Funktion der Literatur: Aspekte, Probleme, Aufgaben [Reprint 2022 ed.] 9783112647042


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German Pages 432 Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Aufrisse zum Problem
Probleme geschichtlichen Funktionswandels der Literatur
Funktion der Literatur — Relationen ihrer Bestimmung
Ästhetische Aktivität der Kunst
Zum Begriff der gesellschaftlichen Funktion der Literatur
Entwicklungstendenzen der polnischen literarischen Kultur zwischen 1918 und 1939
Polnische Forschungen zur literarischen Kommunikation
Kommunikationsmechanismen des „schöpferischen Verrats "
Funktions- und Strukturwandel — ein Problem der Literaturgeschichte
Literatur und Ästhetik in der bürgerlichen Gesellschaft
Ästhetik contra Technologie — eine Voraussetzung bürgerlicher Literaturauffassung
Funktionsverständnis in Goethes Auffassung von Weltliteratur
Bemerkungen zu Hegels Konzeption vom Ende der Kunst
Literaturfunktion in der Geschichte — zum Beispiel: Vormärz
Autonomie der Literatur und Kunstfeindlichkeit des Kapitalismus
Befragung der sozialistischen Tradition
Parteilichkeit als Wirkungsbezug
Walter Benjamin — zum Funktionswandel der Literatur in der Epoche des Imperialismus
Zur Dialektik von Erfahrung und Entwurf Zwei Beispiele aus der sowjetischen Literaturentwicklung
Geschichte in Geschichten erzählen
“Autor und Leser sind im Bunde...”
Tschechische Literatur in den Klassenkämpfen der Zwischenkriegszeit
Entwicklungsprobleme der slowakischen sozialistischen Literatur
Literarisches Erbe in der sozialistischen Literaturentwicklung
Literatur im antiimperialistischen Kampf
Symptome des Funktionswandels in der gegenwärtigen lateinamerikanischen Literatur
Antiimperialistischer Kampf und Kulturauffassungen der sechziger Jahre in den USA
Schriftsteller in der französischen Volksfront
,Was kann die Literatur? "
Welche Geschichten sollte man wieder erzählen?
Dokumentarliteratur in der BRD
Literatur in der sozialistischen Gesellschaft heute
Gesellschafts- und Kunstfortschritt in den Literaturen europäischer sozialistischer Länder
Vier Fragen an Literatur und Literaturwissenschaft
Aufgaben der Literatur
Ideologische und poetologische Strategie sozialistischer Lyrik
Wirkungsvorstellung und Werkstruktur bei Hermann Kant und Günter de Bruyn
Wissenschaftlich-technische Revolution und Natur
Literatur und Ideologie
Brecht - Die ästhetischen Folgen des Funktionswechsels
Blickwechsel : Theater und Film
Beziehungen zwischen Funktion und Struktur des Theaters
Gestaltungsmittel sozialistisch-realistischer Filmkunst
Abkürzungen
Anmerkungen
Personenregister
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Funktion der Literatur: Aspekte, Probleme, Aufgaben [Reprint 2022 ed.]
 9783112647042

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Funktion der Literatur

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Funktion der Literatur Aspekte - Probleme - Aufgaben

Akademie-Verlag • Berlin T

975

Herausgeberkollektiv: Dieter Schlenstedt Brigitte Burmeister Ilse Idzikowski Dieter Kliche

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag, Berlin 1975 Lizenznummer: 202 • 100/182/75 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4519 Bestellnummer: 752 797 7 (2150/30) • LSV 8001 Printed in GDR EVP 13,50

Inhalt

Vorbemerkung

11 Aufrisse zum Problem

Manfred Naumann Probleme geschichtlichen Funktionswandels der Literatur

19

Dieter Schlenstedt Funktion der Literatur — Relationen ihrer Bestimmung

.

Nikolai K. Gej Ästhetische Aktivität der Kunst

40 62

Dietrich Sommer Zum Begriff der gesellschaftlichen Funktion der Literatur

70

Stefan Zötkiewski Entwicklungstendenzen der polnischen Kultur zwischen 1918 und 1939 Ka^imierz Polnische kation

Bartos^jnski Forschungen

zur literarischen

literarischen 77 Kommuni95

Janusz La/en>ic% Kommunikationsmechanismen des „schöpferischen Verrats" 5

106

Klaus Städtke Funktions- und Strukturwandel — ein Problem der Literaturgeschichte. Die Literaturverhältnisse in Rußland an der Jahrhundertwende

113

Literatur und Ästhetik in der bürgerlichen Gesellschaft Martin Fontius Ästhetik contra Technologie — eine Voraussetzung bürgerlicher Literaturauffassung

123

Teter Weber Funktionsverständnis in Goethes Auffassung von Weltliteratur

133

Ingrid Pepperle Bemerkungen zu Hegels Konzeption vom Ende der Kunst

140

Kainer Rosenberg Literaturfunktion in der Geschichte — zum Beispiel: Vormärz 146 Karlheinz Barck Autonomie der Literatur und Kunstfeindlichkeit des Kapitalismus

156

Befragung der sozialistischen Tradition Dieter Klicbe Parteilichkeit als Wirkungsbezug

.

• • •

167

Winfried Schröder Walter Benjamin — zum Funktionswandel der Literatur in der Epoche des Imperialismus 176 6

Fritz

Mieraujllse

Id^jhowski¡Gudrun

Düwel

Zur Dialektik von Erfahrung und Entwurf. Zwei Beispiele aus der sowjetischen Literaturentwicklung . . . . Klaus

Kändler

Geschichte in Geschichten erzählen. Willi Bredel über die Aufgaben revolutionärer Literatur Frank

197

Wagner

„Autor und Leser sind im Bunde . . . " Anna Seghers über den antifaschistischen Auftrag sozialistischer Literatur im Exil Stepän

205

Vlasin

Tschechische Literatur Zwischenkriegszeit Karol

187

in den

Klassenkämpfen

der 213

Rosenbaum

Entwicklungsprobleme der slowakischen sozialistischen Literatur Wiktor A.

220

Cborew

Literarisches entwicklung

Erbe

in

der

sozialistischen

Literatur226

Literatur im antiimperialistischen K a m p f Carlos

Kincón

Symptome des Funktionswandels in der gegenwärtigen lateinamerikanischen Literatur Ursula

Beitzf

Antiimperialistischer K a m p f und Kulturauffassungen der sechziger Jahre in den U S A Wolfgang

235

250

Klein

Schriftsteller in der französischen Volksfront 7

258

Brigitte Burmeister „Was kann die Literatur?" Eine Debatte um das Konzept der „engagierten Literatur" in Frankreich Friedrieb

265

Hitler

Welche Geschichten sollte man wieder-erzählen? . . . .

274

Ursula Keinhold Dokumentarliteratur in der BRD

282

Literatur in der sozialistischen Gesellschaft heute Jurij W. Bogdanow Gesellschafts- und Kunstfortschritt in den Literaturen europäischer sozialistischer Länder Klaus

295

Höpcke

Vier Fragen an Literatur und Literaturwissenschaft. . .

303

Jiri Hdjek Aufgaben der Literatur. Kulturpolitische Erfahrungen in der CSSR

312

Stanislav Smatldk Ideologische und poetologische Strategie sozialistischer Lyrik

315

Leonore Kren^lin Wirkungsvorstellung und Werkstruktur bei Hermann Kant und Günter de Bruyn

322

Anton Hier sehe Wissenschaftlich-technische Revolution und Natur. Aspekte neuerer Sowjetliteratur

332

Lothar Kühne Literatur und Ideologie. Über den Zusammenhang kunstliterarischer und theoretischer Aneignung der Wirklichkeit

340

8

Werner Mitten^wei Brecht — Die ästhetischen Folgen des Funktionswechsels

348

Blickwechsel: Theater und Film Joachim Fiebach Beziehungen Theaters

zwischen

Funktion

und

Struktur

des 359

Lut% Haucke Gestaltungsmittel sozialistisch-realistischer Filmkunst. .

369

Abkürzungen

379

Anmerkungen

380

Personenregister

423

Vorbemerkung

Die in diesem Band vereinigten Beiträge sind Resultate des Versuchs, ein gemeinsam gestelltes und angesichts der Entwicklung in den einzelnen sozialistischen Ländern auch gemeinsam für zentral erachtetes Problem von verschiedenen Seiten aus aufzuhellen. Die vorgestellten Überlegungen sind hervorgegangen aus einem Kolloquium, das vom Zentralinstitut für Literaturgeschichte im Mai 1974 veranstaltet wurde — als Arbeitsgespräch und Diskussion zum Thema „Funktion der Literatur in unserer Epoche" zwischen Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft, verschiedenen Fachrichtungen und verschiedenen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen. Eine Reihe von Motiven führte zur Wahl der Problemstellung. Die gesellschaftlichen Umwälzungen in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus vermitteln der literarischen Produktion und der Literaturaneignung fortschreitend sich verändernde Bedingungen. Der weltrevolutionäre Prozeß, das Entstehen und Sichverschärfen der allgemeinen Krise des Kapitalismus, der Aufbau des Sozialismus rufen notwendig eine Änderung der Funktion der Literatur in der Gesellschaft hervor. Die durch die technische Entwicklung entstandenen Massenmedien, die durch sie mitbedingte Veränderung im Kunstensemble wirken darin mit. Den veränderten Wirkungsbedingungen begegnet die Literatur je nach ihren geschichtlichen Voraussetzungen auf vielfältige Weise — dieser Vorgang vollzieht sich unterschiedlich in seinen Entwicklungsetappen. Er ist von Kritik an traditionellen Funktionsvorstel11

lungen, v o m Gewinn eines neuen Selbstverständnisses der Literatur begleitet, er führt zu Wandlungen der literarischen Methoden und Strukturen. Alles dies wirft eine Fülle von Fragen auf, die für die marxistische Literaturwissenschaft von immer größerer Wichtigkeit werden. In den sozialistischen Ländern wird der Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, in den die breitesten Massen einbezogen sind, von einer reich differenzierten literarischen Entwicklung begleitet. Hinsichtlich der Art, der Richtung und des Stellenwertes, den der Beitrag der Literatur an der Ausbildung eines sozialistischen Persönlichkeitsprofils, an der Gestaltung der sozialistischen Beziehungen hat, entstehen neue Probleme von weitreichender Bedeutung. E s muß gefragt werden nach der besonderen Rolle der Literatur, die sie innerhalb der anderen Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins spielt, durch diese aber nicht ersetzt werden kann; nach der spezifischen Wirkungsweise der Literatur, Erfahrungen der Massen an die Massen zu übermitteln, die Erfahrungen der Vergangenheit mit den Erfahrungen der Gegenwart zu verbinden, gesellschaftliche Lösungen im Modell zu erproben; gefragt werden muß nach der A u f g a b e der Literatur im Prozeß der Internationalisierung grundlegender sozialer Vorgänge, der Entfaltung der sozialistischen Demokratie, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts unter sozialistischen Bedingungen; nach dem Zusammenhang, den die Erfordernisse des internationalen Klassenkampfes einerseits und der inneren sozialistischen Entwicklung andererseits, in der Herausbildung sozialistischer Literaturfunktion begründen. Unter dem Einfluß des weltrevolutionären Prozesses, des A u f b a u s sozialistischer Gesellschaften und der sozialistischen Kultur werden heute unter Schriftstellern der kapitalistischen Welt vielfältige Diskussionen über die Bedingungen und Möglichkeiten einer Literatur geführt, die auf der H ö h e des fortschrittlichen gesellschaftlichen Bewußtseins stehen kann. In den Ländern, die um ihre nationale Befreiung kämpfen, ist eine eng mit den antiimperialistischen und revolutionären Befreiungsbewegungen verbundene Literatur entstanden, in der sozialistische Tendenzen mit spezifischen geschichtlichen Traditionen ein immer größeres Gewicht erlangen. 12

Gerade durch diese Entwicklungen haben die Konzeptionen vom „Tod der Literatur", von ihrer Wirkungslosigkeit, von einer „allgemeinen Funktionskrise", in denen die Krise bürgerlicher Literatur fatalistisch als eine Krise aller Literatur ausgelegt wurde, Schiffbruch erlitten. Die idealistischen Theorien von einer Autonomie der Kunst, von der Unabhängigkeit der Literatur von der Politik, Funktionsvorstellungen, in denen die gesellschaftlichen Voraussetzungen einer Beschäftigung mit Kunst, in denen die Lebensbedingungen und Interessen der Massen eliminiert sind, werden erneuter Kritik unterzogen. Probleme der Beziehungen zwischen Struktur und Funktion, Literatur und Publikum, Literaturgeschichte und Gegenwart bilden heute einen Kulminationspunkt der literaturtheoretischen Auseinandersetzung. Der Ausbruch neuer Methodenkämpfe innerhalb der bürgerlichen Literaturwissenschaft, beeinflußt von solchen Richtungen wie dem Strukturalismus, der Semiotik oder der Rezeptionsästhetik, fordert gerade hinsichtlich der Funktionsproblematik die Stellungnahme der marxistischen Literaturwissenschaft heraus. In der Geschichte sozialistischer Literaturtheorie hat der Problemkreis der Funktion einen festen Platz. Hier geht es um Aufgabe und Leistung der Literatur im gesellschaftlichen Leben und im Leben der Individuen und Gruppen, um Beziehungen, die wesentlich das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit, sozialer Bewegung und Literatur ausmachen und deshalb auch stets die Aufmerksamkeit der Kulturpolitik der Partei der Arbeiterklasse fanden. Die sozialistische Bewegung kann — das wurde seit Lenins "Parteiorganisation und Parteiliteratur systematisch ausgeführt — den Zusammenhang von Produktion, Vermittlung und Rezeption der Literatur nicht der Spontaneität weder einer „freischwebenden" Intelligenz noch der Marktgesetzlichkeit überlassen. Die notwendige, mögliche und wirkliche Rolle der Literatur im Bildungsprozeß gesellschaftlichen Bewußtseins, in der Entfaltung der sozialistischen Kultur zu bestimmen, war und ist ein wichtiges Anliegen jenes kollektiven Erkenntnisprozesses, an dem die Parteien der Arbeiterklasse, sozialistische Schriftsteller und marxistische Wissenschaftler beteiligt sind und in dem die Massenkritik der Leser als ein neuer Faktor der literarischen 13

Kommunikation wirkt. Die Resultate einer Theorie des sozialistischen Realismus wurden dabei im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung immer wieder überprüft und neu akzentuiert. Die Erfahrungen der letzten Jahre führten erneut zu einer Diskussion über eine weitere differenziertere Auffassung von Gegenstand und Funktion sozialistischer Literatur, über ihre Traditionslinien sowie über ihre Beziehungen zu den verschiedenen Richtungen der modernen bürgerlichen Literatur. Mit alldem sind der Literaturwissenschaft Aufgaben gestellt, die nicht in einem Anlauf, schon gar nicht von einer wissenschaftlichen Tagung und einer Publikation zum Thema zu lösen sind. Das Kolloquium hatte deshalb — nicht zuletzt dies kennzeichnet Aufgaben im Klärungsprozeß — literaturhistorische, theoretische und methodologische Probleme im Zusammenhang zu erörtern, mehr einen Komplex von Themen als ein Thema. Vorrangig vereinen sich die Beiträge in dem Bemühen, die Komplexität und Historizität der Funktionsproblematik zu erkunden. Zwar sind allgemeinere Vorstellungen und logischsystematisierende Untersuchungen zum Thema auch weiterhin notwendig, um den methodischen Hintergrund zu fixieren und das heuristische Instrumentarium für weitere Arbeiten zu schaffen. Die ausgeführten und angeregten Überlegungen verdeutlichen aber, daß wir unter neuen Gesichtspunkten hineingehen müssen in die Analyse der Werke, Strömungen, Schriftstellerpositionen, Literaturdebatten, hineingehen müssen in die komplexen Verhältnisse der literarischen Kultur, in das Material der soziologischen Erhebungen. Sie machen klar, daß wir bei funktionaler Betrachtung von Literatur nicht genug tun können an exakter historischer Erfassung und Differenzierung der Probleme der Literaturgeschichte — und der Literatur der Gegenwart. Insbesondere haben wir dabei der Dialektik von Nationalem und Internationalem in der sozialistischen Literaturentwicklung verstärkte Aufmerksamkeit zuzuwenden. In den Beiträgen wurden — durchaus auch experimentelle — verschiedene theoretische Ausgangspunkte und Verfahren verwendet, etwa wenn die Abhängigkeit der Veränderungen im Ensemble der Künste, in den ästhetischen Anschauungen, in den Schreibweisen von der Veränderung der Produktions14

Verhältnisse nachgewiesen wurde; wenn die Vermittlungen verfolgt wurden, über die der Wandel in den ökonomischen u n d politischen Verhältnissen auf die L i t e r a t u r f u n k t i o n ein-

wirkt; wenn dem Zusammenhang von Literaturverhältnissen, dem Gattungsgefüge und den dominierenden literarischen Strukturen nachgegangen wurde; oder wenn Funktionsmodelle untersucht wurden, wie sie sich in literarischen Werken, in theoretischen Betrachtungen, Programmen, Literaturdebatten finden und wie sie als Symptome objektiv veränderter Wirkungsbedingungen der Literatur aufgefaßt werden können. Dieses verschiedenartige Herangehen wurde von den Teilnehmern des Kolloquiums generell als nützlicher Versuch gewertet, das Instrumentarium unserer Literaturwissenschaft zu erweitern und die konkreten diachronischen und synchronischen Beziehungen zu erschließen, die sich zwischen Literatur, Gesellschaft und Geschichte herausbilden. Dokumentiert werden also unterschiedliche Ansätze, deren Ziel es ist, Wege zu erkunden, auf denen die Literaturwissenschaft der Funktionsproblematik gerecht werden kann. Das Bild, das sich ergibt, ist facettenreich: Es charakterisiert auch den gegenwärtigen Stand der Erhellung des Funktionsproblems. Die Herausgeber haben nicht versucht, die Fülle der verschiedenartigen, mitunter auch gegeneinander arbeitenden Ausgangspunkte und methodischen Verfahren zu reduzieren oder gar zu harmonisieren. Sie sind der Meinung, daß sich gerade bei der Erörterung des international relevanten Problems der Funktion der Literatur auch der Entwicklungsstand der Literaturwissenschaft im internationalen sozialistischen Rahmen klar erkennen läßt und die Notwendigkeit eines stärkeren integrativen Zusammenrückens der Literaturwissenschaftler der sozialistischen Länder und die Notwendigkeit des internationalen wissenschaftlichen Meinungsaustausches deutlich vor Augen geführt werden. Bei der Zusammenstellung des Bandes mußten die Herausgeber aus dem gesamten Konferenzmaterial eine Auswahl treffen; sie verfolgten dabei den Grundsatz, die ohnehin breite Themenstellung des Kolloquiums nicht noch weiter auszudehnen. Die Gliederung folgt nach dem Abschnitt Aufrisse %um Problem — auch abweichend vom Verlauf der 15

Konferenz — weitgehend historischen Gesichtspunkten. Auf eine Dokumentierung der Diskussion mußte verzichtet werden. Wichtige Ergebnisse der Diskussion allerdings wurden bei der Überarbeitung einiger Beiträge für den Druck berücksichtigt. Die Herausgeber danken allen Autoren und den' Übersetzern der ausländischen Beiträge an dieser Stelle für die Bereitschaft, über das Kolloquium hinaus in die Herstellung der hier vorgelegten Fassungen weitere Arbeit zu investieren. August 1974 Die Herausgeber

Aufrisse zum Problem

Manfred Naumann

Probleme geschichtlichen Funktionswandels der Literatur

1. Von Funktion in bezug auf Literatur kann auf verschiedenen Ebenen der Betrachtung die Rede sein: Für den Schriftsteller ist literarische Tätigkeit Arbeit; in seinem Leben hat die L i teratur eine Funktion, die sich von der im Leben des Lesers in vieler Hinsicht unterscheidet. Die Funktion wiederum, die das literarische Werk in der Biographie eines Schreibers oder eines Lesers hat, ist nicht mit der identisch, die es im Zusammenhang mit anderen Werken hat — mit einer literarischen Gattung, Schule, Strömung, im Literaturprozeß oder, wenn das Werk daraufhin befragt wird, in welchem Verhältnis es zur Wirklichkeit steht, die ihm gegenüber das Abgebildete ist, mit den W i r k u n g e n und Wertungen, die es bei Zeitgenossen und in der Nachwelt hervorruft, mit dem ideologischen, ästhetischen und poetischen W e r t g e f ü g e , aus dem die Maßstäbe der Kritik abgeleitet werden. Wiederum anders wird der Gesichtspunkt, wenn sich die Aufmerksamkeit den Funktionen der literarischen Methoden, Mittel, Techniken bei der Konstituierung der W e r k e zuwendet oder wenn gefragt wird nach den Funktionen der Elemente und Schichten eines Werkes in dem Ensemble, das es selbst in der Mannigfaltigkeit seiner inneren Anordnungen und Verhältnisse bildet. Da Literatur Sprache in einer speziellen Funktion verwendet, erwächst diese nicht zuletzt auch aus einem linguistischen Zusammenhang, der besonders relevant wird, wenn nach dem Stil eines W e r k e s gefragt wird oder danach, welche Funktion der Text und seine Elemente bei der Hervorbringung seiner Bedeutung haben und in welchen Beziehungen der literarisch-künstlerische Text zu anderen Texten, z. B. zu alltagssprachlichen, wissenschaftlichen usw., steht. 2»

19

Diese Aufzählung könnte noch verlängert werden. Es gibt faktisch keine literarische Problemstellung, in der funktionale Gesichtspunkte nicht eine Rolle spielen würden. Der literaturwissenschaftliche Meinungsstreit hat sich daher auch nicht an der Frage entzündet, ob funktionale Betrachtungsweisen generell geeignet seien, literaturtheoretische oder literaturgeschichtliche Probleme zu lösen. Wenn nicht explizit, so doch implizit sind funktionale Zusammenhänge im und am Literarischen stets im Blickfeld der Forschung gewesen. Worum es in dieser Auseinandersetzung ging und heute noch geht, ist das Problem, in welcher Ordnung ihrerseits die Zusammenhänge stehen, die eine funktionale Betrachtungsweise zulassen oder erfordern. Während in idealistischer Sicht — in welcher Weise auch immer — die Literatur samt ihren Produzenten und Rezipienten aus dem objektiven Zusammenhang ausgegliedert werden, den die Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Entwicklung bildet, ist es für die historisch-materialistische Literaturwissenschaft gerade dieser Zusammenhang, dem alle anderen Zusammenhänge, die in der Literatur eine Rolle spielen, letztlich integriert sind. Daraus läßt sich selbstverständlich kein Zweifel ableiten an der Legitimität einer Fragestellung z. B. nach den Funktionen, die die Elemente und Schichten bei der Formierung der inneren Struktur eines Werkes oder einer Gattung wahrnehmen, nach der Funktion der Sprache bei der Produktion literarischer Texte oder der Autoren, Werke und Leser bei der Konstituierung des Literaturprozesses. In der historisch-materialistischen Literaturtheorie wird die Untersuchung der literaturinternen Funktionsverhältnisse jedoch der Frage unterstellt, in welcher Beziehung sie zu der Funktion stehen, die die Literatur innerhalb des geschichtlichen Entwicklungsprozesses wahrnimmt — also nach der Funktion der Literatur im Entwicklungsprozeß der Gesellschaft, nach der g e s e l l s c h a f t l i c h e n F u n k t i o n der Literatur, wie wir diesen übergreifenden Aspekt zusammenfassend bezeichnen wollen.

2. Damit sind zugleich die Grenzen markiert, innerhalb derer sich diese Ausführungen bewegen: Es geht nicht um eine Be20

Schreibung der gegenständlichen Eigenschaften, die künstlerische Literatur im Unterschied zu anderen Künsten, zu anderen Verwendungsweisen von Sprache, zu anderen gesellschaftlichen Bewußtseinsformen potentiell befähigen, der Spezifik ihres Charakters entsprechende Leistungen hervorzubringen — Leistungen, die sich über das Erlebnis der Menschen im Umgang mit Dichtung, über die Wirkungen vermitteln, die sie im Bewußtsein des einzelnen, eines Kollektivs, einer gesellschaftlichen Schicht, einer Klasse, der Gesellschaft insgesamt auslösen kann. Daß Literatur zu solchen Funktionen befähigt ist, stellt eine Erkenntnis dar, die sich im Lauf der Literaturgeschichte immer mehr vervollständigt hat; sie beruht auf Erfahrungen, die ursprünglich spontan errungen werden konnten. Als Dichter und Hörer noch persönlich einander gegenübersaßen, verifizierten sie sich permanent an den Wirkungen, die der dichterische Vortrag auslöste, und diese Wirkungen konnten direkt von den Gesichtern, von den Haltungen der Zuhörer während des Vortrages und danach abgelesen werden. Um daraus die Erkenntnis zu gewinnen, daß Dichtung und Dichter, wie wir heute sagen, „Funktionen" haben, dazu bedurfte es keiner großen Abstraktionsfähigkeit. Für eine Vermittlung zwischen Dichtung und Funktion durch eine Theorie der Funktion bestand ursprünglich daher kein Bedürfnis. Solange die literarische Produktion und Rezeption noch nicht voneinander getrennt waren, konnten Textgestalt und gesellschaftliche Funktion sich spontan aufeinander einpendeln: Traten die erwarteten Reaktionen beim Vortrag nicht ein, war gegebenenfalls eine unmittelbare Korrektur des gesprochenen Textes möglich. Die Trennung von literarischer Produktion und Rezeption wurde mit der Erfindung von technischen Mitteln für die Konservierung der Textgestalten ermöglicht; sie führte in der Konsequenz zur Entstehung des Autors, des Werkes und des Lesers. Folgenreicher als diese technische Umwälzung war für die Literaturfunktion allerdings die Entstehung der Klassengesellschaft. Die Funktion der Literatur wurde jetzt insofern zum Problem, als widersprüchliche Interessen der Klassen einerseits und der Fraktionen innerhalb der herrschenden Klasse andererseits unterschiedliche Ansprüche an die Li21

teratur vorbrachten. Es entstand das Bedürfnis sowohl nach theoretischer Durchdringung des Funktionsproblems als auch nach praktischer Steuerung der poetischen Produktion und Rezeption, d. h. nach Dichtungstheorien und Poetiken, die Auskunft über die tatsächliche oder anzustrebende Funktion der Dichter und der Dichtung gaben und Maßstäbe für ihre Bewertung unter funktionalem Aspekt setzten. Die platonischen und aristotelischen Ausführungen darüber enthielten Formeln, in deren Namen die gesellschaftlichen Klassen und Schichten bis tief in die Neuzeit hinein die Aufträge, die sie gemäß ihren geschichtlichen Interessen an die Literatur zu vergeben hatten, ästhetisch rechtfertigen konnten. In Gestalt der horazischen Satzungen wurden sie von einer Poetik in die andere übernommen. „Doch es genügt nicht, daß Dichtungen schön sind: Sie sollen gefallen, sollen, wohin es auch sei, die Sinne des Hörers entführen." — „Aut prodesse volunt aut delectare poetae . . ." — „Nur wer das Nützliche würzt mit Erfreulichem, nur wer den Leser gleichermaßen ergötzt wie belebt, freut sich des Beifalls von allen." 1 Wellek und Warren haben nicht unrecht, wenn sie sagen, daß sich die Aussagen über die gesellschaftliche Funktion der Literatur in den Ästhetiken und Poetiken nahezu ohne Ausnahme auf diesen horazischen Allgemeinplätzen gründen, wobei das Pendel sich manchmal mehr zur Seite des „delectare" und „dulce", manchmal mehr zur Seite des „prodesse" und „utile" neigte. 2 Selbst die Erweiterung der zwei Funktionen auf vier, wie sie z. B. M. Kagan 3 vornimmt, stellt im Grunde nichts anderes als eine neue Variante des alten Schemas dar. Solche Bestimmungen umschreiben die Funktionsmöglichkeiten der Literatur in ihren einfachen und abstrakten Momenten. Sie stellen, wie Marx es nannte, „eine verständige Abstraktion" dar 4 , die das Gemeinsame hervorhebt und uns die Wiederholung erspart. In Formeln dieser Art kann die allgemeine Funktionspotenz erfaßt werden, die sich aus dem Charakter der literarischen Tätigkeiten, ihrer Gegenstände, Mittel und Produkte ergeben. Mehr aber leisten sie nicht. Sie verdecken nicht nur die Differenzierungen innerhalb der allgemeinen literarischen Funktionspotenz, die mit den Genres 22

und Gattungen gegeben sind, die ihrerseits ja selbst schon in allgemeiner und abstrakter Weise spezielle Funktionsmöglichkeiten in sich speichern. Sie verdecken vor allem den Sachverhalt, daß die allgemeinen literarischen und gattungsbedingten Funktionspotenzen nie „als solche" vorkommen, sondern immer nur in der jeweiligen Gestalt der literarischen Werke. Die Funktionspotenz der Werke ist abhängig von den geschichtlich-gesellschaftlichen, sprachlich-literarischen und biographisch-individuellen Voraussetzungen ihrer Existenz. Ob die Werke als „utile", „dulce" usw. gewertet werden, entscheidet sich erst bei der Realisierung dieser Potenz in den Prozessen der Rezeption, die ihrerseits differenziert sind durch die jeweiligen geschichtlich-gesellschaftlichen, sprachlich-literarischen und biographisch-individuellen Bedingungen. Abstrakte Definitionen der Literaturfunktionen unterschlagen sowohl die historisch-konkrete Determiniertheit der literarischen Produktion, in der die literarischen Werke ihre Funktionspotenz erhalten, als auch die ebenfalls historisch-konkrete Determiniertheit der Rezeption, in der diese Potenzen verwirklicht werden. Wenn man bei den Abstraktionen stehen bleibt wie Wellek und Warren, landet man früher oder später bei einem außerhalb der Geschichte, außerhalb der Gesellschaft hausenden „Wesen" der Literatur. Die Funktion der Literatur läßt sich von diesem „Wesen" aus dann ohne viel Aufwand an Denkkraft definieren. Sie besteht darin, eben diesem „Wesen" — so Wellek und Warren — die „Treue" zu halten. 5 Hinter einer solchen Formulierung verbirgt sich möglicherweise Sehnsucht nach einem Zustand, in dem die Literatur noch „unschuldig" war, den Sündenfall der Vergesellschaftung noch nicht begangen hatte. Die von den beiden Theoretikern an anderer Stelle aufgestellte Behauptung, „gesellschaftliche Literatur" sei nur e i n e Art von Literatur und stehe keineswegs im Mittelpunkt der Literaturtheorie, legt eine solche Vermutung zumindest nahe. 6 Allerdings hat sich die Literatur im Zustand einer paradiesischen Unschuld nie befunden und hat daher auch auf Appelle, zu ihm zurückzukehren, nie reagiert. Wir müssen uns damit abfinden, daß Literatur keine außerweltliche Substanz hat, daß sie keine außergesellschaftliche ästhetische Natur besitzt, deren immanenter Gesetzlichkeit sich 23

die Menschen anzupassen hätten, kein „eigentliches", „echtes" oder sonstiges Wesen, dem die Schreiber und Leser in Ehrfurcht die Treue zu halten hätten. Die Literatur ist kein Wesen, sondern Teil jenes „menschlichen Wesens", von dem Karl Marx in der 6. Feuerbach-These sagte, es sei in seiner Wirklichkeit „das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse"7. In der noch nicht annähernd ausgeschöpften Fundgrube, die für die Theorie und Methodologie auch der Literaturwissenschaft die Marxsche Einleitung %ur Kritik der Völkischen Ökonomie darstellt, findet sich die Bemerkung: „Es gibt allen Produktionsstufen gemeinsame Bestimmungen, die vom Denken als allgemeine fixiert werden; aber die sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Produktion sind nichts als diese abstrakten Momente, mit denen keine wirkliche geschichtliche Produktionsstufe begriffen ist." 8 Methodologisch ist daraus für unser Thema die Konsequenz zu ziehen: Die Literatur und ihre Funktion weisen Bestimmungen auf, die auf allen Stufen der geschichtlichen Entwicklung gelten und daher vom literaturtheoretischen Denken als allgemeine fixiert werden. Aber die sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Literatur und ihrer Funktion sind nichts als die abstrakten Momente, mit denen die wirkliche geschichtliche Entwicklungsstufe der Literatur und ihrer Funktion nicht zu begreifen sind. Die abstrakten Bedingungen aller Literatur und ihrer Funktionen kommen konkret stets in einem Zusammenhang vor, den die materiellen und ideologischen Verhältnisse in einer gegebenen Gesellschaftsformation bzw. in einer ihrer Entwicklungsetappen konstituieren. Die Umsetzung der allgemeinen Funktionspotenzen durch die Schaffensprozesse ins Werk und die Verwirklichung der im Werk angelegten Funktionsmöglichkeiten in den Rezeptionsprozessen sind bestimmt durch das „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" 9 in seiner durch die Produktionsweise des materiellen Lebens determinierten Gestalt, die ausgeprägt ist sowohl in der Basis der ökonomischen Struktur, im Überbau der gesellschaftlichen Institutionen (Staat, Recht, Politik, Kultur, Schule usw.) als auch in der gesellschaftlichen Psychologie, im gesellschaftlichen Bewußtsein und in seinen verschiedenen Formen. 24

Wenn vom Funktionswandel der Literatur gesprochen wird, dann ist damit gemeint, daß mit der Entwicklung dieses Ensembles und der Verhältnisse, in denen es sich organisiert, den literarischen Tätigkeiten und Werken inhaltlich differenzierte Funktionen zufallen, die sich sowohl auf die Produktion der neuen als auch auf die Rezeption der vorhandenen und überlieferten Werke auswirken. Die Veränderungen, die durch die gesellschaftlichen Formationen und geschichtlichen Epochen in bezug auf die gesellschaftliche Funktion der Literatur herbeigeführt werden, vermitteln sich immer über die Literatur selbst, genauer gesagt: über die literarischen Produktions-, Vermittlungs- und Rezeptionsbedingungen, durch die bestimmt wird, welche Werke produziert, vermittelt und welche Werke wie gelesen werden — über die Literaturverhältnisse also, die selbst einen Teil des „Ensembles" bilden. Die stärkere Einbeziehung des Funktionsproblems in die literaturgeschichtliche Forschung ist schon insofern lohnend, als dem Literaturhistoriker dadurch der Zwang auferlegt wird, seine Untersuchungen auf die wechselseitige Verflechtung der produktiven, vermittelnden und rezeptiven literarischen Tätigkeiten auszudehnen, durch deren Ineinanderwirken erst sowohl die Eigenständigkeit des Literaturprozesses als auch die Relativität dieser Eigenständigkeit erklärbar werden. Dabei müssen aus dem Sachverhalt, daß die Literatur keine Instanz ist, die zum gesellschaftlichen Sein und zum gesellschaftlichen Bewußtsein in einer Beziehung des Außen steht, alle Konsequenzen gezogen werden. Die vulgärmaterialistische Ansicht, Literatur sei bloß der passive Ausdruck dieses Außen, und die idealistische Annahme, Literatur stehe in einem Verhältnis der Freiheit zu ihm, stellen in der Tat nur zwei Erscheinungsformen desselben Irrtums dar. Literatur steht weder unterhalb noch außerhalb — weder diesseits noch jenseits des gesellschaftlichen Seins und Bewußtseins; sie steht in ihm. Nicht die Relation Innen und Außen erfaßt die Beziehung Literatur und Gesellschaft, sondern die Relation Teil und Ganzes. Diese Relation besagt: Die Funktion des Teils ist determiniert durch das Ganze, aber zugleich kann das Ganze nicht funktionieren ohne den Teil. Wenn die Stellung im ganzen 25

dem Teil seine Aufgabe vermittelt und der Teil insofern etwas Bewirktes, etwas Passives, etwas Determiniertes ist, so ist umgekehrt aber auch das Ganze darauf angewiesen, daß der Teil seine Aufgabe wahrnimmt, und insofern ist der Teil etwas Bewirkendes, etwas Aktives, etwas Determinierendes und Selbständiges. Wenn Teil und Ganzes aufeinander angewiesen sind, dann stehen sie zugleich aber auch in einem Verhältnis der relativen Selbständigkeit zueinander, was die Möglichkeit des Widerspruchs zwischen beiden denkbar macht. Laut Auskunft der Philosophen! 0 ist das besonders bei komplexen Ganzheiten der Fall. Diese logische Operation ist selbstverständlich nicht geeignet, das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in seiner realen Kompliziertheit und geschichtlichen Bewegtheit zu erfassen. Immerhin aber können auf diese Weise grundsätzliche Fehlinterpretationen dieses Verhältnisses verdeutlicht werden: Veräußerlichung des gesellschaftlichen Seins und Bewußtseins gegenüber der Literatur erscheint entweder (mechanisch-materialistisch bzw. objektiv-idealistisch) als Verabsolutierung der Selbständigkeit des Ganzen gegenüber dem Teil oder (subjektiv-idealistisch bzw. literaturimmanent) als Verabsolutierung der Selbständigkeit des Teils gegenüber dem Ganzen.

3. All diese Bemerkungen rufen zumindest für Marxisten im Grunde nur Altbekanntes in Erinnerung. Unser allgemeines T h e m a lautet: „Funktion der Literatur". Das damit aufgeworfene Problem ist aus mehreren Gründen von großer Aktualität: E s ergibt sich zunächst aus dem Entwicklungsstand der sozialistischen Gesellschaft und ihrer Literatur. Verallgemeinerungen sind hier fehl am Platz, doch der Sachverhalt, daß das Funktionsproblem einer der vornehmlichen Diskussionsgegenstände auf dem V I I . Schriftstellerkongreß der D D R (November 1973) war, darf sicherlich als ein Symptom dafür gewertet werden, daß die Mehrzahl der sozialistischen Schriftsteller sich fragt, welchen Platz ihre Tätigkeit in der jetzigen Etappe der entwickelten sozialistischen Gesellschafts-

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Verhältnisse hat, haben kann oder haben sollte; welche Konsequenzen sich aus diesem Anteil fürs Schreiben und fürs Leben ergeben, für den Umgang der Literatur mit der Gesellschaft — deren Teil sie ist —; für den Umgang der Gesellschaft mit der Literatur, die als eines ihrer Organe lebenswichtig für die Gesellschaft ist. Diskussionen über die Funktion der Literatur, über ihre Aufgaben und Wirkungsmöglichkeiten werden heute von Schriftstellern und Philosophen, von Literatur- und Kulturtheoretikern in aller Welt geführt. Das ist zum Teil Folge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der Expansion der Wissenschaften, die sich immer neue Gebiete der Erkenntnis erobern; der Existenz neuer Massenmedien, die zur Entstehung neuer Kunstgattungen und zu Veränderungen im Ensemble der Künste geführt haben; der Existenz neuer Mittel der Information, Kommunikation und Dokumentation; schließlich auch der veränderten Art von Freizeitgestaltung und gewandelter Unterhaltungsbedürfnisse. In diesen Zusammenhängen stellen sich Fragen wie die, ob die Literatur — insofern sie Schreibkunst ist, die Werke zum Zwecke des Lesens mittels Verwendung von Sprache in poetischer Funktion produziert — traditionelle Funktionen einbüßt oder ob ihr vielleicht gerade dieser eventuelle Verlust den Zwang auferlegt, die Rezeptionsweise des Lesens, die ihr durch den Schrifttext, ihr spezielles Medium, vermittelt ist, viel bewußter als bisher in die Praxis des Schreibens einzubeziehen, und ob sie dadurch neue Funktionen gewinnt. Das sind keineswegs belanglose Fragen; sie dürfen nicht als absurd oder als reaktionär vom Tisch gewischt werden. Sie ergeben sich aus den geschichtlichen Wandlungen, die in unserer Epoche die bestimmenden sind. In einer Epoche wie der unsrigen, in der die Menschheit vom Kapitalismus zum Sozialismus und Kommunismus übergeht, in der sich die Produktivkräfte sprunghaft entwickeln, in der die sozialistischen Produktionsverhältnisse mit ihren Möglichkeiten für die individuelle Entwicklung der Menschen sich weltweit ausgedehnt haben, in der so viele ehemals unterdrückte Völker wieder in die Weltgeschichte eingetreten sind, in der das gesellschaftliche Bewußtsein auch in den kapitalistischen Ländern sich immer stärker politisiert und in der 27

zugleich — w i e Petei Weiss es nannte — „der Imperialismus die höchste Form der Brutalität" 1 1 erreicht hat, in einer solchen Epoche der allgemeinen Umwälzung ist es die Geschichte selbst, die dazu zwingt, sich den Sinn der literarischen Tätigkeit auf neue Weise als Problem zu vergegenwärtigen. Das trifft selbst für Schriftsteller zu, die ihre Funktion darin sehen, bewußt die Interessen der imperialistischen Bourgeoisie zu bedienen: für die jenseits der antiimperialistischen B e w e g u n g agierende literarische Rechte, die sich vornimmt, die Macht der Literatur für die Erhaltung und Wiederbelebung eines Bewußtseins einzusetzen, durch das kapitalistische Machtverhältnisse stabilisiert und dort, w o sie nicht mehr herrschen, regeneriert werden könnten. Die Dynamik des weltrevolutionären Prozesses zwingt zu Überlegungen über neue Möglichkeiten der Literatur auch dort, w o sie die Funktion hat, ihn zu stoppen und rückläufig zu machen. Für Schriftsteller, die ihre Position als Gegensatz zur herrschenden Bourgeoisie bestimmen, stellt sich das Problem auf andere Weise. Für sie ist die Funktion der Literatur gerade deshalb problematisch geworden, weil sie sich weigern, die Literatur bedingungslos in die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse einzuordnen. Länger als ein Jahrhundert konnte sich die Absicht, die Literatur der alten Klasse zu entziehen, ohne sie der neuen Klasse zu geben, durch eine Ideologie rechtfertigen, die Literatur und Kunst als Mächte betrachtete, die das Geschick der Menschheit von sich aus, dank ihrer eigenen Kraft, zum Besseren wenden könnten. Von der europäischen Aufklärung bis zur deutschen Klassik war diese Illusion noch heroisch gewesen. Bei der historisch begründeten Unmöglichkeit, die Geschichte als „Entstehungsakt der menschlichen Gesellschaft" 1 2 in ihrer materiellen Bedingtheit zu erfassen und „die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit" 1 3 als die wesentliche schöpferische Tat der Menschen zu erkennen, hatte die Literatur eine revolutionäre gesellschaftliche Funktion nur durch ihren Einbau in ein Programm der philosophischen, moralischen und ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts, in den Plan einer politischen Reform der feudalen 28

Verhältnisse erhalten können. In dieser entgötterten Perspektive konnte die Dichtung als Sinnbild der natürlichen Schöpferkraft erscheinen, als universelles kreatives Prinzip, das — im Dichterwort offenbart — der Menschheit einen Weg aus der Widernatürlichkeit der feudalen Welt zu weisen vermochte. Die sich darauf gründenden Poetiken waren von großer revolutionärer Sprengkraft, legitimierten sie doch die Freiheit des Schriftstellers von den Bindungen an die feudale Gesellschaft und ihre ästhetischen Kanons. Für ihre menschheitsfördernde Funktion bürgt der über den Horizont seiner zeitlichen Bedingtheit hinausreichende Gehalt der Werke, die im Gefolge der humanistisch-ästhetischen Programme entstanden, deren Realisierung „im Namen der allgemeinen Rechte der Gesellschaft" 14 zwar utopisch-illusionär, nichtsdestoweniger aber historisch berechtigt als „allgemeinmenschliche Aufgabe" 1 5 deklariert wurde. Daß der literarische Entwurf einer humanisierten Welt und eines selbstverwirklichten Menschen die materielle Umgestaltung der Gesellschaft nicht ersetzen konnte, war eine Erfahrung, die erst in dem Augenblick errungen werden konnte, als in Frankreich die Aufklärung ihre Funktion erfüllt hatte und in die Praxis der Revolution umgeschlagen war. Unter den Bedingungen der deutschen Zustände dagegen realisierte sich die gesellschaftliche Funktion der Literatur in der Konzeption einer Kunstwelt als Kritik der Wirklichkeitswelt, in die sich die Spuren des in Frankreich freigesetzten Kapitalismus schon eingegraben hatten; in der Schöpfung einer höheren „zweiten Natur" als Vorbild für die erste; im Entwurf des klassischen Humanitäts- und Kunstideals, gesetzt als Antizipation einer idealen Gesellschaft der Humanität und eines total entwickelten Individuums. Dieses Kunstprogramm verlor seine geschichtliche Verbindlichkeit erst, als der Literatur durch die geschichtlichen Entwicklungen in der „ersten, der wirklichen Welt" neue Funktionsmöglichkeiten eröffnet worden waren. Es war unter anderem dieser Wechsel in den funktionalen Möglichkeiten der Literatur, den Heinrich Heine meinte, als er an den Nachzüglern der „Kunstperiode" in den dreißiger Jahren kritisierte, daß sie „die Kunst als eine unabhängige zweite Welt" betrachteten und sich dadurch verleiten ließen, 29

^die Kunst selbst als das Höchste zu proklamieren und von den Ansprüchen jener ersten wirklichen Welt, welcher doch der Vorrang gebührt, sich abzuwenden" 16 . Das Ende der „Kunstperiode" bedeuteten indes weder das von Hegel unter dem Zwang seines Systems prophezeite Ende der Kunst noch die Auflösung des Widerspruchs zwischen Kunst und wirklicher Welt. 17 Im Gegenteil: Die Bewertung der Kunst als einer von der wirklichen Welt unabhängigen Sonderwelt, die in der Hierarchie der Werte den höchsten Platz einnahm, das Primat der Kunstwelt also vor der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt, wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zum festen Bestandteil eines ästhetischen Credos, dem man nicht gerecht wird, wenn man ausschließlich seine negative Seite betrachtet. Wem es nicht gelang, einen Zugang zu den vorwärtsweisenden gesellschaftlichen Kräften zu finden, für den wurde die Frage, wie die Literatur der Funktion zu entziehen sei, „zu bloß idealisierenden Phrasen, zur bewußten Illusion, zur absichtlichen Heuchelei" herabzusinken und die heuchlerische und lügenhafte Sprache der normalen bürgerlichen Gesellschaft zu gebrauchen, ein im Grunde auswegloses Problem. E s konnte nur auf Kosten einer neuerlichen Illusion gelöst werden: der Illusion, der Künstler sei der freie Mensch, die ästhetische Welt die freie Welt und das ästhetische Programm das Programm der menschlichen Befreiung. Für den bürgerlichen Schriftsteller, der sich mit seiner Klasse nicht identifizierte und seine Subjektivität nicht zum Organ der geschichtlichen Bewegung machen konnte, wurde die Heiligsprechung der literarischen Kunst Bedingung künstlerischen Schaffens. Das trifft nicht nur für diejenigen zu, die als Protest gegen die „ignoble réalité" (wie Flaubert die zur kapitalistischen gewordene „erste wirkliche Welt" nannte) dem Kult der Schönheit, der Sprache und der Form huldigten. Auch die kritischen Realisten, die den Heroismus aufbrachten, der Schilderung gerade dieser „ignoble réalité" den Vorrang einzuräumen, bedurften des Zuspruchs durch einen Glauben, der die literarische Kunst mit der Gloriole des höchsten menschlichen Gutes umgab. Wenn der Realismus über Balzac siegen konnte, der subjektiv die politischen Interessen der Aristokratie vertrat, über Stendhal, dessen Haß auf alles, was mit Politik zu30

sammenhing, als berüchtigt galt, über Flaubert, für den die „expression juste" das einzige war, dem er eine moralische Bedeutung beimaß, und später über Thomas Mann, der bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges zu den „Unpolitischen" gehörte, die die Interessen der „reinen" Kunst vertreten wollten, — so war der Realismus immerhin darauf angewiesen, im Bewußtsein, über das er siegte, eine Disposition für die Weigerung anzutreffen, der Kunstfeindlichkeit des Kapitalismus nachzugeben. Und diese Weigerung war immer nur mit einer Apotheose der Kunst zu erkaufen, die den Rang vor der Wissenschaft, der Politik und auch der Religion erhielt. Das Bedürfnis, auf die Kunstfeindlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise mit einer Verabsolutierung der künstlerischen Produktion zu reagieren, war eine Voraussetzung für die künstlerische Produktivität der in der Isolation von den Klassenkämpfen lebenden bürgerlichen Schriftsteller. Die Mystifizierung der literarischen Kunst — sei es zum allmächtigen Instrument der moralischen Erziehung der Menschen unter Ausschluß der Frage, wer erzieht die Erzieher; sei es zur wertimmanenten, geschichts- und zeitlosen Verkörperung einer ewigen Wahrheit, einer interessenlosen Schönheit, eines wertfreien ästhetischen Formgesetzes; sei es zu einem unschuldigen und folgenlosen Spiel mit den Bausteinen der Sprache — der Glaube an das Primat der Literatur ist Ausdruck eines Dilemmas, das objektive Ursachen hat und sich daher im Bewußtsein der bürgerlichen Schriftsteller, die an der Literatur als Kunst festhalten wollen, permanent reproduziert. In den letzten Jahrzehnten jedoch haben der revolutionäre Weltprozeß auf der einen und die staatsmonopolistische Organisation der imperialistischen Gesellschaft mit ihren Manipulierungsmöglichkeiten auf der anderen Seite das Primat der Geschichte und ihrer Kämpfe gegenüber der Literatur und ihren Kämpfen mit einer Gewalt ins Bewußtsein gehoben, die die bürgerliche Theorie des Literaturprimats gezwungen hat, sich selbst zu kritisieren. Hatte noch die Entleerung des einstigen Ideals in die Formeln einer klassenbegrenzten Literaturideologie in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts nicht nur die Illusion einer Autonomie der Kunst ermöglicht, sondern auch eine Kunstproduktion, die subjektiv dahin ten31

dierte, sich einer affirmativen Funktion im Getriebe der kapitalistischen Gesellschaft zu entziehen — so enthüllte die geschichtliche Bewegung der „wirklichen Welt" in den letzten Jahrzehnten nicht nur aufs neue die Diskrepanz zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer vergangenen humanistischen Kunst, sondern auch den wirklichen Zusammenhang zwischen der Ideologie einer wertimmanenten und sich autonom setzenden Literatur und ihrer objektiven, nämlich die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft bestätigenden gesellschaftlichen Funktion. Die permanente Revolution der Literatur, durch die sich die „linke" bürgerliche Moderne immer wieder in ihrem Anspruch auf Antibürgerlichkeit bestätigt fand, demystifizierte sich als Affirmation der bürgerlichen Gesellschaft. Da es aber gerade die Ideologie der literarischen Autonomie war, durch die sich die literarische „Linke" ihrer Manipulierung durch die kapitalistische Gesellschaft zu entziehen gesucht hatte, konnte dem „linken" bürgerlichen Literaturbewußtsein der Zusammenbruch seiner Ideologie nur als Tod der Literatur erscheinen. Der Sachverhalt, daß Literaturrevolution nicht nur nicht das gesellschaftliche Bewußtsein revolutioniert, sondern in ihm affirmative Funktionen erhält, wurde registriert in Gestalt einer neuen bürgerlichen Ideologie der Literatur: in der Ideologie der Sinnlosigkeit, der gesellschaftlichen Funktionslosigkeit des Schreibens von Literatur. Ein Teil der „linken" Moderne gewinnt daraus die Legitimation für die Verwandlung der literarischen Produktion in eine banalisierte und trivialisierte „Anti-Kunst", in eine „Instant-Art" und „Pop-Art", die ihre Produkte dem Konsumideal entsprechend zum „Wegschmeißenkönnen" nach einmaligem Gebrauch verfertigt, also für die Kommerzialisierung der Literatur im direkten Wortsinn. 19 Erledigt sich hier das Problem der gesellschaftlichen Funktion der Literatur von selbst, so nimmt der für die gesamte bürgerliche Epoche charakteristische Konflikt zwischen Leben und Kunst, zwischen Politik und Literatur dort eine neue Gestalt an, wo der Zusammenbruch der idealistischen Konzeption eines Literaturprimats zur antinomischen Gegenüberstellung von literarischer Tätigkeit und sozialer Aktion führt, 32

wie etwa in Fankreich bei Sartre. D a s von Brecht und Benjamin schon E n d e der zwanziger Jahre reflektierte Problem, wie der revolutionären Kunst unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse ein Weg für die Wahrnehmung einer tatsächlichen revolutionären Funktion zu bahnen sei, präsentiert sich hier in einer Alternative, die auf neue Weise das idealistisch-illusionäre Wunschdenken über die Möglichkeiten der Literatur reproduziert. Nur ein noch in der Illusion des idealistischen Literaturverständnisses befangenes Denken kann aus der Erkenntnis, daß Literatur keine souveräne Macht über das gesellschaftliche Bewußtsein ausübt, den Schluß ziehen, das Schreiben von Literatur sei generell funktionslos geworden. Mit Recht wurde in den Auseinandersetzungen mit Sartre in Frankreich auf diese defaitistische These mit dem Hinweis geantwortet, daß auch Schreiben eine Form der sozialen Aktion sei. Dieses Argument wird für die Fundierung einer revolutionären Funktion der literarischen Tätigkeit unter kapitalistischen Bedingungen allerdings erst dann tragfähig, wenn die soziale Aktion, die Schreiben ist, ihre Inhalte und Ziele aus dem Bündnis mit den gesellschaftlichen Kräften gewinnt, die die praktische Gewalt für die Bekämpfung der geschichtlichen Reaktion aufbieten. Die Literaturbewegung der antifaschistischen bürgerlichen Demokratie, die sich in den zwanziger Jahren herauszubilden begann, war auf dem Bewußtsein gegründet, daß die Macht der Literatur auf ihrem Bündnis mit den vorwärtsweisenden geschichtlichen Kräften beruht. Die Position, die Heine im Vormärz einnahm, entstand im Prinzip aus der gleichen Einsicht; und auch die Auseinandersetzungen, die in der Gegenwart die bürgerliche „ L i n k e " über die Funktion der Literatur im antiimperialistischen K a m p f führt, drängen nach einer Entscheidung in der gleichen Richtung. Sieht man von den persönlichen Konflikten, den individuellen Verwicklungen und künstlerischen Zwiespalten ab, die eine solche Entscheidung fast immer begleiten, dann läßt sie sich allgemein sehr lapidar beschreiben: Die bürgerliche Ideologie der Literaturimmanenz, der Schriftstellerautonomie und des Kunstprimats ist aufzugeben und das Primat der „ersten, der wirklichen Welt" mit ihren wirklichen 3

