionschancen, die im Lebenslauf der „significant others“ spürbar sind, antizipativ in individuelle Selbsterwartungen übersetzt werden. Die hier implizierte Übereinstimmung von Fremdselektion und Selbstselektion muss nicht von den Individuen selbst bezeichnet und beobachtet werden. Sie wird stattdessen, wie Bourdieu mit dem 556

LUHMANN, Niklas (2004): „Takt und Zensur im Erziehungssystem“. In LENZEN, Dieter (Hg): Niklas Luhmann Schriften zur Pädagogik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 247. 557 NOLLMAN, Gerd (2003): „Warum fällt der Apfel nicht weit vom Stamm? Die Messung subjektiver intergenerationaler Mobilität. In: Zeitschrift für Soziologie 2 (2003), S. 124-125.

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Habitusbegriff zeigt, unbemerkt zu einer inkorporierten Strategie, von der ausgehend die Individuen ihre Selbstselektion mit den Chancen, ausgewählt zu werden, in Einklang zu bringen versuchen 558 . Dabei können die in Selbsterwartungen niedergeschlagenen Grenzen von Vergleichsoperationen, besonders wenn die Individuen sich wechselseitig als miteinander „unvergleichbar“ wahrnehmen, durch den Bezug auf den Wert der Individualität legitimiert werden. Denn anders als Fremdselektion braucht Selbstselektion keine andere Legitimationsquelle außer sich selbst. Als Ausdruck der individuellen Freiheit ist sie die moderne Legitimationsquelle par exellence. Luhmann hat diese Verknüpfung zwischen der Bildung des Lebenslaufes durch Vergleichsoperationen und die Konstruktion sozialer Ungleichheit nicht thematisiert. Als Folge dieses Versäumnisses wird der Vergleichshorizont, der die Palette von bedeutsamen individuellen Lebensläufen in sich trägt, kaum in den Blick genommen. Vielmehr rechnete er den Massenmedien die gesellschaftliche Generalisierung des Lebenslaufes als Medium der Personwahrnehmung zu: „Den Massenmedien verdanken wird (wenn das der richtige Ausdruck ist) den Lebenslauf als Schema der Personwahrnehmung“ 559.Für ihn ersetzten sie die „idyllische Welt“ der Literatur durch eine „Bildwelt“, „die Tag für Tag scharf beleuchtet, was man nicht ist und was man nicht hat. [...] Freunde und Familie, Arbeit und Beruf sind nicht so leicht zu wechseln; aber auch hier wird einem täglich vorgeführt, dass es bei anderen anders ist” 560 . Diese massenmediale „Bildwelt“ sei dafür verantwortlich, dass der Einzelne einem geradezu uneingeschränkten Vergleichshorizont ausgesetzt wird, ohne über Mechanismen zur verfügen, die eine Reduktion der damit erzeugten Kontingenz ermöglichen könnten: „Man sieht Form gewordene Lebensläufe gegen den Hintergrund einer unerschöpflichen Menge von Kombinationsmöglichkeiten. Man sieht Möglichkeiten des Erzählens und damit Kontingenzen, die Möglichkeiten des Vergleichens eröffnen“ 561. Es besteht zwar kein Zweifel daran, dass die Massenmedien eine zentrale Rolle für die Erzeugung von Vergleichsmöglichkeiten spielen. Aber es ist falsch, dass diese Vergleichsmöglichkeiten, wie sie von den Medien gezeigt werden, sich zur Formung des Lebenslaufes eignen. Denn das hieße, dass der Horizont von plausiblen Inklusionschancen, den man durch den Vergleich mit anderen zu erkennen lernt und der durch die Bildung von Selbsterwartungen zur Formung des Lebenslaufes beiträgt, durch die Teilnahme an massenmedialen Kommunikationen und über ungleiche Erfahrungen von Enttäuschung und Erfüllung von Inklusionsansprüchen hinweg gebildet wird. Mechanismen der Einschränkungen von Kontingenz und Vergleichsmöglichkeiten bzw. die Dynamik der Anpassung der Erwartungen an die Chancen, um es mit Bourdieu zu sagen, sind jedoch in der Lage, 558

BOURDIEU, Pierre (1999): Die Regeln der Kunst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 375. LUHMANN, Niklas (1997): „Erziehung als Formung des Lebenslaufs“, S. 25. 560 Ibidem, S. 24. 561 Ibidem, S. 25. 559

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durch beobachtbare geteilte Erfahrungen von Enttäuschung und Erfüllung, Lernprozesse zu ermöglichen, die die Plausibilität von Ansprüchen mit der Reduktion von Vergleichsmöglichkeiten verbindet. Die Plausibilität von Ansprüchen setzt eine Reduktion, eine Hierarchie auf der Ebene des Möglichen voraus. In diesem Zusammenhang mag die Formung des Lebenslaufes zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen. Die Dynamik von Form und Medium kann Ungleichheiten der Herkunftsposition reproduzieren, indem die im Individuum erzeugten Ressourcen bestimmte Teilnahmemöglichkeiten wahrscheinlich, andere dagegen unwahrscheinlich machen. Die Lebensläufe weisen enorme Unterschiede hinsichtlich der Inklusionsformen auf, die das Individuum konkret erlebt. Auch und gerade im sogenannten „Inklusionsbereich“ ist dies der Fall: Die lose Kopplung von Elementen des Mediums Lebenslauf impliziert eine kontingente Beziehung zwischen den Inklusionen in die verschiedenen Funktionssysteme, sodass die Schulkarriere weder das Vorkommen noch die Intensität der Inklusionen in den Arbeitsmarkt und in die Politik bestimmten kann. Mit der Idee des „Inklusionsbereiches“ 562 hatte Luhmann das Ziel, Personen zu beschreiben, deren Lebenslauf in unterschiedlichen Funktionsbereichen Inklusionsmöglichkeiten bereitstellen, weil die geronnenen Formen d. h. die angesammelte Vergangenheit eines Individuums als Medium weiterer Inklusionen beobachtet werden. Lose Kopplung darf jedoch nicht mit Unstrukturiertheit verwechselt werden. Wie die Michael Hartmanns Eliteforschung zeigt, ist der starke Zusammenhang zwischen Herkunftsmilieu und dem Zugang zu Spitzenpositionen in Wirtschaftsorganisationen ein Beispiel dafür, dass die Strukturierung sozialer Ungleichheit die Kontingenz der losen Kopplungen zwischen den Inklusionsformen reduzieren kann. Ein Mindestmaß an Kontingenz ist allerdings Bedingung für die Reproduktion des Lebenslaufes als Medium. Denn falls die Personifizierung in einem sozialen System mit der Personifizierung in den anderen Systemen im Modus der Notwendigkeit gekoppelt wird, dann wäre alles durch einen einzigen Zurechnungsmechanismus entschieden und folglich gäbe es auch keine Dynamik von Form und Medium mehr, oder um es mit Bourdieu zu sagen, kein „Spiel“ mehr 563. Der „Inklusionsbereich“ findet dort seine Grenze, so meine These, wo Individuen kein Lebenslauf in dem hier verwendeten Sinne mehr zugerechnet wird, wo es also kein Spiel und keine Zukunft mehr gibt. Im Laufe des Kapitels soll nach darauf zurückgekommen werden. Die Reproduktion des Mediums Lebenslauf durch die Bildung von Formen, die andere Möglichkeiten der Formbildung in Aussicht stellt, folgt einer Dynamik, die wir mit dem Begriff der operativ/strukturierten Ungleichheit im 562 Luhmann hat den Terminus zur Bezeichnung der massenhaften und kumulativen Exklusion von Personen aus einer Mehrheit von Funktionssystemen benutzt. Da er aber die Grenzen zwischen Exklusion und Inklusion nicht bestimmt hat, konnte er dem Terminus keine klare Bedeutung verleihen. 563 BOURDIEU, Pierre (2001): Meditationen, S. 274.

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Kapitel 2 zu beschreiben versuchen. Es handelt sich um eine temporalisierte Strukturierung von Inklusionschancen: Angesichts der Offenheit der Zukunft, die mit jedem bedeutsamen Ereignis anders aussieht als zuvor, werden Inklusionschancen durch jede Inklusion bzw. Exklusion strukturiert. Der Raum des Möglichen lässt sich also nicht mit einem Mal - etwa durch die Geburt - bestimmen. Er kann sich jederzeit weiter öffnen oder schließen. Im Mittelpunkt dabei steht das Verhältnis von Ereignis und Zeit. Damit ist mehr als die bloße Vergänglichkeit von Ereignissen gemeint, die der Aufbau und die Stabilisierung von Erwartungsstrukturen zu einer Reproduktionsbedingung von sozialen Systemen machen. Auch die Konstruktion von Zeit durch die Systemoperationen ist hier mit eingeschlossen.

4.3 Fernsynchronisation: die Person und ihre Zeit Für Luhmann ist die Zeitwahrnehmung in der Moderne durch die ständige Reproduktion der Differenz von Vergangenheit und Zukunft bestimmt. Dabei wird die Gegenwart nur als ein Ereignis ohne Dauer gefasst, das die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft zieht 564 . Die Gegenwart wird zu einem „blinden Fleck“, zu einem ausgeschlossenen Dritten der Zeitdimension. Und eben deshalb ist die Gegenwart auch der „Ort“, wo Synchronisationsprobleme zwischen den nicht aktuellen Zeithorizonten der Vergangenheit und Zukunft auftauchen. Eine der zentralen Annahmen der Systemtheorie ist aber die der Gleichzeitigkeit aller System-Umwelt Beziehungen: Es gibt keine „reale“ Inaktualität in der Welt, weder Vergangenheit noch Zukunft. Diese sind Konstruktionen der Gegenwart. Die Frage ist: Wie können Vergangenheit und Zukunft in einer Gegenwart konstruiert werden, die nichts anderes ist als die Differenz von Vergangenheit und Zukunft und die keine Dauer hat? In Anknüpfung an den Vorschlag Gehrings 565 kann dieses Problem anhand des von Luhmann formulierten Theorems der doppelten Gegenwart gelöst werden. In seinen früheren Texten argumentiert er, dass die dauerlose Gegenwart, d h., die ereignishafte Differenz von Vergangenheit und Zukunft nicht die einzige Form der Zeitwahrnehmung ist: Es gibt außerdem jene vorgehaltene Zeit, in der Mögliches dauert. Es wäre falsch oder jedenfalls inadäquat zu sagen, dass diese Zeit durch jene gemessen wird. Die Uhrzeit ist ein Maß für die verlorene Zeit, aber die Dauer enthält die Möglichkeit, das Offenhalten zu verlängern oder zu verkürzen, An-

564

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1011. GEHRING, Petra (2007): „Evolution, Temporalisierung und Gegenwart revisited. Spielräume in Luhmanns Zeittheorie“. In: Soziale Systeme 13 (2007), S. 421-431. 565

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fang und Ende zu bestimmen, zu beschleunigen oder zu verlangsamen, kurz: mit der Zeit über die Dauer der Dauer zu verhandeln 566. Dabei geht es um eine „noch nicht abgeschlossene offene Dauer“ 567, um eine zweite Gegenwart, die durch Reversibilität und Aktualität von dem, was geschieht, gekennzeichnet ist. Dieser Art von Zeitwahrnehmung liegen Situationen (wie beispielsweise das Vorfeld einer Entscheidung) zugrunde, in denen etwas rechtzeitig (vor seinem unwiderruflichen Abschluss) ungeschehen gemacht oder geändert werden kann. Sie ist deshalb auch Voraussetzung dafür, dass Zäsuren gesetzt und Diskontinuitäten irreversibel gemacht werden, also für die Entstehung inaktueller Zeithorizonte durch irreversibel gewordene Ereignisse. Diese Zeithorizonte werden in dem Moment konstruiert, in dem etwas als unwiderruflich bezeichnet und verfestigt wird. Durch diese Unterbrechung von Gleichzeitigkeit und Dauer wird eine Situation als definitive Situation konstruiert, die zuvor eine noch rückholbare Gegenwart war. Sie wird zu einem irreversiblen Ereignis, das jedoch nur im Kontext der andauernden Gegenwart als solche erlebt werden kann 568. Von dieser Gegenwart aus werden Vergangenheit qua Irreversibilität und Zukunft qua Reversibilität als inaktuelle Zeithorizonte konstruiert. Die unstrukturierte Komplexität des Alles-Zugleich wird durch eine Operation ersetzt, die Ordnung als Kopplung bzw. als Synchronisation von Ungleichzeitigkeiten zu schaffen versucht. Eine solche Operation ist Entscheidung. Aus diesem Grund sind Organisationen eine unerlässliche Voraussetzung für die Produktion von Irreversibilität. Um Entscheidungen treffen zu können, muss man in Organisationssystemen auf Prämissen Bezug nehmen, die, damit sie überhaupt als Prämissen akzeptiert werden, als schon getroffene Entscheidungen bezeichnet werden müssen, „gleichgültig ob eine und welche Wahl explizit getroffen worden war“ 569. Das bedeutet: Das rekursive Netz von Entscheidungen konstruiert die Vergangenheit, die es zu seiner Reproduktion braucht. Dabei handelt es sich um einen selektiven Zugriff auf frühere Operationen, der das Vergangene in einen Raum von Alternativen umwandelt, wodurch diese Operationen als solche vergessen werden. Organisationen verfügen über Gedächtnismechanismen, die es ihnen erlauben, auf das Ergebnis früher Operationen selektiv zurückzugreifen, ohne sich selbst an die Komplexität dieser Operationen erinnern zu müssen. Man denke beispielsweise nur an die selektive Erinnerung (und 566 LUHMANN, Niklas (1981): „Temporalstrukturen des Handlungssystems. Zum Zusammenhang von Handlungs-und Systemtheorie“. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 3. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 133. 567 GEHRING, Petra (2007): „Evolution, Temporalisierung und Gegenwart revisited“, S. 425. 568 „Für das Momentwerden des Moments ist eine umfassende Gegenwart erforderlich, die es ihm erlaubt, zu vergehen. Die Gegenwart des Ereignisses versinkt in der Gegenwart der Dauer“. LUHMANN, Niklas (1981): „Temporalstrukturen des Handlungssystems. Zum Zusammenhang von Handlungs-und Systemtheorie“, S. 149. 569 LUHMANN, Niklas (1993): „Die Paradoxie des Entscheidens“, S. 298.

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an das selektive Vergessen) der Vergangenheit von Kindern in der Schule. Nicht die familiäre Sozialisation wird erinnert, sondern nur deren Resultat, also die Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten, die sich als Form weitere Formbildung ermöglichen. Genau diese Gedächtnisleistung, wie Luhmann zugesteht 570, wird mit dem Kapitalbegriff von Bourdieu erfasst: Das inkorporierte kulturelle Kapital stellt das Ergebnis von Aneignungs- und Lernoperationen als Ressourcen für weitere Operationen zur Verfügung, ohne dass diese Operationen erinnert werden. Indem die Person nur in ihrer Form, aber nicht in ihrer Formung wahrgenommen wird, wird die Formung (die familiäre Sozialisation) zur Irreversibilität, d. h., zu einer unwiderruflichen Vergangenheit gemacht. Die so konstruierte Vergangenheit nimmt die Form einer Alternativität an, die aber nicht zur Wahl steht 571. Der Fokus wird auf die Zukunft gelenkt, da es einen Unterschied macht, ob und wie die Entscheidung getroffen wird. Die Irreversibilisierung der Vergangenheit durch den gegenwärtigen selektiven Zugriff auf frühere Operationen bedingt zugleich eine Reduktion der Offenheit der Zukunft. Beide zeitlichen Selektionen setzten einander voraus. Denn die Konstruktion einer irreversiblen Vergangenheit, die durch den gegenwärtigen Einsatz des selektiven Ergebnisses 572 von dem, was schon als unwiderruflich erscheint, erfolgt, stellt zugleich eine auf die Zukunft projizierte Fernsynchronisation her. Die selektiv erinnerte Vergangenheit, die innerhalb individualisierender Zurechnungskonstellationen als individuelle Leistung bezeichnet wird, kann auch als Ursache beobachtet und zur Prämisse für die Zukunftsprojektionen gemacht werden, besonders wenn die davon abhängigen Kausalbeziehungen schon eine Wiederholbarkeits- und Erfolgsgeschichte haben 573. Der Bereich des Inaktuellen wird auf diese Weise in die zwei Horizonte (Zukunft und Vergangenheit) geteilt, je nachdem, ob noch Einflussmöglichkeiten in Aussicht stehen (Zukunft) oder bereits durch die Konstruktion von irreversiblen Elementen (Vergangenheit) vernichtet werden. So hat es die Fernsynchronisation nicht nur mit Risiken, Gefahren und Chancen im Bereich des derzeit Inaktuellen 574 zu tun, sondern auch mit dem Verhältnis, das zwischen dem Erleben von Irreversibilität und der sinnhaften Konstruktion bzw. Wahrnehmung dieser Risiken, Gefahren und Chancen entsteht. So wird auch deutlich, wie die entscheidungsmäßige Markierung einer Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft konstitutiv ist für die Erzeugung sozialer Ungleichheit im Lebenslauf. Denn bei der Fernsynchronisation geht es gerade um die Suche nach günstigen Konstellationen, in denen der Spielraum von möglichen Zukünften durch die Setzung von 570

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 588-589. LUHMANN, Niklas (1993): „Die Paradoxie des Entscheidens, S. 289. 572 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft 2, S. 772. 573 LUHMANN, Niklas (1995): „Kausalität im Süden“, S. 13 ff. 574 LUHMANN, Niklas (1990): „Gleichzeitigkeit und Synchronisation“. In :Ders.: Soziologische Aufklärung 5. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 118.

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Wahrscheinlichkeitsasymmetrien zwischen den erreichbaren Positionen strukturiert wird. Konstitutiv für die wechselseitige Verstärkung funktionssystemspezifischer Ungleichheiten, ist eben der Umstand, dass die Erfahrung der Irreversibilität in einem sozialen System Entscheidungsprämissen über die Zukunft in anderen mit sich bringt. Die Tatsache, dass bestimmte Situationen, so etwa – um an dem vorherigen Beispiel festzuhalten – der familiäre Konstitutionsprozess der sozialisatorischen Mindestvoraussetzungen für die Schulerziehung, ins Definitive verfestigt werden, strukturiert eine Palette von mehr oder weniger wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich erreichbaren Positionen in der Schulkarriere. In Entscheidungssituationen wird die Gegenwart zum Problemort, in dem Erfahrungen mit Synchronisationsschwierigkeiten in Bezug auf die Vergangenheit und auf die Zukunft auftauchen. Dabei hat die Bestimmung der Zeit – im Unterschied zu allen älteren Gesellschaften, in denen Zeit kausal auf das wirkte, was zu tun war – keine kausale Wirkung mehr 575. Sie dient nur als chronologisches Schema des Synchronisationsproblems, und der Verfügungsbereich, in dem die möglichen Lösungen zu finden sind, liegt in der Sachdimension sowie der Sozialdimension des Sinnes 576. Luhmann spricht hier aber nur von der systemübergreifenden einheitlichen Chronologie, die die punktualisierte bzw. „zeitlose“ Gegenwartserfahrung bestimmt. Wie bereits erwähnt, kommt eine zweite, erstreckte Gegenwart ins Spiel. Diese zweite Gegenwart zeichnet sich dadurch aus, dass sie in Bezug auf die „Qualität“ der Synchronisation von Operationen nicht neutral ist: In dieser Gegenwart werden Verbindungen zwischen Vergangenheit und Zukunft reduziert und strukturiert. In dieser zweiten Version ist Gegenwart deshalb keine neutrale Referenz, weil sie die Wahrnehmung des Möglichen durch sinnhafte Kategorien qualifiziert, welche das Mögliche zu einer realen, verhaltenswirksamen Sinnstruktur ebendieser Gegenwart macht. Wie Elena Esposito 577 betont, ist aber bei Luhmann keine deutliche Bestimmung dieser zweiten Gegenwart zu finden. Ausreichend deutlich gemacht hat Luhmann in der Tat nur das Argument, dass Vergangenheit und Zukunft Horizonte der NichtAktualität einer Gegenwart sind, die jeweils Perspektiven der Erinnerung und der Erwartung konstituieren, welche dabei selbst auch Perspektiven der Gegenwart sind. Aber gerade der Zusammenhang zwischen Aktualität und Inaktualität ist Esposito zufolge subthematisiert worden 578 . Für sie besteht die Hauptaufgabe einer solchen begrifflichen Bestimmung darin, zu erfassen, wie die Aktualität der Gegenwart und ihrer konstitutiven Dauer mit der Inaktualität der Vergangenheit und der Zukunft artikuliert wird. 575

Idem, S. 125 Idem, S. 117. 577 Siehe ESPOSITO, Elena (2007): “Die Konstruktion der Zeit in der zeitlosen Gegenwart“. In: Zeitschrift für Rechtsgeschichte 10 (2007), S. 27-36. 578 Idem, S. 30. 576

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Esposito schlägt an diesem Punkt einen Begriff der Gegenwart vor, der sich auf modale Gesichtspunkte bezieht und Vergangenheit bzw. Zukunft als modi der Gegenwart betrachtet. Was ihren Vorschlag für unseren Begriff der operativ/strukturierten sozialen Ungleichheit interessant macht, ist eben der Versuch, „den ‚qualitativen‘ Charakter des zeitlichen Aufbaus einer einzelnen Gegenwart“ 579 in den Vordergrund zu stellen. So wird die Gegenwart durch Kategorien erfasst, die der gegenwärtigen Konstruktion der Vergangenheit und der Zukunft unabhängig von der Chronologie dienen: Veränderung/Stabilität, Kontinuität/Diskontinuität, punktuell/andauernd usw. Folgerichtig wird die Gegenwart als selektiv aktualisierte Möglichkeit interpretiert, d. h. als strikte gekoppelte Form, die sich nur in Bezug auf andere, nicht-aktualisierte Möglichkeiten bzw. Kopplungen beobachten lässt und die Voraussetzung für die Konstruktion bzw. Selektion weiterer Formen („Gegenwarten“) in der Zukunft bildet. Dabei ergibt sich die Verbindung von Aktualität und Nicht-Aktualität eben aus der „qualitativen“ Beschaffenheit der Gegenwart, die der Ebene des Möglichen eine Ordnung gibt. Der Lauf der Zeit, der jeweils einige Möglichkeiten vor dem Hintergrund von anderen Möglichkeiten aktualisiert, die nicht real geworden sind, produziert zugleich einen immer neuen Horizont von Möglichkeiten, mehr oder weniger breit, je nach den in der Gegenwart aktualisierten Bindungen[…]Ich weiß in der Gegenwart, dass meine Entscheidungen die Vergangenheit festlegen werden, von der eine künftige Gegenwart wird ausgehen müssen. Die Irreversibilität der Zeit wird der Pfeiler, der die gesamte Konstruktion der Möglichkeiten trägt und der sie der Arbitrarität der absoluten Kontingenz entzieht: Alles konnte auch anders sein, aber es hat sich so und nichts anders aktualisiert und bildet damit die Vergangenheit, von der aus ich nicht zufällig die offenen Möglichkeiten der Zukunft und die geschlossenen Möglichkeiten der Vergangenheit projizieren kann 580. Fernsynchronisation ist nichts anders als diese Ordnungsbildung im Bereich des Möglichen. Das bedeutet: Die Art und Weise, wie man in der Gegenwart die Vergangenheit und die Zukunft sinnhaft interpretiert, bietet den Rahmen, in dem Fernsynchronisation geschaffen wird. Die gegenwärtigen Einschränkungsleistungen auf der Ebene des Möglichen sind in diesem Zusammenhang keine bloße Reduktion, sondern sie stellen die Bedingungen dafür her, dass weitere Möglichkeiten in die Zukunft projiziert werden. Ein interessantes Beispiel dafür bietet die „Wahlverwandtschaft“ zwischen dem Lebensstil der brasilianischen Unterschicht und der religiösen Vorstellung über die Zukunft, die die Weltanschauung des Pentekostalismus in Brasilien gestaltet 581 . Die Zukunft wird dabei als ein 579

Idem, S. 31. Idem, S. 31. 581 ARENARI, Brand/TORRES, Roberto (2006): „Religion und Anerkennung. Affinitäten zwischen neupfingstlicher Bewegung und politischem Verhalten in Brasilien“. In: KÜHN, Thomas/ 580

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Zeithorizont wahrgenommen, in den alles, was in der Gegenwart für unmöglich bzw. sehr unwahrscheinlich gehalten wird, als Möglichkeit projiziert wird. Eine Vorstellung besteht beispielsweise darin, bestimmte soziale Positionen binnen kurzem ohne die dafür nötige Qualifikation erreichen zu können. Die Stärke dieses Diskurses liegt gerade darin, dass die projizierte Zukunft ohne Angabe über die zur Verfügung stehenden Ressourcen vermittelt wird. Es wird zwar eine gegenwärtige Konstruktion des inaktuellen Horizonts der Zukunft erlebt, aber es wird sich nicht auf eine Selektion zwischen den möglichen Szenarien (“zukünftigen Gegenwarten”) gestützt, je nachdem, ob sie heute als wahrscheinliche oder unwahrscheinliche Möglichkeiten erscheinen. Es geht vielmehr um die Negation dieses selektiven Projizierens. Gegen alle Vorwürfe der Wirklichkeitsfremdheit muss man hier allerdings feststellen, dass diese fantasierende Vorstellung über die Zukunft, die praktisch auf den Unterschied möglich/unmöglich verzichtet, ihre Entsprechung in der Wirklichkeit in einer „zukunftslosen“ Gegenwart findet. Auch das fehlende Verhältnis zwischen den Zukunftsprojektionen und dem konkreten Handeln hat seinen Sinn in einer Gegenwart, die sich gerade durch den Mangel an rekursiven Anhaltspunkten für erfolgsversprechende Fernsynchronisationen auszeichnet. Man kann diese abstrakte Beschreibung als einen Versuch ansehen, Selbstverständlichkeiten von Entscheidungssituationen, die sich im Anschluss an Organisationssysteme aufdrängen, auf einer theoretischen Ebene explizit zu machen. In Organisationen wird der konstitutive Charakter der Gegenwart für die „Qualität“ von Fernsynchronisationen in Entscheidungssituationen besonders deutlich. „Alle Operationen werden daher innerhalb von Zeitgrenzen angesetzt, und nicht selten ist das Einhalten der Zeit (als sine qua non des Erfolgs) wichtiger als das Resultat“ 582. Ungleichheitsrelevant ist diese zweite Gegenwart vor allem deshalb, weil die Verfügung über Zeit – präziser gesagt, über eine dauernde Gegenwart, in der man sich auf eine Entscheidungssituation, weil sie noch nicht beendet ist, vorbereiten kann – auch die „Qualität“ des Entscheidungsspielraums in besonderem Maße definiert. Die Dringlichkeit einer Entscheidung über einen früheren Eintritt in den Arbeitsmarkt bedeutet zugleich, dass die Alternativen vergleichsweise ungünstiger sind. Beispielsweise muss auf die Möglichkeiten, die nur durch eine zeitgemäße Schulkarriere realisiert werden können, verzichtet werden. Auch Bourdieu versteht die inaktuellen Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft interessanterweise als Modi der Gegenwart. Ohne von der Differenz von Form und Medium auszugehen, wie es die neue Systemtheorie tut, sieht er das Verhältnis von Aktualität und Inaktualiät als ein rekursives Verhältnis, in dem die SOUZA, Jessé (Hg): Das moderne Brasilien Gesellschaft, Politik und Kultur in der Peripherie des Westens. Wiesbaden: VS Verlag, S. 259-277; TORRES, Roberto (2007): “O neopentecostalismo e o novo espírito do capitalismo na modernidade periférica”. In: Perspectivas 23 (2007) São Paulo: S. 85-125. 582 LUHMANN, Niklas (1990): „Gleichzeitigkeit und Synchronisation“, S. 125.

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nicht aktuellen Horizonte Vergangenheit und Zukunft als „Ressourcen“ der Gegenwart fungieren. In der Aktualität der sich ausdehnenden Gegenwart strukturieren die zur Vergangenheit gewordenen sozialen Erfahrungen einen Raum von Möglichkeiten, der die Zukunft als ein gegenwärtig erlebtes Kommendes in sich trägt, der also die Zukunft „vergegenwärtigt“. So heißt es bei ihm: Die Gegenwart ist die Gesamtheit dessen, bei dem man präsent, das heißt, an dem man interessiert ist (im Gegensatz zu gleichgültig oder abwesend). So bildet sie auch nicht nur einen bloßen Zeitpunkt (was, wie mir scheint, nur in den kritischen Momenten der Fall ist, in denen das Kommende in der Schwebe gehalten, in Frage gestellt ist, und zwar objektiv wie subjektiv): Sie umfasst die praktischen Antizipationen und Retrospektionen, die dem unmittelbaren Gegebenen als Möglichkeiten oder objektiven Spuren eingeschrieben sind. Der Habitus ist jener Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart, die die Präsenz des Kommenden in der Gegenwart möglich macht 583. Der Habitus als Produkt der früheren sozialen Erfahrungen (systemtheoretisch: der früheren Inklusionen) ermöglicht die Konstruktion einer vertrauten Welt auch unter sozialen Umständen, in denen Diskontinuitätserfahrungen unausweichlich sind. Das ist deshalb möglich, weil die dem Habitus innewohnende Fähigkeit zur Antizipation der Zukunft diesen inaktuellen Zeithorizont zu einem aktuell vertrauten Kommenden macht, indem die Antizipation der Zukunft ihre eigene Kontingenz einschränkt. Diese Antizipation beruht auf einer praktischen Präkategorisierung, die auf der praktischen Umsetzung der Habitusschemata begründet ist, die, aus der Erfahrung der Regelmäßigkeiten des Daseins erwachsen, die Kontingenzen des Lebens in Abhängigkeit von der früheren Erfahrung strukturiert 584. Folgt man der Annahme, dass sich die für das Entscheidungsverhalten relevante Zukunft nur in der Gegenwart in Verbindung mit der Interpretation der Vergangenheit generieren lässt, dann muss man auch den Raum des Möglichen als eine temporalisierte Konstruktion der Gegenwart ansehen. Was den Individuen als möglich oder als unmöglich erscheint, wird im Lebenslauf durch die Dynamik von Formen und Medium, von bedingten und bedingenden Ereignissen bestimmt. Der Raum des Möglichen wird bereits mit der Geburt in einer Familie und mit der familiären Formung des Lebenslaufes strukturiert, gleichzeitig aber auch durch die Inklusion in andere soziale Systeme mit gestaltet. Auch und gerade die Übereinstimmung zwischen Selbstselektion und Fremdselektion wird von dieser temporalisierten Strukturierung betroffen, und zwar dadurch, dass sich Individuelle Selbsterwartungen an die Möglichkeiten anpassen, die sich mit jedem neuen Ereignis anbieten. Eine klare empirische Basis dafür findet man durch die Beobachtung kausaler Zurechnungspräferenzen in Mobilitätssituationen wie Situa583 584

BOURDIEU, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, S. 269-270. Ibidem, S. 271.

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tionen von Bildungsentscheidungen, von Berufswahlentscheidungen und von Entscheidungen über Beförderungen 585. Die Attributionsforschung hat empirisch gezeigt, dass individuelle Vorstellungen und Annahmen über eigene Leistungsfähigkeit, Zielsetzung und Anstrengungen von sozial konstruierten Ursachenzurechnungen abhängen 586. Dabei geht es darum, die Variationen und die Stabilisierung der individuellen Neigungen zur Selbst -und Fremdzurechnung des eigenen Erfolgs/Misserfolgs auf variable bzw. konstante und kontrollierbare bzw. unkontrollierbare Merkmale zu beobachten und zu messen. Die Studien von Stepehns und Delys 587 haben gezeigt, dass die messbare Gewohnheit, Ereignisse auf eigene Fähigkeiten kausal zu zurechnen bei Mittelschichtkindern ausgeprägter sind als bei Kindern der Unterschicht. Die damit nahelegte Anpassung der individuellen Zurechnungsgewohnheiten an den Raum von Möglichkeiten, der erst mit dieser Anpassung eine Verhaltensrelevanz gewinnt, drückt sich vor allem in den Vorstellungen aus, die der Einzelne über die Beeinflussbarkeit der Handlungen anderer durch die eigenen Anstrengungen besitzt. In der Schule wird eine Attributionsrichtung vorgegeben, die eine vorherige Formung des Lebenslaufes durch die Präferenz für internale und variable Ursachenzurechnung voraussetzt. Die Schüler sollen durch vorschulische Erziehung lernen, „Schulergebnisse als durch eigene, variable Anstrengungen beeinflussbar zu behandeln“ 588, also das eigene Verhalten als Ursache des Handelns anderer wahrzunehmen. Dafür muss plausibel erscheinen, dass man selbst „etwas bewegen“ kann. Doch gerade bei Schülern „niedriger“ sozialer Herkunft verliert diese Selbstzurechnung von Leistung ihre Plausibilität. Vor allem deshalb, weil das Handeln anderer (beispielsweise der Lehrer) sowie die Schulergebnisse aufgrund der Zurechnungsgewohnheiten der Bezugsgruppen dieser Schüler eher als unkontrollierbare Ereignisse erlebt und auf konstante Merkmalen (beispielsweise auf mangelnde eigene Fähigkeit) kausal attribuiert werden. Solche mitgebrachten Unterschiede kausaler Zurechnungsgewohnheiten werden in der Schule als „unentscheidbare Entscheidungsprämisse“ angenommen und qua Leistungsbewertung in hierarchischer Form (Noten) verfestigt. Sobald diese Unterschiede für alle formal dokumentiert werden, bildet das Individuum, das sich mit einer hierarchischen Klassifikation seiner Person konfrontiert sieht, Orientierungen und Erwartungen über seine Lebenschancen aus. Da aber die Gestaltung des Lebenslaufes in der Schule nicht zum Ende kommt, können personale Zurechnungspräferenzen durch weitere Strukturierungen des Raums des Möglichen verändert werden. Bedeutsame Ereignisse, die den Lebenslauf eines 585

NOLLMANN, Gerd (2003): „Warum fällt der Apfel nicht so weit vom Stamm“, S. 124. Siehe die Beiträge in GÖRLITZ, Dietmar (Hg) (1983):Kindliche Erklärungsmuster. Entwicklungspsychologische Beiträge zur Attributionsforschung. Weinheim: Beltz. 587 STEPHANS, M & DELYS, P. A (1973): “locus of control measure for preschool children”. In: Devepmental Psychology 9(1973), S. 55-65. 588 NOLLMANN, Gerd (2003): „Warum fällt der Apfel nicht so weit vom Stamm“, S. 131. 586

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Individuums formen, suggerieren eine Anpassung seiner Zurechnungspräferenzen an die dadurch eröffneten und verschlossenen Chancen. Es handelt sich um ein Zusammenwirken von Personen und Positionen im Lebenslauf 589 . Da der Einzelne auf formal definierte Positionen verteilt wird, die bestimmte Beförderungs-und Karrierechancen in sich trägt, tendiert er dazu, seine eigene Selbsterwartungen und damit auch seine Zurechnungspräferenzen an den neuen Raum von Möglichkeiten anzupassen. Eben diese dynamische Konstitutionsweise von Zurechnungspräferenzen zeigte Luhmann in seiner empirischen Studie über Mobilität im öffentlichen Dienst 590. Die Zurechnungspräferenzen von Beamten werden nicht nur durch ihr Herkunftsmilieu geprägt, sie variieren auch in Abhängigkeit zur beruflichen Karriere, sodass Die Neigung zu internaler Zurechnung mit der Höhe von Stellung, Berufserfolg, Mobilität, Zufriedenheit und positiver Einstellung zum System zunimmt, während external zurechnende Bedienstete sich eher in Positionen finden oder Einschätzungen haben, die ungünstiger sind 591. Das Zusammenwirken von Personen und Positionen, das zu einer laufenden Übereinstimmung zwischen Selbstselektion und Fremdselektion führt, ist nur möglich, weil der Lebenslauf sowohl durch individualisierte als auch durch stellengebundene Erwartungskonfigurationen geformt wird. Individualisierte Erwartungskonfigurationen, die das unterste Abstraktions- und Generalisierungsniveau von Erwartungen bilden, formen den Lebenslauf durch eine Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten, die an die Person gebunden sind und sie prinzipiell unvergleichbar, ja einzigartig macht. Tatsächlich aber werden Personen durch Individualitätsmuster beobachtet, die Ähnlichkeiten zwischen ihren Verhaltensweisen feststellen. Vor allem in Organisation interessiert man sich nicht für die Besonderheiten von Personen, sondern für typisierte Verhaltensmuster, die unterhalb der sozialen Generalisierungsstufe von Rollen und ohne deren formalen Status als Mechanismus der Absorption von Unsicherheit fungieren. Es geht dabei um die Konstruktion eines „generalisierten Anderen“, den man im Detail nicht kennen muss, um entscheidungsleitende Vermutungen über sein erwartbares Verhalten zu entwickeln. Im Vorfeld von Rekrutierungsentscheidungen wird diese informelle Generalisierung von Verhaltenserwartungen als Entscheidungsprämisse angenommen. Dabei wird von der individuellen Person erwartet, dass sie die passende standardisierte Form, „sich individuell zu geben“ 592 beherrscht. Dies gilt verstärkt für die heutige Arbeitswelt, in der Organisationen auf „subjek589

Ibidem. Bourdieu würde hier von einer „Dialektik von Positionen und Dispositionen“ sprechen. BOURDIEU, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 78. 590 LUHMANN, Niklas (1973): „Zurechnung von Beförderungen im öffentlichen Dienst“. In: Zeitschrift für Soziologie 2 (1973), S. 326-351. 591 Ibidem, S. 333. 592 POPITZ, Heinrich (1975): Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie. Tübingen: Mohr, S. 15, Hervorhebung im Original.

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tive Kompetenzen“ der Arbeitenden zugreifen 593. Denn die Betonung etwa von personaler Kreativität kann nur dann Unsicherheit absorbieren, wenn es generalisierte Muster gibt, sich kreativ zu präsentieren. In dem Moment, in dem der Lebenslauf durch solche generalisierende Zurechnungen beobachtet und geformt wird, wird ihm ein Raum von Möglichkeiten eingeschrieben, der auch auf die Besetzung von Positionen in Organisationen verweist. Damit werden aber auch die Verhaltensmöglichkeiten von Personen redefiniert: Sie werden nicht nur als in formalen Rollen agierende Personen in Anspruch genommen; aus der Organisationsroutine ergibt sich die Möglichkeit, die Kompetenzen und Handlungsspielräumen, die die Besetzung von Stellen der Person zur Verfügung stellt (vor allem die Entscheidungskompetenz über Einstellung, Entlassung und Beförderung von Personen), im Interesse der eigenen Selbstdarstellung zu verwenden. In Alltagsinteraktionen, die als Vorfeld von Entscheidungssituationen dienen, kann zwischen formalen und informalen Rollen gewechselt werden, wobei die Beschränkungen, die sich aus den formal festgelegten Erwartungen an die Mitgliedschaftsrollen ergeben, zugunsten von informellen Mustern individueller Erwartungskonfigurationen außer Kraft gesetzt werden können. Als systemübergreifendes Schema der Personenwahrnehmung ist der Lebenslauf durch all diese sozialen Ereignisse formbar, sei es durch die Inklusion in formale Rollen, durch informelle Verhaltensspielräume, durch „institutionalisierte Ressourcen“ oder durch „inkorporierte Ressourcen“. In diesem Zusammenhang kann das für den Lebenslauf konstitutive Verhältnis von Aktualisierung und Virtualisierung von Formen soziale Systeme strukturell koppeln, sodass die Inklusion in ein Funktionssystem die Inklusion in ein anderes Funktionssystem erleichtert. Der Grund dafür ist, dass dieses Verhältnis von Aktualisierung und Virtualisierung die Konvertierbarkeit von Ressourcen ermöglicht: Eine sichere Inklusion in die Wirtschaft erleichtert den Erwerb von Wissen. Wissen wiederum eröffnet Einkommensquellen, Einflussmöglichkeiten und eventuell auch Machtpositionen in Organisationssystemen usw. Das heißt: Da die gesamtgesellschaftlichen Inklusionschancen eines Individuums durch die Formung seines Lebenslaufes konditioniert werden, befindet es sich, obwohl es zur Umwelt der Funktionssysteme gehört, immer schon „in der Nähe“ von einigen Funktionssystemen, während andere Funktionssysteme als entfernte und unvertraute Sinnprovinzen wahrgenommen werden. Dies hängt mit der Tatsache zusammen, dass auch die individuelle Selbstbeoachtung, die sich immer des sozialen Konzeptes der Person bedient 594, um Selbstselektion an erwartete Fremdselektion anzupassen, zur 593

PEETZ, Thorsten/LOHR, Karin (2010): „Arbeit und Organisation in der funktional differenzierten Gesellschaft. Ein theoretischer Rahmen zur Analyse von Arbeit, illustriert am Beispiel von Unternehmen und Schulen“. In: Berliner Journal für Soziologie 20 (2010), S. 447-473. 594 SCHNEIDER, Wolfgang Ludwig (2011): „Akteure oder Personen/psychische Systeme?“. In: LÜDTKE, Nico/ MATSUZAKI, Hironori (Hg): Akteur – Individuum - Subjekt. Fragen zu „Personalität“ und „Sozialität“. Wiesbaden: VS Verlag, S. 109.

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Formung des Lebenslaufs beiträgt. Es handelt sich um eine Selbstbeoachtung zweiter Ordnung, die eine Anpassung eigener Inklusionsansprüche, also der eigenen Beobachtungen der Welt, an den beobachteten Raum von Inklusionsmöglichkeiten ermöglicht. So können unterschiedliche Dispositionen (Formen) entwickelt werden, die von einigen Funktionssystemen als Medium für die Konstruktion ihres eigenen Akteurtypus benutzt werden, während sie auf dem Bildschirm anderer Funktionsbereiche als ungeeignet erscheinen. Nur wenn der Lebenslauf eines Individuums Möglichkeiten weiterer Formbildung bereitstellt, kann es an den verschiedenen Funktionssystemen teilnehmen. Seine Person muss systemspezifischen Umformungen zugänglich sein: Das Kind muss in einen Schüler umgewandelt werden; das in der Schule erworbene Wissen muss in funktionsspezifisches Wissen konvertierbar sein – sei es in Hochschulen, in Organisationen etc. Fernsynchronisation und Differenzierung von Personenkonstruktionen bedingen sich wechselseitig im Lebenslauf. Wer als Form (Person) mediale Möglichkeiten für die Konstruktion neuer Formen (neue Formen des Personseins) in sich nicht träg, verfügt über keine Zeitbindung 595, hat also keine Zukunft in der funktional differenzierten Gesellschaft. Keine Zukunft zu haben heißt: keine Möglichkeit der Umwandlung von Ressourcen, von Neukonstruktionen der Formen im Lebenslauf zu haben.

4.4 Publikumskonstruktionen und die Selektion von Personen Diese selektive Beobachtung und Bewertung von Lebensläufen, je nachdem, ob sie als Medium für systemspezifische Personenkonstruktionen dienen oder nicht, zeigt sich exemplarisch an den funktionsspezifischen Publikumskonstruktionen. Publikumskonstruktionen reduzieren die operativen Möglichkeiten der Funktionssysteme. Sie ziehen, wie Stäheli 596 zeigt, eine Grenze zwischen den möglichen Adressen, die die Kompetenzen für die Teilnahme an funktional spezialisierten Kommunikationsformen haben, und einem „Außen“, das entweder als nicht inkludierbare Bedrohung für die Systemrationalität oder als Inklusionspotenzial wahrgenommen wird, das die Steigbarkeit des Publikumsumfangs ermöglicht. Gerade weil diese Publikumskonstruktion nicht aus der funktionalen Differenzierungsform abgeleitet werden kann, sind Funktionssysteme darauf angewiesen, ihre Operationen durch (organisatorische) Programme strukturieren zu lassen, die die Handlungs- und Erlebensmöglichkeiten der sozialen Personen festle595

Zeitbindung ist Generierung von Strukturen (Erwartungen) im Kontext ereignishafter Reproduktion von Systemen. Siehe LUHMANN, Niklas (1991): Soziologie des Risikos. Berlin/New York: de Gruyter, S. 61. 596 STÄHELI, Urs (2009): „Die Konstruktion des Finanzpublikums: eine genealogische Analyse. In: STICHWEH, Rudolf/WINDOLF, Paul (Hg): Inklusion und Exklusion: Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag, S. 259-272.

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gen. Denn nur mit dieser Festlegung können Personen als mögliche Ursachen für systemrelevante Ereignisse bezeichnet werden. In seiner Analyse der Konstruktion des Finanzpublikums zeigt Stäheli, dass solche Festlegungen umkämpfte Gegenstände innerhalb von Funktionssystemen sind. Die Kompetenzen, die für einen „berufenen Spekulanten“ konstitutiv sind, unterliegen historischen Kontingenzen. Somit auch die Programme dieses Systems, weil Programme diese Kompetenzen als Inklusions- und Richtigkeitskriterien von Systemoperationen anwenden. Die Konstruktion des Finanzpublikums erfolgt über die Beobachtung des Lebenslaufes: über die Beobachtung von Möglichkeiten der Formbildung, die der Lebenslauf aufgrund vergangener sozialen Erfahrungen in sich trägt. Wer als Träger solcher Möglichkeiten anerkannt wird, kann als Spekulant legitim an der Börse teilnehmen. Es kommt darauf an, neben dem ökonomischen Wissen und Kapital diejenigen Fähigkeiten zu prämieren, die zur Produktion der Verhaltensweisen, die der Systemrationalität zugrunde liegenden Konzeption der subjektiven „Selbstreferenz“ bestätigen, geeignet sind. Der wichtigste Streitpunkt sind die möglichen Konsequenzen für die Struktur des Finanzpublikums, die sich aus der Inklusion von Individuen ergeben, die sich nicht auf eigene Überlegungen, Kalkulationen und Meinungen stützen, um Kauf-und Verkaufsentscheidungen zu treffen, sondern als Teil einer „emotional mass“ die Entscheidungen anderer Spekulanten imitieren: Kann die Mikrodiversität ökonomischer Entscheidungen d .h., ihre Zufallsverteilung, die entindividualisierenden Auswirkungen der Inklusion einer „irrationalen“ Publikumsmasse überleben? Oder führen die Nachahmungsdynamiken des Massenverhaltens zwangsläufig zu unvorhersehbaren Strukturbildungen, „wodurch die notwendige Varietät eines Finanzmarktes zerstört wird“ 597? Diese Unterscheidung zwischen dem disziplinierten bzw. autonom handelnden Spekulanten und der undisziplinierten bzw. nicht autonomen Masse prägt die Konstruktion des Finanzpublikums in den USA 598. Diese Konstruktion oszilliert zwischen der exklusiven Aufwertung (z. B. durch rechtliche Regulierungen) des disziplinierten Spekulanten – der auf der Basis einer für die ökonomische Subjektivität konstitutiven Distanz zum Gewinn 599 handelt, was der Exklusion der kurzfristig denkenden und handelnden unberufenen Spekulanten, der nur „das paradiesische Unmittelbarkeitsversprechen“ sieht, entspricht – und der Möglichkeit der Inklusion dieses undisziplinierten Laienspekulanten, dessen „irrationale Massenverhalten“, wenn durch das Handeln von Experten entgegengewirkt wird, gelegentlich auch Gewinne für den rationalen bzw. disziplinierten Publikumsanteil bringen kann 600. 597

Ibidem, S. 267. Vermutlich nicht nur in den USA. 599 Ibidem, S. 265. 600 Ibidem, S. 269. 598

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Publikumskonstruktionen sind auch Publikumsfiktionen und inwiefern sie mit Selbsterwartungen von Personen übereinstimmen, hängt davon ab, ob und in welchem Maße diese Selbsterwartungen an die Fremderwartungen angepasst werden, die die Inklusionsprofile der Publikumsfiktionen ausmachen. Publikumskonstruktionen stellen also die Fremdselektion von Erwartungskonfiguration dar, die das Individuum durch seine Selbstselektion antizipieren kann, um als Publikumsrollenträger infrage zu kommen. Es handelt sich dabei um eine in der Sozialdimension generalisierbare Reduktionsleistung, die unterhalb der Abstraktionsstufe von Rollen Ähnlichkeiten zwischen dem Verhalten unterschiedlicher Personen feststellt und deshalb Orientierungswert sowohl für soziale wie auch für psychische Operationen hat. Auf diese Weise können ontologische Zurechnungsweisen bzw. Seinsunterstellungen entstehen, die die Beobachtungsabhängigkeit und damit auch die Kontingenz von Publikumskonstruktionen unsichtbar machen. Auf der Beobachtungsebene erster Ordnung werden diese Konstruktionen zu „fungierenden Ontologien“, die „einen hohen Grad an sozialer und psychischer Verbindlichkeit erreichen“ 601. Das führt zu einem Interpenetrationsverhältnis zwischen psychischen und sozialen Systemen, wobei die ontologisch zugerechneten Adressen samt ihren Verhaltensmöglichkeiten als nicht kontingente Reduktionsleistung für beide Systeme dienen. Auf der soziologischen Beobachtungsebene zweiter Ordnung dagegen erscheint die Übereinstimmung zwischen Selbstselektion und Fremdselektion, die den Publikumskonstruktionen einen ontologischen Status verleihen kann, als kontingent. Aufgabe der Soziologie ist es, die soziale Konstruktion von Menschentypen in ihrer Kontingenz zu beobachten 602 . Die Kontingenz der Publikumskonstruktionen ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass sie, auch wenn das individuelle Verhalten sie in sozialen Situationen bestätigt, mit Operationen von psychischen Systemen nicht identisch sind. Das heißt: Solche Konstruktionen ermöglichen keinen direkten Zugriff auf psychische Operationen. Stattdessen greifen soziale Systeme auf kommunizierte Selbsterwartungen von Personen zurück, um die Wirkungen von Kommunikation auf ihre psychische Umwelt zu beobachten. Psychische Prozesse der Selbstsozialisation sind in ihrer Operativität für soziale Systeme unzugänglich und unbeobachtbar. Nur das Ergebnis solcher Sozialisationsprozesse kann von der Kommunikation aufgegriffen werden, und zwar durch die Beobachtung der Formpräferenzen und Formkompetenzen von Personen (also ihrer Selbsterwartungen) 603. Im Falle von Funktionssystemen geht

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FUCHS, Peter (2004): Der Sinn der Beobachtung. Begriffliche Untersuchungen. Weilerwist, 0.2.2. FUCHS, Peter (1994): „Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?“. In: FUCHS, Peter/GÖBEL, Andreas (Hg): Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 39. 603 BROSZIEWISKI, Achim (2006):„Kommunikationsmedien und kulturelles Kapital. Konvergenzen und Divergenzen in Bourdieus und uhmanns Kulturtheorien“: In: REHBERG, Karl-Siegbert (Hg): Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen 602

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es um die Beobachtung der Ergebnisse individueller Mediensozialisationsgeschichten durch die Unterscheidung zwischen Gebrauchsweisen der Kommunikationsmedien, die als individuelle Präferenzen registriert und zugerechnet werden. Es geht also darum, zwischen „richtigem“ und „falschem“ Mittelungsverhalten im Kontext funktional ausdifferenzierter Kommunikationen, zwischen „falscher“ und „richtiger“ Anwendung der Mediencodes, zwischen dem „richtigen“ und dem „falschen“ Umgang mit Geld, Macht, Recht, Liebe, Glaube usw. zu unterscheiden. Auf diese Weise wird mit der Intransparenz und mit der Komplexität psychischer Operationen durch die kommunikative Unterstellung von Konsens bzw. Dissens über „richtiges“ und „falsches“ Mittelungsverhalten umgegangen. Anders als die Zurechnung rein individueller Verhaltenserwartungen werden solche Publikumskonstruktionen nicht nur in der Zeitdimension, sondern auch in der Sozialdimension generalisiert. Diese Generalisierung erreicht nicht das Niveau formalisierter Rollen, wohl aber das Niveau typisierter Publikumsrollenträger. Die Ordnungsleistung von Publikumskonstruktionen besteht in der Reduktion der Komplexität der Sozialdimension durch Festlegung von Individualitätsmustern. Zwar wird damit die Individualität von Personen unterstellt. Doch die Publikumskonstruktionen müssen soweit als möglich von konkreten individuellen Besonderheiten abstrahieren, damit die Komplexität der menschlichen Umwelt auf dem Bildschirm sozialer Systeme als strukturierte Komplexität erscheint. Das ist möglich, weil Individuen Wertpräferenzen zugerechnet werden, die sie zur legitimen Teilhabe an den Funktionssystemen befähigen. Dabei hat die Zurechnung von Wertpräferenzen den Sinn einer unterstellten Identifikation mit dem Werteschema und mit den sozialen Formen der Funktionssysteme. Auch die positiven Codewerte von Funktionssystemen und ihre entsprechenden Gebrauchsweisen fallen darunter. Soziale Systeme können beispielsweise Personen „Präferenzen für den Gewinn, für die Stabilisierung oder den Ausbau von politischer Macht, die Vermehrung von Eigentum (bzw. die Erwirtschaftung von Profit) oder die Entwicklung von neuen und als wahr anerkannten Theorien“ 604 zuschreiben. Damit schaffen sich Funktionssysteme soziale Adressen, denen das Potenzial innewohnt, „sich mit den Medienformen zu identifizieren, das heißt, deren Asymmetrie zu vollziehen und dadurch zu bestätigen“ 605. Die Konstruktion sozialer Adressen, die den Publikumsumfang bestimmen, ist, wie bereits ausgeführt, konstitutiv für die Programmstrukturen der Gesellschaftsbereiche. Als „Komplex von Bedingungen der Richtigkeit (und das heißt: der sozialen AbGesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2. S. 2859-2868. Frankfurt am Main: Campus Verlag GmbH, 2006 [Konferenzbeitrag], S. 2865/66. 604 SCHNEIDER, Wolfgang Ludwig (2011): „Akteure oder Personen/psychische Systeme?“, S. 112. 605 BROSZIEWISKI, Achim (2006): „Kommunikationsmedien und kulturelles Kapital. Konvergenzen und Divergenzen in Bourdieus und Buhmanns Kulturtheorien“, S. 2865/66.

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nehmbarkeit) des Verhaltens“ 606 , der die Zuordnung von Codewerten steuert, sind Programmstrukturen auf Asymmetrien angewiesen, die Handlungs -und Erlebensmöglichkeiten von Individuen einschränken. Denn die Zuordnung von Codewerten kann nur programmiert werden, wenn der Publikumsumfang entsprechend reduziert wird d. h., wenn soziale Adressen kommunikativ erzeugt werden, von denen richtige, anschlussfähige Gebrauchsweisen 607 der Kommunikationsmedien erwartet werden. Nur auf der Basis solcher sozial selektiven Strukturen können Funktionssysteme ihre operativen Möglichkeiten reduzieren und strukturieren. Obwohl Funktionssysteme auf der Ebene ihrer Programme lernfähig sind, da diese ohne den Verlust der durch den Code festgelegten Systemidentität gewechselt werden können, stoßen Lernprozesse häufig an die Stabilität sozialer Asymmetrien. Es ist möglich, dass bestimmte Gebrauchsweisen der Kommunikationsmedien, die bestimmte Personengruppen (als kreditwürdig in der Wirtschaft, als demokratisch in der Politik, als romantisch oder sexy in Intimbeziehungen usw.) als Adresse für die Systemoperationen auszeichnen, im System als selbstverständlich wahrgenommen und in ihrer historischen und sozialen Kontingenz unsichtbar gemacht werden. Das Ergebnis ist dann die Limitierung der Vergleichsmöglichkeiten und der Variationsbreite des Publikumsumfangs. Ein solches Ausbleiben der systemischen Lernfähigkeit lässt sich an der Kulturalisierung von Differenzen der Gebrauchsweisen der Kommunikationsmedien erkennen. Luhmann sieht den Kulturbegriff als einen historischen Begriff 608, mit dem die moderne Gesellschaft seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihre Gedächtnisfunktion bezeichnet. Diese Gesellschaft und ihre Funktionssysteme mussten der Varietät von Lebensformen und Weltbildern, die durch die weltweite Expansion der Funktionssysteme sichtbar werden, Rechnung tragen, da diese Varietät auch die Gebrauchsweisen der Kommunikationsmedien betrifft. Wie geht man mit Geld um? Welche Lebensformen und Weltbilder fördern das Sparen und welche den Konsum? Welche Demokratie und welche Diktatur? Inwieweit ist Vertrauen an den Kommunikationsmedien etabliert? Alle diese Fragen resultieren aus einer distanzierten Beobachtung der Gebrauchsweisen der teilsystemischen Kommunikationsmedien. Voraussetzung für diese Beobachtungsmöglichkeit war die Ausdifferenzierung der Verbreitungsmedien (Schrift und Buch606

LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 432. Anschlussfähige Gebrauchsweisen sind diejenigen Mitteilungsverhalten, die eine Antizipation der Verstehensselektion und der davon abhängigen Anschlusskommunikation ermöglichen, wodurch die Verstehensselektion und die Anschlusskommunikation durch die Mitteilungsselektion konditioniert werden. 608 LUHMANN, Niklas (1995): „Kultur als historischer Begriff“. In: Ders. Gesellschaftsstruktur und Semantik 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 31-54; LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 586. 607

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druck). Nur durch Schrift und Buchdruck besteht die Möglichkeit, Kommunikation aus der Distanz zu beobachten, was auch für die mit Erfolgsmedien ausdifferenzierten Kommunikationen gilt. Es handelt sich um kontrollierende Vergleiche von operativen Möglichkeiten, „die alle anlaufende [n] Operationen testet im Hinblick auf Konsistenz mit dem, was das System als Realität konstruiert“ 609. Das System konstruiert seine Realität durch eine sehr selektive Verknüpfung von Vergessen und Erinnern, in der die Vergangenheit nur in dem Maße erinnert wird, als sie Anschlussoperationen nicht blockiert. Als selektive Resultate früherer Operationen müssen Identitäten gewonnen und bezeichnet werden, die sicherstellen, dass eine damit vergessene Vergangenheit den Variationsrahmen der Zukunft bestimmen kann 610 . Anhand dieser gegenwärtigen Konstruktion der Vergangenheit, die das Vergessen vergangener Operationen in ihrer Operativität impliziert, kontrolliert die Gedächtnisfunktion, von welcher Realität aus die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme in die Zukunft blicken. Zunächst war es das moderne Europa, das mit dem Kulturbegriff seinem Interesse an Vergleichen – seien es nationale bzw. regionale, seien es historische Vergleiche – eine identitätsbildende Orientierung verliehen hatte. Auch Nationsvergleiche nehmen jetzt die Form von Kulturvergleichen an 611. Zwar setzt jede Vergleichsoperation voraus, dass das, was verglichen wird, als kontingent und auch anders möglich beobachtet wird. Man kann etwas nicht vergleichen ohne es vor dem Hintergrund anderer Möglichkeiten zu betrachten. Also: es gibt keine Beobachtung ohne Unterscheidung. Ferner ist das Vergleichsinteresse auf die Expansion der Funktionssysteme bezogen und solange die Vergleichsgesichtspunkte spezifiziert sind, stößt man weder historisch noch regional auf Unvergleichbarkeiten. Die Globalisierungsdynamik von Funktionssystemen geht Hand in Hand mit der Formation globaler Vergleichszusammenhänge 612, wodurch die Systemoperationen verglichen, beobachtet, kritisiert und evaluiert werden. Die daraus resultierende prinzipielle Instabilität und Unbestimmtheit werden jedoch durch semantische Asymmetrien reduziert, die im Kulturvergleich stabilisiert werden 613 . Der Standpunkt, von dem aus verglichen wird, generiert stabile Asymmetrien zwischen der beobachtenden und der beobachteten Kultur – wie 609

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft 1, S. 578-579. „So kann man beim Schachspiel von der gegenwärtigen Stellung der Figuren auf dem Brett ausgehen oder braucht nicht zu erinnern, wie sie in ihre Position gelangt sind“. In: LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band1, S. 580. 611 LUHMANN, Niklas (1995): „Jenseits von Barbarei“. In: Ders: Gesellschaftsstruktur und Semantik 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 145. 612 Siehe WERRON, Thobias (2007): “Publika. Zur Globalisierungsdynbamik von Funktionssystemen”. In: Soziale Systeme 13 (2007), S. 386-388; WERRON, Thobias (2011): “Wie ist Globalisierung möglich? Zur Entstehung globaler globaler Vergleichshorizonte am Beispiel von Wissenschaft und Sport”. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 63 (2011), S. 359-394. 613 „Man findet eine merkwürdige Wiederkehr der asymmetrischen Gegenbegrifflichkeit“. In: LUHMANN, Niklas (1995): „Jenseits von Barbarei“, S. 146.

