Fritz Mauthner (1849–1923): Zwischen Sprachphilosophie und Literatur [1 ed.] 9783412520892, 9783412520878


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Fritz Mauthner (1849–1923): Zwischen Sprachphilosophie und Literatur [1 ed.]
 9783412520892, 9783412520878

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FRITZ MAUTHNER (1849–1923) Zwischen Sprachphilosophie und Literatur

ˇ ÍNSKÁ (HG.) VERONIKA JIC

:: Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert Herausgegeben von Steffen Höhne (Weimar-Jena), Alice Stašková (Jena) und Václav Petrbok (Prag)

Band 17

Fritz Mauthner (1849–1923) Zwischen Sprachphilosophie und Literatur

Herausgegeben von Veronika Jicínská

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung und der Jan-Evangelista-Purkyne-Universität Ústí nad Labem. Veronika Jicínská ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Jan-Evangelista-Purkyne-Universität in Ústí nad Labem.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Porträt Fritz Mauthner, undatiert © Leo Baeck Institute, New York © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Martin Trešnák, Ústí nad Labem

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52089-2

Inhalt

Vorwort Die transkulturelle Welt von Fritz Mauthner

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Moritz Csáky Gelebte Mehrsprachigkeit als Motivation für die Reflexion über Sprache

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Katherine Arens Mauthner as Epistemologist: The Critique of Language as Existential Science

43

Jacques Le Rider Von Nietzsches Sprachkritik zu Mauthners Sprachskepsis

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Klaus Schenk Produktive Hybridität bei Fritz Mauthner. Zur transkulturellen Situation einer sprachkritischen Schreibweise

67

Alice Stašková Marginalien. Zu Fritz Mauthners Bezugnahmen auf  Hamann und Novalis

91

Thomas Hainscho Eine Übersetzung wohin? Zur Bedeutung der Metapher in Fritz Mauthners Sprachkritik

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Karsten Rinas Mauthners Auseinandersetzung mit Schrift und Schriftsprache

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Mirek Němec Ein Glück, Jude zu sein. Deutsch-jüdische Affären in Fritz Mauthners Roman Der neue Ahasver

135

Václav Petrbok Anmerkungen zur tschechischen Rezeption des Werkes von Fritz Mauthner

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6 Michal Topor „Wenn wirklich etwas in mir gedieh, dann ist es an Ihrer Sonne gereift“. Robert Saudek und Fritz Mauthner: der Versuch einer Re/Konstruktion ihrer Beziehung



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Veronika Jičínská Fritz Mauthners Erinnerungen als Kritik am österreichischen Bildungswesen 197 Jan Budňák Mauthner als ‚Großvater der Grenzlandliteratur‘. Supranationale Kontinuitäten eines nationalen Genres

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Vorwort

Die transkulturelle Welt von Fritz Mauthner In einem Brief mit dem Titel An die Deutschen in Österreich, den „ein Berliner Freund“, „einer der größten Söhne der deutschen Nation und einer ihrer berühmtesten Gelehrten“ – wie die Redaktion den Autor betitelte –, nämlich der deutsche Historiker Theodor Mommsen an das Wiener Tagblatt Neue Freie Presse schickte, konnte man am 31.10.1897 lesen: Und nun sind die Apostel der Barbarisierung am Werke, die deut­sche Arbeit eines halben Jahrtausends in dem Abgrunde ihrer Uncul­tur zu begraben […] Seid hart! Vernunft nimmt der Schädel der Cze­chen nicht an, aber für Schläge ist auch er zugänglich! Es ist mit unzeitiger Nachgiebigkeit in Oesterreich viel gesündigt und viel verdorben worden. Es geht um Alles; unterliegen ist Vernichtung. Die deutschen Österreicher können aus den Marken, die sie materiell und civilisatorisch zur Blüthe gebracht haben, nicht auswandern wie die Juden aus Russland; wer nachgibt, der muss es wissen, dass er entweder seine Kinder oder wenigstens seine Enkel czechisirt. Seid hart!

Theodor Mommsen war ein Brieffreund von Fritz Mauthner, der den Historiker bewunderte und ihm seine Romane schickte. Mit den Worten Robert Saudeks, eines tschechisch- und deutsch-schreibenden Dramatikers, Diplomaten und Graphologen, der wiederum ein großer Bewunderer Mauthners war, habe Mommsen Mauthner für eine „eine seltsame Sorte Mensch“ gehalten, „der mit dem Herzen den Kulturrivalen liebt, gegen den er sich mit dem Verstand zur Wehr setzen sollte“. Trotz seiner deutschnationalen Gesinnung verläuft bei Mauthner tatsächlich keine so klare Demarkationslinie zwischen tschechischer ,Barbarei‘ und deutscher ,Zivilisation‘ wie es bei Mommsen der Fall ist. Auch wenn Mauthner sich, besonders in seinen Böhmischen Novellen, zweifelsohne vieler Klischees bedient und die Tschechen verhöhnt, handelte es sich bei ihm um eine komplizierte Hassliebe, der er häufig durch Ironie Ausdruck zu verleihen vermochte. Aus nicht wenigen Stellen seines facettenreichen Werkes kann man auch Hochschätzung oder völlig vorurteilsfreie Einstellungen gegenüber den ,Slawen‘ herauslesen. Besonders in seinem sprachkritischen Werk findet man viele überraschend aktuelle Beobachtungen zur Mischung von Sprachen und Kulturen, die ohne den tschechisch-böhmischen kulturellen Hintergrund des Autors kaum zustande gekommen wären. Mit diesen und anderen Konstellationen, Paradoxa und neuen Einsichten in die Problematik von Mauthners Werk im deutsch-tschechischen Kontext

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Vorwort

beschäftigen sich die in diesem Band gesammelten Beiträge, die im Rahmen der Tagung Fritz Mauthner im deutsch-tschechischen Kontext am Lehrstuhl für Germanistik an  der Philosophischen Fakultät der Jan-Evangelista-PurkyněUniversität in Ústí nad Labem 2015 vorgetragen wurden. Die Autorinnen und Autoren widmen sich darin nicht nur Fragen zur Sprachkritik, sondern auch den in der Forschung kaum oder wenig berücksichtigten Aspekten wie der Rezeption des Werks Fritz Mauthners in der zeitgenössischen tschechischen Presse, Mauthners Korrespondenz mit Robert Saudek oder seinem Bezug zu Hamann und Novalis. Mauthners Sprachkritik wird weiterhin exemplarisch von der transkulturellen Situation in Böhmen im 19. Jahrhundert her perspektiviert und ebenso wird der Auseinandersetzung Mauthners mit Schrift und Schriftsprache nachgegangen. Fritz Mauthner (1849–1923), deutschsprachiger Denker jüdischer Herkunft, geboren im ostböhmischen Horschitz/Hořice, aufgewachsen und ausgebildet in Prag, in Berlin als Journalist und Theaterkritiker tätig, war ein produktiver Autor und wird heute vor allem als Sprachkritiker rezipiert. Darüber hinaus gehört er durch seine (nicht nur biographische) Laufbahn zu jenen Autoren, die nicht nur im deutschen, sondern auch im böhmischen Kontext zu verorten sind. Seit den aktuellen Tendenzen zur Neubestimmung der Prager deutschen Literatur im Besonderen – vgl. bspw. jüngere Publikationen wie Max Brod (1884–1968): die Erfindung des Prager Kreises (2016) oder Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder (2017) – und dem Interesse an kulturregionalen Konzepten im Allgemeinen erschien ein eigener Band zu Mauthner als Sprachkritiker und Autor als Desiderat der Forschung. Der einleitende Beitrag Moritz Csákys Gelebte Mehrsprachigkeit als Motivation für die Reflexion über Sprache thematisiert Mehrsprachigkeit als ein für den mittel- und ostmitteleuropäischen Raum typisches Phänomen und verbindet Mauthners Erfahrungen, Beobachtungen und Konzeptualisierungen der Mehrsprachigkeit mit denen von Franz Kafka, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke. In ihrem Aufsatz Mauthner as Epistemologist: The Critique of Language as Existential Science schlussfolgert Katherine Arens, Mauthner gehe in seiner Sprachphilosophie über die Phänomenologie hinaus und schafft einen kritischen Existentialismus, der den Glauben an systematisches Wissen zum Grund menschlicher Existenz macht. Ähnlich wie Csáky betont auch sie den Mauthner’schen Appell an Kommunikation, Gemeinschaft und Tradition, anstatt an Fachwissen oder an abstrakte Werte oder Begriffe wie Nietzsches Übermensch. Mit seinem Beitrag Von Nietzsches Sprachkritik zu Mauthners Sprachskepsis schließt Jacques Le Rider auf die von Moritz Csáky eingeleitete Diskussion zu Mauthner im kulturhistorischen Kontext sowie an den in Arens’ Aufsatz

Die transkulturelle Welt von Fritz Mauthner

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thematisierten philosophischen Kontext an. Le Rider hebt hervor, dass Mauthner zur ersten Generation der begeisterten Nietzsche-Leser gehörte und seine Gedanken umfassend rezipierte: Im Roman Kraft aus dem Jahre 1894 ist z. B. häufig die Rede von der Überwindung der Dekadenz, vom Willen zur Macht und vom Übermenschlichen jenseits von Gut und Böse; im Wörterbuch der Philosophie folgt Mauthner der genealogischen Methode Nietzsches, wobei aber Mauthners Methode besonders im Wörterbuch der klassischen philologischen Sprachgeschichte seiner Zeit verhaftet bleibt. Die gleiche Diskrepanz zwischen dem Anspruch auf eine nietzscheanische Überwindung des Historismus und dem tatsächlichen Rückfall in die Geschichtsforschung kann man, so Le Rider, auch in Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, dem letzten monumentalen Werk Mauthners, sehen. Mit Verweis auf Ludwig Wittgensteins Tractatus wird gezeigt, dass Mauthner den von der Sprache verdeckten eigentlichen Sinn in dem Bereich vermutet, den Wittgenstein als sich jenseits der Grenze von Sinn befindenden bestimmt. Im Hinblick auf den häufig diskutierten Begriff der Prager deutschen Literatur geht Klaus Schenk in seinem Aufsatz Produktive Hybridität bei Fritz Mauthner der Frage nach, wie die transkulturelle Situation Prags die sprachkritische Perspektive Mauthners prägte. In Anlehung an Konzepte von Hybridisierung und einer ‚kleinen Literatur‘ zeigt er, dass die Schreibweise Mauthners weitgehend selbst von einer Hybridität geprägt ist, die autobiographische, sprachphilosophische und kulturelle Versatzstücke miteinander verbindet. Das Verständnis von Mauthners Schreibweise als „einer Praxis hybrider Verflechtungen“ bzw. „einer ‚kleinen Literatur‘“ kann dann als eine Grundlage für eine Lektüre von Mauthners sprachkritischem Werk, mit all seinen Diskrepanzen und Ambivalenzen, genutzt werden. Der darauffolgende Beitrag von Alice Stašková Zu Fritz Mauthners Bezug auf Hamann und Novalis mit Blick auf die Bestände seiner Meersburger Bibliothek richtet den Blick auf Mauthners spezifisches Verständnis von Sprache und Logik. Anhand seiner durch die Autorin gesichteten Handexemplare der Werke von Novalis sowie der Hamann-Monographie von Karl H. Gildemeister wird Mauthners Gleichsetzung von Sprache und Denken innerhalb der Traditionen der Logik sowie in Absetzung zu Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob verortet. Infolge einer durchgehenden Analyse von Randbemerkungen Mauthners in den genannten Werken erscheint er dann als Vertreter einer radikalen Logik-Kritik. Eine Übersetzung wohin? Zur Bedeutung der Metapher in Fritz Mauthners Sprachkritik lautet der Aufsatz von Thomas Hainscho, in dem sprachwissenschaftliche Überlegungen zur Metapher dem Metaphernverständnis von Fritz Mau-

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Vorwort

thner gegenübergestellt werden. Es wird auf die mögliche Rolle der Metapher im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit eingegangen mit dem Fazit, laut Mauthner gebe es keine Ein- oder Mehrsprachigkeit. Mauthner betont, es gebe keinen Unterschied zwischen Denken und Sprechen, denn das Denken sei als eine Abfolge von Vorstellungen zu verstehen, die metaphorisch miteinander verbunden sind. Folgt man seiner Ansicht, können Sprechen und Denken mit dem Vorgang, Metaphern zu bilden, also zu metaphorisieren, gleichgesetzt werden. Daraufhin schließt Karsten Rinas mit Überlegungen zur Bedeutung von Schrift und Schriftsprache an (Mauthners Auseinandersetzung mit Schrift und Schriftsprache). Rinas stellt fest, dass Mauthner in seinen Beiträgen Einsichten formuliert hat, die sich erst in der neueren Schriftlinguistik etabliert haben. Es geht um die Folgen der Entlehnungen der Schriftsysteme, den Einfluss des Buchdrucks, das semiotische Potenzial der Schrift, Lautschrift und Orthographie und Oralität. Es folgt ein Beitrag zu Mauthners ,Berliner Roman‘ mit einem böhmischen Helden im Kontext des sog. Antisemitismusstreits in Deutschland der 1880er Jahre unter dem Titel Ein Glück, Jude zu sein. Deutsch-jüdische Affären in Fritz Mauthners Roman „Der neue Ahasver“. Mirek Němec liest den 1881 erschienenen Roman als eine allegorisierende Abhandlung über die deutsch-jüdischen Verhältnisse („Affären“) in der Phase des Ausbaus der modernen deutschen nationalen Gesellschaft. Bei der Interpretation der privaten Beziehungen der Romanfiguren und den Figurenkonstellationen wird deutlich, dass Mauthner vor allem um einen Appell an die deutsche Gesellschaft bemüht war, endlich in der modernen, nämlich humanen Welt anzukommen. Die folgenden Aufsätze thematisieren die Positionierung Mauthners in den deutsch-tschechischen Nationalitätsdiskursen in der tschechischen Presse und die Kontakte mit Zeitgenossen. So widmet sich Václav Petrbok den wenig bekannten Aspekten der Rezeption von Mauthners Gedankengut in dessen ehemaligem Heimatland. Er erwähnt die Verdienste Robert Saudeks, des Übersetzers Adolf Gottwald sowie des Verlegers Jan Otto um die Herausgabe der ersten tschechischen Übersetzung von Mauthners Beiträgen zu einer Philosophie der Sprache. In den Rezensionen zu Mauthners belletristischem Werk oder zu seinen autobiographischen Erinnerungen kann man in der tschechischen Presse das ganze Spektrum des nationalen und nationalistischen Diskurses erkennen; Mauthners Werk provozierte offensichtlich immer wieder Diskussionen über nationale und kulturellen Identität. Nach Mauthners Tod gestalteten sich die wenigen Hinweise auf ihn in der Presse nach Petrbok jedoch viel wohlwollender.

Die transkulturelle Welt von Fritz Mauthner

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Michal Topor präsentiert seine Forschungsergebnisse zu Korrespondenz zwischen Fritz Mauthner und dem schon bei Petrbok erwähnten Robert Saudek (1880–1935). Topor rekonstruiert diese nicht unkomplizierte intellektuelle Freundschaft anhand der im Bestand des Leo Baeck Institute zur Verfügung stehenden Briefe und Karten, welche Saudek an Mauthner vor allem in den Jahren 1903–1908 richtete. Der Briefwechsel deckt einige interessante Aspekte zeitgenössischer Netzwerke und Machtpositionen in den intellektuellen Kreisen Prags und Berlins auf, durch die sich Mauthner und Saudek begegneten. Mauthner und Saudek tauschten ihre Ansichten u. a. über Houston Stewart Chamberlain aus, einem französisch- und deutschsprachigen Schriftsteller, Verfasser zahlreicher populärwissenschaftlicher Werke mit pangermanischer und antisemitischer Einstellung, dessen bekannteste Schrift die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899) später zu einem Standardwerk des rassistischen und ideologischen Antisemitismus in Deutschland avancierte. Saudek, der genauso wie Mauthner jüdischer Herkunft war, war dennoch von Chamberlains Grundlagen angetan, vor allem jedoch von den Bemerkungen über die Kunst und über das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Sprache im Naturalismus, den Mauthner als Theaterkritiker in Berlin unterstützte. Saudek selbst wiederum wurde zum Propagator von Mauthners sprachkritischem Werk und seinen Romanen im tschechischen Kontext. Veronika Jičínská zeigt ausgehend von der Autobiographie des Sprachphilosophen Erinnerungen: Prager Jugendjahre (1918) und vor dem Hintergrund des Sprachunterrichts an Gymnasien in Österreich-Ungarn die übersetzerischen Bemühungen des Studenten Mauthner als eine Art Sprachexperiment, das den unablässigen Kontakt unterschiedlicher Sprachen und infolgedessen die Begrenztheit der auf Zugehörigkeit zu lediglich einer Sprachgemeinschaft beruhenden Identität offenbarte. Der Band wird abgeschlossen mit einer detailreichen Untersuchung Jan Budňáks zu Mauthner als ‚Großvater der Grenzlandliteratur‘. Budňák stellt fest, dass Mauthners Böhmische Novellen – die dem Genre der Grenzlandliteratur zuzuordnen sind – als Inszenierung des Übergangs zu national partikularisierten Gesellschaften dienen können. Bei Mauthner seien solche Inszenierungen zwar eindeutig ‚deutsch‘ perspektiviert, aber mit Bemühung um größtmögliche Objektivität und kritische Analyse und nicht um Alarmierung. Fritz Mauthner teilte also nicht die Befürchtungen seines Freundes Mommsen, dass die Kinder oder Enkel der deutschen Österreicher tschechisiert werden könnten. Die Frage, ob der Schädel der Tschechen für die Schläge zugänglicher sei als für die Vernunft, wie der reichsdeutsche Historiker behauptete, darf inzwischen als unzeitgemäß betrachtet werden. Mauthners im deutschtschechischen Kontext zu verortendes Werk ist dies hoffentlich nicht.

Für die freundliche finanzielle Unterstützung der Tagung sowie für die Übernahme der Druckkosten zum vorliegenden Band sei der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung gedankt. Der Jan-Evangelista-PurkyněUniversität in Ústí nad Labem gilt ein großer Dank für ihre Schirmherrschaft und die bereitgestellte Infrastruktur zur Durchführung der Tagung sowie für die hilfreiche Unterstützung bei der Drucklegung. Ein besonderer Dank gebührt auch meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Lehrstuhl der Germanistik, die mir bei der Organisation der Tagung zur Seite gestanden haben. Danke auch für die Beratung und Unterstützung des Tagungskonzeptes durch Prof. Dr. Klaus Schenk von der Germanistik an der Technischen Universität Dortmund. Dank auch an die Reihenherausgeber für die Aufnahme des Bandes. Veronika Jičínská

Moritz Csáky

Gelebte Mehrsprachigkeit als Motivation für die Reflexion über Sprache Fritz Mauthner geht in seinen Lebenserinnerungen Prager Jugendjahre. Erinnerungen auch auf seine Gymnasialzeit in Prag ein und echauffiert sich über den mangelnden Sprachunterricht, der ihm und seinen Mitschülern in der Schule geboten worden wäre. Deutsch und Tschechisch waren obligate beziehungsweise später fakultative Schulfächer, mit dem Ergebnis, dass man keine der beiden Sprachen in Wort und Schrift wirklich erlernte und beherrschte. Während ein aus Deutschland stammender Professor des deutschen Gymnasiums auf der Kleinseite es zu seiner Aufgabe gemacht hätte, im Deutschunterricht vor allem „gegen das schlimme Pragerdeutsch“ und „gegen gute österreichische Idiotismen, die ich jetzt in meiner Sprache ungern vermisse“ (Mauthner 1969: 126) vorzugehen, hätten sich seine eigenen Tschechischkenntnisse durch den Tschechischunterricht nur marginal verbessert, während „die tschechischen Schüler der Zweisprachigkeit sehr nahe kamen“ (Mauthner 1969: 124). Vielmehr wäre er weitgehend jenem in seiner Kindheit gehörten und erlernten „Kuchelböhmisch“ verhaftet geblieben, „welches in seinem Grundbau slawisch war, aber eine Unmenge deutscher Worte barbarisch mit slawischen Endungen versah“ (Mauthner 1969: 119). Dennoch dürften Mauthners Kenntnisse des Tschechischen durch den Schulunterricht insofern ein durchaus höheres Niveau erreicht haben, als die Schüler beispielsweise angehalten wurden, die vermeintlich mittelalterlichen alttschechischen Texte der gefälschten Königinhofer Handschrift zu lesen, auswendig zu lernen und zu analysieren: „Wir mußten uns die Königinhofer Handschrift in einer streng philologischen Ausgabe anschaffen und den heiligen Text auswendig lernen und so pedantisch analysieren, wie man etwa auf dem Gymnasium den Homer zerarbeitet“ (Mauthner 1969: 129). Doch nun folgt gleich ein Zusatz, der aufhorchen lässt, weil er zumindest indirekt auf den Zusammenhang von Zwei- beziehungsweise Mehrsprachigkeit und von Sprachanalyse bei Mauthner aufmerksam macht: Ich sage mir heute, daß dieses närrische Studium eines gefälschten Dokuments für meinen Bildungsgang ganz schätzbar war; der Fälscher hatte offenbar recht gute Kenntnisse in der damals noch jungen Wissenschaft der Sprachvergleichung besessen und hatte die wirklich

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Moritz Csáky alten kirchenslawischen Texte durchaus studiert. Da bot denn unsere philologische Ausgabe ganz gut erfundene und sauber präparierte Beispiele für eine altslawische Mundart, und wir erlangten an diesen erfundenen Beispielen einige Kenntnis von der vergleichenden Sprachwissenschaft, von welcher sonst fast kein Ton zu uns gedrungen war, weder im deutschen noch im griechischen, noch im lateinischen Unterricht. (Mauthner 1969: 129)

Mauthner, der in Mähren geboren und in Prag aufgewachsen war,1 hatte seit seiner Kindheit ein durchaus offenes Ohr für mehrere synchron gesprochene Sprachen, unterhielt man sich doch in seiner Umgebung nicht nur auf Deutsch und Tschechisch oder „Kuchelböhmisch“, sondern ebenso ein wenig auf Hebräisch und „Mauscheldeutsch“, das heißt auf Jiddisch. Deutsch als die Sprache der Beamten, der Bildung, der Dichtung und seines Umgangs; Tschechisch als die Sprache der Bauern und der Dienstmädchen, als die historische Sprache des glorreichen Königreichs Böhmen; ein bißchen Hebräisch als die heilige Sprache des Alten Testaments und als die Grundlage für das Mauscheldeutsch, welches er von Trödeljuden, aber gelegentlich auch von ganz gut gekleideten jüdischen Kaufleuten seines Umgangs oder gar seiner Verwandtschaft sprechen hörte. (Mauthner 1969: 30)

Eine solche gelebte und erfahrene Mehrsprachigkeit war keine Ausnahmesituation, in der sich Mauthner vorfand, sie war für Juden, die im damaligen Königreich Böhmen aufwuchsen, fast eine Selbstverständlichkeit. Sie war mutatis mutandis auch für die Prager Juden der Kafka-Zeit symptomatisch, auch wenn, wie ganz konkret im Falle Franz Kafkas, das Jiddische und das Hebräische erst später als erlernte Zusatzsprachen das Deutsche und Tschechische ergänzten. Vielleicht könnte man an  dieser Stelle im Hinblick auf den Zugang zur Mehrsprachigkeit auf eine Unterscheidung zurückgreifen, die Henri Lefebvre in La Production de l’espace (1974) in Bezug auf Raum­ erfahrungen vorgeschlagen hatte (Lefebvre 2006; Grandits 2015: 39–40). Er spricht von drei Arten von Raumerfahrungen, von einem gelebten Raum (espace vecu), einem wahrgenommen Raum (espace perçu) und einem konzipierten beziehungsweise konstruierten Raum (espace conçu): „Der Raum der Wissenschaftler, der Raumplaner, der Urbanisten, der Technokraten, die ihn ‚zerschneiden‘ und wieder zusammensetzen, der Raum bestimmter Künstler, die dem wissenschaftlichen Vorgehen nahe stehen und die das Gelebte und das Wahrgenommene mit dem Konzipierten identifizieren.“ (Lefebvre 2006: 336) Analog dazu könnte man von einer gelebten Mehrsprachigkeit sprechen, wobei freilich in der Regel noch immer eine Sprache dominant bleibt, oder 1  Über die Lebenszusammenhänge Fritz Mauthners informiert sehr ausführlich die erste umfassende Monographie über Mauthner von Jacques Le Rider (2012a). Le Rider hat auch Fritz Mauthners Gustav Landauer gewidmete und 1907 erschienene Schrift Die Sprache ins Französische übersetzt und kommentiert (Mauthner 2012).

Gelebte Mehrsprachigkeit als Motivation für die Reflexion über Sprache

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von einer wahrgenommenen Mehrsprachigkeit, wenn man unter mehreren gesprochenen Sprachen lebt, diese wahrnimmt, ohne jedoch an ihnen aktiv zu partizipieren beziehungsweise diese zu beherrschen, und von einer konzipierten Mehrsprachigkeit, die darin besteht, dass man die Mehrsprachigkeit einfach zu einem wissenschaftlichen Beobachtungsgegenstand erhebt, das heißt eine solche Situation bloß reflektiert, ohne eine dieser Sprachen zu beherrschen oder unter ihnen zu leben und sie real wahrzunehmen. Die Übertragung des Lefebvre’schen Raumkonzepts auf die Mehrsprachigkeit scheint mir auch insofern berechtigt, als es sich bei Sprachen um Kommunikationsräume handelt, die sich voneinander unterscheiden und in Konkurrenz zueinanderstehen, die sich jedoch auch überlappen und sich in Grenzbereichen gegenseitig austauschen und partiell neue Konfigurationen miteinander eingehen. Insofern als Sprache nicht nur ein simples Kommunikationsmittel ist, sondern immer auch Gedächtnis und Überlieferung beinhaltet (Mauthner 1999: 31), repräsentieren unterschiedliche Sprachen im Wesentlichen auch unterschiedliche Kulturen. „Die Sprache“, meint Mauthner, „ist das Gedächtnis der Menschen oder ihre Vernunft, das Gedächtnis kleinerer oder größerer Menschengruppen, das Gedächtnis für alles, was Aufmerksamkeit und Interesse erregt hat.“ (Mauthner 1980/1: 400) Versteht man nun unter Kultur im weitesten Sinne das Ensemble von Zeichen, Symbolen und Codes, mittels derer Individuen in einem sozialen Kontext performativ verbal und nonverbal interagieren und kommunizieren, stellt sich auch Kultur insgesamt im Sinne des Kulturanthropologen Bronislaw Malinowski als ein Handlungs- oder Kommunikationsraum dar, der weitgehend mit der kultursemiotischen Konzeption von Kultur, der Lotman’schen Semiosphäre, übereinstimmt. Was folgt daraus in Bezug auf das Verhältnis von Kultur und Sprache beziehungsweise auf die Mehrsprachigkeit einer Region? Zentraleuropa weist in der Tat eine Vielzahl von Kulturen auf, von kulturellen Kommunikationsräumen mit konkreten gesprochenen Sprachen. Diese Kommunikationsräume befinden sich einerseits nebeneinander als relativ geschlossene Einheiten, die zuweilen in Konkurrenz zueinanderstehen können, andererseits bestehen zwischen ihnen auch zahlreiche Kontaktzonen, an denen vor allem im nonverbalen Bereich kontinuierlich Austauschprozesse stattfinden. Vor allem solche mehr oder weniger intensive kulturellen Überlappungen und Vermischungen führen in zahlreichen Bereichen zu Ähnlichkeiten, vor allem was die alltäglichen Lebensgewohnheiten betrifft, was zur Folge hat, dass in erster Linie die konkrete, gesprochene Sprache als jenes eindeutig differenzierende Merkmal wahrgenommen wird, durch das man sich von dem Anderen unterscheidet. Der Sprache wurde daher im Kontext von Nationsbildungen ein besonderer symboli-

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Moritz Csáky

scher Wert zugeschrieben, denn sie repräsentierte die Differenz der Kulturen auf einer unmissverständlichen Weise. Es ist daher durchaus verständlich, dass vor allem in Zentraleuropa nationale Auseinandersetzungen zumeist in Sprachenstreitigkeiten mündeten.2 Ein gutes Beispiel dafür ist unter anderem die Badeni-Krise im Jahre 1897, die zu heftigen Auseinandersetzungen um die staatlich verordnete Gleichberechtigung von Deutsch und Tschechisch in den Ländern der Böhmischen Krone führte, obwohl es im Grunde genommen um die Rivalität der jeweiligen national-kulturellen Selbstbestimmungen ging (Csáky 2010: 89–127, 2011, 2014). Der umfassendere Kontext von gelebter und wahrgenommener Mehrsprachigkeit ist folglich die spezifische Sprachensituation im damaligen Böhmen, wobei hinter dieser konkreten Situation gleichsam als Folie die Sprachenvielfalt des Vielvölkerstaates der Habsburgermonarchie reflexiv mitbedacht werden muss, in der es zwölf anerkannte Nationalitäten mit ebenso vielen unterschiedlichen Sprachen gab, die Juden der Monarchie nicht eingerechnet, da sie keine anerkannte Nationalität darstellten. Nicht zuletzt aufgrund dieser Situation hat der Geograph Friedrich Umlauft die Monarchie als einen „Staat der Contraste“ definiert, „Germanen im Westen, Romanen im Süden, Slaven im Norden und Süden; dazu kommen noch die Gesamtheit der Magyaren zwischen vielen Hauptvölkern“, wobei in „Grenzbezirken häufig eine eigenthümlich gemischte Bevölkerung zu finden“ wäre, und solche Grenzbezirke nicht nur an den äußeren Randlagen, sondern gerade auch innerhalb des Reiches festgestellt werden könnten (Umlauft 1876: 2). Die Monarchie ist aus einer anderen Perspektive eine Semiosphäre im Sinne von Jurij Lotman, deren auffälligstes Merkmal ihre Heterogenität, ihrer „Mehrsprachigkeit im wörtlichen und übertragenen Sinne“ wäre: „Die Sprachen innerhalb eines se2  Auch Mauthner macht auf diese Tatsache aufmerksam, nur dass er diese Situation, noch vor dem Zerfall der Vielvölkerstaates, insofern falsch ein, als er die Gefahr des Austritts aus dem gemeinsamen Verband der Monarchie verkennt: „Aber die politische Frage war in Böhmen weit mehr als anderswo eine Sprachenfrage. […] In Böhmen denkt auch der verwegenste Fanatiker nicht so bald an eine Trennung von Österreich; nur daß nach seiner Meinung der Kaiserstaat slawisch werden soll, womöglich tschechisch.“ (Mauthner 1969: 120) Vergleichsweise hat diese Vision eines slawischen Kaiserstaates Hermann Bahr 1911 in dem Essayband Austriaca, der 1912 auch in tschechischer Übersetzung erschienen war, vorweggenommen, indem er dafür plädierte, sich der Realität zu stellen und Österreich nicht, wie die Deutschen Böhmens, als einen deutschen, sondern als einen slawischen Staat zu akzeptieren: „Wir anderen Deutschen, die nicht in Böhmen leben, wir Deutschen der österreichischen Alpen haben uns längst in das neue Österreich gefunden, das ein slawisches Reich ist, in dem wir durch unsere Zahl wenig, aber alles durch unsre geistige und wirtschaftliche Macht bedeuten können.“ (Bahr 1911: 48)

Gelebte Mehrsprachigkeit als Motivation für die Reflexion über Sprache

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miotischen Raumes sind ihrer Natur nach verschieden, und ihr Verhältnis zueinander reicht von vollständiger wechselseitiger Übersetzbarkeit bis zu ebenso vollständiger Unübersetzbarkeit.“ (Lotman 2010: 166) Nach Lotman ist die gesamte Semiosphäre von Grenzen durchzogen, deren Funktion jedoch vor allem darin bestünde, translatorische semiotisierende Prozesse nicht zu behindern, sondern zu ermöglichen beziehungsweise die unterschiedlichsten Diskurse zu neuen Formationen zu bündeln: Die Brennpunkte der semiotisierenden Prozesse befinden sich aber an den Grenzen der Semiosphäre. Der Begriff der Grenze ist ambivalent: Einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie. Eine Grenze grenzt immer an etwas und gehört folglich gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen, zu beiden aneinandergrenzenden Semiosphären. Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer fremden Semiotik in die Sprache ‚unserer eigenen‘ Semiotik überträgt; sie ist der Ort, wo das ‚Äußere‘ zum ‚Inneren‘ wird, eine filternde Membran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen, ohne doch ihre Fremdartigkeit zu verlieren. (Lotman 2010: 182)

Die derart umschriebene Grenze gleicht demnach der aus einer postkolonialen Perspektive konzipierten Denkfigur eines „Dritten Raumes“, der die „Auffassung von der historischen Identität von Kultur als einer homogenisierenden, vereinheitlichenden Kraft, die aus der originären Vergangenheit ihre Authentizität bezieht und in der nationalen Tradition des Volkes am Leben gehalten wurde, sehr zu Recht in Frage“ (Bhabha 2011: 56) stellt. Im Kontext des Erstarkens der nationalen Ideologie wurden solche Grenzbezirke immer weniger als Übersetzungsbereiche gesehen, sondern zunehmend zu Konfliktzonen, von denen angenommen wurde, dass in ihnen ‚Übersetzbarkeit‘ überhaupt nicht möglich wäre. Dies betrifft nicht zuletzt das zweisprachige Böhmen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo die zwei Landessprachen, Tschechisch und Deutsch, zu Synonymen von zwei sich konkurrierenden kulturellen Kommunikationsräumen wurden. Doch kommt diese zunehmende Separation von zwei sprachlichen Kommunikationsräumen, der eine konstruierte ‚Unübersetzbarkeit‘ zugrunde liegt, schon in den frühen Schriften von Bernard Bolzano ganz deutlich zum Ausdruck. Bolzano wendet sich bereits 1810 gegen die hypertrophe Vorherrschaft nur einer Sprache, des Deutschen, und plädiert für die aktive Kenntnis beider Landessprachen, indem er nicht zuletzt indirekt auf die Ähnlichkeit von Bezeichnungen beziehungsweise Wörtern (Signifikanten) aufmerksam macht, die in unterschiedlichen Sprachen verwendet werden, die jedoch trotz der sprachlichen Differenz, die immer wahrnehmbar bleibt, stets auf ein und dasselbe Bezeichnete (Signifikat) verweisen:

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Moritz Csáky Böhmen und Deutsche! Ihr müsset Ein Volk ausmachen; ihr könnt nur stark sein, wenn ihr euch freundschaftlich vereiniget; als Brüder müsset ihr euch ansehen und umarmen: es lerne der Eine die Sprache des Anderen, nur um sich ihm desto gleicher zu stellen; es teile der Eine seine Begriffe und Kenntnisse dem Anderen brüderlich und ohne Vorenthaltung mit! (Bolzano 1977: 80)

Um dann später fortzufahren: Das erste ist, daß wir den noch ganz ungebildeten Teil unseres Volkes, die Böhmischen sowohl als die Deutschen, über den Unterschied der Sprache gehörig aufklären. Wir müssen es diesen Unwissenden erklären, woher der Unterschied der Sprache auf unserem Erdenrunde komme: wir müssen ihnen zeigen, daß es ganz willkürlich sei, ob man die Dinge so oder anders bezeichne, daß man aus Mangel der Verabredung bei den verschiedenen Völkern der Erde notwendig auch auf verschiedene Bezeichnungen der Begriffe habe verfallen müssen; daß der auf diese Art entsprungene Unterschied der Sprache der allerunwesentlichste sei, der unter den Menschen wo immer stattfinden mag; daß es daher die größte Torheit sei, einen Menschen schon darum, weil er in einer anderen Sprache sich ausdrückt als wir, für etwas Besseres oder für etwas Schlechteres als uns selbst zu halten; daß es bei uns doch nur auf die Gewohnheit ankomme, ob wir gewisse Töne angenehm oder unangenehm, wohl- oder übelklingend finden; daß daher nichts natürlicher als die Erscheinung sei, wenn ein Jeder von uns die Töne seiner Muttersprache für die gefälligsten hält. (Bolzano 1977: 87)

Walter Benjamin hat diese Überlegungen Bolzanos, freilich ohne sie zu kennen, weiter ausgeführt und über die Ähnlichkeit von Sprachen gemeint, dass die Verwandtschaft der Sprachen eben darin bestünde, dass unterschiedliche Wörter von unterschiedlichen Sprachen auf dasselbe eine Bedeutete verweisen und sich damit ähnlich sind: „Ordnet man Wörter der verschiedenen Sprachen, die ein gleiches bedeuten, um jenes Bedeutete als ihren Mittelpunkt, so wäre zu erforschen, wie sie alle – die miteinander oft nicht die geringste Ähnlichkeit besitzen – ähnlich jenem Bedeuteten in ihrer Mitte sind.“ (Benjamin 1989: 207)3 Mauthner, der sich zunehmend einer deutschen Kultur verpflichtet fühlte und zu einem Wortführer eines chauvinistischen Deutschnationalismus wurde, berichtet in seinen Lebenserinnerungen ausführlich über die Genese und das Erstarken des Nationalitätenkonflikts unter der jüngeren Generation und macht indirekt darauf aufmerksam, einen wie wichtigen Einfluss dabei jene Gymnasiallehrer und Universitätsprofessoren hatten, die nicht als Deutsch3  Es ist den Bemühungen von Anil Bhatti zu verdanken, dass das Paradigma „Ähnlichkeit“, nicht zuletzt in Anlehnung an die Überlegungen von Walter Benjamin, seit Kurzem als „eine neue, alternative Vorgehensweise in den Kulturwissenschaften“ diskutiert wird; es vermag im Kontext von Differenz (Homi K.  Bhabha) neue Perspektiven auf kulturelle Prozesse aufzuzeigen (Bhatti 2015).

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Böhmen beziehungsweise Österreicher, sondern als „Reichsdeutsche“ und damit aus Deutschland nach Prag berufen worden waren. Doch nicht ohne ein gewisses Ressentiment erwähnt er zum Beispiel seinen reichsdeutschen Deutschlehrer am Gymnasium, der gegen „das schlimme Pragerdeutsch“ und gegen „gute österreichische Idiotismen“ (Mauthner 1969: 126) ankämpfte. Einen vielleicht noch prägenderen Einfluss hatten die reichsdeutschen Professoren an der Universität, die die tätlichen Invektiven der deutschnational gesinnten Studenten gegen die Majorität ihrer tschechischen Kommilitonen guthießen oder sogar wohlwollend unterstützten. „Wir deutschen Studenten Prags“ bekennt Mauthner, „waren fanatisch national; die ewigen Katzbalgereien mit den Tschechen machten chauvinistisch“ (Mauthner 1969: 215). Mauthner gehörte also zweifelsohne zu jenem Teil der assimilierten Juden Böhmens, die sich in dem sich zuspitzenden Sprachenstreit ganz entschieden auf die Seite der Deutschen geschlagen haben.4 Für ihn war nur die Konkurrenz der zwei Sprachkulturen, der deutschen und der tschechischen, von Relevanz, unberührt hingegen blieb er von jenem „innerjüdischen Sprachenkonflikt zwischen einem transnational-diasporischen und einem nationaljüdisch-zionistischen Modell“, nämlich dem Jiddischen und dem Hebräischen (Ivrit), der für viele Prager Juden wenige Jahrzehnte später zu einer wichtigen Lebensfrage werden sollte (Kilcher 2007: 70–83). Wie intensiv Fritz Mauthner von der Mehrsprachigkeit in seiner böhmischen Heimat beeinflusst wurde und wie sehr diese auf seine Reflexion über Sprache beziehungsweise auf seine künftigen sprachphilosophischen Überlegungen Einfluss genommen hat, bezeugt Mauthner in seinen Erinnerungen. Dass er auf diese Tatsache nicht nur einmal zu sprechen kommt, sondern sie mehrmals erwähnt, mag ein Indiz dafür sein, dass es sich hier tatsächlich um den ‚Sitz im Leben‘ für seine spätere, lebenslange intensive Beschäftigung mit dem Problem von Sprache, dem relativen Wahrheitsgehalt von sprachlichen Äußerungen und einzelnen Wörtern handelt, mit denen er sich dann in den Beiträgen zu einer Kritik der Sprache und im Wörterbuch der Philosophie (Mauthner 1980, 1997)5 beschäftigen sollte. Es ist vor allem die Erinnerung an die ge4  Über Mauthners Bekenntnis zum Deutschtum, das sich im Verlaufe seines Lebens immer mehr zu einem expliziten Nationalismus in einer zum Teil chauvinistischen Variante entwickelte, die beispielsweise in seinem antitschechischen Roman Der letzte Deutsche von Blatna (1887) zum Ausdruck kommt und die er 1914 für eine extreme Kriegseuphorie zu instrumentalisieren wusste, informiert am ausführlichsten ein Beitrag von Peter Stachel (2004). 5  Die erste Auflage erschien 1910/1911 in zwei Bänden im Georg Müller Verlag (MünchenLeipzig), als Nachdruck 1980 im Diogenes Verlag in Zürich (Mauthner 1980). Die zweite erweiterte Auflage in drei Bänden erschien 1923/1924 im Felix Meiner Verlag in Leipzig

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lebte und wahrgenommene Mehrsprachigkeit, die er in seiner Kindheit erlebt hatte und nicht an eine „gelehrte“ Mehr- beziehungsweise Zweisprachigkeit, die ihm in der Schule, in jenem „Zuchthaus […] um der Zukunft willen“ (Mauthner 1980/2: 388) vermittelt wurde, über die er sich, bereits im Zusammenhang mit der erfahrenen Konkurrenz zwischen den zwei Hauptsprachen Böhmens nur abfällig äußert, der er jedoch eine so große Bedeutung für seine Reflexion über Sprache beimisst. Ich zitiere daher nochmals die bereits erwähnte Passage in ihrem vollen, umfassenden Zusammenhang: […] und auch sonst wäre mancherlei zu sagen über die besonderen Verhältnisse, die das Interesse für eine Psychologie der Sprache bei mir bis zu einer Leidenschaft steigerten. Dieses Interesse war bei mir von frühester Jugend an sehr stark, ja ich verstehe es gar nicht, wenn ein Jude, der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren ist, zur Sprachforschung nicht gedrängt wird. Er lernte damals […] genau genommen drei Sprachen zugleich verstehen: Deutsch als die Sprache der Beamten, der Bildung, der Dichtung und seines Umgangs; Tschechisch als die Sprache der Bauern und der Dienstmädchen, als die historische Sprache des glorreichen Königreichs Böhmen; ein bißchen Hebräisch als die heilige Sprache des Alten Testaments und als die Grundlage für das Mauscheldeutsch, welches er von Trödeljuden, aber gelegentlich auch von ganz gut gekleideten jüdischen Kaufleuten seines Umgangs oder gar seiner Verwandtschaft sprechen hörte. Der Jude, der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren war, mußte gewissermaßen zugleich Deutsch, Tschechisch und Hebräisch als die Sprachen seiner ‚Vorfahren‘ verehren. Und die Mischung ganz unähnlicher Sprachen im gemeinen Kuchelböhmisch und in dem noch viel gemeineren Mauscheldeutsch mußte schon das Kind auf gewisse Sprachgesetze aufmerksam machen, auf Entlehnung und Kontamination, die in ihrer ganzen Bedeutung von der Sprachwissenschaft noch heute nicht völlig begriffen worden sind. Ich weiß es aus späteren Erzählungen meiner Mutter, daß ich schon als Kind die törichten Fragen einer veralteten Sprachphilosophie zu stellen liebte: warum heißt das und das Ding so? Im Böhmischen so, und im Deutschen so? (Mauthner 1969: 30f.)

Die Zweisprachigkeit in Böhmen um 1900 war in den gebildeteren Kreisen der Bevölkerung eine Selbstverständlichkeit, vor allem bei den mittleren und oberen Schichten der tschechischen Bewohner, während die Deutschen, abgesehen von den Bewohnern großer Städte, vor allem in den überwiegend deutschsprachigen Randgebieten Tschechisch nur marginal beherrschten, nämlich „das schon erwähnte Kuchelböhmisch, welches in seinem Grundbau slawisch war, aber eine Unmenge deutscher Worte barbarisch mit slawischen Endungen versah. Trotz der erstaunlichen und achtenswerten Anstrengung gelehrter Slawen […] wurde dieser Mischmasch in allen gemischten Bezirken gesprochen.“ (Mauthner 1969: 119) Mauthner jedoch, in Hořice (Horschitz) und wurde 1997 im Wiener Böhlau Verlag mit einer Einleitung von Ludger Lütkehaus neu herausgegeben (Mauthner 1997).

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in Mähren geboren, in einer mehrheitlich tschechischsprachigen Kleinstadt, wuchs als Kind in einer assimilierten jüdischen Familie auf, in der vornehmlich deutsch gesprochen wurde. Neben dieser erlebten Zweisprachigkeit wurde er jedoch noch mit zwei weiteren Sprachen konfrontiert, dem Hebräischen beziehungsweise dem Jiddischen, dem „Mauscheldeutsch“, wie er es nennt, und der bereits erwähnten Variante des von deutschen Lehnwörtern durchmischten Kuchelböhmisch. Mauthner betont mehrfach, dass ihn diese Erfahrung schon als Kind zutiefst beeindruckt und zum Vergleich der Sprachen angeregt hätte: Sicher habe ich schon als Knabe einige Fragen der Sprachphilosophie ahnungslos als Fragen empfunden. In einem zweisprachigen Lande, wie gesagt, dazu als Jude in der Lage, häufig eine dritte Sprache, das Deutsch der böhmischen Juden zu vernehmen und zu verhöhnen, war ich in früher Jugend schon bereit, die törichte Frage zu stellen: warum ist dieser Ausdruck richtig und der andere nicht? (Mauthner 1969: 197)

Anders gewendet war dies „der Schrecken über die Sprache“ (Mauthner 1969: 197), der ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen sollte: Ich darf […] ein Leid klagen, ein Entbehren, das mich in meiner Jugend gequält hat und mich in meinem Alter zu quälen nicht ganz aufgehört hat. Jawohl, mein Sprachgewissen, meine Sprachkritik wurde geschärft dadurch, daß ich nicht nur Deutsch, sondern auch Tschechisch und Hebräisch als die Sprachen meiner ‚Vorfahren‘ zu betrachten, daß ich also die Leichen dreier Sprachen in meinen eigenen Worten mit mir herumzutragen hatte. Jawohl, ein Sprachphilosoph konnte unter solchen psychologischen Einflüssen heranwachsen. (Mauthner 1969: 48f.)

Die „Leichen dreier Sprachen“, die er in sich „herumzutragen hatte“, „diese Leichen oder Gespenster“ (Mauthner 1969: 215), wurden für Mauthner insofern zu einer existentiellen Erfahrung und zum Motor für seinen Entschluss, sich definitiv und hypertroph für eine ganz bestimmte Sprache, das Deutsche, zu entscheiden, als er sich dann erst in seinem Alter bewusst machen musste, dass ihm als säkularisierten, assimilierten Juden in dieser situativen Mehrsprachigkeit im Grunde genommen gerade das fehlte, was anderen eine Selbstverständlichkeit war, nämlich eine Muttersprache und eine feste religiöse Bindung zu haben, was er jedoch im Hinblick auf seine spätere Beschäftigung wiederum ins Positive zu wenden versuchte: Wie ich keine rechte Muttersprache besaß als Jude in einem zweisprachigen Lande, so hatte ich auch keine Mutterreligion, als Sohn einer völlig konfessionslosen Judenfamilie. Wie mir mit meinem Volke, dem deutschen, nicht die Werksteine ganz gemein waren, die Worte, so war mir und ihm auch das Haus nicht gemeinsam, die Kirche. […] Nun aber darf ich auch sagen, daß diese Mängel mich in Erkenntnisfragen der Sprache gegenüber um so freier machten. (Mauthner 1969: 50f.)

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Die Reflexion über die Sprache, die ihn zur Sprachkritik und Sprachphilosophie führte, verdankte sich nach Mauthners eigener Einschätzung ohne Zweifel einer gelebten und wahrgenommenen Mehrsprachigkeit während seiner Kindheit und seiner Prager Jugendjahre. Diese Mehrsprachigkeit versetzte ihn schon sehr früh in eine Situation, die ihn nicht nur zu abwägenden Vergleichen von unterschiedlichen Sprachen beziehungsweise sprachlichen Bezeichnungen, das heißt Wörtern, anregte, sondern zugleich und unvermittelt zu translatorischen Analysen befähigte, insofern nämlich, als der Vergleich von Sprachen ganz wesentlich auch, vielleicht ohne es sich bewusst zu machen, Übersetzungsprozesse in sich schließt. Das bedeutet weiterhin, dass er unterschiedliche ‚mémoires culturelles‘ repräsentierte, da ja „die menschliche Sprache nichts ist als die Gesamtheit der menschlichen Entwicklung, als die ererbte und erworbene Erinnerung des Menschengeistes, darum sind die Worte reicher an Assoziationen als die Töne der Musik oder als die Farben der Malerei“ (Mauthner 1969: 206). Und diese unterschiedlichen Erinnerungen wusste Mauthner in einem reflexiven Prozess kreativ nutzbar zu machen. Das heißt Mauthner machte diese multipolare Ausrichtung seiner Persönlichkeit, die sich der Tatsache verdankte, dass er sich in mehreren Kommunikationsräumen gleichzeitig vorfand, zum Ausgangspunkt und zum Gegenstand neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Aus einer kultursemiotischen Perspektive repräsentiert die Begegnung unterschiedlicher Sprachen, die sich konkurrieren, sich berühren, überlappen und in Bezug auf die Zeichenfunktion ihrer Wörter, die auf dasselbe Bezeichnete verweisen, sich auch ähnlich sind, Grenzbereiche oder ‚Dritte Räume‘, an denen es zu kontinuierlichen Übersetzungen und folglich zu Vermischungen kommt, zu ‚Kontaminationen‘, also zu Komplexitäten und Hybridisierungen, wie ganz konkret bei den von Mauthner explizit immer wieder erwähnten zwei Mischsprachen, dem Maucheldeutsch und dem Kuchelböhmich. Insofern bewegt sich Mauthner, der marginalisierte Jude, der sich in einem Raum zwischen unterschiedlichen Kulturen befindet, vor allem auch durch seine sprachanalytischen Reflexionen ständig an  Grenzen und als Grenzgänger, als Übersetzer, besitzt er die Fähigkeit, Unterschiedliches unvermittelt zusammen zu führen. Robert Ezra Park hat auf diese Fähigkeiten hingewiesen und vor allem dem jüdischen Migranten, der ein Grenzgänger, ein ‚marginal man‘, ein „cultural hybrid, a man living and sharing intimately in the cultural life and traditions of two distinct peoples“ ist, ein besonders kreatives Potential zugeschrieben, weil er sich an der Grenze zweier Kulturen befand: „He was a man on the margin of two cultures and two societies, which never completely interpenetrated and fused.“ (Park 1996: 165) Park entwickelte seine

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Theorie des ‚marginal man‘, wie er in einer autobiographischen Skizze eingestand, aufgrund von Erkenntnissen, die er während einer Reise durch die ehemalige Donaumonarchie gewonnen hatte, in der er vor allem Plurikulturalität und Mehrsprachigkeit als die charakteristischen Phänomene dieser Region erfahren und studieren konnte. Er hätte „dabei mehr Interessantes und Fruchtbares erfahren, als in einem gleich langen Zeitraum zuvor und danach“ (zit. n. Makropoulos 2004: 50). Ein ‚marginal man‘ zu sein, das heißt sich in einem mehrsprachigen Grenzbereich zu befinden, bedeutet gleichermaßen ständig Konflikten und Krisen ausgesetzt zu sein, zwischen unterschiedlichen Identitäten wählen zu müssen, sich also in einer Situation zu befinden, der man immer wieder zu entkommen versucht, indem man sich für eines der Identitätsangebote zu entscheiden hat, sich an eine Identität zu assimilieren versucht, um eine vermeintliche Stabilität zu erlangen. Mauthners Reflexion über die Sprache ist daher nicht nur eine lebensabgewandte abstrakte Tätigkeit, eine objektive wissenschaftliche Beschäftigung eines Sprachphilosophen mit und über Sprache, sie kann gleichermaßen auch als eine Reflexion über eine solche konkrete, komplexe Lebenssituation gedeutet werden. Daher ist auch die Mimikry, mit der er sich der deutschen Sprache und Kultur zu assimilieren und dieser völlig anzugleichen versucht, von seinen sprachphilosophischen Bemühungen nicht zu trennen. Beides ist der Beleg dafür, sich der erlebten und wahrgenommenen ‚Mehrsprachigkeit‘, in einem wörtlichen und in einem übertragenen Sinne, zu stellen, diese zu reflektieren und mit ihren Konsequenzen fertig zu werden. Anders gewendet heißt das, dass Mauthners Zuwendung zu sprachtheoretischen und sprachphilosophischen Problemen sich einem realen, konkreten sozialen Kontext verdankt. Vergleichbar dem Michel Foucault’schen Autor „als Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts“ (Foucault 1999: 63) hat auch Mauthner als Sprachphilosoph die unterschiedlichen Diskurse einzufangen, zu bündeln und zu ordnen versucht. Ähnlich wie Mauthner befanden sich auch andere Prager Autoren in einem plurikulturellen und mehrsprachigen kommunikativen Milieu und auch sie wurden dazu angehalten, sich mit einer solchen Situation auseinanderzusetzen. Das heißt Mauthners Reflexion über die Sprache ist zwar im Hinblick auf sein sprachwissenschaftliches Œuvre einzigartig, sie ist aber in Bezug auf die Tatsache, in einem solchen sozial-kulturellen Kontext sich den kulturellen und sprachlichen Differenzen zu stellen und diese zum Gegenstand von Reflexionen zu machen, keine Ausnahme. Ich möchte daher in der Folge, komplementär zu Mauthner, in aller Kürze nur auf zwei deutschsprachige

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Autoren hinweisen, die sich dieser Situation zu stellen versucht haben, das heißt darüber direkt oder indirekt nachgedacht haben. Es ist hinlänglich bekannt und wurde auch öfter abgehandelt, dass Franz Kafka in Prag in einem zumindest zweisprachigen Milieu, Deutsch und Tschechisch, aufgewachsen war, dass er jedoch die Wahl Deutsch als Standardsprache zu verwenden, nicht nur dem Elternhaus, sondern auch den deutschsprachigen Schulen zu verdanken hatte, die er besuchen konnte, wobei er im Gymnasium auch „regelmäßig am relativ obligaten Tschechischunterricht“ teilnahm, was natürlich nicht bedeutete, dass er Tschechisch gleichwertig dem Deutschen beherrschte, sondern „eine reale approximative Zweisprachigkeit“ aufweisen konnte (Stöhr 2012: 209; Nekula 2003, 2006, 2008; Kilcher 2007; Bauer 2008). Um seine Sprachkenntnisse zu perfektionieren, nahm er 1910 auch privat Tschechischunterricht (Kafka 1999: 123),6 vermutlich aus beruflichen Überlegungen. Folglich sind auch in seinen Briefen vereinzelt tschechische Wörter und Wendungen eingeflochten, vor allem in jenen, die er an Milena Pollak (Jesenská) gerichtet hatte, die er gelegentlich auch explizit ersucht, ihm, der des Tschechischen mächtig sei, dem „Halbdeutschen“ (wobei er damit wohl auf seine jüdische Herkunft anspielt), wie er sich seiner Schwester Ottla gegenüber bezeichnet (Kafka 2013: 72  – 20.2.1919), doch nicht auf Deutsch, sondern auf Tschechisch zu schreiben, was sie dann auch tut, denn: „[…] ich habe niemals unter deutschem Volk gelebt, Deutsch ist meine Muttersprache und deshalb mir natürlich, aber das Tschechische ist mir viel herzlicher, deshalb zerreißt Ihr Brief manche Unsicherheiten […].“ (Kafka 2013: 134 – Brief an Milena, 12.5.1920) Später gesteht Kafka gegenüber Milena in Bezug auf ihre Übersetzung des Heizers ins Tschechische: „Nun weiß ich nicht, ob nicht Tschechen Ihnen die Treue, das was mir das Liebste an der Übersetzung ist […], vorwerfen; mein tschechisches Sprachgefühl, ich habe auch eines, ist voll befriedigt, aber es ist äußerst voreingenommen.“ (Kafka 2013: 145 – Brief an Milena, 19.5.1920) Wenn auf Kafkas Verunsicherung in der deutschen Sprache eingegangen wird, die sich unter anderem auch, freilich keineswegs ausschließlich, tschechischer und jiddischer sprachlicher Einflüsse verdanken,7 sollte seine zuweilen auffallende Wortwahl nicht unter rein linguistischen Aspekten bewertet werden, dass zum Beispiel dieses oder jenes Wort einem bairischen Sprachgebrauch entlehnt wäre (Bauer 2008: 71). Vielmehr sollte man auf den umfassenderen kulturellen Kontext achten, 6  Brief Kafkas, in dem er Max Brod mitteilt, dass „mein böhmisch Lehrer auf mich wartet“. Um den 6.7.1910. 7  „[…] Kafkas Texte zeigen deutlich, dass er Regionales, Dialektales, Jiddisches und Tschechisches an vielen Stellen bewusst einsetzt und auch reflektiert.“ (Bauer 2008: 70)

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dessen wesentlicher Teil eben auch die Sprache ist. Zur Zeit Kafkas war Böhmen bereits seit mehr als vierhundertfünfzig Jahren Teil des Vielvölkerstaates, der Habsburgermonarchie, und eben nicht Bayerns oder eines anderen deutschen Staates, die Eigenarten des österreichischen Deutsch, die gewiss zum Teil mit bairischen Deutsch Gemeinsamkeiten aufweisen, bei Kafka insbesondere eines österreichischen Beamtendeutsch, waren durchaus bekannt und allgemein verbreitet. Das heißt jene sprachlichen ‚Austriazismen‘,8 die, wie bereits erwähnt, Mauthner zeit seines Lebens nicht missen wollte, waren eben auch für das Deutsch in Böhmen und in Prag bestimmend. Bereits Pavel Petr hat in Kafkas Spiele unter anderem auf diesen sprachlich-kulturellen Kontext Prags und im Speziellen des Prager Deutsch aufmerksam gemacht. Was konsequenterweise zur Folge hat, dass auch die bislang häufige Inklusion der Prager deutschsprachigen Literatur und Kultur in eine ‚reichs‘-deutsche unter einer solchen Perspektive sicher einer gewissen Richtigstellung bedarf (Petr 1992: 68–78), selbst dann, wenn Kafka zuweilen eine sehr kritische Position der Monarchie gegenüber einnahm, die jedoch indirekt, gleichsam als Folie, immer wieder aufscheint und zum Beispiel auch in der Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer sichtbar wird. Steffen Höhne hat vor kurzem mehrfach auf solche komplexen Zusammenhänge aufmerksam gemacht und dabei vor allem Austriazismen beziehungsweise Bohemismen in Prag und insbesondere bei den Mitgliedern des Prager Kreises in überzeugender Weise namhaft zu machen gewusst (Höhne 2012, 2014: 262–275). Es müssten also bei der Betrachtung der Prager sprachlich-kulturellen Konstellationen eine Vielzahl von unterschiedlichen Diskursen berücksichtigt und mit bedacht werden, die eben auch in der deutschsprachigen Prager Literatur und Kultur gleichzeitig gegenwärtig sein können und gebündelt, als diskursive Formationen, aufscheinen. Beziehungsweise gilt es gerade hinsichtlich des typischen mehrsprachigen Backgrounds von Prager Autoren auf die unterschiedlichen Kommunikationsräume zu achten, die einer solchen Mehrsprachigkeit entsprechen und in Prag als einem ‚Grenz-Ort‘ aufeinander treffen, translatorische Prozesse zur 8  Für die Bestimmung von Austriazismen in der böhmischen und Prager deutschsprachigen Literatur wäre unter anderem hilfreich, einzelne Wörter und Ausdrücke mit Hilfe des Österreichischen Wörterbuches zu identifizieren, in dem Abweichungen des österreichischen Deutsch vom deutschen Deutsch aufgezeigt werden. (Österreichisches Wörterbuch 2001) Wenn zum Beispiel darauf hingewiesen wird, dass bei Kafka der Ausdruck „ein Geschäft auflassen“ statt „schließen“ auf einen bairischen Sprachgebrauch zurückzuführen wäre (Bauer 2008: 71), bleibt völlig unberücksichtigt, dass „auflassen“ in einem solchen Zusammenhang ein im österreichischen Deutsch gebräuchlicher und geläufiger Ausdruck war und auch noch ist (Österreichisches Wörterbuch 2001: 64f.).

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Folge haben und zu neuen, ‚hybriden‘ Formationen führen. Neben Deutsch und Tschechisch wurde für Kafka vor allem im Zusammenhang mit der Suche nach seiner jüdischen Herkunft die Auseinandersetzung mit der jiddischen und hebräischen Sprache von identitätsstiftender Relevanz (Kilcher 2008; zit. aus Kafkas Briefen Csáky 2010: 339f.). Als ab September 1911 eine Lemberger jüdische Theatertruppe unter Jizchak Löwy in Prag mit jiddischen Theaterstücken und Singspielen (Operetten) auftrat, die Kafka regelmäßig und mit wachsendem Enthusiasmus besuchte, wurde ihm eine neue Perspektive auf ein vermeintlich ursprüngliches Judentum eröffnet. Das Ostjudentum mit seinem eigenen sprachlichen Idiom, dem Jiddischen, wurde ihm in Übereinstimmung mit den ihm „vertrauten kulturzionistischen Theoretikern […] als Paradigma eines ursprünglichen und lebendigen Judentums“ bewusst (Kilcher 2008: 202). Kafkas Zweisprachigkeit wurde also, abgesehen von Französisch, das er gut beherrschte, noch durch zwei zusätzliche Sprachen bereichert, die ihn ganz besonders interessierten. Wenn Kafka immer wieder auf Verunsicherungen zu sprechen kommt, die ihn am Schreiben behindern, mag diese Unsicherheit zwar nicht ausschließlich, jedoch auch, damit zusammenhängen, dass er, wie Mauthner, ‚die Leichen‘ mehrerer Sprachen in sich herumtrug, daher genötigt war, über Sprache, die sprachliche Äußerung im Schreiben oder im Vorlesen immer wieder nachzudenken,9 wobei er, wie Hofmannsthal im Chandosbrief,10 sich auch der krisenhaften Fragmentiertheit des Individuums bewusst wurde, die ein inhärentes Kennzeichen der Moderne um 1900 war: Ich bin ja wie aus Stein, wie mein eigenes Grabdenkmal bin ich, da ist keine Lücke für Zweifel oder für Glauben, für Liebe oder Widerwillen, für Muth oder Angst im besonderen oder allgemeinen, nur eine vage Hoffnung lebt, aber nicht besser, als die Inschrift auf den Grabdenkmälern. Kein Wort fast das ich schreibe paßt zum andern, ich höre wie sich die Konsonanten blechern an einander reiben und die Vokale singen dazu wie Ausstellungsneger. Meine Zweifel stehn um jedes Wort im Kreis herum, ich sehe sie früher als das Wort, aber was denn! ich sehe das Wort überhaupt nicht, das erfinde ich. Das wäre ja noch das größte Unglück nicht, nur müßte ich dann Worte erfinden können, welche imstande sind, den Leichengeruch in einer Richtung zu blasen, daß er mir und dem Leser nicht gleich ins Gesicht kommt. Wenn ich mich zum Schreibtisch setze ist mir nicht wohler als einem der mitten im Verkehr des place de l’Opera fällt und beide Beine bricht. Alle Wagen streben trotz ihres Lärmens schweigend von allen Seiten nach allen Seiten, aber bessere Ordnung 9  Am 13.12.1911 notiert er: „Ich ziehe, wenn ich nach längerer Zeit zu schreiben anfange, die Worte wie aus der leeren Luft. Ist eines gewonnen, dann ist eben nur dieses eine da und alle Arbeit fängt von vorne an.“ (Kafka 1996: 227) 10  Schon Max Brod macht auf den Einfluss aufmerksam, den der „Chandosbrief“ auf Kafka und sein Werk hatte (Brod 1966: 276f.).

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als die Schutzleute macht der Schmerz jenes Mannes, der ihm die Augen schließt und den Platz und die Gassen verödet, ohne daß die Wagen umkehren müßten. Das viele Leben schmerzt ihn, denn er ist ja ein Verkehrshindernis, aber die Leere ist nicht weniger arg, denn sie macht seinen eigentlichen Schmerz los. (Kafka 1996: 102f.)

Doch auch während des Wieder- beziehungsweise Vorlesens des bereits Geschriebenen befallen ihn ähnliche Zweifel und Verunsicherungen und veranlassen ihn, darüber zu reflektieren: Die Bitterkeit, die ich gestern abend fühlte als Max bei Baum meine kleine Automobilgeschichte vorlas. Ich war gegen alle abgeschlossen und gegen die Geschichte hielt ich förmlich das Kinn in die Brust gedrückt. Die ungeordneten Sätze dieser Geschichte mit Lücken daß man beide Hände dazwischen stecken könnte; ein Satz klingt hoch, ein Satz klingt tief wie es kommt; ein Satz reibt sich am andern wie die Zunge an einem hohlen oder falschen Zahn; ein Satz kommt mit einem so rohen Anfang anmarschiert, daß die ganze Geschichte in ein verdrießliches Staunen gerät; eine verschlafene Nachahmung von Max […] schaukelt hinein, manchmal sieht es aus wie ein Tanzkurs in seiner ersten Viertelstunde. Ich erkläre es mir damit, daß ich zu wenig Zeit und Ruhe habe um die Möglichkeiten meines Talentes in ihrer Gänze aus mir zu heben. Es kommen immer nur abreißende Anfänge zu Tage […]. (Kafka 1996: 177)

Während als Grund solcher reflexiver Selbstzweifel die Mehrsprachigkeit Kafkas sich nur vermuten lässt, das heißt hypothetisch angenommen werden kann, ist die Mehrsprachigkeit bei seinen Überlegungen über das Jiddische eindeutiger wahrzunehmen, weil er genötigt ist, mit Hilfe von Sprachvergleichen sich und anderen die Eigenständigkeit und Authentizität dieser als ‚Mauscheldeutsch‘ verkannten und verachteten Sprachvariante bewusst zu machen. Am 18. Februar 1912 veranstaltete Kafka mit Jizchak Löwy im Jüdischen Rathaus einen Lese- und Vortragsabend mit einer Auswahl von Leseproben der ostjüdischen Literatur, vor allem von Gedichten, die in Jiddisch verfasst waren. Er bemühte sich persönlich um das Zustandekommen dieses Abends und bat zunächst seinen Freund Oskar Baum, den Einleitungsvortrag zu halten. Als Baum ablehnt, entschließt sich Kafka nur sehr zögerlich, „die Conférence zum ost-jüdischen Abend“ selber zu übernehmen und tröstet sich: „ich werde ja einen guten Vortrag halten, auch wird die aufs höchste gesteigerte Unruhe an dem Abend selbst mich so zusammenziehn, daß nicht einmal für Unruhe Raum sein wird und die Rede aus mir geradewegs kommen wird wie aus einem Flintenlauf.“ Wenige Tage nach der Veranstaltung notiert er: „zwei Wochen lebte ich in Sorgen, weil ich den Vortrag nicht zustandebringen konnte. Am Abend vor dem Vortrag gelang es mir plötzlich.“ (Kafka 1997: 33f., 35) Über den dann doch gelungenen Abend fasst er kurz zusammen: Freude an L.[öwy] und Vertrauen zu ihm, stolzes, überirdisches Bewußtsein während meines Vortrages (Kälte gegen das Publikum, nur der Mangel an Übung hindert mich an der

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Moritz Csáky Freiheit der begeisterten Bewegung) starke Stimme, müheloses Gedächtnis, Anerkennung, vor allem aber die Macht mit der ich laut, bestimmt, entschlossen, fehlerfrei, unaufhaltsam, mit klaren Augen [die Rede hielt]. (Kafka 1997: 36)

Kafka selbst nannte seine Rede bezeichnenderweise „Einleitungsvortrag über den Jargon“11 (Kafka 1997: 36), also über eine nicht allgemein verständliche Sondersprache, mit der er seine Zuhörer bekannt machen wollte, von denen er jedoch meinte, sie würden im Grunde genommen „viel mehr Jargon verstehen als [s]ie glauben.“ (Kafka 2002a: 188) Kafka selbst verrät in seinen Ausführungen, dass er sich manches von diesem Jargon zu eigen gemacht hatte und daher auch seine Zuhörer mit dessen Sonderheiten vertraut machen konnte. Das heißt aufgrund der Tatsache, dass er den Jargon einigermaßen verstand, dass dieser für ihn eine „lebende“ und zugleich eine „wahrgenommene“ Sprache war, war für ihn die Motivation, über diese „lange mißachtete Sprache“ (Kafka 2002a: 189) erklärende Reflexionen anzustellen. Wie Mauthner verweist er vor allem auf die zahlreichen ‚Entlehnungen und Kontaminationen‘, die dieser Sprache eigen wären, das heißt auf die sprachliche Hybridität des Jargons, aus dem einerseits die leidvolle geschichtliche Erfahrung der Juden und andererseits ‚Völkerwanderungen‘ von sprachlichen Anleihen, die den Jargon durchlaufen, sichtbar würden: Der Jargon ist die jüngste europäische Sprache, erst vierhundert Jahre alt und eigentlich viel jünger. Er hat noch keine Sprachformen von solcher Deutlichkeit ausgebildet, wie wir sie brauchen. Sein Ausdruck ist kurz und rasch. Er hat keine Grammatiken. Liebhaber versuchen Grammatiken zu schreiben aber der Jargon wird immerfort gesprochen; er kommt nicht zur Ruhe. Das Volk läßt ihn den Grammatikern nicht. Er besteht nur aus Fremdwörtern. Diese beruhen aber nicht in ihm, sondern behalten die Eile und Lebhaftigkeit, mit der sie genommen wurden. Völkerwanderungen durchlaufen den Jargon von einem Ende bis zum anderen. Alles dieses Deutsche, Hebräische, Französische, Englische, Slawische, Holländische, Rumänische und selbst Lateinische ist innerhalb des Jargon von Neugier und Leichtsinn erfaßt, es gehört schon Kraft dazu, die Sprachen in diesem Zustand zusammenzuhalten. Deshalb denkt auch kein vernünftiger Mensch daran, aus dem Jargon eine Weltsprache zu machen, so nahe dies eigentlich läge. Nur die Gaunersprache entnimmt ihm gern, weil sie weniger sprachliche Zusammenhänge braucht als einzelne Worte. Dann weil der Jargon doch lange eine mißachtete Sprache war.“ (Kafka 2002a: 189)

Um die Angst vor dem Jiddischen zu nehmen und die Hochmut, mit der man ihm begegnet, zu überwinden, verweist Kafka kurz auf die Tiefendimension der sprachhistorischen Entwicklung, betont vor allem seine Nähe zum Deutschen, zwar in seiner noch mittelhochdeutschen Variante, und macht auf Dif11  Der Einleitungsvortrag ist nur in einer Abschrift überliefert, die Elsa Taussig, die spätere Frau von Max Brod, angefertigt hatte. (Kafka 2002a: 188–193, 2002b: 67)

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ferenzen aufmerksam, die zwischen einem west- und osteuropäischen Jiddisch vorhanden wären, so dass der Jargon „deshalb fast eben so gut wie in der Tiefe der Geschichte, in der Fläche der Gegenwart verfolgt werden“ (Kafka 2002a: 192f.) könnte. In der Tat kommt Kafkas Charakteristik dieser Mischsprache einer Beobachtung Ludwig Wittgensteins sehr nahe, in der er die Sprache mit einer Stadt vergleicht, die unterschiedliche, zuweilen widersprüchliche Traditionen und vielfältige bauliche Veränderungen aufweist: Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern. (Wittgenstein 1988: 245)

Hugo von Hofmannsthal hat dem österreichischen Deutsch eine ähnliche sprachliche Konstellation attestiert, es wäre mehr als das deutsche Deutsch von unzähligen Fremdwörtern durchsetzt, die zu einem festen Bestandteil dieser Sprachvariante geworden sind: Die österreichische Umgangssprache ist auch heute ein Ding für sich; aber vor hundert Jahren war dieses Ding noch bunter und besonderer als heute. Es war sicherlich unter allen deutschen Sprachen die gemengteste; denn es war die Sprache der kulturell reichsten und vermischtesten aller Welten. […]. In diesem unserem Sprachbesitz steckt ein ganzer Wust von Fremdwörtern, aber es sind unsere Fremdwörter, sie sind bei uns seit Jahrhunderten zu Hause und so sehr die unseren geworden, daß sie darüber in der eigentlichen Heimat ihr Bürgerrecht verloren haben. […]. Es ist symbolisch, daß der, welcher […] vielleicht der allergrößte Österreicher ist, den wir haben, der Prinz Eugen, seinen Namen gewohnheitsmäßig in drei Sprachen unterschrieb und wohl ohne einmal in tausenden Malen zu denken, wie seltsam das war, was er da tat; er schrieb: Eugenio von Savoye. (Hofmannsthal 1979: 363–365)

Kafka freilich betont mehrfach, dass der Jargon eine noch ‚gemengteste‘ Sprache wäre, eine Mischsprache, mit der sich daher viele nicht anzufreunden wissen. Und an seine Zuhörer gewendet, die ja wohl ausschließlich jüdische Mitbürger Prags gewesen sein dürften, bemerkt Kafka daher abschließend, indem er die Bedeutung und den Wert dieser Sprache erneut betont und um ihre Akzeptanz zu werben versucht, ohne vor ihr Furcht haben zu müssen: Wenn Sie aber einmal Jargon ergriffen hat – und Jargon ist alles, Wort, chassidische Melodie und das Wesen dieses ostjüdischen Schauspielers selbst, – dann werden Sie Ihre frühere Ruhe nicht mehr wiedererkennen. Dann werden Sie die wahre Einheit des Jargon zu spüren bekommen, so stark, daß Sie sich fürchten werden, aber nicht mehr vor dem Jargon, sondern vor sich. Sie würden nicht imstande sein, diese Furcht allein zu ertragen, wenn nicht gleich auch aus dem Jargon das Selbstvertrauen über Sie käme, das dieser Furcht standhält und noch stärker ist. (Kafka 2002a: 193)

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Der Jargon, oder das ‚Mauscheln‘ als eine Mischsprache, in welcher zahlreiche Wörter und Redewendungen aus einer anderen Sprache, zum Beispiel aus der deutschen Hochsprache, entlehnt sind, wurde für Kafka dann in der Folge zu einer allgemeinen Metapher, mit deren Hilfe er die Literatur der deutsch schreibenden jüdischen Schriftsteller reflektiert und zu charakterisieren versucht und die er vor allem bei Karl Kraus feststellen zu können meint. Der bei ihm wahrnehmbare Witz wäre hauptsächlich das Mauscheln, so mauscheln wie Kraus kann niemand, trotzdem doch in dieser deutsch-jüdischen Welt kaum jemand etwas anderes als mauscheln kann, das Mauscheln im weitesten Sinn genommen, in dem allein es genommen werden muß, nämlich als die laute oder stillschweigende oder auch selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes, den man nicht erworben, sondern durch einen (verhältnismäßig) flüchtigen Griff gestohlen hat […]. Ich sage damit nichts gegen das Mauscheln, das Mauscheln an sich ist sogar schön, es ist eine organische Verbindung von Papierdeutsch und Gebärdensprache […] und ein Ergebnis zarten Sprachgefühls […]. (Kafka 1966: 336f. – an Max Brod, Matliary, Juni 1921)

Mauscheln in diesem Sinne ist aber nicht nur eine Metapher, mit der Kafka die jüdisch-deutsche Literatur im allgemeinen charakterisiert, Mauscheln wird zugleich zu einem Kennzeichen für die missglückte Assimilation der Juden an eine ‚fremde‘ Kultur, das heißt es wird zu einer Metapher für eine missglückte Mimikry, für eine missglückte Nachahmung einer ‚fremden‘ Literatur und insgesamt einer ‚fremden‘ Lebensweise, was zur Folge hat, dass sich die Assimilanten als Schriftsteller, als Kulturschaffende, nicht in der von ihnen angestrebten beziehungsweise nachgeahmten Literatur, sondern in Wirklichkeit in ‚drei Unmöglichkeiten‘ vorfinden: der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben […] also war es eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen und in großer Eile irgendwie zugerichtet hatte […]. (Kafka 1966: 337f.)