Funktion

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geschichtlichen Kämpfen, das Primat des geschichtlichen Prozesses mit seinem führenden geschichtlichen Subjekt ist anzuerkennen und zum Bezugspunkt des Schreibens zu machen. 4. Für die revolutionären Schriftsteller, die sich bewußt auf die Seite der marxistischen Arbeiterbewegung stellten und die leninistische Revolutionstheorie bewußt ins Zentrum ihrer literaturpolitischen Bemühungen stellten, bildete die Einsicht, daß auch die revolutionärste Literatur kein Ersatz für Revolution sein kann, Voraussetzung für das Schreiben von revolutionärer Literatur. Dadurch wurde das Schreiben für sie keineswegs leichter, und das gilt auch für ihre Nachfolger, die unter den Bedingungen der vollzogenen Revolution, des realen Sozialismus leben. Die Literaturdebatten, die seit den Anfängen der marxistischen Arbeiterbewegung bis heute geführt werden, zeigen vielmehr, daß die Frage, was und wie zu schreiben sei, wenn der Sprung von einer idealistischen Bestimmung der Literaturfunktion in die historisch-materialistische Bewußtheit von deren Möglichkeiten vollzogen ist, sich in jeder Phase der geschichtlichen Bewegung immer wieder neu stellt und neu gelöst werden muß. Was für die Arbeiterklasse selbst gilt, daß sie, wie Karl Marx einmal sagte, „lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden" 20 , das gilt auch für ihre Literatur. Auch die Geschichte der sozialistischen Literatur, der sozialistischen Literaturtheorie und der sozialistischen Literaturfunktion ist von den Kämpfen der Arbeiterklasse gekennzeichnet. Der daraus resultierende Sachverhalt, daß das Verständnis der sozialistischen Literaturfunktion die Anerkennung ihrer Geschichtlichkeit einschließt, d. h. Anerkennung der Priorität der objektiven revolutionären Bewegung und ihrer Kämpfe gegenüber den subjektiven Funktionssetzungen, schließt voluntaristische Mißverständnisse und theoretisch unbegründete Ansichten in bezug auf die funktionalen Möglichkeiten der 34

Literatur jedoch keineswegs aus. Zum Zwecke der Veranschaulichung seien einige solcher möglichen Mißverständnisse genannt. Trotz der Erkenntnis, daß die Literatur keine autonome Macht ist, die dem Gang der Geschichte voluntaristisch ihren Stempel aufdrücken könnte, kann es z. B. dazu kommen, daß die Literatur als Folge des gar nicht zu überschätzenden Einflusses, den sie auf den Zustand des gesellschaftlichen Bewußtseins ausübt, dazu gedrängt wird, anstatt ihrer M i t v e r a n t wortung die A l l e i n v e r a n t w o r t u n g für diesen Zustand auf sich zu nehmen. Literatur kann aber immer nur über das Ensemble der Bedingungen wirken, unter denen sich das gesellschaftliche Bewußtsein herausbildet. Hypertrophierte Vorstellungen von der Macht und der Verantwortung der Literatur können im Bewußtsein der Schriftsteller zur Fixierung eines Rollenverständnisses führen, das, wenn es sich von den parteilichen Voraussetzungen trennt, sehr schnell in bürgerliche bzw. revisionistische Ideologie umschlagen kann, nach der der Literat als ein „Seher" und „Schöpfer" dazu berufen sei, nicht nur „dem Menschen an sich", sondern z. B. auch der in ihrer Partei organisierten Arbeiterklasse zu sagen, was sie zu tun und zu lassen habe. Wir brauchen nur an Namen wie Garaudy oder Fischer zu erinnern, um deutlich zu machen, welche Verheerungen solche Ansichten zur Folge haben können. Auch ein f a l s c h e s Bewußtsein kann praktische Konsequenzen haben. Vor allem an Garaudy ist zu studieren, daß die Uberschätzung der Literatur — philosophisch gesehen — stets einen Rückfall ins vormarxistische, nämlich utopische und idealistisch-illusionäre Denken bedeutet. Eine andere Art der Uberschätzung von Literatur, die zugleich eine Unterschätzung einschließt, liegt vor, w e n n der Literatur in ihrer Gesamtheit unmittelbar operative, z. B. aus Engpässen der materiellen Produktion sich ergebende A u f gaben übertragen werden, an deren Lösung sie sich — wenn überhaupt — nur beteiligen kann durch spezielle Genres, die unmittelbar an das Bewußtsein der Rezipienten appellieren können. Diese kurzsichtige Deutung der funktionalen M ö g lichkeiten geht sehr oft mit der Annahme einher, eine gesellschaftliche Funktion nehme die Literatur erst jenseits des Ver3*

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gnügens, der subjektiven Erlebnisse, der ästhetischen Genüsse wahr, die im Umgang mit Literatur erzeugt werden können; also erst dort, wo Literatur beginnt, wissenschaftliche Kenntnisse zu verbreiten und philosophische, moralische oder lebensorientierende Lehren zu erteilen. Sofern solche Vorstellungen von Marxisten vertreten werden, liegt ihnen eine Auffassung vom wissenschaftlich-sozialistischen Humanismus zugrunde, die eine Karikatur desselben darstellt. Gerade die Rehabilitierung der Vernunft gegenüber dem Sensualismus u n d der Sinne gegenüber dem Rationalismus ist die theoretische Basis des sozialistischen Humanismus. Immer wieder hat Marx betont, daß Kunstsinn, Schönheitsgenußfähigkeit, Fähigkeit des Genusses schon als solche Produktivkraft sind. 21 Die Erzeugung dieser Produktivkraft fällt aus der gesellschaftlichen Funktion von Literatur nicht heraus — im Gegenteil: Die Erzeugung von ästhetischen Genüssen und der Fähigkeit zu ihnen stellt nicht nur eo ipso eine Produktivkraft dar, sondern die sozialistische Literatur hat um so größere Aussicht, die anderen gesellschaftlichen Funktionen, die sie sich setzt, tatsächlich wahrzunehmen, desto größer ihre Potenz zur Erzeugung gerade dieser Produktivkraft ist. Zu Recht werden von der sozialistischen Öffentlichkeit in letzter Zeit zunehmend eine Literaturkritik, ein Literaturunterricht, eine Literaturpropaganda als unzulänglich beurteilt, die die gesellschaftliche Funktion der Literatur allein an inhaltlichen Kriterien messen, an den Stoffen, Themen und Sujets, z. B. am Inhalt und an der Lösung der dargestellten Konflikte, an der vorbildlichen Lebensweise der literarischen Gestalten, am pädagogischen Gehalt. Eine Parallele dazu bilden literaturwissenschaftliche Methoden, die die Literatur nur als „Ausdruck", als „Illustration", als „Versinnbildlichung" von etwas anderem wahrnehmen, z. B. von einem soziologischen „Äquivalent", einer geschichtlichen „Situation", einer sozialen „Umwelt", einem ökonomischen „Faktor", dem „Innenleben" eines Dichters, dem „Zeitgeist" oder wie die Substrate noch heißen mögen. Die Unzulänglichkeit solcher Verfahren beruht selbstverständlich nicht darauf, daß inhaltliche Kriterien angewendet, die Gegenstände historisch situiert, eingebaut werden in die Klassenkämpfe und 36

ideologischen Auseinandersetzungen, daß ihre Herkunft analysiert und der Platz innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt wird. Die Unzulänglichkeit beruht vielmehr gerade darauf, daß sie dieses nicht leisten: Sie gehen von der Annahme aus, daß die gesellschaftliche Funktion der Literatur mit dem Inhalt identisch sei, der im literarischen Text von einem Gegenstand entworfen ist. Diese Annahme ist aus mehreren Gründen falsch. Einer besteht darin, daß literarische W e r k e v o n s i c h a u s — welchen Inhalts auch immer — weder die Macht haben, eine gesellschaftliche noch überhaupt eine Funktion auszuüben, mit Ausnahme der einen, in Gestalt von Schrift auf Papier zu stehen und in Gestalt des Buches gehandelt, gesammelt und aufbewahrt zu werden. Hat sich das Werk von seinem Schreiber getrennt, kann es eine Funktion erst dann wieder bekommen, wenn es gelesen wird. In der Spanne zwischen Schaffensprozeß und Rezeptionsprozeß, d. h. in schrifttextlicher Gestalt, hat das Werk nur der Möglichkeit nach Funktionen. Die gesellschaftliche Funktion der Werke kann nur vom Rezipienten verwirklicht werden. Den Rezipienten aber kommt — und das ist ein weiterer Grund für die Falschheit dieser Auffassung — in der Lektüre der W e r k e kein bloßer Inhalt entgegen. Die außerliterarische Gegenständlichkeit kann zum Inhalt der Literatur nicht außerhalb der Form und der Sprache werden. Schon aus diesem an sich trivialen Sachverhalt wird ersichtlich, daß sich die Form zur Funktionspotenz der Werke nicht neutral verhält. Form und Sprache sind nicht bloße Hülle für einen Inhalt, der ohne sie genauso präsent w ä r e ; sie sind nicht bloß ein Fenster, das den Blick auf einen Inhalt gestattet, der, gäbe es das Fenster nicht, auch vorhanden wäre. Die Form hat nicht den Status einer bloßen ästhetischen Zutat; sie ist mitbeteiligt an der Funktionspotenz der Werke. Insofern hatte Georg Lukäcs völlig recht, wenn er in den Debatten der zwanziger und dreißiger Jahre immer wieder auf die Bedeutung der formalen Probleme für die Entwicklung der sozialistischen Literatur hinwies. Formalistisch war nicht die A k z e n t u i e r u n g der Form, sondern die Dogmatisierung e i n e r Form: der deutschen 37

Klassik und des bürgerlichen epischen Realismus des 19. J a h r hunderts. Brecht nahm gegen Lukács Stellung — nicht weil dieser auf die Bedeutsamkeit und die Bedeutungskraft der Form hingewiesen hatte, sondern weil Lukács diese e i n e Form als N o r m für die sozialistische Literatur ausgab. W o für Lukács das Formproblem erledigt war, begann es für Brecht erst. Während für Lukács die Funktion der Literatur darin bestand, zwischen der Arbeiterklasse und dem klassischen Kunstideal eine formelle Vermittlung herzustellen, die seiner Auffassung vom Bündnis zwischen den Kräften der proletarischen Revolution und den Kräften der bürgerlichen D e mokratie entsprach, rückte Brecht das Problem in den Vordergrund, welche Formen und Mittel geeignet sind und erfunden werden müssen, um die gesamtgesellschaftliche Klassenaufgabe des Proletariats in den Inhalt der Literatur und von der Literatur in den Inhalt des Bewußtseins der Rezipienten zu setzen. In einer Beziehung aber waren sich die beiden marxistischen Kontrahenten einig: daß es falsch ist, den Inhalt der Literatur als ihr ideologisches, und die Form der Literatur als ihr ästhetisches Moment zu deuten, welches — als etwas ideologisch Neutrales — genauso gut das schöne Gefäß für einen häßlichen Inhalt wie das häßliche Gefäß für einen schönen Inhalt sein könne. D i e gesellschaftliche Funktionspotenz der Werke ist von dem, w a s in ihnen steht, genauso abhängig wie von dem, w i e es in ihnen steht. Wenn sich auf weiten Gebieten der heutigen bürgerlichen Literatur und Literaturtheorie die wirkungsästhetische Frage nach dem Wie, den Mitteln, der Technik, der Sprache als Material gegenüber der darstellungsästhetischen Frage nach dem Was, dem Gegenstand, dem Abbild-Bezug verselbständigt hat, dann darf daraus nicht der Schluß gezogen werden, die sozialistische Literatur und ihre Theoretiker, Kritiker, Vermittler und Wissenschaftler dürften das Wie als sekundär betrachten. Bei dem Rückstand, der in dieser Hinsicht wenn nicht bei den sozialistischen Schriftstellern, so doch bei ihren Lesern und bei uns, den literarischen Vermittlern, noch zu verzeichnen ist, dürfte es sogar angebracht sein, dieser Seite der Bedingung für das Funktionieren der Literatur in der so-

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zialistischen Gesellschaft spezielle Aufmerksamkeit zu widmen. Die Methode des sozialistischen Realismus beim Schreiben und Lesen von Literatur wird der sozialistischen Funktion der Literatur um so besser gerecht werden, je genauer sie die dialektische Einheit der beiden Momente im Blickfeld hat, von denen das e i n e enthalten ist in der Frage nach dem Wie des Schreibens, seiner Technik und seinen Mitteln sowie nach der Sprache als dem Material und dem Medium dieser Kunst. Diese wenigen Bemerkungen über ein weit verzweigtes Problem sollen verdeutlichen, daß das Wissen um die historisch-materialistische Determination der Literaturfunktion und die Interiorisierung dieses Wissens als innere Überzeugung der sozialistischen Schriftsteller, Literaturvermittler und Leser weder automatisch die Schreib- und Leseprobleme in der sozialistischen Gesellschaft löst, noch Unzulänglichkeiten, Verzerrungen im Verständnis der damit zusammenhängenden Fragen ausschließt. Alle Schwierigkeiten und Probleme stellen sich aber erst auf einer Basis, die durch das subjektive Bemühen charakterisiert ist, die neuen Dimensionen der Literaturfunktion im realen Sozialismus zu erkunden.

Dieter Schlenstedt

Funktion der Literatur — Relationen ihrer Bestimmung

1. Von der Literatur als einem lebenswichtigen Organ der Gesellschaft sprach Franz Fühmann auf dem VII. Schriftstellerkongreß der D D R und davon, daß die Gesellschaft im Interesse ihrer eigenen Funktionstüchtigkeit an der aller ihrer Organe interessiert sein muß. 1 Hermann Kant — er sah Literatur im größeren Ganzen als besonderen Teil — charakterisierte die schriftstellerische Arbeit als Arbeit eines volkseigenen Betriebes, einer Institution im Besitze der Gesellschaft. 2 W o l f g a n g Kohlhaase wiederum nannte Kunst einen kollektiven Vorgang, in dem sich Bücher zu Büchern, Bücher zu Bildern und Statuen stellen und in dem ein gesellschaftlicher „Umgang mit allen diesen Dingen" geschieht, in welchen „unsere Welt noch einmal ist, nicht besser, aber manchmal besser sichtbar" 3 . Literatur als Organ, als Institution, als kollektiver V o r g a n g — solche Bestimmungen wiederholten sich auf dem Kongreß, sie gehören zu dem neuen Selbstverständnis der Literatur, das hier zu Wort kam. Dichtung erschien, indem ihre gesellschaftliche Rolle als das Auffinden gemeinsamer Wahrheit, als Herstellen von Gemeinsamkeit, als Verständigung gedacht wurde, als integrierter und integrierender Teil in der gesellschaftlichen Totalität und dabei selbst als ein gesellschaftliches Ganzes. Eine Vorstellung lebendiger Literatur wurde zugrundegelegt: Literatur als Beziehung zwischen Menschen, als gesellschaftliche Aktion — nicht allein, was Nachschlagewerke beharrlich suggerieren, Literatur als Menge literarischer Vergegenständlichungen. Dies trifft einen zentralen Punkt auch unserer Überlegungen. Unser Interesse ist auf die Entwicklung der Kultur, die V o r g ä n g e gesellschaftlicher Bewußtseins40

bildung in der sozialistischen Gegenwart und ihrer Vorgeschichte gerichtet; wir fragen nach dem Platz, der Rolle, Aufgabe — nach der Funktion — der Literatur im Gesellschaftsprozeß. Und unser Interesse richtet sich auf den selbst schon gesellschaftlichen Prozeß Literatur; wir fragen nach der Organisation und der Betätigungsweise — nach dem „Funktionieren", wenn man so will — des Organs Literatur. Literatur als ein Organ — das vereinfacht natürlich die wirklichen Verhältnisse. Sie stellt sich so als ein System dar, das einen eigenartigen Transformationsprozeß ermöglicht. In ihm wird — sehr allgemein gesagt — eine bestimmte Sorte von Eindrücken, Erkenntnissen, Wertbeziehungen, Interpretationen, Entwürfen, die in der Auseinandersetzung mit Natur und Gesellschaft gewonnen wurden, auf gesellschaftlichem Wege in Wirkungen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit umgeformt. 4 Die Funktion der Literatur könnte auch als Gesetzmäßigkeit dieser Transformation gekennzeichnet werden. Mit einer Ganzheit aber haben wir es dabei nur zu tun, wenn wir sehr verallgemeinern und unterschiedliche Beziehungen zusammenfassen. Konkret geht es um die Tätigkeit von Schriftstellern und Schriftstellergruppen auf besonderem historisch-gesellschaftlichen Platz, mit bestimmten Methoden literarischer Arbeit von verschiedener Leistungsfähigkeit; um die Betätigungsweise von Kommunikations- und Distributionssystemen und von deren Instanzen bestimmter geschichtlich-sozialer Ausprägung; um die Aktion von Lesern und Lesergruppen, den Gebrauch, den sie gemäß ihrer Bedürfnisse, Interessen, Fähigkeiten von der Literatur machen, die Wirkungen, die dieser Gebrauch haben kann. Konkret geht es um verschiedenartige und durch die gegenständliche Vermittlung relativ selbständige Bereiche, in denen literarische Tätigkeiten und literarische Vergegenständlichungen zusammenwirken — deshalb auch um die Rolle von Werken, Gattungen, Stilen, von wirksam gehaltenen Werkensembles aus Gegenwart und Vergangenheit. Wollen wir die Funktion der Literatur genauer analysieren, so haben wir diese einfacheren Beziehungen zu analysieren, in denen sich das Funktionieren der Literatur abspielt, und wir haben dies als komplexen gesellschaftlichen Zusammenhang aus dem Zu41

und Miteinander dieser einfacheren Beziehungen auf jeweiliger historischer Stufe und in seinen Differenzierungen zu rekonstruieren. Diese Aufgabe ist lösbar nur als Resultat konkret geschichtlicher Forschung und als Zusammenfassung der Ergebnisse verschiedener Wissenschaftsrichtungen und -disziplinen. Nicht das ganze Feld, sondern lediglich einige literaturwissenschaftliche Zugänge zum komplexen Zusammenhang können im folgenden näher betrachtet werden.

2. D i e Funktion der Literatur als künstlerische Literatur läßt sich zunächst als die Leistung einer besonderen, in sich differenzierten Methode der Aneignung von Wirklichkeit und der Vermittlung angeeigneter Wirklichkeit charakterisieren. Diese Methode bildet sich im historischen Prozeß heraus — mit ihm, aber auch mit einer im Tradierungsprozeß relativ selbständigen Entwicklung der Technik, verändert sie sich. Ihre allgemeine Eigenart scheint uns am besten beschrieben, wenn wir sie als das Herstellen und Verarbeiten von Texten auffassen, die besondere, von anderen Texten unterschiedene Leistungen ermöglichen. Sie bieten vor allem die Möglichkeit, einen bestimmten Wirklichkeitsbereich in ihm analogen Strukturen abzubilden und diesem Modell oder in ihm auftretenden Elementen eine auf den Menschen weisende B e deutung zu verleihen. E s handelt sich hier um eine sprachliche Wirklichkeitsaneignung — das bietet die Chance zu einer komplexen Realitätserfassung, die auch nicht anschauliche, nicht persönlich vermittelte, nicht räumlich-zeitlich verbundene Abhängigkeiten sowie subjektive Weltbeziehungen umgreifen kann. Dadurch ist diese Methode von anderen Methoden sprachlich gegebener geistiger Produktion nicht prinzipiell abgeschieden; in der meist geltenden Spannung zwischen modellierenden und berichtenden, reflektierenden, rhetorischen Funktionen des Textes wird dies auch strukturell greifbar. Ihre Eigenart jedoch ist durch den hier gesetzten besonderen Ausgangspunkt und Zielpunkt der Arbeit be42

stimmt. Als ihr Ausgangspunkt nämlich läßt sich das Leben des konkreten Subjekts 5 ausmachen und als ihr Zielpunkt nicht einzelne Kräfte, sondern, mit einem W o r t Johannes R. Bechers, der ganze M e n s c h 6 . Die Leute in ihren Beziehungen zu sich, zur Gesellschaft und Natur sind der zweifache Gegenstand der literarischen Tätigkeit. V o n diesem Ausgangspunkt und von diesem Zielpunkt her — und nur wenn sie beide gelten — ergeben sich auch die Verfahren und Formen der künstlerischen literarischen Tätigkeit. Sie gibt uns über T e x t e und in Texten ideelle Gebilde und Abläufe, die das „Leben der L e u t e " 7 , der Individuen und Gruppen in ihren objektiven und subjektiven Zusammenhängen repräsentieren und präsentieren und gleichzeitig durch deren Akzentuierungen Bedeutungen vermitteln und den Gewinn von immer neuer Bedeutsamkeit gestatten. E i n e funktionale Literaturbetrachtung kann sich aus allen diesen Gründen — die eine idealistische Wissenschaft leicht zu negieren bereit ist 8 — nicht in Gegensatz zu einer genetischen Literaturbetrachtung setzen; der Aspekt des Wirkens von Literatur läßt sich nicht im Gegensatz zu ihrem Abbildcharakter bestimmen. E i n e marxistische Literaturbetrachtung wiederum kann sich auch nicht auf diesen Abbildcharakter einschränken, sie hat Literatur als menschliche Tätigkeit, als besondere Praxis zu begreifen. U m deren Sinn, Bedeutung, Zweck geht es bei der Frage nach der Funktion. Die in der Literatur vorliegende Aneignungsweise erlaubt — und hier hat die Vorstellung von Polyfunktionalität ihren Grund — Gewinn und Übergabe von Erkenntnissen und K e n n t nissen über den genannten Gegenstandsbereich, gestattet es, Muster von Grundüberzeugungen und Werten zu bilden und zu vermitteln, ermöglicht es, Anregungen fürs D e n k e n und Impulse fürs Verhalten zu formieren und zu übertragen. Sie ist in diesen drei Richtungen immer zugleich K o m m u n i kation. Indem sie uns aber Resultate einer freien Tätigkeit gibt, erlaubt sie in deren Aneignung wiederum freie Tätigkeit. Nicht die Wirklichkeit selbst wird in den Modellen bearbeitet, und nicht die Wirklichkeit haben wir vor uns, wenn wir mit ihnen umgehen. W i r treten in eine Tätigkeit des Spiels ein, auch des Spiels mit Sprache. Diese Tätigkeit kann sich ein43

fach oder komplex gestalten, nur in einer erholenden Unterhaltung bestehen, aber auch ideell folgenreich sein, indem wir unsere Erkenntnisse machen, unsere Werte bilden, die uns betreffenden Anregungen aufnehmen. Eine „funktionelle Vielschichtigkeit" 9 läßt sich konstatieren (über das Gesagte hinaus ließe sie sich differenzieren) — doch gerichtet auf den besonderen Ausgangs- und Zielpunkt. In der A u f k l ä r u n g des Subjekts für das Subjekt 1 0 , in seiner speziellen oder allgemeineren Aktivierung liegt die allgemeine Funktion der Literatur und anderer Kunstarten, die im weitesten Sinn des Wortes darstellen. Dies ist ihre generelle Leistung: Sie allein unter den Weisen der geistigen Produktion und auch unter den Weisen des Modellspiels vermögen — und zwar über den Horizont persönlichen Dabeiseins hinweg, allgemein zugänglich für alle, soweit sie in den Kreis der Kommunikation einbezogen sind — das Leben des konkreten Subjekts einsehbar zu machen, vermögen — und zwar mit großer gesellschaftlicher und geschichtlicher Reichweite — an konkreten Beziehungen symbolische Bedeutungen vorzuschlagen. Damit ist eine bewußt neutrale Bestimmung der Funktion der Literatur gewonnen. In ihrer historischen Entwicklung formiert sie sich jedoch keineswegs in dieser Art. Sie kann sich vielmehr unter dem Dach emphatischer religiöser oder ästhetischer Vorstellungen bilden, sie kann der moralischen Erziehung oder der operativen politischen Arbeit unterstellt werden, sie kann auf die bloße Regeneration der Arbeitskraft oder auf die Emanzipation der schöpferischen Kräfte des Menschen zielen usw. Sie tritt bei all dem als Instrument bestimmter sozialer Gruppen und Klassen auf und hat insofern einen ideologischen Charakter. In der Polyfunktionalität zeichnen sich führende Prinzipien ab — und gerade das ist wichtig. Funktionsanalyse kann sich nicht darin erschöpfen, die allgemeinen Funktionspotenzen literarischer Modelle darzulegen, sie hat vielmehr den jeweiligen historischen Platz der Literatur, ihre speziellen A u f g a b e n und ihre je besondere Einbettung ins Ganze zu untersuchen. Dies ist Sache konkret geschichtlicher Forschung, für die wiederum die Frage nach d e r Funktion d e r Literatur nichts als ein heuristisches Schema ist, gerichtet auf eine der grundlegenden Beziehungen zwischen 44

Literatur und Wirklichkeit. Für eine historisch-materialistische Untersuchung steht dabei die besondere Funktion einer bestimmten Literatur zur Rede. Das scheint selbstverständlich. D o c h soll es betont werden angesichts ästhetischer Theorien, in denen — gerade bei D u r c h setzung des funktionalen Betrachtungsaspekts — der Blick auf das Allgemeinste gelenkt wird. K a g a n 1 1 wählt zum Beispiel als Ausgangspunkt seiner Überlegungen eine alle Gattungen und Kunstarten übergreifende Abstraktion, sie wird auf ein ideales Bewußtsein bezogen und so in ihrer allgemeinen P o tenz erkennbar; deren Richtungen werden dann als Funktionen charakterisiert. A u f diese Weise erhält man eine Skala, in der etwa eine kommunikative, hedonistische, erzieherische, bildende Rolle der K u n s t erscheint. Genauer betrachtet, wird auch hier jedoch ein führendes Prinzip sichtbar. Postuliert wird nämlich, die Kunst sei in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung von Beschränktheit und Einseitigkeit frei, sie habe ihren Sinn, ihr Ziel in der „vollständigen geistigen Formung des Menschen". Dieser Gedanke verleugnet die klassisch-ästhetische Herkunft nicht. D o c h wird hier kaum die schöne E i n heit der Vielfalt des älteren Konzepts gedacht: das zum Hedonistischen herabgekümmerte Ästhetische wird Teilfunktion unter anderen Teilfunktionen. Die so gefaßte Polyfunktionalität kündet auf ihre Weise v o m Ende des ästhetischen D e n kens in der Ästhetik. E s regiert die Freude bereits an der Vielfalt, und die soll harmonisch sein: „Die h a r m o n i s c h e E i n h e i t , nicht der K a m p f der Funktionen, das ist die Devise der Kunst des sozialistischen Realismus." In Wirklichkeit findet auch heute und bei uns ein K a m p f um die Funktion der Kunst statt — er ist ein Streit um das historisch führende Prinzip in der Einheit, um jene Art der Produktion, die in einer bestimmten historischen Phase das allgemeine Klima bestimmt.

3. Versuchen wir E c k p u n k t e in der Konstituierung historisch führender Prinzipien an einigen Beispielen programmatischen Denkens zu verdeutlichen. 45

Schiller, in seinem Vortrag über die Schaubühne bestimmt die Kunst als „Richterstuhl", als „Schule der praktischen Weisheit", als eine der „Anstalten zur gesellschaftlichen Ergözlichkeit", als „gemeinschaftlichen K a n a l " und als eine „ S t i f t u n g " . Indem er den Blick auf ihre Funktionen richtet, begreift er sie unter verschiedenen Metaphern als Einrichtung. Diese umfaßt mehr und weniger als die wirklichen Schriftsteller, Werke, Institute, Zuschauer, Leser. Ihr Begriff enthält Wertungen, Mögliches und Ideales. Sie erscheint als eine ideelle Institution, wesentlich organisiert v o m Schriftsteller, und dabei zeichnet sich ohne Zweifel eine gewisse Hypostasierung ab. In zweifacher Richtung kündet sie von einer Abhebung der künstlerischen Tätigkeit aus dem Alltag. Die erste dieser Richtungen zeigt sich im Bezug auf die die Gesellschaft durchwaltende Arbeitsteilung. Bei Schiller wird sie reflektiert als die Aufspaltung der menschlichen „ N a t u r " in den Tätigkeiten einförmiger, niederdrückender Geschäfte des Berufs, des Verstandes und bloß zerstreuender Genüsse. Einen mittleren Zustand zu erlangen, ermöglicht in der so Welt allein die K u n s t — hier hat sie ihre Besonderegesichteten m heit, sie, die bewußt in die Nähe anderer gesellschaftlicher Institutionen, der Religion, der Moral, der Erkenntnis, der Schule, der Circenses gerückt, ihnen gegenüber aber in ihrer Eigenständigkeit behauptet wird. Und deshalb auch (von einer Seite her) wird sie als eine „ S t i f t u n g " gefeiert, ja geheiligt. Sie vereint die verschiedenen Tätigkeiten so, daß keine Kraft der Seele zum Nachteil der anderen gespannt wird und daß wir — freilich indem wir in einer künstlichen Welt die wirkliche hinwegträumen — uns selbst wiedergegeben werden in einem Ausgleich der Vereinseitigungen der Kräfte. Die zweite Richtung zeigt sich im Bezug auf den gesellschaftlichen Ort des Künstlers. In einer Wirklichkeit, in der der Dichter keine realen gesellschaftlichen Kräfte sieht, als deren Organ er sich verstehen kann, vindiziert er sich und die K u n s t dem allgemeinen Menschen und gebraucht dabei — wie man heute sagen möchte — die kommunikationstheoretische Methapher v o m „gemeinschaftlichen K a n a l " . Die Fließrichtung in diesem Kanal aber ist so gedacht, daß in ihm „ v o n dem denkenden, bessern Theile des Volks das Licht der 46

Weißheit heruntetströmt, und von da aus in milderen Stralen durch den ganzen Staat sich verbreitet". In diesem Konzept von Öffentlichkeit, das von einer aufklärerischen Zweiteilung der Gesellschaft ausgeht und die Frage nicht aufwirft, wer die Erzieher erzieht, gibt es — unten — die große Klasse der Toren — sie umfaßt die Großen der Welt und die größere Masse des Volkes. „Stiftung" ist die Kunst auch deshalb, weil sie die gesellschaftlich getrennten Menschen durch eine allwebende Sympathie verbrüdert und in ein Geschlecht himmlischen Ursprungs auflöst. A u s beiden Beziehungen erst ergibt sich hier die gedachte Rolle der K u n s t : Sie ist in der Klassengesellschaft ein allgemeinmenschlicher Repräsentant, und ihre erhoffte Leistung besteht in einer weitgespannten Emanzipation der Tätigkeiten. In beiden Richtungen wird sie als autonom konstituiert, nicht als Dienst in irgendeinem anderen gesellschaftlichen Teilbereich, sondern als authentischer Dienst am Menschen. Ein anderes Paradigma sei angeführt (wieder ohne die Differenzierungen, die sich aus einer Betrachtung der poetischen Arbeit, der gleichzeitigen Kunstproduktion und Kunstauffassung überhaupt und späterer Entwicklungen ergäben). In den Überlegungen Brechts und Majakowskis um 1930 trat die Reflexion über den Zweck der literarischen Arbeit an eine vordere Stelle. Es wurden Interessen akzentuiert, die über das ästhetische Anschauen und Genießen hinausreichen, die Literatur wurde als Beitrag zur politischen revolutionären Bew e g u n g bestimmt. W e n n es bei Majakowski heißt: W i r „statuieren den P r i m a t d e r Z i e l r i c h t u n g v o r d e m I n h a l t u n d v o r d e r F o r m " 1 3 , so war an die Veränderung gedacht, die ein Werk auslösen soll, und an eine Unterordnung der literarischen Tätigkeit unter publizistische, propagandistische, operative Aufgaben. Brecht trifft eine vergleichbare Primatstatuierung. Der ganze Marsch beim Aufbau einer neuen Kunst, heißt es bei ihm, beginnt mit der Erforschung der neuen Stoffe, umfaßt die Analyse der neuen gesellschaftlichen Beziehungen und ihre Vereinfachung durch F o r m : „Diese Form aber kann nur durch eine völlige Änderung der Zwecksetzung der Kunst erlangt werden. Erst der neue Zweck macht die neue Kunst. Der neue Zweck heißt: Pädagogik."! 4

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Agitation und Pädagogik, Publizistik und Demonstration, die hier jeweils strukturbestimmend für die künstlerische Arbeit werden, sind nicht die gleichen Prinzipien, und sie führen auch zu unterschiedlichen poetischen Resultaten. Ihre Einheit aber erhalten sie durch die mit ihnen geführte antiästhetische Kritik. Das reine poetische Werk und das Kriterium des Gefallens wird von Majakowski abgelehnt. Er sagt: „Wir fordern von jedem Werk, daß es fungiere und wirke" 1 5 — nämlich im Kampf für den Aufbau des Sozialismus. Eine Akzentverlagerung von Gefühl, Erlebnis und deren Aktivitätsaufzehrungen auf Kenntnis, Untersuchung, Erkenntnis, von Vergnügen auf Diskussion, Entscheidung, Aktivität notiert Brecht 1 6 . Die zwei Richtungen, in denen Literaturkonzepte aufgebaut werden, sind auch hier erkennbar. Auf der einen Seite regiert aber das Abstreifen der Illusion von Klassenexterritorialität und offenes Bekenntnis zu einer bestimmten historischen Kraft. In der geschichtlichen Bewegung und nicht an ihrer Stelle als menschliche Emanzipation, auch nicht als tröstende „Lebenshilfe" (wie sie sich in Teilen des kritischen Realismus vorfand) begreifen diese Schriftsteller ihre Aufgabe. Publikumsspaltung eher als die Wendung an die „Gattung" Mensch ist ihr Ziel. Indem sie die große geschichtliche Bewegung, die Befreiung der Universalität der Kräfte befördern, befördern sie die konkrete soziale und politische Bewegung und umgekehrt. Beides bleibt nicht mehr vermittlungslos. — In diesen Vorstellungen werden neue geschichtliche Bedingungen und Möglichkeiten verarbeitet. Sie beruhen auf einer revolutionären Bewegung, die keine egoistischen Ziele verfolgt und die ihren Ideologen nicht heroische Illusionen aufzwängt. In der Epoche, die durch die Oktoberrevolution eingeleitet wurde, entwickelt sich — auf verschiedenen historischen Niveaus — objektiv eine neue Funktion der Literatur. Auf der anderen Seite sehen sich diese Schriftsteller gezwungen, auch das Verhältnis der literarischen Arbeit zu anderen Bereichen gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung und Erkenntnis neu zu definieren. Sie öffnen die literarische Tätigkeit bewußt gegen diese anderen Bereiche hin, ja unterstellen für eine Weile — gebunden an den Zweck der Gesellschaftsveränderung als Voraussetzung aller weiteren 48

Zwecke — ihre Arbeit verbindlicheren und weniger spielerischen Instrumentarien der gesellschaftlichen Organisation. Auch dem liegen objektive Prozesse zugrunde: eine Phase der Klassenkämpfe, die eine strenge Zusammenfassung der Kräfte als notwendig erscheinen ließ. Die Herausarbeitung des neuen Prinzips band sich an Politik und Wissenschaft: an eine Politik, die eine für die Gesamtgesellschaft progressive Entwicklung verfolgte; an eine Wissenschaft, deren Analysen auch den Gesellschaftsprozeß zu durchdringen gestatten, die effektive Vorschläge zu seiner Änderung machen kann. Eine solche Politik und eine solche Wissenschaft schufen einen neuen Raum für die Literaturfunktion. Als autonom wurde sie in den genannten Konzeptionen, die sich kritisch von herrschenden Kunstkonventionen abstießen, nicht bestimmt. Es erschien im Gegenteil ein Prinzip der Heteronomie. Das Gesagte soll in drei Sätzen resümiert und erweitert werden: 1. Vorstellungen über die Platzbestimmung des Schriftstellers und die Funktion der Literatur haben im gesellschaftlichen Prozeß ihre Quelle. Sie sind ein wirkendes Moment in ihm, das auf Produktion und Gebrauch von Literatur Einfluß hat. Für die Erkenntnis der Funktion der Literatur sind sie ein wesentlicher Index — nicht aber schon diese selbst. Soll ihre Untersuchung fruchtbar werden, müssen sie aus dem gesellschaftlichen Prozeß, seinen Bedingungen und Möglichkeiten abgeleitet werden. 2. Zwei Beziehungen werden für die Bestimmung der Funktion der Literatur wichtig: ihr sozialer Ort, ihre Stellung im gesellschaftlichen Gesamtprozeß, ihr Verhältnis zu den Klassenverhältnissen und Klassenkämpfen einerseits, ihre Stellung in den Systemen der Wirklichkeitsaneignung und Kommunikation, ihre Rolle in der Spezialisierung auch der geistigen Produktion andererseits. Die Bestimmung der sozialen Rolle der Schriftsteller prägt dabei nachhaltig auch die Bestimmung der Leistungsfähigkeit der Literatur im Vergleich zu anderen geistigen und praktischen Tätigkeiten. Die Analyse dieses Zusammenhangs ist einer der Ansatzpunkte der Funktionsuntersuchung. 3. Die mögliche Funktionsvielfalt der Literatur wird nicht zuletzt nach der Art dieses Zusammenhangs auf verschiedene 4

Funktion

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Weise führenden Prinzipien unterstellt. Die Auseinandersetzung mit dem auf den allgemeinen Menschen bezogenen ästhetischen K o n z e p t spielte dabei in der Entwicklung der sozialistischen Literatur eine entscheidende Rolle. Unter dem Motto einer „Kunst als W a f f e " (und seinen Varianten) wurde ein Prinzip gewonnen, das Literatur als „Weg zum Sozialismus" 17 verstand und vordringlich auf die Entwicklung eines auf die Klasse orientierten Selbstbewußtseins zielte. Historische Bestimmtheit der Aufgaben war den Autoren wichtiger als ein „Wesen der K u n s t " . In den Überlegungen, die sich an die Expressionismus-Realismus-Debatte des Exils anschlössen, formulierte z. B . Brecht methodisch konsequent: „Für die Praxis der realistischen Schriftsteller ist es wichtig, daß die literarische Theorie den Realismus in bezug auf seine verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen, das heißt in seiner Entwicklung begreift" 1 8 . Die kritische Spitze dieser Formulierung war — auch dies ist allgemein aufschlußreich — gegen den Grundsatz des Dauernden gerichtet, wie ihn Lukäcs in seinem Programm des großen Realismus während der genannten Debatte vorgetragen hatte. Auf der Basis von politischen und philosophischen Überzeugungen, die wir an dieser Stelle nicht diskutieren können, wurde die dauernd wirksame Gestaltung von in langen Perioden, ja der ganzen Menschheitsentwicklung dauernd wirksamen Zügen des Menschen als Aufgabe der Kunst angesehen 1 9 . Methode wie Wirkungsweise — sie wurde später als Katharsis, als Weckung eines auf die Gattung bezogenen Selbstbewußtseins näher charakterisiert — erschienen daher als wesentlich gleichartig. D i e Verteidigung des Ästhetischen zeichnete dieses Konzept aus, das auf große Weise gegen die Entfremdung und ihre ideellen Reproduktionen gerichtet war und die Probleme überhaupt erst auf die Höhe führte, auf der sie als Probleme sichtbar wurden.

4. In der Art nun, wie die Modelle gebaut werden und wie das Spannungsverhältnis zwischen modellierenden und rhetorischen, berichtenden, reflektierenden Funktionen des literarischen Textes sich gestaltet, haben wir einen zweiten Bereich,

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der Indices für die Analyse der Funktion der Literatur hergibt. Über die Werke vermittelt sich der Transformationsprozeß, als der die Funktion der Literatur charakterisiert wurde. A u s ihren Invarianten und ihren Veränderungen, den veraltenden und erneuernden Zügen ihrer Struktur lassen sich Funktion und Funktionswandel ablesen. E s soll auch hier nur auf einen der Prozesse verwiesen werden, die unser Problem erhellen können. Von einem bestimmten Zeitpunkt an — markant seit dem E n d e des ersten Drittels des vorigen Jahrhunderts — wurden nicht nur eine bestimmte literarische Modellform, sondern die literarische Modellmethode selbst problematisiert, und es begann eine Diskussion, die bis heute währt. Drei Hauptansatzpunkte dieses Problematisierens seien genannt: Auf der Basis einer philosophischen Hierarchisierung der Aneignungsformen und ausgehend von der Schwierigkeit, die entfaltete Totalität der modernen Welt in der unmittelbaren Anschauung, im Individuellen substantiellen Gehalt zu erfassen, wurde für Hegel die K u n s t etwas Vergangenes: „ D e r Gedanke und die Reflexion hat die schöne K u n s t überf l ü g e l t . " 2 0 Andere Erkenntnisformen, Wissenschaft, Philosophie, schienen geeigneter, der Wahrheit Existenz zu verschaffen. Bezugspunkt dieser Thesen war die Vorstellung von einer Kunst im Zeichen des Ideals. Waren es hier wesentlich die ja nicht einfach durch Willensentschluß zu negierenden Bedingungen einer herrschend werdenden, von Reflexion durchdrungenen Bildung, die die künstlerische Produktion problematisch erscheinen und gerade in der Dichtung das Hinübersteigen der K u n s t in die Prosa des Denkens ankündigen ließ, so war es später rigorosere Wirklichkeitsbindung, die Ähnliches bewirkte. A u f der Basis einer verstärkt empfundenen Verpflichtung ans Empirische und mit dem Argument, die Wirklichkeit selbst gehe über alle Erfindung hinaus, wurde die Kritik an den fiktionalen Momenten entfaltet, die dem literarischen Modell notwendig zugehören. 2 1 * Der objektivere Roman — nicht L y r i k ; die Re* Als Lesehilfen wurden die Ziffern, die sowohl auf Literatur- oder Quellennachweise verweisen als auch auf Sachanmerkungen, durch Stern gekennzeichnet, 4*

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portage — nicht R o m a n ; analytische Form — besser noch als Reportage; dies deutet auf die Eskalation der Kritik. Eine Ästhetik, die die Illusion zum Gesetz der Kunst erklärt hatte, spielte als negative Folie in diesen Diskussionen mit. Schließlich erfolgte die Kritik auch von der Beobachtung her, daß künstlerische Literatur sich durchaus auch gegen ihre Intention in die Manipulationsmechanismen der bourgeoisen Gesellschaft integrieren läßt — gerade wegen der in den Werken konstituierten, über das Wertreich der Zivilisation erhobenen Scheinwelt. Im Zwangsgesetz der Affirmation, so Marcuse 2 2 , verliert solche Kultur ihren emanzipativen Impuls. Dadurch, daß sie nur ein privates Durchbrechen der Verdinglichung zuläßt, kann sie in den Dienst des Bestehenden, seiner Rechtfertigung gestellt werden, kann sie die Funktion der Anpassung der Individuen an eine änderungswerte Welt, des Abbaus der revolutionären Sehnsucht erhalten. Ein Konzept nicht-realistischer Kunst, die ihre Funktion in ihrer Funktionslosigkeit bestimmt, Utopie durch Verweigerung erhalten will, kann von diesen Verabsolutierungen ebenso entwickelt werden wie ein Konzept der Verneinung künstlerischer Literatur, des Postulats politischer Analyse und aufklärerischer Bildungsarbeit. Traditionelle Verfahren gegen diese Beobachtungen aufzurufen, erwiesen sich als wenig erfolgreich. Gleichzeitig mit den Problematisierungen aber entwickelte sich das Bemühen, die literarische Modellbildung den neuen historischen Bedingungen anzugleichen — ein Vorgang, der durchaus als Traditionsbruch auftreten mochte, der in seinen produktiven Lösungen jedoch auf die Herstellung einer tiefer liegenden Kontinuität gerichtet war. Diese Arbeit zielte nicht zufällig oft genau auf die problematisierten Aspekte. Das radikale Infragestellen erwies sich so auch als fruchtbar. Nur einige der gefundenen Wege, die dies sichtbar machen, können hier angedeutet werden. Es entstand zum Beispiel eine bewußt gesetzte neuartige Spannung zwischen verschiedenen kommunikativen Funktionen der Sprache im Text künstlerischer Literatur, zwischen modellierenden und anderen Funktionen. Vom Standpunkt des Modells aus gesehen, handelt es sich hier um eine Öffnung (oder Wiederöffnung) seiner geschlossenen Form. Eine eigen52

artige Rhetorik, die nicht über geschlossene Fabeln, sondern über abstraktere Bezüge ihre Symbolik entwickelte, hatte schon Heine zur Bewältigung der prosaisch entfalteten W e l t verwandt. Solche mit der Vorstellung von bildhafter Ganzheit nicht zu vereinbarenden, aber der Literatur zugänglichen Verfahren haben ihre spätere Parallele in Formen, die zum Beispiel die kommentierende Reflexion des dramatischen oder epischen Ablaufs ermöglichen, in Formen der sog. Intellektualisierung des Romans oder der Montage fiktiver und dokumentarischer Partien, auch in Formen, die an die Stelle lyrischen Selbstausdrucks analytische Verfahren und bewußt dialogische A n sprachestrukturen verwenden. Sie zielen auf Erweiterung der Fassungskraft der literarischen Gefüge, auf die E n t w i c k l u n g einer Symbolik der reflektierenden Darstellungsweise, auf die Ausstellung menschlicher Beziehung zur Welt auch in Gattungen, die man für nicht subjektiv hielt. Die Veränderungen zeigen zugleich auf die Problematik der klassischen Gattungsbestimmungen als dreier Naturformen. Oder: es entwickelten sich — z . B . im Gesellschaftsroman, im Parabelspiel — Modellverfahren, die verflochtene Gesellschaftsbeziehungen auf einsehbar einfache Linien bringen und dabei historische Gesetzmäßigkeiten in ihren W i r k u n g e n im individuellen Leben zeigen, die das Schicksal als veränderliches Werk von Menschen und das Denken als korrigierbares Bewußtsein kenntlich machen. Formen wurden entdeckt oder wiederentdeckt, mit deren Hilfe — von wissenschaftlicher Erkenntnis aus — eine vermittelte Totalität wieder eingebracht und erkennbar gemacht werden kann. — In solchen Verfahren schließlich wird zugleich auf herrschende Gewohnheiten der Kunstrezeption Bezug genommen. Das harte Einzeichnen von geschichtlichem Verlauf und gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeit, bewußtes Verfremden des Selbstverständlichen, die ins Spiel gebrachte Subjektivität, der betonte Hinweis auf den Charakter des Produkts als für uns bereitete Veranstaltung verlangen eine neue Rezeptionsweise und helfen, sie hervorzubringen. Bloß hingegebener Genuß wird verhindert, eine rezeptive Aktivität soll erzwungen werden, ein praktikabler Wirklichkeitsgehalt wird vermittelt: Er weist uns auf die Realität; mit seiner Hilfe können wir uns in unserer Welt zurechtfinden. 53

So läßt sich sagen: Erst die Veränderung tradierter Darstellungsformen — Antwort auf veränderte Funktionsmöglichkeiten und -notwendigkeiten — erweist die Funktionstüchtigkeit der literarischen Darstellungsmethode als einen unersetzbaren Weg auch heutiger Weltaneignung. Die neuen Formen sind aber zugleich auch Beiträge im Kampf für das Durchsetzen neuer Funktion. Auch dies soll in einigen Sätzen resümiert und erweitert werden: 1. Veränderungen der Werkstrukturen geben Hinweise auf die Funktion und ihre Veränderung — diese sind aber sowenig wie durch die Funktionsprogrammatik allein durch den Formwechsel bestimmt. Hier handelt es sich vielmehr um Interpretationen des Funktionswandels und um Vorschläge — ob sie brauchbar sind, entscheidet der gesellschaftliche Gebrauch. Funktion der Literatur ist eine objektive und dialektische Kategorie, sie bildet sich im geschichtlichen Prozeß, gewinnt in bestimmter Ausprägung eine relative gesellschaftliche Gültigkeit, und sie formiert sich in vielfältiger Wechselwirkung durchaus auch widersprüchlicher Faktoren. 2. Von den gesellschaftlichen Verhältnissen und denen det geistigen Kommunikation — nicht allein von den Werken zum Beispiel — hängt es ab, welche gesellschaftlichen Gruppen welche Literatur für welche gesellschaftlichen Gruppen wirksam machen bzw. lebendig halten, in welchem Umfang sie gruppenbedingte, gesamtgesellschaftliche oder weltliterarische Bedeutung erlangen. Für die wirkliche Funktion der Literatur sind diese Aufbewahrung und dieser Transport der Werke durch Geschichte und Gesellschaft, dieses Zurverfügungstellen und Zurverfügunghalten ebenso wichtig wie die Potenz, die die Werke haben. — Mit ihren stofflichen und strukturellen Zügen im Intervall zwischen Produktion und Konsumtion relativ unabhängig existierend, stoßen ferner die Werke auf stets veränderte Bedingungen ihrer Rezeption, auf bestimmte gesellschaftliche Kunstkonventionen, kulturelle Bedürfnisse, Interessen, Fähigkeiten, auf die in der Gesellschaft kämpfenden Ideologien und Weltanschauungen, auf bestimmte Situationen des Klassenkampfes. Ihre konkrete Bedeutung, die die Wirksamkeit bedingt, erhalten sie in einer Verarbeitung, die die 54

Mitwirkung aller dieser gesellschaftlichen Systeme voraussetzt. Es ist die lebendige Arbeit, so erklärt Marx in allgemeinem Zusammenhang, die die Dinge zu ihren „Funktionen im Prozeß begeistet" 23 . — Welche konkrete gesellschaftliche Wirkung schließlich — als Bestätigung, Erschütterung und Änderung von Einstellungen und Verhaltensweisen — die Rezeption der Werke hat, ist nicht allein diesen geschuldet. Sie resultiert vielmehr erst aus dem Verhältnis von möglichem Impuls und geschichtlichem Prozeß, seiner Entwicklungsrichtung, seinen Möglichkeiten und Notwendigkeiten. 3. Gerade diese verflochtenen Beziehungen rufen die Funktionsanalyse hervor. Sie zeigen die Einseitigkeit der These, wie sie etwa Georg Lukäcs 24 formuliert hat, daß die Wirkung eines ideologischen Produkts eine notwendige, wenngleich vielfältig vermittelte Folge der klassenmäßig bestimmten Ursache seines Entstehens sei. Das Moment von vielfältiger Vermittlung und ungleichmäßiger Geltung im Leben der Kunstwerke, das dieser Autor beobachtet, ist nicht eine zu vernachlässigende Unregelmäßigkeit innerhalb des literarischen Transformationsprozesses, sondern sein Gesetz selbst. 4. Diese Erkenntnis wird für eine Poetik wichtig, in der die. Kunst als Waffe begriffen wurde. Nicht ein ästhetischer Kanon kann ihr einen Leitfaden geben, nur die Bedingungen des geschichtlichen Kampfes vermitteln ihr die Kriterien. Ausgeprägtes Funktionsbewußtsein gehörte daher zum Beispiel für Brecht zu einer Dichtart, die nicht allein eine „realistische Betrachtungsweise", sondern eine „realistische Handlungsweise" sein könnte, eine Dichtart also, die die treibenden Kräfte nicht allein studiert und festhält, sondern die mithilft, die treibenden Kräfte in Bewegung zu setzen. 25 Es ging Brecht deshalb um ein realistisches Verhältnis nicht allein zu seinen Gegenständen, sondern auch zum Gesamt der Klassenverhältnisse, zu den Institutionen des Überbaus, zum Publikum, seinen Bedürfnissen und Gewohnheiten — von daher durchaus um eine technische Poetik und eine funktionale Bestimmung der Technik. Er sagte: „Wir können zu einer freien Aussprache über Technik, zu einer natürlichen Haltung zur Technik nur kommen, wenn wir die neue gesellschaftliche Funktion uns klarmachen, die der Schriftsteller hat, wenn er realistisch, das 55

heißt, von der Realität bewußt beeinflußt und die Realität bewußt beeinflussend, schreiben w i l l . " 2 6 Nur von hier aus, von der Frage aus, welche Interessen aufgegriffen und bedient werden, vermag auch die Theorie, will sie sich als Beitrag zum sozialistischen Realismus bewähren, alle normativen Züge abzulegen, einen W e g zur wirklichen Geschichte der Literatur zu bahnen und wirkliche Kriterien zu bestimmen.