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Zivilisierte und Wilde, Okzident und Orient, Nordamerika und Lateinamerika 614 usw. Die Asymmetrie ist stabil, weil die andere Seite der Unterscheidung (Wilde, Orient, Lateinamerika) eine Kreuzung unmöglich macht 615: Der protestantische, universalistische und demokratische US-Amerikaner kann, laut der in den USA erfundenen Asymmetrie, niemals mit dem katholischen, partikularistischen und autoritären Lateinamerikaner verwechselt werden 616 . Trotzdem haben sich sowohl die Richtung als auch die Skala der Vergleichsoperationen als dynamisch erwiesen: „Haben ‚wir‘ zunächst den ‚Orient‘ erfunden, erfinden diese nun den ‚Westen‘ neu“ 617. Auch die Asymmetrien der Gegenbegrifflichkeit Nordamerika/Lateinamerika wie „rational/emotional“ wurden Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Bildung nationaler Identitäten in Lateinamerika umgekehrt: Nun ist es nicht mehr der Lateinamerikaner, dem es an Rationlität fehlt (sei es bürokratische oder wirtschaftliche Rationalität); es ist der US-Amerikaner, dem es an Emotionalität fehlt. Ferner ist die Vergleichsskala immer differenzierter geworden: Zunächst betrachtete man lediglich Nationen und Ethnien als Kultur, heute hingegen werden nicht nur schichtspezifische Lebensstile kulturalisiert, sondern fast alles. Die dadurch generierten und zugerechneten (asymmetrischen) kulturellen Identitäten verweisen nicht auf einen gemeinsamen Ursprung. Sie verweisen auf Gewohnheiten, Mentalitäten, Unterscheidungsfähigkeiten und auf andere Regelmäßigkeiten 618 , die ohne die Beobachtung von Kultur unsichtbar blieben. Luhmann geht davon aus, dass die vergleichende Beobachtung von Kulturen als spezifische moderne Form des sozialen Gedächtnisses nur durch ihre funktionale Spezialisierung Vergangenheit und Zukunft unterscheiden und miteinander verknüpfen kann 619. Zwar lässt der Begriff der Kultur es zu, wie in der Modernisierungstheorie im Besonderen und in den Sozialwissenschaften im Allgemeinen üblich, von einer Mehrheit von Gesellschaften auszugehen, um sie in ihrer historischen und regionalen Vielfalt miteinander zu vergleichen. Aber die dazu notwendige Vorwegbestimmung von Vergleichsgesichtspunkten setzte die Einheit von (nationalen, regionalen, historischen) gesamtgesellschaftlichen Realitätskonstruktionen voraus. Diese Annahme ruiniert im Laufe der Zeit. Luhmann dagegen begreift die Gesellschaft als Differenz und nimmt an, dass die Vergleichsoperationen, mit denen die Gedächtnisfunktion noch erfüllt wird, auf 614 Dazu FERES JUNIOR, Joao (2004): “Spanish America como o outro da América”. In: Lua Nova 26 (2004), S. 69-91. 615 NASSEHI, Armin (2010): „Kultur im System: einige programmatische Bemerkungen zu einer systemtheoretisch informierten Kultursoziologie“. In: WOHLRAB-SAHR, Monika (Hg): Kultursoziologie: Paradigmen-Methoden – Fragstellungen. Wiesbaden: VS Verlag, S. 379. 616 FERES JUNIOR, Joao (2004): “Spanish America como o outro da América”, S. 69. 617 NASSEHI, Armin (2010): „Kultur im System“, S. 391. 618 Ibidem, S. 379. 619 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 591.

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funktionsspezifischen Realitätskonstruktionen und Vergleichsgesichtspunkten beruhen. In diesem Sinne wird Kultur, was ihren Orientierungswert für Systemoperationen angeht, zum Beobachtungsschema aller funktionsspezifischen Medienformen 620, also aller Ereignisse, die Bewusstsein und Kommunikation durch die momentane Kausalverknüpfung des Erlebens und Handelns von Personen koppeln. Die Differenzen und Regelmäßigkeiten, auf deren Beobachtung es ankommt, liegen in den Gebrauchsweisen von Kommunikationsmedien. Mit diesem Begriff von Kultur wird auf die Ergebnisse von Mediensozialisationsgeschichte fokussiert. Er ist eine Ersatzlösung für die Unbeobachtbarkeit von psychischen Prozessen der Selbstsozialisation im Umgang mit Geld, Macht, Liebe, Glaube usw. Er bezeichnet Präferenzen und Werteinstellungen, die sich aus dem Umgang mit Medien ergeben und die den Bedarf und den Gebrauch von Medien konditionieren. Dabei fungiert die Zurechnung kultureller Identitäten als Mechanismus von Publikumskonstruktionen. Wenn die damit generalisierten Asymmetrien stabilisiert werden, werden bestimmte Gebrauchsweisen der Kommunikationsmedien als Kriterien zur Allokation der Codewerte angenommen. Nur wer Kauf- und Verkaufsentscheidungen „richtig“ treffen kann, darf als legitimer Spekulant in den Finanzmarkt inkludiert werden und nur wer „demokratische Kultur“ präsentiert, darf an der Politik teilnehmen. Funktionssysteme stützen sich auf derartige zugerechnete Präferenzen, die auch durch die Selbstzurechnung und Selbsterwartung von Personen bestätigt und reproduziert werden können, und sie tendieren dazu, ihre Kontingenz zu vergessen. Die Kulturalisierung von Differenzen der Gebrauchsweisen der Kommunikationsmedien macht die Kontingenz der verglichenen kulturellen Phänomene sichtbar, allein schon deshalb, weil sie als vergleichbare Phänomene behandelt werden. Im Schema funktionaler Äquivalenzen können unterschiedliche „kulturelle“ Lösungen für das gleiche Bezugsproblem verglichen werden. Die Funktion der Politik, kollektiv bindende Entscheidungen herzustellen, kann beispielsweise auf sehr unterschiedliche Weise erfüllt werden, etwa in Form von Demokratie oder Diktatur. Aber der Vergleich von kulturellen Differenzen limitiert zugleich die Vergleichsmöglichkeiten, indem er von der Festlegung solcher Differenzen ausgeht, und verhindert vor allem, dass andere Differenzen als diejenigen, die wiederholt gebraucht werden, ans Licht kommen. Diese Bereitstellung von Vergleichsmöglichkeiten durch Limitierung von Vergleichsgesichtspunkten lässt sich, wie Luhmann betont, auch an dem Bourdieuschen Begriff des kulturellen Kapitals erkennen. Die Beobachtung des kulturellen Kapitals einer Person, durch welche über ihre Inklusion oder Exklusion in verschiedene soziale Systeme entschieden werden kann, bezeichnet und vergleicht nur das Ergebnis einer Sozialisationsgeschichte. Eben das Vergessen und die Unsichtbarmachung dieser Sozia620

BROSZIEWISKI, Achim (2006): „Kommunikationsmedien und kulturelles Kapital. Konvergenzen und Divergenzen in Bourdieus und Buhmanns Kulturtheorien“, S.7.

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lisationsgeschichte ist die Gedächtnisleistung, die erbracht werden muss, um die Rekursivität der erinnerten kulturellen Differenzen zu ermöglichen. So schreibt Luhmann: Denn Kapital ist doch nicht anderes als angesammelte Vergangenheit, die als verfügbare Ressource behandelt werden kann, ohne dass die Lern – und Aneignungsprozesse selbst erinnert werden müssen. Der Begriff des Kapitals verdeckt zwar die Vergleichsmöglichkeiten, auf die es im Kulturbegriff ursprünglich angekommen war, und ersetzt sie durch den sozialen Vergleich von Prestigwerten der symbolischen Güter. Insofern bringt der Begriff des kulturellen Kapitals nur ein schmales Segment dessen heraus, was das kulturell geformte Gedächtnis für die Gesellschaft bedeutet 621. Allerdings ist dieses „schmale Segment des kulturellen Gedächtnisses“ von zentraler Bedeutung für das Thema der sozialen Ungleichheit, besonders für die Konstruktion sozialer Ungleichheit im Lebenslauf. Das kulturalisierte soziale Gedächtnis kann sogar zu einer Kumulation von Ungleichheiten im Lebenslauf führen, also die Inklusionschancen von Individuen in unterschiedliche Funktionssysteme beeinflussen, indem es die Vergangenheit von Personen invisibilisiert. Denn mit der Beobachtung von Kultur wird nicht nur die Mediensozialisationsgeschichte vergessen, sondern auch die Voraussetzung dafür, dass man sich überhaupt von diesen Medien faszinieren und sozialisieren lässt. In funktionssystemspezifischen sozialen Praxen wird es als selbstverständlich angesehen, dass man weiß, wie mit ihren Kommunikationsmedien umzugehen ist. Im Kunstsystem wird nicht geprüft, ob und wie man Kontakt mit Kunstwerken gepflegt hat, sondern nur, ob und wie man zwischen dem ästhetischen Wert eines Bildes und seinem Preis unterscheiden kann. Wenn Nassehi 622 recht hat, dass die Kulturalisierung (einschließlich die wissenschaftliche Kulturalisierungspraxis) von Gegenständen und Personen ihnen „so etwas wie eine authentische Würde“ verleiht, dann deswegen, weil Kultur in der Praxis keiner weiteren Erklärung und Legitimation bedarf, um Rekursivität zu erzeugen. Es werden natürlich Variationen innerhalb von zuvor als homogen gedachten „kulturellen Einheiten“ beobachtet und registriert, was die Suche nach weiteren, verfeinerten Konstruktionen stimulieren mag. So wird der Begriff des sozialen Milieus 623 benutzt, um Variationen zu beobachten, die mit der Brille der „schichspezfischen Lebensstille und Lebensweisen“ unbeobachtbar bleiben. Jedoch können sie nur im Rahmen einer neuen „kulturellen Einheit“ beobachtet werden, deren Konstruktion und Bezeichnung auch das Treffen einer neuen Unterscheidung voraussetzt. Das gleiche gilt für den postkolonialen (intellektuellen) Mig621

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 588-589. NASSEHI, Armin (2011): „Kultur im System“, S. 381, 390. 623 BERGER, Peter/HRADIL, Stefan (1990): „Die Modernisierung sozialer Ungleichheit und die neuen Konturen ihrer Erforschung“. In: BERGER, Peter/HRADIL (Hg): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstille. Soziale Welt Sonderband 7 (1990), S. 3-28. 622

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ranten, der beim Versuch, sich durch „den Dialog der Kulturen“ ein „kulturelles Dazwischen“ (zwischen den „westlichen“ und den „nicht-westlichen“ Kulturen) zu schaffen, in der Tat eine neue kulturelle Position konstruiert – nämlich eine Position, die sich in Differenz setzt zu solchen „Kulturen“, die keinen Dialog wollen 624. Die kulturalisierende Beobachtung von Personen kann auch als Selbstbeobachtung praktiziert werden. Psychische Systeme gebrauchen eben das, was Personen als Kultur attribuiert wird – also die sozial bezeichneten Resultate des Sozialisationsprozesses – als Anhaltspunkt für ihre Selbstbeobachtung. Sie nehmen die sozial akzeptablen Gebrauchsweisen von Kommunikationsmedien (als wichtigste kulturelle Eigenschaften einer funktional differenzierten Gesellschaft), die sozialen Systeme als Lösung für die Unbeobachtbarkeit der psychischen Prozesse der Selbstsozialisation auswählen, als Fremdreferenz für die eigene (psychische) Selbstbeobachtung an. In diesem Sinne zwingt die Differenzierung der Sozialisationsprozesse, welche je nach Funktionssystem andere Unterscheidungen und Formen betonen, die individuellen Psychen zu einer entsprechenden Differenzierung ihres Unterscheidungsvermögens. Dabei geht es um die Entwicklung der psychischen Fähigkeit, Unterscheidungen zu unterscheiden, sie als Formen zu markieren und zwischen ihnen oszillieren zu können 625. Funktionale Differenzierung setzt voraus, dass psychische Systeme ihre Fremdreferenz variieren lassen, d. h., dass sie sich mit verschiedenen Personenkonstruktionen identifizieren und zugleich Distanz von ihnen nehmen können 626. Als Beobachtungsschema der Resultate von Kommunikationen bietet Kultur den psychischen Systemen die Möglichkeit, „eigene Distanzen und Ambivalenzen zur je eigenen Person zu entwickeln und zu unterhalten“ 627. Wer die Fremdreferenz seiner psychischen Selbstbeobachtung auf die Personenkonstruktion eines einzigen Funktionssystems reduzieren lässt, wer also nicht auf Distanz zu den jeweiligen aktualisierten Medienformen gehen kann, kann an den funktional differenzierten Kommunikationen nicht teilnehmen. Wer bei Operationen des Kunstsystems „Besitztrieb“ statt (guten) Geschmack beweist, zeigt sein „undifferenziertes Unterscheidungsvermögen“ und wird nur als „Körper“ behandelt, und nicht als „Person“. Wenn nicht die Differenzierung des Unterscheidungsvermögens selbst, so doch wenigstens das Potenzial zu dieser Differenzierung ist konstitutiv für das Medium Lebenslauf als (systemübergreifendes) Schema der Personenwahrnehmung. Im Folgenden wird noch näher darauf eingegangen. 624

NASSEHI, Armin (2011): „Kultur im System“, S. 393. LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 592-593. 626 „Das In-dividuum wird durch Teilbarkeit definiert. Es benötigt ein musikalisches Selbst für die Oper, ein strebsames Selbst für den Beruf, ein geduldiges Selbst für die Familie.“ In: LUHMANN, Niklas (1989): „Individuum, Individualität, Individualismus“, S. 223. 627 BROSZIEWISKI, Achim (2006): „Kommunikationsmedien und kulturelles Kapital. Konvergenzen und Divergenzen in Bourdieus und Luhmanns Kulturtheorien“,S. 8. 625

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Da die Kommunikation dieses psychische Unterscheidungsvermögen nicht in seinem eigenen operativen Vollzug beobachten kann, muss es kommunikativ rekonstruiert werden. Ohne dieses „re-entry“ der Unterscheidung von Kommunikation und Psyche in der Kommunikation hätte das psychische Unterscheidungsvermögen keine soziale Relevanz. Daher bilden sich Muster heraus, wie man die zu verwendenden Unterscheidungen unterscheidet und Selbstkontrolle der Ozsillation zwischen ihnen präsentiert. Es kommt darauf an, zu kommunizieren, dass man auf Distanz zu denjenigen Facetten seiner Selbst gehen kann, die nicht zu der jeweiligen kommunikativen Praxis passen. Dazu gehört auch der eigene Beitrag zum Vergessen der Lern- und Aneignungsprozesse dieser Kompetenz, denn die Funktionssysteme können ihre eigene Personenkonstruktion nicht als Konstruktion – und das heißt: als kontingent – sehen. Als Kultur der modernen Gesellschaft soll dann diejenige Form von sozialem Gedächtnis bezeichnet werden, die ein differenziertes Unterscheidungsvermögen als notwendige Eigenschaft von Personen voraussetzt und diese Voraussetzung als Entscheidungsprämisse aktualisiert, ohne sich an dessen Konstruktion zu erinnern. Es geht um eine „sich selbst in sich selbst verortende Kultur“ 628. Das soll nicht bedeuten, es gäbe eine einzige sozial akzeptable Gebrauchsweise der Kommunikationsmedien. Denn offensichtlich können die Funktionssysteme unterschiedliche Gebrauchsweisen als sozial inklusive Kultur beobachten und dementsprechend kulturelle Diversität von Inklusionsfiguren zulassen. Schon die Tatsache, dass sich ihre Inklusionsfiguren in Publikums- und Leistungsrollen differenzieren, spricht dafür. Die Lernfähigkeit der Funktionssysteme zeigt sich darin, dass die Programmstrukturen, die Erwartungen über die Gebrauchsweisen von Kommunikationsmedien mit einschließen, veränderbar sind. Das ist beispielsweise der Fall, wenn das Publikum neue Inklusionsansprüche formuliert, die zu einer Neudefinition der Verhaltensspielräume der Leistungsund Publikumsrollen sowie zu einer Re-Rrogrammierung der Anwendungsweise der Systemcodes führen. Im Zeitraum zwischen 1960 und 1989 nahmen die Inklusionsansprüche und die Verhaltensspielräume von Patienten (Gesundheitssystem), Wählern (Politik), Schülern und Eltern (Erziehung) und Angeklagten (Recht) in Deutschland zu 629. Verändert haben sich sowohl die Partizipationschancen des Publikums an Entscheidungen der Leistungsrollen über die Anwendung der Systemcodes wie auch die Form der Inklusion der Publikumsrollenträger, die jetzt neue Dimensionen ihrer Individualität thematisieren wollen. Es handelt sich um eine Kontingenzsetzung von kulturell stabilisierten Gebrauchsweisen der Kommunikationsmedien, die die Möglichkeit eines andersartigen Zugriffs auf das Mitteilungsverhalten von Personen bietet, also die Möglichkeit 628

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band1, S. 594. GEHARDS, Jürgen (2001):. „Der Aufstand des Publikums Eine systemtheoretische Interpretation des Kulturwandels in Deutschland zwischen 1960 und 1989“. In: Zeitschrift für Soziologie 30 (2001), S. 167.

629

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einer neuen Personenkonstruktion. Doch gerade diese Kontingenzsetzung ist sozial selektiv. Das Publikum, dessen Aufstand Strukturänderungen in verschiedenen Funktionssystemen auslöst, besteht aus den höher Gebildeten und den im Dienstleistungssektor Beschäftigten, die im Zuge der Wohlstandssteigerung und der Bildungsexpansion in der Nachtkriegszeit auch Träger des sogenannten „Wertewandels“ (Inglehart) gewesen waren 630 . Dank der Mobilisierungs- und Organisationsfähigkeit dieser neuen Klasse 631 war es möglich, öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Ansprüche zu wecken und damit einen dauernden Umweltzustand zu schaffen, auf den medizinische, rechtliche, erzieherische und politische Organisationen mit entsprechenden Strukturänderungen 632 im Verhältnis von Publikums- und Leistungsrollen reagieren.

4.5 Der Mensch als Medium der Gesellschaft Die soziale Selektivität, die die Chancen einer solchen erfolgreichen Kontingenzsetzung von Strukturen durch Variation des Verhaltens konditioniert, betrifft das Grenzregime der funktional differenzierten Gesellschaft. Es ergibt sich daraus, dass die Produktion von Variationen, die durch ihre Selektion Strukturveränderungen auslösen können, ein „differenziertes Unterscheidungsvermögen“ voraussetzt. Der Kontingenzsetzung von Strukturen liegt also eine kulturelle Eigenschaft zugrunde, die nicht als kontingent gesehen wird. Eine Variation dient nur als Auslöser funktionsspezifischer Strukturveränderungen, wenn sie eine funktionsspezifische Innovation ist. Ein wirtschaftliches Investitionsprogramm lässt sich nur durch ein anderes Investitionsprogramm ersetzen, nicht aber durch neue Gesetze. Diese können zwar Investitionen stimulieren und/oder hemmen, sie können aber nicht über sie entscheiden. Nur wer eine spezifisch medizinische Sprache beherrscht, kann die Autorität der Ärzte kritisieren, mit ihnen in Konflikt geraten und eine neue Form der Anwendung des Codes krank/gesund auf den Patientenkörper vorschlagen und nur wer sich auf die Mitgliedschaft in Interessenorganisationen und damit auf die Zeitlichkeit des Codes

630

Ibidem, S. 179-180. GEHARDS, Jürgen (1993): Neue Konfliktlinien in der Mobilisierung öffentlicher Meinung. Eine Fallstudie. Opladen: Westdeutscher Verlag. 632 Derartige Strukturänderung findet statt, wenn Organisationen die Variationen der Inklusionsansprüche und der Erwartungskonfigurationen der Publikumsrollenträgern positiv seligieren , d.h., wenn sie als Entscheiungsprämisse angenommen werden. Auf der Ebene der Funktionssysteme können die neue Inklusionsansprüche und Erwartungskonfigurationen als funktionsspezifische relevante Werteinstellungen und Präferenzen interpretiert werden, die dann als Gesichtspunkte für neue Programmierung fungieren. So dienen die sogenannten „Selbstentfaltungswerten“ (Klages) als Orientierung für neue Investitionsprogramme. Auf der Interaktionsebene erleichtern geteilte (oder genauer: als geteilt unterstellte) Werteinstellungen und Präferenzen die Fortsetzung des Kontakts.

631

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Macht 633 einlässt, hat die Chance, öffentliche Aufmerksamkeit und politisches Gehör zu finden. Genau das Fehlen dieser funktionsspezifischen Variationsfähigkeit, die ein „differenziertes Unterscheidungsvermögen“ voraussetzt, scheint den sogenannten „Exklusionsbereich“ zu definieren. Im Folgenden wollen wir zeigen, dass Rekursivität des Lebenslaufes als eine Medium/Form - Unterscheidung, die zur Konstruktion und Beobachtung von Personen dient, mit der Entwicklung eines „differenzierten Unterscheidungsvermögens“ zusammenhängt, sodass die Nichtentwicklung eines solchen Unterscheidungsvermögens das systemübergreifende Phänomen der Integration von Exklusionen („Exklusionsbereich“) bestimmt. Diese Integration bedeutet die Zerstörung des Mediums Lebenslaufs. Sie repräsentiert die Nichtexistenz desjenigen Freiheitsgrades eines psychischen Systems, der mit dem Wechsel ihrer sozialen Fremdreferenz zusammenhängt. Das bedeutet zugleich, dass der Mensch nicht mehr als Medium im Sinne der lose gekoppelten Möglichkeit der Formbildung beobachtet wird, sondern als Bedrohung für die Publikumsstrukturen, in denen der Mensch als Medium der Gesellschaft behandelt wird. Die Konstruktion von so etwas wie dem „Exklusionsbereich“ verweist, so die These, auf eine soziale Grenze, die in den meisten Funktionssystemen als nichtkontingent vorausgesetzt und reproduziert wird. Diese Grenze ist deshalb nicht kontingent, weil der Exklusionsbereich so erscheint, als könnte er nicht anders sein. Als Bedrohung, die nicht zum Publikum gehört und nicht gehören kann, wird er im Modus der Notwendigkeit beobachtet, was individuelle Selbstbeobachtungen mit einschließt. Er fungiert als ein „notwentiges Außen“, als ein nicht inkludierbares Anderes, als eine nicht individualisierbare „Menge“ 634 von Menschen, die das Publikum durch ihre Unfähigkeit zur individuellen Entscheidung gefährdet. Es geht nicht um eine bloße systemspezifische Graduierung von Inklusion, die die Erwartung auf Inklusion eines „Noch-Nicht-Publikums“ miteinbezieht. Der Exkludierte ist kein potenzieller Inkludierter. Er ist keine Reservearmee im Marxschen Sinne. Vielmehr steht er für die Grenze möglicher Variationen, denn diese können nur als solche zugelassen werden, wenn Menschen das operativ erforderliche Unterscheidungsvermögen der Funktionssysteme nutzen, um anders zu handeln bzw. zu erleben, wenn sie also funktionsspezifische Variationen erzeugen. Insofern trägt der „Exklusionsbereich“ Variationen in sich, die die Funktionssysteme nur als unakzeptabel beobachten können, d.h als Variationen, die ihren Personenkonstruktionen widersprechen, ohne eine funktionsspezifische Alternative darzustellen. Deswegen werden ihre Träger als Nicht-Person behandelt.

633

LUHMANN, Niklas (2010): Politische Soziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 78. STÄHELI, Urs (2009): „Die Konstruktion des Finanzpublikums: eine genealogische Analyse, S. 262. 634

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Die These, der Lebenslauf ist ein gesamtgesellschaftliches Medium der Personwahrnehmung, das von allen Funktionssystemen benutzt wird, um funktionsspezifische individuelle Einschränkungen von Verhaltensmöglichkeiten zu attribuieren, ist ein Versuch, den Menschen als Medium der Gesellschaft 635 zu erfassen. Der systemtheoretische methodologische Antihumanismus wird hier nicht aufgegeben. Neu ist nur die Betonung, dass die Verortung des Menschen in der Umwelt des Gesellschaftssystems keinen Bedeutungsverlust weder des psychischen Systems als Sinnsystem eigener Art noch des Menschen als Kompaktbegriff des Alltagslebens darstellt, denn es handelt sich in beiden Fälle um die Bestimmung der relevanten Umwelt sozialer Systeme d .h, um die Bestimmung eines Umweltausschnittes, der für die Identität von sozialen Systemen konstitutiv ist. Zum einen wird der Kompaktterminus Mensch auf einer sozialtheoretischen Ebene zugunsten einer operativen Trennung von psychischen, sozialen, organischen und neuronalen Systemen aufgelöst. Da der Menschenbegriff eine Einheit bezeichnet, wo es systemische Differenz gibt 636 , kann er kein soziologischer Begriff mehr sein. Zum anderen kann auf einer gesellschaftstheoretischen Ebene das moderne Individuum im Gegensatz zu vormodernen Inklusionsformen nicht mehr durch die Zugehörigkeit zu einem einzigen Sozialsystem definiert werden. Das ist aber nur der Ausgangspunkt. Denn da diese externe Position auch eine gesellschaftliche Konstruktion ist, mit der sich die Gesellschaft eine relevante (menschliche) Umwelt schafft, ergibt sich die Frage, ob diese Konstruktion eine Operation voraussetzt, die eine gesamtgesellschaftliche Grenze zwischen Person und Unperson, „Mensch“ und „Nicht-Mensch“ zieht. Wenn mit der Figur des externalisierten menschlichen Individuums das Medium der Gesellschaft durch die Gesellschaft konstruiert wird, geht es also um die Frage, ob und wie bei dieser Konstruktion eine andere Seite des Mediums Mensch entsteht, die sich dann als „Nicht-Mensch“ im Sinne seiner Irrelevanz für die Systemoperationen beschreiben lässt. Die Konstruktion des Menschen als Medium der Gesellschaft markiert eine Grenze der gesellschaftlichen Relevanz von psychischen Systemen für die Operationen der Funktionssysteme. Relevant sind nur diejenigen Psychen, die auf teilsystemspezifische Konditionierung reagieren können, die sich durch Kommunikationsmedien wie Macht, Geld, Liebe und Wahrheit faszinieren und sozialisieren lassen. Das setzt voraus, dass psychische Systeme sich selbst im Unterschied zu verschiedenen sozialen Fremdreferenzen beobachten, ja, dass sie im Wechsel von Fremdreferenz zu Fremdreferenz dieselben bleiben. Es geht darum, 635

Ich verweise hier auf das von Peter Fuchs und Andreas Göbel herausgegeben Buch FUCHS, Peter/GÖBEL, Andreas (Hg) (1994): Der Mensch – das Medium der Gesellschaft? Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 636 LUHMANN, Niklas (1995):„Die Sozioloigie und der Mensch“. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 6. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 269.

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sich mit funktionsspezifischen Personenkonstruktionen zu identifizieren und diese als Fremdreferenz der eigenen psychischen Selbstbestimmung anzunehmen. Das menschliche Medium der Gesellschaft besteht aus Individuen, deren soziale Erfahrungen die Kompetenzen in ihnen erzeugen, die für die Teilnahme an anderen sozialen Kontexten erforderlich sind. Die grundlegende Kompetenz ist eben die Fähigkeit, durch den Wechsel der sozialen Fremdreferenz die Reduktion der eigenen Individualität auf eine einzige Fremdreferenz, etwa Zahlungsfähigkeit, zu vermeiden. Das hängt damit zusammen, dass die Inklusion in einem Funktionssystem Formen der Personifizierung bildet, die auf dem Bildschirm anderer Funktionssysteme als Medium für ihre eigene Personenkonstruktion wahrgenommen wird. Entscheidend ist, dass erstens die Aktualisierung von Formen und Inklusionen (Vergangenheit) zugleich einen strukturierten Raum von möglichen Formen und Inklusionen (Zukunft) in Aussicht stellt und zweitens dass die lose Kopplung zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht durch eine feste Kopplung ersetzt wird. Denn in diesem Fall gäbe es keinen Spielraum für die jeweilige teilsystemische Konditionierung des Verhaltens. Es muss Alternativen geben, damit der Lebenslauf nicht sozial determiniert wird. Die Relevanz von psychischen Systemen wird also sozial bestimmt, indem sie im Hinblick darauf beobachtet werden, welche Freiheiten und Einschränkungen ihre Vergangenheit ermöglicht. Freiheit im Lebenslauf ist konstitutiv für den medialen Charakter der Menschen. So heißt es bei Luhmann: Ihre spezifische Menschlichkeit ist nun gerade ihre Unbestimmtheit, ihr Mangel an Typenfestigkeit, ihr Angewiesensein auf Milieu und Erziehung, die erst die Bedingungen erzeugen, unter denen die Individuen sozial operieren können. Die Neubeschreibung des Menschen als Individuum betont die strukturelle Unbestimmtheit und damit zugleich die Konditionierbarkeit des individuellen Verhaltens 637. Für die Selbstbeoachtung der psychischen Systeme bedeutet dieses „Menschenbild“ zunächst, dass die individuellen Psychen ihre Ansprüche auf soziale Relevanz mit den Möglichkeiten im Einklang bringen müssen, die sich durch die jeweiligen realisierten Inklusionen eröffnen. Da das Medium immer schon durch Formen eingeprägt ist, die die Zukunft unbestimmt, aber nicht ohne jede Einschränkung lässt, werden die psychischen Systeme mit Möglichkeiten konfrontiert, die sie durch eine entsprechende Justierung der eigenen Ansprüche antizipieren bzw. „vergegenwärtigen“ können. Das führt, wie Bourdieu zeigt, zu einer Anpassung von Erwartungen an die Chancen, d.h. zu klassenspezifischen Inklusionsansprüchen. Ohne derartige soziale Ungleichheiten vernachlässigen zu wollen, muss man dennoch feststellen, dass, solange die eigene Vergangenheit Inklusionschancen bietet, mit denen man die Reduktion der eigenen Individualität auf ein einziges Funktionssystem vermeiden kann, man es mit Menschen zu 637

LUHMANN, Niklas (1997): „Selbstorganisation und Mikrodiversität, S. 28.

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tun hat, die als Medium der Gesellschaft noch relevant sind. An dieser Stelle muss die Differenz zwischen der Produktion sozialer Ungleichheit im Inklusionsbereich und der Produktion eines Exklusionsbereiches unterstrichen werden. Soziale Ungleichheit im Inklusionsbereich impliziert Hierarchien der Relevanz von psychischen Systemen in teilsystemspezifischen Kommunikationszusammenhängen; es geht aber um Hierarchien, die die Relevanz von psychischen Systemen als Medium der Gesellschaft voraussetzen. Die soziale Irrelevanz von psychischen Systemen erkennt man dagegen an der Zerstörung des Mediums, also daran, dass Psychen die Kommunikation nur aufgrund ihrer Untauglichkeit für die Bildung und Auflösung von Formen irritieren können. Wenn eine solche zugerechnete Irrelevanz auch ein psychisches Korrelat findet, das die soziale Attribution durch Selbstselektion – hier also: Selbstexklusion – bestätigt, dann in der Bereitschaft, sich nicht formen zu lassen. Man denke an das schulische Verhalten der Unterschichten 638 und vor allem an die Disposition, sich nicht erziehen zu lassen. Hierbei stoßen die soziale Konditionierbarkeit des Verhaltens und die Formung des Lebenslaufes an unformbare „Körper“. Eben ihr Scheitern bringt in Erinnerung, wie kontingent und voraussetzungsvoll die Bildung solch eines Persontypus ist. Er hängt mit der Entwicklung eines komplexen Unterscheidungsvermögens zusammen, mit dem psychische Systeme grundverschiedenen Verhaltensanforderungen zu erkennen lernen. Die historische Entstehung eines derartigen komplexen psychischen Unterscheidungsvermögens, das eine Oszillation zwischen verschiedenen sozialen Fremdreferenzen als Voraussetzung für die Teilhabe an funktional spezialisierten Kommunikationen ermöglicht, geht einher mit der Entwicklung der Fähigkeit zur individuellen Selbstkontrolle und Selbstüberwachung. Dabei handelt es sich um eine Form der Ko-Produktion von Bewusstsein und Kommunikation, wodurch die kommunikative Zurechnung von eingeschränkten Verhaltensmöglichkeiten das Bewusstsein darüber informiert, in welcher Form es sozial anschlussfähig ist. „Wie aber kommt es zu dieser Sensibilitäts- und Selbstkontrollsteigerung, die das notwendige personale Korrelat zur Modernität konstituierenden Systemdifferenzierung ist?“ 639 Anhand einer theoretischen Integration der Ansätze von Elias, Foucault und Weber vertritt Alois Hahn die These, dass die Genese des Persontypus der funktional differenzierten Gesellschaft auf den historisch gewachsenen Zusammenhang zwischen Mechanismen der Fremdüberwachung- und Kontrolle des individuellen Verhaltens sowie Techniken der Selbstüberwachung und Selbstkontrolle zurückgeführt werden kann. Mechanismen der „freiwilligen“ Selbststeuerung des Individuums über Bekenntnis und Selbstthematisierung wie die Beichte und die Psychoanalyse sind Beispiele dafür. Aber 638

Siehe dazu WILLIS, Paul(1979): Spaß am Widerstand. HAHN, Alois (1986): „Differenzierung, Zivilisationsprozeß, Religion. Aspekte einer Theorie der Moderne“. In: NEIDHARDT, Friedhelm u.a. (Hg): Kultur und Gesellschaft (FS René König). Opladen: Westdeutscher Verlag. S. 222. 639

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auch Organisationen, deren Überwachungsformen deutlich auf Zwang basiert sind, wie z.B Gefängnisse oder psychiatrische Anstalten haben zur Konstitution dieses Menschentypus beigetragen. Die Macht dieser Organisationen liegt nicht in der mit Zwang ausgeführten Überwachungszuständigkeit, sondern darin, „dass der Überwachte die Perspektive des Überwachenden übernimmt“ 640. Das Wissen, überwacht zu werden, wirkt auf den Überwachten und führt zur Antizipation der Überwachung durch Selbstüberwachung. Man beobachtet sich selbst mit der Brille, die die Überwachungsorganisationen erfunden haben. Es entsteht eine Übereinstimmung zwischen Fremdselektion und Selbstselektion, die die moderne Ko-produktion von Bewusstsein und Kommunikation in Gang setzt. Die soziale Beobachtung (Überwachung) und seine Resultate werden als unverzichtbare Fremdreferenz von psychischen Systemen wahrgenommen, die dann als notwendiger sozialer Bezugspunkt für ihre Selbstbeoachtung fungiert. Mit der Verbreitung von Organisationen in der späten Moderne wurde die Antizipation der Fremdselektion durch die Selbstselektion als Form der Subjektivierung und Personalisierung generalisiert: um Fremdkontrolle zu vermeiden bzw. die Karriere zu fördern, muss man die Anwendung der Kriterien, mit denen man von anderen beobachtet, klassifiziert und selegiert wird, vorwegnehmen. Alle institutionalisierten Zugriffe auf das Individuum, die sein Verhalten in Leistung übersetzbar, messbar, vergleichbar und sanktionierbar machen, müssen in einen Selbstzugriff transformiert werden. Die Selbstkontrollkapazität ist deshalb notwendig, weil sie das Zirkulieren zwischen den Teilsystemen ermöglicht. In zeitlicher Hinsicht muss sich das Individuum an verschiedenen teilsystemspezifischen Zeitlichkeiten orientieren können und zugleich eine spezifische Aufmerksamkeit für die Zeitlichkeit der eigenen Biographie entwickeln, was auch eine alltägliche Zeitdisziplin bedeutet: Pünktlichkeit, Terminkalender, zeitlich fixierte Verabredungen usw. 641 . In der Sachdimension variieren die geltenden sachlichen Selbstverständlichkeiten von System zu System. In sozialer Hinsicht müssen teilsystemspezifische Chancen und Bedingungen der Konstruktion von Konsens bzw. Dissens über Verhaltenserwartungen erkannt und anerkannt werden. Die Individuen, so schreibt Hahn, „müssen in der Lage sein, subsystemspezifisch differenziell zu reagieren, d. h., sie müssen die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Erwartungen, Unterstellbarkeiten, Rhythmen usw. habitualisieren“ 642. Dies setzt die Steigerung der Selbstkontrollfähigkeit voraus: Da der Übergang von einer Sphäre in die andere mit raschen inneren und äußeren Verhaltens -und Erwartungsverschiebungen verbunden ist, kann ein schlichtes spontanes Ausagieren der eigenen Affekte nicht mehr erfolgreich 640

Ibidem. LUHMANN, Niklas (1997): „Selbstorganisation und Mikrodiversität“, S. 28 642 HAHN, Alois (1986): „Differenzierung, Zivilisationsprozeß, Religion. Aspekte einer Theorie der Moderne“, S. 228. 641

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sein. Überlebensfähig sind am ehesten noch kontrollierte Verhaltensweisen, die sich sein sensibles „Gespür“ für Systemgrenzen einerseits und die eigene Individualität andererseits als Orientierungsbasis sichern 643. Die konstitutive Rolle der Selbstkontrollfähigkeit für das zur Funktionaldifferenzierung passende individuelle Unterscheidungsvermögen kann nur erfüllt werden, wenn sie keine Alternative für das Bewusstsein darstellt d. h., wenn sie im Modus der Notwendigkeit praktiziert wird. Sie muss zu einer nicht kontingenten Form des Bewusstseins werden, über die es nicht verfügen kann. Das Bewusstsein, wenn es erst einmal auf der Basis der Selbstbeherrschung entstanden ist, kann zu dieser Kompetenz nicht auf Distanz gehen. Sie fungiert als ein unerreichbarer Anfang, der das Bewusstsein ermöglicht, ohne dass das Bewusstsein Zugriff auf das hat, wodurch es ermöglicht wird. Ohne die habitualisierte Selbstkontrolle des eigenen Körpers könnte das Individuum seine Individualität von den jeweiligen teilsystemischen Personalisierungen nicht unterscheiden. Individualität bedeutet hier eine Identitätsform, die aus der Operation des „SichDistanzierens“ entsteht. Sie produziert und reproduziert sich dadurch, dass die mit einer Selbstkontrollfähigkeit ausgestattete Psyche ihre momentanen operativen Kopplungen mit unterschiedlichen Sozialsystemen aus der Distanz 644 beobachten kann. So ist es der Psyche möglich auf einer Beobachtungsebene zweiter Ordnung zu operieren und damit teilsystemische Beobachtungsperspektiven, die sie allerdings zwecks ihrer kommunikativen Relevanz vorübergehend übernehmen muss, als kontingent für die eigene Identität zu betrachten. Als nichtkontingent dagegen erweist sich gerade die habitualisierte Selbstkontrollfähigkeit, auf der diese Selbstbeobachtung zweiter Ordnung beruht. Es geht um ein Regime der Koproduktion von Bewusstsein und Kommunikation, die das Bewusstsein durch diese Selbstbeobachtung zweiter Ordnung definiert. Dabei erscheint auch die Beziehung von Bewusstsein und Leib als Koproduktion von Bewusstsein und Kommunikation. Sie ist sozial konditioniert. Das Bewusstsein weiß, dass sein körperliches Verhalten von anderen beobachtet und evaluiert wird. Das, was sein 643

Ibidem. Diese Distanz ist nur durch Sprache und Schrift möglich, weil die Operation der Beobachtung die unmittelbare Identität des Individuums und seiner (sozialen) Umwelt durch eine Medialisierung der Welt ersetzen muss, welche über den unmittelbaren körperlichen Rhythmus hinausgeht. Genau das ist der Fall bei sprachlichen Äußerungen und schriftlichen Zeichen: Sie ermöglichen eine Beobachtungsebene, auf der die Psyche sich von der unmittelbaren Stimulierung der Körperreaktionen durch die unmittelbare Wahrnehmung der Umwelt distanzieren kann. Hans Ulrich Grumbrecht führt die Unmittelbarkeit der Identität von Individuum und Umwelt auf die Wirkung von Rhythmus zurück. Der Rhythmus, da er ein Medium ohne eine Beobachtungsebene jenseits der Wahrnehmung des Körpers ist, erlaubt keine willentliche Kontrolle der Affekte und Körperreaktionen. Der Rhythmus sabotiert die Unterscheidung von Körper-Empfindung und Sinnkonstruktion. Er bewirkt eine „Umformung von ‚heller Bewusstheit‘ in Zustände, deren Grenzwert die „Trance“ ist.“ GRUMBRECHT, Hans Ulrich (1988): „Rhythmus und Sinn“. In: GRUMBRECHT, Hans Ulrich/PFEIFFER, K. Ludwig (Hg:): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 723.

644

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Körper für es selbst bedeutet, hängt großenteils von diesem Wissen ab. Ob der eigene Körper gesund oder krank, attraktiv oder unattraktiv, produktiv oder unproduktiv „ist“, wird dem Bewusstsein als eine soziale Fremdreferenz aufgezwungen, die als unverzichtbare Fremdreferenz der Psyche praktisch nicht vom Körper getrennt werden kann 645. Will man trotz der Unzugänglichkeit von psychischen Operationen für die Kommunikation die psychischen Motive, welche die Individuen dazu führen, Facetten seines Selbst zugunsten der jeweiligen teilsystemischen Relevanzkriterien auszuklammern und die Selbstkontrollfähigkeit zu habitualisieren, kommunikativ rekonstruieren, kann es nur um die Bedeutung der Selbstkontrolle der spontanen Regungen und Triebaffekte für die soziale Anschlussfähigkeit des Individuums gehen. Die eigentliche Prämie, die den psychischen Sinn der Selbstkontrolle und der langfristigen Kalkulation ausmacht, besteht darin, dass diese Operationen die Voraussetzung für jede Art von Fernsynchronisation sind. Fernsynchronisation heißt nicht, dass die Beteiligung des Bewusstseins an der Kommunikation gesichert ist, wohl aber, dass es künftige soziale Operationen antizipieren kann und sich soziale Anschlussfähigkeit und Relevanz verschafft. Die Verbindung von Selbstkontrolle und Mitberechnung der Fernwirkungen des eigenen Handelns lässt sich, wie Elias zeigt, schon in der höfischen Kommunikation der Frühmoderne beobachten. Der höfische Mensch konnte nicht mehr nur in seiner Schichtzugehörigkeit die Erwartungssicherheit für seinen Lebenslauf finden. Denn auch der Königshof war durch den Konkurrenzkampf um Statusund Prestigechancen geprägt, sodass die Lagen des höfischen Menschen, des Kaufmanns und des Beamten in ihrer (unsicheren) Zukunftsperspektive immer ähnlicher wurden 646. Es geht, auch wenn die Selbstkontrolle aufgrund ihrer mangelnden Habitualisierung inszeniert werden muss, um die Selektion der „Verhaltensaspekte, die als Kommunikation wirken und dadurch größere sachliche, zeitliche und soziale Fernwirkungen haben“ 647. Diese habitualisierte Selbstkontrollfähigkeit ist konstitutiv für den Menschen als Medium der Gesellschaft. Als vorausgesetzte Externalität, die die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme mit Zurechnungspotentialen ausstattet, muss der Mensch, um Medium zu sein, massenhaft zur Verfügung stehen. Nur so kann eine Population von Individuen mit variierenden, teilsystemspezifischen Verhal645

HAHN, Alois/JACOB, Rüdiger (1994): „Der Körper als soziales Bedeutungssystem.“, S. 154 ff. ELIAS, Norbert (2003): Die höfische Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 144. So versteht Luhmann die von Elias analysierte Formierung der Selbstkontrollfähigkeit unter Bedingungen der höfischen Kommunikation:„Wenn diese Leitformel stimmen, wird man nach Faktoren fragen müssen, die die Aufmerksamkeit umlenken auf das Herstellen eines guten Eindrucks, auf Erfolgsbedingungen, und dies unter Einkalkulation kommunikativer Bedingungen und sozialer Situationen. Was erzieht, mit anderen Worten, zum ‚take the role of the other‘? Unsere Antwort ist tentativ: Frauen und Karrieren“. In LUHMANN, Niklas (1980): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 99. 647 Ibidem, S. 85 ff.

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tensmöglichkeiten entstehen, die die Funktionssysteme mit demjenigen Überschuss an operativen Möglichkeiten versorgen, ohne den kein Medium im Luhmannschen Sinne existiert. Es handelt sich um eine Mikrodiversität von Individuen mit einem „differenzierten Unterscheidungsvermögen“, die ihnen erlaubt, an verschiedenen Funktionsbereichen zu partizipieren, also als formbares Medium für verschiedene Funktionsbereiche relevant zu werden. Denn nur als Medium können „Individuen und ihre Population in der Wirtschaft eine andere Rolle spielen als in der Politik, auch wenn die Autonomie und Selbstorganisation dieser Systeme in beiden Fällen die Mikrodiversität der Individuen voraussetzt“ 648. Die Konstruktion des Menschen als Medium ist, ebenso wie die Selbstkontrolle als teilsystemübergreifende Kompetenz, eine mit dem Übergang zur funktionalen Differenzierung korrelierende historische Konstruktion, obwohl sie sowohl in psychischen Operationen als auch in sozialen Operationen als eine reifizierte, ja notwendige Referenz angenommen wird 649. In Gesellschaften, in denen Schichtung die primäre Differenzierungsform war, wurde die Menschlichkeit durch die Selbsterhaltung der hierarchisch-ontologischen Menschenformen gegen die Korruption ihrer Natur definiert. Der Mensch wurde lediglich als Form definiert d. h., als ein Wesen, das nur das sein kann, was es nach der ontologischen Unterscheidung von Sein und Nichtsein ist. Daher blieben seine Verhaltensmöglichkeiten den ontologisch definierten Tätigkeiten verhaftet. Er konnte kein Medium für Bildung von Formen sein. Dies hängt damit zusammen, dass die Gesellschaft, die nur als Teil der umfassenderen „chain of being“ wahrgenommen wurde, nicht über die Mechanismen zur Formung des Menschen verfügt. Nur die Herkunft gab ihm seine Form. Allenfalls konnten die ontologischen Formen gegen Korruption geschützt werden. Das Lebensschicksal war daher für Veränderungen der Verhaltenserwartungen geschlossen, weil diese Veränderungen die Möglichkeit der gesellschaftsinternen und teilsystemspezifischen Formung des Lebenslaufes voraussetzen. Eben deshalb ist die Konstruktion des Menschen als Medium der Gesellschaft nur in der funktional differenzierten Gesellschaft möglich. In dem Moment, in dem der Mensch zum Medium der Gesellschaft und ihrer Funktionssysteme wird, wird er einerseits verfügbar für Tätigkeiten in verschiedenen Sozialsystemen, andererseits zum Gegenstand von gesellschaftsinternen und funktionsspezifischen Zugriffen gemacht. Während sich der „Form-Mensch“ der ständischen Gesellschaften durch seine notwendige Bindung an als schichtspezifisch definierte Tätigkeiten und an Verhaltensmöglichkeiten, die von ständischen Vorstellungen des guten Lebens nicht abweichen, auszeichnet, wird das „Medium

648

LUHMANN, Niklas (1997): Selbstorganisation und Mikrodiversität, S.30. FUCHS, Peter (1994):„Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?. In: FUCHS, Peter/GÖBEL, Andreas (Hg): Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 31-32. 649

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Mensch“ gerade durch seine „Empfänglichkeit für Formen aller Art“ 650 bestimmt. In ständischen Gesellschaften ist die Identität der Teilsysteme (Schichten) auf das „Identischbleiben“ der von Menschen gewonnenen Formen angewiesen. In der funktional differenzierten Gesellschaft ist die Identität der Teilsysteme (Funktionssysteme) dagegen auf die Veränderbarkeit der menschlichen Formen im Lebenslauf angewiesen, also auf die Möglichkeit, teilsystemspezifische Personenkonstruktionen, die jeweils grundverschiedene Verhaltensmöglichkeiten unterstellen, demselben psychischen System zuzurechnen. Dabei wird der allumfassende Schichtindex als grundlegende Sozialkompetenz durch die „innerliche“ Fähigkeit zur Wahrnehmung von teilsystemspezifischen Zeichen 651 ersetzt. Das führt dazu, dass Herkunft nur dann rekursiv auf das spätere Leben wirken kann, wenn sie sich für die Bildung von Formen in unterschiedlichen Funktionssystemen eignet, wenn sie also als Medium wahrgenommen wird. Dem entspricht auf der Ebene der Alltagskommunikation die semantische Umstellung „von formmenschlichen Normen auf jene medium-menschlichen Normalitäten“ 652. Das heißt nicht zuletzt, dass das „Medium Mensch“ ein Menschenbild verkörpert, das auf der unabdingbaren Geltung des Wertes der individuellen Selbstbestimmung beruht. Obwohl dieses Menschenbild von keinem Funktionssystem im Vollzug seiner Operationen bezeichnet wird, ist es stets vorausgesetzt. Funktionsspezifsche Operationen werden als Ereignisse interpretiert und individuellen Entscheidungen attribuiert, da sie binär codiert sind und damit vor dem Hintergrund ihrer möglichen Negation kontingent gesetzt werden. Die Interpretation von Ereignissen als riskante Entscheidungen d. h., als durch Individuen kontrollierbare Ereignisse (und nicht als unkontrollierbare Gefahren) ist ein teilsystemübergreifendes Schema der Konstruktion von Handlung als Beitrag der menschlichen Umwelt zur Herstellung der sozialen Ordnung, das die individuelle Selbstkontrollfähigkeit voraussetzt. Denn nur wer sich selbst beschränken kann, ist in der Lage, zwischen Alternativen zu wählen und damit als Adresse von Systemoperationen infrage zu kommen. So beispielsweise im System der Krankenbehandlung: Damit Krankheiten und auch Körpermanifestationen, zu denen in der Gegenwart auch spezifische Schönheits- und Fitnessideale zählen, eigenen Handlungen zugerechnet und nicht als schicksalhaft interpretiert werden, muss 650

WAGNER, Breno (1994): „Von Massen und Menschen. Zum Verhältnis von Medium und Form in Musils Mann ohne Eigenschaften“. In: FUCHS, Peter/GÖBEL, Andreas (Hg): Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 275. 651 WAGNER, Breno (1994): „Von Massen und Menschen. Zum Verhältnis von Medium und Form in Musils Mann ohne Eigenschaften“, S. 280; HUTTER, Michael/TEUBNER, Gunther (1994): „Die Gesellschaft fette Beute. Homo juridicus und homo oeconomicus als kommunikationserhaltende Fiktionen“. FUCHS, Peter/GÖBEL, Andreas (Hg): Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 125. 652 WAGNER, Breno (1994): „Von Massen und Menschen. Zum Verhältnis von Medium und Form in Musils Mann ohne Eigenschaften“, S. 293.

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vorausgesetzt oder unterstellt werden, dass der eigene Körper beherrschbar ist, dass man also fähig ist, „seine Ernährung zu ändern, auf Alkohol, Nikotin oder ungeschützten Sexualverkehr zu verzichten und regelmäßig Sport zu treiben 653“. Das gilt auch für alle anderen Funktionssysteme, die über ein Publikum verfügen. Sie operieren so, als stelle ihre menschliche Umwelt eine Bevölkerung von mit Selbstkontrollfähigkeit ausgestatteten Individuen dar. Denn nur so kann unterstellt werden, dass die Individuen Distanz von denjenigen Facetten ihres Selbst gewinnen, die zu den jeweiligen teilsystemischen Kommunikationen nicht passen. Es ist eben diese gemeinsame Voraussetzung, die das Postulat der Inklusion der Gesamtbevölkerung in alle Funktionssysteme 654 begründet und zugleich Exklusionsprobleme unsichtbar macht. Dass dies reine kommunikative Fiktion ist, zeigt nur, dass soziale Systeme keinen direkten Kontakt mit der Umwelt haben, dass sie also auf die interne Rekonstruktion der Umweltsegmente angewiesen sind. Dabei wird die Freiheit der individuellen Person als psychische Freiheit 655 verstanden und sozial aufgewertet. Es ist diese zugerechnete Freiheit, die den Lebenslauf als gesamtgesellschaftliches Medium der Personwahrnehmung ausmacht. Sogar das Erziehungssystem, das die individuelle Autonomie als wichtigstes Ziel pflegt, geht von der Existenz dieser Freiheit aus 656. Das bedeutet, dass selbst dort, wo es explizit um die Formung des Lebenslaufes geht, wo also der Mensch explizit zum Medium der Gesellschaft geformt werden soll, die freie Empfänglichkeit des Kindes für vermittelte Wissen und Werte vorausgesetzt wird. Inwieweit aber hat dieses sozial unterstellte Selektionspotential auch ein psychisches Korrelat? Inwieweit also verfügen die Psychen, denen hinsichtlich der Beteiligung an Kommunikation Freiheit attribuiert wird, über einen entsprechenden Raum von Alternativen? Genau diese psychische Beobachtung von Alternativen versucht Luhmann mit seinem Freiheitsbegriff zu erfassen. Als Alternative zur negativen Version des Begriffes 657, die Freiheit als Abwesenheit von Zwang definiert, schlägt er eine positive Formulierung vor: Diese Definition von Freiheit durch Abwesenheit von Zwang unterschlägt jedoch eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Voraussetzung von Freiheit, nämlich die Fähigkeit, Alternative zu sehen, Kausalketten zu entwerfen, Ent-

653

HAHN, Alois/JACOB, Rüdiger (1994): „Der Körper als soziales Bedeutungssystem.“ S. 166. LUHMANN, Niklas (1995): „Jenseits von Barbarei“, S. 142-143. 655 LEHMANN, Maren (2003): „Die Person als Form und als Medium“. In: TEHNORTH, HeinzElmar (Hg): Form der Bildung – Bildung der Form. Berlin: Beltz Verlag, S. 62. 656 Ibidem, S. 63. 657 Luhmann rechnet diese negative Version des Freiheitsbegriffes nicht nur dem Liberalismus, sondern auch dem Sozialismus zu. Denn in den ideologischen Kontroversen zwischen ihnen „ging es nur um die Art des Zwanges, der die Freiheit unter modernen Bedingungen einschränkt: staatliches Recht oder kapitalistische Fabrikorganisation“. In: LUHMANN, Niklas (1995): „Kausalität im Süden“, S. 10. 654

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scheidungsmöglichkeiten zu projektieren. Der dumpfe triebhafte Handlungsimpuls ist keine Ausübung von Freiheit 658. Damit gerät der Begriff der Freiheit nicht mehr im Gegensatz zur sozialen Ordnung, weil psychische Systeme Wahlmöglichkeiten nur dann erkennen können, wenn sie soziale Relevanz haben, wenn sie die Adresse von Kommunikationen sind, derart, dass sie zwischen verschiedenen Kommunikationsformen oszillieren können. Ihre Freiheit ergibt sich aus dem Wechsel von sozialen Fremdreferenzen, der wiederum nur möglich ist, wenn das aktuell beobachtbare Verhaltensrepertoire einer Person (Person als Form) einen Verweis auf andere Möglichkeiten des Personseins (Person als Medium) in anderen Funktionssystemen mit einbezieht. Um mögliche Fehlinterpretationen zu vermeiden, die den Zusammenhang zwischen sozialer Bindung und psychischer Freiheit aus dem Blick verlieren, muss man betonen, dass Wahlfreiheit bezüglich der sozialen Relevanz der individuellen Psychen von den aktuellen sozialen Bindungen abhängig ist: Um Alternativen zu sehen und auf das Kommende einzuwirken, müssen Ereignisse antizipiert werden können – sonst ist kein Spielraum im Hinblick auf ihr Eintreten vorhanden. Um das Verhalten anderer zu beeinflussen, müssen deren Erwartungen durchschaut werden. Dies setzt einen „Habitualisierungsprozess“ voraus d. h., die Formung der eigenen Erwartungen durch die wiederholte Teilnahme an sozialen Systemen und durch die wiederholte Beobachtung der Art und Weise, wie andere teilnehmen 659. Freiheit wird durch das Wissen generiert, das die Person und ihren Lebenslauf durch die Inklusion (kommunikative Bezeichnung von psychischen Systemen) formt und das eine lose Kopplung mit anderen Inklusionen ermöglicht. Doch wird die Freiheit durch dieses Wissen zugleich eingeschränkt. Diese Einschränkungsfunktion ist dennoch eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Raum von Alternativen bestimmt wird. Die lose Kopplung ist keine beliebige, sondern eine bewegliche Kopplung. Freiheit ist immer strukturierte Freiheit. Dies hat zur Folge, dass beim Wechsel von sozialer Fremdreferenz als psychische Operation, die den Übergang von einem Funktionssystem in das andere ermöglicht, ein Lernprozess verlangt wird, um sich das Wissen anzueignen, das man braucht, um Alternativen im neuen Funktionskontext zu erkennen. Vor allem müssen die teilsystemischen Personenkonstruktionen aus der Distanz beobachtet werden können. Es ist diese distanzierende Beobachtung, die als Vorbereitung auf Entscheidungssituationen fungieret und die zum Privileg derjenigen wird, die über Zeit verfügen bzw. über eine dauernde Gegenwart, in der auch Möglichkeiten eine Dauer haben, sodass man sich auf ihre Aktualisierung vorbereiten kann. Konkret geht es um die freie Zeit für Erziehung, für Interaktionen, in 658

LUHMANN, Niklas (1997): „Selbstorganisation und Mikrodiversität“, S. 29-30. „Ein Politiker (selbst höchsten Ranges) muß wissen können, wie die Presse auf sein Verhalten reagieren wird, wenn er entscheiden will, was er öffentlich tut und was nur im geheimen oder gar nicht.“ In LUHMANN, Niklas (1995): „Kausalität im Süden“, S. 15.