Kafka hatten diese Probleme nicht erst 1921, sondern schon früher immer wieder beschäftigt, vor allem während der Zeit, als er durch die Vorführungen der Lemberger Schauspieltruppe mit dem Ostjudentum und seiner spezifischen Sprache, dem Jargon oder dem Mauscheln bekannt geworden war und die inneren Werte des durch das Ostjudentum repräsentierten ursprünglichen Judentums glaubte erkennen zu können. Er machte sich zum Beispiel anlässlich einer Beschneidungsfeier, während der die anwesenden Assimilierten die religiösen Riten nur als rein „historische“ empfanden, ein Bild über „das in einem deutlichen unübersehbaren Übergang begriffene westeuropäische Ju-

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dentum“ (Kafka 1996: 242), das vom eigentlichen Wesen des Judentums abgekommen, aber an die angestrebte Zielkultur noch nicht herangekommen war. Und wieder kommt Kafka im Zusammenhang mit der missglückten Mimikry auf Beispiele, die sich auf die Aneignung einer ‚fremden‘ Sprache beziehen: Gestern fiel mir ein, daß ich die Mutter nur deshalb nicht immer geliebt habe, wie sie es verdiente und wie ich es könnte, weil mich die deutsche Sprache daran gehindert hat. Die jüdische Mutter ist keine „Mutter“, die Mutterbezeichnung macht sie ein wenig komisch (nicht sich selbst, weil wir in Deutschland sind) wir geben einer jüdischen Frau den Namen deutsche Mutter, vergessen aber den Widerspruch, der desto schwerer sich ins Gefühl einsenkt, „Mutter“ ist für den Juden besonders deutsch, es enthält unbewußt neben dem christlichen Glanz auch christliche Kälte, die mit Mutter benannte jüdische Frau wird daher nicht nur komisch sondern auch fremd. Mama wäre ein besserer Name, wenn man nur hinter ihm nicht „Mutter“ sich vorstellte. Ich glaube, daß nur noch Erinnerungen an das Ghetto die jüdische Familie erhalten, denn auch das Wort Vater meint bei weitem den jüdischen Vater nicht. (Kafka 1996: 82)

Schließlich machte sich Kafka unter dem Einfluss von Jizchak Löwy und vor allem angesichts seiner sicher nicht allzu guten Kenntnis der jiddischen Sprache, von jiddischen Theaterstücken und Gedichten, Gedanken über die Verortung dieser sprachlich-literarischen Produkte in einen umfassenderen literarischen Kontext. Seine Überlegungen über ‚kleine Literaturen‘ bleiben fragmentarisch und sind auch weitgehend hypothetisch. Sie sollten daher nicht überbewertet werden und der Versuch, in Kafkas Ausführungen bereits eine Theorie der ‚kleinen Literatur‘ zu sehen, greift daher vermutlich zu weit, was auch die jüngste kritische Auseinandersetzung mit Kafka. Pour une littérature mineure von Gilles Deleuze und Félix Guattari belegen konnte (Thirouin 2014). Kafkas Interesse für kleine Literaturen ergab sich aus dem Wunsch, „die jiddische Litteratur zu kennen, der offenbar eine ununterbrochene nationale Kampfstellung zugewiesen ist, die jedes Werk bestimmt“. Diese vermeintlich nationale Funktion sieht Kafka auch bei anderen Literaturen, in denen „andere fernstehende Werke durch die Begeisterung der Zuhörer einen in diesem Sinne nationalen Schein bekommen wie z. B. die [sic!] verkaufte Braut“ (Kafka 1996: 56).12 Es muss freilich bezweifelt werden, ob Kafkas Postulat der nationalen Ausrichtung insbesondere der jiddischen Literatur richtig ist und mit der tschechischen einfach verglichen beziehungsweise gleichgesetzt werden kann. Kafka übernimmt hier vielmehr die zu seiner Zeit geläufige Überlegung, 12  Bedřich Smetanas Volksoper Prodaná nevěsta (Die verkaufte Braut) wurde 1866 in Prag uraufgeführt, hatte zunächst nur wenig Erfolg, errang aber im Laufe der Jahre den Rang „der“ tschechischen Nationaloper, „also eines Kulturbesitzes jenes ‚Volkes‘, das zur staatsschaffenden Nation wurde.“ (Reittererová 2004: 32)

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wonach vor allem der Literatur beim Aufbau einer Nation eine entscheidende Rolle zugeschrieben wurde. Eine Sichtweise, die zwar für den Zionismus, jedoch für das gegenüber dem Zionismus kritische chassidische Ostjudentum wohl kaum zutreffend gewesen sein mag, wie er denn auch einschränkend zugeben muss: „Weil die zusammenhängenden Menschen fehlen, entfallen zusammenhängende litterarische Aktionen.“ (Kafka 1996: 249) Doch unabhängig davon bleibt, was zuweilen weniger beachtet wird, unbestritten, dass Kafka unter dem Etikett ‚kleine Literatur‘ nicht nur die jiddische im Blickfeld hatte, sondern ebenso oder zumindest komparatistisch zu dieser auch die tschechische, nämlich das, „was ich durch teilweisen eigenen Einblick von der gegenwärtigen tschechischen Litteratur erkenne“ (Kafka 1996: 243) und dass er für das Zustandekommen dieser Literaturen dem ‚Gedächtnis‘ dieser ‚kleinen Nationen‘ (Kafka 1996: 245) – analog zu Mauthners Gedächtnis der Sprachen – eine besondere Bedeutung zugeschrieben hat. Das heißt mit anderen Worten: „Das Wachsen der Kräfte durch umfangreiche schlagkräftige Erinnerungen“ (Kafka 1996: 254). Ähnlich wie Mauthner oder Kafka war auch der in Prag geborene Rainer Maria Rilke in einem zweisprachigen Milieu aufgewachsen und setzte sich in seinen frühen Werken zumindest andeutungsweise immer wieder mit dieser für Prag typischen Situation auseinander, wobei ihn die Sprachenfrage auch während der späteren Jahre, als er Prag längst verlassen hatte, beschäftigen sollte. „Innerhalb einer Sprache, deren ich mich nun bediene, aufgewachsen“, schreibt er 1912 an den Prager Germanisten August Sauer, „war ich gleichwohl in der Lage, sie zehnmal aufzugeben, da ich sie mir doch außerhalb aller Spracherinnerungen, ja mit Unterdrückung derselben aufzurichten hatte“ (Rilke 1991a: 495). Rilke hat Tschechisch nicht nur als die Sprache seiner Umgebung wahrgenommen, sondern ebenso wie Mauthner oder Kafka in der Schule erlernt und später auch praktiziert (Schnack 2009: 21, 24, 51). Er konnte sich aus einer solchen Perspektive nicht nur mit der sprachlichen Differenziertheit und kulturellen Heterogenität des alten Österreich vertraut machen – „Ich bin Oesterreicher […] bin mir aber der vielfältigen Zusammensetzung der oesterreichischen Natur […] eigentümlich bewußt gewesen“ (Rilke 1991b: 62) –, sondern insbesondere auch mit der tschechischen Kultur. Beides sollte ihn Zeit seines Lebens nicht mehr loslassen. „Wenn ich also den deutschen Nationalismus“, schrieb er am 14.2.1926, wenige Monate vor seinem Tod, an Aurelia Gallarati-Scotti, diese Anmaßung eines beinahe amerikanisierten Aufsteigers, immer verabscheut habe, so habe ich das Fehlen eines Versuchs bedauert, den verschiedenen Bestandteilen Österreichs (das doch in Jahrhunderten Zeit gehabt hätte, ein langsames und gedeihliches Zusammen-

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spiel seines vielfarbigen Mosaiks vorzubereiten) ein gemeinsames Gefühl zu geben, das sich aus seinen klug versöhnten Gegensätzen hätte nähren können. Ich war froh Prag wieder zu einem tschechischen Mittelpunkt werden zu sehen, denn dieses wißbegierige Volk hatte sich in einer absurden Art verleugnet, bis es selbst Gefallen an seiner Sprache verlor. (Rilke 1991b: 416–421, hier 417)13

Es verwundert daher nicht, dass im Frühwerk Rilkes Prag, die böhmische Landschaft, die Geschichte des tschechischen Volkes, die aktuelle Rivalität von Deutschen und Tschechen, und jene historischen Erinnerungsorte, die zu konstitutiven Stereotypen für die tschechische Nationsbildung geworden waren, eine durchgehend dominante Rolle einnehmen, wobei seine Sympathie ganz eindeutig auf Seiten des ‚böhmischen‘ Volkes ist. In seinen frühen Gedichten, die 1895 unter dem Titel Larenopfer erschienen waren, finden sich nicht nur Zitate in tschechischer Sprache, so unter anderem zweimal, in Kajetan Tyl und Das Heimatlied (Rilke 2012: 38, 68), die erste Zeile der späteren Nationalhymne von Josef Kajetán Tyl und František Škroup Kde domov můj (Wo ist meine Heimat),14 die Gedichte atmen auch durchweg ein Bekenntnis zu Prag und zu Böhmen: „Mich rührt so sehr böhmischen Volkes Weise“ heißt es da, „schleicht sie ins Herz sich leise, macht sie es schwer“ in Volksweise (Rilke 2012: 39). Rilke verrät, dass er Gedichte seines Zeitgenossen, des berühmten Vorläufers der Prager Moderne, Jaroslav Vrchlický, gelesen hatte (Rilke 2012: 20) und bezieht sich sowohl auf die ‚nationale‘ Opernproduktion, wie Die Verkaufte Braut oder Dalibor von Bedřich Smetana (Rilke 2012: 41, 35) oder auf das Singspiel Dráteník (Rastelbinder) von Škroup (Rilke 2012: 66) als auch auf die für die Tschechen traumatischen Gedächtnisorte, Jan Hus, den Fenstersturz von 1618 oder das Blutgericht am Altstädter Ring im Jahre 1620 (Rilke 2012: 34, 55, 44). Zwei seiner frühen Erzählungen, König Bohusch und Die Geschwister, thematisieren explizit und sehr kritisch den Nationalitätenkonflikt zwischen den Deutschen und Tschechen in Böhmen und mahnen zur Versöhnung: „Die Deutschen sind überall, und man muß die Deutschen hassen. Ich bitte Sie, wozu das?“ (Rilke 1995: 165) Doch: Wie ein Kind ist unser Volk. Manchmal seh ich es ein: unser Haß gegen die Deutschen ist eigentlich gar nichts Politisches, sondern etwas – wie soll ich es sagen? – etwas Menschliches. Nicht, daß wir uns mit den Deutschen in die Heimat teilen müssen, ist unser Groll, aber daß wir unter einem so erwachsenen Volk groß werden, macht traurig. (Rilke 1995: 216)

13  Das französische Original s. Rilke (1991b: 410–415, hier 411). 14  Das wörtliche Zitat aus der Nationalhymne findet sich auch in der Erzählung König Bohusch (Rilke 1995: 164).

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Bis dann, in Die Geschwister, der Deutsche Land und die Tschechin Luisa „menschlich“ einander nahekommen und einen Sprachenausgleich vereinbaren: „Ich möchte so gern etwas besser deutsch lernen“, sagt Luisa zu Land, „vielleicht können Sie ein wenig böhmisch brauchen dafür. – Ja, atmete Land auf, ich liebe Ihre Sprache.“ (Rilke 1995: 245) Rilkes Sprachreflexion, geschärft durch die eigene aktive und passive Kenntnis mehrerer Sprachen, die ihn „im Deutschen immer noch als ein[en] Anfänger“ fühlen ließ, „der noch weit entfernt ist, sicher und entschlossen nach den Worten zu greifen, die jedesmal die einzig richtigen sind“ (Rilke 1991a: 254), und durch die wahrgenommene, in seinen Augen zuletzt jedoch gescheiterte Mehrsprachigkeit des habsburgischen Vielvölkerstaates – „Oesterreich blieb immer im Bau“ (Rilke 1991a: 420) –, bezog sich, wie er sich bereits gegenüber Sauer geäußert hatte, nicht zuletzt auf jene Sprache, für die er sich als Schriftsteller entschieden hatte, auf das Deutsche. Doch er empfinde, bemerkt er dann 1915 Ilse Erdmann gegenüber, gerade jetzt, Mitten im Krieg, nicht deutsch und noch weniger österreichisch, in keiner Weise; ob ich gleich dem deutschen Wesen nicht fremd sein kann, da ich in seiner Sprache bis an  die Wurzeln ausgebreitet bin, so hat mir doch seine gegenwärtige Anwendung und sein jetziges aufbegehrliches Bewußtsein, soweit ich denken kann, nur Befremdung und Kränkung bereitet; und vollends im Österreichischen, das durch die Zeiten ein oberflächliches Kompromiß geblieben ist (die Unaufrichtigkeit als Staat), im Österreichischen ein Zu-hause zu haben, ist mir rein unausdenkbar und unausführbar! Wie soll ich da, ich, dem Rußland, Frankreich, Italien, Spanien, die Wüste und die Bibel das Herz ausgebildet haben, wie soll ich einen Anklang haben zu denen, die hier um mich großsprechen. Genug. (Rilke 1991a: 592f.)

Er fühlt sich in der Zwei- beziehungsweise Mehrsprachigkeit, in der er aufgewachsen war, zunehmend unwohl, er erblickt in ihr das Symptom beziehungsweise die Ursache von Fragmentiertheit und Zerrissenheit, „als ob diese dumme oesterreichische Mehrsprachigkeit sogar der Landschaft ihren einigen, eindeutigen Ausdruck nähme“ schreibt er 1912 aus Duino an Lou Andreas-Salomé (Rilke 1991a: 373). Diese Mehrsprachigkeit sei schuld für die Unreinheit der Sprache, wie zum Beispiel das Prager Deutsch oder das mit deutschen Lehnwörtern durchmischte Tschechisch,15 denn die unselige Berührung von Sprachkörpern, die sich gegenseitig unbekömmlich sind, hat ja in unseren Ländern dieses fortwährende Schlechtwerden der Sprachränder zur Folge, aus 15  Die tschechische Sprache ist, schreibt Rilke, „zur Zeit meiner Kindheit in einem solchen Grade kraftlos geworden, daß sie, in einer entstellten Form, jedwelchen Abfall der deutschen Sprechweise aufnahm, um die Dinge des täglichen Lebens benennen zu können.“ (Rilke 1991b: 417)

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dem sich weiter herausstellt, daß, wer in Prag aufgewachsen ist, von früh auf mit so verdorbenen Sprachabfällen unterhalten wurde, daß er später für alles Zeitigste und Zärtlichste, was ihm ist beigebracht worden, eine Abneigung, ja eine Art Scham zu entwickeln sich nicht verwehren kann. (Rilke 1991a: 495)

Adalbert Stifters Sprache wäre von einer solchen ‚Berührung von Sprachkörpern‘ nicht beeinflusst gewesen, Stifter wäre rühmliche Ausnahme. Stifter, in der reineren Verfassung des Böhmerwaldes, mag diese verhängnisvolle Nachbarschaft einer gegensätzlichen Sprachwelt weniger wahrgenommen haben, und so kam er, naiv, dahin, sich aus Angestammtem und Erfahrenem ein Deutsch bereit zu machen, das ich, wenn irgend eines, als Österreichisch ansprechen möchte, soweit es nicht eben eine Eigenschaft und Eigenart Stifters ist und nichts anderes als das. (Rilke 1991a: 495f.)

Während Kafka in seinem Einleitungsvortrag über den Jargon gerade der Verschmelzung von Elementen unterschiedlicher Sprachen zu einer neuen, hybriden Sprache nur Positives abzugewinnen und gerade aus dieser Tatsache Rückschlüsse auf die Geschichte jener abzuleiten weiß, die sich einer solchen Sprache bedienen, ist sich Rilke mit Mauthner über die negativen Aspekte einer solchen Entwicklung einig, die nicht zuletzt das ‚papierene‘ Prager Deutsch betrifft, dem Mauthner eine organisch gewachsene, jedoch verlorengegangene Sprache, die Mundart, entgegensetzt: Der Deutsche im Inneren von Böhmen, umgeben von einer tschechischen Landbevölkerung, spricht keine deutsche Mundart, spricht ein papierenes Deutsch, wenn nicht gar Ohr und Mund sich auf die slawische Aussprache eingerichtet haben. Es mangelt an Fülle der mundartlichen Formen. Die Sprache ist arm. Und mit der Fülle der Mundart ist auch die Melodie der Mundart verloren gegangen. Es ist bezeichnend dafür, daß der Mensch auch zu seiner eigenen Sprache keine Distanz hat: die Deutschböhmen bilden sich ein und sagen es bei Gelegenheit, daß sie das reinste Deutsch reden. Die Ärmsten! Als ob die Mundarten unrein wären! Wenn einem Deutschböhmen aus tschechischer oder tschechisch gewordener Gegend irgendwie die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einem Volksdialekte kommt, so pflegt er gewöhnlich den behaglichen Wiener Dialekt nachzuahmen. Es gelingt ihm nur schlecht. Er hört ihn (in den alten und neuen Wiener Possen), aber er kann ihn nicht nachahmen. Ich habe wie nur einer die Sehnsucht nach der Zugehörigkeit zu einem Dialekte empfunden; aber es fiel mit niemals ein, Wienerisch zu reden. Es gehört dazu wie zu jeder vollkommenen Beherrschung einer fremden Sprache etwas Komödienspielerei, etwas Snobismus, wofür ich keine Neigung, wahrscheinlich keine Begabung habe. (Mauthner 1969: 49f.)

Die Reflexion über Sprache bei Mauthner, Kafka oder Rilke verdankte sich einer ganz konkreten, gelebten und wahrgenommenen Mehrsprachigkeit und einem Bedürfnis, sich mit dieser existentiell auseinanderzusetzen. Betraf sie doch im Grunde genommen die eigene multiple Identität, die als mehrdeutig empfunden wurde und daher Anlass für Krisen und Konflikte sein konnte.

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Eine solche Situation war insbesondere für die Bewohner solcher Städte symptomatisch, in der sich zwei oder mehrere sprachlich-kulturelle Kommunikationsräume vorfanden, konkurrierten und überlappten, das heißt die im Sinne Lotmans von kontinuierlichen Grenzen durchzogen waren, die trennten, zugleich aber auch verbanden und folglich nicht nur Konfliktzonen waren, sondern auch zu neuen kreativen symbiotischen Konstellationen beitrugen. So sah es zumindest auch Alfons Paquet, der 1917 für eine von der Prager jüdischen Zeitschrift Selbstwehr veranstaltete Sammelschrift Das jüdische Prag einen Betrag geliefert hatte, in dem er einer solchen heterogenen kulturellen Topographie vor allem Positives abzugewinnen wusste: Prag ist der vollkommene Ausdruck eines merkwürdigen kulturgeographischen Zustandes, eine Stadt, in der sich eine immerwährende Mischung von Elementen vollzieht. […] Das jetzt halb deutsche und halb tschechisch, dabei immer ein wenig jüdisch gewürzte Prag offenbart nun in den letzten Jahren eine besondere geistige Lebhaftigkeit und Zeugungskraft. […] Dieses Besondere nährt sich unbedenklich von den alten feinen literarischen Beispielen des westlichen Europa und von den unverbrauchten Buntheiten der slavischen Welt. (zit. n. Schönborn 2010: 255)

Bereits Bolzano hatte für Böhmen die Beherrschung beider Landessprachen eingefordert; er hat jedoch auch auf die Unterschiede hingewiesen, die zwischen zwei Sprachen stets bestehen bleiben, selbst wenn die differenten Wörter (Begriffe) sich auch auf ein und dieselbe Sache beziehen und sich daher „ähnlich“ sind. Selbst wenn man durch die Beherrschung beider Landessprachen einander ähnlicher wird, gilt es jedoch immer noch den relativen Unterschied der Sprachen zu akzeptieren: Böhmen und Deutsche! Ihr müsset Ein Volk ausmachen; ihr könnt nur stark sein, wenn ihr euch freundschaftlich vereiniget; als Brüder müsset ihr euch ansehen und umarmen: es lerne der Eine die Sprache des Anderen, nur um sich ihm desto gleicher zu stellen; es teile der Eine seine Begriffe und Kenntnisse dem Anderen brüderlich und ohne Vorenthaltung mit! […] Ein jeder Unterschied der in die Sinne fällt, tut dem Gemeingeiste Abbruch. Der Unterschied in der Sprache, mag der Vernünftige ihn auch für noch so unwesentlich erklären, ein Unterschied bleibt er doch immer, und zwar ein solcher, der sich gar nicht bergen läßt. Und bei unwissenden Menschen gilt dieser Unterschied sehr viel. (Bolzano 1977: 80, 82)

Auch den in einem mehrsprachigem Milieu aufgewachsenen Mauthner haben solche Überlegungen beschäftigt und zu einer weiteren Erkenntnis geführt, dass nämlich ‚Sprache‘ als ein übergeordnetes Ausdrucksmittel „nichts ist als das bequeme Gedächtnis der Menschengeschlechts und das sogenannte Wissen nichts ist als dieses selbe Gedächtnis in der ökonomischen Ordnung des Einzelmenschen“ und dass es „zwischen Sprache und Erkenntnis nur leise

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nüancierte Unterschiede“ gibt: „Beide sind Gedächtnis, beide sind Überlieferung.“ (Mauthner 1999: 31) Die gelebte und wahrgenommene Mehrsprachigkeit ist, meine ich, in der Tat eine Motivation, sich nicht nur verschiedene Sprachen anzueignen oder aber diese allenfalls abzulehnen, was vor allem die nationale Ideologie gefordert hatte, sondern sich mit den Inhalten und der Funktion von Sprache zu beschäftigen. Sprache erscheint somit aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive als ein Ort des Gedächtnisses, dessen Inhalte durch permanente Prozesse erinnernder Aneignungen aktualisiert werden. Sich in einer Mehrsprachigkeit zu befinden insinuiert auch ein ständiges Flottieren zwischen unterschiedlichen Sprachen, was zur Folge hat, dass aufgrund eines translatorischen Prozesses des ‚Über-Tragens‘ von einer in die andere Sprache kulturelle Inhalte zuweilen von einer solchen Sprache repräsentiert werden, welcher diese Inhalte ursprünglich nicht inhärent sind, dass zum Beispiel Inhalte eines jüdischen Gedächtnisses nicht auf Jiddisch oder Hebräisch, sondern, wie bei Kafka, auf Deutsch, und tschechische Inhalte und Erinnerungen nicht auf Tschechisch, sondern, wie bei Rilke, auf Deutsch repräsentiert werden. Es entspricht dies im Grunde genommen einer postkolonialen Attitüde der ‚Fremd-Repräsentation‘, die nicht immer bewusst sein muss, jedoch mit Mehrsprachigkeit stets einhergeht. Fritz Mauthner, der mehrsprachig aufgewachsen war, beschäftigte sich in seinen sprachphilosophischen Überlegungen immer auch mit eben diesen Problemen. „Jawohl“, meinte er daher zu Recht, „ein Sprachphilosoph konnte unter solchen psychologischen Einflüssen heranwachsen.“ (Mauthner 1969: 51)

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Katherine Arens

Mauthner as Epistemologist: The Critique of Language as Existential Science Mauthner’s critique of language has found broad appreciation in the twentieth century as an approach to knowledge. Less familiar, however, are the extended contexts for his work, particularly the convergence between the critique of language and of the sciences in general that leads from nineteenth-century debates and into Wittengenstein and the Vienna Circle. To make the case for Mauthner’s philosophical modernity, this essay traces his epistemological turn as part of a broader intellectual arc that was largely lost to sight after the First World War. By addressing Mauthner’s intertexts from Nietzsche and the Neogrammarian philologists, however, one can see what was at stake in this broader discussion and recover a Mauthner who is considerably more modern and a more salient interlocutor with his contemporaries than appears at first glance. What is forgotten, particularly in the English-speaking world, are the debates in the germanophone university context that stress the proximity of all the sciences to each other, a tradition that attempted to modernize hermeneutics through reference to science – including the work of Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Ernst Mach, Wilhelm Dilthey, and Otto Neurath. These voices represent one strand of epistemological critique that dominated continental thought until the Second World War, an attempt to use critique as an approach to education and to close gaps between general and specialist knowledge and reduce the social power of expertise. This work, like Mauthner’s, solidly rejects the Anglo-American reliance on C. P. Snow’s two-culture perspective; it refuses to separate the sciences from the humanities, while charting a course toward a communitarian, non-hegemonic approach to knowledge and power. Such Anglo-American contexts often overlook what Mauthner’s text recaptures: the dynamic turn toward a conjoint epistemology of all types of science that was at the foreground for the pre-World-War-II intellectual generation, a philosophical move that presages Foucault’s critique of the power-knowledge link and emphasis on knowledge as a social product. As I explore them here, Mauthner’s intertexts point to an epistemic shift in which the

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philosophy of language has broken free of school philosophy to become the science of human history and community as sites of value-driven knowledge.

1. Nietzsche’s Epistemological Dead End In the first volume of the Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1906), in a section entitled “Zufallssinne”, Mauthner excoriated Nietzsche (Beiträge I: 364– 372  ff.). His critique is based in part on a  sketch written by Nietzsche in 1881: “Die Wiederkunft des Gleichen”,1 which, he admits, was written after the onset of Nietzsche’s mental illness. Nonetheless, he considers it critical documentation for the philosopher’s fundamental errors in logic: “‘Die Wie­ derkunft des Gleichen’ ist aber der unsinnigste und der geistreichste unter den Einfallen Nietzsches, der sich der Übermensch dünken durfte, weil er ein Einsamer war.” (Beiträge I: 364) This notion is wrong-headed on “both scientific and ethical grounds”.2 In fact, Nietzsche’s attempts at language critique fall woefully short, because he failed to follow the teachings of the modern science of evolution (Entwicklungsidee), and so he did not understand human senses as something provisory or developing, rather than paradigmatic and privileged. Mauthner’s human being, after all, might actually have more than senses. Nietzsche’s disregard of science, Mauthner continues, is evident in how he mis-construed basic scientific doctrines like the infinity of infinitesimally small molecules because he prefers to turn science into a matter of pure random chance (Zufall). In Nietzsche’s account, experience, when turned into any form of systematic knowledge, is simply used to manufacture pure speculative phantasms in the human mind: [Nietzsche] beginnt seinen Entwurf (wenigstens in der Ausgabe Fritz Koegels) mit den Sätzen: “Es gibt wahrscheinlich viele Arten von Intelligenz, aber jede hat ihre Gesetzmäßigkeit, welche ihr die Vorstellung einer anderen Gesetzmäßigkeit unmöglich macht. Weil wir also keine Empirie über die verschiedenen Intelligenzen haben können, ist auch jeder Weg zur Einsicht in den Ursprung der Intelligenz verschlossen. Das allgemeine Phänomen der Intelligenz ist uns unbekannt, wir haben nur den Spezialfall und können nicht

1  According to Mauthner, it was originally printed in Vol. 12 of the Werke and then suppressed (unterdrückt [Beiträge I: 364]). 2  “[…] verfehlt, sowohl die naturwissenschaftliche wie die ethische Grundlage des ungeheuerlichen Gedankens” [Beiträge I: 365]).

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verallgemeinern. Hier allein sind wir ganz Sklaven, selbst wenn wir Phantasten sein wollten!” (Beiträge I :366)

In such moves, Mauthner continues, Nietzsche teaches a falsehood about what science does epistemologically: “daß unser Weltbild auf einem Irrtum beruhe und die Wissenschaft diese Irrtum nur fortsetze” (Beiträge I: 365). To Nietzsche, each science is its own phantasm, uninformative about either the world or the mind in general. Worse still, Nietzsche has denied not only the logic of Kant’s work, but also its ethical basis, “wenn er der moralischen Regel Kants die verstiegene Maxime entgegenstellt: ‘Lebe so, wie du bei der Wiederkehr des Gleichen unzähligemal leben willst!’ (das ist der Sinn des Aphorisma 219)” (Beiträge I: 365). Adopting the eternal return of the same to define the ground of ontology makes little or no sense because it transforms moral action into a parlor trick (Jonglierkunststückchen). The result of these two errors, Mauthner feels, is that Nietzsche’s critique of language reduces itself, claiming to investigate one kind of morality, but actually belying epistemology and denying sense to any systematic thought or group inheritance. Nietzsche, however, does not see this one-sidedness of his own argument because he is seduced by the power of his own language, even at precisely the moment when he tries to decry it, and thus fails at the mission he set himself:3 Nietzsche wäre mit der Sprache fertig geworden, wenn er zwischen der Sprache als Kunstmittel und der Sprache als Erkenntniswerkzeug deutlich genug unterschieden hätte. Er hat uns keine Sprachkritik geschenkt, weil er sich von seiner eigenen Dichtersprache zu sehr verlocken ließ. (Beiträge I: 367)

Mauthner’s Nietzsche rages against “die Sprache als wissenschaftliches Werk­ zeug” and thus misses the fact that the world can only be understood through language. This Nietzsche only thinks of and within the affective dimension of language, because he is a poet, and he makes language simply a social factor: “Aber nicht als Erkenntniswerkzeug verwirft er die Sprache, immer nur als Werkzeug zum Ausdruck einer Stimmung. Der Dichter Nietzsche erhebt unerfüllbare Ansprüche an die Sprache.”4 (Beiträge I: 368) 3  “[…] wenn ihn nicht seine prachtvolle Sprachkraft verführt hätte, Denker und zugleich Sprachkünstler sein zu wollen. Sein Mißtrauen gegen die Sprache ist unbegrenzt; aber nur solange es nicht seine Sprache ist.” (Beiträge I: 366). 4  His own adherence to the idea of the Übermensch also removed him from the ability to exercise language critique because he reduces all language to the issue of morality: “wie ihn sein Übermenschenbewußtsein wieder von der sprachkritischen Resignation entfernte. Er sagt

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In consequence, Nietzsche has accomplished the moral feat of critiquing the relation of language to power, but not its relationship to knowledge, because he does not trace how language works within itself and instead reifies it in a single form: “Die Worte der Sprache entkleidet er ihrer Herrschaftsabzeichen, aber die sogenannte Vernunft, das heißt die Sprache selbst, setzt er nackend auf den Thron.” (Beiträge I: 368) In this sense, Nietzsche never achieved a true critique of language, but only of its use within the sphere of ordinary people, for those who communicate (Mitteilsame) and thus who are engaged in what would come to be known as idle chatter: Anstatt die Begriffe überhaupt zu prüfen, hielt er sich zunächst an die Wertbegriffe. Und anstatt an den Werten nur zu zweifeln, sann er über eine Umwertung der Werte, also über neue Tafeln, also über einen neuen gottlosen Wortaberglauben. […] Nietzsche war zu eitel, um in seinen Aphorismen auf die dichterischen Darstellungsmittel zu verzichten; darum wurde er in der Philosophie kein Sprachkritiker. (Beiträge I: 369)

Poetic language is not clearly bounded (scharf umrissen), and so by using it, Nietzsche does not clarify systematic epistemology. Because Nietzsche also fails to investigate what poetic language achieves as its own system of knowledge, Nietzsche actually appeals to what Mauthner calls a “godless word-superstition” (einen gottlosen Wortaberglauben).5 Ultimately, however, the distinction between appearance and reality (Schein and Sein) on which Nietzsche (and most of western philosophy) ultimately relies proves itself to be at best a prejudice, ein erkenntnistheoretisches Vorurteil. Daß Wahrheit und Schein die Entwicklung des menschlichen Verstandes gleich gefördert haben, daß vielmehr auch das armselige bißchen Wahrheit nur auf dem Scheine unserer Zufallssinne beruht, das ist hoffentlich auch unsere Überzeugung geworden. Nietzsche flüchtet sich wie immer in die Moral, wo Wahrheit einen ganz anderen Sinn hat, und er hat unrecht. (Beiträge I: 370)

Nietzsche, then, is a moralist who distorts the meaning-making potentials of language in use, as well as falsifying how it relates to sense perception. Mauthner’s analysis sets up his own project, leaving him to draw his own parameters for an effective epistemological critique of language, starting by agreeing that our experience of the world depends on Zufallssinne (senses that developed, more or less by accidental, to deal with sense perceptions). Hisda (besonders Aph. 3 und 4), hinter allen Philosophien seien Wertschätzungen, das heißt physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben verborgen; alle diese Schätzungen seien Niaiserie.” (Beiträge I: 371) 5  The term refers to Mauthner’s own project: his godless mysticism is the belief in a reality recognized through its instantiation in words.

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torically, humans have evolved five senses (he uses the term ausbilden), but we do not necessarily know the relation of that constellation to ontology or human potential: wie wenig die Welt und unsere armen fünf Sinne zueinander passen, wie vielmehr die Organismen in ihrer Lebensnot in sich diese verzweifelten fünf Sinne ausgebildet haben, um sich, das heißt ihr Leben und das ihrer Nachkommen, dem Nachbarleben anzupassen. Die Außenwelt ist ein Ozean von Wirklichkeiten und Möglichkeiten, von Elementen und Kräften, vielleicht von wirklich gewordenen Möglichkeiten. (Beiträge I: 328)

Mauthner’s example for such a random and systematic, but nonetheless incomplete, comprehension of experience is the list of chemical elements; his era had managed to distinguish about 80 of them. That we have such a list, however, does not guarantee their reality at all, since Kant was right in asserting that we cannot know things in themselves, and that what we do know is a product only of acts of understanding. Mauthner adds, however, that Kant did not consider that the understanding (Verstand) is evolving – again, a statement he draws from Darwinism.6 In this, Mauthner sets his own critique of language apart from Nietzsche’s in fundamental ways, because he is taking language as part of an onto-epistemology circumscribed by anthropology,7 not as a morality fable, because both reason and language need to be seen as developing within the sphere of human experience. He cites Jenseits von Gut und Böse (Aph. 21, a ‘prächtige Stelle’) as an indicator of what Nietzsche knew and then ignored: “der Bann bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann ‘phy­ siologischer’ Werturteile und Rassebedingungen.” (Beiträge I: 371–372) Such observations would be part of an effective psychological anthropology in Mauthner’s work, but for the present purposes, it is not Mauthner’s alone. Where Nietzsche, then, proves himself a Hegelianer, interested in his version of the dialectic (the individual versus the group and trapped by its morality), Mauthner’s evaluation of Nietzsche’s particular error sets him into an entirely different space of late nineteenth- and twentieth-century thought.

6  “Denn indem er die Wirklichkeitswelt für ein unerkennbares Ding-an-sich erklärte, unsere Anschauungs- und Denkformen zu einer reinen Verstandesarbeit machte, ging er noch weit über eine Entwicklungslehre des Verstandes hinaus, ohne jedoch die Lehre selbst zu erfassen.” (Beiträge I: 332) 7  “Erst jetzt, wo nach einem hübschen Worte von Paulsen der menschliche Verstand zu einem Gegenstand der Anthropologie geworden ist (aber Paulsen meint nicht Sprachkritik), läßt sich meines Erachtens der Fehler Kants erkennen und zugleich der Tiefsinn seiner Sätze ganz herausholen.” (Beiträge I: 336–37)

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The Neogrammarian philologists of his era (Junggrammatiker) share much of this epistemology of language, as well as their focus on the necessity of considering language systematically. He pays particular attention to philology in the second volume of his Beiträge zu einer Kritik der Sprache (see especially Bei­träge II: 80–86), entitled Zur Sprachwissenschaft, where he situates the discipline as part of psychology.8 This attention returns us to the question of systematic analysis, to his era’s epistemology of the sciences (Geistes-, Sozial-, and Naturwissenschaften alike) – that he sees the fact that all systematic knowledge is built upon traditions of social consensus, rather than mind itself.

2. Mauthner and the (Human) Sciences I emphasize here that Mauthner’s reading of Kant is not his alone. As he critiques Nietzsche, he draws from Kant in ways parallel to those found in the science debates of the latter nineteenth century, including both the storied late-nineteenth-century Wissenschaftsdebatte associated with Wilhelm Windelband (1848–1915) and Heinrich Rickert (1863–1936) and the Baden School of Neokantians, along with many philologists. Just as he did to Nietzsche, Mauthner devotes special critique to the Jung­ grammatiker philologists as he critiques their paradigmatic search for “sound laws without exception” – the achievement they are remembered for to this day: Ihr oberster Satz von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze, denen man Nachsicht “nicht gestatten dürfe”, spricht nicht eben geschmackvoll den einfachen Gedanken aus, daß nur ausnahmslos ähnliche Erscheinungen sich nach unserem Sprachgebrauch unter dem Namen eines Gesetzes zusammenfassen lassen, daß nur aus solchen Beobachtungen sich eine Wissenschaft zusammenstellen lasse. Es ist nur die Frage, ob es solche strenge Übereinstimmungen, ob es solche Gesetze gibt. (Beiträge II: 84–85)

The Junggrammatiker’s “discovery” of these rules without exception rested on their recovery of historical language data and their work to systematize language change over time. Mauthner chides their rules as products of over-analogy or over-generalization based on an overuse of induction (Beiträge II: 137ff.

8  For an overview of the Junggrammatiker program, see Olga Amsterdamska (1987) and Kurt R. Jankowsky (1972).

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where he dissects Hermann Paul’s Proportionslehre with the same sharp scalpel he used on Nietzsche). Mauthner, however, seems not to have known or at least not have to have appreciated Hermann Paul’s Prinzipien der Sprachgeschichte (first edition, 1880; fifth edition, 1920), the summary text of thirty years of Junggrammatiker philology that actually points far beyond the evolution of “sound rules without exception”.9 There, Paul defined language not only as connected with logical patterns, but also with history and the changes in human psychology over time; he describes general principles that factor into localized changes in language, but which are complicated in their interactions and so resist absolute generalization – a position that is much less autocratic or absolute than the logical determinism that Mauthner ascribes to him. In this late text, Paul describes principles that can be used to describe language change, not as absolute laws, but as assumptions that are central to systematic understanding of data. For the present purposes, it is useful to see the degree to which Paul’s work parallels not only Mauthner’s, but also Nietzsche’s (himself a  trained philologist). In the Prinzipien, Paul makes clear that language has meaning not because it refers to ontological truths revealed in experience, but because it records the decisions of a community about its experiential contexts – the epistemological frames used by that community and held in memory. When community’s conditions change through history, so will its language and the truths preserved in it. In Paul’s account, change or innovation in language comes not globally but through individual acts of language use; its degree is strictly limited by conditions of comprehensibility and utility embedded in the human psyche and physiology, as well as the social conditions imposed by communities and passed on within them as traditions. This is very much the place where Mauthner picks up his own critique of language, centering his model of what language does around the individual; this is also central to an existential critique of language, such as that represented in Martin Buber’s Ich-Du (1923). Buber opens his great essay in speaking of ‘Grundworte’, the fundamental relational statements through which our frames of reference in the world are established: “Grundworte sagen nicht etwas aus, was außer ihnen bestünde, sondern gesprochen stiften sie einen Bestand” (Buber 1923: 3). That Bestand is a state of affairs, a construal,

9  For a more detailed explication of how Paul’s text fits into the Neogrammarian Program, see Arens (1996).

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a frame of reference that creates meanings around the speaking subject, the “I” that engages in relations outlined by these Grundworte:10 Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es. Wenn der Mensch Ich spricht, meint er eins von beiden. Das Ich, das er meint, dieses ist da, wenn er Ich spricht. Auch wenn er Du oder Es spricht, ist das Ich des einen oder das des andern Grundworts da. Ich sein und Ich sprechen sind eins. Ich sprechen und eins der Grundworte sprechen sind eins. Wer ein Grundwort spricht, tritt in das Wort ein und steht darin. (Buber 1923: 4)

Buber then goes on to distinguish what kind of being-in-the-world are constituted in these two foundational frames, with the I-thou being fuller in the meaning of life, in the ,Wesen‘ of the I.  What unites Buber’s project with Mauthner’s and Paul’s (and later, with Émile Benveniste’s) is the assumption that language emerges in use, as a set of discursive relationships based on human interaction.11 Its meanings, in turn, emerge in action and reciprocal communication, not in the words themselves. Mauthner expands on these issues in two of his last works, both published posthumously: Gottlose Mystik (1924) and Die drei Bilder der Welt: Ein sprachkritischer Versuch (1925). Gottlose Mystik amplifies his reading of Nietzsche, as it explicates how each human exercises Gottlose Mystik, a tendency to believe in what is designated in language and take it as effectively real. At the same time, this belief is not a commitment to ontic reality, to the framework of a ,God‘ which might or might not exist – it is a way of seeing the world, a frame of reference for our communal understandings. Mauthner’s Drei Bilder describes how our world of linguistic understanding actually comprises three separate frames of reference at its fundament: a nominal world of objects; an adjectival world, pointing to attributes and judgments; and a verbal world ordered according to purposes or goals: Die drei neuen Kategorien Unsere Welt ist nur einmal da; wir können sie aber nicht auf einmal sehen […] Wir haben von der Welt keine anderen Bilder als sprachliche; wir wissen von der Welt nichts, weder für uns selbst noch zur Mitteilung an andere, als was sich in irgend einer Menschensprache

10  Émile Benveniste, who studied with students of Saussure and hence stands in the Junggrammatiker traditions, made similar assumptions about linguistics being relational. In Problèmes de linguistique générale (two volumes, 1966 and 1974 respectively), he spoke of the pronoun relationship I-you as creating a fundamental relational grid against which the discourses evolving attained their meaning. 11  Note, too, that Buber published one of Mauthner’s language essays; see Die Sprache (1907).

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sagen läßt. Eine eigene, etwa übermenschliche Sprache hat die Natur nicht; die Natur ist stumm, nur der Mensch kann etwas über sich und die Natur aussagen, über die Welt. […] es [gibt] drei verschiedene Gesichtspunkte, ein Bild von der einen Welt zu gewinnen, daß wir von einander getrennt ein adjectives, ein substantivisches und ein verbales Bild von der Welt uns zeichnen. (Drei Bilder 1–2; the emphasis is taken from the original)

These three frames also enable human points of view to evolve, providing individuals and groups with shared frames of reference to aid in parsing experience into meaning. Yet Mauthner underscores that they are also Bilder, fantasies: “Ich nehme das Wort ,Bild‘ offenbar im Sinne von Metapher: meine drei Bilder sind drei Gesichtspunkte, Aspekte, ein Gleichnis der Welt herzu­ stellen.” (Drei Bilder 136) Just as importantly, human language has a specific role and responsibility in creating discursive knowledge among its users. The knowledge created by language will never be absolute since it is created in specific frames of reference. The adjectival world framework embodies a sensualist-empiricist view of the world, a simulation focused on a direct sense-apprehension of the facts of reality; the nominal world is a mystical point of view that attributes ontological status to objects that lie behind experiential facts, leading us to believe that we have indeed discovered the constitution of the real world; and the verbal worldview is the purview of the scientific world, the world of cause and effect embedded in time and process.12 Their respective forms of knowledge also cannot be added together to move closer to a mythical absolute knowledge of the world: “Jede der drei Welten ist ein Ding an sich für die beiden anderen.” (Drei Bilder 27) In one sense, this is precisely the cautionary argument from Nietzsche’s Genealogy of Morals that there is no absolute history, but rather only various groups’ histories, each related for a specific purpose and on varying sets of assumptions. Mauthner, however, takes this realization further, extending his idea of mysticism – there is no one truth at the basis of language, since each language grounds a radically different world view relative to a certain set of assumptions; each is a metaphor itself: Keines der drei Bilder kann richtig sein, weil jedes mit dem Fluch einer besonderen Bildsprache belastet ist; die Vereinigung wird wahrscheinlich nicht möglich sein, weil eine Vereinigung der drei Sprachen—bisher wenigstens—nicht anders möglich war als in einer unserer Gemeinsprachen, die eben zur Welterkenntnis noch ungeeigneter sind als die von

12  For Mauthner’s relationship to literary critiques of language, see Arens (2001), especially “From Francis Bacon to Lord Chandos: Language, Science, and the Overcoming of a Language Crisis”, 135–159.

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Katherine Arens mir im Geiste erdachten Teilsprachen der drei aller möglichen Weltansichten. (Drei Bilder 167)

Critical to note, however, is that these world-systems-from-words are not useless, because they do preserve and communicate knowledge framed in terms of human needs and life, if not in any absolute terms. The language correlated with such needs to be seen not only as communicating thoughts, but also as creating the knowledge shared within a community of language users. Thus Mauthner’s critique of language requires that any communication community engage a kind of hermeneutic, aimed at the illusions fostered by each frame and an inquiry into why individuals might succumb to them. In this way, Mauthner can maintain his skepticism about language without succumbing to nihilism, because each frame reflects how the group processes experience and so has a specific epistemological and use value within the group. Instead of following Nietzsche into rejecting language on moral grounds, Mauthner investigates how and to what extent such languages make experience intelligible to the group and establishes its identity. He also asks how the individual can exert effects on the language system, and on the ,categories‘ or classification systems that individuals in a group inherit with their culture and that order the historically relative data of experience for them. The critique of language is thus a critique of a culture associated with it, and a critique of what each culture privileges in its understanding of its own battle for survival. Note in this context that each of language’s worldviews is based on the same potential stock of experiential data and tradition available to a particular language’s speakers. However, each remains a distinctive tool, shaping its own different worldview. The languages associated with these world-frames are ‘Aussäglichkeiten’, three versions of what is expressible, communicable, and comprehensible (Drei Bilder 5). These ‘Aussäglichkeiten’ not only frame individuals’ potential for action, but also locate and define objects in terms relevant to the group’s purposes and goals as they know them, not as correlates to mystical things in themselves or abstract values (Drei Bilder 8–9). In consequence, the world’s structure and our knowledge of it are implicated not only with the individual’s own ego, but also with group experience and the slants or prejudices enframed in this region of signification. Mauthner also hierarchizes his ‘three pictures of the world’, positing that an  individual’s primary experience of the world is ,adjectival‘ (relating to qualities or attributes). But as individuals experiences pressures to communicate with a group, they posit the existence of objects that “cause” adjectival feelings: “Unser Interesse ist es, unter Umständen statt der Adjektive rot,

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weich, süß, saftig, die gemeinsame Ursache dieser Adjektive zu beachten, das sogenannte Ding, und es Apfel zu nennen.” (Beiträge III: 64) This shift from the frame of the individual’s ego into the group’s lies at the basis of this particular shared worldview, a nominal view. In the course of time, a third possibility originates: a focus across time, focused on change, causes, or events. The group can decide to underscore causality as a process, instead of focusing on the objects participating in that process, a decision that produces this new ,verbal worldview‘ and relates the group’s images backwards and forwards through time. The verbal framework highlights goals, where the nominal and substantive frameworks fixate on objects and their attributes. At the same time, each of these frames acts as Nietzsche has described them, preserving values and judgments in the form of relative knowledge which came into being with group experience and which are passed on through the language itself. Each language-system thus prejudices the group in a particular way and thus can develop into an independent strategy for understanding the world – a science –, while each remaining incomplete, because they can only complement each other, not add to each other’s knowledge: “Kunst, Mystik und Wissenschaft sind drei Sprachen, die einander helfen müssen.” (Beiträge II: 531). Religion evolves from nominal language, as a mysticism about how the world is constructed, about its ontology. Verbal language is principally the domain of the sciences, creating the image of change, purpose, and time: “Das Werden und Vergehen, also die objektive Welt, befreit vom Aberglauben des naiven Realismus, ist Gegenstand der verbalen Welt: das Wirken” (Wörterbuch der Philosophie 359). Yet even that verbal worldview is a consensus or tool: the individual discovers ‘truth’ only in personal experience, expressing that knowledge only darkly in the ‘ordinary language’ of everyday life. These three basic frameworks, moreover, are the sites where disciplines develop – the sciences, defined broadly (human, natural, social). Each discipline offers a setting for a scientist to test what it can do: a laboratory environment, which allows for demonstrations of particular mediations of understanding within a frame, or even between the various language worlds (Drei Bilder 32–33). This resembles Ernst Mach’s idea of a provisory ego, the point of an observer assumed to create knowledge within one frame of reference. But science is not privileged in this. Even everyday language and formalizations, which are all metaphors, ‘pictures’, or ‘parables’ that lose clarity when compared to experience (Drei Bilder 136), can have some value in experiments – as projections in the geometric sense, offering individuals practice in describing objects for various purposes, from various perspectives. More importantly,

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this everyday language contains hidden perspectives that individuals take in with language practices as cultural inheritance and re-inscribed in the outside world through the minds of each of its speakers. Thus the products of culture are in their own ways experiments: art reveals in its way what interests are hidden in language – experiments in metaphor, for example. And here, we arrive at the heart of Mauthner’s epistemological critique of language, moving beyond Nietzsche’s moral one. Mauthner aims his critique at clarifying the language used by the ordinary members of the community, to see what knowledge is forced into existence by the frame, especially when that knowledge automatizes unconsidered prejudices (Drei Bilder 167). In this, Mauthner is bestowing special status on controlled experiments, and not just in the natural sciences, since all experiments must be conducted through the medium of language. By trying to bend or even break an element of language, one can recognize new models for the interactions between spirit and world, in any of its appearances. In this, the individual can still gain a degree of freedom and avoid the habituation of the social norms and prejudices transmitted by language.

3. Critique through Science: Mauthner’s Modernity Those who know the work of Ernst Mach or Otto Neurath will recognize this type of terminological critique of science that Mauthner introduced through his critique of Nietzsche. Yet today, these intertexts are rarely considered as part of a tradition that continues from before World War I into more contemporary critiques of the sciences from the latter twentieth century. Mauthner’s considerations of Nietzsche and the philology of his era, however, allow us a more precise triangulation of what his project was intended to do. In one sense, starting a project in the 1920s with Nietzsche and the Neo­ grammarians shows a Mauthner at pains to bring his work to a broad audience, capitalizing on two of the day’s most visible threads of German intellectual life:13 Nietzsche was the voice of the generation that had experienced the trenches of the First World War and the old order’s complicity in causing that 13  Mauthner often used popular interlocutors to engage his audiences and tie a critique of technical language to one of everyday language. See, for example, his work on Otto Friedrich Gruppe, discussed in Arens (2004).

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pain, and the Neogrammarians, the philologists who actually implemented the ‘linguistic turn’ in modern thought by the 1880s and who were critical in the genesis of the social sciences (especially psychology and anthropology). At the same time, he has internalized a communitarian, communicative paradigm for the epistemology. However, Mauthner does not only embrace an early form of what will come to be known as ordinary language philosophy. He also joins scientific critiques of knowledge to the questions of knowledge production by the community as central to being-in-the-word. In this he moves beyond phenomenology to create a kind of critical existentialism that makes faith in systematic knowledge the ground for human existence  – an  approach to the critique of power by means of an appeal to communication, community, and tradition rather than to expertise or to abstract values or terms like Nietzsche’s Übermensch. By attacking Nietzsche, then, Mauthner finds a way to integrate epistemological and moral critiques of knowledge production in ways that anticipate post-structuralism, while also sharing in the existentialist concerns of ground-breaking religious thought like that of Martin Buber and Pierre Teilhard de Chardin.

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Jacques Le Rider

Von Nietzsches Sprachkritik zu Mauthners Sprachskepsis Fritz Mauthner hat schon 1890 die ganz besondere Bedeutung der Sprachkritik Friedrich Nietzsches hervorgehoben. In einer Rezension von Ola Hanssons Friedrich Nietzsche. Seine Persönlichkeit und sein System,1 bestritt Mauthner Ola Hanssons Einschätzung, nach der Nietzsches Kerngedanken um die Kritik der christlichen Moral kreisen, indem er den wichtigsten Beitrag Nietzsches eher im Bereich der Sprachphilosophie erblickte: Die Geistesthaten Nietzsches gehören nämlich vorwiegend in das erkenntnistheoretische Gebiet: wenn er die „Umwertung aller Werte“ vorzunehmen verspricht und die alte Moral in eine Herrenmoral und in eine Sklavenmoral scheidet, wenn er in erster Linie die Begriffe „gut“ und „böse“ in ihrer alten Bedeutung nicht mehr gelten lässt, so treibt er dabei hauptsächlich Sprachphilosophie. (Mauthner 1890a: 754)2

Dieses Interesse Mauthners für die sprachkritische Dimension von Nietzsches Philosophie schloss andere, weniger originelle Perspektiven keineswegs aus. In Mauthners Roman Kraft aus dem Jahre 1894 ist viel die Rede von der Überwindung der Dekadenz, vom Willen zur Macht und vom Übermenschlichen jenseits von Gut und Böse. Mauthner zählte zur ersten Generation der begeisterten Nietzsche-Leser. Er erzählt in seiner Autobiographie, wie er die neu erschienene Zweite Unzeitgemäße Betrachtung: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben 1874 enthusiastisch rezipierte. Nie wieder hat ein Werk von Nietzsche einen so übermächtigen Eindruck auf mich gemacht […]. Ich halte sie noch heute für die fruchtbarste, subjektiv und objektiv wahrste unter Nietzsches Schriften. […] Da hatten wir […] das Gegengift gegen die historische Krankheit. Die Geschichte der Menschheit ist unvernünftig oder irrational, ist eine Zufallsgeschichte; es gibt keine historischen Gesetze. (Mauthner 1918: 220, 223)

Daraus folgert Mauthner, dass es ebenfalls keine Gesetze der Sprachgeschichte gebe. Die Sprachen seien bloße Weltbilder, die von den Sinnen erfasst würden,

1  Zu den verschiedenen Fassungen von Hanssons Nietzsche-Essay vgl. Krummel (1998: 176–177). 2  Vgl. auch Mauthner (1890b) und Bredeck (1984).

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und die fünf Sinne seien Zufallssinne. Die historische Sprachwissenschaft, insbesondere die Etymologie, könne nur über eine Folge von Zufällen berichten. Trotzdem bleibt Mauthner in der Auffassung der Sprachwissenschaft als Spezialfach der historischen und philologischen Wissenschaften befangen: In dieser Hinsicht gehört er zum Mainstream der Sprachwissenschaft, die vor Saussure eine sprachgeschichtliche Disziplin blieb. Doch versteht er die Sprachgeschichte als eine Geschichte der Wörter und Begriffe, die Bestandteil der Kulturgeschichte sein soll und in der die historische Semantik den Schwerpunkt bildet. Die Etymologie interessiert Mauthner weniger als der Bedeutungswandel der Wörter. Die Sprachgeschichte kennt nach seiner Auffassung keine Kontinuität. Sie ist ein „heraklitischer Fluss“ des unablässigen Bedeutungswandels. „Rée und nach ihm Nietzsche“, schreibt Mauthner im ersten Band der Sprachkritik, haben den Begriff der Entwicklung historisch auf die moralischen Anschauungen angewendet, auf das Gewissen, und alle gewissenhaften Menschen haben sich darüber entsetzt. Die Sprachkritik will die Kategorien der Sprache, also des Denkens, historisch betrachten. Da hätte das Denken Ursache, sich über seinen eigenen Bankerott, über die Notwendigkeit seines Selbstmords zu entsetzen. (Beiträge I: 301)

Wie Mauthner seine Betrachtungsweise von der kritischen Methode des Geschichtswissenschaftlers im Zeitalter des Historismus unterscheidet, bleibt ungeklärt. Das Wörterbuch der Philosophie ist eine Folge von Abschnitten zur sprachkritisch eingesetzten Wort- und Begriffsgeschichte. Im Vorwort zum Wörterbuch schreibt Mauthner: „Die Geschichte ist die wahre Kritik jedes Worts“ (Wörterbuch I: XIII). Immerhin bemüht sich Mauthner darum, weniger dem Schema der üblichen Sprachgeschichte als vielmehr der genealogischen Methode Nietzsches zu folgen. Die Abstammungsgeschichte eines Begriffs soll seine heutige Bedeutung relativieren und als problematisch erscheinen lassen. Doch bleibt die Methode in den Artikeln des Mauthner’schen Wörterbuchs meistens die der klassischen philologischen Sprachgeschichte seiner Zeit. Die gleiche Diskrepanz zwischen dem Anspruch auf eine nietzscheanische Überwindung des Historismus und dem tatsächlichen Rückfall in die Geschichtsforschung kann man in Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, dem letzten monumentalen Werk Mauthners, entdecken. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine geistesgeschichtliche Untersuchung von eindrucksvoller Gelehrsamkeit, deren Folie die Religionsgeschichte des Christentums ist. Was Mauthner anstrebte, war doch etwas anderes, wie er in seinem letzten Lebensjahr in der Selbstdarstellung andeutet:

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Die Mutter hatte mir anvertraut, es gäbe keinen Teufel und keine Hexen. Was hatte Gott ontologisch vor dem Teufel und vor den Hexen voraus? Die Beweise für das Dasein Gottes erschienen mir so sehr als Betrügereien, daß ich von da aus Sprachkritik üben lernte an Psychologie und Logik. Der Ausgangspunkt war immer die sprachliche Kritik des Gottesbegriffs. (Mauthner 1924a: 130)

In seinem Versuch, statt der historischen Sprachwissenschaft die Methode der kritischen Wort- und Begriffsgenealogie einzusetzen, lehnt Mauthner den metaphorischen und seiner Ansicht nach trügerischen Begriff der Verwandtschaft der Sprachen und die Theorien von der „indogermanischen“ Sprachenfamilie ab, die bei den sozialdarwinistisch geprägten Jüngern von Franz Bopp zur Behauptung der Überlegenheit dieser Sprachen, nicht zuletzt der deutschen Sprache, gegenüber den semitischen führen konnte (RabaultFeuerhahn 2008). „Die semitische Wurzel so gut wie die Sanskritwurzel ist nachträglich von Grammatikern erfunden worden, so gut wie die Entstehung der Menschen aus Steinen in der griechischen Sage“ (Beiträge II: 228), schreibt Mauthner. Die von der vergleichenden Sprachwissenschaft konstruierten „Stammbäume“ der Sprachfamilien sind nach Mauthner Auffassung nichts anderes als pseudowissenschaftliche Mythen.3 In den Beiträgen zu einer Kritik der Sprache sind zwei Kapitel Nietzsche gewidmet, in denen sich Faszination und kritische Distanz vermischen: Nietzsche hätte eine Sprachkritik mit gewaltig[en] Sprachmitteln herstellen können, […] wenn er sich nicht einseitig mit moralischen Begriffen abgegeben hätte, und wenn ihn nicht seine prachtvolle Sprachkraft verführt hätte, Denker und zugleich Sprachkünstler sein zu wollen. Sein Misstrauen gegen die Sprache ist unbegrenzt; aber nur solange es nicht seine Sprache ist. (Beiträge I: 366)

Nietzsches Formel von der ,Wiederkunft des Gleichen‘ sei z. B. eine trügerische, inhaltsleere Worthülse (Beiträge I: 364). Im Gegenteil beruft sich Mauthner vorbehaltlos auf den Abschnitt 11  des ersten Teils von Menschliches, Allzumenschliches: Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft. […] Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich über das Thier erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntnis der Welt zu haben. (KSA I: 30).

Doch bedauert Mauthner, dass Nietzsche nicht alle Konsequenzen aus dieser Einsicht gezogen habe: „Er ist einfach auf dem Standpunkt der mittelalterli-

3  Vgl. August Schleicher (1863): Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Offenes Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Haeckel. Weimar: Böhlau.

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chen Nominalisten stehen geblieben und hat ihren Gründen materialistische Gründe unserer Zeit hinzugefügt“ (Beiträge I: 367). Mauthner bewundert Nietzsches Sätze aus den Streifzügen eines Unzeitgemäßen, § 26 : Wir schätzen uns nicht genug mehr, wenn wir uns mittheilen. Unsere eigentlichen Erlebnisse sind ganz und gar nicht geschwätzig. Sie könnten sich selbst nicht mittheilen, wenn sie wollten. Das macht, es fehlt ihnen das Wort. Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus. In allem Reden liegt ein Gran Verachtung. Die Sprache, scheint es, ist nur für Durchschnittliches, Mittleres, Mittheilsames erfunden. Mit der Sprache vulgarisirt sich bereits der Sprechende. (KSA VI: 128)

An dieser Stelle, bemerkt Mauthner, erhebt Nietzsche unerfüllbare Ansprüche an  die Sprache:  Der Dichter-Philosoph der Götzen-Dämmerung erinnere an Maurice Maeterlincks Theater des Verstummens und des beredten Schweigens. Der XI. Teil im 2. Band der Sprachkritik behandelt „Die Metapher“. In diesem für Mauthners Sprachtheorie entscheidenden Teil ist der Einfluss von Nietzsches Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne zentral. Diesen Aufsatz hatte Nietzsches im Sommer 1872 am Rande einer Vorlesung über die Geschichte der klassischen Rhetorik an der Universität Basel konzipiert und im Sommer 1873 seinem Freund Gersdorff diktiert. 1896 wurde dieser Aufsatz im Band IX der von Fritz Koegel herausgegebenen Werke Nietzsches zum ersten Mal veröffentlicht.4 Ebenfalls im Jahr 1896 begann Mauthner, sich mit der Sprachkritik intensiv zu beschäftigen. „Aus den Metaphern“ konstituiere die Sprache „einen Bau der Begriffe“, führt Nietzsche in diesem Text aus; „so arbeitet die Wissenschaft unaufhaltsam an jenem grossen Columbarium der Begriffe, der Begräbnisstätte der Anschauung“ (KSA I: 886). Da sie eine ontologische Identität zwischen Begriff und Gegenstand vortäuschen würden, die man die Wahrheit nenne, seien die Begriffswörter als tote Metaphern anthropomorphe Lügen „im außermoralischen Sinne“ (KSA I: 880), schließt Nietzsche. Im Gegensatz zu Nietzsche ist Mauthner ein Naturalist geblieben. Gerade deshalb wurde er zum Sprachskeptiker. Die Idealsprache wäre nach Mauthner die photographische Abbildung der Wirklichkeit in den Wörtern, die perfekte Entsprechung der Wörter und der Dinge, der Zeichen und der bezeichneten Objekte, in der Sprache Saussures des signifiant und des signifié. Aber eine solche Sprache der unmittelbaren Präsenz des Realen existiert nicht. Weil er 4  Ohne Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne ausdrücklich zu erwähnen, bezieht sich Mauthner auf die Ausgabe von Fritz Koegel (Beiträge I: 366).

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diesen Abstand zwischen Idealsprache und natürlicher Sprache als Ärgernis empfand, wurde Mauthner zum Sprachskeptiker. Die Metapher ist in diesem frühen Aufsatz Nietzsches nichts anderes als eine „Lüge im außermoralischen Sinne“, eine „willkürliche Übertragung“ (KSA I: 878), ein Bild, und doch kein Abbild, ein „Anthropomorphismus“ (KSA I: 880). Der Begriff ist das „durch das Vergessen jener primitiven Metaphernwelt“ (KSA I: 883) entstandene „Residuum einer Metapher“ (KSA I: 882). Die Sprache bildet, mit Jean Paul gesprochen, auf den sich sowohl Nietzsche als auch Mauthner beziehen, ,ein Wörterbuch erblasster Metaphern‘. Mauthner zieht aus Nietzsches Text aus dem Jahre 1873 radikale, ja vernichtende sprachskeptische Konsequenzen: Wir müssen jetzt gesenkten Hauptes uns selber zugestehen, dass unser sogenanntes Denken oder Sprechen nichts weiter ist als das Heranschießen oder Kristallisieren neuer Assoziationszentren unserer Sprache, [das] von dem Zufall unserer individuellen Erfahrungen abhängt […] und dass wir nur denken können, was unsere Zufallssprache will. (Beiträge II: 532)

Die Sprache ist also nicht nur trügerisch: sie beherrscht und formt als unbewusster und unausweichlicher Zwang alle Sprechakte (Beiträge II: 532). Dass die Sprache sich als „bewegliches Heer von Metaphern“ (KSA I: 880) für die poetische Kunst eigne, bringt in Mauthners Perspektive nur einen schwachen Trost. Denn die Poesie, die er ,Sprachkunst‘ nennt, erzeugt Stimmungen, also keine Erkenntnis der Wirklichkeitswelt, höchstens die Erkenntnis vom Wesen der Sprache selbst. Dieser Schluss von Mauthners Sprachkritik war aber nur der Ausgangspunkt Nietzsches. Im Anschluss an Sarah Kofmans Essays zum metaphorischen Denkstil Nietzsches (Kofman 1971, 1983) kann man die Aufgabe des Dichter-Philosophen als eine Neubelebung der Metapher definieren, die im Vergleich zum Begriff das Verdienst hat, keine ,wahren Gegenstände‘ und ,Dinge an sich‘ vorzutäuschen, im Identitätsdenken nicht zu erstarren und eine neue Dynamik, Anschaulichkeit und Sinnlichkeit der Sprache zu ermöglichen (Biebuyck 1994). Mauthner wirft Nietzsche vor, die Sprachkritik nicht bis zu ihren sprach­ skeptischen Konsequenzen hin geführt zu haben. Und es stimmt durchaus: Nie hat Nietzsche die Position des sprachlichen Nihilismus vertreten. Nietzsches Auffassung von der Sprache kommt in einem nachgelassenen Fragment vom Sommer 1886 bis Herbst 1887 am klarsten zum Ausdruck: „Wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe, die Sprache ist auf die aller naivsten Vorurtheile hin gebaut“, lautet

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der Anfang des Fragments; dann kommt aber eine deutliche Ablehnung der Sprachskepsis: „Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange thun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehen.“ (KSA XII: 193) Für Nietzsche gilt es, die Falle der mitreißenden Dynamik der Sprache zu überspielen und der sprachlichen Automatik, die zugleich eine Automatik des Denkens bewirkt, auszuweichen; gut schreiben heißt für ihn, die angeborene Krankheit der Sprache zu bewältigen. Dem verweigert sich Mauthner: Für ihn macht die angeborene Gebrechlichkeit der Wortsprache nicht nur jede Form von wahrer Erkenntnis, sondern jede echte Mitteilung zwischen den Individuen und jeden wahren Zugang zur Außenwelt unmöglich. Vor der von Nietzsche erwähnten Grenze steht Mauthner am Ende seiner Sprachkritik. In den letzten Seiten des dritten Bandes der Beiträge zu einer Kritik der Sprache und in seinen späteren Schriften begibt sich Mauthner in Anlehnung an Gustav Landauer auf die Suche nach einer ,gottlosen Mystik‘, deren Intuitionen und Anschauungen als wort- und begriffslose Gedanken eine Welt jenseits der Grenze der natürlichen Sprachen entdecken können. Charakteristisch für Mauthner ist also nicht die Sprachkritik, sondern die radikale Sprachskepsis. Er war sich des Problems durchaus bewusst: Zwei Fragen hätten ihn schon immer beschäftigt, schreibt er in der Selbstdarstellung von 1922: „Ob wirklich die Skepsis nur eine negative, also untergeordnete oder schädliche Tendenz wissenschaftlicher Arbeit ist ? – und ob Hinneigung zur Skepsis wirklich, wie auch mir vorgeworfen wurde, charakteristisch ist für Denker jüdischen Stammes?“ (Mauthner 1924a: 14) Letztere Frage will ich heute nicht berühren. Mauthner hat seine eigene Antwort im posthum erschienenen Aufsatz Skeptizismus und Judentum (Mauthner 1924b; Betz/Thunecke 1989) formuliert. Nur scheinbar steht Mauthner in der Tradition des rationalistischen methodischen Zweifels oder der Humeschen wissenschaftlichen Skepsis. Er verkörpert einen geistigen Typus, den ausgerechnet Nietzsche analysiert hat: den des radikalen Skeptikers, der zum Nihilismus tendiert. Bekannt ist der Satz 4.0031 im Tractatus, in dem Wittgenstein seine eigene Auffassung der Sprachkritik von der Mauthners strikt unterscheidet: „Alle Philosophie ist ‚Sprachkritik‘. (allerdings nicht im Sinne Mauthners.) […]“. Man kann vermuten, dass es Wittgenstein mit seiner kritischen MauthnerRezeption nicht nur um eine Meinungsverschiedenheit über die gute und die schlechte Art der Sprachkritik geht, sondern auch um die Folgen, die man aus der Sprachkritik ziehen soll. Mit dem Satz 5.6 im Tractatus : „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ wäre Mauthner einver-

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standen gewesen. Mit dem Wort ‚Grenze‘ meinen Mauthner und Wittgenstein jedoch etwas Verschiedenes. Mauthner versteht diese Grenze als die Demarkationslinie zwischen der Wirklichkeitswelt und der in die Sprache verstrickten Subjektivität. Bei Mauthner ermöglicht die Anschauung der gottlosen Mystik, über die Grenzen der Sprache hinauszugehen. Bei Wittgenstein ist das Erkennen der Grenze an sich schon das Mystische. Tractatus 6.45: „Die Anschauung der Welt sub specie aeterni ist ihre Anschauung als-begrenztesGanzes. Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische.“ Die Sprache kann die Grenzen der Sprache nicht selbst ziehen, denn das Mystische ist bei Wittgenstein gerade das Unaussprechliche: Tractatus 6.522 „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Das Bestreben Mauthners, über die Sprache hinaus in eine Sphäre der sprachlosen Erkenntnis zu gelangen, bleibt in dieser Perspektive aussichtslos und muss immer wieder scheitern, denn, so Wittgenstein in der Philosophischen Grammatik, „In der Sprache wird alles ausgetragen.“ (Wittgenstein 1978: 143, Herv. i. O.) Mauthners Bemühen steht zur Formel Wittgensteins im Vorwort zum Tractatus im Gegensatz: „Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen“, schreibt dort Wittgenstein: Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken. […] Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein. (Tractatus: Vorwort)

Gerade in diesem von Wittgenstein als Unsinn bezeichneten Bereich vermutet Mauthner den von der Sprache verdeckten eigentlichen Sinn finden zu können. Nachdem er die logische Form der Sprache mit der Struktur der Wirklichkeit verglichen hat und zum Schluss gekommen ist, dass die Welt sich kaum mit dem deckt, was man über sie sagen kann, will er aus der Sprache herauskommen und das erkennen, was die Wörter, meint er, zu erkennen verhindern: die Wirklichkeitswelt. Im Tractatus § 6.51 wird diese Meinungsverschiedenheit Wittgensteins und Mauthners zusammengefasst : „Skeptizismus ist nicht unwiderleglich, sondern offenbar unsinnig, wenn er bezweifeln will, wo nicht gefragt werden kann. / Denn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.“ (Herv. i. O.) Aus Wittgensteins Perspektive ist Mauthners Problem kein sprachphilosophisches, kein epistemologisches, auch kein sprachwissenschaftliches, son-

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dern ein Lebensproblem. Nun aber meint der Tractatus §  6.521 dazu: „Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.“ Diese Aussage zeugt von Wittgensteins therapeutischer Auffassung der Sprachanalyse. Das war aber keineswegs Mauthners Art, selbst wenn er sich in seiner Meersburger Zeit gern als ,Buddha am Bodensee‘ stilisierte. Sein sprachskeptischer Extremismus führte ihn zu Formulierungen wie: „Sprachkritik ist selbstmörderisch“ (Beiträge I: 177). Und das hätte Nietzsche wie nach ihm Wittgenstein wohl als Unsinn bezeichnet.

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Klaus Schenk

Produktive Hybridität bei Fritz Mauthner. Zur transkulturellen Situation einer sprachkritischen Schreibweise Seine Herkunft aus der deutschsprachigen Minderheit im tschechischdeutsch-jüdischen Kontext macht Fritz Mauthner in seinen autobiographischen Erinnerungen immer wieder zum Thema. Aber auch in seinen Beiträgen zu einer Kritik der Sprache finden sich Bezüge auf diese kulturelle Mischlage. In folgendem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, wie diese transkulturelle Situa­tion die sprachkritische Perspektive Mauthners prägt. Ähnlich wie bei Vertretern der deutschsprachigen Literatur Prags ist auch Mauthners Schreibweise von einer Hybridität bestimmt, die binäre Kodierungen kultureller Festlegungen unterläuft. In dieser Hinsicht soll weiter gefragt werden, inwiefern sich seine sprachkritischen Schriften als Praxis einer ‚kleinen Literatur‘ verstehen lassen, wie sie Deleuze und Guattari am Beispiel Franz Kafkas umrissen haben. Unter folgenden Gesichtspunkten soll diese Problematik diskutiert werden: Ausgehend von Mauthners autobiographischen Erinnerungen stellt sich zunächst die Frage nach der transkulturellen Situation seiner Sprachbeobachtungen. Aufgezeigt werden soll weiter ­Mauthners ambivalente Haltung gegenüber dem Jargon und dem Gegensatz zwischen Ein- und Mehrsprachigkeit. Darüber hinaus soll die Produktivität einer Hybridität verfolgt werden, wie sie sich einerseits in Mauthners ,bastardierender‘ Etymologie niederschlägt, andererseits aber auch seine sprachkritische Schreibweise von einzelnen Thema-Wörtern bis hin zu ihren strukturellen Vernetzungen prägt.