5. Mit dem Eintritt der sozialistischen Gesellschaft in das Stadium ihrer Entfaltung lassen sich neue Z ü g e in der Rollenbestimmung und der Wirkungsweise der Literatur ablesen. Sie baut dabei auf früher erbrachten Leistungen auf. Eine neue Einheit und eine neue Differenziertheit aber zeichnen sich ab. A m Beispiel der jüngeren D D R - L i t e r a t u r soll auf einige, vielleicht allgemeine Tendenzen hingewiesen werden. Als Stichwort neueren Selbstverständnisses der Literatur kann der Ausdruck „kollektive Selbstverständigung" stehen. Literatur charakterisierte zum Beispiel Volker Braun als eines der „Organe der großen gesellschaftlichen und internationalen Selbstverständigung" 2 7 . „Ich kritisiere nicht, ich stelle dar", sagt Karl-Heinz J a k o b s 2 8 und umschreibt so sein Bedürfnis, die vorübergleitende Realität zu fixieren, auf diese Weise der Gemeinschaft etwas mitzuteilen: Wirklichkeitsdarstellung heißt hier, Zustände zu signalisieren und sie dem Urteil der Leute, denkenden Menschen, vielleicht auch für eine daraus folgende Praxis zu überlassen. Welt anbieten, nämlich „Wirklichkeit als ganz persönliche Erfahrung plus die daraus resultierende 'Prognose', plus Hoffnung und V o r h a b e n " , will Manfred Streubel 2 9 , in der Hoffnung, daß dieses A n g e b o t von einer großen Anzahl von Leuten als richtig bestätigt und als wichtig benutzt wird und so zur Selbstverständigung der Menschen beiträgt, zu einer Selbstverständigung, wie sie außerhalb bürgerlicher Manipulation nur in einer sozialistischen Gesellschaft sich vollziehen kann. Drei Autoren — drei verschiedene Tendenzen unserer Literatur (und weitere B e trachtung würde das Bild noch weiter differenzieren), doch zusammengeschlossen zu einer größeren Einheit.

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„Die Literatur" — das war und ist in der bürgerlichen Klassengesellschaft eine Idealisierung, die die wirklichen, bis zu verschiedenen Literaturen führenden Widersprüche, die Bindung der literarischen Strömungen an verschiedene gesellschaftliche Interessen, die Entstehung verschiedener literarischer Kommunikationskreise gedanklich eliminiert, eine Idealisierung, möglich auf der Basis von miteinander kommunizierenden Intellektuellen und der Vermittlung der Literatur über einen einheitlich scheinenden Markt. Erst mit dem Entstehen der sozialistischen Gesellschaft, nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse und der Entfaltung der sozialistischen Beziehungen bildet sich eine solche Einheit wirklich heraus. Die Literatur kann daher auch zu Recht, wie bereits betont, als gesamtgesellschaftliches Organ mit einer einheitlichen Funktion aufgefaßt werden. Selbstverständigung als neues führendes Prinzip (ohne Zweifel wirken auch traditionelle Vorstellungen weiter) enthält die zwei konstituierenden Beziehungen der Funktion der Literatur auf neue Weise. Auf der einen Seite wird nach der Besonderheit der Funktion einer Literatur gefragt, die „im Einvernehmen mit der Gesellschaft an der Veränderung der Wirklichkeit wirkt" 3 0 . Dabei ist aus dem Bewußtsein der Schreibenden der Umstand nicht wegzudenken, daß der Schriftsteller ein Einzelarbeiter und ein Arbeiter mit besonderen, besondere Seh- und Denkweisen produzierenden Lebens- und Arbeitsbedingungen ist 31 , in einer Gesellschaft, in der die Arbeitsteilung ja keineswegs aufgehoben sein kann, in der aber eine kooperative Arbeitsweise zunehmend auch die geistige Produktion bestimmt. Funktion der Literatur im Sozialismus ist nicht zuletzt durch das Streben nach einer dialektischen Lösung der damit aufgeworfenen Probleme geprägt. In der charakterisierten und meist ausdrücklich verteidigten Lage werden durch ein vorwärtsweisendes Denken die erhöhte Verantwortung des Schriftstellers als Interessenvertreter der Gesellschaft und ihrer herrschenden Klasse, die gesellschaftliche Anforderung an ihn als Träger einer Teilfunktion 3 2 akzeptiert. Es wird aber auch die Chance der verantwortlichen individuellen Arbeit betont — die Chance, entsprechend der allgemeinen Möglichkeit der Literatur, die es mit dem Leben des konkreten Subjekts zu tun hat, 57

Besonderes ins Allgemeine und Allgemeines ins Besondere einzubringen. Der Schriftsteller begreift sich dabei nicht als Vertreter höheren Geistes, sondern eher als Dolmetsch. Erst dadurch wird die Literatur wirklich zu einem „gemeinschaftlichen Kanal". Durch Austausch von Erfahrungen zu mehr Gemeinsamkeit zu kommen, die gemeinsame Wahrheit zu finden, die niemand für sich allein besitzt, durch Überzeugung zu überzeugen, durch entdeckte Wirklichkeit zu erregen, gemeinsame Ideale wachzuhalten wird hier zur Aufgabe. Ihr demokratischer Charakter zeigt sich vor allem in dem erstrebten — eine lebendige, wechselseitige, öffentliche Kommunikation einschließenden — Funktionsmechanismus von Angebot und Anhören erfahrener Welt, von Vorschlag und Prüfung, Diskussion. Was Literatur unter dem Dach anderer führender Prinzipien stets auch war, kollektive Selbstverständigung über die Fragen „Wo komme ich her? Weshalb bin ich hier? Welches sind meine wirklichen gesellschaftlichen Verpflichtungen?" (so formuliert sie Erwin Strittmatter 33 ) — das tritt als bewußtes, von aller Heiligung freies Programm hervor. Und in ihm wird, ohne diese Elemente schon ganz aufzugeben, zunehmend deutlicher, daß Literatur sich nicht eigentlich in der Rolle des Lehrers, auch nicht des Agitators befindet, sondern in der Rolle des Vermittlers von Erfahrungen, des Partners in einer größeren Diskussion, in der seine Wahrnehmungsfähigkeit und seine Phantasie gebraucht werden. Denn Selbstverständigung — das ist nicht das Konstatieren von Einverständnis, sondern ein Prozeß der Erkenntnis. Er schließt das Aufbrechen des Selbstverständlichen, Distanzgewinn, Problematisierung des Vorhandenen, schärferes Empfinden des Ungelösten, den Aufweis von Möglichkeiten ein. Auf der anderen Seite zeichnet sich das Bestreben ab, das wiederum neue Verhältnis von Gegensatz und Korrespondenz zu anderen Formen gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung zu bestimmen. Die Entwicklung der dokumentarischen, populärwissenschaftlichen Darstellungsformen, der Berichterstattung der Massenmedien sowie der von ihnen verbreiteten neuen Kunstarten, die durch sie geschaffenen neuen Möglichkeiten der Unterhaltung, aber auch die dadurch gegebene — in ihren qualitativen Auswirkungen noch gar nicht recht studierte — 58

quantitative Vermehrung von Kunstgenuß zwingen zur Überlegung über die besonderen Aufgaben und Methoden der Literatur. Christa Wolf, die das Problem differenziert untersuchte, notiert, daß sich durch die genannten Entwicklungen auch verändert, was überhaupt Gegenstand der Literatur, ihre Wirklichkeit sein kann: „Der Kuchen ,Wirklichkeit', von dem der Prosaschreiber sich früher in aller Seelenruhe Stück für Stück abschnitt, ist aufgeteilt." 34 Es scheint, als werde ein Prozeß fortgeführt, der das Spezifische der Literatur erst noch herausläutert. Nicht Annäherung an die anderen Formen und Durchdringung mit ihnen erscheint jetzt als bestimmender Weg, sondern die Herausarbeitung des besonderen Anteils, den Literatur in der gesellschaftlichen Bewußtseinsbildung leisten kann. Ihre unersetzbare Rolle wird gesucht — und indem sie in der kollektiven Verständigung über das Leben der Leute, die Welterfahrung der Individuen gesehen wird, erscheint auch der alte Streit über Autonomie oder Heteronomie aufgehoben im Selbstverständnis einer Literatur, die sich als gesellschaftliches Instrument versteht, sich aber als besonderes Instrument weiß, die Genuß und Produktivität, Spiel und Nützlichkeit zu vereinen strebt. Innerhalb dieser größeren Einheit aber gibt es — und das gehört wesensmäßig ihr zu — erhebliche Unterschiede. In der Differenzierung nun findet der Streit um die Bestimmung der Funktion seine Fortsetzung. An zwei Positionen sei dies noch etwas ausführlicher angedeutet. Christa Wolf zum Beispiel setzt einen entschiedenen Akzent auf den Beitrag der Literatur, vor allem der Prosa zur Differenzierung der Menschen, zur Bildung des Eigenen der Persönlichkeit. An der Darstellung von Möglichkeiten, auf menschliche Weise zu existieren, können wir vergleichende Erkenntnisse gewinnen, wir können uns und andere neu und unter dem Gesichtspunkt der Produktivität sehen. Prosa ist Übermittlung von eigener Erfahrung, die Mut macht zu eigener Erfahrung, sie ist ein „Mittel, Zukunft in die Gegenwart hinein vorzuschieben, und zwar im einzelnen" 35 . Sie ist ein Weg, in das Innere der Menschen einzudringen, ihn zu aktivieren, ohne ihn zu vergewaltigen. Und die vorgeschlagene Struktur dieser Prosa entspricht dieser Intention: nah gerückte Erzählweise 59

mit phantastischer Genauigkeit; keine Fabelmechanik, in der Figuren durch Raum und Zeit geführt werden als unverrückbare Koordinaten; bewußte Handhabung einer Koordinate der Tiefe, der Zeitgenossenschaft, des Engagements, einer Koordinate, die für Christa Wolf allein der mitsprechende Erzähler hergibt. In diesen Gedankengängen hat die Rolle der Literatur einen ganz bestimmten Ansatzpunkt beim Leser, man könnte ihn mit den Worten der Autorin, als den „Kern der Persönlichkeit" 3 6 charakterisieren. Ganz anders bestimmt Volker Braun diesen Ansatzpunkt. Man könnte ihn — wieder mit der Vereinfachung, die solche herausgehobene Definition mit sich bringt — als politisch orientiertes Geschichtsbewußtsein kennzeichnen. Die Wahl solcher Ansatzpunkte muß wichtiger Gegenstand der Funktionsanalyse sein: Sie zeigen klar auf Funktionsintentionen und, wenn sie in Struktur umschlagen, auf besondere Leistungsfähigkeiten der jeweiligen Literatur. Deshalb ist zu präzisieren. Die von Braun gewollte Bildung politisch orientierten Geschichtsbewußtseins ist in ihrer Richtung auf die große geschichtliche Bewegung und in ihrer Weite von den Möglichkeiten der neuen Gesellschaft und ihres Entwicklungsstandes bestimmt. Es geht der Dichtung, sagt der Autor, „nicht mehr um Menschen, die sich f ü r d e n e i n e n Z w e c k erheben, nicht mehr um diese eine beschränkte Funktion der Klasse, die Aufrüttelung, Agitation brauchte. Es geht um die arbeitenden, planenden, genießenden Leute in ihrem umfänglichen Kampf mit der Natur, vor allem ihrer eignen, der sozialistischen Gesellschaft." 37 Der strukturelle Hauptzug dieser Art von Dichtung zeigt das Bestreben, das Leben der Leute als unabgeschlossenen Geschichtsprozeß zu zeigen, als das, was wir mit uns machen, die Widersprüche als produktiv und den Menschen als den, der seine Umstände bildet. Es geht dabei um die kollektiven Möglichkeiten, es geht um eine poetische Arbeit, die sich auf die Produktivität jenes Verhaltens richtet, das die Praxis der Gesellschaft als revolutionären Prozeß befördert. Es geht, so heißt es, um eine Kunst, die fröhlich das Bewußtsein ausbildet, ein „verabredeter Vorgang" 3 8 zu sein, der ein öffentliches Proben gesellschaftlicher Lösungen erlaubt. 60

Bei diesen Unterschieden handelt es sich nicht nur um verschiedene „Handschriften", wie mitunter verharmlosend gesagt wird, sondern um die Verschiedenheit weltanschaulichpoetischer Konzeptionen, um die Verschiedenheit auch des Bildes von der Wirklichkeit und der Vorstellungen vom Weg ihrer Veränderung. Gerade dies steht zur Diskussion. Soll die Wissenschaft die damit gesetzte Verschiedenheit in der Ausprägung sozialistischer Literaturfunktion zur Harmonie vereinigen? Gerade in ihrer Widersprüchlichkeit liegt ein produktives Moment. Soll die Theorie die Widersprüche lösen? Nicht sie, die Geschichte und der sich in ihr vollziehende Verständigungsprozeß ist der Gesetzgeber der Gültigkeit der Vorschläge. Soll die Kritik sich schon mit der Vielfalt beruhigen? Sie hat selbst eine Rolle in dem Austausch von Erfahrungen durch Literatur. Sie hat in den Verständigungsprozeß einzutreten und nicht neben ihm zu stehen. Und sie kann produktiv werden, wenn sie geschichtliche und internationale Erfahrungen zu Wort bringt, wenn sie die Kriterien heraushebt, die den Wert literarischer Leistungen heute bestimmen: Realismus, Illusionslosigkeit im Blick auf die Wirklichkeit und Entfaltung der produktiven Kräfte der Menschen.

Nikolai K . Gej

Ästhetische Aktivität der Kunst

V o n der Funktion der Kunst in der heutigen Welt zu sprechen heißt, von ihrem Wesen, ihrem ästhetischen Charakter zu sprechen. Kunst verfügte stets über gesellschaftliche, soziale und ideologische Aktivität. Schumann verglich — im Zusammenhang mit der Musik von Chopin — nicht von ungefähr K u n s t mit unter Blumen eingesenkten Kanonen. 1 Aber erst die marxistische Ästhetik legte tatsächlich den gesellschaftlichen Charakter der Kunst bloß und begründete dementsprechend ihre gesellschaftliche Aufgabe. Auf die innere Beziehung von Wesen und Bestimmung der K u n s t wiesen in Deutschland Goethe und in Rußland Puschkin hin. Belinski definierte sehr exakt das Wesentliche im Schaffen Puschkins: das k ü n s t l e r i s c h e P a t h o s . An G o g o l s Werk hob er — ihm gemäß — das s o z i a l e P a t h o s hervor. Dabei war sich der Kritiker im klaren, daß das wahrhaft Künstlerische ohne das Soziale und das Soziale in der K u n s t ohne das Künstlerische undenkbar sind. Aber gerade im Rahmen der Wechselbeziehung dieser beiden Elemente spitzte sich der Antagonismus zwischen den Anhängern der „reinen" und der „engagierten" K u n s t aufs heftigste zu. Auch der „engagierten", „aktiven" K u n s t blieb ohne ein wirkliches Verstehen ihres ästhetischen Wesens im Grunde nur Popularisieren von Erkenntnissen, die bereits auf anderen Gebieten des gesellschaftlichen Bewußtseins gesammelt wurden. Wenden wir uns in diesem Zusammenhang wieder dem metaphorischen Bild Schumanns z u : K u n s t als unter Blumen eingesenkte Kanonen. Gemeint ist hier nicht eine Verbindung 62

von Kraft und Schönheit (eine Verbindung, die mittels der Konjunktion „und" charakterisierbar wäre). Es soll vielmehr ausgedrückt werden, daß Schönheit oder das Schöne eine reale Kraft ist, ohne die die Kunst nicht möglich ist. Künstlerische Synthese setzt die feste Einheit von subjektiver, emotionaler, wertender Seite und objektivem Inhalt voraus. In dieser Einheit liegt das Wesen des ästhetischen Charakters der Kunst, und in dieser Einheit realisiert sich die ideelle Tendenz eines Werkes, seine ganzheitliche Weltauffassung. Infolgedessen gewinnt die Frage nach den ideologischen und ästhetischen Kriterien der heutigen Kunst, ihrer aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und an den ideologischen Auseinandersetzungen unserer Zeit außergewöhnliche Bedeutung, ohne daß dabei das ästhetische Wesen und die künstlerische Spezifik bildhaften Denkens unterschätzt werden dürfen. Künstlerischer Synthese liegt die Einheit von Wahrheit und Ideal zugrunde. Eine gegenseitige Durchdringung von Leben und Traum ist auf die Aktivität bildhaften Denkens als Selbstverwirklichung gerichtet. Wahrhafte Kunst heißt nichts anderes als die Beziehungen von Mensch und Welt zu erfassen, die besten menschlichen Möglichkeiten in der Welt zu realisieren. Ästhetische Aktivität ist keine Begleiteigenschaft der Kunst unter anderen, sondern das, wodurch das künstlerische Abbild auf das Ziel gerichtet wird. Wird das nicht begriffen, werden in der Kunst immer nur einzelne Eigenschaften, Qualitäten und Funktionen charakterisiert, ohne das notwendige Verständnis für das innere Wesen der untersuchten Erscheinung, für die historische Einheit der gesellschaftlichen, sozialen und ideologischen U r s a c h e n , die das Werk eines Schriftstellers hervorbrachten, und der gesellschaftlichen, sozialen und ideologischen Z i e l e , denen es objektiv dient. Deshalb ist es so wichtig, p l u r a l i s t i s c h e s Herangehen an das Funktionieren der Kunst und p o l y f u n k t i o n a l e Kunstauffassung voneinander abzugrenzen. Ersteres nimmt einfach die Menge, die mechanische Summe verschiedener Erscheinungsformen von Kunst an; das zweite setzt die unbedingte innere Einheit und Übereinstimmung dieser Erscheinungs63

formen, ihre feste Verankerung im ästhetischen Charakter, im künstlerischen Wesen der Kunst voraus. Das pluralistische Herangehen soll die verschiedensten Seiten des Kunstschaffens als dessen Hauptfunktion hervorheben, und die Aufzählung dieser Funktionen kann bis ins Unendliche fortgesetzt werden. Gewöhnlich werden in derartigen Aufzählungen die ideologische, gnoseologische, ethisch-erzieherische und ästhetische Funktion der Kunst genannt, aber auch die kommunikative, modellierende, emotionale, hedonistische, wertende, axiologische, heuristische, aufklärerische, Spiel- und Gebrauchsfunktion usw. Universalität der Kunst wird hierbei als Summe pluralistisch aufgezählter Komponenten begriffen. Wirklicher Universalismus der Kunst ist jedoch in der m o n i s t i s c h e n Auffassung ihres Charakters und Wesens enthalten. In diesem Zusammenhang sei auf berechtigte Einwände sowjetischer Wissenschaftler gegen eine A l t e r n a t i v b e t r a c h t u n g der Kunst verwiesen. Kunst wird danach entweder nur als gesellschaftliches Bewußtsein oder nur als Schöpfertum, entweder als Widerspiegelung des Lebens oder nur als dessen Neuschaffung betrachtet. Relikte eines solchen „disjunktiven" Vorgehens machen sich immer noch bemerkbar, wenn über den gnoseologischen und sozialen oder den künstlerischen und ideologischen Charakter der Kunst geschrieben wird. Dabei verbindet die Konjunktion „und" in der Regel nicht, sondern trennt wichtige Seiten der gleichen bildhaften Widerspiegelung und Erfassung des Lebens. In der Folge beginnt das einheitliche Wesen der Kunst sich zu spalten, zu vervielfältigen und verliert jede Bestimmtheit. Der Marxismus sieht die U n i v e r s a l i t ä t des gesellschaftlichen Funktionierens der Kunst in ihrer ästhetischen Einheit. Der ästhetische Monismus der Kunst beruht in erster Linie auf der künstlerischen Synthese, dieser grundlegenden Eigenschaft künstlerischer Widerspiegelung, Erfassung und Wertung des Lebens. Aus dem Gesagten wird ersichtlich, daß das Prinzip der ästhetischen Aktivität der Kunst m o n i s t i s c h ist. In diesem Prinzip wird die Vielfalt der Kunstfunktionen in einer bestimmten inneren Einheit und organischen Wechselwirkung 64

realisiert. Daraus resultiert unter anderem, daß in der Epoche heftigster ideologischer Auseinandersetzung auch der sog. „reinen Kunst" eine bestimmte gesellschaftliche und künstlerische Tendenz eigen ist. Jede „über den Dingen" stehende Position hat einen bestimmten Sinn, abhängig vom historischen Kontext und von dem im Werk realisierten Standort des Schriftstellers. Bekannt sind die Äußerungen Th. Manns, Faulkners, Hemingways, G. Greenes und vieler anderer zu diesem Problem. Selbst existentialistische und abstraktionistische Schriftsteller und Theoretiker der modernen Kunst wie Th. Adorno und H. Read waren gezwungen, die These von der Zielgerichtetheit des Kunstschaffens in der geteilten Welt anzuerkennen. Hierbei wird jedoch die subjektivistische oder die antihistorische Ansicht von der Autonomie der Kunst oft bald sichtbar. Kunst ist nicht schlechthin Waffe im gesellschaftlichen Kampf, sondern selbst gesellschaftlicher Kampf, der in der Welt vor sich geht. Dies wird zu einem notwendigen Moment der zeitgenössischen Kunst. Aus diesem Zusammenhang leitet die bürgerliche Ästhetik fast immer die Theorie der Mythenschöpfung ab; sie stellt das Z i e l des Kunstschaffens der W a h r h e i t in der Kunst gegenüber. Der amerikanische Literaturwissenschaftler R. Wellek behauptet, daß „eine absolut wahrheitsgetreue Darstellung der Realität jedwede Art sozialer Tendenz ausschließe". 2 Solche Gedanken finden sich abgewandelt auch bei G. Lukäcs und E. Fischer, die Wirklichkeitserfassung und Ideologie gegenüberstellen. Von einem solchen Dualismus ausgehend, werfen die Kritiker des sozialistischen Realismus den sozialistischen Schriftstellern tendenziöse Darstellung des Lebens vor. Lenin schrieb jedoch, daß im Marxismus e c h t e s Verständnis der historischen Gesetzmäßigkeiten einer Epoche und z i e l g e r i c h t e t e r Ausdruck der revolutionären Energie des Proletariats auf h e r v o r r a g e n d e Weise vereinigt sind. 3 Auf diesem grundlegenden Postulat des Marxismus basiert Lenins Theorie von der Parteilichkeit der Literatur. Die Gegner des Sozialismus sind bemüht, Parteilichkeit der Literatur von wahrhafter Darstellung des Lebens zu trennen. Lenins Auffassung von der Parteilichkeit der Literatur stellte 5

Funktion

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stets die gnoseologische Tendenz der Kunst und das Prinzip ihrer ideologischen Tendenz in direkten, wechselseitigen Zusammenhang. E s ist selbstverständlich, daß sich W a h r h e i t und T e n d e n z hierbei als unabdingbare Seiten eines einheitlichen Ganzen erweisen. 4 Die Unterschätzung des ästhetischen Wesens der K u n s t führt zu Ansichten, die denen Kautskys ähnlich sind, der meinte, daß der Künstler eine von einem Denker entdeckte Idee zu entlehnen und ihr eine anschaulichere und anziehendere Form zu verleihen habe. Aber der eigentliche Wesenskern der K u n s t besteht gerade darin, daß der Schriftsteller, auch wenn er von vorhandenen Wahrheiten und Ideen ausgeht, sie für seine künstlerische Welt e n t d e c k e n muß. Andernfalls wird das Prinzip des künstlerischen Schaffens von Illusionismus, Imitation und Illustrationismus verdrängt. Die marxistische Literaturwissenschaft hat die A u f g a b e , allseitig die Einheit von w a h r h a f t e r und z i e l g e r i c h t e t e r Widerspiegelung und Erfassung des Lebens darzustellen. In diesem Zusammenhang muß auch auf eine andere für das Herangehen an die K u n s t notwendige Einheit Bezug genommen werden, der dasselbe Prinzip des Monismus in der Auffassung v o m ästhetischen Wesen der K u n s t zugrunde liegt. E s gibt eine Reihe von Arbeiten, in denen Lenins Feststellung, daß Tolstoi seine Epoche als „einen Schritt vorwärts in der künstlerischen Entwicklung der gesamten Menschheit" 5 gezeigt habe, losgelöst vom Kontext dieser Äußerung verwendet wird. Das führt dazu, daß der o b j e k t i v e I n h a l t in Tolstois Werk, der G e g e n s t a n d künstlerischer Darstellung selbst übermäßig und einseitig hervorgehoben wird. Eine solche Auffassung entsteht, wenn das genannte Zitat einseitig benutzt und von der ganzen, nicht aufspaltbaren Aussage Lenins getrennt wird, wonach der Epochencharakter in den Romanen Tolstois dank der genialen Beleuchtung durch den Schriftsteller 6 aufgedeckt wurde. Diese Auffassung entzieht den zahlreichen Realismuskonzeptionen den Boden, die sich auf das Prinzip des „Diktats der Wirklichkeit" gründen. In unserer Ästhetik und Literaturwissenschaft werden die Probleme „geniale Beleuchtung" des Lebens und „künstlerische K r a f t " des Schaffens, von denen bei Lenin die Rede ist, nicht 66

immer in der ganzen Breite ihrer Beziehungen zu anderen Momenten künstlerischer Aneignung der zeitgenössischen Epoche gefaßt. Die ästhetische Aktivität und gesellschaftliche Relevanz der zeitgenössischen Kunst aufzudecken, ist eine notwendige A u f g a b e der Literaturwissenschaft. Auf einem Treffen sowjetischer und italienischer Literaturschaffender in Bologna (1973) wurde von einigen italienischen Kollegen die bedingungslose These „Weg mit dem Schaman e n ! " vorgebracht. Diese These sollte vielleicht eine Kritik an der idealistischen Auffassung zum Ausdruck bringen, dem Dichter sei eine göttliche Gabe der Weissagung verliehen. Vor allem kommt in diesem Aufruf aber ein Mißtrauensvotum an die K u n s t als solche zum A u s d r u c k ; künstlerisches Abbild und ästhetische Illusion werden gleichgesetzt. An die Stelle des Kunstschaffens als angeblich illusorische Lösung der Lebensprobleme sollen unmittelbare Aktionen und Reaktionen der Teilnehmer und Zeugen der Geschehnisse treten; darin wird die reale Aktivität heutigen Denkens gesehen. Eingeschlossen ist die Auffassung, daß das berufsmäßige Kunstschaffen seinen Platz an die unmittelbare und sogar instinktive Tat der Massen abtrete, die in ihrer Gewalt der des Hungers gleichkomme. Diese Absichten kennzeichnen heute das tiefe Mißtrauen gegenüber dem ästhetischen Wesen der Kunst. Das Ästhetische — so heißt es — führt w e g von der Wahrheit des Lebens, von der aktuellen Lösung realer Fragen. Hinter dem Nebelschleier dieser Theorien überflutet und betäubt die „Massenliteratur" das Bewußtsein von Millionen Menschen. Indem die Pseudokunst die Massen erfaßt, festigt sie neben der sozialen Entfremdung des Menschen im Kapitalismus gleichsam seine intellektuelle Entfremdung von wirklichen kulturellen Werten und erweist sich als antihumanistische Kraft. Doch wirkliche Kunst widersprach noch immer jeder menschlichen Entfremdung und forderte und verwirklichte ihre v e r m e n s c h lichende Funktion. Einen der größten Schäden fügte die bürgerliche Ideologie der zeitgenössischen Kunst nicht nur hinsichtlich des ideellen und ästhetischen Gehalts zu, sondern auch im Bereich der ethischen Ideale. Wirkliche Kunst gründete sich auf die Einheit von „Schönem" und „Gutem", von ästhetischen und 5*

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ethischen Idealen. Die Kunst des kritischen Realismus, und auch der sozialistische Realismus, vertreten die innere Einheit ideeller, ethischer und ästhetischer Elemente im Kunstschaffen. Hier konnten die zunehmenden antihumanistischen Tendenzen der bürgerlichen Ideologie am wenigsten ausrichten. Der Ernst der auf diesem Gebiet entstandenen Lage ist heute jedoch offensichtlich. Wohin die Methodologie des Aufspaltens von Gnoseologie und Ethik in der modernen Zivilisation führt, zeigt Albert Schweitzer in seinem Buch Kultur und Ethik. Der berühmte humanistische Schriftsteller und Gelehrte verteidigt o die tiefen inneren Beziehungen zwischen philosophischer Wahrheitsauffassung und ethischem Gehalt der Kultur. Schweitzer meint, daß die Krise der modernen bürgerlichen Zivilisation durch ein ständiges Abrücken der wissenschaftlichen Wahrheiten vom menschlichen Inhalt unserer Kenntnisse, von deren Bezug auf den Menschen selbst charakterisiert wird. Schweitzer, der in seiner Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft einem abstrakten Humanismus und in vielem einem naiven Positivismus verhaftet blieb, wies anhand eines breiten Belegmaterials auf sehr ernste und gefährliche Prozesse hin, die in der Welt vor sich gehen. In diesem Zusammenhang wird der Hinweis von Marx, daß dem Menschen in der Gesellschaft die gegenständliche Wirklichkeit zur menschlichen Wirklichkeit wird, für die marxistische Ideologie methodologisch äußerst wichtig. Ohne dieses Prinzip büßt die Frage nach dem objektiven Inhalt von Wissenschaft und Kunst jede praktische Bedeutung ein, sie wird zur Abstraktion ohne aktuellen Sinn. Spricht man über die inneren Beziehungen von Ethischem und Ästhetischem in der Kunst, so wäre es jedoch unfruchtbar, diese Komponenten einfach gleichzusetzen, als seien das „Gute" und das „Schöne" oder „Schönheit" und „Wahrheit" nur zwei Arten, ein und dasselbe auszudrücken. Die reale Dialektik von Wahrem und Gutem ist komplizierter als eine solche Angleichung und Identifikation. Die Schwierigkeit, die tiefe innere Verflechtung von Ethischem und Ästhetischem zu zeigen, besteht darin, daß man ihren Zusammenhang und ihre relative Eigenständigkeit zu sehen vermag. 68

Hegel stellte zu seiner Zeit die These vom Pathos der Kunst als einem hauptsächlich wirksamen Faktor 7 ihrer ästhetischen Aktivität auf. Heute geht es darum, diese ästhetische Kategorie der Kunst, in der die Trennung von Widerspiegelung und Ausdruck der Wahrheit aufgehoben wird, materialistisch zu interpretieren. Deshalb sprechen wir nicht von Pathetik oder Rhetorik, sondern eben vom besonderen Impuls ideell-emotionaler Tendenz, der das künstlerische Ganze organisiert. Das Pathos der Kunst des sozialistischen Realismus theoretisch auszuarbeiten, ist eine zwingende Aufgabe der Kunstwissenschaft, ebenso wie die praktische Realisierung dieser Eigenschaft der Kunst im Werk Aufgabe des Künstlers ist.

Dietrich Sommer

Zum Begriff der gesellschaftlichen Funktion der Literatur

Viele Arbeiten über die Funktion der Literatur leiden darunter, daß bestimmte ästhetische Eigenschaften oder Wirkungsmöglichkeiten einfach als Funktionen bezeichnet werden. Dagegen wäre wenig einzuwenden, wenn die jeweilige Funktionsebene genauer bestimmt und von nebengeordneten, über- und untergeordneten Funktionsmöglichkeiten abgegrenzt werden würde. Dies sollte in der Ausrichtung auf die allgemeine gesellschaftliche Funktion geschehen, die die Literatur jeweils innerhalb historisch-konkreter Wechselbeziehungen zwischen den Produktionsverhältnissen und a l l e n Arten des gesellschaftlichen Bewußtseins besitzt. Von diesen dialektischen Wechselbeziehungen werden alle denkbaren Funktionen, auch diejenigen, die M. Kagan als Vielfunktionensystem behandelt, modifiziert. Dem Begriff der gesellschaftlichen Funktion der Literatur in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft liegt die Frage zugrunde, wie die literarischen Werke, die literarischen Gattungen, Strömungen, Richtungen und die gesellschaftliche Literaturkommunikation für die erweiterte Reproduktion der sozialistischen Gesellschaft wirken und was sie im geistigen Reproduktionsprozeß leisten. Literatur wäre demnach nicht als Summe literarischer W e r k e aufzufassen, sondern als ein System gesellschaftlicher Beziehungen zwischen Autoren der Vergangenheit und der Gegenwart, den entsprechenden Werken und den Lesern; ferner als gesellschaftliche Verständigung über Literaturprobleme sowie als Beziehungen, die durch die Literaturpolitik, über die Medien, die Literaturdistribution und die entsprechenden gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen sowohl materiell als auch ideolo70

gisch beeinflußt und gestaltet werden. Die gesellschaftliche Funktion der Literatur kann also nicht nur in Erscheinungen, Vorstellungen und Begriffen erfaßt werden, die aus der Literatur gewonnen worden sind, wenngleich nicht weniger klar ist, daß die Literatur ihre Leistungen eben als Literatur zu vollbringen hat. Zu unterscheiden ist ferner zwischen dem subjektiven Funktionsverständnis, das Schriftsteller über ihr Schaffen oder über die Literatur schlechthin geltend machen, und der objektiven Funktion, welche die Literatur in einer bestimmten Epoche und innerhalb konkreter Klassenbeziehungen tatsächlich wahrnimmt. Dies ist nicht ganz einfach zu bestimmen, weil die Klassengesellschaft, besonders der Kapitalismus, kein einheitliches gesellschaftliches Bewußtsein hervorbringt, so daß die Funktionsbestimmungen auf sehr eingehende Analysen und historische Untersuchungen angewiesen sind. Denn in der Klassengesellschaft gibt es stets Literaturbewegungen, die die jeweilige Gesellschaft in widersprüchlicher Übereinstimmung mit bestimmten Klasseninteressen bewußt oder unbewußt ideologisch rechtfertigen, aber stets auch andere, die den geistigen Reproduktionsprozeß der Gesellschaft stören, ganz zu schweigen von den vielen Ubergängen und Nuancen, die zwischen apologetischen und revolutionär-kritischen Funktionen vorhanden sind. Hinzu kommt, daß im Imperialismus auch die kritisch-aggressiv eingestellten literarischen Werke dank dem Wirken der manipulierten, formierten oder auch pluralistischen Literaturkommunikation ideologisch entschärft werden können. Die Störung der imperialistischen Reproduktionsprozesse bleibt begrenzt, solange sich die kritisch eingestellte Literatur nicht zu einem revolutionärkritischen Funktionsverständnis erhebt. Dies Funktionsverständnis kann nur in dem Maße objektiv wirksam werden, in dem sich die Literatur mit den antiimperialistischen und revolutionären Massenbewegungen verbindet, in dem sie deren soziale und ideologische Interessen sprechen läßt. Dank dem hohen Vergesellschaftungsgrad der sozialistischen Reproduktionsprozesse und deren Freiheit von antagonistischen Widersprüchen entwickelt sich die sozialistischrealistische Literatur in vielfältigen gesellschaftlichen Be71

Ziehungen, die den Gebrauchswert der Literatur für die Gesellschafts- und Persönlichkeitsentwicklung zur Geltung bringen. Dem entspricht der ästhetische Sachverhalt, daß sozialistische Literatur mehr und mehr auf Gegenstände ausgeht, die für die gesamte Gesellschaft bedeutsam sind und für die gesamte Gesellschaft der Möglichkeit nach angeeignet werden können, ganz im Unterschied zur bürgerlichen Literatur, deren ästhetische Qualität selbst in den Spitzenleistungen stets erkauft wird durch den gewollten und ungewollten Verzicht auf eine weite soziale Kommunizierbarkeit. Der Beitrag, den die Literatur zur Intensivierung der geistigen Reproduktion unserer Gesellschaft leistet, ist an Eigenarten dieser Art des gesellschaftlichen Bewußtseins geknüpft. Sie bestehen vor allem darin, daß sich die literarische Aneignung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, gesellschaftlicher Fähigkeiten, Vermögen und Beziehungen dank den spezifischen Gegenständen und Darstellungsformen als die Aneignung s u b j e k t i v e r Eigenschaften, Werte und Kräfte vollzieht, und zwar sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption. Diese Reproduktionsfunktion schließt die erweiterte Reproduktion der sozialistischen Individuen ein. Die Literatur trägt im Sozialismus dazu bei, die Entwicklung menschlich-gesellschaftlicher Beziehungen, Einstellungen und Verhaltensweisen zu bilden und übrigens auch zu kontrollieren. Indem die Literatur schöpferische Bedürfnisse und Interessen befriedigt und entwickelt, kann sie mit ihren Mitteln das gesellschaftliche Leben, die gesellschaftlichen Beziehungen und das individuelle Dasein als beherrschbar, als veränderbar erleben lassen. Der VIII. Parteitag der SED hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß der sozialistische Status des Künstlers, daß die wachsende Interessiertheit und der zunehmende Bedürfnisreichtum der Werktätigen, daß die Verantwortung der gesamten Gesellschaft für die Kunstentwicklung und die politische Verantwortung der Künstler einander bedingen und stimulieren. Die gesellschaftliche Funktion der Literatur ist aber nicht nur im nationalen, sondern auch im internationalen Maßstab zu beurteilen. Die sozialistisch-realistische Literatur fördert dank ihren bewußtseins- und persönlichkeitsbildenden Wir72

kungen den Prozeß der internationalen sozialistischen Integration und unterstützt die politische und ideologische Offensive des Sozialismus. Hieraus ergeben sich aktuelle Literaturprobleme. Die ideologische Förderung von Prozessen der sozialistischen Integration kann sich nicht darauf beschränken, den Anteil von Kunstwerken aus der Sowjetunion und aus den anderen sozialistischen Ländern an der gesellschaftlichen Kunstkommunikation zu erhöhen. Über die Kenntnisnahme und den Austausch von Kunstwerken hinaus kommt es darauf an, in der eigenen Literaturproduktion das Integrationserlebnis zu einem bis ins Unwillkürliche reichenden Element der ästhetischen Aneignung werden zu lassen. Das hat Konsequenzen für die ideologische Einstellung und für den weltanschaulichen Horizont der Schriftsteller und vor allem für die als wirklich gestalteten geistigen und praktischen Beziehungen der literarischen Figuren zu Problemen in den Bruderländern und zu den weltweiten Klassenkämpfen, die als subjektiv bedeutsam sowohl für die Figuren als auch für die Leser darzustellen sind. Im übrigen ist zu unterscheiden zwischen der gesellschaftlichen Funktion der sozialistisch-realistischen Literatur und der Funktion der nichtsozialistischen demokratisch-humanistischen Literatur der Vergangenheit und der Gegenwart. Denn unsere Leser bevorzugen und rezipieren, wie unsere soziologischen Befragungen u. a. ergeben, in unterschiedlicher Verteilung verschiedene literarische Strömungen. Alle Zahlen weisen darauf hin, daß die sozialistisch-realistische Literatur erwartungsgemäß eine zentrale Interessenposition behauptet, daß es sich jedoch um ein Zentrum innerhalb verzweigter Einstellungen handelt. Die prononcierte Bevorzugung der sozialistisch-realistischen Literatur korrespondiert mit Bevorzugungen der fortschrittlichen bürgerlichen Literatur und weist zusammen mit einer insgesamt recht positiven Einstellung zum Erbe darauf hin, daß sich die Bevorzugungsverhältnisse überschneiden und sehr differenzierte Interessen widerspiegeln. Die Gesamtheit der rezipierten Literatur wirkt also als widersprüchliche Einheit vieler Gattungen, Werke und Strömungen. Deren Integration in die sozialistische Bewußtseinsbildung 73

vollzieht sich in dem Maße erfolgreich, in dem die Leser in ihrer Arbeitstätigkeit und in der gesellschaftlichen Praxis an der materiellen und geistigen Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft teilnehmen. Aber auch die Qualität der sozialistischen Literatur und das Niveau ihrer Rezeption entscheiden mit über die Persönlichkeits- und bewußtseinsbildende Verarbeitung a l l e r rezipierten Kunstwerke. Die wirklich führende Rolle der sozialistischen Kunst der D D R , der Sowjetunion und der sozialistischen Bruderländer und die sozialistische Einstellung zur humanistischen Literatur der Vergangenheit und der Gegenwart tragen in ihrem Zusammenwirken dazu bei, das Bewußtsein von den objektiven Erfordernissen, von den gesellschaftlichen Zielen und von den großen subjektiven Möglichkeiten sozialistischer Menschen als Ergebnisse und treibende Kräfte der Weltentwicklung zu fördern. Die gesellschaftliche Funktion der Literatur geht schließlich aus dem Verhältnis von Künstler, Kunstwerk und Publikum hervor. Denn das potentielle Publikum existiert im Bewußtsein des Künstlers und — beim sozialistischen Schriftsteller — mehr und mehr auch im Sinne eines mitschaffenden Partners. Hierin tritt zutage, daß im Sozialismus die Arbeiterklasse zusammen mit den werktätigen Klassen und Schichten der Bevölkerung gleichermaßen die Eigentümer und die Nutznießer der gesellschaftlichen Produktion und also auch die Auftraggeber, die Adressaten und die Nutzer von Literatur sind. Die sozialistischrealistische Literatur setzt voraus, daß entsprechend der Einheit von Parteilichkeit und Volksverbundenheit das Leserpublikum ohne wesentliche soziale Begrenzung zu denken ist. Tatsächlich und im einzelnen erweisen sich jedoch die Literaturbeziehungen als sozial umrissen und innerhalb der einzelnen Klassen und Schichten unterschiedlich ausgeprägt, wenngleich die Grenzen im Fließen sind. Die Möglichkeiten und Fähigkeiten der ästhetischen bzw. der künstlerischen Aneignung sind sowohl bei Schriftstellern als auch bei den Lesern ungemein differenziert, und zwar in Übereinstimmung mit zahlreichen soziologisch registrierbaren Faktoren, unter denen die konkrete Arbeitstätigkeit, die sozial bedingte Freizeitstruktur und die Bildung eine ausschlaggebende Rolle spielen. Die Einheit von ästhetischem Anspruch, Parteilichkeit und 74