659

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denen Individuen sich formen lassen und dadurch zum Medium der Gesellschaft werden. Ohne diese Vorbereitung kann die hier viel diskutierte Übereinstimmung von Selbsterwartungen und Fremderwartungen, die die Unsicherheit von Entscheidungssituationen reduziert, nicht hergestellt werden. Damit liegt nichts anderes vor als ein Versuch, die psychische Verfügung über Entscheidungsfreiheit kommunikativ zu rekonstruieren und das Medium Mensch im Hinblick darauf zu analysieren, was es für Psychen bedeutet. Es muss allerdings festgehalten werden, dass auch die soziologische Interpretation der psychischen Bedeutung von Entscheidungsfreiheit keinen Zugang zu psychischen Operationen hat. Sie ist und bleibt nur kommunikative Rekonstruktion der Psychen, also re-entry der Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation in der Kommunikation. Diese Rekonstruktion hat zudem die Funktion der sozialen Selektion, und zwar teilsystemübergreifend. Denn Zurechnung von Freiheit auf Individuen ist nichts anderes als Zurechnung desjenigen Selektionspotentials, das für das Medium Mensch konstitutiv ist. Freiheit symbolisiert die Fähigkeit zur Selbstbeschränkung, die jeder möglichen sozialen Adresse einer teilsystemspezifischen Kommunikationspraxis attribuiert werden muss. Sie wird zur „letzten Ursache“ 660, auf die sich Entscheidungen über Inklusion und Exklusion beziehen können. In der soziologischen Analyse kommt es zunächst darauf an, die Perspektive eines Beobachters zweiter Ordnung zu übernehmen, um zu beobachten, wie andere Beobachter (soziale Systeme) die Freiheit im Gegensatz zu etwas anderem konstruieren und als Ursache individueller Verhaltensmöglichkeiten attribuieren. Dass Individuen durch die Zurechnung von Freiheit als Medium der Gesellschaft seligiert werden, bedeutet natürlich nicht, dass sie über die gleichen Inklusionschancen in allen Funktionssystemen verfügen. Zwar gewinnen die Individuen dadurch gesellschaftliche Relevanz, aber nicht für alle Funktionssysteme. Die prinzipielle Gleichheit der Elemente des Mediums (Individuen) d. h., das Postulat der Inklusion von allen in alle Funktionssysteme, wird nicht nur von der festen Kopplung von Exklusionen im Exklusionsbereich konterkariert, sondern auch von der Übereinstimmung der Selbst- und Fremdselektion, die dazu führt, dass Individuen ihre Inklusionsansprüche an diejenigen Inklusionschancen anpassen, die ihnen plausibel erscheinen. Dabei handelt es sich um eine Justierung der Interessen und Ansprüche des Einzelnen und der Selektivität eines Beobachters (vor allem Organisationen), der die Annahmewahrscheinlichkeit solcher Sinnofferten bestimmt. Die Formung individueller Inklusionsansprüche wird, wie schon dargestellt, durch beobachtbare Erfahrungen von Erfüllung und Enttäuschung gesteuert. Sowohl eigene Erfahrung wie auch Erfahrungen anderer Individuen, deren Le660 „Freiheit ist ja ein Konzept für das Abschneiden der Rückfrage nach weiteren Ursachen. Ibidem, S. 17.

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bensläufe Ähnlichkeiten mit dem eigenen Lebenslauf nahelegen, geben Auskunft über den Horizont der jeweils realisierbaren Inklusionsansprüche. „Man traut sich mit einer karrieregünstigen Biographie mehr, mit einer entmutigenden weginer zu“ 661. Man hat in seiner Umgebung niemanden kennengelernt, der Medizin studiert und findet deshalb in der Gegenwart keinen Anhaltspunkt, der für die Plausibilität dieses Inklusionsanspruches spräche. Das bedeutet: Die Entwicklung der eigenen Erwartungen, welche zur Formung des eigenen Lebenslaufes beitragen, wird durch ein „Copie-Verhalten“ reguliert. Entscheidend ist, dass sich dieses „Copie-Verhalten“, das für Luhmann allen individualisierten Lebensformen in der funktional differenzierten Gesellschaft zugrunde liegt, nicht nach jeglicher Vergleichsoperation richtet, sondern nur nach denjenigen, die Möglichkeiten betrachten, deren Selektion und somit deren Aktualisierung sowohl im Hinblick auf die eigene Erfahrung als auch in Bezug auf beobachtbare Erfahrungen von Bezugspersonen eine gewisse Plausibilität besitzen. Die dabei reproduzierten Grenzen von Vergleichsoperationen können als soziale Grenzen definiert werden. Diese werden aber nicht als Zugehörigkeitsgrenzen gezogen, denn die Individuen werden nicht Schichten zugeordnet. Die Strukturierung der Sozialdimension, die auf diese Weise geschaffen wird, besteht in der Einschränkung möglicher Inklusionsverhältnissen, die für die Zukunftsperspektive eines individuellen Lebenslaufs konstitutiv sind. Diese Strukturierung ist auf die Besetzung der Perspektiven Alters und Egos mit bestimmten Präferenzen und Werteinstellungen angewiesen: etwa mit „interesselosen Interessen“ an Wissenschaft, an Kunst usw. Es geht um die Unterstellung von Konsens bzw. Dissens über teilsystemspezifische Verhaltenserwartungen. Als Strategie der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung ist es üblich geworden, durch die Verdichtung sozialer Merkmale und Grundorientierungen die relevante menschliche Umwelt in Gruppen zu gliedern und dementsprechend überindividuelle Verhaltenserwartungen als Gegengewicht zu den hoch individualisierten Erwartungskonfigurationen zu bilden. Heute nimmt diese Strategie vor allem die Form von Milieuforschung an. Auch wenn die Soziologie daran teilnimmt, kommt es in dieser Art von Selbstbeobachtung darauf an, ein „generalisiertes Anderes“ zu konstruieren, das eine Verallgemeinerung von Verhaltenserwartungen unterhalb der Abstraktionsstufe von formalen Rollen, aber oberhalb der individualisierten Verhaltenserwartungen ermöglicht. Funktion dieser Verallgemeinerung ist es, die Funktionssysteme mit Publikumskonstruktion zu versorgen. Wenn Individuen unterschiedlichen Milieus zugeordnet werden, werden ihnen bestimmten Verhaltensmöglichkeiten attribuiert, die ihre Teilnahme an Funktionssystemen als erwartbar erscheinen lässt. Sie werden auf Publika verteilt, die als funktional spezialisierte Publika fungieren. Wenn solche Publikumskonstruk661

LUHMANN, Niklas (1994): „Copierte Existenz und Karriere: Zur Herstellung von Individualität“, S. 197.

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tionen einerseits als Entscheidungsprämisse von Organisationen (für Produktionsentscheidungen, für Entscheidungen über Wahlprogramme, Erziehungsprogramme usw.) genutzt werden, sie andererseits von Individuen antizipiert werden, entsteht eine Übereinstimmung zwischen Fremdselektion und Selbstselektion, die dem überindividuellen Konstrukt nicht nur sozialen, sondern auch psychischen Orientierungswert verleiht. Das hängt aber damit zusammen, dass die Individuen in einigen Funktionssystemen bessere Inklusionschancen als in anderen haben. Es existiert also keine „wilde Kontingenz“ 662, die durch die Thematisierung des Menschen als sozial konstruiertes Medium der Gesellschaft ausgelöst wird, denn diese Thematisierung wird dort neutralisiert, wo Publikumskonstruktionen die Inklusionschancen von Individuen reduzieren. Da aber diese (wie jede) Reduktionsleistung Kontingenz einschränken, aber nicht vernichten kann, ist das Publikum eines Funktionssystems immer eine Quelle von Überraschungen und Variationen, die Lernprozesse stimulieren. Auch wenn alle dasselbe Buch lesen: Variierende Interpretationen sind möglich. Es gibt dann zwei Medien, die das Operieren von Funktionssystemen bestimmen: Einerseits das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium eines jeden Funktionssystems und andererseits der Mensch als Medium der Gesellschaft. Das erste Medium begleitet die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems und bildet seine Einheit. Das zweite Medium gewinnt Relevanz für Funktionssysteme, indem “der” Mensch“ respezifiziert und als funktionssystemspezifisches Publikum gefasst wird. Während das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium durch seine Funktion, den Erfolg von eher unwahrscheinlichen Kommunikationsofferten wahrscheinlich zu machen, konstitutiv für die (operative) Einheit eines Funktionssystems ist, stellt das als funktionsspezifische Publikum respezifizierte Medium Mensch die Varietät von operativen Möglichkeiten eines Funktionssystems dar. Natürlich ist auch das Publikum konstitutiv für die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems, denn ohne eine Population von Individuen, die ihre Individualität durch die Teilnahme an funktionsspezifischen Klientelen bilden, kann es kein Funktionssystem geben. Das Publikum konstituiert, anders als das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium, eben die Varietät von Funktionssystemen, und nicht deren Einheit. Es stellt damit Evolutionsmöglichkeiten zur Verfügung, die durch neue Publikumskonstruktionen seligiert und aktualisiert werden oder eben auch nicht. Nichtrelevante psychische Systeme stellen aber kein Variationspotential für die Funktionssysteme dar. Sie können nur die Grenzen des Mediums Mensch symbolisieren. Der spätere Wiedereintritt des Menschen in den Aufmerksamkeitsbereich der Systemtheorie ergab sich daraus, dass Luhmann das Grenzregime der funktional differenzierten Gesellschaft empirisch skandalisierte, weil 662 Diese These wird von Peter Fuchs vertreten. FUCHS, Peter (1994): „Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?“, S. 39.

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dieses Grenzregime keinen Platz in seiner Gesellschaftstheorie hatte. Die modernisierungstheoretische Annahme der Vollinklusion 663 ließ sich nicht von der „autopoietischen Wende“ auflösen und wurde erst in seinem Spätwerk in Frage gestellt: „[...] funktionale Differenzierung kann, anderes als die Selbstbeschreibung der Systeme es behauptet, die postulierte Vollinklusion nicht realisieren“ 664. Dabei handelt es sich aber nicht um eine theoretische Umwandlung, sondern um eine authentische Verunsicherung der Theorie durch die „rein empirische“ Beobachtung (anlässlich eines Besuches in einer brasilianischen Favela), „dass es doch Exklusion gibt [...]“ 665 . Eben in diesem Krisenkontext der Theorie, wie Farzin betont 666, tauch der Mensch wieder auf 667, und zwar in seiner negativen Fassung, in seiner Irrelevanz für das soziale Geschehen: Als „Nicht-Mensch“. Sozialtheoretisch bleibt der Mensch nach wie vor ein irreführender Kompaktbegriff, der die Differenz zwischen sozialen und psychischen Systemen ignoriert. Die durch die Beobachtung der Exklusion von Menschen aus den Funktionssystemen erzeugte Irritation betrifft nur die Gesellschaftstheorie Luhmanns, nicht seine allgemeine Theorie sozialer Systeme. Die damit entstandene Unsicherheit bezieht sich auf die gesellschaftstheoretische Abgrenzung gegen normativ aufgeladene Menschenbilder. Dabei wird nicht nur argumentiert, dass die Orientierung an Menschenbildern fast immer auch den Versuch mit einschließt, soziale Ausgrenzung über gesellschaftsexterne anthropologische Kriterien zu verhärten 668, sondern es wird auch davon ausgegangen, dass die heutige Gesellschaft auf ein für sie spezifisches „concept of man“ verzichtet. Die (angebliche) gesellschafts-theoretische Neutralität gegenüber der Frage nach dem Menschen findet in der funktional differenzierten Gesellschaft gewissermaßen ihre Entsprechung. Es ist genau diese doppelte Neutralität, die 663

So hieß es in den 1970er Jahren: „Inklusion bedeutet, dass alle Funktionskontexte für alle Teilnehmer des gesellschaftlichen Lebens zugänglich gemacht werden“. In LUHMANN, Niklas (1975): „Evolution und Geschichte“. In: Ders. Soziologische Aufklärung 2. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 160. 664 LUHMANN, Niklas (1995):. „Jenseits von Barbarei“, S. 148. 665 Ibidem, S. 147. 666 FARZIN, Sina (2006): „Die Semantik des Menschen bei Niklas Luhmann und Giorgio Agamben. In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2. Rehberg, Karl-Siegbert (Hg) S. 2923-2932. Frankfurt am Main: Campus Verlag GmbH, 2008 [Konferenzbeitrag]. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168ssoar-151508 (lezter Besuch am 26.09.2012). 667 So hieß es im Jahr 1995: „Inklusion (und entsprechende Exklusion) kann sich nur auf die Art und Weise beziehen, in der im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden“. In LUHMANN, Niklas (1995): „Inklusion und Exklusion. In: Ders. Soziologische Aufklärung 6. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 241. 668 „[...] mit Orientierungen an „Menschenbildern“ hat man so schlechte Erfahrungen gemacht, dass davor eher zu warmen wäre“. In: LUHMANN, Niklas (1994): „Die Tücke des Subjekts und die Frage nach den Menschen“. In: FUCHS, Peter/GÖBEL, Andreas (Hg): Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 55

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durch die Feststellung, dass bestimmte Individuen aus (fast) allen Funktionssystemen durch einen Verstärkereffekt zwischen den teilsystemspezifischen Exklusionen ausgeschlossen werden, infrage gestellt wird. Denn wenn die „Exkludierten“ wegen ihrer auf die Unmittelbarkeit des Körperlichen reduzierten Existenz als irrelevant für die Gesellschaft beobachtet werden, und dadurch nicht als Menschen behandelt werden, sondern nur als „Körper“, hat man es mit einem Grenzregime und einem Menschenbild zu tun, welches eine gesamtgesellschaftliche Form der sozialen Selektion produziert und reproduziert. Das bedeutet aber auch, dass die Gesellschaftstheorie, auch und gerade wenn das gesellschaftliche Menschenbild latent bleibt, die Art und Weise beobachten muss, wie die Gesellschaft es konstruiert und rekonstruiert, um die Individuen entweder als Menschen oder als Unmenschen zu behandeln. Je deutlicher wird, dass die Gesellschaftstheorie in ihren impliziten Grundannahmen nicht frei von diesem Menschenbild ist, desto mehr muss sie die Gesellschaft (und damit sich selbst) im Hinblick darauf analysieren.

4.6 Die Unterscheidung von Person und „Körper“ Die hier ausgeführten Überlegungen über den Menschen als Medium der Gesellschaft sind gerade ein Versuch, dieses implizite Menschenbild explizit zu machen. Die These lautet, dass die funktional differenzierte Gesellschaft ein mit Fähigkeit zur Selbstkontrolle, mit Zukünftigkeit und mit Entscheidungsfreiheit hinsichtlich des Wechsels von sozialer Fremdreferenz (also hinsichtlich der eigenen Teilnahme an Funktionssystemen) ausgestattetes Individuum als ihr Menschenbild voraussetzt. Dieses Individuum wird zur Grundlage von jeder Art des Personseins in der Moderne. Die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme externalisieren dieses soziale Konstrukt, beobachten es als Medium für die eigenen Operationen und invisibilisieren die Bedingungen der Möglichkeit seiner Entwicklung mit der Folge, dass Abweichungen von ihm und die damit einhergehenden sozial konstruierten Exklusionsprozesse entsprechend auch externalisiert und invisibilisiert werden. Indem also das Individuum als externalisierte Normalität gefasst wird, kann die Gesellschaft es als Medium für eigene Formbildung benutzen, die die von dieser Normalität abweichenden Individuen als „Unmenschen“ behandelt. Wie dieses Menschenbild auch von der Theorie funktionaler Differenzierung als eine teilsystemübergreifende Externalität vorausgesetzt wird, kann aus der von Luhmann zur Beschreibung des Exklusionsphänomens (metaphorisch) angewendeten Unterscheidung von Person und „Körper“ entnommen werden. Wenn man die Beschreibung Luhmanns des sogenannten „Exklusionsbereichs“ genauer betrachtet, so fällt auf, dass er den Unterschied zwischen Person und Körper auf die zeitliche Dimension von Verhaltenserwartungen bezieht, 231

wobei die auf den Körper reduzierte individuelle Existenz zugleich eine Existenz ohne Zukunft ist. Während im Inklusionsbereich Menschen als Personen zählen, scheint es im Exklusionsbereich fast nur auf ihre Körper anzukommen. Die symbiotischen Mechanismen der Kommunikationsmedien verlieren ihre spezifische Zuordnung. Physische Gewalt, Sexualität und elementare, triebhafte Bedürfnisbefriedigung werden freigesetzt und unmittelbar relevant, ohne durch symbolische Rekursionen zivilisiert zu sein. Voraussetzungsvollere soziale Erwartungen lassen sich dann nicht mehr anschließen. Man orientiert sich an kurzfristigen Zeithorizonten, an der Unmittelbarkeit der Situationen, an der Beobachtung von Körpern. Das heißt auch, dass die im Inklusionsbereich sei eh und je geltenden, Zeit ausdehnenden Reziprozitätserwartungen entfallen bis hin zum Zerfall familiärer Bindungen. Das mag von ferne an sehr altertümliche Ordnungen erinnern. Aber faktisch ist es heute ein Nebeneffekt der funktional differenzierten Gesellschaft und irritiert vor allem deshalb, weil die gesellschaftsuniversalen Zuständigkeitsansprüche der Funktionssysteme dadurch auf auffällige Weise in ihren Schränken sichtbar werden 669. Körper zu sein bedeutet dabei, dass die aktuell beobachtete Verhaltensweise eines Individuums sowie seine aktuelle soziale Position jede stabile Erwartung auf Teilnahme an Funktionssystemen diskreditieren. Das bedeutet zudem, dass man auf eine Gegenwart ohne Zukunft reduziert wird, dass man also von den Verhaltenserwartungen abweicht, die für den Menschen als Medium der Gesellschaft konstitutiv sind. Wie bereits dargestellt, ist der Mensch als Medium der Gesellschaft durch die Bedeutung seiner aktuellen Inklusionslage für seine Zukunft als sozial anschlussfähiges Individuum definiert: Bei jeder Inklusion, in der der Mensch als Form (also als individuell attribuierte Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten) auf dem Bildschirm der Funktionssysteme erscheint, wird er zugleich als Medium reproduziert d. h., als eine formbare Person, die andere teilsystemspezifische Inklusionsanforderungen erfüllen können. Man kann „die „im Inklusionsbereich seit eh und je geltenden, Zeit ausdehnenden Reziprozitätserwartungen“ als einen Hinweis darauf interpretieren, dass die soziale Zurechnung von Personalität auf Individuen durch Erwartungen (und das heißt fast immer: durch Selbst_und Fremderwartungen) durch seine künftige Anschlussfähigkeit für weitere Operationen konditioniert ist. Wenn diese künftige Anschlussfähigkeit nicht erwartet werden kann, wird die Entfaltung des Individuums, d .h. sein Oszillieren zwischen den teilsystemspezifischen Personenkonstruktionen beeinträchtigt. In der Moderne impliziert Exklusion, wie wir sehen werden, nicht den Ausschluss aus allen Funktionssystemen, sondern die Reduktion des Individuums auf die Perspektive eines einzigen oder weniger Funktionssysteme, sodass die sozialen Bedingungen der Wahlfreiheit ausbleiben. Der Zerfall familiä669

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 633.

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rer Bindungen mag beispielsweise auch mit der Reduktion des individuellen Verhaltens auf die sehr unsichere Wiederherstellung von Zahlungsfähigkeit zu tun haben, etwa dadurch, dass die Orientierung am Geld die Entwicklung eines „geduldigen Selbst“ für die Familie verhindert. Ein weiteres Merkmal des auf den Körper reduzierten Individuums ist, dass es den Zuständigkeitsansprüchen der funktional differenzierten Gesellschaft derart widerspricht, dass ihm – im Gegensatz zu den „Abweichern“ des Inklusionsbereiches – nicht einmal der Status eines noch nicht inkludierbaren Publikumsanteiles attribuiert wird. Die Zuschreibung, dass bestimmte Individuen eine „bloße körperliche Existenz“ ohne Zukunft führen und deshalb als Medium der Gesellschaft nicht anschlussfähig sind, ist eine selektive Beobachtung der menschlichen Umwelt, die für die meisten Funktionssysteme eine nicht kontingente soziale Grenzziehung bedeutet, weil die attribuierten Kompetenzdefizite – welche natürlich auch habitualisiert werden, sodass sie zur Person gehören – zeigen, dass man sich mit den jeweiligen teilsystemspezifischen Personenkonstruktionen identifizieren muss. Funktionssysteme behandeln die Identifikation mit der eigenen Form der Personifizierung als eine notwendige Inklusionsanforderung: Wer sich durch die Eigenschaften, die Funktionssysteme als konstitutiv für ihre Personenkonstruktion erachten, nicht formen lässt, wer also nicht als Medium für teilsystemische Formbildung fungieren kann, stellt das „Menschenbild“ der Funktionaldifferenzierung infrage. Gerade weil dieses funktional differenzierte „Menschenbild“ als eine gesellschaftliche Notwendigkeit gilt – die, um als Notwendigkeit gesehen zu werden, den Status einer Externalität bzw. einer externen Referenz, die sich der sozialen Disposition entzieht, haben muss –, als ob sie kein soziales Artefakt wäre, erscheinen Individuen, die das Unterscheidungsvermögen der Funktionaldifferenzierung nicht aufweisen, als „Körper“, und nicht als eine Variation des Personseins.

4.7 Die Funktion von Moral Daraus ergibt sich die Möglichkeit, den moralischen Sinn der sozialen Grenzziehung zwischen Person und Körper in den Blick zu nehmen. Moral ist die Codierung von Urteilen über Individuen anhand der Differenz von Achtung und Missachtung 670 . Das soziale Geschehen wird immer dann moralisch codiert, wenn Individuen einander entweder als Personen achten oder durch die Negation des Personenstatus missachten. Es geht um die Alternative zwischen Totalinklusion von Personen (Achtung) in und Totalexklusion (Missachtung) aus der gesellschaftlichen Kommunikation 671 . Ob und wie Inklusion und Exklusion durch 670 671

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 244-245. Ibidem, S. 397.

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moralische Urteile strukturiert werden, variiert mit der gesellschaftlichen Evolution. In älteren Gesellschaften war jede Inklusion von Individuen in die Kommunikation unmittelbar mit der Achtung seiner ganzen sozialen Person verbunden. In hierarchisch geordneten Ständegesellschaften z .B. gab es schichtspezifische moralische Qualitäten (Tugenden), die als Bedingungen für Achtung und Missachtung die Inklusion und die Exklusion der Individuen in allen Situationen regulierten, wobei die Spitze der Hierarchie (die Oberschicht) die moralische Integration der Gesellschaft in ihrem bestmöglichen Zustand – als Verwirklichung des „guten Lebens“ und der Tugend – repräsentierte. An dieser Stelle lehnt Luhmann bekanntlich die traditionelle Vorstellung ab, dass moralische Integration eine Funktion ist, auf die alle Gesellschaftstypen angewiesen wären. Der Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft geht einher mit einer moralischen Desintegration der Funktionssysteme. Denn es ist konstitutiv für die funktionale Differenzierung, dass die Zuordnung der funktionsspezifischen Codewerte nicht mit einer systemübergreifenden moralischen Bewertung zusammenfällt: Die operative Autonomie der Funktionssysteme ist nur möglich, weil es in der Gesellschaft keine zentrale Instanz mehr gibt, die wie die mittelalterliche Symbiose von Moral und Religion Konsens über Kriterien formuliert, nach denen Achtung und Missachtung zuzuteilen sind. Moralische Integration, die bei Luhmann immer als strikte Kopplung zu verstehen ist, wird durch die lose Kopplung der Teilsysteme ersetzt, sodass teilsystemspezifische Inklusionen und Exklusionen weder aneinander anschließen noch durch ein gesamtgesellschaftliches moralisches Programm konditioniert werden müssen. Kurz: Inklusion bedeutet nicht mehr Achtung der Gesamtperson und Exklusion nicht mehr Missachtung. Nur die Korruption der Systemoperationen durch systemfremde Faktoren (z. B. Doping im Sport) eignet sich als Thema der moralischen Kommunikation. Vor dem Hintergrund unserer Überlegungen über den Menschen als Medium der funktional differenzierten Gesellschaft stellt sich aber die Frage, ob die Differenz von Person und Körper das Operieren einer funktionssystemübergreifenden moralischen Unterscheidung nahe legt. Diese kann sicherlich keine moralische Integration durch eine Zentralinstanz bedeuten. Bei genauerem Hinsehen wird aber deutlich, dass die Amoralität der Funktionssysteme nur dann möglich ist, wenn spezifische moralische Bedingungen erfüllt werden, auch wenn die Funktionssysteme diese Bedingungen unsichtbar machen. Das zeigt sich an der sozialen Aufwertung der individuellen Freiheit und Selbstkontrollfähigkeit als Voraussetzung dafür, dass Individuen als Medium der Gesellschaft beobachtet und seligiert werden. Denn nur wer über Entscheidungsfreiheit über das eigene Verhalten verfügt, kann als Individuum an verschiedenen Funktionssystemen teilnehmen, ohne dass seine Gesamtperson dabei berücksichtigt und beurteilt wird. Das bedeutet: die funktionsspezifische Amoralität setzt ein vorausgehendes moralisches Urteil über die Individuen voraus, das nicht mehr auf „äußerlichem 234

Verhalten“, sondern auf „internalisierter Selbstkontrolle“ basiert ist. Das entspricht der Evolution von Moral, die Luhmann zufolge den Übergang zur Moderne begleitet hatte: Man kann seit dem Mittelalter eine zunehmende Internalisierung der moralhaltigen Erwartungen beobachten, Internalisierung insofern, als die Erwartungen sich jetzt an die Selbstkontrolle, an die freie Verfügung über die eigene Freiheit richten und nicht mehr umstandslos Schlüsse von Verhalten auf Achtung oder Mißachtung zulassen 672. Es ist diese „freie Verfügung über die eigene Freiheit“, die man als ein spezifisch modernes moralisches Programm bezeichnen kann. Dieses Programm, das insofern paradox ist, als es die moralischen Bedingungen für die Amoralität der Funktionssysteme festlegt, zeichnet sich dadurch aus, dass es nur bei der Nichterfüllung der moralischen Anforderungen angewendet wird. Denn während Individuen im Inklusionsbereich von moralischen Urteilen über ihre Gesamtperson entlastet sind, weil ihre Selbstkontrollfähigkeit die Indifferenz gegenüber den Facetten seiner Person, die zu den jeweiligen Kommunikationsformen nicht passen, ermöglicht, gilt für den Exklusionsbereich eben das Gegenteil: Weil Selbstkontrollfähigkeit und Freiheit über das eigene Verhalten, die eine Suspension moralischer Urteile ermöglichen, nicht unterstellt werden können, werden Individuen der negativen Seite der Moral ausgesetzt, nämlich der Missachtung seiner Gesamtperson. Das heißt, dass im Inklusionsbereich die Moral invisibilisiert wird. Ihre Funktion ist jetzt nicht die Integration der Gesellschaft mit Blick auf ihren bestmöglichen Zustand, sondern den Inklusionsbereich vor dem „pathologischen Zustand“ des Exklusionsbereiches zu schützen. Diese Funktion wird dadurch erfüllt, dass ausgeschlossene Individuen im Hinblick auf die Zuständigkeitsansprüche der Funktionaldifferenzierung als defizitär missachtet werden. Die moralische Missachtung von Individuen entspricht einer Schranke der Funktionaldifferenzierung, nämlich der kontingenten Konstruktion eines „Menschenbildes“, das aber auf dem Bildschirm von Funktionssystemen als notwendig erscheint. Dies bedeutet nicht, dass die Funktionssysteme sehen, dass sie Exklusion produzieren. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Zum einen werden Individuen in den Kommunikationszusammenhängen nur im Hinblick darauf beobachtet, ob sie relevant für die Reproduktion der operativen Möglichkeiten des jeweiligen Funktionssystems sind, ob sie im Sinne einer erwartbaren und stabilen Teilnahme an Kommunikation eine Zukunft haben. Die kumulativen Effekte, die die Inklusion oder die Exklusion in einem Teilsystem für die Inklusions -und Exklusionschancen in anderen Teilsystemen haben, werden durch funktionsspezifische Eigencodierung unsichtbar gemacht. Das Wirtschaftssystem sieht beispielsweise nicht, dass Zahlungsunfähigkeit andere Exklusionen nach sich zieht. Diese Invi672

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 1036.

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sibilisierung der kumulativen Sequenz von Ausschlüssen liegt auch an der Übereinstimmung von Fremdselektion und Selektion, die dazu führt, dass die Individuen ihre Exklusion aus den und ihre Irrevelevanz für die Funktionssysteme in Form einer resignierten Selbstexklusion antizipieren. Es geht um jene Situation, in der die Vorbereitung auf spätere Inklusionen, etwa auf die Bewerbung für eine Stelle, keine Plausibilität mehr hat. Zum anderen muss die explizite Exklusion in die Form einer Inklusionsbemühung gebracht werden: Resozialisation, Reintegration, Gefängnis usw. Diese Art von „ausschließender Einschließung“ löst auch eine kumulative Verknüpfung von Exklusionen aus: Die Insassen werden sowohl durch die räumliche Kontrolle ihrer Körper wie auch durch ihren prekären Rechtsstatus von der Beteiligung an Funktionssystemen ausgeschlossen. Aber die Kollektivsemantik der Inklusion der Gesamtbevölkerung in die Teilsysteme beschreibt die Internierung nicht als Exklusions-, sondern als Inklusionsmaßnahme. In beiden Fälle wird die moralische Missachtung von Individuen, die hinsichtlich der verhaltensmäßigen Minimalvoraussetzung der Funktionaldifferenzierung als defizitär klassifiziert werden, invisibilisiert. Ihr Personstatus wird latent negiert. Die universalistische Semantik der Funktionssysteme schließt aus, dass der Personstatus von Individuen explizit negiert wird. Sowohl Selbstexklusion als auch „ausschließende Einschließung“ durch Internierung ermöglichen eine Invisibilisierung des Nein, das die Gesellschaft davon entlastet, Exklusion begründen zu müssen. Auf einer Beobachtungsebene zweiter Ordnung kann man jedoch bemerken, dass moralische Programmierung auf eine Semantik des Pathologischen bzw. des Bedrohlichen begründet wird. Wenn es über die Kriterien, nach denen man eine Konzeption der „guten Gesellschaft“ formulieren könnte, die in der Lage ist, in allen Funktionssystemen moralisch geachtet zu werden, keinen Konsens gibt, so doch zumindest über ihr negatives Korrelat: Die Missachtung von pathologischer bzw. bedrohlicher Sabotage der systemischen Codes fungiert als ein gesamtgesellschaftliches moralisches Programm, das die systemischen Eigencodierungen gegen destruktive Verhaltensweisen schützt. Die Funktion von Moral besteht in der Exklusion, in der „negativen Integration“ von Individuen, die die Funktionssysteme als pathologisch und bedrohlich wahrnehmen. Für die Erfüllung dieser Funktion ist also eher die negative Seite der Moral anschlussfähig. Kurz: die über binäre Eigencodierungen gesicherte Autonomie der Funktionssysteme schließt eine Metaregulierung durch einen moralischen Supercode aus, und die Moral selbst akzeptiert, ja remoralisiert diese Bedingung. Denn jetzt werden Codesabotierungen zum moralischen Problem – etwa die Korruption in der Politik und im Recht oder das Doping im Sport oder das Kaufen von Liebe oder die Mogelei mit den Daten der empirischen Forschung. Die höhere Amoralität der Funktionscodes wird von Moral selbst anerkannt; aber daraus folgt auch der Verzicht auf die Vorstellung einer moralischen Integration der Gesellschaft. Die Moral konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf 236

die Pathologien, die sich aus der Verhaltensunwahrscheinlichkeit gesellschaftsstruktureller Vorgaben ergeben und laufend reproduziert werden 673. Entscheidend ist, dass Codesabotierungen nicht nur auf das deviante Tun von Inkludierten (politische Korruption, Doping im Sport usw.) beschränkt bleiben, sondern auch „das deviante Sein“ derjenigen einschließt, die die Zuständigkeitsansprüche der funktional differenzierten Gesellschaft nicht erfüllen. Pathologisch und bedrohlich für die Funktionssysteme sind Individuen, deren Kontakt mit Funktionssystemen als destruktiv für ihre Reproduktion wahrgenommen wird. So entwickelte sich bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts eine „negative politische Anthropologie“, die die Exklusion der „Wilden“ und Armen aus der Politik damit begründete, dass ihre Unfähigkeit, die Unmittelbarkeit elementarer Bedürfnisse zu brechen und nach der ökonomischen Zukünftigkeit zu handeln, mit „einer Deprivation von politischer Sprache und Urteilskraft“ 674 zusammenhängt. Nach Malthus z. B. würde die politische Inklusion der „Wilden“, der „arbeitenden Rasse“ und der „ignoranten Iren“ die soziale Ordnung und den allgemeinen Wohlstand korrumpieren, weil sie alle von der Hand in den Mund leben 675.

4.8 Der Exklusionsbegriff: ein Definitionsvorschlag Die Beobachtung des moralischen Sinns der Unterscheidung von „Person“ und „Körper“, der das Privileg einer Distanzierung von Moral für als „Personen“ bezeichnete Individuen und moralische Missachtung für diejenigen, die auf „Körper“ reduziert werden, bedeutet, führt zu einer präziseren Definition des Exklusionsphänomens: Exklusion ist jede strikte Kopplung von Individuen an ein Funktionssystem, die die Inklusionschancen in andere Funktionssysteme sowie die Entwicklung eines für die Nutzung dieser Chancen erforderlichen Unterscheidungsvermögens vernichtet und dadurch den Individuen den Personstatus entzieht. Dabei artikuliert der Unterschied von loser und strikter Kopplung die immanente Definition eines Grenzregimes der Funktionaldifferenzierung. Auf der einen Seite existieren „lose gekoppelte Personen“, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass die Fähigkeit, mit einer Mehrheit von unterschiedlichen Codewerten nach ihrer Unterscheidbarkeit umzugehen, die immanente Vorstellung einer „wertvollen und adressierbaren Person“ bildet. Das bedeutet: die interne Differenziertheit des Unterscheidungsvermögens, mit dem man zwischen Kunst und Wirtschaft, Bildung und Wirtschaft, Politik und Religion unterscheidet, gilt als eine Wertskala, in der die Undifferenziertheit des Unterscheidungsvermögens als Signatur der „asozialen Körperlichkeit“ und sozialen Exklusion 673

Ibidem, S. 1043. Kursiv des Autors. TELLMANN, Ute (2008): „Figuren der Exklusion: das (nackte) Leben in der Ökonomie“. In: Soziale Systeme 14 (2008), S. 284. 675 Ibidem, S. 286. 674

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fungiert. Auf der anderen Seite gibt es „strikte gekoppelte Körper“, deren Unterscheidungsvermögen, Handlungs- und Wahrnehmungsschemata die operativen Erfordernisse der Funktionaldifferenzierung nicht erfüllen. Das wiederum bedeutet: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der funktionalen Differenzierung von Teilsystemen und der funktionalen Differenzierung des Unterscheidungsvermögens von Personen. Es wird verlangt, dass man zwischen der Schönheit oder ästhetischen Brillanz eines Kunstwerkes und seinem Preis, zwischen der Wahrheitsevaluation und den Forschungskosten unterscheiden kann; denn wer das nicht kann, wird sich in der modernen Gesellschaft ziemliche deplaciert vorkommen[…]Die Struktur des operativ erforderlichen Unterscheidungsvermögens kann mithin als Indikator für die Struktur gesellschaftlicher Differenzierung benutzt werden 676. Dieser Definitionsvorschlag trägt zwei wichtigen Ansprüchen 677, die in der Exklusionsdebatte erhoben werden, Rechnung: 1) Die Thematisierung der Mehrdimensionalität von Exklusionsphänomenen, also die strikte Kopplung von systemspezifischen Exklusionen; und 2) die Diskontinuität, die konstitutiv für die Unterscheidung von „Person“ und „Körper“ ist. Beide Ansprüche werden auch mit dem von Gesa Lindemann 678 formulierten Begriff des „gesellschaftlichen Grenzregimes“ erfüllt. Sie vertritt die These, dass funktionale Differenzierung, wie jede andere Differenzierungsform, ein Grenzregime etabliert, das in jeder Kommunikation zwischen adressierbaren sozialen Personen und anderen Entitäten zu unterscheiden erlaubt. In der funktional differenzierten Gesellschaft können, so die Annahme, nur diesseits lebendige Menschen den Status von sozialen Person erhalten. Wichtig ist dabei, dass diese „moderne Anthropologie“, die die Grenze zwischen sozialen Personen und „anderen Entitäten“ bestimmt, konstitutiv mit Grundrechten 679 verknüpft ist. Der lebendige Mensch ist nur dann ein möglicher Adressat für universell beliebige Kommunikationen, wenn „die Grundrechte garantieren, dass kein einzelnes System den Menschen als Ganzes vereinnahmt“ 680. Grundrechte stellen insofern eine Bedingung der Funktionaldifferenzierung dar, als sie verhindern können, dass der Mensch auf eine funktionssystemspezifische Personenkonstruktion reduziert wird. Der Mensch wird somit durch einen Doppelbezug charakterisiert: „er wird gebraucht als Mensch, d. h. als mobilisierbares Potenzial, und als Adresse für

676

LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 321. Siehe dazu LEISERING, Lutz (2004): „Desillusionierungen des modernen Fortschrittsglaubens“, S. 247. 678 LINDEMANN, Gesa (2008): „Gesellschaftliche Grenzregime und soziale Differenzierung“. In: Zeitschrift für Soziologie Heft 2 (2008), S. 94-112. 679 Hier greift Lindemann auf den frühen Luhmann zurück. Siehe LUHMANN, Niklas (1974): Grundrechte als Institution: Ein Beitrag zur politischen Soziologie. Berlin: Duncker und Humblot, 1974 680 LINDEMANN, Gesa (2008): „Gesellschaftliche Grenzregime und soziale Differenzierung“, S. 103.

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funktionsspezifische Kommunikation mit ihren spezifischen Relevanzen“ 681. Als „mobilisierbares Potenzial“ ist der Mensch Umwelt für unterschiedliche Funktionssysteme und seine „Exklusionsindividualität“ ist in diesem Zusammenhang ein Korrelat des grundrechtlichen Schutzes gegen irgendeine funktionsspezifische Reduktion der sozialen Person. Eine ganz andere Bedeutung muss man dem Exklusionsbegriff im Kontext der Unterscheidung von Person und „anderen Entitäten“ zusprechen. Hier geht es eher um eine Aufhebung der „Exklusionsindividualität“, weil der negativ hoch integrierte Exklusionsbereich sich gerade durch die strikte Kopplung zwischen den Selektionen von unterschiedlichen Funktionssystemen auszeichnet, so dass die Person als funktionssystemexternes mobilisierbares Potenzial ihre Freiheitsgrade (lose Kopplung) durch die negative und strenge Interdependenz zwischen den Funktionssystemen beeinträchtigt sieht. Exklusion kann also auch als Mangel an Freiheit gegenüber der Reduktionsperspektive eines Funktionssystems definiert werden. Lindemann erkennt in strukturellen Expansionstendenzen des politischen Systems die wichtigste Bedrohung für die menschliche Erfahrung mit Funktionaldifferenzierung. In Anlehnung an ein Frühwerk Luhmanns 682 geht sie davon aus, dass Grundrechte ebendiese Tendenzen im Interesse der Erhaltung einer differenzierten Kommunikationsordnung hemmen. Die Gefahr liege in der Politisierung des gesamten Kommunikationswesens, also der vollständigen Vereinnahmung des Menschen vom politischen System 683. Als prominente Beispiele gelten das Dritte Reich und die ehemalige Sowjetunion. Es ist aber auch möglich, dass eine „Dominanz der Ökonomie vergleichbare Konsequenzen für die gesellschaftliche Entwicklung haben kann“ 684. Es fällt auf, dass der Doppelbezug auf Individuen – als Adresse für aktuell stattfindende Kommunikationen und als mobilisierbares Potenzial für andere, zunächst unbestimmte Kommunikationen – auf den gleichen Sachverhalt verweist, der auch mit der Unterscheidung von Medium und Form erfasst werden kann. In beiden Fällen geht es um ein Verhältnis von loser und strikter Kopplung von Individuen an gesellschaftliche Teilsysteme. Strikte Kopplung bedeutet, dass man als teilsystemspezifische Form bzw. soziale Adresse bezeichnet wird. Lose Kopplung hingegen steht für das Potenzial bzw. für die Anschlussfähigkeit von Individuen als Medium für weitere Systemoperationen, die durch vollzogene Kommunikationen zwar ermöglicht, aber nicht determiniert werden. Dabei bedeutet die Vereinnahmung von Individuen durch ein einzelnes Funktionssystem gerade die Zerstörung ihrer Anschlussfähigkeit für andere Funktionssysteme bzw. ihres Status als Medium der Gesellschaft. Die Schutzfunktion gegen diese Vereinnahmung, die die Grundrechte erfüllen, besteht in der Externalisierung des 681

Ibidem, S. 104-105. Siehe Fußnote 157. 683 Ibidem, S. 109. 684 Ibidem, S. 111. 682

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Menschen aus der Gesellschaft bzw. in der Konstruktion eines Umweltsegments, das als Unterbrecher der gesellschaftlichen Selbstreferenz 685 hemmend auf bestimmte Kommunikationsformen, die den Menschen auf die Reduktionsperspektive eines Funktionssystems reduzieren, einwirkt. Diese Funktion des externalisierten Menschen wird in der Regel durch das Rechtssystem und das politische System erfüllt, wobei die Verfassung und die Staatsbürgerrechte als strukturelle Kopplung zwischen den beiden Systemen eine entscheidende Rolle spielen. Die Erfahrung des Nationalsozialismus nach Kriegsende führte beispielsweise zu der Frage, wie man zu Einschränkungen für das Sozialsystem bzw. für einzelne Teilsysteme (vor allem Politik, Wissenschaft, Medizin und Erziehung) kommen kann, um die zerstörende Politisierung anderer Lebensbereiche vermeiden zu können. Auch die Reflexionstheorien der verschiedenen Funktionsbereiche suchten nach 1945 Formulierungen, die Begrenzungen für soziale Zugriffe auf den Menschen versprachen. Was die Gefahr der Ökonomisierung anderer Funktionsbereiche angeht, dienen soziale Rechte dazu, die Inklusion in viele Funktionssysteme (in das Erziehungssystem, in das Gesundheitssystem usw.) von der Geldzahlung zu entkoppeln und somit die lose Kopplung der Partialinklusionen der Individuen zu fördern. Aber anders als Lindemann unterstellt, ist die Konstruktion des Menschen als Entität, die alle funktionsspezifische Reduktionsperspektive transzendiert, nicht bereits dadurch gesichert, dass der Mensch in einem gesellschaftlich anerkannten Sinn ein „lebendiger Körper“ ist 686 . Damit verweist Lindemann zwar auf das politisch-rechtliche Kriterium für die Zuerkennung von „Menschenwürde“ 687 , zudem soll aber mit diesem Kriterium zugleich auch „eine soziologische Theorie menschlicher Würde“ 688 entwickelt werden. Ihre Thse ist, dass die „Menschenwürde“, d.h. die Tatsache, dass der Mensch „zu einer jeden funktionalen Einzelzweck übersteigenden Größe“ wird 689, „nicht an personale Leistungen gebunden ist“ 690. Genau hier liegt das Problem: Lindemanns Definition der „menschlichen Würde“ ist keine Soziologisierung der politisch-rechtlichen Version des Begriffes, denn die Ablehnung eines Leistungskriteriums entspricht dem politischrechtlichen Anspruch, die Menschenwürde von jeder Konditionierung zu befreien. Die juristische Interpretation tendiert dazu, die Menschenwürde zu naturalisieren, als ob ihre Zuerkennung unabhängig von jeder Konditionierung erfolgen 685 BERGMANN, Werner (1994):„Der externalisierte Mensch. Zur Funktion des „Menschen“ für die Gesellschaft“. In:FUCHS, Peter/GÖBEL, Andreas (Hg): Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 98 686 LINDEMANN, Gesa (2011): „Die Akteure der funktional differenzierten Gesellschaft“. in: LÜDTKE, Nico/MATSUZAKI, Hironori (Hg): Akteur – Individuum – Subjekt. Fragen zu „Personalität“ und „Sozialität“. Wiesbaden: VS Verlag, S. 341. 687 Ibidem, S. 342. 688 Ibidem. 689 Ibidem, S. 340. 690 Ibidem, S. 342.

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könnte. Es geht also um das Postulat einer unilateralen Plicht des Gesellschaftlichen gegenüber dem Menschlichen 691. Auf diese Weise verkennt Lindemann, dass Würde, auch wenn sie nicht auf funktionsspezifische Inklusions- und Leistungsanforderungen reduziert wird, doch untrennbar mit Inklusion und Leistung verbunden ist. Mit der Unterscheidung von Form und Medium formuliert: Würde bezeichnet nicht eine bestimmte Form von teilsystemischer Inklusion oder Leistung, sondern den Umstand, dass Individuen als Medium der Gesellschaft behandelt werden und das heißt: als leistungs- und inklusionsfähige Menschen, die sich auch für noch nicht bestimmte (aktualisierte) Leistungs- und Inklusionsformen eignen. Wenn man die Leistungskomponente des Begriffes der Würde ignoriert, wird sein sozialer Sinn mit einem Modell der funktionalen Differenzierung verknüpft, nach dem diese Differenzierungsform in der Lage ist, sich gegen die evolutionäre Gefahr der massenhaften sozialen Exklusion schützen zu können. Es wird vorausgesetzt, dass die Gesellschaft die Einführung des Würdekriteriums politisch-rechtlich so steuern kann, dass zum einen kein „lebendiger Körper“ „aus dem Kreis der sozialen Personen“ 692 ausgeschlossen wird und zum anderen dass „die andere Seite“ der funktionalen Differenzierung (eben die unsichtbare moralische Missachtung individueller Personen als Ganzes) nicht möglich ist 693. Geht man von der Tatsache der Exklusion von „lebendigen Körpern“ aus, dann zeigt sich, dass man im Anschluss an die Evolutionstheorie Luhmanns, welche gerade die gesellschaftliche Unvorhersehbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklung betont, mitberücksichtigen muss, dass die Gesellschaft auch unter politisch-rechtlicher Normativität „lebendige Körper“ aus dem Kreis der sozialen Personen exkludiert und ihre „andere Seite“ als evolutionäre Möglichkeit mit reproduziert. Es soll hier nicht bestritten werden, dass der Doppelbezug auf den Menschen, der in der sozialen Person von Individuen in einer funktional differenzierten Gesellschaft immer vorhanden ist, „eine normative Strukturvorgabe“ 694 aufweist, wohl aber, ob das politisch-rechtliche Kriterium („Es reicht aus, ein lebendiger 691

BERGMANN, Werner (1994): „Der externalisierte Mensch. Zur Funktion des „Menschen“ für die Gesellschaft“, S. 101. 692 „Wenn das aktuelle Kriteriums der Zuerkennung des Status einer sozialen Person, nämlich lebendig zu sein, durch das Kriterium ersetzt würde, aktuell die Fähigkeit zu zeigen, rational zu sich Stellung zu nehmen und intentional handeln zu können, müssten alle diejenigen, die diese Merkmale nicht aufweisen, aus dem Kreis der Personen ausgeschlossen werden“. In: LINDEMANN, Gesa (2011): „Die Akteure der funktional differenzierten Gesellschaft“, S. 342. 693 „Die Institutionalisierung eines anspruchsvolleren Kriteriums – also etwa der Rekurs auf den aktuellen Vollzug anspruchsvoller personaler Eigenschaften (wie z. B. selbstbewusst zu sich Stellung zu nehmen, Vernünftigkeit, intentional zu handeln, Selbstdarstellung als individuelle Persönlichkeit – wäre für die moderne Gesellschaft problematisch und aller Wahrscheinlichkeit nach dysfunktional“. In: ibidem. Verkannt wird hier, dass anspruchsvolleren Kriterien bereits institutionalisiert sind. 694 Ibidem, S. 340.

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Körper zu sein“) das moralische Programm artikuliert, auf das sich eine gesamtgesellschaftliche Unterscheidung von Person und „anderen Entitäten“ (Grenzregime) zurückführen lässt. Natürlich spielt auch die politisch-rechtliche Normativität eine sehr wichtige Rolle für die Erhaltung des Doppelbezuges auf den Menschen. Doch die fast bedingungslose politisch-rechtliche Zuerkennung von Würde invisibilisiert die anspruchsvollen Konditionierungen, die der faktischen Zurechnung von Würde zugrunde liegen, und damit auch die Tatsache, dass Würde von der zugerechneten Fähigkeit abhängig gemacht wird, Leistung erbringen zu können. Würde hängt doch von personaler Leistung ab, auch wenn nicht von einer konkret definierten Leistungsform. Sie hängt aber von der Fähigkeit ab, Leistungen überhaupt erbringen zu können. Und das bedeutet stets: funktionsspezifische Leistungen. Würde heißt nur, dass der Mensch durch einen Doppelbezug beobachtet wird, der die Reduktion seiner Kommunikationsmöglichkeiten auf ein einziges Funktionssystem blockiert. In alltäglichen Kommunikationen zeigt sich dieser Doppelbezug auf den Menschen vor allem in jener Minimalsympathie 695, die in Beziehungen unter Fremden in öffentlichen Räumen vorausgesetzt werden muss, damit man von den Eigenschaften und Facetten des Anderen, die zu den jeweiligen Kommunikationsformen nicht passen, abstrahieren kann. Hier taucht die gleiche paradoxe Konfiguration auf, die die Distanzierung der Moral von einer vorausgehenden moralischen Bewertung abhängig macht: Nur wenn dem Anderen eine wenigstens minimal wohlwollende Intention zugeschrieben wird, kann auf das moralische Urteil seiner Gesamtperson verzichtet werden. Die Zuschreibung dieser Intention geht, wie Goffman 696 bei der Formulierung seines Begriffs der „civil inattention“ wiederholt betont, mit der Vermutung einher, dass der Andere sich mit der bürgerlichen Gesittetheit identifiziert und sein Verhalten an ihr orientiert. Der Andere wird solange in Ruhe gelassen, wie er keine Bedrohung darstellt – keine Verletzung der Territorien, keine Übergriffe oder gar Angriffe begeht. Es geht also um einen riskanten Vorschuss auf das künftige Verhalten des Anderen, der bei Zuschreibung eines Fehlens an Zivilisiertheit und Selbstkontrollfähigkeit nicht gewährt wird. Diese höfliche Unaufmerksamkeit setzt voraus, dass der Andere die Fernwirkungen des eigenen Handelns einkalkuliert, dass er also etwas zu verlieren hat. Denn was zur Selbstkontrolle motiviert, ist nichts anders als die Konsequenz, die das aktuelle Verhalten für künftige kommunikative Anschlussfähigkeiten des Individuums haben kann. Diese Motivation muss durch konkrete Inklusionen aktualisiert werden, sodass Erwartungen auf andere Inklusionen an Plausibilität gewinnen. Die fehlende Anschlussfähigkeit für weitere Kommunikationen, also 695 STICHWEH, Rudolf (2004): „Fremdheit in der Weltgesellschaft. Indifferenz und Minimalsympathie”. in: GESTRICH, Andreas Gestrich/RAPHAEL, Lutz Raphael (Hg): Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M.: Lang, S. 35–47. 696 GOFFMAN, Ervin (1963): Behavior in Public Places. New York, Free Press.

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die fehlende soziale Referenz für die Selbstkontrolle des Verhaltens, resultiert vor allem aus der Exklusion von Positionen in Organisationen 697. Die Exklusion aus Organisationen ist nicht mit der Exklusion aus Funktionssystemen zu verwechseln, aber sie kann im Laufe der Zeit geringere Teilnahmechancen an den Kommunikationen der Funktionssysteme zur Folge haben. Das liegt daran, dass eine Exklusion aus Positionen in Organisationen die strukturellen Kopplungen unmöglich macht, die wiederum Voraussetzung für die Konvertierbarkeit der funktionsspezifischen Ressourcen im Lebenslauf und somit für die Erwartungssicherheit in Bezug auf die kommende Teilnahme an gesellschaftlicher Kommunikation sind. Die Einkalkulation der Fernwirkungen des eigenen Verhaltens setzt voraus, dass man sich im Lebenslauf auf strukturelle Kopplungen verlassen kann. Nur sie können Erwartungssicherheit unter Bedingungen der strukturellen Diskontinuität zwischen den Funktionssystemen herstellen, denn sie regulieren die Interdependenzbeziehungen zwischen den Funktionssystemen und ihren Inklusionsformen. Die Staatsangehörigkeit, die den Zugang zu den wohlfahrtsstaatlichen, inklusionsvermittelnden Leistungen (soziale Rechte) konditioniert, und der Beruf als Kopplung von Erziehung und Wirtschaft sind die wichtigsten Beispiele. Obwohl auch die Exklusion aus Netzwerken eine Rolle spielt, ist die Teilnahme an Netzwerken selbst davon abhängig, dass die Reziprozitätsverpflichtungen in Form von sachlich differenzierten Leistungen erfüllt werden. Das setzt wiederum die Inklusion in Organisationen voraus. Bei Nichterfüllung dieser Reziprozitätsverpflichtungen werden selbst Verwandte, Freunde und Herkunftsgleiche zunehmend lästig und sie tendieren zu einer spontanen, beschämten Selbstexklusion 698. Unpersönliche Bindungen sind hinsichtlich ihres jeweiligen Potenzials der Exklusion wichtiger als persönliche Beziehungen. Das bedeutet nicht, dass die Exklusion aus Organisationen eine Karriere der Kumulation von Exklusionen aus Funktionssystemen bestimmt. Sie kann die Kumulation zwar wahrscheinlich machen – das ist der Fall bei Arbeitslosigkeit. Aber ob an diese Exklusion tatsächlich andere Exklusionen anschließen, wird nur in Operationen entschieden, die zu dem System gehören, aus dem man exkludiert wird. Es geht um eine Dynamik zwischen Operation und Struktur, wobei eine Exklusionsentscheidung die nächste Exklusionsentscheidung strukturiert, ohne aber die Kontingenz eliminieren zu können, die sich aus möglichen Abweichungen von der Struktur ergeben. Folglich muss jede neue Operation, auch wenn man eine Exklusionsentscheidung erwartet, als Ereignis verstanden werden, das die Erwartungsstrukturen entweder bestätigt oder von ihnen abweicht. Die Kumulation von Exklusionen braucht Zeit. Nur im Laufe der Zeit werden Irre697 Aber auch aus der Inklusion in bestimmten Organisationen, die wie das Gefängnis die soziale Person auf die Perspektive eines einzelnen Funktionssystems reduziert. 698 BOMMES, Michale TACKE, Veronika (2006): “Das Allgemeine und das Besondere des Netzwerkes”. In: HOLLSTEIN, B. & STRAUSS, F. Strauss (Hg), Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 56.

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versibilitäten konstruiert, zu denen auch der Verlust stabiler Kontakte mit Funktionssystemen zählt. Die Strukturierung von Exklusion erfolgt über echtzeitliche Ereignisse. Sie wird also auch operativ strukturiert. Die Luhmannsche Beschreibung des Exklusionsbereichs fokussiert nur auf das Ergebnis eines Prozesses im Sinne einer Sequenz von irreversibel werdenden Ereignissen. Diese Sequenz beginnt eben im Inklusionsbereich durch Ereignisse, die einen Prozess der Exklusion auslösen, der weitere Organisationen und Funktionssysteme umfasst. Es kommt nicht darauf an, festzustellen, dass es einen Exklusionsbereich gibt, sondern darauf, zu beobachten, wie Personen exkludiert werden, wie sie also infolge kumulativer Sequenz von Exklusionen nicht mehr als Medium der Gesellschaft infrage kommen. Stichweh 699 interpretiert solche Sequenzen als Ergebnis entweder lokaler Korruptionen oder Instabilitäten, die zur Kumulation individueller Abstiege im Lebenslauf führen. In beiden Fällen hat man es mit Mechanismen zu tun, die die Konvertibilitätssperren zwischen den Funktionssystemen versagen lassen. Mit „lokalen Korruptionen“ ist gemeint, dass in bestimmten Regionen des Erdballs die Verfügung über Macht, die Verfügung über Recht und die Verfügung über Geld, die Verfügung über Bildung konditioniert. Unabhängig von der Frage, ob solche „korrumpierenden“ Kopplungen wirklich „regional“ sind oder ob es sich dabei nur um eine selektive Konstruktion handelt, die den „regionalen Charakter” des Problems erfindet, kann man feststellen, dass die Existenz von Kopplungen, die die Interdependenzunterbrechung zwischen Politik und Recht sowie zwischen Wirtschaft und Erziehung außer Kraft setzen, Phänomene sind, die auch in Regionen zu finden sind, die üblicherweise nicht mit Korruption assoziiert werden. Man denke an den Einfluss der mächtigen Finanzlobby auf die Gesetzgebung aller Industrieländer und an den Murdoch-Skandal (England). Darüber hinaus fehlt bei Stichweh (ebenso wie bei Luhmann) eine Erklärung dafür, wie diese angebliche lokale Korruption die kumulative Sequenz von Ausschlüssen erzeugt. Wird ein Drittel der brasilianischen Bevölkerung aus der Wirtschaft, den politischen Organisationen, dem Gesundheitswesen, dem Bildungswesen, dem Zugang zu Gerichten und sogar den familiären Reziprozitätsverhältnissen exkludiert, weil die Individuen keinen Zugang zu „korrumpierenden“ Kopplungen wie den angeblich mächtigen Netzwerken haben? Der Fokus auf die „Korruption“ scheint nur den Wunsch zu befriedigen, die Grenze, die zwischen Inklusion und Exklusion in der Gesellschaft gezogen wird, als ein fernliegendes regionales Problem zu sehen. Denn schließlich ist Korruption, wie Luhmann selbst in seiner Analyse der Moral zeigt, ein Begriff, mit dem die Gesellschaft – vornehmlich durch die Massenmedien – Codesabotierungen zum Skandal macht und damit Exklusionen begründet. Sie 699

STICHWEH, Rudolf (2004): „Zum Verhältnis von Differenzierungstheorie und Ungleichheitsforschung: Am Beispiel der Systemtheorie der Exklusion“. In: SCHWINN, Thomas (Hg): Differenzierung und Soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt a. M.: Humanities Online, S. 362.

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ist also kein soziologischer Begriff, sie ermöglicht keine soziologische Beobachtung zweiter Ordnung. Der zweite von Stichweh genannte Mechanismus der Exklusion – die Entstehung von Instabilitäten – ist dagegen soziologisch interessanter. Die Frage aber, woraus die Instabilitäten, die die Exklusionen nach sich ziehen, entstehen, bleibt ohne Antwort. Man muss zunächst fragen, ob und wie die Exklusion aus bestimmten Funktionssystemen die Dominanz in der Erzeugung solcher Instabilitäten hat. Also: ob einigen Funktionssystemen ein größeres Exklusionspotenzial zugerechnet werden muss. Diesbezüglich hat bereits Robert Castel in der Prekarisierung von Erwerbsarbeit den Beginn eines Prozesses gesehen, der andere Exklusionen nach sich zieht; aber auch Luhmann sieht, ohne Konsequenzen daraus zu ziehen, „dass Arbeitslosigkeit den zumindest weitaus häufigsten Startpunkt solcher individuellen Abstiege darstellt“ 700. Das Wirtschaftssystem kann also, wie in der heutigen weltwirtschaftlichen Krise deutlich wird, wie kaum ein anderes Funktionssystem Instabilitäten erzeugen, die den Zugang zu anderen Funktionssystemen erschweren oder sogar unmöglich machen. Ebenso wie die Systemintegration (verstanden als die wechselseitige Freiheitseinschränkung zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen) in dem Sinne ökonomisch präformiert wird, dass die die teilsystemische Leistungsproduktion tragenden Organisationen wegen ihrer konstitutiven Geldabhängigkeit zu einer belastenden Geldabhängigkeit der anderen Funktionssysteme führen können (was ihre operative Autonomie drastisch einschränken kann, und zwar bis hin zu der Ersetzung der Orientierung der Leistungsproduktion am je eigenen Systemcode durch explizite Kostengesichtspunkten), wird auch die Sozialintegration (verstanden als Inklusion von Individuen in die Teilsysteme) ebenfalls ökonomisch präformiert: ein sicherer Arbeitsplatz, der Erwartungssicherheit in Bezug auf die Wiederherstellung von Zahlungsfähigkeit ermöglicht, ist Bedingung dafür, dass ökonomische Gesichtspunkte zugunsten der Orientierung an anderen Systemcodes neutralisiert werden. Das heißt, die Mitgliedschaft (als Mitarbeiter) in Organisationen, da sie die wichtigste Einkommensquelle geworden ist, wird zu einer notwendigen Bedingungen für die Inklusion in anderen Funktionssystemen. Das geteilte Haushaltseinkommen ist eine alternative Form der Herstellung von Zahlungsfähigkeit und sie ist entscheidend für die Inklusion von nicht erwerbstätigen Angehörigen in das Erziehungssystem, in das Gesundheitssystem usw. Dennoch ist die Familie selbst geldabhängig. Ihre Einkommensquelle ergibt sich aus der Arbeit, die wiederum von Organisationen abhängig ist 701. Diese Geldabhängigkeit kann, 700 SCHWIMANK, Uwe (2009): “Die Moderne: eine funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft”, S. 337. 701 „Man kann daran zeigen, dass die Abhängigkeit fast aller Funktionssysteme von Wirtschaft viel stärker ist, als oft angenommen wird [...], „Man könnte auch sagen: aller Funktionssysteme, wenn man zusätzlich die Abhängigkeit der Familie von Arbeit und der Arbeit von Organisation in Betracht ziehet.“. In: LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 322, FN. 30.