1. Spracherinnerungen In der Forschung zur Prager deutschen Literatur werden vor allem Fritz Mauth­ners Erinnerungen herangezogen, um Verbindungen zwischen dem kulturellen Kontext seiner Zeit und seiner Sprachkritik herzustellen. Gefördert

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wird diese Verknüpfung vor allem durch den thematischen Fokus der Autobiographie auf eine sprachliche und kulturelle Problematik. Erschienen war im Jahr 1918 der erste und einzige Band der Erinnerungen mit dem Titel Prager Jugendjahre, den der Autor im Jahr 1917 zur Veröffentlichung freigab, als er bereits in Meersburg am Bodensee weilte. Die Autobiographie beginnt mit den Kinderjahren und der Übersiedlung der Familie im Jahre 1855 von der nordböhmischen Stadt Hořice in die Metropole Prag. Abgeschlossen werden Mauthners Prager Jugendjahre mit dem Kapitel Abschied von Prag (Mauthner 1918: 261–268). Durch diese thematische Rahmung wird besonders die Auseinandersetzung mit der Prager deutschen Situation betont. In einem weiteren Sinn tragen sich Mauthners Erinnerungen in einen ‚Prager Text‘ ein, der die spezifische urbane Situation dieser deutschsprachigen Minderheit thematisiert und ihre lesbaren semiotischen Perspektiven auf die Stadt Prag entwirft: Der Begriff des Textes, wie ihn die Moskauer und Tartuer Schule begreift, kann in zweierlei Weise, in einer engeren und einer erweiterten, mit dem der Stadt in Verbindung gebracht werden. Im engeren Sinn des Wortes stellt eine Stadt als kulturelle Schöpfung ein Zeichensystem, also einen Text, dar, der gelesen bzw. entschlüsselt werden kann. Daneben tritt der ‚Text‘ einer Stadt als komplexes Aussagesystem, das sämtliche über die Stadt geführten Diskurse einschließt. (Fritz 2005: 25)

Die Erinnerungen Mauthners sind eingebettet in einen Diskurs, der sich im weiteren Sinn als Prager Stadttext charakterisieren lässt, der sich aber ebenso mit anderen kulturellen Diskursformationen seiner Zeit überschneidet. Besonders die zeitgenössischen Debatten um nationale, ethnische und sprachliche Zugehörigkeiten bilden dabei einen diskursiven Knotenpunkt. Einzelne Zitate aus den Prager Jugendjahren gehören inzwischen zum Standardrepertoire der Forschung zur deutsch-böhmischen und deutschsprachigen Literatur Prags. Aber auch in der sprachphilosophischen Auseinandersetzung mit Mauthner wird die Autobiographie häufig herangezogen; insbesondere Passagen aus dem Kapitel Erste Sprachstudien wie die Bemerkungen zur Mehrsprachigkeit im kulturellen Kontext der deutsch-jüdischen Minderheit. Häufig wird dabei auch Mauthners Eingeständnis der scheinbar fehlenden Mundart (Mauthner 1918: 51) hervorgehoben und die vorgebliche sprachliche Inselsituation des Prager Deutsch betont (Liede 1963/I: 255; Le  Rider 2012: 52), was inzwischen durch sprachhistorische Untersuchungen relativiert werden konnte (Nekula 2003). In seinen Erinnerungen begründet Mauthner sein Interesse an der Erforschung der Sprache wie folgt: Dieses Interesse war bei mir von frühester Jugend an sehr stark, ja, ich verstehe es gar nicht, wenn ein Jude, der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren ist, zur Sprachforschung nicht gedrängt wird. Er lernte damals (die Verhältnisse haben sich seitdem durch

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den Aufschwung der Slawen und durch die bessere Assimilierung der Juden ein wenig verschoben) genau genommen drei Sprachen zugleich verstehen: Deutsch als die Sprache der Beamten, der Bildung, der Dichtung und seines Umgangs; Tschechisch als die Sprache der Bauern und der Dienstmädchen, als die historische Sprache des glorreichen Königreichs Böhmen; ein bißchen Hebräisch als die heilige Sprache des Alten Testaments und als die Grundlage für das Mauscheldeutsch, welches er von Trödeljuden, aber gelegentlich auch von ganz gut gekleideten jüdischen Kaufleuten seines Umgangs oder gar seiner Verwandtschaft sprechen hörte. (Mauthner 1918: 32)

Selbstverständlich können Mauthners Erinnerungen nicht als dokumentarischer Text gelesen werden, vielmehr inszenieren sie eine Perspektive, die bereits die Jugendjahre im Lichte des späteren Sprachforschers erscheinen lassen (Wutsdorff 2014: 41). Wenn Mauthner den Aspekt der Mehrsprachigkeit im Kontext der kulturellen Mischlage als Initiation für seine sprachphilosophischen Studien anführt (Rinas 2005), tritt er damit nicht nur in eine paradoxale Spannung zu seinen politischen Ansichten, sondern kann auch als Beispiel für die Juden Prags als Vertreter der deutschen Sprache und Kultur in einem slawisierten Umfeld gelten, wie Andreas B. Kilcher bemerkt: Mauthners Interpretation der Sprachkultur der Juden in Prag ist allerdings nicht nur deshalb von Interesse, weil er selbst für eine radikale Assimilation an die Kultur einstand, sondern auch, weil er zugleich die Mehrsprachigkeit der Prager Juden hervorhob, die er zumindest in der Hinsicht als fruchtbar einschätzte, dass sie das Bewusstsein über die Sprache begünstigte, mehr noch: Mauthner erachtete die Prager Juden aufgrund dessen geradezu als prädestinierte Sprachtheoretiker. Damit begründete er offensichtlich – und das mag überraschen – vor allem seine eigene Leistung als Sprachphilosoph mit der spezifischen jüdischen Mehrsprachigkeit in einem transkulturellen Dispositiv. (Kilcher 2007: 73)

Wenngleich sich der Einfluss der transkulturellen Situation auf Mauthners Sprachbeobachtungen kaum überprüfen lässt,1 so eröffnen sich damit dennoch Perspektiven auf die Hybridität in seiner Denk- und Schreibweise. In der autobiographischen Begründung seiner Sprachinteressen geht Mauthner jedenfalls deutlich über den Aspekt der Mehrsprachigkeit hinaus: Der Jude, der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren war, mußte gewissermaßen zugleich Deutsch, Tschechisch und Hebräisch als die Sprache seiner Vorfahren verehren. Und die Mischung ganz unähnlicher Sprachen im gemeinen Kuchelböhmisch und in dem noch viel gemeineren Mauscheldeutsch mußte schon das Kind auf gewisse Sprachgesetze 1   Davor warnt auch Wutsdorff: „Immerhin ist die mehrsprachige Situation, die er in seinen Erinnerungen zum Ausgangspunkt seines Narrativs über das eigene Leben stilisiert, ein Faktum. Welchen Einfluss es tatsächlich auf die Ausprägung seiner Ideen gehabt hat und in welchem Maße er einen solchen Einfluss fingiert, lässt sich, anders als Mauthner es in seiner autobiographischen Selbststilisierung zu suggerieren sucht, nicht entscheiden.“ (Wutsdorff 2014: 43)

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Klaus Schenk aufmerksam machen, auf Entlehnungen und Kontamination, die in ihrer ganzen Bedeutung von der Sprachwissenschaft noch heute nicht völlig begriffen worden sind. (Mauthner 2018: 32–33)

Sein Sprachinteresse leitet Mauthner nicht allein aus einer kontextuellen Mehrsprachigkeit ab, sondern ebenso aus sprachlichen und kulturellen Mischlagen, deren Kontaktzonen er mit den Begriffen ‚Entlehnungen‘ und ‚Kontamination‘ beschreibt. Weniger die Mehr-, als vielmehr die ‚Misch‘-Sprachlichkeit dieser spezifischen transkulturellen Hybridität2 bildet so den Ausgangspunkt seiner autobiographischen Inszenierungen. Versteht man Mauthners Bemerkung zur Mehrsprachigkeit daher als paradoxale Situation in einem transkulturellen Kontext, so wird deutlich, dass es ihm nicht darum geht, Mehrsprachigkeit als Gewinn zu propagieren, aber dass er dennoch eine Produktivität dieser spezifischen Hybridität annimmt. Auch im Zweiten Band seiner Beiträge zu einer Kritik der Sprache finden sich im Kapitel Sprachrichtigkeit, das die vermeintliche puritas der Sprachen behandelt, unter der Überschrift Beispiel einer individuellen Sprachentwicklung autobiographische Hinweise, die sich im Unterschied zu den Erinnerungen nicht nur auf die Kindheitsgeschichte, sondern auch auf das sprachphilosophische Werk und seine Schreibweise beziehen lassen. Zu seiner individuellen Sprachentwicklung bemerkt Mauthner: Ich bin Ende der vierziger Jahre im Nordosten Böhmens geboren. Dort lernte ich – nach Landesbrauch – zuerst ein paar tschechische Worte; mit den Kindern bis zum dritten Jahre sprechen auch deutsche Eltern tschechisch, weil die Amme Tschechin ist. Dann lernte ich Deutsch; von meinem Vater, der ohne eigentliche Sachkenntnis sehr viel auf gebildete Sprache hielt, ungefähr die Gemeinsprache der Deutschböhmen mit einem leisen Zug nachgeahmter österreichischer Armeesprache; von der Mutter das Deutsch meines Großvaters: viele veraltende Wort- und Satzformen prächtiger altfränkischer Prägung (er stammte aus dem 18. Jahrhundert), dazu einige jüdische Worte und Klanggewohnheiten, endlich alamodisches Einflicken französischer Zierformen. Wir hatten dann einen Hauslehrer; er lehrte uns in harter Aussprache ein charakterloses „reines Deutsch“, das in Böhmen übliche. Ich sagte: „ohne dem“, „am Land“, ich zweifelte nicht daran, daß „Powidl“ ein deutsches Wort sei. Es folgte die Zeit des Gymnasiums; die Lehrer unseres Piaristengymnasiums waren im ganzen unwissend, ungebildet, überdies fast ohne Ausnahme Tschechen, die uns ein abscheuliches Slawischdeutsch bewußt und unbewußt beizubringen suchten. (Mauthner 1999/II. 2: 167)

Den Spracherwerb seiner Kindheit schildert Mauthner als Mischlage sehr unterschiedlicher kultureller Einflüsse, wie es auch für andere Regionen der 2   Bereits Kilcher bemerkt, dass Mauthner „Prag […] linguistisch als Ort transkultureller Hybridität“ (Kilcher 2007: 73) charakterisiert, bezieht diesen Aspekt aber nicht auf die sprachkritische Perspektive Mauthners.

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k. u. k. Monarchie charakteristisch ist.3 Dass die Sprache und Kultur der Kindermädchen die frühe Kindheit bestimmt, gehört zu den Topoi minoritärer Perspektiven. Aber auch beim Erwerb der deutschen Sprache sieht sich Mauthner mit einer hybriden Ausgangslage konfrontiert. Die deutsche(n) Sprache(n) seiner Kindheit charakterisiert er als Mischformen, als lokal, historisch aber auch ethnisch gefärbte Varietät. Ein unreines Deutsch, gegen das sich die Versuche des Hauslehrers abheben, ein reines Deutsch zu vermitteln, das sich lediglich als das in Böhmen übliche erweist. Historische Sprachvarianten haben in dieser Mischlage des Deutschen ebenso Einzug gehalten wie regionale Färbungen. Die Versuche des tschechischen Lehrpersonals, den deutschsprachigen Schülern ein ‚Slawischdeutsch‘ beizubringen, werden von Mauthner als nationale Zentrismen gedeutet, die der böhmisch-deutschen Minorität nicht gerecht werden. Seine Kindheit schildert Mauthner derart als hybride Sprach- und Kultursituation, in der sich Verwechselungen, Vertauschungen, Mesalliancen und trügerische Herleitungen vollziehen, die sich über Kulturkontexte und über historische Zeiten hinweg erstrecken. Einerseits dienen die Spracherinnerungen Mauthners daher als Ausgangsbasis zur Inszenierung für sein Selbstverständnis als Sprachforscher, der sich vor allem für die ‚Unreinheit‘ der Sprachen und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung interessiert. Andererseits ist darin aber bereits der Keim zu einer individuellen Sprache angelegt, der nicht von ethnischen oder nationalen Zentrierungen vereinnahmt werden kann. Aus der autobiographischen Perspektive begründet Mauthner sein Konzept einer Individualsprache, die er für die sprachkritische Perspektive bereits im Ersten Band seiner Beiträge als ‚wirkliche‘ Bezugsgröße geltend machte.4 In komplexer Weise wird daher die hybride Ausgangslage seiner kulturellen Situation für Mauthner produktiv. Diese Produktivität des Hybriden für Mauthner lässt sich besonders an der Varietät des Jargons verdeutlichen, wie sie auch im minoritären Diskurs seiner Zeit behandelt wird.

3   Vgl. zusammenfassend die Beiträge in Feichtinger/Uhl (2016), vor allem zur ‚Mehr­ sprachigkeit‘ Mannová/Tancer (2016) und zur ‚Plurikulturalität‘ von Bhatti (2016). 4   Vgl. Mauthner: „Es gibt ja, wie wir gesehen haben, kein Abstraktum Sprache in der Wirklichkeit; auch das verhältnismäßig konkretere Ding ‚Volkssprache‘ ist noch nicht wirklich. Wirklich sind nur Individualsprachen, wirklich ist am Ende aller Enden nur die augenblickliche Bewegung meiner Sprachorgane und ihr tönendes Erzeugnis.“ (Mauthner 1999/II. 1: 185)

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2. Die Hybridität des Jargons Die enge Verbindung zwischen autobiographischer Erzählung und sprachkritischer Reflexion, wie Mauthner sie inszeniert, lässt eine Ambivalenz gegenüber hybriden Kontexten erkennen. Einerseits gehen seine sprachkritischen Überlegungen vom Prinzip der Mischung und Kontamination aus, andererseits geraten damit aber auch die kulturellen Zeichenordnungen ins Wanken. Erzählt wird in der Autobiographie nicht nur von einem Spracherwerb in mehrsprachiger Umgebung, sondern auch von einem prekären Sprachgebrauch, dessen Lexik sich aus sehr unterschiedlichen Quellen speist. Die Namen der Dinge sind, so das autobiographische Narrativ, in dieser transkulturellen Situation zerrüttet: Ich weiß es aus späteren Erzählungen meiner Mutter, daß ich schon als Kind die törichten Fragen einer veralteten Sprachphilosophie zu stellen liebte: warum heißt das und das Ding so und so? Im Böhmischen so, und im Deutschen so? (Mauthner 1918: 33; Kursivierung im Original gesperrt)

Wörter des Kuchelböhmisch, wie z. B. die Vokabel ‚hantuch‘, bleiben aus kindlicher Perspektive in ihrer Zugehörigkeit unverstanden: Ich kam in meiner kindlichen Sprachvergleichung hie und da zu überraschenden Entdeckungen. So hatte ich als Kind das Zeug, mit dem mir beim Waschen die Hände getrocknet wurden, in meinem Kuchelböhmisch hantuch genannt, das Wort in meine deutsche Sprache mit hinübergenommen und kam in meinem fünften Jahre auf den gelehrten Einfall: hantuch bedeute ein Tuch für die Hand, wäre also ein deutsches Wort. (Mauthner 1918: 34; Kursivierung im Original gesperrt)

Nicht nur die Benennungen werden in der hybriden Situation hinterfragt, zugleich steht damit auch die Herkunft der Wörter auf dem Spiel. Im alltäg­ lichen Sprachgebrauch konkurrieren verschiedene Hybriditäten miteinander, zunächst die Hybridität der deutsch-böhmischen Minorität im tschechischen Kontext, aber auch die jiddische Hybridität in Relation zu einer deutschen Hochsprache und nicht zuletzt die kulturelle Pluralität der k. u. k. Monarchie. So erzählt Mauthner, wie sein Vater versuchte, die Vokabel ‚mischen‘ als Wort der Judensprache zu entlarven und für die Verwendung von ‚melieren‘ plädiert. Er verachtete und bekämpfte unerbittlich jeden leisen Anklang an Kuchelböhmisch oder an Mauscheldeutsch und bemühte sich mit unzureichenden Mitteln, uns eine reine, übertrieben puristische hochdeutsche Sprache zu lehren. So erinnere ich mich, daß er mir gegenüber einmal das Wort mischen als ein vermeintliches Wort der ihm verhaßten Judensprache heftig tadelte, man müßte gut deutsch melieren dafür sagen; mein Vater wußte nicht,

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daß sowohl mischen als melieren von dem lateinischen miscere stammt; diese Unkenntnis braucht dem eifrigen Sprachfreunde um so weniger angekreidet zu werden, als noch heute Forscher wie Kluge und Paul eine sogenannte Urverwandtschaft zwischen mischen und miscere für möglich halten. (Mauthner 1918: 33; Kursivierung im Original gesperrt)

Die Bemühungen um ein zweifelfreies Hochdeutsch, wie es der Vater Mauth­ ners anstrebt (Le Rider 2016: 114), kennzeichnet auch die Situation zahlreicher Intellektueller um die Jahrhundertwende (Le Rider 1990: 259–408). Tatsächlich geht die väterliche Bemühung um einen Sprachpurismus fehl, denn besonders das Verb ‚melieren‘ lässt seine Herkunft aus dem Französischen erkennen und kann ebenso wie ‚mischen‘ als Lehnwort auf das Lateinische zurückgeführt werden. Im Verb ‚mischen‘ überlagern sich mehrere Blickwinkel, einerseits werden damit autobiographische Erinnerungen inszeniert und andererseits weist die Vokabel bereits auf die Problematik der Sprachmischung hin. Das Beispiel führt vor, was es in systematischer Hinsicht impliziert. Mauth­ners Erinnerung an die Sprachkorrekturen seines Vaters stellt über das autobiographische Narrativ hinaus auch Prinzipien der Abstammung und die sogenannte Urverwandtschaft von Sprachen in Frage. Im Zweiten Band seiner Beiträge bemerkt Mauthner zu dieser Problematik: „Man sollte doch denken, daß die Urverwandtschaft zweier Sprachen fraglich werde, wenn jede Entsprechung zweier ähnlicher Worte ebenso gut Entlehnung wie Verwandtschaft sein könne […].“ (Mauthner 1999/II. 2: 108–109) Ebenso wie sich die sprachliche Varietät des Jargons in der politisch-kulturellen Perspektive Mauth­ners als hinderlich erweist, steigen Prinzipien der Mischung von Sprachen zu einer zentralen Argumentationsfigur im Denken Mauthners auf. Vor allem im Hinblick auf die Problematik des Jargons bzw. des Mauschelns wird Mauthners Ambivalenz zwischen der linguistischen Produktivität von Hybridität und als Hindernis in der kulturellen Tradition ersichtlich. Bei der Bestimmung des Begriffs „Individualität“ (Mauthner 1999 II. 1: 540) führt Mauthner im Ersten Band seiner Beiträge zu einer Kritik der Sprache aus, dass die Individualität einer Person ebenso wie die von Kollektiven allein durch ihren individuellen Sprachschatz bestimmt werde. Ein Hindernis für die jüdische Assimilation bilde allerdings der Jargon: Und wenn z. B. die Juden in Deutschland genauer auf sich achten würden, so müßten sie erkennen, daß sie so lange einen Stamm für sich bilden, als sie mehr oder weniger einen Jargon sprechen, der für nichtjüdische Deutsche unverständlich ist. Der Jude wird erst dann Volldeutscher, wenn ihm Mauschelausdrücke zu einer fremden Sprache geworden sind, oder wenn er sie nicht mehr versteht. (Mauthner 1999/II. 1: 540–541)

Erst dadurch, dass sie den Jargon verlernt, so die prekäre Ausflucht Mauthners, könne die jüdische Bevölkerung die Möglichkeit zur vollständigen Assimila­

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tion erreichen. Allerdings war zu Mauthners Zeiten der Jargon im alltäglichen Sprachgebrauch der westjüdischen Bevölkerung kaum noch gegenwärtig. Hans Peter Althaus erläutert daher Mauthners Verwendungsweise des Wortes ‚Jargon‘: […] mit dem Jargon, den nicht-jüdische Deutsche nicht verstehen können, kann eigentlich nur das rezente Ostjiddisch oder die jüdische Marktsprache gemeint sein. Beim Ostjiddischen, das damals auch terminologisch als Jargon bezeichnet wurde, handelt es sich um eine Fremdsprache, die zu jener Zeit in den seit Jahrhunderten angestammten Siedlungsgebieten der Ostjuden in Osteuropa gesprochen und seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von Emigranten auch nach Westeuropa und Nordamerika mitgenommen wurde. (Althaus 2002: 133)

Noch die Erinnerung an den Jargon bildet für Mauthners Bestreben nach Assimilation eine kulturelle Hürde. Andererseits bietet der Jargon aber auch ungewöhnliche linguistische Perspektiven. So lässt sich bei der Beschäftigung mit dem Jargon z. B. erkennen, wie sich Aspekte des Gebrauchs von Sprache vor die Prinzipien ihrer Herkunft stellen. Beim Mauscheln besitzt, wie Fritz Mauthner betont, das Gestische einen hohen Stellenwert, wodurch die Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks überlagert bzw. ersetzt werden kann. So sei es „typisch für das Mauscheln lebhaft erregter Juden, daß sie die Negation häufig durch Ton und Gebärdenspiel allein ausdrücken“, „durch Achselzucken und Augenspiel“ könne sich ein Ausdruck ins Gegenteil verkehren (Mauthner 1999 II. 2: 147). Der Jargon ist als eine Sprache von höherer Theatralität, bzw. eine Inszenierungsform des Sprechens zu verstehen, wo die Aufführung des Aussagens wichtiger wird als die Aussage. Jenseits des signifizierenden Sprachgebrauchs öffnet sich im Jargon eine theatrale Praxis von Sprache. So treibt das Mauscheln einen Störfaktor des Verstehens hervor, einerseits in Hinsicht auf die Relevanz seiner Zeichen, andererseits aber auch in seiner kommunikativen Funktion. Mit Mauthners Bemerkungen zum Jargon ist allerdings nicht nur ein sprachlicher, sondern auch ein literarischer Diskurs aufgerufen, wie er sich häufig in der Auseinandersetzung mit der Prager deutschen Literatur findet. Auch Franz Kafka reflektiert über die Unmöglichkeit der Prager deutschen Situation in einem Brief an Max Brod aus dem Jahr 1921, mit den Beobachtungen, die von Mauthner Bemerkungen zur Gestik des Jargons nicht so weit entfernt liegen: Ich sage damit nichts gegen das Mauscheln, das Mauscheln an sich ist sogar schön, es ist eine organische Verbindung von Papierdeutsch und Gebärdensprache (wie plastisch ist dieses: Worauf herauf hat er Talent? Oder dieses den Oberarm ausrenkende und das Kinn hinaufreißende: Glauben Sie! oder dieses die Knie an einander zerreibende: „er schreibt.

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Über wem?“) und ein Ergebnis zarten Sprachgefühls, welches erkannt hat, daß im Deutschen nur die Dialekte und außer ihnen nur das allerpersönlichste Hochdeutsch wirklich lebt, während das übrige, der sprachliche Mittelstand, nichts als Asche ist, die zu einem Scheinleben nur dadurch gebracht werden kann, daß überlebendige Judenhände sie durchwühlen. (Brod/Kafka 1989/II: 359; Herv. i. O.)

Sehr viel teilen Kafkas Bemerkungen über die Verbindung von ‚Papierdeutsch und Gebärdensprache‘ sowie die Wertschätzung von Dialekten mit einem Diskurs, an dem auch Mauthner Anteil hatte; die Bemerkung über ‚das allerpersönlichste Hochdeutsch‘ erinnert sogar an Mauthners Konzept der Individualsprache. Darüber hinaus zerrüttet der Jargon kulturelle Zeichenkonventionen und kann somit als sprachliche Grenzfigur das Verstehens selbst problematisieren. Im Dom-Kapitel seines Process-Romans hat Kafka eine Figur eingeführt, die auf die Verstehensproblematik des Jargons hin angelegt ist. Josef K. erhält bekanntlich den Auftrag, einen italienischen Geschäftsfreund durch den Dom zu führen. Gewappnet mit einer italienischen Grammatik (Kafka 1990: 272–273) versucht K., sich auf das Gespräch mit dem Italiener vorzubereiten. Dabei stößt der Protagonist allerdings auf unüberwindliche Hindernisse: Der Italiener scheint einen Dialekt zu sprechen, der sich seinem Verstehen fast vollständig entzieht: K. bemerkte mit großem Unbehagen, daß er den Italiener nur bruchstückweise verstand. Wenn er ganz ruhig sprach, verstand er ihn fast vollständig, das waren aber nur seltene Ausnahmen, meistens quoll ihm die Rede aus dem Mund, er schüttelte den Kopf wie vor Lust darüber. Bei solchen Reden aber verwickelte er sich regelmäßig in irgendeinen Dialekt, der für K. nichts Italienisches mehr hatte […]. (Kafka 1990: 274)

Aber auch aus der Gestik des Italieners lässt sich nichts Verständliches mehr gewinnen, „denn auch dessen Französisch war nur schwer verständlich, auch verdeckte der Bart die Lippenbewegungen, deren Anblick vielleicht zum Verständnis geholfen hätte.“ (Kafka 1990: 274) Die Kommunikationssituation entzieht sich dem hermeneutischen Zugriff des Verstehens, da das Gespräch mit dem Italiener unmöglich wird. Der Dialekt des Italieners im Dom-Kapitel gleicht einem hypertroph gewordenen Idiom. Die Rede des Italieners wird überbordet von seiner dialektalen Färbung, wie es Kafka etwa für den jiddischen Jargon postulierte: „[…] der ganze Jargon besteht nur aus Dialekt.“ (Kafka 1993: 190) Was Kafka am Beispiel der Figur des Italieners exerziert, ist die Fremdheit gegenüber einer Sprache, die sich den Bemühungen des Verstehens entzieht. Während sich Josef K. an lexikalischen Standards orientiert, nähert sich die Redeweise des Italieners einem Dialekt, der an Kafkas Einschätzung des Jargons erinnert. In dieser Auseinandersetzung mit einer

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Hybridität, die sich jenseits von nationalen Festlegungen bewegt, trifft sich Kafkas Schreibweise mit der sprachkritischen Perspektive Mauthners.

3. Mehr- und Einsprachigkeit Im Unterschied zu seinem Sprachinteresse an der gemischtkulturellen Situa­tion im Prager deutschen Kontext steht Mauthner einer individuellen deutschtschechischen Mehrsprachigkeit ablehnend gegenüber. Mauthner versteht sich entgegen der in seiner Schulzeit geforderten Zweisprachigkeit als einsprachig, wie er in seinen Erinnerungen bemerkt: Wir lernten also das tschechische Pensum nur widerwillig; die Folge war, daß die tschechischen Schüler der Zweisprachigkeit sehr nahe kamen, wir aber nicht. Deutsche Muster­ schüler brachten es so weit Tschechisch schreiben zu können, wie sie Latein schrieben, konnten die zweite Landessprache aber nicht sprechen. Die Tschechen dagegen waren in den letzten Gymnasialklassen befähigt worden, einen deutschen Schriftsatz ohne allzu schlimme Fehler auszuarbeiten und sich in deutscher Sprache mündlich ganz geläufig und richtig auszudrücken. (Mauthner 1918: 129)

Die Funktion dieser Einsprachigkeit lässt sich im Denken Mauthners ambivalent bewerten. Einerseits beharrt Mauthner durchaus auf der Zugehörigkeit zum Deutschen als Nationalsprache, andererseits plädiert er dafür, dass Einsprachigkeit nicht mit der Reinheit einer Sprache gleichzusetzen ist. Dass sich eine Hybridität von Sprache und Einsprachigkeit nicht widersprechen, zeigt besonders seine Konzeption der Individualsprache, die sich ihre kulturelle Unreinheit zum Ausgangspunkt macht, wie er im Abschnitt Beispiel einer individuellen Sprachentwicklung weiter erläutert: Ich bemerke, dass ich hier natürlich – es wäre ebenso unmöglich wie langweilig – unterlassen habe, alle die Dienstmädchen und Straßenkinder, oder auch nur die Geschwister und Verwandten aufzuzählen, die meine Individualsprache mit gebildet haben; ebenso unterlasse ich es, auf die Schulkameraden einzeln hinzuweisen, die jetzt und später – selbst durch mich beeinflußt – mich wieder beeinflußten. Nur um die großen Züge ist es mir zu tun, und schon da wird man spüren, dass die Individualsprache unbeständig ist, wie ein Luftatom in der Atmosphäre und doch immer an  seiner richtigen Stelle ist. (Mauthner 1999/II. 2: 167)

Mit den Hinweisen auf Dienstmädchen und Straßenkinder, Geschwister und Verwandte, ebenso wie auf seine Schulkameraden erweist sich die Individualsprache als ein flüchtiges und heterogenes Netzwerk unterschiedlicher eth-

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nischer, nationaler und sozialer Stimmen. Die individuelle Richtigkeit einer Sprache zeichnet sich nach Mauthner nicht durch eine puritas von Kodierungen aus, sondern vielmehr durch ihre fortgesetzte Kontamination in einer Gemengelage von Sprachen. Bereits Hermann Paul geht in § 274 seiner Prinzipien der Sprachgeschichte aus dem Jahr 1880 von einer Produktivität der Individualsprachen aus, wenn er bemerkt: Gehen wir davon aus, dass es nur Individualsprachen gibt, so können wir sagen, dass in einem fort Sprachmischung stattfindet, sobald sich überhaupt zwei Individuen miteinander unterhalten. Denn dabei beeinflusst der Sprechende die auf die Sprache bezüglichen Vorstellungsmassen des Hörenden. (Paul 1909: 390)

Im Unterschied zu Hermann Paul, von dem er den Begriff der Individualsprache übernommen hat (Knobloch 1988: 221), macht Mauthner seine Herkunft aus einer gemischtkulturellen Situation zur unhintergehbaren Ausgangslage. Anders als in der sprachwissenschaftlichen Disziplin bleibt Mauthners Sprachverständnis stets an die transkulturelle Situation im böhmisch-deutsch-­ jüdischen Kontext gebunden. Die autobiographischen Narrative rangieren hier vor der sprachwissenschaftlichen Perspektive. Auf paradoxale Weise macht der hybride Kontext eine Unreinheit der Individualsprache bewusst, die sich jenseits der Alternative von Ein- und Mehrsprachigkeit situiert. ­Mauthners Konzept von Individualsprache lässt sich vielmehr mit dem Paradox zwischen Ein- und Mehrsprachigkeit erfassen, wie es auch Jacques Derrida in seinem Essay zur Einsprachigkeit entworfen hat, wenn er die beiden gegenläufigen Behauptungen aufstellt: 1. Man spricht immer nur eine einzige Sprache – oder vielmehr ein einziges Idiom. 2. Man spricht niemals eine einzige Sprache – oder vielmehr, es gibt kein reines Idiom. (Derrida 2003: 21)

Am Beispiel der minoritären Situation seiner franco-maghrebinischen Kindheit im kolonialen Tunesien erläutert Jacques Derrida eine paradoxale Verknüpfung von Ein- und Mehrsprachigkeit: daß man nur eine Sprache spricht  – und daß man sie nicht hat. Man spricht von jeher nur eine Sprache – und sie ist auf asymmetrische Weise, so daß sie immer dem anderen zukommt, einem vom anderen her wiederkehrt, vom anderen bewahrt wird.“ (Derrida 2003: 69; Kursivierung im Original gesperrt)

Ähnlich wie bei Derridas paradoxalem Konzept der Einsprachigkeit tendiert auch der Ansatz von Mauthners Individualsprache zu einer Radikalisierung von Heterogenität. In ihrer ‚unreinen‘ Einsprachigkeit stellt die Individualsprache bei Mauthner aber auch eine radikale Problematik des Verstehens dar:

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Klaus Schenk Es gibt nicht zwei Menschen, die die gleiche Sprache reden. In Augenblicken tiefster Verstimmung wird Jedermann einmal das gedacht haben, daß nämlich kein Anderer seine besondere Sprache verstehe. Bildlich wird den Satz jedermann begreifen. Nicht leicht aber wird man zugeben, daß er eine nüchterne wissenschaftliche Wahrheit enthalte. Eine Wahrheit, die sich auch so ausdrücken ließe: daß ein jeder einen anderen Ausschnitt aus der gemeinsamen Muttersprache beherrsche. Dies letzte Wort zu wählen wird mir schwer. Denn der Fall ist doch alltäglich, daß wir einen anderen, größeren Ausschnitt aus unserer Muttersprache verstehen, einen anderen, kleineren aber sprechen können, wie wir doch auch gewöhnlich manche Nachbarmundart noch verstehen, nur die eigene aber reden. (Mauthner 1999/II. 1: 18)

Einerseits lässt sich die Verständnisproblematik der Individualsprache in die Sprachskepsis der Jahrhundertwende um 1900 einbetten, wie sie sich bei ­Maurice Maeterlinck und im Prager Kontext besonders auch bei Franz Kafka findet. Andererseits scheint Mauthner mit diesem pyrrhonischen Argument der Inkommunikabilität auch die argumentativen Grundlagen seiner eigenen Sprachkritik auszuhebeln. So bemerkt Gottfried Gabriel, daß man mit dem Pyrrhonismus nur schwer in einen behauptenden Diskurs eintreten kann, zu dessen transzendentalen Bedingungen es gehört, daß der Gedanke, den man bejaht oder bestreitet, von den beteiligten Diskutanten als derselbe erfaßt werden kann. (Gabriel 1995: 30; Kursivierung im Original gesperrt)

Das Paradox, das Gabriel als Verstoß gegen die sprachphilosophische Möglichkeitsbedingung der Verständigung entlarven möchte, erweist sich bei Mauthner allerdings als produktives Prinzip. Die unauflösliche Paradoxie in Mauthners Konzept der Individualsprache zeigt gerade die Produktivität ihrer transkulturellen Hybridität. In seinem Essay zur Einsprachigkeit hat Derrida allerdings auch kulturelle Praktiken aufgezeigt, die der paradoxalen Einsprachigkeit Rechnungen tragen, wenn er auf die Ursprungslosigkeit der Schrift und des Schreibens hinweist: Da die vor-erste Zeit der vor-ursprünglichen Sprache nicht existiert, muß man sie erfinden: Befehle, Mahnungen einer anderen Schrift. Vor allem aber muß man sie sozusagen im Innern der Sprachen schreiben. (Derrida 2003: 125; Kursivierung im Original gesperrt).

Die Produktivität des Schreibens im transkulturellen Kontext hat sich auch in Mauthners Beiträgen zu einer Kritik der Sprache niedergeschlagen, wie später zu zeigen sein wird. Im Folgenden sollen zunächst weitere Aspekte einer produktiven Hybridität bei Mauthner angedeutet werden.

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4. Hybride Etymologien Mit dem Band Die Sprache, der im Jahr 1906 in der von Martin Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft erschien, bot sich für Fritz Mauthner die Möglichkeit, sein sprachkritisches Werk noch einmal in bündiger Form zu präsentieren. Besonders die hybride Produktivität in seinem Sprachverständnis wird dabei deutlich profiliert. So wendet sich Mauthner z. B. gegen die Trias von „Abstammung, Sprache und Sitte“ (Mauthner 1906: 48), indem er den nationalistischen Diskurs ironisch unterläuft: Das klingt selbstverständlich, zweifellos und logisch. Die Deutschen bilden ein deutsches Volk, weil alle Deutschen Menschen gemeinsame Abstammung, Sprache und Sitte haben. Aus dem gleichen Grunde bilden die Franzosen das französische Volk, die Engländer das englische Volk. Man braucht nicht eben tiefe historische Studien gemacht zu haben, daß das mit der gemeinsamen Abstammung der Volksgenossen einfach unwahr ist, das von der gemeinsamen Sitte mindestens zweifelhaft. (Mauthner 1906: 47)

Gegen Kurzschlüsse der Abstammungslehre sowie gegen die nationale Beschränkung von Wörterbüchern setzt Mauthner die Tatsache, […] daß ein unübersehbar großer Teil des Wortvorrats entstanden ist und immer wieder neu entsteht durch Übersetzung aus dem Wortvorrat anderer Kultursprachen, sei es daß zur Übersetzung des fremden Wortes ein bereits vorhandenes Grundwort der eigenen Sprache umgeformt wird, sei es, daß das bereits vorhandene Wort der eigenen Sprache ohne Komposition, ohne Umformung, ohne Lautwandel zur Übersetzung des fremden Worts gebildet wird durch bloßen Bedeutungswandel. (Mauthner 1906: 56)

Mit dem aus zeitgenössischen Hybriditätsdiskursen entlehnten Begriff der ‚Bastardierung‘ (Ha 2005: 17–22) versucht Mauthner, einen Sprachkontakt zwischen den Kulturen zu beschreiben, der sich nicht mehr auf ursprüngliche Verwandtschaft zurückführen lässt: Für meinen Privatgebrauch nenne ich schon seit Jahren die Lehnübersetzungen von Fremdbegriffen durch Neubildungen: Bastard-Übersetzungen; nenne die Übersetzungen von Fremdbegriffen durch Bedeutungswandel vorhandener Worte: Bastardierten Bedeutungswandel. (Mauthner 1906: 58)

Auch in anderen Werken Mauthners spielen Aspekte von Hybridität eine unverkennbare Rolle. Im Artikel zum Christentum z. B. aus seinem Wörterbuch der Philosophie (1910) hat Fritz Mauthner auch ein Beispiel von Bastardierungen im Kuchelböhmisch angeführt. Zum Wort ‚Vánoce‘ bemerkt Mauthner: Vánoce, die tschechische und ähnlich die slowakische Bezeichnung für Weihnachten, sind offenbar sogenanntes Kuchelböhmisch, gelehrt ausgedrückt eine vox hybrida: die zweite Silbe von Weihnacht übersetzt, die erste übernommen. Versuche tschechischer Gelehrten,

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Klaus Schenk vánoce ganz slawisch zu erklären, „glaubt man vielleicht heutzutage nicht mehr“. (Mauthner 1997/I. 1: 241)

Als Vox hybrĭda gilt nach Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon aus dem Jahre 1911 „ein aus zwei verschiedenen Sprachen zusammengesetztes Wort“. (Brockhaus 1911, I: 841) Anders als die Rassentheorien seiner Zeit versteht Mauthner die Mischung von Sprachen allerdings als produktives Prinzip, das sich nicht auf fragwürdige Ursprünge festlegen lässt. In dieser Hinsicht trifft sich das Denken Mauthners auch mit Schreibweisen einer ‚kleinen Literatur‘, wie sie sich in der deutschsprachigen Literatur Prags vor allem bei Franz ­Kafka findet. Unter den Texten Kafkas, die von der Forschung in einem engen Zusammenhang mit den Etymologien Mauthners wahrgenommen wurden, zählt vor allem seine Erzählung Die Sorge des Hausvaters (1920) (Kafka 1996: 282–284). So hat z.  B.  Renate Werner die Frage aufgeworfen, ob Kafkas Erzählung einen sprachkritischen Scherz im Denkhorizont Fritz Mauthners inszeniere. Vor allem am Beispiel der Vokabel ‚Zweck‘, deren Herkunft Mauthner in seinen Beiträgen als „einen Holznagel oder einen Holzpflock, also auch den Holzpflock in der Mitte der Zielscheibe“ (Mauthner 1999/II. 1: 534)5 einführt, zeigt Werner eine Nähe zur Beschreibung Odradeks bei Kafka und damit auch zur Problematik der Zwecklosigkeit dieser Figur. (Werner 2002: 189) Im Anschluss an  Werner hat auch Irina Wutsdorff Kafkas Text „im Lichte von Mauthners Etymologisierungswut“ (Wutsdorff 2014: 49) gelesen. Stärker betont werden müsste allerdings im Hinblick auf beide Abhandlungen, dass Kafka gerade das Verfahren einer fehlgeleiteten, bzw. bastardierten Etymologie mit Mauthner teilt. Eingeführt wird Odradek zunächst im Modus einer Etymologie, wenn eingangs behauptet wird: Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflußt. (Kafka 1996: 282)

Hybrid wird die Wortschöpfung aber vor allem durch ihre fragwürdig gemischte deutsch/slavische Herkunft, die der Text allererst hervorbringt. Kafka nutzt seine Kenntnisse von zwischensprachlicher Hybridität, um ein Wort zu schaffen, das ein Dilemma provoziert: „Die Unsicherheit beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann.“ (Kafka 1996: 282) In Die Sorge des Hausvaters wird die Chiffre ‚Odradek‘ zum Konvergenzpunkt 5   Vgl. auch Mauthner (1997 I. 3: 515–522).

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einer sprachlich und kulturell inszenierten Problematik von Hybridität, die sich einerseits als ästhetisch-literarischer Deutungsfreiraum des Textes erweist, die andererseits aber auch mit Mauthners hybriden Etymologien konvergiert. Nachdem bisher Aspekte des Hybriden bei Mauthner in seinem kulturellen Kontext aufgezeigt wurden, soll im Folgenden auf die Spezifik seiner Schreibweise in den Beiträgen eingegangen werde.

5. Wucherungen und Thema-Wörter In seinen Beiträgen zur Kritik der Sprache versammelt Mauthner zahlreiche Thema-Vokabeln, die gleichermaßen als Veranschaulichung wie auch als Schauplatz seines sprachkritischen Vorhabens dienen können. Eine dieser ThemaVokabel, die sowohl in semantischer wie auch in systematischer Hinsicht die hybride Begriffsbildung Mauthners vorführt, findet sich im Konzept des ‚Wippchens‘, das er im Zweiten Band (1912) weiter ausarbeitet. Unter der Rubrik Die Metapher leitet Mauthner den Begriff des ‚Wippchens‘ folgendermaßen her: Das alte Wort Wippchen (H. Paul erklärt es durch: Faxen) ist, seitdem der Kriegskorrespondent eines Witzblatts so genannt wurde, zur Bezeichnung geworden für die in seinen Berichten beliebten lächerlichen Zusammenstellungen widersprechender Sprachbilder. (Mauthner 1999/II. 2: 497)

Neben diesem historischen Bezug auf den Namen des Kriegsberichterstatters Wippchen, den der Satiriker Julius Stettenheim (1831–1916) als Sprachmaske erfunden hatte, beansprucht Mauthner für die Thema-Vokabel des ‚Wippchen‘ auch eine strukturelle Funktion. In ihrer sprachhistorischen Dimension haben ‚Wippchen‘ nach Mauthner ihre Kenntlichkeit verloren, wie schon bei der „alltäglichsten Zusammenstellungen zweier Worte“ erfolgt dabei „eine Vermischung zweier unzusammenhängender Bilder“. (Mauthner 1999 II. 2: 498) In der Thema-Vokabel des Wippchens kondensiert sich das Strukturgesetz der Kontamination, wie Mauthner weiter ausführt. Fehlgeleitete Bilder, die als Katachresen für die literarische Sprache produktiv werden, versucht Mauthner bei Augustinus, Shakespeare, Goethe und vor allem bei Hamann nachzuweisen. Hinter der Bildermischung als Metaphernmischung verbirgt sich allerdings ein weitaus grundsätzlicheres Strukturgesetz im Mauthnerschen Verständnis von Sprache. Wippchen können sich sowohl auf der paradigmatischen Achse in der Auswahl der Bilder wie auch auf der syntagmatischen

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Achse in ihrer Kombination umsetzen. Sie haben die vormals symbolische Verbindung zwischen Zeichen und Dingwelt in leere Zeichenhaftigkeit übertragen und gleichen daher Phantasmen, die sich ihren Verortungen entziehen. Im Konzept des Wippchens kann eine grundlegende Hybridität aufgezeigt werden, die sowohl die Entwicklung von Individualsprachen wie auch den Sprachkontakt unterschiedlicher Nationalsprachen betrifft: In noch weiter zurückliegenden Zeiten, als wir sie bei unsern Kultursprachen kennen, muß aber die Sprachmischung eine dauernde und höchst einflußreiche Rolle gespielt haben. Ja wir können uns die Entwicklung der Sprache überhaupt nicht anders denken als so, daß in den fernsten Urzeiten jede Familie nur ihre paar Worte ererbt hatte und diesen Wortschatz unaufhörlich in der friedlichen oder feindlichen Berührung mit Nachbarfamilien ergänzte. Wir sehen diese Erscheinung tagtäglich, wenn wir beobachten, wie Kinder verschiedener Familien in der Schule ihren Sprachschatz erweitern. (Mauthner 1999/II. 2: 509)

Etymologische Bemühungen werden durch diese Vermischungsgrade fehlge­ leitet: Was dieser Annahme folgen würde, das geht weit über die Wirkung auf die Bildervermischungen hinaus. Sind die Sprachmischungen immer häufiger und reicher, je weiter wir uns in die Geschichte der Sprache zurückdenken, so ist die ganze historische Abteilung der Sprachwissenschaft eitles Stückwerk, so ist jeder etymologische Versuch über die Schriftsprache hinaus eine Reise ins Blaue. (Mauthner 1999/II. 2: 510)

Im Unterschied zur sprachwissenschaftlichen Fachdisziplin kann Mauthner das Konzept der Sprachmischung mit den Erinnerungen an seine Kindheit und seinen kulturellen Kontext verbinden: Auch auf die syntaktischen Formen übt die Sprachmischung heute noch einen großen Einfluß; in alten Zeiten muß er unberechenbar groß gewesen sein. Wenn ein DeutschBöhme dem slawischen Nachbar z. B. nachredet „der Kutscher was mich gefahren hat“, so empfinden andere Deutsch-Böhmen das noch als eine komische Bildervermischung. Alle aber sagen sie halb slawisch „es steht nicht dafür“. (Mauthner 1999/II. 2: 513)

Fremdwörter und Wörter der Muttersprache sind dabei gleichermaßen in den Prozess der Kontamination eingeschlossen. Allerdings wirken sowohl die Literarisierung wie auch die Entwicklung des Nationalbewusstseins dieser ständigen Vermischung entgegen. Das literarische Bewußtsein, verbunden mit dem politischen Nationalgefühl, bekämpft die Sprachmischung; in Böhmen, wo das Volk noch vor fünfzig Jahren dabei war, eine Mischsprache auszubilden, stehen sich jetzt Deutsch und Tschechisch vollkommen getrennt gegenüber. (Mauthner 1999/II. 2: 509)

Die Mischsprachen seiner Kindheit, wie er sie in den Erinnerungen beschreibt, möchte Mauthner zur Zeit der Veröffentlichung seiner Beiträge bereits hinter sich wissen. Allerdings bleibt seine eigene Blickrichtung wie auch seine

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Schreibweise von dieser hybriden Kombinatorik geprägt. Wippchen sind auf allen Sprachebenen zu finden, in der Semantik wie in der Syntax, in verschiedenen Fachsprachen ebenso wie in der Sprache der Philosophie. Bereits in sprachgeschichtlicher Hinsicht erweist sich dieses Prinzip der Kontamination als äußerst produktiv: Um aber die ganze Bedeutung der Wippchen für die Entstehung der Sprache zu begreifen, müssen wir weiter gehen und sagen: fast alle Sprachbereicherung beruht auf der Anwendung der Metapher, also auf einem Spiel des Witzes. Mit Witzen, mit absichtlichen Wippchen beginnt fast jede Erweiterung eines Begriffs, mit dem viel gerühmten Sprachgebrauch, mit unabsichtlichen Wippchen endet sie. (Mauthner 1999/II. 2: 513)

Nicht nur in der Sprachgeschichte, sondern auch für die Poesie können Wippchen produktiv werden, wie sich in den Analysen von Alfred Liede zur Unsinnspoesie und ihrer Auseinandersetzung mit Mauthner zeigt (Liede 1963/I: 267–268), und letztlich sind Wippchen als Thema-Wörter und als Prinzip einer Verflechtung sehr unterschiedlicher Wissensbereiche auch für Mauthners eigene Schreibweise charakteristisch. Im Werk der dreibändigen Sprachkritik von Mauthner finden sich an markanten Knotenpunkten immer wieder Beispiele für Wippchen, mit denen er seine Überlegungen illustriert. Einige dieser Thema-Vokabeln wurden sogar in das Register aufgenommen. (Mauthner 1999/II. 3: 643–663) Am Beispiel des Wortes ‚Opodeldok‘ führt Mauthner in seinen Bemerkungen zu Newton im Dritten Band z. B. aus, wie sich der Übergang zwischen Umgangssprache und Fachterminologie aus unterschiedlichen epistemischen Voraussetzungen speist. Als ursprungsloses Phantasma trägt sich das Wort Opodeldok in die Hypothesen zum Rheumatismus ein, wie sie seit der Antike überliefert sind. (Mauthner 1999/II. 3: 535 u. 546–547) Ein weiteres Wort findet Mauthner in ‚Bathybius‘, das in Anlehnung an den Haeckelschen Monismus geschaffen wurde und als gallertartiger Schleim, der aus der Meerestiefe kam, zu einem Lebewesen erhoben wurde. Mit der Revision der Hypothese ist aber auch das Wort-Phantasma verschwunden. (Mauthner 1999/II. 3: 535) In systematischer Hinsicht bezeichnet Mauthner derartige abstammungslose Überkreuzungen von Umgangssprache und Fachsprache wieder mit dem Konzept des Wippchens, wenn er ausführt: Man mache sich den Sinn der Worte nur recht anschaulich, und man wird darüber staunen müssen, daß die Kontamination, das „Wippchen“, die Konfusion der Bilder, eigentlich immer fortbesteht. (Mauthner 1999/II. 3: 543)

Es ließen sich weitere Beispiele finden, die durch Überkreuzung in der Sprachgeschichte, im Sprachgebrauch oder in der Übersetzung hervorgegangen sind.

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In dieser Überkreuzung von semantischen und systematischen Funktionen trifft sich Mauthners Konzept des Wippchens mit der von Kafka in seiner Erzählung Die Sorge des Hausvaters eingeführten Hauptfigur. So lässt sich fragen, ob etwa auch Franz Kafka mit dem hybriden Wort Odradek eine Überlagerung von Bildern umsetzt, in einem Wort, das zugleich ein „Wesen“ (Kafka 1996: 282) ein „Gebilde“ (Kafka 1996: 283) und eine Person bezeichnen kann, deren „Wohnsitz“ (Kafka 1996: 284) und Herkunft ‚unbestimmt‘ bleibt. Mit Odradek hat Kafka eine Hybride geschaffen, durchaus vergleichbar mit den Thema-Wörtern, die Mauthner in seine sprachphilosophische Schreibweise einflicht. Aus der literarischen Perspektive wird ersichtlich, dass das Wort ‚Wippchen‘ selbst nur wenig geeignet ist, eine philosophische Begrifflichkeit zu entfalten, als vielmehr ebenso eine personelle, eine dingliche und eine abstrakte Komponente miteinander zu verbinden. Als begriffliche Hybride unterläuft die Konzeption des Wippchens die logische Systematik.

6. Schreibweise ‚lebendiger‘ Vernetzungen Linguistische ebenso wie philosophische Lektüren haben immer wieder das Unzusammenhängende in der Schreibweise von Mauthners Beiträgen zu einer Kritik der Sprache problematisiert. So spricht etwa Hans Jürgen Heringer von Mauthners „Ursuppe“ (Heringer 1982: 7). Auch Elisabeth Leinfellner muß sich bei ihrem Versuch, die vorgebliche Unordnung der Mauthnersche Schreibweise nach Parametern systematisch zu gliedern, eingestehen: Und wirklich besteht bei Mauthner die Gefahr, daß man, wie es Borges in einer Parabel schildert, bei der Diskussion seines Werkes eine Landkarte zeichnet, die so groß wie das Land selbst ist. (Leinfellner 1995: 57)

Die Schreibweise Mauthners erscheint in den Fachwissenschaften zumeist als unübersichtlich und unzusammenhängend. Allerdings reflektiert Mauthner in seinen Beiträgen die eigene sprachphilosophische Schreibweise selbst. Den performativen Widerspruch, in den Mauthner mit seiner sprachkritischen Arbeit gegen eine Sprache geraten ist, die diese Kritik allererst zum Ausdruck bringen soll, thematisiert er bereits zu Beginn des Ersten Bandes im ersten Kapitel zum Wesen der Sprache, nach dem berühmt gewordenen Leitergleichnis: In dieser Einsicht liegt der Verzicht auf die Selbsttäuschung, ein Buch zu schreiben gegen die Sprache in einer starren Sprache. Weil die Sprache lebendig ist, so bleibt sie nicht un-

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verändert vom Anfang eines Satzes bis zu seinem Ende. Im Anfang war das Wort; da, beim Aussprechen des fünften Wortes, verwandelt schon das erste Wort im Anfang seinen Sinn. So mußte der Entschluß reifen, diese Bruchstücke entweder als Bruchstücke zu veröffentlichen oder das Ganze dem radikalsten Erlöser zu überantworten, dem Feuer. Das Feuer hätte die Ruhe gebracht. Der Mensch jedoch, solange er lebt, ist wie die lebendige Sprache und glaubt, er habe etwas zu sagen, weil er spricht. (Mauthner 1999/II. 1: 2)

Das Bruchstückhafte und die Verkettung von Aussagen gehören zur Schreibweise einer ‚kleinen Literatur‘. Das Unzusammenhängende durchläuft in dieser Hinsicht alle Ebenen der Textproduktion, ohne seinen Halt in einer zur vorgeblichen Reinheit gestauten Form zu finden. Darüber hinaus lässt Mauthners Schreibweise aus sprachanalytischer Perspektive aber nicht nur den Zusammenhang, sondern auch die logische Gliederung vermissen, wie Gabriel formuliert: Während Wittgensteins „Tractatus“ aus methodisch geordneten Aphorismen besteht, haben wir in der „Kritik der Sprache“ eine Reihung von thematisch zusammengestellten Bruchstücken […], „Einfällen“ oder „Aperçus“ vor uns, die zwar nicht beliebig ist, der aber doch die „aufsteigende“ methodische Abfolge fehlt, wie man an den am Rande des Textes mitgeführten Gliederungspunkten ersehen kann. […] Bei Mauthner gewinnt manchmal das Denken in „Aperçus“ so die Oberhand, daß auch Widersprüche nicht ausbleiben. (Gabriel 1995: 31)

Vor allem im Vorwort zur zweiten Ausgabe (1906) des Ersten Bandes reagiert Mauthner noch einmal auf Vorwürfe gegenüber der Schreibweise seiner Beiträge. Den Vorwurf, kein Fachmann zu sein, wehrt er mit der Geste eines Diskursbegründers ab, „daß aus dieser Arbeit mindestens zu den vielen anderen Disziplinen, in denen ich nicht Fachmann bin, eine neue Disziplin hinzugekommen ist. Kritik der Sprache.“ (Mauthner 1999/II. 1: XI) Dem zweiten Vorwurf des Unsystematischen aber begegnet er mit der Bemerkung: „Ein System also kann die Sprachkritik nicht sein, ihrem Wesen nach nicht. Nur der Vortrag meiner Gedanken hätte wohl – wie gesagt – ordentlicher werden könne, wenn ich über einen besseren Kopf verfügte als den meinen.“ (Mauthner 1999/II. 1: XV) Aus der Perspektive Mauthners auf seine eigene Schreibweise lässt sich eine kulturelle Problematik des Hybriden erkennen. Mauthners Schreibweise entfaltet in dieser Hinsicht eine dehierarchisierte Netzstruktur, die sich wie ein Rhizom entfaltet, statt dass sie einer argumentativen Stringenz, die zugleich eine Logik der Anordnung wäre, folgen würde. So haben Gilles Deleuze und Félix Guattari zur Heterogenität des Rhizoms bemerkt: […] ein Rhizom dagegen verbindet unaufhörlich semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kunst, Wissenschaften und gesellschaftlichen Kämpfen. Ein semiotisches Kettenglied gleicht einer Wurzelknolle, in der ganz unterschiedliche sprach-

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Mauthners Schreibweise folgt daher mehr der deterritorialisierenden Bewegung einer Sprache als einer begrifflichen Ordnung von Fachwissenschaften. In dieser Hinsicht wäre Mauthners Kritik der Sprache mehr eine Kritik durch Sprache, die durch ihre produktive Hybridität erst möglich gemacht wird. Mauthner selbst geht davon aus, dass der Gegenstand seiner Sprachforschung die Form und diese den Inhalt usw. seines Schreibens bestimmte. Im Abschnitt Meine individuelle Sprachentwicklung aus dem Kapitel Sprachrichtigkeit des Zweiten Bandes seiner Beiträge begründet Mauthner seine Schreibweise wieder autobiographisch und letztlich auch kulturell: Ich habe als Schriftsteller eine Zeitlang die Geschichte der deutschen Sprache studiert, und so weit Historie wirksam ist, war sie wirksam. Ich trieb als Vorstudium zu diesem Werke jahrelang Sprachwissenschaften; und während ich Stoff sammelte, mußte die Form notwendig von dem Inhalt selbst beeinflußt werden. Ja, während des Niederschreibens wuchs die Skepsis gegenüber der Sprache so sehr, dass die Form am Ende wohl wieder das Ergebnis beeinflußt hat und umgekehrt. (Mauthner 1999/II. 2: 168)

In der Praxis des Schreibens kann die Dissemination des Verstehens zwischen den radikal anderen Sprachen jedes Einzelnen besonders produktiv werden: Es geht diesem Buche also, wie es schließlich jedem einfachsten Satze der lebendigen Sprache geht: es gibt keine allgemeine Richtigkeit für beide, es gibt nur eine individuelle Richtigkeit, wie es nur Individualsprachen gibt. Und am letzten Ende aller Enden ist doch wieder diese Individualsprache selbst noch abhängig von anderen, weil alle Sprache etwas Gegenseitiges ist. (Mauthner 1999/II. 2: 169)

In dieser uneinholbaren Schleife von ‚Gegenseitigkeit‘ und produktiver Hybridität ist Mauthners Sprachkritik angesiedelt, die vom paradoxalen Un-Ort ihrer Sprache aus schreibt. Die Hierarchie der Ebenen und Systeme verflüchtigt sich in seiner sprachphilosophischen Schreibweise zu einer semiotischen Verkettung, die keine Ursprünglichkeit mehr begründen kann, sondern vielmehr wuchernde Aussagen bildet.

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Schlussbemerkung Seine sprachphilosophische Perspektive führt Fritz Mauthner auf die Erinnerungen an  einen sprachlichen und kulturellen Kontext zurück, für den Mischlagen durch Kontamination und Hybridisierung charakteristisch sind. In argumentativer Hinsicht entstehen dabei Ambivalenzen zwischen seiner politischen Haltung, seinem kulturellen Kontext und seinen Sprachbeobachtungen. In dieser Hinsicht ist die Schreibweise Mauthners selbst von einer Hybridität geprägt, die autobiographische, sprachphilosophische und kulturelle Versatzstücke miteinander verbindet. Vernetzt werden in Mauthners Beiträgen zu einer Kritik der Sprache sehr gegenläufige Positionen, die Paradoxien in ihrer Darstellung nicht umgehen. Mauthners sprachkritische Schreibweise verfolgt vielmehr eine Praxis hybrider Verflechtungen. Zum einen bleiben thematische und argumentative Spannungen unaufgelöst nebeneinander bestehen, zum anderen entfaltet sich ein heterogenes Netzwerk, das vielerlei kulturelle Zugänge ermöglicht, den Nachvollzug der Argumentation allerdings erschwert. Diese produktive Hybridität, die sich in die Struktur seiner Schreibweise einträgt, lässt sich als Praxis einer ‚kleinen Literatur‘ verstehen.

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Alice Stašková

Marginalien. Zu Fritz Mauthners Bezugnahmen auf  Hamann und Novalis Beim Folgenden handelt es sich um Marginalien im doppelten Sinne: Es geht um Marginalien zu Mauthners spezifischem Blick auf Sprache und Logik, und diese beziehen sich auf buchstäbliche Marginalien – Randbemerkungen und Anstreichungen in seinen Handexemplaren der Werke von Novalis sowie der Hamann-Monographie von Carl-Hermann Gildemeister. Nach einer methodischen Vorbemerkung sollen einige Anstreichungen ausgewertet werden, um dann Mauthners Gleichsetzung von Sprache und Denken innerhalb der Traditionen der Logik sowie in Absetzung von Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob zu reflektieren. Es geht, dies sei vorausgeschickt, um eine Präzisierung der These, dass sich Mauthner in die Tradition einer radikalen Logik-Kritik stellt.1 Mauthner ist in seiner Logik-Kritik sogar so konsequent, dass er nicht einmal die Option einer möglichen Erkenntnis aufgrund einer wie auch immer a-logischen Sprache, etwa derjenigen der Dichtung, gelten lässt.

1. Wozu Marginalien? Mauthner bezieht sich in seinem Wörterbuch der Philosophie relativ ausführlich auf Novalis und auf Hamann, wenn er die Geschichte der Verwendung des Begriffs ‚transzendental‘ darlegt und den Wortgebrauch seitens beider von ihm explizit als geliebt bezeichneten Autoren einer geradezu gereizten Kritik, die Züge einer Rüge besitzt, unterzieht.2 Mauthners Verhältnis zu Hamann

1  Zu Mauthners Sprachkritik, unter anderem im Zusammenhang mit seiner Auffassung der Abhängigkeit der Logik von der Sprache, vgl. (auch mit Blick auf die Traditionen der Logik und Logik-Kritik) Leinfellner (1992: insb. 504–505: 4.6. Sprachkritik der Philosophie und Logik). 2  „Hamann, der Ältervater der Romantik, und Novalis, ihr seelenvollster Dichtergeist“ werden sie von Mauthner (1910/2: 490) genannt.

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liegt auf der Hand und ist in der Forschung bereits erörtert worden.3 Wie Gottfried Gabriel (1995b) zeigt, schätzte Mauthner bei Hamann den – im Laufe des 18. Jahrhunderts außerhalb der Logik als philosophischer Disziplin in der Tat durchaus seltenen – analytischen Zugriff auf die Sprache im Kontext einer Kritik an der Systemphilosophie sowie am systematischen Denken und machte sich diese Analytik zu eigen. Im Sinne einer historisch verfahrenden und in diesem Fall zugegebenermaßen positivistischen Philologie sollen nun im Folgenden Mauthners Handexemplare zu den betreffenden Autoren in die Deutung einbezogen werden, um seine Position historisch zu präzisieren. Die gesichteten Anstreichungen befinden sich in der Ausgabe der Werke von Novalis, die Jakob Minor im Jahre 1907 herausgab, und im ersten Band der ersten großen Hamann-Monographie aus der Feder von Carl-Hermann Gildemeister, die 1857 erschien. Bei diesen Bänden handelt es sich um Teile derjenigen Restbestände von Fritz Mauthners Privatbibliothek, die sich im Glaserhäusle in Meersburg befinden.4 Novalis und Hamann (sowie auch Lessing und Goethe, deren Ausgaben ebenfalls größtenteils in Meersburg geblieben sind), gehören zu denjenigen Literaten, die mit Blick auf Mauthners Sprachphilosophie besonders wichtig sind. Die Bände sind jeweils mit dem schönen Mauthner’schen Exlibris versehen: Sie zeigen eine Art Zephir mit Krause, der eine Pusteblume zerbläst. (Abbildung 1)5 Eine eingehende Analyse von Anstreichungen und Marginalien von Autoren ist in der Literaturwissenschaft relativ verbreitet, und zwar im Wissen um den Wert der intertextuellen Perspektive bzw. gemäß der schon seit Jahrhunderten geläufigen Einsicht, dass Literatur (auch) aus Literatur entsteht. Dies betrifft auch Anstreichungen in philosophischen Texten seitens bestimmter Dichter oder Dichterphilosophen  – man denke an  Goethes oder Schillers Handexemplare von Kants Kritik der Urteilskraft. Im Bereich der Forschung zur Geschichte der Philosophie ist diese Perspektive bislang seltener, wiewohl durchaus präsent – davon zeugt insbesondere die italienische Nietzsche-For3  Vgl. insb. zu den Bezügen auf Hamann in den Beiträgen zu einer Kritik der Sprache: Vorwort, Kapitel „Hamann“ (Mauthner 1901–1902/1: 301–303), sowie auch zu den Mottos aus Hamanns Briefen an Jacobi zu Beginn des 1. und des 3. Bandes (Le Rider 2012: 263f.) 4  Ich bedanke mich sehr herzlich bei Hans und Gertrud Zender für die Möglichkeit, die Bände im Glaserhäusle in Meersburg zu sichten. 5  Diese Exlibris dürften auch manchen Benutzern der Bibliothek des Prager germanistischen Instituts vertraut sein; Mauthners kostbare Buchexemplare aus dem 18. Jahrhundert befinden sich dort, etwa diejenigen der Gedichte und Tagebücher von Albrecht von Haller, auf dessen Skepsis gegenüber der (sprachlichen Aspekte der) Gattungs- und Artensystematik von Carl Linné sich Mauthner bezieht (1901–1902/3: 523).

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Abb. 1: Fritz Mauthners Exlibris.

schung. Ich orientiere mich hier an der Monographie von Cornelia Ortlieb zu Friedrich Heinrich Jacobi und der mit diesem verbundenen „Philosophie als Schreibart“ (Ortlieb 2010). Auch bei Mauthner haben wir es, wie bei Jacobi, mit einem Autodidakten zu tun, der ebenfalls sowohl philosophische als auch dichterische Prosa geschrieben und veröffentlicht hat und der wegen seiner eigenwilligen Art zu philosophieren bei akademischen Vertretern der Disziplin als umstritten galt. Wie Ortlieb vor dem Hintergrund der neueren Schreibtheorien und der rezenten Schreibforschung ausführt, kann die Sichtung von Anstreichungen und Marginalien in Handexemplaren unter anderem dazu verhelfen, die Argumente der Autoren sowohl im Kontext der Überlieferung als auch im Rahmen der zeitgenössischen Konstellationen konstruktiv zu

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profilieren: sie sind „als Praktiken der Erschließung und Aneignung fremder Texte bereits Teil des Schreibvorgangs“ (Ortlieb 2010: 23). Dabei geht es allerdings nicht nur um Textsegmente, die angestrichen werden und somit auf eine affirmative oder kritische Rezeption hindeuten können, sondern es gilt auch zu beachten, was der lesende Autor, zumal wider Erwarten, eben nicht angestrichen hat. Bei Mauthner kommt noch ein dritter Fall hinzu, nämlich das Vorhandensein von Stellen, die er zwar bei der Lektüre markiert, in den eigenen Schriften dann aber nicht als von den gelesenen Autoren inspiriert ausweist.

2. Mauthners Marginalien An den Anstreichungen in Mauthners Novalis-Exemplaren sind drei Aspekte interessant, die den drei genannten Kategorien durchaus entsprechen. Erstens findet man einiges, was man erwartet. Zweitens wird manches, das man erwarten würde, nicht angestrichen. Dies verweist auf das Problem des hermeneutischen Horizonts; das heutige Novalis- sowie auch Romantik-Bild ist ein anderes als jenes zu Mauthners Zeiten, in denen die Romantik, ob nun in epochaler oder in typologisch-transepochaler Perspektive aus verschiedenen Gründen unter Verdacht stand.6 Zusammenfassend hierzu sei festgestellt, dass Mauthner offenbar an Novalis’ Reflexionen zur Eigenleistung des Dichterischen sowie zum Zusammenhang der Wissenschaften, der Philosophie und der Kunst weniger interessiert war (die diesbezüglich einschlägigen Teile seiner Ausgabe sind oft unaufgeschnitten geblieben). Drittens schließlich findet man Stellen angestrichen, die in Mauthners Schriften zwar wieder auftauchen, dort aber nicht explizit ausgewiesen werden oder zumindest zunächst kein Echo vernehmen lassen; ob sie nun affirmativ sind oder eine komplexe Deutung aus Mauthners Philosophie heraus erfordern, bleibe dahingestellt. Zur ersten Kategorie gehören die zahlreichen Anstreichungen an Stellen, die auf den Begriff „transzendental“ rekurrieren; sie stehen offensichtlich im Zusammenhang mit seiner Arbeit am Wörterbuch der Philosophie. Mehrere dieser Stellen zitiert er in dem bereits erwähnten Eintrag zum Begriff „Transzendental“, wo er Novalis’ Wortverwendung zum Teil mit „bewußt“ übersetzt 6  Zu der Auseinandersetzung mit der Epoche und dem Begriff der Romantik bzw. des Romantischen bei Hermann Broch vgl. Stašková (2014).

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Abb. 2: Novalis’ Schriften und Mauthners Bemerkung am Rande.

und auf Friedrich Schlegels Auffassung der „transzendentalen Poesie“ als einer – so Mauthner – „bewußten“ Produktivität bezieht. Entsprechend vermerkt er am Rande von Novalis’ 958. Notat, „Chemische und mechanische Psychologie. Transzendentale Poetik, praktische Poetik. Die Natur zeugt, der Geist macht. Il est beaucoup plus commode d’être fait que de se faire luimême“ (Novalis 1907/3: 342) das Wort „bewusst“. (Abbildung 2) Zur dritten Kategorie:7 Ein ins Exemplar eingelegter Handzettel (Abbildung 3) listet die Begriffe auf, die Mauthner im Buch wohl als interessant empfand: sichtbare, Religion, Apperzeptio, Worttechnik, Schönheitslehre, ferner die Ausdifferenzierung von Schönheit und Güte, Schönheit und Wahrheit sowie Schönheit und Moral. Bei Novalis handelt es sich jeweils um No-

7  Die zweite Kategorie – das wider Erwarten nicht Angestrichene – näher zu untersuchen wäre angesichts des partiellen Charakters des hier untersuchten Korpus’ an  Mauthners Marginalien nur spekulativ.

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Abb. 3: Mauthners Notizen zu seiner Novalis-Lektüre.

minaldefinitionen; so benutzt Novalis etwa den Begriff „Schönheitslehre“ statt Ästhetik (Novalis 1907/3: 339). Darüber hinaus finden sich noch zahlreiche Anstreichungen zum Themenkomplex der Dialektik von Stoff und Form; diese Markierungen lassen eine Inspiration nachverfolgen, zu der sich der Autor in seinen eigenen Schriften allerdings nicht explizit bekennt. In der Tat weisen Mauthners lange Ausführungen zur Wort- und Begriffsgeschichte des Ausdrucks „Stoff“ eine Nähe zu Novalis’ Reflexionen auf, ohne dass Novalis oder sein Kontext (es handelt sich vor allem um die Fichte-Studien) erwähnt werden. Die Ausführungen zum Begriffspaar „Subjekt und Objekt“ (bzw. „subjektiv und objektiv“), die Mauthner zu den als Argumente eingesetzten Beispielen in der Schrift Die Sprache (Mauthner 1906: 66f.) unter Bezugnahme auf die Beiträge präsentiert, radikalisiert er im Wörterbuch der Philosophie gerade unter dem Lemma „Stoff“: Das „Subjekt“ – als Hypokeimenon (Mauthner 1906: 67) – sei eigentlich das

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Objektive et vice versa. Mauthners Plädoyer, den Wortgebrauch der von ihm dargelegten Wort- und Begriffsgeschichte entsprechend anzupassen, findet in den Ausformulierungen von Novalis, wie mir scheint, eine Bestärkung (Novalis 1907/3: 137–141). Das für Novalis – in der Nachfolge von und in der Reflexion auf Fichte – wichtige Umdefinieren von Begriffen sowie deren wechselseitige Durchdringungen orientieren sich allerdings an  einer transzendentalen Reflexion der Sprache  – und dies widerspricht dem Vorschlag von Mauthner. Ähnliche Beobachtungen lassen sich mit Blick auf das Begriffspaar Schein und Sein anstellen.8 Insgesamt kann man behaupten, dass die Vereinnahmung der Sprache durch die Philosophie, die bei Mauthner auf eine Gleichsetzung von Sprache und Logik (in der Reduktion beider auf deren Konkretion) hinausläuft, gerade in Novalis wenn nicht ihre Quelle, so zumindest eine Bestätigung findet.9 Dies soll hier allerdings nicht weiter ausgeführt werden. Im Folgenden geht es stattdessen darum, die Ergebnisse der Marginalien-Sichtung in einem historischen Zusammenhang zu verorten und somit Mauthners Auffassung des Verhältnisses von Sprache und Denken bzw. von sprachlichem Ausdruck einerseits und Logik als Denkmethodik andererseits aus dieser Perspektive zu beleuchten.

3. Die Radikalität von Mauthners Position zum Verhältnis von Sprache und Denken Drei Nebengedanken  – Marginalien zu Marginalien  – sollen auf die Überlegungen zu Mauthners Position vorbereiten. Betont sei zunächst, dass sich seine Anstreichungen in der epochalen Hamann-Monographie von Carl-Hermann Gildemeister fast ausschließlich auf Hamanns briefliche Äußerungen 8  Entsprechend streicht Mauthner bei Novalis etwa an: „Schein und Wahrheit zusammen machen nur eine eigentliche Realität aus.“ Oder „Realität erkennt die Realität nur durch Beziehung, Form, Schein – Negation. (Die Form des Seins ist Nichtsein, die Form des Nichtseins: Sein.).“ (Novalis 1907/3: 148) 9  Interessanterweise zitierte Robert Saudek in einer Notiz an Mauthner vom 9.11.1904 (im Fond Mauthner des Leo-Baeck-Instituts befindlich) die, so Saudek, „sprachkritische Stelle: ,Es gibt keine Philosophie in concreto. Jede Wissenschaft ist mir eine Variation der Philosophie.‘“ (Die beiden Sätze stammen allerdings von verschiedenen Stellen bei Novalis.) Für den Hinweis bedanke ich mich herzlich bei Michal Topor.

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gegenüber Jacobi beziehen. Diese konzentrieren sich darauf, den Primat der Sprache vor dem Denken auszuweisen, wie etwa die bekannte Stelle aus dem Brief Hamanns an Jacobi vom 23.10.1785: „Bei mir ist weder von Physik noch Theologie die Rede, sondern Sprache, die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr A und O. Sie ist das zweischneidige Schwert für alle Wahrheiten und Lügen.“ (Gildemeister 1857: 278) Es überrascht nicht, dass sich Mauthner auf Hamanns (bzw. Gildemeisters) Ausführungen zu Wortbedeutungen (Gildemeister 1857: 279) konzentriert. Den zweiten zu beachtenden Punkt bilden Anstreichungen in Novalis’ Schrift Die Christenheit oder Europa dort, wo dieser die Schädlichkeit der Kultur für die Entwicklung der Humanität beteuert, also auf einen Topos der Kulturkritik rekurriert. Der Beginn der Schrift wird gar mit einem ,Ja‘ bekräftigt.10 Drittens verdient das auf den ersten Blick etwas überraschende Zitat im dritten, dem Verhältnis von Logik und Sprache gewidmeten, Teil seiner Beiträge zur Kritik der Sprache Aufmerksamkeit. Beim Thema „Skepsis und Mystik“, bei dem er zu vermeiden sucht, dass sein Sprachskeptizismus zugunsten eines kirchlichen Dogmatismus auf welchem Wege auch immer instrumentalisiert werde, beruft sich Mauthner auf „den alten Huet“, der den „ethischen Skeptizismus“ mit „einem prächtigen Worte abgethan“ (Mauthner 1901–1902/3: 627) habe. In der heutigen Literaturwissenschaft ist Pierre Daniel Huet als Autor einer ersten Abhandlung über die Romangattung (Traité de l’origine des romans von 1670) bekannt. Im 18. Jahrhundert jedoch zählt sein posthum im Jahre 1723 erschienener Traité philosophique de la faiblesse de l’esprit humain zu den zentralen kritischen Reflexionen über das menschliche Vermögen, Wahrheit zu erkennen. Huet präsentiert hier, argumentativ bestechend und durch polemische Kraft und auch Streitlust ergötzend (darin durchaus ein Wesensverwandter Mauthners), eine Kritik an der menschlichen Vernunft in Absetzung von Descartes. In gewisser Hinsicht handelt es sich hierbei um eine Art ‚Kritik der reinen Vernunft‘ avant la lettre, die darauf verzichtet, auf das Refugium des Glaubens zu verweisen. Die rationalistische Philosophie der Aufklärung hat sich, wie der Blick in bedeutende Logiken der Zeit bestätigt, mit Huets Kritik eingehend auseinandergesetzt. Es ist, wie Huet schreibt und Mauthner abgekürzt zitiert, „Autre chose […] de vivre, autre chose de Philosopher. Lorsqu’il s’agit de conduire sa vie, de s’acquitter de ses devoirs, nous cessons d’être Phi10  „Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs.“ (Novalis 1907/2: 23)

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losophes, d’être contrarians, douteux, incertains; nous devenons idiots, simples, credules; nous appellons les choses par leurs noms […].“ (Huet 1723: 424) Mauthner zitiert aus Huets Schrift eine passende Stelle am passenden Ort; er bricht das Zitat jedoch an einer wichtigen Stelle ab. Die betreffende Passage bei Huet mündet nämlich in eine Ausführung darüber, dass sich wissenschaftliche Erkenntnisse wechselseitig relativieren, so dass sie sich weiterhin als Hypothesen und/oder als bloße Annahmen erweisen. Wichtig ist, dass Huet nicht das Wissen als solches und mithin die Möglichkeit der Erkenntnis generell infrage stellt.11 Vielmehr ist dieser Passus eine Kampfansage gegenüber jedem, der einen Anspruch auf alleinigen Besitz der Wahrheit behauptet. Somit wird die Bedeutung von Hypothesenbildungen eher gestärkt als angezweifelt. Ein Seitenblick auf Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob erlaubt es, aus dem dargelegten Rückgriff Mauthners auf Novalis sowie aus seinen affirmativen Adressierungen Hamanns und Huets eine Schlussfolgerung zu ziehen. Die philologischen Teilbefunde bestätigen die Radikalität von Mauthners Sprachkritik, die der Sprache jegliche kognitive Funktion abspricht. Auch konzediert er diese Funktion nicht der unscharfen Sprache der Poesie, wie dies Alexander Gottlieb Baumgarten und seine Nachfolge tut, dessen Erwähnung bei Novalis sich Mauthner im Kontext seiner Lektüre, wie sein Handzettel bezeugt, notiert. (Abbildung 3) Zwar unterscheidet Mauthner, wie in der Forschung dargelegt wurde, nicht zwischen verschiedenen Ebenen und Perspektiven von Sprachkritik und Erkenntniskritik (Gabriel 2005b). Wenn er die Sprache einer erkenntnistheoretischen Analyse unterzieht, dann befindet er sich jedoch in einer bestimmten Tradition, die es bei der Auseinandersetzung mit seinen Schriften zu beachten gilt. Seine Kritik an der Logik im dritten Teil der Beiträge12 erweist sich im Rahmen dieser Tradition als durchaus konsequent. Wie der Hinweis auf Hamann nahelegt, geht Mauthner vom zeitlichen Primat der Sprache vor dem Denken aus. Die Logik jedoch, an der er sich abarbeitet, also die Logik seit Leibniz, die über Christian Wolff bis hin zu Kant reicht, geht vom Primat des Denkens vor der Sprache aus. So sehr die Sprache auf das Denken auch zurückwirke, sie bleibe eine Anwendung des Denkens, dessen Gesetze in der Logik vermittelt werden (Petrus 1997). Die Sprache bleibt als usus vocum das dem Gebot der communicabilitas gehorchende Denken. 11  Es handelt sich um die Astronomie und den Streit zwischen Kopernikus und Tycho de Brahe. (Huet 1723: 423f.) 12  Vgl. den Überblick von Mauthners Argumentation bei Leinfellner (1992: 504f.).