Volkstümlichkeit im Verhältnis von Künstler, Werk und Publikum bleibt eine gesellschaftliche Aufgabe, die immer aufs neue gelöst werden muß. Der hohe Vergesellschaftungsgrad, den der Sozialismus auch im Hinblick auf die Literaturentwicklung hervorbringt und erheischt, zeigt sich schließlich in der wachsenden Bedeutung, die die Kommunikation über Kunstwerke, Kunstprobleme und über die Kunstpolitik im interpersonalen Gespräch, in der Gruppendiskussion in Arbeitsbrigaden, in Studienkollektiven, in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis und darüber hinaus in der öffentlichen Kunstkommunikation beansprucht. In der gesellschaftlichen Kunstkommunikation, in der die individuelle Rezeptionssituation überschritten wird, bildet sich eine gesellschaftliche Atmosphäre von Erwartungen und Bedürfnissen, die für die Produktion und für die Wirkung literarischer Werke von großer Bedeutung ist. Überdies besteht der Vorzug einer lebhaften Kunstkommunikation in den Massenmedien und in den gesellschaftlichen Organisationen darin, daß sie in der kollektiven Verständigung Latentes bewußt macht, zu Vergleichen herausfordert und dadurch übrigens auch die konstruktive Gesellschaftsfunktion der sozialistischen Literatur erleben läßt. Das Bewußtwerden der Gesellschaftsfunktion und des individuellen Gebrauchswertes der Literatur ließ sich in unseren soziologischen Untersuchungen an einer Reihe subjektiver Einstellungen messen, und zwar in Antworten auf Fragen nach der Bedeutung des Lesens in der Freizeit, nach der selbstkritischen Einschätzung des persönlichen Lesequantums im Verhältnis zu den persönlichen Lektürebedürfnissen, ferner nach dem individuellen Buchbesitz, nach den bevorzugten Lesezeitpunkten und schließlich nach dem Einfluß, den literarische Erlebnisse auf das persönliche Leben gehabt haben. Nicht weniger aufschlußreich für die Beurteilung der gesellschaftlichen Funktion der Literatur war die Antwortverteilung auf die Sätze, daß „Literatur und Kunst für die gesellschaftliche Entwicklung ebenso wichtig seien wie Wissenschaft und Technik", daß Kunst und Literatur „helfen können, die Frage: Wie soll man leben? zu beantworten", daß unsere Schriftsteller „bewußt danach streben, durch ihre Werke das Denken 75

und Fühlen der Menschen sozialistisch zu beeinflussen". Die ermittelten Zahlen 1 weisen auf die quantitativen und qualitativen Aspekte der gesellschaftlichen Funktion und auf den massenhaft vorauszusetzenden subjektiven Gebrauchswert der Literatur hin. Die Bedeutung der gesellschaftlichen Literaturkommunikation besteht schließlich darin, daß sie die Wechselwirkungen zwischen individuellen und sozial differenzierten Bewußtseinsvorgängen einerseits und dem gesellschaftlichen Bewußtsein andererseits belebt. In der vermittelten Rückwirkung tragen die sozialistische Literatur und die gesellschaftliche Literaturkommunikation dazu bei, Menschen aller Klassen und Schichten zu veranlassen, ihre Bedürfnisse, Erwartungen und wechselseitigen Beziehungen an ihrem Verhältnis zur Arbeiterklasse als der führenden Klasse zu überprüfen. In den privaten und öffentlichen Literaturdiskussionen zeigt sich immer wieder, daß nicht nur die literarischen Werke selbst, sondern auch die durch sie ausgelösten Vergleiche mit persönlichen Lebens- und Kunsterfahrungen die Menschen bewegen. Gerade in diesem axiologischen Interesse, das sich neben dem Interesse an der „Wahrheit" und „Schönheit" des Dargestellten und der Darstellungsweise zu erkennen gibt, wird der Einfluß deutlich, den die Literatur auf die ideologische Einstellungs- und Verhaltensbildung ausübt. Diese ideologische Wirkung vermittelt zwischen der geistigen und der materiellen Reproduktion der sozialistischen Gesellschaft sowie zwischen der gesellschaftlichen und der individuellen Reproduktion. Es ist klar, daß sich mit dem wachsenden Umfang und der größeren Intensität des ideologischen Klassenkampfes die bewußtseinsbildende Funktion der Literaturkommunikation außerordentlich erhöht. Zusammenfassend wird deutlich, daß die gesellschaftliche Funktion der Literatur in dem Maße wächst, in dem die Arbeiterklasse und die Partei ihren weltanschaulichen und politischen Einfluß auf die Gestaltung der Literaturprozesse geltend machen. Die Notwendigkeit, die Literaturentwicklung zu leiten, ergibt sich aus der gesellschaftlichen Funktion der Literatur selbst. Die sozialistische Literatur ist Ergebnis, Wirkungsfeld und Indikator der sozialistischen Demokratie. 76

Stefan Zölkiewski

Entwicklungstendenzen der polnischen literarischen Kultur zwischen 1918 und 1939 1 1. Die Beschreibung der literarischen Kultur — eines ausgewählten Bereiches der gesellschaftlichen Kommunikation — berührt fast ausschließlich Dinge, die außerhalb des literarischen Textes liegen. Außerhalb des Textes haben wir es mit Sender und Empfänger zu tun — im Unterschied zu jenem Ausgangspunkt, bei dem von Adressant und Adressat, die in den Text „hineingeschrieben" und als entsprechende innertextliche Signale wahrnehmbar sind, gesprochen wird. In unserem Zusammenhang interessieren der Sender als Vertreter einer Berufsgruppe — Schriftsteller —, die eine bestimmte gesellschaftliche Funktion erfüllt, und der Empfänger — Leser — als Teil einer sozial differenzierten Öffentlichkeit. Die literarische Kommunikation in der modernen Gesellschaft ist weiterhin undenkbar ohne Institutionen der Literaturpolitik, ohne Berufsverbände und Institutionen, die der Beteiligung an der literarischen Kultur dienen, ohne das Verlagswesen und den Buchhandel. Die literarische Kommunikation vollzieht sich in bestimmten, sich wiederholenden, für die jeweilige Kultur typischen gesellschaftlichen Kommunikationssituationen, die über das Verhältnis des Empfängers und zumeist auch des Senders zum mitgeteilten Text entscheiden. Die literarische Kommunikation realisiert sich außerdem in differenzierten gesellschaftlichen Umlaufsituationen, in denen jeweils spezifische Texte wirksam sind und in denen die Sender in bestimmten gesellschaftlichen Rollen agieren und die Empfänger selbständige Gruppen der literarischen Öffentlichkeit bilden. Der gesellschaftliche Umlauf von künstlerisch anspruchsvoller Literatur beispielsweise erfolgt auf andere Weise und erreicht einen anderen Personenkreis als der Umlauf von Trivial77

literatur. Die gegenseitigen Einwirkungen, Konflikte und Durchdringungen der verschiedenen Elemente der literarischen Kultur — das gerade sind die Hauptprobleme für die Erklärung ihrer Dynamik in einer nationalen Gemeinschaft. Die Geschichte der literarischen Kultur von 1918 bis 1939, die hier aus der Gesamtheit der Kulturhistorie Polens herausgelöst wird, verlangt zumindest eine punktuelle Erwähnung der gleichzeitigen außerliterarischen Veränderungen in der Kultur. Nach der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit Polens und unter dem weltweiten Einfluß der Oktoberrevolution entwickelten sich die emanzipatorischen und revolutionären Massenbewegungen der Arbeiter und Bauern, wuchs ihre Rolle im gesellschaftlichen Leben und bildeten sich moderne organisierte politische Avantgarden innerhalb dieser Bewegungen heraus. Die Massenbewegungen schufen sich Leitbilder einer Verhaltenskultur; diese erlangten erheblichen gesellschaftlichen Einfluß und hatten Auswirkungen auf Psyche, Haltung und Wertvorstellungen des einzelnen. Solche Verhaltensweisen äußerten sich z. B. in den Streikbewegungen der Arbeiter, Landarbeiter und schließlich auch der Bauern, die zur Überwindung der nach 1918 noch lebendigen und bis 1939 nicht vollständig ausgemerzten Überreste des Feudalismus — sie traten besonders in der Kultur zutage, und der bürgerliche Staat konnte und wollte sie nicht beseitigen — viel beigetragen haben. Die politische Aktivierung der Gesellschaft ging einher mit dem unverkennbaren Bestreben, den aus dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert übernommenen traditionellen Platz der Literatur innerhalb der Gesamtstruktur neu zu bestimmen. Dieser Platz wird zum einen von historisch veränderlichen, teils festeren, teils loseren Verbindungen der produzierenden und rezipierenden literarischen Tätigkeit mit anderen verhältnismäßig selbständigen Bereichen der Kultur bestimmt, zum anderen vom veränderlichen System der Unter- oder Überordnung und schließlich von der Ideologie der Autonomie literarischer Aktivität. Die angedeutete Massenwirksamkeit und Demokratisierung der literarischen Kommunikation verbindet und unterstellt sie der gesellschaftlich-politischen Aktivität, fesselt sie aber auch an den neuentstehenden Massenvergnügungsmarkt und unter-

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wirft sie folglich den Gesetzen von Markt, Profit, Senkung der Selbstkosten und Serienproduktion. Die Ideologie der literarischen Autonomie und der Mythos von der besonderen Führungsfunktion des Künstlers waren jedoch zwischen 1918 und 1939 noch immer überaus lebendig und dominierten letztlich über aktuelle Bestrebungen, die auf eine Veränderung des Platzes der Literatur innerhalb der damaligen Kultur abzielten. Das fand seinen Ausdruck in der parallelen Existenz dreier funktionaler Hauptmodelle des Kunstwerks bzw. der gesamten Literatur: das traditionelle kanonische, das neue politisierte (wesentlich verschieden von dem prophetischen bzw. didaktischen Modell des 19. Jahrhunderts) und das spielerische, das sich die Traditionen der literarischen Unterhaltung aus früheren Jahrhunderten zunutze machte. Voraussetzung für diese Prozesse war die Modernisierung der polnischen literarischen Kultur nach 1918, in deren Ergebnis sich der Massentyp literarischer Kultur ausbildete. Zwar ist es unrichtig, von einem dem 20. Jahrhundert eigenen Stil der Massenkultur zu sprechen — der Stil der Kulturen im 20. Jahrhundert ist in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich. Der Massencharakter der Kultur im 20. Jahrhundert ist allerdings unbestreitbar — insofern darunter der E i n f l u ß b e r e i c h der gesellschaftlich-kulturellen Kommunikation verstanden wird. Der Massencharakter dieser Kommunikation geht mit einer Konzentration der Informationsauswahl und der Übermittlungszentren einher, die sowohl von staatlicher Seite als auch ökonomisch durch eine Zusammenballung der „Informationsindustrie" gesteuert werden kann. Diese Prozesse kennzeichnen auch die polnische literarische Kultur nach 1918. Die rasche Entwicklung der Infrastruktur Polens, der intensive Aufbau der Papierindustrie und der Polygraphie, die Entwicklung des Zeitschriftenwesens, der Verlage und des Buchmarkts sowie des Rundfunks, in bestimmter Hinsicht auch die der Filmindustrie, schufen die Bedingungen für den wachsenden Einfluß und die Modernisierung der polnischen literarischen Kultur. Das hatte für Künstler und Konsumenten nachweisbare anthropologische Folgen und wirkte sich weiterhin in charakteristischen Veränderungen der literarischen Produkte selbst aus. Die K o m -

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munikationsmittel individualisierten und homogenisierten den Aufnahmeprozeß, sie beeinflußten die Verhaltensweisen der Kunstproduzenten und bildeten einen neuartigen Schriftstellertyp für Presse, Funk und Film heran, der häufig nur die Funktion des „literarischen Technikers" ausübte. Die Entwicklung der Kommunikationsmittel beschleunigte die Professionalisierung des Schreibens und hob für den Schriftsteller die ökonomische Notwendigkeit auf, eine zusätzliche, v o m literarischen Beruf verschiedene Tätigkeit auszuüben. Unter dem Einfluß neuartiger Kommunikationsmittel entstanden neue literarische Gattungen, z. B . der Zeitungsroman, das Feuilleton, die Reportage, später das Drehbuch, Hörspiel usw. Die literarische Massenkommunikation, die den Marktzwängen besonders stark ausgesetzt war, verschaffte den spielerischen Formen Vorteile, näherte die Literatur der Unterhaltung an und unterwarf sie sowohl den Marktgesetzen der Massenzerstreuung als auch dem Zwang der v o m rechtsgerichteten Klassenmonopol diktierten Programmgestaltung. Damit waren ernste Bedrohungen für den Stil der literarischen Kultur verbunden, vor allem für den von der engagierten Kultur postulierten, der im K a m p f um gesellschaftlichen Fortschritt Hemmnisse und erstarrte kulturelle Leitbilder beseitigen wollte. Zugleich jedoch dienten die Massenkommunikationsmittel unmittelbar der Demokratisierung der Kultur, der Ausbildung von Informationsbedürfnissen und von gesellschaftlichem Bewußtsein. Ein weiteres wesentliches Merkmal und eine bestimmende Tendenz in der Entwicklung der polnischen literarischen Kultur waren deren Institutionalisierung. Sie war nach 1918, bedingt durch die erlangte Eigenstaatlichkeit, eine neuartige Erscheinung, verknüpft freilich noch mit der polnischen Tradition des 19. Jahrhunderts, die eine nichtkommerzielle, dem K a m p f um die Nation verpflichtete literarische Kultur hervorgebracht hatte. Die skizzierten Kommunikationssituationen hatten die Kulturpolitik, insbesondere die Literaturpolitik, zu realisieren. Das war eine differenzierte Politik des Staates, der Kirche und der großen historischen Gesellschaftsbewegungen. Infolge der öffentlichen Finanzmittel und der Reichweite der staatlichen Kulturinstitutionen (Schulwesen!) 80

war die Politik des Staates dominierend. Der Einfluß der Kirche war immens, obgleich es dem Kletus fast bis zum Ende der Zwischenkriegszeit an einer positiven, der Entwicklung moderner kapitalistischer Gesellschaften angepaßten Konzeption für die kulturelle Entwicklung mangelte. Für die Kulturpolitik lassen sich drei wesentliche Programme unterscheiden, die sich institutionell manifestierten: die Rechte, das Zentrum und die Linke, wobei jede in sich different war. So gehörten zur Rechten nicht allein die Nationalpartei und die christlichen Demokraten, sondern in den dreißiger Jahren auch die Sahacja-Gruppierung. Zum Zentrum gehörten nicht nur die Volkspartei Piast und später die Vereinigte Volkspartei, sondern auch kleinbürgerliche Parteien. Auf Seiten der Linken schließlich finden wir reformistische Kräfte wie Wyzwolenie und die Polnische Sozialistische Partei (PPS), aber auch revolutionäre wie die Kommunistische Partei Polens (KPP) und radikale Bauerngruppierungen. Auch in der Periode des Parlamentarismus (vor Pitsudskis Staatsstreich von 1926) überwogen die Einflüsse der Rechten in der staatlichen Kulturpolitik. Das Bildungswesen war jederzeit in den Händen der Rechten. Auch die SahacjaPolitik war rechts gerichtet, allerdings entsprach sie besser den Erfordernissen der modernen kapitalistischen Entwicklung und des Klassenkampfes gegen die Arbeiterbewegung und gegen die radikalen Bauern. Die Linke befand sich stets in der Opposition, dennoch erzielte sie mittels gesellschaftlicher Institutionen nicht geringe Wirkungen. Die in den dreißiger Jahren zunehmende Radikalisierung der Gesellschaft brachte es zuwege, daß im Bereich der literarischen Kultur diese progressiven Einflüsse nicht nur beibehalten, sondern sogar verstärkt werden konnten. Davon zeugt das Entstehen radikaler Jugendbewegungen — die wesentlichste Quelle für den Zustrom neuer Leser. Diese wiederum beeinflußten mit ihrer Lektüre-Auswahl die Entwicklungsrichtung der literarischen Kultur. So ergab sich eine in zweifacher Beziehung paradoxe Situation: Obwohl die Demokratie im Lande politisch geknebelt war, radikalisierte sich die Entwicklung in ideologischer und künstlerischer Hinsicht. Das 6

Funktion

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Paradoxe bestand weiterhin darin, daß die Kulturinstitutionen der Rechten und der Kirche quantitativ beträchtlich im Vorteil waren und formal einen großen Wirkungsbereich besaßen. Qualitativ dominierten jedoch die Kulturorganisationen der Linken; ihre Trümpfe waren Dynamik und die Fähigkeit, die gesellschaftliche und literarische Kommunikation innerhalb der Nation zu funktionalisieren.

2. Wie sahen die Verhältnisse bei Schriftstellern und Lesern aus ? Für die Schöpfer der polnischen literarischen Kultur war besonders kennzeichnend, daß das Schreiben zur Profession wurde — eine Erscheinung, die es an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in diesem Ausmaß noch nicht gab, die sich erst nach 1918 kontinuierlich, schnell und systematisch ausbildete und soziale und psychologische Folgen hatte. Ende der zwanziger Jahre waren etwa 700 polnische Schriftsteller in verschiedenen, mit Statuten versehenen literarischen Vereinigungen, oft in mehreren gleichzeitig, organisiert. Der Professionalisierungsprozeß der Schriftsteller ging einher mit der schnell und ständig steigenden Tendenz zur beruflichen Organisation. 2 Zu dieser Zeit waren die polnischen Schriftsteller vorwiegend am Umlauf anspruchsvoller Literatur in der Gesellschaft beteiligt. In den dreißiger Jahren jedoch schalteten sie sich — z. T. die gleichen Autoren unter Pseudonym oder auch unter eigenem Namen — immer häufiger in den Umlauf von Trivialliteratur ein; sie schrieben Schlager, Farcen, Unterhaltungsromane und überarbeiteten Melodramen. Auch spezialisierte man sich mehr und mehr auf Serienproduktion: Texte für Fortsetzungsromane in Zeitungen, Gebrauchstexte, Feuilletonbeiträge in Tagesblättern usw. Die Professionalisierung der schriftstellerischen Tätigkeit wirkte sich jedoch nicht durchgreifend auf das vorherrschende kulturelle Rollenverständnis des Schriftstellers aus. Nach wie vor überwog die traditionelle, vom Positivismus und Modernismus geprägte Vorstellung von der Funktion 82

eines Kulturexperten, der zufolge der Schriftsteller die ästhetische Erkenntnisfunktion der Kunst realisierte, indem er in seinen Werken die Vision einer menschlichen Welt entwarf und Kulturmodelle hierarchisierte. Diese Rolle ist verbunden mit der bis heute gängigen modernistischen Ideologie von der Unabhängigkeit künstlerischer Erkenntnis, von der Autonomie und vom autotelischen Status einzelner kultureller Strukturen. Der Schriftsteller als Kulturexperte deckt diese Strukturen auf, geht ihren inneren Mechanismen, ihren Hierarchien nach, weist auf Wechselbeziehungen hin und beurteilt sie; bald verteidigt er ihre Traditionen, bald revidiert er sie mehr oder weniger radikal, indem er ihre Doppelbödigkeit entlarvt, die Masken herunterreißt und die Wahrheit hinter dem Schein sucht. Innerhalb dieser Konzeption von der Rolle des Schriftstellers als eines Kulturexperten wird die schriftstellerische Tätigkeit durch sich selbst gerechtfertigt. Dies fand in vielen Theorien des 20. Jahrhunderts seinen Ausdruck — z. B. sogar bei Lukäcs, der der Kunst über den Klassen stehende Erkenntnismöglichkeiten zuschrieb — und auch in den Praktiken z. B. der Avantgarde, die über die Vervollkommnung der Mittel der literarischen Produktion einen Funktionswandel der Literatur in der Gesellschaft bewirken und die künstlerische Erkenntnis autonom revolutionieren wollten. Die soziale Revolution aber erfordert eine Revolutionierung der gesamten Verhältnisse und nicht nur der Produktionsmittel. Daher gewann nach der Oktoberrevolution die Tendenz zu einer durch die revolutionären Massen und durch die sozialen Befreiungsbewegungen bestimmten Strukturierung der Kultur immer mehr an Bedeutung. Der Schriftsteller gliederte sein Werk und seine schöpferische Tätigkeit in größere Strukturen, in den organisierten politischen Kampf der Massen ein, dessen Kriterien er seine eigenen ideologischen und poetologischen Maßstäbe unterordnet. Es entstand das Muster von der Rolle eines gesellschaftlich aktiven Schriftstellers, der vielfach die Verhaltensweisen eines Mannes des öffentlichen Lebens übernahm. Am stärksten jedoch wurde durch die Professionalisierungsprozesse die soziale Rolle des literarischen Technikers geformt, der häufig in einem Team (z. B. beim Film) und meist auf Be6«

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Stellung arbeitete. In diesen Jahren bildete sich eine ganze Hierarchie von Technikern heraus: von altmodisch-eleganten — durch Bedürfnisse elitärer Zeitungen hervorgerufene, wie Wasylewski — bis zu modernen Meistern literarischer Information in den dreißiger Jahren (wie W a n k o w i c z ) ; von Trivialautoren viktorianischer Romane im Stil der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts (wie die Mniszköwna) bis zu Schriftstellern, die europäischen Normen des Unterhaltungsromans nicht nächstanden (wie Dol^ga-Mostowicz, der in den dreißiger Jahren gemeinsam mit anderen zum ersten Mal in Polen die Produktion für den Umlauf von Trivialliteratur modernisierte). W e n n auch die Bedeutung der professionellen literarischen Techniker im Laufe der Jahre wuchs, so dominierten diese doch nicht innerhalb der literarischen Kultur Polens; da« soziale Prestige behielt der „Schriftsteller als Kulturexperte". Unter ihnen gab es ein quantitatives Gleichgewicht von Schriftstellern, die an traditionellen Formen festhielten, und denen, die diese revidierten. Die zweite Gruppe erfreute sich in den dreißiger Jahren eines höheren Ansehens bei den Belesenen und bisweilen einer größeren Verbreitung. Schließlich aber nahm die soziale Bedeutung des gesellschaftlich aktiven Schriftstellers zu. Die literarischen Techniker spezialisierten sich darauf, das Spielmodell der Literatur entsprechend den Bedürfnissen des Unterhaltungsmarktes zu modernisieren. In Polen nun verstanden es auch die „Schriftsteller als Kulturexperten" und die gesellschaftlich aktiven Schriftsteller, jenes Spielmodell zu sublimieren, das somit Funktionen eines kanonischen bzw. engagierten Modells erfüllen und durch die ihm eigenen Spielmerkmale eine größere W i r k u n g bei den Lesern erlangen konnte. Die dreißiger Jahre sind nicht nur Blütezeit der Unterhaltungsliteratur, Moral- und politischen Satire, sondern ebenso der literarischen Parodie, des politischen oder die Moraltabus attackierenden Liedes. Diese Darstellung vereinfacht allerdings tatsächliche Sachverhalte. Die einzelnen Schriftsteller verbanden nicht nur im individuellen Tätigkeitsbereich häufig verschiedene soziale Rollentypen, indem sie an unterschiedlichen sozialen Litera-

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turumläufen beteiligt waren, sondern realisierten einfach hybride Rollen, indem jeder in die ihm eigene literarische Praxis Elemente und Eigenschaften anderer Rollen einbezog. Von denen, die nur oder hauptsächlich einem Rollentyp zuzuordnen sind, gab es nicht viele. Als markante Beispiele für die „Schriftsteller als Kulturexperten" ist hier auf Berent, Parandowski und Iwaszkiewicz zu verweisen; Nalkowska ist ihnen ähnlich, aber nicht ohne gesellschaftlich aktive Züge; als gesellschaftlich aktive Schriftsteller sind Broniewski, Wandurski, Kruczkowski und Szymariski zu nennen; Beispiele für die literarischen Techniker wurden bereits erwähnt. Die Professionalisierung der Schriftsteller führte — wie angedeutet — auch zu beruflichen Organisationen. Für die zwanziger Jahre kann man drei Typen literarischer Organisationen unterscheiden: situationsbedingte, programmatische und funktionale. Zum ersten Typ gehört die Gruppe Skamander-, sie war auf den Kampf um die Beherrschung des Lesermarktes eingestellt. Gruppen dieser Art waren Programmen gegenüber tolerant und wählten nur der Marktkonkurrenz wegen wichtige Momente einer Gruppenpoetik aus. Die programmatischen Gruppen waren gleichfalls auf den Markt eingestellt — jedoch zum Schutz vor dessen Pressionen und nicht, um ihn zu beherrschen. Sie verfügten in der Regel über eine streng eingehaltene Gruppenpoetik, die parnassisch-klassizistisch, dann mehr avantgardistisch und schließlich „neoklassizistisch" ausgerichtet war. Die Gruppe Zivrotnica ist dafür ein ausgezeichnetes Beispiel. Für den Organisationstyp mit funktionalen Intentionen war eine ideologische Gemeinsamkeit bezeichnend, die über das Literarische hinausging und vorwiegend politisch war. Diese Gruppen beabsichtigten, weder den Literaturmarkt zu erobern, noch sich ihm gegenüber zu behaupten, ihr Interesse war auf den Leser gerichtet, auf dessen Bedürfnisse innerhalb organisierter gesellschaftlicher Aktivitäten, die nicht nur das Lesen betrafen; diese Gruppen verstanden sich im Kontext der Bestrebungen der Bauernund Arbeiterbewegung. Verstärkt treten sie in den dreißiger Jahren auf, wie z. B. Wies — Jej piesn, Noiva Wies oder Vr^edmiescie, aber es gab auch einige schon in den zwanziger Jahren, 85

wie z. B. die Gruppe um den Mlesiqc^nik Uteracki. Alle diese Gruppen fanden sich in der Regel um Zeitschriften zusammen und waren kurzlebig. Zuweilen hörten sie auch auf, als Gruppen zu wirken und überlebten als Mythen, als Namen für bestimmte literarische Richtungen, wie z. B. Skamander in den dreißiger Jahren. 3 Zu Beginn der dreißiger Jahre wurde in Polen der erste Höhepunkt massenhaften Lesens überschritten.4 Neben dem traditionellen Lesepublikum, der Intelligenz, gab es schon damals unter Arbeitern und Bauern eine neue Massenleserschaft. Zugleich aber war in Polen lediglich jeder dreißigste Bürger in der Lage, sich Bücher zu kaufen. Es gelang nicht, die Selbstkosten und die Einzelhandelspreise wesentlich zu senken, obwohl seit Beginn der zwanziger Jahre gezielte Anstrengungen und Versuche unternommen worden waren, Taschenbuchserien auf den Markt zu bringen. Die einzige Lösung war daher der kollektive Käufer: eine gesellschaftlicherzieherisch wirkende Organisation bzw. deren Bibliothek. Über das Schicksal eines Buches entschieden die öffentlichen Bibliotheken, in besonderem Maße die Bibliotheken der Massenbewegungen: der Gewerkschaft und anderer gesellschaftspolitischer Organisationen und deren Einrichtungen für Bildung und Kultur. Diese Institutionalisierung der Rezeptionsbasis ist ein wichtiges Charakteristikum des Publikums in diesem Zeitabschnitt. Der Zirkel, der Vereinsraum und die Volksuniversität — Institutionen, die zur Lektüre anregten — waren der Ausbildung besonderer Lesegewohnheiten förderlich. Anders als die Schule förderten sie nicht die zurückgezogene und stille Lektüre; hier wurde aus den wenigen vorhandenen Büchern laut vorgelesen und darüber diskutiert. Diese Gepflogenheit begünstigte eine andere Art von Literaturauswahl; diese war weniger von individuellen Maßstäben abhängig, sondern stärker von den Erfordernissen organisierter gesellschaftlicher Tätigkeit. Nicht zuletzt daraus ist der Umstand zu erklären, daß in den zwanziger Jahren die Mehrheit polnischer Leser am Umlauf anspruchsvoller Literatur teilhatte. Wenn wir von Lesern sprechen, so meinen wir drei Kategorien: „Nichtzeitungsleser", Zeitungsleser und eigentliche 86

Leser. Die Zahl der erwachsenen „Nichtzeitungsleser" war klein, es war dies eine Kategorie von Lesern ohne die Bedürfnisse des modernen Lesers. Sie benötigten keine aktuelle paraliterarische Information, keine Zeitungsinformation. Sie lasen vielmehr mythologisierte Informationen über große Räuber, berühmte tragische Begebenheiten, Wunder, Ritter, Heilige. Sie wollten jedoch keine Sensationen erfahren, die sich tatsächlich, gestern und gerade hier ereigneten. Es genügte ihnen der Bericht über einen typischen Verbrecher, über Herrn Wisniewski, der in der Koscielna-Straße seine Frau und fünf Kinder erschlug. Überall fand sich ein Herr Wisniewski; überall gab es Koscielna-Straßen; Gründe und Verlauf des Verbrechens waren stereotyp. Zeitungs- und Zeitschriftenleser, die zumindest einmal in der Woche lasen, betrugen Ende der zwanziger Jahre nach einer Schätzung rund 3 Millionen Personen. 5 Diese Leser fungierten teilweise im Umlauf von Trivial- und Schundliteratur und nutzten sporadisch Texte — vornehmlich Fortsetzungsromane —, die in der Presse erschienen. Die Gruppe der eigentlichen Leser, die Ende der zwanziger Jahre mit etwa 700 000 bis 750000 Personen geschätzt werden kann, hat dagegen ausgeprägte Lesegewohnheiten und -bedürfnisse und war zu individuell motivierter Literaturauswahl befähigte. Ihre Zahl erhöhte sich bis 1939 nicht wesentlich. Das Hauptreservoir n e u e r Leser stellten die — vor allem die auf dem Lande tätigen — gesellschaftlichen Jugendorganisationen dar. Diese hatten sich von 1932 bis 1939 fast um das Doppelte vergrößert. Leser aus der Arbeiter- und Bauernklasse — und diese gehörten gewöhnlich zur organisierten Jugend — machten zu Beginn der dreißiger Jahre schätzungsweise etwa 30 Prozent aller eigentlichen Leser in Polen aus. 3. Über die gesellschaftlichen Funktionen literarischer Texte entscheiden ihre syntaktischen, semantischen und pragmatischen Charakteristika. Das erste gibt Aufschluß über die innere Struktur des Textes, über die Verknüpfungen seiner Elemente, das zweite über das Verhältnis der Eigenschaften 87

der Texte zu außertextlichen B e z ü g e n ; das dritte meint das Verhältnis des Senders und besonders des Empfängers zum Text. Die ersten beiden Merkmalsbereiche betreffen Adressant und Adressat des Textes, die virtuell, gewissermaßen in den T e x t hineingeschrieben sind und über textimmanente, die Verhaltensweisen der Leser steuernde Signale dechiffrierbar sind. Der gedachte (virtuelle) Leser ist jemand, der sich so verhält, wie es der Autor vorprogrammiert hat, der dem Leser auch sein eigenes, ebenso im T e x t vorprogrammiertes Bild eingibt. Tatsächlich werden Bücher aber nur teilweise so gelesen, wie es der Autor wünscht und wie es der T e x t signalisiert. Der Leser dechiffriert den T e x t so, daß sein Leseverhalten nicht ausschließlich und nicht hauptsächlich von textimmanenten Signalen gesteuert wird. D i e syntaktischen Merkmale haben stets nur den Charakter textimmanenter Signale. Über die pragmatischen und z. T . auch über die semantischen Merkmale des Textes, über ihre Dechiffrierung entscheiden dagegen erstens neben textimmanenten Signalen auch die soziale Kommunikationssituation, in der der gegebene Text dechiffriert wird; zweitens der der jeweiligen Kultur eigene Vorrat an funktionalen Literaturmodellen; drittens die Eigenheiten des gesellschaftlichen Umlaufs, in dem der gegebene T e x t fungiert. Als Beispiel möge hier das sog. aktualisierende Dechiffrieren klassischer Verse dienen. Man stelle sich vor, daß ein solches Gedicht in der kommunikativen Situation einer leidenschaftlichen gesellschaftlichen Manifestation dechiffriert wird. Die Leser kennen aus ihren Erfahrungen das Modell engagierter Literatur, etwa das der literarischen „Agitka", und unter den vielen, dem Dechiffrieren eines literarischen Textes dienenden Codes bevorzugen sie den aktualisierenden politischen Code. Dabei vollzieht sich diese Lektüre im gesellschaftlichen Umlauf unter einem Publikum, das informationsreicher Texte kundig ist, nicht aber im Umlauf armseliger Texte von Schund- oder relikthafter Jahrmarktsliteratur. Das komplizierte außertextliche System bedingt also das Verständnis und die Rangabstufung der textimmanenten Signale, und es steuert das Leserverhalten des Empfängers. Die beschriebenen Systeme sind niemals zufällig. G e -

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sellschaftlich relevant, charakterisieren sie die gegebene literarische Kultur und wiederholen sich in ihr ständig. In der literarischen Kultur der Zwischenkriegszeit unterscheide ich drei kommunikative Hauptsituationen, die bisweilen ineinander übergingen. Die erste, am meisten traditionelle, könnte man Situation des U m g a n g s mit Literatur nennen. In der Kultur der letzten Jahrzehnte ist das Lesen zu einem autonomen und autotelischen, geschätzten und beständigen Verhaltensmuster geworden. Die schöne Literatur fand die B e g r ü n d u n g für ihren Wert in sich selbst. A n solche Situationen gewöhnte die Lesedressur in der Schule. Es war dies die im Verhältnis zu allen Modeerscheinungen und individuellen Nuancen der Leseverhaltensweisen beständigste Situation. Die zweite dieser dominierenden Kommunikationssituationen — für wenigstens ein Drittel des damaligen polnischen Lesepublikums aktuell — könnte man als Situation des Strebens nach kulturellem Aufstieg bezeichnen. Die dritte schließlich war die Situation der literarischen Kommunikation in der Erholung und Zerstreuung. Die erste war im wesentlichen gebunden an Lesen als individuelle Beschäftigung bzw. als schulische Ü b u n g . Zu ihr gehörten all jene Institutionen, die dem belesenen Publikum vorbehalten w a r e n ; die zweite vollzog sich gewöhnlich über lautes Vorlesen mit Diskussion, in Versammlungsräumen und Bibliotheken, die Organisationen bzw. Vereinen gehörten. Innerhalb dieser Situationen waren weitgefaßte Strukturen organisierter gesellschaftlicher Aktivitäten in die literarische Kommunikation einbezogen: Estrade, politisch-literarische Matineen, Laienveranstaltungen; das politische Kabarett oder Lied drangen in das Unterhaltungsgenre ein und in einen Teil der ideologischen Zeitschriften. In diesen Situationen ließ sich die soziale Instrumentierung der literarischen Texte leicht realisieren. Den dritten T y p kommunikativer Situationen bildete die Gesamtheit der Vergnügungsinstitutionen — literarische Feuilletons der Massenzeitschriften, Leihbüchereien für Leser „ohne Eigenschaften". Innerhalb dieses Umlaufs begegneten die Leser der Literatur meist auf der Suche nach Zerstreuung, nach dem, was in der gegebenen Kultur zum Lachen brachte, w a s Lachkultur war. 89

In der Zwischenkriegszeit nahmen bei steter Dominanz des ersten Typs literarischer Kommunikationssituationen die beiden übrigen doch an Bedeutung, Reichweite und Häufigkeit relativ zu: der zweite mit der Entwicklung der Massenbewegungen, der dritte in Verbindung mit den kommerziellen Bestrebungen des Unterhaltungsmarktes, mit der Entstehung einer Massenvergnügungsindustrie. Diese Typen kommunikativer Situationen formten die Beziehung der Sender zu den Texten sowie ihr kreativ-literarisches Verhalten wie auch die Beziehung der Empfänger zu den Texten sowie ihr Leseverhalten, ihre Art der Auswahl literarischer Werte. Neben den kanonischen Modellen entwickelten sich also auch engagierte Modelle, die sich leichter der gesellschaftlichen Instrumentierung anpaßten und als kommunikative Situationen in den Aufstiegsbestrebungen vollständiger funktionalisiert waren. Es entsteht die literarische „Agitka", die extreme, gänzlich instrumentierte Form eines engagierten Textes. Die Spielmodelle der Literatur werden bedeutend bereichert — auch durch Bearbeitung und Aktualisierung alter Texte, durch Übersetzungen, durch das reichhaltige und differenzierte Schaffen für Estrade, Kabarett und Zeitung. Kurz, in der Atmosphäre einer ideologisch und politisch aktiven Gesellschaft entstanden vermehrt hybride Modelle: Modellmerkmale des Engagements beispielsweise durchdringen das Spielmodell. Das kennzeichnet die polnische literarische Kultur der dreißiger Jahre mit ihrer interessanten, zeitbezogenen, gesellschaftskritischen Satire. Innerhalb der einzelnen kommunikativen Situationen des Umgangs mit Literatur waren jeweils verschiedene Hauptcodes wirksam, über deren Rangordnung vornehmlich textimmanente Signale entschieden. In der Situation des Strebens nach kulturellem Aufstieg dominierte in der Regel der politische Code, eine gewissermaßen „zeitungsähnliche", aktualisierende Dechiffrierung der Texte, die von ihrer inneren Struktur her häufig sogar offensichtlich anders organisiert waren. In der Unterhaltungssituation trat bevorzugt der Code des Gattungsschemas auf, ein Code, der bestimmten, konventionalisierten Genres eigen ist, z. B. dem Detektiv-, Abenteurer- und sentimentalen Roman bzw. entsprechenden lyrischen 90

Genres. Ein Detektivroman z. B. wird im allgemeinen gelesen, um sich vermittels der Dechiffrierung konventioneller Merkmale der Detektiverzählung zu unterhalten: Nur eine äußerst ungewöhnliche kommunikative Situation und der Rückgriff auf entsprechende Codes könnten bewirken, daß ein Polizeiroman vorrangig als Aufzeichnung weltanschaulicher oder psychologischer Reflexion dechiffriert wird. Nur wenn der Schriftsteller darum bemüht ist, die Tragfähigkeit jener Konventionen, der Merkmale einer Produktion von „großen Serien", z. B. im Lesepublikum auszunutzen, könnte es zur Politisierung eines eigentlichen Unterhaltungstextes kommen. In dieser Richtung gab es beachtliche Erfolge, besonders in der zweiten Hälfte der Zwischenkriegszeit, und das ist einer der Gründe für das Wüten der Zensur in jener Zeit. All das hing jedoch in erster Linie von der Art des gesellschaftlichen Umlaufs von Texten in den literarischen Kommunikationsprozessen dieses Zeitraums ab. Damals gab es fünf deutlich zu unterscheidende Umläufe: den der anspruchsvollen Literatur, der neben dem entsprechenden Gegenwartsschaffen auch die nationale Literaturtradition umfaßte; den von Trivialliteratur, der ebenfalls gewisse Elemente einet dauerhaften, vornehmlich fremden Tradition enthielt (z. B. E. Sue und die Nachahmungen seines Romans Die Geheimnisse von Paris); schließlich der Umlauf von Schundliteratur. Diese drei Umläufe vollzogen sich auf der Grundlage moderner Umgestaltungen in der literarischen Kultur und der modernen industriellen, städtischen Zivilisation. Die beiden übrigen trugen relikthaften Charakter: Der Umlauf von Jahrmarktund Ablaßliteratur hatte sich noch auf der Grundlage der feudalen Kultur herausgebildet und setzte sich über lange Zeit fast ohne Veränderungen, zuweilen sogar ohne Modernisierung der Sprache fort. Der Umlauf von Heftchen „für das Volk" war noch in der vorindustriellen Patronatskultur des vorigen Jahrhunderts entstanden und wurde nun gesteuert durch konservative Zentren wie die Kirche (die Preisausschreiben des Pr^ewodnik Katolicki bis Ende der dreißiger Jahre) in Gegenden mit einer großen ländlichen Tradition und mit einer traditionellen Leserschaft, wie z. B. im Teschener 91

Schlesien (Slq,sk Cieszynski), das seit Jahren ohne Analphabeten war. Über den Charakter eines Umlaufs entschieden die Wechselbeziehungen der Künstler in den entsprechenden sozialen Rollen, des Lesepublikums, des entsprechenden Genres, der spezifischen Institutionen des literarischen Lebens und der besonderen Zentren einer separaten Literaturpolitik. Die einzelnen Arten der Umläufe folgten einer jeweils eigenen Ästhetik, die auch die Kriterien dafür abgab, ob ein Werk als gut oder schlecht galt. Die verschiedenen literarischen Umläufe rangen oft um einen Erfolg ihrer Ästhetik in der gesamten Gesellschaft. Sie setzten sich durch oder wurden an den Rand des gesellschaftlichen Lebens gedrängt. In jedem dieser Umläufe hatten die von uns unterschiedenen Kommunikationssituationen ein wenig andere spezifische Kennzeichen, und die oben differenzierten funktionalen Literaturmodelle fanden abweichende Realisierungen. Die Trqdowata (Die Aussätzige) von Mniszköwna (H. Courths-Mahler vergleichbar) z. B. fungierte im Umlauf von Trivialliteratur als hervorragendes Werk im Rahmen der ihm eigenen Ästhetik. Die von M. Samozwanec stammende Parodie auf diesen Roman Na ustacb gr^echu (Auf den Lippen der Sünde) fungierte im Umlauf anspruchsvoller Literatur, ihr lag eine andere Ästhetik zugrunde — und sie war wohl kein Meisterwerk. Wie beschrieben dominierte der Umlauf von anspruchsvoller Literatur in jeder Beziehung: im Hinblick auf gesellschaftliche Funktion, Prestige, die Rolle innerhalb der Einrichtungen der literarischen Kultur, Wirkung bei den Lesern, Anziehungskraft für neue Leser, Auflagenhöhe, nimmt man die Gesamtheit der Titel. Der Umlauf von Trivialliteratur, der sich in den zwanziger Jahren auf spezielle Genres erstreckte, wuchs in den dreißiger Jahren dank der Entwicklung der Presse und ihres Leserkreises; dieser überstieg die Zahl der Leser von Büchern um mehr als das Fünffache, und die Entwicklung tendierte zur weiteren Vergrößerung des quantitativen Übergewichts. Dieser Umlauf erfährt in den dreißiger Jahren eine Modernisierung — das betrifft sowohl die Texte als auch die Institutionen in der literarischen Kultur. 92

Unsere zahlenmäßigen Schätzungen der Leserschaft erstrecken sich hauptsächlich auf diese beiden Umläufe, die leicht ineinander übergingen und sich das Lesepublikum teilten, das übrigens nicht immer imstande war, die Texte des einen Umlaufs von denen des anderen zu unterscheiden. Der Umlauf von Schundliteratur besaß in Polen bereits eine recht lange Tradition; es erschienen Broschüren und Heftchen — meist anonym — das waren von literarischen Technikern besorgte Umarbeitungen. Hier überwogen die Texte kurzer, in Fortsetzungen erscheinender Sensationsgeschichten oder größerer Reihen derartiger Abenteuer. Daneben gab es Balladen, die über verschiedene denkwürdige Ereignisse pseudo-historisch konkretisiert informierten. Dennoch erlebte der Umlauf von Schundliteratur eine Krise. Bis Kriegsbeginn erfuhr er keinerlei Modernisierung; auch von den Comics und von der Schundproduktion mit modernen Märchen von der technischen Zivilisation blieb er in seiner Entwicklung unberührt. Die populärsten Zeitungen Ende der dreißiger Jahre vergrößerten seinen Wirkungsbereich in der Gesellschaft zwar ein wenig, dennoch kann man seine wenigen Empfänger kaum als Leser im Sinne unserer Definition betrachten. Die beiden relikthaften Umläufe hatten einen noch geringeren gesellschaftlichen Wirkungsbereich. Sie erloschen, als sich die literarische Kultur der Städte ausweitete und der Umlauf von anspruchsvoller Literatur verstärkt in das Dorf vordrang. Im Umlauf von Jahrmarkt- und Ablaßliteratur fungierten traditionelle, auf das Mittelalter zurückgreifende Romane, Legenden von Rittern, Räubern und Heiligen sowie Bettlergesänge. Im Umlauf der Heftchen „für das Volk" fungierten romanhatt hochstilisierte Märchenklischees oder erbauliche Kalendergeschichten, daneben Kalender selbst mit Kurzgeschichten. Doch auch die Kalender erlebten, trotz aller sporadischen Versuche, sie zu modernisieren (aus sozialen Beweggründen sogar durch Schriftsteller des Umlaufs von anspruchsvoller Literatur wie z. B. Boguszewska), im Verhältnis zum 19. Jahrhundert einen Niedergang. Der Prozeß der Integration der Nationalliteratur machte in dem behandelten Zeitraum rasche Fortschritte, er war begleitet von einer zunehmenden Demokratisierung der lite93

tarischen Kultur. Die Veränderungen in der literarischen Kultur der Zwischenkriegszeit spielten also eine wesentliche Rolle, weil sie das polnische Volk auf die Selbstverteidigung, auf die Herausbildung einer konspirativen literarischen Kultur vorbereiteten, die die moralischen Kräfte des Volkes im Kampf gegen die verderbenbringende Okkupation unterstützte. Diese Wandlungen bereiteten auch der späteren Entwicklung der literarischen Kultur Volkspolens den Boden.