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wenn die Familie insgesamt zahlungsunfähig wird, auch zum Zerfall der Intimbeziehungen führen, sei es zwischen den Eltern, sei es zwischen ihnen und den Kindern. Die Dominanz der Wirtschaft in der Erzeugung von Instabilitäten, die den Individuen den normalen Zugang zu den meisten Funktionssystemen versperrt, ergibt sich aus ihrer spezifischen Funktion und aus den Folgeproblemen für andere Inklusionsverhältnisse, die durch die Nichterfüllung dieser Funktion ausgelöst werden. Funktion der Wirtschaft ist die Sicherstellung der Befriedigung künftiger Bedürfnisse unter Bedingungen von Knappheit 702 . Knappheit wird nicht als anthropologische Konstante angesehen, sondern als ein Bezugsproblem der Wirtschaft, das erst durch die generalisierte Suche nach und durch die ungleiche Verteilung von Zukunftssicherheit erzeugt wird. Das geschieht anhand einer Verdoppelung des Knappheitsproblems: Nicht nur Güter und Leistungen sind knappt, sondern auch das Geld, wobei die Preise die Beziehung zwischen den beiden Formen der Knappheit regulieren. Die Verteilung von Zukunftssicherheit erfolgt als Verteilung von Chancen der Herstellung und Wiederherstellung von Zahlungsfähigkeit. Dass das Versagen dieser Funktion die Teilnahme an anderen Funktionsbereichen verhindert, liegt nicht nur daran, dass Geld fast alles zu kaufen vermag und damit auch den Zugang zur Bildungsorganisationen, gesundheitlicher Behandlung, zu Anwälten etc. regulieren kann, sondern vor allem daran, dass den Psychen ohne die Dauerbefriedigung elementarer Bedürfnisse, die aufgrund der Zahlungsunfähigkeit unsicher wird, kein Selektionspotenzial zur Verfügung gestellt wird. Wenn solche elementare Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, werden sie „mit rücksichtloser Unmittelbarkeit handlungswirksam“ 703, mit der Folge, dass andere Verhaltensalternativen nicht in Frage kommen. Das bedeutet, dass die sichere Dauerbefriedigung dieser Bedürfnisse eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass Individuen auf Distanz zu ihnen gehen und sich von anderen Kommunikationsformen irritieren lassen. Die Funktionssysteme verfügen über Mechanismen, die die Interferenz organischer Prozesse regulieren. Luhmann nennt sie symbiotische Mechanismen. Sie sind „Einrichtungen des sozialen Systems, die es diesem ermöglichen, organische Ressourcen zu aktivieren und zu dirigieren sowie Störungen aus dem organischen Bereich in sozial behandelbare Form zu bringen“ 704. Ihre Hauptleistung besteht in der Kontingenzsetzung der organischen Prozesse bei der Annahme von Kommunikationsofferten, die auf symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien basieren d.h., darin, dass die organischen Prozesse als Bezugspunkt für solche Kommunikationsofferten fungieren, ohne dass sich diese Prozesse aktuell vollziehen müssen. Die Wirksamkeit dieser Mechanismen ist symbolisch inso702

Ibidem, S. 64 ff. LUHMANN, Niklas (1981): „Symbiotische Mechanismen“. In: Ders. Soziologische Aufklärung 3. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 235. 704 Ibidem, S. 230.

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fern, als die bloße Möglichkeit, dass die Ablenung bestimmter Kommunikationsofferten Konsequenzen für die organische Sphäre hat, die Annahme solcher Kommunikationsofferten motiviert. Die operative Autonomie der jeweiligen Funktionssysteme hängt auch davon ab, ob die Kontingenzsetzung solcher organischen Prozesse einen Spielraum für systeminterne Entscheidungen über die Aktualisierung des organischen Bezugs zulässt. So kann die bloße Möglichkeit der Anwendung physischer Gewalt als Machtgrundlage dienen, d.h. wenn der Politik zur Disposition steht, ob, wann und wozu sie benutzt wird. So nimmt Liebe Bezug auf mögliche sexuelle Beziehungen und überlässt es der Entwicklung von Liebesgeschichten, unter welchen Bedingungen diese Möglichkeit aktualisiert wird. Im Fall der Wirtschaft geht es um die Befriedigung elementarer Bedürfnisse durch Konsum. Damit sich die Benutzung von Geld an wirtschaftsinternen Kriterien orientiert, müssen die unmittelbaren Einwirkungen von elementaren Bedürfnissen auf die freie Verfügung der eigenen Zahlungsfähigkeit ausgeschaltet werden. Die Ausschaltung der laufenden Interferenz solcher Bedürfnisse lässt sich praktisch nur durch Sicherung ihrer Dauerbefriedigung erreichen, und erst recht auf der Grundlage einer solchen Ausschaltung entsteht die Möglichkeit zu wirtschaftlicher Rationalität und zu funktionaler Systemdifferenzierung der Gesellschaft 705. Zu fragen ist, warum funktionale Differenzierung insgesamt, und nicht nur die Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems, die Dauerbefriedigung elementarer Bedürfnisse zur Voraussetzung hat. Die Antwort, so die hier vertretene These, lautet: Weil individuelle psychische Systeme zwischen verschiedenen, funktional differenzierten Wertungen (Codierungen) nur dann oszillieren können, wenn es ihnen die Sicherheit hinsichtlich der Befriedigung elementarer Bedürfnissen erlaubt, sich bei nicht ökonomischen Kommunikationsformen von ökonomischen Gesichtspunkten zu distanzieren und auf das jeweilige funktionsspezifische Relevanzkriterium einzustellen. Das heißt auch, dass die Distanz zum Ökonomischen eine Bedingung für Entscheidungsfreiheit im Sinne der Wahrnehmung eines Horizonts von Möglichkeiten ist. Aber das heißt gerade nicht, dass diese Distanz eine rein psychische Operation ist. Sie ist auch als eine soziale Rekonstruktion von psychischen Operationen zu verstehen. Der ökonomische Diskurs begreift den homo oeconomicus als eine zivilisatorische Notwendigkeit, in dem Sinne, dass er der Ausgang aus dem Leben im Naturzustand, d. h. aus dem Leben ohne den Blick in die Zukunft, darstellst. Er ist eine Form der Subjektivierung und Adressenbildung, die Individuen eingeschränkte Verhaltensmöglichkeiten attribuiert. Attribuiert wird eben ökonomische Rationalität als diejenige „kognitive und moralische Fähigkeit […], die 705

Ibidem, S. 235.

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Zukunft in die Gegenwart aufzunehmen“ 706. Das Leben wird nach einer Werteskala codiert, in der die subjektive Fähigkeit, Objekte und Ziele, die nicht sofort zu haben sind, zu begehren, der positive Wert ist. Entscheidend ist hier, dass diese „affektive Modulation von Zukünftigkeit“ 707 nicht nur Bedingung einer anspruchsvollen Wohlstandsproduktion ist, sondern viel grundsätzlicher in den meisten Funktionssystemen als ein notwendiger Schritt einer Menschenwerdung vorausgesetzt ist. Wer sich von der Unmittelbarkeit der elementaren Bedürfnisse nicht distanzieren kann, dem wird auch diejenige Sozialität entzogen, die für den Menschen als Medium der Gesellschaft konstitutiv ist: Die grundlegende Fähigkeit, etwas in eine ferne Zukunft zu projizieren und hierbei die Gegenwart als Vorbereitung auf diese projizierte Zukunft zu erfassen. Diesbezüglich zeigte Bourdieu, wie die Unmöglichkeit dieser Distanz zur Unmittelbarkeit der elementaren Bedürfnissen einen „Habitus der Notwendigkeit“ erzeugt, der die Entwicklung der in anderen Gesellschaftsbereichen erforderlichen Verhaltensdispositionen blockiert. Die negative Bewertung des Fehlens dieser Verhaltensdispositionen lässt sich in der aktuellen öffentlichen Debatte über die Reproduktion von Armut in der Unterschicht, sei es in Deutschland, sei es in Brasilien, in der Betonung des fehlenden „Willens zum Aufstieg“ 708 der Unterprivilegierten beobachten. Der Fokus auf das Fehlen entspricht der Funktion von Moral in der funktional differenzierten Gesellschaft: Die Existenzweise von Individuen, die keinen Ausblick auf die Zukunft haben, zu missachten und die Individuen, die mit der Zukunft synchronisiert sind, von moralischen Urteile zu entlasten 709. Dabei spielt natürlich auch das Versagen des staatlichen Gewaltmonopols eine Rolle. Denn ohne die rechtstaatliche Ausschaltung der Anwendung von Gewalt wird das Individuum entweder auf die Suche nach Sicherheit des Körpers reduziert oder es muss sich mit Alternativen begnügen, die wie die Drogenmafia oder die Polizeimilizen in den Favelas den Zugang zu Funktionssystemen stark beschränken, wenn nicht unmöglich machen. Ergibt sich daraus eine räumliche Markierung von „Exklusionsbereichen“, so kommt es rasch dazu, daß vor allem die Organisationen im Hochleistungsbereich der Funktionssysteme innerhalb der ausgegrenzten Zonen kein Publikum mehr vorfinden, dem Inklusionschancen zugewiesen werden könnten. Wo aber Anknüpfungspunkte für die „Verwaltung“ der Zugänglichkeit von Funktionssystemen fehlen, gibt es kaum noch organisational betreute Kommunikation, weil es an erreichba-

706

TELLMANN, Ute (2008): “Figuren der Exklusion: das (nackte) Leben in der Ökonomie”, S. 286. Ibidem, S. 287. 708 So der ehemalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck in einem Interview. http://hahn.1on.de/archives/2006/10/C7.html. 709 „Es handelt sich eher um eine leere Skala der Subjektivierung, die durch die Verwerfung am unteren Ende und ihre Offenheit nach oben hin gekennzeichnet ist“, in TELLMANN, Ute (2008): „Figuren der Exklusion: das (nackte) Leben in der Ökonomie“, S. 289. 707

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ren Konsumenten, Schülern, Patienten, Wählern, Klägern und Beklagten, Lesern und oftmals auch Wohlfahrtsberechtigten und Gläubigen mangelt 710. Für die Gewalt oder für elementare Bedürfnisse gilt, dass ihre durch das Versagen der jeweiligen Funktionserfüllung ausgelöste unmittelbare Relevanz die Entscheidungsfreiheit der Individuen, ihre Fähigkeit zur Fernsynchronisation des Verhaltens und ihren Status als Medium der Gesellschaft vernichtet. Der Grund dafür ist, dass die unmittelbare Relevanz von Gewalt und elementaren Bedürfnissen eine Unfähigkeit zur Selbstkontrolle mit sich bringt. Erst wenn eine ausreichende Kontrolle organisch vermittelter Interferenzen auf alle Fälle gesichert erscheint, kann man eine Zukunft ins Auge fassen, die nicht bloße Kontinuität der Gegenwart mit unabsehbaren Überraschungen in Aussicht stellt, sondern einen strukturierten Horizont der Auswahl künftiger Gegenwarten anbietet, auf den hin man planen kann. Zwar bietet bereits die Generalisierung der Symbol-Codes die Chance größerer zeitlicher Reichweite von Kommunikationsprozesse; diese Chancen kann aber nur genutzt werden, wenn ein allzu direktes und folgenreiches Durchschlagen organischer Prozesse ausgeschlossen werden kann 711. Bei intergenerationaler Weitergabe von Exklusion mag es sein, dass die Exklusionskarrieren der Eltern die Plausibilität der Inklusionsansprüche, die die Schule in den Kindern zu wecken versucht, schon vor dem Schulbesuch untergraben. Der fehlende „Wille zum Aufstieg“ ist das Ergebnis einer resignierten Anpassung an die Lebenschancen, die das Beispiel der Eltern als plausibel erscheinen lässt. Es ist möglich und kommt vor, dass dieser Teufelskreis durchbrochen wird und dies muss in irgendeiner Form dazu führen, dass sich das Kind formen und erziehen lässt. Ferner gibt es viele Organisationen, die Inklusionsinteresse an dem „Exklusionsbereich“ haben: Religiöse Sekten, extreme politische Parteien, Organisationen des Terrors. Das gilt, wie in brasilianischen Favelas zu sehen ist, auch für Funktionssysteme wie die Politik und die Religion. Solche Organisationen und Funktionssysteme sind entscheidend dafür, dass die Sequenz von Ausschlüssen nicht fortgesetzt wird. Das ist nur möglich, weil diese sozialen Systeme Personen formen können, in der Art, dass die Inklusion, die die Individuen in diesen Systemen erleben, neue Selbsterwartungen erzeugen kann. Es geht, präziser gesagt, um eine neue Übereinstimmung zwischen Fremderwartungen, die das jeweilige soziale System an die Individuen richtet, und ihre Selbsterwartungen. So heißt es bei Stichweh bezüglich der Inklusion in Organisationen: „Man bekommt in den Organisationen Funktionen zugewiesen, man erfahrt, dass man in

710 KUHM, Klaus (2000): „Exklusion und räumliche Differenzierung“. In: Zeitschrift für Soziologie 29 (2000), S. 73-74. Für die brasilianischen Favelas muss man dennoch feststellen: Es mangelt an erreichbaren Gläubiger nicht. 711 LUHMANN, Niklas (1981): „Symbiotische Mechanismen“, S. 239-240.

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diesen Funktionen für andere wieder wichtig wird, und erlebt dies als die Rückgewinnung einer Handlungsfähigkeit 712“. Die wichtigste organisatorische Einrichtung, die der kumulativen Sequenz von Ausschlüssen entgegenwirkt, ist sicherlich der Wohlfahrtsstaat. Bis heute gibt es kein funktionales Äquivalent zu ihm, das die Inklusion von Individuen und Populationen in fast allen Funktionssystemen vermitteln könnte. Das hat damit zu tun, dass sich der Wohlfahrtsstaat auf die Semantik der Nation stützen kann (konnte?). Bei dieser Semantik geht es um ein „Wir“, deren „Einheit“ nicht in der Vergangenheit, sondern in einer gemeinsamen Zukunft gesucht wird. Zwar verspricht die Nation eine Inklusionsform, die die Gesamtperson umfassen soll 713 , was in einer funktional differenzierten Gesellschaft letztendlich unmöglich ist. Doch zugleich dient die nationale Zugehörigkeit als Legitimationsquelle für politische Programme der Inklusionsvermittlung, die die Kumulation von Exklusionen verhindern soll. Dazu gehört bekanntlich die Entwicklung der Bürgerrechte. Ungeachtet der Tatsache, dass es verschiedene Wohlfahrtsstaatsmodelle gibt, gilt, „dass es sich bei den Leistungen, die er anbietet, in vielen Fällen darum handelt, Schwierigkeiten der Inklusion in verschiedenen Funktionssysteme durch staatliche Angebote zu kompensieren oder aufzufangen“ 714. Nach all dem kann festgehalten werden, dass die kumulative Sequenz von Exklusionen (sowie die Unterbrechung dieser Sequenz), die sich aus der Reduktion der individuellen Person auf die Reduktionsperspektive eines einzelnen Funktionssystems ergibt, mit dem Begriff der operativ/strukturierten Ungleichheit beschrieben werden kann. Das ist deshalb möglich, weil der Angelpunkt dieses begrifflichen Vorschlags die temporalisierte, kontingente und systemspezifische Konstruktion und Rekonstruktion von Erwartungen über Inklusionschancen ist; und es ist genau diese systemübergreifende Dynamik von Konstruktion und Rekonstruktion von Inklusionserwartungen, die die Möglichkeit der Invisibilisierung der Kontingenz bestimmter Erwartungen und damit ihrer unproblematischen bzw. unproblematisierten Reproduktion mit einschließt, die den Lebenslauf von Personen zum Medium der Gesellschaft macht. Erwartungsstrukturen, die in einem System als Form fungieren, indem sie seine Operationen orientieren, können auch als Medium für die Konstruktion von Formen in anderen Systemen dienen. So wird das im Elternhaus erworbene bzw. inkorporierte Wissen, das für das Familiensystem eine Form ist, in der Schulorganisation als Medium zur Erzeugung anderer Formen genutzt. Wenn man, wie Luhmann nahelegt, den Lebenslauf durch dieses Medium/Form Schema beo712

STICHWEH, Rudolf (2004): „Zum Verhältnis von Differenzierungstheorie und Ungleichheitsforschung: Am Beispiel der Systemtheorie der Exklusion“, S. 359. 713 NASSEHI, Armin (1999): Differenzierungsfolgen. Beiträge zur Soziologie der Moderne. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 157 ff. 714 STICHWEH, Rudolf (2004): „Zum Verhältnis von Differenzierungstheorie und Ungleichheitsforschung: Am Beispiel der Systemtheorie der Exklusion“, S. 363-364.

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bachtet, dann bedeutet dies: die Formbildung, die einer systemspezifischen Inklusion von Individuen in einer frühen Lebensphase entspricht, wird zur Voraussetzung für die Konstruktion weiterer Formen bzw. Inklusionen, indem sie in einer späteren Lebensphase von anderen Sozialsystemen als Medium angenommen wird. Individuelle Personen, deren Lebenslauf sich für diese dynamische Bildung und Auflösung von Formen nicht eignet, sind also in dem Sinne exkludiert, dass sie für die meisten Funktionssystemen keine operative Bedeutung haben. Sie wirken nicht strukturierend; sie werden nur als eine Bedrohung wahrgenommen, die außerhalb ihrer operativen Möglichkeiten verortet werden muss.

4.9 Exklusion und der Primat funktionaler Differenzierung Schließlich soll hier, bevor wir uns mit der Analyse des Exklusionsphänomens in Brasilien befassen, der Frage nachgegangen werden, ob die Existenz von Exklusion, so wie sie hier umgedeutet wurde, die These des Primats funktionaler Differenzierung – verstanden als die selbstverständliche Reproduktion der Differenziertheit der für die Funktionssysteme konstitutive Leitunterscheidungen – widerspricht. Luhmann legt eine positive Antwort nahe: Es versteht sich von selbst, dass die funktionale Differenzierung ihren Exklusionsbereich nicht ordnen kann, obwohl sie sich auf Grund ihres gesellschaftsuniversalen Selbstverständnisses auch auf ihn erstreckt [...] Diese Logik der funktionalen Differenzierung gerät aber in Widerspruch zu den Tatsachen der Exklusion. [...] Ihre Codes gelten und gelten nicht in derselben Gesellschaft. Und daraus kann man [...] den Schluss ziehen, dass die Gesellschaft durch die Unterscheidung von Inklusion (mit loser Integration) und Exklusion (mit fester Integration) ‚supercodiert’ ist und man sich faktisch zunächst immer erst an diesem Unterschied orientieren muss, wenn man sich zurechtfinden will 715. Dass es einen Widerspruch zwischen der funktionalen Differenzierung und der Existenz von Exklusion gibt, ist nicht zu bestreiten. Zu fragen ist aber, ob dieser Widerspruch als solcher in Erscheinung treten würden, wenn die Individuen, die auf dem Bildschirm der Funktionssysteme als „bloße Körper“ auftauchen, nicht von dem Primat der funktionalen Differenzierung her beobachtet und bewertet würden. Die These lautet nun, dass die Negation des Personstatus dieser Individuen nur möglich ist, da die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Differenziertheit der funktionsspezifischen Codes reproduziert, ein Grenzregime herstellt, das die als Medium der Gesellschaft nicht geeigneten Individuen als „Körper“ klassifiziert. Da die zur Selbstverständlichkeit gemachte funktionale Diffe715

LUHMANN, Niklas (1995): „Inklusion und Exklusion“. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 6. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 260.

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renzierung also nur Individuen als Personen bezeichnet und inkludiert, die über Entscheidungsfreiheit, Selbstkontrollfähigkeit und ein differenziertes Unterscheidungsvermögen verfügen, werden diejenigen, die diese Anforderungen nicht erfüllen, als „Körper“, und nicht als Person anderer Art, bezeichnet. Dabei hat das Grenzregime die Funktion, Individuen danach zu klassifizieren, ob sie als Umwelt der Funktionssysteme die Bedingungen funktionaler Differenzierung durch die Aktualisierung und Virtualisierung ihrer Verhaltensmöglichkeiten reproduzieren oder nicht. Wenn sie diese verhaltensbezogenen Bedingungen erfüllen, werden sie in den Funktionssystemen als Person bezeichnet und nach dem funktionsspezifischen Relevanzkriterium inkludiert, wobei die Verteilung der teilsystemischen Codewerte nach systeminternen Programmen geregelt wird – was die Produktion und Reproduktion von Ungleichheiten, wie gesehen, nicht ausschließt. Wenn sie diese Bedingungen nicht erfüllen, werden sie als “bloße Körper“ bezeichnet und exkludiert, wobei das Individuum einer negativen moralischen Missachtung seiner ganzen Person unterworfen wird, die die systeminternen Programme ersetzen. Dieses Grenzregime, auf das die Funktionssysteme angewiesen sind, um zwischen Person und Körper zu unterscheiden, fungiert als ein erster Selektionsvorgang, der bestimmt, wann die Funktionssysteme ihre Codewerte autonom nach internen Programmen zuordnen und wann sie heteronom ein (moralisches) Urteil über die individuelle Person als ganze in Anspruch nehmen müssen. Das bemerkte Luhmann intuitiv: Das reichlich verfügbare Material legt den Schluss nahe, dass die Variable Inklusion/Exklusion in manchen Regionen des Erdballs drauf und dran ist, in die Rolle einer Meta-Differenz einzurücken und die Codes der Funktionssysteme zu mediatisieren. Ob die Unterscheidung von Recht und Unrecht überhaupt zum Zuge kommt und ob sie nach rechtssystemimmanenten Programmen behandelt wird, hängt dann in erster Linie von einer vorgängigen Filterung durch Inklusion/Exklusion ab 716.

716

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 632.

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5 Exklusion in Brasilien In diesem letzten Kapitel soll das Exklusionsphänomen in Brasilien analysiert werden. Die Grundthese lautet, dass der Entzug des Status einer sozialen Person, der durch die Kumulation von Exklusionen geschieht, den Übergang zum Primat funktionaler Differenzierung voraussetzt. Da Exklusion ihren sozialen Sinn und somit auch ihre soziale Existenz als Abweichung von der normativen Erwartung auf Vollinklusion erhält, kann sie nur in einer Gesellschaft als Problem erscheinen, die auf diese Norm eingestellt ist. Das heißt konkret: in Gesellschaften, deren primäre Differenzierungsform auf die ontologische Klassifizierung von Menschen verzichten kann. Die Norm der Vollinklusion fungiert einerseits als eine kontrafaktische Form der Gesellschaftsbeobachtung, die die Kritik und die Politisierung vorliegender Asymmetrien und Exklusionen erst ermöglicht. Andererseits reflektiert sie in der Form positivierter Grundrechte eine normative Definition des Menschen, die der funktionalen Differenzierung zugrunde liegt und die als Maßstab für den Entzug des Personstatus dient: der Mensch als eine Individualitätsform, die sich nach den teilsystemspezifischen Relevanzkriterien entfaltet und die sich dabei auf kein funktionales Kriterium reduzieren lässt. Wie wir im Fall Brasiliens sehen werden, besteht der Zusammenhang zwischen der Kumulation von systemspezifischen Exklusionen und dem Entzug des Status einer sozialen Person darin, dass diese Kumulation eben die Reduktion des Individuums auf eine einzige soziale Systemreferenz impliziert.

5.1 Der Übergang zu funktionaler Differenzierung in Brasilien In diesem Abschnitt wird der Übergang zum Primat funktionaler Differenzierung in Brasilien erörtert werden. Die These ist, dass dieser Übergang nicht als interne Entwicklung bzw. Ausdifferenzierung von Funktionssystemen verstanden werden darf, sondern als globale Expansion der funktional differenzierten Gesellschaft. Bei dieser Expansion geht es sowohl um die faktische Herstellung teilsystemspezifischer kommunikativer Anschlüsse, die das soziale Geschehen vom politischen System über das Wirtschaftssystem bis hin zu Intimbeziehungen in dem neu gegründeten Land umfassen, als auch um die Integration über die laufende Produktion von Selbst- und Fremdbeschreibungen, die die Verwirklichung funktionaler Differenzierung in Brasilien in Vergleich mit den europäischen und usamerikanischen Erfahrungen setzen. In diesem Kontext gewinnen die landesinternen sozialen Bedingungen – vor allem die Sklaverei und ihr „Erbe“ - durch die Vergleichszusammenhänge, die sich in unterschiedlichen Funktionsbereichen entwickeln, eine neue Bedeutung. Sie werden zu Faktoren der sozialen Exklusion: Ehemalige Sklaven, formal freie Abhängige, und ihr Nachwuchs werden aus 253

stabiler Teilnahme an politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, erzieherischen und sogar an Intimbeziehungen ausgeschlossen. Die klassischen (soziologischen und vorsoziologischen) Interpretationen 717 , die Brasilien als eine traditionelle Gesellschaft beschreiben, gehen davon aus, dass unsere traditionelle bzw. vormoderne gegenwärtige Gesellschaft Ergebnis der internen Entwicklung eines iberischen Kulturkreises ist. Die vor 500 Jahren aus Portugal importierte Tradition des Personalismus und Patrimonialismus sei zu einer nationalen Kultur geworden, die den Übergang zur Moderne trotz aller Versuche, moderne Institutionen formal funktionieren zu lassen, bis heute verhindert. Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, d. h. vor den modernisierungstheoretischen Studien über die traditionsbedingten Hindernisse der Modernisierungsprozesse in „nicht-westlichen Gesellschaften“, entwickelte sich in Brasilien also eine intellektuelle Tradition, die die Welt und das Land durch die Unterscheidung von traditionell/modern beobachtet. Die Überwindung von traditionellen Strukturen und der Übergang zur Moderne sind dementsprechend als Probleme der internen Entwicklung eines geschlossenen Kulturkreises konzipiert. Jessé Souza kritisiert diese Tradition scharf. Er vertritt zwei grundlegende Thesen, von denen die erste davon ausgeht, dass nicht ein geschlossener Kulturkreis im Sinne der großen Weltreligionen das Erbe der Kolonialgeschichte ist, sondern die Produktion einer „strukturellen Unterklasse“, die sich aus dem „menschlichen Erbe“ der Sklaverei zusammensetzt. Die zweite These lautet, dass der Übergang zur Moderne nicht als eine Frage der internen Entwicklung interpretiert werden kann, sondern als eine Ausbreitung von modernen Institutionen (kapitalistischer Markt, bürokratischer Staat, Öffentlichkeit) in der Peripherie des Westens. Für die Analyse des Übergangs zum Primat funktionaler Differenzierung in Brasilien ist vor allem diese zweite These von Bedeutung. Bei der Betrachtung der lateinamerikanischen Länder durch die Brille der Theorie funktionaler Differenzierung soll es nicht darum gehen, nach einer internen Umstellung vom Primat der Schichtung auf einen Primat funktionaler Differenzierung zu suchen, sondern um die Frage, wie diese Länder in eine bereits funktional differenzierte Weltgesellschaft integriert werden. In diesem Sinne kann unsere Rekonstruktion des Übergangs zur funktionalen Differenzierung in Brasilien – ein Nationalstaat, der, wie alle anderen modernen Nationalstaaten, sich eben durch seine Gründung in das segmentär binnendifferenzierte weltpolitische System integriert – dazu dienen, die funktional differenzierte Gesellschaft in ihrer Ausweitung über Europa hinaus zu analysieren. Wie Tobias Werron 718 erläutert, konzentrierte sich die systemtheoretische Weltgesellschaftsforschung bisher fast ausschließlich auf 717 Vgl. für einen kritischen Überblick dieser Tradition. SOUJA, Jesse (2000): A modernização seletiva: uma reinterpretação do dilema brasileiro. Brasília: Ed.UnB. 718 WERRON, Tobias. Publika (2007): „Zur Globalisierungsdynamik von Funktionssystemen“. In: Soziale Systeme 13 (2007), S. 382.

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„Umstellungsstudien“, welche die funktional differenzierte Gesellschaft nur in ihrer historischen Entstehung in Europa zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert beschreiben, sodass ein Defizit an „Expansionsstudien“ entstand, welche die Globalisierungsprozesse der Funktionssysteme, d. h. ihre Ausbreitung in andere Weltregionen insbesondere für das 19. und 20. Jahrhundert in den Mittelpunkt stellen 719. Zwar wird hier keine ausführliche Rekonstruktion des Übergangs zur funktionalen Differenzierung in Brasilien unternommen, doch ist unsere Analyse des Exklusionsphänomens nur möglich, wenn wir die Bedingungen berücksichtigen, unter denen die Transformation des sozialen Lebens der portugiesischen Kolonie durch die strukturelle und die semantische Integration in die funktional differenzierte Gesellschaft zur Produktion und Reproduktion sozialer Existenzbedingungen geführt hat und die die Entwicklung der für die Inklusion in den verschiedenen Funktionssystemen und in den mit ihnen identifizierten Organisationen 720 erforderlichen Verhaltensweisen blockieren. Wir werden den Übergang und die Evolution der funktional differenzierten Gesellschaft in Brasilien im Hinblick auf die damit einhergehende gesellschaftliche Konstruktion des Exklusionsphänomens analysieren. Die Integration Brasiliens in die moderne Gesellschaft ist eine Integration in die sich ausweitende europäische bzw. nordamerikanische Moderne. Obwohl die Bevölkerung, vor allem die ländliche Bevölkerung, in ihrer Mehrheit fast bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keinen stabilen Kontakt mit den Funktionssystemen hatte, war ihre Lebenslage bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch funktionssystemspezifische Kriterien beobachtet und klassifiziert. Wenn sich die Moderne nicht schon durch direkte Vernetzung mit Organisationen, die Personen anhand funktionsspezifischer Kriterien klassifizieren, durchsetzte, so doch zumindest durch Fremdbeschreibungen, in denen die aufgrund ihrer Exklusion von Organisationen kommunikativ unerreichbaren Populationen durch die teilsystemischen Codes als „krank“, „ungebildet“, „unproduktiv“, „kriminell“ usw. klassifiziert wurden. In dem Maße, in dem die in wichtigen Städten wie Rio de Janeiro, Salvador, Recife und São Paulo aufsteigenden Individuen und Bevölkerungsgruppen ihren sozialen Aufstieg der Inklusion (als Publikumsrollen und/oder Leistungsrollen) in ausdifferenzierten Funktionssystemen (Wirtschaft, Politik, Recht, Erziehung, Kunst, Gesundheit) verdankten, entstehen nun gänzlich moderne Formen der sozialen Ungleichheit: Ungleichheiten, die durch 719

In der Weberschen Tradition plädiert Thomas Schwinn für eine Umstellung der primären Forschungsfrage von der historischen Entstehung der Moderne im Westen auf ihre aktuelle Ausbreitung in anderen Regionen der Welt. SCHWINN, Thomas (2004): „Von der historischen Entstehung zur aktuellen Ausbreitung der Moderne“.In: Berliner Journal für Soziologie 14 (2004), S. 527-544. 720 TACKE, Veronika (2001): “Funktionale Differenzierung als Schema der Beobachtung von Organisationen. Zum theoretischen Problem und empirischen Wert von Organisationstypologien“. In: Veronika Tacke (Hg): Organisation und gesellschaftliche Differenzierung. Opladen: Westdeutscher Verlag, S 141-169.

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Positionen in Organisationen, durch bessere bzw. schlechtere Vorbereitung auf eine offene Zukunft bzw. auf Kontingenzen und durch den Zugang zu teilsystemspezifischen Ressourcen (Geld, Macht, Bildung) charakterisiert werden. Entscheidend dabei ist, dass der Sinn solcher Ungleichheiten (ebenso wie der Sinn des Exklusionsphänomens) im Rahmen teilsystemspezifischer Vergleiche hergestellt wird: Wirtschaftliche Ungleichheiten gibt es nur, wenn sich Individuen unter dem Gesichtspunkt ihrer Zahlungsfähigkeit bzw. ihres Potenzials zur Produktion und Regenerierung von Zahlungsfähigkeit mit anderen vergleichen oder verglichen werden. Das bedeutet, dass Integration in die moderne funktional differenzierte Gesellschaft nicht nur durch faktische Inklusion der Bevölkerung in die Funktionssysteme geschieht, sondern auch durch Formen der Fremd- und Selbstbeschreibung, die Lebenslage im Rahmen teilsystemischer Kriterien (Programme) und Codes vergleichen und klassifizieren. In Anknüpfung an den Vorschlag von Tobias Werron und Bettina Heintz 721 kann man nicht nur die landesinternen Ungleichheiten als sinnhafte Ergebnisse teilsystemischer Vergleichsoperationen interpretieren, sondern auch die Integration des Landes in die funktional differenzierte Gesellschaft selbst. Damit wird zugleich über die Dichotomie intern/extern hinausgegangen. Diese Integration Brasiliens in die Moderne ist als ein Ergebnis der Globalisierung der Funktionssysteme zu verstehen. Anders als Luhmann gehen Werron und Heintz davon aus, dass die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen nicht zwangsläufig zu der Herausbildung einer globalen Gesellschaftsordnung führt. Das Potenzial zur räumlichen Expansion von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst, Sport und anderer Teilsysteme ist ein historisch kontingenter Aspekt funktionaler Differenzierung. Eine Globalisierung dieser Differenzierungsform ist sehr unwahrscheinlich. Daher muss nach den Schwellenbedingungen gefragt werden, die gegeben sein müssen, damit sich globale Dynamiken entfalten können. Die Autoren unterscheiden zwischen einem „faktischen Globalisierungsprozess“ – im Sinne einer räumlich verstandenen weltweiten Ausdehnung – und potenziellen Globalisierungsdynamiken, die die vergleichende Beobachtung funktionsspezifischer Ereignissen aus lokalen Entstehungsbedingungen herauslösen und potenziell globale Vergleichshorizonte für die Funktionssysteme schaffen: Wir konzentrieren uns auf diese zweite Seite der Globalisierung und vertreten die These, dass sich vor allem über Vergleiche, und damit meinen wir immer kommunizierte Vergleiche, realisiert. Ein Beispiel dafür sind Hochschulrankings, die alle Universitäten der Welt zueinander in Beziehung setzen, ohne dass diese untereinander notwendig strukturell vernetzt sind. Vergleiche verstehen wir als Beobachtungsinstrumente, die zwischen Einheiten (z. B. Perso721

HEINTZ, Betina/WERRON, Tobias (2011): „Wie ist Globalisierung möglich? Zur Entstehung globaler Vergleichshorizonte am Beispiel von Wissenschaft und Sport“. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 63 (2011), S. 359-394.

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nen, Staaten oder Organisationen) oder Ereignissen (z. B. Zitationen, sportlichen Wettkämpfen oder Kunstausstellungen) eine Beziehung herstellen. Sie beruhen einerseits auf die Annahme, dass die verglichenen Einheiten in mindestens einer grundlegenden Hinsicht gleich sind (Herstellung von Vergleichbarkeit), und setzt anderseits ein Vergleichskriterium voraus, dass (sic) die Verschiedenheit des (partiell )Gleichen beobachtbar macht 722. Die These von Heinz und Weron ist, dass faktische Globalisierungsprozesse nur eintreten können, wenn sich die lokale Produktion von funktionsspezifischen Ereignissen bzw. lokal operierenden sozialen Einheiten an überlokalen Horizonten orientieren, in denen ihr Sinn durch überlokale Vergleichszusammenhänge bestimmt wird. Entscheidend ist, dass die Produktion von Ereignissen und die Operationen sozialer Einheiten in diesen überlokalen Vergleichszusammenhängen auf ein anonymes Publikum Bezug nehmen, das potenziell die gesamte Welt umfassen kann. Die Möglichkeitsschwelle zwischen lokal bzw. national limitierten und potenziell globalen Formen der funktionalen Differenzierung wird durch die „Einrichtung öffentlicher Vergleichsdiskurse überwunden“ 723. Das heißt, dass die Globalisierung der Funktionssysteme wahrscheinlich wird, wenn der Sinn (die Anschlussfähigkeit) funktionsspezifischer Ereignisse (Zahlungen, Rechtsentscheidungen, politischen Entscheidungen, sportliche Wettbewerber, Forschungsergebnisse etc.) und der Sinn der Operationen der sozialen Einheiten, denen die Produktion dieser Ereignisse zugerechnet wird, auch durch vergleichende (evaluierenden, kritisierenden etc.) Kommunikationen bestimmt werden, die von einem unbekannten und räumlich nicht begrenzbaren Publikum hergestellt werden. Damit teilsystemspezifische Vergleiche in solche öffentlichen Kommunikationsformen gebracht werden, müssen Innovationen erzeugt werden, die die Stabilisierung der Erwartungen auf überlokale bzw. öffentliche vergleichende Kommunikation erlauben. Werron und Heintz erkennen drei Bedingungen für diese Stabilisierung, die in einem zirkulären Zusammenspiel stehen: 1) die kontinuierliche Produktion öffentlicher Vergleichsereignisse, „denn nur dann kann kontinuierlich verglichen und zwischen unterschiedlichen Vergleichsresultaten differenziert werden“ 724; 2) die Herstellung von Vergleichbarkeit dieser Vergleichsereignisse jenseits ihrer lokalen Entstehungskontexte […], denn nur was unter bestimmten Gesichtspunkten plausibel als gleich beschrieben werden kann, kann unter anderen Gesichtspunkten plausibel als ungleich beschrieben werden“ 725 ; und schließlich 3) „Die Etablierung von Vergleichskriterien […], die die Ereignisse in einen übergreifenden Vergleichszusammenhang integrieren“ 726. 722

Ibidem, S. 361-362. Ibidem, S. 365. 724 Ibidem. 725 Ibidem. 726 Ibidem. 723

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Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die drei Bedingungen für die Entstehung überlokaler (potenziell globaler) Vergleichszusammenhänge von der durch Vermehrung von Organisationen vorangetriebenen Komplexitätssteigung bzw. Binnendifferenzierung der Funktionssysteme abhängig ist. In der Wissenschaft z. B. konnten die lokale gemeinsame Wahrnehmung und die soziale Glaubwürdigkeit des Autors als Kriterien (Programme) für das Entscheiden über die Gültigkeit von Wahrheitsansprüchen erst dann überwunden werden, als Organisationen (Laboratorien, Forschungsinstituten) entstanden, die die laufende Produktion von vergleichbaren Forschungsergebnissen, die Vergleichbarkeit dieser Ergebnisse durch Standardisierung von Messverfahren und durch Normierung der Mitteilungskomponente der wissenschaftlichen Kommunikation (Fabriken von Messinstrumenten, staatliche Vereinheitlichung von Messeinheiten, Quantifizierung und Formalisierung der wissenschaftlichen Mitteilungsform) sowie die Generalisierung von Vergleichskriterien wie empirische Bestätigung, methodologische Systematisierung, und Konsistenz der theoretischen Argumentation (Universitäten, Forschungsinstitute, die wissenschaftliche Programme entwickeln) sicherstellten. Damit diese organisationsbedingten Veränderungen zu der Entstehung eines überlokalen Vergleichszusammenhangs führen konnten, musste außerdem ein Verbreitungsmedium geschaffen werden, welches ebenfalls nur durch ihre organisatorische Einbettung zur Herstellung von Vergleichskommunikationen beitragen konnte: „Die disziplinäre Zeitschrift, die Forschungsresultate einem potenziell weltweiten und im Einzelnen unbestimmten Publikum zugänglich macht“ 727. Demnach ist die Emergenz globaler Gesellschaftsordnungen also auf Organisationen angewiesen, die durch eine laufende Produktion von Vergleichsereignissen, die Herstellung von Vergleichbarkeit zwischen ihnen und die Generalisierung von Vergleichskriterien die Überwindung räumlicher Grenzen der Kommunikation erlauben. Trotz dieser Organisationsabhängigkeit sind teilsystemspezifische Vergleichszusammenhänge, in denen Fremd- und Selbstbeschreibungen aneinander – sei es durch Konflikte, sei es durch Kooperationen – anschließen, Globalisierungsmechanismen eigener Art und stehen in einem komplementären Verhältnis zu einer Globalisierung via Vernetzung: Vergleiche können globale Zusammenhänge stiften, unabhängig davon, ob Kontakte und Kontaktketten bestehen oder nicht. Es handelt sich um einen Horizont möglicher Relationierungen bzw. Anschlüsse zwischen von unbekannten sozialen Adressen hergestellten (ihnen zugerechneten) und räumlich bzw. zeitlich fernliegenden Kommunikationen. Für die Wissenschaft genügt es z. B. „wenn der Anspruch und die Möglichkeit vorhanden sind, die eigene Forschung auf andere Forschungsarbeiten zu beziehen, unabhängig davon, wo, wann und von wem diese produziert wurden“ 728. Entscheidend ist, 727 728

Ibidem, S. 371. Ibidem, S. 367. Hervorhebung der Autoren.

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dass dieser Horizont möglicher Relationierungen auf die Strukturierung (d. h., auf die selektive Relationierung) der Systemoperationen einwirkt: Indem die Herstellung von überlokalen Vergleichszusammenhängen das Monopol der Interaktion unter Anwesenden als einzige Form der jeweiligen systemspezifischen Kommunikationen durch die Möglichkeit der anonymen Kommunikation auflöst, löst sie diese Kommunikationen aus ihren Entstehungskontexten heraus, sodass die Systemoperationen zunehmend auf Bildung von Erwartungen über die vergleichenden Kommunikationen des anonymen Publikums angewiesen sind. Die Orientierung an einem Publikum, das kommunikative Ereignisse bewertend, kritisierend miteinander vergleicht, führt dazu, dass die Antizipation seiner Reaktionen zu einer der wichtigsten kommunikativen Ressourcen wird, was wiederum impliziert, dass die kommunikative Praxis auf eine Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung umgestellt wird 729: vergleichende Kommunikationen nehmen Bezug auf andere Kommunikationen desselben Funktionssystems, indem die Beobachtung der Beobachtungen anderer und die damit einhergehende Situierung eigener Kommunikation (Forschungsergebnisse, wirtschaftliche Transaktionen, politische Entscheidungen) im Lichte anderer Kommunikationen desselben Typs zu einer unausweichlichen Operationsweise wird, ohne die die Bildung von Erwartungen über die eigenen Kommunikationschancen nicht erfolgreich geschehen kann. Anders gesagt: Erst als Beobachtung zweiter Ordnung, wie die Tabellenstände im Sportsystem und die Hochschulrankings im Wissenschaftssystem zeigen, wird die gleichzeitige Leistungskonkurrenz auch zwischen Abwesenden möglich 730. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen Werron und Heintz zufolge potenziell globale Vergleichszusammenhänge, die die Stabilisierung von Erwartungen auf Kommunikation und damit auch auf Leistungskonkurrenz unter Abwesenden in verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen ermöglichen. Interessant an dem Vorschlag von Werron und Heintz ist vor allem, dass sie den Begriff der Weltgesellschaft als den Horizont aller erreichbaren (anschlussfähigen) Kommunikation durch weitere theoretische Instrumente präzisieren, wodurch auch empirische Rekonstruktionen und Überprüfungen von Globalisierungsprozessen erlaubt werden. Es gibt weltgesellschaftliche Funktionssysteme, wenn ihre Ereignisse sowie die Einheiten (vor allem Organisationen), die sich mit ihnen identifizieren 731, auf einen konstitutiven Möglichkeitssinn 732, der über jeden lokalen Anschluss hinausgeht, Bezug nehmen: „Denn es ist ein immanen729

Ibidem, S. 375, 378. Ibidem, S. 381. 731 TACKE, Veronika (2001): “Funktionale Differenzierung als Schema der Beobachtung von Organisationen. Zum theoretischen Problem und empirischen Wert von Organisationstypologien“, S 141169. 732 HEINTZ, Betina/WERRON, Tobias (2011): „Wie ist Globalisierung möglich?“, Hervorhebung der Autoren, S. 383. 730

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ter Aspekt dieser Logik, sich letztlich auch die ganze Welt als einen Leistungsvergleichshorizont vorzustellen“ 733 . Das Kriterium ist also nicht die Existenz grenzüberschreitender Kommunikationen – was sicherlich keine moderne Errungenschaft ist –, sondern die Entstehung einer auf vergleichender Kommunikation unter Abwesenden basierten Expansionslogik, die Grenzen bereits dadurch überschreitet, dass sie die Anschlussmöglichkeiten von Kommunikation auf einen anonymen und öffentlichen Vergleichszusammenhang umstellt, in dem die wechselseitige Bezugnahme zwischen einzelnen kommunikativen Ereignissen (Erreichbarkeit) jenseits jeder räumlichen Grenze als möglich erscheint. Auch für das Wirtschaftssystem gilt, dass Globalisierung nicht allein durch die Existenz einer Vernetzung von lokalen Ereignissen 734 vorkommt, sondern nur durch die Entstehung und die Stabilisierung von Erwartungen auf überlokale, potenziell weltweite kommunikative Anschlüsse, die durch lokale Ereignisse erreicht werden können: Folgt man unserem Modell, müssten sich globale Märkte generell in einem Zusammenhang aus öffentlichem Vergleichsdiskurs […], Produktion von Vergleichsereignissen ( hier Angebote und Transaktionen zu bestimmten Preisen), Herstellung von Vergleichbarkeit (Produktionsstandards wie „Währungen“) und generalisierten Vergleichskriterien (Währungskurse und anderen preisbildende Informationen) formieren […] Die bestehenden Hinweise legen die Vermutung nähe, dass sich globale Märkte ähnlich wie moderne Sportarten erstmals zwischen den 1860er und 1880er Jahren formiert haben, als der sogenannte Weltverkehr (insbesondere die Telegraphie) die Voraussetzungen für die Unterstellbarkeit gleichzeitiger Informiertheit anonymer Markteilnehmer geschaffen haben 735. Dieser Vorschlag ist für die Analyse des Übergangs zur funktionalen Differenzierung in Brasilien deshalb interessant, weil die dort seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beobachtende Ausdifferenzierung funktionsspezifischer Kommunikationen ohne den Bezug auf überlokale Vergleichszusammenhänge nicht zu verstehen ist. Auch und gerade die Bezeichnungen wie „Unterentwicklung“ oder „Peripherie“, mit denen die Besonderheit des Landes – sei es in den Sozialwissenschaften, sei es in den öffentlichen Diskursen oder Reflexionen über Probleme bestimmter Funktionssysteme (vor allem in der Wirtschaft, im Recht und in der Politik) – thematisiert wird, ist nur innerhalb von Vergleichszusammenhängen möglich. Die Unterscheidung zwischen „Entwicklung“ und „Unterentwicklung“ – welcher wissenschaftliche Wert auch immer ihr zugerechnet wird – ist beispielsweise nur möglich, wenn wirtschaftliche, politische und rechtliche Ereignisse bzw. Einheiten der „unterentwickelten Länder“ mit denen der „entwi733

Ibidem, S. 382. Wie Grenzüberschreitender Handelsbeziehungen, die Autoren wie Wallerstein veranlassen, spätestens seit dem 16. Jahrhundert von einem Weltsystem zu sprechen. 735 Ibidem, S. 386.

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ckelten“ Länder verglichen werden. Die Dependenztheorie hat die Gültigkeit der Wahrheitsansprüche dieser Unterscheidung bekanntlich dadurch kritisiert, dass sie die paradoxe Einheit („Die Entwicklung der Unterentwicklung“) 736 der Unterscheidung und ihren ideologischen Charakter sichtbar gemacht hatte. Aber die Einführung neuer, angeblich wissenschaftlich korrekterer Unterscheidungen (vor allem: „Zentrum und Peripherie“) zeigt, dass Vergleiche zwischen historischen Erfahrungen bezüglich der Realisierung funktionaler Differenzierung mehr bedeuten als auf (politische, ökonomische oder „kulturelle“) Kolonialinteressen reduzierbare Operationen. Wie oben dargestellt wurde, ist die Bestimmung der „individuellen Identitäten“ in einer funktional differenzierten Gesellschaft auf Vergleiche zwischen Lebensstilen, Individualitätsmustern, Lebenschancen usw. angewiesen. Das gilt auch für soziale Einheiten und Systeme wie die Nationalstaaten. Die vormoderne portugiesische Kolonie war, Souza 737 zufolge, eine durch die Institutionen der patriarchalischen Familie und der Sklaverei gekennzeichnete Gesellschaft. Im Rahmen der Luhmannschen Systemtheorie könnte man die Hypothese aufstellen, sie sei eine vormoderne Peripherie gewesen, in der das Schichtungssystem des sie kolonisierenden Zentrums anderen Differenzierungsformen mehr Spielraum gewährte. Das ist aber nicht der Gegenstand dieser Arbeit. Es interessiert die Frage, wie die koloniale Vergangenheit – vor allem die Sklaverei – im Übergang zu moderner Gesellschaft zur Konstruktion des Exklusionsphänomens beigetragen hat. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gab es einige „Großereignisse“, die sich aneinander anschlossen und die portugiesische Kolonie in funktionsspezifische Vergleichszusammenhänge und somit auch in die funktional differenzierte Gesellschaft integrierten. Nach Souza 738 kann das Jahr 1808 als der eigentliche Wendepunkt gelten, ab dem die urbanen Lebensformen und die „europäischen Werte“ den ländlichen Patriarchalismus als Hauptquelle des sozialen Prestiges und der Anerkennung schnell ersetzten. Zwei Ereignisse waren dabei entscheidend: Die Ankunft des portugiesischen Königs João VI samt seines Hofstaats sowie die Öffnung der Häfen, die das Handelsmonopol der kolonialisierenden Metropole beseitigte. Infolge der Kriege zwischen dem napoleonischen Imperium und dem Britischen Reich – dem damaligen größten Handelspartner Portugals –, welche auf die Eroberung Lissabons durch Napoleon hinausliefen, musste der König nach Brasilien fliehen, wo in Rio de Janeiro schließlich ein neuer Regierungssitz gegründet wurde. Die Wichtigkeit der Ankunft des Königs lag darin, dass mit 736

FRANK, André Gunder et al (1969): Kritik des burgerlichen Anti-Iperialismus. Entwicklung der Unterentwicklung . Acht Analysen zur neuen Revolutionstheorie in Lateinamerika, hg. v. Bolivar Echeverria und Horst Kurnitzky, Berlin: Wagenbach. 737 SOUZA, Jessé (2008): Die Naturalisierung der Ungleichheit: ein neues Paradigma zum Verständnis peripheren Gesellschaften. Wiesbaden: WS Verlag, Wiesbaden, S. 122ff. 738 Ibidem S. 130.

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ihm auch eine ganze Reihe von staatlichen Organisationen wie Banken, Bibliotheken, polizeiliche Organisationen etc. entstanden. Diese führten zur Durchsetzung organisierter politischer Macht gegen die in der Kolonie allmächtige patriarchalische Familie und, damit zusammenhängend, zu einer allmählichen Ersetzung personalistischer Zugehörigkeitsbeziehungen durch den Zugang zu Positionen in Organisationen als Hauptquelle sozialer Macht. Obwohl diese Ersetzung in stärkerem Maße erst nach Erlangung der politischen Unabhängigkeit gegenüber Portugal (1822) geschehen sollte, kann bereits ab 1808 ein Prozess beobachtet werden, in dem die Mitgliedschaft in staatlichen Organisationen die Entstehung neuer Ungleichheitsverhältnisse in Gang setzte, in denen nun der für die Besetzung höherer Positionen erforderliche Zugang zu „europäischen“ Bildungstiteln als ein ganz modernes Kriterium sozialer Klassifikation bzw. Ungleichheit fungierte. Der neue staatliche Bedarf nämlich nach Bürokraten, Richtern, Staatsanwälten, Juristen etc., die alle für die neuen Aufgaben des Staates unerlässlich sind, kann besser durch junge Leute mit entsprechender Schulbildung gedeckt werden, und noch besser, wenn diese Bildung in Europa erworben wird, was ihnen noch mehr Prestige einbringt 739. Die Modernität der durch die Entstehung staatlicher Organisationen erzeugten Ungleichheiten besteht darin, dass Individuen nicht mehr anhand ihrer personalen Systemzugehörigkeit (Familie und Schichtzugehörigkeit) als Personen klassifiziert und als gesellschaftlich relevant behandelt werden, sondern anhand des Erwerbs von unpersönlichen Ressourcen, die für die Operationen dieser Organisationen (Entscheidungen) unentbehrlich sind. Damit wird es möglich, dass Personen – im Unterschied zu vormodernen Schichtgesellschaften, in denen jeder Vergleich zwischen aus unterschiedlichen Schichten stammenden Personen durch die Ontologisierung ihres Personseins keinen Sinn machte – anhand funktionsspezifischer Kriterien verglichen werden, sei es als Selbst- oder Fremdvergleich. Im Fall von Bildungstiteln, wie auch in anderen Gesellschaftsbereichen, bildet Europa das wichtigste Vergleichskriterium. Bemerkenswert ist dabei, dass bereits die Orientierung am Erziehungssystem eine gewisse Pluralisierung von Vergleichszusammenhängen geschaffen hatte. Obgleich es sich hierbei hauptsächlich um politisch und rechtlich orientierte Organisationen handelte, wurde in ihren Operationen auch auf Wirtschaft und Erziehung Bezug genommen 740: auf die Wirtschaft durch monetäre Belohnung der Arbeit und auf das Erziehungssystem durch Bildungstitel als Mitgliedschaftskriterium. 739

Ibidem, S. 132. Organisationen, was ihre Referenz auf Funktionssysteme betrifft, sind multireferentielle Sozialsysteme. Vgl. LIECKWEG, Tanja/WEHRSIG, Christof (2001): „Zur komplementären Ausdifferenzierung von Organisationen und Funktionssystemen. Perspektiven einer Gesellschaftstheorie der Organisation. In: Veronika Tacke (Hg): Organisation und gesellschaftliche Differenzierung. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 49.

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Die Öffnung der Hafen und die Beseitigung des portugiesischen Handelsmonopols dynamisierten nicht nur die internen und externen Handelsbeziehungen, sie trugen auch zur Entstehung ökonomischer Organisationen und Berufe bei sowie zur Produktion von Gütern, deren Konsum zudem neue Formen sozialer Klassifikation mit sich brachte. Die Dynamisierung und Ausbreitung der Handelsbeziehungen führte zu einer zunehmenden Monetarisierung ökonomischer Transaktionen und dementsprechend zu einer allmählichen Auflösung der ständischen Mechanismen des Zugangs zu knappen Gütern und Dienstleistungen 741. Die Entstehung ökonomischer Organisationen wie Import- und Exportfirmen, kleine Fabriken und Manufakturen hatte in den Großstädten Möglichkeiten der Teilnahme am sozialen Leben und berufliche Statuspositionen erzeugt, die wie die Mitgliedschaft in staatlichen Organisationen nicht mehr unter Kontrolle der zu dieser Zeit auf dem Land und in kleineren Städten noch dominierenden patriarchalischen Familie standen. Die Familie konnte solche Inklusionsmöglichkeiten und Statuspositionen nun nicht mehr qua Zugehörigkeitsverhältnis sicherstellen. Denn die Mitgliedschaft in ökonomischen Organisationen wurde von Wissensformen abhängig gemacht, die nicht in der Familie, sondern in kleineren, meistens durch europäische (vor allem aus England kommende) „Fachleute“ vor Ort vermittelt wurden. Die Herkunft kann die Inklusionschancen des Einzelnen bestenfalls als Vorbereitung auf den Erwerb beruflicher Wissensbestände beeinflussen. Ferner stellten die mit der Dynamisierung der Handelsbeziehungen erfundenen Konsummöglichkeiten auch neue Formen des „Sich-Vergleichens“ zur Verfügung, wobei sich der „europäische Geschmack“ in verschiedenen Lebensbereichen zunehmend als „guter Geschmack“ durchsetzte. Von Kleidungsstilen über Ess- und Trinkpräferenzen bis hin zur Hausdekoraktion wurde der „europäische“, vor allem der „britische Geschmack“ als „guter Geschmack“ akzeptiert, sodass die altkolonialen Konsumstile abgewertet wurden. Obwohl Organisationen, seien es an der Politik oder der Wirtschaft orientierte Organisationen, multireferentiell sind, war doch bereits zu dieser Zeit zu sehen, dass Wirtschaft und Erziehung (neben der Politik) die wichtigsten Funktionssysteme für die Produktion sozialer Ungleichheit darstellen. Die durch die Entstehung und die Expansion von Organisationen geforderten und geförderten beruflichen Felder stellen strukturelle Kopplungen zwischen Erziehung und Wirtschaft dar, welche für die individuellen Lebensläufe Erwartungssicherheit bezüglich der Umwandlung von Wissen in Geld und umgekehrt bedeuten. Auf den überlokalen Umwandlungschancen, die diese strukturellen Kopplungen boten, beruhend, gewöhnte sich eine kleine Elite reicher Familien daran, ihre Kinder zum Studium an europäische Universitäten zu schicken, damit sie später die besseren Positionen und Ämter der staatlichen Organisationen besetzen könnten. Dabei ging die Durchsetzung des Wissens als eine der Hauptquellen sozialer Klassierung mit der 741

SOUZA, Jessé (2008): Die Naturalisierung der Ungleichheit, S. 131.