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Abb. 4: Mauthners Bibliothek in Meersburg (© Leo Baeck Institute).

Die Untersuchung der Sprache von Hans Vaihinger (unter anderem auch in Bezug auf Kant in seinen Kant-Kommentaren) zielt darauf, einen Mangel an Evidenz in der phänomenalen Welt sowie in der Sprache zu konzedieren, ohne das kognitive Leistungspotential der Sprache aufzugeben. Die Bedeutung eines irrealen Komparativsatzes (des ‚als ob‘), besteht in Vaihingers Philosophie, die insbesondere in den 1920er Jahren durchaus einflussreich war, darin, dass zunächst eine irreale Bedingung angenommen, also eine Fiktion konstruiert werde. Der Sinn einer solchen Konstruktion liege aber darin, dass die Erkenntnis, die aufgrund der Annahme dieser irrealen Bedingung gewon-

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nen werde, trotz des fiktionalen Charakters dieser Bedingung in der Realität zutrifft (Vaihinger 1911).13 Dass Mauthner vom Primat der Sprache vor dem Denken ausgeht, muss nicht unbedingt eine Erkenntnisskepsis bedeuten. Zwar garantiert das Primat des Denkens vor der Sprache eine Art erkenntnistheoretischen Optimismus – zumal im Rahmen der entsprechenden, verkürzt gesagt wolffianischen Tradition im 18. Jahrhundert. Dennoch weist auch die andere Perspektive – etwa diejenige Hamanns – durchaus Zuversicht gegenüber der Möglichkeit einer Wahrheitserkenntnis auf. Bei Hamann ist diese Zuversicht durch die Offenbarung fundiert. Bei denjenigen Logikern, die das Primat des Denkens vor der Sprache aufgaben, ohne auf die Logik als Disziplin zu verzichten – und zu diesen zählt Huet genauso wie Vaihinger – bedeutet die Sprachkritik nicht zugleich Erkenntniskritik. Die Lösung des Problems, die Mauthner, da er mit dem Primat des Denkens vor der Sprache zugleich auch die Möglichkeit der Logik als Sprachanalyse verwirft, nicht aufgreift, besteht in dem von der einstigen Logik (sowie von Vaihingers Philosophie des Als Ob) beteuerten kognitiven Potential der Fiktion (heute würde man vielleicht von einer Art radikalem Konstruktivismus sprechen). Die Philosophie des Als Ob von Vaihinger geht davon aus, dass die als irreal angenommenen Bedingungen im Nachhinein durch die Praxis bestätigt werden können. Die Fiktionen ermöglichen gerade in ihrer als solcher erkannten und zugegebenen Fiktionalität die Aufdeckung und Bergung zum Beispiel von physikalischen oder auch moralischen Ge­ setzen.14 Mauthner leugnete die Referentialität, oder lebensweltlich formuliert: den Weltbezug des sprachlichen Zeichens. Darüber hinaus – und durchaus konsequent – wollte er die epistemische Leistung des irrealen Konditionalsatzes als Hypothesenbildung nicht akzeptieren. Huet, auf den er sich bezieht, tut jedoch gerade dies (ähnlich wie später Vaihinger): das Paradoxe an der Sprache sei, dass sie gerade auf dem Wege irrealer Konditionalsätze Hypothesen formulieren kann, die empirische Experimente denkbar machen. Mauthner erweist sich hier als ein besonders konsequenter Vollender der radikalen Aufklärung. In diesem Sinne müsste die radikale Aufklärung in jenem Freitod der Sprache münden, auf den er sich in dem Selbstzitat am Ende der Abhandlung Die Sprache bezieht: „Das wäre freilich die erlösende Tat, wenn Kritik geübt 13  Es sei an dieser Stelle auch auf die bekannte Unterstützung Mauthners seitens Vaihingers hingewiesen. 14  Wie Vaihinger mit Blick auf Newton bzw. Kant exemplifiziert (mit Blick auf die von Kant als irrealis formulierte Annahme, man philosophiere, als ob es Wesen geben würde, die mit einem freien Willen begabt wären).

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werden könnte mit dem ruhig verzweifelnden Freitode des Denkens oder Sprechens, wenn Kritik nicht geübt werden müßte mit scheinlebendigen Worten.“ (Mauthner 1906: 120; vgl. Mauthner 1901–1902, 3: 650)

Literatur Gabriel, Gottfried (1995a): Philosophie und Poesie. Kritische Bemerkungen zu Fritz Mauthners „Dekonstruktion“ des Erkenntnisbegriffs. – In: Leinfellner, Elisabeth/ Schleichert, Hubert (Hgg.), Fritz Mauthner: Das Werk eines kritischen Denkers. Wien et al.: Böhlau, 27–41. Gabriel, Gottfried (1995b): Mauthner, Fritz.  – In: Mittelstraß, Jürgen (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2. Stuttgart, Weimar: Metzler, 814–815. Gildemeister, Carl-Hermann (1857): Johann Georg Hamann’s, des Magus in Norden, Leben und Schriften. Bd. 1. Gotha: Perthes. Huet, Pierre Daniel (1723): Traité philosophique de la faiblesse de l’esprit humain. Amsterdam: Henri du Sauzet (Reprint: Hildesheim, New York: Olms, 1974). Leinfellner, Elisabeth (1992): Fritz Mauthner (1849–1923).  – In: Dascal, Marcelo u. a. (Hgg.), Handbuch der Sprachphilosophie, Bd. 1. Berlin, New York: de Gruyter (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft/Handbooks of Linguistics and Communication Science (HSK) 7/1), 495–509. Le Rider, Jacques (2012): Fritz Mauthner. Scepticisme linguistique et modernité. Une biographie intellectuelle. Paris: Bartillat. Mauthner, Fritz (1901/2): Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3 Bde. Stuttgart, Berlin: Cotta. Mauthner, Fritz (1906): Die Sprache (= Die Gesellschaft; Bd. 9). Frankfurt/M.: Rütten & Loening. Mauthner, Fritz (1910/11): Wörterbuch der Philosophie. 2 Bde. München, Leipzig: Müller. Novalis (1907): Schriften. Hrsg. v. Jacob Minor, 4 Bde. Jena: Eugen Diederichs. Ortlieb, Cornelia (2010): Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München: Fink. Petrus, Klaus (1997): Genese und Analyse. Logik, Rhetorik und Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin, New York: de Gruyter. Stašková, Alice (2014): Zu Hermann Brochs Begriff der Romantik im Kontext seiner Zeit. – In: Wohlleben, Doreen/Lützeler, Paul Michael (Hgg.), Hermann Broch und die Romantik. Berlin, Boston: de Gruyter, 35–51. Vaihinger, Hans (1911): Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus; mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Berlin: Reuther & Reichard.

Thomas Hainscho

Eine Übersetzung wohin? Zur Bedeutung der Metapher in Fritz Mauthners Sprachkritik In diesem Beitrag werden sprachwissenschaftliche Überlegungen zur Metapher dem Metaphernverständnis von Fritz Mauthner gegenübergestellt. Abschnitt 1 und 2 geben einen Einblick in sprachwissenschaftliche Deutungen und Metapherntheorien. In Abschnitt 3 wird Mauthners Erklärung der Metapher vorgestellt und gezeigt, dass sie über sprachwissenschaftliche Deutungen hinausgeht. Zudem wird auf die mögliche Rolle der Metapher im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit eingegangen.

1. Sprachwissenschaftliche Ansätze zur Deutung der Metapher Herkömmlich wird als Metapher die „Übertragung eines Wortes in eine uneigentl[iche] Bedeutung“ (Vollers-Sauer 2010: 424) verstanden, gemäß der etymologischen Wurzel in gr. μεταφορά, dt. Übertragung. Die in sprachwissenschaftlichen Nachschlagewerken gegebenen Erklärungen zur Metapher lassen allerdings Fragen offen. Im Routledge Dictionary of linguistics werden Metaphern wie folgt erklärt: „Metaphor is thinking of one thing (A) as though it were another thing (B), and results linguistically in applying an item of vocabulary or larger stretch of text in an unconventional way“ (Goatly 2010: 361). In der Encyclopedia of language and linguistics von R. E. Asher werden Metaphern beschrieben als „a trope in which one thing is spoken of as if it were some other thing“ (Steinhard/Kittay 1994: 2452). Im Lexikon der Sprachwissenschaft ist zu lesen: „M. sind sprachliche Bilder, die auf einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen zwei Gegenständen bzw. Begriffen beruhen, d. h. auf Grund gleicher Bedeutungsmerkmale findet eine Bezeichnungsübertragung statt“ (Bußmann 2008: 434). Diese Passagen werfen Fragen auf: Was ist eine uneigentliche Bedeutung? Wie ist ,an unconventional way‘ zu verstehen? Was bedeutet ,spoken of as if‘? Versucht man die allgemeinen Eigenschaften von Metaphern aus verschiede-

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nen Erklärungsansätzen zusammenzufassen, ergibt sich folgendes Verständnis: Eine Metapher überträgt Bedeutungen von einem semantischen Bereich A auf einen Begriff aus dem von A verschiedenen, semantischen Bereich B. Mit dem Begriff des semantischen Bereichs möchte ich eine Menge von zusammenhängenden Begriffen bezeichnen, die mindestens ein Bedeutungsmerkmal gemeinsam haben. Verschiedene Theorien aus verschiedenen Disziplinen liefern Ansätze dafür, welche Merkmale von Bedeutung für diese Mengenbildung in Frage kommen können. George Lakoff (1977: 12–57) gibt einen Überblick über solche Theorien und erwähnt unter anderem Ansätze aus der Philosophie (Ludwig Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit), der Anthropologie (Floyd Lounsburys Arbeiten zu Verwandtschaftsbeziehungen) sowie der Kognitionswissenschaft und kognitiven Linguistik (Eleanor Roschs Prototypensemantik und verschiedene kognitive Modelltheorien). Es gibt nach dem verschiedene Erklärungen zusammenfassenden Deutungsversuch zwei kennzeichnende Eigenschaften von Metaphern. Erstens ist kennzeichnend, dass die wörtliche Interpretation einer Metapher in einem Satz einen semantischen Fehler erzeugt. Durch die Charakterisierung von Bereich B als verschieden von Bereich A wird die Metapher von anderen Tropen abgegrenzt, die ebenfalls nicht ohne semantische Fehler wörtlich interpretiert werden können, etwa der Metonymie, wie folgende Sätze zeigen: (1) Sie trinkt ein Glas. (2) Ich lese Kafka. (3) Frankreich gewinnt die Fußballweltmeisterschaft. In allen drei Beispielen ist klar, dass eine wörtliche Interpretation unangebracht ist: nicht das Glas, sondern der Inhalt des Glases wird getrunken; nicht Kafka, sondern ein Text von Kafka wird gelesen etc. In diesen MetonymieBeispielen ist zu sehen, dass eine semantische Verbindung zwischen Glas und Inhalt (etwa eine räumliche Beziehung) besteht sowie zwischen Kafka und Text (etwa die Beziehung zwischen Produzent und Produkt). Bei Beispiel (3) handelt es sich um einen Sonderfall der Metonymie, der Synekdoche, bei der eine Teil-Ganzes-Beziehung ausgedrückt wird: Frankreich steht für die französische Fußballnationalmannschaft. Alle Beispiele können auch als Ellipsen erklärt werden: so kann im ersten Beispiel ,Glas‘ als die verkürzte Bezeichnung für ,ein Glas Wasser‘ stehen etc. Diese Abgrenzung ist wichtig, um zu zeigen, dass die Bestimmung von Metaphern über syntaktische Kategorien hinausgeht. Nur durch Syntaxanalyse können Metaphern nicht verstanden werden, die nähere Bestimmung benötigt ein Modell von sprachlicher Bedeutung. Beispiele für Metaphern sind etwa:

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(4) Das Herz ist ein geräumiger Friedhof. (Heiner Müller) (5) Kunst ist der Puma der Armut. (Georg Timber-Trattnig) (6) Es lächelt der See. (Friedrich Schiller) Auch in diesen Beispielen können die Sätze nicht wörtlich verstanden werden. Die semantischen Bereiche von (4) Herz und Friedhof, (5) Puma und Armut sowie (6) See und lächeln stehen, anders als bei den Beispielen (1–3), nicht miteinander in Beziehung. Diesem Umstand stimmt man intuitiv zu, ohne dabei auf eine exakte Analyse jener Beziehung oder des Begriffs semantischer Bereich zurückzugreifen. Auch wenn die verschiedenen Bereiche nicht miteinander in Zusammenhang stehen, lassen sich die Begriffe in den Sätzen nicht beliebig austauschen. Ein Satz wie etwa (7) ist nicht verständlich: (7) Das Herz ist ein geräumiger Puma. Die Frage, ob es sich bei diesem Satz um das Beispiel für eine missglückte Metapher handelt oder einen semantischen Fehler, ist nicht einfach zu beantworten. Ein mögliches Entscheidungskriterium ist die Nachvollziehbarkeit eines weiteren Aspekts von Metaphern und ihrer zweiten kennzeichnenden Eigenschaft, dem Tertium comparationis. Tertium comparationis ist die Bezeichnung für den Bezug, den zwei Elemente in einem Vergleich aufeinander haben (Schenk/Krause 2001: 677). Im Zusammenhang mit Metaphern, kann man das Tertium comparationis als semantisches Merkmal verstehen, das sowohl für den Begriff des Bereichs A zutrifft als auch für den Begriff des Bereichs B.  Im Beispielsatz (4) wird das Herz zuerst metonymisch als Zentrum der Gefühle und Empfindungen gebraucht. Die Metapher besteht in der Gleichsetzung des Herzens mit einem geräumigen Friedhof. Das Empfindungsvermögen wird dadurch räumlich ausgedrückt und als geräumig charakterisiert. Das Tertium comparationis kann sich so auf eine Gemeinsamkeit zwischen leidvollen Erfahrungen auf dem Friedhof  – Trauer, Abschiede, Erinnerungen – und dem persönlichen Empfindungsvermögens, bei dem – durch die Übertragung – vor allem Leid zum Ausdruck kommt, beziehen. Satz (4) sagt somit: Man trägt im Herzen viel Leid mit sich. Misst man dem ‚geräumig‘ größere Bedeutung bei, bezieht sich das Tertium comparationis auf die Gemeinsamkeit zwischen dem Friedhof, der als geräumiger Friedhof viel Platz bietet, und dem persönlichen Empfindungsvermögen, das – durch die Übertragung von ‚geräumig‘ – als gut ausgestattet verstanden wird. Der Satz ist somit eine Paraphrase von: Man erfährt viel Leid im Leben und kann es ertragen. Trotz des einleitenden Hinweises, dass sich der semantische Bereich, dem der Begriff Herz angehört, von jenem Bereich, dem der Begriff Friedhof angehört, unterscheidet, wird durch die Metapher ein Bezug hergestellt. Die-

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ser Bezug wird durch die Übertragung von Bedeutung des einen Bereichs auf den anderen vollzogen, er ist aber nur in diesem metaphorischen Ausdruck nachvollziehbar, nicht allgemein. Lässt sich dieser Bezug nicht – oder nur über konfuse Abwege  – herstellen, wie in Beispiel (7), so scheitert die Metapher. Wie bei anderen rhetorischen Stilfiguren, etwa der Ironie, braucht es linguistische Kompetenz, um eine Metapher zu verstehen und sie richtig anzuwenden.

2. Metapherntheorien Auch der entwickelte Deutungsversuch lässt Fragen offen. Müller-Richter und Larcati (1996:  19–20) schreiben, dass die Unabgeschlossenheit ihrer Erklärung auch ein Charakteristikum der Metapher sein kann. Die Metapher stellt eine Ausnahme von den „semantischen Gebrauchsregeln“ (Müller-Richter/ Larcati 1996: 19) dar. Sie zu erklären, würde bedeuten, eine Regel für den Verstoß gegen Regeln aufzustellen. Dennoch entstanden verschiedene Theorien über Metaphern. Mark Johnson (1987: 67–72) fasst in seinem Buch The body in the mind mehrere Theorien über die Funktion von Metaphern zu drei Arten von ,Standard Theories of Metaphor‘ zusammen. Diese drei Arten umfassen Theorien, die historisch zwar aufeinanderfolgend entstanden sind, einander aber nicht abgelöst haben: (1) literal-core theories, (2) metaphorical proposition theories und (3) non-propositional theories. (1) Gemäß Literal-core-Theorien sind Metaphern rhetorische Ableitungen eines wörtlichen, propositionalen Ausdrucks, auf den sie zurückgeführt werden können. Der Kern jeder Metapher ist ein Verhältnis zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung. Eine Metapher zu erklären, bedeutet, dieses Verhältnis aufzudecken und somit darauf hinzuweisen, was der metaphorisch ausgedrückte, wörtliche Gehalt sei. Diese Theorien gehen auf die klassische Bestimmung der Metapher in der Poetik von Aristoteles (I, Kap. 21, 1457b6–9) zurück, der darin vier verschiedene Bildungsarten von Metaphern unterscheidet, die wiederum zu zwei verschiedenen Ansätzen zusammengefasst werden können: dem Ersetzen eines Ausdrucks durch einen andern (Übertragung der Gattung (γένος) auf die Art (ειδος), Übertragung der Art auf die Gattung, Übertragung einer Art auf eine andere Art) und der impliziten Analogie (αναλογία). In der Rhetorik (III, Kap. 10, 1410b36–1411a4) weist Aristoteles darauf hin, dass Metaphern nach Analogiebildung „den meisten

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Beifall“ (Aristoteles 1980: 191) finden und jene Bildungsart am häufigsten vertreten sei. Metaphern nach Analogiebildung können auch als elliptische Vergleiche verstanden werden, das heißt, metaphorische Ausdrücke der Form ,A  ist B‘  – zum Beispiel ,Zeit ist Geld‘  – können durch Ergänzung eines ,wie‘ erklärt werden: ‚A ist wie B‘, zum Beispiel: ,Zeit ist wie Geld‘, weil sie ebenso kostbar ist, gezählt werden kann, gespart, verschwendet etc. (Johnson 1987: 67–68). Vertritt man diesen theoretischen Ansatz, so folgt daraus häufig eine negative Haltung zum Gebrauch von Metaphern. Demnach seien Metaphern lediglich „decorative use of language“ (Steinhart/Kittay 1994: 2453) und sie werden dann gebraucht, wenn jemand entweder nicht dazu in der Lage ist, einen wörtlichen Ausdruck zu finden, oder aus rhetorischen Gründen darauf verzichtet. (2) Metaphorical-proposition-Theorien räumen Metaphern eine wichtigere Rolle ein als Literal-core-Theorien. Metaphern gelten nicht als Ableitungen wörtlicher Bedeutung, sondern als kreative Neuschöpfungen mit einer eigenen, neuen Bedeutung (Johnson 1987: 68–71). Diese Theorien gehen auf die Rhetorik von Cicero zurück, der in seiner Topik gr. μεταφορά mit lat. translatio übersetzt und schreibt, Metaphern werden von Rednern und Dichtern „mit einer bestimmten Eleganz [definiert]“ (Cicero 1983: 23). Durch die Metapher entferne man sich zwar „von den eigenen und eigentümlichen Wörtern der Dinge“ (Cicero 1983: 23), könne aber Äußerungen artikulieren, wenn Ausdrucksmöglichkeiten fehlen. Steinhart und Kittay fassen Ciceros Position wie folgt zusammen: „as a language matures and acquires an enhanced vocabulary, metaphor enriches a language by providing its speakers with more dignified and delightful ways of expressing themselves“ (Steinhart/Kittay 1994: 2453). Diese Theorien eigenen sich somit dafür, die Herkunft lexikalisierter Metaphern – den auch als ‚tote Metapher‘ bezeichneten Ausdrücken – zu erklären (etwa Fingerhut, Handschuh, Glühbirne etc.). Insofern tragen Metaphoricalproposition-Theorien auch dazu bei, zu erklären, wie neue Konzepte in einer Sprache entstehen: Indem bestehende Begriffe erweitert, in anderen Kontexten oder in neuen Verbindungen gebraucht werden. (3) Zur letzten Gruppe von Theorien, die Metaphern erklären, gehören jene Ansätze, die sich an Donald Davidsons Aufsatz What Metaphors Mean aus dem Jahr 1978 anschließen. Davidson vertritt darin die These, dass Metaphern weder als rhetorische Ableitungen eines wörtlichen Ausdrucks zu erklären, noch Träger einer besonderen metaphorischen Bedeutung seien. Die Bedeutung metaphorischer Ausdrücke unterscheide sich nicht von deren wörtlicher Bedeutung. Das Besondere an metaphorischen Ausdrücken

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sei nicht deren Bedeutung, sondern deren Gebrauch: Mit Metaphern wird ein bestimmter Zweck verfolgt – so, wie auch Lügen, Versprechen, das Äußern von Kritik oder Hinweisen einen bestimmten Zweck haben, aber keine Bedeutung mit besonderem Status besitzen (Davidson 1978: 43). Auf den Zweckgebrauch der Metapher geht Davidson nicht näher ein; er weist darauf hin, dass Metaphern als sprachliche Äußerungen nichts Spezielles bedeuten (mean), wohl aber etwas zu verstehen geben (intimate).

3. Die Metapher in Fritz Mauthners Sprachphilosophie Ich möchte im Folgenden zeigen, dass Fritz Mauthners Verständnis von Metapher zu keiner der drei Theorien passt und er ein eigenes Konzept vertritt. Mauthner widmet der Metapher das neunte Kapitel mit rund hundert Seiten in Zur Sprachgeschichte, dem zweiten Band der Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Allerdings eignet sich allein dieses Kapitel nicht dazu, um die Rolle der Metapher in seiner Philosophie zu klären. Es geht in diesem Kapitel vor allem um die These, dass die Entwicklung von Sprache mit dem Metaphorischen zusammenhängt, weil sich vermeintlich konkrete Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke auf übertragene Bedeutungen zurückführen lassen, was mit Wortgeschichten und Exkursen zur Philosophiegeschichte verdeutlicht wird. Dabei trifft zu, was Gershon Weiler 1970 in seiner Monographie Mauthner’s Critique of Language über Mauthners Gebrauch von Metaphern geschrieben hat, nämlich dass bei ihm viele Wörter als Metaphern bezeichnet werden, die sonst nicht als Metaphern gelten würden (Weiler 2009: 159f.) – etwa: ‚werden‘ (Mauthner 1999b: 493–494), ‚Tochter‘ (Mauthner 1999b: 498), ‚Zahn‘ (Mauthner 1999b: 486f.) etc. Die Ausführungen, auf die ich im Folgenden zurückgreifen werde, findet man auch im erwähnten Metaphern-Kapitel, aber vor allem im ersten Band der Beiträge zu einer Kritik der Sprache, in den Büchern Wesen der Sprache sowie Zur Psychologie. Ich möchte auf diese Passagen zurückgreifen, weil eines der zentralen Anliegen von Mauthners Philosophie  – zeigen, dass mithilfe von Sprache keine Erkenntnis möglich ist – besonders vom Begriff der Metapher abhängt und sich die Ausführungen dazu an anderen Stellen in seinem Werk finden.

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3.1. Kritik am Tertium comparationis Gemäß den Prinzipien eines auf die Spitze getriebenen Empirismus, der dem Grundsatz ,nihil in intellectu nisi prius in sensu‘ folgt, vertritt Mauthner die Ansicht, dass alles, was wir gedanklich oder sprachlich ausdrücken möchten, fundamental sinnespsychologisch erfahrbar ist. Diese Überlegung ist durch Mauthner nicht neu formuliert, bei ihm aber stärker betont als bei anderen DenkerInnen. So liegt auch die Voraussetzung für seinen Begriff der Metapher nicht in sprachlicher Semantik, sondern in der Psychologie, deren Grundlage durch Sinnesempfindungen formiert ist. Er schreibt, der Begriff der Metapher sei „im Grunde nichts anderes […] als ein herkömmlicher, aus den Rhetorenschulen auf uns gekommener, unerträglich pedantischer Ausdruck für das Wesentliche in unserem Seelenleben, für das, wofür wir den neueren Ausdruck Gedankenassoziation haben“ (Mauthner 1999b:  456). Gedankenassoziation bezeichnet den Vorgang, bei dem ein Gedanke assoziativ auf einen anderen folgt. Beispiele, die in den Beiträgen dafür gefunden werden können, sind etwa Mauthners Gedanke an sein Vaterhaus beim Anblick eines Bergwaldes oder die Erinnerung an eine bestimmte schöne Frau beim Geruch von Nelken (Mauthner 1999a: 484). Genauere Ausführungen zum Assoziationsvorgang findet man im ersten Band der Beiträge im Abschnitt Ideenassoziation (diese andere Bezeichnung ist keine konzeptuelle, sondern eine terminologische Inkonsistenz). Dort schreibt Mauthner, dass „eine Vorstellung immer durch eine andere hervorgerufen wird, und wie diese sogenannten Ideenassoziationen bald auf die Ähnlichkeit der Vorstellungen, bald auf den äußeren Zusammenhang in Raum und Zeit zurückzuführen seien“ (Mauthner 1999a: 430f.). Die genauere Untersuchung der Assoziationen wäre Aufgabe der Psychologie und würde die Gedankenassoziation schließlich auf die „Übung der Nervenbahnen“ (Mauthner 1999a: 431) zurückführen. Ohne weitere Ausführungen deutet Mauthner an, dass eine solche Untersuchung darauf schließen lassen könne, „daß die Gedankenassoziation nichts weiter sein werde als eine andere Bezeichnung für die menschliche Sprache“ (Mauthner 1999a:  431). Das Metaphorische an der Gedankenassoziation ist, dass es zwei Elemente gibt, bei denen das eine durch das andere zum Ausdruck kommt. Die assoziierten Elemente, die durch ‚Ähnlichkeit der Vorstellungen‘ etwas miteinander zu tun haben, stehen zueinander in keiner semantischen Beziehung, die unabhängig von einer Sprechsituation nachvollziehbar wäre, trotzdem findet die Assoziation nicht beliebig statt  – sowohl Vaterhaus und Bergwald als auch Nelkengeruch und die schöne Frau sind aufeinander bezogen. Es ist allerdings anzunehmen, dass sich dieser Bezug nur subjektiv für Fritz Mauthner, bedingt

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durch seine Lebenserfahrungen, erschließt, das heißt, dass nur bei ihm die Gedankenassoziation nach der beschriebenen Weise stattfindet. Dieser persönliche Bezug ist kein Sonderfall, sondern ein Charakteristikum von Mauthners Metaphernverständnis. Im Zusammenhang mit dem Erkenntniswert von Sprache schreibt er: „was wir von der Außenwelt wissen, ist niemals objektive Kenntnis, sondern immer ein Symbol, eine Metapher, deren Tertium comparationis uns unzugänglich bleibt, weil sie uns vom Wesen unserer Sinne aufgedrängt wird“ (Mauthner 1999a: 338f.). Das Tertium comparationis ist bei Mauthner diffus. Es kann eine Erklärung aus der persönlichen Biographie sein, eine Sprachgewohnheit oder ein soziales Phänomen. Die Frage nach dem Tertium comparationis ist eine Frage danach, wie wir denken. Sie kann in Einzelfällen beantwortet werden  – etwa durch Psychoanalyse, Psycholinguistik oder Soziologie – aber nicht allgemein oder unabhängig von Sprechsituationen. Aristoteles gibt in der Poetik Beispiele für die Analyse von Metaphern, etwa das Beispiel vom ,Abend des Lebens‘. Das Verständnis dieses Ausdrucks erschließt sich gemäß Aristoteles, wenn die implizite Analogie explizit gemacht wird, also klargemacht, dass sich das Alter zum Leben so verhält wie der Abend zum Tag (I, Kap. 21, 1457b23–25). Gemäß Mauthners Sprachkritik versteht man eine Metapher nicht, weil sich der sprachliche Ausdruck analysieren lässt, sondern weil man sprachbegabtes Mitglied einer Sprachgemeinschaft ist. Ähnliche Sozialisierung oder Erfahrungen sind dafür verantwortlich, dass Gedankenassoziationen bei verschiedenen Personen ähnlich verlaufen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Ausdrücke, die übertragend gemeint sind, nicht von Ausdrücken, die wörtlich gemeint sind. Als sprachbegabtes Mitglied einer Sprachgemeinschaft versteht man Äußerungen wie ,Guten Tag‘ oder ,Vielen Dank‘ nicht, weil sich ihre Bedeutung analysieren lässt, sondern, weil sprachbegabtes Mitglied einer Sprachgemeinschaft zu sein bedeutet, solche Äußerungen gebrauchen zu können. Dieser Umstand gilt bei Mauthner auch allgemein für die Grammatik einer Sprache: „[E]benso ist die Grammatik einer Sprache nur für denjenigen ganz verständlich, der ihrer nicht bedarf, weil er die Sprache versteht“ (Mauthner 1999a: 23).

3.2. Kritik an der wörtlichen Bedeutung Die in Abschnitt 2  erwähnten Theorien liefern Ansätze, um zu erklären, wie Metaphern funktionieren. Auch wenn sie sich in wesentlichen Punkten voneinander unterscheiden, teilen sie die Annahme, dass es eine wörtliche

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Bedeutung gibt, also die eindeutige Beziehung zwischen einem sprachlichen Ausdruck und seiner, je nach Bedeutungstheorie auch unterschiedlich verstandenen, Bedeutung. Mauthner lehnt es ab, den Zusammenhang zwischen sprachlichem Ausdruck und seiner Bedeutung als eindeutig zu verstehen. Seiner Sprachkritik folgend, ergibt die Frage, wofür ein sprachlicher Ausdruck eine Metapher sei, keinen Sinn. Eine Metapher kann nur durch andere Metaphern erklärt werden. Jeder Versuch, die Bedeutung eines Wortes anzugeben, resultiert entweder in einer tautologischen Wortwiederholung oder in neuen Worten mit unangegebener Bedeutung. Diese Kritik schließt an Mauthners Position an, dass es keine Sprache gibt, sondern nur den Vorgang des Sprechens. Die Sprache ist eine Abstraktion, die aus dem realen Vorgang des Sprechens abgeleitet ist. Insofern tritt die Bedeutung von Sprache nur dann zutage, wenn sie in soziale Praxis eingebettet ist, den Worten eine soziale, das heißt kommunikative Absicht gegeben wird: „Sprache wird das physikalische Erzeugnis des individualen physiologischen Sprachorgans erst dadurch, dass die Laute zwischen den Menschen einen Tauschwert erhalten haben“ (Mauthner 1999b: 79). Es gibt für Mauthner „nicht zwei Menschen, die die gleiche Sprache reden“ (Mauthner 1999a: 18), wir „wissen voneinander bei den einfachsten Begriffen nicht, ob wir bei einem gleichen Worte die gleiche Vorstellung haben“ (Mauthner 1999a:  56). Dennoch bezeichnet er die Sprache als eine „nützliche Erfindung“ (Mauthner 1999a: 78). Was Sprache vermag – das ist ihre wertbestimmende Eigenschaft  –, ist, Vorstellungen hervorzurufen: „Sprache kann nichts weiter als Vorstellungen wecken“ (Mauthner 1999a: 104). Vorstellung ist ein Sammelbegriff, mit dem Mauthner das bezeichnet, was durch sprachliche Anregung vom Gedächtnis hervorgebracht wird: Erinnerungen, Bilder und Gedanken. Erinnerungen sind gemerkte, vergangene Vorstellungen; er nennt Vorstellungen auch „Erinnerungsbilder“ (Mauthner 1999a: 221). Momentane, sprachlich angeregte Vorstellungen werden aus den Erinnerungen des sprechenden, zuhörenden oder denkenden Menschen hervorgerufen. Dementsprechend bezeichnet Mauthner Worte auch fortwährend als Erinnerungszeichen (für Vorstellungen) und als Merkzeichen (für Erinnerungen). So können auch beide unter 3.1 erwähnten Beispiele für Gedankenassoziationen  – es handelt sich im Text um einen Gedanken und um eine Erinnerung – als Vorstellung verstanden werden. Was diese, modern ausgedrückt, kognitiven Vorgänge gemeinsam haben, ist, dass sie sprachlich sind, das heißt, sie können sprachlich ausgedrückt werden. Für Mauthner ist Denken im Wesentlichen Sprechen. Wie der Versuch, die Bedeutung eines Wortes anzugeben, scheitert, so scheitert auch der Versuch, eine Vorstellung klar und deutlich zu fassen.

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Mauthner schreibt: „Wir aber haben erfahren, daß Worte nicht Bilder geben und nicht Bilder hervorrufen, sondern nur Bilder von Bildern von Bildern“ (Mauthner 1999a:  115). Menschen vermögen es, mit Vorstellungen sowohl subjektiv neue Vorstellungen hervorzurufen – also eine assoziative Kette von Vorstellungen in Gang zu setzen, was in genau diesem Zusammenhang mit der Metapher in Verbindung gebracht wurde –, als auch intersubjektiv bei GesprächspartnerInnen Vorstellungen zu wecken. Vorstellungen genügen aber nicht Mauthners hohen Ansprüchen an Erkenntnis. Wie Friedrich Nietzsche in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne die Sprache für wahrheitsuntauglich erklärt, weil ihre Worte metaphorisch seien, so ist auch für Mauthner der Glaube an die Wahrheit ein Irrglaube. Mauthner verharrt bei seinem absoluten Verständnis der Wahrheit, er wird kein Relativist und bleibt der skeptische und wütende Kritiker: Wahrheit baut auf einem Fundament aus Worten, die jedoch schwankende Bedeutungen haben. Seine sprachkritischen Untersuchungen lassen jenes Fundament sowie alles auf ihm Aufgebaute zusammenstürzen, indem der metaphorische Charakter von vermeintlich klaren Ausdrücken freigelegt wird. Worte sind für ihn „nichts weiter als Träume, weil die Worte allesamt Metaphern sind, Bilder, in denen unsere Vorstellungen wie Mücken durcheinanderschwärmen“ (Mauthner 1999a: 499).

3.3. Metaphorisierung von Wortarten in der Bildtheorie Akzeptiert man sowohl Mauthners Kritik an wörtlicher Bedeutung als auch seine Kritik am Tertium comparationis, sieht man sich mit einer Position konfrontiert, nach der jedes Wort eine Metapher ist. Diese Konsequenz treibt er in seiner Sprachphilosophie noch weiter und bringt sie auch in Zusammenhang mit grammatikalischen Kategorien. Die Metaphorisierung von Wortarten ist ein Aspekt von Mauthners Theorie der drei Bilder der Welt. Diese Bildtheorie durchzieht sein gesamtes philosophisches Werk, sie ist in den Beiträgen zu einer Kritik der Sprache eingearbeitet, wird in Artikeln des Wörterbuchs der Philosophie beschrieben und ist das Thema seiner letzter Schrift Die drei Bilder der Welt – Ein sprachkritischer Versuch, die im Mai 1925 posthum von seinem Freund Monty Jacobs veröffentlicht wurde. Die drei Bilder der Welt bleib ein unabgeschlossener Text, gilt aber für Jacobs als Mauthners Vermächtnis (Jacobs 1925: XI). In Mauthners Bildtheorie gibt es drei verschiedene Arten von Bildern: das adjektivische, das substantivische und das verbale Bild der Welt. Diese „drei Bilder sind drei Gesichtspunkte, Aspekte, ein Gleichnis der Welt herzustellen“ (Mauthner 1925: 136). Damit wird beschrieben, welche Gesichtspunkte

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von Vorstellungen durch sprachliche Ausdrücke hervorgehoben werden. Eigenschaften werden als adjektivische Bilder vermittelt, Gegenstände als substantivische Bilder und Veränderungen als verbale Bilder. Diese drei Arten von Bildern sind die aus der Sprache hervorgegangenen Kategorien der Weltauffassung, mit ihrer Hilfe wird versucht, „die Welt zu verstehen“ (Mauthner 1997a: 17), und mit der Bildtheorie kann gezeigt werden, wie die Rede von Eigenschaften, Gegenständen und Veränderungen entstanden ist. Adjektivische Bilder gelten für Mauthner als natürlich: „[N]ur adjektivisch zu bezeichnende Empfindungen entsprechen unseren Sinnen, sind natürlich; Substantive und Verben entsprechen der menschlichen Vernunft, sind menschlich“ (Mauthner 1999a:  300). Die Sprache ermöglicht es, Dinge als Dinge zu sehen. So ist etwa das Wissen um den Begriff ,Apfel‘ die Voraussetzung dafür, die Vorstellung von einem Apfel zu haben, wenn man einen Apfel sieht. Auch jene Menschen, die kein Wissen über Äpfel besitzen, sehen den Apfel vor sich und haben eine bestimmte Vorstellung davon, was sie sehen, aber können den Apfel nicht als Apfel bezeichnen. Sie nehmen verschiedene Sinneseindrücke wahr  – etwa rot, rund, ein bestimmter Geruch etc.  – und können, wenn sie über das Wissen um den Begriff Obst verfügen, von rotem Obst sprechen. Apfel und Obst sind substantivische Ausdrucke, sie verbinden adjektivische Bilder zu einem Komplex von Vorstellungen. Im substantivischen Bild ‚Apfel‘ sind also verschiedene adjektivische Empfindungen wie rot, rund etc. zu einer Einheit verbunden. Diese Einheit, der substantivische Apfel, ist nicht wirklich, sondern eine sprachliche Hypostase. Insofern ist das Wissen um Gegenstände eine sprachliche Täuschung, denn: „Was ein Ding ist, das sagen mir seine Eigenschaften; was es außer seinen Eigenschaften noch sei, das ist eine metaphysische Frage“ (Mauthner 1997a: 17). Verfügt man über den Begriff des Apfels, dann wird durch die metaphorische Assoziation von Ideen erklärt, dass es zur Apfelvorstellung kommt: Wenn es nämlich wahr ist, daß der Begriff Apfel, d. h. die Verknüpfung eines besonderen Geruchs, Geschmacks u. s. w., zu einer unlöslichen Gesamtvorstellung ein Werk der Ideenassoziation ist, genauso wie die Verknüpfung der Begriffe Apfel, Apfelbaum, Sommer, meine Heimat, meine Jugend, – dann ist wirklich die Assoziation die alleinige Ursache der Worte. (Mauthner 1999a: 485f.)

,Apfel‘ ist somit eine Metapher für die verschiedenen Sinneseindrücke, mit denen man durch die Wahrnehmung konfrontiert ist. Das Wort ,Apfel‘ ermöglicht die Rede von einem Gegenstand, der Träger der Apfeleigenschaften ist. Es verschleiert die Wirklichkeit aber auch, wenn verschiedene Eindrücke zusammengefasst werden. Es gibt verschiedenen Äpfel – rote, gelbe, grüne, große, kleine, süße, saure, bittere, harte, weiche, etc. – und nicht ‚den Apfel‘.

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Sprache beinhaltet alle drei Bilder und in ihr werden sie nicht klar voneinander getrennt. In der Gemeinsprache findet ein „Ineinanderfließen“ (Mauthner 1999b:  499) von Sprachbildern statt. Bei unseren Vorstellungen tritt jenes Bild deutlicher hervor, auf das gerade die „Richtung unserer Aufmerksamkeit“ (Mauthner 1997b: 364) gelenkt wird. Dieselbe Vorstellung kann also als Bild unter verschiedenen Gesichtspunkten hervorgehoben werden, wie folgende Zitate zeigen: „Wer die Sonne sieht, kann den Eindruck substantivisch fassen: Die wohlbekannte alte Sonne ist wieder da. Adjektivisch: Es ist hell. Verbal: Es leuchtet und wärmt“ (Mauthner 1999b: 311). Der verbale Ausdruck „,Es regnet‘ sagt auch durchaus nichts Anderes als das Substantiv ,Regen‘, unter Umständen nichts Anderes als das Adjektiv ,naß‘“ (Mauthner 1999c: 10). „Zwischen ,es blitzt‘ und ,ein Blitz‘ kann ich nicht den leisesten Unterschied entdecken“ (Mauthner 1999b: 22; Satz im Original gesperrt). Für den „Standpunkt der Welterkenntnis“ (Mauthner 1999b:  311) ist die Bedeutung der drei Ausdrucksmöglichkeiten dieselbe. Mauthner hebelt unser ontologisches Selbstverständnis aus: Die Welt, in der wir leben, ist eine Projektion der Sprache nach außen und ihre ontologischen Einheiten sind Metaphernkomplexe, die wesentlich von den grammatikalischen Kategorien unserer Sprache abhängig sind. Somit ist nicht nur jedes Wort eine Metapher, sondern jedes Element unserer Ontologie. Mauthners Sprachkritik wurde in der Literatur wohlwollender aufgenommen als in der Philosophie. Seine Bildtheorie etwa wurde von Jorge Luis Borges rezipiert, der in seiner Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius im Band Ficciones über ein Land schreibt, dessen Sprachen nur bestimmte Wortarten aufweisen. So gibt es darin eine Sprache, die nur aus Verben besteht und eine andere Sprache, die nur aus Adjektiven besteht. Die Konsequenz dieser Sprachen ist die beliebige Zusammenführung von verschiedenen Begriffen zu einem Objekt: Es gibt Objekte, die aus zwei Begriffen zusammengesetzt sind, von denen der eine visuellen, der andere auditiven Charakters ist: die Farbe des Sonnenaufgangs und der ferne Schrei eines Vogels. […] Es gibt berühmte Gedichte, die aus einem einzigen Wortungeheuer bestehen. Dieses Wort verkörpert ein vom Autor geschaffenes poetisches Objekt. (Borges 2004: 22)

3.4. Metapher und Mehrsprachigkeit In seinen Erinnerungen schreibt Mauthner: „ich besitze in meinem inneren Sprachleben nicht die Kraft und die Schönheit einer Mundart. Und wenn

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jemand mir zuriefe: ohne Mundart sei man nicht im Besitze einer eigentlichen Muttersprache – so könnte ich vielleicht heute noch aufheulen“ (Mauthner 1918: 51). Er stilisiert sich – so auch die Überschrift des Kapitels in den Erinnerungen – als jemand ,ohne Sprache und ohne Religion‘. Mauthners Großeltern hatten sich 1765 in Hořice v Podkrkonoší (Horschitz) angesiedelt (Schapkow 2013:  19) und er wuchs dort als Kind der deutschsprachigen Minderheit und jüdischen Oberschicht auf. Seine eigene Sprachentwicklung beschreibt er in den Beiträgen wie folgt: Ich bin Ende der vierziger Jahre im Nordosten Böhmens geboren. Dort lernte ich – nach Landesbrauch – zuerst ein paar tschechische Worte; mit den Kindern bis zum dritten Jahre sprechen auch deutsche Eltern tschechisch, weil die Amme Tschechin ist. Dann lernte ich Deutsch; von meinem Vater, der ohne eigentliche Sachkenntnis sehr viel auf gebildete Sprache hielt, ungefähr die Gemeinsprache der Deutschböhmen mit einem leisen Zug nachgeahmter österreichischer Armeesprache; von der Mutter das Deutsch meines Großvaters: viele veraltende Wort- und Satzformen prächtiger altfränkischer Prägung (er stammte aus dem 18. Jahrhundert), dazu einige jüdische Worte und Klanggewohnheiten, endlich alamodisches Einflicken französischer Zierformen. (Mauthner 1999b: 167)

In Muttersprache und Vaterland schreibt Mauthner von einem 1868 gefassten Beschluss, wonach SchülerInnen den Unterricht in ihrer Muttersprache zu besuchen haben. Es war ihnen freigestellt, auch am anderssprachigen Unterricht teilzunehmen. Er und seine Mitschüler besuchten „gewissermaßen als Gäste“ (Mauthner 1920: 9) auch den tschechischen Unterricht, aber „[d]ie Lüge, als wären wir zweisprachige Menschen, war von uns genommen worden“ (Mauthner 1920:  8) und sie hatten „auf einmal begriffen, daß wir durch unsere Muttersprache zu Deutschland gehörten, daß Deutschland unser Vaterland wäre“ (Mauthner 1920: 9). Versteht man Sprache als identitätsstiftendes Konzept, so können an Mauthner drei verschiedene Zuschreibungen gemacht werden: Er (1) hat ohne Mundart keine Muttersprache und ist insofern identitätslos, (2) spricht Tschechisch, Deutsch sowie ,einige jüdische Worte‘ und hat drei Identitäten sowie (3) bekennt sich – trotz anderer möglicher Zuschreibungen – zu einer deutschen Identität. Schapkow (2013: 21f.) attestiert Mauthner als Denker ohne Religion und Muttersprache eine „doppelte Heimatlosigkeit“ (Schapkow, 2013: 21). Pointiert ausgedrückt, konnte Mauthner als Sohn areligiöser Eltern und späterer Atheist kein Jude sein, als Jude kein Tscheche und als Tscheche kein Deutscher. Seine Bewunderung für Bismarck und sein Deutschnationalismus können als der Wunsch nach einer nationalen Zugehörigkeit verstanden werden. Anders als in seiner Sprachphilosophie, die in einem mystischen, tragikomischen Lachen über das Unvermögen zur Wahrheit mündet, eifert

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Mauthner biographisch dem Ideal einer Muttersprache, und zwar Deutsch, nach. Dass er keine ‚eigentliche Muttersprache’ habe und dass er mit deutscher, tschechischer und hebräischer Sozialisierung „die Leichen dreier Sprachen in meinen eigenen Worten mit mir herumzutragen hatte“ (Mauthner 1918:  51), sieht er typisch ambivalent als Mängel, die ihn aber gerade „in Erkenntnisfragen der Sprache gegenüber um so freier machten“ (Mauthner 1918: 53). Eine der drei Zuschreibungen für zutreffend und die anderen beiden für falsch zu halten, wäre eine Verzerrung von Mauthners komplexem und schillerndem Selbstverständnis. Ich möchte im Folgenden auch keine Argumente für oder gegen eine der Zuschreibungen liefern, sondern den biographischen Passagen, in denen Mauthner klar für einen differenzierten Umgang mit verschiedenen Sprachen Stellung bezieht, Auszüge aus der Sprachphilosophie gegenüberstellen, in denen ein anderes Verständnis von Mehrsprachigkeit vorherrscht und wiederum die Metapher auftaucht. Es wäre naheliegend, dass Mehrsprachigkeit und Einsprachigkeit in Mauthners Sprachphilosophie zugunsten eines grundlegenden Vermögens zur Sprache aufgehen. Verschiedene Sprachen haben zwar verschiedene Grammatiken und andere Vokabeln, die Abläufe der Gedankenassoziation müssen sich deshalb aber nicht unterscheiden. Wenn Mauthner ablehnt, dass es die Sprache als substantivische Vorstellung gibt, und nur das verbale Sprechen wirklich sei, dann ist klar, dass gleiches oder ähnliches Sprechen Menschen vereint. Dass es sich dabei um genau eine Sprache handeln muss, folgt daraus jedoch nicht. Ein vereinendes Sprechen kann sich in verschiedenen Sprachen oder verschiedenen Dialekten vollziehen. In den Beiträgen schreibt Mauthner beständig von der ‚Gemeinsprache‘ im Gegensatz zur ‚Individualsprache‘. Wie für ihn nur die adjektivischen Empfindungen wirklich sind, so sind für ihn auch nur die „Sprachorgane der Einzelmenschen“ (Mauthner 1999b: 79) wirklich und lebendig. Die hypothetische Privatsprache eines Individuums kann er nicht als Sprache verstehen: „Die Sprachbewegungen des unter sprachlosen Mitmenschen allein redenden Individuums wären […] gar keine Sprache“ (Mauthner 1999a: 17). Auch das Denken, bei Mauthner immer als nach innen gewandtes Sprechen gemeint, kann nicht auf Ausdrücke der Gemeinsprache verzichten. Wer allerdings von einer Gemeinsprache spricht, bewegt sich „im glühenden Kreise der Abstraktionen“ (Mauthner 1999b: 79), lenkt die Aufmerksamkeit auf etwas Unwirkliches. Mauthner changiert zwischen zwei Idealtypen, einer unwirklichen Kollektivsprache, die so weit abstrahiert wird, dass sie niemand spricht, und einer Individualsprache, die so weit partikularisiert wird, dass sie niemand spricht:

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„Wir erkennen keine richtige Sprache an, keinen feststehenden und tyrannischen allgemeinen Sprachgebrauch, sondern nur unzählige Sprachgebräuche, deren es so viele gibt als Menschen eines Volkes“ (Mauthner 1999b: 155). Der wirkliche Sprachgebrauch liegt zwischen diesen Polen und ordnet sich somit nicht ganz der Individualsprache und nicht ganz der Gemeinsprache zu. Die Grenzen zwischen verschiedenen Arten des Sprachgebrauchs können nicht einfach festgelegt werden, sie hängen von den Grenzen des gegenseitigen Verstehens ab. In der Diskussion dieses Problems verweist Mauthner jedoch nicht auf Sprachen, wie sie als Fremdsprachen voneinander unterschieden werden, sondern auf soziale Kollektive: „Sicherlich ist die Gemeinsprache nur ein abstrakter Begriff, sicherlich ist nur die Individualsprache wirklich. Würden aber die Individualsprachen innerhalb einer Familie, eines Orts, einer Landschaft, eines Volkes nicht sehr nahe aneinandergrenzen, so wäre der einzig mögliche Gebrauch der Sprache nicht möglich“ (Mauthner 1999b: 117, Herv. i. O.). Gemäß Mauthners biographischer Sprachentwicklung könnte das ,Volk‘ in dieser zitierten Passage als Kollektiv verstanden werden, das die gleiche Sprache spricht. Die Kollektive innerhalb einer Familie, eines Ortes, einer Landschaft können aber kaum durch Gleichsprachigkeit gebildet werden. Das verbindende Element ist gegenseitiges Verstehen, das bei Mauthner nicht direkt oder eindeutig, sondern ungefähr, metaphorisch stattfindet. Aus diesen Überlegungen folgt, dass es Mehrsprachigkeit, wörtlich verstanden, in Mauthners Sprachkritik nicht geben kann. Mehrsprachigkeit ist eine Vervielfachung der Abstraktion vom Sprechen zur Sprache. Menschen können einander verstehen oder nicht verstehen. Sprachbegabt zu sein, bedeutet, eine bestimmte Menge an Sprachverhalten äußern zu können, mehrsprachig zu sein, bedeutet, eine größere Menge an  Sprachverhalten äußern zu können. Das gegenseitige Verstehen zweier SprecherInnen kann auf die Frage zurückgeführt werden, ob ähnliche Vorstellungen beim selben Wort hervorgerufen werden, ob also eine Metapher glückt.

4. Resümee Durch die Ansicht, dass jedes Wort eine Metapher sei, ist zunächst nichts gewonnen, sondern Klarheit verloren. Der Ansicht, dass nach bestimmter Art gebrauchte Worte – nach den in Abschnitt 1 beschriebenen, allgemeinen

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Erklärungen, die an das intuitive Verständnis appellieren – Metaphern seien, wurde Mauthners Ansicht, dass jedes Wort eine Metapher sei, gegenübergestellt. Radikal verstanden, sind auch Wortarten metaphorische Konstrukte. Dabei sind auch in Mauthners Sprachphilosophie keineswegs alle Fragen geklärt, und das Verständnis von Metapher wurde verallgemeinert anstatt spezifiziert. Es konnte allerdings gezeigt werden, dass sich Mauthners Gebrauch von Metapher von anderen Gebrauchsarten und Erklärungen in Philosophie und Sprachwissenschaft unterscheidet, sowie, dass die Metapher als ein zentrales Konzept seiner Sprachkritik verstanden werden kann. Der Beitrag von Mauthners Sprachphilosophie zur Metapher kann weniger für eine Klärung der Frage, was eine Metapher im sprachwissenschaftlichen Sinn sei, herangezogen werden. Vielmehr trägt sie zu einer Klärung der Frage, was das Denken sei, bei. Im Sinn einer wohlwollenden Lektüre der Beiträge lässt sich das Denken als eine Abfolge von Vorstellungen verstehen, die metaphorisch miteinander verbunden sind. Wie Mauthner betont, gibt es keinen Unterschied zwischen Denken und Sprechen. Folgt man seiner Ansicht, können Sprechen und Denken mit dem Vorgang, Metaphern zu bilden, also zu metaphorisieren, gleichgesetzt werden.

Literatur Aristoteles (1982): Poetik. Griechisch / Deutsch. Hrsg. von Manfred Fuhrmann. Ditzin­ gen: Reclam. Borges, Jorge Luis (2004): Tlön, Uqbar, Orbis Tertius.  – In: Haefs, Gisbert von/ Arnold, Fritz (Hgg.), Fiktionen. Frankfurt/M.: Fischer, 15–34. Bußmann, Hadumod (Hg.) (42008): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart: Alfred Kröner. Cicero, Marcus Tullius (1983): Topik. Lateinisch–Deutsch. Hamburg: Meiner. Davidson, Donald (1978): What Metaphors Mean. – In: Critical Inquiry 5/1 (Special Issue on Metaphor), 31–47. Goatly, Andrew Peter (32010): Metaphor. – In: Malmkjær, Kirsten (Hg.), The Routledge Linguistics Encyclopedia. London: Routledge, 363–366. Jacobs, Monty (1925): Einleitung. – In: Mauthner, Fritz, Die drei Bilder der Welt. Ein sprachkritischer Versuch. Erlangen: Verlag der philosophischen Akademie, VII-XII. Johnson, Mark (1987): The Body in the Mind: The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason. Chicago: Chicago University Press.

Eine Übersetzung wohin?

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Mauthners Auseinandersetzung mit Schrift und Schriftsprache1 0. Einleitung Fritz Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache sind ein voluminöses Werk, das zwar letztlich nur um einige wenige philosophische Grundgedanken kreist, zugleich aber eine beeindruckende Fülle von Phänomenen und Aspekten in ausführlicher – mitunter auch weitschweifiger – Weise behandelt. In diesem Beitrag soll ein bislang weniger beachteter Teil dieses Werkes, nämlich Mauth­ ners Überlegungen zu Schrift und Schriftsprache, vorgestellt und fachhistorisch verortet werden.

1. Der fachhistorische Hintergrund:   Schrift in der traditionellen Sprachtheorie Die Entwicklung der traditionellen Sprachtheorie, v.a. der Grammatik, ist zweifellos stark vom Moment der Schriftlichkeit geprägt gewesen. Tatsächlich verdankt die Grammatik ganz wesentliche Impulse dem Bedürfnis, zum Verständnis ,wichtiger‘ älterer (sakraler oder literarischer) Texte beizutragen. Diese Orientierung an  verschriftlichten Texten wird schon in der ältesten erhaltenen Grammatik unseres Kulturkreises, d.h. im Werk von Dionysius Thrax (1. Jh. v. Chr.), deutlich angesprochen: Grammatik ist die Kunde von dem normalen Sprachgebrauch der Dichter und Schriftsteller. Sie umfaßt 6 Teile: 1) Lesen mit richtiger Aussprache, 2) Erklärung der vorkommenden dichterischen Wendungen, 3) Überlieferung der Glossen und mythologischen Beispiele,

1  Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projekts ,Jazyk – literatura – kultura: vztahy české, moravské, polské a slezské v minulosti a dnes‘ (7AMB14PL022; 2014–2015, MSM/7A).

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4) Auffindung der Etymologie, 5) Darlegung der Analogie, 6) Kritische Betrachtung der Dichtungen, der schönste Teil dieser Wissenschaft. (nach Arens 1955:19)

Auch in der Folgezeit bleibt die Orientierung an verschriftlichten Texten für lange Zeit eine Selbstverständlichkeit. Dies gilt gerade auch für Grammatiken, die – der rhetorischen Tradition folgend – einen Beitrag dazu leisten wollen, einen ,vorbildlichen Sprachgebrauch‘, d.  h.  einen sprachlichen Standard zu definieren  – eine Absicht, die bis ins frühe 19.  Jahrhundert von fast allen Grammatikern verfolgt wurde. Als Beispiele aus dem deutschen Sprachraum können hier die deutsche Grammatik von Johannes Clajus genannt werden, in welcher der Standard auf der Grundlage von Luthers Schriften festgelegt werden sollte, oder etwa Johann Christoph Gottscheds erstmals 1748 aufgelegte Deutsche Sprachkunst, die sich – wie es schon im Titel heißt – „nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und itzigen Jahrhunderts“ richtet. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, mit dem Aufkommen der vor allem durch Jacob Grimm propagierten historisch-vergleichenden Grammatik, kommt es zu einer einschneidenden Veränderung der sprachtheoretischen Prämissen (Rinas 2011b: Kap. 3). Grimm setzt sich vehement von den ,schulmeisterlichen‘ normativen Bestrebungen seiner Vorgänger ab und fordert stattdessen eine deskriptive Beschäftigung mit primär sprachhistorischer Zielsetzung. Auf den Umgang mit Schriftsprache hatte dieser Einschnitt jedoch keine allzu großen Auswirkungen. Gerade die von Grimm vorangetriebene primär historische Sprachbetrachtung war ja auf eine Beschäftigung mit älteren Quellen, also mit Texten, angewiesen, sodass die Anbindung an Verschriftlichtes auch hier beibehalten wurde. Es ist durchaus bezeichnend, dass Grimms berühmte historische Lautlehre seiner deutschen Grammatik überschrieben ist mit: „Erstes Buch: Von den Buchstaben“ (Grimm 1870). Die Anbindung der Sprachtheorie an Schrift und Schriftsprache war somit auch im 19.  Jahrhundert eine selten hinterfragte Selbstverständlichkeit. Das Moment der Schriftlichkeit wurde kaum zum Gegenstand eingehender Reflexion erhoben. Hierzu passt, dass selbst die Geschichte der Schrift noch in der Grammatik und Philologie des 19. Jahrhunderts auf kein ausgeprägtes Interesse stieß. Zwar gab es vereinzelt auch Philologen, die sich diesem Thema zuwandten, beispielsweise Heymann Steinthal (1852), doch war auch dieser Gegenstand eher ein Betätigungsfeld für philologische Außenseiter, wozu etwa der Historiker Heinrich Wuttke (1872), der Schriftsetzer und Stenograph Carl Faulmann (1880) oder der Priester Isaac Taylor (1883) gehörten. Immerhin erfuhr die Schriftsprache seit der Mitte des 19.  Jahrhunderts quasi ex negativo eine gewisse Aufmerksamkeit, da nun verstärkt Bemühungen einsetzten, Besonderheiten der gesprochenen Sprache zu erfassen und

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diese mit der Schriftsprache zu kontrastieren. Eine besonders wichtige Rolle spielte hierbei die u.a. von Wilhelm Viëtor vorangetriebene Entwicklung der Phonetik, die z. B. in den – schon bei Lepsius (1855) durchgeführten – Versuch mündeten, eine auf alle Sprachen anwendbare Lautschrift zu konzipieren (Kemp 2001). Gegen Ende des 19.  Jahrhunderts wurde auch anderen, etwa syntaktischen, Besonderheiten der gesprochenen Sprache ein gewisses Interesse entgegengebracht. Dies dokumentiert zum Beispiel die Studie von Hermann Wunderlich (1894). Durchaus bezeichnend ist allerdings, dass Wunderlich seine syntaktischen Generalisierungen zur gesprochenen Sprache keineswegs an authentischem gesprochenen Material gewonnen hat, sondern an Dramentexten. Diese abermalige Anbindung an verschriftlichte Texte war freilich dem damaligen Stand der Technik geschuldet; die Möglichkeiten zur systematischen Aufzeichnung und Auswertung gesprochener Sprache waren damals noch sehr eingeschränkt. Dieses allmähliche Wachsen des Interesses an gesprochener Sprache hätte auch zu einer vertieften Reflexion der Besonderheiten geschriebener Sprache führen können. Zu Beginn des 20.  Jahrhunderts ist es hierzu jedoch nicht in nennenswertem Ausmaße gekommen.2 Stattdessen wandte man sich nun verstärkt von der geschriebenen Sprache ab und erklärte diese als für die Sprachwissenschaft weitgehend irrelevant. Sehr dezidiert hat Ferdinand de Saussure diese Auffassung vertreten: „Nicht die Verknüpfung von geschriebenem und gesprochenem Wort ist Gegenstand der Sprachwissenschaft, sondern nur das letztere, das gesprochene Wort allein.“ (de Saussure 1916: 28) Dieses Diktum sollte sich als sehr einflussreich erweisen, sodass in den folgenden Jahrzehnten die Schrift bzw. die Schriftsprache „allenfalls als Stiefkind“ angesehen wurde, „dem im Bereich der Linguistik als wissenschaftlicher Disziplin keine Aufmerksamkeit geschenkt zu werden brauchte“ (Coulmas 1981: 12). Erst in den 1980er Jahren wurde diese Auffassung verstärkt hinterfragt. So konstatierte Günther süffisant: „Typisch für den Sprachforscher in unserem Jahrhundert ist es, daß er einerseits davon überzeugt ist, daß allein die gesprochene Sprache sein Untersuchungsgegenstand ist, und daß sich andererseits seine Analysen grundsätzlich auf schriftliches oder verschriftlichtes Material stützen.“ (Günther 1988: 14) Es ist Coulmas, Günther und anderen Linguisten dieser Generation zu verdanken, dass diese naive Vernachlässigung der Schriftsprache überwun2  Ein interessanter Beitrag ist allerdings die Beleuchtung des Verhältnisses von geschriebener und gesprochener Sprache durch Behaghel (1899).

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den und die Schrift zum Gegenstand einer vertieften linguistischen Reflexion gemacht wurde. Mittlerweile liegen Standardwerke vor, die die zentralen Ergebnisse der Schriftlinguistik bündeln, etwa Günther und Ludwig (1994/96) und Dürscheid (2012). Gleichsam als Komplement gibt es auch Kompendien der Erforschung der gesprochenen Sprache, etwa Brinker et al. (2001/2) und Schwitalla (2003). Gerade eine Konfrontation dieser Forschungsrichtungen ermöglicht es, das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache auf einem höheren Niveau zu reflektieren. Dieser kurze fachhistorische Abriss illustriert, dass eine differenziertere Auseinandersetzung mit Besonderheiten der Schriftsprache an  der Wende zum 20.  Jahrhundert keineswegs eine Selbstverständlichkeit war. Insofern stellen Mauthners diesbezügliche Ausführungen ein interessantes frühes Zeugnis für derlei Bemühungen dar. Sie sollen im Folgenden vorgestellt, bewertet und – in knapper Form – mit vergleichbaren Befunden v.a. der neueren Schriftlinguistik kontrastiert werden.

2. Mauthners Überlegungen zu Schrift und Schriftsprache 2.1 Vorbemerkung: Mauthners Denkstil Wir können vorwegnehmend konstatieren, dass der philosophierende ,Laie‘ Fritz Mauthner diverse Einsichten formuliert hat, die sich erst in der neueren Schriftlinguistik etabliert haben. Dennoch wäre es einseitig und wohl allzu benevolent, Mauthner einfach als einen genialen Pionier zu würdigen, dessen innovative Einsichten vom philologischen Mainstream unterdrückt worden seien. Gerade im Falle Mauthners ist die relative Wirkungslosigkeit seiner Schriften zweifellos auch dem Umstand zuzuschreiben, dass sein Werk insgesamt unübersichtlich, verworren und nicht selten auch widersprüchlich ist. Bereits Theodor Fontane hat – in einem Brief an Otto Brahm (3.12.1893) – eine kritische Charakterisierung von Mauthners Kommunikationsverhalten formuliert, die sich auch auf Mauthners Schreib- und Denkstil übertragen lässt: Mauthner […] ist ein kluger und geistvoller Mann, aber es gibt einen seidenen Zeugstoff, den man, glaub ich, Changeant nennt. Es sieht ganz gut aus, aber man weiß nicht recht, ist es grün oder rot oder braun. Mauthner beschwört immer was herauf; aber wenn man eben sagen will: ,Erlauben Sie mal‘, ist er schon wieder weg. Für eine etwas langsame und schwerfällige Natur wie die meine, ist das störend. Ich komme zu keinem rechten Ver-

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gnügen. Mauthner ist der splendibelste Gastgeber, aber auch zugleich der routinierteste Kellner, der einem den Teller schon wieder weg nimmt, wenn man eben anfangen will. (zit. n. Kühn 1975: 177–178)

Eine ähnlich gelagerte Charakterisierung von Mauthners philosophischen Schriften gibt Kühn: Jeder, der sich durch Mauthners Werke hindurcharbeitet, wird zwischen Faszination, Enttäuschung und Langeweile, zwischen begeisterter Zustimmung, trockener Ablehnung und Überdruß hin- und herschwanken. (Kühn 1995: 111) [Mauthners Gedanken erscheinen] so unübersichtlich, vielfältig, sprunghaft und widersprüchlich, aber auch so überraschend, so ungewöhnlich und faszinierend. (Kühn 1995: 123)

Insofern ist auch die folgende Präsentation einiger interessanter Gedanken im Grunde nur eine – letztlich verzerrende – Auswahl aus einem barocken, verworrenen Werk, in dem sich neben manchem Edelstein auch sehr viel Schutt findet.

2.2 Ausgewählte Überlegungen Wir wollen nun also einige Überlegungen Mauthners skizzieren, die sich im XII. Kapitel („Schrift und Schriftsprache“) seiner Beiträge zu einer Kritik der Sprache finden.3 2.2.1 Entlehnungen von Schriftsystemen Es ist eine lange bekannte Einsicht der Schriftgeschichte, dass Schriftsysteme bereits im Altertum im Völkerkontakt entlehnt und damit auch an andere Sprachen adaptiert wurden. Mauthner reflektiert über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten derartiger Übernahmen: „Wie ist es bei der Ungleichheit der Laute der verschiedenen Sprache überhaupt möglich, das Alphabet der einen auf die andere anzuwenden?“ (B2: 543) Diese Ungleichheiten müssten nach Mauthner bei der Alphabet-Entlehnung Auswirkungen gehabt haben, wobei Mauthner sogar die Möglichkeit einer Beeinflussung der Aussprache durch die entlehnte Schrift in Betracht zieht: „Ist es wohl denkbar, daß die Einsetzung eines nicht ganz passenden, ausländischen Zeichens für einen Laut der Muttersprache […] ohne Einfluß blieb auf die Aussprache des Lauts in der

3  Hier zitiert nach der Ausgabe: Mauthner (1923), Bd. 2, Kap. XII (= S. 535–587).

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eigenen Mundart?“ (B2: 544) Diesen – recht kühnen – Gedanken illustriert Mauthner am Beispiel der Runen: Man vergleiche einmal die verschiedenen Runenalphabete und wird bald finden, daß g und k, daß t und d namentlich in den nordischen Runen nicht auseinander gehalten wurden. Weiter: der Laut th, der in seiner Runenform von der germanischen Sprachwissenschaft noch heute gebraucht wird, weil man sich anders nicht zu helfen weiß, dieser Laut hat in sämtlichen Runenalphabeten ein Zeichen, das wahrscheinlich aus dem lateinischen D entstanden ist. Ich frage also wieder: Wie hörte der alte germanische Schriftgelehrte, der dieses Zeichen einführte, das lateinische D aussprechen? Und ich komme zu meiner verfänglichsten Frage: Steht die berühmte erste Lautverschiebung der germanischen Sprache nicht vielleicht in irgend einem Zusammenhang mit der Einführung der lateinischen Schrift? (B2: 545)

Mauthner, der im Allgemeinen vor provokanten Thesen nicht zurückschreckt, formuliert diese Vermutung auffallend vage und vorsichtig. Offensichtlich war ihm bei dieser These zur Lautverschiebung selbst nicht ganz wohl. Immerhin ist hiermit jedoch deutlich das Problem benannt, dass bei der Adaptation eines Schriftsystems grundsätzlich mit Rückwirkungen zu rechnen ist, die das Schriftsystem, möglicherweise sogar das Lautsystem beeinflussen können. Dies wird – bezogen auf die frühe Alphabetisierung in den germanischen Stämmen – auch in der neueren Forschung (zumindest als ein die historische Rekonstruktion erschwerender Faktor) reflektiert (Grubmüller 1998: 300–303). Darüber hinaus finden sich in modernen Beiträgen zur Schriftlinguistik auch generellere Überlegungen über die Auswirkungen der Entlehnung auf die Entwicklung von Schriftsystemen (Coulmas 1981). 2.2.2 Der Einfluss des Buchdrucks Dass der Buchdruck einen entscheidenden Einfluss auf die Sprachkultur ausübte, ist sicher unbestritten. Mauthner skizziert dies als einen mehrstufigen Prozess, der in eine „neue Schriftsprache“ mündete (B2: 548): „Die Neigung zur Spracheinheit mußte vorhanden sein, um den Buchdruckern den Weg zu einem gemeinsamen Idiom zu weisen; aber nachher ging die wirkliche Spracheinheit aus der Buchdruckersprache hervor.“ (B2: 547) Und diese neue Schriftsprache brachte ein intellektuelles Potenzial mit, das erst eigentlich die Entstehung der modernen Wissenschaften ermöglichte: Man kann die Bedeutung des Buchdrucks für die Geschichte der Menschheit nicht hoch genug anschlagen. Hat er einerseits eine Art Vollständigkeit des Wissens für jeden Forscher auf jedem Gebiete erst möglich gemacht, so hat er anderseits die Demokratisierung des Wissens und damit die Demokratisierung der Welt vollendet. (B2: 541)

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Alle Wissenschaft, deren wir uns rühmen, ist so recht eigentlich nicht in der Sprache niedergelegt, sondern in der Schrift. (B2: 553)

Diese Emanzipierung der Schriftsprache ging nach Mauthner so weit, dass die Schrift besonders seit der Popularisierung der Buchdruckerkunst langsam aufgehört hat, eine bloße Nebenerscheinung der Lautsprache zu sein, daß die Schrift, wenn wir unsere Bibliotheken unter dieser Bezeichnung zusammenfassen wollen, sich in den Gelehrtenköpfen von der Lautsprache gewissermaßen schon emanzipiert hat [… und dass somit] die Schrift in ihrer höchsten Ausbildung selbständig geworden sei und die mündliche Sprache gar nicht mehr brauche. (B2: 553)

Man mag darüber streiten, ob die Schriftsprache sich tatsächlich bereits dermaßen verselbständigt hat. Dass der Buchdruck jedoch eine gewaltige intellektuelle und kulturelle Umwälzung herbeigeführt hat, ist auch in der neueren Forschung unbestritten.4 Diese mit dem Buchdruck wesentlich beförderte ,typographische Realisierung‘ des Wissens hatte nach Mauthner auch weitgehende Auswirkungen auf unsere Auffassung darüber, welche Personen als Gelehrte bzw. Wissenschaftler zu gelten haben: Das heutige Gelehrtengehirn besitzt eine Art abstrakter oder schematischer oder lokaler Erinnerungen an die Bücher, aus denen es jeden Augenblick das gegenwärtige Wissen holen kann. Wer diese mechanische Fächereinteilung in seinem Fachwissen besitzt, der gilt mit Recht für einen Gelehrten. Wirklich gebrauchsfertig hat der einzelne Forscher immer nur einen ganz kleinen Teil seines Spezialgebietes. Das ungeheure Wissen der Gegenwart steckt nicht in den Köpfen, sondern in den Büchern. (B2:557)5

2.2.3 Das semiotische Potenzial der Schrift Es sind jedoch nicht allein die mit der Schrift gegebenen Konservierungsmöglichkeiten, die zu qualitativen Veränderungen im Umgang mit Wissen führen. Vielmehr betont Mauthner auch, dass das semiotische Potenzial geschriebener Texte zu Transformationen und Erweiterungen des Wissens führen kann. Dies illustriert er am Beispiel abstrakter Schriftzeichen, die sich zu einer neuen Sprachform entwickeln können, insbesondere am Beispiel eines Mathematikers, der „über seiner Facharbeit sitzt“:

4  Jüngere Beiträge, die die komplexen kulturellen Auswirkungen des Buchdrucks diskutieren, sind etwa die Studien von Eisenstein (1979) und Giesecke (1992/1998). 5  Dies wirft die – etwas beunruhigende – Frage auf, welche Implikationen dieses Verständnis eines Gelehrten für unser Internet-Zeitalter hat. Ist der größte Gelehrte unserer Zeit dann Google?

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Die Schrift, die Zeichensprache seines Faches, ist allein in seiner Vorstellung. Die Lautsprache ist durch die Zeichensprache vollkommen verdrängt; und diese Zeichensprache ist nicht etwa eine phonetische Schreibung der Lautsprache (wie die Schrift es ursprünglich gewesen sein muß), sondern eine selbstherrliche, über die Lautsprache weit hinweg schreitende Bezeichnungsart. (B2: 554)

Es liege hier somit eine Umkehrung des üblichen Verhältnisses vor: Für diesen Professor „sind die Schriftzeichen das Ursprüngliche, das unmittelbar Verständliche, und er hat oft Mühe, sie durch die Lautsprache auszudrücken.“ (B2: 555) Und damit „erklärt sich vielleicht nebenbei psychologisch der kleine Nebenumstand, daß die Forscher fast alle so zerstreut erscheinen, wenn man sie aus der Arbeit weckt; sie sind ja nicht bloß mit anderen Dingen als mit denen des Alltags beschäftigt gewesen, sie haben in einer anderen Sprache gedacht.“ (B2: 555f.) In diesem Sinne produzieren gerade abstrakte Disziplinen wie die Mathematik „Gedankenzeichen“, beispielsweise Zahlen. (B2: 560f.) In unserer Zeit hat der Textlinguist Wolfgang Raible (1991) über das semiotische Potenzial geschriebener Texte reflektiert. Raible zeigt, wie sowohl die typographischen Möglichkeiten als auch Notationskonventionen neuartige intellektuelle Durchdringungen ermöglichen, und ebenso wie Mauthner illustriert er dies teils an Beispielen aus der Mathematik. 2.2.4 Lautschrift und Orthographie Recht eigenwillig akzentuiert sind Mauthners Überlegungen über das Verhältnis von geschriebener Sprache und lautlicher Realisierung. Mauthner rezipiert hier zunächst einmal die – durch die Phonetik – allgemein verbreitete Auffassung, dass es in unserer traditionellen Orthographie keine eindeutige Kongruenz von Laut und Buchstaben gebe, dass diese somit keine reine Lautschrift sei und folglich partiell auf Konvention basiere. Mauthner zufolge geht diese Konvention jedoch viel weiter: Die Wortschreibungen seien nicht nur unzulängliche, konventionell überformte, Lautwiedergaben, sondern überhaupt keine Lautwiedergaben; sie seien vielmehr Abstraktionen, die beim Leseerwerb als Ganzheiten („Wortbilder“) gelernt würden (B2: 564). Mauthner formuliert pointiert: „Ich fürchte, wir sind allesamt Chinesen und wissen es nicht.“ (B2: 564) Gemäß dieser stark konventionsfixierten Sicht auf die Wortbilder wendet sich Mauthner sehr dezidiert gegen auf phonetische Prinzipien gegründete Bemühungen um eine Orthographie-Reform: Es sei „kleinlich und künstlich“, „die historisch gewordene Orthographie einer Sprache durch eine phonetische Schreibung zu ersetzen.“ (B2: 566) Derlei Anpassungen wirkten in einer reifen Sprachkultur wie der deutschen nur störend:

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Je geübter ein Mensch im Gebrauche der alten Orthographie ist, das heißt je mehr er beim Lesen und Schreiben mit bloßen Wortbildern zu tun hat, desto lästiger wird es ihm sein, sich an  die neue Schreibung zu gewöhnen. Ich für mein Teil gestehe, daß ich die neue Orthographie nicht einer Viertelstunde Lernens wert gehalten habe und es gern der Druckerei überlasse, die Wortbilder meiner Schrift in die Wortbilder der neuen Orthographie zu verwandeln. Die ganze erwachsene Generation wird also, soweit sie in Wortbildern, in einer schriftlichen Sprache zu denken gewöhnt ist, durch die Neuschreibung nicht gefördert, sondern bestenfalls gestört. Die neue Generation aber hat ein paar Dutzend kleine Ausgleichungen und Bequemlichkeiten erworben, von denen es mir doch fraglich ist, ob sie die ausgeteilten Prügel wert sind. Denn wirklich phonetisch kann eine Schreibung wegen der Mängel unseres Alphabets überhaupt nicht werden. (B2: 566f.)