Kazimierz Bartoszyriski

Polnische Forschungen zur literarischen Kommunikation

Mit dem Wort „Kommunikation" wurde im vorliegenden Forschungsbericht ein Terminus gewählt, der geeignet ist, auf etwas Gemeinsames in mehreren Bereichen der Literaturtheorie hinzuweisen, Bereiche, in denen folgende Fragen eine Rolle spielen: Verschiedene empirische neben rein theoretischen Formender Literatursoziologie, theoretische Untersuchungen zur immanenten Poetik, einige konkrete Dichtungsinterpretationen sowie methodologische Fragen der Literaturgeschichte. Der Begriff der literarischen Kommunikation existiert in der polnischen Literaturwissenschaft erst seit kurzem; das wirkt sich günstig auf sein Fassungsvermögen und seine Operativität aus. Anregungen lieferten unter anderem tschechoslowakische Forscher (L. Dolszel, Fr. Miko), die sprachtheoretische Begriffe auf die literarische Kommunikationssituation übertrugen. Das von Bühler und Jakobson eingeführte Modell der sprachlichen Kommunikation bildet bei uns seit ungefähr fünfzehn Jahren die Grundlage für zahlreiche Untersuchungen auf dem Gebiet der Poetik. Der Terminus „Literarische Kommunikation" besitzt deshalb in Polen einen weiten, nicht präzis bestimmten und oft metaphorischen Inhalt. Die wichtigsten Quellen und Grundlagen unserer Forschungen zur Literatursoziologie bzw. zur soziologisch betriebenen Poetik sind: 1. Das von Bühler und Jakobson begründete fundamentale Modell der sprachlichen und literarischen Kommunikation, in den letzten Jahren weiterentwickelt durch die französische Nouvelle Critique, ihre Untersuchungen zur „enonciation" als einheitlichem Ganzen, das Sender, Text und Empfänger in e i n e r Kommunikationssituation verbindet. 95

2. Roman Ingardens Lehre von der Struktur und dem Erkennen des literarischen Werkes, insbesondere seine Konkretisationslehre. Sie ist auch bei kritischer Einschätzung als einer der ersten Versuche anzuerkennen, den literarischen Sender (Autor) und den literarischen Empfänger (Leser) in homogener Struktur zu fassen. Ingardens Abhandlung O rö^nych ro^umieniach „prawd^iwosci'" iv d^iele s^tuki (Von den verschiedenen Möglichkeiten, die „Wahrhaftigkeit" eines Kunstwerks zu verstehen) 1 , bereits 1946 entstanden, enthält eine Konzeption des realen, des dargestellten und des dem Werk zugeordneten Autors (Urhebers). Nach Meinung der gegenwärtigen polnischen Literaturwissenschaft bietet die Konkretisationslehre nur eine geringe Grundlage für die Analyse der sozialen Literaturrezeption, bei a priori vorausgesetzter Rezeptionstheorie geht sie von einer idealen, sich unter „Laboratoriumsbedingungen" vollziehenden Konkretisation aus. In Das literarische Kunstwerk heißt es: „Jahrhundertelang kann ein literarisches Werk nur in solchen verdeckenden, es verfälschenden Konkretisationen zur Ausprägung gelangen bis sich endlich jemand findet, der das Werk richtig versteht und adäquat erschaut und anderen seine echte Gewalt auf diese oder jene Weise zeigt." 2 Eine solche Verabsolutierung der Kunstrezeption läßt sich mit einer soziologischen Rezeptionstheorie nicht in Einklang bringen. Das soll betont werden, obwohl das Anregende der Untersuchungen Ingardens anerkannt werden muß. Ich möchte jetzt zu den dominierenden Forschungsrichtungen übergehen: Die reiche Tradition literarischer Forschungen isolierte häufig die Sende- von der gesamten Kommunikationssituation, unabhängig davon, ob man es mit den tatsächlichen historischen Sender-Empfänger-Situationen oder mit dargestellten Situationen zu tun hatte, in die bestimmte Rollen von Sender und Empfänger eingeschrieben waren. Einer der ersten polnischen Wissenschaftler, der dieser Tradition ein Ende zu machen versuchte, ist M. Gtowinski. Er „entdeckte", gestützt auf den tschechoslowakischen Strukturalismus, in seiner Arbeit Wirtualny odbiorca w strukturd^iela poetyckiego (Der virtuelle Empfänger in der Struktur des dichterischen Werks) 96

1967, den Leser. Glowinski stellte, ohne zu systematisieren oder präzise Unterscheidungsmerkmale zu formulieren, Fragen wie: Auf welche Weise wird der Empfänger im Werk bestimmt und, vice versa, können seine „Forderungen" das Werk beeinflussen? 3 Diese Abhandlung bildete den Ausgangspunkt für spätere Klassifikationen des literarischen Empfängers und für die Analyse der Bedingungen, in die jede literarische Kommunikation gestellt ist. Bei den Anregungen der ausländischen Literaturwissenschaft spielte die Arbeit Jean-Paul Sartres Qu'est ce que la litt erat ure ? (Was ist Literatur)? eine Pionierrolle für eine zusammenfassende Darstellung der literarischen Situation. Dieser Essay ist in Polen etwa seit 1950 bekannt, obwohl er erst 1969 übersetzt worden ist. Bei Sartre verbindet sich die Idee der immanenten Autor-Leser-Situation mit der historischen Analyse möglicher literarischer Kommunikation. Die ersten Anregungen, den Empfänger (Leser) und die Empfangssituation zum Forschungsobjekt zu machen, kamen von der Germanistik, z. B. von Wolfgang Kayser, insbesondere von seiner Arbeit Entstehung und Krise des modernen Romans und seinem Literaturlexikon, das den Terminus „Leser" berücksichtigt. Da Kaysers Aufsatz schon sehr früh ins Polnische übersetzt worden ist, können wir von einem bedeutenden Einfluß seiner Arbeit auf unsere Forschung sprechen, und zwar nicht nur in bezug auf die breit diskutierte Erzählerfrage, sondern auch hinsichtlich der Erörterung von Empfangsproblemen. Kaysers Einfluß ist jedoch auf eine i m m a n e n t e Betrachtung der Empfangsforschung eingegrenzt. Die skizzierten Untersuchungen waren der Beginn immanenter Forschungen zum Problem des Literaturempfängers bzw. Adressaten. Gleichzeitig, zögernd noch, entwickelten sich konkretere Forschungen zum literarischen Leben und Bewußtsein. Die erstgenannte Richtung wurde mehr auf theoretische Weise betrieben; der konkreten Analyse begegnet man lediglich in einzelnen Fällen. Im Gegensatz dazu kann die konkrete soziologische Forschung eher Datensammlungen und statistische Tabellen als theoretisch-methodologische Begründungen aufweisen. Zur Erleichterung dieses komplizierten Sachverhaltes einige Sätze aus der Einleitung Janusz Sta7

Funktion

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winskis zum Sammelband Problemj socjologii literaturj (Probleme der Literatursoziologie), 1971: „In der Domäne, die die Bezeichnung .Literatursoziologie' trägt, machen sich gegenwärtig zumindest drei voneinander unabhängige Interessengebiete (sowie ihnen zugeordnete Forschungsstile) geltend, von denen jedes den Anspruch erhebt, der einzig rechtmäßige Träger dieses Namens zu sein. Es sind dies: 1. Erforschung der sozialen Mechanismen des literarischen Lebens. 2. Erforschung der als Ausdrucksform gesellschaftlichen Bewußtseins begriffenen Literatur. 3. Erforschung literarischer Konventionen, die als gesellschaftlich fixierte, die Prozesse .literarischer Kommunikation' bestimmende Normenkomplexe betrachtet werden." 4 Die Literatursoziologie zeichnet sich also einerseits durch allgemeine, häufig etwas unbestimmte, andererseits durch äußerst detaillierte, empirische Untersuchungen aus, wobei nur selten verstanden wird, beide Methoden miteinander zu verbinden. Einiges zum gegenwärtigen Stand der dritten von Slawinski unterschiedenen Kategorie von Forschungen: Es geht um theoretische Untersuchungen der personellen SenderEmpfänger-Relationen innerhalb des literarischen Werkes. In diesem Bereich darf eine strenge Teilung zwischen theoretischem Denken und konkreten Analysen nicht vorgenommen werden: In den letzten Jahren dominierten Theorie und Praxis abwechselnd. Erste interessante Versuche einer Empfänger- und Adressatenanalyse gibt es dort, wo es der Wissenschaftler mit literarischen Gattungen zu tun hat, in denen der Adressat entweder ganz spezifische Merkmale besitzt oder als Objekt des besonderen Senderinteresses betrachtet wird. Ein Kapitel der Monographie von M. Jasinska Narrator w powiescu pr^edromantyc^nej (1776—1831) (Der Erzähler im Roman der vorromantischen Zeit), 1963 5 ist z. B. dem Problem der Konstituierung des Lesers im Romantext gewidmet, ohne daß dieser jedoch vom Empfänger grundsätzlich unterschieden wurde. Hier haben neben Kaysers Abhandlungen auch die Termini von W. C. Booth „implied author" und „implied reader" 6 inspirierend gewirkt. Es ist charakteristisch, daß 98

die von Jasinska analysierten Romane aus der Zeit der Aufklärung und des Sentimentalismus stammen und vielfach die Methode eines dargestellten Dialogs zwischen Verfasser und Leser verwenden. Zu den wichtigsten Themen der Arbeit R. Handkes Polska pro%a fantastjc^no-naukowa. Vroblemy poetjki (Die polnische Science-fiction-Prosa. Probleme ihrer Poetik), 1969, gehören die Probleme des dargestellten (eingeschriebenen) Lesers, dessen Wesen die „zukünftige" Stellung gegenüber der als zukünftig gezeigten Welt ist. Handkes Verdienst ist der Versuch, den Adressaten (Empfänger) genauer zu unterscheiden. Er knüpft jedoch ziemlich genau an die Auffassungen Kaysers an. Diese Richtung wird auch später bei uns fortgesetzt. Weitere Forschungen der polnischen Literaturwissenschaftler zielten erstens auf eine Präzisierung des Empfänger-LeserBegriffs und die Herausarbeitung eines möglichst allgemeinen Sender-Empfänger-Modells, zweitens auf eine Anwendung der bisherigen Resultate, die hauptsächlich aus Untersuchungen der narrativen Gattungen gewonnen wurden, auf andere — besondere lyrische — Formen und drittens auf einige Ergebnisse aus dem Bereich der Psychologie literarischer Rezeption. Zum ersten Problemkreis liegen nach einem langen Denkund Diskussionsprozeß einige wesentliche Ergebnisse vor. Große Verdienste hat dabei Edward Balcerzan mit seinen Versuchen, verschiedene Arten des immanenten Empfängers zu ermitteln, um seine Verbindungen mit dem Bild des Autors innerhalb des Werkes festzustellen. 7 In diesem Zusammenhang ist das bekannte Buch zu nennen, das eine schnelle Entwicklung aller Forschungen zu den interpersonalen Relationen und den Kommunikationssituationen innerhalb des literarischen Werkes anzeigt: M. M. Bachtins Vroblemy poetiki Dostoevskogo (Probleme der Poetik Dostojewskis) mit seiner Theorie von „der Aussage, die auf eine fremde Aussage eingestellt ist" 8 . Dieses Buch spielt auch eine Rolle für die Charakterisierung weiterer Forschungsschritte, der Versuche, die im Werk gestaltete Kommunikationssituation als eine k o m p l e x e Struktur zu fassen. Eine wesentliche Hierarchisierung und Schichtung verschiedener modi existendi et agendi des literarischen Adressaten finden wir in der Abhandlung von E. Czaple7«

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jewicz 9 , der den Adressaten als eine poetologische Kategorie streng von außertextlichen Adressaten unterscheidet. Der textimmanente Adressat kann entweder als unmittelbar dargestellter Leser und Partner des Autors oder als der einem bestimmten Text virtuell zugeschriebene ideale Empfänger existieren. Außerhalb des Textes oder über ihm fungiert det ideale Adressat — ein Vertreter der idealen Rezeptionskompetenz einer bestimmten Gruppe von Werken, z. B. von Werken eines Verfassers. Den als außertextlich bestimmten Adressaten kann man entweder als Adressatenrolle einer Leserperson oder als Leser realer Existenz betrachten. Diese Hierarchisierung wurde aus Übersichtsgründen vorgenommen, obwohl das nächste Kettenglied dieser Vorstellungsfolge eine Strukturalisierung bildet, die als die bisher vollständigste erscheint. Es handelt sich um die Konzeption von Alexandra Slawinska in ihrem Aufsatz Kelacje osobowe w literackdej homunikacji (Interpersonale Relationen in der literarischen Kommunikation), 197110. Er enthält eine vielseitige Darstellung aller in Betracht kommenden Relationen. Zunächst die innertextlichen Bezüge: 1. Auf der ersten Ebene die Relation: sprechende Gestalt — ihre Aussage — rezipierende Gestalt der dargestellten Welt. 2. Auf der zweiten Ebene die Relation: (Haupt-) Erzähler des Werkes — seine Aussage — Adressat der Erzählung. 3. Auf der dritten Ebene die Relation: Subjekt des Werkes als ein Ganzes — das ganze Werk — Adressat des Werkes; anders gesagt, der virtuelle Leser. Bezüglich der außertextlichen Relationen werden unterschieden : 1. Relationen zwischen dem Sender als dem Disponenten literarischer Regeln, die eine Poetik konstituieren, und seinem idealen Empfänger. 2. Relationen zwischen dem Autor und dem konkreten Leser. Es kann hier nicht auf die ganze Subtilität eingegangen werden, mit der Slawinska dieses komplizierte Netz von Relationen behandelt. Für ihr Schema bedeutet die elementare Erzählsituation ein Modell, welches so entwickelt wird, daß es für alle literarischen Arten gelten kann. Dennoch ist für die lyrischen Situationen und Gattungen eine spezielle Betrach100

tungsweise unentbehrlich. Teilweise ist sie bereits in der o. g. Abhandlung Glowinskis sowie auch in Untersuchungen von Edward Balcerzan zum Werk Bruno Jasieriskis 1 * und zur gegenwärtigen Lyrik angewandt. Die Arbeiten dieses jungen Literaturwissenschaftlers und Kritikers, z. B. seine Artikel Perspektyny „poetyki odbioru" (Die Perspektiven der Rezeptionspoetik) 12 ; Wala odbioru (Der Rezeptionswille) 13; Koncert poetycki (Das poetische Konzert) 14 bieten interessante Beispiele der Psychologie der literarischen Rezeption (Psychosemantik). Auf dieser Ebene bewegen sich auch die Überlegungen S. Lems in seinem Buch Filo^ofia pr%jpadku (Philosophie des Zufalls), 1969. Seine Analysen des Empfangsprozesses operieren mit Begriffen wie „Interpretationshypothese" oder „optimalisierende Empfangsstrategie". Versucht man, die Resultate aller Forschungen zur textimmanenten literarischen Kommunikation zu summieren, muß man leider feststellen, daß dieses Gebiet durch rein theoretische Überlegungen fast ausnahmslos beherrscht wird. Ausnahmen sind einige konkrete, ganz unmethodische Rezeptionsanalysen Lems sowie das dem größten polnischen Dichter des 20. Jahrhunderts, Boleslaw Lesmian, gewidmete Buch von Czaplejewicz Adresat w poe^ij 'Lesmiana (Der Adressat in Lesmians Dichtung), 1973, das jedoch viel mehr traditionelle Interpretationen als eine „Poetik des Empfängers" oder „Perspektive des Adressaten" enthält. Der gegenwärtige Stand der sozioliterarischen oder der literatursoziologischen Forschung macht deutlich, daß radikale Abgrenzungen auf diesem Gebiet weder möglich noch notwendig sind. Deshalb soll auf Fragestellungen verwiesen sein, die einen Kompromiß zwischen der nach außen gerichteten Literatursoziologie und einer textimmanent begriffenen Forschung der literarischen Kommunikation darstellen. Es handelt sich um die Konzeption Janusz Slawinskis, die er als „Soziologie der literarischen Formen" 15 bezeichnet hat. Sie stellt weder eine Soziologie des literarischen Lebens dar noch eine soziogenetische Literaturinterpretation oder eine Rezeptionsgeschichte. Sie ist auch nicht als eine immanente Soziologie des literarischen Werkes bestimmbar. Slawinskis Konzept will die Problematik der „Soziologie literarischer Formen" an 101

einem Kontaktpunkt der literarischen Tradition (die als Repertoire der verschiedenartigen literarischen Konventionen begriffen wird) und der literarischen Strukturen (die als historische Korrelate der literarischen Kultur fungieren) ansiedeln. Er versucht mit diesem wissenschaftlichen Verfahren, die rein immanente Werkforschung zu vermeiden, ohne in eine empirische Detailforschung literarischer Transzendenz zu verfallen. Gefragt wird, wie in dem geschlossenen Kreis literarischer Kultur und Tradition die soziale Umgebung des Werkes, eine von ihm unabhängige Welt, abgebildet wird. Einige Worte noch zu meinen eigenen Bemühungen, die Kluft zwischen der Literatursoziologie und der Wissenschaft von der literarischen Kommunikation zu überwinden: In meinem Aufsatz Zagadnienie komunikacji literackiej w utwcrach narracyjnych (Das Problem der literarischen Kommunikation in narrativen Werken) 1 6 wurden bestimmte Bedingungen erörtert, unter denen die Übermittlung eines narrativen Kommunikats möglich und effektiv ist. Diese Untersuchungen beziehen sich auf solche narrativen Sender-Empfänger-Situationen, in denen Sender und Empfänger mit bestimmten Rollen eingeschrieben sind, auf das — wie man sagen könnte — „Schauspiel literarischer Kommunikation", welches vom narrativen Werk vermittelt wird. Den nächsten Schritt meines Verfahrens bildete der Versuch, die Ergebnisse solcher Forschungen auf äußere Sender-Empfänger-Situationen anzuwenden. Dabei lassen sich der äußere Sender und der äußere Empfänger einmal als funktionale Einheiten betrachten, die auf die Rolle von Trägern gewisser Sende- oder Empfangsregeln reduziert sind, zum anderen als konkrete Personen. Es muß jedoch eingeschätzt werden, daß dieses Forschungsprogramm noch etwas skizzenhaft ist und seine Realisierung gewisse Schwierigkeiten bereitet. In diesem Aufsatz wie auch in der eben angeführten Abhandlung Slawinskis werden die literatursoziologischen Probleme diachronisch behandelt. Die Voraussetzung, die Korrelation Sender-Kommunikat-Empfänger als integrale Ganzheit zu betrachten, wurde nicht auf eine Synchronie begrenzt, sondern in geschichtliche Zusammenhänge eingeführt. In diesem Zusammenhang muß betont werden, daß die Anwen102

dung der durch die Literatursoziologie ausgearbeiteten Begriffsapparatur und der literatursoziologischen Denkmethode die literaturgeschichtliche Forschung stark beeinflussen kann. Beispiele dafür liefern u. a. die Arbeiten von Felix Vodicka 17 , der schon im Jahre 1942 Rezeptions- und Konkretisationsforschungen als Teil der Literaturgeschichte forderte, wobei er den Ingardenschen Konkretisationsbegriff kritisch beurteilte. Die Beschränkung auf das Problem der Rezeption ist jedoch nicht ausreichend. Dies hat der polnische Sammelband Proces historjc^ny w literatur^e i s^tuce (Der historische Prozeß in Literatur und Kunst), 1967, ausdrücklich bewiesen. Besonders die Skizze Janusz Slawinskis Synchronia i diachronia w procesie bistoryc^noliterackim (Synchronie und Diachronie im literaturgeschichtlichen Prozeß) enthält eine sehr fruchtbare Formulierung: „Projektion der Diachronie auf die Synchronie." 18 Ihre Anwendung könnte für die Erforschung des literaturgeschichtlichen Prozesses nützlich sein. — Zur gleichen Zeit entstanden übrigens auch u. a. die für die Literaturgeschichte sowie für die Relationen zwischen Geschichte und Soziologie wertvollen Abhandlungen von Hans Robert Jauss Uteraturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft und von Harald Weinrich Für eine Literaturgeschichte des Lesers. Bei Jauss lesen wir: „Der geschlossene Kreis einer Produktions- und Darstellungsästhetik, in dem sich die Methodologie der Literaturwissenschaft bisher vornehmlich bewegt, muß . . . auf eine Rezeptions- und Wirkungsästhetik geöffnet werden . . ." 1 9 H. Weinrich schreibt: „Das Werk, sofern-es Bestand hat, führt einen Dialog mit den Lesern der bisherigen Epochen. Eine Literaturgeschichte schreiben, heißt, die Geschichte dieses Dialogs schreiben." 20 Diese Programmformulierungen sind durch eine soziologisch unterbaute integrierende Konzeption der Interpretation alles Literarischen charakterisiert. Es ist selbstverständlich nicht leicht, dieses Programm zu realisieren ; bestimmte Ansätze einer solchen Methode — besonders in bezug auf die Romantik — gibt es jedoch in Polen bereits. Was den Stand der „wirklichen empirischen" Literatursoziologie betrifft — also: der Soziologie des polnischen literarischen Lebens, der Geschichte der soziogenetischen Inter103

pretation der Literatur, der Geschichte der Rezeptionsforschung — sei hier lediglich auf Stefan Zölkiewski 2 1 verwiesen, den Verfasser fundamentaler Arbeiten auf diesem Gebiet. Er ist in seinem Beitrag auf den gegenwärtigen Forschungsstand in Polen eingegangen und hat eigene wissenschaftliche Ergebnisse vorgetragen. 2 2 Zu erwähnen bleiben schließlich noch einige Tendenzen, die in den letzten Jahren in Arbeiten der jüngeren Generation der polnischen Philologien auftreten. D a s betrifft bestimmte Versuche (besonders in Poznan und Wroclaw), die Probleme der Kommunikationssituation mit Hilfe der Terminologie und der Begriffsapparatur der transformativen oder generativen Grammatik zu bewältigen. E r herrschen Termini vor wie: innen- und außentextliche Kompetenz, eingeschriebener Sender oder Empfänger, Kommunikationsstrategie. 2 3 Eine ähnliche Terminologie wurde schon früher verwendet und hat auch ähnliche Ergebnisse gebracht. Man kann jedoch sagen, daß die Tatsache selbst, eine Begriffsapparatur aus dem weiten und fruchtbaren Bereich wie der sogenannten generativen Grammatik zu entlehnen, die Literaturwissenschaft in einen sehr weiten Problemkreis einführt, was möglicherweise Resultate bringt, die gegenwärtig nicht vorauszusehen sind. Eine ganz andere und höchst wichtige Problematik — die sicherlich in hohem Grade an die aktuelle Denkweise anknüpft — beschäftigt in letzter Zeit Kreise junger Warschauer Philologen. Solche Termini wie „Pragmatische Poetik", „Literatur-Pragmatik", „Literarische Praxis" muß man heute in Warschau als unentbehrliche Begriffsrüstung eines jungen Polonisten betrachten. Diese Terminologie knüpft teilweise an Ch. Morris an, der die allgemein bekannte Unterscheidung des Semiotikbereiches in die syntaktische, semantische und pragmatische Tätigkeit eingeführt hat. Eine pragmatische Poetik zu betreiben heißt in diesem Sinne, eine Sender-Kommunikat-Empfänger-Situation in ihrer Gesamtheit und ihrer Immanenz zu untersuchen. Man betont dabei die Tatsache des gemeinsamen und gegenseitigen Gestaltens der Elemente jener Situation. D a s ist jedoch nur eine andere Bezeichnung dafür, was vorher als immanente Soziologie bestimmt wurde. Andererseits wird aber — im Unterschied zu der pragmatischen 104

Poetik und in ganz anderem Sinne — von einer Pragmatik der Literatur gesprochen. In diesem Fall fungiert das Wort „Pragmatik" in dem Sinne, der von einer Soziologie des literarischen Lebens, des literarischen Erkennens und der literarischen Rezeption nicht weit entfernt ist. So umfaßt der Bereich der Literaturpragmatik Fragen wie die der Nützlichkeit der literarischen Texte, Probleme wie das des literarischen Subjekts, dessen Funktion es ist, den Adressaten durch den expressiven Text zu steuern, oder das der Aktivität des Adressaten dem literarischen Werk gegenüber. 24 Inwiefern die Problematik der pragmatischen Poetik und der Literaturpragmatik ihre Aktualität behalten wird und ob und auf welche Weise die Wege dieser Disziplinen sich durchdringen werden, wird die Zukunft zeigen.

Janusz Lalewicz

Kommunikationsmechanismen des „schöpferischen Verrats "

In der Erzählung Pierre Menard, der Autor des Don Quicbote von Jorge Luis Borges schreibt ein französischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts einen Roman, dessen Text mit dem des Romans von Cervantes identisch ist. Borges vergleicht entsprechende Fragmente beider Romane und weist nach, daß sie einen völlig unterschiedlichen Sinn tragen. Cervantes schreibt über die ihm gegenwärtige Welt und deren typische Probleme, während Menard die Handlung seines Romans in das Spanien des 16. Jahrhunderts verlegt. Cervantes bedient sich der zeitgemäßen Literatursprache und Rhetorik, der Schriftsteller des 20. Jahrhunderts verwendet eine gewählte Sprache voller Archaismen und origineller stilistischer Figuren. Was im ersten Roman übliche rhetorische Verzierung ist, wird im zweiten zur geistreichen Metapher oder zur Anspielung auf eine reiche philosophische und literarische Tradition. Der Scherz von Borges zeigt, daß der gleiche Text — der ja als Text eines Romans aus dem 17. Jahrhundert bekannt ist — etwas anderes aussagen würde, wäre er im 20. Jahrhundert geschrieben. Es ist jedoch nicht nötig, den Don Quicbote noch einmal zu verfassen, um diesen Effekt zu erzielen. Es genügt bereits, daß Cervantes' Roman von einem Leser des 20. Jahrhunderts gelesen wird. Dieser Leser wird, falls er nicht gerade Literaturhistoriker ist, den Roman ebenso lesen wie einen Roman von Mann, Frisch oder Malraux, d. h., als wäre er in der Gegenwart geschrieben. Er wird den ihm unbekannten literarischen und kulturellen Kontext des 17. Jahrhunderts nicht berücksichtigen, sondern Cervantes' Werk in Einklang mit dem Wissen von der Welt und der Literatur interpretieren, 106

über das er als Leser von Gegenwartsliteratur verfügt. Dadurch findet er in dem Werk etwas völlig anderes, als Cervantes damit aussagen wollte und als dessen Zeitgenossen darin sahen. Diese Art aktualisierende Lektüre, in der das alte Werk einen aktuellen Sinn erhält, der von dem historischen Kontext, in dem es entstand, verschieden ist, nennt Robert Escarpit „schöpferischen V e r r a t " l . Lebendige W e r k e über Jahrhunderte hinweg sind jene, die sich besser als andere zu diesem Verrat eignen und so ständig verraten werden. Denn die Eignung zum Verrat ist eine Eigenschaft, die literarische K o m m u nikate auszeichnet und in gewissem Maße zugleich ein Kriterium für ihren Wert darstellt. Das literarische W e r k ist ein Kommunikat, das laut Escarpit „ohne seine Identität zu verlieren, in einer veränderten historischen Situation etwas anderes aussagt als in der historischen Situation, in der es entstanden ist" 2 . Dabei ist das Werk „um so literarischer — bzw. literarisch ,gut' —, je dauerhafter und dehnbarer seine Eignung zum Verrat, d. h. seine Fähigkeit zur Kommunikation i s t . " 3 Bei Betrachtung der Funktionen von Literatur meint man gewöhnlich Funktionen des gegenwärtig Geschriebenen. Wenden wir dagegen unsere Aufmerksamkeit auf die Lektüre in früheren Zeiten entstandener Werke, so braucht man andere Kategorien der Beschreibung. Der Begriff des „schöpferischen Verrats" scheint für eine solche Analyse besonders geeignet. Die Arbeiten von Escarpit zeigen den schöpferischen Verrat unter dem Blickpunkt der gesellschaftlichen Funktion von Literatur. In meinen Überlegungen versuche ich, den kommunikativen Aspekt dieser Erscheinung zu beschreiben, d. h. die Mechanismen der sprachlichen, insbesondere aber der literarischen Kommunikation herauszustellen, die der schöpferische Verrat sichtbar macht und auf die er sich stützt. Der schöpferische Verrat ist ein Sonderfall in der Interpretation des sprachlichen Kommunikats. Eine gegebene Lektüre ist dann ein schöpferischer Verrat, wenn w i r es dabei mit einem vom Autor ursprünglich nicht intendierten Verständnis des Werkes zu tun haben — darauf eben beruht der Verrat —, und wenn auf Grund dieses nicht intendierten Verständnisses das Werk seinen Sinn nicht verliert, also nicht 107

unverständlich wird, sondern einen neuen Sinn gewinnt. Dabei ist es wichtig, daß diese Veränderung des Sinns aus besonderen Umständen der Lektüre resultiert, und zwar aus der Tatsache, daß das Werk von einem Publikum gelesen wird, das sich von demjenigen, für welches es bestimmt war, unterscheidet, und daß der historische Kontext ein anderer ist als jener, in dem das Werk entstand. Worin besteht diese Veränderung? E s handelt sich hier um eine Operation, die v o m formalen Gesichtspunkt dem ähnelt, was in der Wissenschaftsmethodologie als Interpretation einer formalen Theorie in einem bestimmten Objektbereich bezeichnet wird. Ordnen wir den einzelnen Termini einer formalen Theorie Objekte oder Objektklassen zu, die zu einem ausgewählten Bereich gehören, so werden die einzelnen Formen dieser Theorie zu Theoremen für diesen Bereich. Geben wir der gleichen mathematischen Theorie eine andere Interpretation, interpretieren wir sie also in einem anderen Objektbereich, so erhalten die gleichen Formeln einen anderen Sinn, denn sie sagen nun etwas aus über die Objekte, die dem zweiten Bereich zugehören. Man kann sagen, daß der schöpferische Verrat auf der analogen Veränderung des Bereiches oder des Universums beruht, in dem das jeweilige Werk interpretiert wird. Allerdings muß nun erklärt werden, worin im Falle eines in der Umgangssprache abgefaßten Kommunikats diese „Interpretation in einem Objektbereich" besteht. E s ist dies eine Operation, die wir im Grunde genommen aus der täglichen Praxis der Verständigung kennen. Gewöhnlich machen wir uns das nicht bewußt, da der Objektbereich, in dem wir eine Aussage interpretieren, oder aber das Universum dieser Aussage (universe of discourse) nicht kraft einer Konvention ausgewählt wird — wie bei der Interpretation mathematischer Theorien —, sondern durch die U m stände bestimmt ist, unter denen die Aussage erfolgt. Ein gewöhnliches Kommunikat verweist nämlich auf das Universum, das man ganz allgemein als die dem Sender und Empfänger des Kommunikats gemeinsame Welt auffassen kann, die an der Beziehung zu Ort und Zeit des Kommunikationsaktes untersucht wird. Die Abhängigkeit des Sinns einer Aussage von den Gegebenheiten des Kommunikationsaktes ist im Falle der 108

mündlichen Aussage leicht zu begreifen. Der gleiche Satz — z. B . „Ich bringe dir das m o r g e n " — kann je nach Ort und Zeit etwas über verschiedene Personen und Dinge aussagen. Im Fall eines Buches, das auf eine Welt verweist, die der ganzen Gesellschaft gemeinsam ist, für die das Buch vorgesehen war, werden die Grenzen jenes Universums erst aus der historischen oder kulturellen Distanz deutlich. So sind auch schriftliche Zeugen der Vergangenheit für uns im allgemeinen mehr oder weniger unverständlich; sie verweisen auf eine Welt, die wir nicht aus dem persönlichen Erleben kennen. E s ist nur natürlich, daß wir den gleichen Satz in verschiedenen Situationen verwenden, um über eben diese Situationen zu sprechen. Nicht natürlich ist das aber für längere Texte, z. B. für Bücher. Bücher aus vergangenen Epochen eignen sich in der Regel nicht dazu, über die gegenwärtige Welt Aussagen zu treffen. Der schöpferische Verrat dagegen beruht — wie das in der eingangs angeführten Erzählung von Borges gezeigt wurde — gerade auf dieser Operation. Aber es sind nur wenige Bücher, die hierfür in Betracht kommen. Darüber hinaus wäre zu überlegen, unter welchen Bedingungen der schöpferische Verrat möglich ist. D a es sich um eine sekundäre Interpretation handelt, die in einer anderen Epoche bzw. Kultur vorgenommen wird, kommen selbstverständlich nur schriftliche Kommunikate in Frage. Eine mündliche Aussage trägt einen Sinn nur in dem Augenblick, in dem sie ausgesprochen und gleichzeitig vernommen wird. Nicht alle schriftlichen Kommunikate eignen sich indes zum Verrat: J e d e s Kommunikat läßt sich auf nicht intendierte Weise auffassen, aber nur einigen kann ein neuer Sinn beigelegt werden. Notwendig ist vor allem eine Beschränkung auf öffentliche Kommunikate, denn da konstituiert die Lektüre einen gesellschaftlich relevanten Sinn des Kommunikats. In der privaten Kommunikation kann nur von einem Mißverständnis gesprochen werden. Bei schriftlichen Kommunikaten und bei jenen, die zur Veröffentlichung vorgesehen sind, unterscheiden wir funktionelle Kommunikate und Schöpfungen (Werke). D a s funktionelle Kommunikat — z. B. Anweisung, Bekanntmachung — ist ein Kommunikat, das für eine bestimmte praktische Situa-

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tion gilt, in Verbindung mit dieser entstanden ist und gelesen wird. Außerhalb der Situation, auf die es verweist, verliert es seine Aktualität und seinen Sinn. Die Anordnung einer Institution aus dem vorigen Jahrhundert kann heute nicht als Weisung funktionieren, denn die Situation, die sie betraf, ist vorüber. Ein Werk dagegen ist ein Kommunikat, das unabhängig von einer derart konkreten praktischen Situation geschrieben wurde und als Angebot an die gesamte Leserschaft für den Umlauf bestimmt ist. Die Veröffentlichung eines Werkes allein schafft noch keine Bedingungen für die Lektüre: D a s Werk wird unter denjenigen Umständen gelesen, unter denen es dem Leser behagt und von jenen, die es zu lesen wünschen. D a jedoch ein geschriebenes Kommunikat nur dann einen Sinn erhält, wenn es gelesen wird, ist der Sinn des Werkes — eben jener, der mit seiner Vermittlung kommuniziert wird — allein das, was die jeweilige Leserschaft ihm entnimmt. 4 Wie Schriftsteller und Literaturhistoriker häufig hervorheben, beginnt das Werk vom Augenblick der Veröffentlichung an ein eigenes Leben und sagt nicht immer das aus, was der Autor eigentlich auszusagen beabsichtigte. Diese Autonomie der Lektüre spielt dagegen bei der Interpretation von speziellen Werken, z. B . wissenschaftlichen, keine Rolle, da Formulierung und Lektüre des wissenschaftlichen Textes eine bestimmte Sprache voraussetzen, nämlich das Begriffssystem der jeweiligen Wissenschaft, und dazu ein bestimmtes Universum in Gestalt ihres Objektbereiches. J e d e Interpretation in einem anderen Universum ist schlechthin falsch, eine Veränderung der Sprache oder des Bereichs der betreffenden Disziplin dagegen deaktualisiert das Werk als wissenschaftliche Arbeit. Der Vergleich mit dem funktionellen K o m m u n i k a t einerseits und der wissenschaftlichen Literatur andererseits weist auf gewisse Eigenheiten des literarischen Werkes hin, die v o m Gesichtspunkt der E i g n u n g zum Verrat bedeutsam sind. Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Werk bedient sich die literarische Schöpfung der Umgangssprache, die eine Interpretation in der alltäglichen Welt erfordert. Zudem betrifft es — wie jedes landläufige Kommunikat — konkrete Dinge, Personen oder Ereignisse. Als Werk ist es jedoch nicht mit be110

stimmten Gegebenheiten verknüpft, die es erlauben würden, jene Ereignisse, Orte und Dinge mit der Welt des Lesers unmittelbar zu verbinden. Weder die Kommunikationssituation noch der Text eines Romans oder Gedichts liefern mir Hinweise, auf Grund deren ich das, wovon im Werk die Rede ist, in die Welt hineinverlagern könnte, in der ich lebe. Der Roman erzählt mir zwar von Personen und Ereignissen, die in mancher Hinsicht den Personen und Ereignissen, mit denen ich konfrontiert werde, ähneln, er gestattet mir aber keine Identifizierung. Zudem ergänze ich beim Lesen Dinge, die mir der Text nicht über meine zufällige Kenntnis der vorliegenden Situation vermittelt, sondern auf der Basis allgemeiner Kenntnisse über die Welt, in der ich lebe. Damit interpretiere ich das Gelesene metaphorisch, d. h. als Mitteilung über Ereignisse, die den mir bekannten vergleichbar sind, nicht aber metonymisch — wie etwa Berichte von Freunden, Tagebücher oder Reportagen —, d. h. als Mitteilung über Ereignisse, die der Welt, in der ich lebe, konstitutiv zugehören. Da aber das, worüber der Roman berichtet, nicht funktional mit der Welt, in der er entstand, verbunden ist, sondern lediglich über eine Analogie, läßt sich der Roman von dieser Welt lösen und — ebenfalls auf dem W e g e einer Analogie — auf dem Hintergrund einer anderen Welt betrachten. Daher braucht ein Roman nicht sinnlos oder unverständlich zu werden, wenn er von der Welt seiner Entstehung losgelöst ist. W e n n wir vom schöpferischen Verrat als einer Änderung des Interpretationsuniversums sprechen, so beschreiben wir — freilich vereinfacht — den Mechanismus der Reininterpretation eines Werkes aus einer anderen Epoche oder Kultur, w o bei sich der historische Kontext global verändert hat. Wollen wir auch andersartige Interpretationen einbeziehen — solche, die Folge einer umfassend verstandenen Übersetzung oder des Übergangs eines Werkes in einen anderen gesellschaftlichen Umlauf sind —, so müssen wir die Art der Lektüre und deren Gerichtetheit ebenfalls berücksichtigen. Beispielsweise kalkuliert die Lektüre in der Schule sowohl die Fabel als auch deren sprachliche Schicht mit ein, während bei der Massenlektüre die sprachliche Komponente übergangen wird. Daher zerstört die Verfilmung eines Romans — die selbstverständlich

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allein die Fabel bewahrt — für den Massenempfänger nicht die Identität des gelesenen Werkes; sie ist quasi eine Darstellung des gleichen Gegenstandes — der gleichen Geschichte — auf andere Weise. Andererseits ist die Schullektüre eine Interpretation des jeweiligen Werkes im Gesamtkontext des Schaffens eines Schriftstellers, der Literatur einer Epoche und der Gattungstradition, wogegen die engagierte Lektüre das interpretierte Werk lediglich in den Kontext der Gegenwartsliteratur sowie des politischen und philosophischen Gegenwartsschrifttums stellt. Die Wahl des Kontextes bringt freilich die Exponierung gewisser Schichten oder Aspekte des Werkes auf Kosten anderer mit sich. Sowohl die Art der Lektüre wie ihr Kontext geben eine bestimmte Interpretationsweise des Textes vor. Die Analyse konkreter historischer Beispiele würde es nun ermöglichen, die Beziehungen all dieser Faktoren in den Interpretationen einzelner Werke unter verschiedenem historischem Kontext aufzuzeigen. Illustrierende Beispiele für die erwähnten Operationen lassen sich leicht finden; man könnte sie zum Beispiel sämtlich anhand von Interpretationen des Hamlet im 19. und 20. Jahrhundert demonstrieren. Die notwendige Beschränkung dieses Vortrages gebietet jedoch, auf eine solche Analyse zu verzichten.

Klaus Städtke

Funktions- und Strukturwandel — ein Problem der Literaturgeschichte Die Literaturverbältnisse in Kußland an der Jahrhundertwende Literaturgeschichtliche Abläufe weisen Zäsuren auf, Intervalle, Übergangsphasen, in denen unproduktives Epigonentum jede originäre Leistung zu überdecken scheint, bis ein allgemeiner literarischer Neubeginn sich abzeichnet. Die russische Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts signalisierte dieses Phänomen sogleich an mehreren Stellen: Belinski verwies 1834 auf das Ende der „Puschkin-Periode" und erklärte die sich durchsetzende Mittelmäßigkeit literarischer Produktion zum großen Teil aus der Tatsache ihrer zunehmenden Vermarktung. 1 Tschernyschewski zieht 1856 das Fazit aus der beendeten „Gogol-Periode" 2 , und Nekrassow beschrieb ein Jahr später in einem Gedicht die Stille, in der sich — zwischen verlorenem Krimkrieg und Aufhebung der Leibeigenschaft — auf dem Lande, abseits von der liberal-geschwätzigen Stadtkultur bedeutsame Veränderungen des gesellschaftlichen Bewußtseins vollziehen. 3 Die Situation des Schriftstellers kurz vor der Jahrhundertwende schilderte Tschechow in einem Brief an den Verleger Suworin: „Wissenschaft und Technik erleben jetzt eine große Zeit, für unsereinen aber ist es eine mürbe, saure und langweilige Zeit, wir selbst sind sauertöpfisch und l a n g w e i l i g . . . " 4 Die von Belinski, Tschernyschewski und Nekrassow angedeuteten literaturgeschichtlichen Zäsuren mögen sich als episodisch übergehen lassen, die Übergangszeit vor und nach 1900 dagegen erstreckte sich über mehrere Jahrzehnte und bedarf auch hinsichtlich ihrer Inhalte und Folgen einer überzeugenden Erklärung. Die Literaturgeschichtsschreibung hat bisher auf unterschiedliche Weise versucht, den Fakten ihren historischen Stellenwert bzw. einen ästhetischen Wert zu geben. In jeweili8

Funktion

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ger Abhängigkeit von dem als dominant gesetzten literarischen Material aus Prosa, Drama und Lyrik wurde die Situation an der Jahrhundertwende als Krise und „Niedergang" gedeutet 5 *, oder aber — mit oder ohne partielle Einschränkungen — als kontinuierliche Weiterentwicklung des Realismus dargestellt. 6 Naturalismus und Symbolismus, Hauptargumente für die These des „Niedergangs", wurden in der dagegen gestellten Theorie kontinuierlicher Realismusentwicklung als Ausdruck eines spätbürgerlichen Bewußtseins abgewertet, Rolle und Bedeutung dieser Strömungen auf das Formale reduziert, auf die Entdeckung neuer Techniken und Aussagemöglichkeiten. Die a priori wertende Erklärung literaturgeschichtlicher Übergangsphasen als Krise und Niedergang bildet die Kehrseite der Annahme eines klassischen Literatur- und Kunstkanons als Maßstab für Wert und Unwert in Kunst und Literatur schlechthin. Wenn wir dieser Konzeption unsere Zustimmung verweigern, so bedeutet dies nicht, daß wir der Version einer ständig aufsteigenden Realismusentwicklung unbesehen zustimmen. Zu stark ist hier die Skepsis gegenüber der Tendenz zur Vereinfachung literaturgeschichtlicher Prozesse. Betrachten wir deshalb die Dinge einmal nicht aus der Perspektive einer Chronologie ausgewählter Werke und Biographien ihrer Autoren auf dem allgemeinen Hintergrund der Historie, sondern aus der Sicht der Literaturverhältnisse, der Beziehungen von literarischer Produktion und Rezeption. Dann zeigt schon eine oberflächliche Betrachtung, daß wir es in vermeintlichen Krisenzeiten der Literaturgeschichte mit einer mitunter außerordentlichen Aktivität auf der Seite der Literaturrezeption zu tun haben. Dies sei im Hinblick auf die russische Kultursituation der Jahrhundertwende an einigen Tatsachen demonstriert: Nach Berechnungen von Tschernyschewski konnten 1860 etwa 6 Prozent der russischen Bevölkerung lesen und schreiben, 1897 waren es bereits 20 Prozent. Daß um 1880 eine beschleunigte Aufklärung einsetzte, zeigt z. B. die von 5629 (1877) auf 14000 (1886) steigende Zahl der Studenten. Zeitungs- und Buchdruck nahmen in der gleichen Zeit einen bedeutenden Aufschwung: Wurden 1871 nur 14 Journale herausgegeben, so waren es 114

1890 bereits 29, die Anzahl der Zeitungen erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 36 auf 79. Daß sich dabei die Qualität des Papiers und der Illustrationen (Einführung der Fotografie) wesentlich verbesserte und der Informationsgehalt anwuchs (Einführung von Telegrafenagenturen), kann hier nur beiläufig angemerkt werden. Ein letztes Detail aus der Entwicklung des Buchdrucks: Der Verleger Suworin, Herausgeber der Neuen Zeit, der größten und einflußreichsten Zeitung, gründete nach dem Vorbild von Reclams UniversalBibliotbek und der französischen Bibliothèque nationale eine sogenannte Billige Bibliothek, in der etwa 300 russische und ausländische Klassiker gedruckt und zu geringem Preis verkauft wurden. 7 Zu den Klassikern gehörten nun auch demokratische Autoren wie Belinski und Pissarew, Dobroljubow und Tschernyschewski, deren Schriften z. T. lange Zeit verboten gewesen waren. Lenin bemerkt dazu später: „Die Kaufleute hörten auf, mit Hafer zu handeln und begannen einen einträglicheren Handel — den mit der billigen demokratischen Broschüre. Das demokratische Buch war zu einem Produkt geworden, das man auf dem Jahrmarkt kaufen konnte." 8 Produktive Literatursoziologie läßt sich mit diesen als symptomatisch hervorgehobenen Fakten jedoch erst dann betreiben, wenn man sie auf den historischen Gesamtprozeß bezieht. Die äußeren chronologischen Markierungspunkte für die Eingrenzung dieser Übergangsepoche waren das Attentat von 1881 und die Revolution von 1905. In dem dazwischenliegenden Zeitraum vollzogen sich entscheidende Veränderungen in der Klassenstruktur: Der alte Widerspruch zwischen Bauern und Aristokraten evolutionierte sehr rasch in Richtung auf einen neuen, auf den Widerspruch zwischen Arbeitern und Bourgeoisie. Diese Entwicklung hatte schon bald nach Aufhebung der Leibeigenschaft eingesetzt. Bestimmenden Einfluß auf das gesellschaftliche und kulturelle Leben gewann die neue Klassenrelation aber erst um 1880. Die utopische Absicht der Volkstümler, durch die revolutionäre Errichtung eines russischen Bauernsozialismus die allgemeine Verbürgerlichung abzuwehren, mußte nach dem Attentat endgültig verworfen werden. Die nun folgende relative Stabilisierung der bürgerlichen Verhältnisse in Rußland führte zur Herrschaft einer 8*

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Massenkultur, die zur Verschleierung der neuen Klassenwidersprüche alle Ausdrucksweisen des gesellschaftlichen Bewußtseins, darunter auch Kunst und Literatur, in den Bannkreis einer übergreifenden liberalen Ideologie zu verfrachten suchte. Vor allem in dieser Funktion trugen Buchdruck und Presse dem allgemeinen Wandel der öffentlichen Meinung und den entstehenden neuen Kulturbedürfnissen Rechnung. Die Wirkung der bürgerlichen Massenkultur auf die russische Gesellschaft der Jahrhundertwende ist mehrfach kritisch beschrieben worden, am eindringlichsten wohl in Tolstois Traktat Was ist Kunst? (1899). Zur gleichen Zeit klagte Gorki über den Konservatismus im ästhetischen Geschmack der Masse, die ihr schweres und langweiliges Leben verschönern möchte und sich dabei mit den bunten Bildern auf der Verpackung französischer Seifenschachteln begnügt. 9 Die zeitgenössische Kunstkritik zu Ausstellungen russischer Malerei wies in eine ähnliche Richtung: Der Betrachter verlangte einen unproblematischen Pseudorealismus, der bei naturalistischer Wirklichkeitsnähe in der Darstellung das Bürgerleben zum Ideal stilisierte. 10 Die flüchtige Skizzierung dieser Zusammenhänge sollte den breit zu differenzierenden Hintergrund veranschaulichen, auf dem sich ein Funktions- und Strukturwandel in der russischen Literaturentwicklung abspielt. Wenden wir uns nun diesem Wandlungsprozeß selbst zu: Die klassische realistische Literatur, paradigmatisch erfaßbar etwa als Werk-Ensemble oder Textkorpus bestimmter Autoren (Turgenjew, Gontscharow, Nekrassow, Tolstoi, Dostojewski), wurde um die Jahrhundertwende nicht mehr als Gegenwartsliteratur, sondern als literarisches Erbe gelesen. Eine Reihe von Werken wurde zu einem Gesamtkorpus abgeschlossen, ästhetisch-literarisch zu einem bestimmten System geordnet, dessen Rezeption unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen, d. h. unter einem anderen funktionalen Aspekt erfolgte. Die klassischen Texte wurden aus ihrem ursprünglichen funktionalen Zusammenhang herausgelöst. Die Übertragung in den neuen Zusammenhang stellt sich für die Literaturrezeption in folgenden Varianten dar: Trivialisierung der Klassik zur Bildungs- und Unterhaltungslektüre, Beschränkung auf den thematischen Aspekt, auf die 116

spannend konstruierte Geschichte. Eine solche Haltung läßt sich für den größten Teil des Lesepublikums postulieren; einer solchen Funktion entsprachen Verlagseinrichtungen wie die Billige Bibliothek Suworins, sowie ein großer Teil der in der Presse erscheinenden Literaturkritiken; Ignorierung oder kritische Lektüre der Klassik, die als nicht mehr zeitgemäß oder „unwahr" registriert wurde. Zu erfassen wären in diesem Zusammenhang besonders die neuen Lesebedürfnisse, die sich im städtischen Industrieproletariat konstituierten und von Plechanow in seinem Aufsatz Einige Worte an die Arbeiterleser (1885) charakterisiert wurden; Neuinterpretation der Klassik durch eine ästhetizistisch orientierte Intelligenz, die Kunst und Literatur vor den beiden zuvor genannten Rezeptionstendenzen zu bewahren suchte. Ein großer Teil der russischen Intelligenz, nach dem Scheitern der Volkstümler als relativ selbständige gesellschaftliche Schicht aus ihrer sozialen Führungsrolle entlassen, verfiel zunächst in eine Protesthaltung gegen die Geschichte und ihre sozialen Bewegungen oder arrangierte sich auf unterschiedliche Weise mit der liberalistischen Politik der russischen Bourgeoisie. Kunst und Literatur wurden aus dieser Perspektive nicht mehr vorrangig als kritische Abbilder der sozialen Wirklichkeit betrachtet, sondern als Symbole, die entweder auf die Seele des Künstlers oder auf transzendentale Ideen verweisen. In seinem berühmten Aufsatz Über die Ursachen des Verfalls und die neuen Strömungen der modernen russischen Uteratur (1893) löste Mereshkowski die berühmten Gesellschaftsromane aus ihrem sozialgeschichtlichen Kontext und entdeckte bei Turgenjew und Gontscharow erste Spuren einer neuen „symbolischen Form", bei Dostojewski und Tolstoi einen neuen „mystischen Inhalt". 11 In die Richtung einer -Autonomiesetzung der Literatur und ihres einzig symbolisch zu verstehenden Inhalts zielte auch Brjussows Konzept vom Symbolismus, das er in seinen ersten Gedichtbänden und in der Schrift Über die Kunst (1899) entwickelte. In diesen Varianten der Literaturrezeption, die im einzelnen einer hier nicht zu leistenden Differenzierung und Wertung bedürften, manifestierte sich ein Funktionswandel der Literatur. Zu untersuchen wäre nun das Problem, wie sich im Zu117

sammenhang mit diesem Funktionswandel auch ein Strukturwandel in der Literaturentwicklung erkennen läßt. U m eine Ausgangsbasis zu gewinnen, seien zunächst die klassischen Strukturen (etwa die Struktur des russischen realistischen G e sellschaftsromans) und deren Entstehungsbedingungen allgemein umschrieben. D e r klassische Roman, der mit Autoren wie Turgenjew, Gontscharow, Leskow, Tolstoi und D o s t o jewski um die Jahrhundertmitte und danach zur Blüte kam, ging im allgemeinen von folgenden Prämissen aus: 1. D i e soziale Wirklichkeit als ein Hauptinhalt realistischer Kunst ist überschaubar aus der ethischen und intellektuellen Sicht eines Autors. 2. Die Position dieses Autors ist hoch genug und so umfangreich angelegt, daß sie die Funktion von Philosophie, Publizistik, Psychologie und Sozialwissenschaft in diesen oder jenen Ausmaßen miterfüllt. 3. Der Autor ist zugleich Kritiker der darzustellenden Verhältnisse. Die Literatur versteht sich als gesellschaftsverändernde Praxis. 4. Das Ideal dieser Literatur ist vielschichtig und reicht von der Kritik sozialer Widersprüche bis zum utopischen Gegenentwurf zur bestehenden Ordnung, bis zum Appell, einer ethischen wie geschichtlichen Notwendigkeit folgend, die gesellschaftlich unzulängliche und widersprüchliche Gegenwart überwinden zu helfen. 5. Der Appell war — wie übrigens die meisten klassischen W e r k e selbst — an den kritisch denkenden Intellektuellen gerichtet, an die Intelligenz in ihrer Rolle als Fürsprecher und Vertreter der Volksinteressen, die sich selbst aus verschiedenen Gründen nur wenig oder gar nicht zu artikulieren vermochten, obwohl diese Interessen, vor allem die des russischen Bauern, zum Ausgangspunkt möglicher gesellschaftlicher Veränderungen gemacht wurden. Der unter diesen Voraussetzungen geschriebene klassische Roman hat etwa folgenden Ablauf: In einer fiktiven E r zählung, die als ein Nebeneinander von sozialer Chronik und individueller Biographie angelegt ist, sammelt der problematische Held an novellistischen und dramatischen Umbruchssituationen gesellschaftliche Erfahrungen, die ihn desillusio-

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nieren. Entweder er scheitert nun an der sozialen Umwelt, in totaler Entfremdung, oder er überwindet seine Isolation durch die Erkenntnis, daß eine echte Entfaltung seiner Persönlichkeit nur möglich ist, wenn er sich zum Anwalt und Fürsprecher der Volksinteressen macht. (Daß wir hier nur bestimmte, für den geforderten Zusammenhang notwendige Elemente des klassischen Romans hervorheben, sollte aus methodischen Gründen gestattet sein.) Die vom Autor erfundene Welt und ihre Bewegungsabläufe enthalten eine spezifische „Wahrheit" gegenüber der Unwahrheit manipulierter Staatsideologien der herrschenden Klasse. Die Form dieser Wahrheit ist eine spezifisch literarische „Ordnung", die hierarchisch aufgebaute Romanwelt, in der das persönliche Gewissen des Autors die oberste Richterinstanz bildet. Der Ganzheitscharakter des Werkes ergibt sich aus der möglichst exakten sozialen und psychologischen Motivation von Aktion und Reaktion der Figuren. Das vermeintliche Chaos der Verhaltensweisen klärt sich zum Typischen, das Zufällige erscheint am Ende als notwendig, und die konkrete Vorstellungswelt bekommt eine sinnbildliche Gesamtbedeutung. Dieser Realismus liefert ein besonders konstruiertes Abbild und Modell der Wirklichkeit, nicht im Sinne äußerlicher Kopie, sondern als eine „soziale Analyse", die letztlich auf eine Veränderung der Wirklichkeit zielt. Die hier skizzierte Struktur realistischer Abbildung der Wirklichkeit wurde kurz vor der Jahrhundertwende in dem Maße fragwürdig, wie sich die gesellschaftliche Funktion der Literatur veränderte und jene Prämissen aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein verschwanden, die zur Konstituierung und Wirksamkeit der klassischen Struktur geführt hatten: der Begriff der undifferenzierten Volksinteressen, die Ideen vom Bauernsozialismus und von der Führungsrolle der Intelligenz, der Status des Autors als höchste und umfassende Instanz, die, lediglich gestützt auf die Einbildungskraft und das eigene Gewissen, in der Lage ist, die Welt universell zu beschreiben und zu beurteilen. Nach dem Wegfall dieser Voraussetzungen wurden die klassischen Romane vom neuen Durchschnittsleser weniger als kritisches Abbild der Wirklichkeit und Appell zur Weltveränderung aufgefaßt, sondern vielmehr als eine span119

nende Unterhaltungslektüre. Dazu muß allerdings angemerkt werden, daß wir aus den Veränderungen des Leserbewußtseins nicht die mechanische Ablösung einer Literaturfunktion durch die andere ableiten, sondern eine auf ihre Bedeutung noch näher zu prüfende Akzentverschiebung innerhalb des komplexen Funktionsensembles. Während die Literaturkritik den Funktionswandel auf die unterschiedlichste Weise reflektierte, suchte die Literatur nach neuen Wegen und Möglichkeiten der literarischen Darstellung. Tolstois später Roman Auferstehung, die dokumentarische Prosa der den Volkstümlern nahestehenden Schriftsteller, Tschechows Novellen und Dramen sowie die neoromantischen Züge im Frühwerk Gorkis zeigen die Absicht der Autoren, Abbild- und Modellfunktion der Literatur neu zu bestimmen. Inwieweit die symbolistische Protesthaltung gegenüber der Abbildfunktion als Reaktion auf den Pseudorealismus der Trivialliteratur zu rechtfertigen ist, bevor der Symbolismus zu einem konservativen Aktionsprogramm verengt und kanonisiert wurde, wäre außerdem eine Untersuchung wert. Die hier genannten literarischen Tendenzen, die zur Jahrhundertwende in Rußland von der klassischen Struktur realistischer Abbildung sich entfernen und neue Verfahren des Abbildens entwickeln, demonstrieren einen Strukturwandel der Literatur, konkret erkennbar an der dialektisch zu verstehenden Opposition der neuen Texte zum klassischen Realismuskonzept. Zu zeigen war mit diesen Ausführungen nicht so sehr das allgemein bekannte komplizierte Verhältnis von Geschichte und Literatur, sondern vielmehr der Umstand, daß, bevor man sich in der russischen und sowjetischen Literatur wieder der klassischen Tradition für die eigene Produktion erinnerte, eine Zäsur gesetzt wurde, an der die Klassik vom Leser erstmals in die Funktion des Erbes gerückt, vom Autor dagegen auf die Leistungsfähigkeit ihrer Struktur kritisch befragt wurde. Beides signalisiert nicht a priori Niedergang oder neuen Aufstieg, sondern die einsetzende Veränderung der Literaturverhältnisse, die man genau analysieren sollte, bevor man den literaturgeschichtlichen Prozeß zu werten beginnt. 120

Literatur und Ästhetik in der bürgerlichen Gesellschaft

Martin Fontius

Ästhetik contra Technologie — eine Voraussetzung bürgerlicher Literaturauffassung

U m Erwartungen, die hier nicht erfüllt werden können, zu begegnen, schicke ich drei Thesen voraus: 1. Grundlage der am A u s g a n g des 18. Jahrhunderts in Deutschland entwickelten Kunstauffassung, die bis in die Mitte unseres Jahrhunderts die bürgerliche Literaturauffassung beherrscht, ist die Ausklammerung künstlerischer Arbeit aus der kapitalistischen Produktionsweise. 2. Der Herausbildung einer Wissenschaft der Technologie korrespondierte eine Revolution der Kunstauffassung, die eine Ästhetisierung der Kunst zur Folge hatte. 3. Die damit verbundene Aufwertung der K u n s t basiert weitgehend auf romantischem Antikapitalismus und ist ihrem sozialen Inhalt nach ein problematisches Erbe. Die bekannte Schwierigkeit der Literaturwissenschaft anzugeben, über welche Zwischenglieder Veränderungen in der Produktionsweise in die luftige Sphäre der literarischen Theorie vermittelt werden, hat das methodische Verfahren zu bestimmen: Nicht die Literaturtheorie, sondern die Kunsttheorie muß in dieser Periode zum Ausgangspunkt der Betrachtung genommen werden, und dies aus einem doppelten Grund. Zwischen der Literatur und den bildenden Künsten entwickelte sich erst im 18. Jahrhundert ein Verhältnis sozialer Gleichrangigkeit, das die Ausbildung einer ästhetischen Theorie erforderlich machte. Allen früheren Perioden, denen die Vorstellung eines Systems oder Ensembles schöner K ü n s t e unbekannt war, fehlte ästhetisches Denken im eigentlichen Wortsinn. 1 War das neue Verhältnis einmal hergestellt, so blieb es für die literarische Theoriebildung nicht konsequenzenlos. Ästhetisches Denken umfaßt und bestimmt die Literaturauf123

fassungen der Folgezeit nicht nur, insofern es die allgemeinere und abstraktere Anschauungsweise ist, sondern bildet die Voraussetzung dafür, daß Veränderungen in der Produktionssphäre auch für die literarischen Anschauungen Relevanz erhalten, vermittelt in der Hauptsache durch die Kunsttheorie.