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Umstellung der Zeitorientierung von Herkunft auf Zukunft einher. Berufliche Karrieren in wirtschaftlichen, politischen und juristischen Organisationen können nun nicht mehr nur durch Haus und Familie erwartbar gemacht werden, denn der Zugang zu Positionen nimmt jetzt die Form kontingenter Ereignisse an, sodass man sich an einer offenen Zukunft orientieren und sich auf sie vorbereiten muss. Damit sind Individuen schon im Rahmen funktionsspezifischer Vergleichszusammenhänge klassifiziert. Die Tatsache, dass die erzieherischen Organisationen, in denen die Elite studiert, in Europa liegen, ändert nichts daran, da sich das Funktionssystem Erziehung nicht als Organisation, sondern als eine an einem binären Code („vermittelbar/nicht-vermittelbar“) orientierte pädagogische Praxis reproduziert. Was die Organisationen angeht, muss nur vorausgesetzt werden, dass europäische und brasilianische Organisationen nach denselben Vergleichskriterien in Beziehung gesetzt werden und somit sich an demselben Vergleichszusammenhang orientieren. Genau das ist eben der Fall, wenn die in Europa erworbenen Bildungstitel die besseren Karrieren in „brasilianischen“ Organisationen ermöglichen. Auch die nicht privilegierten „mittleren“ Bevölkerungsgruppen verdanken ihren sozialen Aufstieg der strukturellen Kopplung zwischen Wirtschaft und Erziehung. Es ging bei diesen Gruppen vor allem um die sogenannten „geschickten Mulatten“ d. h., um Menschen mit einem schwarzen bzw. versklavten und einem weißen Elternteil, die durch den Erwerb technischer beruflicher Wissensbestände in Positionen aufsteigen konnten, in denen Wissen in Geld umgewandelt wird (Erwerbsarbeit). Waren ihre Aufstiegschancen vor der Dynamisierung der Wirtschaft in den Großstädten unmittelbar von der Willkür der persönlichen Macht ihres Herrn abhängig, hingen sie jetzt aufgrund der Durchsetzung funktional differenzierter Subsysteme und der mit ihnen identifizierten Organisationen von den entsprechenden funktionsspezifischen Kompetenzen ab. Es soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass sowohl die hochgebildeten Eliten als auch die „mittleren Gruppen“ ihren sozialen Status innerhalb der Vergleichszusammenhänge ausdifferenzierter Funktionssysteme erhalten. Die neuen sozialen Ungleichheiten sind also keine Kontinuität der alten kolonialen Hierarchien. Und obwohl die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung durch die Transformationen in den Großstädten zu dieser Zeit konkret nicht verändert wurden, bildeten die neuen, in wichtigsten Funktionssystemen inkludierten Gruppen eine interne „Vergleichsgröße“, nach der sich die Bildung von Selbsterwartungen anderer Bevölkerungsteile nach und nach richten würde.

5.2 Die Herausbildung des Nationalstaates Ein weiteres Großereignis, das zur Ausbreitung funktionaler Differenzierung beitrug, war sicherlich die Erlangung der politischen Unabhängigkeit Brasiliens 264

im Jahr 1822. Dieses kontingente revolutionäre Ereignis war durch andere interne und externe Geschehnisse wahrscheinlich gemacht worden. Intern spielten die politischen Folgen der Krise der kolonialwirtschaftlichen Tätigkeiten, vor allem der Rückgang der Goldproduktion, die entscheidende Rolle. Angesichts der portugiesischen Politik zur Erhöhung der Steuerabgaben auf Exportgüter der Kolonie als Maßnahme gegen die Krise kam es am Ende des 18. Jahrhunderts zu regionalen Aufstandsbewegungen 742, die die Unabhängigkeit gegenüber Portugal forderten und als politische Möglichkeit in Aussicht stellten. Extern dienten die französischen und nordamerikanischen Revolutionen als Vorbild bzw. Quelle ideologischer Orientierung für die anti-kolonialen Bewegungen 743. Die Tatsache, dass diese Revolutionen nicht nur auf den Antikolonialismus, sondern auch auf den Konstitutionalismus Brasiliens und Lateinamerikas einen großen Einfluss hatten, zeigt, wie kommunizierte Vergleiche räumlich und zeitlich abwesende Ereignisse (Revolutionen) und Einheiten (Staatsorganisation, Verfassungen) aufeinander beziehen, wodurch weltgesellschaftliche (in diesem Fall politische und rechtliche) Kommunikationszusammenhänge entstehen und reproduziert werden. Zu der Kette politisch relevanter Ereignisse, die zur politischen Unabhängigkeit der portugiesischen Kolonie beitrugen, kam die Entstehung einer Kolonialbürokratie mit stärkeren anti-kolonialen Interessen innerhalb des seit 1808 von Brasilien aus regierten portugiesischen Kolonialreiches hinzu. Aufgrund des verstärkten Druckes dieser Kolonialbürokratie gegen den Kolonialpakt wurde nach der Rückkehr des Königs João VI nach Lissabon im Jahr 1822 die Unabhängigkeit Brasiliens erklärt und der portugiesische Kronprinz Dom Pedro zum Kaiser ernannt 744. Der Bruch mit dem Kolonialismus und die Herausbildung des Nationalstaates führten zu einer Erweiterung der operativen Möglichkeiten der Funktionssysteme. An dieser Stelle soll der These von Alois Hahn gefolgt werden, nach der die segmentäre Differenzierung der Politik in Staaten im Zusammenhang mit der Dynamisierung funktionsspezifischer Kommunikationszusammenhänge steht 745. Die für die modernen Nationalstaaten typische, durch die Verknüpfung von Organisation und Territorialität erreichte Monopolisierung der legitimen Gewalt erzeugt eine Anspruchsbegrenzung nach außen und Anspruchserweiterungen 742

FAUSTO, (1998): História do Brasil. 6 Aufl. Sao Paulo: EDUSP, S. 113ff. Zur „Vorbildrolle“ der französischen und der nordamerikanischen Revolutionen für die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen siehe. KNÖBL, Wolfgang (2011):„La contingencia da la independencia y de la revolución: perspectivas teóricas y comparadas sobre américa latina. In: America Latina Hoy 57 (2011), S. 15-49. 744 FAUSTO, Boris (1998): História do Brasil, S. 120ff. 745 HAHN, Alois (1993):„Identität und Nation in Europa“. In: Berliner Journal für Soziologie 3 (1993). S. 198 (193-203). Auch Luhmann erkennt diesen Zusammenhang: „Die Verhinderung einer theokratischen Reichsbildung ermöglicht es in Europa, regionale, sprachliche und kulturelle Unterscheide beim Experimentieren mit Ansätzen zu funktionaler Differenzierung zu nutzen“. LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 711. 743

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nach innen. Die Anspruchserweiterungen innerhalb des eigenen territorialen Bereiches, in dem wirklich kollektiv bindende Entscheidungen durchgesetzt werden können, hat paradoxe Konsequenzen für das Verhältnis von Politik und anderen Funktionssystemen. Einerseits stiftet der Nationalstaat ein kompensatives „Wir“ 746 – eben die Nation als dasjenige Kollektiv, das durch Entscheidungen gebunden wird 747. Die Konstruktion der Nation ist in der Regel auf die Formulierung politischer Programme angewiesen, die auf die Kontrolle der sich ausdifferenzierenden Funktionssysteme innerhalb der Staatsgrenzen abzielen. Die Tatsache, dass funktionale Differenzierung keine zentrale Steuerung der Teilsysteme durch ein System, das die Gesamtgesellschaft repräsentiert, mehr zulässt, wird durch die postulierte territoriale Einheit der funktionalen Subsysteme verdeckt 748. Auch wenn politische Programme die Steuerung anderer Gesellschaftsbereiche zum Ziel haben, können diese Programme nur als Selbststeuerung der Politik funktionieren. Andererseits werden aber damit Differenzen erzeugt, die die Eigendynamik anderer Funktionssysteme stimulieren. Wenn sich die Politik beispielsweise die Erweiterung oder die Angleichung von Bildungschancen als Ziel setzt und neue Bildungseinrichtungen zur Verfügung stellt, steuert sie nicht die Operationen des Erziehungssystems: Sie macht damit nur Politik in Bezug auf die Umwelt des politischen Systems – also Selbststeuerung mit Fremdbezug. Es ist unmöglich, durch politische Entscheidungen Wissen zu vermitteln und Individuen aufs spätere Leben vorzubereiten. Solche Entscheidungen haben jedoch Auswirkungen auf das Erziehungssystem: Die neuen Bildungseinrichtungen stellen neue operative Möglichkeiten dar; es wird ohne Zweifel ein Wachstum erzieherischer Operationen geben. Anders gesagt: Die durch kollektiv bindende Entscheidungen erzeugten Differenzen (mehr Bildungsorganisationen sind entstanden) wirken unmittelbar nur auf andere politische Operationen, indem etwa Erwartungen an Entscheidungen über die Einstellung von Professoren automatisch gebildet werden. Sie wirken aber mittelbar auch auf das Erziehungssystem. Aber dieser Effekt ist schon nicht mehr Steuerung und auch nicht steuerbar, weil er davon abhängt, was im Kontext anderer Systeme als Differenz konstruiert wird und unter die dort praktizierten Steuerungsprogramme fällt 749. Das Erziehungssystem wird also nicht durch Politik gesteuert. Das, was im Prozess seiner Selbststeuerung als politische „Inputs“ wahrgenommen wird, ist nur eine im System selbst konstruierte Information. Dasselbe gilt für andere Teilsysteme, die wie die Wissenschaft, das Recht und das Erziehungssystem auf staatlich finanzierte Organisationen angewiesen sind. Hinzu kommt, dass die Entste746

Ibidem, S. 199. STICHWEH, Rudolf (1998): „Zur Theorie der politischen Inklusion“. In: Berliner Journal für Soziologie 8 (1998), S. 544; LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, S. 210ff. 748 HAHN, Alois (1993): „Identität und Nation in Europa, S. 198. 749 LUHMANN, Niklas. Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 337, Hervorhebung des Autors. 747

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hung eines Nationalstaates als territorial souveräne Organisation zur Berücksichtigung der operativen Autonomie anderer Funktionssysteme seitens der Politik zwingt. So hat sich in Großbritannien gerade in dem Moment eine von theologischen und politischen Gesichtspunkten abgelöste Wirtschaftstheorie entwickelt, in dem die Politik zur „The Wealth of the Nation“ beitragen wollte: „Nur weil die Nichtberücksichtigung wirtschaftlicher Eigengesetzlichkeiten der Nation schadet, müssen sie zunächst theoretisch herausdestilliert werden“ 750. Die daraus resultierenden Impulse für die Dynamisierung und das Wachstum des Wirtschaftssystems sind, rückblickend gesehen, kaum zu unterschätzen. Diese Impulse betreffen vor allem die Einrichtung struktureller Kopplungen, die die Beziehungen der Politik zu anderen Gesellschaftsbereichen spezifizieren bzw. einschränken und somit zu operativer Autonomie und Selbstorganisation (eigenen Strukturbildungen) der mit ihr gekoppelten Subsysteme beitragen. Durch Steuern und Abgaben (vor allem Staatsverschuldung) lässt sich die Politik mit der Wirtschaft, durch die Verfassung mit dem Recht koppeln 751. Ferner ist die Konstruktion der strukturellen Kopplung zwischen Wirtschaft und Recht – Eigentum und Vertrag – ohne die Existenz von Nationalstaaten unvorstellbar gewesen. Auf dem Bildschirm der Funktionssysteme nimmt der Territorialstaat die Form einer segmentären Umwelt an, die die Dynamisierung von Funktionssystemen und das Wachstum ihrer operativen Möglichkeiten ermöglicht 752: „Sowohl die Wissenschaften wie das Recht, die Politik wie die Wirtschaft und eben auch die Religion haben sich […] im Schoße neuer segmentärer Differenzierungen funktional ausdifferenzieren können“ 753. Nach der Erlangung der politischen Unabhängigkeit im Jahr 1822 wird die Entstehung weiterer staatlicher Organisationen (Parlamente, Gerichte usw.) durch die Einrichtung struktureller Kopplungen (Verfassung, Eigentums- und Vertragsrecht, Steuern und Abgaben) die Dynamisierung und das Wachstum von Funktionssystemen ermöglichen, obwohl das „Erbe“ der Sklaverei und die Schwäche der politischen Selbstorganisation gegenüber den Strukturvorgaben anderer Funktionssysteme bzw. dem politischen System anderer Länder zu Exklusionsproblemen und damit zu gravierenden Einschränkungen der operativen Möglichkeiten der Funktionssysteme durch fremde Faktoren führten. Der Bruch mit dem Kolonialismus trug zur Erhöhung der Möglichkeiten der Kapitalbildung und damit auch zur Steigerung der internen Komplexität der Wirtschaft bei. Zwar ging das Land von der formalen Abhängigkeit von Portugal zur Unterordnung unter die kommerziellen englischen Interessen über. Doch die formale Unabhängigkeit stellte politische und rechtliche Bedingungen zur Verfügung, um den intern erzeugten Reichtum teilweise zur Dynamisierung des Bin750

HAHN, Alois (1993):„Identität und Nation in Europa, S. 197. LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 2, S. 781ff. 752 Ibidem. 753 Ibidem, S. 194-195.

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nenmarktes zu verwenden 754 . In der Politik spielten ständische religiösmoralische Legitimationsformen trotz des kaiserlichen Regimes keine Rolle mehr. Die Tatsache, dass die Inklusion in das politische System ein Privileg der Oligarchien blieb 755, war nicht auf einer Naturordnung begründet. Die Unterdrückung von Konflikten und politischer Opposition lässt sich nicht auf das „Überbleibsel“ traditioneller Wertvorstellungen bzw. ständischer Ordnungen zurückführen, denn von politischer Herrschaft über die gesellschaftsinterne Umwelt als Grundmerkmal aller vormodernen stratifizierten Gesellschaften konnte kaum die Rede sein. Das Kaiserreich war ein schwacher Staat, dessen Kapazität zur Erzeugung kollektiv bindender Entscheidungen durch eine Mehrheit von Faktoren eingeschränkt wurde: durch das mangelhafte Gewaltmonopol, durch die Verzerrung formaler normativer Erwartungen zugunsten der informellen Erwartungen von Oligarchien 756 und durch die Unterwerfung der nationalen Politik unter großmächtige Staaten und das globale Wirtschaftssystem 757. Das impliziert allerdings gravierende Probleme für die autopoietische Reproduktion der Politik. Daraus aber den Schluss zu ziehen, dass es keine funktionale Differenzierung der Politik gab 758, ist falsch. Denn diese Sachverhalte sind nur deshalb Probleme, weil sie innerhalb von weltpolitischen Vergleichszusammenhängen beobachtet werden, wobei normative Erwartungen wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit die Vergleichskriterien bilden. Was Brasilien als Nationalstaat “ist“, verdankt sich der Existenz eines übernationalen politischen Systems, in dem das Land sowohl durch seine Beziehungen zu anderen Staaten als auch durch seine Selbstbeschreibung als ein Verfassungsstaat unter anderen Verfassungsstaaten integriert ist. Die formale Konstruktion eines autonomen Rechtssystems begann mit der Verfassung von 1824. Trotz der Sklaverei, die erst im Jahr 1888 abgeschafft wurde, orientierte sich der Aufbau der Verfassungsordnung nach den in Europa herrschenden liberal-konstitutionellen Mustern 759. Die Rolle des Vergleichs zwischen Ereignissen und Einheiten im Kontext eines teilsystemspezifischen Vergleichszusammenhangs für die Integration des Landes in die Weltgesellschaft ist auch hier entscheidend. Neves zufolge erfüllte das importierte Verfassungsmuster nicht die Funktion, normative Erwartung zu sichern und Verhalten zu steuern; es fungierte lediglich als ideologisches Legitimationsmittel für die Politik 760 . 754

SOUZA, Jessé (2008): Die Naturalisierung der Ungleichheit, S. 125. NEVES, Marcelo (1992): Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne: eine theoretische Betrachtung und eine Interpretation des Falls Brasiliens. Berlin: Duncker und Humblot, S. 120. 756 Ibidem, S. 121. 757 Ibidem, S. 112. 758 Ibidem, S. 120. 759 Ibidem, S. 117. 760 Ibidem, S. 121.

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Diese These ist jedoch nicht mit der Feststellung kompatibel, dass eine kleine Minderheit „die in der Verfassung erklärten subjektiven Rechte wahrnehmen konnte“ 761. Zwar hatte die große Mehrheit der Bevölkerung keinen Zugang zu diesen Rechten bzw. konnte die erklärten Rechten nicht wahrnehmen. Aber für die Inkludierten d. h., für die Oligarchien musste der „bürgerliche Rechtsstaat“ mehr als nur ein Instrument politischer Legitimation bedeuten. Hätten die normativen Erwartungen des Rechtssystems keine Geltung und keine Wirksamkeit, könnte es beispielsweise keine Kapitalbildung geben, denn diese setzt die Achtung von Verträgen und Eigentumsrechten voraus 762. Eine breitere Aufnahme liberal-konstitutioneller Prinzipien war erst durch den Übergang zur Republik im Jahr 1889 möglich, denn die Sklaverei wurde erst ein Jahr zuvor abgeschafft. Die Abschaffung der Sklaverei war eine „Revolution von Weißen für Weiße“ 763. Die „Befreiten“ mussten sich ohne jede staatliche Maßnahme der Wiedergutmachung, die ihre durch den Sklavenstatus erzeugte unvorteilhafte Lage verbessern könnte, mit den Erfordernissen der neuen Ordnung arrangieren. Sie hatten in allen Funktionsbereichen die schlechteste „Ausgangsposition“ 764 : Keine stabilen familiären Beziehungen, keinen Landbesitz, keine Möglichkeit (schon wegen der fehlenden familiären Erziehung), einen Beruf zu erlernen, keinen Rechtsschutz, keine Mitgliedschaft in politischen Organisationen usw. Die Proklamation der Republik war ihrerseits das Ergebnis eines Militärputschs gegen den Kaiser Dom Pedro II. Die Unbedeutsamkeit des Übergangs zur Republik für die Lebensbedingungen sowohl der kürzlich befreiten Schwarzen als auch des gesamten Volks lässt sich daran erkennen, dass die Bevölkerung diesem Ereignis gegenüber weitestgehend indifferent blieb. Der republikanische Verfassungstext ist durch die Hochschätzung der Verfassungserfahrung in den USA gekennzeichnet, obwohl die Bedeutung der positivistischen Ideologie (deren Anhänger vor allem die Militärs waren) für die Verfassungswirklichkeit im Widerspruch zu den US-amerikanischen Verfassungsprinzipien steht. Nach der positivistischen Ideologie waren die (militärischen und politischen) Verstöße gegen die Verfassungsnormen als Verteidigung der „Ordnung“ legitimierbar 765. Ferner wurde der Aufnahme der Liberaldemokratie, des Präsidentialismus und des Föderalismus schon auf der Ebene des Verfassungstexts durch die Einschränkung der Wahlrechte entgegengewirkt. Neves führt diese fehlende Konkretisierung der Verfassungsnormen auf die Existenz eines Verhältnisses von „Überintegration“ und „Subintegration“ in das Rechtssystem zurück: 761

Ibidem, S. 120. SOUZA, Jessé (2008): Die Naturalisierung der Ungleichheit, S. 138. 763 Der KaiserIndem, S. 127. 764 FERNANDES, Florestan (1978): A Integracao do Negro na Sociedade de Classes. São Paulo: Ática, S. 9. 765 NEVES, Marcelo (1992): Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne, S. 123. 762

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So könnte man vielleicht von einer in das Verfassungs-bzw. Rechtssystem überintegrierten (oligarchischen) Bourgeoisie (sie verfügt darüber und es fungiert nicht als rechtlicher Horizont ihrer Handlung) gegenüber den Massen der Subintegrierten sprechen 766. Die ehemaligen Sklaven und benachteiligte Bevölkerungsgruppen jedweder Hautfarbe wurden in das Rechtssystem faktisch nur als Angeklagte, nicht aber als Kläger inkludiert. Die Grundrechte hatten für ihre Inklusionschancen keine Bedeutung. Das Wahlrecht wurde beispielsweise sowohl durch die miserablen Lebensbedingungen – die eine Trennung zwischen der Wählerrolle und anderen Rolle bzw. kurzfristigen Interessen nicht erlaubten – als auch durch die regelmäßige Wahlfälschung blockiert. Für Neves stellt dieses rechtlich-politische Regime eine fassadenhafte Republik dar 767. Die Frage ist nur, warum die Gesellschaftsordnung auch in Brasilien auf liberal-konstitutionellen Prinzipien beruhen musste. Warum musste diese „oligarchische Ordnung“ durch Prinzipien legitimiert werden, welche die Erhaltung von Privilegien delegitimiert? Der liberale Konstitutionalismus, anders als Neves unterstellt, war in Brasilien keine bloße Fassade. Er spielte nicht nur eine ganz entscheidende Rolle für die Legitimation der privilegierten Inklusionschancen in das Recht, die Politik und die Wirtschaft. Er war auch unentbehrlich für die Konstruktion des Selbstverständnisses der sozialisierten Individuen, das der Bildung von an die funktional differenzierte Gesellschaft angepassten Erwartungen zugrunde lag. Er bildete die Grundlage der akzeptablen Verhaltensweisen, die die Existenz einer bürgerlichen Rechtstaatlichkeit zumindest innerhalb der inkludierten Eliten erlaubte. Auch ein oligarchisches Inklusionsregime braucht die Achtung von Verträgen für wirtschaftliche Transaktionen sowie die Akzeptanz der politischen Konkurrenz zwischen den nicht immer kompatiblen Interessen der verschiedenen lokalen Gruppen 768 . Was diesen „brasilianischen Liberalismus“ auszeichnet, ist nicht sein fassadenhafter Charakter, sondern seine oligarchische Interpretation: Er blockierte die Bildung jeder plausiblen Erwartung auf die politische Inklusion der mittleren und unteren Schichten. Diese elitäre Ordnung, die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein oligarchisches Inklusionsregime in fast allen Funktionssystemen herstellte und die von der Proklamation der Republik unberührt blieb, befand sich bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Krise, die in wenigen Jahrzehnten auf ihre Auflösung hinauslief. Auslöser hierfür war vor allem die Entstehung neuer Inklusionsansprüche einer aufsteigenden Mittelsicht. Diese Inklusionsansprüche standen in Konflikt mit dem Liberalismus der Agrareliten, welche ihre Privilegien in verschiedenen Funktionssystemen aufrechterhalten wollten. In der Politik 766

Ibidem, S. 124. Ibidem, S. 125. 768 SOUZA, Jessé (2008): Die Naturalisierung der Ungleichheit, S. 138. 767

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hatten die jüngsten politischen und ideologischen Interessen des Militärs an Relevanz gewonnen. Darüber hinaus hatten sich die Auseinandersetzungen zwischen den exportierenden Agrarsektoren und anderen Lokaleliten verschärft. Bemerkenswert ist dabei, dass die exportierenden Agrarsektoren, welche den Zugang zu den wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Positionen monopolisierten, die Entstehung von sozialen Lagen und Interessen, die später diese oligarchische Ordnung infrage stellen sollten, nicht verhindern konnten. In diesem Kontext kann kaum von einer Kontrolle der Funktionssysteme durch die Oligarchien die Rede sein. Zwar waren die operativen Möglichkeiten der wichtigsten Funktionssysteme bis hin zur Revolution von 1930 durch an die Erhaltung der oligarchischen Privilegien angepassten politischen Programme stark eingeschränkt. Jedoch war diese „oligarchische Ordnung“ nicht in der Lage, die Steigerung der Komplexität der Sozialdimension und damit die Diversifizierung von Interessen unter Kontrolle zu halten: Auch die agrarischen Sektoren, die auf den internen Markt ausgerichtet waren, sahen sich durch das ausschließende Konzept des von den exportierenden Agrarsektoren geleiteten Föderalismus an den Rand des politischen Spiels gedrängt. In gewisser Weise war die soziale Revitalisierung selbst, wenn auch in starren ökonomischen und politischen Grenzen, Ergebnis der Expansion des Exportsektors, der Kräfte freisetzte, deren Kontrolle in der politisch und sozial dermaßen ausschließenden Zwangsjacke unmöglich war 769. Die erste republikanische Periode (1989-1930), die aufgrund ihres oligarchischen Charakters als „alte Republik“ (República Velha) bekannt wurde, wurde durch eine politische Revolution gestürzt, die den Inklusionserwartungen der urbanen Mittelschicht und der industriellen Arbeiterschaft in ihrem politischen Programm zu entsprechen versuchte. Diese Erwartungen fanden keine politische Formulierung bis zu diesem Zeitpunkt. Der Zeitraum zwischen 1808 und 1930 kann noch durch einen Dualismus zwischen „modernem urbanem Leben“ und „vormodernem ländlichem Leben“ charakterisiert werden. Erst mit dem durch den Staat intensivierten Industrialisierungsprozess ab 1930 bildeten die modernen Lebensformen, d. h. die Inklusion in ausdifferenzierte Funktionssysteme, auch den Erwartungshorizont der ländlichen Bevölkerungen. Auch wenn die vom Zugang zu industrieller Erwerbsarbeit abhängigen Sozial- und Grundrechte die Arbeitsverhältnisse und die Lebensbedingungen der auf dem Land lebenden Bevölkerung nicht umfassten, nahmen die wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen die Form universalisierbarer Inklusionsmöglichkeiten an, an denen sich die Erwartungen der ländlichen Arbeiterschaft zunehmend orientierten 770 . Seit der Revolution von 1930 fand eine bedeutsame Erweiterung der faktischen Inklusionschancen in 769

Ibidem, S. 139. CARDOSO, Adalberto (2010): „Uma Utopia Brasileira. Vargas e a Construcao do Estado de BemEstar numa Sociedade Estruturalmente Desigual. In: Dados 4 (2010), S. 775-819.

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verschiedenen Funktionssystemen statt. Von dieser Erweiterung profitierten auch die arbeitenden Bevölkerungsgruppen, deren Tätigkeiten vom Staat als Beruf anerkannt wurden. Diese waren also Teil des Publikums, das in den Inklusionsbereich der sich ausdehnenden Politik fiel. Dabei zieht die Exklusion aus beruflicher Arbeit die Exklusion aus Staatsbürgerrechten nach sich; der auf die Erweiterung des Inklusionsbereichs angelegte Prozess der Staatsbildung hatte also mit der aus dem „Erbe“ der Sklaverei sich ergebenden wechselseitigen Verstärkung von Exklusionen nicht gebrochen.

5.3 Das Erbe der Sklaverei und die Kumulation von Exklusionen Sucht man nach der Besonderheit des Falles Brasiliens, die die Kombination des Primats funktionaler Differenzierung mit massenhafter bzw. kumulativer Exklusion von Individuen aus verschiedenen Funktionsbereichen erklärt, dann gerät das sogenannte „Erbe der Sklaverei“ als der wichtigste Erklärungsfaktor in den Blick. Hierbei soll es sich nicht um die banale Feststellung handeln, dass die ehemaligen Sklaven samt ihres Nachwuchses von der neuen Gesellschaftsordnung und den für die Lebensführung und für den Lebenslauf wichtigsten Gesellschaftsbereichen exkludiert wurden. Es kommt vielmehr darauf an, zu erklären, wie und aus welchen sozial erzeugten Gründen diejenigen Individuen, denen in der alten Kolonie der Personstatus entzogen wurde, auch in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft in ihrer Mehrheit auf ihre körperliche Existenz reduziert werden. In der Kolonie – die Peripherie eines kolonisierenden Zentrums (Portugal) – war der Sklave eine Ware. Das heißt, dass nicht nur seine Arbeitskraft verkauft wurde, sondern seine gesamte Person. Er hatte keine Familie und deswegen auch keine Schichtzugehörigkeit. Das lag vor allem an der Kolonialpolitik zur Verhinderung der Entwicklung familiärer Beziehungen sowie anderer Formen des gemeinschaftlichen Lebens für die Sklaven 771. Die Möglichkeit eines Sklaven, Person zu werden, hing von dem willkürlichen Willen des Herrn und Besitzers ab. Dieser konnte, vor allem wenn der Sklave sein biologischer Sohn mit einer versklavten Frau war, ihm den Status einer zur Familie zugehörigen Person zusprechen. Doch prinzipiell war er im Rahmen einer allumfassenden und askriptiven Unterscheidung als Nicht-Person (keine Systemzugehörigkeit) bezeichnet und klassifiziert. Was sich in der modernen Gesellschaft nun änderte, waren die Operationen, mit denen der Personstatus negiert wurde. Die ehemaligen Sklaven und ihr Nachwuchs, aber auch Menschen, die in der Kolonie als formal freie Personen klassifiziert wurden, deren sozialer Status jedoch von der patriarchalischen Macht abhing, wurden nun nicht mehr durch 771

FERNANDES, Florestan (1978) : A Integração do Negro na Sociedade de Classes, S. 154.

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eine allumfassende askriptive Operation exkludiert, sondern durch verschiedene, teilsystemspezifische Operationen. Im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft war vor allem die Exklusion aus dem Arbeitsmarkt und aus stabilen Intimbeziehungen entscheidend. Diese zwei Exklusionen bedingen sich wechselseitig und generieren dadurch denjenigen Teufelskreis, den Luhmann „Exklusionsbereich“ nannte. Während die Exklusion aus dem Arbeitsmarkt (Arbeitslosigkeit) die ökonomischen Bedingungen der Möglichkeit 772 der Erfüllung familiärer Rollen zerstört, führt die Destabilisierung des Familienlebens dazu, dass auch die frühkindlichen erzieherischen Kommunikationen, die im Rahmen von Intimbeziehungen stattfinden und die für den Schulerfolg unentbehrlich sind, nicht geschehen können. Daraus ergeben sich fast zwangsläufig sehr prekäre Gesundheitsbedingungen sowie eine Abwesenheit von grundrechtlichem Schutz. Seit der Abschaffung der Sklaverei sind also Familie und Wirtschaft die wichtigsten Funktionssysteme für die Kumulation von Exklusionen. Mit der staatsbildenden selektiven Herstellung eines Publikums, das Zugang zu sozialen Rechten hat, schließen sich ab 1934 neue Dimensionen an diese kumulative Logik an. Die Phase zwischen der Abschaffung der Sklaverei (1888) und der Einführung sozialer Rechte als Form der politischen Inklusion (1934) wird von Florestan Fernandes in A Integração do Negro na Sociedade de Classes („Die Integration des Schwarzen in die Klassengesellschaft“) 773 analysiert. Die von Fernandes untersuchte Periode reicht von 1860 bis 1960 und seine empirische Forschung konzentrierte sich auf die Stadt São Paulo. Ausgangspunkt seiner Analyse ist die Tatsache, dass die ehemaligen Sklaven und ihr Nachwuchs im Übergang zur „Wettbewerbsgesellschaft“ (so bezeichnet er die Moderne) ihrem eigenen Schicksal überlassen wurden. Nicht der Staat, die Kirche oder irgendeine andere Organisation interessierten sich für das Schicksal der „Befreiten“. Diese mussten gleich nach der Abschaffung der Sklaverei Verantwortung für sich und ihre Familie übernehmen. Fernandes erkennt in den Anpassungsschwierigkeiten an die neue Ordnung den Hauptgrund für die fortdauernde Marginalisierung von Schwarzen und Mulatten. Er lokalisierte diese Schwierigkeiten in der Dimension der „psychosozialen Bedingungen“ des Verhaltens in der neuen Gesellschaft: Die Unangepasstheit des Schwarzen an die freie Arbeit und ihre Unfähigkeit, gemäß den Verhaltensmodellen der „Wettbewerbsgesellschaft“ zu handeln 774 . Dabei 772

Diese Bedingungen werden durch die Abhängigkeit der Familie von Arbeit strukturell spezifiziert. Siehe LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 323, FN 30. Zieht man in Betracht, dass die Familien der unteren Schichten bereits am Ende des 19. Jahrhunderts arbeitsabhängiger als die Mittel-und Oberschichtfamilien waren, bleibt kein Zweifel übrig, wie modern ihre soziale Lage war: eben durch die Arbeitslosigkeit. 773 FERNANDES, Florestan (1978): A Integração do Negro na Sociedade de Classes. São Paulo: Ática. 774 Ibidem, S. 137.

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spielt die Unmöglichkeit, an Intimbeziehungen und Erziehung innerhalb der Familie teilzunehmen, eine entscheidende Rolle. Fernandes' These ist, dass die Familien der schwarzen Bevölkerung nicht in der Lage waren, die Aufgabe der Kontrolle der egoistischen Verhaltensweisen und der Persönlichkeitsbildung angemessen zu erfüllen. Zum einen nahm der sexuelle Missbrauch der Kinder unter schlechten Wohnbedingungen die Form einer routinemäßigen Angelegenheit an, die zusammen mit der Abwesenheit jeder intimen Kommunikation zwischen Eltern und Kindern die Entwicklung familiärer Reziprozitätsverhältnisse nicht erlaubten. Das Kind, das sich nur oberflächlich, in gestörter Weise und sporadisch als solches von der Mutter behandelt sah, in den kurzen Momenten, in denen sie zu Hause war [...], hatte selten Gelegenheit zu lernen, die anderen aus Liebe zu respektieren und ihnen zu gehorchen. Es herrschte ein roher egoistischer und individualistischer Kodex: Um zu überleben, musste der Einzelne „schlau“ sein, selbst im Umgang mit der Mutter und den Geschwistern 775. Zum anderen wiesen die Schwarzen aufgrund des Fehlens einer an die neue Ordnung angepassten familiären Erziehung nicht die Selbsterwartungen und Verhaltensweisen auf, die für eine stabile Teilnahme an der Wirtschaft nötig sind. Die Jungen waren gezwungen, ohne jede Vorbereitung ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Da sie wegen der Sklaverei zwischen Lohnarbeit und dem Verkauf ihrer gesamten Person nicht ausreichend unterscheiden konnten, nahmen sie die Ausführung von handwerklichen Tätigkeiten als herabsetzend wahr – eine Hemmung, die bei den italienischen Immigranten z. B. nicht vorhanden war. Ihre Aufstiegshoffnungen waren eher an dem unplausiblen und raschen Zugang zu gehobenen Positionen und weniger an der schrittweisen Vorbereitung auf bessere Karrierechancen orientiert. Zudem waren sie nicht ausreichend tüchtig und sparsam d. h., es fehlten ihnen diejenigen Verhaltensweisen, ohne die „der Wille zum Aufstieg“ keine Entsprechung in den die Lebenschancen strukturierenden Entscheidungssituationen des Alltags findet. Dabei bezogen sich ihre fantasierenden Vorstellungen über die Zukunft auf ihre „zukunftslose“ Gegenwart sowie die heutigen Exkludierten ihre Aussichtslosigkeit durch den Glauben an magischen Aufstiegswegen 776 religiös formulieren. Aber selbst wenn die Individuen die an die „Wettbewerbsgesellschaft“ angepassten Selbsterwartungen und Verhaltensweisen aufwiesen, wirkte der zu dieser Zeit über den Status wissenschaftlicher Wahrheit verfügende Rassismus als ein zusätzlicher Exklusionsmechanismus. 775

Ibidem, S. 208. ARENARI, Brand/TORRES, Roberto (2006): „Religion und Anerkennung. Affinitäten zwischen neupfingstlicher Bewegung und politischem Verhalten in Brasilien“. In: KÜHN, Thomas/SOUZA, Jessé (Hg): Das moderne Brasilien Gesellschaft, Politik und Kultur in der Peripherie des Westens. Wiesbaden: VS Verlag, S. 259-277; TORRES, Roberto (2007): “O neopentecostalismo e o novo espírito do capitalismo na modernidade periférica”. In: Perspectivas 23 (2007) São Paulo: S. 85-125.

776

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Durch die Zurechnung des Fehlens funktionsspezifischer Handlungs- und Erlebensmöglichkeiten auf die Schwarzen und Mulatten wurden beispielsweise Einwanderungspolitiken durchgeführt, die davon ausgingen, dass diese Personen unfähig seien, Anforderungen zu erfüllen, die für die gleichberechtigte Inklusion in die Politik, die Wirtschaft und das Recht nötig sind 777. Auch deshalb setzte sich der europäische Einwanderer in der Konkurrenz um wirtschaftlich begehrte Positionen gegen die Schwarzen durch 778. Die Konstruktion der Inferiorität der ehemaligen Sklavenbevölkerung und ihres Nachwuchses, sei es durch die Formung ihrer Person oder die Zurechnung der staatlichen und privaten Organisationen 779, zeigte Erfolg. In diesem Kontext hatten Frauen vergleichsweise mehr Chancen als Männer, Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden. Das lag daran, dass sie quasi das Monopol im Bereich der Hausangestellten hatten, in dem es keine bedeutsame Konkurrenz durch die Immigranten gab. Dies ist eine Erklärung dafür, warum die große Mehrheit der schwarzen und armen brasilianischen Familien bis heute von alleinerziehenden Müttern zusammengehalten werden 780 . Wirtschaftliche Armut und das Fehlen einer angemessenen Formung der sozialen Person durch die Familie bedingen sich wechselseitig und führen zur Entstehung und Reproduktion einer Individualitätsform, die in fast allen Funktionssystemen als bloßer „Körper“ behandelt wird. Die Konstruktion dieser aufs Körperliche reduzierten Individualität setzt, wie oben (Kap. 4) gesehen, wechselseitige Beobachtungsverhältnisse bzw. strukturelle Kopplungen zwischen sozialen und psychischen Systemen voraus, worin sich der Entzug des Status einer sozialen Person sowohl sozial als auch psychisch ausdrückt. Mit Ausnahme der in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Europa, den USA und auch Brasilien wissenschaftlich legitimierten rassistischen Ideologien wird dieser Entzug des Personstatus als solche nicht explizit vollzogen. Doch selbst in diesem Fall bilden die teilsystemspezifischen Kriterien den Rahmen für die Konstruktion der Exklusion. Der Verweis auf ihre Natur ist nicht die Begründung für die Diskriminierung von Schwarzen und Mulatten, sondern der Verweis auf ihre unterstellte Unfähigkeit, nach den teilsystemspezifischen Kriterien zu erleben und zu handeln. Das (Vor)Urteil richtet sich nicht unmittelbar nach der Hautfarbe; seinen „letzten Ursprung“ lokalisiert es auf der Ebene dieser zugerechneten Unfähigkeit. So wurde die rechtliche Exklusion von Schwarzen und Mulatten explizit darauf begründet, dass sie den Rechtsstatus der Weißen

777

LESSER, Jeffrey (1994): „Immigration and Shifting Concepts of National Identity in Brazil during the Vargas Era“. In: Luso-Brazilian Review 31 (1994), S. 23-44. 778 FERNANDES, Florestan (1978): A integração do negro na sociedade de classes, S. 26-27. 779 In der Systemtheorie müssen immer beide Elemente berücksichtigt werden. 780 FERNANDES, Florestan (1978): A integração do negro na sociedade de classes, S. 200.

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aufgrund ihrer „moralischen Unmündigkeit“ nicht teilen können bzw. Sollten 781, was zwangsläufig auch ihre politische Exklusion impliziert. Das Gleiche gilt für die Wirtschaft. Hier wird die Exklusion dadurch begründet, dass ihre „spezifische biologische Verfasstheit“ kein Arbeitsethos entwickeln ließ. Zwar geht es hierbei um eine heteronome Strukturierung der Funktionssysteme d .h, um einen ersten Selektionsvorgang, der bestimmt, wann die Funktionssysteme autonom nach internen Programmen ihre Codewerte zuordnen (Inklusionsbereich) und wann sie heteronom (im Bezug auf seine Strukturen) durch ein Urteil über die individuelle Person als ganze (Exklusionsbereich) operieren. Aber auch diese heteronome Strukturierung/Programmierung d .h, auch die für den Exklusionsbereich konstitutive wechselseitige Verstärkung von Exklusionen kann nur in den jeweiligen teilsystemspezifischen Operationen hergestellt werden: Die Exklusion aus einem Funktionssystem zieht weitere Exklusionen nach sich, wenn andere Funktionssysteme diese Exklusion als notwendigen Anlass für ihre eigene Selektion annehmen. Das heißt, auch die heteronome Strukturierung (Fehlen an Selbstorganisation) der Funktionssysteme ist operativ und systemspezifisch. Diese Definition des Exklusionsphänomens geht davon aus, dass Exklusion eine gesellschaftsinterne operative gegenwärtige Konstruktion ist, an der verschiedene Funktionssysteme beteiligt sind. Ihre Ursachen sind dementsprechend auch gesellschafts- und teilsystemintern konstruierte Ursachen. Das hat zur Folge, dass Erklärungen, die auf „Überbleibseln der Vergangenheit“ basiert sind, durch Formulierungen ersetzt werden müssen, die die selektive Aktualisierung der Vergangenheit in der Gegenwart in den Mittelpunkt stellen. Damit wird die kausale Bedeutung vergangener Ereignisse als ein gegenwärtiges Konstrukt begriffen, welches die Soziologie als sinnhaftes Konstrukt beobachtender sozialer Systeme beobachten kann. Aus dieser Sicht sind Beschreibungen, die die Existenz und die Reproduktion von Exklusion auf die Kontinuität der Vergangenheit in der Gegenwart zurückführen, Erzeugnis von Beobachtungen erster Ordnung, die die operative Konstruktion ebendieser Kontinuität unsichtbar machen. Wie Souza 782 erläutert, zeigt Fernandes eine ambivalente Position hinsichtlich der („letzten“) Ursache für die Unangepasstheit und Marginalisierung der Schwarzen und Mulatten. Einerseits – wie oben ausgeführt – betont er die aus der prekären Familiensozialisation resultierende Unfähigkeit, den Verhaltensanforderungen der „Wettbewerbsgesellschaft“ gerecht zu werden 783 ; andererseits 781

Der Hauptvertreter dieser Ideologie in Brasilien war der Rechtsmediziner Raimundo Nina Rodrigues (1862-1906). Siehe NINA RODRIGES, Raimundo (1938 [1894]): Raças Humanas e a Responsabilidade Penal no Brasil. São Paulo: Cia. Editora Nacional und COSTA, Sérgio (2008): „Imigração no Brasil e na Alemanha: contextos, conceitos, convergências. In: Ciências Sociais Unisinos 44 (2008), S. S. 107. 782 SOUZA, Jessé (2008): Die Naturalisierung der Ungleichheit, S. 152. 783 FERNANDES, Florestan (1978): A integração do negro na sociedade de classes, S. 19, 20, 25, 26, 28, 29, 30, 50, 52, 58, 73, 82.

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sieht er den diskriminierenden Faktor in der Hautfarbe der Exkludierten, welcher im Zuge des wirtschaftlichen Wachstums und der Generalisierung des Leistungsprinzips aber am Verschwinden sei 784. Um dieser Ambivalenz zu entgehen, plädiert Souza für ein Erklärungsmodell, in dem sich die Formung eines „prekären Habitus“ und die Exklusion wechselseitig bedingen: Es war diese Ausgrenzung, die die perversen Bedingungen für die Verewigung eines „prekären Habitus“ schuf, der diese Gruppen zu einem marginalen und erniedrigenden Leben am Rande der integrierten Gesellschaft nötigte 785. Hier wird die Diskriminierung der Hautfarbe dadurch erklärt, dass sie als „Indiz“ für den „prekären Habitus“ fungiert 786. Sie ist also kein „Residuum“ vergangener Epochen, sondern Produkt gegenwärtiger Operationen, die die Hautfarbe als Konditionierung für die Zurechnung bestimmter Erlebens- und Handlungsmöglichkeiten auf die Individuen benutzen. Der größte Vorteil dieses Modells besteht darin, dass es die Exklusion als eine gegenwärtige Konstruktion beschreibt. Um diese Konstruktion in ihrem operativen Vollzug besser zu verstehen, muss jedoch die Suche nach einer „letzten Ursache“ 787 für die Reproduktion der Exklusion aufgegeben werden und der Akzent auf die wechselseitige Bedingtheit zwischen der Formung der sozialen Person und der Zurechnung von Intentionen, Erwartungen, Motiven und all das, was sich auf ihre Erlebens- und Handlungsmöglichkeiten bezieht, gelegt werden. Denn nur damit kann überhaupt die gegenseitige Konditionierung von Ausgrenzung und der „Verewigung eines prekären Habitus“ beobachtet werden. Zurechnungsprozesse sind keine bloßen semantischen Operationen, sie haben auch strukturelle Bedeutung: Durch sie wird die soziale Beobachtung von psychischen Systemen strukturiert und die individuell attribuierten Verhaltensmöglichkeiten dienen als unausweichliche soziale Fremdreferenz für psychische Prozesse der Selbstsozialisation und Selbstbeobachtungen. Durch Zurechnung von eingeschränkten Kapazitäten des Handelns und Erlebens wird die soziale Person geformt, und psychische Systeme müssen die Personalität, die ihnen sozial zugerechnet wird, als Fremdreferenz für die eigene psychische Selbstbeobachtung behandeln. Aus dieser Sicht muss auch die Hautfarbe als ein Exklusionsfaktor betrachtet werden. Das liegt darin begründet, dass sie nicht nur als „Indiz“ für den „prekären Habitus“ dient, sondern auch als Konditionierung von Zurechnungsprozessen, die zur Exklusion und damit auch zur Formung des „prekären Habitus“ führen. Dasselbe gilt für andere „Indizien“ wie Geschlecht oder Ethnie. Entscheidend ist nur, dass sie Zurechnungsprozesse konditionieren, in denen psychischen Systemen der Status der sozialen Person bzw. des menschlichen Mediums der Gesellschaft negiert wird. Das geschieht durch die sinnhafte Assoziation zwischen „diskriminierenden 784

FERNANDES, Florestan (1978): A integração do negro na sociedade de classes Band II, S. 134. SOUZA, Jessé (2008): Die Naturalisierung der Ungleichheit, S. 151-152. 786 Ibidem, S. 151, 153 787 Für Souza liegt die letzte Ursache von Exklusion im „prekären Habitus“. Ibidem, S. 150.

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Merkmalen“ – auf die meistens latent verwiesen wird – und dem Fehlen bestimmter Verhaltensanforderungen und Kompetenzen, die für die Inklusion in fast allen Funktionssystemen vorausgesetzt sind: „Das Fehlen von Ordnung, Disziplin, Voraussicht, prospektivem Denken etc.“ 788 . Die Tatsache, dass die Ursachen der Exklusion teilsystemintern durch Zurechnungsprozesse konstruierte Ursachen sind, zeigt sich schon daran, dass man auch negativen Fakten, wie dem Fehlen von Handlungskompetenzen, Kausalität zuschreibt 789. Anders formuliert: Nur weil soziale Kausalität Ergebnis sozialer Zurechnungsprozesse ist, können negative Fakten etwas in der Gesellschaft verursachen. Da wir also die Produktion und die Reproduktion des Exklusionsphänomens nicht als eine notwendige Kausalbeziehung verstehen, in der vergangene Ereignisse (z. B. die Sklaverei oder der Kolonialismus schlechthin) als Erklärung für die gegenwärtige Reproduktion von Exklusion angeführt werden, sondern sie auf die gegenwärtigen Operationen des jeweiligen Sozialsystems zurückführen – sodass auch Kausalbeziehungen als systemspezifische gegenwärtige Konstruktionen begriffen werden –, müssen wir danach fragen, wie sich teilsystemspezifische Operationen gegenwärtig an Strukturen orientieren, die das Exklusionsphänomen aktualisieren. Ob die Exklusion aus dem Arbeitsmarkt auch sozialrechtliche Exklusionen nach sich zieht, wird nicht ökonomisch, sondern durch politische und rechtliche Operationen (Gesetzgebung, Verordnungen etc.) entschieden, die den Zugang zu sozialen Rechten durch den beruflichen Status konditionieren. Die entscheidende Bedeutung des Berufsstatus für die Inklusion in das politische System sowie in das Rechtssystem wird politisch und rechtlich konstruiert.

5.4 Exkurs: die Ontologisierung der Region Bevor wir auf die Analyse der wirtschaftlichen Konditionierungen des Zugangs zu Staatsbürgerrechten als Faktor der sozialen Exklusion eingehen, wollen wir aber die Bedeutung des Exklusionsphänomens für die These des Primats funktionaler Differenzierung als Zwischenergebnis noch einmal zusammenfassend hervorheben. Wir haben die Primatthese Luhmanns reformuliert (Kap 1), indem wir die Asymmetrie zwischen der primären Form der Systemdifferenzierung und den sekundären Differenzierungsweisen als ein Verhältnis zwischen sozial erzeugter Notwendigkeit und sozial zugelassener Kontingenz definiert haben: Funktionale Differenzierung wird dabei als notwendig gewordene Differenzierungsform wahrgenommen, wobei die anderen Differenzierungsweisen als kontingent sichtbar werden. Das heißt, es wird in der Gesellschaft eine Alternative zu ihr ausgeschlossen, sodass auch die Vorstellungen über Strukturveränderun788

Ibidem, S. 154. LUHMANN, Niklas (1994/1995): „Das Risiko der Kausalität“. In: Zeitschrift für Wissenschaftsforschung Band 9/10 (1994/1995), S. 109. 789

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gen nicht auf die Auflösung der funktionalen Differenzierung zwischen den Teilsystemen hinausweisen. Diese Interpretation kann auf unhaltbare Implikationen der Primatthese in ihrer „orthodoxen Version“ für den Begriff sozialer Ungleichheit verzichten: 1) Dass bestehende Ungleichheiten des Zugangs zu teilsystemspezifischen „Ressourcen“ (positiven Codewerten) aus der Logik funktionaler Differenzierung selbst abgeleitet werden; 2) dass externe Ungleichheiten auch in ihrem Einfluss auf teilsystemspezifische Sachentscheidungen neutralisiert werden; und 3) dass soziale Ungleichheit unter dem Primat funktionaler Differenzierung keine Bedeutung für die soziale Ordnung hat. Wir haben diese Implikationen durch die These der Kontingenz sozialer Ungleichheit ersetzt. Diese besagt, 1) dass sich der Zugang zu den „Ressourcen“ der Teilsysteme durch externe Ungleichheiten beeinflussen lässt – vorausgesetzt nur, dass diese Ungleichheiten als interne Kriterien formuliert und damit als externe Faktoren invisibilisiert werden; 2) dass sich dieser Einfluss auch auf funktionsspezifische Sachentscheidungen erstreckt; und 3) dass soziale Ungleichheit eine Rolle für die soziale Ordnung spielt:Indem sie zur Reduktion der Kontingenz der Programmierungsmöglichkeiten der Funktionssysteme und zur Reduktion der Komplexität der Sozialdimension beiträgt. Da der Einfluss externer Ungleichheiten auf teilsystemische Operationen aufgrund ihrer Illegitimität unsichtbar gemacht werden muss, werden diese Ungleichheiten in der Regel durch die Konstruktion informeller Erwartungsstrukturen produziert und reproduziert, und dies auch in nicht peripheren Ländern wie Deutschland. Von einer „orthodoxen Version“ der Primatthese ausgehend vertritt der brasilianische Rechtssoziologe Marcelos Neves 790 die These, dass es in peripheren Weltregionen wie Lateinamerika im Unterschied zu zentralen Regionen wie Europa und Nordamerika keinen Primat funktionaler Differenzierung gibt. Seine These begründet er auf zwei „Befunden“: In Ländern wie Brasilien findet man weder „eine adäquate Realisierung der Systemautonomie“ [...] noch die Verwirklichung der Bürgerrechte (citzenship) als Institution der sozialen Inklusion“ 791. Diese „orthodoxe Version“ postuliert einen notwendigen Zusammenhang zwischen dem Primat funktionaler Differenzierung und der Realisierung des Imperativs der Vollinklusion aller Individuen in jedes der Funktionssysteme 792. In seiner vergleichenden interregionalen Betrachtung werden die „zentralen Regio790 NEVES, Marcelo (1992): Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne, S. 16; NEVES, Marcelo (2012): „Komplexitätssteigerung unter mangelhafter funktionaler Differenzierung. Das Paradox der sozialen Entwicklung Lateinamerikas“. In: BIRLE, Peter et all (Hg): Durch Luhmanns Brille. Herausforderungen an Politik und an Recht in Lateinamerika und in der Weltgesellschaft. Wiesbaden: Springer/VS Verlag, S. 23. 791 NEVES, Marcelo (2006): „Die Staaten im Zentrum und die Staaten an der Peripherie. Einige Probleme mit Niklas Luhmanns Auffassung von den Staaten der Weltgesellschaft“. In: Soziale Systeme 12 (2006), S. 257. 792 NEVES, Marcelo (1992): Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne, S. 160.

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nen“ (Europa und Nordamerika) durch den Primat funktionaler Differenzierung bzw. durch die Realisierung der Vollinklusion und Lateinamerika als Abweichung davon, also als „negative Moderne“ 793 definiert. Dabei wird der Primat funktionaler Differenzierung selbst implizit 794 als ein normatives Muster angesehen, das nur in zentralen Regionen der Weltgesellschaft der gesellschaftlichen Systemdifferenzierung entspricht. Die lateinamerikanische Sozialentwicklung sei durch eine steigende Komplexität ohne die Konstruktion autonomer Funktionssysteme gekennzeichnet. Grund dafür sei die organisationsbezogene generalisierte Systemkorruption: Die Überlagerung der funktionalen Differenzierung durch Netzwerke der guten/schlechten Beziehungen und durch extreme ökonomische Ungleichheiten, die Beziehungen der Überinklusion und Subinklusion in die Funktionssysteme konditionieren. Diese beiden system-korrumpierenden Faktoren führen dazu, dass sich die organisationsbezogene Unterscheidung Mitglieder/Nichtmitglieder in die gesellschaftliche Differenz Inklusion/Exklusion verwandelt 795. Gesellschaftstheoretisch implizieren diese Sachverhalte eine „funktionsbezogene Entdifferenzierung“ 796. Neves zufolge liegen die Besonderheit und das Paradox der Sozialentwicklung Lateinamerikas eben in diesem Zusammenhang von Systemkorruption, Exklusion und funktionaler Entdifferenzierung. In unserer Interpretation der Theorie funktionaler Differenzierung wird sowohl die These abgelehnt, dass in Brasilien im Speziellen und in Lateinamerika im Allgemeinen der Primat funktionaler Differenzierung durch funktionale Entdifferenzierung verzerrt wird, als auch die Annahme, Exklusion sei eine Besonderheit peripherer Regionen. Neves versteht die funktional differenzierte Gesellschaft als ein Gesellschaftsmodell, in dem der Primat dieser Differenzierungsform nur dann verwirklicht ist, wenn Vollinklusion besteht, was in Europa und Nordamerika der Fall sei. Nach derselben Denkweise der Modernisierungstheorien, die in den 1950er und 1960er Jahren das Gebiet der vergleichenden Analyse zwischen „westlichen“ und „nicht westlichen“ Gesellschaften anhand der Unterscheidung traditionell/modern beherrschten, wird dieses Gesellschaftsmodell als ein „normativer Zielpunkt“, als ein „gewünschter gesellschaftlicher Zustand“ angenommen, in dem die soziale Entwicklung peripherer Regionen gemessen wird: Erreicht die soziale Wirklichkeit dieser Regionen nicht den Zustand der Vollinklusion aller Individuen in jedes der Funktionssysteme, dann passt diese Wirklichkeit nicht zum Primat funktionaler Differenzierung. Damit wird die Existenz des Primats funktionaler Differenzierung unreflektiert mit der Realisierung seiner „guten Seite“ gleichgesetzt. Ausgeblendet wird dabei, dass die regionale Erfahrung des 793

NEVES, Marcelo (2006): „Die Staaten im Zentrum und die Staaten an der Peripherie“, S. 257. Neuerdings macht Neves diese Normativität explizit. NEVES, Marcelo (2012): „Komplexitätssteigerung unter mangelhafter funktionaler Differenzierung, S. 25. 795 Ibidem, S. 22-23. 796 Ibidem, S. 23. 794

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Fehlens von ausreichender Systemautonomie und Inklusion bzw. der „negativen Moderne“ weltgesellschaftliche Vergleichszusammenhänge voraussetzt, in denen die Realisierung der Autonomie der Funktionssysteme und des Prinzips der Vollinklusion in verschiedenen Regionen und Ländern verglichen wird. Vor diesem Hintergrund ist der Primat funktionaler Differenzierung – verstanden als Selbstverständlichkeit dieser Differenzierungsform (Kap 1) – eine weltgesellschaftliche Voraussetzung für die Beschreibung von Regionen als Abweichung von anderen regionalen Mustern, in denen es vergleichsweise (mehr) Systemautonomie und (mehr) Inklusion gibt bzw. sie unterstellt wird. Es gibt keinen lateinamerikanischen, sondern einen weltgesellschaftlichen Primat funktionaler Differenzierung, dem sich die lateinamerikanische Wirklichkeit sowohl durch (Selbst-und Fremd-) Beschreibungen als auch durch kommunikative Vernetzung fügt. Daher macht es keinen Sinn, von „funktionsbezogene[r] Entdifferenzierung in Lateinamerika“ 797 zu sprechen. Denn funktionale Differenzierung bedeutet eben die regionale Entkopplung von Funktionssystemen und ihren Codes, sodass sich nur noch Programmierung und Konditionierung als regionales Phänomen betrachten lassen. Lediglich auf der Ebene der Strukturen, die die Zuordnung von Codewerten zu Tatbeständen konditionieren, kann es Entdifferenzierungsphänomene als lokale Besonderheiten geben. Es steht außer Frage, dass in der großen Mehrheit der lateinamerikanischen Länder die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion im Recht, in der Politik, in der Wirtschaft, in den Massenmedien, im Erziehungssystem, im Wissenschaftssystem und im Gesundheitswesen eng mit partikularistischen Erwartungsstrukturen einer kleinen privilegierten Minderheit verbunden ist 798 . Es ist auch nicht zu leugnen, dass dieses „oligarchische Inklusionsregime“ Lateinamerika von anderen Weltregionen (Europa und Nordamerika) unterscheidet, in denen anspruchsvolle Inklusionsmöglichkeiten in die Funktionssysteme einem breiteren Publikum zugänglich sind. Dies ist ein alter und bekannter Unterschied – die Frage ist jedoch, wie man ihn interpretiert. Anders als Neves verstehen wir dieses „oligarchische Inklusionsregime“ (er spricht lieber von Überinklusion) nicht als funktionale Entdifferenzierung, sondern als lokale Konditionierung der operativen Möglichkeiten der weltgesellschaftlichen Funktionssysteme. Von funktionaler Entdifferenzierung kann nur die Rede sein, wenn das Verschwinden bestimmter Funktionssysteme bzw. bestimmter System/Umwelt-Differenzen erkennbar ist. Es reicht z. B. nicht aus, dass der Code der Wirtschaft einen enormen Einfluss auf politische Programme bzw. Entscheidungen hat, egal ob als legal (Wallstreet) oder als korrupt (Brasilien) 797

Ibidem, S. 17. MASCAREÑO, Aldo (2012):“Strukturelle und normative Interdependenz in der Weltgesellschaft und der lateinamerikanische Beitrag“. In: BIRLE, Peter et al (Hg): Durch Luhmanns Brille. Herausforderungen an Politik und an Recht in Lateinamerika und in der Weltgesellschaft. Wiesbaden: Springer/VS Verlag, S.52.