Dieser Standpunkt lässt eine gewisse Verwandtschaft zu den Auffassungen konservativer Rechtschreibtheoretiker (etwa Rudolf v. Raumer, Daniel Sanders) erkennen.6 Mit seiner Wortbilder-Konzeption geht Mauthner allerdings noch über diese Vertreter hinaus. Derart traditionsorientierte Auffassungen sind im Laufe des 20. Jahrhunderts wieder in den Hintergrund geraten. Namentlich im Vorfeld der Rechtschreibreform von 1997 wurden sie kaum ernst genommen; sie wurden erst im Laufe der anschließenden Debatte erneut etabliert. Ausführungen, die eine Geistesverwandtschaft zu Mauthner erkennen lassen, finden sich etwa bei Dieter E. Zimmer: Sobald wir […] eine Schreibung, und sei es die willkürlichste, verinnerlicht haben, hängen wir an  ihr und begegnen jedem Ansinnen, sie zu ändern, mit flammender Entrüstung. […] Denn in Sprachdingen sind auch die Progressivsten unter uns oft stockkonservativ. (Zimmer 1997: 100f.)

2.2.5 Oralität Interessant und durchaus modern wirken auch Mauthners Ausführungen zum Unterschied von oralen Kulturen und Schriftkulturen: „Es können die Menschen ohne Schrift sich die Schriftsprache nicht vorstellen; und wir Menschen der lesenden Zeit kaum die vorschriftliche Sprache.“ (B2: 578) Mauthner betont, dass in einer oralen Kultur solche Mittel wie Rhythmus und Reim als mnemotechnische Stützen einen völlig anderen Stellenwert haben als in unserer Kultur. Dasselbe gelte auch für Bräuche. (B2: 578f.) Hier ist Mauthner zwar wohl nicht wirklich eigenständig, sondern referiert weitgehend die Ansichten Wuttkes (1872) (auf den er sich auch explizit beruft). Immerhin gehörten derlei Überlegungen damals gewiss nicht zum Fundus des Selbstverständlichen. 6  Die theoretischen Grundlagen der Rechtschreibreform waren im 19. Jahrhundert sehr umstritten. Ein ausführliches zeitgenössisches Referat dieser Debatte bietet d’Hargues (1862).

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In Anknüpfung an diese Überlegungen gelangt Mauthner auch zu interessanten wissenssoziologischen Einsichten. So hebt er hervor, dass in einer oralen Kultur nur das tradiert wird, was als wertvoll angesehen wird, während die Schriftkultur auch die Bewahrung von (vermeintlich) ,Wertlosem‘ erlaubt. (B2: 587) Eine unmittelbare Konsequenz dieses Umstands ist, dass das ,Genie‘, das seiner Zeit ,weit voraus war‘, eine Erscheinung ist, die spezifisch an eine Schriftkultur gekoppelt ist, da die Gedanken eines solchen zunächst unverstandenen Vordenkers in einer oralen Kultur gar nicht lange genug tradiert würden, um wiederentdeckt werden zu können. (B2: 582f.)7 In unserer Zeit ist es vor allem dem Werk von Ong (1982) zu verdanken, dass Fragen der Oralität und der auf Oralität basierenden Kulturen wieder verstärkte Aufmerksamkeit gefunden haben.

3. Abschließende Bemerkungen Es soll nicht verschwiegen werden, dass sich in Mauthners Ausführungen zu Schrift und Schriftsprache auch manch gewagte und befremdliche Überlegung findet. Schwerlich nachvollziehbar ist es beispielsweise, wenn Mauthner auch eine Rückwirkung der geschriebenen auf die gesprochene Sprache postuliert und diese am Beispiel des Pronomens das und der Konjunktion daß illustriert: Während es hier ursprünglich um eine rein orthographische – syntaktisch motivierte – Differenzierung gegangen sei, werde das Wort heutzutage „in seiner verschiedenen Anwendung auch verschieden ausgesprochen“. (B2: 568) Auf welche Beobachtung bzw. welche deutsche Varietät sich dieses Postulat eines Ausspracheunterschieds stützt, bleibt einigermaßen unerfindlich. Neben solchen Kleinigkeiten stört in diesem Kapitel das einigermaßen penetrant integrierte epistemologische Lieblingsthema Mauthners, nämlich sein Postulat der Unmöglichkeit, mit Hilfe von Sprache zu Erkenntnis zu gelangen.8 In diesem Sinne heißt es dann am Schluss des schriftlinguistischen Kapitels,

7  Dies gilt natürlich auch für das Thema dieses Beitrags, d.h. für die Wiederentdeckung von Mauthners ,schriftlinguistischen‘ Einsichten. 8  Eine kritische Diskussion dieses ,Lieblingsthemas‘ bietet Eisen (1929). Vgl. auch Rinas (2011a).

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daß die Schrift nie und nirgends der Erkenntnis der Wirklichkeit auch nur um Haaresbreite näher rücken kann, als die schriftlose Sprache es vermochte; denn die Schrift bietet nur eine größere und dauerhaftere Sammlung von Erfahrungen, kann aber ebensowenig wie die Sprache über die Erfahrung hinausgelangen. (B2: 585)

Dieses Fazit wirkt im Kontext von Mauthners vorangegangenen schrifttheoretischen Erörterungen einigermaßen unmotiviert und deplatziert. Hier – wie auch an  vielen anderen Stellen seines philosophischen Hauptwerkes  – bekommt man den Eindruck, dass Mauthner sich so intensiv mit einem ,Nebenthema‘ befasst hat, dass ihm die Rückkehr zum Hauptthema kaum gelingt. Ob man dies für einen Nachteil halten soll, ist Ansichtssache. Mauthners (sprach-) philosophische Hauptthesen sind nämlich – mit guten Gründen – als schwach motiviert und sogar widersprüchlich zurückgewiesen worden.9 Im Rahmen seiner ,Nebenstudien‘ ist der eigenwillige, unkonventionelle und mutige Laie Mauthner hingegen zu manch interessanter Einsicht gelangt. Sein Kapitel über Schrift und Schriftsprache bietet hierfür diverse schöne Beispiele und verdiente es deshalb, im Rahmen der Schriftlinguistik stärker beachtet zu werden.

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Ein Glück, Jude zu sein. Deutsch-jüdische Affären in Fritz Mauthners Roman Der neue Ahasver

1. Historischer Hintergrund als Einleitung Als im Berliner Tagblatt ab November des Jahres 1881 Fritz Mauthners Werk Der neue Ahasver. Roman aus Jung-Berlin in Fortsetzungen erschien, bewegte der sog. Antisemitismusstreit die deutsche Öffentlichkeit seit zwei Jahren (Boehlich 1965; Thunecke 1986). Die Hauptprotagonisten hatten bereits ihre Argumente vorgelegt und damit einen Sturm der Empörung gegen Juden im Deutschen Reich erlöst. Den Anstoß gab der in Berlin an der FriedrichWilhelm-Universität tätige Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) mit seinen antisemitischen Thesen, die er am Ende seines 1879 erschienenen prognostischen Artikels Unsere Aussichten veröffentlicht hatte. Von Treitschke vertrat die Meinung, dass die deutsche Gesellschaft und die deutsch-christliche Kultur seitens der emanzipierten deutschen Juden wie auch der angeblich zuströmenden Ostjuden in ihrer Existenz bedroht seien. Der anerkannte Historiker bediente sich vieler antisemitischer Klischees und Vorurteile, um die negative Rolle der Juden in der deutschen Gesellschaft zu untermauern. Mit der oft zitierten Parole „die Juden sind unser Unglück“ gelang es ihm, die antisemitischen Kreise des Kaiserreiches zu radikalisieren. Zugleich trug er mit seinen Thesen wesentlich dazu bei, dass sich der Antisemitismus in höheren Gesellschaftsschichten und im deutschen Bildungsbürgertum durchsetzen konnte (Malitz 2005: 104f.). Gegen die antisemitischen Thesen von Treitschkes protestierten von einer einzigen Ausnahme abgesehen zunächst nur deutschjüdische Historiker und Theologen (Malitz 2005: 149).1 Doch ihre Verteidigung fand bei von Treitschke und auch in der deutschen Gesellschaft keinen entsprechenden Widerhall. Als Antwort auf die Kritik fasste er seine Thesen in der im Januar 1  Der einzige christliche Opponent von Treitschkes, der öffentlich gegen ihn argumentierte, war Karl Fischer, Direktor eines Frankfurter Gymnasiums (Fischer 1880).

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1880 herausgegebenen Streitschrift Ein Wort über unser Judenthum zusammen. Die Broschüre wurde noch mehrmals aufgelegt und stellte ein Fundament der antisemitischen Bewegung im Kaiserreich dar (von Treitschke 41881). Als erster prominenter Nicht-Jude griff in die bereits erhitzte und in die höchsten politischen Kreise des Kaiserreiches gelangte Diskussion der Zunftkollege, jedoch der politische Opponent von Treitschkes, Theodor Mommsen (1817–1903), ein. Mit seiner in den letzten Tagen des Jahres 1880 veröffentlichten Streitschrift Auch ein Wort über unser Judenthum positionierte er sich in vielen Aspekten gegen die Ansichten von Treitschkes. Mommsen warnte mehrmals in seinem Text vor verbreiteten Vorurteilen, negativen Äußerungen über die Fremden und vereinfachenden Generalisierungen hinsichtlich einer nationalen oder religiösen Bevölkerungsgruppe.2 Damit verfolgte er zwei Ziele: Zum einen nahm er seine Kollegen jüdischer Herkunft – besonders Ludwig Bamberger, der bereits 1879 mit seinem Essay Deutschtum und Judentum eine polemische Antwort auf von Treitschke lieferte – in Schutz. Zum anderen fühlte er sich in seinem beruflichen Ansehen durch von Treitschke angegriffen und versuchte daher zu beweisen, dass die von Treitschke im aktuellen Diskurs genutzten historischen Argumente über die Rolle der Juden in der Vergangenheit kaum aufrecht zu halten sind. Im dritten Band seiner Römischen Geschichte (1854–1885) urteilte Mommsen, dass das Judentum „ein wirksames Ferment des Kosmopolitismus und der nationalen Decomposition“ bilde (Mommsen 1856: 507). Auf den aktuellen geopolitischen Diskurs angewandt, vertrat Mommsen die Meinung, die assimilierten Juden würden dazu beitragen, die Partikularismen der einzelnen deutschen Länder im vereinigten Kaiserreich abzubauen und damit eine gesamtdeutsche Reichsidentität zu etablieren (Malitz 2005: 152f.). Diese Einstellung Mommsens missinterpretierte aber von Treitschke in seinen Ausführungen, nach dem die Juden durch spezifische Assimilationsverweigerung maßgeblich an der Zersetzung

2  „Die gute Sitte und noch eine höhere Pflicht gebieten, die Besonderheiten der einzelnen Nationen und Stämme mit Maß und Schonung zu disentiren [sic!]. Je namhafter ein Schriftsteller ist, desto mehr ist er verpflichtet, in dieser Hinsicht diejenigen Schranken einzuhalten, welche der internationale und der nationale Friede erfordert. Eine Charakteristik der Engländer und der Italiener von einem Deutschen, der Pommern und der Rheinländer von einem Schwaben ist ein gefährliches Unternehmen: bei aller Wahrhaftigkeit und allem Wohlwollen hört der Besprochene doch von allem nur den Tadel. Das unvermeidliche und unvermeidlich ungerechte Generalisiren [sic!] wirkt verstimmend und erbitternd, während es selbstverständlich eine Lächerlichkeit sein würde von solchen Schilderungen eine Besserung der bezeichneten Schäden zu erwarten.“ (Mommsen 1881: 10f.)

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des Römischen Reiches beteiligt waren, womit eine Parallele zur aktuellen Entwicklung im Deutschen Reich gezogen werden sollte. Trotz dieses Interpretationsunterschiedes und persönlicher Animositäten waren sich aber beide Historiker in Bezug auf die sog. ,Judenfrage‘ überraschenderweise in einer Sache einig. Sie verlangten die vollständige Assimilation der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Reich. Es sei die Pflicht der deutschen Juden, urteilte zum Schluss seiner Streitschrift Mommsen, „so weit [sic!] sie es können ohne gegen ihr Gewissen zu handeln, auch ihrerseits die Sonderart nach bestem Vermögen von sich zu thun und alle Schranken zwischen sich und den übrigen deutschen Mitbürgern mit entschlossener Hand niederzuwerfen“ (Mommsen 1881: 16). Wohl wegen dieser Forderung der unbedingten Assimilation blieben, trotz der gezeigten Zivilcourage Mommsens, die Reaktionen auf seine Ansichten jüdischerseits verhalten bis sogar kritisch.3 Zu einer offenen Diskussion oder gar Polemik gegen Mommsen seitens der jüdischen geistigen Elite kam es aber in der angespannten antisemitischen Situation nicht. Somit lese ich den im Folgenden behandelten Roman Fritz Mauthners als die einzige veröffentlichte und verschlüsselt kritische Auseinandersetzung eines deutschjüdischen Autors mit den Thesen Mommsens. Dabei schätzte Mauthner Mommsens unvoreingenommenen Ansatz und zollte dem Historiker seine Bewunderung. Mommsen verdiene, so Mauthner, auch von den Juden gehört zu werden, wenn er ihnen unangenehme Dinge sage (Mauthner 2001: 6). Von dieser Prämisse ist Mauthners Roman geprägt, wählte er doch als Motto die Worte Mommsens, wonach sein Buch sowohl den Judenschmeichlern wie den Judenhassern ,missfallen‘ solle. Trotz dieser Übereinstimmung gelingt es Mauthner, in seinem Roman die Debatte in der bereits aufgeheizten Atmosphäre auf eine neue Ebene zu heben und nicht nur gegen den Antisemitismus originell zu argumentieren. Wie auch von Treitschke ging es Mauthner eher darum, der damaligen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Als nicht gebürtiger Berliner und Autor jüdischer Herkunft nimmt

3  So bittet der jüdische Historiker und der wohl bekannteste Gegner von Treitschkes, Heinrich Graetz, in einem Brief an den Hamburger Rabbiner und Freund Mommsens Jacob Bernay, dass er seinen Freund über jüdische Religion aufklären und dieser seine Ansichten zu der geforderten unbedingten Assimilation revidieren möge: „Mommsens Broschüre […] behandelt uns Juden darin sehr gnädig, aber um welchen Preis! […] Ihr Wort, als ausserhalb der Theologie stehend mit Mommsens Kreisen befreundet, wäre von grossem Gewicht. Es ist Ihre Pflicht, Ihrem Freunde klar zu machen, dass man eine vieltausendjährige Religion nicht so cavaliérment abtut.“ (zit. n. Krieger 2003: Quelle 103, 754f.)

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er eine Minderheitenperspektive ein, die es ihm ermöglicht, der deutschen Mehrheitsgesellschaft neue, nicht zu unterschätzende Denkanstöße zu liefern.

2. Mauthners Originalität Mauthners Beitrag zum Antisemitismusstreit war in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Bemerkenswert genug ist bereits die Tatsache, dass Mauthner sich von Treitschkes antisemitischen Ausführungen nicht in direkter Weise provozieren ließ, sondern Mommsens Ansichten als Grundlage für eine sinnvolle Diskussion betrachtete. Mauthner war allerdings, im Gegensatz zur Mehrheit der an dem Streitgespräch Beteiligten, kein Historiker oder studierter Theologe. Er verzichtete deshalb auf die Beantwortung der Frage, ‚wie es eigentlich gewesen sei‘ mit den Juden in der Reichsgeschichte, die prominent vom Mitbegründer der wissenschaftlichen Historiographie, Franz Leopold Ranke (1795–1886), gestellt wurde. Die Rolle der Juden in der Vergangenheit wollte Mauthner nicht in den aktuellen politischen Diskurs einbringen. Vielmehr war er darum bemüht, die bisherige Überheblichkeit der wissenschaftlichen Historiographie zu überwinden und die Aufmerksamkeit der Leser auf die Zukunft des Deutschen Reiches zu lenken.4 Um seinen Ausblick in die Zukunft plastisch genug zu präsentieren und sich dabei mit Mommsens Thesen und Schlussfolgerungen auseinander zu setzen, griff er zu einer literarischen Fiktion. Dabei fühlte er sich direkt von Mommsen herausgefordert: Was über die Sonderstellung des deutschen Judenthums [sic!] im Guten wie im Bösen zu sagen ist – der Geschichtschreiber [sic!] wie der Litteraturhistoriker [sic!] unserer Zeit kann den Gegensatz nicht unerörtert lassen – dafür werden die Schriftsteller, welche in Betracht kommen, sehr wohl eine Form zu finden wissen, die der verständige Jude hinnehmen kann. (Mommsen 1881: 12f., Herv. MN)

Mauthner nahm sich die Gedanken Mommsens durchaus zu Herzen. In der an den von ihm geschätzten Historiker adressierten Widmung gesteht er, dass er gar nicht mit dem Beifall eines Ästhetikers rechne, sondern sich die Zustimmung eines Ethikers erbete, der zugleich ein Geschichtsschreiber sei (Mauthner 2001: 8). Mit eigenen Worten charakterisierte er sein Werk als „Tendenz4  Mauthner gelangt zum Schluss, dass es keine objektive Darstellung historischer Ereignisse gebe. Die Historiographie sei keine Wissenschaft, der Unterschied zwischen Belletristik und Geschichtsschreibung bleibe gering (Leinfellner/Thunecke 2004: 16).

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Roman“ (Mauthner 2001: 8). Es handelt sich eindeutig um ein polemisches Werk zu Mommsens Ansichten, das sich vor allem gegen die bereits erwähnte Assimilationsforderung richtet. Dem erzieherischen Ziel entsprechend ließ Mauthner sowohl aus den realen Aussagen der Beteiligten am Antisemitismusstreit, als auch aus seinen eigenen Beobachtungen und Erfahrungen eine fiktionale Welt entstehen, die jedoch an die Realität erinnerte. Es wurden sogar einige Protagonisten der antisemitischen Bewegung in die Romanhandlung eingebunden (Thunecke 1986: 143). Im Vordergrund der Romanhandlung steht das mannigfaltige Zusammenleben der als unterschiedliche Archetypen aufgefassten Juden und Deutschen. Aber der Text muss nicht unbedingt als ein Gesellschafts- oder gesellschaftskritischer Roman gelesen werden, der den Antisemitismus der deutschen Gesellschaft anprangert. Er lässt sich vielmehr als eine Romanze und noch mehr als ein trivialer Liebesroman lesen. Für den Inhalt und das Leserinteresse ist dabei der Umstand entscheidend, dass die Romanhandlung von vielfältigen Liebesbeziehungen und Wollust-Affären zwischen deutschen Christen und deutschen Juden geprägt ist. Die in der Regel verwickelten Ehe- bzw. Beziehungskonstellationen ermöglichen eine stark affektive Lesart, die dazu beiträgt, die deutsch-jüdische Problematik zu verinnerlichen. Die heute in der Geschichtswissenschaft akzentuierte Rolle der Gefühle bei der Erforschung des Antisemitismus nahm Mauthner in gewisser Weise vorweg (Jensen/Schüler-Springorum 2013: 413–554). Der Antisemitismus könne weder rationell verstanden noch bekämpft werden, den negativen Gefühlen und dem leidenschaftlichen Hass auf die Juden müsse emotionell entgegengewirkt werden. Gerade die Reduzierung der Lesart auf Beziehungsproblematik ermöglichte deshalb den (auch in wissenschaftliche Diskurse nicht eingeweihten) Lesern, die Folgen des Antisemitismusstreites emotional wahrzunehmen und Mitleid zu entwickeln. Dies müsse, so die Absicht Mauthners, dazu führen, dass Fragen bezüglich der künftigen Entwicklung im Hinblick auf die deutsch-jüdische Beziehung gestellt und unter Einfluss der emotionalen Führung beantwortet werden. Die durch die Liebesproblematik entstandenen Irrungen und Wirrungen macht sich Mauthner zunutze, um die damalige deutsche Gesellschaft kritisch ins Auge zu fassen. Dabei wird Mauthner zum direkten Vorgänger Fontanes, dessen 1887 erschienener Roman Irrungen Wirrungen5 sich mit der 5  Fontane begann die Arbeit an seinem Berliner Roman praktisch unmittelbar nach der Veröffentlichung von Mauthners Der neue Ahasver, also bereits im Jahre 1882. Er beendete ihn aber erst am Ende des Jahres 1886. Als Vorabdruck erschien der Text vom 24.7. bis zum 23.8.1887 in der Vossischen Zeitung, als Buch Ende Januar 1888. Mauthner besprach den Roman in Die Nation am 3.3.1888 (Kutter 2000: 131–136).

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gleichen Problematik beschäftigt: Wie kann das Liebes- und Lebensglück in einer konservativen Standesgesellschaft mit ihrem Ehren- und Pflichtkodex vereinbart werden? Doch thematisiert Mauthner nicht nur die standesgemäßen Ver- und Gebote wie Fontane, sondern es geht ihm vor allem um die religiösen bzw. ethnischen Konflikte. In diesem Sinne stellt Mauthner die Beziehungsproblematik in seinem „Tendenz-Roman“ viel komplexer dar, wobei er allerdings in seiner Erzählweise auf einen künstlerischen Anspruch weitestgehend verzichtete. Seine politische Aussage wollte er klar und anschaulich verstanden wissen, der innere Zwiespalt und die Leidensgeschichte der literarischen Figuren werden diesem Ziel untergeordnet. Die Analyse der Beziehungsproblematik entschlüsselt meines Erachtens die Ansichten Mauthners hervorragend und erhellt seine Position in der deutsch-jüdischen Schicksalsgemeinschaft. Er versucht, auf die Probleme der Assimilationsforderung Mommsens hinzuweisen und damit eine aus jüdischer Perspektive plausible Antwort an die deutsche Mehrheitsgesellschaft zu richten. Dieses Vorhaben gelingt ihm zwar, es ist jedoch fraglich, wie sein originärer Umgang mit den Stereotypen verstanden wird und ob dieser womöglich nicht kontraproduktiv wirkte. In seinem vor ca. 35 Jahren publizierten Aufsatz urteilte Jörg Thunecke über die Rezeption des Romans, dass dieser, obwohl gegen den Antisemitismus gerichtet, „dem deutsch-jüdischen Verhältnis im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts – und für die Zukunft – einen Bärendienst“ erwiesen habe. Er wäre „unwillentlich zum Schrittmacher des Antisemitismus geworden“, indem er zur „Störung und Zerreißung der deutsch-jüdischen Symbiose“ beigetragen hätte und „unwissentlich zum Wegbereiter des Schicksals all derjenigen Juden, die sechs Jahrzehnte später ihren NS-Schergen, oft widerstandslos, in den Tod folgen sollten.“ (Thunecke 1986: 147) Abgesehen davon, dass das Urteil Thuneckes etwas zu teleologisch ausfällt, überrascht seine Argumentation: In seinem Roman habe sich Mauthner, wenn auch unwissentlich, der negativen Judenstereotype von Treitschkes bedient. Der durchaus positiv gezeichnete Hauptheld und durchaus an die deutsche Gesellschaft angepasste Jude verweigerte den Schlusspunkt der Assimilation – die Taufe. Er lehnte die von der Gesellschaft geforderte Konversion als Lösung seines privaten Problems ab, weil er dies nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne. Sein von Thunecke als passiv bewertetes Verhalten habe letztendlich auch zur Folge, dass er sich im Duell erschießen lässt und damit den Freitod wählt (Thunecke 1986: 143). Es scheint, als ob Thunecke die Meinung Mommsens von der unbedingten Assimilation als das oberste Ziel für die Juden in Deutschland übernommen hätte. Doch gerade

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dagegen wendet sich Mauthner in und mit seinem Roman. Nicht die von der Mehrheitsgesellschaft beanspruchte Assimilation war in der Krise, wie Thunecke bereits im Titel seines Aufsatzes suggeriert, sondern die Integration in die deutsche Gesellschaft ist ins Stocken geraten. Eine Integration erfordert nämlich nicht nur seitens der Minderheit eine Bereitschaft, sich anzupassen, sondern eben auch eine der Mehrheitsgesellschaft, sich produktiv mit der anderen Kultur auseinander zu setzen und sich von dieser gegebenenfalls bereichern zu lassen (Berry 2005: 697–712). Der Roman sollte unter eben diesem Paradigma der gescheiterten Integration gelesen werden. Deshalb soll im Folgenden die von Thunecke gebotene Interpretation, die die Imagologie in den Vordergrund stellt und auf die Entsagung des Helden hinweist, in ein anderes Licht gerückt werden. Zum einen ist nach den Absichten des Autors zu fragen, der sich einer stereotypischen Darstellung in seinem politischen Roman bedient. Zum anderen ist die im Roman gebotene Art von Resignation keineswegs eine freie Entscheidung des Haupthelden gewesen, sondern resultiert zwangsläufig aus den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen. Gerade die Darstellung der Liebesverhältnisse verknüpft sowohl die individuellen wie auch gesellschaftlichen Faktoren und lässt auf die vom Autor beabsichtigte Wirkung seines Romans schließen. Weil die Herzensangelegenheiten an der Schnittstelle zwischen den individuellen und gesellschaftlichen Forderungen liegen, verdeutlichen sie auf verständliche und emotionale Weise die Auseinandersetzungen eines Individuums mit seinem gesellschaftlichen Umfeld. Ein Ehe- oder ein Liebesverhältnis kennzeichnet nicht nur die individuellen Eigenschaften der Protagonisten, sondern sagt ebenfalls auch etwas über die gesellschaftliche Atmosphäre aus. Die (Misch-)Ehe wird somit zum Test der gesellschaftlichen Mündigkeit.

3. Suche nach dem Glück und das Scheitern als Leitmotiv Die Romanhandlung lässt sich verkürzt als eine fehlgeschlagene Suche nach dem Lebensglück in den zunächst sehr euphorisch wahrgenommenen, frühen Gründerjahren beschreiben. Stellvertretend für das bittere Schicksal der deutschen Juden ist vor allem die Hauptfigur, Dr. Heinrich Wolff, ein junger Arzt. Diese am Anfang selbstbewusste, optimistisch gezeichnete und daher glückliche Figur trägt eindeutig autobiographische Züge (Schapkow 2013: 26).

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Dr. Wolff stammt aus Prag, ist jüdischer Herkunft, aber religiös indifferent, ein Leser von Spinoza, dabei assimiliert und akkulturiert in der deutschen Umgebung. Nach einem erfolgreichen Studium der Medizin in Leipzig kehrt er nicht nach Prag zurück, sondern hofft, in der Reichshauptstadt sein Leben meistern zu können. Denn in seiner Heimat sind bereits, wie es Theodor Mommsen während der Badeni-Krise in seinem Schmähartikel ausdrückte, die tschechischen „Apostel der Barbarisierung“ (Mommsen 1897: Titelseite) am Werke: Mein Vater aber […], mitten unter Slaven [lebend], wurde er mit seiner jungen Frau von der Stätte seines Wirkens vertrieben, weil er ein deutscher Arzt war, und weil man dies in einer tschechischen Landschaft nicht vergass, warf der Pöbel Steine in das Zimmer, in welchem meine Mutter ihr erstes Kind, meine Schwester, gebar. Meine Mutter blieb am Leben, das Kind starb. Weil mein Vater ein Deutscher war und für sein Volk eintrat, wurde er bis zu seinem Tode verleumdet und geschmäht. (Mauthner 2001: 384)

Kein Wunder, dass Heinrich nach dieser Lebenserfahrung zu einem überzeugten deutschen Patrioten wurde. Er ist fähig, Opfer für die deutsche Nation zu bringen und positive Emotionen für die Sprache, Kultur und Landschaft zu entwickeln. Und die reichsdeutsche Kultur verspricht noch mehr als den „deutschen Himmel“ und „deutsche Sonne“ (Mauthner 2001: 23). Heinrich locken nicht nur die Errungenschaften der deutschen Kultur, sondern auch die ideellen Werte der bürgerlichen, modernen Gesellschaft, die Freiheit, Toleranz und Humanität versprechen. Als sich Heinrich aber eine der antisemitischen Hasstiraden anhören muss, heißt es im Roman: „Der Deutsche war in ihm empört, nicht der Jude.“ (Mauthner 2001: 298) Wenn James Goldwasser für Mauthners Identität feststellte, dass sein Deutsch-Sein nicht ohne sein Jude-Sein hätte zustande kommen können (Goldwasser 2004: 54), gilt dies auch für die Romanfigur Heinrich. Er, ein Alter Ego Mauthners, wurde von dieser als deutsche Welt empfundenen Atmosphäre deshalb angelockt, weil sie jedem deutschsprachigen Individuum versprach, einen Bildungsgang zu absolvieren, dadurch sozialen Aufstieg zu erreichen und freie Entscheidungen nach seiner eigenen Fasson zu gewähren. Diese Werte und Ideale machte sich Heinrich, sozusagen stellvertretend für die jüdische Gesellschaft, zu eigen und begab sich auf den Weg einer raschen Assimilation. Heinrich ist damit ein Idealbild eines überaus modernen Staatsbürgers, wie der jüdische Schneider Oscar im Roman bemerkt: „Sie sind Jude? Man hört es nicht, man sieht es nicht, man fühlt es nicht, und man bezahlt es nicht! Es ist ja unglaublich und doch, Sie sagen’s, es muss wahr sein.“ (Mauthner 2001: 300)

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In Berlin verliebt er sich in eine Tochter aus der preußischen Junkerfamilie von Auenheim. Obwohl die hübsche, brave und tugendhafte Tochter – mit dem französischen Namen Clemence – seine Liebe erwidert, kommt es zu keinem glücklichen Ende. Das vorrückende Unheil wird im Roman bereits mit dem Tod der Mutter von Clemence eingeleitet. Diese wird als milde, tolerante Humanistin geschildert. Als Heinrich in einem vertraulichen Gespräch mit der auf dem Sterbebett liegenden Frau von Auenheim die Liebe zu ihrer ältesten Tochter, Clemence, gesteht, bekommt er überraschend ihren Segen. Der von ihrer standesgemäßen, aber lieblosen Ehe enttäuschten Frau liegt das private Glück ihrer beiden Töchter am Herzen. Sie sieht nur in der von gesellschaftlichem Zwang befreiten Liebesehe ein Fundament des Lebensglückes, das ihr selbst verwehrt geblieben war. Nach dem Geständnis und dem vermeintlichen Selbstausschluss Heinrichs, der unsicher und besorgt auf seine bürgerliche Position und vor allem auf die jüdische Herkunft hinweist, sinkt die Mutter „lächelnd“ in ihr Kissen zurück mit den Worten: „Ich meinte schon, Sie hätten irgendein Verbrechen begangen.“ (Mauthner 2001: 139) Heinrichs jüdische Herkunft und bürgerlicher Stand sind für die Sterbende kein Hindernis auf dem Weg zum persönlichen Glück. Doch diese liberalen und toleranten Ansichten teilt sie außer Heinrich mit keiner anderen Person in ihrer Umgebung. Ihr Tod personifiziert somit den Untergang der freiheitsliebenden Grundsätze einer modernen und daher freien Gesellschaft und des menschlichen Zusammenlebens. Die Tragik wird damit eingeleitet. Die gefühlvolle Liebesbeziehung der beiden ehrlichen jungen Leute wird von der Gesellschaft nicht bedingungslos akzeptiert, sondern es werden Anforderungen an Heinrich gestellt, die angeblich seine Liebe zu Clemence beweisen sollen. Heinrich muss sich den Ansprüchen der Gesellschaft beugen. Bald muss er jedoch feststellen, dass er seines individuellen Entscheidungsrechtes beraubt wird und sich nicht seines eigenen Verstandes mehr bedienen kann. Dies verursacht Gewissensbisse, die nicht einmal sein aristokratischer und evangelischer Freund versteht, der die jüngere Tochter aus dem Hause von Auenheim heiraten will. Er ist ebenfalls in alten, jedoch für ihn Vorteil versprechenden, feudalen Traditionen verhaftet und kaum bereit, Zugeständnisse für das Glück des anderen Liebespaares zu machen. Selbst die Braut Heinrichs, Clemence, beharrt stur auf der Bedingung, Heinrich müsse sie als Christ ehelichen. Kritisch betrachtet Mauthner die Unmöglichkeit, eine Ehe nach eigener freier Entscheidung und ohne Rücksicht auf Stand, Herkunft und Religion einzugehen. Auch deshalb verlacht Heinrich die in Prager jüdischen Kreisen gängige Vorstellung, er müsse nun nach jüdischen Gewohnheiten eine gute Partie aus den benachbarten jüdischen Kreisen heiraten. Der

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bereits angebahnten Vernunftsehe kann er leicht entgehen, weil sein Großvater viel Verständnis für seinen Enkel aufbringt. Ein Zeichen davon, dass die traditionelle jüdische Gesellschaft gewillt ist, sich der modernen Zeit anzupassen. Umso frustrierender ist es für Heinrich zu begreifen, dass ihn das Schicksal in der sich rasch entwickelnden Metropole des Deutschen Reiches doch auf eine andere Art und Weise einholt und er sein Privatglück nicht frei gestalten kann. Gerade im erträumten und mit Hoffnungen überschütteten Berlin muss er feststellen, dass eine nicht standesgemäße Mischehe kaum akzeptiert werden kann. Wenn man dann diese gescheiterte Liebesbeziehung auf die deutsch-jüdische Beziehung überträgt, steckt darin eine deutliche Kritik an den konservativen Ansichten Mommsens und darüber hinaus der ganzen deutschen Gesellschaft. Auch die anderen Ehebeziehungen und Liebesaffären bestätigen die These, dass der Romanautor kein Entgegenkommen und Integrationsvorhaben der deutschen Gesellschaft beobachtet.

4. Deutsch-jüdische Mischehe Heinrichs und Clemences Scheitern bedeutet hingegen nicht, dass es im Roman keine aus Liebe eingegangene und funktionierende christlich-jüdische Mischehe gäbe. Der Lebensbund Dorettas und des jüdischen Schneiders Oscar Fränkel wird vom Autor in gewisser Weise als Vorbild präsentiert, obwohl das Ehepaar unter Armut leidet und von gesellschaftlichen Vorurteilen bedroht wird. Der Familienname erinnert nicht zufällig an den aus Prag stammenden jüdischen Reformisten Zecharias Frankel, der sich durch Anpassung der jüdischen Religion an die Moderne eine Gleichstellung der Juden und Christen versprach ( [3.7.2019]). Mauthners Großvater soll ein Sympathisant dieser aus dem Judentum hervorgegangenen Reformbewegung gewesen sein (Goldwasser 2004: 58). Auch die Romanfigur des Schneiders trachtet nach einer solchen Synthese des jüdischen und christlichen Glaubens. Obwohl er intellektuell nicht fähig ist, dieses Ziel zu erreichen, ist es die Gesellschaft, die das gewagte Experiment letztendlich verhindert. Der närrische, jedoch aufrichtige Schneider gesteht Heinrich gegenüber: Es ist nicht, wie es sein sollte, Herr Doktor. […] Sie können den traurigsten Zwiespalt der menschlichen Individualien [sic!] unmöglich fassen; Sie können nicht wissen, wie es tut,

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wenn die Menschen eine neue Grenzlinie ziehen und einer das Pech hat, so zu liegen, dass die neue Grenzlinie ihm mitten durch seinen armen Rücken geht. (Mauthner 2001: 300)

Und Heinrich antwortet mit voller Übereinstimmung: „auch ich bin, was man so nennt, ein Jude“ (Mauthner 2001: 300) und meint dabei: ein zum Deutschtum assimilierter Jude. Der Schneider leidet unter der gleichen Exklusion durch die deutsche Gesellschaft wie Heinrich und trotzdem besteht zwischen beiden ein wesentlicher Unterschied. Heinrich sieht noch, trotz der eigenen enttäuschenden Erfahrung, eindeutig eine glückliche Zukunft der deutsch-jüdischen Symbiose. Diese soll auf keinem religiösen Synkretismus mehr beruhen, sondern wird ganz profan von dem dreimonatigen Sohn der gemischten Familie Fränkel personifiziert. Dieses kränkelnde Kind einer christlichen Mutter und eines jüdischen Vaters mit dem sprechenden Namen Siegfried wird symbolhaft aus seiner schweren Krankheit durch die Hilfsbereitschaft des jüdischen Arztes und die christliche Liebe Clemences gerettet. Heinrich versucht, dem philosophierenden Schneider seine Hoffnungen zu übermitteln, indem er ihn ermutigt, weniger zu sinnieren und sich desto intensiver um seine Familie zu kümmern. Es sei, so der jüdische Arzt Heinrich zu dem jüdischen Schneider, „[…] lieber für die Dauer seines Lebens auf die Erlösung Israels zu verzichten, […] und dafür Siegfried zu seinem würdigen Nachfolger in der Humanität heranzubilden.“ (Mauthner 2001: 313) Das, allerdings noch kränkelnde, Kind aus einer Mischehe soll damit zum Symbol der Auferstehung einer modernen deutschen Gesellschaft werden. Doch auch die Zukunft dieses an sich hoffnungsfreudigen Ehepaars ist von Antisemitismus und Intoleranz geprägt und Berlin wird als ein Ort der Bedrohung dargestellt. Am Ende des Romans sieht Heinrich den Ausweg für die Familie nur in der Auswanderung nach Amerika. Es ist ein letztes Zeichen der Humanität, dass Heinrich der Familie Fränkel in seinem Testament Gelder für die Überfahrt hinterlässt. Siegfried als Retter der Humanität kann nicht in Deutschland, sondern nur im amerikanischen Exil zu Kräften kommen.

5. Jüdisch-christliche Affären Die nächste christlich-jüdische Mischehe ist von noch dramatischeren Umständen gekennzeichnet und endet symptomatisch wieder in einer Kata­

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strophe. Schuld daran ist vor allem der christliche Bräutigam Kurt von der Egge. Dieser verlor aufgrund einer anrüchigen Affäre das Anrecht, als künftiges Haupt der adeligen Familie zu gelten. Die Verletzung des Ehrenkodexes führte auch dazu, dass er beim Militär außer Dienst gestellt wurde. Seitdem schlägt er sich in Berlin durch, ohne ein standesgemäßes Leben nach seinem Verständnis führen zu können. In dieser Lage lernt er die hübsche Jüdin Tina Kolliner kennen, eine aus Prag stammende Jugendfreundin Heinrichs. Tina, ein Ebenbild Kurts, wird von Mauthner durch negative antijüdische Vorurteile karikiert. Als ein charakterloses Biest strebt sie rücksichtslos und egoistisch nach Luxus, Geld und gesellschaftlicher Anerkennung. Bereits vor Jahren ging sie aus diesen Gründen eine Vernunftehe mit Julius Feigelbaum ein, einem ebenfalls stereotypisch dargestellten Prototyp eines jüdischen Emporkömmlings im 19. Jahrhundert. Tina liebt ihren reichen, aber hässlichen Ehemann nicht. Um ihre Ansprüche nach Besitz zu stillen, erpresst sie ihn sogar. Zum Familienleben unfähig, scheut sie sich aber nicht, weitere Liebesaffären zu suchen. So versucht sie auch, Heinrich als Liebhaber zu gewinnen, da er im Hause von Auenheim verkehrt. Als er sie zurückweist, gerät Kurt ins Visier ihres Interesses. Tina verspricht sich zunächst, durch die Liaison in die aristokratische Gesellschaft Berlins vordringen zu können. Auch Kurt begehrt sie nicht nur wegen ihrer Ausstrahlungskraft, sondern wittert dahinter die Möglichkeit, vom Reichtum der jüdischen Familie Feigelbaum zu profitieren. Um beide Ziele zu erreichen, mündet die sich anbahnende Zweckaffäre in einer überraschenden ‚Unvernuftehe‘: Kurt heiratet die viel weniger anziehende, jedoch im Charakter sehr feste Schwester von Julius, Emma Feigelbaum. Er gewinnt dadurch die ersehnte finanzielle Absicherung der Familie und zugleich die Nähe zu seiner attraktiven Schwägerin Tina. Allerdings zerreißt der Wüstling damit die letzte Verbindung zu dem konservativen Familienoberhaupt von der Egge, der eine jüdische Braut nicht akzeptieren will. Umgekehrt sind die jüdische Familie und selbstverständlich auch die Braut, Emma Feigelbaum, gewillt, den Preis für die Heirat zu leisten und die nötige Taufe der Braut zu akzeptieren. Trotz Emmas tugendhaften Charakters und ihrer Treue zum ehrlosen Ehemann endet die gemischte Zweckehe tragisch. Emma stirbt, von Kurt grob vernachlässigt, in Einsamkeit leidend und sich aufopfernd. Auch sie rettet kurz vor ihrem Tod ein Liebespaar, das dem Freund Heinrichs und Bräutigam der jüngeren Tochter von Auenheim die Schuld bei ihrem Vater Isaac erlässt. Kurt kann dagegen den Familienreichtum Feigelbaums mit Tina verprassen. Die jüdischen Väter, Feigelbaum und Kolliner, beide Karikaturen typischer Parvenüs, die über Sittenlosigkeit ihrer Nachkommen entsetzt sind,

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bitten Tina, sie solle zu ihrem Ehemann Julius zurückkehren. Sie lehnt zunächst ab. Als aber selbst der inzwischen verarmte Julius sie anfleht, ihm in der bitteren Not zu helfen, diese Krise durch Liebe zu überwinden und einen Neuanfang zu wagen, erlebt die schöne Bestie Tina eine Bekehrung. Sie fällt dem „nicht mehr so dicken Julius“ um den Hals. Die Verwandlung einer im Judentum traditionellen Vernunft- in eine Liebesehe hat zur Folge, dass die alten jüdischen Unternehmer in Tränen ausbrechen. Das erweckte Mitgefühl kann als ein Zeichen betrachtet werden, dass die jüdische Gesellschaft im weit höheren Grade als die deutsche zur Umgestaltung bereit war und sich von den eigenen unzeitgemäßen Traditionen emanzipieren konnte.

6. Schlussfolgerungen Die Betrachtung der Liebes- und Ehebeziehungen im Roman verdeutlicht viele Aspekte des deutsch-jüdischen Verhältnisses in der Phase des Ausbaus der modernen deutschen nationalen Gesellschaft. Zunächst ist es interessant, dass der Autor sich im Roman keiner schwarz-weißen Dichotomie zwischen der deutschen und der jüdischen Gesellschaft bedient. Die ethische Grenzlinie deckt sich nicht mit der ethnischen Markierung. Die christlichen wie auch die jüdischen Romanhelden haben sowohl gute als auch schlechte Eigenschaften, sind verdorbene oder ehrliche Charaktere. Die Träger der negativen antisemitischen Stereotype sind nicht nur die Juden und umgekehrt: Zum Antisemiten kann auch ein Nicht-Deutscher, im Roman ein Schwarzafrikaner, manipuliert werden. Was allerdings die jüdische von der christlichen Welt unterscheidet und die jüdische Gesellschaft im positiven Licht erscheinen lässt, ist ihre Fähigkeit, sich der modernen Welt in einem viel stärkeren Maße anpassen zu können. Der Romanheld Heinrich Wolff konnte sich dementsprechend als glücklich einschätzen, weil er die Modernität verstand, an sie fest glaubte und sie in seinem Leben umzusetzen versuchte. Doch – mit Fontane gesprochen – kommt jedes Glück teuer zu stehen (Fontane 2010: 36). Den mutigen Sprung in die Moderne schafft die deutsch-christliche Gesellschaft nicht. Dass die Liebesehe im Roman keine Akzeptanz findet, verdeutlicht die Befürchtung Mauthners über die Verkrustung einer solchen Gesellschaft. Sie passt ihre traditionellen Werte den Herausforderungen einer neuen nationalen, zugleich aber bürgerlich-toleranten Gesellschaft nicht an. Somit wird der nationale Gedanke nicht als ein Fortschritt wahrgenommen,

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sondern wie im Falle der tschechischen Gesellschaft, nur eindimensional, d. h. chauvinistisch. Die bürgerlichen, freiheitlichen Werte der Französischen Revolution finden keinen Widerhall. Mauthner drückt im Roman diese Besorgnis explizit aus; im Gespräch über den Lebensentwurf zwischen Heinrich und seinem uralten, weisen und vor allem toleranten jüdischen Großvater lesen wir: Du hast draußen Deine Freunde, sagst Du? […] Du hast draußen im Reich Deine Lehrer, sagst Du? Und dann hast Du draußen Deine Nation, die Deutschen? Ich will’s glauben, dass es draußen besser ist als bei uns. Wenn Du aber fünfzig Jahre lang mit einem von ihnen gegessen und getrunken, gelebt und gehandelt hast, wenn Du ihm zehnmal das Leben oder einmal das Kind gerettet hast und eines Tages gefällt ihm nicht der Zwirn, womit ist zugenäht der Knopf an Deinem Rock, wird er Dich an der Gurgel packen und schreien: Du Jud! (Mauthner 2001: 30)

Die mahnende Prophezeiung wird im Roman zur Realität. Auch die Hauptfigur gelangt zum von Hannah Arendt formulierten Schluss: „Aus dem Judentum kommt man nicht heraus.“ (Arendt 2014: 226) Nicht in der Passivität oder im mangelnden Assimilationswillen der jüdischen Gesellschaft sieht Mauthner die Ursachen des Antisemitismus, sondern in der Unfähigkeit der christlich-deutschen Gesellschaft zu handeln und entgegenzukommen. Damit nimmt Mauthner Adam Weisbergers These zur jüdischen Situation vorweg. Der ehrenhafte Heinrich Wolff leidet unter dem Schicksal einer paradigmatischen ,Marginalperson‘, die die ursprüngliche Gesellschaft mit Erwartungen verlässt, aber trotz ihres Anpassungsbemühens und Willens sich für die moderne Gesellschaft zu opfern, bleibt es ihr verwehrt, in der erträumten Welt anzukommen (Weisberger 1997: 41). Aus der ambivalenten Situation kann der Hauptheld nicht mit eigenen Kräften entkommen, sondern es muss ihm von der Gesellschaft ein Integrationsangebot vorgelegt werden. Sein Freitod soll dann ein Ausrufezeichen Mauthners sein. Zum einen kann dieses als der äußerste Freiheitsdrang der deutschen Juden interpretiert werden, zum anderen ist es aber auch ein Warnsignal, dass ein solches Integrationsangebot an die jüdische Gesellschaft bisher ausblieb. In seinem Roman zeigt Mauthner, dass sich die anfangs vielversprechende jüdisch-deutsche Beziehung unter diesen Umständen zu einer lebensunfähigen Affäre entpuppen kann.

Ein Glück, Jude zu sein

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Mirek Němec

Thunecke, Jörg (1986): Assimilation in der Krise. Die Thematisierung der „Juden­ frage“ in Fritz Mauthners Roman „Der neue Ahasver“ (1882). – In: Röll, Walter/ Schöne, Albrecht (Hgg.), Auseinandersetzungen um jiddische Sprache und Literatur. Jüdische Komponente in der deutschen Literatur – die Assimilationskontroverse. Tübingen: Niemeyer, 139–149. Treitschke, Heinrich von (41881): Ein Wort über unser Judenthum. Berlin: Reimer. Weisberger, Adam M. (1997): The Jewish Ethic and the Spirit of Socialism. New York et al.: Lang.

Václav Petrbok

Anmerkungen zur tschechischen Rezeption des Werkes von Fritz Mauthner1 Am Anfang des Beitrags steht folgende, wenig überraschende Feststellung: Die Rezeption des Werkes von Fritz Mauthner im tschechischen unterscheidet sich nicht von jener im deutschsprachigen Milieu. Sie ist widersprüchlich und paradox, genauso wie Mauthners gesamtes Lebenswerk. Warum könnte es trotz dieser rezeptionsgeschichtlichen Parallelen wichtig sein, sich der Aufnahme seines Werkes von der tschechischen Seite aus detaillierter zu widmen? Wie bekannt, wurde er im ostböhmischen Hořitz/Hořice geboren, in Prag verbrachte er seine Kindheit, seine Jugend- und Studienjahre. In Prag begann er auch, in einem Advokatenbüro zu arbeiten, und wirkte dort zusätzlich als Feuilletonist und Kritiker im Tagesboten aus Böhmen (1874–1876). Nach Berlin zog er als 25-Jähriger. In seinem belletristischen Werk sind viele tschechische Themen und Motive zu finden. Das multinationale Prag, aber auch Böhmen im breiteren Sinne griff er als belletristische und publizistische Themen auf. Neben seinen – vielleicht zu Unrecht berüchtigten – Romanen Der letzte Deutsche von Blatna (1887) und Die böhmische Handschrift (1897)2 ist hier auch die Novelle Vom armen Franischko (1879) mit einem slowakischen Haupthelden zu erwähnen. Das deutsch-tschechische Umfeld ist ebenso in der Handlung des sog. Berliner Gesellschaftsromans Der neue Ahasver (1882) oder in der späteren ‚Novelle aus Böhmen‘ Der goldene Fiedelbogen (1917) präsent. Mauthner selbst betonte an mehreren Stellen – am deutlichsten in seinen Erinnerungen. Prager Jugendjahre, die ab 1912 in den Süddeutschen Monatsheften erschienen (als Buch erst 1918, hier bes. auf S. 49), aber auch z. B. in seiner Schrift Muttersprache und Vaterland (1920: 5–9) – die für sein Schaffen prägende Rolle des multinationalen Prager Milieus. Dieser lebensweltliche Kontext sowie u. a. auch die Vorlesungen und Gespräche von bzw. mit Ernst Mach bewirkten, dass Mauthner seine Position als assimilierter deutschsprachiger Jude reflektierte und infolge dessen auch die erkenntnistheoretische Dimension 1  Für die sprachliche Redaktion des Textes sowie wertvolle Kommentar bin ich Tilman Kasten dankbar. 2  Der Verfasser dieses Beitrags präsentierte bereits andernorts eine komplexere Interpreta­ tion beider Romane (Petrbok 2014, 2019: 1221–1225).

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der Sprache überprüfte – auf Letzteres verweisen detalliert Veronika Jičínská (2014, 2016), Carolin Kosuch (2015), ganz neu und verstärkt Moritz Csáky (2019: 213–218 u.  ff.), wichtige Impulse lieferten schon Elisabeth Leinfellner und Jörg Thunecke (2004), Jacques Le Rider (2012) oder Karsten Rinas (2005). Mauthners früheste Versuche, die spezifische Rolle der Sprache im multilingualen Prag zu betrachten, sind nämlich schon auf die frühen 1870er Jahre zu datieren. Sie fallen zeitlich mit dem Erscheinen anderer sprachphilosophischer Arbeiten einiger Prager Publizisten zusammen; so publizierte etwa Heinrich Teweles 1884 seine Studie Der Kampf um die Sprache, in der er Mauthner übrigens mehrere herzliche Erinnerungen widmete (Teweles 1918a, 1918b, 1923).3 Es ist daher erstaunlich, dass die Publikationen, die sich mit dem ‚frühen‘ Mauthner beschäftigen, das tschechische Umfeld vernachlässigen. Es ist für sie im besten Falle ein statisches und undifferenziertes pars pro toto. Dieser Befund trifft leider auch auf viele biographische Handbücher und Lexika nicht nur deutschsprachiger Provenienz zu. Auch das vertiefte Interesse für belletristische und dramatische Arbeiten Mauthners brachte zu dem hier umrissenen Thema kaum etwas Neues. Mit Blick auf seine Prager Netzwerke und Kontakte  – auf tschechischer Seite z. B. mit dem späteren Politiker Josef Herold (1850–1908),4 dem Dramatiker Emanuel Bozděch (1841–1889?) (Mauthner 1918: 143), dem Komponisten Bedřich/Friedrich Smetana (1824–1884) (Mauthner 1918: 143) oder dem Journalisten August Wilhelm Ambros (1816–1876) (Kosuch 2015: 50) – wäre es sicherlich sehr aufschlussreich, auch seine frühe Publikations- und Rezensionstätigkeit zu untersuchen. Dies ist nicht zuletzt insofern der Fall, als in dieser Zeit, in den späten 1860er und frühen 1870er Jahren, eine ausgeprägte nationale Profilierung des deutsch- und tschechischsprachigen Milieus noch nicht zu beobachten war. Die sprachlichen und kulturellen Differenzen zwi3  Im damals noch puristischen Ton rezensierte er auch das Buch von Teweles (Mauthner 1884), in dem dieser „dem Schmerze über die Verhunzung unserer Muttersprache durch czechische Einflüsse freiesten Lauf läßt“ und seine erste Aufgabe darin sieht, „die Zudringlichkeit und Herrschsucht der czechischen Sprache zurück[zu]weisen“. 4  Laut einem anonymen Verfasser (Anonym 1908) soll Mauthner sogar ein Gedicht aus der Sammlung Jaré zvěsti [Junge Nachrichten] seines Kommilitonen Herold ins Deutsche übersetzt haben. Von einer anderen Freundschaft berichtet der tschechische Dichter Josef Svatopluk Machar (1864–1942) (Machar 1920: 96): Sein Jugendfreund Rudolf Janovic/ Janowitz, aus Brandýs nad Labem/Brandeis a. d. Elbe war ein Cousin von Fritz Mauthner. Machar widmete ihm sogar seine „Sonety nudícího se člověka“ [Sonette eines gelangweilten Menschen] aus der Gedichtsammlung Confiteor (Machar 2012: 122–124). Zu Janovic vgl. Donath (1930: 13).

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schen Tschechen und Deutschen interpretierte man erst in der Folgezeit zunehmend als vermeintlich unüberbrückbare Differenzen. Die Konstruktion dieser Unterschiede sollte den Anspruch des einen oder des anderen nationalen Lagers auf sprachliche, kulturelle und später auch politische Macht begründen helfen. Die österreichische Auffassung des Liberalismus, bzw. vielmehr dessen Prämissen, wurde unterlaufen: Deutlich wurde nämlich die Kluft zwischen seinen proklamierten politischen Ansprüchen und Zielen (u. a. der Verteidigung der demokratischen Grundsätze) und seiner tatsächlichen sozialen Praxis (u. a. der Akzeptanz der deutschösterreichischen Hegemonie über der böhmisch-tschechischen Majorität) (Luft 2003). Aber auch die tschechische lokale Selbstverwaltung trat spätestens seit Anfang der 1880er Jahre vehement nicht nur in Prag gegen die deutschschsprachigen gesellschaftlichen und kulturellen Einrichtungen und Institutionen auf. Durch die Betrachtung der Aufnahme von Mauthners Werk bei ‚den Anderen‘, d. h. bei den Tschechen, kann im breiteren Rahmen zu den genaueren verflechtungsgeschichtlichen Analysen des deutschen und tschechischen Sprachraums beigetragen werden. Unter anderem kann sie auch die Mechanismen der allmählich anwachsenden Abgrenzung und Segregation beider ‚nationaler‘ Gemeinschaften anhand eines prominenten Autors erklären. Nicht zuletzt leistet diese Analyse auch einen Beitrag zur künftigen eingehenden kulturgeschichtlichen Untersuchung des deutschsprachigen Prags der 1850er bis 1880er Jahre, also zweier Jahrzehnte, die der Kafka-Zeit vorangingen (Topor 2016). In den folgenden Ausführungen stelle ich in chronologischer Reihenfolge und zugleich mit typologischer Absicht anhand konkreter Fallbeispiele die Haupttendenzen der tschechischen Debatte über Mauthners belletristisches und philosophisches Werk vor. Die Rezeption seines vielseitigen Werkes kann nur auf komplexe Weise rekonstruiert werden. Ich gehe von der folgenden These aus: Obwohl das Stigma Mauthners als eines Autors, der in seinen Romanen tschechenfeindliche Einstellung gewissermaßen ‚in Szene setzte‘, allmählich an Relevanz verlor, verschwand es nie völlig; das Stigma wurde bezeichnenderweise sogar in der Zeit der verstärkten Bedrohung der Tschechoslowakei in den 1930er Jahren (re)aktiviert. Eine nicht unbedeutende Rolle spielten dabei auch antisemitische Ressentiments. Dieses nicht immer differenzierte Urteil beeinflusste in der Folgezeit auch die Bewertung des gesamten Vermächtnisses von Mauthner; teilweise wirkt es bis in unsere Gegenwart. Noch in der Zeit seines öffentlichen Wirkens in Prag war Mauthner auch der tschechischen kulturellen und politischen Öffentlichkeit bekannt. In der – wegen der Erwerbung der Öffentlichkeit auf Deutsch erschienenen  – Zei-

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tung Politik, die die Interessen der Alttschechischen Partei vertrat, erschien die Rezension seines Schauspiels Anna (1874). Diese Tatsache überrascht wohl wenig, denn Politik (wie auch das von der Böhmischen Statthalterei herausgegebene Prager Abendblatt) veröffentlichte regelmäßig Nachrichten über das deutsche sowie auch über das tschechische Theater und entsprechend auch über Opernaufführungen. Der Rezensent war der Meinung, dass zwar Prag seit einer Reihe von Jahren gewiß nicht zu den Orten gehört, welche auf dem Gebiete der Schriftstellerproduktion in der deutschen Produktion einen hervorragenden Platz einnehmen[,] und die Namen deutschschreibender Autoren, welche sich über den […] Dilettantismus erheben, dürften zu zählen sein. (Anonym 1874)

Aber gerade deshalb verdiene Mauthner, der sich „in der letzten Zeit […] bemerklich macht“, Anerkennung: „das interessante Werk unseres talentirten [sic!] Landsmannes hat wohl ein Recht darauf nicht todtgeschrieben zu werden, wenn auch von einer weitläufigen Analyse nach einer solchen Verspätung nicht die Rede sein kann.“ (Anonym 1874)5 Dass tschechische Literaten Mauthners Publizistik und Belletristik kannten, zeigt eine Theaterkritik des tschechischen Dichters und Journalisten Jan Neruda, der in Bezug auf eine Aufführung der Komödie Daniel Rochat (1880) von Victorien Sardou die antiklerikalen Ansichten Mauthners zustimmend zitierte: Die in dem Stück geförderte Zivilehe sei „ne bez znalosti lidského srdce“ [nicht ohne Kenntnis des menschlichen Herzens] (Neruda 1880: 1) thematisiert. Die tschechischen Zeitungen registrierten auch seine Ernennung zum Schriftführer des Vereins Concordia und seine Vereinskarriere insgesamt. Nach seinem Umzug nach Berlin verlor die tschechische Presse für „einen der begabtesten Schriftsteller Berlins“ das Interesse – allerdings nur für einige Zeit. Seine schon erwähnte „sociale Novelle“ Vom armen Franischko (1880), sein Berliner Roman Der neue Ahasver (1882), der in der Wiener Zeitung Presse erschien und „eine Reihe socialer Uebelstände in hochinteressanter und dramatischer Weise [behandelt]“ (Anonym 1881)6 oder die populären Parodien Nach berühmten Mustern (1878 [1889]) wurden allem Anschein nach in der tschechischen Presse nicht einmal registriert. Zu Mauthner als Landsmann bekannte sich hingegen ausdrücklich 1884 das Prager Tagblatt, als die Veröffentlichung seines satirischen Romans mit historischem Thema Xanthippe (1884) angekündigt wurde. Obwohl Mauthner auch weiterhin Kontakt mit 5  Ebenso wurde von Viktor Guth (1876) die Aufführung seines Einakters Die leidige Geldfrage, deren Finanzgewinn dem Schriftstellerverein Concordia bestimmt war, kurz bewertet. – Zu Mauthners Frühwerk etwa Kühn (1975: 118–122). 6  Zu Mauthners Roman vgl. den Beitrag von Mirek Němec in diesem Band.

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der Prager deutschsprachigen Öffentlichkeit pflegte,7 sollte der tschechische Leser über ihn erst wieder im Zusammenhang mit seinem Roman Der letzte Deutsche von Blatna (1887) erfahren.8 Der Roman erschien 1885–86 zuerst in den Feuilleton-Folgen des Wiener Blattes Deutsche Zeitung. Intellektueller Mittelpunkt des tschechischen öffentlichen Lebens war damals die Debatte um die Echtheit der Handschriften, im Winter 1886 kam dazu noch der Skandal um den Artikel „Naše dvě otázky“ [Unsere zwei Fragen] des jungen Redakteurs Hubert Gordon Schauer, der in der neugegründeten Wochenschrift Čas abgedruckt wurde. Der Text polemisiert mit den zeitgenössischen Ansichten über die weitere Koordination der tschechischen Politik und Kultur und verband dies mit einer fundamentalen Kritik an ihren bisherigen Leistungen. Der ‚deutsche Faktor‘ spielte dabei eine ganz grundlegende Rolle. Vor diesem historischen Hintergrund erscheint es als nicht allzu verwunderlich, dass die Rezeption von Mauthners Roman eine besondere Brisanz gewann. Das andere Parteiblatt der alttschechischen politischen Repräsentierung Hlas národa [Volksstimme] veröffentlichte die Übersetzung eines Abschnittes aus dem Roman. Er enthält das Gespräch zwischen Anton Gegenbauer und Záboj Prokop – den Protagonisten und zugleich Gegenspieler im Roman –, in dem deutlich wird, dass die vollständige Assimilation an die tschechische Nation die Voraussetzung für Antons künftige Ehe mit einer Tschechin darstellt. Zudem machte Hlas národa auf die Tendenz des Romans insgesamt aufmerksam: Pod tímto titulem, připomínajícím „Posledního Mohykána“, obohatil právě jistý F.  M. v Deutsche Zeitung německou literaturu novým románem. Fritz Mauthner se zahloubal tak do indianských mravů, že nemůže odolati, aby je nepřenesl s pravou indianskou neurvalostí na českou půdu. Postačí několik ukázek, aby se poznala celá manýra Mauthnerova a  aby se čtenář přesvědčil, co si mohou dosud ve Vídni dovoliti na zhanobení českého národa. (Anonym 1886a) [Unter diesem Titel, der an „Der letzte Mohikaner“ erinnert, bereicherte gerade ein gewisser F. M. in der Deutschen Zeitung mit einem neuen Roman die deutsche Literatur. Fritz Mauthner versenkte sich so in die indianischen Sitten, dass er es nicht widerstehen 7  Mauthner lieferte einen Beitrag für den Bericht der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag für das Jahr 1885–1886 und publizierte mehrere Artikel, oft mit einem Berliner Thema, in der Zeitung Bohemia. 8  Eine zusätzlich gefundene Erwähnung (Anonym 1884) behandelt sehr kritisch Mauthners Rezension zweier Bücher über die Stellung der Deutschen in den böhmischen Ländern: des schon erwähnten Versuchs einer Sprachkritik von Heinrich Teweles und des vielfach gelobten Reisebuches, „einer deutsch-böhmischen Fahrt“, mit stark antitschechischem Ton Aus dem Böhmerwalde, dessen Autor Chefredakteur der Deutschen Zeitung, Franz Höllrigl, war.

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kann, sie mit echter indianischer Rohheit auf tschechischen Boden zu übertragen. Ein paar Auszüge genügen, um die ganze Mauthner’sche Manier zu durchschauen und den Leser davon zu überzeugen, welche Schändungen der tschechischen Nation heute noch in Wien erlaubt sind.]

Neben der bemerkenswerten Parallelisierung mit dem historischen Roman James Fenimore Coopers (auf Deutsch 1841), dessen kolonialistischer Diskurs in Mauthners Roman tatsächlich stark präsent ist,9 ist an dieser Kritik die Empörung über Mauthners Karikatur des böhmischen Staatsrechts aufschlussreich, wie man sie z. B. in Zábojs radikalem Gebot: „Ein jeder Böhme muß ein Tscheche sein, sonst wird er todtgeschlagen“ (Mauthner 1887: 10) formuliert findet. Dies gilt ebenso für die Entrüstung des Verfassers über Mauthners Polemik gegen die Gleichgültigkeit Wiens als Regierungszentrum gegenüber den tschechenfeindlichen Äußerungen. Der anonyme Autor konnte sich auch des weiteren Kommentars nicht enthalten: Nejsmutnější při tom jest, že Fritz Mauthner jest rodem Pražan a že má zde své příbuzné, z  čehož souditi možno, že zná národ český z  vlastního názoru zcela jinak, nežli jej se zločinným úmyslem líčí ve svém paskvilu, jejž nazývá kulturně historickým románem. (Ano­nym 1886a) [Am traurigsten ist dabei, dass Fritz Mauthner ein gebürtiger Prager ist und hier Verwandte hat, was den Schluss zulässt, dass er die tschechische Nation aus seinem eigenen Erleben ganz anders kennt, als er sie mit verbrecherischer Intention in seinem Pasquill schildert, den er einen kulturhistorischen Roman nennt.]10 9  Vgl. Katherine Arens (2004) und den Beitrag von Jan Budňák in diesem Band. 10  Etwas später verschärfte ein anderer anonymer Autor den kritischen Ton. Er meinte, dass „[r]omán tento jest nejsurovějším a  nejbídnějším útokem na český národ, jakého jen literární zákeřnictví jest schopno. Čechové vyličují se v knize jako vrahové, kteří dítky své již z mládí navadějí k vraždění Němců. Zvířecí lest, úkladnictví, lupičství a vraždění na straně Čechů a utrpení, šlechetnost a vznešenost německých obětí českého záští propletá se celým tímto hanopisem, jenž má jediný účel: zostuditi národ český doma i v cizině.“ (Anonym 1886b) [Der Roman ist der brutalste und elendste Angriff auf das tschechische Volk, dessen nur die literarische Heimtücke imstande ist. Die Tschechen sind im Buch als Mörder geschildert, die ihre Kinder seit ihrer frühesten Jugend zum Töten der Deutschen verleiten. Auf der tschechischen Seite die tierische List, Kabale, Räuberei und Ermordungen, andererseits das Leiden, Großmut und Erhabenheit der deutschen Opfer des tschechischen Hasses verschlingt durch die ganze Schmähschrift, die nur einen Zweck hat: das tschechische Volk zu Hause sowie in der Fremde zu desavouieren.] Im Folgenden polemisierte er mit Verweis auf ökonomische Aspekte: „Nyní má hnusný spis tento vyjíti ve zvláštním vydání u nakladatele Jindřicha Mindena v Drážďanech a Lipsku. Nakladatel doufá si tímto skutkem získati půdy mezi Němci rakouskými. Tomu se nedivíme, poněvadž obchodnická spekulace německých nakladatelů nedbá mravnosti či nemravnosti při svých podnicích.“ (Anonym 1886b) [Jetzt soll diese widerliche Schrift in der Sonderauflage beim Verleger

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Für die nächsten zehn Jahre herrschte in der tschechischen Presse wieder Stille über Mauthner. Trotzdem war er nicht unbekannt und durch seinen Grenzlandroman Der letzte Deutsche von Blatna noch weiter verfestigt. Der Text erschien, wie oben schon erwähnt wurde, zuerst im Feuilleton der Deutschen Zeitung und als Buchpublikation ein Jahr später; relevant für die tschechische Rezeption ist jedoch schon die Feuilleton-Erscheinung. Eine Beurteilung dieses zweiten ‚böhmischen‘ Romans ist wiederum nur unter der Berücksichtigung eines breiteren Kontextes möglich. Nach der Ablehnung der Badenischen Sprachenverordnungen durch die deutschen Abgeordneten 1897 kulminierten in Böhmen die bisherigen Sprachenkonflikte zwischen den Deutschen und Tschechen. Einige Tage vor der daraus resultierenden Ausrufung des Standrechtes über Prag, nach der Veröffentlichung des Hetzartikels „An die Deutschen Österreichs“ von Theodor Mommsen in der Neuen Freien Presse, entrüstete sich Politik: Der bekannte Schriftsteller Fritz Mauthner ursprünglich aus Prag hat den Roman „Der letzte Deutsche von Blatna“ geschrieben, welcher womöglich noch tiefer steht als „Die böhmische Handschrift“. Und diese Fritz Mauthner und wie sie noch heißen mögen, sind die „bewunderten“ Reklamegrößen des heimischen Schmockthums! (Anonym 1897)

Neben dem deutlichen Ausfall gegen die ‚heimischen‘ Deutschen enthält das Zitat eine weitere Diffamierung: Es bezieht die inhaltlichen, ästhetischen und nationalen Bewertungen von Mauthners Roman verallgemeinernd auf alle Autoren der deutschböhmischen Sphäre.11 Heinrich Minden in Dresden und Leipzig erscheinen. Der Verleger hofft damit den Boden unter den Deutschösterreichern zu gewinnen. Wir wundern uns nicht, weil die Geschäftsspekulation der deutschen Verleger der Sittlichkeit oder Unsittlichkeit bei ihrem Betrieben nicht achtet]. Schließlich bezog er sogar die (ungeliebte) böhmische Staatsverwaltung in die Polemik mit ein: „divíme se tomu opravdově, že poloúřadní Prager Abendblatt v inserátech svých paličský spis tento vřele odporučuje!“ (Anonym 1886b) [wir wundern uns wirklich, dass das halbamtliche Prager Abendblatt in seinen Anzeigen die brandstifterische Schrift herzlich empfiehlt]. Zur detaillierten Analyse der deutsch-tschechischen Deutungsmuster in der nationalistischen Publizistik vgl. Hall (2008). 11  Pavel Vychodil, Redakteur der katholisch modernistischen Zeitschrift Hlídka literární, stigmatisierte Mauthner noch weiter, indem er schrieb: „Nepíšeme zpravidla o německé beletrii, ale dnes činíme výjimku […] Abychom totiž upozornili na […] tendenční romány a spisovatele, jako je Fritz Mauthner.“ [Wir schreiben in der Regel nicht über die deutsche Belletristik, aber heute machen wir eine Ausnahme. […] Nämlich um auf die tendenziösen Romane und Schriftsteller, wie Fritz Mauthner, […] aufmerksam zu machen]. – Mit Blick auf die Neuauflage des Romans im Jahre 1913 klagte ein anonymer Rezensent (M. 1913) darüber und brachte die stereotype Wahrnehmung der tschechischen Figuren im Roman mit den antitschechischen Parolen der zeitgenössischer Brünner Deutschen in Zusammenhang: „Proč straší Mauthnerova kniha za knihkupeckými výklady? Je to už přece

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Um die Jahrhundertwende ging Mauthner in die tschechische Kulturgeschichte ein, indem ein Eintrag zu seinem Leben und Werk in Ottův slovník naučný (Ottos Konversationslexikon), einem Grundstein tschechischer Bildung, verfasst wurde. Der Autor dieses Schlagwortes, aller Wahrscheinlichkeit nach der an der Prager Karls-Universität lehrende Germanist Arnošt Kraus, erwähnte die Basisdaten Mauthners Lebens wie seine Geburt in Prag [sic!], seine Studien ebenda und den Umzug nach Berlin als eine neue Wirkungsstätte. Er erstellte ebenfalls eine Bibliographie der bisherigen Buchveröffentlichungen, mit entsprechender Gattungsbestimmung, einschließlich beider ‚böhmischen‘ Romane  – dies jedoch ohne weitere Charakterisierung der Texte. Eine gewisse Zurückhaltung Mauthners, die er gegenüber politischen Themen zeigte, sowie seine Entscheidung, sich weiter philosophischen Studien zu widmen, ermöglichten ihm, auch eine neue ‚tschechische‘ Bekanntschaft zu knüpfen: und zwar mit Robert Saudek.12 Ich möchte an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass derselbe Robert Saudek 1907 in der Parteizeitung der Jungtschechen Národní listy [Volksblätter] den Aufsatz „Mauthner a my“ [Mauthner und wir] veröffentlichte, in dem er versuchte, seinen Mentor als Belletrist zu rehabilitieren. Er stellte ihn als Denker dar und zitiert in diesem Zusammenhang eine (angeblich) von Mauthner formulierte Rechtfertigung von dessen früheren Vorstößen im Nationalitätenkampf: Pokládám Mauthnera za nejhlubšího myslitele naší doby a  jsem si významu svých slov vědom, pravím-li (arci ne jako první, ale snad jako dvacátý), že Němci po Kantovi neměli myslitele pro vývin středoevropské kultury tak významného, jako je Mauthner. Často jsem s ním mluvil o Češích a poznal jsem, že nás a naše snahy má upřímně a vřele rád. Česky už téměř neumí. Ale je v něm samotném kus slovansky měkkého, poetického cítění. Proč ho pokládáme za nepřítele národa, neví a rád by svůj poměr k nám viděl objasněn. (Saudek 1907: 1) [Ich halte Mauthner für den profundesten Denker unserer Zeit, und ich bin mir der Bedeutung meiner Worte bewusst, wenn ich sage (jedoch nicht als Erster, sondern als Zwanzigster vielleicht), dass die Deutschen nach Kant keinen für die Entwicklung der mitteleuropäischen Kultur bedeutenderen Denker hatten als Mauthner. Ich habe oft mit ihm über die Tschechen gesprochen und habe erkannt, dass er uns und unsere Bestrebungen aufrichtig starý, i umělecky nepodařený šmejd, ale najednou se hodí do krámu a rozhodí se po celém Německu. […] Je to prý psáno proti fanatismu jednomu a rodí to daleko horší.“ [Warum spukt das Buch von Mauthner hinter den Buchhandlungsvitrinen? Es ist doch ein altes, auch künstlerisch nicht gelungenes Brack, aber plötzlich passt es in den Kram und wird durch ganz Deutschland verstreut. […] Es ist angeblich gegen einen Fanatismus geschrieben, doch es gebiert einen noch schlimmeren.] 12  Über den berühmten Graphologen, Diplomaten und Schriftsteller und seiner Korrespondenz mit Mauthner vgl. den Beitrag von Michal Topor in diesem Band.

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und herzlich gerne hat. Tschechisch kann er fast nicht mehr. Aber es ist in ihm selbst ein Stück slavisch weicher, poetischer Empfindung. Warum wir ihn für einen Feind der Nation halten, weiß er nicht, und er möchte seine Stellung zu uns aufgeklärt haben.]