1. Für die Konstituierung des bürgerlichen Kunstbegriffs war ausschlaggebend, daß die Arbeit der Künstler der sich entwickelnden kapitalistischen Produktionsweise n i c h t integrierbar war. Zum scheinbar paradoxen Kriterium einer bürgerlichen Kunstauffassung wurde daher, daß Kunst aus dem herrschenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnis ausgeklammert blieb. In der „Phase der historischen Scheidung des Produzenten von seinen Produktionsmitteln' blieb der Künstler als der einzige zurück, an dem die Arbeitsteilung — allerdings ganz und gar nicht spurlos — vorbeigegangen war. Seine Tätigkeit konnte so als identische Arbeit, ihr Produkt als von der Heteronomie des modernen Arbeitsverhältnisses grundsätzlich geschieden gelobt werden. Kraft dieser Kontinuität in ihren Produktionskriterien hat K u n s t ihren modernen Status erst erringen können." 2 Einen exemplarischen Ausdruck hat der hier skizzierte Vorgang in den Theorien der bürgerlichen politischen Ökonomie gefunden. Von Quesnay, dem genialen Entdecker des Wirtschaftskreislaufs, bis zu Ricardo wurde immer wieder die Tatsache herausgestellt, daß künstlerische Produktion — wie Marx schreibt — „mit der eigentlichen kapitalistischen Produktionsweise nichts zu tun h a t " 3 . Durchgängig lief die Frage der Politökonomen darauf hinaus, die Formen Mehrwert produzierender Arbeit, die allein fürs Kapital interessant sind, von den „unproduktiven" Formen zu unterscheiden. Auf .klassische Weise hat Adam Smith diese revolutionäre Disjunktion in seinem Hauptwerk vollzogen: „ . . . f a s t das ganze Staatseinkommen", so lautet seine ernüchternde Bilanz, „wird in den meisten Ländern dazu verwendet, unproduktive Arbeitskräfte zu u n t e r h a l t e n . " N i c h t nur „der Fürst samt 124

allen Justiz- und Militärbeamten, die unter ihm dienen, die ganze Flotte und Armee", auch „Geistliche, Juristen, Ärzte, Gelehrte aller Art; Schauspieler, Possenreißer, Musiker, Opernsänger, Operntänzer usw." rangieren als „unproduktive Arbeiter" in einer Klasse mit den „häuslichen Dienstboten" 5 . In dieser berühmten schwarzen Liste fehlen die bildenden Künstler, weil Smith, verführt durch die Polemik gegen das die Landwirtschaft als einzigen produktiven Wirtschaftszweig betrachtende physiokratische System, die „Klasse der Handwerker, Manufakturisten und Kaufleute" stets en bloc als produktive verteidigt. 6 Er kann daher stillschweigend „die schöpferischen Künste . . . der Maler und Bildhauer" 7, insofern ihre Tätigkeit „in einem dauernden Gegenstande oder einer verkäuflichen Ware" 8 sich niederschlägt, der produktiven Arbeit unterstellen, andererseits aber auch die Tätigkeit des Manufakturarbeiters, insofern er Wert produziert, ohne auf den eklatanten Widerspruch zwischen beiden Formen einzugehen. Aus diesem Grunde stellt er die Frage nach den Folgen einer Mechanisierung der Künste — eine zentrale Frage vom Standpunkt des Kapitals — gar nicht, obwohl sie als Problem von der politischen Ökonomie bereits erkannt war. Ausgehend von physiokratischen Prämissen hatte Quesnay in einem Dialog Über die Arbeiten der Handwerker (1766), worunter bei ihm auch die Künstler verstanden werden, beiden Tätigkeitsformen den Charakter ökonomischer Produktivität bestritten. Wie könne man ernsthaft vertreten, läßt er den einen Dialogpartner argumentieren, daß die nicht unmittelbar verzehrbare Arbeit eines Malers mehr produziere als die unentbehrliche Arbeit eines Bäckers: „Ein für einen hohen Preis erworbenes Gemälde ist, ich gestehe es", heißt es ironisch weiter, „ein großer Reichtum, denn der Maler hat den Käufer des Bildes seine Arbeit sehr teuer bezahlen lassen. Ohne den hohen Preis der Arbeit wäre also das Gemälde, obgleich bewundernswert, ein mäßiger Reichtum. Die schönen Zeichnungen würden ebenfalls zu einem hohen Preis gehandelt, wenn man nicht das Mittel gefunden hätte, sie mit geringen Kosten durch den Kupferstich und den Druck zu vervielfältigen. Glauben Sie aber, daß die Verminderung des Preises dieser Werke eine Verminderung der Reichtümer in einer Nation bedeutet?" 9 125

Das damit berührte Wertproblem, das Quesnay noch nicht von der Entwicklung des Preises zu unterscheiden vermochte, hat später bei Ricardo seine vom Standpunkt des Kapitals gültige Darstellung gefunden. „Die Bestimmung des Wertes durch die Arbeitszeit ist für Ricardo das Gesetz des Tauschwertes." 10 Ausgenommen von diesem „Lehrsatz von größter Bedeutung in der politischen Ökonomie" 11 sind in seiner Werttheorie, die Marx als „die wissenschaftliche Darlegung des gegenwärtigen ökonomischen Lebens" kennzeichnet12, lediglich „einige Dinge, deren Wert nur von ihrer Seltenheit abhängt . . . Einige auserlesene Statuen und Bilder, seltene Bücher und Münzen, Wein von spezieller Qualität . . . gehören zu dieser Kategorie. Ihr Wert ist völlig unabhängig von der zu ihrer Produktion ursprünglich erforderlichen Menge Arbeit, und er verändert sich mit dem Wechsel des Wohlstandes und der Neigungen derer, die sie zu besitzen wünschen." 13 Auch wenn Ricardo nur von „auserlesenen" und „seltenen" Produkten spricht, um die Problematik zu verdeutlichen — mit diesem Urteil war die fürs Kapital unüberschreitbare Grenze gegenüber der Kunst markiert. Künstlerischer Tätigkeit war der ökonomische Maßstab der Arbeitszeit und der uneingeschränkten Konkurrenz inadäquat. Indem die künstlerische Produktion aber dem Gesetz des Mehrwertes nicht subsumiert werden konnte, wurde sie für das Profitinteresse des Kapitals uninteressant. Unter anderem Aspekt wird der gleiche Sachverhalt in dem vielzitierten Satz aus den Theorien über den Mehrwert formuliert: „Kapitalistische Produktion ist gewissen geistigen Produktionszweigen, z. B. der Kunst und Poesie, feindlich." 14 Marx hat hier, wie vor ihm die bürgerlichen Ökonomen, die b i l d e n den Künste im Auge, sonst wäre die Erwähnung der Poesie pleonastisch. An die diesem Satz permanent unterstellte Dekadenz der Kunst im a l l g e m e i n e n Sinne hat er mit Sicherheit nicht gedacht, denn auch bildende Kunst plus Poesie, d.h. durchs gesprochene Wort vermittelte Literatur, sind niemals Kunst schlechthin. Das Problem der Kunstfeindlichkeit des Kapitalismus kann ernsthaft wohl nur diskutiert werden, wenn Marx' positive Bestimmungen über die der kapitalistischen Produktionsweise entsprechenden geistigen Produktions126

formen hinzugenommen werden: Er spricht einerseits von „Weltliteratur" 15 , andererseits von jener Periode, in der „die Kunstproduktion als solche eintritt" 16 . Die Arbeit des spezialisierten Kunstproduzenten bzw. Berufsschriftstellers, deren Erscheinen im 18. Jahrhundert die neue, vom Markt bestimmte Form der Kunstproduktion signalisiert, bleibt jedoch auch in der kapitalistischen Gesellschaft an die Kriterien handwerklicher Produktion gebunden: Die „Qualität des Produkts" oder sein „Gebrauchswert" und das als „Meisterschaft" empfundene und anerkannte „besondere Geschick des einzelnen" sind noch immer wichtige Wertungsmaßstäbe der Kunstkritik. Bei der Produktion des Kapitals dagegen handelt es sich, so Marx in den Grundrissen, „von vornherein um Masse, weil um Tauschwert und Surpluswert. Das entwickelte Prinzip des Kapitals ist grade das besondre Geschick . . . und die Handarbeit. . . überflüssig zu machen" 17 . Auf einem bestimmten Sektor verlegt inzwischen die Automatisierung der Geistesarbeit auch hier „das Geschick . . . in die toten Naturkräfte"; die Standardisierung der literarischen Produktion — in entwickelterer Form ebenfalls ein Prozeß unseres Jahrhunderts — hat zwar das Niveau des seine Arbeitskraft ans Kapital verkaufenden „Teilschriftstellers" noch nicht überschritten, bedeutet gegenüber der vorangehenden Entwicklung jedoch zweifellos einen einschneidenden Funktionswandel der Literatur.

2. Wenn die Kunst den bürgerlichen Ökonomen als Rudiment einer überholten gesellschaftlichen Produktionsstufe erscheinen mußte, so besaß die Bourgeoisie schon als revolutionäre Klasse ein starkes ideologisches Interesse an der Kunst und hat es vollends nach der politischen Machtübernahme verstanden, die Sphäre der Kunst ihrem Gesellschaftssystem zu integrieren. Der damit verbundene Vorgang der Ideologisierung der Kunstauffassung läßt sich kurz so beschreiben: Durch die im Zeichen des Kapitals vollzogene Entfaltung 127

gesellschaftlicher Produktivität, der das „halbkünstlerische Verhältnis" handwerklicher Arbeit als vorherrschende Produktionsweise zum Opfer fiel, wurde die bestehende Kunstauffassung revolutioniert. In dem Maße, wie die sog. „mechanischen K ü n s t e " sich zu kapitalistisch betriebenen Unternehmen entwickelten, verlor der weite Kunstbegriff seine Basis, der den Zusammenhang von Handwerk und K u n s t im Englischen, Französischen und Deutschen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht hatte. Während die mechanischen Künste in den S o g der industriellen Revolution gerieten, avancierten die sog. „schönen K ü n s t e " — ein zur Unterscheidung bereits im 17. Jahrhundert geschaffener Terminus 1 8 — zur „wahren K u n s t " (Goethe) schlechthin. Bevor durch die technische R e p r o d u z i e r b a r k e i t d e s K u n s t w e r k s der Gesamtcharakter der K u n s t im 19. Jahrhundert sich verändern sollte, hat demnach die technische Produzierbarkeit als solche schon eine Umwälzung bewirkt, der wir den von Brecht kritisierten „antitechnischen" Charakter 1 9 der bürgerlichen Kunstauffassung zuzuschreiben haben. Der Mystifizierung der Literatur in der bürgerlichen Literaturideologie liegt also ein doppelter Sachverhalt zugrunde: Unterm Primat ästhetischen Denkens werden die literarischen Grundkategorien von der Kunsttheorie her fundiert, diese konstituieren sich aber notwendig in einem Prozeß der Abgrenzung von jenen „ K ü n s t e n " , die ans Kapital gefesselt sind. Dabei regelte sich das Verhältnis der „schönen" zu den „technologisierten" Künsten nach der allgemeinen Gesetzlichkeit, die das Verhältnis der handwerklichen Gewerbe gegenüber der vordringenden Manufaktur bestimmte. E s ist von Marx als das einer „Scheidung und gegenseitigen Verselbständigung" 2 0 beschrieben worden. Der Monopolisierung des Technikbegriffs auf der einen Seite entsprach die Ästhetisierung des Kunstbegriffs auf der anderen. Der plötzlich einsetzenden Tendenz, „schöne K u n s t " vom Handwerk scharf zu „scheiden", lag selbst die wachsende Teilung der Arbeit in der Manufaktur als realer V o r g a n g zugrunde. Theoretischer Reflex und Resultat dieser Entwicklung war einerseits die Herausbildung eines ästhetischen Denkens, von dem das technische Moment, wie schon Hegel kritisch ver128

merkt, „als etwas bloß Technisches" angesehen wird, „das mit dem eigentlich Künstlerischen nichts zu schaffen h a b e " 2 1 , andererseits die Herausbildung einer Wissenschaft der T e c h n o logie, deren Prinzip es war, „jeden Produktionsprozeß an und für sich und zunächst ohne alle Rücksicht auf die menschliche Hand, in seine konstituierenden Elemente aufzulösen" 2 2 . D a ß ausgerechnet die Deutschen den Begriff der T e c h n o logie für das bilden, „was man bis dahin gewöhnlich, aber uneigentlich .Kunstgeschichte' genannt h a t t e " 2 3 , während die Engländer zur gleichen Zeit die industrielle Revolution machen, ließe sich gewiß als ein weiteres Beispiel für den theoretischen Sinn der Deutschen interpretieren. In Wirklichkeit entsprach die neue Disziplin, die J o h a n n Beckmann 1777 in Göttingen mit einem Abriß der Gewerbekunde aus der Taufe hob, der kameralistischen Funktion der deutschen Ö k o n o m i e , die andernorts v o m Privatkapital realisierte wirtschaftliche Fortschritte in den Dienst der rückständigen deutschen Kleinstaaten bringen sollte, eine Konstellation, die dem A u f k o m m e n des Maschinenwesens in Gestalt staatlicher Manufakturen in Deutschland von vornherein einen bedrohlichen Charakter geben mußte.

3. D i e Art, mit der die Kunstideologen auf diese Veränderungen reagierten, entsprach dem unterschiedlichen Niveau der Bourgeoisie in den einzelnen Ländern. Während die Enzyklopädisten, deren Arbeit die industrielle Revolution in Frankreich ankündete, in ihrem ästhetischen Denken vom Primat der Wissenschaft und Technik ausgingen und für die Aufwertung der mechanischen Künste als zentraler Sphäre der materiellen Produktion plädierten, sah man in Deutschland die D i n g e noch aus der Optik der Zünfte. Bei Kant wird die Sache der „schönen K u n s t " gegenüber der „mechanischen" wie in einem Wettstreit der Künste instrumentiert, wobei die entscheidenden ästhetischen Bestimmungen aus der „Scheidung" gewonnen werden. Handwerk und Kunst, Lohnkunst und freie K u n s t , mechanische Kunst und ästhetische Kunst — aus diesen ständig wiederkehrenden Gegensatzpaaren gelangt K a n t in der 9

Funktion

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Kritik der Urteilskraft zu wesentlichen Deduktionen. „Schöne Kunst ist Kunst des Genies", so lautet ein verführerischer Kernsatz, bei dessen Begründung der vagen ästhetischen Thesis die präzise Antithesis aus der Handwerkssphäre hinzugefügt wird. Genie sei ein Talent, „dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen, nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgendeiner Regel gelernt werden kann". Kant folgert daraus, „daß Originalität seine erste Eigenschaft" und jedes seiner „Produkte zugleich Muster, d. i. exemplarisch" sein müsse. 24 Die außerordentliche Zuspitzung des Originalitätsanspruchs zum Gesetz permanenter Novation im Schaffen eines Künstlers verliert vor dem Menetekel des „mechanischen Künstlers" den extrem subjektivistischen Schein, den die Literaturtheorie postuliert. Ähnliches gilt für den „Goldrausch" des 19. Jahrhunderts „an den ,ewigen' Werten der Kunst", wie Benjamin formulierte. 25 Erzwang doch die Flut manufakturmäßig hergestellter Waren schon deshalb eine ideologische Aufwertung des „wahren Kunstwerks", weil auch die Preise handwerkmäßig hergestellter Produkte unvermeidlich in die Höhe gingen. Während Goethe daher in dem Aufsatz Kunst und Handwerk den Werken des „echten Künstlers einen innerlichen, ewig bleibenden Wert" zuschreibt, „hat alles, was der bloß mechanische Künstler hervorbringt, weder für ihn noch für einen andern jemals ein solches Interesse. Denn sein tausendstes Werk ist wie das erste, und es existiert am Ende auch tausendmal." 26 Resigniert projiziert Goethe später die undurchdringliche Zeitproblematik in den griechischen Mythos zurück. Der Neid, den die Überlieferung Dädalus, dem ersten Plastiker, bei der Erfindung der Drehscheibe des Töpfers zuschrieb, wird bezeichnend umgedeutet: „Von Neid möchte wohl nichts vorgekommen sein; aber der große Mann hat wahrscheinlich vorempfunden, daß die Technik zuletzt in der Kunst verderblich werden müsse." 2 7 In der Tat mußte die entfesselte Produktivkraft jene, die für eine Erneuerung klassischer Formen in der Kunst plädierten, aufs grausamste treffen. Machten doch englische Industriewaren, die aus rein technologischen Gründen, wie eine frühe Geschichte der Technik darlegt, nicht dem zeitgenössischen 130

Geschmack ,,umständliche[r] Zierlichkeit" huldigen, sondern „simpel gearbeitet" sein mußten, „die antiken Formen bald allgemein" 2 8 . Ahnungslos brachten so „die Engländer mit ihrer modern-antiken T o p f - und Pastenware" 29 das schöne Programm der „edlen Einfalt" um seinen Sinngehalt. Daher die Schärfe der Goetheschen „Maxime" : „ D i e Technik im Bündnis mit dem Abgeschmackten ist die fürchterlichste Feindin der K u n s t . " 30 Mit der Korrelation von Basis und Überbau hat der historische Materialismus auch für den Widerspruch zwischen Technik und Kunst den methodologischen Ansatz geliefert, der mehr beinhaltet als das hegelianische Konzept, „daß der Fortschritt des Menschengeschlechts mit den Rückschritten mehrerer Tugenden . . . auf das engste verbunden i s t " 3 1 . A u f dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion gesehen liegt die entscheidende Wendung bei Marx vielmehr darin, daß jede Produktionsweise die ihr gemäßen geistigen Produktionsformen hervorbringt. Erst damit ist die auch bei G o e t h e erkennbare Position eines romantischen Antikapitalismus prinzipiell überwindbar, von dessen Geist die für die Konstituierung der bürgerlichen Literaturauffassung bestimmenden ästhetischen Kategorien noch heute zutiefst durchdrungen sind. Genie und Originalität des Künstlers, Freiheit und Autonomie der Kunst, Schönheit und Ganzheit des Kunstwerks gehören zu jenem kunstterminologischen Material, dem für eine ganze Geschichtsperiode dadurch Geltungsmacht verliehen wurde, daß ihm eine Beziehung auf die neu entstehende gesellschaftliche Produktionsweise und die entsprechenden Produktionsverhältnisse, wenn auch in privativer Form, eingeschrieben ist. War der Gegensatz zwischen „schönen" und „mechanischen" Künsten die Grundkonstellation für das ästhetische D e n k e n jener Periode, dann muß die Hypertrophie des Genies, das alle überlieferte E r fahrung in sich verzehrte und aufgebläht als seine einzigartige Natur ausgab, an irgendeinem Punkt auch als Widerschein der „Martyrologie der Produzenten" (Marx) in der Manufaktur erkennbar werden. Auch die von Moritz mit dem programmatischen „ V e r s u c h e i n e r V e r e i n i g u n g aller schönen K ü n s t e und Wissenschaften unter dem Begriff des i n s i c h 9'

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s e l b s t V o l l e n d e t e n " in der Ästhetik inaugurierte Ganzheitsideologie ist als eine Neubestimmung des Kunstwerks noch zu entziffern, die unter dem Eindruck der manufakturmäßigen Teilung der Arbeit vorgenommen wird, in der „der Teilarbeiter keine Ware produziert" (Marx). 32 Die damit verbundene ungeheure Aufwertung der Kunst, die damals den Kunstbegriff zum höchsten Symbol der Menschheit erhob, ist weitgehend Resultat eines romantischen Antikapitalismus und kein unproblematisches Erbe. J e mehr wir auch auf dem Gebiete der Kunst der „Handwerksperiode" entwachsen, um so dringender wird die Erarbeitung eines zeitgemäßen Kunstbegriffs. Die potentiell progressive historische Funktion, die den Elementen der bürgerlichen Kunstideologie zukommt, ist nämlich dadurch entscheidend paralysiert worden, daß die „Verselbständigung" der schönen Künste als Ganzes ihrem sozialen Inhalt nach und von vornherein eine bürgerlich begrenzte war. Wenn Kant mit Nachdruck postuliert, schöne Kunst müsse „freie Kunst" sein, nicht „Lohngeschäft" oder „eine Arbeit, deren Größe sich nach einem bestimmten Maßstabe beurteilen, erzwingen und bezahlen" 33 lasse, so bedeutet die Abgrenzung nicht nur eine Absage ans Mäzenatentum — ein Verhältnis, in dem der Künstler „von seinen Kräften Gebrauch machen" ließ — sondern zugleich eine Absage an jede Form der Lohnarbeit. Rechtsfähigkeit zum Staatsbürger knüpft Kant 1793 an die einzige Bedingung, daß jemand „irgend ein E i g e n t u m habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk oder schöne Kunst, oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt" 34 . Der Bruch mit der sonst befolgten Methode der Scheidung von Handwerk und Kunst trägt eindeutig politischen Charakter: Indem der Künstler als Warenproduzent anerkannt und damit in den Status des Vollbürgers erhoben wird, ist er von der Masse derer geschieden, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft lebten. Es ist vor allem dieser soziale Grundzug der bürgerlichen Kunstideologie, der uns zu einer kritischen Haltung verpflichtet. Denn nicht anders als die ökonomischen Kategorien sind auch die ästhetischen Kategorien Abstraktionen historischer Verhältnisse, die „nur solange Wahrheiten sind, wie diese Verhältnisse bestehen". (Marx) 132

Peter Weber

Funktionsverständnis in Goethes Auffassung von Weltliteratur

Wir sind es gewohnt, in Goethes Auffassung von Weltliteratur eine Vorstufe unseres Verständnisses der sozialistischen Literatur als Weltliteratur zu sehen. 1 Die Berechtigung dieser Traditionssicht liegt in der Verbindung von Humanisierungsfunktion der Literatur und gesellschaftlichem Fortschritt in Goethes Weltliteraturkonzeption — einer Verbindung, die seit langem außerhalb der ideologischen Möglichkeiten des auf die bürgerliche Gesellschaft fixierten Literaturverständnisses liegt. en Indessen verdeckt die Sicht auf Goethes Weltliteraturauffassung als gleichsam utopische Vorwegnahme sozialistischer Weltliteratur allzuleicht die literaturtheoretische Problematik jenes E r b g u t s und reduziert damit seine Aktualität. Deshalb scheinen mir einige thesenhafte Bemerkungen zur historischen Konstellation der Weltliteraturauffassung Goethes angebracht.

1. Goethe entwickelte seine Weltliteraturauffassung in spezifischer Opposition zum Programm einer Nationalliteratur. Nationalliteratur war für die ideologische Avantgarde des deutschen Bürgertums im 18. Jahrhundert nicht schlechthin die in einzelnen Ländern geschriebene Literatur, sondern jene, die in die Entwicklung der bürgerlich-antifeudalen Nationen aktiv eingriff. Tendenziell ging dieses Funktionsverständnis auf politische Operativität. Die intensive Auseinandersetzung um den Begriff Nationalliteratur — ihre wiederholte Postulierung wie die ständige K l a g e über ihr Nichtvorhandensein — ist bereits ein Anzeichen jener von Marx und Engels mehrfach charak133

terisierten Diskrepanz von ökonomisch-politischer und ideologisch-literarischer Entwicklung des deutschen Bürgertums. Wichtige Symptome dieser objektiven Diskrepanz kennzeichnete Goethe in Auseinandersetzung mit einer projakobinischen Forderung nach Nationalliteratur 1795 im Aufsatz Literarischer Sansculottismus, der die bündige Absage an das Programm der Nationalliteratur darstellte. Das bedeutet jedoch nicht, daß damit das Nationalliteraturproblem für Goethe theoretisch gegenstandslos geworden wäre. Im Gegenteil galt in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sein konzentriertes Interesse dem Verhältnis von deutscher und vor allem französischer Literatur seit dem 18. Jahrhundert, wobei Leistungen und Grenzen der deutschen Literatur gewissermaßen als Alternativen und Komplementärerscheinungen zu Leistungen und Grenzen einer klassischen Ausprägung von Nationalliteratur — eben der französischen — gefaßt wurden. 2 Seit den zwanziger Jahren zunehmend in das Gedränge unterschiedlich intendierter Forderungen nach Publikumswirksamkeit und politischer Operativität geratend, findet Goethe eine Bestätigung der gesellschaftlichen Funktionalität seiner schriftstellerischen Arbeit durch die gleichzeitig — besonders im Pariser Kreis um Le Globe3 — verstärkt einsetzende internationale Rezeption seines Werks. Dabei abstrahierte er vom operativen Moment dieser Rezeption in den jeweiligen politisch-ideologischen Kämpfen und sprach von einem „allgemein Menschlichen" als dem Verbindenden einer entstehenden Weltliteratur/' Die nationalen Besonderheiten sind nun gleichsam nur noch Hülle jenes Allgemeinen; die Not der Resignation gegenüber dem Ideal einer Nationalliteratur wird zur Chance im höheren Bereich der Weltliteratur: „Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen." 5 2. Goethes Weltliteraturauffassung ist auf die Evolution der kapitalistischen Basis als entscheidenden Prozeß im Menschheitsfortschritt gerichtet. 134

War Goethes Weltliteraturkonzeption negativ durch die Ablehnung des zu diesem Zeitpunkt in Deutschland erneut auf die Tagesordnung tretenden Erfordernisses einer politischoperativen Literatur bestimmt, so war sie es positiv durch die Orientierung auf den sich international durchsetzenden Prozeß der Kapitalisierung. Goethes Absage an das Programm einer Nationalliteratur in der Berufung auf ein internationales „allgemein Menschliches" ist zu unterscheiden von der Propagierung des enthistorisierten „rein Menschlichen", wie sie im Kreis der Weimarer Kunstfreunde gepflegt worden war. Sie ist darüber hinaus der scheinbar gleichgerichteten Wendung diametral entgegengesetzt, die auf jenem von Novalis 1799 und Chateaubriand 1802 zuerst deutlich artikulierten Epochenbild basierte. Hier handelte es sich um das Bemühen, die antifeudalen nationalen Literaturentwicklungen zurückzunehmen, die aus den Erfahrungen der nachrevolutionären Epoche in ihrer Schrittmacherrolle für die bürgerlich-kapitalistische Ordnung bestimmt worden waren. Wenn z. B. Friedrich Schlegel als „Apostel einer veralteten Lehre" 6 mit seinem Werk Über die Sprache und Weisheit der Indier (1808) außereuropäische Literaturen berief, so liegt kein Grund vor, das unbesehen als Abkehr vom Europazentrismus zu loben, denn dabei ging es um die Flucht aus der modernen Gesellschaft in eine Weltliteratur mythisierter Urzustände. Dagegen formulierte Goethe: „Europäische, das heißt Weltliteratur." 7 Er sah Europa zumindest als Kerngebiet weltliterarischer Kommunikation an: „Wenn wir eine europäische, ja eine Weltliteratur zu verkündigen gewagt haben . . ." 8 Mit Unkenntnis oder Überheblichkeit hat das nichts zu tun; vielmehr geht es um den historischen Inhalt von Weltliteratur, der aus den welthistorisch entwickeltsten Gesellschaftszuständen abgeleitet wird. Die Stichworte des „Ernsten", „Tüchtigen", „Strebenden" usw., zu denen Goethe in den Überlegungen zur Weltliteratur sein „allgemein Menschliches" konkretisiert, haben einen unmittelbaren gesellschaftlichen Bezug. Sie zielen auf Anschauungen und Verhaltensweisen, die die Entwicklung der kapitalistischen Basis — verstanden als entscheidende Sphäre menschlicher Produktivität — voranzutreiben vermögen. Auf den Einschluß des „allgemein Menschlichen" in diesen histo135

tischen Kontext verweist schon die Tatsache, daß eine der meistzitierten Weltliteraturäußerungen Goethes nicht etwa durch einen Dichterkongreß, sondern durch die Tagung der „Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte" von 1827 veranlaßt wurde. 9 Im gleichen Jahr meinte Goethe, es wäre der Mühe wert, „noch einige fünfzig Jahre auszuhalten", um folgende Errungenschaften zu erleben: den Durchstich der Landenge bei Panama, die Schiffahrtsverbindung zwischen Donau und Rhein und den Kanal bei Suez. 10 Die Perspektiven der internationalen Kommunikation als Ausdruck der Produktivität des Industriekapitalismus übten eine ungeheure Faszination auf Goethe aus. Der Wilhelm Meister-Roman der zwanziger Jahre mit seinen Abhandlungen über das Maschinenwesen und seinen Bezügen auf Nordamerika 11 * zeigt, wie Goethe sich unter diesen Bedingungen die produktive Entfaltung der Individuen dachte, die nun nicht mehr in den vorrevolutionären Vorstellungen einer Gesellschaft kleiner Warenproduzenten gefaßt werden konnte. Mit den inhaltlichen Bestimmungen der Weltliteratur leitete Goethe auch deren äußere Voraussetzungen von diesem neuen Stand der internationalen Kommunikation ab. — Einschlägige Äußerungen zeigen erstaunliche Übereinstimmung mit entsprechenden Passagen des Kommunistischen Manifest.12 Während jedoch Marx und Engels zwei Jahrzehnte später diese Entwicklung in dialektisch-materialistischer Erkenntnis ihrer Gesetzlichkeit vom Ziel der proletarischen Revolution beurteilen, zwingt Goethes weltanschauliche Position — derjenigen Hegels vergleichbar — dazu, den prinzipiell bejahten „Naturprozeß" der kapitalistischen Gesellschaft in sich selbst regulieren zu wollen, um dem bürgerlich geprägten Konzept menschheitlichen Fortschritts treu zu bleiben. Das betrifft — um noch einmal auf Wilhelm Meisters Wanderjahre zu verweisen — sowohl die inhaltliche Seite Goethescher Weltliteratur, wie auch deren Kommunikationsmechanismus. Bei aller Würdigung der neuen Dimension des Buchhandels und der Ubersetzungstätigkeit als Grundlage für das Entstehen einer Weltliteratur sah Goethe doch einen Widerspruch zwischen deren erstrebter gesellschaftlicher Funktion und der 136

Spontaneität der Marktgesetze, denen er durch die Betonung jener persönlichen Kontakte entgegenzuwirken suchte, wie sie vor allem zu hervorragenden Mitarbeitern international orientierter Literaturrevuen in mehreren Ländern bestanden. Er schrieb: „. . . was der Menge zusagt, wird sich grenzenlos ausbreiten und, wie wir jetzt schon sehen, sich in allen Zonen und Gegenden empfehlen; dies wird aber dem Ernsten und eigentlich Tüchtigen weniger gelingen; diejenigen aber, die sich dem Höheren und dem höher Fruchtbaren gewidmet haben, werden sich geschwinder und näher kennenlernen. Durchaus gibt es überall in der Welt solche Männer, denen es um das Gegründete und von da aus um den wahren Fortschritt der Menschheit zu tun i s t . . . Die Ernsten müssen deshalb eine stille, fast gedrückte Kirche bilden, da es vergebens wäre, der breiten Tagesflut sich entgegenzusetzen . . . Die Haupttröstung, ja die vorzüglichste Ermunterung solcher Männer müssen sie darin finden, daß das Wahre auch zugleich nützlich ist; wenn sie diese Verbindung nun selbst entdecken und den Einfluß lebendig vorzeigen und aufweisen können, so wird es ihnen nicht fehlen, kräftig einzuwirken, und zwar auf eine Reihe von Jahren." «

3. Nach 1830 zerbrachen die weltanschaulichen Grundlagen von Goethes Weltliteraturkonzeption, weil er kapitalistische Entwicklung und „wahren Fortschritt der Menschheit" in unüberbrückbaren Widerspruch treten sah. Die zuletzt zitierten Ausführungen Goethes stammen vom März 1830; in der Folge verstummten seine Äußerungen zum Begriff der Weltliteratur. — Marx hat das Jahr 1830 im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital als die international „ein für allemal entscheidende Krise" 14 des antifeudalen Bündnisses der Bourgeoisie mit den Volksmassen und der unbefangenen Parteilichkeit bürgerlicher Gesellschaftsinterpretationen charakterisiert. Die Auswirkungen dieser Krise wurden für Goethes Weltliteraturkonzeption einschneidend, weil sie ihm widerlegten, daß jenes „Tüchtige" durch alle gesellschaftlichen Widersprüche hindurch letztlich den Lebensinteressen aller 137

Mitglieder der Gesellschaft entspricht. 1821 hatte Goethe die Verweigerung vor den Anforderungen des „Tüchtigen" auf „problematische Naturen" zurückgeführt, „die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genugtut". „Daraus" — so meinte er — „entsteht der ungeheuere Widerstreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt" 15 . Die „grenzenlosen Schrecknisse der neusten französischen Romanliteratur", über die sich Goethe 1831 äußerte, ließen sich jedoch nicht mehr auf solch subjektives Versagen zurückführen. Die Urheber dieser Werke wurden als „geistreiche vorzügliche Männer" anerkannt, „die sich durch eine Lebensfolge verdammt fühlen, sich mit diesen Abominationen zu beschäftigen" 16 . Die abschließende Arbeit am Faust brachte darüber hinaus mit den Lemuren das grundlegende „Schrecknis" der Epoche — die unausweichliche Bindung der kapitalistischen Produktivität an die Verelendung von Arbeitermassen — ins Bild, dem nur die Hoffnung, nicht mehr aber eine als praktikabel gedachte Anweisung auf eine humanistische Gesellschaft entgegenzustellen war. Mit dieser generell von der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft abgehobenen Utopie markiert Goethe selbst die historische Desavouierung jenes Funktionsverständnisses der Literatur, das seiner Auffassung von einer humanisierenden Weltliteratur zugrunde lag. Ich habe die gesellschaftlich-funktionalen Konkretisierungen des durchgängigen humanistischen Anspruchs in Goethes literarhistorischem Denken in den Vordergrund gerückt. Denn nicht in einer überzeitlichen Geltung als „geniale Prognose" 17 der weltliterarischen Entwicklung im 19. Jahrhundert und darüber hinaus als „Testament", das heute zu „vollstrecken" 18 ist, scheint mir die theoretische Bedeutung von Goethes Weltliteraturkonzeption zu liegen. Diese Bedeutung tritt im Gegenteil erst hervor, wenn die historischen Grenzsetzungen durch das Programm einer antifeudalen Nationalliteratur einerseits und durch die Ratlosigkeit gegenüber gesellschaftlich eingreifender Funktionssetzung der Literatur sowie die vage Hoffnung auf den „künftigen Leser" 19 andererseits beachtet werden. Dabei werden vor allem die folgenden Anregungen und Fragestellungen für eine vergleichende marxistische Literaturforschung wichtig. 138

Bei Goethe lag vor der Prägung seines Weltliteraturbegriffs eine Methode des Vergleichs nationaler Literaturen vor, die darauf verwies, daß diese Literaturentwicklungen aus der internationalen Konstellation einer historischen Epoche ihr Beziehungsverhältnis erfahren. Das ist im Ansatz eine tragfähige Gegenposition zu jenem Herausdestillieren einer über den nationalen Literaturentwicklungen schwebenden Weltliteratur, das die historische Dialektik von National-Besonderem und Epochal-Allgemeinem verfehlt und letztlich nur idealistisch geprägte Weltliteraturvorstellungen bestätigt, von denen auch Überlegungen zur theoretisch-methodologischen Grundlage marxistischer Komparatistik mitunter noch beeinflußt sind. 2 0 Goethes Prägung des Weltliteraturbegriffs verweist ungeachtet des weitgehenden Verlustes jener Dialektik auf die Frage, inwieweit mit dem Ende von Übergangsepochen bzw. mit der internationalen Durchsetzung neuer Gesellschaftsformationen stärkere Übereinstimmungen von nationalen Literaturen hervortreten. Schließlich markiert das Zerbrechen von Goethes Weltliteraturkonzeption das welthistorische Heranreifen der Bedingungen sozialistischer Ideologie und gehört damit zu deren unmittelbarer Vorgeschichte. Dieser Problematik ist verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen, wenn es um die Traditionen unseres Literaturverständnisses geht.

Ingrid Pepperle

Bemerkungen zu Hegels Konzeption vom Ende der Kunst

In der Konzeption vom Ende der Kunst finden sich ähnliche Widersprüche zwischen System und Methode wie überall bei Hegel. Um sie fruchtbar zu machen, muß versucht werden, Hegel so zu lesen, wie es Friedrich Engels empfahl: nicht „um die Paralogismen und faulen Kniffe zu entdecken, die ihm als Hebel der Konstruktion dienten", sondern um „unter der unrichtigen Form und im erkünstelten Zusammenhang das Richtige und Geniale" herauszufinden. 1 Liest man Hegels Ästhetik auf den Begriff der schönen Kunst hin, der aus der Idee des Schönen als einer der Stufen der absoluten Weltvernunft entwickelt wird, kommt man zum Schluß, daß schon seit den Tagen Homers und Phidias' die Kunst „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung" 2 ein Vergangenes war. Alle spätere Kunst fällt für Hegel unter das „Nach der Kunst", in eine Zeit, in der sie „über sich selbst hinausweist" 3 . Es ist dann nicht recht einzusehen, weshalb er in der Einleitung zur Ästhetik wünscht, die Kunst möge sich immer mehr steigern und vollenden. Man muß schon in seiner Konzeption nach den Begründungen suchen, die nicht systembedingt sind, die auf Hegels genauer Beobachtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in seiner Zeit beruhen, um in den Differenzen seines Kunstbegriffes den Ansatzpunkt einer Theorie der modernen, zukünftigen Kunstentwicklung zu gewahren. In diesem Zusammenhang ist es nicht ganz unberechtigt, Heines These vom Ende der Kunstperiode mit Hegels Theorie in Beziehung zu setzen. Denn in Hegels Begründungen werden jene neuen Momente der Realität verarbeitet, die auch weitgehend die Grundlage abgeben für Heines Beobachtung der gesellschaftlichen und literarischen Szenerie. Von dieser Perspektive aus 140

gesehen, begründet Hegel, weshalb seine Zeit der Kunst nicht günstig ist und was Kunst unter diesen Bedingungen zu leisten vermag. Er geht dabei von geistigen, politischen und ökonomischen Veränderungen aus, die er nüchtern beschreibt: Die Kunst gewährt nicht mehr „diejenige Befriedigung der geistigen Bedürfnisse . . . welche frühere Zeiten und Völker in ihr gesucht und nur in ihr gefunden haben . . . Die Reflexionsbildung unseres heutigen Lebens macht es uns . . . zum Bedürfnis, allgemeine Gesichtspunkte festzuhalten." Der ausübende Künstler steht „innerhalb solcher reflektierenden Welt und ihrer Verhältnisse." E r kann „nicht etwa durch Willen und Entschluß davon abstrahieren" 4 . Diese Veränderung des geistig-kulturellen Lebens führt Hegel auf die kapitalistische Industrialisierung (unser heutiges Maschinen- und Fabrikwesen, die Art, unsere äußeren Lebensbedürfnisse zu befriedigen), und die moderne Staatsorganisation 5 im Gefolge der Französischen Revolution zurück: Die Not der Gegenwart, der verwickelte Zustand des bürgerlichen und politischen Lebens veranlassen „die Intelligenz selbst dieser Not und deren Interessen in Wissenschaften dienstbar zu sein, welche nur für solche Zwecke Nützlichkeit haben" 6 . Und obgleich Hegel die Problematik dieser Entwicklung nicht nur in bezug auf die Kunst konstatiert — er weiß z. B. auch, daß die bürgerliche Organisation der materiellen Produktion die Gesellschaft polarisiert, indem sie sowohl den Reichtum als auch die Armut potenziert 7 — ist er nicht geneigt, diese Entwicklung zu bedauern. Seiner lakonischen Feststellung: „Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt", fügt er sofort hinzu: „Wenn man es liebt, sich in Klagen und Tadel zu gefallen, so kann man diese Erscheinung für ein Verderbnis halten" 8 . Er jedenfalls hofft, daß trotz dieses Sachverhaltes „die Kunst immer mehr steigern und sich vollenden werde" 9. Aufgrund der von ihm in seiner Zeit wahrgenommenen Veränderungen kommt er zu einer neuen Bestimmung der Kunst in der modernen Welt. Mit den Ausführungen zu dieser neuen gesellschaftlichen Funktion und zur Schreibweise, in der die Literatur diese Funktion realisieren kann, hat Hegel in Ansätzen eine Theorie der Literatur unter den Bedingungen 141

der industriellen kapitalistischen Warenproduktion und der politischen Herrschaft der Bourgeoisie entwickelt. Die Veränderungen in der Befriedigung der äußeren Lebensbedürfnisse und der politischen Zustände, die Verwissenschaftlichung des geistigen Lebens veränderten nach Hegel das gesellschaftliche Grundverhältnis der Kunst entscheidend. Er sieht es als kein bloßes zufälliges Unglück an, „von welchem die Kunst von außen her durch die Not der Zeit, den prosaischen Sinn, den Mangel an Interesse u.s.f. betroffen wurde" 1 0 , sondern durchaus als eine innere Notwendigkeit geschichtlicher und künstlerischer Entwicklung. Die Entgötterung der Natur durch das Christentum, der Atheismus der modernen sittlichen Welt seit der Aufklärung, die rechtliche, politische Freisetzung des Individuums seit der Französischen Revolution und die Partikularisation des gesellschaftlichen Lebens im Gefolge der neuen industriekapitalistischen Produktionsweise haben auch die Kunst freigesetzt von allen substantiellen Bindungen an bisherige Weltanschauungen, die sie zuvor nach allen Seiten hin offenbar gemacht hatte. 11 „Das Gebundensein an einen besonderen Gehalt und eine nur für diesen Stoff passende Art der Darstellung ist für den heutigen Künstler etwas Vergangenes, und die Kunst dadurch ein freies Instrument geworden, das er nach Maßgabe seiner subjektiven Geschicklichkeit in bezug auf jeden Inhalt, welcher Art er auch sei, gleichmäßig handhaben kann." 12 Die „produktive Macht der künstlerischen Subjektivität über jeden Inhalt und jede Form" 1 3 ermöglicht dem Künstler, seinen „Vorrat von Bildern, Gestaltungsweisen, früheren Kunstformen" in jedem Stoff, für den er passend erscheint, zu verarbeiten. 14 Diese Freisetzung von den traditionellen gehaltlichen, stofflichen und stilistischen Bindungen — diese „tabula rasa" — bedeutet eine große Chance für die weitere künstlerische Entwicklung und gleichzeitig eine Gefahr, die Hegel am deutlichsten in der deutschen Romantik gewahr wurde. So wenig es dem Künstler möglich ist, etwa durch Willen und Entschluß von der ihn umgebenden reflektierenden Welt und deren Verhältnissen zu abstrahieren, sowenig hilft es, „sich vergangene Weltanschauungen wieder, sozusagen, substantiell aneignen, 142

d. h., sich in eine dieser Anschauungsweisen fest hineinmachen zu wollen, als z. B. katholisch zu werden, wie es in neueren Zeiten der Kunst wegen viele getan" 1 5 . Die Freisetzung des künstlerischen Subjekts kann zur leeren, abstrakten, „in sich verhausenden" Subjektivität führen, die Hegel wieder am ausgeprägtesten bei den deutschen Romantikern vorfand; zu einer Subjektivität, „welcher es an Mut gebricht, sich mit der Äußerlichkeit einzulassen", während es darauf ankommt, „unmittelbar in die gewöhnliche, äußerliche Realität, in das Alltägliche der Wirklichkeit und damit in die gemeine Prosa des Lebens" einzugreifen. 1 6 Denn auch die von aller bisherigen Zweckhaftigkeit entbundene moderne Kunst soll in der konkreten Wirklichkeit „keine absolut isolierte Stellung behaupten wollen, sondern muß selber lebendig, mitten ins Leben hineintreten" 1 7 . Das neue Verhältnis dieser Kunst zur Gesellschaft, ihre neue Funktion begründet Hegel gleichwohl mit einer nicht erst in der Neuzeit gültigen Charakteristik der Poesie: „So ist sie die allgemeinste und ausgebreitetste Lehrerin des Menschengeschlechts gewesen und i s t es n o c h . " Denn der Mensch „muß die Mächte kennen, die ihn treiben und lenken, und solch ein Wissen ist es, welches die Poesie in ihrer ersten substantiellen Form gibt" 1 8 . Dieses Wissen zu vermitteln, ist auch noch die Aufgabe der Kunst in ihrer modernen Gestalt. Insofern ist die Kontinuität gewahrt. Das neue Moment macht sich in Hegels Bestimmung dadurch bemerkbar, als die Kunst nun kein Interesse mehr ausschließt und „nicht mehr nur das darzustellen braucht, was auf einer ihrer bestimmten Stufen absolut zu Hause ist, sondern alles, worin der Mensch überhaupt heimisch zu sein die Befähigung hat" 1 9 . Dieses über sich selbst Hinausgehen der Kunst ist ebensosehr ein „Zurückgehen des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in seine eigene Brust" 2 0 . Der „Durst nach dieser Gegenwart und W i r k lichkeit selbst" will in der modernen Kunst befriedigt werden. „Der Mensch will in seiner Gegenwart das Gegenwärtige selber, . . . in präsenter Lebendigkeit von der Kunst wieder geschaffen, als sein eigenes geistiges menschliches Werk vor sich sehn." 21 Insofern kommt für Hegel das Spezifikum der Funktion der 143

gegenwärtigen Kunst darin zum Ausdruck, daß sie „zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht" 22 . Zusammenfassend umschreibt er diese neue Funktion so: „Das Erscheinen und Wirken des unvergänglich Menschlichen in seiner vielseitigsten Bedeutung und unendlichen Herumbildung ist es, was in diesem Gefäß menschlicher Situationen und Empfindungen den absoluten Gehalt unserer Kunst i t z t ausmachen kann." 2 3 Die Literatur, die auf neue eingeschränkte (nicht mehr das Absolute in seiner Totalität darstellende) und zugleich unendlich erweiterte Weise (in bezug auf den Menschen) ihrer gesellschaftlichen Bedeutung gerecht wird, kann dies nach Hegel allerdings nur mit einer anderen von der bisherigen grundsätzlich verschiedenen Schreibweise. In seinen Aussagen über diese neue Schreibweise stellt er wiederum keine Normen oder Forderungen auf, sondern verallgemeinert im zeitgenössischen realen Kunstprozeß beobachtete Tendenzen. Es sind jene Tendenzen, die als Reaktion auf die Verwissenschaftlichung, die Partikularisation, die Prosa des inneren und äußeren Daseins, die „allem und jedem den Stempel" eingedrückt hat 24 , zu verstehen sind. Sie sind aber durchaus nicht einheitlich. Und ich glaube, daß es eine unzulässig verkürzte Optik ist, die Heinz Brüggemann veranlaßt, Hegels Ansätze einer Theorie der modernen, zukünftigen Kunst und ihrer Schreibweise ausschließlich als eine Theorie der offenen Form, der Negierung des Modellcharakters und der Unmöglichkeit einer sinnlich, lebendig gestalteten Totalität im Kunstwerk der Moderne zu deuten. 25 Denn aus dem Zerfall der romantischen Kunstform leitet Hegel einerseits den Standpunkt der „ p r o s a i s c h e n O b j e k t i v i t ä t " ab, der den „Inhalt des gewöhnlichen täglichen Lebens . . . in seiner Veränderlichkeit und endlichen Vergänglichkeit" betrachtet 28 — ihm entspricht das neue Genre des bürgerlichen Romans —, andererseits sieht er in den ironischen Kunstformen, im subjektiven und objektiven Humor, in der Einbeziehung der Rhetorik die S u b j e k t i v i t ä t sich entfalten, „welche mit ihrer Empfindung und Ansicht, mit dem Recht und der Macht ihres Witzes sich zum Meister der gesamten Wirklichkeit zu erheben weiß" 2 7 . Zweierlei scheint dabei für Hegel in beiden Tendenzen des künstlerischen Ausdrucks unerläßlich: Der Künstler muß die Reflexion mit 144

ins Kunstwerk hineinnehmen, er hat die Geschlossenheit der klassischen griechischen Kunstwerke nicht anzustreben. Aber er muß auch vermeiden, daß das Kunstwerk zu „kahler Allegorie allgemeiner Reflexionen über die Bestimmung des Menschengeschlechts und seiner Erziehung, über das Ziel der Humanität, moralische Vollkommenheit oder wie sonst der Zweck der Weltgeschichte festgesetzt wäre", heruntersinkt 28 . Diese Erdichtungen müßten „vor der Wahrheit des in der wirklichen Geschichte realisierten Weltgeistes erblassen" 29 . Zwischen der Skylla der leeren in sich verhausenden Subjektivität und der Charybdis der kahlen Allegorie allgemeiner Reflexionen hat der moderne Künstler den schwierigen Weg zu finden, auf dem er der „Trennung zwischen Empfindung, Anschauung und verständigem Denken im modernen gesellschaftlichen Bewußtsein" wie in der künstlerischen Individualität selbst durch bewußt gehandhabte Symbolik und absichtliche poetische Energie begegnet und im Kunstwerk in „konkreter Lebendigkeit" zur Darstellung bringt 30 . Ich meine, daß Hegels Theorie genau so offen ist für die reflektierte, den Modellcharakter negierende Schreibweise Heinrich Heines, wie auch für die großen Romane des kritischen Realismus, die durchaus noch eine im Kunstwerk erfaßte gesellschaftliche Totalität repräsentieren. Diese Offenheit sollte betont und in unsere gegenwärtigen Debatten mit eingebracht werden. Das Wichtigste, Aktuellste an seinen Ausführungen scheint mir immer noch da zu liegen, wo er die Beziehungen des künstlerischen Schaffens zu der den Künstlet umgebenden Welt, ihren Verhältnissen, Tendenzen und Problemen untersucht. Sein Hinweis, daß ohnehin jeder ein S o h n s e i n e r Z e i t ist 31 , gilt auch für den Künstler. Seine Feststellung, „nur die Gegenwart ist frisch, das andere fahl und fahler" 32 , bedeutet, bezogen auf das Kunstwerk: Alle Stoffe, Gehalte, Darstellungsweisen „erhalten ihre Kunstwahrheit nur als diese lebendige Gegenwärtigkeit, in welcher sie die Brust des Menschen, den Reflex seiner füllt, und Wahrheit uns zur Empfindung und Vorstellung bringt" 3 3 .