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dargestellt; die Politik selbst müsste durch Geldzahlung ersetzt werden. Die lokalen Konditionierungen sind allenfalls Entdifferenzierungsversuche im Bereich der systemspezifischen Strukturbildung (Selbstorganisation), die die Möglichkeit, partikularistischen Strukturen zu widersprechen, nicht abschaffen. Das liegt teilweise an der Existenz überlokaler Vergleichszusammenhänge, in denen sich lokale Konditionierungen der Fremdbeobachtung einer anonymen Öffentlichkeit fügen müssen, vor allem wenn die Selbstdarstellung der nationalen Eliten auf eine Verdeckung der partikularistischen Strukturen durch das Bekenntnis zu formal universalistischen Normen nicht verzichten kann. Der universelle Imperativ auf Vollinklusion mag durch die partikularen Interessen von Schichtungs-und Reziprozitätsnetzwerken entprozeduralisiert und dadurch abgebaut werden [...] Strukturelle und normative Supervisionsmechanismen wie z. B politische, wirtschaftliche, Handels -und finanzbezogene Aufsichtskommissionen, systematische Prozeduralisierungskontrolle, Demokratisierungsversuche auf lokaler und nationaler Ebene, Übertragung der Anerkennung von Grund – bzw. Menschenrechtsverletzungen von nationalen auf internationale Gerichtshöfe und ethische Forderungen nach Transparenz im öffentlichen und privaten Raum werden dagegen eingesetzt, oder sie entwickeln sich im Rahmen supranational agierender Akteure bzw. GovernanceRegimes und helfen dabei, Entdifferenzierungsversuche in Grenzen zu halten 799. Hinzu kommt, dass die lokalen Inklusionsprivilegien überlokale Niveaus der Funktionserfüllung innerhalb der Teilsysteme nicht ignorieren können. Die Privilegierten können beispielsweise die Zweckprogramme der universellen Inklusion im Gesundheitssystem zugunsten eigener Interessen in der Praxis durch partikularistische Kriterien ersetzen – etwa dadurch, dass der Zugang zu staatlich finanzierten überteuerten Behandlungen von rechtlichen Entscheidungen und damit von der Bezahlung von Rechtsanwälten abhängig gemacht wird. Aber dieser privilegierte Zugang hätte keinen Sinn mehr, wenn die Behandlung einem bestimmten Niveau nicht entspricht. Und das ist nur möglich, wenn sich zumindest die Leistungsrollenträger an teilsystemspezifischen Verhaltenserwartungen orientieren. Die lokalen Konditionierungen können also der kommunikativen Kraft der weltweiten funktional differenzierten Teilsysteme nicht entkommen 800. Sie führen nicht zu funktionaler Entdifferenzierung. Die Selbstverständlichkeit und damit auch der Primat funktionaler Differenzierung setzen sich als Horizont von miteinander relationierbaren Kommunikationen durch, sodass lokale Ereignisse und Strukturen in überlokale Funktionssysteme integriert werden. Die „oligarchische“ Einschränkung des Imperativs der Vollinklusion durch partikularistische Konditionierungen ist zwar bis heute ein Strukturmerkmal, das 799 800

Ibidem, S. 52-53. Ibidem, S. 53.

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Brasilien im speziellen und Lateinamerika im allgemein von Europa und den USA (noch?) unterscheidet. Es geht dabei aber nicht um einen absoluten, sondern um einen relativen Unterschied. Vergleichende Analysen wie die von Neves gehen von der Annahme aus, in Europa oder in den USA würde tatsächlich nach universalistischen Mechanismen über Inklusion und Exklusion in die Funktionssysteme entschieden. Diese meritokratische Illusion, die auf die Illegitimität einer expliziten Positivierung von Inklusionsprivilegien in einer primär funktional differenzierten Gesellschaft zurückzuführen ist, invisibilisiert die sozialen Bedingungen, die universalisiert sein müssten, damit der Zugang zu den Funktionssystemen als nicht partikularistisch definiert werden könnte. Selektionskriterien, die aufgrund ihrer Ablehnung jeglicher expliziten Diskriminierung konkreter Personengruppen als universalistisch angesehen werden, weisen, wie die Studien Hartmanns zu den Führungspositionen der deutschen Großkonzerne zeigen, häufig große Affinitäten zu den Verhaltenskompetenzen bestimmter sozialer Klassen bzw. Milieus auf. Das heißt, auch die Inklusionskriterien der zentrischen Moderne enthalten Partikularismen. Wie auch Stäheli in seiner Analyse des Publikums des Finanzsystems in den USA argumentiert, sind die universalistischen Inklusionskriterien nicht aus der Logik der Funktionssysteme deduzierbar, sondern Gegenstand semantischer Konflikte, also kontingenter und partikulärer Definitionen des Imperativs auf Vollinklusion: Zum Gegenstand heftiger Debatten wird etwa die Frage nach der ökonomischen Kompetenz und welche Regulierungsformen entworfen werden sollen, um sicherzustellen, dass ein ökonomisches Publikum seine Ökonomizität behaupten kann 801. Die Definition eines „berufenen Spekulanten“ durch die Spezifizierung der für ihn konstitutiven Kompetenzen muss zwar dem Imperativ auf Vollinklusion Tribut zollen, kann aber trotz der offiziellen Selbstdarstellung den mit den spezifischen (nicht universalisierten) Bedingungen der Möglichkeiten des Erwerbs dieser Kompetenzen verbundenen Partikularismus nicht neutralisieren. In diesem Sinne unterscheidet sich das brasilianische „oligarchische Inklusionsregime“ von „universalistischeren Fällen“ „nur“ durch den Bevölkerungsanteil, der vom Partikularismus des Erwerbs der als universell geltenden Kompetenzen profitiert. Einen absoluten Unterschied gäbe es nur, wenn das Prinzip der Vollinklusion (in Brasilien) explizit negiert würde, d. h. wenn die Reproduktion von Privilegien nicht mehr auf ihrer Unsichtbarkeit beruhen müsste, sondern in ihrer Sichtbarkeit legitimiert werden könnte. Auch hinsichtlich der Kumulation von Exklusionen – die als kommunikativ erzeugte Sinneinheit den größten Widerspruch zur Logik funktionaler Differenzierung darstellt – handelt es sich um einen relativen, und nicht um einen absolu801

STÄHELI, Urs.(2009):„Die Konstruktion des Finanzpublikums: eine genealogische Analyse”, S. 260.

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ten Unterschied zwischen Brasilien/Lateinamerika und Europa bzw. Nordamerika. Es steht außer Frage, dass der enorme Bevölkerungsanteil, der in lateinamerikanischen Ländern in den Exklusionsbereich fällt, zu bedeutsamen strukturellen Differenzen in den Teilsystemen führt, die wiederum die Kumulation von Exklusionen reproduzieren: Stärkere Einschränkung des Binnenmarktes in der Wirtschaft, Expansion des Ausnahmezustandsbereiches im Recht, Expansion magischer Religiosität in den Armutsvierteln, Personalisierung politischer Repräsentation, generalisiertes Scheitern der hauptsachlich von den „Unangepassten“ besuchten staatlichen Schulen, Auflösung familiärer Beziehungen, riesige Kluft zwischen dem gesundheitlichen Zustand der verschiedenen Bevölkerungsgruppen 802 . Doch die kumulative Logik, nach der der Ausschluss aus einem Funktionssystem weitere Ausschlüsse nach sich zieht, ist auch in Ländern wie Deutschland am Werk. Hierzulande führt die Exklusion der Migranten von Staatsbürgerrechten beispielsweise zur Exklusion im Arbeitsmarkt 803 . Es geht nicht darum, zu bestreiten, dass die Realisierung des Imperativs der Vollinklusion „im Zentrum“ erfolgreicher ist als „in der Peripherie“. Es geht lediglich darum, die Ontologisierung der Region, in die die Analyse von Neves mündet 804, abzulehnen. Eine solche Ontologisierung lässt sich deutlich daran erkennen, dass Diskontinuitäten und Widersprüche bezüglich der Realisierung funktionaler Differenzierung „im Zentrum“ als eine Wirklichkeit anderen Typs interpretiert werden. Die These, dass in Brasilien weder funktional differenzierte Subsysteme noch die normativen Verhaltenserwartungen der Grundrechte noch der Imperativ der Vollinklusion erkennbar sind („negative Moderne“), ignoriert, dass, wenn dies der Fall wäre, es keinen (sozialen) Sinn machen würde, solche Tatsachen als Problem zu bezeichnen. Der Imperativ der Vollinklusion hätte nur dann keine normative Kraft, wenn eine explizite Positivierung von Inklusionsprivilegien möglich wäre. Aber auch die brasilianischen Eliten sprechen von Meritokratie und individueller Leistung. Das heißt, die Bezeichnung der mangelhaften Realisierung des Imperativs der Vollinklusion, die keineswegs eine Besonderheit „peripherer Regionen“ ist, setzt voraus, dass er den Horizont legitimer normativer Erwartungen bildet. Er lässt sich durch seine Negativität erkennen 805. Und das gilt auch für „das Zentrum“ der Weltgesellschaft. Die Beschreibung der Exklusion als ein Problem „der Peripherie“ trägt nur dazu bei, die Probleme und Widersprüche der modernen Gesellschaft als „regionale Besonderheiten“ zu externali802 SOUZA, Jessé (2009): A Ralé Brasileira. Quem é e como vive. Belo Horizonte: Ed. UFMG; SANTOS, José Alcides Figueiredo dos Santos (2011): „Classe social e desigualdade de saúde no Brasil“. In: Revista Brasileira de Ciências Sociais 75 (2011), S. 27-54. 803 MACKERT, Jürgen (1998): „Jenseits von Inklusion/Exklusion. Staatsbürgerschaft als Modus sozialer Schließung“. In: Berliner Journal für Soziologie 4 (1998), S. 570 ff. 804 MASCAREÑO, Aldo (2012): “Strukturelle und normative Interdependenz in der Weltgesellschaft und der lateinamerikanische Beitrag“, S. 47 805 Ibidem, S. 38.

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sieren und damit die funktionale Differenzierung als eine widerspruchsfreie Wirklichkeit darzustellen. Unsere „nicht orthodoxe“ Interpretation der Primatthese geht davon aus, dass der Primat funktionaler Differenzierung und die Delegitimation eines jeden Privilegs, das nicht in der Lage ist, sich auf teilsystemspezifische Kriterien („meritokratisch“) zu begründen, den Ausgangspunkt der Konstruktion des peripheren Charakters von Weltregionen wie Lateinamerika bilden. Diese Interpretation stellt kein Modell der ausreichenden Systemautonomie und Vollinklusion dar, dessen unvollkommene Realisierung sich als Beweis für die Nichtexistenz funktionaler Differenzierung als primäre Differenzierungsform und für die Bedeutungslosigkeit des Imperativs der Vollinklusion interpretieren ließe. Das heißt, eben die Beschreibung des Fehlens, die auch als Selbstbeschreibung der „Brasilianer“ und „Lateinamerikaner“ vorkommt – Neves spricht von „negativer Moderne“–, setzt voraus, dass sich die Region, in der die mangelhafte Systemautonomie und die Nichtrealisierung der Norm der Vollinklusion als Problem auftauchen, dem Primat funktionaler Differenzierung und dem Imperativ der Vollinklusion fügt. Damit können wir uns von der Normativität der funktional differenzierten Gesellschaft distanzieren – also sie auf einer Beobachtungsebene zweiter Ordnung betrachten –, um sowohl die normkonformen (zentrischen) wie auch die normabweichenden (peripheren) Realitäten in ihrer sozialen Konstruktion innerhalb einer Gesellschaft zu beobachten, die beide Realitäten umfasst.

5.5 Staatsbürgerschaft und Exklusion Das oligarchische Inklusionsregime, das die Periode vom Ende des 19. Jahrhunderts bis Ende der 1920er Jahre („Alte Republik“) kennzeichnete, war auf eine starke Einschränkung politischer Inklusion angewiesen. Sowohl aufgrund ihrer miserablen Lebensbedingungen als auch aufgrund der systematischen Wahlfälschungen war die große Mehrheit der Wähler nicht in der Lage, auf Distanz zu anderen Rollen – vor allem zu kurzfristigen ökonomischen Bedürfnissen – zu gehen und sich als ein autonomer Publikumsanteil an den Wahlen zu beteiligen. Ihre Teilnahme wurde durch externe Faktoren so stark konditioniert, dass ihnen die für die Wählerrolle konstitutive Möglichkeit, auf politische Programme und Entscheidungsfindungsprozesse durch die freie (= nicht durch die Politiker oder die Verwaltung kontrollierbare) Beteiligung an der Bildung politischer Mehrheiten Einfluss zu nehmen, unzugänglich blieb. Hinzu kommt, dass die hegemoniale politische Semantik dieser Periode – der Liberalismus – nur der Konstruktion einer intraelitären Rechtstaatlichkeit diente, nicht aber einer Politisierung der Bedingungen der Möglichkeit der politischen Inklusion. Die Konzeption, dass ein Minimum an Realität der demokratischen politischen Rechte vom Zugang zu sozialen Grundrechten abhängig ist, die schließlich die Behauptung der Autono285

mie der Wählerrollen gegenüber anderen sozialen Rollen und Gesichtspunkten erst ermöglichen, war dabei ein nicht formulierbares politisches Programm. Diese oligarchische Politik und ihre liberale Selbstbeschreibung konnten den sie widersprechenden Inklusionsansprüchen der mittleren Schichten sowie der Diversifizierung der oligarchischen Interessenlagen nicht widerstehen. Eine Erweiterung des politischen Publikumsumfangs konnte nicht vermieden werden und war zum Hauptprogramm der sogenannten „Revolution von 1930“ geworden. Zwar war diese eine Bewegung der dissidenten oligarchischen Gruppen, die sich gegen die Oligarchie aus São Paulo zusammengeschlossen hatten. Jedoch waren sie auf die politische Unterstützung der bis dahin politisch exkludierten Bevölkerungsgruppen angewiesen: auf die urbanen mittleren Schichten und auf die industrielle Arbeiterschaft. Aufgrund der Beteiligung solcher sozialen Gruppen, die es in der Proklamation der Republik nicht gab, wird die „Revolution von 1930“ als die „erste brasilianische Revolution“ angesehen 806. Dass sie viel mehr als eine politische Selbstdarstellung ohne Folge für die Herstellung politischer Entscheidungen bedeutete, lässt sich auch an dem Prozess der Staats- und Nationsbildung erkennen, den die Regierung Getúlio Vargas’ in Gang setzte. Die Konstruktion der Nation als Kollektiv, das sich durch politische Entscheidungen binden lässt, ist innerhalb der Luhmannschen Soziologie der Politik selbst Teil der Konstruktion des Staates als eine Organisation, die sich über die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen reproduziert 807. Dementsprechend zeichnete sich der Prozess der Nationsbildung in der „Ära Vargas“ (1930-1945) eben dadurch aus, dass die zu erreichende „nationale Einheit“ auf die Realisierung staatlicher Programme bezogen wurde, die auf eine Erweiterung der Inklusionschancen in verschiedenen Funktionssystemen abzielten. Ein zentrales Merkmal der „Ära Vargas“ war ihre Industrialisierungspolitik, die als eine Politik der Importsubstitutionen konzipiert worden war. Die Industrie wurde zum Hauptfaktor für das wirtschaftliche Wachstum. Diese tiefe Veränderung, für die der Staat durch eine nachdrückliche Förderung der Basisindustrie – wie Eisen und Erdöl –, durch den Aufbau der Infrastruktur für ein dynamischeres wirtschaftliches Wachstum und durch ein breiteres Angebot beruflicher Ausbildung die Grundlagen setzte, hob die wirtschaftlichen Inklusionsmöglichkeiten auf ein anderes Niveau. Im Zuge dieser staatlich forcierten Industrialisierung wurden die industrielle Bourgeoisie und das Industrieproletariat zu den wichtigsten sozialen Gruppen 808 , die auch die Struktur des Publikums im politischen System veränderten. In diesem Kontext wurde die industrielle Erwerbsarbeit zu einer Form wirtschaftlicher Inklusion, die den Erwartungshorizont nicht nur der urbanen, sondern auch der ländlichen Unterschicht bildete. Das hing vor allem 806

WERCECK, Luiz (1999): Liberalismo e sindicato no Brasil. Belo Horizonte: UFMG. LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, S. 210ff. 808 CARDOSO, Fernando Henrique/FALETTO, Enzo (1976): Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 94ff. 807

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damit zusammen, dass die Inklusion in die vom Staat als Beruf anerkannten Tätigkeiten den Zugang zu den jüngst eingeführten sozialen Rechten (Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrechte) konditionierte. Die staatlich definierten Mindestlöhne (1940 eingeführt) und andere Arbeiterrechte (Consolidação das Leis do Trabalho), welche die Urlaubs- und Kündigungsrechte sowie Ansprüche auf Renten regeln, galten nur für das formell beschäftigte urbane Industrieproletariat, während die informal Beschäftigten und die ländlichen Arbeiter (die überwiegende Mehrheit der lohnabhängigen Bevölkerung bzw. die Mehrheit der Frauen) davon ausgeschlossen blieben 809. Diese Konditionierung des Zugangs zu den sozialen Rechten – was sicherlich auch negative Konsequenzen für die Konkretisierung/Universalisierung der politischen und zivilen rechten hatte – durch den Berufsstatus wurde als „regulierte Staatsbürgerschaft“ 810 bezeichnet. Durch diese „regulierte Staatsbürgerschaft“ konnte der Staat der Arbeiterschaft ein Minimum an ökonomischer Sicherheit für die Lebensführung bzw. für den Lebenslauf gewähren, sodass die Teilnahme an anderen Funktionssystemen von einer zu punktuellen Geldabhängigkeit befreit wurde. Zwar war die Inklusion der industriellen Arbeiterschaft in die Politik über die Gewährung gewerkschaftlicher Mitgliedschaft Bestandteil eines „konservativen Modernisierungsprojekts“, das auf die Kooptierung politisch „gefährlicher“ Gruppen abzielte. Das Verbot autonomer gewerkschaftlicher Organisation und die Kontrolle der offiziellen Gewerkschaften durch das Arbeitsministerium prägten das Bild eines Konflikte vermeidenden „Entwicklungspfades“, der mit dem preußischen Modell Bismarcks verglichen wird 811. Jedoch – wie die Luhmannsche Theorie der Systemdifferenzierung postuliert – war der Staat nicht in der Lage, die Organisationen zu steuern, die im Kontext einer Expansion der Politik in der „Ära Vargas“ entstanden waren. Gewerkschaften und politische Parteien, die in einem ersten Moment den konservativen Staatskorporatismus unterstützten, gewannen in einem zweiten Moment mehr Autonomie. So kam es Anfang der 1960er zu einer allmählichen „Radikalisierung“ der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, sodass der Staatskorporatismus ihre Entscheidungen nicht mehr kontrollieren konnte. Es gab nun eine begrenzte Öffentlichkeit, in der soziale und politische Bewegungen für soziale Transformationen anwachsen konnten. Sie setzten sich für radikalere Veränderungen des Status quo ein, vor allem für Reformen, 809

POCHMANN, Marcio (2007): „Política social na periferia do capitalismo“. In: Ciência e Saúde Coletiva 12 (2007), S. 1477-1489. 810 DOS SANTOS, Wanderley Guilherme (1998): Décadas de espanto e uma apologia democrática. Rio de Janeiro: Rocco, S. 98ff. 811 FIORI, José Luís (1998): „O capitalismo e suas vias de desenvolvimento“. In: HADDAD, Fernando (Hg): Desorganizando o consenso. Nove entrevistas com intelectuais à esquerda. Petrópolis: Vozes, S. 65-85. Die erste Verfassung der „Ära Vargas“ (die Verfassung von 1934) wurde auch sehr von der Weimarer sozial-demokratischen Verfassung von 1919 beeinflusst. Vgl. dazu NEVES, Marcelo (1992): Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne, S. 127.

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die auf die Universalisierung der sozialen Rechte (Reform des Bildungswesens, politische Reform, Reform des Gesundheitswesens) und die Veränderung der wirtschaftlichen Strukturen (Landreform, Reform des Finanzwesens usw.) abzielten. Solche Reformen, die teilweise zum politischen Programm der Regierung João Goulart (1961-1964) gehörten, die durch einen Militärputsch – der von „zivilgesellschaftlichen Sektoren“ wie Teilen der Mittelschicht, Großgrundbesitzern, dem Bankkapital und den Medienunternehmen getragen wurde 812 – abgesetzt wurde, wurden bis heute nicht durchgeführt. Die in der „Ära Vargas“ eingeführten wohlfahrtsstaatlichen Mechanismen der Inklusionsvermittlung hatten auch Konsequenzen für den „Exklusionsbereich“. Einerseits führte die Verbindung von Staatsbürgerschaft und Beruf („regulierte Staatsbürgerschaft“) dazu, dass sich weitere Dimensionen an die Kumulation von Exklusionen in der Unterschicht anschlossen: Diejenigen, die durch den Teufelskreis wirtschaftlicher Exklusion und Exklusion aus Intimbeziehungen betroffen waren, erreichten den Berufsstatus nicht und wurden dadurch aus sozialrechtlichen Verbesserungen ausgeschlossen. Andererseits konnten die staatsbürgerlichen Rechte als Erwartungshorizont fungieren, an denen immer breitere Bevölkerungsgruppen ihre Inklusionsansprüche orientierten. Dabei ist zu betonen, dass die „regulierte Staatsbürgerschaft“ trotz der Expansion der Staatsbürgerrechte auf nicht industrielle Tätigkeiten erhalten blieb. So war die Erweiterung des Zugangs zur Politik, die der Arbeiterschaft nach 1930 zugutekam, eben auf die sogenannten „organisationsfähigen Arbeiter“ beschränkt. Also auf diejenigen, die aufgrund der Sicherheit ihres Arbeitsplatzes in der Lage waren, Mitglieder von parteipolitischen und gewerkschaftlichen Organisationen zu werden, in Konflikt mit den Arbeitergebern bzw. dem Staat zu geraten und durch die freie (d. h. nicht durch die Politiker oder die Verwaltung kontrollierbare) Beteiligung an der Bildung politischer Mehrheiten auf politische Programme und Entscheidungsfindungsprozesse Einfluss zu nehmen. Das lief auf die Entstehung einer gewerkschaftlichen Bewegung am Ende der 70er hinaus, die sich zur stärksten organisierten Gruppe politischer Opposition der Militärdiktatur (1964-1985) entwickelte. Höhepunkt dieses Prozesses war die Gründung der Arbeiterpartei (PT) im Jahr 1980, die seit 2003 das Land regiert 813. Die Selektivität dieser Erweiterung der Beteiligungschancen an der Politik liegt jedoch darin, dass die „nichtorganisierte Masse“ nicht davon profitiert. Das Modell der staatlich forcierten wirtschaftlichen Entwicklung dauerte bis in die 80er Jahre an. Es hatte fast fünf Jahrzehnte lang kontinuierliche wirtschaft812 FIORI, José Luís (1995): O vôo da coruja. Uma leitrua não liberal da crise do estado desenvolvimentista. Rio de Janeiro. Ed.Uerj. 813 Gerade die Organisationsfähigkeit, die die industrielle Arbeiterschaft auch während der Militärdiktatur aufwies, ist ein Beweis dafür, dass die wohlfahrtsstaatlichen normativen Erwartungen ihren Horizont des Handelns und Erlebens bildeten. Die Tatsache, dass auch die durch die Diktatur außer Kraft gesetzten politischen Rechte ihre normative Kraft nicht verloren hatten, zeigt dies unzweideutig.

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liche Wachstumsraten garantiert und eines der rückständigsten Länder des Globus bis zu Beginn der 80er Jahre in die achtgrößte Wirtschaft der Welt verwandeln können 814. Hinzu kam außerdem, dass die durch die Militärdiktatur unterbrochene Demokratisierung der Politik nicht das Ende des Staatskorporatismus als Form der politischen Inklusion bedeutete. Vielmehr setzte die autoritäre Regierung in Brasilien – entgegen dem neoliberalen Modell des chilenischen Militärregimes – den staatsdirigistischen „preußischen Weg“ in konservativer Manier fort. Einerseits wurde die Sozialpolitik sogar „universalisiert“, sodass z. B. auch die wachsende Mittelschicht, die nicht in den industriellen Erwerbsarbeitssektor inkludiert war, Zugang zu sozialen Rechten bekam. Andererseits wurden die Exkludierten kaum berücksichtigt und das Stellen der Verteilungsfragen durch soziale Bewegungen gewaltsam unterdrück 815. So blieben die Landarbeiter weiterhin von den arbeitsrechtlichen Verbesserungen ausgeschlossen, da die Verrechtlichung der ländlichen Arbeitsverhältnisse im Widerspruch mit den Interessen der Großgrundbesitzer stand. Diese selektive Verwirklichung sozialer Rechte impliziert die Kumulation von Exklusionen für diejenigen, die von den wohlfahrtsstaatlichen Mechanismen der Inklusionsvermittlung ausgeschlossen sind. Soziale Rechte im Speziellen und Grundrechte im Allgemeinen sind Antworten des Rechts auf umweltliche Anforderungen nach der Erhaltung bzw. dem Wachstum der ausdifferenzierten sozialen Sphären. Dies geschieht dadurch, dass die Verrechtlichung anderer Funktionssysteme die freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß der Inklusion in verschiedenen Lebensbereichen sicherstellt. Es handelt sich um Mechanismen der Interdependenzunterbrechung zwischen den Funktionssystemen, die dazu dienen, die Inklusionschancen in bestimmten Teilsystemen von einer zu punktuellen Kopplung an Operationen anderer Teilsysteme zu befreien. Es kommt beispielsweise darauf an, eine unmittelbare Determination der Intimbeziehungen durch die Politik sowie eine direkte Einwirkung der Ökonomie auf politische Entscheidungsfindungsprozesse zu vermeiden. In diesem Sinne kann die Evolution des modernen Staats als eine Expansion verrechtlichender Mechanismen interpretiert werden, die Inklusionschancen in verschiedenen Funktionssystemen durch das Recht – und das heißt: Durch gesetztes und änderbares Recht – so konditionieren, dass direkte Interdependenzen zwischen den Zugängen zu den Funktionssystemen ausgeschaltet werden. Im bürgerlichen demokratischen Rechtsstaat wird die Politik selbst verrechtlicht. Dies geschieht durch die rechtliche Zweitcodierung der Macht nach rechtmäßiger und rechtswidriger Macht. Der Rechtsstaat kann in diesem Kontext als „Relevanz der Differenz von Recht und Unrecht für die Poli814

SOUZA, Jessé (2008): Die Naturalisierung der Ungleichheit, S. 143. LEUBOLT, Bernhard (2012): „Im Süd-Westen nichts neues? Kontinuitäten und Brüche in der Sozialpolitik der Regierung Lula“. In: STEHNKEN, Thomas/de la FONTAINE, DANA (Hg). Das politische System Brasiliens. Wiesbaden: VS Verlag, S. 369. 815

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tik definiert werden“ 816. Daraus folgt keine Entdifferenzierung von Recht und Politik, sondern die Konstruktion einer selektiven Interdependenzbeziehung zwischen beiden Funktionssystemen. Diese Interdependenz wird durch die Verfassung zu einer strukturellen Kopplung, die wechselseitige Einflüsse zwischen Recht und Politik spezifiziert, filtert und erwartbar macht 817. Die (für die Politik) positive Leistung dieser Verrechtlichung besteht darin, dass die Verfassung die Politik gegen den unmittelbaren Eingriff partikularistischer Pressionen schützt. Der wichtigste Schutzmechanismus ist dabei das demokratische Wahlverfahren, das die Generalisierung politischer Unterstützung jenseits konkreter Interessengruppierungen ermöglicht. Aber auch Mechanismen wie die Gewaltenteilung und das Mehrparteiensystem spielen dabei eine wichtige Rolle. Entscheidend ist, dass die Teilnahme an der Politik sowie der Gebrauch von Macht durch das Recht von der unmittelbaren Einwirkung systemexterner Kräfte unabhängig gemacht werden. Deshalb gehören auch soziale Rechte zu den verrechtlichenden Mechanismen, die die Inklusion in die Politik von den Operationen anderer Funktionssysteme zu entkoppeln versuchen. Die Legitimation sozialer Grundrechte wird dadurch erreicht, dass die Tatsache, dass ein Minimum an Realität der freiheitlich-demokratischen Grundrechte von der Inklusion in andere Funktionssysteme wie Familie, Wirtschaft, Erziehung oder Gesundheitssystem abhängt, politisiert wird. Die Verrechtlichung bestimmter Funktionssysteme dient also dazu, zu verhindern, dass die Teilnahme an der Politik durch Exklusionsprobleme in diesen Lebensbereichen d. h. durch externe Faktoren, konditioniert wird. So ist die Trennung zwischen der Wählerrolle (die Publikumsrolle der Politik) und anderen Rollen bzw. kurzfristigen Interessen der Wählerschaft nur dann zu erwarten, wenn die Individuen aufgrund grundrechtlich gesicherter Inklusionsperspektiven in der Lage sind, auf „Hilfe“ und „Leistungen“ der Politiker, die sie zur Gegenleistung im Moment der Stimmabgaben verpflichten, zu verzichten. Bei der Nichtverwirklichung sozialer Rechte ist eher wahrscheinlich, dass die Exklusion aus anderen Funktionssystemen auch zur politischen Exklusion führt; denn politische Inklusion setzt die Autonomie der Wählerrolle voraus. Über die Gewährung von Grundrechten – was die Verfassung als strukturelle Kopplung von Politik und Recht voraussetzt – kann die Politik sowohl sich selbst gegen die Fremdbestimmung seiner Operationen durch Umweltfaktoren als auch die Individuen gegen die Kumulation von Exklusionen schützen. Mit anderen Worten: Die Politik beschäftigt sich mit Inklusionsproblemen anderer Funktionssysteme, indem sie ihre eigenen Inklusionsprobleme politisiert. In diesem Sinne bezeichnet Luhmann den Wohlfahrtsstaat als „realisierte politische Inklusion“ 818 der Ge816

NEVES, Marcelo (2006): „Die Staaten im Zentrum und die Staaten an der Peripherie“, S. 252. LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, S. 389-392. 818 LUHMANN, Niklas (1981): Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. München: Olzog, S. 27. 817

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samtbevölkerung. Dem fügt Neves 819 hinzu, er sei auch realisierte rechtliche Inklusion. Das heißt, Staatsbürgerrechte (Citizenship) lassen sich nicht auf ihren rechtstechnischen Sinn als Mitgliedschaft in einem Staat als Organisation (Staatsangehörigkeit) reduzieren: Soziologisch müssen sie eher als politischrechtlicher Mechanismus der Inklusion in die Gesellschaft (in ihre Funktionssysteme) betrachtet werden 820. Dabei ist nicht davon auszugehen, dass die selektive Realisierung der Staatsbürgerrechte bzw. Inklusion ein Beweis für die Nichtexistenz des Primats funktionaler Differenzierung ist. Nach unserer Rekonstruktion der Primatthese Luhmanns wird diese selektive Realisierung nur in einer Gesellschaft zum Problem, die sich nicht mehr primär in Schichten differenziert, also nur in einer primär funktional differenzierten Gesellschaft. Nur in einer primär funktional differenzierten Gesellschaft kann die normative Erwartung formuliert werden, dass jedes Individuum unabhängig von seiner Herkunft Zugang zu jedem gesellschaftlichen Teilsystem haben soll. Nur in einer primär funktional differenzierten Gesellschaft erscheint die Kumulation von Exklusionen als ein Phänomen, das wichtigen normativen Strukturen widerspricht. Staatsbürgerrechte sollen verhindern, dass die eventuelle Exklusion aus einem Bereich zu weiteren Exklusionen führt. Die Kumulation von Exklusionen bedeutet, dass das Individuum auf die Perspektive eines einzigen Funktionssystems reduziert wird: Seine Inklusionsprobleme in einem Funktionssystem fungieren als ein Hindernis für andere Inklusionen und für die dadurch ermöglichte Entfaltung der Individualität nach Sozialisationserfahrungen in verschiedenen Teilsystemen. Staatsbürgerrechte sind eben als Maßnahme gegen diese Reduktion der Individualität zu verstehen. Sie sollen sicherstellen, dass die Inklusionsperspektive des Individuums die funktionale Perspektive jedes Teilsystems transzendiert d. h., dass es als Mensch bzw. Medium der Gesellschaft unabhängig von seinen partiellen, funktionssystemspezifischen Inklusionen anschlussfähig für unbestimmte weitere Teilnahmen an gesellschaftlich relevanten Ereignissen bleibt. Während die Grundrechte des bürgerlichen Rechtsstaats (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Forschungsfreiheit, Sicherheit des Eigentums, Unverletzlichkeit der Privatsphäre usw.) 821 die verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme (Massenmedien, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft, Intimbeziehungen) gegen allzu punktuelle Eingriffe des politischen Systems schützt, dienen die sozialen Rechte des Wohlfahrtsstaats dazu, die Punkt-zu-Punkt-Kopplungen zwischen der Wirtschaft und anderen Teilsystemen zu unterbrechen und die Teilnahmemöglichkeiten an diesen Teilsystemen von der Notwendigkeit kontinuierlicher Geldzahlung unabhängig zu machen 822. Was die Bildung der sozialen Person durch gesellschaftlich 819

NEVES, Marcelo (2006): „Die Staaten im Zentrum und die Staaten an der Peripherie“, S.256. Ibidem, S. 255. 821 LUHMANN, Niklas (1974): Grundrechte als Institution. 822 KUCHLER, Barbara (2006): „Bourdieu und Luhmann über den Wohlfahrtsstaat“, S.15 820

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differenzierte Inklusionsformen angeht, soll der bürgerliche Rechtsstaat ihre Reduktion auf die Politik und der Wohlfahrtsstaat ihre Reduktion auf die Wirtschaft verhindern.

5.6 Die Grenzen des Wohlfahrtsstaats Schaut man sich die Geschichte des brasilianischen Nationalstaats genauer an, lässt sich keine Dominanz des politischen Systems feststellen, die zu einer politischen Reduktion der sozialen Person führen konnte. Die wohlfahrtsstaatliche Politisierung und Verrechtlichung des Zugangs zu Funktionssystemen hat sich nicht nur an Problemen der Unterfinanzierung 823 gestoßen. Trotz der Konstruktion eines expansiven Staatskonzepts seit der „Revolution von 1930“, das auf die Politisierung und die Verrechtlichung individueller Inklusionschancen abzielte, war diese Alternative auch durch die Dominanz eines den Staat und die Politik verteufelnden (ökonomischen) Liberalismus 824 gefangen. Dem Ökonomisierungsansatz Uwe Schimanks 825 folgend kann diese ökonomische Beschränkung der Politik sowohl als „strukturelle“ Konditionierung der Politik durch ökonomische Gesichtspunkte als auch als eine die Dominanz der Wirtschaft naturalisierende „Selbstbeschreibung“ angesehen werden. Während strukturelle Finanzierungsprobleme eine externe (umweltliche) Limitation bzw. Konditionierung der Politik und des Wohlfahrtsstaates bewirken, fungiert der in Brasilien herrschende ökonomische Liberalismus als eine Art „self-fulfilling prophecy“ 826, welche die externe ökonomische Konditionierung der Politik als etwas Unvermeidbares und Alternativloses darstellt und zu legitimieren versucht. Auch wenn die „strukturelle“ Form der Ökonomisierung nicht so stark ist, kann die „ökonomisierende gesellschaftliche Selbstbeschreibung“ dazu führen, dass die Alternativenlosigkeit ökonomischer Kriterien als „Maß aller Dinge in der Gesellschaft“ 827 und als eine Art notwendiges politisches Programm von allen wichtigen Parteien 828 vertreten wird. Es handelt sich bei dieser zweiten Form der Ökonomisierung um die politische Konstruktion der Nichtpolitisierbarkeit „ökonomischer Imperative“. Alle regierungsfähigen Parteien gehen von der Notwendigkeit solcher Imperative (etwa die bis 2012 für unveränderbar gehaltene Hochzinspolitik) aus und tragen 823 CARDOSO, Adalberto (2010): „Uma Utopia Brasileira. Vargas e a Construcao do Estado de BemEstar numa Sociedade Estruturalmente Desigual“, S. 776. 824 SOUZA, Jessé (2008): Die Naturalisierung der Ungleichheit, S. 145ff. 825 SCHIMANK, Uwe (2009): „Die Moderne. Eine funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft“, S. 327-351. 826 Ibidem, S. 343ff. 827 Ibidem, S. 345. 828 Über die Aufnahme dieses politischen Programms des Finanzsektors durch die Arbeiterpartei in Brasilien siehe GRUN, Roberto (2009): „Financeirização de esquerda? Frutos inesperados no Brasil do século XXI“. In: Tempo Social Vol. 21, N. 2 (2009), S. 153-184.

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damit zur Invisibilisierung anderer Möglichkeiten bei. Die wichtigste Konsequenz dieser doppelten ökonomischen Beschränkung der Politik war die Nichtpolitisierung der Exklusionsprobleme, die sich aus der Aktualisierung des „Erbes der Sklaverei“ ergeben. Die brasilianische Politik hat diese Exklusionsprobleme nicht zu einem dauerhaften politischen Thema d. h., zu Problemen des politischen Systems, machen können. Die Tatsache, dass die befreiten Sklaven ihrem eigenen Schicksal überlassen wurden und dass diese Überlassung über die Generationen hinweg zur Reproduktion eines ungeheuren „Exklusionsbereiches“ führte, wurde und wird noch heute nicht durch diesen „ökonomischen Liberalismus“ politisiert. Die in der „Ära Vargas“ (1930-1945) angefangene Expansion der Politik, die mit der Expansion verrechtlichender Mechanismen auf verschiedene Lebensbereiche einherging, konnte nicht fortgesetzt werden. Die Anfang der 1960er Jahre anwachsende Tendenz zur Politisierung bestimmter sozialer Verhältnisse, die soziale Exklusion reproduzieren, wurde durch die Militärdiktatur (1964-1985) unterbrochen. Erst infolge der „Redemokratisierungsbewegungen“ am Ende der 1970er bzw. am Anfang der 1980er Jahre wurde es wieder möglich, Fragen der sozialen Ungleichheit und Exklusion in der Öffentlichkeit zu stellen. Dieses Wiederaufleben der „sozialen Frage“, die sowohl von neu gegründeten politischen Parteien als auch von sozialen Bewegungen getragen wurde, lief auf die Erklärung der Staatsbürgerrechte in der Verfassung von 1988 hinaus, die den Übergang zu einem demokratischen Regime markieren sollte. Trotz der Vorherrschaft der konservativen „Kräfte“ in der verfassungsgebenden Versammlung (1987-1988) war der Verfassungstext aufgrund der weitgehenden Meinungsführerschaft 829 der sozialen Bewegungen und der linken Parteien von „linksrepublikanischen Zügen“830 geprägt, „die vor allem mit der Ausweitung staatsbürgerlicher Rechte (Cidadania) und der gleichzeitig verankerten Garantie von sozialen Rechten auf einen progressiven Staatsumbau abzielt[e]“ 831 . Die neue Verfassung kann in ihrem sozialpolitischen Inhalt durch drei zentrale Innovationen charakterisiert werden. Erstens wurden Mindeststandards der „sozialen Sicherheit“ festgelegt: Bildungs-, Pensions- und Gesundheitswesen ebenso wie die staatlichen Sozialtransfers mussten universell allen Bürgern zur Verfügung stehen 832. Zweitens wurden über Quoten des BIP Mindestinvestitionen in Bildungsund Gesundheitseinrichtungen auf lokaler Ebene festgelegt. Drittens wurde die Verbindung von beruflichem Status und dem Zugang zu sozialen Rechten durch die Universalisierung bestimmter wohlfahrtsstaatlicher sozialer Leistungen formal abgeschafft. Hierbei sind zwei Bereiche von großer Bedeutung: die Ablö829

OLIVEIRA, Francisco de (2006): „O Momento Lenin. In: Novos Estudos 27 (2006), S. 36. LEUBOLT, Bernhard (2012): „Im Süd-Westen nichts neues?, S. 370. 831 Ibidem. 832 DELGADO, Guilherme et alli (2009): „Seguridade Social. Redefinindo o Alcance da Cidadania“. In: Políticas Sociais – Acompanhamento e Análise. Boletin 17: Vol. 1. Brasília: IPEA, S. 17-37.

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sung des Kassen-Gesundheitssystems durch das universalistische „Einheitliche Gesundheitssystem“ (SUS – Sistema Único de Saúde) und die Einführung einer staatlichen Mindestrente für die in der Landwirtschaft arbeitende Bevölkerung in der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns. Während die formale Universalisierung des Zugangs zum Gesundheitswesen durch mehrere Faktoren – vor allem aber durch Probleme der Unterfinanzierung – nicht konkretisiert wurde, ist die staatliche Mindestrente aufgrund ihrer Entkopplung von Beiträgen zu einem der wichtigsten Instrumente der Sozialpolitik geworden. Insbesondere für die Minderung der Armut auf dem Land, wo die informalen Arbeitsverhältnisse die Finanzierung der Rente nicht stimulieren bzw. ermöglichen, war diese Mindestrente entscheidend. Mit der kontinuierlichen Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns (vor allem ab 2003) 833, der mit dem Trend zur Steigerung der Reallöhne 834 einherging, kann von einer gewissen Ausweitung sozialer Sicherheit auf zuvor von jedem Grundrecht ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen gesprochen werden. Trotzdem konnte die programmatische Verfassungsnormierung der sozialen Grundrechte, die bei ihrem Erlassen (1988) vor dem Hintergrund des internationalen Trends in Richtung des neoliberalen Programms eines Abbaus der Sozialpolitik als „Fortschritt“ wahrgenommen wurde, ihre Funktion der Generalisierung normativ gesicherter Verhaltenserwartungen als Mittel der Verhaltenssteuerung auf der Konkretisierungsebene nicht erfüllen. Neves zufolge scheitern die Grundrechte sowohl auf der Dimension des Handels (als Fähigkeit der Normen zur Verhaltenssteuerung) als auch auf der Dimension des Erlebens (als Erwartungssicherheit hinsichtlich der Normen). Zieht man die Diskrepanz zwischen Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung bzw. Rechtsbefolgung in Betracht – sei es hinsichtlich der Verfassungsvorschriften über Grundrechte der Arbeiter, oder der wohlfahrtsstaatlichen Bestimmungen über Erziehung, Gesundheitswesen usw. – „kommt man zwingend zum Schluss, dass sich in der Sache nichts ändert und es eher um fassadenhafte Konstruktionen als um programmatische Normen geht“ 835. Dabei findet die Semantik des Konstitutionalismus keine Entsprechung in den Strukturen, an denen sich die Inklusionserwartungen der Bevölkerung orientieren, und nimmt deshalb die Form eines bloßen symbolischen Mechanismus der Legitimation politischer Ordnung an. Die Verfassung dient nicht der rechtlichen Funktion einer kongruenten (Konsens unterstellenden) Generalisierung normati-

833

BARBOSA, Nelson/SOUSA, José Antônio Pereira de (2010): „A inflexão do governo Lula. Política econômica. crescimento e distribuição de renda. In: SADER, Emir/GARCIA, Marco Aurélio (Hg): Brasil entre o passado e o futuro. São Paulo: Boitempo, S. 75. 834 GONZALES, Roberto et alli (2009): „Regulação das relações de trabalho no Brasil. O marco constituicional e dinâmica pós-constituinte“. In: Políticas Sociais – Acompanhamento e Análise. Boletin 17: Vol. 2. Brasília: IPEA, S. 130. 835 NEVES, Marcelo (1992): Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne, S. 159.

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ver Verhaltenserwartungen; sie fungiert vielmehr als eine Quelle symbolischideologischer Legitimation der politischen Macht 836. Nach fünf demokratisch gewählten Regierungen seit dem Ende der Militärdiktatur lässt sich diese Diagnose einer Diskrepanz zwischen Verfassungstext und Verfassungskonkretisierung – die Neves wenige Jahre nach der Erlassung der Verfassung formuliert hat – zumindest hinsichtlich der Universalisierung von Staatsbürgerrechten bestätigen. Zwar sind einige Verbesserungen geschehen. So wurden während der Regierungszeit Cardosos (1995-2002) einige Programme eingeführt, die auf die Minderung der extremen Armut sowie auf die Verbesserung der Schulleistung ärmerer Schüler abzielten 837. Unter der Regierung Lula (2002-2010) sind diese Programme erweitert worden, was zusammen mit seiner neuen Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik zur ersten dauerhaften Reduktion der ungeheuren Einkommensungleichheit Brasiliens beitrugt 838 . Doch haben diese Programme trotzt der sehr gut funktionierenden bürokratischen Abläufe und des Erfolgs bei der Bekämpfung der Hungersnot 839 nicht den Status eines sozialen Rechts erreicht: Der Anspruch auf sie kann nicht eingeklagt werden 840. Entgegen des Fokusses auf soziale Rechte, der den Verfassungstext auszeichnet, wird also ein Modell der sozialen Politik praktiziert, das auf die Verrechtlichung der Reproduktionsbedingungen bestimmter Lebensbereiche – im Fall des wichtigsten Armutsbekämpfungsprogramms der Regierung Lula wäre es die Verrechtlichung der ökonomischen Bedingungen zur Reproduktion des Funktionssystems Familie – verzichtet. Diese Diskrepanz zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit ergibt sich nicht aus einer „kulturellen Besonderheit“ des Landes, etwa aus einer vermutlichen Unfähigkeit, formale normative Erwartungen zu erfüllen. Die in der Verfassung enthaltenen Rechte auf politische Mitbestimmung wurden beispielsweise durch mehrere Projekte, die auf die Ausweitung der politischen Partizipation der „Zivilgesellschaft“ an Entscheidungsfindungsprozessen in verschiedenen staatlichen Organisationen der Exekutive und der Legislative auf den 836

Ibidem, S. 105. LEUBOLT, Bernhard (2012): „Im Süd-Westen nichts neues?, S. 372. 838 BALTAR, Paulo Eduardo et. Alli (2010):“Moving towards Decent Work. Labour in the Lula govermment. Reflections on recent Braszilian experience. In: Global Labourd University Working Papers, 9. http://www.global-labour-university.org/fileadmin/GLUWorkingPapers/GLUWPNo.9.pdf. (Letzter Besuch am 15.08.2012). 839 Das Hauptprogramm der Armutsbekämpfung heißt „Bolsa Família“ (Familienbeihilfe) und wird heute über mehr als 50 Millionen Menschen gewährt. Es handelt sich um einen Einkommenstransfer, der an die Durchführung von Impfungen und regelmäßigen Schul- und Arztbesuch gekoppelt ist. Diese Ausgaben erreichen weniger als 3% des BIP, während die Ausgaben für beispielsweise den Schuldendienst 8% ausmachen. 840 JACCOURD, Luciana (2009): „Assistência Social e Segurança alimentar . Entre novas trajetórias, velhas agendas e recentes desafios“. In: Políticas Sociais – Acompanhamento e Análise. Boletin 17: Volume 1. Brasília: IPEA, S. 221.

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drei Ebenen der Föderation abzielten, größtenteils konkretisiert. Daran haben aber nur die organisierten Sektoren der „Zivilgesellschaft“ teilnehmen können, was bereits auf die Relevanz der Organisationsmitgliedschaft als Faktor für die politische Inklusion (bzw. für politische Exklusion) hinweist. Die Diskrepanz zwischen „Norm“ und „Wirklichkeit“ scheint in erster Linie die Konkretisierung der sozialen Rechte als Bestandteil einer Form der politischen Inklusion zu betreffen, die über ihre soziale (nicht politische) Voraussetzung reflektiert und zu gewährleisten versucht. Die von T. H. Marshall 841 rekonstruierte Entfaltung von Bürgerrechten (vor allem von sozialen Rechten) im Rechtssystem, die durch die Politisierung der sozialen Bedingungen für Möglichkeiten der Verwirklichung der Norm der politischen Gleichheit (politische citzenship) ausgelöst wird, findet nicht statt. Bei Marshall ergibt sich aus der Norm der politischen Gleichheit der Bedarf nach einer Erweiterung der ursprünglich strikt nur als Abwehrrechte verstandenen Bürgerechte. Die gleichberechtigte Inklusion in die Politik verlangt, dass z. B. ein Minimum an realem Einkommen für jeden Bürger als eine normative Garantie, die jedes Individuum an die politisch erzeugte Kollektivität bindet, rechtlich positiviert und gewährleistet wird. Politische Gerechtigkeit (Gleichheit) wird zum Kriterium für die Erweiterung der Staatsbürgerrechte und verbindet sich auf diese Weise mit Vorstellungen über soziale Gerechtigkeit. Differenzierungstheoretisch betrachtet: Der Ausgleich sozial benachteiligter Lagen mittels Sozialpolitik bzw. sozialer Rechte begründet sich in der Idee, dass die Inklusion der Bürger in andere Funktionssysteme als Voraussetzungen für politische Gleichheit ein Gegenstand politischer und rechtlicher Entscheidung sein soll. Politische Gleichheit ist also der Auslöser eines Prozesses der Verrechtlichung verschiedener Gesellschaftsbereiche durch Staatsbürgerrechte. Gewiss kann der Wohlfahrtsstaat Organisationen, in denen über Inklusion in die Funktionssysteme entschieden wird (Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Unternehmen), nicht steuern. Doch kann er sie dazu hinführen, sich von einer inkludierenden Programmierung strukturieren zu lassen. Der Staat ist einerseits eine politische Organisation, die sowohl Macht konzentriert (Parlament, Exekutive) als auch mit anderen Funktionssystemen strukturell gekoppelt ist. Das geschieht über andere Organisationen wie Universitäten, Schulen, Krankenhäuser, Forschungszentren oder auch staatliche Fernsehkanäle. Diese Organisationen, die sich mit anderen Funktionssystemen (Wissenschaft, Erziehung, System der Krankenbehandlung, Massenmedien) identifizieren, können sich unter einer politisch demokratischen Verfassung auf Entscheidungsprämissen einstellen, die soziale Inklusion begünstigen. Dennoch finden die Politisierung und die Verrechtlichung organisatorischer Entscheidungsprämisse auch in demokratischen Rechtsstaaten der „zentralen Moderne“ ihre Grenzen. Es gibt organisatorische 841 MARSHALL, Thomas H (1992): „Staatsbürgerrechts und soziale Klassen“.In: Ders.: Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaats, Frankfurt a. M.: Campus, S. 33- 94.

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Entscheidungsprämissen, insbesondere informale, die auch in demokratischen Rechtsstaaten wie Deutschland Exklusionen erzeugen, ohne dass diese Entscheidungsprämissen (schon weil sie sich informal reproduzieren) problematisiert werden. Das darf aber kein Anlass dafür sein, zu ignorieren, dass die Grenzen der Politisierung in peripheren Ländern wie Brasilien stärker sind. In Brasilien ergeben sich die Probleme, die die Diskrepanz zwischen Verfassungstext und Wirklichkeit reproduzieren, in erster Linie nicht aus einer autoritären Politisierung anderer Lebensbereiche, sondern aus einer doppelten ökonomischen Beschränkung der Politik, die zu einem Bedeutungsverlust ihrer strukturellen Kopplung mit dem Recht (die Verfassung) führt. Das lässt sich sehr gut an der Befreiung des Staates von seiner Rolle als Garant der Bürgerechte 842 erkennen. Unter der Regierung Cardoso wurde eine Reihe von Reformen eingeführt, die der „Zivilgesellschaft“ die Verantwortung für die Konkretisierung sozialer Rechte überließen. Der Staat sollte nicht viel mehr als die zivilgesellschaftliche Hilfsbereitschaft organisieren, wodurch NGOs eine wichtige Rolle in der Sozialpolitik einnahmen. Hinzu kommt, dass die Hegemonie des neoliberalen Konzepts des Minimalstaates auf die politische Konstruktion der „Unantastbarkeit“ bestimmter ökonomischer Imperative (vor allem Grenzen der Staatsverschuldung) hinauslief. Die Erweiterung der sozialen Rechte durch staatliche Finanzierung findet seitdem ökonomische Grenzen, die die Politik in Form rechtlich verankerter und selbsterzeugter Einschränkung antizipativ zu respektieren hat. Auch unter der Regierung Lulas hat sich diese Entmachtung des Staates und der demokratischen Politik durch die vermeintliche Alternativenlosigkeit bestimmter ökonomischer Imperative kaum verändert. Zwar wurde dieses neoliberale Staatskonzept durch eine Rückkehr zu einer auf staatlichen Interventionen basierten „keynesianisch“ orientierten Wirtschaftspolitik teilweise aufgegeben, was sich an der Wiederbelebung staatlicher Betriebe wie der staatlichen Entwicklungsbank zeigt. Jedoch ist keine Verbesserung der staatlichen Finanzierungsbedingungen des Gesundheits- und des Bildungswesens festzustellen, die die exkludierenden Mechanismen konterkarieren konnte. Eine Ausnahme stellt das Stipendienprogramm Pro-Uni dar, das dem Modell „treffsicherer SozialtransferProgramme“ folgend Kindern aus armen Familien das Studium an privaten Universitäten finanziell fördert. Es handelt sich aber weder um ein soziales Recht noch um ein Programm für die Exkludierten, sondern um ein Programm für die „aufsteigende Unterschicht“ 843 d. h., für eine soziale Klasse, der anders als den Exkludierten die zeitliche Entfaltung der Individualität durch die Inklusion in verschiedenen Funktionssystemen zugänglich ist. Es handelt sich dabei um Indi842

Siehe dazu. DAGNINO, Evelina (2003): „Sociedade Civil, Espaços Públiucos e a Construção Democrática no Brasil“. In: Ders. (Hg): Sociedade Civil e Espaços Públicos no Brasil. São Paulo: Paz e Terra, S. 288ff. 843 Siehe dazu SOUZA, Jessé (2010): Os batalhadores brasileiros: nova classe média ou nova classe trabalhadora? Belo Horizonte: UFMG.

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viduen, die an Intimbeziehungen teilnehmen und durch ihre Arbeitsdisziplin, die Formalisierung ihrer ökonomischen Tätigkeiten und den Zugang zu Bildungstiteln eine bedeutsame Verbesserung ihrer Inklusionsperspektiven erlebten. Diese Verbesserung der Inklusionsperspektiven der „aufsteigenden Unterschicht“ führte aber gerade zu einer relativen Verschlechterung der sozialen Lagen der Exkludierten. Da sie nicht in der Lage sind, die neuen Inklusionschancen zu nutzen, vor allem weil die Unplausibilität jeder Erwartung auf eine „bessere Zukunft“ durch ihre soziale Erfahrungen der Erwartungsenttäuschungen zum Ausgangspunkt ihrer Selbstwahrnehmung wird, tendieren die Exkludierten dazu, den ihnen attribuierten „fehlenden Willen zum Aufstieg“ durch das eigene Verhalten zu „bestätigen“. Durch diese Übereinstimmung zwischen Selbsterwartungen und sozialen Erfahrungen, die jede Inklusionserwartung diskreditiert, wird auch die „Zukunftslosigkeit“ der Exkludierten sozial konstruiert. Diese Konstruktion lässt sich sehr gut an der sozialen Selektivität erkennen, die das gezielte Publikum bestimmter inklusionsfördernder Maßnahmen – entgegen den formalen Zwecken der Politik – in der Praxis in zwei teilt: auf der einen Seite die inkludierbaren Armen, von denen die Erbringung einer Gegenleistung erwartet wird, und auf der anderen Seite die nicht inkludierbaren, denen keine Leistungsfähigkeit zugerechnet wird. Staatlich geförderte Mikrokredite für landwirtschaftliche Familienbetriebe werden beispielsweise nur rückzahlungsfähigen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen gewährt, was die soziale Lage der „kreditunwürdigen“ im Vergleich zu den „kreditwürdigen“ herabstuft. In einer funktional differenzierten Wirtschaft, in der die Zurechnung von (Rück-) Zahlungsfähigkeit ein unentbehrliches Kriterium für die Entscheidung über Inklusion und Exklusion darstellt, kann nichts anderes erwartet werden – es sein denn: Die Zahlungsunfähigkeit bzw. Kreditunwürdigkeit der Exkludierten wird als systeminterne Konstruktion problematisiert, etwa als Ergebnis einer „self-fulfilling prophecy“, was freilich nicht zur Auflösung der Differenz zahlungsfähig/zahlungsunfähig führen würde, wohl aber zu ihrer Verschiebung. Daran anschließend wollen wir einen letzten Aspekt des Verhältnisses zwischen Politik und Exklusion analysieren: die Grenze der Politisierung des Exklusionsphänomens, die sich aus der Tatsache ergibt, dass die Kumulation von Exklusionen auch politische Exklusion umfasst. Zwar sind die Exkludierten, wie alle Bürger, Wähler und somit formal Teil des Publikums der Politik. Jedoch hat die Exklusion aus anderen sozialen Systemen zur Folge, dass die formal vorgesehene Inklusion in die Politik beeinträchtigt wird. Einerseits bewirkt die Kumulation von Exklusionen in den Bereichen der Intimbeziehungen, der Erziehung und der Erwerbsarbeit als Form der sicheren Regenerierung der eigenen Zahlungsfähigkeit, dass die Individuen nicht in der Lage sind, ihre Rolle als Wähler von anderen sozialen Rollen und kurzfristigen Interessenskalkülen tatsächlich zu trennen und in der Folge „Hilfen“ und „Leistungen“ der Politiker abzulehnen, mit denen diese den Wähler zur politischen Unterstützung und Stimmabgabe 298

verpflichten wollen. Trotz der Verbesserung der ökonomischen Lage der ärmeren Familien und der Abkopplung der Verwaltung der Transferleistungsprogramme von politischen Manipulationen auf der Bundesebene spielt dieser Mechanismus einer Verzerrung der Autonomie der Wählerrolle noch immer eine wichtige Rolle in der brasilianischen Politik, vor allem weil die Verwaltung auf der lokalen Ebene stärker durch die Politik kontrolliert wird. Andererseits ergibt sich aus der Exklusion von Organisationen der Interessensvertretung (Gewerkschaften, Verbände usw.), dass die Individuen auch von der informalen Teilnahme an der Konstruktion politischer Entscheidungen als organisiertes und einflussnehmendes Publikum ausgeschlossen bleiben. Diese doppelte politische Exklusion läuft darauf hinaus, dass die Interessen und Ansprüche der davon betroffenen Individuen nicht als öffentlich relevante Privatinteressen 844 von der Politik thematisiert werden.

5.7 Die Beobachtung der Kontingenz von Sozialstrukturen Bevor wir auf die Analyse der politischen Exklusion in Brasilien eingehen, müssen wir die Verbindung zwischen Politik und der Problematisierung von Exklusionsproblemen erläutern. Luhmann sieht in der Entwicklung des demokratischen Wohlfahrtsstaates die Quelle dieser Problematisierung, wodurch die Politik die Verantwortung für Exklusionsprobleme übernimmt, die in anderen Funktionssystemen erzeugt werden. Obwohl der Staat seine Umwelt (sowohl die innergesellschaftliche wie auch die psychische Umwelt) im Sinne der alteuropäischen Tradition nicht „beherrschen“ kann, öffnet die Eigendynamik des politischen Systems unter der Bedingung demokratischer Codierung und seiner durchgehenden Beobachtung zweiter Ordnung das System für intern erzeugte Leistungsangebote an die Umwelt. Da mit der politischen Wahl die Möglichkeiten, Politik zu sanktionieren, sich multiplizieren, nimmt das Mitleid (könnte man sagen) der Politik mit sozialen Benachteiligungen entsprechend zu […] Im Grenzfall versteht das politische System sich selbst als zuständig für den Ausgleich von Schicksalsschlagen jeder Art; und natürlich erst recht für Folgen, die in anderen Funktionssystemen erzeugt und ,externalisiert, werden 845. Entscheidend dabei ist der Zusammenhang zwischen Demokratisierung der Politik, Verrechtlichung von sozialen Verhältnissen und der Beobachtung der Kontingenz sozialer Strukturen in unterschiedlichen Funktionssystemen. Für Pablo

844

Zur politischen Konstruktion des öffentlichen Interesses als öffentlich relevante Privatinteressen siehe LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, S. 123ff. 845 Ibidem, S. 423/424.