Saudek plädiert weiter für Mauthner mit der Behauptung: „Němci ho pokládají za našeho přítele. I sám Mommsen, rozhodný náš národní odpůrce, se k  Mauthnerovi choval jako k  divnému typu, milujícímu srdcem kulturního soka, proti němuž by se rozumem měl postaviti na odpor.“ [Die Deutschen halten ihn für unseren Freund. Auch Mommsen selbst, der entschiedene Gegner von uns, verhielt sich Mauthner gegenüber als zu einer seltsamen Sorte Mensch, der mit dem Herzen den Kulturrivalen liebt, gegen den er sich mit dem Verstand zur Wehr setzen sollte.] Nach der Lektüre Die böhmische Handschrift – so Saudek weiter – soll Mommsen an Mauthner geschrieben haben: „Die Musen, die holden können selbst böhmische Mädel vergolden, zu solcher Zeit.“13 Mauthner habe ja auch das Buch Franischko geschrieben, das „líčí slovenského dráteníka tónem a slovy tak dojemnými, tak slovanskými, že byste na Boženu Němcovou, jako autorku hádali, kdyby vám kdo knihu v českém znění předložil.“ [den slowakischen Drahtbinder mit so einem rührenden und slavischen Ton und Wort schildert, dass Sie als Autorin eine Božena Němcová vermuten würden, wenn jemand Ihnen das Buch in der tschechischen Fassung vorlegen würde]. Saudek hob zudem die Verdienste des Übersetzers Adolf Gottwald und des Verlegers Jan Otto um die Herausgabe der ersten Übersetzung von Mauthners Beiträgen zu einer Philosophie der Sprache (auf Tschechisch als Podstata řeči) hervor, die in der erfolgreichen Edition Světová knihovna [Weltbibliothek] erschien. Diese erste Übertragung in eine fremde Sprache kommentierte Saudek mit einer euphorischen Würdigung einer solchen Kulturleistung: „To nám Němci nezapomenou, zejtra ne, a  pozejtří ne a  snad nikdy. Toť důkaz tak hlubokého pochopení cizí kultury duševní, že jej nelze přehlédnouti.“ [Das vergessen uns die Deutschen nicht, morgen nicht und übermorgen auch nicht und vielleicht auch niemals. Denn das ist ein Beweis einer so tiefen Einsicht in die fremde geistige Kultur, dass es nicht möglich ist, ihn zu übersehen]. Die Identifikation des assimilierten jüdisch-tschechischen Intellektuellen Saudek mit einer imaginierten, ideellen tschechischen Nation gipfelt dann im Schlussurteil: „Národ, jenž dnes již má pochopení pro význam podobného kulturního činu, ten cizině podal platný důkaz své vlastní kulturní 13  Saudek zitiert ungenau. Wie Fritz Mauthner im Nachwort zu Böhmische Novellen (Ausgewählte Schriften, Bd. 4) erwähnt, habe Mommsen einer schriftlichen Danksagung für das Geschenk Mauthners, nämlich der frisch erschienenen Ausgabe von Die böhmische Handschrift aus dem Jahre 1897, die folgenden Verse hinzugefügt: „Die Musen, die holden / Bringen es weit: / Können tschechische Mädel vergolden / In dieser Zeit.“ (Mauthner 1919: 368)

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plnoletosti.“ (Saudek 1907: 1) [Die Nation, die heute ein Verständnis für die Bedeutung einer solchen kulturellen Tat hat, hat dem Ausland einen gültigen Beweis ihrer kulturellen Volljährigkeit gegeben.] An dieser Stelle kann nicht detailliert auf die näheren Umstände der Veröffentlichung der Beiträge zu einer Philosophie der Sprache in der tschechischen Sprache eingegangen werden. Festhalten möchte ich aber, dass die Übersetzung von Gottwald nicht ohne Kritik aufgenommen wurde.14 Mauthners Diktum, mit dem er im Nachwort zu Böhmische Novellen seine Überlegungen abschließt: „Es waren immer nur Kriege um arme Worte, um liebe Sprachen“ (Mauthner 1919: 369), wurde ad absurdum geführt, als die Buchveröffentlichung Gegenstand eines Gerichtsverfahrens zwischen Gottwald und einem anderen Verleger und Redakteur – nämlich Josef Pelcl – wurde. In dessen Zeitschrift Rozhledy [Rundblicke] sollte sie ursprünglich erscheinen. In der Fachzeitschrift Listy filologické [Philologische Blätter] unterzog der Germanist und Komparatist Josef Janko das Buch sowie dessen Übersetzung einer harten Kritik. Nach Janko befand sich Mauthner nämlich se všemi svými vědomostmi nedosti hlubokými […] na šikmé ploše, po které vědec nemůže ho následovati. Laikovi kniha jeho jednotlivostmi může přinésti poučení, avšak hrozí zase nebezpečí, že čtenář bude bráti za pravou minci i to, co oslňuje výmluvností autorovou […] Již z toho plyne, že nebylo nutno dílo Mauthnerovo převáděti v jazyk český, protože naši čtenáři potřebují spíše vůdce v té otázce ve všem všudy spolehlivého. (Janko 1970: 61) [mit seinen nicht ausreichend tiefen Kenntnissen auf Abwegen, auf die ihm ein Wissenschaftler nicht folgen kann. Einen Laien kann sein Buch mit vielen Einzelheiten belehren, aber hier besteht die Gefahr, dass Leser auch das für bare Münze nehmen, was mittels der Beredsamkeit des Autors in ein glänzendes Licht gesetzt wird. […] Daraus folgt, dass es nicht nötig war, das Werk von Mauthner in die tschechische Sprache zu übersetzen, weil unsere Leser in dieser Frage eher einen in jeder Hinsicht verlässlichen Führer benötigen.]

Die Erklärung von Janko zeigt zum einen, dass er Mauthners kritische Intentionen offenbar nicht verstand, und zum anderen, dass er seine eigenen philologischen Positionen verteidigen wollte. Janko sah seine Aufgabe nämlich auch darin, gewissermaßen präventiv auf „unsere[] Leser[]“, d.  h.  die brei14  Obwohl Pelcl u. a. einige Auszüge als Beweis Gottwalds übersetzerischer Unfähigkeit in eigener Bearbeitung veröffentlicht hatte (Pelcl 1905: 1083), ließ sich dieser durch die Kritik von seinem Vorhaben nicht abbringen und widmete sich weiter der Übersetzung von Mauthners Psychologie der Sprache einschließlich der vollständigen Vorrede, die als Beilage zur Zeitschrift Středa im Jahre 1912 wiederum mit einer verteidigenden Vorrede (Anonym 1912a: 22f.) veröffentlicht wurde. Im Nachlass von Mauthner (Leo-Baeck-Institut, New York) befinden sich einige Briefe Gottwalds, die meistens seine Fortschritte bei der Übersetzung betreffen. Die Bio- sowie Bibliographie Adolf Gottwalds (1870?–1920) sind immer noch nicht vollständig aufgearbeitet (Forst 1985).

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te Öffentlichkeit, einzuwirken. Es ist jedoch wichtig zu unterstreichen, dass diese Polemik ohne jegliche nationale (oder antisemitische) Deutungsmuster geführt wurde. Diese Art der Argumentation wurde von einem anonymen Rezensenten der Zeitschriften-Publikation der Prager Erinnerungen im Januar 1912 erneut aufgenommen. Der Verfasser eines in der Agrarier-Zeitung Venkov [Das Land] erschienenen Textes war mit Mauthners Behauptung nicht einverstanden, der zufolge „liberální vlády zničily moc německou v Čechách“ [die liberalen Regierungen die deutsche Macht in Böhmen zerstört haben]. Dies – so der Rezensent weiter – „není pravda. Tady zvítězil prostý přirozený zákon. Německá menšina nemohla navždycky zůstati pánem nad českou většinou, zejména když tato hospodářsky a kulturně stále rostla a roste.“ [ist nicht wahr. Hier gewann einfach das natürliche Gesetz. Die deutsche Minderheit konnte nicht für immer Herrin über der tschechischen Mehrheit bleiben, insbesondere als diese wirtschaftlich und kulturell immer weiter wuchs und wächst.] Das Argument eines nicht näher bestimmten primordialistischen ‚Gesetzes‘ zeigt zugleich auch, dass das Selbstbewusstsein der tschechischen Gesellschaft vor dem Großen Krieg nicht gerade klein war. Diese Tatsache ermöglichte es dem Autor, einen Schluss zu formulieren, in dem Mauthner eine positive Bewertung erfährt, und der zugleich auch als Sehnsucht nach Anerkennung gelesen werden kann; angesichts der positiven Äußerungen Mauthners über das tschechische Milieu hält er nämlich etwas überrascht fest: „Jak dovedl německý spisovatel odsouditi snižování a podceňování českého národa, které je v německém tisku domovem. Arci, Fritz Mauthner a – lidé, obstarávající dnešní německý tisk!“ (Anonym 1912b) [Wie ein deutscher Schriftsteller die Herabwürdigung und Geringschätzung der tschechischen Nation verurteilen konnte, die in der deutschen Presse zu Hause ist. Freilich, Fritz Mauthner und – Menschen, die die heutige deutsche Presse besorgen!] Ab und zu wurden Mauthners belletristische Werke weiterhin rezipiert. Ein emanzipatorisches Ethos sucht Arne Novák in Mauthners Roman Hypatia (1892). In seiner Anerkennung des „duchaplného berlínského posměváčka a ironika“ [geistreichen Berliner Spötters und Ironikers] lobte er in dem Blatt der tschechischen Frauen und Mädchen Ženský svět [Die Welt der Frauen] Mauthners Fähigkeit, die modernen Frauenromane der „zlomených srdcí“ [gebrochenen Herzen] zu imitieren und dabei „vtipně se vysmáti vlastní době“ (Novák 1907: 117) [witzig seine eigene Zeit auszulachen]. Zustimmend wurde auch seine sozialkritisch ausgeprägte Stellungnahme zu deutsch-tschechischen Verhandlungen, die in einem Rundbrief der Neuen Freien Presse 1913 mit weiteren Briefen von Alfred Klaar, Hugo Salus und Karl Hans Strobl ab-

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gedruckt wurde, in der tschechischen sozialdemokratischen Presse registriert: „Také na německé straně vzmáhají se hlasy lidí skutečně kulturních, volajících po spravedlivém ukončení národnostních sporů, z nichž vyvěrá všechna bída Rakouska“. (Anonym 1913b; vgl. auch Jelínková/Topor 2014) [Auch auf der deutschen Seite wird die Stimme der Leute von wirklicher Kultur immer lauter, die zur gerechten Beendigung aller nationalen Streitigkeiten rufen, aus denen das ganze Elend Österreichs quillt].15 Die späten korrigierenden und erklärenden Aussagen von Mauthner zur neuen Herausgabe seiner früheren ‚böhmischen Romane‘ sowie auch sein versöhnlicher Kommentar zur Herausgabe seiner Erinnerungen sind gut bekannt. Zu nennen sind in dem Zusammenhang auch Mauthners Besuch in Prag nach der Entstehung des neuen Staates sowie seine Audienz beim Präsidenten Masaryk (ausführlicher dazu der Beitrag von Michal Topor im vorliegenden Band). Masaryks Erinnerung an dieses Treffen zufolge, festgehalten durch die Gespräche mit Karel Čapek in Hovory s TGM,16 scheint Mauthner damals um ein versöhnliches Auftreten bemüht gewesen zu sein: „Als ich schon Präsident geworden war, suchte mich der deutsche Philosoph Fritz Mauthner auf, er wollte nichts anderes, als sehen, wie ein glücklicher Mensch aussehe.“ (Čapek/Masaryk 1936: 71) Nach Mauthners Tod erschienen mehrere Nekrologe in der Tagespresse sowie in der Fachzeitschrift Česká mysl [Tschechisches Gemüt]. Sein philosophisches Denken war „v  celku […] nesoustavná, vědecky neurovnaná mozaika bez jednotícícho podkladu“ (Krejčí 1923: 377) [im Ganzen ein unsystematisches, wissenschaftlich nicht geordnetes Mosaik ohne vereinigende Grundlage], meinte der führende positivistische Philosoph und PhilosophieProfessor František Krejčí.17 In dem 14 Jahre später erschienenen repräsentativen Lehrbuch von Josef Král wurde Mauthner im Kapitel über die deutsche 15  Am Anfang des Ersten Weltkrieges wurde in Lidové noviny [Volkszeitung] der national konnotierte und sehr persönliche Streit zwischen Mauthner und Henri Bergson kommentiert: „Jak zlé jsou časy, ve kterých takové filosofické projevy jsou možny“ (Anonym 1914) [Wie böse ist die Zeit, in der solche ‚philosophischen‘ Äußerungen möglich sind], seufzte der anonyme Publizist. 16  Aus dem Tschechischen übersetzt von Camill Hoffmann. Karel Čapek (1936): Masaryk erzählt sein Leben. Gespräche mit Karel Čapek. Berlin: Bruno Cassirer. 17  Andererseits würdigte Krejčí anerkennend Mauthners Ansichten über das soziale Gefüge der Sprache. (Krejčí 1910: 61, 66) Vgl. auch frühere Arbeiten der Reformpädagogen Čáda (1904), Tucháček (1908), oder des Journalisten Gustav Winter (1910/11). Winter beschäftigte sich der sich in der ‚jungrealistischen‘ Zeitschrift Přehled [Überblick] mit der Kritik der journalistischen Sprache und der „Seelensituation der Groszstädter aller Völker“ (Winter 1910/11: 836) anhand Mauthners Schrift Die Sprache (1909).

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Philosophie in der Tschechoslowakei nur kurz als „derjenige, der von der Sprachkritik zur Skepsis gelangte“ (Král 1937: 237) erwähnt. Als Vorbereiter des linguistic turn in der Philosophie des 20. Jahrhunderts wurde er schon früh in der angelsächsischen analytischen Sprachphilosophie gewürdigt, nicht aber in der deutschen, geschweige denn der tschechischen Philosophie.18 Eine Ausnahme bildet bei den Tschechen das heute fast unbekannte Werk des in Wien lebenden Publizisten und Pädagogen Jiljí Jahn (1883–1947).19 In der Literaturwissenschaft zog der Germanist und Übersetzer Otokar Fischer (1909, 1910) Mauthners Ansätze zur Erforschung „der Grenzen der Sprache und der Möglichkeiten ihrer Überschreitung […] im Modus künstlerischer Rede“ (Wutsdorff 2020: 294) am Beispiel von Hofmannsthals Chandos-Brief (1902) und Heinrich von Kleists literarischem Werk kritisch heran.20 Ein interessanter Nachruf auf Mauthner stammt aus der Feder eines ‚Landsmannes‘ aus Sobčice u  Hořic/Sobschitz bei Hořitz: Es handelt sich um den Autor und Publizisten Antonín Nečásek, selbst Verfasser eines tschechischen ‚Grenzlandromans‘ (Jařmo milionů, 1906). Dass der in der Zeitung der konservativen Agrarier Venkov [Das Land] erschienene Text von einem antideutschen und antisemitischen Duktus getragen ist, mag wohl kaum überraschen: Pocházel z pračeského […] města Hořic. Narodil se v českém městě, které živilo a obohacovalo jeho rodinu, […] byl německo-nacionálním žurnalistou a končí jako veliký, nebo aspoň velmi velice vynikající německý spisovatel a  myslitel. Nic nemůže vrhati ostřejší a drastičtější světlo na poměr židovstva u nás k českému lidu, uprostřed něhož žijí, ale celý život mu zůstávají v nejlepším případě cizí, nestojí-li v čele jeho nepřátel, jako kdysi stál velebený německý spisovatel a myslitel z pračeských Hořic. (Nečásek 1923: 3) [Mauthner stammte aus einer urtschechischen Stadt […] Hořice. Er ist in der tschechischen Stadt geboren, die seine Familie nährte und bereicherte. Er war […] deutsch-nationaler Journalist und endet als ein großer, oder wenigstens vielmals ausgezeichneter deutscher 18  Aus marxistischer Perspektive kritisierte Mauthner später etwa Hubík (1983: 14–23) oder Horálek, der Mauthners Philosophie als „svérázný projev lingvistické skepse“ (Horálek 1967: 44) [originellen Ausdruck der linguistischen Skepsis] charakterisierte. 19  Jahn beschäftigte sich – wie sein Anreger – nicht nur mit der Erkenntnistheorie und der daraus folgenden Sprachkritik (Jahn 1938), sondern auch mit religiösen und ethischen Fragen (Jahn 1948), die er als einen notwendigen Bestandteil seines philosophischen Systems betrachtete. Zu Jahn v. a. Gabriel (1965) oder Kučerová (1952). 20  Es handelt sich um den Aufsatz über die Analyse der künstlerischen Aphasie sowie auch über die Werke von Heinrich von Kleist; vgl. Wutsdorff (2014: 40); detailliert zu den beiden leicht variierten Aufsätzen von Fischer s.  Wutsdorff (2020: 294–295), zu Fischers Kleist-Pionierforschung im Zusammenhang mit Mauthners Sprachphilosophie s.  Heimböckel (2003: 9–11).

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Schriftsteller und Denker. Nichts kann schärferes und drastischeres Licht auf das Verhältnis des Judentums zum tschechischen Volk bei uns werfen. Die Juden leben in der Mitte von ihm, aber ihr ganzes Leben bleiben sie im besten Fall fremd, wenn sie nicht an der Spitze seiner Feinde stehen, wie der gepriesene deutsche Schriftsteller und Denker aus dem urtschechischen Hořice einst stand.]

Die wiederholte negative und pauschalisierende Bewertung von Mauthner mit Verweis auf seine ‚böhmischen Romane‘ ist im Nekrolog in Národní lis­ ty [Volksblätter] (Anonym 1923b) – im Gegensatz zur rein informierenden Nachricht (ohne Erwähnung seiner böhmischen Romane) in Lidové noviny [Volkszeitung] (Anonym 1923a) – expressis verbis formuliert.21 Zehn Jahre nach seinem Tod erschien in der Regierungszeitung Prager Presse ein Artikel mit dem Titel Menschenhass und Reue von dem deutsch und tschechisch schreibenden jüdischen Journalisten, Kritiker und Übersetzer Paul/ Pavel Eisner.22 Eisner, seinem damaligen tschechischen assimilatorischen Credo treu, griff darin eine ‚Argumentation‘ auf, die mit der Darstellung von Nečásek einige Berührungspunkte aufweist. Nachdem Eisner nämlich die positive Einwirkung der Heimat auf den Beitrag des „ganz und gar weltbürgerlich organisierten Voltaire von Böhmen“ zur „vollbrachten Befreiung vom Fetisch der Sprache aus örtlich-originären Begebenheit“ (Eisner 1933: 6) betont hatte, kehrte er zu Mauthners ‚böhmischen Romanen‘ zurück. Besonders kritisierte Eisner das spätere erschienen. „Mit der Böhmischen Handschrift“, hielt er fest, hat sich Mauthner in die übelsten Niederung eines gewissen österreichischen Liberalismus begeben; ist tief unter den Meeresspiegel des Geistes, in die Nachbarschaft eines Anton Ohorn beinahe, gesunken und hat das Aergste getan, was ein Jude in einer Trypelsymbiose [sic!] tun kann: die legitime Zueignung zu dem Volk seiner Wahl mit der Schmähung des andern Gastvolkes verwechselt. (Eisner 1933: 6) 21  Andererseits erwähnte Rádl (1992 /1929/: 212) Mauthner unter „vielen guten Kulturschaffenden der Deutschen in Böhmen und Mähren“ in seiner programmatischen Schrift Der Krieg zwischen Tschechen und Deutschen. 22  Schon früher polemisierte Eisner auch im tschechischen Milieu mit Mauthners Roman Der letzte Deutsche von Blatna. Er würdigte zwar Mauthners philosophisches Denken, aber zugleich meinte er  – im (überraschenden) Einklang mit reichsdeutschen und österreichischen Literaturhistorikern  –, dass „Mauthnerova povídka nabývá programatického rozměru [v] mezikmenov[é] eroti[ce] střetávající se ve vyvrcholeném konfliktu s momentem nacionálním. Také pro autory, kteří převzali pak námět a rozpřádali jej v obměnách, K. H. Strobl, Julius Kraus, Hans Watzlik, Erwin Heine a jiní.“ [Mauthners Erzählung eine programmatische Dimension [in] der zwischenstämmigen Erotik bekommt, die mit dem nationalen Moment im kulminierten Konflikt aufeinander trifft. Auch für die Autoren, die dann das Sujet übernahmen und in den Variationen entwickelten, K. H. Strobl, Julius Kraus, Hans Watzlik, Erwin Heine und die anderen.] (Eisner (1992[1930]: 28).

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Eisner zufolge sollen auch seine jüdischen Zeitgenossen, die an die deutsche Sprache und Kultur assimiliert waren, dem tschechischen Gastvolk „die Treue“ halten – die Berechtigung dieser Forderung zeigten nicht zuletzt die politischen Ereignisse des Jahres 1933 in Deutschland. Eisners tschechischnationale Vehemenz, mit der er die deutschnationale und -patriotischen jüdischen Assimilanten kompromisslos und ex post für Hitlers Sieg verantwortlich machte, wurde bezeichnenderweise nur in der nationalen, kulturell eher konservativ orientierten tschechischen Zeitschrift Lumír publiziert: Nečetní židovští intelektuálové […], kteří v  prostředí liberální buržoazie jakožto Mauthnerovi současníci i  dědicové řádili a  zčásti podnes řádí v  denním tisku pražském a  vídeňském: židovští žurnalisté, kteří dávno před objevy psychoanalysy kompensovali svou méněcennost in puncto germánství protislovanským zuřením […] Lidé zdravého pudu zbavení, nespravedliví, nepolepšitelní, opice pangermánství, jeden každý němečtější než velký Fric s Bismarckem dohromady – lidské zrůdy. […] Je v tom něco jako hřích proti přírodě, místo prostého kladu lásky k národu, který si vyvolil, exceluje Žid této ráže nenávistí k národu druhému. Taková citová perverse musila být potrestána: trest přišel 5. března 1933 a jeho jméno je Hitler. (Eisner 1932/33: 480) [Die wenigen jüdischen Intellektuellen […], die im Milieu der liberalen Bourgeoisie als Mauthners Zeitgenossen und Erben bis heute in der Prager und in der Wiener Presse grassierten und grassieren; die jüdischen Journalisten, die ihre Minderwertigkeit in puncto Germanentum längst vor den psychoanalytischen Erfindungen mit einer antislavischen Wut kompensierten. […] Unaufrichtige, unbesserungsfähige Leute, die Affen des Pangermanentums […] menschliche Bastarde […] Es ist darin etwas wie eine Sünde gegen die Natur: statt des einfachen Vorteils der Liebe zur Nation, welche er sich erwählte, exzeliert der Jude dieses Kalibers in Hass gegen eine andere Nation. Diese emotionale Perversion musste bestraft werden: die Strafe kam am 5. Mai 1933 und ihr Name ist Hitler].

Und fünfzehn Jahre später, nach dem Zweiten Weltkrieg einige Wochen nach der kommunistischen Machtübernahme, präzisierte Eisner seine negative Ausführung über Mauthners schriftstellerische Tätigkeit – ganz und gar unkritisch – weiter, diesmal in Zusammenhang mit der Erläuterung seiner einflussreichen These über ,das dreifache Ghetto‘ und offensichtlich unter dem Einfluss von E. E. Kischs Marktplatz der Sensationen: A  Fritz Mauthner naplnil celou knihu vzpomínkami na svá pražská mladá léta; jsou to bolestné vzpomínky německého básníka, jenž na prahu kmetných let pořád ještě nemůže zapomenout, že se jinochu kdysi nedostávalo širokých základních pilířů zdědění, hluboko vkořeněné lidovosti (…) Toť tragický osud všech německých básníků v  mém rodném městě. (Eisner 1948: 255f.)23

23  Mit leicht milder Kritik wurde diese Behauptung – inklusive Mauthner – noch wörtlich akzeptiert von Goldstücker (1967: 27).

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[Und Fritz Mauthner füllte das ganze Buch mit den Erinnerungen an seine Prager Jugendjahre: es sind Erinnerungen eines deutschen Dichters, der immer noch an der Schwelle seiner Greisenjahre nicht vergessen kann, das es dem Jüngling an die breiten Hauptsäulen des Ererbten, des tief eingewurzelten Volkstümlichkeit mangelte. (…) Das ist das tragische Schicksal aller deutschen Dichter in meiner Geburtsstadt].

Literatur Anonym (1874): Deutsche Bühne, Rez. F. Mauthner, Anna. – In: Politik 162 (14.06.), 5. Anonym (1881): Ein moderner Ahasver. – In: Presse 313 (13.11.), 4. Anonym (1884): Jak o nás mluví a soudí se za hranicemi [Wie man über uns im Ausland gesprochen und urteilt wird]. – In: Národní listy [Volksblätter] 76 (16.03.), 2. Anonym (1886a): Rez. Der letzte Deutsche von Blatna. – In: Hlas národa [Volksstimme] 189 (10.07.), 1–2. Anonym (1886b): Roman „Poslední Němec v Blatné“ a „Prager Abendblatt“ [Der Roman „Der letzte Deutsche von Blatna“ und „Das Prager Abendblatt“. – In: Hlas národa [Volksstimme] 289 (18.10.), 1–2. Anonym (1886c): „Poslední Němec z Blatné“ [„Der letzte Deutsche von Blatna“]. – In: Národní listy [Volksblätter] 66 (07.03.), 2. Anonym (1886d): Výborný německý spisovatel [Ein ausgezeichneter deutscher Schriftsteller]. – In: Národní listy [Volksblätter] 84 (25.03.), 1; unterzeichnet -a. Anonym (1908): Josef Herold. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] 16/122 (04.05.), 1–2. Anonym (1912a): Fritz Mauthner, autor „Kritiky řeči“ [Fritz Mauthner, Autor der „Kritik der Sprache“]. – In: Středa [Mittwoch] 1, 22–23. Anonym (1912b): Vzpomínky českého Němce [Erinnerungen eines Deutsch­ böhmen]. – In: Venkov [Das Land] 5, (07. 01.), 1–2. Anonym (1913a): Básnická anketa o  vyrovnání v  Čechách [Eine Poeten-Umfrage über den Ausgleich in Böhmen]. – In: Národní listy [Volksblätter] 353 (28.12.), 2. Anonym (1913b): Německý básník pro národnostní smír v Čechách [Ein deutscher Dichter für den Nationalitätenausgleich in Böhmen].  – In: Večerník Práva lidu [Abendblatt des Volksrechts] 296 (27.12.), 1. Anonym (1914): Věda ve válce [Wissenschaft im Krieg]. – In: Lidové noviny [Volks­ zeitung] 22/264 (24.09.), 4. Anonym (1923a): Spisovatel Fritz Mauthner [Der Schriftsteller Fritz Mauthner]. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] 31/322 (30. 06.), 5–6.

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Michal Topor

„Wenn wirklich etwas in mir gedieh, dann ist es an Ihrer Sonne gereift“. Robert Saudek und Fritz Mauthner: der Versuch einer Re/Konstruktion ihrer Beziehung1 Die Grundlage der Re/Konstruktion des Gedankenaustausches zwischen Robert Saudek und Fritz Mauthner ist die Sammlung von 55 Briefen und sechs Karten, welche Saudek an Mauthner in den Jahren 1903–1908, 1919 und 1921 richtete; diese stehen heute im Rahmen einer online ausgestellten Sammlung Mauthner’scher Dokumente in dem Fonds des Leo Baeck Institute2 zur Verfügung. Soweit mir bekannt ist, hat sich nur ein einziges Exemplar erhalten, das die andere Richtung des Austausches repräsentiert, und zwar Mauthners Brief an Saudek vom Juni 1921, der in dem Nachlass des Prager Journalisten Arne Laurin hängen blieb. Laurin war damals erst kürzlich zum Chefredakteur der Tageszeitung Prager Presse ernannt worden, für welches Saudek in der Zwischenkriegszeit sehr häufig schrieb.3 Im Laufe der 1920er Jahre widmete 1  Dieser Text entstand dank der Unterstützung durch Grantová agentura ČR – im Rahmen der Realisierung des Projekts Arne Laurin (1889–1945): portrét novináře (GA15–06065S). 2  Leo Beck Institute, Fritz Mauthner Collection, 1765–1968, (AR 3392), weiter LBI, Fritz Mauthner [16.10.2015]. 3  LA  PNP, Arne Laurin: vgl. auch das Inventar zum Nachlass Robert Saudeks, in Senate House Library, University of London , bzw. Inventar zum Mauthnerschen Nachlass-Bestand in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster . Zu den Anfängen und zum Abschluss von Saudeks Engagement in der Prager Presse siehe den Empfehlungsbrief von Prokop Maxa vom 10.2.1921, gesendet aus Haag an Arne Laurin, bzw. den Brief desselben Absenders (damals schon des tschechoslowakischen Botschafters in Sofia) vom April 1935: „Vážený příteli, / prosím, abyste laskavě přijal a tlumočil celé redakci ‚Prager Presse‘ mou upřímnou soustrast k úmrtí tak skvělého spolupracovníka, jakým byl Robert Saudek. Byli jsme s ním dobří přátelé zejména 1920/21 v  Holandsku a  vážil jsem si ho hluboce. /Považuji za jeden ze svých dobrých skutků, že jsem mu pomohl dle svých sil sblížit se s naší zpravodajskou sekcí a tím se dostat k práci, po níž toužil, kterou miloval a kterou dovedl tak znamenitě dělat.“ [Sehr geehrter Freund, / bitte, nehmen Sie mein aufrichtiges Mitgefühl zum Ableben des hervorragenden Mitarbeiters entgegen, der Robert Saudek war, und leiten Sie dieses an die ganze Redaktion der ‚Prager Presse‘ weiter. Wir waren gute Freunde besonders in der Zeit 1920/21 in Hol-

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sich Saudek neben der Diplomatie und Berichterstattung ebenfalls der Graphologie. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden allmählich, jedoch erst in den Jahren nach Mauthners Tod, zur Grundlage einer weiteren, diesmal akademischen Karriere Saudeks.4 * Anfang 1903 ist Saudek, geboren in der mittelböhmischen Stadt Kolín (Köln) und 22 Jahre alt, aus Paris5 nach Berlin umgezogen, wo er eines Tages Fritz land und ich habe ihn sehr hoch geschätzt. /Ich halte es für eine von meinen guten Taten, dass ich nach meinen Kräften dabei behilflich war, ihn mit unserer Nachrichtenabteilung zusammen zu bringen und ihm zur Arbeit zu verhelfen, die er anstrebte, die er liebte und die er so hervorragend auszuüben vermochte.] (Prokop Maxa an Arne Laurin, Sofia, 20.4.1935, LA PNP, A. Laurin). 4  1925 gab er das Buch Vědecká grafologie: psychologie písma heraus (auf Tschechisch und Holländisch, in Deutschland erschien es 1926 als Wissenschaftliche Graphologie), 1928 Doktorat in Brüssel, 1932 Mitbegründer der Zeitschrift Character and Personality, die in London und New York erschien; vgl. z. B. Roback 1935. Im Bestand des Deutschen Literaturarchivs Marbach sind sechs Briefe von Klages an  Saudek aus der Zeit 1920–1932 erhalten (Ludwig Klages); vgl. Benjamins Glosse betr. Beziehung der Graphologie Saudeks einerseits und der Denkweise L. Klages’ andererseits – in dem kleinen Text Alte und neue Graphologie vom November 1930 (Benjamin 1972: 596–598). 5  Vgl. „Ich lebte sehr einsam in Paris und hörte da nicht mehr von Ihnen“ (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 6.2.1903, LBI, F. Mauthner). Saudek hielt sich jedoch bereits früher in Berlin auf, vgl. Erinnerungen Arne Nováks, der in Berlin lebte, mit kürzeren Unterbrechungen, vom Herbst 1900 bis Sommer 1901: „Dokud žil ve své vlasti, cítil se v  galutu a  hledal odtud cestu do svobodného světa; toto úsilí, stejně jako snaha zakrýti a nahraditi nedostatky pravidelného školního vzdělání, znepokojovaly jeho mladost, trpící zřejmě komplexem méněcennosti. Jako pro většinu českého Židovstva v předchozí generaci, bylo i pro Roberta Saudka Německo pravou výpadní branou do světa: ctilo jej, [že] se nikdy neponěmčil a že se netajil svým názorem o přechodnosti a zprostředkujícím smyslu tohoto svého pobytu a působení v Německu. / Tak jsem ho poznal před 34 roky v Berlíně, když přisedl po obědě k nám, Ladislavu Hofmanovi a ke mně, v kterési kavárně Pod Lipami a zapředl nás do živého a zábavného hovoru […]“. [Solange er in seiner Heimat lebte, fühlte er sich ausgegrenzt und suchte von hier aus einen Weg in die freie Welt; diese Bemühungen, genauso wie die Bestrebungen, Lücken in seiner regelmäßigen schulischen Ausbildung zu verdecken und zu ersetzen, beunruhigten sein junges Wesen, das offensichtlich unter einem Minderwertigkeitskomplex litt. So wie für die meisten böhmischen Juden in der vorangehenden Generation war auch für Robert Saudek Deutschland das wahre Ausgangstor zur Welt; es ehrt ihn, dass er sich nie germanisierte und dass er von seinen Meinungen kein Hehl machte, wonach er seinen Aufenthalt und seine Wirkung in Deutschland als vorübergehend und vermittelnd einschätzte. / So habe ich ihn vor 34 Jahren in Berlin kennengelernt, als er sich nach dem Mittagessen zu uns setzte, zu Ladislav Hofman und zu

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Mauthner begegnete. Sie haben zusammen über Chamberlain gesprochen. In einem Brief, in dem Saudek an die Begegnung anknüpfte, bezeichnete er Chamberlains Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts als ein Buch, das für ihn von großer Bedeutung sei. Er hoffte, dass es ihm möglich sein werde, im Verlauf eines für die nächste Zeit verabredeten Besuchs Chamberlains Ansichten zu verteidigen.6 Die Faszination von Chamberlains Grundlagen könnte überraschend sein: Die vehemente Behauptung, das Judentum sei eine fremdartige Erscheinung innerhalb der europäischen, westlichen Zivilisation, muss für den jungen Mann aus einer jüdischen Familie eine zumindest paradoxe Bedeutung angenommen haben. Es ist nicht auszuschließen, dass Saudek, ähnlich wie Otto Weininger, zu welchem sich übrigens Saudek 1907 voller Bewunderung in dem Vorwort zur Textsammlung Gedanken über Geschlechtsprobleme (Saudek 1905a)7 bekannte, zu einer Form von Antisemitismus neigte. Als Saudek in einem Gespräch mit Mauthner auf Chamberlain zurückkam, zeigte sich jedoch, dass ihn an Chamberlains Buch auch etwas anderes gefesselt haben könnte, und zwar die Bemerkungen über die Kunst und über das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Sprache, unter anderem in der Passage über „Naturalismus“.8 Saudeks Interesse an  dem ästhetischen Aspekt des Verhältnisses zwischen Sprache und Wirklichkeit war auch dadurch motiviert, dass er selbst sich als Künstler, Dramatiker durchzusetzen versuchte. Noch vor dem ersten Besuch schickte er Mauthner sein soeben erschienenes Buch Drama der Kinderseele, ein mir, in einem Café Unter den Linden, und uns in ein lebhaftes und amüsantes Gespräch verwickelte] (Novák 1935: 1). 6  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 5.2.1903, LBI, F. Mauthner. 7  Im Juli 1905 eröffnete Saudek einen Artikel über Karl Bleibtreu mit einer Paraphrase einer Passage aus Weiningers Buch Geschlecht und Charakter: „[…] jeder bedeutende Mensch das Bedürfnis fühlt, sich zu Geistesgrößen, die vor ihm und zu seiner Zeit gelebt haben, in ein direktes Verhältnis zu setzen und daß der Mangel an diesem Empfinden mangelnde eigene Größe bedeutet“ (Saudek 1905e: 466). 8  Das in Mauthners Beiträgen zusammengetragene Material bezeichnet er als Nachweis für „Richtigkeit von H.  S.  Chamberlains Weltanschauung“ (Robert Saudek an  Fritz Mauthner, Berlin, 20.3.1903, LBI, F. Mauthner). Vgl.: „Das einmütige Bestreben unserer größten Denker ging darauf hinaus, die sichtbare Natur von allen jenen Schranken und Deutungen zu befreien, mit welchen menschlicher Aberglaube, menschliche Furcht und Hoffnung, menschlich blinde Logik und Systematomanie sie mehr als mannshoch eingezäunt hatten“ (Chamberlain 1903: 990; tschechisch: Chamberlain 1910: 414). 1904 veröffentlichte Saudek in dem Prager Tagblatt Čas eine Abhandlung über Chamberlain und Bleibtreu als Dramatiker (Saudek 1904d), in der Wochenzeitung Freistatt danach die Abhandlung Houst. St. Chamberlain über Goethe und Schiller (Saudek 1904c), im Frühjahr 1906 rezensierte er in der Revue Das Leben Chamberlains Buch Immanuel Kant. Die Persönlichkeit als Einführung in das Werk (1905; Saudek 1906c).

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Triptychon von Einaktern, versehen mit einem Vorwort. Wie aus dem Brief hervorgeht, in welchem Saudek seinen Besuch bei Mauthner kommentierte, hatte Mauthner für Saudeks Ambitionen zunächst kein Verständnis: Mauthner zögerte nicht, Saudeks Rede über das „Drama“, über die „neue, große, reine Kunst“ als eine „eitel Phrase“ zu ironisieren. Den bekundeten Respekt wies er als „Schmeichelei“9 ab. Saudek ließ sich dadurch nicht abhalten: Die vier nachfolgenden Jahre füllt er mit beharrlichem Streben danach, Mauthner von dem Gewicht seiner Dankbarkeit und seiner Sympathien zu überzeugen. Er tut dies zum einen indem er sich in den Befunden seines eigenen Werks auf Impulse aus Mauthners Kritik der Sprache bezieht. Zum anderen bemüht er sich, Mauthners Werk sowohl im reichsdeutschen, als auch im tschechischsprachigen Raum zu propagieren. Saudek selbst musste zunächst Mauthners Denken und seine Texte gründlicher kennenlernen. In einem Brief von Anfang Februar 1903, bald nach dem erwähnten ersten Besuch, stellte er fest, dass er Mauthner nur als einen Kritiker kannte und noch nie von Mauthner als einem Philosophen10 gehört hatte. Mehr als einen Monat danach, in der zweiten Märzhälfte 1903, tauchte Saudek bereits als Leser von Mauthners Beiträgen zu einer Kritik der Sprache auf, einem „genialen Werk“, welches – so schrieb Saudek an Mauthner – „eine Epoche in meinem Leben bedeuten wird.“ „Ihre Sprachkritik“, schrieb Saudek voller Begeisterung, „[ist] wie keine andere Weltanschauung dazu berufen, die künstlerischen heute so verworrenen Begriffe zu klären“. Er schrieb weiter, dass er Mauthner gerne treffen möchte, damit dieser ihm einige Passagen seines Textes erklären könne; zu diesem Zwecke fügte Saudek eine Aufzählung von Zitaten bei, welche signalisiert, dass er mit der Lektüre der Beiträge beim dritten Band – Zur Grammatik und Logik – anfing. Gefesselt haben ihn hier zum einen Mauthners Interpretation von Lessings Abhandlung Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766), zum anderen – in Anlehnung daran – dramaturgische Bemerkungen über die Exposition als ein Moment der Anknüpfung und des Versagens der seelischen Interaktion

9  Mauthners Meinung über Saudek kann damals auch von Maximilian Harden beeinflusst worden sein, an den sich Saudek wahrscheinlich ebenfalls wandte: „Harden mag – ich weiß es nicht, aber ich befürchte es  – auch gegen mich gesprochen haben.“ (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 6.2.1903, LBI, F. Mauthner) 10  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 6.2.1903, LBI, F. Mauthner: „Sie waren die erste Persönlichkeit, die ich als groß erkannte.“

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zwischen dem Autor und dem Leser/Zuschauer („Schaffung einer gemeinsamen Seelensituation“).11 Im Mai 1903 bat Saudek Mauthner um ein Gutachten, das ihm ermöglichen würde, in der königlichen Bibliothek zu arbeiten, unter anderem deshalb, damit er endlich die ersten zwei Bände der Beiträge ausleihen könne. Er stellte fest: „Da ich außer Ihnen heute gar keine Bekanntschaft in der literarischen Welt habe, so wollte ich Sie um die Unterschrift bitten.“ In den folgenden Wochen kündigte Saudek mehrmals an, an einem Essay zu arbeiten, dessen wechselnder Titel allmählich einen wagnerianischen Umfang annahm; außerdem kündigte er eine Abhandlung über das „Drama (der Zukunft) im Lichte der Sprachkritik Mauthners“ an12. Saudek hat sich dabei nicht gescheut, seine Bemühungen um Destillierung der Prinzipien für die neue Dramaturgie aus dem nicht gerade übersichtlichen Kosmos, den Mauthners Beiträge vorstellen, zu ironisieren: 11  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin 20.3.1903, LBI, F. Mauthner (Mauthner 1902, Abhandlung zu Lessing auf S. 55–59, zur Exposition besonders auf S. 247–250). U. a. meinte Saudek: „Ich kenne Ihre Definition der Gefühle nicht, weil diese in Band I Ihres Werkes vorkommt. Aber es scheint mir, dass Gefühle durch Ihre Sprachkritik nicht tangiert werden, denn Gefühle hören dort auf, wo die Sprache anfängt, Gefühle sind eben nicht durch Worte ausdrückbar und finden ihren Ausdruck entweder in den genialen Werken der bildenden- und Tonkünstler, oder in einer Vereinigung von Wort- und Tondichtung. – / Sie lehren als notwendige Consequenz Ihrer Sprachkritik, dass das Drama der Zukunft sich an den deductiven Verstand des Zuhörers wendet. / Alle genialen Künstler germanischer Rasse lehrten, im Gegensatz zu Ihnen, dass der Sinn des Kunstwerkes in der Vermittlung von Empfindungen beruhe, und es ist über einen solchen consensus ingeniorum nicht zur Tagesordnung überzugehen ohne die Frage gründlicher beleuchtet zu haben.“ (Robert Saudek an Fritz Mauthner 20.3.1903, LBI, F. Mauthner) 12  Auch angesichts der sich wiederholenden Anwendung des Begriffs „Drama der Zukunft“ ist als Prätext dieser Anmerkungen Wagners Werk Das Kunstwerk der Zukunft (1850) und vielleicht auch Oper und Drama (1852) zu deuten, bei diesem besonders dessen letzter Teil Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft; gleichzeitig – es ist höchst wahrscheinlich, dass der Weg zu Wagner bei Saudek die Denkkonstruktionen Chamberlains waren, die ihre höchste Komplexität in der Monographie Richard Wagner (1895, unwesentlich geändert 1901) erreichten. Vgl. auch: „Herr Dr.  Landauer spricht in einem heutigen Artikel in der ‚Zukunft‘ über Kunst & Sprachkritik. Seine Bemerkung über das Drama beweist, wie mir scheint, dass er die Schriften R. Wagners nicht kennt, sonst hätte er in R. Wagner den einzigen Künstler erkennen müssen, der eine Sprachkritik ahnte & sozusagen, deren Consequenzen für die dramatische Kunst vorwegnahm“ (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 6.2.1903, LBI, F. Mauthner), weiter: „Ich sehe im Gegensatz zu Ihnen einen tiefen, innern Kontakt zwischen R. Wagners akzentuierter Geste und den Ergebnissen d. Sprachkritik, die in den Anfängen der Sprache die lebende Geste an Stelle der Worte setzt“ (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 8.6.1903, LBI, F. Mauthner).

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Man kann nie wissen, ob an  zwei Stellen desselben Werkes mit demselben Wort derselbe Begriff oder dieselbe Anschauung verbunden ist. Naturgemäß habe ich diesen schreckliche[n] Mangel nie so empfunden, als seitdem Sie mir die Augen öffneten. Während ich also ohnmächtig vor der Frage stehe, welche Consequenzen ergeben sich aus der Sprachkritik für eine neue Dramaturgie, da ich die verschiedenen Gedanken Ihres Werkes nicht gleichzeitig erfassen, nicht gleichzeitig denken kann, ebensowenig, wie ich gleichzeitig zwei Sätze aussprechen könnte, sind Sie die einzige Person auf Erden, die dies vielleicht könnte, weil Sie alle Standpunkte einer Sprachkritik erlebten. – / Ich begreife gar nicht, wieso Sie nicht fein ironisch lächelten, als ich die Möglichkeit aussprach neue Gesetze der Wortkunst aus der Sprachkritik zu schöpfen. Sie mussten doch wissen, dass nur Einer den Schlußstrich ziehen könnte: Sie selbst.13

Anfang Oktober desselben Jahres meldete sich Saudek als Leser zweier Texte von Mauthner: Der Roman Xantippe aus dem Jahr 1884 hat ihn gelangweilt; begeistert hat ihn demgegenüber der Humor in dem Band Aus dem Märchenbuch der Wahrheit (1886), und er fragte, ob er ihn ins Tschechische übersetzen könnte.14 Diese Idee war im Einklang mit Saudeks Worten in der Einleitung zur tschechischsprachigen Ausgabe seiner dramatischen Trilogie, die seine Lust an der Vermittlung zwischen den Sprachen zum Vorschein bringen: Autora této knihy uvedly okolnosti v takové poměry, že může – ačkoliv rodem a vychováním Čech – býti současně literárně činný nejen česky, ale i německy. Kniha, kteroužto zde jakožto český originál vydává, byla současně psána oběma jazyky […] Autor, odkázán jsa na trvalý pobyt v Německu, nabyl tam již tolika literárních styků, že mu bohdá bude záhy možno, aby se domácí literatuře osvědčil jakožto překladatel českých děl do němčiny, a v té příčině bude jeho dvoujazyčnost zajisté českému písemnictví více ku prospěchu nežli jeho českému původu a smýšlení na závadu. (Saudek 1903b: [3])15

13  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 12.6.1903, LBI, F. Mauthner. Am 19. Juni 1903 wurde im Prager Deutschen Theater Saudeks dramatischer Entwurf Die Judenjungens inszeniert; vgl.: „Heute findet der Einakter-Abend Victoria [Bulthaupt], Die Judenjungens, Der Dieb [Mirbeau] statt. Der Autor des Judenjungens, Robert Saudek, wird der Aufführung beiwohnen“ (Prager Tagblatt 27, 1903, Nr. 166, Morgenausgabe, S. 5). Am darauffolgenden Tag berichtete daselbst Heinrich Teweles über die Inszenierung des Schauspiels von Saudek (H. T.: „Bühnendichtungen der Kinderseele“, Prager Tagblatt 27, 1903, Nr. 167, 20.6., S. 1–2), weiter siehe F. A. [= Friedrich Adler]: Einakter-Abend, Bohemia 76, 1903, Nr. 167, Beilage, S. 1–2 (nur eine Glosse von einigen Zeilen; Saudeks Einakter: „eine ganz nette Feuilletonskizze; daß sie in dramatischer Form erschien, hat für ihre theatralische Tragkraft nicht den Beweis erbracht“). 14  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 5.10.1903, LBI, F. Mauthner. Saudek gab hier auch zu wissen: „Meine Kinderdramen wurden von der preußischen Censur verboten, sonst wäre diese Woche in Breslau die deutsche Uraufführung gewesen. Mich hat das Verbot überrascht.“ 15  Hier mit Zuschrift: „V  Berlíně, dne 30.  srpna 1903“ [In Berlin, den 30.  August 1903]. Saudek hat nicht lange danach dann in der Tat einige „tschechische Werke“ ins Deutsche

Robert Saudek und Fritz Mauthner

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[Der Autor dieses Buches wurde von seinen Lebensumständen in eine Lage versetzt, dass er – obwohl als Tscheche geboren und erzogen – nicht nur in der tschechischen, sondern auch in der deutschen Sprache literarisch tätig sein kann. Das Buch, das er hier als tschechisches Original ausgibt, wurde in beiden Sprachen zugleich geschrieben […] Der Autor, der bisher auf einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland angewiesen ist, hat dort bereits so viele literarische Kontakte erworben, dass er, wenn Gott will, bald die Gelegenheit bekommt, der heimischen Literatur als Übersetzer der tschechischen Werke ins Deutsche zu dienen, und aus diesem Grund wird seine Zweisprachigkeit bestimmt dem tschechischen Schrifttum mehr zu Nutzen sein als seinem tschechischen Ursprung und seiner Gesinnung zu Schaden.]

Das Buch hat Saudek dann wirklich übersetzt, zu einer Veröffentlichung ist es jedoch – obwohl er in den darauffolgenden Monaten mehrmals den Vorabdruck seiner Teile in Zeitschriften sowie Absprachen mit Prager Verlagshäusern in Aussicht stellte –, nie gekommen.16 Mitte Dezember 1903 schrieb übersetzt, darunter Theaterspiele von Jaroslav Kvapil (Oblaka; Freie Wolken, Leipzig, Philipp Reclam 1905) und von Jan Štolba (Moře) – beides wurde 1904 in Coburg aufgeführt, vgl. Saudek 1904a, oder den Roman von Josef Laichter Za pravdou (1898; Wahrheitssucher, Prag, J. Otto 1906, Slavische Romanbibliothek, Bd. 8); zum letztgenannten vgl. Saudeks Brief an Jan Otto vom April 1904, u. a.: „[…] Ponechávám si právo, otisknouti překlad tento ve fejetonu některého (jednoho) politického deníku německého a jednoho rakouského tak, že Vy můžete knihové vydání jeho vydati za tři měsíce ode dne, kdy překlad začal v příslušném časopise německém vycházeti. Nemusíte tedy čekati, až by v časopise vyšel celý […]“ [Ich behalte für mich das Recht, diese Übersetzung im Feuilleton irgendeines (eines) deutschen und eines österreichischen Tagblatts so abzudrucken, dass Sie die Buchausgabe drei Monate danach herausgeben können, als die Übersetzung in der betreffenden Zeitschrift zu erscheinen begann. Sie müssen also nicht warten, bis die ganze Übersetzung in der Zeitschrift erschienen ist […]] (Robert Saudek an Jan Otto, Berlin, 22.4.1904, LA PNP, J. Otto). 16  S.: „Ich bin eben mit der Übersetzung Ihres ‚Märchenbuches‘ beschäftigt, das ich gerne Februar in Druck geben würde, nachdem ich Ende Januar etliche Märchen in böhm. Zeitschriften ‚Zlatá Praha‘, ‚Lumír‘, ‚Naše doba‘ abgedruckt haben werde. Der Verlag ‚Máj‘ ist im Principe bereit das Buch herauszugeben“ (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 14.12.1903, LBI, F. Mauthner). Ende August 1904 schrieb Saudek, das Buch solle „als zweiter Band einer in Herbst neu erscheinenden Bibliothek des ‚Máj‘ erscheinen. Die Veröffentlich[un]gen in den Zeitschriften musste ich auf Verlangen des ‚Máj‘ aufgeben, da es in Böhmen für einen praktischen Fehler angesehen wird, wenn ein Teil eines Buches früher abgedruckt war“ (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin 28.8.1904 LBI, F. Mauthner). Im September 1904: „Ich sende Ihnen ein Heft der Übersetzungsbeilage des ‚Máj‘. In dieser Bibliothek wird Ihr Märchenbuch erscheinen. In Böhmen ist es üblich, Bücher in Lieferungen von je 2  Bogen erscheinen zu lassen. Ich glaube, daß unser Buch nach Erscheinen von Wilde das nächste sein wird“ (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin 24.9.1903, LBI, F. Mauthner). Es mag überraschen, dass Saudek für sein übersetzerisches Unternehmen die – was den literarischen Geschmack anbetrifft – eher konservativ orientierte Verlagsgesellschaft Máj wählte. Das Spektrum der hier herausgegebenen Texte war

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Saudek an Mauthner als an einen Menschen, „der mir in stillen Stunden stets nahe ist und den ich, trotzdem ich ihn nur 4 mal sprach, lieb gewann, wie nichts sonst auf Erden“. Die Sentimentalität seiner Rede war ihm offensichtlich bewusst und er ersuchte Mauthner, sie nicht als die Rede des Sentiments zu verstehen, „sondern [als] die Sehnsucht eines Zeitgenossen nach der Nähe eines gewaltigen Mannes, bei dessen Worten die Welt in neuer Beleuchtung erscheint.“17 Im Januar 1904 schrieb Saudek an Mauthner, dass er sich mit historischen Dramen Karl Bleibtreus beschäftigt, vor allem mit der Tragödie Weltgericht (uraufgeführt im April 1902 im Wiener Raimundtheater). Diese Tragödie, meinte er, „läuft nicht etwa, wie es bei Ibsen der Fall wäre, in einer neuen, positiven Erkenntnis aus, sondern in einer unparteiischen Gerechtigkeit, die mit dem tiefen Schweigen Ähnlichkeit hat, mit dem jede sprachkritische Erwägung schließt“.18 Im April des gleichen Jahres versicherte Saudek Mauthner, dass er bald eine „Arbeit“ abschließen werde, „die ohne die Sprachkritik nie entstanden wäre“. Es sollte sich um eine Tragödie handeln; Saudek stellte damals noch fest, dass er seine „Lebensaufgabe“ „auf dem Gebiete der Dramaturgie“ erblickt, und er war von der Neuheit seiner Dichtung überzeugt: „Ich habe mit jeder Exposition gebrochen […] [E]in Drama ohne Expositionselemente [muss] mit einer Eruption beginnen […] aus der alles andere mit notwendiger Consequenz folgt.“19 Ende August desselben Jahres – Mauthner veröffentlichte gerade im Berliner Tageblatt ein Abhandlung zum Wesen der Theaterkritik (Mauthner 1904a)  – kündigte Saudek an, dass er sich als ein weiteres Unternehmen „eine Dramatisierung“ von Mauthners „Märchen“ Lügenohr vornahm, einer Erzählung von einem Jungen, der zu einem Mann jedoch komplizierter: Das erwähnte Buch von Wilde war eine Übersetzung des Prosawerkes The Picture of Dorian Gray (1890, tsch. Obraz Doriana Graye, 1905, übersetzt von Antonín Tille und Jaromír Borecký). 17  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 14.12.1903, LBI, F. Mauthner. 18  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 30.1.1904, LBI, F. Mauthner. 19  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 15.4.1904, LBI, F. Mauthner. Es ist nicht ganz klar, welchen Text Saudek hier erwähnte. 1904 gab der Berliner Verlag Concordia den Band Eine Gymnasiasten-Tragödie heraus (Saudek 1904c). Ende September desselben Jahres beschwerte sich Saudek bei Mauthner, dass früher als seine „Gymnasiastentragödie“ die „tragische Komödie“ Traumulus von Holz und Jerschke aufgeführt wird. Allerdings, einen Monat danach machte Saudek Mauthner verbitterte Vorwürfe, dass er bisher noch nicht seinen Text gelesen hat, der als „Verschworene“ [Spiklenci] bezeichnet wird, und den er ihm [Mauthner] „mit einer so aufrichtig empfundenen Widmung“ vor einem halben Jahr geschickt hatte, wobei er [Saudek] das Buch eigentlich nur für ihn geschrieben hatte (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 24.10.1904, LBI, F. Mauthner).

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Abb. 1: Saudeks Brief an Mauthner aus Berlin vom 5.2.1903. © Leo Baeck Institute.

heranwuchs und in allem, was er hörte, Lügen zu erkennen glaubte, da er im Ohr einen Dämon hatte. Saudek verstand dies als ein Symbol von Mauthners Aufbruch zur Sprachkritik.20 Mitte Dezember 1904 kündigte Saudek an: „Ich 20  Robert Saudek an  Fritz Mauthner, Berlin, 28.8.1904, LBI, F.  Mauthner; vgl.: „Für mich ist Lügenohr der Hoff zu einem großen germanischen Faust, zu einer Märchentragödie vielleicht“ (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 5.10.1903, LBI, F. Mauthner).

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schreibe gegenwärtig zwei Büchlein: ‚Der Fall Weininger‘ [und] ‚Mehr Goethe, weniger Schiller! Skeptische Erwägungen zur Schillerfeier‘.“ Auf diese Weise beschäftigt, besuchte Saudek keine Kaffeehäuser, und so konnte er angeblich nicht den „Kampf“ um Mauthners Aristoteles beobachten. Er wollte einen Artikel schreiben, darin die Urteile der „Gegner“ kommentieren, und bat um Informationen.21 Ende des Jahres bedankte sich Saudek für die Einladung zu einem Besuch und skizzierte die Tendenz seines Artikels, den er mit dem Titel „Der Sprachkritik vierter Band“ zu versehen gedachte: Er wollte zusammenfassend zeigen, wie wenig „die Herren Kritiker“ aus den Periodika Die Zukunft, Süddeutsche Monatshefte und Literatur bisher Mauthners Sprachkritik verstanden, speziell „der Trottel Bruno Wille“.22 Im Januar 1905 schrieb Saudek an  Mauthner aus Köln und deutete die Unfreundlichkeit seines Vaters an (er verglich ihn mit einem Löwen, dem „die Güte“ fehlt). Er fuhr fort mit der Feststellung, dass es auf der Erde nur zwei Menschen gebe, um deren Leben er sich fürchtet und deren Verlust er schmerzhaft empfinden würde: seine Frau und gerade Mauthner. „Es ist immer mein besseres Ich, das durch Sie geweckt wird und wächst“, schrieb er. Ende Mai desselben Jahres schickte Saudek einen Ausschnitt aus einer Zeitung mit seinem Artikel Die Ausstellung des deutschen Künstlerbundes in Berlin. Er markierte die Passage über das Werk Ferdinand Hodlers und fügte mit der Hand hinzu: „Ist das nicht Sprachkritik auf bildende Kunst angewandt?“ In dem beigelegten Brief fragte Saudek, ob er Mauthner besuchen könne. Er wollte mit ihm gerade über Ferdinand Hodler sprechen, in welchem er „eine geradezu epochale Erscheinung in der bildenden Kunst“ sah. Saudek versuchte, Mauthner davon zu überzeugen, dass es Hodler in dem Gemälde Blick ins Unendliche gelang, die „Menschwerdung“, „das innere Erlebnis in Menschen“ und „die unaussprechliche Stimmung“ darzustellen.23 Im Laufe des Jahres 1905 entfaltete sich in Prag ein Streit zwischen Josef Pelcl, dem Herausgeber und Chefredakteur der Revue Rozhledy, und Adolf Gottwald, welcher sich schließlich mit Pelcl auf der Herausgabe seiner Übersetzung einiger Teile von Mauthners Beiträgen nicht einigen konnte. Daraufhin erwiderte Pelcl, er habe sich an der endgültigen Version der Übersetzung ausgiebig beteiligt. Wohl gerade diese Version druckte Pelcl mit einem dazugehörigen Kommentar in seiner Revue Rozhledy ab (Mauthner 1905a). Mauthner

21  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 15.12.1904, LBI, F. Mauthner. 22  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 25.12.1904, LBI, F. Mauthner. 23  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 12.1.1905, LBI, F. Mauthner.

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erfuhr über diesen Streit unter anderem durch Gottwalds und Pelcls Briefe,24 und so bat er Saudek im November 1905, die Übersetzungen zu vergleichen. Saudek versprach dies mit dem Nachtrag, er müsse sich die Texte zunächst besorgen. Er fügte eine Bemerkung hinzu, aus welcher die Grundzüge der tschechischen Rezeption von Mauthners Werk ersichtlich sind: Mir scheint freilich – und ich habe dies häufig genug schmerzlich empfunden – daß kein Land so tief im Wortaberglauben steckt, wie gerade Böhmen & daß gerade die besseren Köpfe, wie Prof. Masaryk, Ihrer Gedankenführung geradezu ratlos gegenüberstehen. Die wenigen Führer, die nicht nationale Schlagworte propagieren, streben nur soziale Reformen an & stehen zu sehr in der Gegenwart, um großzügig genug denken zu können.25

24  Bereits Anfang Oktober 1904 beschrieb Gottwald, der Autor eines Teiles der für die Zeitschrift bestimmten Übersetzung eines Teiles der Beiträge (Mauthner 1904b) Mauthner die Situation im tschechischen Verlags- und Buchhändlermilieu, am meisten hoffnungsvoll schien ihm die Zusammenarbeit mit Josef Pelcl. U. a.: „Ihr Werk habe ich – gleich nach Erscheinen des I. Bandes – d. h. vor 2 Jahren gelesen; das letzte Kapitel des III. Bandes habe ich H. Pelcl in Sommermonaten vorgeschlagen“ (Adolf Gottwald an Fritz Mauthner, 1.10.1904, LBI, F. Mauthner). Die Dinge wurden dann komplizierter (Gottwald 1905: Pelcl 1905), Pelcl erklärte u. a., dass ihm Gottwald „překlad z Mauthnera“ [eine Übersetzung aus Mauthner] angeboten habe, „dodal však jen část a přeloženu špatně“ [er lieferte jedoch nur einen Teil und der war falsch übersetzt]. „Ježto jsem odmítl otisknouti překlad nehotový a špatný, chtěl mne k tomu donutiti žalobou; avšak 10. února 1905 ještě před rokem nabízel zástupce Gottwaldův dr. Roček smír […] dožadovaný smír jsem konečně povolil za podmínky, že A. G. odevzdá překlad celý a že v příčině oprav úplně se podrobí mým rozhodnutím. Nato A. G. dodal celý překlad sice, ale zase nedostatečný“ [Da ich es abgelehnt habe, eine unvollständige und mangelhafte Übersetzung zu drucken, wollte er mich dazu mit einer Klage zwingen; jedoch am 10. Februar 1905 noch vor einem Jahr hat Gottwalds Vertreter Dr. Roček eine Schlichtung angeboten […]; dieser Schlichtung habe ich schließlich zugestimmt unter der Bedingung, dass A. G. die komplette Übersetzung abliefert und was die Verbesserungen anbetrifft, wird er vollständig meinen Entscheidungen folgen. Daraufhin hat A. G. zwar die komplette Übersetzung geliefert, sie war jedoch nach wie vor unzureichend]. Eine Reihe von Verbesserungen habe dann Pelcl selbst vorgenommen. In derselben Nummer druckte Pelcl dann seine Übersetzung jener Passagen ab, die Gottwald aus Mauthner übersetzt hatte (danach als Buch erschienen: Mauthner 1906c), sublinear durchgängig mit Gottwalds Lösungen versehen. In seiner Antwort auf Mauthners Frage schrieb Gottwald: „Pelcl’s Angriff galt nur mir; denn der Streit zwischen ihm und mir war rein persönlich. Selbstverständlich hätte ich jedenfalls geschwiegen und Sie mit diesen Streitigkeiten nicht belästigt, hätte H. Pelcl nicht jedesmal die Sphäre meiner Verpflichtung gegen Sie durchkreuzt […] H. Pelcl unfein und geschmacklos genug war, diese persönlichste Polemik in demselben Hefte und sogar mit dem Anfange der Übersetzung Ihres Werkes eng zu verketten. Das nannte ein Prager Kritiker (Dr. Arne Novák) ein Kulturdokument!! […]“ (Adolf Gottwald an Fritz Mauthner, 8.9.1905, LBI, F. Mauthner). 25  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 11.11.1905, LBI, F. Mauthner.

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Anfang August 1905 legte Saudek seinen Brief an Mauthner groß an, auf dem Papier mit dem Briefkopf der Redaktion der Berliner „illustrierten Wochenzeitung“ Das Leben. Er habe soeben die Redaktion der Zeitschrift übernommen, die ab September unter der Aufsicht von Arthur Kirchhoff erscheinen solle.26 Er bot Mauthner diese Zeitschrift als Plattform für Veröffentlichungen an. Für den Anfang schlug er vor, drei kleinere Abschnitte aus den Bänden Beiträge zu einer Kritik der Sprache auszuwählen und zusammen mit dem ‚Märchen‘ Die gebärende Löwin abzudrucken. Nach weiteren anderthalb Monaten richtete er einen weiteren Brief an Mauthner, aus dem hervorgeht, dass Mauthner zumindest teilweise mit diesem Vorschlag einverstanden war;27 von September bis November sind in dem Blatt Das Leben vier Texte von Mauthner erschienen (Mauthner 1905b, c, d, e). Die Beziehung Redakteur – Autor baute Saudek gerade in jener Zeit auf, als sich Mauthner, der nach Freiburg gezogen war, aus seiner geographischen Nähe allmählich verlor. Anfang Oktober 1906 druckte Saudek in Die Welt am Montag und im Leipziger Tageblatt und Anzeiger einen Text über die zweite Ausgabe von Mauthners Beiträgen (Saudek 1906h; Mauthner 1906). In einem undatierten Brief, der kurz danach verfasst wurde, begrüßte Saudek die „Vernichtungsarbeit“, in welcher Mauthner gegen die „physiologische Psychologie“ polemisierte. Saudek sah darin die Bestätigung der „freien Bahn“ „für eine künftige Psychologie (Charakterologie)“, die er neuerdings als sein „Lebenswerk“ verstand. In diesem Zusammenhang machte er auf einen Artikel aufmerksam, mit welchem er selber angeblich Paul Julius Möbius „angriff“, indem er seine Broschüre Die Hoffnungslosigkeit aller Psychologie rezensierte. Diese Rezension sollte im Berliner Tageblatt erscheinen; jedoch habe die Tatsache, dass Mauthner die Vorrede zur neuen Ausgabe der Beiträge in der Zeitschrift Die Zukunft abdruckte (Mauthner 1906b), Paul Block, den Redakteur des Berliner Tageblatts, dermaßen „entrüstet“, dass er Saudeks Artikel „liegen“ ließ – „So sieht es heute in der berliner [sic!] Journalistik aus!“, bemerkte Saudek bitter.28 Er widmete sich 26  In den Jahren 1904–1905 schrieb Saudek u.  a.  für das Münchener Wochenblatt Freistatt (Süddeutsche Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst; für Teile, die der Literatur und der Kunst gewidmet waren, trugen Friedrich Huch und Adolf Dannegger die Verantwortung) (Saudek 1904a, 1905a, g) Von April bis Juli gleichen Jahres schrieb Saudek in die Berliner Monatsblätter für deutsche Literatur, die von Arthur Tetzlaff herausgegeben wurden (Saudek 1905a, b, c, d, e), einen Text druckte er hier dann noch im Februar 1906 ab (Saudek 1906a). Was die Texte anbetrifft, die Saudek in dem Blatt Das Leben veröffentlichte, siehe die Aufzählung hier im Literaturverzeichnis. 27  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 13.9.1905, LBI, F. Mauthner. 28  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, s. d., LBI, F. Mauthner.

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danach tschechischen Angelegenheiten: Über die Buchausgabe der tschechischen Übersetzung von Mauthners Beiträgen (nach der 2. Aufl., Mauthner 1905c) habe er erst von ihm selbst erfahren. Er erinnerte daran, dass es Otto vor einiger Zeit abgelehnt habe, in der Buchreihe Světová knihovna seine Übersetzung des „Märchenbuches“ von Mauthner herauszugeben, obwohl „der mir befreundete Redakteur“ [wahrscheinlich Jaroslav Kvapil] „sich dafür viel Mühe gab […]. Ich schreibe Otto, bei dem ich zwei deutsche Bände verlegte [Laichter 1906], einen wenig freundlichen Brief wegen seines Verhaltens mir gegenüber in dieser Sache.“ Er bat Mauthner, ihm „ein Exemplar“ zu schicken.29 In dem Brief vom 3. Dezember fragte Saudek, ob Mauthner bereits noch irgendein „Material“ aus dem „Band 4“ – außer „Aristoteles und Spinoza“ – gedruckt habe, ob er irgendwo darüber geschrieben habe, welche Konsequenzen für die Zukunft aus der Sprachkritik für die Poesie erfolgen können, und über Ibsens Schauspiel Frau Inger auf Östrot. Sein diesbezügliches Interesse erklärte er mit der Vorbereitung eines Buches – einer Sammlung von Essays mit dem Titel Billige Weisheiten. Darin solle auch eine Passage zur Sprachkritik sein. Für mich bedeutet diese Arbeit eine Art Abrechnung mit meinen Entwicklungsjahren, die ich mit der unerschütterlichen Überzeugung Ihrer befreienden Tat auf wissenschaftliche Gebiete beschließe und aus der ich mir  – ich weiß es nicht besser auszudrücken  – die Zukunftsmöglichkeit der Poesie in der Maeterlinck entgegen gesetzten Richtung rette.30

Am 17. Januar 1907 erschien in der Wochenschrift Das Blaubuch Saudeks Abhandlung Die Sprachkritik (Saudek 1907a).31 Bald danach wird sie Saudek in abgeänderter Form in sein essayistisches Diptychon Billige Weisheiten aufnehmen. Für die Prager Tageszeitung Národní listy [Nationalblätter] schrieb Saudek einen Artikel über Mauthner und dessen Beziehung zu den Tschechen. Mit der Veröffentlichung des Artikels zögerte er wegen der ungeklärten Informationen über die universitären Vorlesungen des Prager Philosophen František Krejčí. Mitte Januar 1907 schrieb Saudek an Mauthner: Daß Krejčí über Sprachkritik liest, halte ich für sehr wohl möglich. Er ist kein so origineller Kopf wie Masaryk, aber immerhin ein Mann, der viel Verständnis hat & sich zu exponie-

29  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, Herbst 1906, LBI, F. Mauthner. 30  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 3.12.1906, LBI, F. Mauthner, vgl. Saudek 1907: 7–59, der zweite Teil besteht aus dem Essay Der Ablauf des Lebens und die Bisexualität, eine Reflexion des Buches In einer Sache. Gegen Otto Weininger und Hermann Swoboda (Berlin, Emil Goldschmidt 1906). 31  Das Blaubuch – „Wochenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst“ – wurde damals von Heinrich Ilgenstein und Hermann Kienzl redigiert.

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ren bereit ist. Ich fragte heute bei meiner Schwester [= Gisa Saudková] an, die sein Kolleg als Hospitantin hört.32

Ende Januar eilte Saudek mit der Nachricht herbei, dass František Krejčí, ohne Mauthners Namen und Werk zu nennen, „Ihre [Mauthners] Ideen vorträgt.“ Saudek versprach, dass er bald drei Exemplare des Buches Billige Weisheiten schicken würde, in welchem – so bemerkte Saudek spöttisch – er eine Anmerkung hinzufügen müsse, „daß die Sprachkritik bereits offiziell eine Disciplin geworden ist.“33 Gleich am nächsten Tag schrieb Saudek wieder: In einer deutschen Übersetzung vermittelte er den Brief, in welchem ihm Krejčí seine Auffassung einer „Psychologie der Sprache“ erklärte, um zu zeigen, dass er keinen Grund habe, auf Mauthner zu verweisen. Dazu bemerkte Saudek: „Natürlich steckt er auch zu sehr in Kathedergeschwätz, als daß er den sprachkritischen Gedanken voll erfassen könnte.“34 Anfang März 190735 teilte Saudek Mauthner mit, dass die Zeitung Národní listy sein „Referat“ Fritz Mauthner und wir abgedruckt haben: „Unter anderem demonstrierte ich an Ihrem Franuško, den ich für eine tschechische Übersetzung empfahl, welch herzlicher Gefühle Sie für Slaven fähig sind.“36 Darauf soll die katholische Wochenschrift Čech – „eine Art Staatsbürgerzeitung“ – reagiert haben mit dem Verweis auf Mauthners „tschechenfeindliche“ Bemerkungen in der Neuen Freien Presse.37 „Doch das ist bedeutungslos“, behauptete 32  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 15.1.1907, LBI, F. Mauthner. 33  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 30.1.1907, LBI, F. Mauthner. 34  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 31.1.1907, LBI, F. Mauthner. 35  Am 2. März 1907 schrieb Gustav Landauer an Mauthner: „Saudeks Arbeit über Dein Werk habe ich inzwischen gelesen; kann aber das unreinliche Deutsch und so ähnliches, das nicht bloß am Stil zu liegen scheint, nicht recht vertragen“ (Landauer – Mauthner 1994: 158). 36  Zu Saudeks Text in der Zeitung Národní listy mehr hier im Beitrag von Václav Petrbok. 37  Vgl.: „Robert Saudek píše o německém spisovateli Fritzi Mauthnerovi: ‚Pokládám Mauthnera za nejhlubšího myslitele naší doby… Němci po Kantovi neměli myslitele pro vývin středověké [sic! v Saudkově textu stálo „středoevropské“] kultury tak významného.‘ A toto světlo Němců se narodilo v  Hořicích léta Páně 1846 [sic!]! Oh, tihle výtečníci, Saudek a Mauthner, si dobře rozumějí, a kdyby to neprozrazovala jejich jména, nezapřela by to chvástavost ve vychvalování, z čí krve oba pocházejí. To vše by však ještě ušlo. Co je při věci nejzajímavější, toto podkuřování si dvou židů naleznete jako první feuilleton sobotního čísla – Národních listů […]“. [Robert Saudek schreibt über den deutschen Schriftsteller Fritz Mauthner: ‚Ich halte Mauthner für den tiefsten Denker unserer Zeit… Die Deutschen hatten nach Kant keinen Denker für die Entwicklung der mittelalterlichen [sic! In Saudeks Text stand „mitteleuropäischen“] Kultur, der von einer derart großen Bedeutung gewesen wäre.‘ Und dieses Licht der Deutschen ist in Hořice A. D. 1846 [sic!] geboren! Oh, diese Koryphäen, Saudek und Mauthner, verstehen sich gut, und wenn das ihre Namen nicht verraten würden, könnte das ihr Prahlen in Lobreden nicht verhehlen, aus welchem

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Saudek mit einer sonderbaren Sicherheit. „Da die Nár. Listy Sie als einen der bedeutendsten Europäer proklamierten, sind die freundschaftlichen Beziehungen mit Böhmen für die nächsten Jahre wohl gesichert.“38 Ende März hat Saudek Mauthner auf einen kurzen Hinweis zu seiner „Sprachkritik“ in der neuen Ausgabe des Buches von Ernst Mach Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung aufmerksam gemacht (1906: 82).39 Einen Monat danach meldete sich Saudek als Mitarbeiter des Berliner Verlags Concordia; in den nächsten Wochen kehrten Saudeks Briefe zurück zu der Vorstellung „einer kleinen, aber typischen Sammlung von Zitaten aus der Sprachkritik“. Die Auswahl wollte Saudek selber treffen, er versicherte, dass er aus den Beiträgen zu einer Kritik der Sprache „kein Gebetbuch“ zu machen gedenke […] wie die Worte des Rosenkranzes“, er möchte jedoch „lebendige Aussprüche“ wählen, die in dieser „kleinen Gewandung eine heilsame Tageswirkung ausüben & gleichzeitig wohl Interessenten für das Hauptwerk werben würden.“40 Zunächst schlug Saudek vor, dass er ein solches Lesebuch in die Reihe Die Stimme der Großen einfügen würde. Mauthner lehnte diesen Kontext jedoch ab und das Buch sollte außerhalb der Reihe erscheinen. Zum Schluss wurde die Herausgabe aber nicht verwirklicht.41 Inzwischen hat der Verlag Continent Saudeks Roman Und über uns leuchtende Sterne herausgegeben. Ende Mai 1907 schilderte Saudek Mauthner den Plan einer in Vorbereitung stehenden Reise: Die Route sollte Barcelona, Neapel, Athen, Smyrna, Konstantinopel und Budapest umfassen. Das großzügige Itinerar konnte Saudek nur dank einer Vorabzahlung von dem Berliner Verlag Concordia verwirklichen: „Ich [bin], seitdem wir uns nicht gesehen haben, so

Blut die beiden sind. Das wäre aber alles noch gut. Was an der Sache am interessantesten ist, diese Lobhudelei zweier Juden findet man als das erste Feuilleton der Samstagsnummer der – Národní listy …]. Das Tagblatt Neue Freie Presse wird allerdings in dem Text nicht erwähnt, ironisch wird lediglich an den „Roman“ Die böhmische Handschrift erinnert, der mit Recht „seinerzeit“ von der „tschechischen Journalistik“ abgetan worden sei (Čech 1907; Herausgeber und verantwortlicher Redakteur des Blattes war Bohumil Eichler). 38  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 6.3.1907, LBI, F. Mauthner. 39  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 24.3.1907, LBI, F. Mauthner. Mauthners Beiträge („1901“) wurden hier als „in vielen Richtungen anregend“ in einer Fußnote erwähnt – gemeinsam mit Werken von Ludwig Geiger (Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache und Vernunft, Stuttgart 1868), Ludwig Noiré (Logos. Ursprung und Wesen der Begriffe, Leipzig 1885) und William Dwight Whitney (Leben und Wachstum der Sprache, Leipzig 1876). 40  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 23.5.1907, LBI, F. Mauthner. 41  Zum Unterschied von Saudeks Weininger-Anthologie vgl. Weininger (1907).