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Funktion

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Rainer Rosenberg

Literaturfunktion in der Geschichte — zum Beispiel: Vormärz

Wenn die Frage nach der Funktion der Literatur für die l i t e r a t u r - g e s c h i c h t l i c h e Arbeit fruchtbar gemacht werden soll, bedarf es zunächst einiger Vorklärungen. Es handelt sich um die Funktion, die Literatur — in der Komplexität ihrer Erscheinung begriffen — als Teil des gesellschaftlichen Gesamtprozesses erfüllt. Der Historiker muß diese Funktion konkret bestimmen als die gesellschaftliche Funktion von Literatur in einer bestimmten historischen Epoche, wenn er sich den Zwang auferlegt, seine „Untersuchungen auf die wechselseitige Verflechtung der produktiven, vermittelnden und rezeptiven literarischen Tätigkeiten auszudehnen, durch deren Ineinanderwirken erst sowohl die Eigenständigkeit des Literaturprozesses, als auch die Relativität dieser Eigenständigkeit erklärbar werden" Denn erklärbar wird beides erst durch die bestimmte Art, in der die genannten literarischen Tätigkeiten in jeder historischen Epoche miteinander und mit anderen gesellschaftlichen Tätigkeiten verflochten sind, und durch die Veränderungen, die diese Verflechtung durch den Wandel der historischen Bedingungen literarischer Tätigkeit erfährt. Eine Schwierigkeit liegt allerdings darin, daß sich historischanalytisch zwar die Funktion bestimmen läßt, die den verschiedenen Arten von Literatur auf einer geschichtlichen Entwicklungsstufe zukommt (die Stelle, die diese Arten von Literatur in einem gesellschaftlichen System einnehmen), z. B. die Funktion fortschrittlicher bürgerlicher Literatur in der Periode der bürgerlichen Revolution oder die Funktion sozialistischer Literatur in der kapitalistischen Gesellschaft vor der Oktoberrevolution, daß man — umgekehrt — im praktischen Bezug auf das einzelne Literaturprodukt auf diese Weise aber 146

immer nur zur Bestimmung seiner F u n k t i o n s m ö g l i c h k e i t e n gelangt. Eine andere — womöglich noch größere — Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion einer bestimmten Art von Literatur, etwa der fortschrittlichen Literatur des Vormärz, gleichgültig unter welchem Aspekt man sie stellt, nicht auf der Grundlage des historischen Materials zu beantworten ist, das unter rein „produktionsästhetischen" Gesichtspunkten, gleichgültig welcher Art, von der bürgerlichen Literaturgeschichtsschreibung ausgewählt wurde. Der Historiker hat hier nicht nur — wie das bisher meist geschah — dieses Material im Sinne einer marxistischen Realismus-Theorie neuzubewerten und eventuell nach der Seite der sozialistischen Literatur hin zu ergänzen; er muß sich eine n e u e , um ein Vielfaches b r e i t e r e Materialgrundlage schaffen. Denn schließlich war die völlige Ignorierung der W i r k u n g s relation die Voraussetzung dafür, daß die traditionelle bürgerliche Literaturgeschichtsschreibung die große Masse der Literaturproduktion als irrelevant abtun und ihren Gegenstand auf einen Bezirk „echter" Kunst einengen konnte, über dessen äußere Grenzen dann keine allzu großen Meinungsverschiedenheiten mehr bestanden. W e n n der Literarhistoriker mit der Aufsprengung dieses bürgerlichen Kunstbezirks nicht zugleich auch den RealismusAspekt aufgeben und zu einer Spezialdisziplin der Soziologie überwechseln will, darf er natürlich nicht von der realisierten Funktion, der erzeugten W i r k u n g ausgehen. Der übergeordnete Aspekt bleibt die objektive gesellschaftliche Funktion, in bezug auf das einzelne W e r k die in einer bestimmten historischen Epoche bestehenden Funktionsmöglichkeiten. Hinsichtlich der deutschen Vormärzliteratur haben wir uns die Tatsache zu vergegenwärtigen, daß eben zu ihrer Zeit eine tiefgreifende Veränderung der gesamten Literaturverhältnisse in Deutschland statthat. Mit der industriellen Revolution verändern sich die Bedingungen und die Art und Weise der literarischen Kommunikation. Im Funktionsmechanismus des Gesellschaftssystems, das sich auf der Grundlage der industriellen Revolution in Deutschland herausbildet, nimmt die Literatur eine andere Stelle ein. Die gesellschaftliche Funktion der 10*

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Literatur in diesem System wird vor 1848 wesentlich dadurch mitbestimmt, daß das deutsche Bürgertum erst durch die industrielle Revolution die ökonomische Macht erlangt, um den K a m p f für die politische Macht aufzunehmen. D a s deutsche Bürgertum war in seinem K a m p f gegen die feudalen Herrschaftsstrukturen angewiesen auf die Entwicklung eines antifeudalen politischen Bewußtseins in allen Volksschichten. Bei der Entwicklung dieses politischen Massenbewußtseins fiel der Literatur bei dem damaligen Stand der Kommunikationsmittel und unter den damaligen Bedingungen des politischen K a m p f s in Deutschland eine zentrale Rolle zu. Die Industrialisierung des graphischen Gewerbes, der Aufstieg bürgerlicher Verleger zu kapitalistischen Unternehmern, die Entwicklung eines kapitalistischen Literaturmarktes und vor allem die Ausbildung der Zeitung zum Massenkommunikationsmittel schufen dafür die materiellen Voraussetzungen. Der T y p des freien Schriftstellers, d. h. des vom freien Verkauf seiner Literaturproduktion lebenden Schriftstellers, bildete sich deutlicher heraus. Professionalisierung und K o m m e r zialisierung der Literaturproduktion standen mit der Einstellung des Schriftstellers auf- die politische Funktion der Literatur in einem untrennbaren Zusammenhang, da die Literatur diese Funktion nur mit der Entwicklung des Marktes und der periodischen Presse erfüllen konnte. D i e Übernahme eines wachsenden Teils der literarischen Kommunikation durch die periodische Presse beeinflußte die Gattungsentwicklung, indem neue publizistische Genres entstanden und die traditionellen epischen Genres aufgebrochen wurden. Dadurch und durch die zunehmende Orientierung insbesondere der fortschrittlichen bürgerlichen Schriftsteller auf die über den Markt vermittelten Literaturgattungen verschob sich der Anteil der einzelnen Gattungen an der gesamten Literaturproduktion. Diese Veränderungen waren untrennbar verbunden mit den Wandlungen, die die ökonomisch-gesellschaftliche Entwicklung im Bewußtsein aller an der Literaturkommunikation partizipierenden Klassen und Schichten hervorrief. Die veränderte Stellung im Produktionsprozeß veränderte die Bewußtseinslage dieser Klassen und Schichten und führte zur Entstehung 148

neuer, die neuen Widersprüche reflektierender Ideologien. In wachsendem Maße wurden alle diese von der Literatur aufgenommenen oder in ihr ausgebildeten Ideologien modifiziert durch die mit dem Kapitalisierungsprozeß einhergehende Herausbildung eines modernen Industrieproletariats. Nicht nur die Entwicklung des politischen Engagements kleinbürgerlichdemokratischer Schriftsteller zu Sozialrevolutionären Forderungen wurde dadurch ausgelöst und beschleunigt; Arbeiterbewegung und Sozialismus wurden zunehmend auch zum — negativen — Bezugspunkt traditionell konservativer, die kapitalistische Entwicklung insgesamt ablehnender Schriftstellerideologien wie auch zum negativen Ausgangspunkt neu aufkommender reaktionärer bürgerlicher Ideologien. Eine Literaturgeschichte des deutschen Vormärz, die den Funktionsaspekt konsequent beibehält, müßte m. E. nichtsdestoweniger als Geschichte des Realismus zu lesen sein. Denn zwischen der Frage, in welchem Maße ein Literaturwerk die in einer bestimmten historischen Epoche realisierbaren Funktionsmöglichkeiten in sich trägt, und der Frage nach dem Realismus dieses Werks besteht doch wohl ein Zusammenhang. Sicher war es kein Mißverständnis, daß Engels' berühmte Funktionsbestimmung des „sozialistischen Tendenzromans" in einer kapitalistischen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts (in dem bekannten Brief an Minna Kautsky) lange Zeit als eine Realismus-Definition gelesen wurde, als eine grundlegende Bestimmung des kritischen Realismus des 19. Jahrhunderts. In diesem Musterbeispiel marxistischer Literaturauffassung liegt der Ansatz zu einer funktionalen Realismustheorie, wie sie später — in der Auseinandersetzung mit Lukäcs — von Brecht entwickelt wurde, der bekanntlich auch von einer „realistischen Funktion" sprach. Für Lukäcs, dessen Einfluß auf die marxistische Literaturgeschichtsschreibung keineswegs mit den fünfziger Jahren endete, war die gesellschaftliche Funktion der Literatur selbstverständlich nicht zweifelhaft. Dennoch spielten in seiner Literaturgeschichtskonzeption die funktionalen Aspekte h i s t o r i s c h - k o n k r e t kaum eine Rolle. Lukäcs verfügte zwar über eine ästhetisch-psychologische Theorie des Rezeptionsvorgangs und arbeitete diese schließlich in seiner Ästhetik 149

auch aus. Sie bestimmte seine Litetaturgeschichtskonzeption insofern mit, als sie den Rezeptionsvorgang bekanntlich auf eine spezifische Rezeptionsweise festlegte, der die von den kritischen Realisten des 19. Jahrhunderts voll ausgebildete literarische Darstellungsvveise am vollkommensten entsprach. Aber die gesellschaftliche Funktion der Literatur wird in Lukäcs' Arbeiten meist nur in der emanzipatorischen, „lebensverändernden" Wirkung künstlerischer Wirklichkeitserkenntnis schlechthin gefaßt. Und entsprechend seiner Theorie der „Eigenart des Ästhetischen" schrieb er diese Wirkungspotenz nur noch der Literatur zu, die sich einer der Darstellungsweise der kritischen Realisten des 19. Jahrhunderts ähnlichen Methode der Typisierung bediente, wohingegen andere, seinem methodisch bestimmten Realismus-Begriff widersprechende Darstellungsweisen als „apologetisch" bzw. „indirektapologetisch" funktionierend gedacht werden. Nur in dieser abstrakten und allgemeinen Form (emanzipatorische — apologetische Funktion) ist das Problem in Lukäcs' Arbeiten gegenwärtig. Der jeweilige konkrete literarisch-gesellschaftliche Funktionszusammenhang, die nicht genetischen, funktionalen Beziehungen der Literatur zur ökonomischen Gesellschaftsformation bleiben weitgehend unbeleuchtet. 2 * Die an Lukäcs orientierte Literaturgeschichtsschreibung geriet, indem sie den literarisch-gesellschaftlichen Funktionszusammenhang vernachlässigte, vielfach zu einer Konstruktion ideologisch-ästhetischer Fortschrittslinien, bei der epochale gesellschaftliche Umwälzungen samt den mit ihnen verbundenen fundamentalen Veränderungen der Literaturverhältnisse oft nur noch akzidentiell vermerkt wurden. Für die deutsche Vormärzliteratur, an der sich die Problematik dieses Verfahrens besonders deutlich ablesen läßt, hatte das beispielsweise zur Folge, daß sie bruchlos an eine Periode bürgerlicher „Aufstiegsliteratur" angeschlossen wurde, die — in engem Austausch mit der klassischen deutschen Philosophie gesehen — unmittelbar zu Marx und Engels und zum ersten Ansatz einer sozialistischen Literatur hinführte. Es entstand eine den deutschen Vormärz einbegreifende Konzeption deutscher Klassik von Lessing bis Heine. Die deutsche Vormärzliteratur wurde auf eine von Hegel und Goethe über Heine zu Marx und Engels 150

gezogene Linie geschichtsphilosophischen Erkenntnisfortschritts gebracht. D i e Verführung,einer unmaterialistischen, „geistesgeschichtlichen" Fortschrittskonzeption zu folgen, war bei der deutschen Vormärzliteratur deswegen so groß, weil die Eigenart der historischen Situation in Deutschland vor 1848 (die F o r mierung der Arbeiterklasse innerhalb der antifeudalen Oppositionsbewegung) die Annäherung fortschrittlicher bürgerlicher Schriftsteller an die Arbeiterklasse als eine fortschreitende Radikalisierung ihres politischen Engagements erscheinen ließ, solange das Bündnis aller nichtherrschenden Klassen und Schichten bestand. D e r Umstand, daß der Wechsel der Klassenposition unter den Bedingungen des gemeinsamen Kampfes gegen das antifeudale Herrschaftssystem die unmittelbare Überführung bestimmter Errungenschaften der progressiven bürgerlichen Literatur, die den gemeinsamen Kampfbedingungen entsprachen, in die sozialistische Literatur erlaubte, schuf dabei ein echtes, später so nicht wieder auftretendes Moment historischer Kontinuität. Schließlich trieb die deutsche V o r märzliteratur nicht nur den künstlerischen Erkenntnisfortschritt bis nahe an die Grenze einer neuen — sozialistischen — Qualität des Realismus; sie hatte auch tatsächlich Anteil am Prozeß des theoretisch-philosophischen Denkens von Hegel zu Marx. D i e Verführung lag jedoch nicht nur im Gegenstand selbst. D e n historischen Zusammenhang des Marxismus mit der klassischen deutschen Philosophie herauszuarbeiten, sein Hervorgehen aus den seinerzeit fortgeschrittensten Resultaten bürgerlicher Gesellschaftstheorie und Geschichtserkenntnis darzulegen und ihn damit als rechtmäßigen E r b e n der geistigen Errungenschaften des Bürgertums auszuweisen, war eine Aufgabe, der in den ehemals kapitalistischen Ländern nach der Befreiung vom Faschismus eine besondere Bedeutung zukam. Was die Literatur anbetraf, die mit vollem Recht in diesen Zusammenhang hineingenommen wurde, so kam hier unwillkürlich ihre gesellschaftliche Funktion ins Spiel — als literarisches E r b e nämlich, das, in diesem Zusammenhang gesehen, unzweifelhaft zur Entwicklung von antifaschistischdemokratischem und sozialistischem Bewußtsein beitragen 151

konnte. D a ß die Konzentration auf die Herausarbeitung des entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhangs leicht dazu führte, Marx und Engels von den Fragestellungen der klassischen deutschen Philosophie und Literatur her zu interpretieren, so daß der Kommunismus letztlich als Erfüllung der Ideale des fortschrittlichen Bürgertums erschien, ist bekannt. Hinsichtlich der deutschen Vormärzliteratur ist nicht nur zu beachten, daß auch die ideologische Entwicklung (im allgemeinen wie unter dem besonderen Aspekt des Anteils der Literatur an ihr) sich als ein Prozeß vollzog, in dem die K o n t i nuität des Erkenntnisgewinns, die Freisetzung der zum wissenschaftlichen Kommunismus weiterführenden Elemente über die völlige Zerschlagung der ideologischen Systeme führten, in denen sie gebunden waren. E i n e Literaturgeschichtsschreibung, die den literarischen Prozeß nicht auf die Entwicklung der Literaturideologie (oder auf seinen Anteil an der allgemeinen ideologischen Entwicklung) reduziert, hat es darüber hinaus noch mit einer weitaus komplexeren Dialektik von Kontinuität und Bruch zu tun. Auch der Fortschritt künstlerischer Wirklichkeitserkenntnis — der Prozeß des Realismus — verlangt, wenn er nicht aus der Literaturgeschichte extrahiert, sondern historisch-konkret als Prozeß der Literatur beschrieben werden soll, daß die Literatur in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit und Aktivität, und d. h. als eine Form gesellschaftlicher Praxis beschrieben wird. In einer solchen Beschreibung aber bilden die jeweiligen Literaturverhältnisse sowie die ineinander verflochtenen funktionalen, ideologischen und strukturellen Veränderungen, die die Literatur innerhalb dieser Verhältnisse erfährt und die ihrerseits die Veränderung der Literaturverhältnisse mitbewirken, die Grundlage, von der aus auch die ideologisch-ästhetischen Traditionslinien zu bestimmen sind. Die Herausarbeitung der grundlegenden funktionalen, ideologischen und strukturellen Veränderungen, die sich in der deutschen Vormärzliteratur ankündigen, ermöglicht erst, den historischen Charakter dieser Literatur und deren Verhältnis zur Literatur der vorhergehenden Geschichtsperioden zu bestimmen. Der Prozeß dieser Veränderungen wird durch den Ausgang der bürgerlich-demokratischen Revolution 152

von 1848/49 zwar modifiziert, jedoch bilden sich — entsprechend der mit verstärkter Kraft weitergehenden ökonomischgesellschaftlichen Entwicklung — bestimmte im Vormärz aufkommende Tendenzen der Literaturentwicklung nach 1848 um so deutlicher aus. E s sind die für die bürgerliche Literatur im Zeitalter des Industriekapitalismus charakteristischen Tendenzen. Eine ganze Reihe für die kapitalistische Gesellschaft heute noch aktueller Literaturprobleme tritt damit entweder überhaupt oder jedenfalls in ihrer heute noch aktuellen F o r m erstmals in die Geschichte ein. Diese Tendenzen weisen, soweit sie sich in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts erst durchzusetzen beginnen, die Vormärzliteratur als Literatur einer Übergangsperiode aus; sie heben die Vormärzliteratur, soweit sie sie bereits in wesentlichen Teilen charakterisieren, eindeutig von der Literatur des vorindustriellen Zeitalters ab. Eine Konzeption, die die Periode, in der eine komplexe, dauerhafte Umgestaltung der bürgerlichen Literatur stattfindet und eine sozialistische Literatur entsteht, unter dem ideologischen Schema bürgerlicher „Aufstiegsliteratur" faßt, fällt, auch wenn sie sich marxistisch versteht, notwendigerweise zurück in „Geistesgeschichte". Sie ist überdies nur zu entwerfen, wenn man davon absieht oder die Tatsache nicht ernst nimmt, daß Schriftsteller des deutschen Vormärz die Funktionsveränderung der Literatur bereits selbst mit erstaunlicher Klarheit festgestellt haben. Heines These v o m E n d e der „Kunstperiode", die in modifizierter Form auch von anderen Vormärzschriftstellern vorgetragen wurde, besagt ganz klar, daß die Zeit abgelaufen ist, in der das geistige Leben in Deutschland sich in erster Linie in den Formen von K u n s t und Literatur entwickelt; daß die geistigen Interessen sich zunehmend auf die Fragen der Wissenschaft, der Politik, der Ökonomie verlagern; daß die gesellschaftliche Funktion der Literatur sich mit dem Anbruch der neuen Zeit objektiv verändert und daß die „ K u n s t i d e e " auch in der Literatur selbst nicht mehr den Platz einnimmt, den sie in der Literatur der deutschen Klassik und Romantik besessen hatte. Damit impliziert die These v o m E n d e der Kunstperiode zugleich einen weiteren Begriff der Literarität, in dem die kritischen und D o 153

kumentation und Kritik mit literarischer Fiktion mischenden neuen Literaturformen enthalten sind, die der politischen Funktionsbestimmung der Literatur durch fortschrittliche deutsche Schriftsteller entsprechen. Für das Bewußtsein des Funktionswandels und der ideologischen und strukturellen Veränderungen, die die Literatur mit dem Eintritt in das von der französischen Julirevolution von 1830 datierte neue Zeitalter der Industrie und der Politik erfuhr, finden sich unzählige Belege. „Das Abzeichen der modernen Literatur ist es eben, daß sie ein Kind der Politik, deutlicher gesprochen, ein Kind der Julirevolution ist", heißt es z. B. beim jungen Georg Herwegh. „Das sind nun zehn Jahre her, und sie hat bei keinem besseren Schriftsteller ihre Mutter verläugnet. Selbst das industrielle Element, das in den jüngsten Tagen so überwiegend in ihr geworden ist, beweist durch unverfälschte Actenstücke diese ihre A b k u n f t . . . " 3 Oder an anderer Stelle: „Die j u n g e L i t e r a t u r unterscheidet sich ganz wesentlich von jeder früheren . . . Es fällt heut zu Tage Manches in den Bereich poetischer Gestaltung, woran vor einem Jahrzehend noch keine Seele gedacht." 4 Und für die Wahrnehmung der politischen und demokratischen Funktion, die Heine, Herwegh, Prutz und viele andere der Literatur abverlangen, wird das, was wir die Entwicklung k a p i t a l i s t i s c h e r Literaturverhältnisse nennen, mit vollem Recht zunächst als notwendige Voraussetzung und erst später auch als Hemmnis angesehen. Die gesellschaftliche Funktion der Literatur im deutschen Vormärz kann natürlich nicht an den Funktionsbestimmungen abgelesen werden, die Autoren wie Heine, Herwegh odet Prutz selbst ihrer Arbeit zuschrieben. Die Funktionsbestimmung durch den Produzenten ist nur e i n e Determinante der Literaturproduktion. Aber die grundsätzliche Diskussion der Funktionsfrage im deutschen Vormärz und die zahlreichen in dieser Zeit unternommenen Versuche, die Funktion der Literatur programmatisch neu zu bestimmen, waren ein untrügliches Symptom objektiver Funktionsveränderung. Und in dieser Diskussion, die sich naturgemäß an der literarischen Tradition und den tradierten Funktionsbestimmungen der Literatur entzündete, wurde die Dialektik des Literaturpro154

zesses z. B. von Heine bereits tiefer erfaßt als von denjenigen Literaturhistorikern, die ein Schema bürgerlicher „Aufstiegsliteratur" von Lessing bis Heine gegen die TraditionsbruchThesen der spätbürgerlichen Germanistik stellten. Die Literaturprogrammatik des deutschen Vormärz ist daher nicht nur als eine Determinante der Literatur dieser Zeit von Interesse; sie hat eigenen Erbe-Wert als Ansatz einer funktionalen Literaturtheorie, wie sie auf neuer — historisch-materialistischer — Grundlage von Marx, Engels, Lenin und in der sozialistischen Literatur des 20. Jahrhunderts ausgebildet wurde.

Karlheinz Barck

Autonomie der Literatur und Kunstfeindlichkeit des Kapitalismus

Daß die Autonomie der Literatur und Kunst die einzige Alternative zur Kunstfeindlichkeit des Kapitalismus sei, ist ein (in Adornos Ästhetischer Theorie1 systematisch entwickelter) Gedanke, der ebenso pessimistisch ist wie sein Gegenteil, daß Literatur heute in der bürgerlichen Klassengesellschaft total funktionslos und darum sinnlos sei. Hier wie dort wird mit dem Maßstab einer idealistischen Ästhetik gemessen, deren Normen gerade durch die inneren gesellschaftlichen Widersprüche jener kapitalistischen Gesellschafts- und Literaturverhältnisse überholt wurden, die sie einst ins Leben riefen. Es ist ein fundamentaler geschichtlicher Anachronismus, der den Ideen jener zugrunde liegt, die heute im Westen erneut ein Ende der Kunstperiode prognostizieren und von einer „allgemeine[n] Funktionskrise der Kunst" 2 reden. Was aber den seit den sechziger Jahren in fast allen Literaturen der kapitalistischen Länder zu beobachtenden Funktionswandel vor allem hervorgerufen hat, ist nicht in erster Linie die Krise einer bestimmten I d e e der Literatur, sondern das sind gesellschaftliche Veränderungen in ihrer sozialen Bestimmung, die durch grundlegende Veränderungen im System der gesellschaftlichen Produktion wie der Rezeption von Literatur bedingt werden. Es ist der Prozeß der „Kunstproduktion als solcher" unter monopolkapitalistischen Bedingungen, der mit dem Sieg der kapitalistischen Produktionsweise begann und den Marx 1857 in knappen und eindringlichen Sätzen auch als den Beginn eines geschichtlichen Funktionswandels der Künste beschrieben hat. 3 Die Vergesellschaftung der Produktion im Bereich der Massenmedien beeinflußt heute die soziale Funktion der Literatur 156

ebenso, wie die fortschreitende Proletarisierung der Intellektuellen in den staatsmonopolistisch organisierten kapitalistischen Ländern den sozialen Status des Schriftstellers grundlegend verändert. Beide Prozesse haben in fast allen kapitalistischen Ländern zu vielfältigen literarischen Experimenten geführt. Mit ihnen versuchen progressive Autoren, für die Literatur neue soziale Funktionen außerhalb der Umklammerung durch eine monopolkapitalistische sog. „Kulturindustrie" dadurch zu gewinnen, daß sie ihre literarische Arbeit mit dem Klassenkampf des Proletariats und mit dem Leben eines neuen Publikums verbünden. Auf diesem W e g war die Kritik an dem bürgerlichen Mythos von einer kulturellen Autonomie eine ebenso entscheidende Voraussetzung wie die Kritik am bürgerlichen Status des Schriftstellers als einer über den Klassenkämpfen schwebenden schöpferischen Instanz, die sich als Repräsentant allgemein-menschlicher Interessen begreift. Das literaturwissenschaftliche Problem, das sich u. a. durch die im antiimperialistischen und revolutionären Kampf unserer Tage entstandene literarische Situation stellt, zieht folgende Fragen nach sich: Welches sind die Kriterien zur Bestimmung und Bewertung literarischer Prozesse, die mit der heute auf neue Weise aktuellen Überwindung des Gegensatzes von ästhetischer und sozialer Funktion eine gänzlich neue Beziehung zwischen literarischer Produktion und gesellschaftlicher Praxis intendieren? Bewerten wir sie nach traditionellen ästhetischen Maßstäben, nach dem Selbstverständnis der Autoren, literarischer Richtungen und Generationen, oder muß nicht gerade der Gesichtspunkt der sozialen Funktion in seinem geschichtlichen Wandel zum Ausgangspunkt genommen werden? Oder anders und provokativer g e f r a g t : Genügt heute noch ein Literaturbegiff, der seine Wertmaßstäbe noch immer vorrangig aus ästhetischen Distinktionen (schöne - nicht-schöne Literatur; große-kleine Formen; hoheniedere Literatur) gewinnt, statt sie aus sozialen Funktionen zu beziehen und danach zu fragen: W a s wird warum und wie gelesen? W e m nützt welche Literatur? Welche Formen und Mittel dienen welchen Zwecken? Unsere These ist, daß die im 19. Jahrhundert gipfelnde 157

Praxis einer autonomen Literatur in engstem Zusammenhang mit der Vergesellschaftung der Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen steht, daß sich dieser Vergesellschaftungsprozeß in der Literatur jedoch hinter dem Rücken der im Zeichen autonomer Funktionsbestimmung produzierenden Autoren durchsetzt. 4 * Gerade durch diese Entwicklung wird schließlich der „Banausenbegriff von K u n s t , . . . dem jede technische Erw ä g u n g fremd ist" 5 (dessen geschichtlichen Ursprung hat Martin Fontius hier freigelegt), in seine geschichtlichen Grenzen gewiesen. Der Funktionswandel der Literatur, wie ihn z. B . die l'art-pour-l'art-Ästhetik in der literarischen Praxis erzeugt, ist nicht allein durch die Literatur und ihre Traditionen vermittelt, sondern er wird ganz wesentlich durch die Formierungsprozesse im bürgerlichen Kultursystem nach der Konstituierung der Bourgeoisie zur herrschenden Klasse mitbestimmt. 6 * D i e mit dem Beginn der „Kunstproduktion als solcher" unter kapitalistischen Bedingungen entstehende Theorie und Praxis einer autonomen Literatur läßt sich nicht einfach als ein umkehrbarer Prozeß fassen. War der Gegensatz von ästhetischer (zweckfreier) und sozialer Funktion — im Sinne der Weigerung, die K u n s t der mit der bürgerlichen Gesellschaft entstandenen geschichtlichen Situation unterzuordnen — das bestimmende Prinzip der im 19. Jahrhundert im Zeichen der Autonomie des Ästhetischen 7 produzierten Literatur, so wurde er zugleich auch zur Bedingung für die Entwicklung literarischer Formen und Techniken, die der Literatur eine den gesellschaftlichen Veränderungen entsprechende, im Widerspruch zu den kapitalistischen Tauschwertbeziehungen stehende neue Funktion gewinnen wollten. Nicht zufällig wird der Funktionswandel der Literatur gerade in der Lyrik sichtbar. Hinter ihren Veränderungen steht dabei vor allem auch die Kritik an Literaturverhältnissen, für die der Roman die literarische Gattung par excellence ist. Was die Ästhetik des l'art-pour-l'art in Frankreich in ihrer Entwicklung von Baudelaire bis Mallarmé in funktionaler Hinsicht kennzeichnet, ist die Tendenz, die Literatur als einen Eigenwert vor jeder Verwandlung in Gebrauchs-, und Tauschwert zu bewahren. Gleichzeitig und scheinbar im Widerspruch zu dieser Tendenz wird ihre Entwicklung aber 158

durch den Vergesellschaftungsprozeß im kulturellen Bereich mitbestimmt, an den sie sich durch Abgrenzung anpaßt. Fotografie, Presse und eine massenhafte Romanproduktion gegen Ende des Jahrhunderts mit einem entsprechenden Publikum potenzieren das autonome literarische Selbstbewußtsein ebenso, wie sie in der Praxis die Aufhebung dieses literarischen Selbstbewußtseins vorbereiten: Literatur wird gezwungen, auf die neuen Rezeptionsbedingungen zu reagieren. Baudelaire, der die Kritik an der klassischen Ästhetik mit seiner Absage an die „berühmte Doktrin der Unauflöslichkeit des Schönen, des Wahren und des Guten" 8 1859 auf die Spitze trieb, findet gerade in der Entwicklung der fotografischen Reproduktionstechnik ein zusätzliches Argument, um Literatur und Kunst in ihrer eigenständigen (imaginativen) Funktion vor einer Vermischung mit dem „industriellen Fortschritt" abzusichern und zu behaupten: „Die Dichtung und der Fortschritt sind zwei Ehrgeizige, die sich mit instinktivem Haß hassen, und wenn sie sich auf dem gleichen Wege treffen, dann muß einer dem anderen dienen. Wenn es der Photographie erlaubt wird, die Kunst in einer ihrer Funktionen zu ersetzen, so wird sie sie bald ganz abgeschafft oder verdorben haben, dank des natürlichen Bündnisses mit der Dummheit der Menge." 9 Auf andere Weise zeigt sich in Mallarmés Literaturkonzeption gegen Ende des Jahrhunderts der paradoxe Versuch, durch eine radikale Veränderung der Schreibweise, die in der autonomen Selbstbestimmung der Literatur gezogenen Grenzen zur Realität der bürgerlichen Gesellschaft durch die Konzeption eines absoluten, totalen literarischen Werkes zu durchbrechen — eines Werkes, das zum Gegenstand unausschöpfbarer Bedeutungen werden sollte, gemäß der Überzeugung Mallarmés, daß „die Welt im Grunde genommen dazu da ist, um in ein schönes Buch einzugehen 10 ." Der Dichter „befindet sich der Gesellschaft gegenüber im Streik" 1 !, s a g t Mallarmé. Aus dieser Position will er seine Literatur schaffen, die sich nicht an eine Idee des allwissenden Autors (etwa des älteren bürgerlichen Romans) bindet, sondern die Autor wie Leser als Produzenten in einem neuen, variablen kommunikativen Universum verbindet. 159

Diese Literaturkonzeption versucht, eine Vielzahl möglicher Rezeptionen eines literarischen Werkes in die Textstrukturen einzubauen. Rezeption als produzierende „exekutive Kunst" — dies erweist sich als äußerst bedeutsamer wirkungsästhetischer Versuch, die Funktion der Literatur in den kapitalistischen Marktverhältnissen zu verändern, auch wenn damit die ambivalente Herrschaft eines ganz abstrakten Lesers über den Text entsteht, dem aufgegeben wird, die semantischen Strukturen immer neu zu entschlüsseln. Mallarmé hat nach einem Wort von Walter Benjamin in der Dichtung unter kapitalistischen Bedingungen und am Beginn des Imperialismus als erster einen Standort erreicht, an dem die Dichtung ihre absolute Autonomie mit der Idee einet „reinen" und „absoluten" Kunst behauptet. Wenn hier nun die Dichtung „nicht nur jede soziale Funktion, sondern auch jede Bestimmung durch einen gegenständlichen Vorwurf ablehnt" 12 , so kündigt sich in der damit erreichten maximalen Krise des autonomen literarischen Kunstwerks gerade durch die Reflexion der Bedingungen, unter denen die Kunstproduktion im Kapitalismus steht, ein geschichtlich notwendiger Funktionswandel für die Literatur an. Dieser freilich verlangte die Überwindung eben jenes von Mallarmé grundsätzlich festgehaltenen Gegensatzes von ästhetischer und sozialer Funktion, die nur durch die Verbindung der literarischen Avantgarde mit der politischen Avantgarde möglich werden sollte. Worin Mallarmés Literaturkonzeption, die wir erst seit 1957 genauer kennen, für diesen Übergang einen epochentypischen Stellenwert erhält, das ist die Öffnung der Literatur für technische Verfahren anderer Künste, z. B. der Musik und für die Presse. Mallarmé geht in seinem Verständnis des Autors als eines „Ingenieurs", eines „opérateur" 13 oder eines „chef d'orchestre" 14 so weit, den literarischen Reproduktionsprozeß (Druck, Vertrieb, Auflagenhöhe, Kalkulation) in die literarische Konzeptionsbildung seines Livre einzubeziehen. 15 Das entsprach ganz seiner Überzeugung, daß die geistige Arbeit sich aus zwei Quellen speisen müsse, aus der Ästhetik und aus der Politischen Ökonomie. In seinem Prosagedicht Un coup de dès jamais n'abolira le 160

hasard (EinWürfelfall schafft niemals den Zufall ab, 1897, veröff. 1914) versuchte Mallarmé, seine Konzeption auf eine Weise zu verwirklichen, die es erlauben sollte, standardisierte Rezeptionsgewohnheiten zu durchbrechen. „Das Ganze ohne andere Neuigkeit als ein sperrendes Unterbrechen der Lektüre." 16 Durch die Auflösung des Satzblocks, eine freie Verteilung der Worte auf der Seitenfläche, die Verwendung unterschiedlicher Schrifttypen und Schriftgrade, soll für den Leser ein die Vorstellung aktivierendes semantisches Spielfeld geschaffen werden, das auch den Weg zu einer neuen Form der Fiktion frei macht: „Das Buch, totale Ausbreitung des Buchstabens, muß daraus direkt eine Beweglichkeit und Räumlichkeit beziehen, durch Korrespondenzen ein Spiel stiften, das irgendwie die Fiktion bestätigt." 17 Es geht uns hier nicht um eine Diskussion der durch Mallarmé aufgeworfenen Problematik einer gegenstandsfernen, esoterischen Dichtung. Worauf es hier vielmehr ankommt, das ist die von Mallarmé eingeschlagene Richtung, sich in der Literatur fortgeschrittener technischer Kommunikationsmittel zu bedienen, um die Kluft zwischen literarischer Produktion und einer standardisierten Rezeption zu überwinden, die durch die in den kulturellen Institutionen (einschließlich des Romans) verbreitete bürgerliche Ideologie bestimmt wurde. Unter diesem Gesichtspunkt des Nachdenkens über die Funktion von Literatur bei einem Massenpublikum signalisiert die Literaturkonzeption Mallarmés gesellschaftliche Veränderungen, die auf eine Sozialisierung der literarischen Produktion und der Rezeption hinauslaufen. Der Versuch, die Kluft zwischen Produktion und Rezeption unter Beibehaltung des Gegensatzes von ästhetischer und sozialer Funktion zu schließen, mußte jedoch letztlich nur zu ihrer Vertiefung führen. Der Weg zu ihrer wirklichen Überwindung konnte nur durch eine prinzipielle Absage an die autonome Literaturkonzeption beschritten werden — ein Weg, auf dem dann die sozialistische Literatur in ihren verschiedenen Entwicklungsstufen geschichtlich neue funktionale Bestimmungen eroberte. Ein Weg auch, der heute für die im antiimperialistischen Kampf engagierten Schriftsteller unausweichlich ist. Jene Schriftsteller sehen sich mit einer Ästhetik 11

Funktion

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konfrontiert, die das Konzept autonomer Literatur und K u n s t über ihre geschichtliche Stunde hinaus verlängern will — gerade dort, wo sie angesichts revolutionärer literarischer Entwicklungen den imperialistischen Kulturverfall als Alibi für eine rezeptionsästhetische Überwindung der I d e e und des K a n o n s autonomer Literatur und K u n s t benutzt und für die Rückbesinnung auf die Traditionen einer sog. vorautonomen K u n s t eintritt, nicht aber für eine Überwindung der diesen Kanon bedingenden gesellschaftlichen Voraussetzungen und damit für eine neue revolutionäre und sozialistische Literatur und K u n s t . 1 8 * Dieser Vorgang einer nur formalen Kritik am bürgerlichen Autonomiekonzept angesichts echter Alternativen in der literarischen Praxis hat seine Geschichte. Die Rechtfertigung und Kanonisierung der Autonomie des „reinen Kunstwerks" setzt in dem Augenblick ein, als mit der Überwindung des Gegensatzes von ästhetischer und sozialer Funktion die Isolierung der Literatur von der gesellschaftlichen Praxis aufgehoben wird, ihre „Fundierung auf Politik" beginnt. „In diesem Moment kehrt die bürgerliche Kunsttheorie jene Kantische Formel des interesselosen Wohlgefallens' hervor, um sie gegen die Begriffe der .Tendenz' einzusetzen." 1 9 Damit wird im beginnenden Zeitalter des Imperialismus die „ästhetische Verabsolutierung des Standpunktes der bürgerlichen Gesells c h a f t " 2 0 vollzogen, worin sich auch auf diesem Gebiet der „charakteristischste Z u g der bürgerlichen Philosophie" ausdrückt, „die Kategorien des bürgerlichen Regimes als ewige und natürliche Kategorien auszugeben" 2 1 . Unsere Kritik an dem bürgerlichen Autonomiekonzept schließt daher die A b s a g e an jede allgemein- ästhetische Begründung der Literatur ein. D a s Autonomiekonzept läßt sich auch nicht von einer klassizistischen Konzeption aus kritisch überwinden, wie das die verschiedenen revisionistischen Strömungen auf dem Gebiet der Ästhetik versuchten. Eine der ideologischen Ursachen des Revisionismus in der Ästhetik ist z. B . die falsche, unhistorische Auslegung der Marxschen Bemerkung, daß die kapitalistische Produktion „gewissen geistigen Produktionszweigen, z. B . der Kunst und Poesie, feindlich" ist 22 , im Sinne eines absoluten Gegensatzes von 162

materieller Produktion und sog. wirklich freier künstlerischer Entwicklung. In dieser undialektischen Auslegung der Kunstfeindlichkeit des Kapitalismus wird übersehen, daß Marx mit seiner Bemerkung die geschichtlich durch die alles verallgemeinernde Macht der großen Industrie erledigten Formen der Kunst und der Poesie, wie z. B. die orale Dichtung und das Epos, meinte. Der in der marxistischen Betrachtung gegenüber bestimmten Richtungen der modernen Literatur und Kunst lange vorherrschende Dekadenzbegriff, wonach jeder Abfall von einer klassischen Linie künstlerischer Vollendung als ein Zeichen künstlerischen Verfalls gewertet wurde, läßt sich jedoch unter Berufung auf die zitierte Bemerkung nicht mit Notwendigkeit aus dem Marxismus ableiten. Die Revision des Marxismus auf dem Gebiet der Ästhetik setzte daher in den fünfziger und sechziger Jahren gerade an diesem ungeklärten Problem einer theoretischen Bestimmung der Entwicklungsgesetze sog. moderner Literatur und Kunst an. 23 Die einfache Umkehrung der Dekadenztheorie durch die positive Bestimmung der bürgerlichen Moderne in Literatur und Kunst im Zeichen eines Entfremdungsfetischismus führte in den Theorien vom „offenen" und „uferlosen" Realismus u. a. bei Garaudy oder Fischer dazu, einfach alle Erscheinungen der Literatur und Kunst seit 1848 unterschiedslos als wesentlich realistisch zu erklären. Die im Banne eines Entfremdungsmechanismus stehende Interpretation der bürgerlichen Kunst dieses Zeitraums als Dekadenz korrespondiert daher mit ihrer Souveränitätserklärung zum antikapitalistischen Gewissen und schließlich zum Paradigma totaler Freiheit. Die Bewertung der Kunstfeindlichkeit des Kapitalismus vom Standpunkt einer unverrückbaren Norm ästhetischer Vollendung, nicht aber unter dem Aspekt eines sozialen Funktionswandels, ist auch die im Werk von Georg Lukäcs dominierende Grundlinie. In dem großen, seine Ästhetik abschließenden Kapitel über den Befreiungskampf der Kunst nennt Lukäcs den „Gegensatz zwischen immanent-künstlerischer . . . Vollendung und zwischen sozialer Funktion" ein „modernes Vorurteil".24 Dem „Vorurteil" stellt er aber nicht die Anerkennung einer revolutionären sozialen Funktion der 11*

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Kunst und damit ihre neuen und veränderlichen ästhetischen Bestimmungen entgegen, sondern seine Meinung als „die allein richtige Auffassung der Wechselbeziehungen von Werkindividualitäten und sozialem Auftrag": „Die wirkliche Beziehung des sozialen Auftrags zum Werk ist vielmehr die, daß je organischer die immanente ästhetische Vollendung eines Kunstwerkes ist, es desto besser den sozialen Auftrag, der es ins Leben rief, zu erfüllen imstande ist." 2 5 Der von dieser idealistischen Höhe geführte Kampf gegen die beiden Extreme eines auf unmittelbare und utilitäre Wirkung bedachten künstlerischen „Praktizismus" und einer „kunstfeindlichen Theorie des l'art-pour-l'art" 26 schließt einen Standpunkt ein, von dem aus sich auch die sozialistische Kunst nicht mehr geschichtlich entwickeln, sondern nur noch aus dem Grundsatz menschlicher Autonomie konstruieren läßt. Der Manichäismus der Lukäcsschen Kunstauffassung steigert sich bis zum Extrem, wenn der normative Maßstab der „immanenten ästhetischen Vollendung eines Kunstwerkes" in dem „prinzipiellen Gegensatz von Allegorie und Symbol" 2 7 geschichtlich entfaltet wird. Die heutige Realität einer sich in der ganzen Welt formierenden revolutionären und sozialistischen Literatur und Kunst, die ihre ästhetischen Maßstäbe (oft auch ganz praktizistisch, wie z. B. Neruda in dem letzten zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Gedichtband) aus den gesellschaftlichen Widersprüchen und aus der Beziehung zu und in den Klassenkämpfen gewinnt, überholt solche unverbrüchlich klassizistische Wertungsweise, die Literatur wie Leser an einer Idee orientieren will, die sich zum Ideal verklärt, immer deutlicher. 28 * Die Kritik am Autonomie-Konzept der bürgerlichen Ästhetik und Literaturtheorie schließt daher mit der Kritik seiner sozialökonomischen und politischen Voraussetzungen auch die Kritik an einer Konzeption von der Kunstfeindlichkeit des Kapitalismus ein, die — und das sollte hier gezeigt werden — von dem Vergesellschaftungsprozeß der Produktivkräfte (auch der künstlerischen) ebenso abstrahiert wie von den Bedingungen der Klassenkämpfe, in denen heute eine neue Literatur ihre neuen ästhetischen Maßstäbe gewinnt. 164

Befragung der sozialistischen Tradition

Dieter Kliche

Parteilichkeit als Wirkungsbezug

In der weit zurückzuverfolgenden Diskussion um die Funktion der sozialistischen Literatur spielt der Begriff der Parteilichkeit eine zentrale Rolle, da mit ihm ein Knotenpunkt ideologischer, ästhetischer, sozialer und organisatorischer Fragen der mit der Arbeiterbewegung verbundenen Literaturentwicklung benannt ist und Verallgemeinerungen von einem literaturprogrammatischen Funktionsverständnis der Literatur aus vorgenommen werden. Unter einem systematischen Gesichtspunkt, in der Definition, erscheint sozialistische Parteilichkeit deshalb als ein äußerst vielschichtiger Sachverhalt: Parteilichkeit „umfaßt die Gesamtheit aller sozial, politisch-moralisch und weltanschaulich bestimmten Besonderheiten in den Beziehungen der K u n s t zur Wirklichkeit, sofern sie gekennzeichnet sind durch die bewußte Übereinstimmung mit dem K a m p f der marxistisch-leninistischen Partei . . . " 1 Parteilichkeit umfaßt das politische Bekenntnis des Autors, sein Verhältnis zur marxistisch-leninistischen Partei, die Bestimmung des weltanschaulichen Standorts des Schriftstellers, die ideologische Führung des Kunstprozesses durch die Partei der Arbeiterklasse und den Klassencharakter der Kunst. Sie umfaßt aber auch — und darauf soll hier der Akzent liegen — den wirkungsästhetisch relevanten Bezug des Schriftstellers in seiner literarischen Produktion selbst auf die historischgesellschaftlichen Bedürfnisse seiner Klasse, auf die Bedürfnisse des Klassenkampfes, auf seine Leser. Parteilichkeit als subjektive Parteiergreifung verbindet sich in der literarischen Praxis mit dem Gesichtspunkt, daß f ü r eine bestimmte Klasse, f ü r vorhandene Bedürfnisse, f ü r bestimmte Leser geschrieben wird. A u s diesem parteilichen oder tendenziösen 167