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Holmes 846 liegt in diesem Zusammenhang die gesellschaftliche Grundlage der sinnhaften Erzeugung und Beobachtung von sozialen Widersprüchen, also von Variationen und Abweichungen, welche die soziale Evolution und die Veränderung von Ungleichheitsstrukturen ermöglicht. Holmes zufolge wird die Möglichkeit, die Kontingenz von Sozialstrukturen zu beobachten und soziale Systemen mit antagonistischen Erwartungslinien zu versorgen, nur im Kontext demokratischer Rechtsstaatlichkeit freigesetzt. Damit ist kein Primat der Politik postuliert, sondern es werden lediglich die Einflussmöglichkeiten der Politik hervorgehoben, die durch verschiedene strukturelle Kopplungen zwischen der Politik und anderen Gesellschaftsbereichen – aber vor allem zwischen Politik und Recht – institutionalisiert werden. Die Politik kann also andere soziale Systeme nicht steuern. Ihre Einflussmöglichkeiten bestehen darin, dass kollektiv bindende Entscheidungen oft in die Erweiterung bzw. Einschränkung der operativen Möglichkeiten anderer Teilsysteme münden. Diese werden aufgrund bestimmter politischer Entscheidungen dazu gezwungen, ihre eigenen Inklusionsregeln zu ändern, um sich an die durch die Politik erzeugte neue Umweltlage anzupassen. Auch die Inklusionsprämissen nicht staatlicher Organisationen sind dem Einfluss der Politik ausgesetzt. In Brasilien werden beispielsweise private Universitäten durch die staatliche Finanzierung des Studiums von Kindern aus armen Familien dazu geführt, neu Studienplätze zu schaffen. Ob dies die schon schlechte Qualität der Studiengänge der meisten privaten Universitäten noch weiter verschlechtert, ist eine andere Frage. Das bedeutet nun, dass die Möglichkeit der Kontingenzsetzung von Strukturen sozialer Ungleichheit, die die funktional differenzierte Gesellschaft charakterisiert und sie von vormodernen hierarchisch geordneten Gesellschaften unterscheidet, maßgeblich von der Ausdifferenzierung eines politischen Systems abhängt, das durch die Problematisierung seiner eigenen Erwartungsstrukturen die Problematisierung der Strukturen anderer sozialer Systeme begünstigt. Das liegt daran, dass die institutionalisierte Möglichkeit der Infragestellung der eigenen Strukturen, die die Einheit zwischen dem Machthaber und seiner Machtstelle durch die Normalisierung der Oszillation zwischen Opposition und Regierung auflöst, die Beobachtung jeder Art von Erwartungsstrukturen als Ergebnis kontingenter Entscheidungen erlaubt. Somit werden auch andere soziale Systeme dazu gezwungen, zu beobachten, dass die Strukturen und Inklusionsregeln, an denen sie sich orientieren, eigene Konstruktionen sind, deren „letzte Grundlage“ aus in der Zeit zu verortenden Entscheidungen besteht. Es handelt sich um die Temporalisierung der Beobachtung von Sozialstrukturen, wodurch diese als kontingente Ergebnisse von Entscheidungen und nicht mehr als Notwendigkeit einer unveränderbaren Ordnung wahrgenommen werden, deren Grundlagen sich 846

HOLMES, Pablo (2012): Verfassungsevolution in der Weltgesellschaft. Differenzierungsprobleme des Rechts und der Politik. Flensburg: Dissertation.

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– wie im europäischen Mittelalter – außerhalb und jenseits der Zeit dieser Welt ansiedeln. Man kann nicht davon ausgehen, dass jede Gesellschaft ihre Erwartungsstrukturen als kontingente Konstruktion beobachtet werden konnte. Die Kontingenz und die temporalisierte Konstruktionsweise von Erwartungen blieben in vormodernen Gesellschaften schon deshalb unsichtbar, weil die sozialen Erwartungen nicht als Erwartungen beobachtet wurden. Soziale Systeme können sich an bestimmten Erwartungen orientieren, ohne zu beobachten, dass es sich um eigene Erwartungen – und nicht etwa um Regelmäßigkeiten der Welt – handelt. Diese Invisibilisierung von Erwartung qua Erwartungen ist ein Mechanismus, der umso wichtiger wird, desto weniger eine Gesellschaft über die Möglichkeit verfügt, mit der Kontingenz dieser Erwartungen umzugehen, ohne ihre eigene Selbstreproduktion zu gefährden. Denn die Beobachtung der Kontingenz von Erwartungen ist zugleich die Beobachtung, dass es widersprüchliche Orientierungsmöglichkeiten gibt, über die entschieden werden muss. Das heißt, nur in Gesellschaften, in denen Mechanismen der Entscheidung über sich widersprechende Erwartungen – einschließlich antagonistischer Inklusionserwartungen – zur Verfügung stehen, können Erwartungen als kontingente Konstruktionen der sozialen Praxis beobachtet werden. Für Luhmann bedeutet eine Entscheidungssituation gerade, dass ein Beobachter (der ein soziales System sein kann) mit seinen Erwartungen als kontingente Sinnfestlegungen konfrontiert wird 847. Erst nachdem die Vorstellung einer gemeinsamen Herkunft – die bindende Idee eines gemeinsamen Gründungsmythos oder einer Perfektionsvorstellung –, die außerhalb der Zeit liegt, durch einen temporalisierten Erzeugungsmodus der Anschlussfähigkeit von Sinn anhand von Entscheidungen ersetzt wird, kann sich die Gesellschaft die Veränderbarkeit ihrer Strukturen selbst (anstatt einer außergesellschaftlichen Kraft wie einem Gott oder der Natur) zurechnen. Diese gesellschaftliche Sichtbarmachung der Kontingenz sozialer Strukturen setzt die Entwicklung einer sozialen Immunlogik voraus, welche einen sicheren Umgang mit sich wechselseitig widersprechenden Erwartungen durch Entscheidungen über die Durchsetzung der einen oder der anderen Erwartungslinie ermöglicht. Diese soziale Immunlogik sorgt dafür, dass die Gesellschaft trotz der strukturellen Unsicherheit, die sich aus Konflikten zwischen antagonistischen Erwartungen ergibt, weiter reproduziert wird. Je nachdem, wie eine Gesellschaft durch ihre Immunlogik die Ablehnung von Kommunikation (Konflikt) zulassen kann, ist sie in der Lage, Widersprüche mehr oder weniger im Voraus zu erkennen und sie als gesellschaftlich relevante Konfliktmöglichkeiten zu typisieren, die entweder beseitigt oder evolutionär als Lernpotenzial ausgenutzt werden. Diese Antizipation und Zulassung von Widersprüchen ermöglicht also die Überprüfung des Durchsetzungspotenzials von Erwartungen. Am Ergebnis jeder Ent847

LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 400.

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scheidung über Konflikte zwischen antagonistischen Orientierungen wird erkennbar, welche Erwartungslinie (ob die widersprochene oder die widersprechende Erwartungslinie) bessere Aussichten hat: „Wenn als Ergebnis eines Konflikts ein Nein gewinnt, kann man deshalb davon ausgehen, dass es eine erste Bewährungsprobe bestanden und seine Durchhaltefähigkeit bewiesen hat“ 848. Die Mechanismen, die der hohen Toleranz einer funktional differenzierten Gesellschaft für Konflikte bzw. für die Bildung und Reproduktion antagonistischer Erwartungen zugrunde liegen, bestehen aus rechtlichen und politischen Verfahren, die die Entstehung und Verarbeitung von Konflikten (kommunizierte Widersprüche) ermöglichen. Konstitutiv für diese Verfahren ist die Unterstellung, dass sie sowohl im Recht wie auch in der Politik nicht im Ergebnis durch Machteinsatz schon vorbestimmt sind 849. Diese Ungewissheit über den Ausgang verfahrensmäßiger Entscheidungsprozesse kann aber nur institutionalisiert werden, wenn sich Recht und Politik als operativ geschossene Teilsysteme ausdifferenzieren. In primär stratifizierten Gesellschaften war das Recht ein Instrument der politischen Herrschaft von Oberschichten, die sich aufgrund ihrer religiösontologischen Legitimation als eine enttemporalisierte Herrschaft durchsetzte. Das heißt, ihre Geltung kann nicht auf Entscheidungen zurückgeführt werden, da diese jenseits der Zeit liegt. Die Entstehung eines ausdifferenzierten politischen Systems ist konstitutiv mit der Ausdifferenzierung von Macht als soziale Ressource eigener Art verbunden. Die Ausdifferenzierung des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Macht ist ein voraussetzungsvoller Prozess. Damit sich das Einwirken von Handeln auf Handeln (Machtausübung) als eine soziale Praxis eigener Art von anderen, durch grundverschiedene Kommunikationsmedien (Wahrheit, Wissen, Geld) geregelte soziale Praxen ausdifferenziert, muss sichtbar werden, dass das Handeln Egos ausschließlich auf das Handeln Alters zurückgeführt werden kann. Dabei ist die Rolle physischer Gewalt entscheidend, auch und gerade in ihrer Symbolisierung als bloße Drohung bzw. als bloße Aussicht auf diese negative Sanktion. Eben deshalb setzt die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems, das auf Macht basiert ist, die Konzentration und Zentralisierung von Macht voraus. Die Entstehung zentralisierter Formen der politischen Herrschaft hatte dabei paradoxe Auswirkungen. Einerseits gewinnt der Herrscher damit die Möglichkeit, auf kommunikative Offerten mit „nein“ zu antworten, ohne mit Konflikten rechnen zu müssen 850 . Andererseits führt dieser Zentralisierungsprozess zu einer zunehmenden Sichtbarkeit der Macht sowie der Unterscheidung zwischen „Regierenden“ und „Regierten“ 851, was zu der Frage nach der Legitimität des Regie848

LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 466. LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, S. 124. 850 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 467. 851 Die unterlegenen Schichten einer „klassischen“ stratifizierten Gesellschaft sahen sich nicht als „Regierte“. Sie verstanden sich eher als von Natur aus einfach Unterlegene. Die Sichtbarkeit der 849

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rens führt. Dieses Legitimitätsproblem konnte aber dadurch verschleiert werden, dass der Monarch die Aufgabe übernahm, die Konflikte (Kriege) um die Position des Regierenden zu lösen und somit Frieden zu gewähren, der dann als Staatsräson als letzte Begründung der Machtausübung fungierte 852. So war der Souverän immer noch in der Lage, Widersprüche und Paradoxien kraft der Rationalität seiner Machtstellung (der Staatsräson) zu beseitigen. Damit wird das Recht immer noch unmittelbar durch die Politik kontrolliert. Zur Ausdifferenzierung zwischen Recht und Politik kommt es nur, wenn das Recht von der Aufgabe, Herrschaft durchzusetzen, entlastet wird, und stattdessen die Funktion übernimmt, den Zugang zu und die Ausübung von Macht zu regeln. Das setzt aber voraus, dass der Machthaber nicht mehr über das Recht als Instrument zur Durchsetzung seiner Herrschaft verfügen kann. Das geschieht dadurch, dass die Paradoxie, die darin liegt, dass die Konzentration von Machtquellen zu ihrer Legitimationsbedürftigkeit führt, in die Autonomisierung des Rechtssystems als nicht mehr durch die Politik kontrollierte Quelle von Legitimation der Macht mündet: Die durch die zentralisierten Herrschaftsapparate zunehmend begünstigte Technisierung des Rechts fungierte als eine pre-adaptative advance, die später die operative Geschlossenheit des Rechts gegenüber der Politik erleichterte. Dabei wird klar, dass die Konstitutionalisierung der Politik konstitutiv für die Ausdifferenzierung zwischen Recht und Politik ist. Das liegt daran, dass die Verfassung als strukturelle Kopplung dieser beiden Funktionssysteme dient und dadurch ihre wechselseitigen Einflüsse filtert: Strukturelle Kopplungen erleichtern bestimmte Einflüsse und schließen andere aus. Da es sich dabei nicht bloß um operative, momentane Kopplungen handelt, sondern um andauernde und erwartbare Interdependenzen, gewinnen spezifische Strukturen des politischen Systems durch die Verfassung eine enorme Relevanz für die Reproduktion der Strukturen des Rechtssystems und umgekehrt. Die durch die strukturelle Kopplung „Verfassung“ ermöglichte Spezifikation der Interdependenzbeziehungen zwischen beiden Teilsystemen fördert ihre operative Autonomie, indem diese von der Berücksichtigung unbestimmter Umwelteinflüsse entlastet werden. Für die Politik bedeutet die Verfassung, dass der Code Recht/Unrecht sowohl für die Machtübernahme als auch für die Machtausübung relevant wird. Das impliziert, dass die Erfordernisse des Rechts zu strukturellen Variablen der politischen Prozesse der Konstruktion kollektiv bindender Entscheidungen werden, sodass z. B. auch demokratisch (verfahrensmäßig) diskutierte und getroffene Mehrheitsentscheidungen für verfassungswidrig erklärt werden können. Diese rechtliche Legitimationsbedürftigkeit der Politik hat aber zur Folge, dass die Unterscheidung zwischen „Regierenden“ und „Regierten“ kann als ein „Übergangsphänomen“ verstanden werden, weil die Konzentration von Macht in der Oberschicht die Differenzierung politischer Rollen von anderen sozialen Rollen und somit die funktionale Ausdifferenzierung der Politik erleichtert. 852 LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, S.122.

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Politik von dem unmittelbaren Einfluss umweltlicher Faktoren wie ökonomischer Interessen und religiöser Weltanschauungen entlastet wird 853 . Das geschieht durch die „rechtliche Kommodifizierung der Macht“ 854 d. h., dadurch, dass die Macht kraft der Verfassung als „herrschaftskonstituierende“ 855 normative Grundlage des Rechts zu einem Gut wird, um das verfahrensgemäß gekämpft werden kann. Es handelt sich dabei um die Umstellung auf rechtlich geregelte Verfahren als Legitimationsquelle der Macht, aus denen die demokratischen Verfahren bestehen. Aufgrund seiner Verrechtlichung wird der Code der Macht als eine temporalisierte Unterscheidung zwischen Regierung/Opposition bzw. zwischen Überlegenheit/Unterlegenheit sichtbar, mit der Folge, dass jede Macht auf kontingente Entscheidungen (einschließlich auf Entscheidungen des Volkes in politischen Wahlen) zurückgeführt werden kann. Für das Recht dient die Verfassung als Ersatz von Außenanlehnungen (wie z.B. das Naturrecht), indem sie als interne normative Grundlage die operative Geschlossenheit des Rechts konsolidiert: Als Norm der Normen durchdringt sie transversal das gesamte Rechtssystem und gibt ihm damit Konsistenz. Durch die Verfassung bildet sich eine reflexive Ebene des Codes Recht/Unrecht innerhalb des Systems heraus: der Code constitucional/unconstituional. Der (einfachen) Gesetzmäßigkeit ist die Verfassungsmäßigkeit übergeordnet 856. Das Recht differenziert sich nur als ein operativ geschlossenes Teilsystem, wenn das Erlassen von Normen aus Normen zur allgemeinen Praxis der Rechtsetzung wird. Eben diese zirkuläre Normproduktion wird durch das Verfassungsrecht als Mechanismus der Selbstbegründung des Rechts sichergestellt. Die Verfassung schließt das Rechtssystem, indem sie die normativen Verfahren festsetzt, die die Relevanz innergesellschaftlicher Faktoren innerhalb des Systems regulieren 857. Durch die Verfassungsverfahren, die die Gesetzgebung nach der Alternative verfassungsmäßig/verfassungswidrig prüfen, wird beispielsweise der Wiedereintritt der Politik in das Recht erlaubt, ohne dass dies auf die politische Bestimmung des Rechts hinausläuft. Es handelt sich also um die Selbstbestimmtheit des Rechts bzw. um die Notwendigkeit, Recht im Rechtssystem selbst zu konstruieren, also das, was als Positivierung des Rechts bezeichnet wird. Damit wird das gesetzte Recht auf eine politische Entscheidung zurückgeführt (auf die Verfas853

Das darf jedoch mit der Neutralisierung dieser Faktoren nicht verwechselt werden darf. HOLMES, Pablo (2012): Verfassungsevolution in der Weltgesellschaft. Differenzierungsprobleme des Rechts und der Politik, S. 92-93. 855 NEVES, Marcelo (2008): „Verfassung und Öffentlichkeit. Zwischen Systemdifferenzierung, Inklusion und Anerkennung.“ In: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte deutsches und europäisches öffentliches Recht (4) 2008, S. 481. 856 Ibidem, S. 486. 857 LUHMANN, Niklas (1990): „Verfassung als evolutionäre Errungenschaft“. In: Rechtshistorisches Journal( 1990), S. 187. 854

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sungsgebung), die aber gerade wie ein Filter für weitere politische Einflüsse auf das Recht fungiert. Das Feste (das gesetzte Recht) gründet sich auf das Bewegliche (änderbares Recht). Das hat zur Folge, dass das jeweils geltende Recht als Selektion vor dem Hintergrund anderer Möglichkeiten beobachtet wird. Erst in dem Moment, in dem sich das Recht als positives Recht, dessen Geltung aus einer rechtlichen Verfassung abgeleitet wird, durchsetzt, kann es die eigenen Operationen produzieren und sich gegen jeden direkten Einfluss gesellschaftlich diffuser Macht schützen. Andererseits macht die Verfassung den Code Macht/Nichtmacht für das Recht relevant und strukturiert die kognitive Offenheit des Systems durch die normative Begrenzung seiner Lernbereitschaft und Wandlungsmöglichkeiten. Das erfolgt über den normativen Identitätskern der Verfassung (Unantastbarkeitsgarantie), der nur durch einen politischen Bruch in Form einer verfassungsgebenden Gewalt abgeschafft werden kann. Die Beobachtung der Kontingenz sowie die Institutionalisierung der Veränderbarkeit von Strukturen, die durch die Ausdifferenzierung zwischen Recht und Politik freigesetzt werden, lässt sich nur verstehen, wenn die Differenzierung zwischen normativen und kognitiven Erwartungen, Normen und Wissen, „Sollen“ und „Sein“ berücksichtigt wird. Die Differenz, die dadurch entsteht, liegt in dem Modus des Erwartens: Während sich normative Erwartungen durch ihre lernunwillige Einstellung zu Enttäuschungsfällen auszeichnen – d h., dadurch, dass auf Abweichungen kontrafaktisch mit Bewährung der bestehenden Erwartungsstrukturen und externaler Zurechnung der Enttäuschungen reagiert wird –, sind kognitive Erwartungen im Gegenteil dadurch charakterisiert, dass das System bereit ist, die enttäuschten Erwartungen zu ändern und somit die Abweichungen als strukturkonform zu internalisieren. Die operative Schließung des Rechts selbst führt zur Autonomisierung normativer Erwartungen, mit denen die Welt kontrafaktisch beobachtet wird. Doch das ist bereits eine Antwort auf die Steigerung gesellschaftlicher Komplexität und der damit verbundenen Irritierbarkeit der sozialen Systeme, die sich jetzt in einer komplexeren Umwelt befinden. Die Komplexitätszunahme erfordert mehr Lernbereitschaft (mehr kognitive Erwartungen). Das ist aber nur möglich, wenn stabile (oder schwer veränderliche) Strukturen zur Verfügung gestellt werden und als „Sicherheitsbasis“ für die Veränderung anderer Strukturen fungieren. Das erfolgt im Rechtssystem über die Sicherung kontrafaktisch stabilisierter Verhaltenserwartungen (Normen). Nur wenn die Reproduktion bestimmter Erwartungen trotz Enttäuschungsfälle sichergestellt ist, können sich soziale Systeme darauf verlassen, kognitive Erwartungen gelegentlich zu ändern, ohne die Anschlussfähigkeit ihrer einzelnen Sinnoperationen zu verlieren. So wird die Wissenschaft durch die rechtlich garantierte Freiheit der Wissenschaft normativ auf Veränderungen ihrer Kognitionen (die nur noch als Hypothesen gelten) eingestellt 858. Das gilt aber auch für das 858

LUHAMNN, Niklas (1984): Soziale Systeme, S. 441.

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Recht selbst: Indem es über verfassungsrechtliche Unantastbarkeitsgarantien (unveränderliche Normen) verfügt, kann es sich auf die Veränderungen anderer Normen einstellen. Holmes 859 zufolge liegt das Verhältnis zwischen der Beobachtung der Kontingenz von Sozialstrukturen und der Differenzierung von kognitiven und normativen Erwartungen darin, dass sich die Entscheidungen im Rechtssystem nicht mehr auf eine wissenschaftliche Beschreibung der Welt und der sozialen Verhältnisse beziehen können, so als ob die Funktion des Rechts in der Bestätigung der Realität durch sie widerspiegelnden Normen bestünde. Die rechtlichen Entscheidungen müssen vielmehr auf durch verrechtlichte politische Verfahren positivierte Grundrechte Bezug nehmen d. h., auf die Idee der politischen Gleichheit, wie sie durch die Politik selbst entfaltet wird 860. Das bedeutet nicht, dass das rechtliche Gebot (rechtliche Gerechtigkeit), gleiche Fälle gleich zu behandeln und konsistent angesichts vergangener Entscheidungen (die dieses Gebot auch beachten sollten) zu entscheiden, durch die politische Forderung nach gleicher Behandlung von Menschen ersetzt wird. Aber die Entfaltung der Idee politischer Gleichheit – z. B. in Form politisch konstruierter Kollektivität, die zu einer Vermehrung rechtlicher Klagen führt – kann die rechtliche Vorstellung über die Gleichheit bzw. Ungleichheit der Fälle irritieren und somit Änderungen stimulieren 861. Entscheidend ist hier, dass die Verfassung als strukturelle Kopplung von Recht und Politik es nicht mehr erlaubt, Normen direkt aus Wirklichkeitsbeschreibungen oder aus Wissensbeständen abzuleiten. Keine Kognition darf das Recht ohne die Vermittlung der politischen Verfassung bestimmen. Andersfalls würden die normativen Erwartungen, die das Recht kontrafaktisch sichern soll, durch die unhinterfragte Normativität einer bestimmen Wissensform bzw. Wirklichkeitsbeschreibung ersetzt werden. Die Beobachtung der Kontingenz und somit die Möglichkeit eines Wandels von Strukturen hängt also damit zusammen, dass keine Beschreibung oder Auffassung der sozialen Verhältnisse (einschließlich die wissenschaftlichen) den Status rechtlicher Normen erhält, ohne dass sie dem Konflikt mit anderen Beschreibungen und Auffassungen ausgesetzt werden. Die moderne Gesellschaft kann gerade durch rechtliche und politische Verfahren eine enorme Toleranz von Konflikten zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsbeschreibungen erreichen. Diese Verfahren begünstigen die soziale Existenz widersprüchlicher Erwartungen, indem sie aus Mechanismen bestehen, die über die Durchsetzung der einen oder anderen Erwartungslinie zu entscheiden erlaubt, ohne die antagonistischen Erwartungen als solche eliminieren zu müssen. Einerseits müssen die rechtlichen und politischen Verfahren über antagonistische Erwartungen (z. B. zwischen unvereinbaren Inklusionserwartungen), die sich auf 859

HOLMES, Pablo (2012): Verfassungsevolution in der Weltgesellschaft. Differenzierungsprobleme des Rechts und der Politik, S. 220. 860 Ibidem, S. 196. 861 Ibidem, S. 126-127.

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andere soziale Systeme beziehen (z. B. auf die Konflikte um die Verfassungsmäßigkeit von „Quoten“ und anderen „affirmative policies“ als Förderungsmaßnahme für die Inklusion benachteiligter schwarzer Bevölkerung in die Universitäten) entscheiden, sodass sich nur eine dieser Erwartungslinien durchsetzt. Andererseits aber müssen die Verfahren offen für weitere Konflikte und Dissensen gehalten werden, was durch die Existenz und Förderung einer „pluralistischen Öffentlichkeit“ 862 als Instanz, in der auch getroffene Entscheidungen der Politik und des Rechts kritisiert werden können, symbolisiert wird. Neves zufolge ist diese „Arena des Dissens“ 863 („die pluralistische Öffentlichkeit“) unverzichtbar für die Legitimation sowohl des Rechts als auch der Politik: Es muss die Zulassung von Konflikten und Widersprüchen als Moment des Kampfs um bestimmte rechtliche Normierungen bzw. politische Entscheidungen vorausgesetzt werden, damit die Verfahren des Verfassungsstaates als faire Verfahren angesehen werden; ansonsten würden sie von vornherein als mit einer der kämpfenden Parteien identifizierte Machtmechanismen delegitimiert werden. Sowohl vor dem Treffen von konfliktabsorbierenden Entscheidungen, die manche Erwartungen annehmen und andere ablehnen (Kompromisslösungen sind natürlich auch möglich), als auch danach ist die Legitimität der Verfahren darauf angewiesen, dass das Recht und die Politik nicht als Instrument bestimmter Gruppen oder Systemrationalitäten wahrgenommen werden. Vor dem Treffen der Entscheidung wird die „Fairness“ der Verfahren durch die Unterstellung der Ungewissheit über den Ausgang des zu entscheidenden Konflikts erreicht und danach durch das Offenhalten der Zukunft für neue Durchsetzungsversuche der zurückgewiesenen Erwartungen bzw. Interessen: Wie im Recht greift man auch im Politiksystem […] auf die Idee eines fairen, nicht im Ergebnis durch Machteinsatz schon vorbestimmten Verfahrens zurück. Verfahren müssen mit ehrlicher Ungewissheit über den Ausgang eingeleitet werden. Die sogenannte „Prozeduralisierung“ der Legitimität heißt im wesentlichen: Einstellung auf eine unbekannte Zukunft, in der entgegensetzte Wertungen zum Zuge kommen können […] Zum Sinn von Legitimität gehört dann vor allem, dass die Möglichkeit anderer Präferenzsetzungen nicht negiert wird 864. Der (legitimierbare und annehmbare) Sinn des Wahlverfahrens liegt beispielsweise nicht darin, einen Konsens zwischen den politischen Gegnern zu finden, 862 Zur Definition des Begriffes der Öffentlichkeit in der politischen Soziologie Luhmanns siehe NEVES, Marcelo (2008): „Verfassung und Öffentlichkeit. Zwischen Systemdifferenzierung, Inklusion und Anerkennung“ 863 Ibidem, S. 495. 864 LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, S. 124. Die Ähnlichkeit mit dem Legitimationsbegriff Jürgen Habermas ist evident: „Der diskurstheoretische (im Unterschied zu einem diskursethischen) Legitimationsbegriff, den Jürgen Habermas vorgestellt hat, passt genau in diese Theorieposition“ (ibidem, S. 124-125).

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sondern vielmehr darin, trotz der verfahrensmäßigen, zeitlich bestimmten Lösung des Konflikts (der Wahlausgang) den Dissens nicht zu verdrängen bzw. zu unterdrücken. Dieses konstitutive Verhältnis zwischen „Prozeduralisierung“ der Legitimation des Rechts und der Politik und der Zulassung von Konflikten ist eine notwendige Bedingung für die Beobachtung der Kontingenz von Sozialstrukturen. Schon deshalb, weil die Verdrängung von Konflikten in diesen zwei Funktionssystemen die Durchsetzung einer totalitären Gesellschaftsbeschreibung bedeuten würde. Die Ausdifferenzierung eines operativ geschlossenen Rechtssystems, in dem jedes Recht (jede normativ zu sichernde Verhaltenserwartung) nur als durch Entscheidungen gesetztes und änderbares Recht gelten kann, stellt eine Form der sozialen Kontrolle von Konflikten dar, die nicht, wie in den ausschließlich auf Interaktionen unter Anwesenden basierten Gesellschaften, auf ihre Repression gegründet ist. Im Gegenteil: Das Rechtssystem stimuliert das Durchhalten von Konflikten, indem man auf dem eigenen „Nein“ bestehen kann, weil man sich im Recht fühlt und über den Einsatz rechtmäßiger Gewalt verfügt, um dieses Nein durchzusetzen. Dadurch, dass das Rechtssystem gesellschaftlich relevante Konflikte aus ihren Interaktionskontexten herauszieht, sie typisiert und ihnen die Möglichkeit der Dauerhaftigkeit gibt, ist es in der Lage, auch Individuen in „schwachen“ sozialen Lagen, die weder über Macht noch über Eigentum verfügen, mit Konfliktpotenzial auszustatten: „Der Reiche kann einer an ihn herangetragenen Kommunikation sowieso widersprechen, aber der Arme kann es jetzt auch, wenn er im Recht ist“ 865. Da das gesetzte Recht unter den Bedingungen der Verfassungsmäßigkeit zugleich änderbares Recht ist, können unterschiedliche Erwartungsstrukturen in verschiedenen sozialen Systemen im Rahmen der Verfahren rechtlicher Normsetzung/-Konkretisierung widersprochen werden. Damit werden soziale Systeme, zumindest wenn sie der rechtstaatlichen Normierung nicht entkommen können, dazu gezwungen, entweder ihre Strukturen an die rechtlichen Entscheidungen anzupassen oder diese Anpassung nach außen zu inszenieren. Der daraus resultierende Spielraum für Strukturwandel ist Voraussetzung dafür, dass die gleiche Berechtigung zur Macht als grundrechtliche Normierung der Politik auf die Einführung von sozialen Grundrechten als notwendiger Schritt zur Konkretisierung politischer Gleichheit hinausläuft. Die Einführung sozialer Grundrechte ist zwar (wie die Verfassung) Ergebnis politischer Entscheidungen, aber ihre Geltung als Recht hängt von ihrer Umwandlung in rechtliche Entscheidungsprämissen ab, die auch gegen die Politik (z. B. in der Form von Entscheidungen für die Erhöhung sozialer Leistungen) zu entscheiden erlauben. Damit können unterschiedliche Funktionssysteme durch das Recht normiert und ihre eigenen Strukturen (darunter: Inklusionsregeln) kraft der kontrafaktischen Verhaltenserwartungen einem Änderungsdruck ausgesetzt werden. 865

LUHAMNN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft Band 1, S. 468.

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Ohne diese Verrechtlichung gäbe es keinen Wohlfahrtsstaat und auch keine enttäuschte Erwartung hinsichtlich seines Versagens bzw. seiner Einschränkung. Diese kontrafaktische Beobachtung der Wirklichkeit, die auch in anderen sozialen Sphären als Bezugspunkt für die Kontingenzsetzung der bestehenden sozialen Verhältnisse dient, ist nur möglich, wenn das Recht von der Aufgabe entlastet wird, soziale Asymmetrien gezielt zu reproduzieren. Das setzt voraus, dass es nicht durch eine zeitlose, als notwendig dargestellte Gesellschaftsbeschreibung bestimmt wird, also dass der Dissens zwischen Weltsichten (von sozialen Gruppen, Religionen, sozialen Klassen, Organisationen) erhalten und zugelassen wird. Eben deshalb hängt die Positivierung des Rechts mit der Demokratisierung der Politik zusammen. Jedes nicht-demokratische Regime ersetzt die Positivierung des Rechts d. h., seine Gesetztheit und Veränderbarkeit durch zeitlose inhaltliche Vorstellungen. Das geschieht, wie in der ehemaligen Sowjetunion, durch den Verweis auf eine „wissenschaftlich“ aufgeklärte Avantgarde, die anhand dieses Wissens politische Gleichheit ablehnt und das Recht als ein Instrument zur Durchsetzung ihres Herrschaftsanspruchs behandelt. Wichtig ist, dass solch ein nicht demokratischer Herrschaftsanspruch den Bezug auf verfassungsstaatliche Verfahren (politische Wahlen, rechtsprechende Verfahren, Verwaltungs- bzw. Regierungsverfahren, Gesetzgebungsverfahren usw.) durch die Vorstellung einer notwendigen normativen Gültigkeit einer einzigen „wissenschaftlichen“ Weltsicht ersetzt. An die Stelle einer internen, autopoietischen Produktion von Normen aus Normen tritt eine externe und als unveränderlich erklärte wissenschaftliche Normativität. Das heißt, das Recht muss mit einem politischen System gekoppelt sein, das eine permanente Konfliktualisierung des politischen Entscheidens institutionalisiert, um Konflikte und Beobachtungen von Kontingenz in seinen eigenen Prozessen der Normenproduktion (als Mittel der Verhaltenssteuerung in anderen sozialen Bereichen) zuzulassen. Notwendige Bedingung dieser Konfliktualisierung ist die rechtlich regulierte Möglichkeit der Oszillation zwischen politischen Parteien, die eine Entdifferenzierung zwischen den Machthabern und den Machtstellen verhindert. An die Stelle eines zeitlosen Unterschieds zwischen Unterlegenen/ Überlegenen tritt nach der demokratischen Konstitutionalisierung der Politik die Unterscheidung von Regierung/Opposition, die durch Wahlen temporalisiert und geändert werden kann. Opposition dient dazu, zu zeigen, dass jede politische Entscheidung anders hätte sein können, indem sie die Regierungsentscheidungen kritisiert und problematisiert. Diese unvermeidliche Zulassung von Konflikten um Machtstellen, die sich paradigmatisch an der Spaltung unterschiedlicher Parteien in der Französischen Revolution erkennen lässt, bedeutet die Auflösung der stratifikatorischen Grundlagen der Macht durch die Idee der Volkssouveränität als Ausdruck einer Kollektivität politisch gleichberechtigter Individuen, die als einzige moderne Grundlage legitimer politischer Herrschaft in demokratischen Regimen fungiert. Volkssouveränität stellt dabei eine paradoxe Herrschaftsfigur dar – sie verweist auf einen 309

„Herrscher“, der über sich selbst herrscht –, die durch ihre Integration in die rechtlich regulierten politischen Entscheidungsprozesse (durch politische Wahlen) das politische System schließt: „Die Schließung des Systems erfolgt an der Stelle, wo das Weisungen empfangende, belästigte Publikum der Individuen, Gruppen und Organisationen zum Volk wird“ 866. Vom „Volk“ ausgehend strukturiert die Verfassung die Konstruktion eines formalen Machtkreislaufs, der der offiziellen Zirkulation von Macht entspricht. Demzufolge wählt das Publikum die politischen Programme sowie die Führungspersonen, welche exekutive und parlamentarische (bei allen Unterschieden zwischen Parlamentarismus und Präsidentialismus) Ämter besetzen, formulieren die Politiker Prämisse für bindendes Entscheiden, entscheidet die Verwaltung und bindet damit das Publikum. Die Einwirkung der staatlich konzentrierten und organisierten Macht (Verwaltung) auf das Publikum kann jedoch immer wieder durch weitere Wahlentscheidungen kontrolliert werden. Es ist diese periodische Sanktionierung der Politik, die die Transformation des Publikums von Individuen, Gruppen und Organisationen – in dem Macht sehr asymmetrisch verteilt ist –, in das „Volk“ als letzte Instanz politischer Legitimation ermöglicht. Dieser formale Kreislauf induziert einen Gegenkreislauf, in dem sich parallel zum offiziellen Kreislauf eine informale Zirkulation der Macht als Alltag der Politik durchsetzt. Bei diesem Gegenkreislauf kann die Politik kaum ohne Entwürfe der Verwaltung arbeiten. Das Publikum ist auf Vorsortierung der Personen und Programme innerhalb der Politik angewiesen. Die Verwaltung bedarf, in dem Maße, als sie in komplexe Wirkungsfelder expandiert, der freiwilligen Mitwirkung des Publikums, muß diesem also Einfluss konzedieren 867. Faktoren der Umwelt werden erst politisch relevant, wenn sie in den formalen Kreislauf und/oder in den informellen Gegenkreislauf der Macht einbezogen werden. Der Zugang zum offiziellen Machtkreislauf kann jedem durch die Teilnahme an politischen Wahlen gewährt werden: Das Publikum wird hier durch die Norm der politischen Gleichheit rechtlich strukturiert. Das ist nicht der Fall im informalen Gegenkreislauf. Da Interessenorganisationen (die sich nicht als solche immer darstellen) das wichtigste informelle Mittel zur Beeinflussung der Verwaltung sind, wird das Publikum im Gegenkreislauf üblicherweise in einen organisierten Bereich und einen nicht organisierten Bereich differenziert, was, wie im Fall Brasiliens zu sehen ist, zu dauerhaften Asymmetrien führen kann, die aufgrund ihrer Einwirkung auf die Konstruktion kollektiv bindender Entscheidungen sogar eine reale politische Exklusion des nicht organisierten Publikums stabilisieren können. Denn obwohl der offizielle Machtkreislauf im Konfliktfalle 866

LUHAMNN, Niklas (1990): „Verfassung als evolutionäre Errungenschaft“, S.187. LUHMANN, Niklas (1981):“Machtkreislauf und Recht in Demokratien“. In Zeitschrift für Rechtssoziologie 2 (1981), S. 164.

867

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den Vorrang hat, gehört die Konfliktvermeidung zwischen beiden Kreisläufen zum Alltag der Politik 868, sodass sich durchgesetzte Interessen, die in politischen Wahlen nicht legitimiert werden können, der Politisierung entziehen. Der informelle Gegenkreislauf der Macht gewinnt in dem Maße an Bedeutung, in dem das Verhältnis von Verwaltung und Publikum mehr Autonomie gegenüber den rechtlich kontrollierten politischen Entscheidungen des Parlaments und der Exekutive erhält. Die mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates verbundene Zunahme der publikumsbezogenen Organisationsverflechtungen impliziert auch eine zunehmende Komplexität von Entscheidungssituationen, mit denen die Verwaltung in ihrem Verhältnis zum Publikum alttäglich konfrontiert wird. Dadurch ist die Verwaltung immer stärker auf die Kooperation des organisierten Publikums angewiesen, das damit über mehr Einflussmöglichkeiten verfügt. Das heißt, dieses Verhältnis kann nicht mehr durch offizielle, auf der rechtlichen Regulierung der Macht beruhenden Entscheidungsprogrammen kontrolliert werden. Das heißt aber zugleich, dass das Oszillieren zwischen Regierung und Opposition, das anlässlich politischer Wahlen und der Bildung politischer Mehrheiten die Berücksichtigung immer weiterer Themen und Interessenlagen im offiziellen Machtkreislauf als politisch relevant erlauben, nicht zwangsläufig eine Entsprechung im Verhältnis von Verwaltung und organisiertem Publikum findet. Es ist durchaus möglich und kommt häufig vor, dass die Einflussmechanismen einiger organisierter Publikumssektoren (wie der Finanzsektor) trotz Regierungswechseln den Raum für die Beachtung anderer Interessen in der Verwaltung derart einschränken, dass keine Oszillation zugunsten anderer Sektoren mehr stattfindet. Sollte es doch zur Oszillation kommen, dann nur zwischen mehreren organisierten Sektoren. Dabei wird die Konkretisierung der sozialen Rechte durch den Wohlfahrtsstaat tendenziell von der Organisationsfähigkeit d .h., von der informalen Macht des Publikums abhängig gemacht, sodass die Macht für das Recht in einer Situation relevant wird, in der es die Macht nicht kontrollieren kann: Die offizielle Darstellung geht davon aus, dass die Verwaltung Entscheidungen trifft und sie dem betoffenen Publikum gegenüber durchsetzen kann. Das Problem liegt danach bei der rechtlichen Kontrolle der Entscheidungen und bei der rechtlichen Kontrolle ihrer Befolgung, wird also als ein Problem des Rechtsstaates und der Überwachung der Durchsetzung geführt […] In dem Maße, als sich der Wohlfahrtsstaat entwickelt hat, werden der Verwaltung aus politischen Gründen mehr und mehr Programmen zugewiesen, für deren Durchführung sie auf Kooperation ihres Publikums angewiesen ist. Diese Angewiesenheit lässt sich nicht immer auf Recht und Rechtspflichten zurückrechnen; und sie deckt sich auch nicht immer voll mit dem Eigeninteresse derer, auf deren Mitwirkung die Verwaltung angewiesen ist. Sie bezieht sich 868

LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, S.264.

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mehr auf organisierte Partner, die man in anderen Konstellationen wiedersehen wird, als auf Individuen, die mit subjektiven Rechten ausgestattet sind [...]Auch hier führt das in der Praxis zu einem komplexen Interessengeflecht am Rande der Legalität und über ihre Grenze hinaus. Diejenigen, auf deren Kooperation die Verwaltung angewiesen ist, können dafür etwas verlangen 869. Es ist also deutlich, dass die offizielle Gleichverteilung von Macht auf Individuen, worauf das rechtlich regulierte Wahlverfahren abzielt, im nicht offiziellen Gegenkreislauf der Macht, aber vor allem an der Schnittstelle zwischen Verwaltung und Publikum, entstellt werden kann. Diese Politik „am Rande der Legalität“ ist keine Besonderheit peripherer Länder: Auch in den nordwestlichen Wohlfahrtsstaaten ist sie Alltag. Es macht aber sicherlich einen Unterschied, ob und inwiefern die Oszillation zwischen Regierung und Opposition im offiziellen Machtkreislauf zu einer „Demokratisierung“ im Bereich des politisch relevanten Interessengeflechts des informalen Gegenkreislaufs der Macht führen kann. Entscheidend dabei ist die Frage, ob die periodische demokratische Sanktion der Politik in der Lage ist, soziale Machtbeziehungen, die in anderen Funktionssystemen entstehen, zu problematisieren. Holmes 870 beantwortet diese Frage positiv und argumentiert, dass die Sichtbarkeit der Kontingenz politischer Entscheidungen in demokratischen Rechtsstaaten nicht nur zur Beobachtung der Kontingenz politischer Strukturen führt; ihm zufolge tendiert die politische Sichtbarmachung von Kontingenz dazu, auch in anderen Funktionssystemen eine „reflexive Selbstbeschreibung“ zu stimulieren. Dabei handelt es sich um eine Art von Selbstbeschreibung, in der die Einheitsdarstellung eines Funktionssystems im System selbst als kontingente Konstruktion angesehen wird. Einheitsdarstellungen dienen dazu, die ursprüngliche Paradoxie des binären Codes eines Teilsystems durch supplementäre Sinnebenen unsichtbar zu machen. Diese supplementären Sinnebenen sind die Programme und die Selbstbeschreibungen der Funktionssysteme. Die Entparadoxierung geschieht dadurch, dass hegemoniale Programmierungen bzw. Selbstbeschreibungen die Systemoperationen von der im Binarismus des Codes enthaltenen Unentscheidbarkeit entlasten. Im Rechtssystem erlauben es konkrete Konditionalprogamme (Gesetze, Verordnungen) z. B, die Paradoxie des Codes Recht/Unrecht dadurch zu invisibilisieren, dass die (paradoxe) Anwendung des Codes auf sich selbst – mit welchem Recht das Rechtssystem feststellt, wer Recht hat und wer nicht – durch eine Definition des jeweils geltenden Rechts ersetzt wird, die zumindest in den Operationen, in denen sie als Entscheidungsprämisse fungieren sollen, nicht infrage gestellt werden. Ohne eine hegemoniale Einheitsdarstellung d. h., ohne eine Einheitsdarstellung, der Konsens unterstellt 869

Ibidem, S. 260-261. HOLMES, Pablo (2012): Verfassungsevolution in der Weltgesellschaft. Differenzierungsprobleme des Rechts und der Politik S. 92. 870

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wird und die die konstitutive Paradoxie eines Systems unsichtbar macht, kann kein System operieren. Das setzt voraus, dass diese Einheitsdarstellung nicht als eigene Konstruktion des Systems beobachtet wird, dass sie also nicht systemeigenen Entscheidungen zugerechnet wird. Aber die Institutionalisierung der Beobachtung von Kontingenz in demokratischen Rechtsstaaten, so Holmes, hat zur Folge, dass „jeder den Anspruch auf Zeitlosigkeit und Transzendentalität erhebende Sinn auf ihre Konstruktion in der Zeit zurückgeführt [...] und damit als Ergebnis einer Entscheidung, die auch anders getroffen werden könnte, enthüllt“ 871 wird. Im Zuge dieses rechtlich-politisch institutionalisierten Dekonstruktionsprozesses bezeichnen die Funktionssysteme die Grenzen zu ihrer sozialen, natürlichen und menschlichen Umwelt als Ergebnis der eigenen Operationen. Wenn das System die eigene Grenze als eigene Konstruktion beobachtet, setzt es sich einer Art internen Dekonstruktion aus, die die zuvor als Gegebenheit der Welt wahrgenommenen Umweltausschnitte als durch eigene Entscheidungen konstruierte Referenzen entdeckt. Das geschieht durch die Zulassung von Konflikten zwischen unterschiedlichen Selbstbeschreibungen der Funktionssysteme, die den Anspruch erheben, die Einheit des Systems darzustellen. Da die Systemgrenzen im System denaturalisiert werden, sind die Funktionssysteme gezwungen, responsiv zu den Bedingungen der Erhaltung ihrer Grenzen (also der Selbsterhaltung) zu operieren. Es handelt sich um eine Internalisierung der Bedingungen der Systemreproduktion, um die Selbstzurechnung von Ereignissen, die ohne „reflexive Selbstbeschreibung“ nur der Umwelt attribuiert würden. Für Holmes bedeutet diese Responsivität gegenüber bestimmten Umweltausschnitten zugleich, dass die Prämissen, an denen sich Entscheidungen über Inklusion und Exklusion in verschiedenen Funktionssystemen orientieren, politisiert, d. h., in ihrem kontingenten Charakter enthüllt werden können. Damit vertritt er nicht die These, dass die Politik als Zentrum der Gesellschaft ihre anderen Teilsysteme steuern kann, sondern die These, dass eine heterarchische Abstimmung zwischen Prozessen der „reflexiven Selbstbeoachtung“ existiert, die in verschiedenen Funktionssystemen in ganz unterschiedlichen Dynamiken verläuft. Die Thematisierung der Einheit des Systems kann im System Responsivität gegenüber der Umwelt entstehen lassen, indem Funktionsversagen sichtbar gemacht und dem System selbst zugerechnet wird: Im Rechtssystem wird sichtbar, dass die gewöhnlichen Entscheidungsmuster als Mittel der Verhaltenssteuerung nicht zur Sicherung normativer Erwartungen (z .B Grundrechte) beitragen; im Erziehungssystem zeigt sich, dass die aktuellen pädagogischen Programme nicht in der Lage sind, die Mehrheit der zu Erziehenden auf das spätere Leben vorzubereiten, sondern vielmehr als Instanz der Formalisierung der sozialen Minderwertigkeit von Individuen dienen; im System der Krankenbehandlung, dass die Behandlung von Kranken von einer Geldorientierung verdrängt wird; in der 871

Ibidem, S. 59.

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Wirtschaft, dass Programme zur Lösung künftiger Liquiditätsprobleme (z. B. Sparprogramme) weitere Knappheit erzeugen bzw. dass Zahlungsunfähigkeit (von Staaten, Unternehmen, Familien und Individuen) Ergebnis systemintern konstruierter Unterschiede ist. Dadurch also, dass die Funktionssysteme die Probleme, die sie als Probleme der Umwelt (Knappheitsprobleme, Probleme bei Vermittlung von Wissen, Bedeutungslosigkeit von Grundrechten für das Verhalten usw.) ansahen, nun als selbsterzeugte Probleme (Funktionsversagen) „entdecken“, entwickeln sie, so Holmes, eine systemische Responsivität gegenüber ihrer Umwelt, vor allem gegenüber ihrer menschlichen Umwelt 872. Politik und Recht sind nur zwei Funktionssysteme, die an diesen Prozessen der „reflexiven Selbstbeschreibung“ beteiligt sind. Aber sie erfüllen zwei grundlegende Funktionen, ohne die eine „reflexive Selbstbeschreibung“ in anderen Funktionssystemen nicht möglich wäre. Die rechtliche Funktion der Sicherung normativer Erwartungen reproduziert einen kontrafaktischen Standpunkt, der die Kritisierbarkeit partikularistischer bzw. exkludierender Strukturen in einer Mehrheit von Gesellschaftsbereichen ermöglicht. Die politische Funktion der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen kann andere Systeme durch die Problematisierung ihrer Inklusionsprämisse irritieren und sie somit dazu stimulieren, diese Prämisse in Richtung einer grundrechtlichen Erweiterung des inkludierbaren Publikumsumfangs zu ändern. Das ist beispielsweise bei der staatlichen Finanzierung von Organisationen des Erziehungssystems (technische Hochschulen, Universitäten) und des Systems der Krankenbehandlung der Fall: War Zahlungsfähigkeit eine notwendige partikularistische Inklusionsvoraussetzung für diese beiden Systeme, so wird sie nach der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates durch die Universalisierung der staatlich finanzierten sozialen Rechte konterkariert. Als notwendige Inklusionsprämisse gilt jetzt die Mitgliedschaft in einem Staat (Staatsangehörigkeit). Obwohl die strukturelle Kopplung auf der Ebene basaler Operationen der Funktionssysteme (Zahlungen, Weisungen, Rechtsetzung, Vermittlung von Wissen, Verbreitung von Informationen) unsichtbar bleibt 873, können diese gesellschaftlichen Teilsysteme auf der Ebene der Reflexion über ihre Beziehungen zur Umwelt doch die Rolle bestimmter Abhängigkeiten thematisieren. Der Wohlfahrtsstaat versucht über diese Reflexionsebene hinauszugehen und die Abhängigkeit einiger Funktionssysteme (Erziehung, Gesundheit, Familie, Kunst usw.) von der Wirtschaft durch die Einrichtung staatlich finanzierter Organisationen – also durch politisch motivierte wirtschaftliche Operationen – zu lockern. Bemerkenswert ist dabei, dass auch der Zugang zu diesen staatlich finanzierten Organisationen üblicherweise durch die Mitgliedschaft in anderen Organisationen (Arbeitsorganisationen, Gewerkschaften, Verbände) und in

872 873

Ibidem, S. 105-106. LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, S.311.

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Netzwerken 874 konditioniert wird, was, wie Luhmann im oberen Zitat zugesteht, die Ersetzung von mit subjektiven Rechten ausgestatteten Individuen durch „organisierte Partner“ als Empfänger sozialer Rechte impliziert. Phänomene wie die „regulierte Staatsbürgerschaft“ in Brasilien d. h., die Konditionierung des Zugangs zu Staatsbürgerrechten durch im Gegenkreislauf der Macht konstruierte kollektive Identitäten scheinen eher die Regel als die Ausnahme zu sein.

5.8 Politische Exklusion und ihre Folgen Die Bedeutung einer Organisationsmitgliedschaft für die Teilnahme an dem informellen Gegenkreislauf der Macht an der Schnittstelle zwischen Verwaltung und Publikum spricht gegen die These Holmes, dass die Oszillation zwischen Regierung und Opposition im offiziellen Machtkreislauf auch im informalen Gegenkreislauf zu einer „Demokratisierung“ der Macht führt. Wenn die Möglichkeit einer Trennung zwischen den rechtlich regulierten Verfahren der Demokratie, die politische Gleichheit und Oszillation in der Besetzung von Machtstellen ermöglichen, und den Verfahren des informellen Gegenkreislaufs, in denen das Recht im Hintergrund bleibt, berücksichtigt wird, so wird erklärbar, wie organisierte Publikumssektoren ihre Interessen und Gesellschaftsbeschreibungen durch die Teilnahme an der informellen Zirkulation der Macht durchsetzen, ohne der demokratischen Konfliktualisierung der rechtlich regulierten Verfahren ausgesetzt zu sein. In rechtlich regulierten politischen Verfahren des offiziellen Machtkreislaufs wird politische Inklusion nach der grundrechtlichen Norm der politischen Gleichheit geregelt. Tatsächlich kann das ausdifferenzierte politische System, das durch eine demokratische Verfassung an Recht gekoppelt ist, die Inklusion aller Individuen in den offiziellen Machtkreislauf durch die periodische Teilnahme an politischen Wahlverfahren gewährleisten. Im Moment des Wahlverfahrens haben alle Bürger die gleiche Macht – alle sind stakeholder der Politik, denn alle sind gleichberechtigte Mitglieder des Verfassungsstaates. Die Semantik des Konstitutionalismus, die zwischen Freiheit und Gleichheit unterscheidet, gibt der Politik die Möglichkeit, konkret zu bestimmen, gegen welche Art von Unfreiheit der Wert der Freiheit und gegen welche Art von Ungleichheit der Wert der Gleichheit eingeklagt werden 875. Diese Werte garantieren die Offenheit der Zukunft für die politische Inklusion immer weiterer Interessen. Die Politik kann Freiheit und Gleichheit durch konkrete Entscheidungen gegen Unfreiheiten und Ungleichheiten entfalten; das Recht stellt demgegenüber sicher, dass die Entfaltung bzw. die konkretisierende Interpretation dieser Werte „durch normative Erwartungen 874

BOMMES, Michael (2004): „Zur Bildung von Verteilungsordnungen in der funktional differenzierten Gesellschaft“, S. 424. 875 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1076.

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gesellschaftsweit stabilisiert“ 876 werden. Dabei dient die offene Zukunft als Garantie dafür, dass Exklusionsprobleme politisiert werden können. Das setzt aber voraus, dass diese Exklusionsprobleme keine politische Exklusion betreffen. Damit kommen wir zu den Verfahren des informalen Machtkreislaufs. Politische Exklusion bedeutet, dass Individuen nicht an den Verfahren teilnehmen, in denen über Prämissen für Entscheidungen über Inklusion und Exklusion in verschiedenen Funktionssystemen entschieden wird. Im informalen Machtkreislauf des Wohlfahrtsstaates, wie Luhmann beschreibt, lassen sich die Verhältnisse von Verwaltung und Publikum nicht rechtstaatlich kontrollieren. Dementsprechend verliert die grundrechtliche Gleichberechtigung zur Macht ihre Bedeutung und wird in der Praxis durch die Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen organisierten Publikumssektoren ersetzt. Obwohl rechtliche Regulierungen im Hintergrund bleiben und gegebenenfalls eingesetzt werden, sind Verfahren zunächst reale kommunikative Prozesse, die eine Umstrukturierung der antagonistischen Erwartungen herstellen können 877. Es ist möglich und kommt häufig vor, dass der Einsatz des Rechts selbst durch die Machtbeziehung zwischen den „organisierten Partnern“ entschieden wird 878. Wichtig ist, dass es hier um die Konstruktion kollektiv bindender Entscheidungen durch die Verarbeitung antagonistischer Erwartungen geht. In einer Verhandlung zwischen streikenden Beamten und der Regierung tendieren die anfänglichen Erwartungen der Streikenden (z. B. 20% Lohnerhöhung) und der Regierung (keine Lohnerhöhung) sich an eine als wahrscheinlich antizipierte Lösung anzupassen (Verfahren haben Fristen) und dementsprechend zu verändern: Die Streikenden akzeptieren 5 % Lohnerhöhung und die Regierung gibt ihre Erwartung auf eine ausbleibende Lohnerhöhung auf. Dass es ein Jahr später zu neuen Konflikten kommen kann, versteht sich von selbst und wird als Möglichkeit nicht durch die Verfahren eliminiert. Der Wohlfahrtsstaat ermöglicht die Existenz und die Reproduktion antagonistischer Inklusionserwartungen, indem er im informalen Machtkreislauf Verfahren institutionalisiert, die über Konflikte zwischen diesen Inklusionserwartungen zu entscheiden erlauben 879 . Diese antagonistischen Inklusionserwartungen stellen einen Überschuss an operativen Möglichkeiten dar, der reduziert werden muss, damit die Funktionssysteme ihre Operationen strukturieren. Es handelt sich bei diesem Überschuss an antagonistischen operativen Möglichkeiten um eine nicht reduzierte Komplexität der Sozialdimension bzw. um unvereinbare Inklusionsansprü876 HOLMES, Pablo (2012): Verfassungsevolution in der Weltgesellschaft. Differenzierungsprobleme des Rechts und der Politik S. 216. 877 LUHAMNN, Niklas (1969): Legitimation durch Verfahren. Frankfurt a .M.: Suhrkamp, S. 37. 878 Man kann sagen, dass der informale Machtkreislauf das Verhältnis zwischen Recht und Macht des formalen Machtkreislaufs umkehrt: Hier wird das Recht wieder durch die Macht kontrolliert. 879 BACHUR, João Paulo (2012): „Desigualdade, Classe Social e Conflito: Uma Releitura a Partir da Teoria de Systemas de Niklas Luhmann“. In: BACHUR, João Paulo/DUTRA, Roberto (Hg): Exclusão e Desigualdade na Sociedade Mundial. Belo Horizonte: UFMG (Im Erscheinen).

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che, die zum Konflikt miteinander tendieren. Beispielsweise versucht die brasilianische Regierung, mittels Quoten durch die Hautfarbe bedingte Benachteiligungen hinsichtlich des Zugangs zu staatlichen Hochschulen zu bekämpfen; doch die inkludierten Studierenden bzw. diejenigen, die sich aufgrund der Quoten einer ungewöhnlichen Konkurrenz ausgesetzt sehen, sind dagegen. Bemerkenswert ist dabei, dass beide Gruppen nicht nur an den politischen (und rechtlichen) Verfahren des offiziellen Machtkreislaufs teilnehmen, in denen über diese widerspruchserweckende Inklusionsprämisse (Quoten), die Inklusion und Exklusion in andere Funktionssysteme (Erziehung und Wissenschaft, denn Hochschulen institutionalisiert die Kopplung zwischen diesen beiden Systemen) geregelt wird, entschieden wird; beide Gruppen sind kraft ihrer Möglichkeiten der organisierten Interessenvertretung ebenso am informalen Machtkreislauf der Verwaltung beteiligt. Die Möglichkeit eines gesellschaftsweit bedeutsamen Kommunizierens antagonistischer Erwartungen, wodurch private Interessen bestimmter Gruppen öffentliche Relevanz gegenüber anderen Interessen gewinnen, scheint ohne die Teilnahme an den Verfahren des informalen Machtkreislaufs nicht realisierbar zu sein. In der Tat ist die Exklusion aus solchen Verfahren eine zentrale Form von politischer Exklusion. Wer nicht teilnimmt, kann die Entscheidungen über die Entscheidungsprämisse, mit denen der Wohlfahrtsstaat auf die Inklusionsmöglichkeiten verschiedener Funktionssysteme einzuwirken versucht, nicht beeinflussen. Seit der „Ära Vargas“ findet ein Prozess der Erweiterung von Inklusionsmöglichkeiten in den informalen Machtkreislauf des brasilianischen Staates statt. Der sogenannte Staatskorporatismus, der sich seitdem als bevorzugte Form der öffentlich-privaten Interessenvermittlung durchsetzte, ermöglichte die Inklusion unternehmerischer und arbeitender Sektoren in das Umfeld der Exekutive, was einen Raum der Interessenvertretung parallel zur Legislative schaffte. Obwohl die unternehmerischen Interessenorganisationen mehr Einfluss auf die Prozesse der Entscheidungsfindung hatten 880 , war die industrielle Arbeitnehmerschaft schon damals keineswegs von der Schnittstelle zwischen Verwaltung und Publikum ausgeschlossen. Denn der Korporatismus war nicht nur ein Mechanismus zur politischen Kontrolle über die industriellen Arbeiter und zur Neutralisierung ihrer Konfliktfähigkeit, etwa dadurch, dass Gewerkschaften zur „Kooperation“ mit dem Arbeitsministerium gezwungen waren; er bedeutete gleichzeitig auch, „dass durch die Repräsentation von Interessen im politischen Prozess die sozialen Klassen mobilisiert und organisiert wurden“ 881 . Diese Inklusion der industriellen Arbeiterschaft in den informalen Machtkreislauf ging mit der Positivierung der sozialen Rechten einher, welche demgemäß exklusiv denjenigen 880

BOSCHI, Renato (2012): “Interessengruppierungen, der Staat und die Beziehungen zwischen den Staatsgewalten in Brasilien”. In: de la FONTAINE, Dana/STEHNKEN, Thomas (Hg): Das politische System Brasiliens. Wiesbaden: VS Verlag, S. 180. 881 Ibidem, S. 181.