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etwas wie ein ‚Name‘ geworden. Natürlich in kleinem Maßstabe“, schrieb er an Mauthner.42 Die meisten Zeitungen bezeichneten meinen Roman als eine vielversprechende Talentprobe […] Ich war so klug, den günstigen Umstand eines künstlerischen Erfolges praktisch zu nützen & einen Lebensvertrag mit dem solventen & überaus rührigen Concordiaverlag abzuschließen, verpflichtete mich zu festgesetzten Bedingungen für alle künftigen Bücher, nahm dafür die Verpflichtung entgegen, daß Concordia alle meine Bücher annimmt & erhielt darauf einen Vorschuss von 2000,- Mark. Daher die schöne Sommerreise. […]43

Mauthner war durch Saudeks Schilderungen des Fortschritts in der Publizistenkarriere wohl etwas irritiert: „Sie nahmen es für den Stolz eines literarischen Parvenu“, schrieb Saudek im nächsten Brief  – er tat jedoch keine Buße. „Natürlich halte ich nichts von äußeren Erfolgen, aber ich freue mich, wenn sie meine Lebensbedingungen verbessern und ich würde mich über einen neuen Erfolg aus demselben Grunde trotz Ihrer Ermahnungen ebenso freuen.“44 Der Leser der Sammlung von Saudeks Briefen an  Mauthner stößt hier auf eine mehr als zehnjährige Pause. Im Oktober 1907 propagierte Saudek noch in den Münchner neuesten Nachrichten Mauthners Buch Die Sprache (Saudek 1907g),45 im Juni 1908 schickte er Mauthner einen Gruß aus dem japanischen Nagasaki.46 Der nächste erhaltene Brief stammt erst vom Juni (Mitte Juni) 1919; Saudek schrieb ihn im holländischen Haag. Mauthner erwog damals eine Reise nach Prag, befürchtete jedoch für ihn ungünstige politische Verhältnisse. Er wandte sich also an  Saudek. Dieser stellte in seiner Antwort 42  Im Herbst desselben Jahres gab hier Saudek seinen Roman Dämon Berlin heraus, eine Textprobe davon veröffentlichte Mitte Oktober die Redaktion der Wochenzeitung Das Blaubuch (Saudek 1907f), Kienzl wies in seiner Rezension im Dezember im Zusammenhang mit diesem Roman auf die Poetik Zolas, abschließend stellte er fest: „[…] Nicht nur die Kenntnis, auch die übersichtliche Beherrschung der bunten Materie ist dem Verfasser nachzurühmen. Sein ‚Dämon Berlin‘ beansprucht, unabhängig von der literarischen Kritik, als Baustein zur künftigen Kulturgeschichte unserer Gegenwart Beachtung“ (Kienzl 1907). 43  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 27.5.1907, LBI, F. Mauthner. 44  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 30.5.1907, LBI, F. Mauthner. 45  Saudek 1907g; Mauthners Werk erschien als 9. Band der Reihe Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, redigiert durch Martin Buber, dediziert Gustav Landauer. 46  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Berlin, 22.6.1908, LBI, F. Mauthner. Aus dieser Reise erfolgen die Texte Japanische Kunst (1908, im Monatsheft Arena), Chinesen unter sich (1909; Saudek veröffentlichte ihn in der Berliner Neuen Revue, herausgegeben von dem gebürtigen Prager Josef Adolf Bondy, im gleichen Jahr haben hier ihre Texte ebenfalls Emil Faktor, Camill Hoffmann, Willy Handl oder Max Brod veröffentlicht) und Japanische Volksschulen (Saudek 1909b).

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Abb. 2: Saudeks Postkarte an Mauthner aus Nagasaki vom 22.6.1908 © Leo Baeck Institute.

zunächst fest: „Sie wissen, wie meine Jugenderinnerungen an  Ihre Person gebunden sind.“ Die folgenden Worte gleichen jedoch einer Ernüchterung: Saudek habe bis vor Kurzem geglaubt, dass gerade Mauthner „berufen“ sei, „das Missverstehen der beiden Nationen der neuen tsch. slow. Republik objektiv zu erklären.“ Jetzt aber sehe er, dass er sich getäuscht hat: Gerade Mauthner vermag es nicht, und es sei an der Zeit, ihm zu sagen, „wie bitter Unrecht Sie [Mauthner] den Tschechen tun.“ Gleich darauf kommentierte Saudek jedoch sachlich Mauthners Plan, nach Prag zu fahren. Er war bemüht, ihn von der Angst vor Anfeindungen zu befreien und warnte ihn lediglich davor, dass während seines Aufenthalts „deutschnationale Prager Kreise“ darum bemüht sein würden, sich politisch seiner zu bemächtigen. Saudek empfahl deshalb, alles direkt mit den Regierungsbehörden abzumachen und bot sich als Vermittler an. Er warf die Frage auf, ob Mauthner überhaupt „tschechoslowakischer, oder reichsdeutscher Bürger“ sei. „Ich weiß nicht, ob Sie sich in Deutschland naturalisieren ließen (ich nicht),“ schrieb Saudek. Die Passage mit den Ratschlägen für die Reise wurde durch die Schilderung seines fünfjährigen holländischen Engagements „auf dem Gebiet des internationalen Nachrichtendienstes“ abgelöst. Während dieser Zeit sei er weit entfernt von „erkenntnistheoretischen oder literarischen Problemen“ gewe-

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sen, außer der „Rubrik Massenpsychologie“ bzw. „Massenpsychiatrie“.47 Er stellte schließlich fest, dass es ihm eigentlich gut gehe – er lebe zwischen dem Schreibtisch, dem Telefon, den Dünen und der Nordsee. Sie haben ein Kind, elf Monate alt.48 Danach schrieb Saudek an Mauthner im Juli, im September und im November 1919. In dem Juli-Brief kündigte er an, dass er „ein[en] intime[n] Schulkamerad[en] […] aus Prag“ treffen werde, der „mit dem künftigen Gesandten der Čs. Republik in Berlin sehr befreundet ist“; er werde mit ihm über Mauthners Reisepläne sprechen. Er schätzte, dass bald der Friedensvertrag ratifiziert und in Berlin eine offizielle tschechoslowakische Botschaft errichtet wird und dass daher Mauthners Reise „keine technisch amtlichen Schwierigkeiten“ im Wege stehen sollten. Er versuchte, sein vorangehendes Urteil über Mauthners „‚Ungerechtigkeit‘ gegen die Tschechen“ zu erklären: „Es liegt wohl weniger in Ihren Schlussfolgerungen, als in den Praemissen aus der Schulzeit.“ Saudek erwähnte auch die Macht der dominanten Medien, die Vorstellungskraft zu fördern. Trotz jener Gerüchte, die vielleicht Mauthners Ansichten formten, sei die Tschechoslowakei – so Saudek weiter – nicht „ein Land mit chauvinistischem Imperialismus & Bolschewismus“. „Sie beten: ‚Sancte Bismarck, magister Germaniae, ora pro nobis‘.  – Die Tschen [sic!] beten zu Komenský, Chelčický & Masaryk.“ Die Pädagogik bezeichnete er als das „Wesen der Tschechen, es ist der Lebensinhalt, die geschichtliche Linie ihrer Entwickelung [sic!], ihre Zukunft & ihre Vaterlandsliebe.“ Er leugnete nicht, dass sich die nationalen Beziehungen im neuen Staat „sehr zum Nachteil des Deutschtums“ entwickeln, er wies auf die Entwicklung zionistischer politischer Kräfte hin: „Unter dem Schutze der extremen demokratischen Freiheiten haben die Juden eine jüdischnationale Partei gegründet (Zionisten) & eigene Kandidaten aufgestellt.  – Das Prager Deutschtum wurde so um seinen jüdischen Anhang geschwächt, 4 Zionisten sitzen im Prager Gemein47  S. weiter: „Ich sage absichtlich Massenpsychologie und –psychiatrie. Aber das ist ein Kapitel für sich, ein großes Kapitel, wahrscheinlich das weitaus größte im Geschichtsbuche des Krieges. – Im Märchenbuch der Wahrheit taucht immer wieder der Mann auf, der anders sieht als die anderen und offenbar an der Menschen vorbeischreiten muss, weil er nicht die gleiche Seelensituation mit ihnen hat. – Nun, ich meine ernsthaft, daß […] die Individuen der Entente eine andere Seelensituation haben müssen, als die Deutschen. Beide Gruppen von Millionen empfingen ihre Nachrichten die anderen aus den paar neutralen Ländern immer aus zweiter Hand. Fünf Jahre lang“ (daselbst). Vgl.: „Nicht Grammatik und Syntax, sondern Psychologie wird künftighin die Geschichtsschreibung beherrschen, Individualund Massenpsychologie, die zwei Faktoren, die das bilden, was wir den ‚Geist der Zeit‘ zu nennen uns gewöhnt haben.“ (Saudek 1907a: 89) 48  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Haag, 18.6.1919, LBI, F. Mauthner.

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derath (!) & die Deutschen haben eine ungünstige Statistik.“ Jedoch, was die Beziehungen zu dem „deutschen Reich“ anbetrifft, war Saudek überzeugt, dass es gerade die Tschechen sein werden, die „den Deutschen die ersten Brücken in die Welt zurück bauen.“ Diese Versöhnungsfigur baute er auf einer intimeren Ebene noch weiter auf, indem er sich erneut als „Ihr[.] [Mauthners] dankbare[r] Schüler“ bezeichnete.49 Im Brief vom September empfahl Saudek Mauthner, sich in Berlin „an den Gesandten der Czechoslovakischen Republik Dr. Koerner“ zu wenden, bei dem bereits in Mauthners Sache (Erwerb von Visum) der Freund „Dr. Kafka“ Zusprache erhoben hat. Bei ihm (Prag, Dušní ulice / Geistgasse 3) wollte Saudek übrigens während seines für Oktober geplanten Aufenthaltes in Prag wohnen.50 Robert Kafka steht auch in dem nächsten Brief Saudeks, schon vom November – in einer Aufzählung von Kontaktpersonen in Prag, und zwar gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten Vlastimil Tusar, mit dem Übersetzer Adolf Gottwald oder mit Jaroslav Kvapil, damals einem Sektionschef des Ministeriums für Kultus und Unterricht: „in Ausbildung tief in deutschem Kulturwesen wurzelnd, trotzdem sehr national empfindend. Reinhardt, Bahr sind seine Freunde.“51 Etwa vierzehn Tage danach schloss sich Saudek mit einiger Scheu der anzunehmenden Reihe von Jubiläumsschreibern an (Mauthner war siebzig Jahre alt geworden). Er mischte dabei erläuternde Introspektion und die Bilanz einer allgemeineren geistigen Umwandlung zusammen: Ich möchte nur ganz kurz das eine sagen, daß Sie in meinem Leben viel bedeutet haben & daß die Spuren wohl nie in meinem Hirn erlöschen können. – Daß Sie mir, als ich als ungelenker Rüpel vor 16 Jahren zu Ihnen kam, nicht die Türe wiesen, ist mir eigentlich heute recht unverständlich. Und es muß eine gute Portion einer an Sentimentalität grenzenden Güte dazu gehört haben; vielleicht auch das Mißverständnis, einen rein deutschen Jungen aus der feindlichen slavischen Welt vor sich zu sehen, der gleich Ihnen das Wunder der deutschen Sprache um sich erlebte. So kam ich durch ein Mißverständnis in ihre Nähe und wurde durch Ihre Reinheit davor bewahrt, ein Sklave der Berliner Erfolgsjagd zu werden. Mit 23 Jahren ist die Versuchung für einen verliebten Jungen, der nichts hat & heiraten will, groß. (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Haag, 21.11.1919, LBI, F. Mauthner)

49  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Haag, 6.7.1919, LBI, F. Mauthner. 50  Robert Saudek an Fritz Mauthner, Haag, 20.9.1919, LBI, F. Mauthner. 51  Ich danke Václav Petrbok für seinen Hinweis auf die Tatsache, dass Robert Kafka ein Cousin des Prosaikers Franz Kafka war. Saudek bringt im betr. Brief eine etwas breiter angelegte Charakteristik R. Kafkas: „ein so intimer Freund von mir, dass meine Verehrung für Sie beinahe telepathisch auf ihn übergegangen ist. Also für Sie absolut zuverlässig & gesellschaftlich einflussreich.“ (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Haag, 10.11.1919, LBI, F. Mauthner)

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Mauthners sprachkritische Sonde stellte er als ein Geschenk dar, das nicht nur ihm vor Jahren geschenkt wurde: Verwertung der Anregungen Mauthners sah Saudek nicht nur in dem aktuellen deutschen revolutionären Geschehen und in den Reformvisionen, sondern auch (im Zusammenhang damit) in dem billigen Karriereaufstieg einiger Schlauköpfe, Makler „geistiger Werte“, kalt berechnender Köpfe, die in dem jetzigen Chaos „mit neuen Worten“ Geschäfte machen: „Wortprägungen sind heute, viel mehr als sonst kostbare Waren, Mittel zur erfolgreichen Laufbahn.“ Saudek hat sich durch sein Engagement im Nachrichtendienst und der Diplomatie selbst ohne Bedenken in diesen paradoxen Strom eingegliedert: Im Kreis derjenigen, die an  der Spitze stehen, wirke ich auch heute in Ihrem Sinne & bemühe mich, jenen Wortaberglauben wegzuräumen, der dem menschlichen Verstehen der Nationen im Wege steht. – Bevor die internationale Politik sprachkritisch gesäubert werden wird, wird die Sprachkritik eine andere, zeitliche dringendere Aufgabe zu lösen haben: die Valutafrage. Geldwerte ganzer Völker steigen & sinken zum großen Teil weil Vorstellungen vergangener Zeiten in der Ideologie der Finanztechnik festsitzen (‚Golddeckung‘ z. B. ist so ein Ausfluss des Wortaberglaubens). Wenn die Sprachkritik diese Worte in der Welt wegkritisiert haben wird, dann wird auch die deutsche Valuta steigen. (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Haag, 21.11.1919, LBI, F. Mauthner)

Im Dezember 1920 schrieb Hermann Bahr nach Prag an Jaroslav Kvapil: […] Mein verehrter alter Freund Fritz Mauthner, der weltberühmte Sprachkritiker, dessen ‚Geschichte des Atheismus‘ eben erschienen ist – aber Ihnen, lieber Freund, brauch ich doch wahrhaftig nicht erst zu sagen, wer Fritz Mauthner ist! Kurz: er geht, seine Schwester besuchen, nach Prag, wo er selber ja aufgewachsen ist, und ich möchte ihn dort in gutem Schutze wissen […]. (Hermann Bahr an Jaroslav Kvapil, 7.12.1920, zit. n. Bahr – Kvapil 2007: 243, 244)

Er bat Kvapil: Nehmen Sie sich meines edlen Mauthner freundschaftlich an, geleiten Sie ihn durch Eure wunderbare Stadt, betreuen Sie ihn, wie mich so oft in unvergeßlichen Tagen! Bringen Sie ihn, wenn möglich, auch mit Masaryk zusammen, der mit ihm ja geistig so Vieles gemein hat!52

Den nächsten (erhalten gebliebenen) Brief richtete Saudek erst im Mai 1921 an Mauthner; in der Zeit arbeitete er bereits fleißig mit der Redaktion des Tagblattes Prager Presse zusammen. Er hat mit einem graphologischen Kommentar begonnen und mit einer weiteren Rückschau: 52  Hermann Bahr an Jaroslav Kvapil, Salzburg, 7.12.1920 (zit. n. Bahr – Kvapil 2007: 243, 244). Über das erwähnte Buch von Mauthner Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande schrieb Anfang Februar 1921 in der Deutschen Zeitung Bohemia Albert Wesselski.

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Wie ungebrochen, ungeknickt und ungeborgen (wenn ich die Terminologie meiner Bücher gebrauchen darf) trotz mancherlei körperlicher Unzulänglichkeiten und Hemmungen! Ich besitze alles, was Sie mir je schrieben. Vor 15 bis 17 Jahren waren Sie häufiger so gütig. Nun legte ich die Zeilen von damals neben die heutigen. Vieles war diktiert, ein mir besonders wertvoller Brief (1907) ganz von Ihrer Hand. Sie waren damals organisch gesünder und dennoch nervöser, schon in Freiburg und dennoch in Ihrem Gefühl vielleicht immer noch auf der Flucht aus Berlin. (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Haag, 11.5.1921, LBI, F. Mauthner)

Die Durchdringung der Vergangenheit und der Gegenwart in verfügbaren Zügen der Hand Mauthners bewegte Saudek zur Evokation der Berliner Jahre: Ich war ein eitler, ehrgeiziger, dummer Junge, als ich Sie kennen lernte und als Sie Berlin verliessen [sic!], war ich in Gefahr, mich ganz zu verlieren. […] Ich schrieb wertlose Romane, weil sie marktgängig waren, aber das, was Freud die unterdrückten Gefühle nennt, blieb so lebendig, dass ich alle Jahre eine exotische Reise machen musste […] In Japan, Indien, an Kaukasus53 waren Sie mir näher als bei Reinhardtpremieren. […] Wenn wirklich etwas in mir gedieh, dann ist es an Ihrer Sonne gereift. (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Haag, 11.5.1921, LBI, F. Mauthner)

Saudek freute sich über Mauthners Nachricht betreffend Begegnung mit dem tschechoslowakischen Präsidenten: „Dass Ihnen Masaryk gefallen hat, freut mich von Herzen. Es konnte nicht anders sein. Aber es war sehr lieb von Ihnen, dass Sie mir das spontan schreiben wollten. Kvapil ist leider ein gebrochener Mann. Er erblindet langsam völlig.“54 Er machte Mauthner auf seinen Freund Maxa aufmerksam: „Prachtkerle, deren Namen noch nicht täglich in den Zeitungen stehen. Prokop Maxa, unser bisheriger Gesandter (jetzt Warschau) gehört zu Ihnen. Wie alle rechten Menschen bei uns, von Haus aus, Lehrer.“ (Robert Saudek an Fritz Mauthner, Haag, 11.5.1921, LBI, F. Mauthner) Anfang Juni gleichen Jahres teilte Saudek, nach seiner Rückkehr aus Amsterdam, Mauthner mit, dass die Redaktion der Zeitung Algemeen Handelsblad 53  Im Kaukasus hielt sich Saudek im Jahre 1911 auf (Saudek 1911a, b). 54  Mitte Februar 1921 dankte Kvapil Mauthner für das ihm zugeschickte Buch Muttersprache und Vaterland, er habe es mit großem Interesse unmittelbar gelesen, fügte er in einem unbestimmten, bejahenden Kommentar hinzu. Er verstand die Sendung als Erinnerung an die Prager Zusammenkunft: „Ich wäre glücklich, mich einmal mit Ihnen über alle diese Sachen wieder aussprechen zu können“, und er hoffte, dass ihn Mauthner nicht vergessen werde, falls er wieder „in unsere gemeinsame Heimat“ komme. „Leider haben wir uns diesmal in Prag nach Ihrem Besuch bei unserem Prasidenten [sic!] nicht mehr gesehen: ich hätte so gerne erfahren, was für einen Eindruck gerade auf Sie, verehrter Meister, der größte lebende Mann unseres Volkes gemacht hat.“ (Jaroslav Kvapil an  Fritz Mauthner, Prag, 18.2.1921, LBI, F. Mauthner)

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bereit ist, sich mit dem Verlag Ullstein an Zahlungen zu einigen für die Möglichkeit, einen nicht genannten Text von Mauthner zu veröffentlichen. Mauthner antwortete Saudek dankbar mit einer Ansichtskarte aus Baden-Baden. In der anschließenden Nachricht übernimmt Saudek Garantie für die Redaktion der Amsterdamer Zeitung – hieraus geht auch hervor, dass es sich um den Roman Kraft handelte.55 Es handelt sich um den letzten Nachweis des brieflichen Kontakts zwischen den beiden Männern, der sich erhalten hat.56

Quellen Leo Baeck Institute, Fond Fritz Mauthner . Literární archiv Památníku národního písemnictví [Literaturarchiv im Museum des nationalen Schrifttums], Fonds Arne Laurin, Jan Otto.

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Landauer, Gustav  – Mauthner, Mauthner (1994): Briefwechsel 1890–1919. Hrsg. von Hanna Delf. München: Beck. Mach, Ernst (1906): Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Leipzig: Johann Ambrosius Barth. Masaryk, T. G. (1923): Das Nationalgefühl und die nationale Idee, übers. v. R. Saudek. – In: Die Wahrheit 2/1 (01.01.), 1–4. Mauthner, Fritz (1902): Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 3  Zur Grammatik und Logik, Stuttgart, Berlin: Cotta. Mauthner, Fritz (1904a): Wie eine Theaterkritik entsteht. – In: Berliner Tageblatt 33/443 (31.08., Abend-Ausgabe), 1–2. Mauthner, Fritz (1904b): Příspěvky ke kritice řeči [Beiträge zu einer Kritik der Sprache], übers. v. A. Gottwald. – In: Rozhledy 14/50, Bd. 2 (10.09.), 1190–1194; 14/51 (17.09.), 1213–1218; 14/52 (24.09.), 1239–1242. Mauthner, Fritz (1905a): Podstata řeči [Wesen der Sprache], übers. v. Josef Pelcl. – In: Rozhledy 15/37, Bd. 2 (10.06.), 1099–1104; 15/38, 1120–1127; 15/39, 1151– 1160; 15/40, 1183–1190; 15/41, 1219–1223; 15/42–43, 1239–1249; 15/44–45, 1296–1306; 15/46–47, 1137–1352; 15/48–49, 1384–1392; 15/50–51, 1418–1434; 15/52 (23.09.), 1469–1475. Mauthner, Fritz (1905b): Die Frau aus dem Park. – In: Das Leben 1/1 (September), Bd. 1, 12. Mauthner, Fritz (1905c): Aus dem Märchenbuch der Wahrheit. Timon.  – In: Das Leben 1/2 (September), 57–58. Mauthner, Fritz (1905d): Wortaberglaube. – In: Das Leben 1/3 (Oktober), 72. Mauthner, Fritz (1905e): Erkenntnis und Sprache. – In: Das Leben 1/4 (November), 90–92. Mauthner, Fritz (1906a): Beiträge zu einer Kritik der Sprache. I. Zur Sprache und zur Psychologie. – II. Zur Sprachwissenschaft. – Bd. 3. Zur Grammatik und Logik. Stuttgart: Cotta. Mauthner, Fritz (1906b): Kritik der Sprache. – In: Die Zukunft 14/56 (22.09.), 433– 439. Mauthner, Fritz (1906c): Podstata řeči. Příspěvky ke kritice řeči [Wesen der Sprache. Beiträge zu einer Kritik der Sprache]: Teil 1, Bd. I., übers. v. A. Gottwald. Praha: Otto. Mauthner, Fritz (1906d): Die Sprache. Frankfurt/M.: Rütten & Loening. Novák, Arne (1935): Ahasver. – In: Lidové noviny 43/198 (18.04.), 1–2. Pelcl, Jan (1905): Z  kroniky literárně-policejní II [Aus der literarisch-polizeilichen Chronik]. – In: Rozhledy 15/37, Bd. 2 (10.06.), 1077–1084 (unterschrieben J. P.). Roback, Abraham Aaron (1935): [Robert Saudek]. – In: Character and Personality 3/4 [Juni], 263–269. Saudek, Robert (1903a): Drei Bühnendichtungen der Kinderseele. Berlin: Dt. Bühne.

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Veronika Jičínská

Fritz Mauthners Erinnerungen als Kritik am österreichischen Bildungswesen In Fritz Mauthners Autobiographie Erinnerungen, deren einzig erschienener Band den Untertitel Prager Jugendjahre trägt, berichtet der Autor mit besonderer Betonung von seinem Bildungsweg. „Es schien mir auf die Dauer unerträglich, in dem Kampfe gegen die kindermörderische alte Schule stille zu schweigen, nicht ein Bekenntnis zugunsten der neuen freien Schule abzulegen“ (Mauthner 1918: 7)1, erklärt er in der Einführung zu seinen Memoiren und begründet den Entschluss, „die ganz gewöhnliche, fast lächerliche Tragik der eigenen Schulerinnerungen zu erzählen“ (Mauthner 1918: 7) mit Hinweis auf das rigide Bildungssystem in der Donaumonarchie zu seiner Schüler- und Studienzeit und auf die deutsche Reformpädagogik in den Jahrzehnten um 1900. Die Autobiographie folgt teils der Gliederung nach Bildungsphasen (Kap. III Die Klippschule, Kap. V Das Piaristengymnasium, Kap. VII Und wieder die Piaristen, Kap. IV Das Kleinseitner Gymnasium, Kap. XV Universitätsjahre), teils nach für den Werdegang des Sprachkritikers einschneidenden Erfahrungen und Einblicken (Kap. IV Erste Sprachstudien, Kap. VI Ohne Sprache und ohne Religion, Kap. XII Konfession, Kap. XIII Nationale Kämpfe, Kap. XIX Kritik der Sprache). Es handelt sich also um eine doppelte Problematik: Kritik am Unterrichtswesen einerseits und Kritik an der Sprache – hier jedoch vordergründig als Kritik an sprachlichen Verhältnissen in Böhmen dargelegt – andererseits. Beide werden von Mauthner als zusammenhängende Komplexe verstanden, deren Struktur und Funktionsweise politisch bedingt waren. Die Gleichberechtigung der Nationalitäten, eine von den Minderheiten auf dem Gebiet der Monarchie gewichtige Forderung, wurde 1849 in die sog. oktroyierte Märzverfassung aufgenommen. Trotz dem späteren Abrücken der Regierung von dieser Garantie (Engelbrecht 1986: 295) wurde die 1   Mauthners Protest gegen die „alte Schule“ hat den Charakter einer richtigen Schmähschrift. Die Schule wird u. a. mit der „Höllenfahrt“ (Mauthner 1918: 10) verglichen, mit einer „epidemische[n] Kinderkrankheit, die jeder von uns durchmachen muss“, wobei „unzählige an dieser Krankheit gestorben, unzählige zeitlebens seelische Krüppel geblieben [sind]“ (Mauthner 1918: 9).

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Gleichberechtigung seitdem, wenn auch mit Einschränkungen, verfolgt und zwar ungeachtet der Tatsache, dass sich in der Praxis ein Primat der deutschen Sprache durchsetzte. Denn in puncto der Unterrichtssprache gestaltete sich die Gleichberechtigung besonders schwierig, „weil die Sprachen der einzelnen Nationalitäten ungleich ausgebildet waren, ihr Gebrauchswert unterschiedlich einzustufen war und außerdem ja Zweck und Ziel des Unterrichts in der jeweiligen Schulform dabei berücksichtigt werden mußten.“ (Engelbrecht 1986: 295) Obwohl es Bemühungen gab, eine moderne, übernationale Staatsverwaltung einzuführen, in der die Schulen systeminhärent die Machtverhältnisse in der Monarchie stabilisieren und bestätigen sollten, verstärkten die eingeleiteten Reformen am Ende „eher die Zentrifugalkräfte“, also die Eigenständigkeit der Nationen. (Engelbrecht 1986: 10) Parallel zu diesen Maßnahmen wurden in gemischtsprachigen Gebieten der Kronländer Nationalitätenkämpfe ausgetragen, die eine extreme Politisierung der Sprachenfrage mit sich brachten. Es überrascht nicht, dass diese Kontroversen besonders im Schulbereich dringlich wurden. Die Wahl der Unterrichtssprache wurde zum Politikum, den Lehrern kam die Rolle der Träger des nationalen Lebens zu. Unter dieser Konstellation wurden die Schul­ erfahrungen in der k. u. k. Monarchie für Mauthner als deutschsprachigen, in die deutsche Kultur voll assimilierten Juden zum Auslöser andauernder Irritationen. Zugleich aber, wie weiter gezeigt wird, erschufen diese Umstände einen Freiraum für sprachliche Experimente und Untersuchungen.

1. Die Schule als ein sprachliches Schlachtfeld Fritz Mauthner bekam 1855 zuerst Privatunterricht. Nach zwei Jahren wurde er in eine privat organisierte hebräische Schule, die ,Klippschule‘, geschickt, über die er bitter klagt: Mir aber geschah damals etwas, woran ich noch heute, nach siebenundfünfzig Jahren, nicht anders als mit äußerster Erbitterung denken kann, ein Unrecht, das von keinem Lebenserfolge gesühnt werden kann. Ich schwanke nicht, es ein schweres, ruchloses Verbrechen zu nennen. Ich war reif fürs Gymnasium und mußte noch drei Jahre auf einer widerwärtigen Klippschule wiederkäuen, was ich bei Herrn Fröhlich2 gelernt hatte. (Mauthner 1918: 19) 2   Herr Fröhlich war der Hauslehrer in der Familie Mauthner. (Mauthner 1918: 18) Die Anstellung des Hofmeisters, wie Mauthner ihn ausschließlich in seinen Erinnerungen nennt, weist auf den sozialen Rang der Familie hin: „Der Hofmeister oder Gouverneur (Gouver-

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Als behördlich nicht anerkannte Anstalt wurde die Klippschule aus der Pflicht genommen, die zweite Landessprache – also Tschechisch – zu unterrichten. Diesen Umstand erwähnt Mauthner als einen der Gründe, warum er auf diese Schule – er stellt dies als „die Einpferchung“ dar (Mauthner 1918: 24)3 – geschickt wurde. Auf den unglückseligen Anfang seines Bildungsweges führt er in den Erinnerungen die ,Tragik‘ seiner Bildung im Allgemeinen zurück. Die geforderte sprachliche Gleichberechtigung spielte dabei die entscheidende Rolle, denn es soll ein Mangel an Tschechischkenntnissen gewesen sein, der seine Hoffnungen, nächstens auf dem Gymnasium studieren zu dürfen, zunichtemachte. Dazu schreibt er: Vielleicht fehlte im Lehrplan unseres Hofmeisters die eine oder die andere Kleinigkeit, die just in jenen Zeitläuften bei der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium verlangt wurde; aber diese Lücken hätte ich sicherlich binnen wenigen Wochen oder Monaten ausfüllen können. So zum Beispiel waren meine Kenntnisse in der tschechischen Sprache wahrscheinlich sehr mangelhaft. […] Nun war aber tschechisch von Gesetzes wegen die zweite Landessprache geworden und von den armen Schulkindern wurde etwas tschechische Orthographie und etwas tschechische Grammatik verlangt. (Mauthner 1918: 21)

Auch wenn an privaten Schulen Tschechisch nicht gelehrt wurde, wurden rudimentäre Kenntnisse oder mindestens eine Offenheit gegenüber der zweiten Landessprache erwartet, freilich ohne dass das Deutsche als die Sprache der Bildung in Zweifel gezogen worden wäre. Mauthner charakterisiert die Klippschule als „eine von jüdischen und slawischen Tendenzen herumgezerrte“. (Mauthner 1918: 34) Als Beispiel könnte sein Bericht über eine Jahresprüfung an  dieser Schule dienen, die in Gegenwart eines tschechisch gesinnten Bezirkspfarrers abgehalten wurde: Am ersten Tage einer solchen öffentlichen Prüfung waren von uns eine Unzahl Schillerscher Gedichte aufgesagt worden. Kurz vor der Mittagspause äußerte der rundliche Bezirkspfarrer den Wunsch, eines dieser wunderschönen Schillerschen Gedichte auch auf tschechisch deklamiert zu hören. In einer ebenso schönen Übersetzung. Wir seien doch nante) bewegte sich ursprünglich nur in der ständisch-exklusiven Welt des Hofes und des Adels. Hofmeister wurde er aber auch manchmal genannt, wenn er in einer reichen Familie tätig war, allerdings ‚in Häusern von höherem Rang‘. In der Regel sprach man freilich hier von einem ‚Hausinformator‘, ‚Hausinstruktor‘ oder ‚Privatinstruktor‘.“ (Engelbrecht 1984: 289) 3   Mauthner vermutet, dass der Besuch der Klippschule gesetzlich erforderlich war: „Und da habe ich noch nicht einmal hervorgehoben, daß diese Privatschule nur von jüdischen Knaben besucht wurde, daß der Direktor oder der Besitzer ein völlig unkultivierter ungarischer Jude war; vielleicht war es nach dem damaligen Stande der österreichischen Gesetzgebung nicht möglich, das Kind religionsloser, aber jüdischer Eltern anders als in einem solchen Pferche unterzubringen.“ (Mauthner 1918: 22)

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gewiß gute Böhmen? Der Schuldirektor katzbuckelte: er (der ungarische Jude) sei ein sehr guter Böhme. Dann nahm mich dieser Mann beiseite, bedrohte mich mit geballter Faust, wenn ich nicht am Nachmittage, also binnen zwei Stunden, Schillers ,,Bürgschaft“ in der tschechischen Übersetzung auswendig gelernt hätte, die in der Schulbibliothek nicht fehlte. (Mauthner 1918: 25)

Mauthner wurde dieser Aufgabe gerecht, auch wenn er ,,am nächsten Morgen nicht mehr imstande war, auch nur den dritten Vers der Übersetzung aus dem Gedächtnisse wiederherzustellen“ (Mauthner 1918: 25) – eine enttäuschende erste Begegnung mit dem Tschechischen als Literatursprache.4 Mauthners Schulanfänge fallen in die Zeit nach der Unterrichtsreform von 1848–1853, die nach dem Minister für Cultus und Unterricht Leo Graf Thun-Hohenstein (amtierend 1849–1860) Thun’sche Schulreform5 genannt wurde. Dem slawophilen Grafen schwebte bei seinen Entscheidungen ein multinationales, aber auf Integration angelegtes Schulwesen vor. Er wünschte, daß die Schüler sowohl ihre nichtdeutsche Muttersprache als auch die deutsche Sprache fehlerfrei mündlich und schriftlich gebrauchen lernen sollten. Er förderte deshalb die systematische sprachliche Ausbildung der Lehrkräfte in ihrer Muttersprache und ließ die für den nichtdeutschen Unterricht notwendigen Lehrbücher verfassen. Er wollte die Schulen weder nationalisieren noch germanisieren. (Engelbrecht 1986: 295)

Die Lehrinhalte sowie die Organisationsstruktur wurden vor allem für die mittleren und höheren Schulen modernisiert. (Stachel 1999: 137) Während im Elementarschulwesen die Muttersprache in der Regel auch als Unterrichtssprache verwendet wurde, nahm die deutsche Sprache an den höheren Bildungsstufen eine dominante Rolle ein. Deutsch als Zweitsprache in Schulen mit nichtdeutschen Mehrheiten wurde dann als notwendig angesehen, wenn 4   Ausgewählte Lyrik von Schiller wurde von Jan Evangelista Purkyně übersetzt und 1841 in zwei Bänden ebenfalls von ihm als Bedřicha Šillera Básně lyrické in Wrocław herausgegeben. Die Ballade Bürgschaft (Rukojemstwí), befindet sich im Bd. 1, 28–33. 5   Leo Thun-Hohenstein gestaltete aber nur den allgemeinen politischen Rahmen der Reform. An der konkreten Erarbeitung beteiligten sich Männer, die – wie Peter Stachel feststellt – überwiegend ebenso wie Thun aus Böhmen stammten und von dem Böhmischen Reformkatholizismus geprägt waren. Diese Tradition war bereits zu Zeiten Kaiser Josephs für das Bildungssystem von Bedeutung. Genannt seien hier: Josef Alexander von Helfert (1820–1910), Johann August Zimmermann (1793–1869) und der Prager Universitätsprofessor Franz Serafin Exner (1802–1853). Exner war maßgeblich von Bernard Bolzano (1781–1848) beeinflusst, einem katholischen Priester, Begründer des Bohemismus, der die beiden Nationen im Lande versöhnen sollte, und ein Kritiker der österreichischen Verfassung. Genauso wichtig wie Bolzanos Einfluss war der von Johann Friedrich Herbart (1771–1841). (Stachel 1999: 138)

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Kinder in die Mittelschule übertreten wollten. Dass, „[w]enn allen Staatsbürgern gleiche Bildungsmöglichkeiten geboten werden sollten, […] ohne Zweifel die Erlernung des Deutschen notwendig“ (Engelbrecht 1986: 296) war, gilt unter der Annahme, das Deutsche werde weiterhin die vehikulare, bzw. referentielle6 Sprache der Monarchie bleiben. Der Status des Deutschen wurde also einerseits ,von oben‘ geregelt und aufgewertet – Deutsch als die hervorragende Sprache der Kultur  –, andererseits sollte es aber auch ,von unten‘ eine Übereinstimmung darüber geben. Aus diesem Grund waren die gleichen Chancen für alle Sprachgemeinschaften und eine allgemeine Verständigungsfähigkeit innerhalb der Monarchie ein besonders wichtiger Aspekt. In dem für die Reformen maßgeblichen Entwurf der Organisation der Gymnasien und Realschulen in Oesterreich wurde dies folgendermaßen formuliert: Das überall die Muttersprache der Schüler und ihre Literatur gründlich und ausführlich gelehrt werde, bedarf gegenwärtig keiner Rechtfertigung mehr; schwierig aber sind Bestimmungen darüber, ob die Schüler verpflichtet sein sollen, neben ihrer Muttersprache auch noch andere im Reiche gangbare Sprachen zu erlernen. Der Entwurf ordnet an: dass jedes Gymnasium verpflichtet sei, sämmtliche in dem Kronlande, wo es sich befindet, lebende Sprachen und auch die deutsche, wenn sie nicht schon unter ihnen enthalten ist, zu lehren, dass aber die Benützung dieses Unterrichtes durch die Schüler, mit alleiniger Ausnahme der Unterrichtes über die Muttersprache, den Schülern oder eigentlich den Eltern dersel6   Mit Hinweis auf das Vier-Sprachen-Modell Henri Gobards kategorisieren Deleuze und Guattari je nach deren Funktion Sprache in vier Gruppen: 1. die ,vernakulare‘, bodenständige oder Mutter-Sprache, die Sprache der ländlichen Gemeinschaft, 2.  die ,vehikulare‘, vermittelnde, städtische, Staats- oder Weltsprache, die Sprache der Gesellschaft, des Handels, der bürokratischen Transmission, 3. die ,referentielle‘, Maßstäbe setzende Sprache des Sinns und der Kultur, 4. die ,mythische‘ Sprache am Horizont der Kulturen, die Sprache der geistigen oder religiösen Reterritorialisierung. (Deleuze/Guattari 1976: 34) Mauthner unterscheidet die Sprachen seines sozialen Milieus im Grunde nach den gleichen Kriterien: „Deutsch als die Sprache der Beamten, der Bildung, der Dichtung und seines Umgangs; Tschechisch als die Sprache der Bauern und der Dienstmädchen, als die historische Sprache des glorreichen Königreichs Böhmen; ein bißchen Hebräisch als die heilige Sprache des Alten Testaments und als die Grundlage für das Mauscheldeutsch, welches er [der Jude in Böhmen] von Trödeljuden, aber gelegentlich auch von ganz gut gekleideten jüdischen Kaufleuten seines Umgangs oder gar seiner Verwandtschaft sprechen hörte.“ (Mauthner 1918: 32) Mauthners Einstufung der Sprachen rückt die Durchlässigkeit einer solchen Kategorisierung mehr in den Vordergrund als es bei Gobard der Fall ist: Das Tschechische kann zugleich eine vernakulare, vehikulare (als Unterrichts- oder auch Beamtensprache) oder referentielle (mit Verweis auf die Sprache der ruhmreichen Vergangenheit Böhmens) Sprache sein. Die gezielt überspannten tschechischnationalen Diskurse wollten die Sprache als ein nationales Heiligtum, also eine potentiell mythische erscheinen lassen. Dagegen steht das Hebräische als die heilige Sprache auf der höchsten Stufe, bildet aber auch die Grundlage des von den gebildeten Juden verpönten Mauscheldeutsch.

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ben völlig freigestellt sei. In einer Angelegenheit, welche die zartesten und die mächtigsten Gefühle der Menschen berührt, scheint es weise zu sein, jeden, auch den bestgemeinten Zwang, zu vermeiden […] (Entwurf 1849: 6)

Das Erlernen des Deutschen sollte also keinesfalls als ,Zwang‘ präsentiert werden, sondern als ein ,Bedürfnis‘: […] so ist dies nicht eine Ungleichheit des Rechtes, sondern des Bedürfnisses, denn es ist ein Bedürfnis der allgemeinen Bildung, dass, wenn Schüler Zeit und Mühe auf Erlernung einer zweiten lebenden Sprache neben ihrer Muttersprache verwenden wollen, ihnen die Möglichkeit geboten wird, sich durch diese Sprache zugleich eine Literatur zugänglich zu machen, welche an Reichthum und Bildungskraft sowohl in ästhetischer als in wissenschaftlicher Beziehung vor vielen ausgezeichnet ist. Überdies ist es ein Bedürfnis eines mächtigen Reiches, dass wenigstens die Gebildeten aller Theile desselben sich untereinander zu verstehen die Fähigkeit haben; die Fähigkeit wird am leichtesten erworben durch Erlernung der unter den gebildeten Klassen bereits am meisten verbreiteten Sprache, und es ist Pflicht der Regierung, im Interesse des grossen Ganzen zu sorgen, dass die Befriedigung eines so wichtigen Bedürfnisses denjenigen, welche es wünschen, möglich sei. (Entwurf 1849: 7)

Die ,Ungleichheit des Bedürfnisses‘ ist es, die die Ausnahmestellung des Deutschen begründet und rechtfertigt. Der Charakter dieser Ausnahmestellung rührt von der alten humanistischen Tradition her. Denn obwohl die Schulreform die exakten (in der damaligen Terminologie die realen) Fächer wie Naturwissenschaften einführte, lag der Schwerpunkt weiterhin auf den humanistischen Fächern (zu denen z. B. auch die Geographie gehörte), vor allem auf den klassischen Sprachen.7 (Petrbok 2007: 251) In diesem Sinne setzte der Entwurf das Humboldt’sche Ideal von „gebildeten und edlen Charakteren“ fort, das durch „eine höhere allgemeine Bildung unter wesentlicher Benützung der alten klassischen Sprachen und ihrer Literatur“ erreicht werden soll. (Entwurf 1849: 7, 14; Petrbok 2007: 251–252). Es handelte sich um ein von Grund auf konservatives, der neoabsolutistischen Regierung entsprechendes Konzept.8 Wie es im römischen Imperium das Lateinische die lingua franca 7   So galt die lateinische Sprache als paradigmatisch für die Grammatik im allgemeinen: „Endlos wurden Deklinationen und Konjugationen gebüffelt und wieder gebüffelt, alle Formen der Dingwörter und der Zeitwörter im Deutschen, im Tschechischen und im Hebräischen so behandelt, als ob die lateinische Grammatik die Mustergrammatik für alle Sprachen der Welt wäre.“ (Mauthner 1918: 34) 8   Wie Peter Stachel konstatiert, stand Leo von Thun-Hohenstein in Bildungsfragen auf der moderat liberalen Seite, generell war er aber konservativ gesinnt. Dies war für die Durchsetzung der Reformmaßnahmen von Vorteil, denn er ,,[vermochte] auch die Anhänger der Reaktion davon zu überzeugen, dass das Ausmaß der Reformmaßnahmen innerhalb eines ideologisch vertretbaren Rahmens“ bleiben wird. (Stachel 1999: 138)

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war, sollte es im ,mächtigen Reich‘ der Habsburger nun das Deutsche sein. Im Entwurf ist der machtpolitische Narrativ nicht zu übersehen, die deutsche Sprache sei für diese Aufgabe „vor vielen ausgezeichnet“. (Entwurf 1849: 7) In diesem Plan wurde die Schule der prominente Ort, an dem staatenbildende Tendenzen praktisch umgesetzt werden sollten. In den 1850er Jahren kam es auf dem böhmischen Gebiet noch zu einer weiteren Entwicklung in den Fragen der Unterrichtssprache. Das renommierte Altstädter Akademisches Staats-Gymnasium in Prag9 wurde durch eine Konzession für tschechisch erklärt10, die tschechische Unterrichtssprache galt aber nur für das Untergymnasium. 1866 wurde ein Gesetz über die Gleichstellung beider Landessprachen verabschiedet, das aber 1868 wieder annuliert wurde. Die zweite Landessprache wurde danach auf den Gymnasien in Böhmen und Mähren zu einem „relativen Pflichtgegenstand“: Sie war verpflichtend, „wenn sie von den Eltern oder Erziehungsberechtigten gewählt wurde“. (Petrbok 2007: 253–254 mit Hinweis auf Marenzeller 1884, Nr. 58, 59) Die Sprachenfrage wurde so zu einem ewig strittigen Punkt und verwandelte die Schule zum Schlachtfeld, auf dem nationale Positionen ausgekämpft wurden.

2. Die Quälerei mit der zweiten Landessprache Fritz Mauthner besuchte zwei Gymnasien: das k. k. Prager Neustädter Gymnasium am Graben (die Piaristenschule) in den Jahren 1861–1866, das Kleinseitner Gymnasium 1867–1869. Seine Schuljahre deckten sich zeitlich mit den politischen Kontroversen um die zweite Landessprache. Rückblickend bewertet er die oktroyierte Zweisprachigkeit als „ein Entbehren, das mich in meiner 9   Das Altstädter Gymnasium besuchten in den Jahren 1893–1901 u. a. Franz Kafka, Hugo Bergmann, Paul Kisch, Rudolf Illový, Oskar Pollak und Emil Utitz. Zu diesem Zeitpunkt hieß es: Staats-Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in Prag Altstadt. Es galt als die angesehenste und strengste Lehranstalt Prags. 10   Diese Tatsache wird von Mauthner en passant erwähnt: „Wir erfuhren […], daß unser Gymnasium allgemein für das weitaus schlechteste der drei Prager Gymnasien galt. […] Und als mir mit der Zeit klar wurde, daß das Urteil der öffentlichen Meinung recht hatte, da half das auch nicht. Was blieb mir übrig? Das Gymnasium der Altstadt, das in der Nähe unserer Wohnung lag, war vollkommen tschechisch geworden, und das Gymnasium der Kleinseite, jenseits der alten Nepomukbrücke am Fuße des Laurenziberges, war für einen Parvisten [Erstklässler am Gymnasium] zu weit entfernt.“ (Mauthner 1918: 40–41)

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Jugend gequält hat und mich in meinem Alter zu quälen nicht ganz aufgehört hat.“ (Mauthner 1918: 50). Die „Befriedigung eines so wichtigen Bedürfnisses“ (Entwurf 1849: 7) wie das Erlernen der deutschen Sprache wurde im Fall der Piaristenschule durch die Tatsache erschwert, dass die Lehrkräfte (die Geistlichen) ungenügend qualifiziert waren. Mauthner belegt dies in seinen Memoiren mit der folgenden Erinnerung: Gott mag dem bösen Dicken verzeihen, was er beim lateinischen Unterricht an uns gesündigt hat; aber auch Gott, wenn es anders immer noch einen alten deutschen Gott gibt, kann ihm seinen deutschen Unterricht nicht verzeihen. Es ist mir unvergeßlich, wie wir einmal Goethes ,,Fischer“ aufzusagen hatten, und wie unser Botokude das Gedicht erst erklärte und dann in seinem entsetzlichen Deutsch so vordeklamierte, wie er es von uns hören wollte. […] Einer von uns, ein prächtiger Egerländer, hatte richtig gesprochen: ,,Halb zog sie ihn, halb sank er hin.“ Der böse Knecht schlug mit der geballten Faust auf den Tisch und wetterte: ,,Hob ich dir g’sagt, das is Geggensatz. Halb zock sie ihn, halb sonk‘r hien.“ Und der arme Egerländer, wenn er nicht durchfallen wollte, mußte den ,,Geggensatz“ so betonen. Auf diese Weise erhielten wir eine Vorstellung von dem Wohlklang Goethescher Verse. (Mauthner 1918: 50, Hervorh. i. O.)

Durch einen so ausgeführten Unterricht, in dem die deutschen Schüler gezwungen waren, ihre Muttersprache falsch anzuwenden, wurde das Deutsche als Bildungssprache eher in Frage gestellt als gepflegt. Das „entsetzliche Deutsch“ und der (wohl tschechische) Akzent des Lehrers11 sind dabei noch nicht alles, was Mauthner in Zorn versetzte; ihn verstört vielleicht noch mehr der Verlust der ästhetischen Qualität durch die falsche Betonung, die das metrische Schema und damit die für die Aussage der Ballade wesentliche Antithese verletzt. Im Allgemeinen sticht eine fehlplatzierte Wortbetonung für einen Muttersprachler unangenehm hervor, geht oft mit Bedeutungswechsel einher und markiert ein deutlich fremdes Element in der Sprache. Ein paar Jahre nach der Veröffentlichung von Mauthners Erinnerungen thematisiert ein anderer aus Prag stammender Autor, Franz Kafka, die Betonungen in einem Brief an seine tschechische Freundin Milena Jesenská: Milena, (was für ein reicher schwerer Name vor Fülle kaum zu heben und gefiel mir anfangs nicht sehr, schien mir ein Grieche oder Römer nach Böhmen verirrt, tschechisch 11   Das Programm des k.k. Prag-Neustädter Gymnasiums am Schlusse des Studienjahres … in der Zeitspanne von Mauthners Besuch dieses Gymnasiums 1861–1866 kann man (mit Ausnahme von dem Jahr 1866) abrufen unter: [15.08.2020]. Der Blick in die Lehrpläne bestätigt, dass unterschiedliche Sprachen (Latein, Griechisch, Deutsch, Böhmisch) und auch Geschichte tatsächlich oft von demselben Lehrer unterrichtet wurden, was im Kontext der politisierten Sprachenfrage besonders dem Böhmisch- und Deutschunterricht eine Brisanz verliehen haben mag.

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vergewaltigt, in der Betonung betrogen und ist doch wunderbar in Farbe und Gestalt eine Frau, die man auf den Armen trägt aus der Welt, aus dem Feuer ich weiß nicht und sie drückt sich willig und vertrauend dir in die Arme, nur der starke Ton auf dem i ist arg, springt dir der Name nicht wieder fort? […]) (Kafka 1992: 59)

Kafkas Text ist ein Liebesbrief, deshalb überrascht es nicht, dass er den Sprachaspekt, den Mauthner als Verstoß gegen die deutsche Kultur versteht, ins Positive umdeutet. Doch auch hier fällt die, das nichttschechische Ohr störende, Wahrnehmung von einer ungewohnten Betonung auf. Der klassisch anklingende Name Milena schien dem deutschsprachigen Autor zuerst als eine ‚Vergewaltigung‘ und ein ‚Betrug‘ am Griechischen und Lateinischen zu sein.12 Mauthners Empörung ist nicht nur im Kontext des Sprach-, sondern auch des Literaturunterrichts zu verstehen, „weil gerade der Literaturunterricht – mehr noch als der Sprachunterricht – unter dem Einfluss der jeweiligen sozialen, politischen und kulturellen Zusammenhänge steht.“ (Petrbok 2007: 250). Der Literaturunterricht in beiden Landessprachen „war gleich in dreierlei Hinsicht ein Politikum: er spielte im politischen Kampf, im Sprachenkampf, aber auch im Kulturkampf (u. a. bei Herausbildung des literarischen Kanons) eine besondere Rolle.“ (Petrbok 2007: 250) Die tschechische Gesinnung von vielen Lehrern, sowie der gemeinsame Unterricht auf Deutsch für beide Nationalitäten wurde vor diesem Hintergrund zu einer heiklen Angelegenheit, auch wenn die Schüler von den nationalen Kämpfen noch wenig w ­ ussten: Mehrere der Geistlichen, die am Untergymnasium unterrichteten, waren nach ihrer politischen und nationalen Gesinnung Tschechen. Nun war unser Piaristengymnasium offiziell eine deutsche Schule. In den beiden untersten Klassen gab es (vielleicht irre ich in der Bezeichnung) tschechische Parallelklassen, in denen die tschechischen Kinder ein wenig an die deutsche Unterrichtssprache gewöhnt wurden. Später saßen Deutsche und Tsche12   Kafkas Griechisch- und Lateinkenntnisse waren wahrscheinlich sehr gut. Sein Klassenlehrer (Ordinarius) war bis zu der Matura Dr. Emil Gschwind, ein Piaristenpriester, der Latein und Griechisch unterrichtete, in den höheren Klassen auch Philosophie. Gschwind war für Kafka während seiner Gymnasialzeit die weitaus größte Autorität. Er war Altphilologe, Übersetzer und Herausgeber von Ciceros Briefen. Für die Jahresberichte des Altstädter Gymnasiums verfasste er Aufsätze: Die Musik als Bildungsmittel (1874), Die Uebersetzungen aus dem Deutschen in die beiden altklassischen Sprachen (1892), Anschauungsunterricht auf dem Gymnasium und Vertheilung der Realerklärung aus der römischen Alterthumswissenschaft auf die einzelnen Classen des Obergymnasiums (1900). Gschwind wohnte im Kloster des Piaristenordens, zu dem auch das frühere Piaristengymnasium gehörte (zu Kafkas Schulzeit gab es dort jedoch keine Gymnasialstufe mehr; später wurde die Schule in ein staatliches deutsches Gymnasium umgewandelt), wohin Kafka ihm regelmäßig seine Hausaufgaben brachte. Der Lateinwie Griechischunterricht war auf dem Altstädter Gymnasium besonders gründlich: Man hatte anfangs acht Stunden Latein pro Woche, ab der dritten Klasse sechs Stunden Latein und fünf Stunden Griechisch. (Alt 2008: 78; Stach 2014: 128)

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chen in derselben Klasse beisammen, ungefähr in gleicher Stärke. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß unter solchen Umständen auch bei besseren Lehrern die sprachliche Langsamkeit der einen Hälfte ein Hemmschuh für den gesamten Unterricht geworden wäre. Von den nationalen Kämpfen Böhmens, die damals schon sehr lebhaft waren und bereits auf die österreichische Politik Einfluß nehmen mochten, wußten wir in unserm jugendlichen Alter noch nicht viel, die deutschen Knaben jedenfalls viel weniger als die tschechischen. (Mauthner 1918: 46)

Andererseits aber wurden an dem Gymnasium wertvolle Freundschaften quer durch die Nationalitäten geschlossen und Deutsch wie Tschechisch spontan gelernt: Wir lernten voneinander in den Pausen die ,,zweite Landessprache“, in welcher wir uns ja nach dem Schulregulativ mündlich und schriftlich sollten ausdrücken können wie in der Muttersprache. Ich gewann einen tschechischen Freund, welcher seitdem von sich reden gemacht hat, der mich zu seiner nationalen Gesinnung bekehren wollte; es kam aber nichts dabei heraus, als daß er mir seine tschechischen Gedichte brachte, die ich verdeutschte, wofür er dankbar meine ersten Verse ins Tschechische übersetzte. Wir bewunderten einander umschichtig. (Mauthner 1918: 46)

Das Schulregulativ, nach dem sich die Schüler schriftlich wie mündlich in beiden Sprachen auf dem Muttersprachlerniveau ausdrücken sollten, verordnete an dem piaristischen Untergymnasium in den ersten zwei Jahrgängen in der tschechischen wie in der deutschen Sprache je drei Stunden wöchentlich. Davon wurden in Böhmisch13 (Tschechisch) zwei Stunden der Grammatik für die Übungen in Formenlehre und Satzverbindungen und eine Stunde dem Lesen und Leseverständnis gewidmet. In Deutsch war der Grammatik nur eine Stunde vorbehalten, ein großer Wert wurde auf das Vortragen und den schriftlichen Ausdruck gelegt. Im dritten und vierten Jahrgang wurde das Tschechische weiterhin dreimal wöchentlich unterrichtet, das Deutsche nur zweimal. In Deutschstunden wurden in der III. Klasse memorierte Stücke, in der IV. Klasse Gedichte und prosaische Aufsätze vorgetragen. Alle 14 Tage war in beiden Sprachen eine schriftliche Hausarbeit abzugeben.14 Die Themen der Aufsätze in Böhmisch waren keineswegs einfach. 1865 standen in der V. Klasse (die Mauthner in diesem Jahr absolvierte) folgende Themen zur Wahl: 1. Popis požáru za deštivé bouřlivé noci. 2. Udivení mudrce řeckého, jenž se vrátil v našem věku z podsvětí na zem.

13   In den Lehrplänen steht der historisierende Ausdruck ,Böhmisch‘ für Tschechisch. Der Begriff bezieht sich historisch auf das Territorium der Böhmischen Länder. In seinen Erinnerungen benutzt Mauthner den Ausdruck ,Tschechisch/tschechisch‘ in Bezug auf die Sprache und nationale Zugehörigkeit. 14   [15.08.2020].

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3. Pláč Demetry nad ztrátou Persefony. 4. Důležitost perských válek pro vývoj řeckého života. 5. Důležitost velkých řek pro velká města. 6. Jak užívá člověk rostlin ke svým účelům? 7. Výhody pěšího cestování. 8. Ferro nocentius aurum. 9. Epaminondas, ideál řeckého mladíka. 10. Jakou úlohu vykázala příroda ve své říši ptactvu? 15 [1.Beschreibung eines Brandes in einer regnerischen stürmischen Nacht. 2. Die Verwunderung eines griechischen Weisen, der in unserer Zeit von der Unterwelt auf die Erde zurückkehrte. 3. Demeter weint über den Verlust von Persephone. 4. Die Bedeutung der Perserkriege für die Entwicklung des griechischen Lebens. 5. Die Bedeutung großer Flüsse für große Städte. 6. Wie nutzt der Mensch Pflanzen für seine Zwecke? 7. Die Vorteile des Wanderns. 8. Ferro nocentius aurum. 9. Epaminondas, das Ideal eines jungen Griechen. 10. Welche Rolle wies die Natur in ihrem Reich den Vögeln zu?]

Die Lehrpläne zeigen, mit welchen Ansprüchen an die Erlernung der tschechischen Sprache herangegangen wurde. Trotzdem konnte eine Zweisprachigkeit nur sehr begrenzt gelingen, insbesondere für die deutschsprachigen Schüler. Mauthner beklagt, dass sich die tschechischsprachigen Mitschüler in wenigen Jahren dem Muttersprachlerniveau annäherten, während die Deutschen im Tschechischen bei weitem nicht solche Fortschritte machten – und ohne Tschechisch als Unterrichtssprache auch nicht machen konnten. Während in diesem Schulsystem die Tschechen zu ihrer Muttersprache noch eine Sprache dazu lernten, konnten die Deutschen, so empfindet es Mauthner, nur am Verfall ihrer Sprache als der Bildungssprache teilnehmen: Nun wäre die Quälerei mit der zweiten Landessprache nicht so schlimm gewesen, wenn der deutsche Unterricht nicht so furchtbar unter der Zweisprachigkeit gelitten hätte. Ich will nicht einmal die Frage aufwerfen, ob nicht eine geheime Anordnung oder Tendenz bestand, die deutsche Sprache gegenüber der tschechischen zu vernachlässigen; […] Es wäre sonst kaum möglich gewesen, daß überall die Lehrer der tschechischen Sprache philologisch geschulte Männer waren, die Lehrer der deutschen Sprache dagegen bestenfalls Dilettanten […] (Mauthner 1918: 131)

15   [15.08.2020].

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Die Kritik gipfelt in der Feststellung: „[…] so mußten wir uns mit einer tschechischen Fälschung [der Königinhofer Handschrift]16 beschäftigen, während uns die Nibelungen, Walter [sic!] und Wolfram unbekannt blieben.“ (Mauthner 1918: 131–132) Auch der Geschichtsunterricht war laut Mauthner nicht ideologisch neutral, was sich u. a. durch eine besondere Vorliebe der Lehrer für die Hussitenkriege offenbarte: Daß freilich die Lokalgeschichte Böhmens mit besonderer Vorliebe getrieben wurde, war ja wohl ganz in der Ordnung; die romantische Geschichte Böhmens hatte ja nicht nur die heimischen Dichter Ebert und Meißner, nicht nur den großen Österreicher Grillparzer, sondern sogar den Rheinländer Brentano zu Dichtungen begeistert; wir bemerkten es kaum, daß unser Geschichtsprofessor die Geschichte Böhmens wie eine rein slawische Geschichte darstellte und von dem mächtigen Einfluß deutscher Kunst und deutscher Kultur überhaupt wenig zu erzählen wußte. […] Schlimmer war es schon, daß diese geistlichen Herren für alle nationalen Unternehmungen der Anhänger von Johannes Hus die wärmsten Gefühle äußerten und zu wecken suchten […] Eine theatralische Begeisterung für die Hussitenkriege in einem katholischen Klostergymnasium,17 da stimmte etwas nicht. (Mauthner 1918: 47–48)

In der Erinnerung von Mauthners Generationsgenossen und tschechischen Abgängern schien das Piaristengymnasium jedoch einen weitaus besseren Ruf gehabt zu haben. Josef Wünsch (1842–1907) – ein tschechischer Lehrer, Schriftsteller und Weltenbummler –, Servác Heller (1845–1922) – Autor, Journalist und Politiker – oder Svatopluk Čech (1846–1908) – Dichter, Prosaiker und Journalist – äußerten sich über ihre Schuljahre nicht negativ, auch wenn ihrer Ansicht nach die Unterrichtsmethoden besonders in klassischen Sprachen zu wünschen übrig ließen. (Kepartová 2018: 54) Heller lobt und preist sogar die von Rupert Pohl, dem Direktor der Anstalt, abgehaltenen Geschichtsstunden. (Kepartová 2018: 56) Das strenge Urteil Mauthners über das Gymnasium und das böhmische Bildungswesen der 1850er und 1860er Jahre 16   Zur Problematik der gefälschten Handschriften und deren Platz im Unterricht s. Jičínská 2014b; Petrbok 2019a und 2019b. 17   Der Klerus, der seit dem zwischen Österreich und dem Vatikan 1855 abgeschlossen Konkordat weitreichende Befugnisse übertragen bekam, dominierte das Bildungswesen in der Monarchie traditionell. Hauptträger der Bildung war seit der Gegenreformation der Jesuitenorden, der die höheren Schulen beherrschte und auch die Universitäten leitete, während den vergleichsweise liberalen Piaristen das niedere und mittlere Schulsystem oblag. Weil es das Ziel der Josephinischen Bildungsreformen war, die möglichst flächendeckende Errichtung von Elementarschulen zu sichern, wurde die landesweit ausgebreitete Organisations­struktur der Kirche genutzt. (Stachel 1999: 115–116). Die Piaristen hatten noch im 19. Jahrhundert Einfluss auf die Schulen in Böhmen.

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könnte sowohl auf den Wendepunkt in den Nationalkämpfen zurückgeführt werden, als die Tschechen begannen, in der Bildungspolitik die Oberhand zu gewinnen, als auch auf persönliche Veranlagung des Autors, seine deutschnationale Gesinnung, seinen kritischen Geist und seine Sensibilität gegenüber der Sprachproblematik. Fritz Mauthners Darstellung seiner Schulerinnerungen kann daher als ein individuelles Zeitzeugnis und zugleich als eine scharfsinnige Analyse der böhmischen Sprachverhältnisse gelesen werden.

3. Kuchelböhmisch als Paradigma der Sprachforschung In Mauthners Erinnerungen kann man lesen, dass „[d]er Jude, der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren war, gewissermaßen zugleich Deutsch, Tschechisch und Hebräisch als die Sprachen seiner ‚Vorfahren‘ verehren [mußte].“ (Mauthner 1918: 32) Diese Sprachen bilden die Substanz für Mischungen unterschiedlicher Art, die Mauthner als Sprachen seiner Sozialisation in einem sprachlich komplizierten Raum betrachtet: Das Kind wußte es nicht anders, als daß es mit Vater und Mutter und den Geschwistern ausschließlich Deutsch sprach, daß es sich aber mit den Dienstmädchen nur auf „Kuchelböhmisch“ verständlich machen konnte, einem abscheulichen Mischmasch, das er mitgelernt hatte, sobald er erst sprechen lernte. Vielleicht schon bei der Amme. (Mauthner 1920: 5)

Den ‚abscheulichen Mischmasch‘, der ‚schon bei der Amme‘ gelernt wurde, betrachtet Mauthner in diesem Zitat mit einiger Übertreibung als seine Erstsprache, die noch dem kultivierten Deutsch vorausging, das er mit den Eltern und Geschwistern sprach.18 Dabei wurde er, wie er in seinen Erinnerungen betont, auf Prozesse der Entlehnung und der sprachlichen Kontamination aufmerksam, die für seine Sprachkritik von entscheidender Bedeutung werden sollten: 18   Seine weiteren Ausführungen verraten jedoch, dass das zu Hause (also mit Eltern und Geschwistern) gesprochene Deutsch doch nicht die Sprache der „richtigen Deutschen“ war, denn die hoffte er in der Schule zu erlernen: „Man wird mir nun glauben, daß ich als achtjähriger Junge darauf brannte, in der Schule nicht nur ein tadelloses Deutsch zu lernen, sondern auch zu erfahren, warum die böhmischen Deutschen so oft anders redeten, als die richtigen Deutschen in der Gartenlaube schrieben, warum die böhmischen Juden ein noch schlimmeres Kauderwelsch sprachen. Meine Hoffnung wurde gröblich getäuscht. Ich lernte auf der Klippschule ebensowenig Deutsch und gar Tschechisch und Hebräisch, wie ich später auf dem Gymnasium Lateinisch oder Griechisch lernte.“ (Mauthner 1918: 34)

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Und die Mischung ganz unähnlicher Sprachen im gemeinen Kuchelböhmisch oder in dem noch viel gemeineren Mauscheldeutsch mußte schon das Kind auf gewisse Sprachgrenze aufmerksam machen, auf Entlehnung und Kontamination, die in ihrer ganzen Bedeutung von der Sprachwissenschaft noch heute nicht völlig begriffen worden sind. (Mauthner 1918: 33)

‚Mischung‘ ist in diesem Kontext ein wichtiger Begriff, denn er wurde mit Bedeutungen wie ‚unrein‘, ‚bedenklich‘ und ‚verdächtig‘ negativ konnotiert. Es schwingen auch ursprünglich religiöse Deutungen von ‚unrein‘ als ‚nicht koscher‘19 mit, die aus dem religiösen in den Bereich der Kultur übergegangen waren und im Prozess der kulturellen Assimilation der Juden semiotisch neu besetzt wurden.20 Im 19. Jahrhundert beziehen sich diese – auch rassisch assoziativen – Bedeutungen oft auf nationale und sprachliche Zugehörigkeiten. Auf der Sprachenskala steht also Mauscheldeutsch noch unter dem ‚gemeinen Kuchelböhmisch‘. Bekämpfung jiddischer Anklänge galt in manchen jüdischen Familien als Bestätigung des sozialen Status und führte nicht selten zum übertriebenen Purismus, wie sich der Autor erinnert: Er [Mauthners Vater] verachtete und bekämpfte unerbittlich jeden leisen Anklang an Kuchelböhmisch oder an Mauscheldeutsch und bemühte sich mit unzureichenden Mitteln, uns eine reine, übertrieben puristische hochdeutsche Sprache zu lehren. So erinnere ich mich, daß er mir gegenüber einmal das Wort mischen als ein vermeintliches Wort der ihm verhaßten Judensprache heftig tadelte, man müßte gut deutsch melieren dafür sagen; mein Vater wußte nicht, daß sowohl mischen als melieren von dem lateinischen miscere stammt […] (Mauthner 1918: 33, Hervorh. i. O.)21

Paradoxerweise könnte eben dieser Purismus wiederum zum Merkmal eines abweichenden Umgangs mit der Sprache werden und als solcher ideologisiert werden; eine solche Instrumentalisierung der Sprache lehnt aber Mauthner entschieden ab. Sprachliche Mischformen faszinierten ihn. Vor allem Kuchelböhmisch bewertet er eindeutig positiv und hebt die persönliche Bedeutung dieser Mischsprache für seine Sprachstudien hervor: Ich kam in meiner kindlichen Sprachvergleichung hie und da zu überraschenden Entdeckungen. So hatte ich als Kind das Zeug, mit dem mir beim Waschen die Hände getrocknet wurden, in meinem Kuchelböhmisch hantuch genannt, das Wort in meine deutsche Spra19   Koscher: sauber, einwandfrei, unverdächtig, unbedenklich, rein, den jüdischen Speisevorschriften entsprechend. [15.08.2020]. 20   Sander L. Gilman verfolgt den diskursiven Wandel des Begriffes „koscher“ vom traditionellen Ritual zu „Gesundheit“ und „Hygiene“ im Fin de siècle. (Gilman 1995: 194–195) 21   Melieren kommt aus mlat. misculare, einer Erweiterung von lat. miscēre [15.08.2020]. Mauthner beruft sich auf die zeitgenössischen Lexikografen Friedrich Kluge und Hermann Paul, die „eine sogenannte Urverwandtschaft zwischen mischen und miscere für möglich halten.“ (Mauthner 1918: 33)

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che mit hinübergenommen und kam in meinem fünften Jahre auf den gelehrten Einfall: hantuch bedeute ein Tuch für die Hand, wäre also ein deutsches Wort. (Mauthner 1918: 34)

Im Wörterbuch der Philosophie steht Kuchelböhmisch paradigmatisch für vox hybrida, also Mischwörter oder Lehnübersetzungen, ohne die abwertende Charakterisierung. Unter dem Stichwort „Christentum“ kann man lesen: „Vánoce, die tschechische und ähnlich die slowakische Bezeichnung für Weihnachten sind offenbar sogenanntes Kuchelböhmisch, gelehrt ausgedrückt eine vox hybrida: die erste Silbe übersetzt, die zweite übernommen.“ (Mauthner 1910: 151–152) In den Stichworten, die auf die Realien und Kultur in der Habsburgermo­ narchie bezogen werden können, findet man viele Belege nicht nur aus den klassischen, sondern auch aus den slawischen Sprachen (Polnisch, Slowakisch, Serbisch), vor allem aber aus dem Tschechischen – Mauthners Bildungshintergrund wird hier ganz deutlich. Das Wörterbuch der Philosophie verfasste er als einen Kommentar zu der Geschichte der philosophischen Begriffe, die er als Wortgeschichten auffasst: „Der gegenwärtige Inhalt eines Begriffs oder Worts, sein ungefährer und unbestimmt flimmernder Inhalt ist ja gar nichts anderes als der Niederschlag der Worts- oder Begriffsgeschichte […] die Geschichte ist die wahre Kritik jedes Worts.“ (Mauthner 1910: XIII). Dabei geht es nicht um die Etymologie, sondern um eine „kleine und flüchtige Sammlung von Lehnübersetzungen“ (Mauthner 1910: LVI, Hervorh. i. O.), die man als eine Kultur- und Lehngeschichte der Wörter verstehen kann. Dem Autor geht es darum, „im bewußten Gegensatze zu der gegenwärtigen Sprachwissenschaft, die ungeheure Menge des Lehngutes vor Augen zu führen“. (Mauthner 1910: LVI) Seine Sprachphilosophie, die er als Dekonstruktion des Wortaberglaubens  – des Glaubens an eine substanzielle Bedeutung der Wörter – begreift, gründet auf der Erfahrung von sprachlicher Hybridisierung. Vor diesem Hintergrund können die in Erinnerungen beschriebenen Sprach­studien und Übersetzungsversuche als die ersten sprachphilosophischen Experimente betrachet werden, die Wörter auf ihre Bedeutung hin zu überprüfen und die Möglichkeiten der Übertragung dieser Bedeutung in andere Sprachsysteme zu untersuchen. Mauthner schreibt: „Ich stellte mir die tollsten Aufgaben. Dazu rechne ich nicht, daß ich etwa von meinem zwölften Jahre ab heimlich Französisch, Englisch, und Italienisch trieb. […] Aber in meinem fünfzehnten Jahre hatte ich auch Sanskrit und die Hieroglyphen zu studieren angefangen.“ (Mauthner 1918: 98). Und er fährt fort: Auch übersetzte ich aus allen möglichen Sprachen. Daß ich Heines Lieder ins Altgriechische zu übersetzten versucht habe, ist schon berichtet worden; ich übersetzte aber auch den angeblich Homerischen Froschmäusler ins Deutsche und ganze Dramen von Sophok-

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les. Ich übersetzte aus den modernen Sprachen, sobald ich das Original entziffern konnte. Ich übersetzte aus dem Sanskrit. Nur aus dem Ägyptischen übersetzte ich nicht; mich hielt wahrscheinlich ein guter Instinkt zurück. (Mauthner 1918: 102)

Die Sprachen, die Mauthner studierte und aus denen und in die er übersetzte, sind Kultur- und Bildungssprachen, die in einer imaginären Sprachenhierarchie weit über dem ‚gemeinen‘ Kuchelböhmisch oder dem ‚noch viel gemeineren‘ Mauscheldeutsch rangieren würden. Doch das Studium dieser Sprachen ist in den Erinnerungen besonders enttäuschend. Der kreative Impuls wird immer von der Desillusion überschattet, in der Schule das Deutsche, Tschechische, Lateinische oder Griechische nicht richtig gelernt zu haben, bis hin zu der Klage über die Absenz der „wahren Muttersprache“. (Mauthner 1918: 112) Mit Hugo von Hofmannsthal gesprochen, dessen Werk Ein Brief Mauthner hochschätzte, zerfielen ihm die in diesen Bildungssprachen formulierten Worte „im Munde wie modrige Pilze“. (Hofmannsthal 1991: 48) In diesem Zusammenhang sind Mauthners Schulerinnerungen nicht nur Zeugnis einer Krise des Sprachunterrichts und des Bildungswesens, sondern auch und vor allem von einem Schwund sinnstiftender Funktionen der Sprache, die in der sog. Sprachkrise um 1900 manifest wurden. Im Kontext von Erinnerungen traf die Krise besonders das Deutsche und die klassischen Sprachen, deren Studium Mauthner als unzureichend und unbefriedigend erfuhr. Mischsprachen wie Kuchelböhmisch machten ihn dagegen auf die für sein sprachphilosophisches Werk wesentliche Problematik der Sprachgrenzen, der zwischensprachlichen Kontakte und die soziale Funktion der Sprache aufmerksam.

4. Fazit Die Modernisierung des Bildungswesens in der Habsburgermonarchie nach 1848 ist gekennzeichnet durch politisch konservative Tendenzen: Einerseits ging es um Vereinheitlichung der Schulsysteme, die im neoabsolutistischen, zentral verwalteten Staat die Machtverhältnisse konservieren sollten. Andererseits wurde eine weitreichende Berücksichtigung der Forderungen einzelner Nationalitäten angestrebt, vordergründig in Bezug auf die Unterrichtssprache, also des Rechtes, an den Elementarschulen in der Muttersprache unterrichtet zu werden. Die deutsche Sprache sollte weiterhin die Sprache der höheren, also allgemeinen Bildung bleiben, eine lingua franca des mächtigen

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Reiches der Habsburger. Infolge der Politisierung der Sprachenfrage seit den 1860er Jahren wurde in den Böhmischen Ländern die Zweisprachigkeit durchgesetzt, die den Status des Deutschen als der transnationalen, integrierenden, referentiellen Sprache in Frage stellte. Die Zweisprachigkeit empfindet Fritz Mauthner als eine Entfremdung von der deutschen Sprache und Kultur im übernationalen, aber auch im nationalen Sinne – er klagt darüber, in der Schule kein ‚tadelloses Deutsch‘ gelernt zu haben und in seinen jungen Jahren keiner ‚lebendigen‘ deutschen Mundart begegnet zu sein. Er vermisst die deutsche Sprache in ihren beiden wichtigen Funktionen: als „die Sprache des Sinns und der Kultur“ (Deleuze/Guattari 1976: 34) und als die bodenständige, vernakulare Sprache, der einzigen, in der er glaubte, schöpferisch sein zu können. (Mauthner 1918: 51) Diese Vorgänge entsprechen einer „nach innen gekehrte[n] Kolonisierung“, die in einer „gezielten Homogenisierungspolitik“ Ausdruck findet (Feichtinger 2003: 18). Die Homogenisierungspolitik findet auf mehreren Ebenen statt und kann auch von der zentralen Staatsmacht untergeordneten Teilen des Staatsgefüges, oder den dominanten sozialen Schichten ausgehen. (Feichtinger 2003: 18) Als eine ‚Selbstkolonialisierug‘ könnte man Mauthners Sehnsucht nach den deutschen Mundarten betrachten in einem sich tschechisch homogenisierenden Raum. Das ‚Sprachdispositiv‘ bei der Beschreibung dieser Prozesse wurde zur Grundlage seiner Kritik.