Wirkungsbezug leitet sich bei vielen sozialistischen Schriftstellern der bewußt reflektierte Einsatz bestimmter literarischer Mittel, bestimmter literarästhetischer Aufbauformen, bestimmter Wirkungsstrategien ab. Daß damit nichts willkürlich an den Parteilichkeitsbegriff herangetragen wird, belegt eine Überlegung von Friedrich Engels. In seinem bekannten Brief an Minna Kautsky (1885) führt er die Überlegung, daß sich die sozialistische Literatur dieser Zeit vorwiegend an Leser aus bürgerlichen, „also nicht zu uns direkt gehörenden Kreisen wendet", zu der Schlußfolgerung, daß der sozialistische Tendenzroman deshalb „vollständig seinen Beruf [erfüllt], wenn er durch treue Schilderung der wirklichen Verhältnisse die darüber herrschenden konventionellen Illusionen zerreißt, den Optimismus der bürgerlichen Welt erschüttert, den Zweifel an der ewigen Gültigkeit des Bestehenden unvermeidlich macht" 2 . Lenin schließt zwanzig Jahre später unter gänzlich anderen Bedingungen seinen Aufsatz Parteiorganisation und Parteiliteratur mit der Forderung an den Schriftsteller, „sich von der Sklaverei der Bourgeoisie frei [zu] machen und mit der Bewegung der wirklich fortgeschrittensten und bis zu Ende revolutionären Klasse zu verschmelzen" 3 . Mit dem „Prinzip der Parteiliteratur" werden bei ihm Funktion und Wirkung, Produktion und Rezeption, Schriftsteller und Leser zusammengeschlossen und hineingestellt in die „wirkliche Bewegung" 4 . Solche Gesichtspunkte der Parteilichkeit des sozialistischen Schriftstellers spielen auch in den aktuellen Diskussionen eine Rolle. Auf dem VII. Schriftstellerkongreß der DDR sprach Hermann Kant von Momenten eines neuen Selbstverständnisses des sozialistischen Schriftstellers. Er plädierte für eine Literatur, die für Zeitgenossen gemacht ist, für eine Literatur, die nicht an ihren Mitmenschen vorbeiredet und die den Blick auf die Leser wendet. Die Verbindung der Literatur mit den Lebensinteressen und den literarischen Bedürfnissen der Arbeiterklasse sei „ein sozusagen bewegliches, ständig mitgehendes Problem erster Ordnung" 5 . Ausgehend von den ganz anderen Voraussetzungen der antiimperialistischen und sozialistischen Kulturbewegung in den kapitalistischen Ländern, kommt Luigi Nono auf diese Seite der Parteilichkeit zu 168

sprechen. E r beschreibt den Näherungsprozeß von Intellektuellen an die organisierte Arbeiterbewegung und macht deutlich, wie mit der wachsenden Erkenntnis, daß man im Kräftefeld von Kunst und Klassenkampf für ein bestimmtes Publikum arbeitet, der Absprung von den bürgerlichen E n g a gementspositionen gelingt. Der Künstler stößt dabei notwendigerweise „auch auf ein neues Publikum und damit auf ganz neue Aufgaben und Funktionen für sich selbst". D a s neue Publikum (Arbeiter, Bauern, Studenten) „bietet ihm Wirkungsmöglichkeiten einer gänzlich neuen Qualität und gibt ihm überdies die Chance, Kontakte, Verbindungen, Kanäle und Aufgaben zu finden und zu erfinden, die weit fruchtbarer und befriedigender sind als das, was ihm seine bisherige Rolle als Warenproduzent im Dienst der herrschenden Klasse zu bieten hat" 6 . W o eine solche Beziehung sich herstellt, ist auch eine „direkte Beziehung zwischen dem Kunstproduzenten und denjenigen, die sein Produkt benötigen, wiederhergestellt". Sie hat nichts mehr zu tun „mit dem einstigen populistischen' Verhalten fortschrittlicher Künstler, die von außen her ,zum Volk gingen'. A n Stelle des verschwommenen .Volkes' ist hier die Klasse getreten . . . " 7 An Kunstwerke werden in dieser neuartigen kommunikativen Beziehung Maßstäbe angelegt, „die meilenweit von der Ästhetik eines Aristoteles, eines Plato oder eines Adorno entfernt sind . . ." Für die Menschen, an die hier K u n s t adressiert wird, ist „oberstes Kriterium . . . die Frage nach der Funktion, die das Werk in ihrem Leben haben könnte, was — am Rande vermerkt — auf die Überwindung der Lukäcsschen These von der K u n s t als Spiegel des Lebens hinausläuft. Für sie ist K u n s t mehr, nämlich eines der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, die Welt, in der sie leben, zu erkennen und zu verändern" 8 . Wenn diese wirkungsästhetische Seite der Parteilichkeit des sozialistischen Schriftstellers hier prononciert aus den anderen Beziehungen herausgehoben wird, so geschieht das in der Überzeugung, daß von der stärkeren Durchdringung dieser Seite der Parteilichkeit wichtige, differenzierte Aussagen über die Rolle des Schriftstellers im Gesellschafts- und Literaturprozeß und über die Parteilichkeit als ästhetische Kategorie zu erwarten sind. U m das Problem deutlicher in 169

seinem praktischen Zusammenhang zu markieren, sei auf einen wichtigen Ausschnitt aus der Geschichte der Diskussion des Parteilichkeitsbegriffs verwiesen. Systematisch in die marxistische Literaturtheorie eingeführt wird der Parteilichkeitsbegriff 1932 von Georg Lukäcs in seinem in der Linkskurve veröffentlichten Aufsatz Tendenz oder Parteilichkeit. Die Gegenüberstellung im Titel war programmatisch gemeint. Mit der „Parteilichkeit" sollte die „Tendenz", die als Funktionsbestimmung der sozialistischen Literatur bis Anfang der dreißiger Jahre vorherrschend war, zurückgedrängt und durch das höhere Prinzip der Parteilichkeit ersetzt werden. Der inhaltliche Kern von Lukäcs' Argumentation lautete: Die Parteilichkeit des Schriftstellers ist die Voraussetzung für die richtige dialektische Abbildung und Gestaltung der Wirklichkeit im Kunstwerk. Im Gegensatz zu der subjektivistischen Tendenz wird in der Parteilichkeit „gerade jene Stellungnahme erfochten, die die Erkenntnis und Gestaltung des Gesamtprozesses als zusammengefaßte Totalität seiner wahren treibenden Kräfte. . . möglich macht" 9 . Es liegt auf der Hand, daß in dieser Konzeption der wirkungsästhetische Bezug und die wirkungsästhetische Bewußtheit in der Parteilichkeit des Schriftstellers kaum Raum fanden. Die subjektive Absicht, die Zwecksetzung wurde unter die negativ stilisierte „Tendenz" subsumiert. Lukäcs' Parteilichkeitsbegriff war aber auch keine voluntaristische Indoktrination, sondern in seine Gesamtkonzeption zu Beginn der dreißiger Jahre nahtlos eingefügt. Auf einige Punkte soll verwiesen werden, um zu zeigen, wie die Ausschließung des subjektiven, reflektierten Wirkungsbezugs zustande kam. Dabei muß die Auseinandersetzung mit seinem Parteibegriff, der einer gründlichen Untersuchung bedarf, ausgespart bleiben. 1. In einem geschichtsphilosophisch-ästhetischen Zusammenhang hatte Lukäcs schon Anfang der zwanziger Jahre in Geschichte und Klassenbewußtsein die Beziehung von Totalität und dem sog. „zugerechneten Klassenbewußtsein", das er von dem empirischen Bewußtsein des einzelnen abhob und der objektiven Klassenlage des Individuums zurechnete, begründet. Über die objektive Möglichkeit des zugerechneten 170

Klassenbewußtseins wird es möglich, daß entgegen den subjektiven und individuellen Zwecksetzungen und entgegen dem Wollen, den Meinungen und Absichten auch die objektive Möglichkeit eines Realismus g e g e n die individuellen Zwecksetzungen (falsches Bewußtsein) sich durchsetzt. Das ist die Basis des bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts. Wenn Lukäcs auch im 1967 geschriebenen Vorwort zu Geschichte und Klassenbewußtsein gerade die Kategorie des zugerechneten Klassenbewußtseins kritisch wertete („Das Umschlagen des .zugerechneten' Klassenbewußtseins in revolutionäre Praxis erscheint hier — objektiv betrachtet — als das reine Wunder." 1 0 ) so blieb dennoch die Verklammerung von Objektivität und Totalität eine Konstante der geschichtsphilosophisch-ästhetischen Konzeption. Für das Proletariat — auch dieser Gedanke wurde in Geschichte und Klassenbewußtsein entwickelt — ergibt sich aus der Klassenlage die praktische Objektivität seines Klassenbewußtseins. Der Wirklichkeit braucht nicht von außen ein subjektives Prinzip, ein moralisches Sollen zugetragen werden; die Wirklichkeit ist in ihrer Entwicklung selbst parteilich: Parteilichkeit und Objektivität sind identisch. Lukäcs berief sich mit seinem Parteilichkeitsbegriff deshalb auch nie auf Lenins Aufsatz Parteiorganisation und Parteiliteratur, in dem Parteilichkeit ja gerade keine unbeftagte Voraussetzung, sondern eine A u f g a b e n s t e l l u n g bedeutet, sondern auf dessen erkenntnistheoretischen Parteilichkeitsbegriff : das Element Parteilichkeit beispielsweise, das in jedem Materialismus steckt. Schon Anfang der zwanziger Jahre deutete sich die späterhin und am deutlichsten 1945 in dem großen Aufsatz ParteidicbtungH entwickelte Auffassung des Schriftstellers als „Partisan", der nicht „Führer", aber auch nicht „einfacher Soldat" ist, an. Der Schriftsteller als Parteidichter nimmt an den sozialen und politischen Kämpfen der Arbeiterklasse teil und hält mit den ihm eigenen Mitteln das Bewußtsein über die objektive geschichtliche Mission wach. In den Tageskämpfen stehend, abstrahiert er zugleich von diesen und beruft sich mit seinen Werken auf die große geschichtliche Perspektive der Arbeiterklasse. Zwischen schöpferischer Methode zur Abbildung der Wirklichkeit und ihrer objektiven Entwicklungstendenz besteht in Lukäcs' Parteilichkeitsauffassung eine Einheit. 171

2. Mit der geschichtsphilosophisch-ästhetischen Begründung der schöpferischen Methode und über die Hegelrezeption verband sich der Rückgriff auf das klassische literarische E r b e und auf die klassische bürgerliche Ästhetik in Gestalt der Hegeischen Ästhetik. 3. Sein Parteilichkeitsbegriff stand in engem Zusammenhang mit seiner politischen, genauer bündnispolitischen Konzeption. 1921 zeitweilig Anhänger der sektiererischen „Offensivstrategie", setzte er sich in den zwanziger Jahren mit der neuen Strategie der kommunistischen Weltbewegung, dem Aufbau des Sozialismus in einem Lande, dem seit 1922 vordringenden Faschismus auseinander und stieß auf die bündnispolitischen Probleme von Einheitsfront und Volksfront. Das 1928 in den B l u m - T h e s e n 1 2 entwickelte Demokratiemodell der „demokratischen Diktatur" war ein Resüme dieser Auseinandersetzungen. 4. Schließlich stand Lukäcs' Parteilichkeitsbegriff in dem aktuellen literaturpolitischen Kontext von 1932. 1931/1932 gab sich die proletarisch-revolutionäre Literaturbewegung neue literaturprogrammatische Ziele, die 1932 in der Auflösung der R A P P und in der mit dem linken Sektierertum geführten Auseinandersetzung ihren deutlichsten Ausdruck gewannen. 1931/ 1932 vollzog sich der Übergang zum K a m p f um die „Einheitsfront in der Literatur" 1 3 . Die RAPP-Losungen von den „Mitläufern" und dem „dialektischen Materialismus als Schaffensmethode" wurden zurückgedrängt. — In diesem kulturpolitischen K o n t e x t stand aber auch die verschärfte ideologische und literaturpolitische Auseinandersetzung um das literaturtheoretische E r b e der I I . Internationale, die durch den Umstand noch verschärft wurde, daß August Thalheimer mit seiner Mehring-Ausgabe (seit 1929) Mehring zum K r o n zeugen seiner ökonomistischen literaturpolitischen Konzeption berief. — Lukäcs' Parteilichkeitsbegriff und seine Auseinandersetzung mit dem subjektiven Prinzip der „Tendenz" und dem bei Mehring ungelösten Widerspruch zwischen „ T e n denz" und „reiner K u n s t " müssen auch in diesem Zusammenhang gesehen werden. E s ist nun eine allzu vereinfachte Darstellung, wenn man annimmt, daß das Hauptanliegen des Aufsatzes die „geschichts172

philosophische Begründung literarischer, d. h. hier: geschlossener Formen" 1 6 sei. In solcher vereinfachten Sicht wird davon ausgegangen, daß einer der Begründungszusammenhänge, die hier angedeutet wurden, immer als Apologie der anderen Begründungen fungiere. So wird in der heutigen „linken" Kritik an Lukäcs entweder der dogmatische Literaturtheoretiker, der opportunistische Literaturpolitiker, der abstrakte, aller Praxis fernstehende Philosoph oder der revisionistische Politiker apostrophiert. Damit wird aber die E i n h e i t von ästhetisch-theoretischer und literaturpolitisch-praktischer Stellungnahme von Lukäcs, die m. E. ungeachtet aller aus der rigorosen Anwendung der Theorie erwachsenden Enge zugleich die Bedeutung der Lukäcsschen Fragestellung ausmacht, völlig unterschätzt. Mit dem Blick auf den Realismus und mit dem Blick auf die Volksfrontpolitik wurde von ihm an einem Knotenpunkt der Entwicklung der sozialistischen Literatur die „Parteilichkeit" als literaturtheoretische Frage begründet und eingebracht. Die ausschließlich erkenntnistheoretische Fixierung der Parteilichkeit und die ideologiekritische Verwerfung der „Tendenz" aber führten zu einer abstrakten Gegenüberstellung, die zur Folge hatte, daß unter dem Begriff Tendenz Unterschiedlichstes versammelt und aus der Parteilichkeit ausgeschlossen wurde: das bürgerliche Moralismus-Problem und die kleinbürgerlich-sozialistische Tendenz des „wahren Sozialismus" genauso wie der Gebrauch der Tendenz in den Diskussionen der II. Internationale, die Funktionsbestimmungen der proletarisch-revolutionären Literatur vor 1932 und schließlich — darauf kommt es hier an — die gesamte Gruppe der aktuellen Kontrahenten von 1932 und ihre wirkungsästhetischen Strategien. In der Auseinandersetzung zwischen Georg Lukäcs und Ernst Ottwalt ist die ästhetisch-konzeptionelle Relevanz des Streites um die Parteilichkeit klar erkennbar. Auf Lukäcs' Kritik an seinem Buch antwortete Ottwalt mit der Berufung auf die „funktionelle Bedeutung, die ein Buch in einer ganz bestimmten, von ganz bestimmten ökonomischen und politischen Einflüssen gebildeten Wirklichkeit hat". Er könne sich kein in „sich ruhendes und in sich vollendetes Kunstwerk" wünschen, „vor dem der Leser sich automatisch in einen Genießenden verwandelt". Vielmehr 173

k o m m e es darauf an, „bewußtseinsverändernd in die W i r k lichkeit einzugreifen" 1 5 . Lukäcs entgegnete darauf mit der Darlegung seiner Auffassung vom Verhältnis von künstlerischer Methode und Wirklichkeit, von Funktion und W i r k u n g der Literatur. Er warf Ottwalt vor, bei ihm werde die schöpferische Methode der Wirklichkeit starr entgegengestellt. Ottwalt sehe ausschließlich nur die W i r k u n g , die Gestaltungsmethode interessiere ihn nicht. Die W i r k u n g werde auf aktuelle W i r k u n g eingeschränkt, Literatur ausschließlich als Agitation und nicht auch als Propaganda betrachtet. Und schließlich das entscheidende und Lukäcs' Konzeption am klarsten bezeichnende A r g u m e n t : Bei jedem ideologischen Produkt sei die Wirkung eine notwendige (wenn auch vielfältig vermittelte) Folge der klassenmäßig bestimmten Ursachen seines Entstehens. Deshalb habe die Methode übergreifende Wichtigkeit. 1 6 Ottwalt aber sah gerade dort die konkreten Probleme der Parteilichkeit des Schriftstellers, w o Lukäcs ein Gleichheitszeichen setzte und einen Automatismus annahm, nämlich zwischen „schöpferischer Methode" und Wirklichkeitsabbildung, zwischen Funktion und W i r k u n g der Literatur. 1 7 Gerade hier, in dem als Spannungsfeld aufgefaßten Verhältnis von Methode und Wirklichkeit, von Funktion und W i r k u n g der Literatur — so sagten die Kontrahenten von Lukäcs — sucht sich die Parteilichkeit des sozialistischen Schriftstellers ihr Aktionsfeld. Man müsse sich bewußt in den praktisch-politischen, praktisch-kulturellen und praktisch-literarischen Zwischenraum zwischen Funktion und W i r k u n g einschalten. Der sozialistische Schriftsteller wähle deshalb seine Mittel bewußt mit dem Blick auf die W i r k u n g , er kalkuliere die W i r k u n g e n und die eingesetzten Mittel ein. Lukäcs sah in dieser Orientierung einen für die Literatur gefährlichen Funktionsverlust. Er verteidigte deshalb im Interesse der Arbeiterklasse — das muß nachdrücklich betont werden — die „Eigenart des Ästhetischen" gegen ihre A u f lösung in Agitation. In seiner Auffassung der Parteilichkeit aber stellten sich keine Fragen an die Ästhetik. Mit Hegel w u r d e die „Eigenart des Ästhetischen" von den Zwecken, von der Absichtlichkeit, von der Tendenz abgehoben. „Der eigentliche Zweck . . . geht die Kunst als solche nichts an", 174

so heißt es bei Hegel, „sondern ist praktischer Art, Belehrung, Erbauung, Entscheidung von Rechtsangelegenheiten, Staatsverhältnissen usw. und damit eine Absicht für eine Sache, die erst geschehen für eine Entscheidung, die erst erreicht werden soll." 18 Damit lag die Beschreibung der operativen Funktion vor, die Lukäcs' Kontrahenten gerade zum Ausgangspunkt nahmen. Für sie stellte sich deshalb auch das Verhältnis von Parteilichkeit und Ästhetik anders dar. Für sie bestand Parteilichkeit ganz wesentlich im Bezug auf Rechtsangelegenheiten und Staatsverhältnisse (vgl. Ottwalts Roman über die Mechanismen des bürgerlichen Justizapparats der Weimarer Republik). Für sie war Parteilichkeit eine Absicht für eine Sache, die erst geschehen, für eine Entscheidung, die erst erreicht werden sollte. Der wirkungsästhetische Bezug der Parteilichkeit, der bei ihnen hervorgehoben wurde, machte diese Ästhetik (nicht an sich, sondern ihre normativ gebrauchte Systematik) verdächtig. Es sind dies genau auch die Bedenken, die — und hier schließt sich der Kreis zu unseren gegenwärtigen Diskussionen — etwa in den Entgegnungen auf Wolfgang Harichs Kritik der Methode Heiner Müllers als Bedenken gegen eine kontemplative Ästhetik vorgetragen wurden und die die Relevanz des wirkungsästhetischen Bezugs der Parteilichkeit für unsere heutigen literaturtheoretischen Fragestellungen in ein deutliches Licht stellen.

Winfried Schröder

Walter Benjamin — zum Funktionswandel der Literatur in der Epoche des Imperialismus

In den Diskussionen über theoretische Grundfragen der marxistischen Literaturwissenschaft und zugleich im Rahmen des ideologischen Klassenkampfes nehmen seit den sechziger Jahren die Arbeilen von Georg Lukäcs und von Walter Benjamin einen besonderen Platz ein.1* Dies ist kein Zufall, da diese Arbeiten sowohl für das Bemühen, den komplizierten ideologischen und literarischen Prozeß in der Übergangsepoche vom Monopolund Staatskapitalismus zum Sozialismus zu interpretieren, repräsentativ sind als auch für die in der Vergangenheit in dieser Hinsicht bestehenden Meinungsverschiedenheiten. Für die marxistische Literaturwissenschaft ergibt sich daraus eine Reihe von Aufgaben, die sie im Interesse ihrer eigenen Entwicklung lösen muß. Da ihre Realisierung jedoch bisher noch nicht systematisch in Angriff genommen wurde, scheint es gerechtfertigt, hier einige Gedanken zu dem fragmentarischen Beitrag von Walter Benjamin zu einer materialistischen Literatur- und Kunsttheorie zu skizzieren. Selbst ein derartiger Versuch ist gegenwärtig allerdings noch nicht unproblematisch. Benjamin hat nämlich zu seinen Lebzeiten nur einen kleinen Teil seiner Arbeiten fertigstellen und veröffentlichen können, und die Publikation seines umfangreichen Nachlasses wurde erst 1972 in Angriff genommen und ist noch nicht abgeschlossen. Welche Bedeutung ihm zukommt, ist schon daraus zu ersehen, daß die Ausgabe seiner Gesammelten Schriften — von der jetzt drei Bände vorliegen — mehr als 5000 Seiten Benjaminschen Textes enthalten wird, von denen Benjamin nur 550 Seiten in Buchform zum Druck bringen konnte. 2 Walter Benjamin begriff sich selbst als „schreibender Revo176

lutionär aus der Bürgerklasse" 3 , dem „die Haltung des Materialisten wissenschaftlich und menschlich in allen uns bewegenden Fragen fruchtbarer [schien] als die idealistische" 4 . Seine Aufgabe im Klassenkampf des Proletariats gegen den Imperialismus und Faschismus sah er darin, zur Klärung zentraler theoretischer Probleme beizutragen, die die Krise der bürgerlichen Ideologie und Literatur und die Herausbildung einer sozialistischen Ideologie und Literatur aufgeworfen hatten. Dabei stützt er sich sowohl auf die Arbeiten von Marx, Engels und Lenin als auch auf die von Mehring, Fuchs, Plechanow und Brecht. Durch die folgenden Ausführungen soll sichtbar gemacht werden, daß Benjamins fragmentarischer Beitrag zu einer materialistischen Literatur- und Kunsttheorie schon deshalb besondere Beachtung verdient, weil es offensichtlich zwischen ihm und der Leninschen Imperialismus-Theorie grundlegende Übereinstimmungen gibt. Es versteht sich, daß damit nur ein Aspekt aus einer äußerst komplizierten Problematik herausgehoben wird. Mehr zu leisten und weitergehende berechtigte Anforderungen zu befriedigen, ist bei dem jetzigen Stand der Benjamin-Forschung und im Rahmen eines Kolloquiums noch nicht möglich. Mit seiner Analyse der Epoche des Imperialismus hatte Lenin nachgewiesen, daß sich durch das „beschleunigte Tempo der technischen Entwicklung" 5 und durch den gewaltigen „Fortschritt in der Vergesellschaftung der Produktion" 6 nicht nur die sozialen und politischen Widersprüche innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gesetzmäßig verschärft und neue Formen angenommen haben, sondern daß damit auch die Bourgeoisie in ihrer Funktion als herrschende Klasse in eine Krise geraten ist, aus der es für sie keinen realen Ausweg mehr gibt. Denn die durch die Vergesellschaftung der Produktion notwendig gewordene planmäßige gesellschaftliche Organisation und Leitung der Produktion ist nicht vereinbar mit kapitalistischen Eigentumsverhältnissen und Profitstreben, d. h. mit den Lebensbedingungen der Bourgeoisie, mit der Grundlage ihrer Herrschaft. Eine Bestätigung dafür sieht Lenin in der Tatsache, daß die Bourgeoisie — „gewissermaßen ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen" 7 — gezwungen ist, sich den neuen ökonomi12

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sehen Gegebenheiten anzupassen und vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopol- und Staatskapitalismus überzugehen, daß sie nur noch durch diese Konzentration ihrer ökonomischen und politischen Macht ihre Vormachtstellung aufrechterhalten kann. Aus diesem Grunde bezeichnet Lenin die Epoche des Monopol- und Staatskapitalismus oder des Imperialismus auch als die Epoche des „höchsten Stadiums des Kapitalismus" und des „Vorabends der sozialistischen Revolution" 8 . Daraus ist bereits zu ersehen, daß Lenin nicht — wie zum Beispiel Georg Lukäcs — den Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopol- und Staatskapitalismus als einen Prozeß des Verfalls s c h l e c h t h i n begreift. Er sieht vielmehr in der fortschreitenden Technisierung und Vergesellschaftung einen Fortschritt, der die objektive Voraussetzung zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung darstellt. Es ist daher auch durchaus folgerichtig, daß Lenin alle Bestrebungen, den Kapitalismus der „,freien', ,friedlichen', ,ehrlichen' Konkurrenz" 9 wiederherzustellen oder den Monopol- und Staatskapitalismus im Sinne bürgerlich-demokratischer Ideale zu reformieren als historisch perspektivlos wertet, obwohl er ihre Bedeutung für den Kampf gegen den Imperialismus nicht unterschätzt. 10 Die sich aus dieser Analyse ergebende Konsequenz ist, daß die objektiven historischen Aufgaben nur durch die sozialistische Revolution und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung zu lösen sind, da nur sie eine planmäßige Organisation und Leitung der Produktion im gesamtgesellschaftlichen Interesse erfordert und ermöglicht. 11 Aus Lenins Imperialismus-Theorie läßt sich eine Orientierung für die Interpretation und Wertung der ideologischen und literarischen Entwicklung in dieser Übergangsepoche ableiten. Dies betrifft insbesondere den sich jetzt gesetzmäßig vollziehenden Funktionswandel und die Gesetzmäßigkeit der Krise der überlieferten bürgerlich-demokratischen Ideologie und Kultur, die die Interessen aller sozialen Klassen, aller Menschen zu vertreten beanspruchte und für ein Reich allgemeiner Sittlichkeit, Humanität und Harmonie eintrat. Und es betrifft selbstverständlich auch den Prozeß der Herausbildung und Durchsetzung der qualitativ neuen sozialistischen 178

Ideologie und Kultur, deren Funktion durch den Klassenkampf des Proletariats und seine sozialistische Zielstellung bestimmt wird. 1 2 Auch Walter Benjamin, der im Jahre 1920 in der „organisierten Arbeiterklasse" die „rechtsetzende" und im Staat die „rechterhaltende" Kraft erkannt hatte 13 , war sich im Verlauf seiner Entwicklung bewußt geworden, daß der Widerspruch zwischen der vergesellschafteten Produktion und der privaten kapitalistischen Aneignung dei gesellschaftliche Grundwiderspruch ist, der nur durch den revolutionären Kampf des Proletariats und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung aufgehoben werden kann. In seiner kurzen programmatischen Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Keprodu^ierbarkeit (1935/36), die eine in verschiedener Hinsicht äußerst aufschlußreiche Kontroverse zwischen Benjamin und den Herausgebern der Zeitschrift für So^ialforschung auslöste 14 *, schreibt Benjamin: „Als Marx die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise unternahm, war diese Produktionsweise in den Anfängen. Marx richtete seine Unternehmungen so ein, daß sie prognostischen Wert bekamen. Er ging auf die Grundverhältnisse der kapitalistischen Produktion zurück und stellte sie so dar, daß sich aus ihr ergab, was man künftig dem Kapitalismus noch zutrauen könne. Es ergab sich, daß man ihm nicht nur eine zunehmende Ausbeutung des Proletariats zutrauen könne, sondern schließlich auch die Herstellung von Bedingungen, die die Abschaffung seiner selbst möglich machen." 15 Diese Bemerkung ist für Walter Benjamins Konzeption und für seine Zielstellung in verschiedener Hinsicht charakteristisch. Sie bestätigt, daß er die Bedeutung der marxistischen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise und der sich daraus ergebenden Konsequenzen erkannt hat und daß es für ihn keinen Zweifel über den „antagonistischen Charakter des wirklichen Fortschritts" gab. 16 Von dieser Position aus war es Benjamin daher möglich, sich kritisch mit der evolutionistischen Fortschrittstheorie des Revisionismus und Opportunismus auseinanderzusetzen, die sowohl die Notwendigkeit der Revolution als auch die Möglichkeit von Rückschlägen und Katastrophen negierte. 17 Und sie ermöglicht es ihm, auch die 12*

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historische Perspektivlosigkeit des subjektivistischen und voluntaristischen Anarchismus und anderer idealistischer und utopischer Theorien und Bestrebungen zu erkennen, deren Maßstab für die Bewertung der gesellschaftlichen Entwicklung überzeitliche allgemeinmenschliche Ideale sind und die den Sinn der Geschichte in deren Verwirklichung sehen. 18 * Nur wer den Marxismus und den Sozialismus für eine Utopie hält, kann daher behaupten, Benjamins Literaturtheorie sei die eines „marxistischen Rabbi", der den vergeblichen Versuch unternommen habe, den Marxismus in das Messianische der jüdischen Theologie zu integrieren. 19 Benjamin machte sich die materialistische Anschauung der Geschichte zu eigen, die von dem Satz ausgeht, „daß die Produktion und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist", und nach der die „letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen . . . nicht in den Köpfen der Menschen" zu suchen sind, sondern in den materiellen Tatsachen der Produktion, in den veränderten Produktionsverhältnissen. 20 Die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte und die Art ihrer gesellschaftlichen Nutzung sind für ihn daher die Hauptkriterien des gesellschaftlichen Rückschritts und des gesellschaftlichen Fortschritts. 21 * Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet Benjamin auch die Entwicklung der Literatur und Kunst — insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert — ihren Funktionswandel und die Krise der bürgerlichen Literatur und Kunst, die seiner Ansicht nach „sowohl in der technischen wie in der politischen Situation ihre Gründe" hat. 22 Sich auf Marx und Engels berufend, die „den verschiedenen ideologischen Sphären, die in der Geschichte eine Rolle spielen, eine selbständige historische Entwicklung absprechen" 23 , stellt auch Benjamin die Geschlossenheit des Überbaus und seiner Gebilde in Frage 2 4 , ohne damit selbstverständlich ihre h i s t o r i s c h e W i r k s a m k e i t zu negieren. Entschieden wendet er sich gegen die für das bürgerliche Denken kennzeichnende Unterordnung der gesellschaftlichen unter die geistig-literarische Entwicklung, gegen die idealistische Auffassung von der Autonomie des geistigliterarischen Prozesses, gegen die „Überschätzung des be180

wußten Moments" in der bürgerlichen Ideologiebildung 25 und gegen den damit verbundenen antitechnischen Begriff von Kunst 26 *, der im Kult des Schöpferischen seinen Ausdruck findet. 27 * Die verbreitete Gepflogenheit, „ein neues Dogma als E n t w i c k l u n g eines früheren, eine neue Dichterschule als R e a k t i o n auf eine vorangegangene, einen neuen Stil als Ü b e r w i n d u n g eines älteren" zu interpretieren, hält er für wissenschaftlich unhaltbar. 28 Für Benjamin gibt es keinen Zweifel darüber, daß eine Entwicklung der Produktivkräfte auch im Bereich der immateriellen Produktion stattgefunden hat, die auch hier die Schaffung sozialistischer Produktionsverhältnisse notwendig macht. Eine Bestätigung dafür sieht er in der Entwicklung der Reproduktionstechnik, den neuen Massenmedien und der Massenkunst, durch die die Kunst mehr und mehr zu einem kollektiven Gebilde wird und die zu einer Revision des überlieferten Geniebegriffs, sowie des überlieferten Kultur- und Kunstbegriffs führt. 29 * Diese Orientierung auf die Technik der literarischen Produktion und Benjamins Medientheorie sind wiederholt kritisiert worden, weil er angeblich den technischen Fortschritt in der materiellen Produktion mechanisch auf den Bereich der immateriellen Produktion übertragen habe und weil er angeblich eine unmittelbare Beziehung zwischen den Produktivkräften und dem Überbau unterstelle, unter Umgehung der Produktionsverhältnisse.30 Obwohl in dieser Hinsicht bisher keine eingehende Analyse vorliegt — in die unter anderem auch die diesbezüglichen Positionen von Sergej Tretjakow, Wladimir Majakowski, Sergej Eisenstein und von Bertolt Brecht und Hanns Eisler einzubeziehen wären — sehen wir doch Grund genug, die genannten Einwände für unbegründet zu halten, besonders dann, wenn gleichzeitig behauptet wird, Benjamins Bemühen „um materialistische Orthodoxie" komme in dieser technizistischen Begrenzung zum Ausdruck. 31 Benjamin war sich durchaus bewußt, daß der Fortschritt der Technik im Kapitalismus mit einem Rückschritt der Gesellschaft verbunden war. 32 * In seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte (1938/39) weist er sogar ausdrücklich auf die „technokratischen Züge" im Faschismus hin. 33 Und nicht weniger eindeutig sind auch seine Aussagen über den technischen Fort181

schritt im Bereich der immateriellen Produktion unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Obwohl Benjamin diesen Fortschritt positiv wertet, übersieht er auch hier nicht seine Widersprüchlichkeit und Begrenzung oder anders formuliert, daß der gesamtgesellschaftlichen Nutzung der neuen Produktionsmittel auch hier die kapitalistischen Produktionsverhältnisse — zusammen mit den überlieferten Methoden der Literatur- und Kunstproduktion und der bürgerlichen Ideologie — hemmend entgegenstehen. 1936 konstatierte Benjamin: „Der Faschismus versucht, die neuentstandenen proletarisierten Massen zu organisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindringen, anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen . . . Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. Der Vergewaltigung der Massen, die er im Kult eines Führers zu Boden zwingt, entspricht die Vergewaltigung einer Apparatur, die er der Herstellung von Kultwerten dienstbar macht. Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser Punkt ist der Krieg." 3 4 Damit hat Benjamin klargestellt, daß nicht nur das Proletariat einen objektiven historischen Auftrag im Klassenkampf zu erfüllen hat, sondern auch die Schriftsteller und Künstler, und daß dieser Auftrag insofern mit dem des Proletariats übereinstimmt, als es auch hier darum geht, die neuen Produktionsmittel „zum Nutzen des ganzen Volkes" anzuwenden und „revolutionäre Gebrauchswerte" zu schaffen. 3 5 Das Eingreifen der Schriftsteller und Künstler in den Klassenkampf des Proletariats ist daher für Benjamin nicht primär und nicht ausschließlich eine Frage des Gewissens, der Moral oder der Ideologie, sondern in erster Linie eine Tätigkeit, die darauf abzielt, jene Verhältnisse aufzuheben, die die immaterielle Produktion in Fesseln legen; erst wenn so die neuen Produktionsmittel eine neue, gesamtgesellschaftliche Funktion erhalten, wird der technische Fortschritt zu einem politischen Fortschritt. 3 6 Da für Benjamin immer und unter allen U m ständen die fortschrittliche Nutzung der literarischen Produktionsmittel und die richtige politische Tendenz in einer funk182

tionalen Abhängigkeit stehen 3 7 , hebt er ausdrücklich hervor, daß die Frage: wie steht eine Dichtung in den Produktionsverhältnissen der Epoche — der Frage vorausgehen muß, wie steht sie z u ihnen (ist sie mit ihnen einverstanden oder strebt sie ihre Umwälzung an) 3 8 . Besonders deutlich ist Benjamins politische Zielstellung ablesbar an seinen Aussagen über die Fesseln der immateriellen Produktion: D a s sind in erster Linie die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und die damit verbundene Ausrichtung der vergesellschafteten Produktion auf Profitmaximierung, dann aber auch die Bildungsprivilegien in der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, die bürgerliche Ideologie, die überlieferten Methoden der Literatur- und Kunstproduktion und schließlich auch der Mangel an Wirklichkeitssinn, die Unaufrichtigkeit und der Hochmut der Geistigen. Selbst mit der Proletarisierung der Intellektuellen und mit dem Untergang des „freien" Schriftstellers werde der Intellektuelle noch nicht zum Proletarier, weil „ihm die Bürgerklasse in Gestalt der Bildung von Kindheit auf ein Produktionsmittel mitgab, das ihn auf Grund des Bildungsprivilegs mit ihr und, das vielleicht noch mehr, sie mit ihm solidarisch macht" 3 9 *. Die Intellektuellen, Schriftsteller und Künstler seien nicht bereit, sich mit ihrer realen L a g e abzufinden und die historisch notwendigen Konsequenzen zu ziehen; vielmehr nähmen sie eine konservative Haltung ein, verteidigten eine nicht mehr existierende Realität, forderten ihre verlorene „ A u t o n o m i e " zurück und wendeten ch als „reiner Geist" an „den Menschen". 4 0 Darüber hinaus bezeichnet Benjamin als symptomatisch für die Haltung der bürgerlichen Künstler: 1. D i e entschiedene Ablehnung des Technisierungs- und Vergesellschaftungsprozesses der künstlerischen Produktion. 2. Die Gleichsetzung von Massenkunst mit Massenkunst der kapitalistischen Kulturindustrie und Kunstverfall. 4 1 * 3. Die Verteidigung des mit der kapitalistischen Warenproduktion im Zusammenhang stehenden bürgerlichen Individualismus, der Autonomie des Schriftstellers und Künstlers sowie die Fetischisierung ihrer schöpferischen Fähigkeiten. 4. Die Entgegenstellung von Publikum und Künstler und die damit verbundene Unterordnung des Publikums im Sinne von Konsumenten unter die Künstler als 183

Produzenten. 5. D a s Festhalten an den überlieferten Methoden der bürgerlichen Literatur- und Kunstproduktion und den Normen der bürgerlichen Ästhetik. Gleichzeitig wendet sich Benjamin auch gegen diejenigen, die meinen, der revolutionäre K a m p f würde sich zwischen „dem Kapitalismus und dem G e i s t " abspielen 4 2 und die glauben, daß ihre „positive Funktion ganz und gar aus einem Gefühl der Verpflichtung, nicht gegen die Revolution, sondern gegen die überkommene Kultur hervorgeht." 4 3 Benjamin hält es für einen Irrtum zu glauben, „das gleiche Wissen, das die Herrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat befestigte, werde das Proletariat befähigen, von dieser Herrschaft sich zu befreien". Ein Wissen, das „das Proletariat als Klasse über seine L a g e nichts lehrt", ist seiner Ansicht nach „ungefährlich für seine Unterdrücker" 4 4 . Daraus ergibt sich für Benjamin die Notwendigkeit, sich mit den überlieferten bürgerlichen Auffassungen von der Funktion der Literatur und K u n s t , der Orientierung an „Meisterwerken" und mit den überkommenen Begriffen der Kunsttheorie — wie Schöpfertum, Genialität, Ewigkeitswert, Geheimnis 4 5 — kritisch auseinanderzusetzen. So nimmt er insbesondere gegen das Postulat des einzigartigen Wertes echter K u n s t und ihre überzeitliche Geltung sowie gegen die Einbettung des Kunstwerkes in den Traditionszusammenhang des Kults und seine Fundierung im Ritual Stellung. Er hält derartige Positionen schon deshalb für anachronistisch, weil „die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes . . . dieses zum erstenmal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual" emanzipiert. 4 6 * Abschließend läßt sich feststellen: Benjamin weist nach, daß der Schriftsteller und Künstler nicht außerhalb und über den Klassen steht, sondern „im Dienst bestimmter Klasseninteressen arbeitet". 4 7 D a auch für ihn der K o m m u n i s m u s kein I d e a l ist, nach dem sich die Wirklichkeit zu richten habe, sondern „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt" ^ erkennt er, daß die „Entwicklung der Widersprüche einer geschichtlichen Produktionsform . . . der einzig geschichtliche Weg ihrer Auflösung und Neugestaltung" 4 9 ist. Dementsprechend sieht er in der materialistischen Analyse der Bedingungen und Erscheinungsformen der Krise der bürger184

liehen Ideologie, Literatur und Kunst — die Lukäcs lediglich als dekadent denunziert — den einzigen W e g , den bürgerlichen Schriftstellern und Künstlern eine reale Perspektive der Überwindung dieser K r i s e zu weisen, sie für den Klassenkampf des Proletariats zu gewinnen und sie zu befähigen, zu Produzenten einer qualitativ neuen, einer sozialistischen Massenliteratur und K u n s t zu werden. Wie Benjamin ausdrücklich betont, heißt dies nicht, „den Künstler bürgerlicher Abkunft zum Meister der .Proletarischen Kunst* zu machen", sondern ihn im Raum des proletarischen Handelns in Funktion zu setzen. 5 0 Die Aufgaben der sozialistischen Schriftsteller und Künstler erkennt Benjamin letztlich in folgendem: 1. „ . . . die intellektuelle Vorherrschaft der Bourgeoisie zu stürzen und den K o n takt mit den proletarischen Massen zu g e w i n n e n " 5 1 und die Literatur und Kunst zu einem Instrument des Klassenkampfes des Proletariats zu machen. 2. Ausnutzung der fortgeschrittensten technischen Möglichkeiten der Kommunikation und der immateriellen Produktion. Als in dieser Hinsicht richtungweisend betrachtet Benjamin den sowjetischen Film (Eisenstein und Pudowkin) und die Lehrstücke von Bertolt Brecht. 3. Orientierung auf die „polytechnische Menschenbildung" 5 2 und damit auf den kollektiven Erkenntnis- und Bewußtseinsbildungsprozeß. Das heißt, Benjamin macht sich auch in diesem Falle nicht — wie anders G e o r g Lukäcs — das Ideal „der fortschrittlichen bürgerlichen Demokratie oder der revolutionären bürgerlichen Demokratie" vom ganzen, wirklichen, allseitigen, vollkommenen, ausgebildeten M e n s c h e n 5 3 zu eigen, sondern die marxistische Auffassung, daß die „ungeheure Steigerung der Produktivkräfte erlaubt, die Arbeit auf alle Gesellschaftsglieder ohne Ausnahme zu verteilen und dadurch die Arbeitszeit eines jeden so zu beschränken, daß für alle hinreichend freie Zeit bleibt, um sich an den allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft — theoretischen wie praktischen — zu beteiligen" oder, anders ausgedrückt, „das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum" zu ersetzen, „für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind" 5 7 '. 185

Nach Benjamin müssen daher die sozialistischen Schriftsteller und Künstler — wie in Bertolt Brechts Lehrstücktheorie — bestrebt sein, die Literatur und Kunst aus einem Konsumartikel 5 5 * und Gegenstand des Amusements in ein Produktionsmittel kollektiver Entscheidungsfindung und damit in ein Leitungsinstrument zu verwandeln. In Übereinstimmung mit Brecht vertritt Benjamin dabei die Ansicht, daß eine derartige Literatur und Kunst nicht Unlust erweckt, sondern vielmehr ein Gefühl der Lust erzeugt. 5 6 Obwohl mit diesen Ausführungen nur sehr summarisch auf Tendenzen der Literatur- und Kunsttheorie von Walter Benjamin hingewiesen werden konnte, hoffen wir doch gezeigt zu haben, wie wichtig es ist, vorhandene Vorurteile und Fehlurteile über diese Theorie zu überwinden und Walter Benjamins Erkenntnisse — obwohl sie nur fragmentarisch und in einer nicht immer leicht verständlichen Diktion überliefert sind — systematisch auszuwerten und kritisch zu verarbeiten, um sie für den weiteren Fortschritt der marxistischen Literatur und Kunstwissenschaft fruchtbar zu machen. W e n n Benjamin im Jahre 1939 schreibt, daß der Augenblick wohl noch nicht gekommen sei, um in kollektiver Arbeit eine materialistische Kunsttheorie zu entwickeln 5 7 , so hat er damit nicht nur verdeutlicht, in welch schwieriger Situation er sich selbst befand, sondern zugleich eine Orientierung gegeben, die ihre Aktualität nicht verloren hat.

Fritz Mierau/Ilse Idzikowski/Gudrun Düwel

Zur Dialektik von Erfahrung und Entwurf Zwei Beispiele aus der sowjetischen Literaturentwicklung 1. Wir können einer Darstellung des geschichtlichen Verlaufs von Setzung und Wandel der Literaturfunktionen im Sozialismus nicht folgen, die meint, in den Anfängen sei es notwendig „pädagogisch" direkter zugegangen als später und heute unter entwickelten Verhältnissen, da die spezifischen Wirkungsweisen von K u n s t stärker zur Geltung kommen. Diese Betrachtungsweise unterläuft, wenn: 1. die Verhältnisse vor und nach einer sozialistischen Revolution allzu schnell gleichgesetzt werden; dann kommen — um nur dieses Beispiel zu nennen — Majakowski und Brecht unvermittelt auf eine E b e n e ; es genügt da nicht, auf unterschiedliche poetische Verfahrensweisen einzugehen. Gerade hier geht es um die exakte Differenzierung im Funktionsverständnis; 2. die betrachteten Kunstäußerungen zu eng gewählt sind, dann ist nämlich nicht zu entdecken, wie eine bestimmte Funktion — etwa die der politischen Pädagogik — zu verschiedenen Zeiten von sehr unterschiedlichen Kunstarten, darunter gelegentlich auch von der Literatur erfüllt wird; 3. die betrachtete Zeitspanne zu eng gewählt wird, dann sieht man nicht, wie funktional scheinbar Nullwertiges einer Zeit funktional Hochwertiges einer späteren Zeit werden kann. Und umgekehrt. Nur auf diese Weise sind die wechselnden Mittelpunktsbildungen historisch zu werten: Majakowski ist nur zu bestimmten Zeiten zentrierend. Jeder Versuch der Verewigung führt zur Unfruchtbarkeit; 4. nicht genau unterschieden wird, was innerhalb der Literatur die jeweilige Gattung in bezug auf die Wahrnehmung einer Funktion bedeutet. 187

Unsere Aufnahme sowjetischer Literaturerfahrungen wird gelegentlich noch dadurch erschwert, daß nur wenige Stränge des Prozesses bekannt sind. Man bezieht sich auf zeitgenössische Bilanzen und Reflexionen, ohne sie genügend zu historisieren. Dabei repräsentieren die seinerzeit formulierten Konzepte nur einen Bruchteil der wirklichen widersprüchlichen Fülle der Literatur. Auch noch so vollständige Dokumentationen der Literaturdebatten können nur ein Hilfsmittel sein, denn die geschichtliche Mächtigkeit einer Literatur erklärt sich nicht aus ihrem Selbstverständnis. Die Kämpfe gerade in der sowjetischen Literatur um die Bestimmung ihrer Funktion in den einzelnen Etappen des sozialistischen Aufbaus sind nicht nur für den Sieg eines durch die Poetiken Gorkis oder Majakowskis markierten Programms geführt worden, sondern auch gegen Dogmatisierung, unhistorische Vereinseitigung oder epigonale Verlängerung dieser Poetiken. Pasternak, die Achmatowa oder Mandelstam, die Verfasser einer ganz anders „funktionierenden" Lyrik, wurden nicht von Majakowski abgelöst. Sie lösen auch heute Majakowski nicht ab. 1 * Hier zeigt sich die eigentliche Aufgabe der Funktionsforschung. Zu begreifen ist die Dialektik von Erfahrung und Entwurf. Wir werden die Geschichte der sozialistischen Literatur nur in dem Maße verstehen, wie wir unsere heutigen Fragen an sie richten und wie wir umgekehrt — mit einem Wort aus Sergej Tretjakows Brief an Bertolt Brecht von 1934 — sie zum „Stoff für die literarische Prognose" 2 * machen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, müßten wir unseren bisherigen Darstellungsarten eine weitere hinzufügen, die (wahrscheinlich an sehr kurzen Abschnitten der Literaturgeschichte) zu fassen versucht, was wir die Prozeßpotenz nennen wollen; die geschichtliche Mächtigkeit, wie wir sie heute für diesen Abschnitt entdecken, wobei zugleich das gegenübergestellt werden muß, was zeitgenössisch oder bis heute realisiert wurde. Die Verfeinerung unseres Verständnisses für diese Schere hätte unmittelbare Bedeutung für unsere heutige „literarische Prognose". Im folgenden sei auf zwei unterschiedliche, aber gleicher188

maßen unbekannte Vorgänge aus der Geschichte des Funktionsverständnisses der sowjetischen Literatur aufmerksam gemacht.

2. Wenn nach der Oktoberrevolution die Herausbitdung der Sowjetliteratur in ihrem inhaltlich-funktionalen und sozialorganisatorischen Aspekt auf neuer sozial-ökonomischer Basis der Weltliteratur neue Perspektiven eröffnete, so baute diese Entwicklung auf einer vorrevolutionären Theorie der Kulturrevolution und auf praktischen Erfahrungen sozialistischer Literatur vor der Revolution auf. Hier gibt es Berührungspunkte und Übereinstimmungen von Lenins Aufsatz Parteiorganisation und Parteiliteratur mit der aus dieser Zeit stammenden literarischen und literaturorganisatorischen Arbeit Gorkis. In der Tat macht das auf persönliche Entscheidung beschränkt bleibende Engagement des Schriftstellers noch nicht sozialistische Literaturverhältnisse aus: Gorkis Roman Die Mutter a l l e i n hätte sozialistische Literaturverhältnisse noch nicht begründet. Gorkis Leistung besteht aber eben nicht nur darin, eines der Erstlingswerke des sozialistischen Realismus geschaffen zu haben, sondern ebenso darin, als Schriftsteller die Organisation der Literatur und ihre Vermittlung an einen bestimmten Leser entscheidend mit durchgesetzt zu haben. Zu dieser Tätigkeit speziell einige Bemerkungen. Es ist richtig, daß Lenin sich beim Aufbau einer eigenen literarischen Organisation auf internationale Erfahrungen, speziell die der deutschen Arbeiterbewegung, stützte. 3 Man kann aber gewiß sein, daß Lenin hier auch eine in Rußland bestehende Praxis im Auge hatte: das Verlagsunternehmen Snanije (Wissen), das von 1898 bis 1913 in Petersburg bestand. Gorkis literaturorganisatorische Tätigkeit in diesem Verlag ist gerade im Zusammenhang mit Lenins Aufsatz von 1905 außerordentlich aufschlußreich, weil diese Praxis einen unverlierbaren Erfahrungsschatz bildete, der nach der Oktoberrevolution unter anderen sozialökonomischen und politischen Verhältnissen genutzt werden konnte. Snanije war ursprünglich ein Unternehmen des Uberalen 189

Komitees für Bildung gewesen, das populäre Bücher zu Naturwissenschaft, Pädagogik und Kunst herausgegeben hatte. 1900 trat Gorki in dieses Unternehmen ein und reorganisierte es vollständig. 1902 übernahm er die inhaltliche Leitung. Snanije wurde nunmehr ein Verlag für Belletristik; herausgegeben wurden Werke der Weltliteratur, der russischen und ukrainischen Literatur. Gorki sammelte alle progressiven realistischen Schriftsteller Rußlands unter der Losung Demokratie — Humanismus — Realismus; er publizierte neben eigenen Werken die von Serafimowitsch, Kuprin, Andrejew, Bunin, Weresajew, Prischwin u. a. Er entwickelte und gab Sammelbände heraus, die programmatische Positionen herausstellten. Für die j»