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zugänglich gemacht wurden, die auch schon in der Wirtschaft durch formal anerkannte Berufstätigkeiten inkludiert waren, und mündete schließlich in die zunehmende Autonomisierung der arbeitnehmerischen Interessenorganisationen, deren Konfliktbereitschaft bereits in der „Ära Vargas“ freigesetzt wurde. Seit der Redemokratisierung, aber vor allem seit der Regierung Lula, wurden auch andere Gruppierungen in die inoffiziellen politischen Verfahren einbezogen, und Interessenorganisationen bestimmter arbeiternehmerischer Sektoren (wie die der Beamten) haben ihre Machtstellung deutlich verstärkt. Die Grenze dieser Ausweitung des Publikumsumfangs im inoffiziellen Machtkreislauf wird gerade dort gezogen, wo es keine Organisierbarkeit von Interessen mehr gibt, wo die privaten Interessen bestimmter sozialer Gruppen keine organisierte Vertretung schaffen, die ihnen öffentliche Aufmerksamkeit und politische Relevanz jenseits politischer Wahlen verleihen kann. Die Oszillation zwischen Regierung und Opposition, die in Brasilien institutionalisiert ist und die auch die Interessen der unteren Schichten in Wahlkämpfen zu politisch relevanten Interessen macht, findet im Alltag des inoffiziellen Machtkreislaufs keine Entsprechung. Wichtig dabei ist, dass sich diese Grenze nicht durch die demokratischen Verfahren des offiziellen Machtkreislaufs politisieren lässt, sodass die Kriterien der Inklusion und Exklusion des informellen Machtkreislaufs nicht als kontingent d. h. als auch anders möglich beobachtet werden. Sie werden vielmehr als unsichtbare Entscheidungsprämissen angesehen; sie werden nicht auf Entscheidungen zurückgeführt d .h., als Entscheidungsprämissen wahrgenommen, die Ergebnis kontingenter Entscheidungen sind. Sie erhalten und reproduzieren sich als unentscheidbare Entscheidungsprämisse. Die grundrechtliche Neutralisierung von Macht als Mittel der Machtumverteilung (politische Wahlen) hat hier keine Bedeutung. Der Zugang zu Machtpositionen an der Schnittstelle zwischen Publikum und Verwaltung wird durch nicht verrechtlichte, nicht kommodifizierte Machtverhältnisse konditioniert 882. Exklusion im inoffiziellen Machtkreislauf hat also einen Selbstverstärkungseffekt zur Folge: Aufgrund der fehlenden Organisierbarkeit ihrer Interessen sind die Exkludierten nicht in der Lage, die Inklusionskriterien zu beeinflussen, sodass diese Kriterien in der Regel der Reproduktion der privilegierten Inklusion der organisierten Publikumssektoren dienen. Die Unfähigkeit zur Interessenorganisation, die die ärmeren urbanen und ländlichen Bevölkerungsgruppen (die an einer Mehrheit von Funktionssystemen über keine sichere Teilnahmechance verfügen) von der kleinen Gruppe organisierter industrieller Arbeiternehmer und Beamter unterscheidet, lässt sich auf die Zukunftslosigkeit der Exkludierten zurückführen. Die prekäre Teilnahme an der Wirtschaft bedeutet die faktische Exklusion aus den sozialen Stellen, die eine periodische Regenerierung der familiären und individuellen Zahlungsfähigkeit 882

LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, S. 261.

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gewährleisten. Die Unsicherheit der Zahlungsfähigkeit heißt wiederum, dass die Individuen nicht in die Lage versetzt werden, durch den Wechsel der sozialen Fremdreferenz – mit der das psychische System in der Kommunikation als soziale Adresse bezeichnet wird und die zugleich als soziale Orientierung für die autopoietische Entwicklung der Psyche dient – die Reduktion der eigenen Individualität auf eine einzige soziale Fremdreferenz zu vermeiden: Die Individuen werden tatsächlich auf die unsichere Suche nach Zahlungsfähigkeit bzw. auf die Suche nach Überlebensmitteln reduziert. Diese ökonomisch bedingte Orientierung an kurzfristigen Interessen hindert zunächst die Bildung der Kompetenz zur Rollentrennung, eine grundlegende Kompetenz, deren Nichtvorhandensein die Teilnahme an einem funktional differenzierten sozialen Leben unmöglich macht. Im offiziellen Machtkreislauf drückt sich dieser Zusammenhang von Zukunftslosigkeit und Unfähigkeit zur Rollentrennung in der „Ökonomisierung“ der Wählerrolle aus: Als Folge der Nicht-Befriedigung der lebenswichtigen Bedürfnisse haben die Individuen praktisch keine Alternative als ihre Stimme in Tauschgüter zu verwandeln, um Zugang zu konkreten Leistungen und zur „Hilfe“ der Politiker zu haben. Im inoffiziellen Gegenkreislauf drückt sich dieser Zusammenhang eben in der Unfähigkeit zur Interessenorganisation aus: Da die Kurzfristigkeit der Interessen keinen Spielraum für das Warten auf Gelegenheiten zulässt, macht es keinen Sinn, eine Organisation zu gründen, deren Relevanz für die eigene Interessenlage von Möglichkeiten und Ereignissen abhängig ist, die nur wahrnehmbar sind, wenn man warten kann, wenn man also die unmittelbare Interferenz elementarer Bedürfnisse ausschalten kann: Ein gesellschaftlich ausdifferenziertes politisches System setzt einen zivilisierten Staatsbürger dieser Art voraus, dem zugemutet werden kann, bei Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen nicht Schaufenster einzuschlagen, sondern Verwaltungsgerichtsprozesse zu führen, nicht als Mob, sondern als Wähler aufzutreten – und das heißt immer: zu warten. Wie man aus Entwicklungsländern erfährt, ist diese Voraussetzung nicht ohne weiteres berechtigt 883. Die Verkürzung der Zeitperspektiven, die die Entwicklung der Fähigkeit zur Organisation von Interessenvertretung und somit zur politisch relevanten Konfliktualisierung an der Schnittstelle zwischen Verwaltung und Publikum unterminiert, ist dabei bereits Ergebnis anderer Exklusionen, an denen sich die politische Ohnmacht im inoffiziellen Machtkreislauf anschließt: keine Familie, keine Ausbildung, keine stabile Arbeit, und schließlich kein Zugang zu Organisationen der Interessenvertretung. Wenn, wie Souza 884 behauptet, die Bildung und die Reproduktion eines „prekären Habitus“ als eine Individualitätsform ohne zivilisierte Verhaltensdispositionen und Zukünftigkeit der „subalternen Staatsbürger883

LUHMANN, Niklas (2010): Politische Soziologie, hg. v. Kieserling, André. Berlin: Suhrkamp, S. 78. 884 SOUZA, Jessé (2008): Die Naturalisierung der Ungleichheit, S. 144.

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schaft“ (politischer Exklusion) zugrunde liegen, dann deshalb, weil die Individuen ihre Interessen nicht in einer politisch vertretbaren Form formulieren können, d. h., in der Form einer organisierten Vertretung von Interessen, die öffentliche Aufmerksamkeit sowie die Inklusion in den inoffiziellen Machtkreislauf sicherstellen kann. Die wichtigste Konsequenz dieser Organisationsunfähigkeit liegt darin, dass die Privatinteressen der nicht organisierten Publikumssektoren trotz ihrer formalen Inklusion in den offiziellen Machtkreislauf nicht als öffentlich relevante Interessen politisiert werden. Luhmann zufolge hatte sich die Legitimität des Politischen von einer festen und klaren Definition des Gemeinwohls als legitime Anwendung von Gewalt als Mittel zur Gewährung des innerstaatlichen Friedens auf ein fluideres Legitimitätskonzept umgestellt, das als öffentliche Darstellbarkeit und Relevanz privater Interessen und Präferenzen verstanden wird 885: Das zwingt schließlich zu der Einsicht, dass die Grenze zwischen Gemeinwohl und Eigennutz nur politisch gezogen werden kann und dass es damit zu einer Frage der politischen Opportunität wird, in welchem Umfange auch Privatinteressen als politisch relevant erachtet werden 886. Dementsprechend gäbe es nach der Entwicklung des Wohlfahrtsstaats „kaum mehr private Interessen, die nicht als öffentliche deklariert werden könnten“ 887. Die politische Exklusion der nicht organisierten Publikumssektoren spricht gegen diese Aussage und für einen Ansatz, der die Grenzen der Politisierbarkeit privater Interessen in den Blick nimmt. Die Angewiesenheit der Inklusion in den inoffiziellen Machtkreislauf auf eine organisierte Vertretung von Interessen scheint die wichtigste dieser Grenzen zu sein. Die Umwandlung von Privatinteressen in öffentlich bzw. politisch relevante Interessen ist keine Punkt-für-PunktÜbertragung von Erwartungen, Ansprüchen und Forderungen aus dem Bereich des Publikums in den Bereich der Verwaltung (und von daher in den Bereich der parlamentarischen Politik) 888. Sie ist ein Übersetzungsprozess, in dem Organisationen (Verbände, Gewerkschaften, Parteien usw.) die öffentliche Darstellbarkeit und Legitimität privater Interessen herstellen. Die Tatsache, dass die Privatinteressen der Exkludierten – Hungernot, körperliche Sicherheit, Obdachlosigkeit bzw. schlechte Wohnbedingungen, prekäre Erziehung, fehlender Zugang zum Gesundheitswesen, polizeiliche Gewalt usw. – in Brasilien nicht zu öffentlich relevanten Interessen werden, hängt direkt damit zusammen, dass ihre Legitimität aufgrund der fehlenden organisierten Vertretung nicht konstruiert wird. Entscheidend ist, dass die öffentliche Illegitimität der privaten Interessen von Exkludierten zugleich die Illegitimität ihrer Inklusionserwartungen als politisches Thema bedeutet. Das bedeutet, politische Exklusion stellt sicher, dass der Teu885

LUHMANN, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, S. 122. Ibidem. 887 Ibidem, s. 123. 888 LUHMANN, Niklas (2010): Politische Soziologie, S. 398. 886

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felskreis kumulativer sozialer Exklusion auch dasjenige Funktionssystem umschließt, an dem teilnehmen zu können erforderlich wäre, wenn die Exkludierten ihre soziale Lage problematisieren und ändern möchten. Man könnte auch sagen: je umfassender die Kumulation von Exklusionen, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Exkludierten ignoriert werden. Das lässt sich auch sehr gut daran erkennen, wie ihre soziale Lage in der Öffentlichkeit thematisiert wird. Die Exklusion wird nicht als ein Skandalon wahrgenommen, etwa als eine „skandalöse“ Abweichung des Prinzips der Chancengleichheit. Das hängt eng damit zusammen, dass die Benachteiligung nicht als eine kollektive Benachteiligung angesehen wird und dass die Kumulation von Exklusionen in der politischen Geschichte Brasiliens selten als ein zentrales nationales Problem in politisch relevanten öffentlichen Diskursen betrachtet wurde. Beispielsweise spielte die Semantik der sozialen Klassen in der politischen Diskussion keine Rolle. Luhmann zufolge dient der Begriff der sozialen Klassen der Beobachtung gemeinsamer sozialer Lagen 889 , die Nachteile und Vorteile in unterschiedlichen Lebensbereichen umfassen. Der Begriff macht sichtbar, dass die individuelle Benachteiligung in einer sozialen Sphäre mit Benachteiligungen in anderen Sphären verknüpft ist und dass die daraus resultierende Kumulation von Nachteilen ein „kollektives Schicksal“ darstellt. Er dient der Kritik der gängigen Vorstellungen über die Rolle der individuellen Leistungen in den Entscheidungen über Inklusion und Exklusion, indem er sowohl den Einfluss externer Faktoren auf diese Entscheidungen wie auch den kollektiven Charakter dieses Phänomens sichtbar macht. Ebendeshalb erzeugt der Klassenbegriff Irritationen, die die Programme der Funktionssysteme betreffen: Illegitime Kausalitäten (z. B. Herkunft) werden beobachtet und somit politisierbar. Wichtig dabei ist, dass diese Beobachtung von Klassendifferenzen, obwohl sie eine Beobachtung von individuellen Lagen ist, die Konstruktion von Kollektivitäten nutzt, sei es zum Sichtbarmachen der schon vorhandenen Benachteiligungen, sei es zur Mobilisierung gegen diese. Es handelt sich also um einen „Zurechnungskonflikt“, in dem der Zurechnung auf Individuen die Kausalität der Klassenlage entgegengesetzt wird, um „Benachteiligung als Willkür“ 890 zu thematisieren. Die politische Evolution, die den europäischen Wohlfahrtsstaaten auszeichnet, hing maßgeblich mit der öffentlichen Aufmerksamkeit und der politischen Relevanz dieser „Zurechnungskonflikte“ zusammen. Die Legitimation für die wohlfahrtsstaatliche Politisierung der Inklusionschancen, die mithilfe der durch den Begriff der sozialen Klassen formulierten sozialen Kritik hergestellt wird, besteht darin, durch die Sichtbarmachung der nicht individuellen sozialen Bedingungen der Konstruktion von individueller Leistung, Umverteilungsmaß-

889 890

LUHMANN, Niklas (2008). „Zum Begriff der sozialen Klasse“, S. 89. Ibidem.

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nahmen als Form der Universalisierung dieser Bedingungen politisch zu unterstützen. Die soziale Lage der brasilianischen Exkludierten hat bisher nicht zur Konstruktion solcher Kollektive geführt. Einerseits sind sie aufgrund der fehlenden Organisationsfähigkeit nicht imstande, die kollektive Dimension ihrer Benachteiligung in verschiedenen Funktionssystemen in der Öffentlichkeit herzustellen bzw. darzustellen; andererseits werden sie von anderen Gruppen, einschließlich „linker Organisationen“ wie Gewerkschaften und Parteien, nicht als ein „benachteiligtes Kollektiv“ eigener Art definiert. Das bedeutet zudem, dass die Tatsache, dass unterschiedliche Exklusionen aneinander anschließen und zur Negation des Personstatus von Individuen führen, ebenso wenig zum Thema der Öffentlichkeit wird. Anders als beispielsweise bei den Schwarzen, die ihre Inklusionsprobleme in verschiedenen Funktionssystemen (Erziehung, Politik, Massenmedien) dank ihrer (durch transnationale Organisationen unterstützten) Organisationsfähigkeit in den letzten 20 Jahren als kollektive Probleme politisch sichtbar machten, erfolgt die wechselseitige Verstärkung von Nachteilen in der Mehrheit der Funktionssysteme zumeist unsichtbar, weil es keine öffentliche Legitimation einer Politisierung ihrer Inklusionskriterien gibt. Die teilsystemischen Eliten sowie das inkludierte Publikum scheinen nicht bereit zu sein für die Beobachtung, dass die Inklusionskriterien „ihrer“ Teilsysteme zur Konstruktion eines intersystemischen Exklusionsphänomens beitragen, was auch heißt, dass die Operationen „ihrer“ Teilsysteme durch eine gesamtgesellschaftliche Differenz zwischen Inklusion und Exklusion, Person und „Körper“ konditioniert werden. Beispielsweise wurde das Bildungsministerium scharf von den Lehrerinnen und Lehrern sowie von der „breiten Öffentlichkeit“ kritisiert, weil es die Benutzung eines Buchs über die portugiesische Sprache in den Schulen zuließ, in dem sprachliche Diskriminierung als Form der sozialen Exklusion thematisiert wird 891. Auch Lehrerinnen und Lehrern, deren „Milieusprache“ nicht das „Hochportugiesisch“ ist, lehnen es vehement ab, dass die Schulen die Anwendung der kultivierten Sprachform als eine Norm für alle Lebensbereiche sowie ihre Bedeutung für Bewertungen von Personen (z. B. in der Privatsphäre) relativieren. Die Beobachtung der Kontingenz und des partikularistischen Charakters dieses Inklusionskriteriums, die partikularistische bzw. exkludierende Aspekte der Programme zur Vermittlung der Heimatsprache politisiert, wurde als ein öffentlicher Skandal wahrge891

Die große Mehrheit der Presse ignorierte den Inhalt des Buches weitgehend, um die „These“ zu vertreten, dass sein Ziel darin lag, den Schülern eine „falsche Redens- und Schreibart“ statt das „Português culto“ („Hochportugiesisch“) zu vermitteln. Der tatsächliche Inhalt des Buches ist die Thematisierung der Differenz zwischen den informalen bzw. populären Sprachformen und dem Hochportugiesisch, eine knappe Analyse der sozialen Bedeutung beider Sprachformen sowie den Verzicht darauf, die Anwendung der populären Sprache in der Schule zu verachten bzw. http://colunistas.ig.com.br/poderonline/2011/05/12/livro-usado-pelo-mec-ensina-aluno-a-falar-errado/ (letzter Besuch am 08.10.2012).

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nommen. Die Beteiligung der Erziehungspraxis am Prozess der Kumulation von Exklusionen wurde nicht anerkannt. Auf ein abweichendes Ereignis, mit dem die Politik Erwartungsstrukturen des Erziehungssystems zu irritieren versucht, reagiert die systemische Selbstbeschreibung lernunwillig, und mit breiter Unterstützung der Öffentlichkeit. Wird die Öffentlichkeit als Arena des Konflikts zwischen Werten, Interessen, Erwartungen und Diskursen definiert 892, die den Anspruch erheben, Verfahren der Politik und des Rechts zu beeinflussen und somit als Instanz der Fremdlegitimation dieser beiden Funktionssysteme zu fungieren, so kommt man zu dem Schluss, dass die hier analysierte Kumulation von Exklusionen auch diese Arena umfasst. Selbst wenn Konflikte und Auseinandersetzungen der Öffentlichkeit nicht durch die Organisationen der Massenmedien kontrolliert werden – was die Öffentlichkeit als Raum der Fremdlegitimation des Rechts und der Politik entstellen würde 893 –, ist die andauernde Relevanz von Interessen bzw. Inklusionserwartungen in dieser Arena ohne die Organisationen der öffentlichen Herstellung und Darstellung dieser Relevanz nicht möglich. Dies scheint der Grund dafür zu sein, weshalb es für die Konstruktion „kollektiver Identitäten“ als Form der Politisierung intersystemischer Exklusion keine Legitimation in der brasilianischen Öffentlichkeit gibt. Die Konstruktion kollektiver Identitäten ist, wie Nassehi 894 zeigt, Bestandteil der Funktion der Politik, die Kapazität zum kollektiv bindenden Entscheiden bereitzuhalten. Ihm zufolge muss Luhmanns Definition der politischen Tätigkeit dadurch präzisiert werden, dass das Kollektiv, das sich durch politische Entscheidungen binden lässt, nicht als ein vorgegebenes Artefakt angesehen wird, das der Politik vorangeht. Das Kollektiv ist vielmehr Produkt des politischen Systems, sein selbsterzeugtes Publikum, „vor dem sich das Politische auch stets zu legitimieren hat“ 895. Dementsprechend besteht die Funktion der Politik nicht nur in der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen, sondern auch in der Herstellung von sichtbaren und zurechenbaren Kollektiven, was die Verbindlichkeit der politischen Entscheidungen erst ermöglicht. Diese Erweiterung der Definition des Politischen, die die politische Tätigkeit von einer staatszentrierten Auffassung der Politik ablöst, erlaubt es, auch die Konstruktion „kollektiver Identitäten“ in den Konflikten der Öffentlichkeit als politische Praxis zu analysieren. So lässt sich die aktuelle Konstruktion der Identität der diskriminierten schwarzen Bevölkerung in Brasilien durchaus als Teil der politischen Funktion kollektiv bindender Entscheidungen betrachten: Sie ist als eine politische Identi892

NEVES, Marcelo (2008): „Verfassung und Öffentlichkeit“, S. 494. Ibidem, S. 496. 894 NASSEHI, Armin (2003): „Der Begriff des Politischen und die doppelte Normativität der „soziologischen Moderne“. In: Ders. (Hg): Der Begriff des Politischen. Soziale Welt Sonderband 14 ( 2003), S. 133-169. 895 Ibidem, S. 149. 893

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tätsmarkierung entstanden, die keine Entsprechung in anderen sozialen Sphären findet und die die Akzeptanz bestimmter politischer Entscheidungen (z. B. Quoten und andere „affirmative policies“) ermöglicht. In dem Maße, in dem Benachteiligungen durch die politische Herstellung kollektiver Identitäten als kollektives Inklusionsproblem in der Politik beobachtet werden, können die Privatinteressen der Individuen, die von dieser politisch konstruierten Kollektivität umfasst werden, politisch relevant und damit auch zum Gegenstand nationaler Solidarität werden. Das heißt, die Beobachtung von Inklusionsproblemen als Probleme eines Kollektivs, das politische Relevanz sowohl in politischen Wahlen wie auch im inoffiziellen Machtkreislauf erlangt, fungiert als selbsterzeugte Unterstützungsbasis für politische Entscheidungsprogramme, die auf die Sicherstellung bzw. Erweiterung der Inklusionschancen von Individuen in verschiedenen Funktionssystemen durch die „Zwangssolidarität“ 896 des Wohlfahrtsstaats abzielen. Die Kumulation von Exklusionen in Brasilien zeichnet sich eben durch die negative Fassung dieses Verhältnisses zwischen Herstellung eines politisch relevanten Kollektivs und der Politisierung der Privatinteressen und Inklusionsprobleme des neuen Publikumsanteils der Politik aus, das damit entsteht. Das lässt sich besonders gut an der fehlenden politischen Unterstützung für die Erweiterung der finanziellen Kapazität des Wohlfahrtsstaats erkennen, vor allem, wenn es sich um Sozialpolitik für die Exkludierten handelt. Die „inklusive Logik“ des Wohlfahrtsstaats, die T.H. Marshall auf die Universalisierung politischer Inklusion (politischer Gleichheit) zurückführt, findet dort ihre Grenze, wo die sozialen Leistungen des Wohlfahrtsstaates nicht mehr finanziert werden können, also dort, wo es keine politische Unterstützung für die Erweiterung der wohlfahrtsstaatlichen Finanzierungskapazität (durch Steuererhöhung) mehr gibt. In Brasilien fehlt die Konstruktion eines Kollektivs, das als politische Unterstützung für eine politisch-rechtlich institutionalisierte Solidarität fungieren könnte. Unsere politische Wirklichkeit ist weit davon entfernt, eine Mehrheit für ein expansives Politikverständnis (mehr Steuern und mehr Staat!) herzustellen, die in der Lage wäre, eine Expansion des Wohlfahrtsstaats nicht nur in politischen Wahlen, sondern auch in alltäglichen Machtverhältnissen des inoffiziellen Machtkreislaufs zu unterstützen. Dabei scheint die „aufsteigende Unterschicht“, die anspruchsvollere Inklusionserwartungen an das Erziehungssystem und das System der Krankenbehandlung haben, keine Hoffnung auf den Staat als Garant sozialer Rechte mehr zu legen 897; nicht zuletzt deshalb, weil keine regierungsfähige politische Partei die Erhöhung der staatlichen Finanzierung des Bildungsund Gesundheitswesens mit Glaubwürdigkeit unterstützt. Eher scheint es so zu 896

MÜLLER, Hans Peter (2006): „Zur Zukunft der Klassengesellschaft“, S. 199. Zur Rolle der „aufsteigenden Unterschicht“ bzw. unteren Mittelschicht in der Herstellung politischer Mehrheiten für ein expansives Staatsverständnis siehe SCHIMANNK, Uwe (2009): „Vater Staat“: ein vorhersehbares Comeback“, S. 262-264. 897

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sein, dass diese politisch entscheidende soziale Schicht bereits daran gewöhnt ist, soziale Rechte auf „Verbraucherrechte“ zu reduzieren, also diese Rechte als ein weiteres kommodifiziertes Inklusionskriterium wahrzunehmen, das die Exklusion derjenigen, die nicht für Gesundheit und Bildung zahlen können, nicht zu problematisieren und zu politisieren erlaubt. Für die Exkludierten, die von dem ökonomischen Wachstum und der Lohnpolitik der letzten zehn Jahren nicht profitierten, wird das wirtschaftliche „Nein“ durch ein politisches „Nein“ ergänzt: keine Zahlungsfähigkeit und auch keine politische Unterstützung für die Dekommodifizierung der Inklusionskriterien im Bildungs- und Gesundheitswesen. Hinzu kommt, dass die Sozialpolitik für Exkludierte großenteils als ökonomisch irrationale bzw.ineffiziente politische Entscheidungen delegitimiert wird. Das Fehlen eines (ökonomisch präformierten) Blicks in die Zukunft, was den Exkludierten attribuiert und durch ihr Verhalten bestätigt wird, dient der Konstruktion einer politischen Grenze, welche die Privatinteressen und Inklusionsansprüche dieser Bevölkerungsgruppe als öffentlich und politisch irrelevant definiert. So konstruierten die größeren und einflussreicheren massenmedialen Organisationen in den nationalen Wahlkämpfen 2006 und 2010 einen Diskurs, der das Programm Bolsa Família (Familienbeihilfe) delegitimierte, indem er behauptete, dass das Programm den fehlenden „Willen zum Ausstieg“ der „faulen Armen“ finanzierte und verstärke; es handele sich also um ein Programm, das aufgrund der Zukunftslosigkeit seines Empfängerpublikums nicht zum „Wealth of the Nation“ beitrage. Im Rahmen dieses Diskurses wird die politische Unterstützung der Empfänger dieses Transferleistungsprogramms, die in den beiden Wahlkämpfen entscheidend waren, als eine heteronome und partikularistische Orientierung verachtet. Zum einen werden Empfänger von Transferleistung als Individuen beobachtet, die sich aufgrund ihrer Notlage und der Abwesenheit eines Blicks in die Zukunft nur als „bloße Körper“ ohne ein für die Politik erforderliches autonomes Unterscheidungsvermögen verhalten. Zum anderen werden ihre kurzfristigen ökonomischen Interessen als Partikularismus bezeichnet, d. h. als Interessen, die infolge ihres fehlenden Bezugs auf die Zukunft und ihre Bedeutungslosigkeit für die Nation keine öffentliche und politische Relevanz haben sollten. Wie in Kapitel 4 dargestellt, ist dieser Diskurs, der die zugerechnete subjektive Fähigkeit zur Konstruktion langfristiger Interessen als notwendige Voraussetzung für die Inklusion in fast allen Funktionssystemen behandelt, eine Form der Subjektivierung und Adressenbildung, die eine gesamtgesellschaftliche Grenze zwischen Person als menschliches Medium der Gesellschaft und dem nicht inkludierbaren „bloßen Körpern“ ohne soziale Relevanz zieht. Wer sich von der Unmittelbarkeit eigener elementarer Bedürfnisse nicht distanzieren kann, dem wird der Status einer relevanten sozialen Person entzogen. Denn das Fehlen eines Blicks in die Zukunft heißt auch, dass die Individuen nicht bereit sind, sich nach den teilsystemischen Verhaltensanforderungen formen zu lassen, dass sie also wegen ihrer Reduktion auf die Kurzfristigkeit der ökonomischen Notlage 325

nicht zwischen systemspezifischen Formen des Personseins oszillieren können. Der Fokus auf das Fehlen zieht dabei die Aktivierung der Funktion der Moral in einer funktional differenzierten Gesellschaft nach sich: Die Funktionssysteme gegen die Bedrohung zu schützen, die die Inklusion zukunftsloser Individuen darstellt, und somit eine gesamtgesellschaftliche moralische Differenz an die Stelle der teilsystemspezifischen Inklusionskriterien zu setzen. Diese Remoralisierung der Inklusionskriterien, die als Negation des Status einer sozialen Person praktiziert wird, beruht auf einer sozialen Definition des Menschen, die der funktionalen Differenzierung zugrunde liegt. Menschen sind nur sozial relevant, wenn sie fähig sind, die grundverschiedenen Verhaltensanforderungen der funktionalen Teilsysteme zu erfüllen und sich als Individuum auf keine der funktionalen Rollen reduzieren zu lassen. Diese Fähigkeit zur funktionalen Rollentrennung setzt also eine Art von Individualität voraus, die sich durch ihre Entscheidungsfreiheit auszeichnet und sich auch in der Form von Grundrechten ausdrückt, die die Bedingungen dieser Freiheit zu normieren versuchen. Bei dieser Entscheidungsfreiheit handelt es sich um eine sozial standardisierte Beobachtungsweise der individuellen psychischen Selbstreferenz. Personen sind dann diejenigen Individuen, die diese soziale Beobachtung so antizipieren, dass ihre selektive Verhaltensweise eine soziale Zurechnung von Entscheidungsfreiheit nach sich zieht. Das heißt eben nicht, dass Funktionssysteme die Freiheit oder die Unfreiheit der menschlichen Psyche durchschauen. Es gibt lediglich eine soziale Beobachtung und Bewertung der Psychen, an die sich die Psychen anpassen bzw. mit denen sich die Psychen strukturell koppeln. Findet dabei keine Zurechnung von Entscheidungsfreiheit statt, so wird den Individuen unabhängig von ihrer faktischen autopoietischen psychischen Reproduktion der Status einer sozialen Person entzogen. Also ist die Unterstellung eines „autonomen Bewusstseinszustands“ konstitutiv für die Konstruktion der sozialen Person. Die funktional differenzierte Gesellschaft institutionalisiert eine paradoxe Form der Aktivierung moralischer Kommunikation: Wer als soziale Person klassifiziert wird, erfährt dies als eine moralfreie Inklusion in den Funktionssystemen nach ihren spezifischen Kriterien, erlebt Inklusion also als Entlastung einer moralischen Bewertung seiner ganzen sozialen Person; wem dieser Status negiert wird, dem geschieht dies als eine remoralisierte Form der Exklusion, der erlebt Exklusion also als ein moralisches Urteil seiner ganzen Person. Die diskursive Deklassierung der politischen Wahlentscheidungen der Transferleistungsempfänger stellt insofern eine Remoralisierung der Inklusionskriterien der Politik dar, als dass die Ganzheit ihrer Person beurteilt wird. Dies geschieht, indem ihre Interessen schon deshalb als öffentlich und politisch irrelevant bewertet werden, weil unterstellt wird, dass sie heteronom und partikularistisch formuliert und verfolgt werden: Die ökonomisch bedingte Kurzfristigkeit der Interessenlage wird als Symbol fehlender Entscheidungsfreiheit und universalistischer Orientierung wahrgenommen. Das heißt, es wird davon ausgegangen, 326

dass die ganze Person derart auf ihre ökonomische Notlage reduziert ist, dass sie über keinerlei politische Urteilsfähigkeit verfügt. Das läuft auf die Delegitimierung der Formen politischer Orientierung der Leistungsempfänger hinaus. Aufgrund der fehlenden Ressourcen zur organisierten Interessenvertretung spielt die „personalisierte Vertretung“ eine entscheidende Rolle. In der wissenschaftlich informierten Selbstbeschreibung des politischen Systems wird dieses Phänomen in der Regel als „Populismus“ 898 bezeichnet, wobei das Publikum als eine willenlose Masse unter der Führung autoritärer Politiker beschrieben wird. In der öffentlichen Diskussion über die politische Bedeutung der Transferleistungsprogramme wird betont, dass die Identifikation der Leistungsempfänger mit dem (ehemaligen) Präsidenten der Republik die Machtoszillation zwischen Regierung und Opposition und damit auch die Demokratie gefährde. Vergessen wird dabei die tatsächliche Verzerrung der Machtoszillation, die die hegemoniale strukturelle und semantische Ökonomisierung der Politik darstellt: die Naturalisierung bestimmter ökonomischer Prinzipien als notwendiges politisches Programm, dessen Begründung in der angeblichen „Objektivität“ der dargestellten „ökonomischen Wirklichkeit“ liegt. Die Vertreter dieses „wirtschaftlichen Naturalismus“, die in den Redaktionen der brasilianischen Großzeitungen und Fernsehkonzerne tätig sind, beanspruchen einen Zugang zur Wirklichkeit zu haben, der durch die Politik nicht infrage gestellt werden darf. Die Darstellung dieser „Wirklichkeit“ als eine Notwendigkeit delegitimiert jede politische Konfliktualisierung, die die angeblich unabänderlichen „ökonomischen Prinzipien“ zugunsten einer Expansion staatlich finanzierter Inklusionswege als kontingent beschreiben. Nach dieser hegemonialen Selbstbeschreibung kann die kumulative Logik der Exklusion nur im Rahmen einer „ökonomisch vernünftigen“ Politik bekämpft werden. Es wird aber nicht zur Kenntnis genommen, dass es gerade die „ökonomische Vernunft“ der letzten Jahrzehnte ist, die die Expansion derjenigen Mechanismen verhindert, die der modernen Gesellschaft gegen die Kumulation von Exklusionen zur Verfügung stehen: die Dekommodifizierung der Chancen zur Teilnahme an den Funktionssystemen durch die Inklusion in Organisationen, in denen der Einzelne aufgrund seines politischen Status als Staatsbürger und nicht aufgrund seines Verbraucherstatus Mitglied ist. Die Schwächung der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, die die Tendenz zur Kumulation von Exklusion – in erster Linie aus der zunehmenden Arbeitslosigkeit resultierend – konterkarieren, ist aber vor allem dort zu 898 Zur wissenschaftlichen Ausarbeitung des Begriffs in der brasilianischen bzw. lateinamerikanischen Soziologie siehe WEFFORT, Franciso (1973): „Clases populares y desarrollo social. Contribución al estudio del populismo. In : WEFFORT, Franciso/ QUIJANO, Anibal (Hg) Populismo, marginalidad y dependencia. San José : Educa; GERMANI, Gino (1962): Política y sociedad en una época de transición. Buenos Aires : Paidós; Zum einen alternativen Populismuskonzept, das das Phänomen in Beziehung mit Exklusionsproblem der Demokratie setzt, siehe CANOVAN, Margaret (1999): „Trust the People! Populism and the Two Faces of Democracy”. In: Political Studies, XLVII (1999), S. 2-16.

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erfahren, wo der Einzelne schon lange an diese Leistungen gewöhnt ist: in den nordwestlichen Ländern, die aus eigener Erfahrung dazu gezwungen werden, zu erinnern, dass es Exklusion gibt.

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Fazit Die moderne Gesellschaft ist in der Lage, vorfindbare soziale Asymmetrien zu problematisieren und nach Alternativen zu suchen. Das ist nur möglich, weil ihre primäre Form der Systemdifferenzierung nicht aus einer natürlichen Zuordnung von Individuen zu Schichten besteht, die alle Möglichkeiten der Teilnahme am sozialen Leben durch eine allumfassende askriptive Selektion regelt. Primat funktionaler Differenzierung heißt, dass die Inklusion in den verschiedenen Funktionssystemen durch teilsystemspezifische Kriterien und nicht durch eine natürliche Rangordnung geregelt wird. Kein spezifisches Schichtungsgefüge kann als notwendiges Selektionskriterium für die Inklusions- und Exklusionsentscheidungen aller gesellschaftlichen Teilsysteme fungieren. Die ökonomische Position eines Individuums, seine politischen Loyalitäten sowie sein Rechtsstatus werden als Ergebnis gesellschaftsinterner Entscheidungen beobachtbar und kritisierbar. Dabei führt die Kontingenz sozialer Selektion dazu, dass die hergestellten Ungleichheiten legitimiert werden müssen. Die Semantik der individuellen Leistung ist konstitutiv mit diesem Legitimationsbedarf verknüpft und „dient in der Praxis dazu, Selektionen als normativ richtig darzustellen“ 899. Erst dadurch, dass kein unbezweifelbares, natürlich vorgegebenes Sortierschema zur Verfügung steht, das Personen gesamtgesellschaftlich höheren oder niedrigen Positionen zuweist, werden soziale Systeme (vor allem Organisationen) dazu gezwungen, die Selektion von Personen als leitungsgerechte Selektionen zu plausibilisieren. Da aber Personalentscheidungen ohne diese semantische Plausibilisierung als Prämisse weiterer Entscheidungen nicht fungieren können, nicht zuletzt aufgrund normativer Erwartungen, die eine explizite Positivierung von Privilegien unmöglich machen, wird die Leistungssemantik zu einer konstitutiven Sinnstruktur der Organisationssysteme und die Konstruktion und Darstellung der Leistungsgerechtigkeit ihrer Selektionen zu einem ihrer zentralen Bezugsprobleme. Die Frage, ob die Inklusion in die Funktionssysteme meritokratisch nach sachlich-funktionalen Kriterien oder partikularistisch nach askriptiven Merkmalen erfolgt, ist also eine Frage, die die sozialen Systeme selbst beantworten. Die Soziologie, auch wenn sie sich als kritische Soziologie versteht, muss zunächst beobachten, wie soziale Systeme Leistungsfähigkeit zurechnen, beobachten, vergleichen und bewerten. Individuelle Leistungserbringung wird damit als eine soziale Konstruktion definiert, die empirisch je nach Funktionssystem anders strukturiert wird. Sie kann also nicht mehr als eine „unabhängige Variable“ verstanden werden, von der die differenzielle Bewertung von Personen und somit 899 NOLLMANN, Gerd (2004): „Leben wir in einer Leistungsgesellschaft? Neue Forschungsergebnisse zu einem scheinbar vertrauten Thema“. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 3 (2004). S. 43.

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auch ihrer Inklusionschancen abhängt. Denn auch in Arbeitsorganisationen der entwickelten Länder 900 ist Leistungsfähigkeit Ergebnis sozialer Zurechnung, die oft durch informale Entscheidungsprämissen konditioniert wird d. h., durch Prämissen, die sich auf askriptive Merkmale stützen können. Der Abgrund zwischen formalen Entscheidungssituationen und informalem Entscheidungsvorfeld, der sich in Arbeitsorganisationen eröffnet, erlaubt es, das abstrakte und unscharfe Leistungsprinzip, das auf der formalen Schauseite als legitime Ursache von Personalentscheidungen dargestellt wird, auf der informalen Rückseite durch askriptive Kriterien zu spezifizieren. Stimmt beispielsweise die Chemie zwischen dem geschäftsführenden Direktor und einem der Bewerber, weil sie beispielsweise ähnliche Interessen oder ähnliche Biographien aufweisen, so kann die Zurechnung von Leistungsfähigkeit wohl darauf beruhen, vorausgesetzt, dass diese informalen Kriterien in der formalen Selbstdarstellung der Organisationen nicht thematisiert werden. Das bedeutet, die soziale Konstruktion und Zurechnung von Leistung wird durch partikularistische, leitungsfremde Kriterien mitstrukturiert: durch personale Interessen, das Verhältnis von Achtung/Missachtung, Dankbarkeiten, informell aufgewertete bzw. abgewertete biografische Muster, brauchbare Illegalitäten usw. Hinzu kommt, dass sich individuelle Mobilitäts- und Beförderungsansprüche sowie Vorstellungen über die eigene Leistungsfähigkeit im informalen Entscheidungsvorfeld an implizit suggerierte Chancen anpassen, sodass Formen der antizipierten Selbstexklusion entstehen, die zur Invisibilisierung partikularistischer Kriterien und zu meritokratischer Legitimation der Selektionen in der formalen Selbstdarstellung des Systems beitragen. Der partikularistische Charakter jeder Form der Konditionierung der Zurechnung von Leistungsfähigkeit liegt bereits darin, dass Individuen von niedrigerer Herkunft die sozial plausiblen Formen der Selbstzurechnung und Darstellung von Leistungsfähigkeit gar nicht erst erlernen, also darin, dass das Leistungsprinzip selbst eine milieuspezifische partikularistische Konstruktion ist: Es gibt Individuen, die sich selbst für die Mehrheit der gesellschaftlich relevanten Tätigkeiten als nicht leistungsfähig verstehen. In der Selbstdarstellung von Organisationen und Funktionssystemen wird nur die zugerechnete individuelle Leistungsfähigkeit sichtbar, nicht aber ihre spezifischen und kontingenten Bedingungen der Möglichkeit. Wichtig ist festzuhalten, dass diese soziale Konstruktion der Leistungsfähigkeit anhand informaler Kriterien, die je nach dem funktionalen Kontext anders strukturiert werden kann, ein äußerst bedeutsames Ordnungsproblem für Organisationen zu bewältigen erlaubt: die Reduktion der Komplexität der Sozialdimension durch die Ersetzung hochindividualisierter Leistungsvergleiche durch sozial generalisierte Individualitätsmuster. Dabei übernehmen Organisationen die Aufgabe der Programmierung der Operationen der meisten Teilsysteme. Entscheidungsprämissen, die die Zuordnung 900

Ibidem, S. 31.

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der Codewerte der Funktionssysteme regeln, entstehen und reproduzieren sich in Organisationssystemen. So regeln Banken beispielsweise die Verteilung von Zahlungsfähigkeit und Zahlungsunfähigkeit im Wirtschaftssystem und das Parlament formuliert die Prämissen für die Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung. Wie Luhmann für den Fall der Politik zeigt, setzen sich dabei nicht nur formale bzw. offizielle, sondern auch informale bzw. inoffizielle Prämissen als Programmstrukturen durch. In dieser Hinsicht kann das partikularistische Kriterium der Mitgliedschaft in Organisationen der Interessenvertretung als Inklusionskriterium im inoffiziellen Machtkreislauf viel wichtiger sein für die Beeinflussung von kollektiv bindenden Entscheidungen als die offizielle Abstimmung der Parteiprogramme in politischen Wahlen. Somit ist die Inklusion in Organisationen doppelt wichtig für die Inklusion in Funktionssysteme. Einerseits werden die Prämissen für die Inklusion in die Funktionssysteme innerhalb von Organisationen bestimmt. Andererseits wird die Inklusion in gesellschaftliche Teilsysteme selbst direkt oder indirekt von der Mitgliedschaft in Organisationen abhängig gemacht: Wer nicht die Schule besucht, hat keinen ernst zu nehmenden Zugang zum Erziehungssystem – selbst wenn er etwa an erzieherischer Kommunikation in der Familie teilnimmt; wer nicht Mitglied einer Arbeitsorganisation ist, hat bestenfalls einen prekären Zugang zum Wirtschaftssystem; wer nicht Mitglieder einer Krankenversicherung ist, kann schwerlich Patient im System der Krankenbehandlung sein. Ferner sind Organisationen der Ort, wo strukturelle Kopplungen zwischen den Funktionssystemen institutionalisiert werden, und deshalb in der Lage, Interdependenzbeziehungen zwischen funktionssystemspezifischen Ressourcen erwartbar zu machen. So ist Wissen aufgrund der strukturellen Kopplung von Erziehung und Wirtschaft, die durch berufliche Erwerbsarbeit in Organisationen institutionalisiert ist, immer noch entscheidend für den Zugang zu Geld und Entscheidungsmacht. Diese Organisationsabhängigkeit des Zugangs zu Funktionssystemen bedeutet auch, dass informale Selektionskriterien, die im Vorfeld von Entscheidungssituationen in Organisationen als Mitgliedschaftsregeln fungieren, auch die Inklusion in Funktionssysteme strukturieren können. So wird die normative Erwartung auf Vollinklusion (eine formalisierte Erwartungsstruktur) in der Politik im inoffiziellen Machtkreislauf eben durch das Kriterium der Organisationsfähigkeit der Tätigkeit der Interessenvertretung (ein Kriterium, das sich der formalisierten Norm der Vollinklusion entzieht) entstellt. Jedoch können informale Kriterien, die in der Entscheidungsroutine von Organisationen entstehen, Inklusions- und Exklusionsentscheidungen nur strukturieren, wenn sie in Entscheidungssituationen als Entscheidungsprämisse angenommen werden. Das heißt, ob sie tatsächlich als Strukturen der jeweiligen Entscheidungsprozesse fungieren, hängt von jeder gegenwärtigen Systemoperation selbst ab. Der Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart sowie seine Bedeutung für die Zukunft werden in der Gegenwart jedes sozialen Systems konstruiert. Deshalb ist auch die Verknüpfung zwi331

schen Ungleichheiten, die in verschiedenen Funktionssystemen hergestellt werden, auf die Operationen aller an dieser Verknüpfung beteiligten Funktionssysteme angewiesen. Das gilt sowohl für die „lose Kopplung“ des „Inklusionsbereiches“ als auch für die „strikte Kopplung“ des „Exklusionsbereiches“. Ein Beispiel für den Inklusionsbereich: Zwar hat die massenmediale Prominenz eines Individuums Einfluss auf seine „Chancen“ in Liebesbeziehungen, das setzt aber voraus, dass es über bestimmte, durch die Erfahrung dieser Prominenz angeeignete Kompetenzen verfügt, die ihm dabei helfen, etwa die „überzeugendsten Schemata“ der „Liebespraxis“ zu beherrschen und geschickt anzuwenden. Lose Kopplung bedeutet hier, dass es keine Sicherheit hinsichtlich der Bedeutung von Prominenz für konkrete Liebesbeziehungen geben kann, sondern dass diese Bedeutung erst intern, in kontingenten Liebesbeziehungen nachzuweisen ist. Ein Beispiel für den Exklusionsbereich: Zwar kann dauerhafte Arbeitslosigkeit die Zerstörung von Intimbeziehungen nach sich ziehen, das wird allerdings nur in der Alltagspraxis einer Familie entschieden. Der Wohlfahrtsstaat, indem er die Abhängigkeit der Familie von individueller Wirtschaftsleitung lockert, kann beispielsweise die Wahrscheinlichkeit einer solchen Kumulation von Exklusionen mindern. Dadurch also, dass politische Exklusion nicht an den Prozess der Kumulation von Exklusionen anschließt, wird der Prozess selbst kontingent und reversibel. Für die Unterscheidung zwischen Inklusionsbereich und Exklusionsbereich ist der Umstand entscheidend, dass die Verknüpfung von Nachteilen im Exklusionsbereich dazu tendiert, sich als notwendig und irreversibel zu reproduzieren. Aus dauerhafter Arbeitslosigkeit resultiert fast zwangsläufig die Auflösung von Intimbeziehungen; in der Folge lernt das Kind aufgrund der prekären familiären Sozialisation nicht, sich in der Schule erziehen zu lassen; der schulische Misserfolg zieht ökonomische Exklusion nach sich und in der Politik findet keine mögliche politische Unterstützung für kollektiv bindende Entscheidungen statt, die auf die Sicherung erweiterter Inklusionschancen in diese Gesellschaftsbereiche abzielen. Das heißt, die Kumulation von Exklusionen generiert einen Teufelskreis, der die Form einer notwendigen Interdependenz zwischen Nachteilen annimmt. Das läuft darauf hinaus, dass die Funktionssysteme die davon betroffenen Individuen nicht mehr als inkludierbaren Publikumsanteil beobachten: Zahlungsunfähige Individuen werden irrelevant für Krankenversicherungen; unqualifizierte Arbeitskräfte bleiben arbeitslos, obwohl kontinuierlich neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Exklusion heißt in diesem Sinne auch Optionsverlust d. h., eine Reduktion der operativen Möglichkeiten für die Funktionssysteme. Die sich daraus ergebende soziale Irrelevanz der betroffenen Individuen spiegelt sich oft auch in ihren Selbsterwartungen. Das geschieht, indem die exkludierenden Fremderwartungen d. h., die Erwartungen, dass die Individuen nicht als Publikumsteil der Funktionssysteme in Betracht kommen, in der Form einer daran angepassten Selbstbeoachtung, also in der Form von Selbstexklusion antizipiert 332

werden. Man sucht keine Arbeit mehr, weil von vornherein nichts anderes als ein „Nein“ erwartet wird. Man bereitet sich nicht auf die Zukunft vor, weil klar ist, dass die eigene Individualität in der Gesellschaft keine Zukunft hat. Doch ist diese Übereinstimmung von Fremdselektion und Selbstselektion überhaupt nicht notwendig. Es ist möglich – wie es beispielsweise in der religiösen Kommunikation pfingstlicher Kirchen in peripheren Stadtgebieten Brasiliens der Fall ist – durch die Inklusion in soziale Systeme, die sich nicht an die Kumulation von Exklusionen anschließen, neue Selbsterwartungen herzustellen und somit auch in anderen Teilsystemen den Status einer sozialen Person wiederzugewinnen. Die soziale Konstituiertheit der individuellen Person im Kontext der religiösen Kommunikation lässt sich sehr gut daran erkennen, dass die immanente Zukunftslosigkeit und soziale Irrelevanz von Individuen durch eine transzendentale Aufwertung ihrer sozialen Person („Gott hat ein Projekt für dein Leben“, so die Botschaft des Pentekostalismus) sozusagen dekonstruiert wird 901 . Bemerkenswert ist dabei, dass das „born again“ in der Religion auch in anderen sozialen Systemen anschlussfähig zu sein scheint. So fungieren Netzwerke, die in der religiösen Gemeinschaft entstehen, häufig als Quelle von Kreditwürdigkeit bzw. „sozialem Kapital“ für ex-inhaftierte Arbeitssuchende. Bleibt jedoch der Teufelskreis kumulierter Exklusion ununterbrochen, so tendiert die Reduktion menschlicher Individuen auf ihre körperliche Existenz dazu, sich auf alle Ebenen der sozialen Systembildung zu erstrecken. Auf der Gesellschaftsebene wird die Grenze zwischen relevanten (Personen) und irrelevanten Individuen (bloßen Körpern) dadurch gezogen, dass den irrelevanten Individuen die strukturierten Inklusionsperspektiven in allen wichtigen Funktionsbereichen unzugänglich gemacht werden. Das Kriterium ist hier die Nichtexistenz jener an den Status einer sozialen Person gebundenen Rekursivität, die sich aus aktuellen Inklusionen ergibt und die eine Zukunft mit relativ sicheren Inklusionsmöglichkeiten schafft. In der systemtheoretischen Begrifflichkeit handelt es sich um die Nicht-Zurechnung von Eigenschaften, die Individuen zum Medium der Gesellschaft machen. Auf der Organisationsebene entsprechen die Grenzen zwischen Person und Körper der Unterscheidung zwischen (möglicher) Mitgliedschaft und Unmöglichkeit der Mitgliedschaft. Auf der Interaktionsebene geht es darum, ob die körperliche Anwesenheit von Individuen auch als die Anwesenheit einer sozialen Person wahrgenommen und anerkannt wird oder nicht. Die Kumulation von Exklusionen ist in Brasilien ein massenhaftes Phänomen und umfasst häufig die drei Typen der Systembildung. Es handelt sich also um Individuen, die nicht dem inkludierbaren Publikum der meisten Funktionssysteme angehören, die keine Mitglieder von Organisationen werden können und die in alltäglichen 901

Zum Verhältnis von Religion und Exklusion siehe KARLE, Isolde. (2001): “Funktionale Differenzierung und Exklusion als Herausforderung und Chance für Religion und Kirche”. In: Soziale Systeme 7 (2001), S. 100-117.

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Interaktionen – auch in nicht funktionalen Interaktionen – nicht als ansprechbare Personen anerkannt werden. Für die Reproduktion bzw. Evolution der funktional differenzierten Gesellschaft bedeutet diese massenhafte Exklusion ein Optionsverlust. Die Existenz und Reproduktion einer nicht inkludierbaren Bevölkerungsgruppe impliziert, dass die Mikrodiversität d. h., der Überschuss an operativen Möglichkeiten stark eingeschränkt wird. So kommen sie weder als Konsumenten noch als Patienten noch als relevante „politische Akteure“ in Betracht. Es handelt sich also um eine bedeutsame Reduktion der Komplexität der Sozialdimension, die unterschiedliche Funktionssysteme umfasst. Daraus ergibt sich ein Problem der „überstrukturierten Komplexität“, und nicht, wie Neves 902 behauptet, der „unstrukturierten Komplexität“. Ist eine soziale Umwelt, in der der Zugang zu Bürgerrechten selektiv durch den Berufsstatus konditioniert wird, eine unstrukturierte Umwelt? Liefert beispielsweise der von der Bezahlung von Anwälten abhängige Zugang zu überteuerten gesundheitlichen Behandlungen nicht einen Beweis dafür, dass diese soziale Umwelt überstrukturiert ist? Von unstrukturierter Komplexität kann nicht die Rede sein, wenn die Funktionssysteme ihre Programme und Inklusionskriterien in Übereinstimmung mit massenhafter Exklusion bilden. Es handelt sich um eine extreme Reduktion von Komplexität bzw. Kontingenz, die die Variation der Systemoperationen zugunsten der Institutionalisierung neuer Inklusionserwartungen stark limitiert. Ohne die Multikausalität der Kumulation von Exklusionen zu vernachlässigen, scheint diese extreme Reduktion von sozialer Komplexität, die mit massenhafter Exklusion einhergeht, mit der Dominanz der ökonomischen Leistungsabhängigkeit im Gefüge der strukturellen Kopplungen zwischen den Funktionssystemen eng verbunden zu sein. Die Geldabhängigkeit von Organisationen, die einen verstärkten Einfluss ökonomischer Gesichtspunkte auf die operativen Möglichkeiten anderer Funktionssysteme impliziert, erstreckt sich auf die Organisationen der Politik und reduziert damit auch den Spielraum kollektiv bindender Entscheidungen, die die operativen Möglichkeiten und somit auch die Inklusionskapazität von Funktionssystemen wie Erziehung und Gesundheitswesen durch Dekommodifizierungsmaßnahmen erweitern könnten. So führen die endemischen Finanzierungsgrenzen des brasilianischen Wohlfahrtsstaates dazu, dass ökonomischen Gesichtspunkten der Vorrang vor der Verfassung sowie den Staatsbürgerrechten gegeben wird. Die Schwäche der Politik und des Wohlfahrtsstaates liegt also vor allem darin, dass die Dominanz ihrer strukturellen Kopplung mit der Wirtschaft eine Ökonomisierung ihres eigenen Entscheidungsspielraums zur Folge hat. Auf Finanzierungsprobleme, die systemintern als sich wiederholende Irritationen verarbeitet werden, reagiert das System durch eine „ökonomisierende“ Reformulierung 902

NEVES, Marcelo (2006): “Die Staaten im Zentrum und die Staaten an der Peripherie“, S. 257.

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seiner Programme, also durch den zunehmenden Einbau von ökonomischer Rücksicht. Diesbezüglich lässt sich in Brasilien eine enorme Diskrepanz beobachten zwischen dem offiziellen Diskurs, in dem die Expansion des Wohlfahrtsstaates als Zweckprogramm angekündigt wird, und der Bedeutung des neoliberalen Programms als permanente Engführung der Politik bzw. als permanente Entstellung demokratisch gewählter Programme im inoffiziellen Machtkreislauf. So findet die Erweiterung einer Inklusionskapazität der Funktionssysteme mittels kollektiv bindender Entscheidungen, die Zahlungsfähigkeit durch staatlich finanzierte Grundrechte als Inklusionskriterium ersetzt, nicht statt. Kurz: je stärker die ökonomische Abhängigkeit der Politik, desto schwächer ihrer Abhängigkeit von den rechtlich regulierten demokratischen Verfahren bzw. von der Beachtung der Grundrechte. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Entdifferenzierung zwischen Politik und Wirtschaft. Zahlungsoperationen sind nach wie vor nicht in der Lage, als politische Entscheidungen zu fungieren. Vielmehr handelt es sich um die politische Konstruktion der Nichtpolitisierbarkeit bestimmter „ökonomischer Imperative“, d..h. um ein parteienübergreifendes politisches Programm, das die ökonomische Abhängigkeit der Politik in der Form eines alternativlosen „Sachzwanges“ 903 antizipiert. Dieses Programm, das die bestehende Organisationswelt und die nicht-politisierte Macht naturalisiert und das von dem Philosophen Roberto Unger als eine „Diktatur der Alternativlosigkeit“ definiert wird, lässt es nicht zu, die Inklusionskapazität vor allem der Wirtschaft und der Politik selbst zu erweitern. Seine „politische Ökonomie“ setzt sich als notwendig, als eine alternativlose Wirklichkeitsbeschreibung durch, sodass die Kontingenz der Organisation bzw. der Strukturierung der Politik und der Wirtschaft invisibilisiert wird. So war vor wenigen Jahren noch beispielsweise undenkbar, von der Hochzinspolitik Abschied zu nehmen 904 ohne die nationale Volkswirtschaft dabei einem unkontrollierbaren Inflationsdruck auszusetzen. Das neoliberale Programm, indem es sich als notwendige Wirklichkeitsauffassung darstellt, nimmt die Form einer nicht politisierbaren Normativität an, die alle politischen Vorstellungen über die Zukunft anhand eines vermeintlich unausweichlichen „Realitätsprinzips“ zu diskreditieren versucht. Anders gesagt: anhand eines „Realitätsprinzips“, das aufgrund seiner beanspruchten Alternativlosigkeit alle Lebensbereiche normieren will. Dabei herrscht eine sozialdarwinistische Einstellung gegenüber sozialer Exklusion, in der das „Außen“, das die aktuell nicht inkludierbaren Bevölkerungsgruppen darstellt, nicht das Ergebnis interner, durch die Gesellschaft selbst 903

UNGER, Roberto Mangabeira (2007): Wider den Sachzwang. Für eine linke Politik. Berlin: Klaus Wagenbach Verlag. 904 LEUBBOLT, Bernhard (2011): „Staat und politische Ökonomie in Brasilien: Die Regierung Lula im Spiegelbild der Geschichte“. SRE - Discussion Papers, 2011/01. WU Vienna University of Economics and Business, Vienna (http://epub.wu.ac.at/3152/1/sre-disc-2011_01.pdf. Letzter Besuch 13.09.2012).

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konstruierter Strukturen und Randzonen ist 905. Da die Soziologie als Teilsystem des Teilsystems Wissenschaft 906 ein Produkt der sozioevolutiven Sichtbarmachung der Kontingenz gesellschaftlicher Strukturen ist, ist ihre Selbstreproduktion davon abhängig, dass sich keine Wirklichkeitsauffassung in der Gesellschaft als alternativlos durchsetzt. Deshalb kann ein Text, der sich mit der Kontingenz von sozialen Strukturen befasst, an denen sich Prozesse der sozialen Selektion orientieren, hinsichtlich eines jeglichen Versuchs der semantischen Ontologisierung dieser Strukturen keineswegs neutral sein.

905

OPTZ, Sven. „Grenzregime zwischen innen und außen: Überlegung zu sozialer Produktion von Marginalität“. In: http://www.gradnet.de/papers/papers2004/opitz04long.pdf (letzter Besuch 11.09.2012), S. 5. 906 LUHMANN, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1126

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Benedikt Rogge Wie uns Arbeitslosigkeit unter die Haut geht Identitätsprozess und psychische Gesundheit bei Statuswechseln 2013, 400 Seiten, broschiert ISBN 978-3-7445-0672-4 In einer qualitativen Läng sschnittstudie zeig t Benedikt Rog g e, wie Arbeitslosig keit »unter die Haut g eht«, sich also auf Selbstbild und psychische Gesundheit auswirkt. Basierend auf rund 60 Interviews mit Kurz- und Lang zeitarbeitslosen und Erfahrung en aus der Praxis psychosozialer Beratung entwickelt er die »Theorie biografischer Identitätsmodi«. So können Menschen Arbeitslosig keit unterschiedlich erfahren: im Modus einer wiederkehrenden Umstellung , einer ersehnten Befreiung , eines ung ewissen Kampfes, eines dauerhaften Verfalls oder einer positiven Transformation. Während die Forschung Arbeitslose meist einseitig als »Ausgegrenzte« oder »Kranke« porträtiert, liefert diese Studie ein neues Verständnis der Vielfalt an Handlung s- und Deutung spraktiken und der Gesundheit von Arbeitslosen.

»Rog g e hat einen wertvollen, befreienden Beitrag zur Entideologisierung der Arbeitslosigkeit geleistet. Sein Buch ist ein gesellschaftlicher Appell, die Stig matisierung von Arbeitslosig keit als sozialen Makel ebenso zu beenden wie ihre pauschale Pathologisierung durch g Politik und Wohltäti keitsindustrie.« wiwo.de Benedikt Rogge ist Soziologe und Psychologe. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter an der Bremen International Graduate School of Social Sciences, Universität Bremen und promovierte dort 2012 mit dieser Untersuchung.

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