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Mauthner als ‚Großvater der Grenzlandliteratur‘. Supranationale Kontinuitäten eines nationalen Genres 1. Grenzlandliteratur als ‚die andere Literatur‘ Das Genre der Grenzlandliteratur ist heute, nach 25 Jahren nicht ideologisch verbarrikadierter germanistischer Diskussion, als weitgehend erforscht zu betrachten. Es liegen sowohl synthetische Darstellungen zu diesem Genre vor, die insbesondere den Olmützern Karsten Rinas und Jörg Krappmann zu verdanken sind (Rinas 2008, 2010, 2012, 2014a; Krappmann 2013: 114–162), als auch viele Fallstudien zu einzelnen Texten oder Autoren.1 Das ist in Anbetracht der extrem schwierigen, ideologisch belasteten Geschichte dieses Genres eindeutig als Erfolg zu vermerken, wurde der Grenzlandliteratur doch einerseits von der NS-Germanistik identitätsstiftende Funktion für das ‚Grenzlanddeutschtum‘ und das ‚deutsche Schrifttum‘ zugesprochen (Cysarz 1942) und ihr andererseits von der kommunistischen Literaturwissenschaft der ehemaligen Tschechoslowakei und der DDR jegliche Existenz- und Erforschungsberechtigung abgesprochen (Goldstücker 1967: 24–25). So wurde es erst in den 1990er Jahren möglich, ohne grobmaschige ideologische Schranken die Texte der Grenzlandliteratur zu untersuchen. Doch auch seit den frühen 1990er Jahren lassen sich einige wichtige Schwer­punktverschiebungen in der literaturwissenschaftlichen Wahrnehmung dessen diagnostizieren, was die Grenzlandliteratur sei und wie sie entsprechend erfasst werden könne. Beispielsweise sind Versuche unternommen worden, dem ideologisch belasteten Begriff ‚Grenzlandroman‘ aus der Zwischenkriegszeit einen Teil seines nach wie vor anstößigen Gehalts zu nehmen (Krappmann 2013: 114), und zwar mittels des neutraleren Begriffs ‚Grenzlandliteratur‘. Nichtsdestotrotz wurde die Grenzlandliteratur auch 1  Aktuell z. B. zahlreiche Beiträge in dem von Eduard Kubů, Jiří Šouša und Aleš Zářický herausgegebenen Band Český a německý sedlák v zrcadle krásné literatury 1848–1948 [Der tschechische und deutsche Bauer im Spiegel der Belletristik 1848–1948], insbesondere die von Karsten Rinas, Jörg Krappmann, Václav Petrbok, Václav Maidl, Anna Pípalová, Eduard Kubů und Jiří Šouša usf.

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nach 1990 zunächst en bloc als der nationale Extremfall der deutschböhmischen bzw. deutschmährischen Literatur schlechthin betrachtet (Krappmann 2013: 114–116). Sie wurde als der Minuspol einer ‚ganzen‘ Literatur gesehen. Es wohnt wohl dieser Logik der scharfen Grenzziehung auch in Sachen Literaturgeschichte inne, dass die Phänomene, die das negative Ende einer binären Opposition besetzen, in diesem Fall also die Grenzlandliteratur, als stark homogen imaginiert werden2 (Weinberg 2014: 14). Die ‚andere [Herv. JB] deutschböhmische Literatur‘,3 von der Goldstücker schreibt und die als Negativabdruck der aus seiner Sicht extrem kultivierten Prager deutschen Literatur festgeschrieben wurde, fließt durch den Grenzziehungsakt symbolisch mit der Grenzlandliteratur zusammen. Um dieses homogene Bild zu überschreiben, wäre in gewisser Hinsicht mehr nötig als nur die ideologisierte Philologie des Nationalsozialismus oder des realen Sozialismus zu entthronen. Überprüft werden sollte etwa auch das Narrativ von der allmählichen, kontinuierlichen ‚Entfaltung‘ der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur hin zu einer durchaus nationalsozialistisch zu nennenden Literatur. Dieses Narrativ liegt etwa auch dem zumindest in der tschechischen Germanistik kanonisch zu nennenden Text von Michael Berger aus dem Jahre 1995 zugrunde bzw. klingt direkt in dessen Titel „Von der deutschböhmischen Heimat ins sudetendeutsche Grenzland“ an. Das wird als Kurzformel für die Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Böhmen verstanden. Dieses Narrativ einer allmählichen Extremisierung der deutschböhmischen bzw. deutschmährischen Literatur wird, wenn auch in etwas revidierter Form, ebenfalls in vielen Publikationen neueren Datums genutzt (Budňák 2010). Zu seinen Folgen gehört eine Art Rückprojizierung des Endzustands auf die vermutlichen Anfangsstadien. Dabei liegt nahe, dass diese fragwürdige Wurzelsuche in älteren Texten manche Bedeutungszusammenhänge, nach denen nicht primär gesucht wird, überlagern könnte. Um noch ein aktuelles Beispiel heranzuziehen, das die Grenzlandliteratur als eine Art telos, als eine prototypische Tendenz der deutschböhmischen Literatur (wenn auch nur implizit) herausstellt, will ich das Textkorpus der kollektiven Monographie Český a německý sedlák v zrcadle krásné literatury 1848–1948 [Der tschechische und deutsche Bauer im Spiegel der Belletristik 1848–1948] 2  Weinberg (2014) spricht im Anschluss an Wolfgang Welsch vom ‚externen Abgrenzungsgebot‘ und ‚internen Homogenitätsgebot‘ von Kulturräumen, die durch Grenzziehungen entstehen. 3  „[Es gab] in den böhmischen Ländern und sogar auch in Prag selbst eine andere, in deutscher Sprache geschriebene Literatur, die sich als ‚deutschböhmisch‘ bezeichnete.“ (Goldstücker 1967: 24)

Mauthner als ‚Großvater der Grenzlandliteratur‘

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von 2014 kurz betrachten. Ziel dieser Monographie ist es, die tschechische und die deutschböhmische (bzw. deutschmährische, deutschschlesische oder sudetendeutsche) Literatur mit Dorfthematik zwischen 1848 und 1948 zu erfassen. Diese Dorf- bzw. Bauernliteratur entnationalisiere sich auf tschechischer Seite, so das Herausgebernachwort, zunehmend (Kubů 2014: 659), obwohl sie mit Svatopluk Čechs und Alois Jiráseks Romanen aus den 1880er Jahren durchaus auf eine national-konfrontative Tradition zurückblicken kann. Auf der (sudeten-)deutschen Seite gipfele sie allerdings in der kämpferischen nationalsozialistisch ausgerichteten Grenzlandliteratur der 1930er Jahre (Kubů 2014: 660). Dabei wollen die Herausgeber des Bandes allerdings „nicht den Eindruck erwecken, dass die deutschsprachige Provinz vollständig nationalisiert gewesen sei und es dort keine andere Literatur als die stark national konfrontative gegeben habe“ (Kubů 2014: 660, Übersetzung JB). Die Zurücknahme des Narrativs von der graduellen Nationalisierung der deutschböhmischen Provinz, die in dem zitierten Satz zumindest angedeutet wird, wird jedoch mindestens von zwei Strukturmerkmalen des Bandes unterlaufen. Es ist zum einen die Tendenz in der Verteilung von spezifischen literarischen Gattungen auf die beiden ‚Nationalliteraturen‘. An mehreren Stellen des Bandes wird das Genre der Grenzlandliteratur auf die deutschsprachige Literatur beschränkt, während etwa die tschechischen Analogien nach Beurteilung der Herausgeber nicht so bezeichnet werden können: „Obwohl die tschechische Literatur auch thematische Analogien des Grenzlandromans bietet, ist es fraglich, ob diese auch als Grenzlandromane zu qualifizieren sind. Unserer Ansicht nach nicht“ (Kubů 2014: 28).4 Dementsprechend werden in dem umfangreichen Band zum anderen zwei Gruppen von Texten nicht behandelt, die dem Narrativ der graduellen Nationalisierung der deutschböhmischen Literatur (sowie der Entnationalisierung der tschechischen Dorfliteratur) zuwiderlaufen würden, nämlich die deutschsprachigen (‚sudetendeutschen‘) Dorfromane der Zwischenkriegszeit, die dennoch keine Grenzlandromane sind,5 und die tschechischen ‚Grenzlandro4  Offenbar lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten, denn an anderer Stelle des Bandes – und zwar in der ebenfalls von den Herausgebern verfassten Schlussfolgerung (Kubů 2014: 653) – steht eine konträre Aussage: „Es besteht kein Zweifel darüber, dass der deutsche Grenzlandroman, der generell als ein eigenes literarisches Genre anerkannt wird, eine Analogie auch in der tschechischen Literatur fand, und zwar eine dermaßen tiefe Analogie […], dass mit Recht auch vom tschechischen Grenzlandroman gesprochen werden kann.“ 5  Beispielsweise Ein Dorfbürgermeister von Fritz Jurditsch (1927) oder der von den Herausgebern im Nachwort erwähnte Bauernroman Saat und Ernte (1938) von Anna Köhler als Ver-

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mane‘ aus derselben Zeit.6 Schwerpunkte des umfangreichen Textkorpus liegen demgegenüber eindeutig bei deutschen Grenzlandromanen (Mauthner, Ohorn, Schott, Pleyer, Scholz usf.) und bei tschechischen Bauern-, Dorf- und Agrarromanen (Böser, Směja, Knap, Vrba usf.). Somit wird das traditionelle Narrativ von der Affinität der ‚sudetendeutschen‘ Literatur zum Genre Grenzlandliteratur eher bestärkt als differenziert. Indes enthält der Band auch Beiträge, die das Bild von der homogenen ‚sudetendeutschen‘ Grenzlandliteratur in Frage stellen (Rinas 2014b; Krappmann 2014), dies geschieht aber in impliziter Konfrontation mit den Herausgebertexten bzw. -paratexten. Entgegen der Tendenz, das Genre Grenzlandliteratur primär auf die sudetendeutsche bzw. deutschnationale Literatur der (langen) ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beschränken, gibt es insbesondere in der polnischen Germanistik schon seit den frühen 90er Jahren Stimmen, die für eine starke Erweiterung des Gattungsbegriffs plädieren. Schon 1993 spricht Hubert Orłowski von der „neuen Grenzlandliteratur der Deutschen“ (Orłowski 1993: 16) und behandelt in diesem Zusammenhang neben ‚Grenzlandromanen‘ der 30er Jahre auch AutorInnen wie Bobrowski, S. Lenz, Grass, C. Wolf oder Bienek. Diese Begriffserweiterung lässt sich deutlich als ein Vorschlag lesen, eine neutrale, ‚phänomenologische‘ Sichtweise auf die Literatur mit Grenz(-land-)thematik zu begründen. In der polnischen Germanistik scheint diese Anregung auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein und aktuell sogar eine Art Renaissance zu erleben: Auf Orłowski und andere polnische Quellen bezieht sich etwa Karl Esselborn in seinen Aufsätzen Grenzlandliteratur (Esselborn 2012) und Grenzlandliteraturen (Esselborn 2009). Es gibt aber auch Diskussionen zu modernen, sowie postmodernen Grenzlandliteraturen und ihren subversiven Effekten (Chołuj 2003; Chu 2016). Dadurch könnte es zu einem potentiell höchst fruchtbaren (und fälligen) Dialog zwischen der germanistischen Forschung zur Grenzlandliteratur, und zwar auch zu der ‚älteren‘ Grenzlandliteratur, und der theoretischen Literatur zur Liminalität (Geisenhanslüke/Mein 2008) oder Alterität (Müller-Funk 2016) kommen. Der vorliegende Beitrag bleibt aber vorerst der ‚klassischen‘ Grenzlandliteratur zugewandt.

treter von nahezu vollständig anationalen Diskursen, oder die aus deutschnationaler Sicht zumindest zwiespältigen Romane mit Dorf- oder Kleinstadtthematik wie etwa Wilhelm Szegedas Hexentanz der Liebe von 1928. 6  Zum Beispiel Josef Koudeláks Hraničáři [Grenzleute] (1934).

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2. Grenzarbeit an der Grenzlandliteratur Signale dafür, dass die scheinbar problemlose Handhabung des Genres Grenzlandliteratur doch ein ‚falscher Freund‘ ordnungsliebender GermanistInnen sein dürfte, mehren sich in den letzten zehn Jahren. Neben Versuchen, den Begriff aus der germanistischen Literaturwissenschaft und aus der (langen) 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts in andere ‚Nationalliteraturen‘ und in andere Zeiten zu übertragen, gibt es auch Bemühungen, bestimmte Texte aus dem weitgehend überlieferten Gattungskanon zu entfernen oder sie zumindest als periphere Textbeispiele der Gattung zu reklassifizieren. Dadurch wird das Genre wesentlich diversifiziert. Für letztere Tendenz sind im tschechischen germanistischen Kontext vor allem die Studien von Karsten Rinas und Jörg Krappmann symptomatisch. In dem Grenzland-Kapitel (Krappmann 2013: 114–162) seiner Habilitationsschrift Allerhand Übergänge analysiert Jörg Krappmann mit Karl Wilhelm Fritschs Um Michelburg (Krappmann 2013: 130–139) einen der frühen (1911) Grenzlandromane, der von den Zeitgenossen durchaus als Kampfromane gelesen wurde (Mareček 1998). Krappmanns Analyse läuft darauf hinaus, dass dieser Roman nur bedingt dem Genre Grenzlandliteratur zuzurechnen ist: „[…] Um Michelburg ist dem Genre des Grenzlandromans enthoben, da die Intentionen, die damit verbunden sind, nicht mehr erfüllt werden“ (Krappmann 2013: 138). Um welche Intentionen handelt es sich dabei? Die Minimaldefinition des Genres bezieht Krappmann aus Michael Bergers Aufsatz von 1995. Bergers Definition ist eine recht ‚aktivistische‘, die vor allem „die Praxis des Grenzlandromans“ (Krappmann 2013: 138) zum Ausgangspunkt nimmt: [d]er grenzlanddeutsche Schriftsteller will in und mit seinen Werken den slawischen Verschlingungstrieb entlarven und das Erwachen des völkischen (eingeschlossen des rassischen) Lebenswillens eines Volkstums auf dem Weg von der Not- und Schicksalsgemeinschaft zur deutschen Volksgemeinschaft darstellen und befördern helfen. (Berger 1995: 265f., Herv. JB) Berger definiert das Genre nicht nur neutral thematisch, etwa als ‚Texte über Beziehungen an der Grenze‘ oder als ‚Texte über nationale Grenzkonflikte‘, sondern er legt es auf die einseitige nationalistisch-appellative Pragmatik fest. Dieser aktivierende pragmatische Charakter der Grenzlandromane attestiert Berger auch den Texten Mauthners. Die eben verkürzt zitierte Definition Bergers beginnt nämlich mit den Worten: „Nicht unähnlich der Intention Mauthners […]“ (Berger 1995: 265, Herv. JB). Krappmann kann dann un-

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problematisch argumentieren, dass Fritschs Roman nicht auf eine eindeutige Perspektivierung reduzierbar ist und erst recht nicht auf eine deutschnationale. Damit werde der Text Bergers Definition nicht gerecht. Die Entwicklung des Romanprotagonisten, des südmährischen Sprachforschers Klauberer, zu einem aktiven Deutschen hin erscheint in Krappmanns Analyse als eine Möglichkeit unter vielen. Fritschs Roman sei nach Krappmann „vielstimmig“, es sei nicht möglich, „aus dem Knäuel von Meinungen die Intention des Autors zu isolieren“ (Krappmann 2013: 137). Krappmann stellt also in Frage, dass ein aus nationaler Sicht nicht eindeutig positionierter literarischer Text als Grenzlandroman (im traditionellen Verständnis Bergers) eingestuft werden kann, und dies angesichts der Tatsache, dass im Text selbst die deutschnationale Positionierung relativ prominent vertreten ist, der Roman an  der deutsch-tschechischen Sprachgrenze angesiedelt ist und der deutsch-tschechische nationale Kampf den inhaltlichen Schwerpunkt bildet. Damit eröffnet Krappmann die Frage, um die auch in der Tat keine Genredefinition herumkommt: Was ist eigentlich das zentrale Definitionskriterium des Genres, in diesem Fall der Grenzlandliteratur? Ist es die eindeutige politische Positionierung des Textes, ein absolutes Bild vom national Eigenen und Anderen? Oder genügt bereits ein thematischer Bezug zum Grenzland und zum nationalen Kampf ? Die abgeleitete genrespezifische Frage, die aus Krappmanns Text hervorgeht, lautet: Ist das ‚Grenzland‘ der Grenzlandliteratur immer nur geographisch als die Gegend zu verstehen, wo zwei Ethnien einander begegnen? Oder sind die Grenzen, die in der Grenzlandliteratur thematisiert werden, auch dann schon gegeben, wenn es sich lediglich um bildliche Grenzen handelt? Auf die letztgenannte Frage antwortet Krappmann mit einem klaren ‚Ja‘. Das hat allerdings überraschende Konsequenzen: Etwa Rilkes Zwei Prager Geschichten können dann als Grenzlandliteratur sui generis gelesen werden (Krappmann 2013: 149ff.). Krappmanns Analyse läuft darauf hinaus, dass ein Text und vor allem ein Autor, dessen Nähe zu den ehemals berühmten und heute berüchtigten deutschböhmischen ‚Größen‘ wie Ohorn oder Rothacker wohl vielen Germanisten Albträume oder gar Zwangsvorstellungen hinsichtlich eines Berufswechsels bereitet, in gefährliche Verwandtschaft zu einem ‚NoGo‘-Genre rückt. Ziel der Beweisführung, die diesmal technisch gesehen die Form einer Begriffserweiterung hat, ist allerdings wieder dasselbe: den neuen germanistischen Begriff ‚Grenzlandliteratur‘ mit Definitionskriterien zu versehen, die von der traditionellen, belasteten und unsystematisch praktizierten Verwendungsweise des Begriffs ‚Grenzlandroman‘ weniger abhängig sind. Die Fragestellungen, die dadurch eröffnet werden, lauten also erneut: Muss

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ein Text der Grenzlandliteratur im tatsächlichen geographischen Grenzland angesiedelt sein? Muss dieser Text auch eine eindeutige nationale Selbstpositionierung vornehmen? Auch Karsten Rinas macht in seinen Studien zur Grenzlandliteratur auf Unstimmigkeiten in der allzu automatisch gehandhabten Begriffsdefinition aufmerksam. Diese gehen m. E. nach auf einen pauschalisierenden Umgang mit der großteils für homogen gehaltenen, ‚extremistischen‘ Gattung zurück. Die scheinbar problemlose Gattung muss als Projektionsfläche für unterschiedliche sozialpsychologische, historiographische oder sonstige Denkautomatismen herhalten, die von Rinas gewogen und für zu leicht befunden werden. So überprüft Rinas in seinem Beitrag „1918 als Symmetrieachse der sudetendeutschen und der tschechischen Grenzlandliteratur?“ (Rinas 2012) die nicht oft ausgesprochene,7 dafür aber umso automatischer vorausgesetzte Vorstellung, dass die nach 1918 auf Tschechisch verfassten Romane mit Grenzlandthematik nicht mehr radikal antideutsch sein mussten, da ja nach 1918 der ‚nationale Besitzstand‘ der Tschechen gesichert gewesen sei und ihnen als ‚Siegern‘ im nationalen Kampf eine gewisse Gelassenheit ermöglicht habe. Diese Hypothese lässt sich laut Rinas jedoch nicht bestätigen (Rinas 2012: 204), übrigens so wenig wie die symmetrisch verkehrte Hypothese, dass sich die deutschböhmische Grenzlandliteratur bereits kurz nach 1918 radikalisieren musste, um den ‚deutschen‘ Bedeutungsverlust zu kompensieren. Aufgrund der Ergebnisse von Rinas könnte die Hypothese aufgestellt werden, dass es zur Radikalisierung der ‚sudetendeutschen‘ Grenzlandliteratur nicht etwa um 1920, sondern erst in den 30er Jahren kommen musste und zwar unter dem unmittelbaren Einfluss der nationalsozialistischen, schon weitgehend institutionalisiert betriebenen Propaganda. Vor diesem Hintergrund ließe sich sogar eine heuristische Binnendifferenzierung der deutschböhmischen bzw. ‚sudetendeutschen‘ Grenzlandliteratur in zwei Schablonen, eine ‚analytische‘ und eine ‚alarmierende‘, denken, die freilich noch (kurz) auf ihre Verifizierung bzw. Falsifizierung warten muss. Weitere Denkfiguren, die Karsten Rinas in seinen Texten zur Grenzlandliteratur einer Analyse unterzieht, sind z. B. die Vorstellung, dass es keine vergleichbare tschechischsprachige Grenzlandliteratur gibt (Rinas 2008) oder dass die automatisch vorgenommene Ausweisung der Grenzlandliteratur in den Raum der ‚Provinz‘ (Rinas 2014) nicht einwandfrei funktioniert. Diese Unstimmigkeit findet sich übrigens schon in der eingangs zitierten Anmer7  Rinas zitiert in der Erklärung seiner Fragestellung (Rinas 2012: 195f.) auch keine Studie, die diese Annahme einer literaturhistorischen Untersuchung zugrunde legen w ­ ürde.

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kung Goldstückers. Er selbst konterkariert die Annahme, es habe zwei böhmische Literaturen gegeben, in einer Randbemerkung, wenn er schreibt, die Lage sei „umso komplizierter, als es in den böhmischen Ländern und sogar auch in Prag selbst noch eine andere, in deutscher Sprache geschriebene Literatur gab […]“ (Goldstücker 1967: 24, Herv. JB). Alle einschlägigen Arbeiten von Karsten Rinas legen also den Schluss nahe, dass die Texte, die üblich unter dem Begriff ‚Grenzlandliteratur‘ (vgl. z. B. die Liste der einschlägigen Romane in Krappmann 2013: 116, 118; Rinas 2008: 118) subsummiert werden, eine viel heterogenere Gruppe bilden, als es zunächst den Anschein hat. Wie genau diese Heterogenität beschaffen ist und wie weit sie reicht, oder aber welche Strukturmerkmale hingegen als Universalien dieser Gattung zu betrachten sind, übersteigt den Rahmen des vorliegenden Beitrags. Worauf dieser sich allerdings konzentrieren kann, ist die Frage, inwieweit zumindest für die „frühe Phase der [Grenzland-]Literatur“ (Krappmann 2013: 139) ein anderes Genremodell aufgestellt werden kann und inwiefern dieses Modell von Mauthners Böhmischen Novellen vorstrukturiert wird.

3. „Even the portraits and colors on the walls began to seem   alien to the German“ (Arens 2004: 159): Differenzierungs  bewegungen unter dem böhmischen Horizont In neueren Studien zur Grenzlandliteratur sowie in einigen populären Darstellungen (Jaworski 2004) wird häufig das Thema von Mauthners ‚Vaterschaft‘ in Bezug auf dieses Genre diskutiert oder zumindest konstatiert. Diese Debatte geht im Grunde von zwei Überlegungen aus: Zum einen wird aus literaturanalytischem Betrachtungswinkel behauptet, Mauthners Böhmische Novellen hätten eine Norm bzw. eine Art Metanarrativ eingeführt, durch das die zukünftigen Darstellungen der nationalen Thematik in Böhmen maßgeblich geprägt sind. So argumentiert Berger, Mauthner habe „das Modell des [übernationalen] ‚Bohemismus‘ literarisch durch die Schilderung eines weitgefächerten nationalen Konfrontationskampfes ersetzt“ (Berger 1995: 249) und als Gattungsgrundlage etabliert: Offensichtlich hat Mauthners Darstellung zahlreiche Motive, Figurenkennzeichnungen und Handlungsschemata vorgegeben, die, danach zahllos aufgenommen und geringfügig variiert, zum Grundbestand der nationalkonfrontativen Literatur in Deutschböhmen wurden. (Berger 1995: 251)

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Zum anderen wird in der einschlägigen Forschungsliteratur die Rezeption von Mauthners böhmischen Romanen im 20. Jahrhundert analysiert, vor allem im Hinblick darauf, ob verschiedene ältere germanistische Studien zur deutschböhmischen bzw. sudetendeutschen Literatur die diskursstiftende Rolle von Mauthners Romanen gelten lassen, sie entweder – aus antisemitischen Gründen, wie oft vermutet wird (Krappmann 2013: 114) – anders positionieren, oder sie gar völlig ausblenden. Wie attraktiv es auch sein mag, auf das Dilemma der mehr oder minder deutschnational ausgerichteten Literaturforschung hinzuweisen, den Juden Mauthner als Begründer ‚ihres‘ Vorzeigegenres würdigen zu müssen, so liegt dieses Thema dennoch abseits der Fragestellung des vorliegenden Beitrags. Ich will mich stattdessen auf die vergleichende Analyse von Mauthners Letztem Deutschen von Blatna und von zwei der wohl bekanntesten südmährischen ‚Grenzlandromanen‘ aus der Zeit kurz vor 1914 konzentrieren, um daraus einen Vorschlag zur Diversifizierung dessen abzuleiten, was als die von Mauthner gestiftete Gattungskontinuität der Grenzlandliteratur verstanden wird. In der Tat lässt sich kaum bestreiten, dass sich die von Berger angeführten Strukturmerkmale („Motive, Figurenkennzeichnungen, Handlungsschemata“) der ‚Mauthnerschen‘ Grenzlandliteratur sich in vielen späteren Werken des Genres wiederfinden. Besteht aber die gattungsstiftende Rolle Mauthners nur darin? Ist es wirklich nur die Tradition der Darstellung des deutsch-tschechischen nationalen Kampfes, in dem zu allem Überfluss auch noch das Gute und das Böse, das Gerechte und das Gemeine einseitig distribuiert sind? Für welche Gattungsmerkmale kann Mauthners ‚Vaterschaft‘ – freilich im übertragenen Sinne – behauptet werden, welche Gattungskonventionen innerhalb der Grenzlandliteratur müssten vielmehr auf andere ‚Miterzeuger‘ zurückgeführt werden? Mit dieser Frage wird sich der analytische Teil meines Beitrags beschäftigen. Ich gehe hierbei von der kulturwissenschaftlichen Interpretation von Mauthners Böhmischen Novellen durch Katherine Arens (2004) aus. Arens liest Mauthners Romane, unähnlich den meisten InterpretInnen, nicht primär vor dem Hintergrund des deutsch-tschechischen Konfliktes bzw. einer gegebenen ‚Grenze‘ zwischen den beiden Kollektiven. Sie kann und will nicht bestreiten, dass Mauthners Sicht auf die nationale Problematik in den Böhmischen Novellen „von der dominierenden deutschböhmischen Idee vom Staat beeinflusst [Orig. compromised]“ war (Arens 2004: 155, Übersetzung JB). Im Vorwort zu der Neuauflage seiner böhmischen Romane im Jahre 1919 räumt das auch Mauthner selbst ein: „Ich hatte [in den Böhmischen Novellen, JB] vorurteilslos über die Fanatiker beider Parteien zu lachen geglaubt und namentlich auf

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den letzten Seiten der Erzählung eindringlich zum Frieden gemahnt zu haben. Beim Durchsehn des Neudrucks wurde es mir freilich bewusst, dass ich Licht und Schatten doch nicht ganz gerecht verteilt hatte“ (Mauthner 1919: 369). Arens nimmt allerdings auch den ersten Teil dieser Aussage Mauthners ernst, und nicht als „late-in-life second thoughts“ (Arens 2004: 154) einer im nach dem Weltkrieg humanistisch gewordenen, greisen Kulturkoryphäe und liest Mauthners böhmische Romane eben als Versuche, wenn auch teilweise missglückte, „Licht und Schatten“ auf Tschechen und Deutsche „gerecht zu verteilen“, die neu entstandenen Nationen als „members of a shared internal colony of the Habsburg hegemony, of a government that has acted despotically […] towards the region.“ (Arens 2004: 164). Die Denkfigur, die Arens für die Betrachtung von Mauthners Roman heranzieht, ist die des kulturellen Horizonts,8 der den auseinandergehenden Nationen gemeinsam sei. Die nationalen Auseinandersetzungen werden von Arens in einen gemeinsamen, räumlich definierten ‚böhmischen Horizont‘ eingesetzt. Die nationalen Konflikte, die Mauthner schildert, werden in erster Linie als (unbeabsichtigte) Effekte von staatlich betriebener Gesetzgebungsund Bildungspraxis sowie von wirtschaftlichen Veränderungen erkennbar: Fritz Mauthner’s Bohemia suggests how nominally a multi-ethnic vision of that region was at play until comparatively late in the evolution of the Habsburg Empire, until the politics of new ethnic nationalism changed its legal situation. He contends that changes in language policy, economics, and educational practice led to the recreation of a consciousness which doomed that region to the kind of ethnic strife that persists today. (Arens 2004: 163f.) Diese Sichtweise leitet Arens aus Mauthners späteren autobiographischen Schriften (Mauthner 1918) bzw. Essays (Mauthner 1920) her. Arens entfaltet ihre Interpretation von Mauthners böhmischen Romanen in ständiger Auseinandersetzung mit den gängigen Lesarten, die primär auf die Analyse des nationalen Kampfes abzielen. Diese will sie jedoch nicht vollständig außer Kraft setzen, sondern ihnen lediglich zusätzlich eine kulturanalytische Ebene vorschalten, die dem nationalen Kampf unterliegt. Die Argumentation entnimmt sie Mauthners Essay Muttersprache und Vaterland und zeigt, Mauthners Böhmen

8  Weinberg (2014: 23f.) findet mit ‚Grenze‘ und ‚Horizont‘ zwei anschauliche Figuren dafür, was Arens in ihrer Mauthner-Analyse unternimmt: Statt von der Grenze auszugehen, die zu bedienen eine Präsumtion von zwei getrennten nationalen Gruppen unvermeidlich machen würde, sieht sie diese Gruppen als Effekte von Bewegungen im Rahmen eines ihnen gemeinsamen legalen, wirtschaftlichen, politischen, diskursiven Horizonts.

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was trying to reimagine itself as a nation with two independent cultures and ethnic groups – no matter that there was no clean way to distinguish a ‚Czech‘ and a ‚German‘ from an inhabitant of Bohemia, without imposing artificial criteria (like the idea of a ‚mother tongue‘). (Arens 2004: 164)

Arens betont auch, dass die Verteilung von Gut und Böse in beiden Romanen in nationaler Hinsicht ambivalent ist und sich weitgehend nicht mit der Grenze zwischen den Repräsentanten der beiden Nationen deckt. Im Vergleich der Romanenden von dem Letzten Deutschen und der Böhmischen Handschrift kommt Arens zu folgendem Schluss: Because Mauthner has tried to balance guilt and blame in this situation, he has tried to write two story conclusions that are Bohemian in inspiration, rather than simply Czech or German. (Arens 2004: 162f.)9

Schließlich interpretiert Arens auch die vielen nationalen Stereotypisierungen, die in Mauthners Romanen zu finden sind, nicht primär als Instrumente im nationalen Kampf,10 sondern als Effekte der offiziellen Sprachregelungen, die durch das trennende Konzept der ‚Muttersprache‘ zwei inkompatible nationale Selbstidentifizierungsmuster hervorrufen. Ihre Wirkung sei verheerend: „He [Mauthner, JB] uses stereotypes each group had of the other to show the social-psychological damages that nationalistic language laws ushered in.“ (Arens 2004: 155f.) Arens hebt auch hervor, dass die Nationalisierung, der sich sämtliche Figuren in Mauthners böhmischen Romanwelten willig oder unwillig unterwerfen müssen, in allen Fällen als Verlust dargestellt wird: „Mauthner outlines how an individual’s membership in a national community requires the sacrifice of parts of self  – a violence towards self, if you will.“ (Arens 2004: 165) Vor allem Der letzte Deutsche von Blatna ist in dieser Hinsicht ein wahres Feuerwerk von gescheiterten Chancen. Wegen der nationalen Dissoziation Blatnas gehen Freundschaften und Liebesbeziehungen zu Grunde, Familien zerfallen, Fabriken müssen an Auswärtige verkauft werden oder machen Bankrott. Zudem werden von Arens auch Erfahrungen von Entfremdung fokussiert, d. h. Erfahrungen des Eigenen als fremd perspektiviert, was nur eine andere Form von ‚violence towards self‘ ist. An Anton Gegenbauer, dem vorbild9  Damit wird auf die unterschiedlichen Ausgänge der beiden, handlungs- und figurentechnisch sehr ähnlichen Romane Mauthners angespielt. 10  Arens bemerkt übrigens ganz richtig, dass auch Anton Gegenbauer, die ‚leuchtende‘ Gestalt des Romans, schon als Kind stereotype Urteile über seine tschechischen Freunde hegt, sich demnach selbst einer Denkweise bedient, die er bei anderen lächerlich findet und kritisiert (Arens 2004: 157).

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haften deutschen Romanprotagonisten, wird anschaulich vorgeführt, wie das vormals Eigene nun als fremd ‚entdeckt‘ wird, der ‚eigene‘ Raum schrumpft und Anton, im Grunde ohne Zutun der Tschechen, in seine nationale Rolle zurückgewiesen wird: Doch es war nicht die fremde Sprache allein: die kleinen klugen Augen der Gäste blickten anders [in einem tschechischen Lokal, JB], die Züge der breitknochigen Gesichter bewegten sich anders, die Hände gestikulierten anders als unter den deutschen Bürgern seiner Gegend. (Mauthner 1919: 27)

Aus Katherine Arens’ Analyse kann geschlussfolgert werden, dass Mauthners böhmische Romane nur mit Vorbehalten als unkritisch prodeutsche Instrumente im nationalen Kampf zu sehen sind; auch eine Sichtweise, die die Romane als Abbildungen der kämpfenden nationalen Kollektive, ihrer Strategien und Potentiale versteht, würde zu kurz greifen. In Arens’ kulturwissenschaftlicher Sichtweise verfasste Mauthner zwei Romane, die die Umdefinierung der Böhmen in Deutsche und Tschechen zum primären Gegenstand haben. Der Romanautor betrachtet sie als für alle Beteiligten nachteilig und sieht deren Grund er in der staatlicherseits betriebenen Produktion von nationalen Partikularitäten, deren Hauptmittel die Sprachen- und Wirtschaftspolitik sind. Anhand von Arens’ Mauthner-Analyse lassen sich Fragestellungen für die Untersuchung von anderen Texten formulieren, die den deutsch-tschechischen Grenzlandkonflikt zum Thema haben. Diese Fragestellungen werden im Folgenden an K. W. Fritschs Um Michelburg und G. Glücks Der goldene Boden überprüft bzw. auf ihre Gültigkeit hin erprobt. Behelfsmäßig ließen sich die Analyseschwerpunkte wie folgt formulieren: Wird ein übergreifender bzw. vorgängiger Horizont des nationalen Kampfes in den Romanen umrissen? Wie verhält er sich zu den nationalen Partikularitäten? Wie werden die Gründe für die nationalen Selbstidentifizierungen modelliert? Werden auch alternative kollektive Selbstidentifizierungsmuster zugelassen? Werden Verlustszenarien („violence towards self“) geschildert, die mit der nationalen Selbstpositionierung einhergehen? Werden Teile des vormals ‚Eigenen‘ als ‚fremd‘ abgestoßen?

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4. Nationale ‚Kampfromane‘ – Vom Kampf, nicht als Kampf Fritschs südmährischer Roman Um Michelburg (1911) wurde nach seinem Erscheinen durchaus als ein nationaler Grenzlandroman gelesen. Fritsch damaliger Weggefährte und Arbeitskollege aus dem Brünner Finanzamt, Karl Hans Strobl, veröffentlichte am 16. November 1912 eine Rezension zu dem eben erschienenen Roman Guido Glücks, Der goldene Boden (1912). Diese fällt jedoch vor allem als eine nachträgliche Würdigung11 von Fritschs ein Jahr älterem Roman aus. Jedenfalls werden beide von Strobl unmissverständlich als „nationale Kampfromane“ kategorisiert: Vor noch nicht langer Zeit lag in den Schaufenstern der Buchhandlungen ein Roman mit der Silhouette einer altertümlichen Stadt auf brandrotem Himmel. Karl Wilhelm Fritschs ‚Roman einer mährischen Kleinstadt‘ Um Michelburg. Ein nationaler Kampfroman. Not und Untergang einer deutschen Stadt. Nun hat Guido Glück […] dasselbe Thema in einem Roman behandelt. (Strobl 1912: 4)

Allerdings wird aus der Rezension sofort klar, dass selbst der stärker deutschnational gesinnte Strobl nicht so weit gehen kann, die Bezeichnung ‚Kampfroman‘ etwa im Sinne von ‚Kampfwaffe‘ zu instrumentalisieren. Strobl wirft den beiden Kampfromanen vor, nicht kämpferisch genug zu sein: Nur in dem pessimistischen Grundgedanken gleichen sich die Romane Fritschs und Glücks, nur darin, dass sie beide achselzuckend und leidvoll zugeben zu müssen glauben, das Deutschtum sei im Begriff, an seiner eigenen Lauheit, seiner Kurzsichtigkeit und Vertrauensseligkeit unterzugehen. (Strobl 1912: 4)

Der „einzig“ gemeinsame „pessimistische Grundgedanke“ der rezensierten Romane hindert Strobl dennoch nicht daran, den Hauptteil der Doppelrezension als Beschreibung des deutsch-tschechischen nationalen Kampfes zu stilisieren, der von ihm extrem polarisiert dargestellt wird und als solcher auch den rezensierten Romanen unterschoben wird: […] diese unheimliche Wühlarbeit des tschechischen Gegners. Genauso wie Fritsch, zeichnet auch Glück den Feind: unterwürfig, demütig, bescheiden tritt er auf, ganz beflissen zu ergebenen Diensten, lächelnd, wenn er verhöhnt wird, dankbar für Prügel. Aber dabei nach allen Seiten ausspähend, wo eine Ritze wäre, den Keil einzuschlagen, der das Gefüge auseinandersprengen soll. Hinter sich eine lange Kette hilfreicher Genossen, überall im Dunkeln, in der Maske freundlich grinsender Harmlosigkeit. Wartende, Lauernde. Um an einem Tag der Entscheidung plötzlich aus dem Dunkel vorzuspringen, die Maske her-

11  Fritschs Roman findet Strobl „phantastischer und dramatischer“, Glücks Werk sei dage­gen „vielleicht gewollt temperamentlos“ (Strobl 1912: 4).

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abzureißen und den vertrauensseligen Wirt aus dem Hause hinauszudrängen. […] Diesen gefährlichen Gegnern sind die Deutschen in keiner Weise gewachsen. (Strobl 1912: 4)

In einem geschickten Manöver wird hier von Strobl die nationale Thematik der beiden Romane überakzentuiert. Die resignierende Note der „nationalen Kampfromane“ rügt er und sieht sich folglich genötigt, sie im Alleingang durch nationales Mutmachen zu ersetzen. Von K. W. Fritsch selbst gibt es eine nachträgliche Äußerung zu seinem Roman und dessen Rezeption. Fritsch beklagt sich beiläufig 1921 in einer Buchrezension in der Brünner kosmopolitischen Zeitschrift Die Wahrheit darüber, dass sein Roman „vielfach unsinnigerweise als ein nationales Propagandabuch angesehen“12 wurde. Genauso wie im Falle von Mauthners Beteuerung aus dem Jahr 1919, dass er wirklich beabsichtigt habe, in den Böhmischen Novellen zum Frieden zu mahnen, sollte auch hier versucht werden, Fritschs Worte von 1921 ernst zu nehmen. Fritsch besteht bereits im Vorwort zu seinem Roman darauf, „keinen politischen13 Roman“ geschrieben zu haben, der „Stimmung in unserem Kampfe mit den Tschechen“ (Fritsch 1911: 7) zu machen beabsichtige. Obwohl die nationale Selbstpositionierung des Autors allein durch das Possessivpronomen „unser“ im eben zitierten Satz eindeutig ausgedrückt erscheint, lässt sich sein Roman, genauso wie der von Glück, vielmehr als Analyse des deutsch-tschechischen Kampfes lesen als dessen unmittelbarer Bestandteil. Das soll indes nicht heißen, dass die südmährischen Romane von 1911 bzw. 1912 nicht ‚schwerpunktmäßig‘ den nationalen Kampf thematisieren würden. Es kann, genauso wie bei Mauthner, weder in Frage gestellt werden, dass Fritschs und Glücks Romane Szenarien der nationalen Dissoziation zwischen Tschechen und Deutschen schildern, noch, dass diese Szenarien auf ein Überhandnehmen der Tschechen zuungunsten der Deutschen hinauslaufen und davor warnen. In dieser Hinsicht liegt gewiss auch Strobls Interpretation richtig. Strobl täuscht sich allerdings in der Voraussetzung, dass die nationale Entwicklungslinie das zentrale Moment der Romane ausmacht. Im Fall von Um Michelburg ist dies schon von Krappmann gezeigt worden. Der seltsam ‚unparteiisch‘ erzählte Roman Fritschs spiegelt den nationalen Kampf auf zweierlei Art wieder: zum einen durch die drei Städte Michelburg, Brennburg und Lattenberg, die unterschiedliche Stadien dieses Kampfes repräsentieren sollen, zum anderen durch seine Protagonisten, die sich in und zu 12  Die Wahrheit 3/4, 1921. Fritsch fügt auch hinzu, dass „nur die tschechische Kritik mir so­ fort Gerechtigkeit widerfahren ließ“. 13  Das Wort ‚politisch‘ wird hier eher als ‚aktivistisch‘, ‚alarmierend‘ gemeint.

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diesem Kampf verschieden positionieren. Das Merkwürdige an dem Roman ist, dass die zwei Spiegelungsarten des Kampfes jeweils ein unterschiedliches Bild von diesem Kampf ergeben. Während die drei Städte – weniger handlungstechnisch14 als vielmehr vom Verfasser (bzw. des vom „Verfasser“ verfassten Vorworts) (Fritsch 1911: 7) – in eine Reihenfolge gestellt werden, die eindeutig auf die Zuspitzung der nationalen Auseinandersetzung hindeutet, wird diese Linearität durch die Protagonisten konterkariert: Einer von diesen, wohl der wichtigste, ringt sich zwar zu einem deutschnationalen Standpunkt durch, andere bleiben dagegen skeptisch, ‚utraquistisch‘, und damit auch als nationale Tschechen respektabel oder fanatisch deutschnational. Auch in Glücks Roman Der goldene Boden gibt es durchaus Einiges, was eine deutschnationale Lesart ermöglicht. Die ‚Tschechen‘, hier durch Gestalt des neuen Schloss- und Gutsverwalters figuriert, machen der bis dahin üblichen Praxis ein Ende, nach welcher deutsche Gewerbetreibende automatisch mit einträglichen Aufträgen von der Gemeinde oder vom Grafen versorgt werden; ‚die Tschechen‘ nehmen ihnen auch die sonstige Kundschaft weg, ‚die Tschechen‘ sorgen dafür, dass die wackligen Unternehmen der deutschen Gewerbetreibenden keine Materiallieferungen ohne Barzahlung mehr bekommen; ‚die Tschechen‘  – allerdings in Koalition mit den übernationalen Sozialdemokraten – verdrängen sie auch aus dem Vorstand der lokalen Krankenkasse und schließlich sogar aus der Gemeindevertretung. Am Romanende wird „am Haus des Tischlermeisters Franz Schwarz [des Romanprotagonisten, JB] die große, tschechische Firmentafel seines Nachfolgers angebracht.“ (Glück 1912: 260) Diese Aufzählung ließe sich noch länger fortsetzen: Der Roman enthält zahlreiche Seitenhiebe gegen die Tschechen. Diese nationalen Animositäten werden allerdings durch den Roman lediglich als Begleiterscheinungen einer übergreifenden Entwicklung qualifiziert, und zwar keiner nationalen – und auch nicht einer sprachenpolitischen wie bei Mauthner, die nationale Identitäten produziere  –, sondern einer sozialökonomischen. Glücks Roman ist primär als Kritik am moralischen Verfall 14  Das Ende des Romans spielt nicht in dem von den Tschechen schon vollkommen beherrschten Lattenberg, sondern gerade in dem in die Waagschale geworfenen Brennburg, was für die Dramatik des Romans von Vorteil ist. Allerdings wird im Vorwort des Verfassers eine andere nationale Linearität der Handlungsorte präsentiert: „Überblickt man diesen Kampf in seiner Gesamtheit, so wird man etwa jenen ursächlichen Zusammenhang seiner verschiedenen Phasen herausfinden, welcher das Gerüst meiner Arbeit bildet. Um das Vorwärtsschreiten der Handlung in einen verhältnismäßig kleinen Zeitraum zusammendrängen zu können, wählte ich einen dreifachen Schauplatz. In der Reihenfolge Michel­burg, Brennburg, Lattenberg liegt schon die Entwicklung.“ (Fritsch 1911: 7)

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des deutschen Gewerbe- bzw. Mittelstandes zu lesen, der durch seinen sozialen und politischen Aufstieg ausgelöst wurde. Glücks Protagonisten sind kleinstädtische Handwerker mit großstädtischem Gehabe und einem erstaunlichen Talent zum Um-die-Arbeit-Herumreden, zu Selbstbetrug und Wahrung des Scheins bis an den Rand des Abgrunds – und im Fall des Hauptprotagonisten, des Tischlermeisters Franz Schwarz, auch darüber hinaus. Ihre politisch und wirtschaftlich privilegierte Position haben sie schon seit drei Generationen inne. Diese Position hat sich allerdings nicht nur aus dem Fleiß der vorigen Generationen ergeben, sondern auch durch die ökonomische Privilegierung der Deutschen im Österreich des 19. Jahrhunderts. In Glücks Roman wird gerade der Punkt geschildert, an dem die schöne Fassade zusammenbricht: Weder die lange vernachlässigten Werkstätten noch die bereits aufgebrauchten Ersparnisse früherer Generationen können die aufwendig geführten Haushalte länger in Gang halten, und als die politische Privilegierung der Deutschen wegfällt, müssen sie die Stadt symbolisch sowie real räumen. Ganz ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass der Roman gerade den deutschen Gewerbetreibenden, die seine an sich liebenswürdig heimeligen Protagonisten sind, die Schuld dafür gibt, dass es überhaupt zu dem nationalen Kampf mit den Tschechen gekommen ist. Im entscheidenden Moment des Romans, kurz vor der Gemeindewahl, durch die die deutsche Gemeindevertretung abgewählt worden ist, und unter Verweis auf den Romantitel wird dies durch die einzige ungebrochen respektable Figur des Romans,15 Doktor Müller, formuliert: ‚Meine Herren, […] jetzt werde ich Ihnen die Wahrheit sagen‘!“ […] In kurzen, klar geprägten Sätzen kam er auf die Bedeutung des deutschen Gewerbestandes zu sprechen, auf jenes arbeitsfrohe, ehrliche, deutsche Handwerk, das einen goldenen Boden hatte. / Und dann entwarf er ein Bild von der Entartung dieses Standes, der aus nationalen Streitigkeiten seinen Vorteil ziehen wolle und am meisten den Zuzug tschechischer Gewerbetreibender in deutsche Städte möglich und nötig mache, weil seine Forderungen unerfüllbar seien. […] ‚Darin, dass der deutsche Gewerbetreibende von der Tatsache allein, dass er ein Deutscher ist, leben und zwar gut und bequem leben will, während wir anderen für dieselbe Tatsache, dass wir Deutsche sind, nur immer und zwar tüchtig zahlen sollen, darin vermag ich nur einen unheilvollen Zwiespalt zu erblicken, der zum Untergang des Deutschtums führen muss!‘ (Glück 1912: 227f.)

15  Im Roman tritt noch die alte Tante des Tischlermeisters Franz Schwarz auf, die eben die arbeitsfrohe, ehrliche Tradition repräsentiert, von der Müller spricht; von einer ‚deutschen‘ Lebensart ist bei ihr allerdings nie die Rede.

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Dieser kurzen, aber wirkmächtigen Rede Müllers widersprechen bezeichnenderweise die Repräsentanten der deutschnationalen und der deutschen Gewerbepartei. Glück thematisiert also durchaus ‚Strobls‘ Narrativ von den „lauernden Tschechen“, deren „Wühlarbeit“ den Untergang des „Deutschtums“ in der südmährischen Kleinstadt beschleunigt – aber eben nicht herbeiführt. Auch Glücks Roman geht von einer wortwörtlich ‚goldenen‘ älteren Zeit aus und ist darin durchaus mit Mauthners Böhmischen Novellen vergleichbar. Er spielt diese Zeit gegen die nationalisierte Gegenwart aus, die durch wirtschaftlichen und ethischen Verfall (vor allem deutscherseits) charakterisiert ist. Die Ergebnisse dieses Verfalls sind die intranationale Zersplitterung, der daraus resultierende politische Verlust an Einfluss und schließlich auch der ruhmlose, selbstverschuldete Abgang. Dementsprechend werden auch die Motivationen der deutschen Romanprotagonisten, sich explizit als deutschnational zu positionieren, eindeutig abgewertet. Deutschnational sind in dem Roman entweder weltferne, lächerliche Tölpel (wie Professor Bauer, der die lokale Bevölkerung mit stundenlangen Vorträgen über die alten Germanen langweilt16) oder kalkulierende, aber kaum handlungsfähige Menschen (wie Bauers Stellvertreter Gärtner). Für die meisten Deutschen der Kleinstadt ist ihr ‚Deutschtum‘ dagegen nur ein Lippenbekenntnis: Sie nehmen es nur dann in Anspruch, wenn sie sich davon wirtschaftlichen Profit versprechen. Positiv bewertete Figuren hingegen gehen nicht über beiläufige, allgemein sprachliche oder kulturell-traditionelle ‚deutsche‘ Selbstpositionierung hinaus. Lediglich Schwarz‘ Schwiegersohn Kegler spricht vom ‚Deutschtum‘, ohne dass seine Einstellung durch andere Elemente des Textes ins Zwielicht geriete. Kegler ist ein leidenschaftlicher Lehrer, der seine Aufgabe vor allem in der Erziehung seiner jungen Braut erblickt: Er war mit Anna Schwarz verlobt […] und fühle nun die Pflicht, sie zu seiner Frau zu erziehen. Das eine wusste er: sie war bis jetzt wild in einem Kreise wohlhabender Unbesorgtheit aufgewachsen und niemand hatte sich die Mühe genommen, sie zu bilden und ihre Anlagen nach zweckbewusstem Willen zu gestalten. Und gerade diese Aufgabe, an die er nun unverzüglich herantreten musste, reizte ihn und stärkte das Gefühl seiner Lebenskraft. (Glück 1912: 48) 16  Selbst noch durch seine Ausdrucksweise macht Bauer den nationalen Gedanken lächerlich: „‚Es ist traurig, ja, Herr Fachlehrer [Kegler, JB], dass die deutsche Schule, die Lehrer unserer Anstalten, das nationale Moment namentlich auf der Mittelschule, die meisten Herren beachten es zu wenig, leider, mehr Lehrer eben als gute Deutsche, während die nationalen Gegner, also die völkischen…‘“ (Glück 1912: 56)

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Das Deutschtum ist für Kegler dann nicht mehr als eine breite kulturelle bzw. sozialpsychologische Basis, auf die diese Art von Erziehung, die der Roman metonymisch allen deutschen Romanfiguren nahelegt, gestellt werden soll:17 Unser [d. h. der Deutschen, JB] ausgeprägter Gerechtigkeitssinn und unser Pflichtgefühl, die stärker in uns als unser Nationalbewusstsein wurzeln, haben uns […] schon öfter geschadet und trotzdem bilden sie gerade die auszeichnenden Tugenden eines Deutschen. (Glück 1912: 57)

Politisch deutschnational positionieren sich Akteure in diesem Roman also nur aus Berechnung oder aus Gutgläubigkeit. Glück lässt auch keinen Zweifel daran, dass die Ideologie des Nationalismus und die damit einhergehende Partikularisierung – ganz wie bei Mauthner – der sprichwörtliche letzte Nagel in den Sarg des deutschen Gewerbestandes in Südmähren ist. Die Rede Gärtners, des lokalen Sekretärs der deutschen Wirtschaftspartei, am Vorabend der Gemeindewahlen, wimmelt nur so von Begriffen wie ‚Volksgenossen‘, ‚deutsch-arischen Männern‘, ‚nationaler Arbeit‘ und ‚deutschbewussten Wählern‘ (Glück 1912: 242ff.), wird aber vom auktorialen Erzähler eindeutig als der Gipfel des kollektiven Selbstbetrugs abqualifiziert: „‚Unser ist die Einheit, unser ist die Reinheit, unser ist die deutsche Zukunft! Und darauf leere ich mein volles Glas mit einem lauten, deutschen Heil! Heil deutscher Volkstreue!‘ / Stürmische Heilrufe durchtoben den Saal an diesem Tage, an dem das Deutschtum der Stadt zu Grabe getragen worden war.“ (Glück 1912: 245) Schließlich ist es auch diese scheinheilige, (nationale) Ideale und Tugenden bloß vorgaukelnde spießbürgerliche Welt, die auf die deutsche Jugend der Stadt18 so abstoßend wirkt und nicht etwa der ‚nationale Gegner‘. Genauso wie bei Mauthner werden die tragischsten Effekte der sozialen Partikularisierung in den privaten Bereich verlegt. Die ‚intimsten‘ Entfremdungs- und 17  Kegler teilt übrigens auch die Meinung Müllers darüber, dass auf national begründeter wirtschaftlicher Protektionismus falsch ist: „Dass er [ein deutscher Buchbinder, JB] infolge des geringen Zuspruches, an dem er selbst schuld ist, von mir, der ich als Deutscher zum Deutschen ging, mehr fordert, finde ich nicht in der Ordnung. Ich lasse lieber die Bücher vorläufig ungebunden, aber ich kenne viele Kollegen und auch Professoren ihrer Anstalt [des deutschen Gymnasiums, JB], die beim Klima arbeiten lassen und mit ihm sehr zufrieden sind.“ (Glück 1912: 52) Schwarz hält sich übrigens auch nicht an den nationalwirtschaftlichen Protektionismus, obwohl er ihn oft als Argument zu seinen Gunsten verwendet. 18  Diese Stadt wurde mit großer Wahrscheinlichkeit dem mährisch-österreichischen Grenzort Lundenburg/Břeclav nachmodelliert. Lundenburg ist übrigens auch das Vorbild der Stadt Lattenberg in Fritschs Roman.

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Verlustszenarien in Mauthners Böhmischen Novellen bestehen darin, dass die deutsch-tschechischen Liebesbeziehungen, die noch in den Elterngenerationen möglich waren, in der Erzählgegenwart nicht mehr denkbar sind (Arens 2004: 164).19 In Glücks Roman müssen die deutschen Protagonisten der mittleren Generation diese privaten Verluste sogar in ihren eigenen Familien vermerken. Gegen dieselbe Heuchelei, aus der die vorgespielte deutschnationale Hinwendung ihres Vaters resultiert, wehrt sich instinktiv Schwarz’ Tochter Marga, und sucht nach Ausbruchsmöglichkeiten aus dem falschen Familien- und Kleinstadtmilieu. Diese Versuche bringen das stolze, affektierte Mädchen schließlich zu einer Wiener Engelmacherin, wo sie beinahe ums Leben kommt. In die „kleine, neugierige und boshafte Stadt“ (Glück 1912: 222) kehrt sie nicht mehr zurück. Der deutsche Tischlermeister Schwarz verliert also, zwar nicht infolge, sondern parallel mit seinem antitschechischen Engagement, nicht nur seine wirtschaftliche, soziale und politische Position, sondern auch die ‚besseren‘ Teile seiner ehemals ‚eigenen‘ Familie. Glücks Roman macht deutlich, dass nicht die Tschechen, sondern er und der ganze Gewerbestand der südmährischen Stadt für den Verlust verantwortlich gemacht werden müssen.

5. Schlussfolgerung Hubert Orłowskis Beobachtung (1993: 10; Krappmann 2013: 114), dass der Begriff ‚Grenzlandroman‘ als Gattungsbezeichnung erst nachträglich (um 1939) entstanden ist,20 kann auch so verstanden werden, dass das feste, radi19  „Libussa herself is an example of what a child of mixed parentage could be; the children that Anton Gegenbauer should have had would also have been impressive.“ Libussa aus der Böhmischen Handschrift, und Anton Gegenbauer, dem Letzten Deutsche von Blatna, kommen ihre internationalen LiebespartnerInnen wegen nationaler Stereotypisierung abhanden, die allerdings viel stärker von der tschechischen Seite ausgeht. 20  „Vergeblich jedoch sucht man nach den Begriffen ‚Grenzlandliteratur‘, ‚Grenzlandschrifttum“ oder ‚Grenzlanddichtung‘ in den Wörterbüchern der deutschen Sprache, die im 20. Jh. erschienen sind. Selbst der erst 1935 herausgegebene vierte Band des Grimmschen Deutschen Wörterbuches bringt dafür keine Belege. Auch das ist ein indirektes Argument dafür, dass dieser Begriff ad hoc, aus der weltanschaulich-propagandistischen ‚Forderung des Tages‘ zu verstehen ist.“ (Orłowski 1993: 10) Das bedeutet nicht nur, dass der Gattungsbegriff erst ex post entstanden ist, in einer Zeit, in der die sudetendeutsche Grenzlandliteratur quasi ihren Existenzgrund verlor, sondern es heißt auch, dass die Werke, die seit den

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kale Bild von diesem Genre, das in der Germanistik lange Zeit tradiert worden ist, einer Überprüfung bedarf. Dieses Bild sollte dahingehend hinterfragt werden, ob seine Radikalität nicht vielmehr seiner vorausgesetzten Position als ‚Minuspol‘ in polarisierten literaturgeschichtlichen Konzeptualisierungen der deutschböhmischen bzw. deutschmährischen Literatur geschuldet ist. Auch die rückwirkende Projizierung der Gattungsmerkmale der ‚späten‘, ‚alarmierenden‘, unter nationalsozialistischem Einfluss stehenden Grenzlandliteratur (z. B. Rothackers Dorf an der Grenze von 1936) auf das gesamte Textkorpus des Genres dürfte eine ‚maßstabsetzende‘ Rolle gespielt haben: Die ‚definitorische‘ Fundierung durch die Germanistik geht erst mit der letzten Phase in der Entwicklung der Grenzlandliteratur einher. Aus der vorliegenden Analyse der ‚frühen‘, ‚analytischen‘ Grenzlandromane Mauthners, Fritschs und Glücks ergibt sich ein wesentlich weniger national polarisiertes Bild von diesem Genre. Die Analyse deutet darauf hin, dass die ‚Grenzlandromane‘ bis in die 1930er Jahre hinein als eine relativ lose, eher thematisch als ideologisch verwandte Familie anzusehen sind, die dementsprechend auch hinsichtlich der Radikalität des nationalen Eigen- und Fremdbildes starke Schwankungen aufweist. Geht man von der Interpretation von Mauthners Böhmischen Novellen durch Katherine Arens aus, kommt man auch anhand des Vergleichs mit Fritschs Um Michelburg und Glücks Der goldene Boden zu dem Schluss, dass I. alle drei Romane einen vor- bzw. übernationalen Horizont konstruieren, der der nationalen Partikularisierung der Romanwelt übergeordnet und oft auch vorgezogen wird, dass II. die nationale Selbstidentifizierung der Romanprotagonisten durchwegs negativ motiviert wird, d.  h.  von außen erzwungen (Mauthner), als Verfallsmerkmal bloßgestellt (Glück) oder als eine Option unter vielen (Fritsch) markiert wird, und dass III. die Figuren infolge der nationalen Partikularisierung der Romanwelt schließlich beträchtliche Teile des vormals Eigenen als fremd ‚erkennen‘ bzw. aussondern müssen. Fritz Mauthners Böhmische Novellen können auch vor diesem Hintergrund als eine Art Leitbild dafür fungiert haben, wie die Grenzlandthematik in der deutschböhmischen bzw. deutschmährischen Literatur verhandelt wurde: nämlich als Inszenierung des Übergangs zu national partikularisierten Gesellschaften. Mauthners, Fritschs und Glücks Inszenierungen sind dabei im Hinblick darauf, dass die fiktionalen Welten eindeutig ‚deutsch‘ perspektiviert sind, sichtlich um größtmögliche Objektivität, um Analyse bemüht und nicht späten 30er Jahren unter diesen Gattungsbegriff subsummiert wurden, heterogener sein müssen als es die Gattungsschublade suggeriert.

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um Alarmierung. Insofern kann für Mauthner der ihm oft zugeschriebene Titel ‚Vater des Grenzlandromans‘ sogar bestätigt werden, allerdings mit dem Nachsatz, dass er ebenfalls für den ‚analytischen‘ Teil der Gattungskontinuität verantwortlich gemacht werden müsste. In Bezug auf die aggressiven Grenzlandromane der 1930er Jahre könnte er allerdings höchstens als deren Großvater bezeichnet werden, oder vielmehr als ihr unerwünschter Stiefgroßvater.

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Personenregister (Der Name Fritz Mauthner ist nicht exzerpiert) Adler, Friedrich 176 Althaus, Hans Peter 74, 87 Ambros, August Wilhelm 152 Andreas-Salomé, Lou 34 Arens, Hans 122, 131 Arens, Katherine 43, 49, 51, 54f., 156, 167, 224, 225ff., 235ff. Aristoteles 106f., 110, 118, 180, 183 Augustinus 81 Bacon, Francis 51 Badeni, Kasimir Felix 16, 142, 157 Bahr, Hermann 16, 37, 189, 190, 192 Bamberger, Ludwig 136 Baum, Oskar 27 Baumgarten, Alexander Gottlieb 99 Benjamin, Walter 18, 37, 172, 192 Benveniste, Émile 50, 55 Berger, Michael 218, 221f., 224f., 237 Bergmann, Hugo 203 Bergson, Henri 162 Bernay, Jacob 137 Bhabha, Homi 17f., 38 Bhatti, Anil 18, 38, 71, 87 Bienek, Horst 220 Bismarck, Otto von 115, 165, 188 Bleibtreu, Karl 173, 178, 194 Block, Paul 182

Bobrowski, Johannes 220 Bolzano, Bernard 17f., 36, 38, 200 Bondy, Josef Adolf 186 Bopp, Franz 55, 59 Borecký, Jaromír 178 Borges, Jorge Luis 84, 114, 118 Böser, Bedřich 220 Bozděch, Emanuel 152 Brahm, Otto 124 Brentano, Clemens 208 Brinker, Claus 124, 131 Brod, Max 8, 24, 26, 28, 30, 38, 74f., 87, 186 Buber, Martin 49f., 55, 79, 186 Budňák, Jan 11, 156, 217f., 237 Čapek, Karel 162, 167 Čech, Svatopluk 208, 219 Chamberlain, Houston Stewart 11, 173, 175, 192, 194 Chardin, Pierre Teilhard de 55 Chelčický, Petr 188 Cicero, Marcus Tullius 107, 118, 205 Clajus, Johannes 122, 131 Cooper, James Fenimore 156 Coulmas, Florian 123, 126, 131 Csáky, Moritz 8, 13, 16, 26, 38, 152, 167, 214 Cysarz, Herbert 217, 237

Dannegger, Adolf 182 Davidson, Donald 107, 108, 118 Deleuze, Gilles 31, 67, 85, 86f., 201, 213 Derrida, Jacques 78, 87 Descartes, René 98 Dilthey, Wilhelm 43 Dionysius Thrax 121 Dürscheid, Christa 124, 131 d’Hargues, Friedrich 129, 131 Ebert, Karl Egon 208 Eichler, Bohumil 185 Eisenstein, Elizabeth 127, 132 Eisner, Pavel/Paul 164f., 167 Engelbrecht, Helmut 197ff., 213 Epaminondas 207 Erdmann, Ilse 34 Eschenbach, Wolfram von 208 Esselborn, Karl 220, 237 Exner, Franz Serafin 200 Faktor, Emil 186 Faulmann, Carl 122, 132 Feichtinger, Johannes 71, 87f., 168, 213, 214 Fischer, Karl 135, 149 Fischer, Otokar 163, 167, 170 Fontane, Theodor 124, 139f., 149

242 Foucault, Michel 23, 38, 43 Frankel, Zecharias 144 Fritsch, Karl Wilhelm 221f., 228ff., 236ff. Gabriel, Gottfried 78, 85, 88, 92, 99, 102, 119 Gallarati-Scotti, Aurelia 32 Geiger, Ludwig 185 Gersdorff, Carl von 60 Giesecke, Michael 127, 132 Gildemeister, Carl-Hermann 9, 91f., 97f., 102 Gilman, Sander L. 210, 214 Glück, Guido 228ff. Gobard, Henri 201 Goethe, Johann Wolfgang von 81, 92, 174, 180, 194, 204 Goldstücker, Eduard 165, 167, 217f., 224, 238 Goldwasser, James 142, 144, 149 Gottsched, Johann Christoph 122, 132 Gottwald, Adolf 10, 159f., 167, 180f., 189, 192f. Graetz, Heinrich 137 Grass, Günter 220 Grillparzer, Franz 208 Grimm, Jacob 122, 132, 235 Gruppe, Otto Friedrich 54f. Gschwind, Emil 205 Guattari, Félix 31, 67, 85ff., 201, 213 Günther, Hartmut 123f., 132 Guth, Viktor 154, 167

Register

Haeckel, Ernst 59, 65, 83 Hainscho, Thomas 9, 103 Hamann, Johann Georg 8f., 81, 91f., 97ff., 101f. Handl, Willy 186 Hansson, Ola 57, 64 Harden, Maximilian 174 Heine, Erwin 164 Heine, Heinrich 211 Helfert, Joseph Alexander von 200 Heller, Servác 208 Herbart, Johann Friedrich 200 Heringer, Hans Jürgen 84, 88 Herold, Josef 152 Hodler, Ferdinand 180 Hoffmann, Camill 162, 167, 186 Hofman, Ladislav Karel 172 Hofmannsthal, Hugo von 8, 26, 29, 38, 163, 212, 214 Höhne, Steffen 25, 38, 40f. Höllrigl, Franz 155 Holz, Arno 178 Homer 13, 211 Horálek, Karel 163, 167 Hubík, Stanislav 163, 168 Huch, Friedrich 182 Huet, Pierre Daniel 98f., 101f. Humboldt, Wilhelm von 202 Ibsen, Henrik 178, 183 Ilgenstein, Heinrich 183 Illový, Rudolf 203 Jacobi, Friedrich Heinrich 92f., 98, 102

Jacobs, Monty 56, 112, 118 Jahn, Jiljí 163, 167f. Janko, Josef 160, 168 Janovic/Janowitz, Rudolf 152 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 61 Jelínková, Eva 162, 168 Jerschke, Oskar 178 Jesenská (Pollak), Milena 24, 204 Jičínská, Veronika 11, 152, 168, 197, 208, 214 Jirásek, Alois 219 Johnson, Mark 106f., 118 Joseph II. (Kaiser) 200 Jurditsch, Fritz 219 Kafka, Franz 8, 14, 24ff., 35, 37ff., 67, 74ff., 78, 80, 84, 87ff., 104, 167, 189, 203ff., 213ff. Kafka, Ottla 24 Kafka, Robert 189 Kant, Immanuel 45, 47f., 92, 99ff., 158, 173, 184, 194 Kepartová, Jana 208, 214 Kienzl, Hermann 183, 186, 192 Kilcher, Andreas B. 19, 24, 26, 39, 69f., 88 Kirchhoff, Arthur 182 Kisch, Egon Erwin 165 Kisch, Paul 203 Kittay, Eva 103, 107, 119 Klaar, Alfred 161, 170 Klages, Ludwig 172 Kleist, Heinrich von 163, 167 Kluge, Friedrich 73, 210 Knap, Josef 220 Koegel, Fritz 44, 60, 64 Kofman, Sarah 61, 64 Köhler, Anna 218

243

Register

Komenský, Jan Amos 188 Kosuch, Carolin 152, 168 Král, Josef 162f., 168 Krappmann, Jörg 217f., 220ff., 224f., 230, 235, 238 Kraus, Arnošt 158, 168 Kraus, Julius 164 Kraus, Karl 30 Krejčí, František 162, 168, 183f. Kühn, Joachim 125, 132, 154, 168, 214 Kvapil, Jaroslav 177, 183, 189ff. Laichter, Jan 177, 183, 192 Lakoff, George 104 Landauer, Gustav 14, 62, 184, 186, 193 Larcati, Arturo 106, 119 Laurin, Arne 171f., 192 Lefebvre, Henri 14f., 39 Leinfellner, Elisabeth 84, 88, 91, 99, 102, 132, 138, 149, 152, 167, 214f., 237 Lenz, Siegfried 220 Lepsius, Karl Richard 123, 132 Le Rider, Jacques 8f., 14, 39f., 57, 68, 73, 88, 92, 102, 152, 168, 214 Lessing, Gotthold Ephraim 92, 174f. Liede, Alfred 68, 83, 88 Linné, Carl 92 Lotman, Jurij 15ff., 36, 39 Lounsbury, Floyd 104 Löwy, Jizchak 26f., 31 Ludwig, Otto 124, 132 Luther, Martin 122

Mach, Ernst 43, 53f., 151, 185, 193 Machar, Josef Svatopluk 152, 169 Maeterlinck, Maurice 60, 78, 183 Malinowski, Bronislaw 15 Marenzeller, Edmund Edler von 203, 215 Masaryk, Tomáš Garrigue 162, 167, 181, 183, 188, 190ff. Maxa, Prokop 191 Meißner, Alfred von 208 Minor, Jakob 92, 102 Möbius, Paul Julius 182 Mommsen, Theodor 7, 11, 136ff., 142, 144, 149, 157, 159 Müller, Heiner 105 Müller-Richter, Klaus 106, 119 Nečásek, Antonín 163f., 169 Nekula, Marek 24, 37ff., 68, 88f. Němcová, Božena 159 Němec, Mirek 10, 135, 154 Neruda, Jan 154, 169 Neurath, Otto 43, 54 Newton, Isaac 83, 101 Nietzsche, Friedrich 43ff., 57ff., 64ff., 92, 102, 112, 195 Noiré, Ludwig 195 Novák, Arne 161, 169, 172f., 181, 192 Novalis 8f., 91f., 94ff., 102 Ohorn, Anton 164, 220, 222 Ong, Walter Jackson 130, 132

Orłowski, Hubert 220, 235, 238 Otto, Jan 10, 158f., 168, 177, 183, 192f. Paquet, Alfons 36 Park, Robert Ezra 22, 39f. Paul, Hermann 49f., 55f., 73, 77, 81, 89, 210 Paulsen, Friedrich 47 Pelcl, Josef 160, 169, 180f., 193 Petr, Pavel 25, 40 Petrbok, Václav 10f., 151, 168ff., 184, 189, 202f., 205, 208, 214f., 217 Pleyer, Wilhelm 220 Pohl, Rupert 208 Pollak, Oskar 203 Purkyně, Jan Evangelista 200 Rádl, Emanuel 164, 169 Raible, Wolfgang 128, 132 Ranke, Franz Leopold 138 Raumer, Rudolf von 129 Rée, Paul 58 Reinhardt, Max 189, 191 Rickert, Heinrich 43, 48 Rilke, Rainer Maria 8, 32ff., 37, 40, 222 Rinas, Karsten 10, 69, 89, 121f., 130, 132, 152, 169, 217, 220f., 223f., 238f. Roback, Abraham Aaron 172, 193 Rosch, Eleanor 104 Rothacker, Gottfried 222, 236 Salus, Hugo 161 Sanders, Daniel 129 Sardou, Victorien 154

244 Saudek, Robert 158ff., 169, 171ff. Saudková, Gisa 184 Sauer, August 32, 34 Saussure, Ferdinand de 50, 55, 58, 60, 123, 131 Savoyen-Carignan, Eugen Franz von 29 Schapkow, Carsten 115, 119, 141, 149 Schauer, Hubert Gordon 155 Schenk, Günter 105, 118 Schenk, Klaus 9, 12, 67 Schiller, Friedrich 92, 104, 173, 180, 194, 199f. Schleicher, August 59, 65 Schleichert, Hubert 88, 102, 132, 214 Scholz, Hugo 220 Schott, Anton 220 Schwitalla, Johannes 124, 132 Shakespeare, William 81 Škroup, František 33 Směja, Fran 220 Smetana, Bedřich 31, 33, 40, 152 Snow, Charles Percy 43 Sophokles 211 Spinoza, Baruch 142, 183 Stachel, Peter 19, 40, 200, 202, 208, 215 Stašková, Alice 9, 91, 94, 102 Steinhart, Eric 107, 119 Steinthal, Heymann 122, 132 Stettenheim, Julius 81 Stifter, Adalbert 35 Štolba, Jan 177 Strobl, Karl Hans 161, 164, 229f., 233, 239 Szegeda, Wilhelm 220

Register

Taussig (Brod), Elsa 28 Taylor, Isaac 122, 133 Tetzlaff, Arthur 182 Teweles, Heinrich 152, 155, 170, 176 Thunecke, Jörg 62, 64, 135, 138ff., 149f., 152, 167, 214, 237 Thun-Hohenstein, Leo von 200, 202 Tille, Antonín 178 Timber-Trattnig, Georg 105 Topor, Michal 11, 97, 153, 158, 162, 168, 170f. Treitschke, Heinrich von 135ff., 140, 149f. Tusar, Vlastimil 189 Tyl, Josef Kajetán 33 Utitz, Emil 203 Vaihinger, Hans 9, 91, 99ff. Viëtor, Wilhelm 123 Vrba, Jan 220 Vrchlický, Jaroslav 33 Vychodil, Pavel 157, 170 Wagner, Richard 175 Watzlik, Hans 164 Weiler, Gershon 108, 119 Weinberg, Manfred 218, 226, 239 Weininger, Otto 173, 180, 183, 185, 194f. Weisberger, Adam 148, 150 Werner, Renate 80, 89 Whitney, William Dwight 185 Wilde, Oscar 177f. Wille, Bruno 180 Windelband, Wilhelm 43, 48

Wittgenstein, Ludwig 9, 29, 41, 62ff., 85, 104, 168 Wolf, Christa 220 Wolff, Christian 99 Wunderlich, Hermann 123, 133 Wünsch, Josef 208, 214 Wutsdorff, Irina 69, 80, 89, 163, 170, 215 Wuttke, Heinrich 122, 129, 133 Zimmer, Dieter E. 129, 133 Zimmermann, Johann August 200 Zola, Émile 186

Adressen Reihenherausgeber

Prof. Dr. Steffen Höhne Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Musikwissenschaft Platz der Demokratie 2/3 D-99423 Weimar [email protected] PhDr. Václav Petrbok, Ph.D. Ústav pro českou literaturu Akademie věd Na Florenci 3 CZ-11000 Praha 1 [email protected] Institut für Germanistische Prof. Dr. Alice Stašková Literaturwissenschaft Friedrich-Schiller-Universität Jena Fürstengraben 18 D-07443 Jena [email protected]

Adressen Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Katherine Arens

Department of Germanic Studies University of Texas at Austin 2505 University Avenue, Burdine 336 78712-1802 Austin, Texas, USA [email protected]

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Jan Budňák

Mgr. Jan Budňák, Ph.D.

Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky Filozofická fakulta Masarykova univerzita Arna Nováka 1/1 CZ-602 00 Brno [email protected] Institut für Kulturwissenschaften Dr. phil., Lic. hist. eccl., em. Univ. Prof. Moritz Csáky und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Postgasse 7/4 A-1010 Wien [email protected] Universitätsbibliothek Klagenfurt Mag. Thomas Hainscho Karl-Pop­per­-Sammlung Universitätsstraße 65–67 A-9020 Klagenfurt [email protected] Mgr. Veronika Jičínská, Ph.D. Katedra germanistiky Filozofická fakulta Univerzita Jana Evangelisty Purkyně Pasteurova 3571/13 CZ-400 96 Ústí nad Labem [email protected] Prof. Jacques Le Rider École pratique des hautes études – Université PSL Section des Sciences historiques et philologiques Patios Saint-Jacques 4–14 rue Ferrus 75014 Paris [email protected]

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Doc. Dr. phil. Mirek Němec Katedra germanistiky Filozofická fakulta Univerzita Jana Evangelisty Purkyně Pasteurova 3571/13 CZ-400 96 Ústí nad Labem [email protected] Doc. Dr. phil. PhDr. Katedra germanistiky Filozofická fakulta Karsten Rinas Univerzita Palackého Křížkovského 10 CZ-771 80 Olomouc [email protected] Prof. Dr. Klaus Schenk Germanistik Fakultät Kulturwissenschaften Technische Universität Dortmund Emil-Figge-Straße 50 D-44221 Dortmund [email protected] Institut pro studium literatury Mgr. Michal Topor, Ph.D. Jankovcova 938/18a CZ-170 00 Praha 7 [email protected]